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Globus.
Illustrirte
Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde
mit
besonderer HerücKsichligung der Anthropologie und Ethnologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern
herausgegeben von
Karl Undree.
Elfter Band.
Hraunsrluveig,
Druck und Verlag von Friedrich V i e w e g und Sohn.
1 8 6 7.
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Inhaltsverzeichnis
L u r o p a.
Zur Karte von Deutschland, von Karl
Andree. 140.
Mittheilungen über die Insel Rügen von
E. Boll. 78. 109. 143.
Land und Leute im Oldenburgischen,
von Fr. Ewald. 133. 208.
Auswanderung aus Mecklenburg. 160.
Volksmenge in den großen S t ä d t e u P r e u -
ßens. 350.
Statistik der Priesterschaft in Oesterreich. 191.
Anwachsen des britischen Ausfuhrhandels.
256.
Volksmenge in Großbritannien. 350.
Wohlthätigkeitsanstalten in London. 222.
Die Handelsmarine von Frankreich. 190.
Von Messina bis an den Fuß des Aetna.
105.
Zur kirchlichen Statistik Italiens. 191.
K. v. Czörnig, Bodengestaltung und Seen
in der Lombardei. 47.
Kohlen in Italien. 159.
Sevilla und das Volksleben in Anda-
lusien. 129. 161. 193.
Auswanderung der Basken. 367.
Heinrich Ditz, Bilder aus dem magyari-
schen Ungarn. 49. 75.
Das magyarische Volk von Heinrich Ditz.
279.
Die magyarische Sprache von H. Ditz.
337. 369.
Die Völker der europäischen Türkei von
H. Leist. 210.
Mohammedaner und Christen in der Türkei.
332.
Die Bedrückung der Christen in der Türkei.
382.
Die Jude« in Serbien. 349.
Siegfried Kapp er, das Haiduckenthum. 310.
Die Hilfsquellen Rumäniens. 348.
Barbarei in der Wallachei. 152.
Dragaica und Papaluga in der Moldau,
von Wilh. Hausmann. 130.
Die Winden oder S l o v e n e n in Krain. 159.
Polen und Ruthenen. 115.
Die Geographische Gesellschaft in St. Pe-
tersburg. 189.
Die ethnographische Ausstellung in Mos-
kau. 348.
Jungrußland und der Nihilismus. 362.
Kohlengruben im Lande der donischen Ko-
sacken. 256.
Julius M oh l über Reformen im Orient. 27.
Die Israeliten in Mekka, das altmckkanische
Heiligthum und der Islam. 301.
Beyrut in Syrien. 93.
Jerusalem als Handelsstadt. 350.
Karl Ritter's Geographie von Palästina
und der Sinai-Halbinsel. 155.
Erpedition des Herzogs von Luynes zum
Todten Meere. 157.
Die Kissilbaschen in Kurdistan. 349.
Herman Vambery, in der turkomanischen
Wüste. 43.
Unter den Turkomanen. 353.
Fortschritte und literarische Regsamkeit unter
den Eingeborenen Ostindiens. 84.
Einbürgerung der Chinchonapflanze. 95.
Gesundheitsstationen. 126.
Gesellschaftlicher Verkehr zwischen den Eng-
ländern und den Eingeborenen. 190.
Zur Statistik Ostindiens. 319.
Zur Statistik von Britisch-Birma. 126.
Das Grenzland zwischen B irma und China.
221.
Asien.
Ein birmanischer Eid. 223.
Schanghai in China. 32.
Der Handelsplatz Mao Tschu. 221.
Lebensverachtung der Chinesen. 95.
Eine deutsche Zeitung in Hong long. 159.
Die russische Mission zu Peking. 128.
Beiträge zur Kunde von Jap a n. 10.33.321.
Ein Ausflug auf der Insel Jeso. 127.
Die Franzosen in Korea. 156.
Die Christen auf der Halbinsel Korea. 284.
Christliche Missionen in Ostasien. 192.
Fortschritte und Eroberungen der Russen
in Jnnerasien. 59.
Die Russen an ihrer südasiatischen Grenze.
221.
Die Russen zn Taschkend in Turkistan. 91.
349.
Rußlands Krieg gegen Buchara. 128.
Abgeordnete aus Turkistan in Moskau. 286.
W. Radloff. Die Bergnomaden des Altai.
248. 276.
Akmolly im Gebiete der sibirischen Kirgisen.
128.
Neue Goldfunde in Sibirien. 128.
Steinkohlen in Ostsibirien. 224.
Die Goldlager am Amur. 255.
Colonisirung und Ansiedelungen am Amur.
128. 224.
Handel von NikolajeffSk. 286.
Russische Mission unter den Tungusen. 224.
Das Christenthum der Jakuten. 128.
Colonisation in Westsibirien. 191.
Aus dein asiatischen Rußland. 381.
Sklavenhändler und Auswanderung im Kau-
kasus. 30.
Goldlager im Kaukasus. 320.
Naphtha im Kaukasus. 128. 224.
Forschungen in Central- u. Südasien(John-
son im Karakorumgebirge. Thompson
in Kambodscha). 92.
Johnson' s Reise von Leh in Ladak nach
Chotan in Turkistan. 251.
W. Lejean's Reisen in Asien. 191.
Der Hasen von Dschiddah am Rothen
Meer. 158.
VI
Die Völkerbewegungen am obern Niger
(Fulbe, Toucouleurs und Bambarras). 56.
Ausdehnung der französischen Herrschaft am
Senegal. 319.
Zahl der Europäer in Algerien. 381.
Anthropophagie im Nigerdelta. 320.
Girard beiin Könige von Neucalabar. 335.
Die FauS oder Pahuins an der Gabonküste.
160.
Die Guanoinseln an der Südwestküste. 95.
Farmleben am Oranjeflusse von L. Hol-
Und er. 236. 269. 298.
Afrika.
Aus der transvaalschen Republik. Ein-
Wanderung. 96.
Port d'llrban in Natal. 191.
Die europäischen Gefangenen in Abyssinien.
61. 219.
Der Oberpriester der abyssinischen Kirche.
382.
Aus Trenieaur' Reisen iin östlichen Sudan.
225. 257.
Ursachen der Nilüberschwemmung. 62.
Der 10. Februar 1866 in Kairo. 117.
Madagaskar. 255.
Der Hafen Massawah am Rothen Meere. 221.
Handelsverkehr zwischen Tripolis und Inner-
afrika. 220.
Gerhard Rohlfs zu Kuka iu Bornu. 61.
Richard Brenn er's Erpedition in Ostafrika
zur Erforschung des Schicksals von der
Deckens. 185. 317.
Dr. Ori's Reisen im Sudan. 188.
Der Reisende Le Saint. 284.
Livingstone. 62. — Seine Reise zum
Nyassa. 91. — lieber seine Ermordung am
| Nyassasee. 217. 283. 317.
Streifzüge im Nordwesten Amerikas, na-
mentlich in Oregon, von Theodor Kirch-
hoff. S. 148. 173. 205.
Besteigung des Mount Hood. 9.
Neberland nach Britisch Columbia und den
Goldgruben von Caribou. 65. 97.
Vaueouver Island. 255.
Die Canadian Dominion. 221.
Gold in Canada. 288.
Weinbau in Canada. 95.
Die Fischerinseln St. Pierre und Mique-
lon. 192.
Aus den Vereinigten Staaten von
Nordamerika. 63.
Zur Statistik der Vereinigten Staaten. 318.
Wachsthum der Stadt Neuyork. 221. Sterb-
lichkeit iu derselben. 254.
Aus dem nordamerikanischen Runipfcon-
gresfe. 306.
Die Bestechlichkeit in den Vereinigten Staa-
ten. 347.
Wirkungen des allgemeinen Stimmrechts
in Neuyork. 124.
Die Pensionsliste. 222.
Verbrechen und Unglücksfälle. 192.
Verbrechen im puritanischen Neuengland.
160.
Ehescheidungen. 160.
Grausame Behandlung von Soldaten. 287.
Die Frauen und ihre Stellung. 154. 254.
Aus den Kohlenbezirken Pennsylvaniens. 351.
Die Stadt Homer in Louisiana. 223.
Einwanderung. 287.
Mmerik a.
Die Neger in Philadelphia. 222.
Die Chinesen in San Sacramento. 127. 320.
Die Franzosen in Calisornien. 381.
Die Indianer in Florida. 287.
Zustände im Gebiet Utah; die Polygamie. 96.
Das Mormonenthum und Brigham Uoung.
191. Die Schaubühne bei den Mormo-
nen. 255. Ein Nrtheil aus Nordamerika
über die Mormonen. 383.
Betrachtungen über Mexico von Karl
Andree. 16. 42. 233. 265.
Eine Reise mit dem Postwagen in Mexico.
345.
Ein Urtheil über die Mericaner. 350.
Haiti. Eine Deputation von Kaufleuten
beim Präsidenten Gessrard, von E. Ha-
bich. 87.
Kulieinwanderung in Westindien. 221. 350.
Zustände in Nicaragua von Berthold See-
mann. 82.
Opalgruben in Honduras. 96.
Neugranada. Perlmutterfischereien im
Golfe von Panama. 222.
A. Göhr ing's Reise in Venezuela. 188.
Gold im französischen Guyana. 288.
Brasilien. Agassiz über den Amazonen-
ström. 31.
An: obern Amazonenstrome. 170. 201. ■—■
Die Indianer am obern Amazonas. 289.
— Verkehrsbewegung auf dem Amazonen-
ström. 190. — Die Dampfer. 349. 382.
Chandleß' Erforschung der Nebengewässer
des Purus. 251.
Aus Ecuador zum Amazonas; der Morona
schiffbar. 252.
Wichtige geographische Entdeckungen in
Südamerika. 339.
Im brasilianischen Urwalde. 121.
Die Indianer. 352.
Industrieausstellungen. 94. — Mineral-
reichthum. 94.
Ausfuhr von Rio de Janeiro. 190.
Die deutschen Colonien in der Provinz Rio
grande. 157.
Die Deutschen in dieser Provinz. 127.
Die Stadt Porto Alegre. 253.
Einwanderung von Nordamerikanern. 253.
352. — Das neue Einwanderungsgesetz.
379.
Die Sklaverei in Brasilien. 240.
Die Krystallgruben in der Provinz Goyaz.
384. '
Aus den La-Plata-Staaten. Ein-
Wanderung. 252. — Einwanderung der
Basken. 367. ■—■ Die walisische Colonie
an der Ostküste von Patagonien. 158. 253.
— Der Hafen von Buenos Ayres. 252.
— Rindfleisch am La Plata. 32.
Peru. Die altperuanische Festung Ollan-
tay Tambu. 21.
Chile. Fortschritt. 32. — Grenze zwischen
Bolivia und Chile. 32. — Steinkohlen.
288.
Deutsche Zeitungen in Südamerika. 89.
I. I. Tschudi's Reisen in Südamerika.
273.
Australien und Hceanien.
Australiens Postverbindung mit Europa. 382.
Australiens Goldausfuhr. 61.
Spuren von Leichhard's Erpedition. 251.
Victoria; Volksmenge. 350. — Handels-
bewegung von Melbourne. 94. 254. —
Ausstellung von Edelsteinen. 94. — An-
pflanzen der Fieberrinde. 288.
Neusüd Wales; Volksmenge. 350. —
Buschklepper und Straßenprediger. 94.
254.— Die Cumberland-Biehseuche. 351.
Steinkohlen. 32.
Südaustralien; Volksmenge 1866. 221.
254. — Steinkohlen. 94.
Queensland; Dürre. 127. 254. 384.
Westaustralien als Deportationscolonie.
192.
Zur Statistik von Neuseeland. 254.
Barbareien der Engländer auf Neuseeland.
31.
Die Hauhaus. 160. —] Der Bezirk Clutha
und der Fluß Molineur. 192.
Aus Neucaledonien. 190. 384.
Von den Navigatoren (Samoa-Jnseln).
156.
Ii e Oolargcgend en.
Schilderungen aus Spitzbergen von C. F.
Frisch. 25.
Hall' s arktische Erpedition und Spuren von
Franklins Leuten. 28. 62.
Die Nordpolreise des Amerikaners Hayes.
220.
Die dänischen Ansiedelungen in Grönland.
318.
Oswald Heer über die Polarländer und
ihre fossilen Pflanzen. 242.
Zur WlKerKunde. — UllerMmcr des Menschengeschlechts.
Raeeneigenthümlichkeit und Charakteranlage.
19.
Nahrungspflanzen bei verschiedenen Völkern.
371.
Wie die europäische Civilisation wilde Völ-
ker zu Grunde richtet. 214.
Hinschwinden der Jndianerstämme in Süd-
amerika. 126.
Die Oldenburger. 183. 208.
Das magyarische Volk. 279.
Die magyarische Sprache. 337. 361.
Barbarei bei den Wallachen. 280.
Die Völker in der europäischen Türkei. 210.
Mohammedaner und christliche Völker in
der eurpäischen Türkei. 332. 382.
Die Haiducken. 310.
Die Juden in Serbien. 349.
Jungrußland und die Nihilisten. 362.
Polen und Ruthenen. 115.
Die Winden oder Slovenen in Krain. 159.
DieOstindier und ihre geistige Regsamkeit.
84.
Die Israeliten in Mekka, das altniekkanische
Heiligthum und der Islam. 301.
Die Turkomanen. 353.
Turkistaner auf einer Reise in Nußland. 286.
Die kalmückischen Beranomaden des Altai.
248. 276.
Die Kissilbaschen in Kurdistan. 349.
Die Völker am Blauen Nil. 264.
Europäer in Algerien. 381.
Die Fans oder Pahuins an der afrikanischen
Westküste. 160.
Die Indianer in Florida. 287.
Chinesen in Californien. 127. 320.
Franzosen in Californien. 381.
Das Racenelement in Mexico. 52.
Das Volk in Nicaragua. 83.
Kulis in Westindien. 221. 350.
Die Indianer am obern Amazonas 172.
Cocamas, Jqnitos. 204.
Orejones-Ceotos. 290.
Die Basken in Südamerika. 367.
Das Mormonenthuni. 191. 255. 383.
Die Hauhaus auf Neuseeland. 160.
Kannibalismus im Nigerdelta. 335.
Tödten eines Zwillingskindes bei wilden
Völkern. 29.
Lebensverachtung der Chinesen. 95.
Wittwenverbrennungen in Indien. 126.
Behaarte Menschen, die sich forterben.
29.
Vorahnung wilder Völkerstämme bei großen
Naturereignissen. 153.
Jndianersage am Columbia. 176.
Ein birnianischer Eid. 223.
Volksaberglauben in Bezug aufThiere. 373.
Pommersche Psingstfeier. 380.
Der Völkergeschmack auf der Pariser Aus-
stellung. 285.
Die ethnographische Ausstellung in Moskau.
348.
Stein- und Metallwerkzeuge bei verschiede-
nen Völkern. 245.
Fossilien und Steinwerkzeuge in Lothringen.
159.
Feuersteinwerkzeuge in einer Höhle bei Air
in der Provence. 288.
Erforschung von Höhlen in Belgien. 256.
Menschenspuren im alpinischen Diluvium.
350.
Der fossile Schädel in Californien. 62.
Vorgeschichtliche Menschenspuren und Alter-
thümer in Canada. 288.
Muschelhügel im Staate Maine. 28.
Steindenkmäler im Lande Hannover. 125.
Vorgeschichtliche Bauwerke auf dcr Insel-
gruppe von Santorin. 288.
Der atlantische Telegraph. 32.
Europäisch-indischer und australischer Tele-
graph. 93.
Der sibirisch-amerikanische Telegraph. 125.
286.
Rußlands Telegraphenverkehr nach China.
128.
Ausdehnung der Telegraphenlinien in Ruß-
land. 63.
Telegraphen in Canada. 63.
Dampssahrten um den Erdball von Karl
Andree. 10.
Dampferlinien zwischen Europa und Nord-
amerika. 63.
Dampfschifffahrt in Nordamerika. 63.
Weltverkehr.
Dampfer zwischen Suez und Bombay. 287.
Dampfer zwischen Java und Australien. 349.
Dampfer auf dem Amazonas. 349. 382.
Die Packetschifffahrt Brasiliens. 351.
Die Gesellschaft dcr Messageries imperiales.
158.
Der Suez-Canal. 63. 350. 383.
Neues Project zur Durchstechung der Land-
enge von Darien. 181.
Bedeutung der Landenge von Panama von
E. Boll. 311.
Die Eröffnung des Amazonenstroms von
Karl Andree. 109.
Der japanische Golfstrom. 128.
Schiffbrüche im Jahre 1866. 158.
Schiffbrüche an den Küsten von Großbri-
tannien. 93.
Ein kühner Seefahrer. 94.
Die deutsche Kriegscorvette „Vineta". 158.
Die nordamerikanische Erpreßeompagnie von
Osten nach Westen bis zum' Stillen
Oeean. 63.
Die Eisenbahnen in Europa. 331.
Ein Schienennetz vom Tajo bis zur Wolga. 63.
Bahnen in Kleinasien. 285.
Bahnen in Ostindien. 93.
Zwischen Bombay und Nagpore. 93.
Bahnen in Algerien. 125.
Die Veracruz-Merico- und die Missouri-
San-Francisco-Bahn. 92.
Vermischte Wittheilungen.
Geographische Verbreitung der Nahrungs-
pflanzen. 371.
Geographische Vorstellungen im Mittelalter,
von Sophus Rüge. 375.
Der Härings- und Brislingssang an den
Küsten Norwegens von Dr. M eh Wald.
343. 365.
Norwegischer Häringsfang. 95.
Die neuesten Forschungen über den Magne-
tismus des Erdganzen und die magnetischen
Observatorien von Dr. B irn b aum. 176.
Eine gleichartige Thermometerscala. 351.
Steht unserer Erde eine neue Gletscher-
Periode bevor? 159.
Vulcanische Thätigkeit auf der Insel Kad-
jack. 256.
Fortdauer der vulcanischen Thätigkeit auf
Santorin. 282.
Vorhersagen von Erdbeben. 384.
Erd- und Seebeben in der Südsee. 384.
Bildung des Korallenriffes von Florida. 351.
VIII
Gicbt es biegsames Jtacolumitgestein? 94.
Die Schädelknochen vom Maman in Süd-
nnbien. 224.
Ein „antediluvianisches Riesenthier" in Bra-
silien. 29.
Ein Mastodon im Staate Nenyork. 63.
F. Schmidt's Erpedition zur Aufsuchung
eines Mammuths in Nordsibirien. 13.
Der Pfadfinder A. Wunderwäld im brasi-
lianischen Urwalde. 121. 145.
Spanien und die Negersklaverei. 160.
Pommersche Pfingstseier. Das Taubenab-
werfen. 380.
Aberglauben in Bezug auf Hafen, Gänse
und Hühner. 378.
Zur Charakteristik d. Hierarchie in Rom. 156.
Zur kirchlichen Statistik Italiens. 191.
Zahl der Priester in Oesterreich. 191.
Polyglotte Tractate. 256.
EineSpeculation mit der heiligen Schrift. 96.
Ein in Ostsiblrien verschollener Pastor. 192.
Philosoph und Menschenfresser. 320.
Eine nordamerikanische Temperanzrede. 320.
Eine siebenzehnstündige Parlamentsrede auf
. der Insel Vancouver. 96.
Südamerikanische Höflichkeit. 127.
Geistererscheinungen in China. 127.
Ein Mohammedaner als englischer Rechts-
anwalt. 351.
Ein Denkmal auf Ferdinand Magellan's
Grabe. 350.
Das neue Gesetz für die Einwanderung in
Brasilien. 379.
Illustrationen.
Spanien.
Maurischer Bogengang im Aleazar von Se-
Villa. 130.
Faeade des Aleazar in Sevilla. 131.
Leichentrauer der Zigeuner in Triana (Se-
villa). 133.
Andalnsische Tänzerinnen im Theater zu
Sevilla. 135.
Im Theatro Principal zu Sevilla. 136.
In der Tabacfsfabrik zu Sevilla. 138. 139.
Andalnsische Bauern auf der Heimkehr vom
Jahrmarkt in Sevilla. 162.
Heimkehr von der Wallfahrt aus Roeio in
Andalusien. 163.
Geistliche Umzüge in der Osterwoche zu Se-
Villa. 165. 167.
Begräbniß eines Armen in Sevilla. 169.
Eine Bolera mit ihrer Mutter. 193.
Auf einem Volksball in der Vorstadt Triana
zu Sevilla. 195.
In einer Academia de Bayle zu Sevilla. 196.
La Malaguena del Toro. 197.
Tanzende Zigeunerin in Sevilla. 198.
El Ole gaditano. 199.
Los Panaderos, sevillianischer Tanz. 199.
Der Bolero. 200.
Sicilien.
Ruinen des alten Theaters von Tanrome-
nium. 107.
Ein Lavastrom am Aetna. 108.
Japan.
Der Mikado, als er in früherer Zeit noch
sichtbar war. 2.
Geldaustheilung von Seiten des Taikun. 3.
Ein Daimio, Lehnfürst, in Hofkleidnng. 4.
Audienz des Taikun beim Mikado zu Hioto-
Miako 1863. 5.
Ein Beamter in Hoskleidung. 6.
Ein Bonze, welcher für den Mikado bettelt. 7.
Schauspieler und Tänzerinnen am Hofe des
Mikado. 8.
Musiker der Hofcapelle des Mikado. 9.
Ein Eremit in Kioto. 10.
Fusi yama, der heilige Berg auf Nippon. 34.
Pilger, welche zum Fusi yama Wallfahrten.
35.
Wohnung des holländischen Generalconsuls
in Bokuhama. 36.
Portiers im holländischen Generalconsulate
zu Benteng-Uokuhama. 37.
Betos, Reitknechte des holländischen Gene-
ralconsnlats in Benteng-Uokuhama. 38.
Ein Tori, geheiligte Pforte, in Uokuhama. 39.
Beamtenfrauen in Dokuhama. 40.
Eine Kleinkinderschule in Uokuhama. 41.
Japanische Kinderspiele. 42. 43.
Japanischer Bauer in Winterbekleidung. 321.
Landschaft auf der Insel Kinsiu. 322.
Dorf und Brücke auf der Insel Kinsiu. 323.
Ein japanisches Aquarium. 324.
Schloß einesDaimio anfder Insel Sikokf. 325.
Eine Straße in Simonoseki. 326.
Fliegende Brücke. 327.
Reisbau in Japan. 328.
Reisernte in Japan. 329.
Ausdreschen des Reises in Japan. 329.
Centralasien.
Lagerplatz der Tekke-Turkomanen. 353.
Eine Tnrkomanin. 354.
Ohrgehänge, Armbänder, Halsbänder, Fin-
gerring. 355.
Halsband, Cylinder mit einem Talisman,
Tnrban, Tressen, Laute, Kopfputz einer
Matrone, Sonne von Silber, Frauen-
Hemd, Kopfputz eines jungen Mädchens,
Knabenmütze. 356.
In einem Turkomanenzelte. 357.
Turkomanische Mühle. 358.
Cauda yoti, religiöser Festschmaus der Tur-
komanen. 359.
Ein turkomanischer Brautzug. 360.
Turkomanisches Begräbniß. 361.
Afrika.
In der Wüste bei Korooko. 225.
Korosko ani Nil. 226.
Klappersteine in der nubischen Wüste. 227.
Tanz der Kameeltreiber. 228.
Baumwuchs am Ufer des Nils bei Abu
Hain ed. 229.
Wohnung im Walde am Blauen Nil. 230.
Vorkehrung zum Schutze der Ernte. 231.
Urwald iin Fasoglo. Baobab-Bänme. 258.
Im Wald am Blaue» Nil in Sennar. 260.
Mißhandlung eines Schwarzen. 261.
Sklaventransport im Fasoglo. 262.
Eine einfache Moschee. 263.
Nordamerika.
Nachtlager ain Red River. 67.
Winterhütte der Reisenden in der Belle
Prairie. 68.
Prairie-Hühner. 69.
Wolverene (Fjellfraß, Gulo luscus). 70.
Fort Ednionton am nördlichen Saskatsche-
wan. 71.
Ein Häuptling der Krih-Jndianer. 72.
Eine Krih-Mestizin. 73.
Ritt durch einen Flnß in der Waldregion. 74.
Biberbau in der nordamerikanischen Wald-
regivn. 98.
Thal des Thompsonslufses und Berg Milton.
100.
Terrassen am Fraserflufse. 101.
Ein Zickzackweg in Britisch Columbia. 102.
Goldgräber in einer Schenke am Caribou.
103.
Ruinen von Tanromenium (Taormia). 106.
Südamerika.
Nauta. Haltplatz der Dampfer am obern
Amazonas. S. 171.
Eine Egaritea auf dem Amazonenstrom. 172.
Ein Garaps Preto oder Schwarzer Fluß
bei Nauta. 202.
Jquitos-Jndianer am obern Amazonas. 204.
Orejones-Jndianer vom Stamme der Ccotos
ain Rio Napo. 290.
Ohr eines Orejon-Ccoto. 291.
Missionsdorf Pevas ain Amazonenstrom. 292.
Ein Geophage in der Mission San Jos«. 293.
Orejones-Jndianer in der Qnebrada de
Ambiacn. 294.
Im Urwalde; von Pebas nach San Jose.
295.
Mission San Jose. 296.
In einer Hütte der Uahuas, Mission San
Jose. 297.
Ollantay Tambu. 22.
Die Mimbres-Hängebrücke zwischen Uru-
bamba und Ollantay. 23.
Eine altperuanische Festung aus gestampfter
Erde. 24. _
Graphische Darstellung des Ganges der
Magnetnadel in Kopenhagen und Mai-
| taub. 180.
t
Aeiträge zur Annde von Japan.
i.
Das Jnselreich des Sonnenaufgangs. — Ter Dualismus in der höchsten Gewalt. — Mikado und Ta'ikun; der legitime Erbherr und der
weltliche Machthaber. — Der geistliche Hoshalt zu Kioto-Miako. — Reise des Ta'ikun zur Audienz beim Mikado. — Der Umzug durch
die Stadt; der geistliche Pomp und des Kaisers Gemahlin. — Der Hofstaat. — Die Audienz und deren politische Bedeutung. — Das
Ceremoniel am Hofe. J— Schattengewalt des Mikado. — Beschreibung von Kioto-Miako. —^ Die Paläste. — Lebhaftes Straßen-
gewühl. — - Volksbühne, Hoftheater und Musik.
Japan hat in unseren Tagen eine nicht geringe Beden-
tung für den großen Weltverkehr erhalten. Bis vor fünf-
zehn Jahren lag das Inselreich des Sonnenaufgangs in ver-
einsaniter Ferne, beinahe völlig abgeschieden von der übrigen
Welt, und nur mit China, Korea und den Holländern unter-
hielt es eine überdies sehr beschränkte Handelsverbindung.
Das Reich genügte sich selbst, war in seiner Weise glücklich
und zufrieden, Ackerbau und Gewerbe blüheten, die Wissen-
schasten wurden eifrig gepflegt und das Volk erfreute sich
eines allgemeinen Wohlstandes.
Aber diese Vereinzelung war auf die Dauer nicht zu be-
haupten. Als das ungeheure, an die Küsten dreier Welt-
theile brandende Wasserbecken der Südsee zum Schauplatz
europäischer Betriebsamkeit und abendländischen Unterneh-
mnngsgeistes wurde, verspürte bald auch Japan den Zug der
neuen Zeit. Nachdem China eröffnet war, mußte auch das
Jnselreich feine Schranken fallen lassen. Nun lag es nicht
mehr weit ab von der übrigen Welt, Nanaasaki uud Aeddo
waren vermöge der Dampfer in wenigen Tagen zu erreichen.
Die neue Zeit hatte sich schon vor länger als einem halben
Jahrhundert durch einzelne Sturmvögel angekündigt und
gleichsam in Voraus angezeigt, daß die frühere Abweifuug
und Ablehnung ferner keine Berechtigung mehr haben solle.
In den Jahren 1799 bis 1803 waren Stewart und
Torrey unter nordamerikanischer Flagge au den Küsten der
Inseln erschienen, nicht minder die Russen schon im vorigen
Jahrhundert; andere seefahrende Völker folgten in längeren
und kürzeren Zwischenräumen.
Tie japanische Regierung begriff, daß eine neue Zeit
hereinbreche. Als der russische Admiral Putiatiu dem Tai'kuu
ein Schreiben des Kaisers Nikolaus hatte überreichen lassen,
erhielt er, im Jahr 1853, zur Antwort: „Es liege in der
Absicht der japanischen Regierung, die Häsen zu eröffnen,
nur wolle man zuvor die nöthigen Vorbereitungen treffen.
Mau wisse sehr wohl, daß die fremden Völker ernstlich den
Wunsch hegen, mit Japan in Berührung zu kommen, auch
wünsche das japanische Volk, mit ihnen Handel zu treiben.
Für Schiffe, welche Seeschäden ausbessern und Wasser sammt
Holz einnehmen wollten, seien schon jetzt die Häsen geöffnet."
Noch 1844hatte die^ripanischeRegierung auf ein Schrei-
ben des Königs der Niederlande sehr diplomatisch geantwortet.
Der europäische Monarch hatte wohlmeinend bemerkt: „Das-
jenige Volk, welches bei der allgemeinen Annäherung aller
Nationen sich ausschließen will, wird mit vielen in Streit
gerathen." In der Antwort heißt es: „Der Kaiser sei
innig ergriffen durch eine solche Sprache und ein Wohlwollen
Globus XI. Nr. 1.
ohne Gleichen, doch was tief in seinem Herzen geschrieben
stehe, das wage er selber nicht an den Tag zu legen."
Am 8. Juli 1853 erschien dann der nordamerikanische
Commodore Perry in der Bucht von L)eddo und erzwang am
31. März 1854 den Vertrag von Kanagawa. Damit war
die neue Zeit für Japan hereingebrochen.
Japan gehört zu den interessantesten Ländern der Erde
und seine hohe Cnltur bietet eine Menge Höchst anziehender
Seiten dar. Es ist Alles eigenthümlich in diesem Insel-
reiche. Wir werden eine Reihe von Schilderungen aus ver-
schiedenen Quellen bringen, durch welche unsere Leser einen
klaren Einblick in die eigenartigen Verhältnisse des Landes
und Volkes gewinnen.
Im Jahre 1863 fand ein Ereigniß statt, durch welches
ganz Japan in eine gewiffe Aufregung gerieth: der Taikun
nämlich zog aus Aeddo nach Hioto zum Mikado, um diesem
einen Höflichkeitsbesuch zu machen. Dergleichen kommt höchst
selten vor, und deshalb erregte jener Kaiserzug allgemeine
Aufmerksamkeit, namentlich auch der im Laude verweilenden
Ausländer. Diese gewannen nun einen wahren Einblick in
die gegenseitige Stellung der beiden Herrscher, welche
eben jetzt, in der Krisis, welche Japan durchzumachen hat,
von erhöheterm Interesse erscheint.
Der Mikado, dieser altlegitime Erbkaiser, hat gar keine
politische Gewalt, denn die eigentliche Herrschaft befindet sich
in den Händen des Taikun; aber die Stellung des erstern
ist unendlich erhabener, und er trägt einen geheiligten Cha-
rakter. Deul Volke gilt er für einen Abkömmling der Sonne;
er stammt von Göttern, Halbgöttern und Heroen, dann auch
von den Herrschern, welche in ununterbrochener Reihenfolge
seit nun länger als 2000 Jahren über „die acht großen
Inseln" regiert haben. Er ist das geheiligte Oberhaupt
sämmtlicher Religionen in Japan und insbesondere auch
Hoherpriester des uralten, echt volkstümlichen Kami-Cultns.
Bei der Sonnenwende im Sommer bringt er der Erde Opfer
dar und bei jener im Winter dem Himmel. Ein besonderer
Gott hat ihn unter Obhut uud Fürsorge genommen; dieser
überwacht ihn von einem Tempel aus, welcher auf dem Berge
Kamo unweit vom Palaste des Mikado steht. Nach dem Tode
des geheiligten Herrschers wird dessen Namenstafel in den
Tempeln der Vorfahren aufgehängt, namentlich'auch im
großen Sonnentempel.
Dieser theokratifche Kaifer und legitime Erbherrscher von
Japan, der Mikado, erhält feine hohe Stellung unmittelbar
Beiträge zur Kunde vou Japan.
vom Himmel. Dem Namen nach ist seine Gewalt groß, in
der Wirklichkeit dagegen äußerst gering. Allerdings verleiht
er dann und wann dem einen oder andern großen Feudal-
fürsten, welcher sich um den Altar verdient gemacht hat,
irgend einen pomphaften Titel, und dann und wann thnt er
auch Einsage gegen irgend eine Handlung des weltlichen
Hofes zu 2)eddo, Wenn er durch eine solche seine Prärogative
beeinträchtigt glaubt. Das that er z. B. in der neuesten
Zeit, als der Taiknn, obwohl nur dem Zwange nachgebend,
mit den fremden Mächten Verträge abgeschlossen hatte; hinter-
her wirkt aber auch auf ihn ein Zwang und er genehmigte
dann doch, was er anfangs verworfen hatte.
Der Taiknn seinerseits ist der Erbe glücklicher ilsur-
patoren. Gründer der sogenannten weltlichen Dynastie sind
ehemalige Kronfeldherren, einst Diener des Mikado, welche
ihrem Herrn und Gebieter Landheer, Flotte, Gebiet und Schätze
raubten; sie haben ihm alle Sorgen über irdische Dinge ab-
genommen. Einst waren die Vorsahren des Mikado selber
Der Mikado, als er in früherer Zeit noch sichtbar war.
streitbare Männer; sie wußten vortrefflich mit Schwert, Bogen
und Pfeil umzugehen, lagen als rüstige Waidmänner der
Falkenjagd ob und verfolgten zu Roffe Hirsch und Eber.
Als die Ausartung am Hofe überhandnahm, fuhr der Mikado
in einem zweirädrigen, mit einem Ochsen bespannten Wagen
im Park seines Palastes spazieren, und das galt ihm für ein
großes Vorrecht in einem Lande, in welchem sonst Niemand
im Wagen fuhr, sondern ritt oder sich der Tragsessel und
Sänften bediente. Heutzutage verkehrt der Mikado mit der
Außenwelt fast nur durch Vermittelung seiner Frauen, welchen
seine Pflege anvertraut ist. Sie kleiden ihn an, sie reichen
ihm die Speisen, bringen ihm an jedem Tag ein neues Ge-
wand und bringen ihm die Schüssel und Teller, welche seit
Jahrhunderten von einer nnd derselben Fabrik geliefert werden.
Nachdem sie einmal gebraucht worden, zerschlägt man sie.
Streng genommen, sollen die Füße des geweihten Herrschers
nie den Boden berühren; er darf fein Haupt nicht der freien
Luft aussetzen und dasselbe eben so wenig profanen Blicken
Beiträge zur K
zeigen; er soll von den Elementen unberührt bleiben, weder
Sonne noch Mond dürfen ihn bescheinen, weder Erde noch
Menschen ihn berühren, ja eigentlich soll er sich selber un-
berührt lassen!
Der Mikado darf seine Hauptstadt Kioto niemals ver-
lassen; so befiehlt das unbeugsame Ceremoniel. In der-
selben besitzt er als sein Eigenthum nur den Palast und die
Tempel seiner Familie; die Stadt selbst steht unter der Herr-
schcist des weltlichen Kaisers, der jedoch die Einkünfte, welche
er aus ihr bezieht, zu Gunsten des geistlichen Hofhaltes ver-
wenden läßt. Er hält eiue Besatzung in der Stadt, angeb-
lich zum Schutze, in der That aber zur Ueberwachuug des
Mikado.
Ein kaiserlicher Erlaß verkündete den Tag, an welchem
tbe von Japan. 3
der Taiknn seine Hauptstadt Aeddo verlassen werde. Wir
können diese als völlig modern bezeichnen; sie bildet den
Mittelpunkt der Regierung und Verwaltung des Reiches; sie
hat eine Kriegs- und eine Navigationsschule, iu ihr befinden
sich auch das Dolmetschercolleginm und die Obergymnasien
sür Philosophie und Arzneiwissenschaft.
Die Heeresabtheilung, welche dem Taiknn voranzog, war
völlig nach europäischer Art ausgerüstet und bewaffnet. Wäh-
rend sein Fußvolk, Reiterei und schweres Geschütz nach Kioto
aus der großen Reichsstraße, der Tokaido, zog, steuerte die
Kriegsflotte durch das japanische Binnenmeer. Der Taiknn
bestieg den prächtigen Dampfer „Laimun", welchen er für
eine halbe Million Dollars gekauft hatte, und diesem folgten
sechs andere Dampfer, darunter die „Kandinamarra", mit
Geldaustheilung von
welcher einige Jahre früher die japanische Gesandtschaft von
Neddo nach San Francisco gefahren war, dann die Corvette
„Sumbiug", ein Geschenk des Königs der Niederlande, und
die $acht „Emperor", eine Gabe der Königin Victoria.
Die übrigen Schiffe waren in Holland und Amerika gebaut
worden. Alle hatten nur japanisches Schiffsvolk. Stolz
dampfte das Geschwader aus der Bai vou Heddo, dublirte
das Cap Sagami und das Vorgebirge Jdsii, steuerte durch
die Liuschoteustraße, dann an der Ostküste der Insel Awadsi
hin und warf auf der Rhede von Hiogo Anker. Dort stieg
unter dem Donner des Geschützes der Taiknn ans Land.
Einige Tage später hielt er feierlichen Einzug in Hioto.
Der Mikado seinerseits hat keine bewaffnete Macht, sondern
nur eiue Leibwache von Bogenschützen, welche sich aus den
jungen Männern seiner Verwandtschaft oder aus dem Feudal-
Seiten des Tcükun.
adel recrutirt. Seine Einkünfte reichen übrigens nur dürftig
hin, um den erforderlichen Aufwand zn bestreiten. Er sieht
sich auf das angewiesen, was der Taiknn ihm zubilligt.
Dieser knausert allerdings nicht, es würde aber doch oftmals
Ebbe in der Casse sein, wenn nicht die Bettelmönche
einiger geistlichen Orden alljährlich von Dorf zu Dorf, bis .
in die entferntesten Bezirke gingen, um, wir könnten sagen,
einen Peterspfennig für ihn zu erflehen. Zur Aufrecht-
erhaltuug feines Ranges kommt ihm auch zu statten, daß
ein beträchtlicher Theil feiner Würdenträger ihm ohne Sold
dient. Sie begnügen sich mit den Kleidern, welche ans der
kaiserlichen Garderobe kommen, und welche der hohe Herr
nur ein einziges Mal getragen hat. Manche dieser stolzen
Edelleute kann man in ihrer Wohnung am Webstuhle ar-
beiten sehen, andere verfertigen Stickereien, nnd manche der
1 *
Beiträge zur Kunde von Japan.
prachtvollen und prächtig gearbeiteten Seidenstoffe kommen
aus fürstlichen Häusern.
Am Tage der Audienz entfaltete der Mikado eine große
Pracht, indem fein Hofstaat (derDairi) einen großen Aufzug
und langen Umgang hielt. Der geheiligte Herr war von
feiner Leibwache , seinem Hofhalt und einem ungemein zahl-
reichen Gefolge von Geistlichen begleitet. Er zog aus dem
südlichen Palastthore (das gegen Ende des neunten Jahr-
Hunderts von dein berühmten Maler und Dichter Kose Kanaoka
mit Gemälden geschmückt worden ist) bis in die Vorstädte,
welche vom Flusse Jdogawa bewässert werden, und begab sich
dann durch die Hauptstraßen der Stadt nach dem Palaste
zurück.
An der Spitze des Zuges wurden die alten Jnsignien
seiner Macht getragen: der Spiegel der JzaNami, jener
Göttin, welche ans der In-
fei Awadsi die Sonne schus
und als Urstanimhalterin des
Geschlechtes der Mikados au-
gesehen wird; die rnhmbe-
deckten Fahnen, deren lange
Wimpel schon unter Zinmn,
dem Stifter des Reiches, im
Winde flatterten; das flam-
mende Schwert des Heros
von Aamato, welcher in nr-
alten Tagen der achtköpfigen
Hydra, welcher Jungfrauen
aus fürstlichem Geblüte ge-
opfert wurden, den Kopf
abschlug. Dazu kam noch
das Siegel, welches den alte-
sten Reichsgesetzen zur Be-
stätiguug aufgedrückt wurde,
und der Fächer aus Cederu-
holz, der einer Latte gleicht
und als Scepter seit nun
mehr als zweitausend Iah-
ren in den Händen aller
Mikados gewesen ist. Auch
sah man im Zuge die Wap-
penbanner aller in alte Zei-'
ten hinaufreichenden Fürsten-
geschlechter. In den Augen
dieser kann der Taiknn ledig-
lich als Emporkömmling gel-
ten, aber das darf er sich
schon gefallen lassen, denn
sowohl die großen wie die
kleinen D a 'im i o s (Lehn-
fürsten) müssen doch sich
dazu verstehen, sechs Monate im Jahre am Hofe znAeddo
zu verweilen und dem Taiknn ebensowohl ihre Huldigung
darzubringen, wie jene Edellente, welche der letztere zu
Rang und Würden erhoben.
In dem pomphaften Aufzuge des Mikado waren die
^Priester aller Secten vertreten, welche die geistliche Herr-
schaft desselben anerkennen. Die hohen Würdenträger des
altvolksthümlichen Cnltus der Kamis unterscheiden sich in
ihrer Tracht kaum von den hohen Hofbeamten. Im Anfang
hatte die Religion der Japaner gar keine Priester. Der
Buddhismus dagegen, welcher aus China kam und sehr schnell
eine weite Verbreitung gewann, hat eine unzählige Menge
von Secteu, Orden und Brüderschaften aufzuweisen. Die
buddhistischen Bonzen und Mönche bildeten im Zng nnab-
sehbare Reihen ernsthinwandelnder Menschen, deren Haupt
eine Tonsur hatte oder völlig glatt geschoren war; viele
trugen den Kops unbedeckt, andere hatten seltsam gestaltete
Mützen, oder eine Mitra oder auch breitkrämpige Hüte.
Manche hielten in der rechten Hand einen Krummstab, andere
einen Rosenkranz und wieder andere große Fliegenwedel, oder
eine Seemuschel oder einen mit Papierstreifen versehenen
Weihwedel. Sehr Vieles erinnerte an die Processionen der
katholischen Geistlichkeit in Europa.
Hinter den Geistlichen schritt das Hofgesinde des Mikado
einher. Die Leibwächter hatten es ganz besonders ans Glanz
und Zierlichkeit abgesehen. Hellebarden und Kettenpanzer
haben sie nicht; diese gebühren sich für die Krieger des
Taiknn; dagegen tragen sie eine lackirte Kappe, an deren
beiden Seiten sich eine fächerartige Nofette befindet, und ein
kostbares Wamms; von den Füßen sieht man nichts, weil
sie von den übermäßig wei-
ten Beinkleidern verdeckt wer-
den. Bewaffnet sind sie mit
einem krummen Säbel, mit
Bogen, Köcher und Pseil.
Ein geringer Theil der Leib-
wache ist beritten.
Im Allgemeinen sind in
Japan die Rechtsverhältnisse
stets wohl geordnet gewesen
und über öffentlichen Unfug
hat man selten Klage zu
führen gehabt. Nur die Hof-
dienerschaft am Hofe des ge-
heiligten Mikado bildet eine
Ausnahme von der Regel;
und die jungen Cavaliere
*L<les TELCOO^W/,.
Ein Dannio, Lehnfürst, in Hofkleidung
im Jnfelreiche des Sonnen-
ausgangs haben einst an Fre-
velthaten gewetteifert mit je-
nen am päpstlichen Hofe
zu Rom in den Zeiten Cä-
far Borgia's. Der holländi-
sche Gesandte Konrad Kra-
mer, welcher 1626 inKioto
verweilte, war dort bei einem
großen Feste zugegen, wel-
ches der Taiknn zu Ehren
des Mikado veranstaltet hatte.
Er berichtet ausführlich, daß
man am folgenden Tage in
den Straßen eine Menge
von Leichen, namentlich von
Weibern und Kindern, fand,
welche während der nächt-
lichen Ausschweifungen von
den Junkern ermordet worden waren. Diese hatten auch
eine Anzahl junger Mädchen entführt und diese erst nach
Wochen wieder freigelassen. Die Angehörigen konnten für
diese Unbilden keine Genngthnung erhalten.1
Die Polygamie existirt in Japan, genau genommen, nur
für den Mikado; nur in Bezug auf seine Person ist sie eine
gesetzliche Einrichtung.
Die Kutschwagen des Dairi (Hofstaates) fehlten im Zuge
nicht. Es find schwere Karren, plump aus kostbarem Holze
gebaut und mit verschiedenen Lackfarben bemalt; jeder wurde
von zwei schwarzen Büffeln gezogen und von Pagen geleitet,
welche seine weißseidene Kittel trugen. Die Kaiserin und
die zwöls anderen legitimen Frauen des Mikado sind hinter
Gitterwerk verborgen, durch dessen Oeffnungen sie Alles be-
merken können, was vorgeht. Seine Nebenfrauen und die
Beiträge zur Kunde von Japan.
fünfzig Ehrendamen der Kaiserin wurden in Norimons, d. h.
verdeckten Sänften, getragen.
Der Mikado verläßt seine Behausung nie anders als im
kaiserlichen Tragsessel, der von fünfzig weißgekleideten Trägern
fortbewegt wird. Er ist nach dem Muster der Mikosis
gebaut, jener alten Heiligenschreine, in welchen die Reliquien
der alten Kamis ausgestellt werden, und sieht etwa aus wie
ein Gartenpavillon mit einer Kuppel, die nach Außen hin
geschweift ist; oben befindet sich eine Kugel und auf dieser
ein Hahn mit ausgebreiteten Flügeln und Schweis. Er stellt
den mythischen Vogel vor, welcher in China und Japan als
Foo bezeichnet wird. Dieser
tragbare Pavillon, der von
Gold glänzt und starrt, ist
so hermetisch verschlossen, daß
man kaum begreift, wie ein
Mensch darin ausdauern könne.
Zu beiden Seiten desselben
schreiten die Hausdienerinnen
des Mikado einher, denn nur
sie haben das Vorrecht, sich
unmittelbar seiner Person zu
nahen. Für das Volk und
selbst für den Hof ist seit Jahr-
Hunderten der Mikado eigentlich
nur eiue Art von unsichtbarer
Gottheit, die stumm und unzn-
gänglich erscheint. Diese Rolle
behauptete der heilige Herr auch
während der Audienz, welche
er dem Taikun gab.
Unter den Gebäuden im
Palaste, durch welchen Kioto
sich die Bezeichnung alsMiako,
d.h. Residenz, erworben hat,
befindet sich auch eins, das
man als den Tempel der Prie-
steraudienzen bezeichnen könnte,
denn dasselbe ist völlig in dem
Baustyl aufgeführt worden,
welcher für die Kamitempel
typisch ist; auch heißt er, wie
diese, Mia. Er stößt an das
Hauptgebäude, in welchem der
Mikado wohnt, und erhebt sich
im Hintergrunde eines geräu-
nügen, gepflasterten und mit
Bäumen bepflanzten Hofes.
Auf diesem stellen sich bei gro-
ßen Festlichkeiten die Züge des
Hofgesindes ans.
Nachdem der Zug seinen
Umgang gehalten, zogen sich
die Frauen in ihre Gemächer Beamter
zurück; die Abgeordneten der
Bonzen und Mönchsorden füllten die Hallen, welche an der
Umfassungsmauer hinlaufen. In bestimmten Zwischenräumen
bilden die Truppen des Taikun Spalier, namentlich jene von
der ständigen Besatzung, und zwar zu beiden Seiten der
Avenue, welche an der breiten Haupttreppe des Palastes aus-
läuft. Dort sieht man die Hofleute des Mikado in ihren
langen Schleppmänteln gravitätisch die Stufen hinaufgehen;
sie stellen sich in der Veranda zur Rechten und Linken auf,
das Gesicht gegen die noch nicht geöffneten Thüren gerichtet.
Diese führen zum Thronsaale. Bevor sie sich niederkauern,
nehmen sie die Schleppen des Mantels auf und legen die-
selben in der Art über das Geländer, daß die Menge sieht,
welcherlei Wappen eingestickt sind. Bald ist die ganze Gal-
lerie mit dieser Art von Wappenschildern tapeziert.
Inzwischen erschallen vom linken Flügel her die Töne
von Flöten, Seemuscheln und Gongs. Dadurch giebt die
Hofcapelle ein Zeichen, daß der Mikado seinen Einzug in
das Allerheiligste hält. Nun schweigt die Menge und bald
vernimmt man keinen Laut mehr. So verläuft wohl eine
Stunde, Alles wartet, bis die Vorbereitungen zum Empfange
getroffen worden sind.
Da erschallt das Geschmetter von Drommeten, denn der
Taifun nahet sich und betritt
die Aveuue zu Fuß und ohne
jedes kriegerische Geleit. Sein
erster Minister, die obersten
Befehlshaber des Landheeres
und der Flotte fammt einigen
Mitgliedern des Hohen Ra-
thes zu Peddo folgen ihm in
respectvoller Entfernung. Er
bleibt einen Augenblick am Fuße
der großen Treppe stehen und
nun werden die Thüren des
Tempels auseinander gescho-
ben. Jetzt geht er die Stufen
hinauf und die Neugier der
Menge wird befriedigt.
Was sieht sie? Ein gro-
ßer Rollenvorhang aus grün-
lackirter Bambusrinde, welcher
an der Decke des Saales hängt,
ist bis auf etwa drei Fuß ober-
halb der Schwelle hinabgelas-
seu worden, so daß man ein
Bett von Matten und Teppi-
chen zu erkennen vermag. Aus
demselben gewahrt man weit
ausgebreitet und aufgebauscht
ein weißes Gewand. Das ist
der Mikado auf seinem Throne;
von ihm selber ist nichts zu
erblicken, man sieht lediglich
das Kleid. Er selber kann
durch den gegitterten Rollen-
Vorhang Alles wahrnehmen,
ohne daß er selber gesehen wird.
Er sieht aber, so weit sein Blick
reicht, weiter nichts als Köpfe,
die sich vor seiner unsichtbaren
Majestät beugen. Nur eiu
Kopf ragt über die anderen her-
vor; auf ihm ruhet als Krone
die hohe goldene Mütze, das
in Hofkleidrmg. königliche Abzeichen des Welt-
lichen Herrschers. Aber sobald
dieser die letzte Stufe der Treppe überschritten hat, muß auch
er sich verneigen und'verbeugen; er sinkt langsam in sich
selber zusammen, fällt auf die Knie, breitet die Arme nach
vorn hin gegen den Thronfaal aus und berührt mit seiner
Stirn den Boden.
Damit ist die Audienz zu Ende, der Zweck der großen
Feierlichkeit erreicht: der Taikun hat sich im Angesichte des
Volkes vor dem Mikado, dem altlegitimen Erbkaiser, dem
Abkömmlinge der Göttin, auf die Knie geworfen.
Diese Audienz von 1863 constatirt, wie Atme Hum-
bert, der schweizerische Gesandte in Japan, in seinem vor-
Beiträge zur Kunde von Japan.
trefflichen Berichte (Le Tour du Monde, Nr. 340 ff.)
hervorhebt, zweierlei. Einmal: daß der weltliche Herrscher
noch heute, gemäß der Ueberlieseruug und dem Herkommen,
dem legitimen Herrscher und Großpriester der alten Volks-
religion Unterwürfigkeit bezeigt. Zweitens: daß der theo-
kratische Kaiser formell den Vertreter einer Gewalt anerkennt,
die nicht vom Urenkel der Sonne ausströmt. Scheinbar
lauschten beide Gewalten nur Höflichkeiten aus, in der Wirk-
lichkeit aber vergab der weltliche Herrfcher seiner Macht und
Gewalt auch nicht das Geringste. Der Mikado hingegen
ließ alle Ansprüche auf die weltliche Regierung fallen, ja er
erkannte, implicite, in der Per-
son des Taikun die neue Civi-
lisatiousbeweguug an, gegen
welche er so otfmals feinen
Bann geschleudert hat.
Die japanischen Künstler,
welche Zeichnungen von Allem,
was sich bei der Audienz begab,
entworfen haben, begriffen voll-
kommen die wahre Bedeutung
der Sache. Ein Bild stellt
die Rückkehr des Taikun nach
Peddo dar. Der Dampfer
qualmt mächtig und dnrchfchnei-
det die Wellen stolz und rasch.
Alles Schiffsvolk ist auf fei-
uem Posten und man sieht,
daß die Leute mit Sicherheit
manövriren. Im Hintergrunde
fahren einige europäische Segel-
schiffe; an den hohen Ufern
betrachten Japaner zu Fuß und
zu Roß mit Wohlgefallen das
Schaufpiel. Es scheint, als
ob sie dem Taikun zuriefen:
Steuere getrost weiter; du hast
nichts mehr zu befürchten vom
Widerstande des Mikado, der
m Hioto-Miako thront. Der
Dampfer ist der Verkündiger
einer neuen Zeit; der ehrwür-
dige Schutzpatron unserer Reis-
selder, Jnari Daimiodschin, be-
grüßt die Morgenröthe der
Zukunft und schickt die weißen
Füchse, seine pfiffigen Diener,
auf daß sie mit dem himmli-
fchen Weihwedel alle böswil-
ligen Einflüsse hinwegfegen.
Dir, Taikun, stehen fortan
alle Götter und Heroen des
alten Nippon zur Seite und
zu Befehl!
Seitdem hat einer der mäch- Ein Bonze, welcher für
tigsten Feudalherren, der Prinz von Nagato, den Versuch ge-
macht, dem Mikado die frühere Allgewalt wieder in die
Hände zu spielen, derselbe ist jedoch mißlungen. Aber Ja-
pan macht eine schwere Krisis durch, auf die wir ein aude-
res Mal näher eingehen. Inzwischen ist im Herbst 1866
der Taikun mit -lob abgegangen; der dritte seit 1853!
Offenbar waltet im Palaste zu Ä)eddo ein finsterer Geist.
*
* *
Der Hof des Mikado hat einst frohere Tage gesehen
als heute. Von 744 bis 1185 unserer Zeitrechnung war
die Residenz in Osaka, der großen und volkreichen Handels-
stadt, welche wohl auch als das japanische Venedig bezeichnet
wird. Sie bildet den Hafen für Hiogo-Miako, welcher ver-
tragsmäßig im Jahre 1868 dem europäischen Verkehr eröff-
net werden muß. Hiogo liegt nur acht Wegstunden land-
einwärts. Der Mikado besaß in Osaka einen Prachtpalast
mit herrlichen Gärten und war dem Volke nahe. Aber seine
Höflinge redeten ihm ein, es fei nicht würdig für den Urenkel
der Sonne, mit dem Schwarme feiner Unterthanen zu ver-
kehren; sein hoher Rang erfordere, daß er sich nicht vor Jeder-
mann sehen lasse; nur von seinem Dairi, d. h. Hofhaushalt,
dürfe er umgeben sein, und die
weltlichen Geschäfte müsse er
seinen Dienern überlassen.
Die Herrscher folgten dem
unweisen Rathe und damit
kam eine völlige Umwandelnng
in das Leben. Der Mikado
zog sich gänzlich in seinen Pa-
last zurück und wurde uach und
nach von den Banden eines
Ceremoniels so eug nmschlnn-
gen, daß er sich kaum noch
rühren konnte. Als darüber
die Bürgerschaft von Ofaka
murrte, gaben ihm die Höflinge
den Rath, seinen Hof (Dairi)
nach der damals kleinen Stadt
Kioto zu verlegen und diese
zu seinem Miafo (der Resi-
denz) zu machen.
Kioto liegt am Flusse Jdo-
gawa, der aus dem See Oitz
abfließt und unterhalb Osaka
in das japanische Binnenmeer
mündet. Zwei Nebenflüsse des
Jdogawa bespülen gleichfalls
die Stad't, welche auf allen
Seiten mit Wasser umgeben
ist. Die Gegend ist anmuthig,
ihr Boden fruchtbar, das Klima
seiner Trefflichkeit wegen be-
rühmt. Dort konnte der Ur-
enkel der Sonne, der Nach-
komme tapferer Herrscher, in
Beschaulichkeit und Nichtsthun,
ungestört von: lauteu Getreibe
der Welt, sein Leben hinbrin-
gen. Vermöge seiner Abstam-
mnng war er Oberhaupt der
alten volksthümlichen Religion,
die jedoch keine organisirte Geist-
lichkeit hatte. Nun schufen die
Mikados eine Hierarchie von
den Mikado btttelt. Beamten, welchen priesterlicher
Charakter beigelegt wurde und die für den Cnltns und Alles,
was damit zusammenhängt, zu sorgen hatten. Die hohen
Würdenträger wurden unter den Mitgliedern der kaiserlichen
Familie und deren Verwandten erwählt, und ein Gleiches
geschah mit den Palastbeamten und dem Hofhalt. Alle bür-
gerliche und politische Verwaltung wurde dem Hofe mehr und
mehr entfremdet; dieser bekam allmälig einen durchaus cleri-
ealeu Zuschnitt.
Die neue Residenz bot ein merkwürdiges Schauspiel dar.
Man sah nichts in ihr was mit Kriegswesen, Flotte und
Staatsregierung in Verbindung steht; die Beamten, welche
Beiträge zur Kunde von Japan.
dafür zu sorgen hatten, lebten in anderen Städten, dagegen
suchten alle religiösen Secten eine Ehre darin, daß ihre Wür-
denträger in der Residenz dauernd anwesend seien und dort
Tempel errichteten. Die Buddhisten haben in Miako die
größte Glocke, welche die Welt aufzuweisen hat, und einen
Tempel, der nicht minder einzig in seiner Art ist, nämlich
jenen der 3333 Götzenbilder, denn so viel große und kleiue
Idole sind in der That in demselben angebracht worden. Ver-
alte volksthümliche Kamicultus hatte zu Ende des 17. Jahr-
Hunderts iu Kioto und der nächsten Umgegend nicht weniger
als 2127 Mias (Tempel und Capellen), die Buddhisten
besaßen 3893 Tempel und Pagoden!
Die Paläste des Mikado gehören zu den geweihten Bau-
werken; sie sind mit Mauern umzogen und von Gärten
umgeben. Es kommt nicht selten vor, daß der Herrscher
abdankt, um sich dem strengen Ceremoniel zn entziehen;
dann wohnt er in einer entlegenen Region des Dai'ri, der
Palast- und Gartenmassen. Etwa in der Mitte der Stadt
erhebt sich eine Art von Burg, in welche der Mikado sich bei
unruhigen Zeitläuften zurückzog. Dort befindet sich heute das
Hauptquartier der,Besatzungstruppen des Tai'kun. Die Zahl
der Würdenträger, Beamten und Dienerschaft geht in die
Tausende; man kennt aber die Zahl nicht genau, weil der
Dai'ri (Hofhalt) das Privilegium hat, bei der alljährlich statt-
findenden Volkszählung übergangen zu werden. Diese wird
nach Secten vorgenommen. Zu Engelbert Kämpfer's Zeit,
1693, zählte man, vom Hofe ganz abgesehen, die erschreck-
liche Anzahl von 52,169 Geistlichen in der Stadt! Die
Schauspieler und Tänzerinnen am Hofe des Mikado.
Zahl der Laien belief sich auf 477,557 Seelen, die sich auf
etliche 20 Secten vertheilten.
Kioto-Miako muß in feiner Blüthezeit recht eigentlich
die Stadt eines fast ununterbrochenen Carnevals gewesen
sein; in Priesterstädten pflegt das Leben lustiger zu fem als
da, wo näselnde puritanische Secten das ganze Leben mit
abscheulicher Langeweile durchschwängern.
Der Sonnenuntergang nahet, und es wird auf Straßen
und Märkten in Kioto noch lebhafter wie zuvor. Aus allen
Tempeln vernimmt man den Schall von Trommeln, Tain-
bnrinen, kupfernen Gongs und ehernen Glocken; denn die
Abendandacht soll beginnen, — die Straßen werden durch
Papierlaternen erleuchtet, große und kleine; eS giebt dar-
unter gigantische in Walzenform, welche, gleichsam selber
leuchtende Säulen, iu den Colouuaden der Tempelgänge
stehen. Kleinere, in Kugelgestalt, hängen vor den Thurm
der Gastwirtschaften und der Vergnügnngsörter. Im In-
nern der Stadt wogt die Menge auf und ab, namentlich auf
den Trottoirs der langen Straßen in der Umgegend des Dai'ri,
wo namentlich Frauen die auf den Auslegebrettern befind-
liehen Waaren sich betrachten. Jnl Gewühl fehlen auch die
Priester nicht. Jene des Kamicultus tragen ein fchwarz-
lackirtes Käppchen ans Pappe; es hat einen kleinen Helm-
kämm mit einem kleinen weißen Kreuze und am Hintertheil
fällt ein steifes Band herab auf den Nacken. Dieses ist eine
nicht bloß den Priestern eigene, altvolksthümliche Tracht, die
vor langer Zeit durch die Aufwandsgesetze befohlen wurde.
Die betitelten Clafsen in Kioto wurden in 19 Classen ge-
Musiker der
Verzierungen ein- für allemal fest bestimint, durchaus conven-
tionell, wie einst in Frankreich die sogenannte clafsifche Tra-
gödie mit „Atadame" Phädra, Agamemnon mit Perrücke
und Paradedegen, und Achilles in Schuhen mit hohem Ab-
satz. In Europa wußte man übrigens, wie diese in solcher
Art karrikirten Gestalten des classischen Alterthums eigeut-
lich beschaffen waren, aber anf dem Hoftheater in Japan
kann der Zuschauer sich über manche Rollen keine Rechen-
schaft geben; sie müssen ihm mythologisch und phantastisch
erscheinen. Da erscheint z. B. ein Greis mit langem wei-
ßen Bart und auf eine Krücke gelehnt; auf dieser sitzt ein
grüner Papagey, also ein Vogel, der in Japan nicht vor-
kommt. Ein Held verfolgt eine giftige Schlange, und auch
dieses Thier ist dem Lande fremd. Woher kommen die
Schilde, Helme und Schwerter mit Formen, welche mit den
Globus XI. Nr. 1.
»eile des Mikado.
Waffe« der alten nationalen Heroen oder mit den Kriegern
der alten Mikados nichts gemein haben? Auch von China
her siud sie nicht entlehnt worden. Ahns Humbert meint
Anklänge an die Wayangs anf Java zu finden, alfo an
gleichfalls mysteriöse Theaterstücke, wo das Heldenspiel viele
Stunden lang aufgeführt wird und zwar von hölzernen Ma-
rionetten und iu einer Sprache, welche Niemand versteht.
Die phantastische Kopfbedeckung jener javanischen Marionet-
ten entspricht wenn nicht völlig in der Form, so doch in der
Wirkung jener, mit welcher die Comödianten, die „Hofschau-
spieler" des Mikado sich schmücken. Unser Bild zeigt einige
japanische Bühnentrachten.
Auch die Musikanten der Hofcapelle wie des Hoftheaters
tragen einen Helm nach altvolksthümlichem Zuschnitt. Sie
spielen die Flöte, die Hirtenflöte, die Seemuschel, eiue Art
Beiträge zur Ki
theilt. Der Priester trägt eiu weites Oberkleid, gebauschte
Beinkleider und einen großen Krummsäbel. Die buddhisti-
scheu. Priester siud zumeist in Grau gekleidet, viele aber auch,
je nach ihren Secten, schwarz, braun, gelb oder roth. Sollte
man glauben, daß inmitten einer so bewegten und volkreichen
Stadt auch Einsiedler Vorhänden wären? Allerdings sind
dort mehrere, welche sich vou der Welt zurückgezogen haben,
und alle werden ansgiebig von dein gntmüthigen Publicum
gefüttert. ^ Einer von ihnen hat sich auf geheimnißvolle Weife
in einer steilen Bergwand eine Grotte ausgehauen; man weiß
nicht, woher er kam und wer er ist. Er hat aber einen Roll-
zug angebracht und vermittelst desselben zieht man die Nah-
rnngsmittel zu ihm hinauf. Seine Grotte ist angebracht über
de von Japan. 9
einem Teich im großen Park, und unsere nach einem japa-
nischen Geniälde verfertigte Abbildung ist getreu. (S. 10.)
Bettelei ist iu Japan eine Profession der Geistlichen
und sie schnurren auf allen Straßen. Ergötzlicher sind die
Gaukler, Seiltänzer und Straßencomödianten, wenn auch
ihre Pfeifen- und Tamburinmusik einem europäischen Ohre
nicht gefüllt. Die Guitarren in den vielen Theehäuferu kann
man fchon eher anhören; die Theater und andere Vergnü-
gnngsörter siud bis spät in die Nacht geöffnet.
Auf der Volksbühne sind bürgerliche Schauspiele und
Zauberopern sehr beliebt. Es ist aber auch ein Hoftheater
vorhanden und dieses gehört zu den seltsamsten Erscheinungen
in Japan. Auf ihm sind Rollen, Trachten und Bühnen-
10
Dampferfahrten rund nm den Erdball.
von Trommelpauke, und schlagen den Gong, welcher im Lande
Kak daii ko genannt wird. Wahrscheinlich hat die Gestalt
dieses Instrumentes Bezug auf den uralten Sonnencultns.
Jene fünf Instrumente ha-
ben eine Art von geheilig-
tem Charakter. Es gab eine
Zeit, in welcher die große
Gottheit, von welcher die
Welt Tageshelle und Wärme
empfängt, es uicht mehr mit
ansehen mochte, daß die Men-
schen so grausam und bar-
barisch waren; sie zog sich
deshalb in die am Ocean
gelegenen Höhlen zurück.
Darüber wurden die Men-'
schen sehr betrübt; sie mach-
ten Musik mit jenen fünf
Instrumenten, um die Sonne
zu rühren. Sie empfand
auch Mitleiden, kam wieder
zum Vorschein, die Finster-
niß verschwand von der Erde
und Strahlen der Sonne gos-
sen ihr erwärmendes und er-
glückendes Licht wieder über
die Welt aus.
Zu solchen Phantasie-
reien und Seltsamkeiten bil-
bete die praktische Auffassung
der Dinge und die Prosa des
gesunden Menschenverstan-
des, welche im Leben der Ja-
paner vielfach so erfreulich
zu Tage tritt, einen schar-
sen Gegensatz. Wir wer-
den dafür Beweise beibrin-
gen. Eben, während wir
Ein Eremit in Kivto.
diese Zeilen schreiben, erhalten wir den zweiten Band
über „die preußische Expedition nach Ostasien". Er-
handelt noch vorzugsweise über Japan und ist ganz vor-
trefflich gearbeitet. Wir sin-
den beim flüchtigen Durch-
blättern Folgendes. Das
Pferd eines Mitgliedes der
prenßischenGesandtschast trat
einen Knaben und der Kno-
chen brach. Der Arzt, Dr.
Lucius, legte sofort einen
provisorischen Verband an.
Bald erschien ein japani-
scher Arzt und überzeugte
sich, ob der Knochen richtig
zusammengefügt fei. Dr.
Lucius behandelte den Kran-
ken bis zu dessen Genesung
und traf bei ihm häusig mit
japanischen Aerzteu zusam-
men. Zu seinem Erstaunen
fand er sie mit den neue-
sten europäischen Heilmetho-
den vertraut. — Jüngst
sind auch mehrere junge ja-
panische Edellente nach Phi-
ladelphia gekommen, um
dort mehrere Jahre lang
theils den: Studium der
altklassischen Literatur obzu-
liegen, theils sich mit nm-
thematischen und technischen
Wissenschaften zn beschäftig
gen. Schon durch deu Trieb
zu lernen und sich anszn-
bilden unterscheiden die Ja-
paner sich wesentlich von den
Chinesen.
Dampferfahrten rund um den Lrdbalt.
Die Linien San Fraucisco-Schanghai und Panama-Australien. — Eine Eisenbahn durch Nicaragua.
Der Damps hat nun alle Oceane sich erobert und kein
Theil des Weltmeers ist von ihm unberührt.
Bis zum Jahre 1837 war die Dampfschifffahrt nur auf
Ströme und Küsten beschränkt; damals begannen, man kann
sagen in schüchterner und verzagter Weise, die Fahrten über
das Atlantische Meer zwischen Europa und Nordamerika,
aber bald lieferten sie den Beweis, daß der Welthandel groß-
artigen Gewinn aus ihnen ziehen könne. Er thut es Jahr
für Jahr in einem immer kolossalem Maßstabe. Nach und
nach vermehrte sich die Zahl der Dampfer, deren nun meh-
rere Tausende aus der salzigen Woge wie im Ebbe- und
Flnthbereich der Ströme schwimmen. Durch sie wurden alle
Erdtheile in raschere und engere Verbindung gebracht, die
Linien immer weiter ausgedehut und schon seit Jahren greifen
sie in einander von Norwegen bis Japan, bis Australien und
Neuseeland, bis in den La Plata und vom Pugetsunde bis
in die südlichsten Häsen von Chile. Von diesen letzteren aus
soll in den nächsten Jahren eine regelmäßige Fahrt durch
die Magellausstraße nach Buenos Ayres hergestellt
werden. An die östlichen Gestade des Großen Weltmeers
kam frisches Leben, und nun wird auch die Verbindung
zwischen Calisornien und China zur Thatsache; das
gewaltige Wasserbecken, welches die Küsten dreier Continente
bespült, hat seine „Rauchschiffe", welche auch bei den Sand-
wichsinseln anlaufen sollen.
Das erste Fahrzeug für diese neue Linie ist in der Mitte
Dampferfahrten rm
des Octobermonats 1866 von Neuyork aus nach dem Vor-
gebirge der guten Hoffnung abgegangen. Es steuert von
dort nach Yokohama in Japan und soll zwischen diesem Hafen
und Schanghai, dem wichtigsten Handelsplatze Chinas, regel-
mäßige Fahrten machen, welche allmonatlich an die zwischen
Schanghai und San Francisco laufenden Dampfer sich an-
schließen.
Der erste Dampfer der China-Calisornia-Linie
wird am ersten Dienstag des Januars 1867 von San
Francisco abfahren; die Pacific Mail Steamship
Company erhält für die Beförderung der Post von Seiten
der nordamerikanischen Regierung eine jährliche Unterstützung
von 400,000 Dollars Papier. Sie soll im Jahre dreizehn
Fahrten machen und auch Honolulu auf den Sandwichs-
inseln anlaufen. Diese letztere Bestimmung möchte sie be-
seitigt scheu, weil jener Hafen außerhalb der directeu Linie
liegt und die Fahrt dorthin Verzögerungen im Gefolge hat.
Diese Liuie wird commerciell von geradezu unermeßlicher
Bedeutung werden, sobald die große Westbahn vom
Mississippi bis San Francisco im Bau vollendet ist.
Das soll zu Ende des Jahres 1869 der Fall sein; wir
können mit Sicherheit annehmen, daß man spätestens im
Jahre 1872 in ununterbrochener Eisenbahnfahrt von Neu-
York bis zu dem großen Stapelplatz in Californien gelangt.
Dann erst wird jenes große Nordamerika recht eigentlich zu
einem Lande der Mitte auf dem Erdball und es kann nicht
fehlen, daß ein beträchtlicher Theil des Weltverkehrs zwischen
Osten und Westen sich in seine Handelsbahnen lenkt. Dann
werden die westamerikanischen wie die ostafiatischm Gestade
der Südsee mehr und mehr ihrer so lange vereinsamten Ferne
entrückt und immer mächtiger in die Wellenschläge des großen
Verkehrs gezogen. Sie werden sich gegenseitig ergänzen.
Bald können Menschen und Waaren auf dem neuen Wege
über die Südsee und die Bahn, welche Nordamerika in ihrer
ganzen Breite durchschneidet, von Schanghai bis London
binnen sechs Wochen gelangen, also schneller als jetzt auf dem
Wege über das Rothe Meer möglich ist.
Anch wird die neue Linie gegenüber jener durch den in-
dischenOceau einen Vorzug haben, den ich keineswegs gering
anschlage, Sie zieht ganz und gar durch eiu gemäßigtes
Klima, und Waaren, die auf ihr befördert werden, brauchen
nicht, wie jene, welche Uber Suez uud Singapore nach China
und Japan oder von dort nach Europa gehen, zweimal die
Linie zu Passiren. Enropa wird gewiß einen beträchtlichen
Theil seiner Theeladungen auf diesem neuen Wege beziehen,
welchen auch andere werthvolle nicht schwer ins Gewicht fal-
lende Artikel wählen werden.
Somit wird eine große Lücke ausgefüllt werden und
gleichzeitig ist auch eine andere noch größere ausgefüllt worden.
Der südliche Theil des Stillen Oceans hatte noch
keine Dampfer zwischen Westamerika und den austra-
tischen Colonien. Beide waren ohne directe Verbindung.
Eine solche ist seit einigen Monaten ins Leben getreten, also
in demselben Jahre, in welchem anch das atlantische Te-
legraphentan definitiv gelegt worden ist nnd sich als brauch-
bar bewährt. Von Panama gehen nun Dampfer di-
rect nach Neuseeland, das seinerseits schon seit längerer
Zeit eine regelmäßige Verbindung mit Australien unterhält.
So ist der große Kreis geschlosseu. Man fährt mit Dampf
rund um den Erdball, denn die beiden Landengen, in Central-
amerika und Aegypten, sind mit' Schienensträngen belegt.
Eine „Reise um die Welt" kann heute binnen drei Mouateu
zurückgelegt werden.
Von befreundeter Hand ist uns eine Nummer der „Jlln-
strated Melbourne Post" übermittelt worden, welche eine
Schilderung der Fahrt des Dampfers „Nakaia" enthält.
) um deu Erdball. 11
Dieses Schiff ist der Pionier der neuen Linie gewesen. Am
22. Juli 1866 bekam dasselbe Cap Palliser, Neuseeland,
in Sicht und warf am 1. August Anker im Hafen von
Sydney, Neusüdwales. Die Briefe, welche es dorthin brachte,
waren um eine Woche jünger als die, welche am 12. Juli
auf dem Wege über Suez uach Sydney gekommen waren,
und die europäischen Nachrichten sind durch den europäisch-
indischen Telegraphen vorweggenommen worden. Dieser
Nachtheil gleicht sich nun wohl aus, seitdem der atlantische
Telegraph in Wirksamkeit ist.
Wir wollen zeigen, wie der Dienst der Dampfer inein-
andergreift. Die centralamerikanische Post von und nach
Europa wird auf dem Atlantischen Ocean von der (söge-
nannten westiudischen)RoyalSteam Mail Packet Com-
pauy besorgt. Der Dampfer „Atrato", welcher die für
die Südsee bestimmte Post an Bord hatte, legte die Fahrt
von Southampton nach St. Thomas, dem bekannten Kno-
tenpnnkte der Antillen, in 14 Tagen zurück. Er kam am
16. Juni dort an. Binnen wenigen Stunden wurden Rei-
sende, Briefe und Waaren auf den kleinern Dampfer „Ta-
mar" übergeladen, der sofort nach Colon-Aspinwall,
dem atlantischen Endpunkte der Panamabahn, abging. Dort
kam das Schiff nach einer fünfthalbtägigen Fahrt an; die
Strecke ist aber schon einige Mal in 22 Stunden zurück-
gelegt worden. In Panama fand eine nnnöthige Verzöge-
rung von 48 Stunden statt, bis zum 24. Juni.
Die „Rakaia" war von Europa her über St. Vincent,
Rio de Janeiro und durch die Magellansstraße am 18. Juni
in Panama angekommen. Sie hatte viel stürmisches Wetter
auf ihrer Reise von 11 315 Seemeilen gehabt und trotz-
dem durchschnittlich 10,37 Knoten in der Stunde zurückge-
legt. Von Milford Häven bis Panama war sie nur 46
Tage 11 Stunden unterwegs gewesen; 7 Tage 11 Stunden
hatte sie in St. Vincent liegen bleiben müssen und in der
Magellansstraße verlor sie 3 Tage, weil sie des dunkeln und
stürmischen Wetters halber bei Nacht vor Anker ging. Sie
ist 265 Fuß lang, hat über den Deckbalken eine Breite von
32 Fuß, die Tiefe beträgt 26 Fuß, die Tragfähigkeit 937
Tonnen; Pferdekraft 350.
Bei Panama müssen größere Schiffe bei der kleinen
Insel Taboga vor Anker gehen, weil die.Bai selber zu
seicht ist. Dort lag die „Rakarn" bis znm 24. Juni Nach-
mittags. Dann stach sie in See nach Süden hin, dnblirte
die 80 Miles entfernte Landspitze Mala und fuhr nach den
Galapagos-Jnfeln, welche sie in Sicht bekam und zur
rechten Seite liegen ließ. Von dort fuhr sie im großen
Bogen gegen diePitcairn-Jnsel hin, gelangte in die Hum-
boldts-Aeqninoctial-Strömnng, hatte Passatwind und legte in
zwölf Tagen nnd zwölf Stunden die Hälfte der Reise zurück.
Das Wetter'war prächtig. Das Thermometer zeigte zwischen
den Tropen etwa 80° F., die Luft war aber uicht im Min-
desten drückend, sondern so rein und so erfrischend, daß man
sie mit Vergnügen und mit tiefen Zügen einathmete.
Die zweite Hälfte der Fahrt ging nicht so glatt ab, denn
bald kam Sturm. Am 8. Juli wurde Pitcairn pafstrt,
bei unfreundlichem Wetter und hochrollender See. Dann
gerieth das Schiff in eine nach Osten treibende Strömung,
gegen welche es anzukämpfen hatte. Dazu kam drei Mal
heftiger Sturm, aber am 21. Juli klärte fich das Wetter
auf und um 4 Uhr Nachmittags kam Cap Palliser in Sicht.
In Neuseeland wurde die „Rakaia" mit Jubel empfangen.
Die Fahrt ist gelungen, die neue Route hat jedoch einen
Uebelstand; es fehlt auf der weiten Meeresstrecke an einem
Zufluchtshafen. Sie kann aber rascher zurückgelegt werden;
in Panama kann man künftig zwei Tage ersparen, und ohne-
hin die Fahrt noch beschleunigen. Es ist bemerkenswerth, daß
12 Dampferfahrten ru
der Dampfer die ihm bestimmte Zeitfrist beinahe auf Tag
undStunde eingehalten hat; er kam nur vier Stunden später
nach Neuseeland als im Voraus angenommen worden war.
Somit ist ein großer Plan, von welchem seit Jahren die
Rede war, verwirklicht worden. Gleichzeitig wurde auch
dasProject einer Canalanlage durch Centralamerika
wieder in den Vordergrund geschoben; wir legen aber bis auf
Weiteres darauf keinen Werth. Der Isthmus von Danen wird
noch lauge Zeit eine Schranke bleiben, welche eine unmittel-
bare Schifffahrt zwischen beiden großen Oeeanen verhindert.
Visher sind alle Bemühungen, eine praktikable Route für die
directe Wasserverbiudung aufzufinden, vergeblich gewesen.
Somit bleibt man zunächst auf Eisenbahnen angewiesen.
Der Verkehr nach den Ländern an und iu der Südsee hat,
wie wir schon oben gesagt, ganz ungeheuer au Ausdehnung
gewonnen und er steigert sich mit jedem Jahre. Es er-
scheint also für Europa wie für die Bereinigten Staaten von
Nordamerika, vom höchsten Belang, mit den pacisischen
Regionen eine rasche und sichere Verbindung zu unterhalten;
eine solche kann aber nur vermittelst der Passage durch
Centralamerika gewonnen weiden.
Auf dieser großen Landenge bietet sich mehr als ein
geeigneter Punkt dar, und der Isthmus von Panama
ist nun schon längst durch eine Eisenbahn man kann sagen
überbrückt worden. Früher hatte man die Landenge von
Tehuantepec, im mezicanischen Gebiete, für den Bau
einer Eisenbahn ins Auge gefaßt; aber die Hafenplätze
Minatitlan am Coatzacoalcos, also ander atlantischen Seite,
und Ventosa am Stillen Weltmeer sind unsicher, seicht und
für den großen Verkehr ungenügend. Man hatte ferner den
Plan, einen Canal durch Nicaragua zu führen und hier
den San-Juan-Flnß und den großen Binnensee bei diesem
Unternehmen zu benutzen. Vor nun gerade zwanzig Jahren
verfaßte der gegenwärtige Kaiser der Franzosen eine sehr
ins Specielle gehende Arbeit darüber und sein Ehrgeiz war
in jener Zeit darauf gerichtet, Director des iuteroceanischen
Nicaragua-Canals zu werden. Aber die Schwierigkeiten und
die erforderlichen Geldkosten stellten sich, bei ohnehin nnge-
wissen Aussichten, als zu hoch heraus und man begnügte
sich mit Herstellung einer Dampferlinie, auf der paci-
fischen Seite zwischen San Francisco und San Juan del
Sur, und auf der atlantischen Seite zwischen Neuorleans
und San Juan del Norte. Die Verbindung zwischen den
beiden nicaraguauischeu Seehäfen wurde auf dem San-Juan-
Strom und dem Nicaraguasee durch Dampfer unterhalten,
doch so, daß die Strecke vom Ufer dieses Sees nach San
Juan del Sur über Land zurückgelegt werden mnßte. Diese
Nicaragua-Route ist im Verlaus der letzten zehn Jahre
mehr als einmal in Stillstand gerathen, das Bedürfniß eines
Transitweges durch Centralamerika ist aber so stark, daß
man sie seit einigen Jahren wieder in Betrieb gesetzt hat.
Jedenfalls würde ein Schienenweg durch Houdu-
ras, von Puerto Caballos am Atlantischen Meere nach
der Fonsecabai an der Südsee den besten und sichersten
Uebergang gewähren. Schon im April 1856 hatten die
Vorarbeiten zu den Vermessungen begonnen und die Fonse-
cabai bildet den schönsten Hafen an der pacifischen Küste
Amerikas. Im Jahre 1853 hatte eine nordamerikanische
Compagnie einen Freibrief von der hondurefischen Regierung
erhalten, und E. G. Squier schrieb damals seiu vor-
treffliches Werk: Notes on Central America, das ich
1856 deutsch bearbeitet habe; er erörtert in demselben auch
die Vorzüge einer Honduras-Route. Mir ist unbekannt, aus
welchen Ursachen das Unternehmen nicht ausgeführt wurde.
um den Erdball.
Jetzt ist nun die Nicaragna-Bahn wieder auf das
Tapet gebracht worden und zwar durch den ausgezeichneten
Marineoffizier Bedford Pim. Vor mir liegt sein Werk:
The Gate of the Pacific, London 1863, in welchem er
die geographischen und commerciellen Verhältnisse Central-
amerikas sehr einsichtsvoll erörtert. Ihm zufolge würde sich
der Bau eines Schienenwegs durch Nicaragua, aber
auf einer andern Route als der früher vorgeschlagenen,
empfehlen. In England scheint das Project auf Unterstützung
rechnen zu können; in London hat sich bereits die Int er-
national Atlantic and Pacific Junction Railway
and Land Company gebildet, und neulich wurde in einer
zahlreich besuchten Versammlung der Gegenstand eingehend
besprochen.
Tie Bahn soll auf der atlantischen Seite an der Pims-
Bai, welche auf den Karten als MonkeyPoint verzeichnet
ist, beginnen, und nach Realejo am Großen Ocean geführt
werden. Capitain Pim hob hervor, daß gegenwärtig die
Central American Transit Compagnie ihre Transportlinie
durch Nicaragua in vollem Betrieb habe. Die Beförderung
bringt manche Unbequemlichkeiten mit sich; nichtsdestoweniger
wird die Linie stark benutzt, und am 29. September ging
z. B. von Nenyork ein Dampfer nach Nicaragua ab, der
nahezu 500 Passagiere an Bord hatte. Die Compagnie
wird aber bald nicht mehr weiter arbeiten können, weil die
Mündung des San Juan völlig verschlammt. Noch im Jahre
1849 steuerte das Kriegsschiff „Gorgon" über die Barre
und 1860 ging Pim zu Fuß durch die Mündung! Seit
jener Zeit ist wieder eine Veränderung eingetreten und die
Barre hat nun 5 Fuß Tiefe. Die Nordamerikaner ziehen
den Transit durch Nicaragua jenem über Panama vor, weil
er gesunder ist, und lassen sich ein sechsmaliges Umwechseln
gefallen. Die Panamabahn-Compagnie hat Schritte gethan,
sich mit den Unternehmern der Nicaraguabahn ins Einver-
nehmen zu setzen, offenbar um ihr bisheriges Monopol in
anderer Form zu retten; es scheint aber, als ob man sie ab-
weisen werde. Die Panamabahn zahlte bisher regelmäßig 25
Procent Dividende und 1865 noch 40 Procent extra, so daß
sie in einem einzigen Jahre 65 Procent gab!
Mehrere Ingenieure versicherten, daß nuübe.rwindliche
technische Schwierigkeiten auf der Bahnlinie nicht vorhanden
seien. Dann trat der berühmte Hydrograph Maury auf,
welcher seiner Zeit eine Panamabahn eifrig befürwortet hatte.
Das sei geschehen, weil man damals über die nautischen
Verhältnisse jener Gegend noch keine genügende Kunde
gehabt habe. Jetzt aber wisse man, daß auf der pacifischen
Seite die Calmen ein großes Hinderniß für die Schifffahrt
sind. Diese Stillten sind so andauernd, daß die Gallapagos-
inseln, welche doch nur 600 Miles von Panama entfernt
liegen, von den Entdeckern unbewohnt gefunden wurden, weil
ans keiner Richtung Wind genug kommt, um auch nur einen
Kahn bis zu ihnen zu treiben. Die Panama-Compagnie hat
sehr empfindlich verspürt, was diese Calmen Pecuniair be-
deuten. Nach Entdeckung der californischen Goldgruben, als
der Andrang von Fahrgästen so sehr stark war, kostete in
Aspiuwall, also auf der atlantischen Seite, die Tonne Kohlen
4 Dollars, auf der andern Seite des Isthmus, in Panama,
stellte sie sich auf 40 Dollars. Maury rieth damals der
Compagnie, sie solle die Kohlenschisfe auf der westlichen Seite
Guano als Rückfracht einnehmen lassen und werde Alles in
Allem genommen davon einen Profit von 700,000 Dollars
im Jahre haben; die Sache ließ sich jedoch nicht thun, weil
wegen der anhaltenden Windstille Segelschiffe sehr häufig gar
nicht nach Panama gelangen können. Dagegen lägen die
Endpunkte der beantragten Nicaragna-Bahn im Bereich der
Winde; man spare bei der Schifffahrt 700 Miles und einige
Friedrich Schmidt's Expedition in Sibirien zur Auffindung eines Mainmnths.
13
Tage Zeit (gegenüber Panama); sie werde eine Postroute
abgeben. Die bisherige Transtt-Compagnie habe in? vorigen
Jahre 24,000, die Panama-Compagnie 27,000 Fahrgäste
befördert. Phn's Bai sei ein guter Hafen, der sich mit ver-
hältuißmäßig geringen Kosten in einen vortrefflichen Stand
bringen lasse. Der Freibrief der Panama-Compagnie er-
lischt nach sieben Jahren.
Allem Anschein znsolge wird diese zweite Bahn durch
Centralamerika gebaut werden.
A.
Friedrich Schmidt s Lzpedition in Sibirien zur Unfstndung eines Wammuths.
Die Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg er-
hielt 1864 die Nachricht, daß im Jahre vorher in Sibirien
wieder ein wohlerhaltenes MammntH aufgefunden worden sei.
K. E. v. Baer veröffentlichte dann im Bulletin der Ata-
demie eine Abhandlung: „Neue Auffindung eines vollstän-
digen Mammnths mit der Haut und den Weichtheilen im
Eisboden Sibiriens, in der Nähe der Bucht des Tas;" und
von dem nicht minder tüchtigen Akademiker I. F. Brandt
erschienen eben daselbst „Mittheilungen über die Gestalt und
Unterscheidungsmerkmale desMammuth oder Mamout" (Ele-
phas primigenius).
Achtzehn Fälle vom Auffinden ganzer Mammuthleichen in
Sibirien sind conftatirt worden und Herr v. Baer hat diesel-
ben einzeln nachgewiesen; die beiden ersten gehören dein sieben-
zehnten Jahrhundert an. Späterhin fand Messerschmidt
am Flusse Tom ein Skelet; Laptew, der von 1739 bis
1743 die Nordküste bereiste, äußert: Aus deu Usern einiger
Flüsse der Tundra werden ganze Mammuththiere mit beiden
Stoßzähnen ausgegraben, mit dickem Fell; Haar und Leib
jedoch sind verwest und die Knochen, mit Ausnahme der
Stoßzähne, morsch. Der Botaniker Adams vernahm, als
er 1806 in Jakutsk war, daß schon 1799 ein Tnngnsen-
hänptling unfern der Lenamündung ein MammntH mit Haa-
ren, Hant und inneren Weichtheilen gefunden habe; er be-
suchte dasselbe in den folgenden Jahren mehrmals und nahm
die Stoßzähne mit. Adams unternahm die Reise zur Fund-
stätte, fand aber das Thier nicht mehr in seiner ursprüng-
lichen Lage; es war aus dem hohen Uferrande auf eine Sand-
bank hinabgerutscht und von Ranbthieren oder von Hunden der
Jakuten dermaßen zerfleischt, daß wenig mehr als das nicht
einmal vollständige Skelet und ein beträchtlicher Theil der
Haut übrig waren. Diese Ueberbleibsel brachte er nach St.
Petersburg, wo man sie ausstellte. Auch in Moskau steht
ein Skelet, aber ohne die hinteren Extremitäten; das Thier
wurde 1839 unweit vonJenissei, nur 70 Werst vom Meere,
gefunden. — Im Sommer 1843 faud Herr v. Midden-
dorff die Neste eines Mammuth unter 75° N. in der
Nähe des Flusses Taimyr, 50 Werst vom Eismeer entfernt;
die Weichtheile waren schon ganz verwest und die Knochen
durchweicht.
Wir übergehen hier die anderen Fälle; sie sind in A.
Petermann's Mittheilungen, 1866, Nr. IX., aus deu oben
erwähnten Abhandlungen abgedruckt worden; ebenso in Baer's
Bemerkungen über die vormalige Verbreitung und Häufig-
feit der Mammuthe, ferner jene über die Zeit des Aussterbens
dieser Thiere. (is ist gar nicht zweifelhaft, daß sie gleich-
zeitig mit dem Menschen gelebt haben. Bis jetzt ist noch
keine Mammuthleiche von Sachkundigen geöffnet, der Magen-
inhalt untersucht oder eine Lagerstätte genau erforscht worden.
Herr v. Middendorfs hob 1860 in seiner sibirischen Reise
hervor, wie wichtig es sei, daß man keine Gelegenheit vor-
übergehen lasse, derartige Untersuchungen anzustellen. Ans
seinen Vorschlag erließ die Petersburger Akademie eine Be-
kanntmachung, in welcher sie eine Prämie aussetzte; wer
rechtzeitige Anzeige von. einem Mammuthsuude mache, solle,
wenn ein vollständiges Skelet ohne Weichtheile vorliege, 100
bis 150 Rubel Silber erhalten, und 300 Rubel, wenn das
Thier noch die Haut und die Weichtheile habe.
Nun erhielt Herr v. Baer am Weihnachtsabend 1865
von dem Bergbeamten Gnlajew in Barnanl, der bekann-
ten Bergwerksstadt am Ob, einen Bries, welcher ihm mel-
dete, daß in der Bucht des Tas (dem südöstlichen Theile
des Obischen Meerbusens) von einem Jurack-Samojeden
wieder eilt vollständiges Mammuth mit der Haut aufgefun-
den wordeu sei. Der Samojede suchte in jener Gegend nach
verlaufenen Rennthieren; er bemerkte ein aus dem Boden
hervorstehendes „Horn" (Stoßzahn), scharrte, um dasselbe
herauszunehmen, so viel als möglich von der Erdmasse weg
und sah dann den Kopf eines großen Thieres. Nachdem er-
den Stoßzahn abgesägt, schnitt er von der Wange ein großes
Stück Haut ab und brachte dasselbe dem Dorfältesten von
Dndinsk. Diese Ortschaft liegt am untern Jenissei, etwas
südlich vom 70° N. (aber wohl nicht eintausend Werst
unterhalb Turuchansk, das etwas südlich vom Polarkreise
liegt).
Die Petersburger Akademie beschloß sofort, diesen Fuud
wisseuschastlich ausbeuten zu lassen. Friedrich Schmidt aus
Dorpat, durch seine geologischen Forschungen im Amurgebiet
und aus Sachalin erprobt, beschloß an Ort und Stelle zu
untersuchen und namentlich der Lagerstätte eine besondere
Aufmerksamkeit zuzuwenden. Er trat am 12. Februar 1866
seine Reise an, war am 24. März n. St. in Jenisseisk und
schickte von dort einen Theil des Hauptstückes nach St. Peters-
bürg; er wollte auf Winterwegen bis Ochotskoje (70V^N.)
fahren und nachdem der Schnee hinweggeschmolzen sei, die
Fundstätte aussuchen.
Ueber seine Reise und deren Resultate sind uns nun,
nach v. Baer's neuesten Berichten, folgende Mittheilungen
zugegangen.
Dorpat, 23. October a/St. 1366.
Nach dem, was Herr Schmidt in Jenisseisk erfuhr, konnte
an der Auffindung eines Mannnuthö durch den Juracken nicht
gezweifelt werden, über den Ort des Fundes blieb er aber noch
in Ungewißheit; diese erst konnte durch den Kosacken Kasch-
karew, der 200Werft jenfeit des Tolstoi Myß oder 1000 Werst
hinter Turuchansk wohnt, gehoben werden. Der weitere Ber-
lauf der Expedition wird am deutlichsten durch Mittheilung der
Briefe, die von Herrn Schmidt eingegangen und durch Herrn
v. Baer gleichfalls veröffentlicht sind. Ein Brief an den Herrn
Admiral Lütke ist datirt Dudinsk, den 3. (15.) April 1866
und lautet:
„So wäre ich bis hierher gekommen, von wo die eigentliche
Aussuchung des Mammuths beginnen sollte. Ich bin abgestiegen
bei dem reichen Urädnik Sotnikow, der zugleich die wichtigste
Person am untern Jenissei ist, da er den ganzen Pelzhandel
mit den Eingeborenen fast allein in seinen Händen hat und auch
die russischen Ansiedler durch vielfache Vorschüsse, die er ihnen
14 Friedrich Schmidt's Erpedition in Sibi
gemacht hat, von ihm abhängig sind. Er steht mit der Jenisseisker
Dampfschiff-Compagnie in Streit, die ihn um sein Monopol
bringen will und einstweilen auch seine Absetzung als Aufseher
der Dudinsker Gegend durchgesetzt hat. Nichtsdestoweniger bleibt
er hier die einflußreichste Person und er kennt das Land besser,
als irgend ein Anderer. Hier habe ich auch U l m a n n und
Loginow gesehen, die mir Beide nichts Neues mittheilen
konnten. In den nächsten Tagen fahre ich mit Sotnikow zu
Kaschkarew, der unterhalb Tolstoi Roß in den Inseln lebt, etwa
400 Werst von hier, und der die Hauptquelle für die Nachrichten
vom Mammuth ist, da seine Juracken, mit denen er in fortwähren-
den Handelsbeziehungen steht, dasselbe aufgefunden haben.
„Kaschkarew ist im vorigen Herbste in Begleitung der Juracken
selbst am Orte gewesen, etwa 6 Tagereisen westwärts von seiner
Wohnung. Er hat aber nur einige Knochen gesunden, die
noch bei ihm liegen sollen. Das Mammuth hat in einem
steilen Ufer ab hang eines kleinen Sees gesteckt und
ist wahrscheinlich in den See, wenigstens zum größten Theil,
gestürzt, da, wie gesagt, außer einigen Knochen nichts gefunden
werden konnte. Aus diesen Angaben folgt auch, daß der Er-
Haltungszustand • kein vorzüglicher gewesen ist. Das Hautstück,
das Maksimow bei Sotnikow gesehen hat, ist noch hier. Von
diesem ist das Stückchen abgeschnitten, das ich der Akademie
übersendet habe. Haare sind nicht vorhanden. Die Haut selbst
ist aber so zerfasert, daß man glauben kann, Haare vor sich zn
haben. Das erwähnte Stück ist etwa 5 Quadratfuß groß und
wird auch der Akademie übersendet werden. Die Belohnungen,
welche die Akademie ausgesetzt hat, sind hier nur zu gut bekannt,
und diesem Umstände ist es zuzuschreiben, daß Kaschkarew, der
die Prämie für sich allein hat erwerben wollen, den Loginow
nicht mitgenommen hat, welchen Sotnikow mit der Untersuchung
und Beschreibung beauftragt hatte. Loginow ist ein junger,
ziemlich gebildeter Mann, der etwas in den Goldwäschen gearbeitet
hat und in der Ausgrabung selbst behülflich sein kann. Diese
Arbeit kann nur mit Keilhauen, deren Benutzung von den Gold-
Wäschen her hier bekannt ist, vorgenommen werden, da dieses
Mammuth in vollkommen waldloser Tundra liegt. Ein anderes
M a m m u t h ske le t mit geborstenem Schädel soll in der
Awamskischen Tundra liegen, aber oberflächlich, so daß die Knochen
sehr mürbe oder im Zerfallen begriffen sind. Es lohnt sich kaum
dorthin zu reisen, auch ist die Verbindung dorthin nicht mehr
möglich, da die dortigen Asiacken, wie man sich hier eollectivisch
ausdrückt, schon aufgebrochen sind.
„Mein Plan ist jetzt folgender. In einigen Tagen, sobald
meine Begleiter (der Präparant und ein Kosack aus Turuchansk)
hier eingetroffen sind — ich selbst bin durch Tag und Nacht in
kleinen Narten hierher gefahren, um noch zu dieser Post Nach-
richten nach Turuchansk gehen zu lassen — fahre ich ganz leicht
mit Sotnikow bis zu Kaschkarew, um dort Alles genauer
zu erfahren und Juracken zu bestellen, die uns im Mai an den
Manimuthplatz bringen sollen. Dann kehre ich hierher zurück,
besorge die Instrumente sür Erdarbeiten und fahre zu Anfang
des Mai wieder zu Kaschkarew und' von dort direct zum Mammuth.
Findet sich, daß dort wenig zu machen ist, so habe ich noch Zeit
genug, mich im Juni an die Lopatin'sche Erpedition anzu-
schließen, welche die Erforschung der Mündungsgegend
des Jenissei zum Ziele hat, und nicht vor dem 20. Juni
bei den Inseln eintreffen wird, da früher schwimmendes Eis die
Schifffahrt hindert. Die vorstehenden Nachrichten werden Zeug-
niß ablegen von meinem guten Willen und ich hoffe der Akademie,
wenn nicht das Mammuth, so doch andere interessante Data mit-
zubringen. Mit Präparation einer vollständigen Samm-
lung der Fische des Jenissei wird mein Präparant schon
jetzt beginnen, während ich allein zu Kaschkarew fahre. Die
nächsten Nachrichten werde ich wohl von dem Aufbruch zum
Mammuth im Anfange des Mai geben können."
Dann sind zwei Briefe an den Akademiker Herrn v. Sch re nck
eingegangen. Der erste, datirt den 18. (30 ) April, meldet Folgen-
des: „Ich schreibe aus der Lukinskoje Simowie, etwa unter
70° n. Br. ungefähr von der Stelle, wo auf Middendorfs Karte
Ochotskaja steht, das 7 Werst von hier ebenfalls auf einer
Insel liegt. Lukinskaja ist auf der Karte irrig auf dem Fest-
lande angegeben. Ich bin meinen Reisegefährten wieder allein
en zur Auffindung eines Mammuths.
vorausgefahren. Sie kommen ausDudinsk, das ich am 12. (24.)
April verließ, allmälig nach. Seitdem habe ich 600 Werst ge-
macht und Wörde abermals, ohne mein Gepäck und meine Be-
gleiter abzuwarten, mit meinem Hauswirth, Afanasji Kaschkarew,
und mit Mysso, demJuracken, der das Mammuth ent-
deckte und den man in einigen Tagen erwartet, eine längere
Fahrt zur Recognoseirung der Lagerstätte unternehmen. Am
23. d. M. gedenken wir abzufahren und zn Anfang des Mai,
spätestens am 9., wieder hier zu sein, bis zu welcher Zeit Vor-
räthe und Instrumente wohl am Tolstoi Roß angelangt sein
werden, dem letzten Ort von drei Häusern (weiter giebt es nur
einzeln stehende Häuser), wo wir wohl längere Aeit zu warten
haben werden. Ich gedachte ursprünglich gleich mit allenVorräthen
zum Mammuth auszubrechen, was Anfangs Mai hätte geschehen
können, allein nach Allem, was ich neuerdings gehört und gesehen,
halte ich es sür rathsamer, zunächst eine leichte, Reeognoseirungs-
tour vorzunehmen, mit einigen Brechinstrumenten ausgerüstet und
in Begleitung der beiden Leute, die bis jetzt allein am Fundort
des Mammuths gewesen sind. Zeigen sich die Aussichten, die ich
jetzt erhalten werde, noch einigermaßen günstig, so mache ich
im Sommer mit größeren Hülfsmitteln einen endlichen Ver-
such. Doch ist nach den neuesten Nachrichten dazu wenig Hoffnung.
„Den 12. April verließ ich Dudinsk in Begleitung von S ot-
nikow, dem ich sür vielfache Unterstützung und guten Rath
vorzüglich verpflichtet bin. Am 14. kamen wir in Tolstoi Roß
an und erfuhren, daß Kaschkarew, den wir suchten, zu der letzten
Ansiedelung am untern Jenissei abgefahren sei. Sotnikow ver-
schaffte mir in dem Bauern R o släkow einen erfahrenen Führer
und kehrte selbst zurück, um die Herbefördernng meiner Ge-
fährten und Vorräthe zu betreiben. Am Abend des 14. war ich
in Kaschkarew's Wohnung, wo ich eine Rippe, einen Wirbel
und ein sehr verdorbenes Stück Haut sah, die er im ver-
gangenen Herbst vom Mammuth mitgebracht hatte. Meine Be-
gierde, ihn selbst zu sprechen, wuchs. Am 15. Morgens besuchte
ich seinen Vater in Ochotskoje Simowie und fuhr von dort mit
guten Hunden durch die helle Nacht nach Kosepowskoje
Simowie (auf halbem Wege zu Korgawskoje und Swerewo auf
Middendorfs Karte) zu dem Bauer Nikita Jwenski, dem
einzigen Russen dieser Gegend, der das Eismeer aus größeren
Strecken (300 Werst nach Osten) von der Jenissei-Mündung
kennt. Von hier ging es noch an demselben Tage nach Swerewo,
das Middendorfs Karte richtig an der Stelle der Biegung des
linken Ufers angiebt; doch ist hier, und nicht vorher oben, die
schmälste Stelle des Jenissei; von Swerewo bis zudem
Bache Soltik gegenüber rechnet man 8 Werst. Hier traf ich
endlich Kaschkarew, einen ganz aufgeweckten und erfahrenen
Mann, der durch Handelsverhältnisse großen Einfluß auf die Juracken
des linken Ufers hat. Er hat mir seine Fahrt und was er ge-
sunden ausführlich erzählt und will mich, sobald der nöthige
Jurack eintrifft, selbst an den Platz bringen, um mir nachzu-
weisen, daß jetzt, außer einzelnen Knochen des Kopfes
und Beckens, die an der ursprünglichen Fundstätte auf einer
Anhöhe aufgehäuft liegen, nichts mehr zu holen ist."
Der Reisende giebt dann als Anhang nach den Mittheilnngen
Kaschkarew's folgende Erzählung des Hera a na es beim
Auffinden.
„Mysso oder Wysso, ein reicher Jurack, auch Häuptling seiner
Orda, der über 2000 Rennthiere besitzt, ist in Beresow ange-
schrieben, bringt aber den Sommer gewöhnlich an der Gyda
oder am Eismeer zwischen dein Ob und dem Jenissei zu. Im
Sommer 1864 fand einer seiner Leute an einem der drei
Quellseen der Gyda, wo er sein Sommerzeit hatte, an
einem Abstürze einige Knochen umherliegen. Dadurch aufmerksam
gemacht, sah er sich nach dem Kopse um, in der Absicht, sich die
sogenannten Hörner oder Stoßzähne zu verschaffen. Er wurde
nun auch im Abhänge selbst den vorragenden Theil eines Kopfes
und eines Zahns gewahr, dem er nachgrub. Da das nicht
fördern wollte, erwärmte er Wasser und begoß damit den Abt-ang,
bis er den Kops hervorbrachte. Es war aber nur eine Hälfte (!)
mit dem Zahne nach unten, den er nun ausgrub. Er verkaufte
diesen Zahn an Wysso, dem er zugleich das Hautstück überbrachte,
das durch Kaschkarew an Sotnikow kam und über welches nach
St. Petersburg berichtet worden ist. Nach der Erzählung Kasch-
Friedrich Schmidt's Erpedition in Sibi
karew's hatte der Jurack dieses Hautstück nicht abgeschnitten,
sondern unter dem Kopse im Erdboden gefunden. Im Sommer
1865 stand Wysso selbst an den Seen den ganzen Sommer hin-
durch und bemühte sich, den andern Zahn zu erhalten, überzeugte
sich aber, daß nur ein Zahn vorhanden gewesen sei mit dem
halben Kopfe. Der obere rechne Stoßzahn war also wohl schon
weg... (vaö Geschriebene sieht aus wie „weggeschwemmt",
wird aber wohl weggebrochen oder eine andere gewaltsame Ent-
sernung andeuten sollen, da der andere Theil des Kopfes doch
nur mit Gewalt abgetrennt sein konnte). Aus der Lage des
Kopfes und der übrigen Knochen muß ich schließen — ebenso
thun es die Bewohner — daß das Ekelet unter ihm gelegen
hat. Die Knochen, welche Wysso ausgrub, liegen noch ausge-
häuft. Unterdessen hatte Sotnikow dem Kaschkarew eingeprägt,
er möge das Mammuth aufsuchen, damit sie die Anzeige machen
könnten, und wollte ihm Loginow mitgeben. Kaschkarew fuhr
aber im September allein ab mit Wysso und mit diesem an die
Mammuthsstätte. Dort gruben sie einen oder zwei Tage, konnten
aber im AbHange weiter nichts finden. Am Fuße fanden sie in der
abgestürzten Erde die drei oben erwähnten, bei ihm gesehenen
Stücke. Ich werde nun noch selbst die Juracken ausfragen und
ihnen die Wichtigkeit der ganzen Mammuthe einzuprägen suchen;
denn nur den Russen scheint die Bekanntmachung der Akademie
geläufig zu sein. Außer Wysso will ich auch dem Ursprung-
lieben Finder, der aufzusuchen ist, eine Aufmunterung zukommen
lassen und auch Kaschkarew, der im Interesse des Fundes eine
mehrtägige Fahrt in die Tundra gemacht hat.
„Mein Schreibzeug ist aus Dudinsk noch nicht gekommen,
daher mußte der Bleistift dienen. Ich schicke den Brief an
Sotnikow, der ihn nach Turuchansk befördern wird."
Der zweite Brief kam sehr spät in St. Petersburg an, wahr-
scheinlich ist er irgendwo lange liegen geblieben. Er ist datirt
Tolstoi Roß, den 4. (16.) Mai 1866, und lautet:
„Vor einigen Tagen bin ich von meinem Aussluge zum
M a m m uthsplatze zurückgekehrt, den ich am 26. April alten
Stils, 8. Mai, besuchte. Es ist wenig Hoffnung, noch etwas Ordent-
liches zu retten; dennoch habe ich schon Rennthiere bestellt, um
im Juli wieder hinzuziehen und namentlich die Lagerungö-
Verhältnisse genau zu untersuchen. — Jetzt war der Ab-
stürz selbst, der in einer Schlucht unweit des Jambu, eines
Quellsees der Gyda, liegt, so verschneiet, von mächtigen
Schneemassen so bedeckt, daß an ein Nachgraben nicht zu denken
war, obgleich wir die nöthigen Instrumente mitgenommen hatten.
Nur auf dem Hügel über dem Abstürze fanden wir einige zerbrochene
Knochen (namentlich ein Stück vom Oberkiefer mit einem Backenzahn
und der halben Alveole des Stoßzahnes, einige Rippen und einen
Beinknochen), die, wie Kaschkarew mir schon früher gesagt hatte,
im vorigen Sommer vom Juracken-Aeltesten Wysso dort hinge-
legt waren, der sie beim vergeblichen Suchen nach dem zweiten
Stoßzahne aus dem Abstürze hervorgeholt hatte. Wir hofften
schon jetzt Wysso und seinen Untergebenen, Nalutai (?), den
ersten eigentlichen Finder des Mammuths, zu treffen; sie waren
aber noch nicht aus ihren hiesigen Sommerplätzen angelangt.
„Die Jarußnaja orda, deren Aeltester Wysso ist , steht im
Winter bei Obdorsk, wo sie ihren Jafsack (— Tribut an Pelz-
werk —) zahlt, und auch den größten Theil des im Sommer
gesammelten fossilen Elfenbeins verkauft. Im April
pflegen die zu ihr gehörigen Juracken die Halbinsel zwischen dem
Ob und dem Jenissei zu beziehen und während des ganzen
Sommers zu bewohnen, daher diese Halbinsel auch das Juracken-
land heißen kann. Das linke Jenisseiufer wird ebenso oft
Jurazkaj» als Nawolotschnaja Storong, genannt. Wir
trafen zwei Sommerplätze Wysso'S mit zurückgelassenen Vorräthen
an. Aus einem derselben wurde von Kaschkarew ein Pfahl er-
richtet, an den ein Kringel und unter diesem ein Brief von mir,
in Rennthierfell eingenäht, gehängt wurde, in dem ich Wysso,
der an 7000 Rennthiere besitzt, auffordere, mit Nalutai mir zum
Prokopius-Tage (8. [20.] Juli) an das Eap Ma k sim ow zu
schicken — gegen gute Bezahlung. Kommt Wysso nicht, so gehe
ich mit Kaschkarew's Rennthieren, die er mir abermals zu
Gebote gestellt hat, ebenso wie mit einem seiner Leute, einem
getauften Juracken, Nikolai, dessen schon in Guläjew's Briefen
Erwähnung geschieht. Nikolai begleitete uns auch jetzt, und er
en zur Auffindung eines Mammuths. 15
war es, der die Stelle, wo die Mammuthsknochen lagen, auffand,
nachdem wir 9 Stunden lang von unserem letzten Nachtlager
aus in der Tundra mit schnellen Rennthieren ohne Gepäck um-
hergefahren waren. Er hatte auch im vorigen Herbst Kaschkarew
begleitet, der zwar im Jnselgewirr des Jenissei vortrefflich zu
Hause ist, in der Tundra aber stch sehr auf seine Leute ver-
lassen muß, die alle Juracken sind.
„Am 22. April (4. Mai) kamen die von Kaschkarew bestellten
Rennthiere bei seiner Simowie an und schon am Abend desselben
Tages fuhren wir ab, anfangs etwa über 40 Werst über Fluß-
laufe und Inseln nnd dann noch 15 Werst über flaches Land an
der Mündung des Talam bis zur Tundra, auf der sein
Tschum (Samojeden-Zelt) steht, immer in ziemlich genau West-
licher Richtung. Bon hier gingen wir mit seinem ganzen
Tschum (an 200 Rennthiere) zu einem reichen Juracken, Jot-
sida, der in der Nähe von Maksimow Myß steht. Dieser
versorgte uns mit frischen Rennthieren und begleitete uns mit
30 derselben, die übrige Herde zurücklassend. Am dritten Tage
lagerten wir nahe an der Quelle der Poita. Zwischen
dieser und der Sidijaha überschritten wir am vierten Tage
die Wasserscheide zwischen dem Jenissei und der Gyda und
erreichten am fünften den Mammuthsplatz, dessen ich schon er-
wähnt habe; von dort kehrten wir in drei Stunden zu unserm
Lagerplatze zurück.
„Das Mammuth liegt etwas über 100 Werst nach NW. vom
Maksimow Myß. Bon hier ging ich in ähnlicher Weise zurück
zu Jotsida, der gut bewirthet und belohnt wurde, und dann zu
Kaschkarew's Simowie, wo wir am 30. April (12. Mai) Morgens
eintrafen. Bon hier schickte ich einen Hundeschlitten nach Pi-
latka, wo ich erwartete, daß unterdessen mein Präparant und
der Kofack angekommen sein würden, die nach dem ursprünglichen
Plane, direet zum Mammuth zu gehen und dort zu arbeiten, längs
dem linken Ufer mit drei Narten und allen nöthigen Vorräthen
gezogen waren. Ich theilte meinen Reisegefährten mit, daß sür
jetzt nichts beim Mammuth zu thun sei, und forderte sie auf,
direct nach dem gegenüberliegenden Tolstoi Roß zu gehen,
wo ich sie erwarten würde.
„Ich hatte richtig gerechnet. Am Nachmittage des 1. (13.)
Mai führte mich Kaschkarew in 3 Stunden zu dem 40 Werst
entfernten Tolstoi Noß und wenige Stunden darauf trafen auch
meine Reisegefährten ein, deren ermatteten Rennthieren freilich
ein Gespann Hunde zu Hülse geschickt werden mußte. Gegen-
wärtig beabsichtige ich in einigen Tagen wieder allein nach
Dudinsk zurückzukehren, um von dort, bis zur Ankunft des
Dampfbootes, das am 10. (22.) Juni erwartet wird, eine
Reise zu den Sotnikow'schen Graphit- und Kohlen-
gruben der N o r i n s k i s ch e n Berge zu unternehmen, die
hoffentlich schon einigermaßen von Schnee frei sein werden.
Sotnikow hält mir schon Rennthiere bereit. Mit dem Dampf-
schiff kommt die Sibirische Erpedition der Gebrüder
Lopatin, mit denen ich die Fahrt zum Eismeere gemein-
schaftlich berathen will, die den dort günstigsten Monat, den
August, ausfüllen wird, wenn sich nicht während dessen dennoch
etwas Brauchbares am Mammuth gefunden haben sollte.
„Ich lege eine Skizze des untersten Jenissei bei.
Ich habe zahlreiche Erkundigungen eingezogen und auch gepeilt...
Wie aus der Skizze zu ersehen ist, finden sich jetzt nur noch
fünf Wohnungen unterhalb Tolstoi Noß, früher hat man
deren an fünfzig gezählt bis zum Eismeere »nd dann an der
Küste desselben bis zur Piassina-Mündung.
„KrestowSkaja, an der eigentlichen Mündung
des Jenissei, ist erst vor acht Jahren verlassen. Der bis-
herige Bewohner, Schadrin, ist wegen schwieriger Verprovian-
tirung und schlechten Fischfanges fortgezogen.
„Das Land, daö ich auf dem Wege zum Mammuth durchreiste,
ist nur in der Nähe des Jenissei eben, nach der Wasserscheide zu
wird es hügelig und vielfach von tief einschneidenden Schluchten
durchrissen. Das G y d a g e b i e t ist voll kleiner Seen, die
durch Flüsse mit einander in Verbindung stehen. Die Gyda
selbst, aus den auf der Karte angedeuteten größeren Seen ent-
springend, ist nicht über 200 Werst lang, aber sehr breit. Die
Fluth soll sich bis zu den Seen hinaus bemerkbar machen. Der
Boden des ganzen Gebietes besteht aus Lehm mit kleinen Ge-
16 Betrachtungen
rollen, ganz ähnlich wie Middendorfs die Taimyr-Tundra
schildert. Ich habe sorgfältig aus die verschiedenen Geschiebe
aufgepaßt und gesunden, daß von Dudinsk bis Swatewo und
ebenso im Gydagebiet die nämlichen Gesteinsalten verbreitet
sind, sowohl krystallinische als versteinerungsführende. Ich bin
geneigt, den Ursprung dieser Gesteine weiter oberhalb im Je-
nisseigebiet zu suchen ...
„DieTundra,, die ich gesehen habe, ist ganz nackt. Weiden-
und Ellerngebüsch, wie aus den Inseln des Jenissei, sollen sich
auch in der Niederung an der Gyda und an den Seen finden.
Sie werden zur Feuerung benutzt. Wir führten Treibholz
vom Jenissei als Vorrath mit uns.
„Das von mir bereiste Jurackenland scheint eine
wahre Fundgrube für Mammuthsknochen. Auch das
Moskauer Mammuth ist hier, gegenüber der Simowie Krestows-
kaja (hoch im Norden, der Küste des Eismeeres nahe) ausge-
graben worden. Die vielenSeen, Flüsse undSchluchten,
die in schroffen Abstürzen den gefrornen Erdboden
bloßlegen, bieten in jedem Sommer frische Ent-
b l ö ß u n g e n, d i e dann vvn d e n E i n g e b o r e n e n abgesucht
werden. Ich bemühe mich, ihnen das Mammuth recht ans
Herz zu legen. Die russischen Ansiedler halten sich nur am
Jenissei aus und kommen selten in die Tundra.
über Merico.
„Ich befinde mich vortrefflich und glaube im Sommer eine
ganze Reihe brauchbarer Untersuchungen machen zu können. Der
Frühling naht; seit dem 2. (14.) Mai haben wir Thauwetter,
doch soll noch Kälte kommen."
Herr v. Baer spricht sich diesen Nachrichten gegenüber
dahin aus, daß, ungeachtet der rastlosen Bemühungen des Herrn
Schmidt, wobl keine Hoffnung sei, durch das angemeldete Main-
muth in den Fragen über die Art, wie diese Thiere in hohen
nordischen Breiten gelebt haben und wie sie in den Eisboden
gekommen sind, einen bedeutenden Schritt vorwärts zu machen.
Seine Schrift giebt auch ein Verzeichniß der bisher in Sibirien
aufgefundenen Mammuthleiber oder Skelete, von denen man Kennt-
niß hat; es reicht (wie schon bemerkt) bis zur Mitte des 17. Jahr-
Hunderts zurück und enthält achtzehn Fälle der Art*). Str.
*) Ich finde iil der „Deutschen St. Petersburger Zeitung" vom
19/31. October 1866 eine Mittheilung aus Jenisseisk, der zu-
folge dort Nachrichten aus dem Turuchanskischen eingetroffen waren.
Schmidt und Lopatin haben sich an der Fundstätte überzeugt, „daß
das Mammuth von der Sonne schon in einen Trümmerhaufen ver-
wandelt sei." A.
Ietrachtunge,
Von Kar
Monteznma's Hallen sind verödet; Karl's des Fünften
Abkömmling, welcher im April 1864 Uber das atlantische
Weltmeer fuhr, um in Mexico ein Kaiserreich auszurichten,
hat im Herbste des Jahres 1866 seine Hauptstadt verlassen,
weil er daran verzweifelt, seine Aufgabe erfüllen und sich
ohne fremde Waffen aus dem von vornherein unablässig
wankenden Throne halten zu können. Jene Ausgabe aber
bestand darin, der seit einem halben Jahrhundert das Land
zerrüttenden wilden Anarchie Herr zu werden, die Parteien zu
bemeistern und einen in Mexico völlig unbekannten Factor
einzuführen, der für ein gedeihliches Volks- und Staatsleben
unbedingt uöthig ist, — gesetzliche Ordnung.
Gewiß hat Erzherzog Maximilian den redlichsten Willen
mitgebracht, aber er ist gleich von Ansang an in einer schiefen
Stellung gewesen, weil er sich zumeist auf ausländische Ba-
jonette stützen mußte. Diese sollten Ruhe im Lande erzwingen,
ihre Zahl war jedoch viel zu gering, um die Mißvergnügten
niederzuhalten. In den drei letzten Monaten des Jahres
1865 hatten die Kaiserlichen mehr als einhundert Gefechte
mit ihren Gegnern in allen Provinzen des ausgedehnten
Landes zu bestehen, und wenn sie auf einigen Punkten Siege
erfochten, die zumeist unfruchtbar blieben, erlitten sie auf
anderen empfindliche Niederlagen und Verluste. Eine Zeit-
lang, gegen Ende des Jahres 1864, hatte es den Anschein,
als ob für Maximilian die Möglichkeit gegeben sei, festen
Boden zu gewinnen, aber schon wenige Monate später
waren alle günstigen Aussichten verschwunden.
Mit Bewurzeluug einer Monarchie in Mexico wäre für
alle zerrütteten, von Indianern und Mischlingen bewohnten
Scheinrepubliken ein welthistorischer Rückschlag gegeben wor-
den; man hätte den Krater eines anarchischen Chaos schließen,
Frieden und Ordnung begründen können, die höhere Civilis«-
tion Hütte bis zu einem gewissen Grad auch in jenen Regio-
neu Amerikas eine Heimath finden können. Dafür ist, nach
dem Falle jener Monarchie, bis auf Weiteres keine Aussicht.
über W e z i c o.
Andree.
Ich werde demnächst Schilderungen über Mexico geben,
durch welche der Leser einen klaren Einblick in die Zu-
stände jenes Landes gewinnen wird. Diese sind so bodenlos
zerrüttet, so über alle Maßen verwirrt und dabei so eigen-
thümlich, daß man in Deutschland Mühe haben wird, sich
einen Begriff davon zu machen. Die europäische Geschichte
hat zu diesem wilden mexicanischen Chaos niemals ein Neben-
stück gehabt.
Der Plan, in Mexico eine Monarchie anszu-
richten, ist bekanntlich ein napoleonischer. Vor nun
gerade zehn Jahren wüthete in einigen Staaten Süd- und
Centralamerikas, vor allen aber in Mexico, der Bürgerkrieg,
oder vielmehr ein Kampf Aller gegen Alle, wilder und
blutiger als je zuvor. Mexico hatte sich 1857, zum zehnten oder
zwölften Male seit 1821, eine neue, diesmal so ultraradicale
Bundesverfassung gegebeu, daß die nordamerikanische dagegen
als feudalistisch betrachtet werden kann. In einem Lande,
das an süns Millionen wilde oder halbwilde Indianer, mehr
als zwei Millionen Mischlinge und nicht eine halbe Million
rein weißer Leute zählt, und in welchem kaum der dreißigste
Mensch lesen kann, wurde die unbedingte Volkssouverainetät
mit allgemeinem Stimmrecht und Einkammersystem procla-
mirt. Mau zog die Kirchengüter ein und damit war der
reichen und übermächtigen Geistlichkeit der Fehdehandschuh
hingeworfen. Aber schon gegen Eude desselben Jahres
erklärte Präsident Comonsort, daß Niemand mit jener Ver-
sassuug regieren könne; sie enthalte Keime der Unordnung
und Zwietracht, und Mexico, so bekräftigte dieser von den
Nadicalen erwählte Präsident, könne nur durch eine Dicta-
tur gerettet werden. Die Geistlichkeit hatte inzwischen den
Bürgerkrieg lichterloh angefacht und sie fand eine will-
kommene Hülfe von Seiten der regulairen Soldateska.
Diese kehrte den Radicalen den Rücken, weil die Verfassung
auch die Privilegien des Militairs in Abgang decretirt hatte!
Der Kaiser der Franzosen ist mit seiner mexicanischen oder
Betrachtungen
vielmehr amerikanischen Politik durchaus bankbrüchig gewor-
den. Er wollte, wie er sich selber einmal ausdrückte, das
„lateinische Amerika regeneriren", mit dem Hinter-
gedanken, daß Frankreich, dieses mächtigste unter den roma-
nischen Ländern, als leitende Macht „im Namen der Civi-
lisation" eine Art von Protectorat über die „lateinischen
Bundesgenossen" ausüben solle.
Der Plan nahm sich glänzend ans, war aber in Grund
und Boden phantastisch genug. Wer die ethnologischen Ver-
hälnisse der weiten Region voni Rio Grande in Mexico
bis nach Peru, Bolivia nnd Brasilien kennt, weiß, daß die
„lateinischen Menschen", d. h. die Abkömmlinge der Spanier
nnd Portugiesen, nur einen geringen Theil der Gesummt-
bevölkerung bilden, und daß sie längst nicht mehr so maß-
gebend .und bestimmend sind, wie früher. Bolle Dreivier-
theile jener Amerikaner sind Indianer, Neger und
Mischlinge verschiedener Art; die Zahl der Weißen
vermindert sich, seitdem aus Europa kein frischer Zugang
mehr kommt; nur die spanische Sprache, in Brasilien die
portugiesische, ist amtlich geblieben; aber in Mexico verstehen
fünf Millionen nichts von der Sprache der Weißen.
Jener lateinische Plan wurde in Amerika mit allgemeiner
Abneigung aufgenommen und erfuhr aus allen Staaten
scharse Proteste; man wies jede „lateinische" Einmischung
und Bevormundung ab. Aber trotzdem verfolgte Kaiser
Napoleon seine Entwürfe zunächst in Mexico. Schon 1858
lag es in seiner Absicht, dort die Monarchie einzuführen; er
unterstützte ganz offen den Erzbischos von Mexico, die Geist-
lichkeit und den General Miramon, welchen die Clericalen
als Gegenpräsidenten ausgestellt hatten. Es gelang ihm, die
Anführer der mächtigsten Räuberbanden, die „Generäle"
Mejia, Cobos, Marqnez und andere für sich zu gewinnen;
er glaubte zunächst nnt Hülfe der Geistlichkeit ein Werkzeug
seiner Politik, irgend einen europäischen Prinzen, auf den
Thron bringen zn können.
Hier liegt der erste verhängnisvolle Fehler Napoleon's.
Er hätte wissen können, daß ein Bund mit der mexicanischen
Geistlichkeit auf die Dauer unmöglich fein werde. Diefe
verlangte ihre Privilegien und das Kirchengut unbedingt
zurück. Damit war eine liberale Regierung und eine Besserung
des durch und durch zerrütteten Finanzwesens platterdings
unmöglich. Napoleon setzte zudem nicht einen „lateinischen"
Fürsten auf den Thron, sondern einen Habsburger. Dieser
aber scheiterte, als er kaum ein halbes Jahr im Lande war,
an der clericalen Klippe. Ihm war es durchaus unmöglich,
die exorbitanten Forderungen der Geistlichkeit zu befriedigen;
diefe betrachtete ihn als ihren Feind und hat ihn seit ändert-
halb Jahren mit Tücke und Verrath umsponnen.
Napoleon's Anschluß an die Geistlichkeit, oder vielmehr
der Wahn, dieselbe als ein brauchbares Werkzeug für feixte
Zwecke benutzen zu können, war aber auch nach einer andern
Seite hin falsch berechnet. Er stieß damit alle Liberalen
lind Radicalen ini Lande von sich; anch sie sind seitdem seine
erbitterten Gegner und haben ihre Feindschaft auf Maxi-
niilian übertragen, der ja doch als Creatur der Tuilerien
betrachtet wurde.
Noch mehr. An die Spitze der liberalen Parteien war
I n a r e z getreten. Es kann gewiß nicht als Ruhm für
die weißeu Creolen betrachtet werden, daß dieser braune
Mann, ein Boll blutin dianer vom Stamme der Mijes
aus dem Staate ^'axaca, bei weitem der beste und ver-
ständigste Kops unter den 50 bis 60 Präsidenten ist,
welche Mexico seit 1821 gehabt hat. Dieser Indianer,
zäh, ausdauernd, intelligent und ehrenhaft, verdient einiger-
niaßen die Anerkennung, welche wir so wenigen Mexicanern
zollen können. Der legale Termin seiner Präsidentschaft
Globus XI. Nr. 1.
über Mexico. 1"
ist schon seit Jahren abgelaufen, aber Juarez steht heute uoch
an der Spitze der Gegner Maximilian's und, man beachte
das wohl, wird auch von der Regierung der Vereinigten
Staaten Nordamerikas noch immerfort als legaler Präfi-
dent von Mexico betrachtet *).
*) Ich will dm eigentlichen Stand der Dinge hier erläutern.
Artikel 82 der radicalen merieanischen Verfassung verordnet, daß im
Fall aus irgend einer Ursache eine Präsidentenwahl nicht habe statt-
finden können, der Präsident desObergeri^ts in Mexico
sofort als Präsident die vollziehende Gewalt auszuüben habe. Im
Jahre 1857 war eine Wahl, der allgemeinen Verwirrung wegen,
unmöglich; der Indianer Juarez, damals Vorsitzender des Ober-
gerichts, übernahm also die Präsidentschaft. Nach Ablauf von vier
Jahren wurde er in gesetzlicher Weise auf einen weitern vierjährigen
Termin gewählt. Inzwischen wurde Jesus Ortega Obergerichts-
Präsident. Dieser Mann war vorher zum Gouverneur von Zacatecas
erwählt worden; in den wilden, unruhigen Zeiten, als die Franzosen
eingerückt waren und das Obergericht nicht arbeitete, diente Ortega
in der Nationalgarde. Als die Juaristen mehrfach geschlagen worden
waren, zog er sich nach Chihuahua zurück, wo damals Juarez, den
Sitz seiner Regierung ausgeschlagen hatte. Am 30. November 1864
lief der zweite Amtstermin des Juarez ab. Eine Präsidentenwahl
war in dem zerrütteten, damals zum größern Theil von den Fran-
zofen beherrschten Lande wieder unmöglich. Jenem Verfafsungs-
artikel 82 zufolge war nun der Obergerichtspräsident Ortega ohue alle
Frage gesetzmäßiger Präsident der sogenannten Republik, insofern
diese überhaupt noch bestand. Ortega sragte an jenem Tage bei
dem Minister Tejada an, wann er den Präsidentenstuhl einnehmen
könne. Er erhielt als Antwort: Juarez halte dafür, daß seine eigene
Präsidentschaft erst mit dem 30. November 1865 zu Ende gehe.
Ortega fügte sich und machte eine Reife nach den Vereinigten Staa-
ten. Jnarez erließ dann zwei Deerete, in denen er erklärt, daß er
auf unbestimmte Zeit Präsident sein lind bleiben wolle, weil
der Krieg das nothwendig mache; auch entsetzte er, schon am
8. November 1865, seinen Nebenbuhler willkürlich vom Amt eines
Obergerichtspräsidenten, weil Ortega außer Landes gegangen sei und
sich dem patriotischen Kamps entzogen habe!
Nun kam im October 1866 Ortega von Neuorleans aus nnt
dem Dampfer in Vrazos Santiago am Rio Grande an. Es war
offenbar seine Absicht, Anhänger um sich zu schaaren und dem
Juarez die Präsidentschaft streitig zu machen. Bald nach seiner
Ankunft wurde er vom Befehlshaber der nordamerikanifchen Truppen
verhaftet; er protestirte gegen diesen Gewaltact. Inzwischen war,
zu Anfang Novembers, Hon Seiten der Washingtoner Regierung der
bei Juarez acereditirte Gesandte mit dem General Sherman nach
dem Rio Grande abgegangen, wo eine Flotte liegt, um zugleich
gegen die Kaiserlichen und gegen Ortega eine Demonstration zu
machen und je nach Befinden der Umstände auch mit den Landtruppen
einzuschreiten. Ortega hat unter der sogenannten liberalen oder
republikanischen Partei viele Anhänger, welche ihn nur im Lande
erwarten, um sich gegen Juarez zu erheben. In die scheinbare Vor-'
liebe für Juarez spielt bei den Amerikanern aber auch eine Uankee-
speculation hinein, welche sich auf den Transit über die Landenge
von Tehuantepec bezieht. Am 7. September 1857 wurde einer in
Louisiana gebildeten Gesellschaft, der sogenannten Sloo - Company,
ein Privilegium ertheilt, und sie erhielt zugleich in den Jahren 1858
und 1860 die Genehmigung, eine Eisenbahn über jenen Isthmus zu
bauen. Sie konnte aber, der inneren Unruhen wegen, ihren Ver-
pflichtungen nicht nachkommen und nun erklärte, unterm 15. October
1866, Juarez ihre Privilegien für erloschen. Er übertrug dieselben an
eine Neuyorker Speculantengesellschast, welche ihm zunächst 100,000
Dollars auf Abschlag gezahlt hat; ohne Zweifel weiß sie, was die
Washingtoner Regierung beabsichtigt.
Inzwischen sind die Zustände in Mexico geradezu schauderhaft
und sie werden sich noch ärger gestalten, sobald die verschiedenen
liberalen Parteien wieder wie vor Ankunft Maximilian's gegen ein-
ander wüthen. Vor mir liegen fünf Ncuyorkcr Wochenblätter aus
der Mitte Novembers; sie enthalten eine Reihe von Berichten aus
allen Theilen Mexicos. „Sowohl die Kaiserlichen wie die Repu-
blikaner sitzen finanziell durchaus auf dem Trocknen. Juarez er-
hebt Zwangsanleihen, außerordentliche Kontributionen und confiseirt
Eigenthum. Während er von der amerikanischen Regierung Hülfe zu
erhalten wünschte, übt er doch den stärksten Druck auf die im Lande
wohnenden Amerikaner und verlangt von ihnen 5 Millionen Silber-
Dollars Vorschuß" („New Jork World" vom 14. November). Das
deutsche „N. U. Journal" meldet aus Veracruz vom 26. October:
„Die Ernten sind mißrathen; ein Eargo Mais, etwa 4 Büschels,
kostet 12 Dollars. Das ganze Land bis in die Nachbarschaft der
Hauptstadt wimmelt von Guerillabanden, die sich Liberale und Repu-
blikaner nennen, in der Wirklichkeit jedoch Banditen und
3
18 Betrachtungen
Warum? Napoleon's Bündeln mit dem mexi-
canischen Clerus trieb die Liberalen in die Arme
derUankees. Von den Nordamerikanern war Mexico be-
kriegt und werthvoller Provinzen beraubt worden. Es ist
offenkundig, daß sie noch langst nicht zufriedengestellt sind
und weitere Annexionen im Auge haben. Darin sind sie
abermals Rivalen der französischen Politik, welche es auch
in der Beziehung'versieht, daß sie zu vielerlei Eisen auf eiu-
mal schmieden will, während bekanntlich in der Politik ein
Meister sich in der Beschränkung zeigt. Schon vor zwölf
Jahren hat die Pariser Politik begehrliche Blicke aus die
fchöne Provinz Sonora am Stillen Weltmeere geworfen
und an eine Erwerbung derselben gedacht; sie wollte festen
Fuß am Großen Ocean haben, in dessen Mitte sie Neu-
caledouieu, Tahiti und die Markesas besitzt. Es waren fran-
zösische Flibnstier/ welche einige allerdings abenteuerliche Ex-
peditionen zur Eroberung Sonoras unternahmen; ich habe
diese Unternehmungen der Grafen Pindray und Raonsset de
Bonlbon im „Globus" (II. S. 289. 321 ff.) eingehend ge-
schildert.
So erklärt sich die Abneigung der mexicanischen Liberalen
gegen die französischen Pläne und Bestrebungen. Freilich,
in der Ohnmacht, welche eine Folge der allgemeinen Anarchie
war, hatten sie nur zwischen der Scylla und der Eharybdis
zu wählen. Sie wußten sehr wohl, daß den Aankees nichts
weniger am Herzen lag, als Mexico zu Ruhe und Kräften
gelangen zu lassen. Hatte doch schon 1858, als ein cleri-
cales Werkzeug, Zuloaga, Präsident war, der Nordamerika-
nische Gesandte Forsyth eine Summe Geldes für eiue
„Greuzreguliruug im Norden und für das Recht
des Tranfit über die Landenge von Tehnantepec
auf ewigeZeiten" angeboten. Zuloaga, eiu Weißer, wurde
vertrieben und der braune Mann Juarez kam ans Ruder;
man machte ihm dieselben Borschläge, er verwarf sie jedoch;
lieber wollte er den Clericalen die Hand reichen; aber wann
wäre eine Geistlichkeit je versöhnlich gewesen?
Sie trieb die Liberalen zum Aeußersten. Juarez schloß
am 11. December 1859 zu Veracruz einen Vertrag mit
Nordamerika ab, von dem ich schon 1864 sagte, daß er ver-
hängnißvolle Folgen für das Kaiserthum haben werde. So
ist es auch gekommen. Ans diesem Vertrag erklärt sich,
weshalb die nordamerikanische Regierung so stramm und
offen die Sache des Juarez unterstützt. Jener Vertrag
giebt den Nordamerikanern das Recht zur Eiu-
mischuug in die mexicauischen Angelegenheiten.
Er sichert ihnen auf nicht weniger als drei Punkten
freien Transit, anch für Truppen, von einem Welt-
meere zum anderen zu, und zwar: — über die Landenge
Gurgel abfch neider sind. Vor wenigen Tagen überfiel die Bande
des Antonio Perez das 50 Miles von Mexico entfernte Ojaran,
plünderte, nahm mehre Einwohner mit, um Lösegeld zu erpressen,
verübte Schandthaten an den Frauen auf offenem Marktplatz und
zerstörte die nach Veracruz führende Eisenbahn, welche ohnehin überall
unsicher ist. Die Banden zählen oft mehr als tausend Mann und
plündern ohne Unterschied Mexicaner, Franzosen und Amerikaner.
Sind das nicht herrliche Zustände? Das ist mericanische Freiheit!"
In Wien lief am 12. December der Bericht eines Deutschen
ein, welcher Folgendes meldet: „Gleich nachdem die Abreise des Kai-
sers nach Orizaba bekannt geworden war und als man glaubte, daß
er nicht wieder nach der Hauptstadt zurückkehren werde, wurde sein
Residenzschloß in Chapultepec von der Hosdienerfchaf t
ausgeplündert und zwar recht im eigentlichen Sinne des
Wortes. Man schleppte die Möbeln und andere aus Europa dort-
hin gebrachte Sachen fort. Den wenigen europäischen Schloßwächtern
war es unmöglich, dieser Plünderung Einhalt zu thun. Bei dem
ersten Versuche, sich zu widersetzen, wurden sie entwaffnet und einge-
sperrt. Die Diebe und Plünderer waren allesammt Leute,
welche der Kaiser mit Gnadenbezeigungen überhäuft
hatte."
über Mexico.
von Tehnantepec; vom Rio Grande nach Mazatlan, und
aus Arizona nach dein Hafen Gnaymas am Californischen
Meerbusen.' Die L)ankees dürfen, mit oder ohne Znsthu-
muug der mexicanischen Regierung, Transit und Eigenthum
durch Waffengewalt schützen. Zugleich wird deu Nordame-
rikanern gestattet, in Mexico zu int erdenken, um ihre
Landslente zu schützen und erforderlichen Falls die Ausfüh-
rung der Vertragsbestimmungen mit Gewalt zu erzwingen.
Die Aankees machten in der That ein gutes Geschäft,
indem sie für so kolossale Zugeständnisse die armselige Summe
von vier Millionen Dollars gaben, aber davon gleich zwei
Millionen zurückbehielten, weil sich auf diefe Höhe die An-
fprüche amerikanischer Bürger au die mexicanifche Regierung
beliefen.
Auch dieser Vertrag kann als Landesverrat!) betrachtet
werden und die clericale Partei protestirte gegen dessen Gül-
tigkeit. Sie hiug sich aber ihrerseits auch ans Ausland, au
den Kaiser der Franzosen, der nun in der Meinung stand,
daß sein Plan reife. Die gemeinschaftliche Intervention
Englands, Spaniens und Frankreichs gegen Mexico kam
ihm gelegen; die beiden ersten Mächte freilich zogen sich bald
aus dem Spiele, aber Napoleon hielt sest an Mexico. Er
octroyirte demselben seinen Schützling zum Kaiser. Damit
ließ er sich in einen weitaussehenden Handel ein.
Jenen Vertrag von Veracruz, von welchem unsere deut-
schen Zeitungen nichts zu wissen scheinen, der aber in nord-
amerikanischen Blättern oftmals erörtert worden ist, hat er
natürlich gekannt. Er mußte ebeu so wohl wissen, daß die
nordamerikanische Regierung ihre Monroedoctrin festhält, der
znfolge keine europäische Macht nene Besitzungen in Amerika
erwerben und in jenem Erdtheil keine Monarchie errichtet
werden soll. Er mußte weiter wissen, daß Nordamerika ein
Interesse daran findet, Mexico nicht zu confolidirten Zu-
ständen gelangen zu lassen, daß es vielmehr uach einzelnen
Theilen des Landes und nach einer Art von Schutzherrlichkeit
trachtet.
Nim schuf er das Kaiserthum in Mexico, aber er that
seine Sache nur halb, obwohl Gelegenheit geboten war, sie
ganz zu thun. Das hat er versäumt, und darin liegt fein
zweiter verhäuguißvoller Fehler.
Nordamerika war durch Bürgerkrieg zerrüttet. Als Maxi-
milian nach Mexico kam, waren die Aussichten der Eon-
föderirteu uoch keineswegs ungünstig. Eine Politik wohl-
verstandener Interessen hätte den europäischen Mächten ge-
boten, die Südstaateu anzuerkennen; ohnehin waren diese
entschieden für Freihandel, während die Nordstaaten unter
dem Einflüsse der radicalen Fabrikmonopolisten standen
uud noch stehen und exorbitant hohe Tarifanfätze haben,
die in vieler Beziehung Prohibitivzöllen ähnlich sind.
Ludwig Napoleon begriff ohne Zweifel, wie viel darauf
ankomme, daß die nordamerikanische Union, welche übermächtig
zu werden drohte und schon oftmals übermüthig war, sich in
mehrere Theile zerlege. Er verhandelte mit conföderirten
Staatsmännern, welche die Zusage gaben, sich nicht in die
mexicanischen Angelegenheiten zu mischen, wenn Frankreich
die conföderirten Staaten anerkenne. Sie stellten auch die
Abschaffung der Sklaverei in Aussicht. Aber der Kaiser in
den Tnilerien hatte nicht den Muth zu einer alleinigen
Initiative; er wollte den entscheidenden Schritt nur in
Gemeinschaft mit England thun, das seinerseits wohl gern
die Conföderirten anerkannt hätte. Aber sein alter „Freund"
Palmerston zögerte, hielt ihn hin und hakte am Ende ganz
zurück; er gebrauchte den kindischen Borwand, daß die phi-
lanthropische öffentliche Meinung in England eine Anerken-
nnng der Südstaaten uumöglich mache. So gerieth Kaiser
Napoleon in eine Falle.
Nordamerika hat in seinem Unabhängigkeitskriege die
Selbständigkeit nur errungen, weil es vom Auslande, nament-
lich von Frankreich, wirksam unterstützt wurde; auch im
jüngsten Bürgerkriege war der Norden Sieger nur mit Hülfe
von 300,000 angeworbenen Fremdlingen. Der Süden blieb
ohne Unterstützung und unterlag. Nun wirft, wie leicht vor-
auszusehen war, die Union, in welcher es im Innern wild
gährt, einen Theil der unruhigen Elemente nach Außen; im
November hat eine Art von offener Intervention zu Gunsten
des Präsidenten Iuarez begonnen und Maximilian hat seine
Hauptstadt verlassen. Die Franzosen werden sich aus dem Lande
zurückziehen und die Nordamerikaner werden erreichen, was
sie wollen. So ist die Napoleonische Politik, weil sie eine
halbe und verzagte war, bankerott geworden und in Mexico
wird die Anarchie sich wo möglich noch steigern. Der Kaiser
geht über kurz oder lang fort, die Parteien wirtschaften frei
nnd ein Ende ist nicht abzusehen.
Ich schließe diese Bemerkungen mit einem Berichte, wel-
cher in calisornischen Blättern steht. Er ist datirt: San
Francisco, 30.October, und kauu zeigen, wie gräßlich ver-
wildert die Zustünde in Mexico sind.
Ein Schreiben aus Mazatlan vom 23. October meldet:
und Charakteranlagen. 19
„Tanori, Almado und 17 andere kaiserliche Offiziere wurden
in einem offenen Boot und unbewaffnet von den Liberalen
gefangengenommen und leisteten keinen Widerstand. Albitezo,
dessen Bruder von Almado erschossen worden war, streckte
diesen sofort nieder. Tanori und die übrigen wurden nach
Guaymas gebracht und am 26. September erschossen. Die
Scene der Hinrichtung muß grauenvoll gewesen sein. Die
erste Salve war schlecht abgefeuert; Einige schlecht getroffene
baten uill ihr Leben, Andere sprangen auf die Wachen zu.
Dann eine zweite Salve. Die Offiziere fchossen mit Revol-
vern nach den Verwundeten und hieben auch mit den Säbeln
auf sie eiu, bis sie tobt waren. Das bezeichnete man als
Wiedervergeltung. Tanori war ein Indianer vom Stamme
der Maquis und für die Dienste, welche er dem Kaifer Maxi-
milian iu Sonora geleistet, mit dem Kreuze der Ehren-
legion begabt worden. Schon am 10. August wurden zehn
kaiserliche Offiziere erfchoffeu, unter ihnen General Laugberg,
der sich als Kriegsgefangener ergeben hatte. Man hing den
Leichnam an einen Baum und zündete Feuer unter demselben
an. In Sonora ist nun Maximilian's Herrschaft zu Ende."
Sie ist es auch in den meisten übrigen Provinzen des Landes.
Sie ist eine Episode in der Anarchie.
Kein Mensch steht allein in der Welt und Niemand ist
unabhängig von äußeren Einflüssen; die Media, welche ihn
umgeben, wirken mehr oder weniger stark auf ihn ein. Wer
also einen Charakter begreifen und würdigen will, muß die
Zeit und die Umgebungen verstehen, in welchen derselbe lebte.
Das sind allbekannte, oftmals gesagte Wahrheiten; eben
so wissen wir, daß die Erziehungsweise auf ein Individuum
von großer Bedeutung ist; und nicht minder sind es die gesell-
schaftlichen Umgebungen. Darauf haben auch alle Biogra-
phen, welche das Leben hervorragender Männer oder Frauen
schildern, nach Gebühr Rücksicht genommen. Man muß aber,
um zu allseitigem Verstäudniß eineS Charakters zu gelangen,
noch ein anderes, hochwichtiges Moment ins Auge fassen,
das ethnologische. Aus diesem allein erklären sich manche
elementaren Gewalten, Anlagen und Eigentümlichkeiten; es
giebt uns Licht über die Aenßernngen und das Ineinander-
spielen von Leidenschaften, Neigungen und Abneigungen, über
Grundsätze und Anschauungen eines Individuums. Wer
auch die latenten Kräfte zu würdigen weiß, der erst ist be-
fähigt, einen Menschen von innen heraus zu construireu, das
eigentliche Wesen desselben zu verstehen.
Racen und Völker haben sehr verschiedene Anlagen. Es
giebt keinen abstracten Menschen, außer in dem Hirn von
Phantasten, welche weder Thatsachen noch Wirklichkeit be-
achten. Jeder Mensch gehört einem besonderen Volk an;
er hat ethnische Wurzeln, Anlagen und Verwandt-
schasten; er hat Vorfahren, von denen er unfehlbar manche
Aulagen, Besonderheiten, Neigungen und Gemüthszüge ererbt
und welche der aufmerksame Beobachter sehr bald begreift.
Solchen Einflüssen, über die der Einzelne sich oftmals selber
keine Rechenschaft zu geben weiß, kauu er sich nicht entziehen.
In jeder besondern Menschengruppe stecken neben dem,
was allen Menschen gemeinsam ist, noch besondere eigen-
artige, elementare Kräste und seelische Mächte, die
immanent sind. Diese vererben sich innerhalb der großen
Stammgruppen und der Völker. Es ist wie bei den Thier-
i und Gharakteranlagen.
arten. Alle Hunde sind Hunde, aber wie verschieden sind
die einzelnen Arten, und wer möchte einem Spitzhunde zu-
muthen, was der Pudel vermag, oder einem Windspiele das,
was ein Dachshund leistet? Die schaffende Kraft der Natur
hat in einer unendlichen Menge von Abstufungen gearbeitet
und der Mensch macht keine Ausnahme.
Die Verschiedenheit in den Anlagen und Begabungen der
großen Stammgruppen ist von Anbeginn vorhanden gewesen;
sie tritt uns entgegen, so weit die Geschichte reicht, von
Geschlecht zu Geschlecht als ein organisches Erbtheil, welches
unabänderlich übertragen wird. Die Contraste stellen sich,
man möchte sagen, handgreiflich heraus. Man stelle nur einen
Eskimo neben einen Australier, einen Neger neben den Mon-
golen, einen Europäer neben den Malayen, vergleiche die
intellectnellen Begabungen und Lebensäußerung derselben und
sofort treten auch die an- und eingeborenen Gegensätze und
Verschiedenheiten hervor. Wer für die Benrtheilnng Aller
nur einerlei Maßstab hat und an sie die gleichen Anforde-
rnngen stellt, wird von vornherein ungerecht gegen sie. Er
vergißt eine Hauptsache: dasJudividualisiren. Darin liegt
der große und verhängnißvolle Fehler, welchen sich nament-
lich in Amerika der moderne Radicalismus zu Schulden
kommen läßt. Er möchte, in seiner seichten Auffassung und
in seinen naturwidrigen Bestrebungen, alle großen Stamm-
grnppen uniformiren. Er macht, wie erwähnt, im Namen
der Humanität und allgemeinen Freiheit halsbrechende Ver-
fnche, seine grundfalschen Theorien im Staats- und Gesell-
schaftsleben zu verwirklichen; aber scheitern wird er damit
ganz zuverlässig, freilich erst, nachdem er eine unendliche
Summe von Unheil angerichtet hat.
Innerhalb unserer Civilisation, welche äußerlich so viele
scharfe Kanten abschleift und die Dinge auf der Oberfläche
glatt zu machen weiß, legen wir bei der Benrtheiluug der
Menschen großes Gewicht auf die Erziehung und den
Unterricht und die gesellschaftlichen Verhältnisse des
Individuums. Gewiß sind die allgemeinen moralischen Ein-
20 Raceneigenthümlichkeiten
Wirkungen nicht zu unterschätzen; aber zur Würdigung und
Benrtheilung der Eigenthümlichkeiten reichen sie lange
nicht aus. Man muß auch die ethnischen Besonderheiten
und die Racenanlage ins Auge fassen. Diese erst geben
den Schlüssel zum richtigen allseitigen Verständniß.
Wir haben diese wichtige Frage schon mehr als einmal
im „Globus" berührt, namentlich in unseren „Ethnologischen
Beiträgen", und für unsere Ansichten eine Menge factischer
Belege mitgetheilt. Es freut uns, daß sie jetzt auch in Eng-
land, dieser Citadelle alter Vorurtheile und eines beschränk-
ten Dogmatismus, lebhaft und zwanglos erörtert wird. Die
Londoner Anthropologische Gesellschaft geht rüstig voran und
schüttelt muthig die Fesseln ab; dafür liefern ihre „Review"
und ihr „Journal" in jeder Nummer erfreuliche Beweise. Wir
finden, z. B. in Nr. 5, die bestimmenden Einflüsse, welche
das Nacenelement auf die Individuen ausübt, geistvoll er-
örtert.
Raphael ist durch und durch ein Mensch von itali-
schem Typus; MichelAugelo bietet ihm gegenüber einen
scharfen Gegensatz dar und sein Genius ist von ganz anderer
Art; in ihm waltete das stärkere gothische Blut vor.
Nehmen wir Voltaire. Wie oberflächlich würde eine Be-
urtheilnng dieses Mannes sein, welche nicht das größte
Schwergewicht auf den Umstand legen wollte, daß er nach
Abstammung und Charakter dnrch und durch ein Kelte ist,
noch dazu ein Kelte von gallischem Schlage, der bekanntlich
äußerst verschieden ist von der spanischen oder britischen
Gruppe dieses erregbaren Stammvolkes? So aber begreifen
wir seine Aufgabe, die darin bestand, einen Glauben durch
Spott und einen Thron dnrch Witz zu untergraben. Dadurch
wurde er zum Vorläufer einer gewaltigen Revolution; er
war ein gallischer Prophet, der zu seinem Volke in
glatter und glänzender Sprache redete, einem Volke, welches
er als halb Tiger, halb Affe bezeichnete, das aber darum
doch auf ihn hörte und ihn vergötterte. Er wirkte ans das-
selbe mit Mitteln, die bei keiner andern Nation so sehr hätten
packen, so tief einschlagen können.
Man stelle die englische Revolution jener der Franzosen
gegenüber; — wie verschieden ist ihr ganzer innerer Gang
bei äußerlich vielfach zutreffeudeu Ähnlichkeiten und Wieder-
holungen! Die eine erhielt ihren Abschluß im Verlauf eines
Menschenalters, die andere hat denselben heute noch nicht
gesunden; jene war germanisch, diese gallisch, keltoromanisch.
Es giebt keinen schärfern Contrast als den zwischen
Voltaire und Martin Luther. Dieser war ein durchaus
germanischer Mann, aber höchst wahrscheinlich ist in ihm
auch etwas wendisches Blut gewesen, und von diesem hat er
wohl seine knochige Vierschrötigkeit und jene Art von Hart-
näckigkeit und störrigem Wesen geerbt, die so schroff an ihm
hervortreten. Aber daneben war er ein aufrichtiger Mensch,
dem es mit seiner Sache voller Ernst war, und der beim
Anrennen und Sturmlaufen gegen die alte Kirche immer
auch das Aufbauen im Auge behielt. Er ging nur nach
schwerem innern Kampfe und nach mancher Gewissens-
bedrängniß an sein Werk. Er wurde nicht selten grimmig
und excentrisch; seine Derbheit artete nicht selten ins Plumpe
aus, während Voltaire ewig witzelte, spielte, Esprit und
Phrasen machte.
Der macedonische Alexander war Hellene durch und
durch, gleichsam ein Stück von einem Trojahelden in später
Zeit. Ein vorsichtiger, staatskluger Römer würde sicherlich
in anderer Weise Feldherr gewesen und nicht so wie er zu
Werke gegangen sein. Julius Cäsar ist mit jeder Faser
ein latinischer Mann, ein sorgfältig berechnender Strateg
in allen seinen Feldzügen, ein Rechner auch bei allen
Schritten, die er als Politiker thut. Mohammed war
und Charakteranlagen.
durch und durch Araber; er setzte durch seinen Feuereifer
eine Welt in Flammen. Welch eine seltsame Schöpfung ist
der Koran? Er konnte nur, gleich den Büchern der alten
Juden, bei einem semitischen Volk entstehen; ein Plato
mit seinem feinen, maßvollen Schönheitsgefühl und seinem
geordneten, philosophischen Gedankengange wäre platterdings
unfähig zu den wildphantastischen Phantasien des Koran;
noch weniger wäre es Sokrates mit seiner trocknen prak-
tischen Weisheit gewesen. Den Griechen sehlte die In-
spiration einer semitischen Seele; durch diese aber ist ein
Glaube gestiftet worden, dessen Kriegerpriester mit Buch und
Schwert vom Indus und Ganges bis zn den Säulen des
Herkules und vou den Steppen der Kirgisen bis zum Niger
gedrungen sind. Heute zählt der Islam ein hundert Millio-
nen Bekenner.
In Mohammed cnlminirte der arabisch-semitische Genius.
Crom well war ganz uud gar Angelsachse. Bonaparte
war ein Gräko-Jtaliener und nicht im Mindesten Fran-
zose. Aus keinem andern als einem überwiegend germanischen
Volke hätte ein Charakter wie Georg Washington hervor-
gehen können; und ein Talleyrand war nur in Frankreich
denkbar, wie Macchiavelli nur in Italien, Milton mit
seinem poetischen Flug und seiner manchmal langweiligen
Breite nur in England, Goethe, Lessing uud Schiller
nur in Deutschland, gleich Alexander von Humboldt
mit seiner enormen Vielseitigkeit und seinem kosmopolitischen
Wesen. Wir könnten Hunderte von Namen nennen, an
welchen sofort ktar wird, daß es sich hier nicht um intellec-
Welle Befähigung allein, sondern auch um Racenanlage
handelt. Das gilt keineswegs bloß von hervorragenden Gei-
stern, sondern von allen Schichten der Gesellschaft. Welch
ein Abstand ist z. B. zwischen einem flavischen Bauer und
einem deutschen, und zwischen diesem und einem Reiot in
Bengalen. Man gebe jedem derselben den gleichen Unter-
richt, verschaffe ihm dieselbe Erziehung und dennoch wird
sein ganzes Wesen ein eigenartiges bleiben.
In England macht man jetzt den Versuch zn einer
„ethno-phrenologischen Entwicklung" Wilhelm Shake-
speares. Der „Barde" war in einer der centralen Graf-
schaften Englands geboren, diese aber lag an den Grenzen von
Wales. Der Schwan vom Avon (so äußert sich J.W.Jack-
son in der Anthropological Review) stammte ohne Zweifel
von der gutgemischten und im Verlause der Zeit völlig
amalgamirten kelto-teutonischen Race ab, die man ge-
wöhnlich als die angelsächsische bezeichnet, die aber so,
wie sie in England sich gestaltete, auch Elemente aus fast
allen anderen europäischen Völkern in sich aufgenommen
hat. Da wo dieses angelsächsische Wesen tüchtig reif ge-
worden ist, zeigt dasselbe eine keltische Basis mit wohl-
entwickelten Nerven, scharfer Verstandeskraft und großer
Empfänglichkeit; diese Eigenschaften sind verquickt mit der
Knochen- und Muskelkraft, welche wir bei den mehr massiven
Teutonen antreffen, und es hat ein völliges Durchdringen
stattgefunden.
Wir finden bei und an Shakespeare feines, zartes Empsin-
duugsvermögen, scharfe und genaue Beobachtung, rasche Auf-
fassung, Tiefe des Gefühls, schnellen Gedankengang und
glänzende Einbildungskraft. Neben diesen mehr keltischen
Eigenschaften, welche in ihm ihre Gipfelhöhe erreicht haben,
treten dann germanische Kennzeichen hervor: großartige, ge-
waltige, ernste Kraft, moralische Größe, eine Alles umfassende
Expansion des Geistes, eine Fähigkeit, Jegliches zu ergründen.
Das Alles ist in ihm zu einem harmonischen Ganzen ver-
schmolzen; er hat den lodernden Feuerbrand keltischer Leiden-
schaft neben der andauernden, erquickenden Wärme germa-
nischer Zuneigung und Liebe. Sein Witz ist keltisch, sein
Die altperuanische Fe
oftmals fürchterlicher und grimmiger Humor germanisch.
In seinen dramatischen Gestalten tritt hier die verseinerte
Höflichkeit des Kelten, dort die ungeschminkte, offene Herz-
lichkeit und Innigkeit des Deutschen auf. Sein gewaltiger
Genius bemeisterte mit vollem Verständniß diese beiden
Extreme und alle seelischen Abstufungen, welche zwischen den-
selben liegen. —
Jackson versucht das eben Gesagte, in welchem ohne
Zweifel manches Nichtige ist, anch phyfiognomisch und phreuo-
logisch zu erläutern. Wir gehen daraus nicht ein, wollen
indeß folgende Stelle mittheilen: „Er war der größte Dichter,
welcher jemals gelebt hat; er hätte aber, kraft seiner Anlage
und Begabung, auch der tiefste MetaPhysiker oder der größte
Staatsmann werden können, welchen die Welt jemals ge-
sehen. Aber das Zeitalter der Königin Elisabeth bedurfte eines
großen Dramatikers und als solcher trat Shakespeare auf;
hätte das Jahrhundert eine neue Philosophie oder einen neuen
ng Ollantay Tambu. 21
Glauben nöthig gehabt, — er würde auch diesem Bedürfnisse
genügt haben, denn der Berns dazu war in ihm."
Das sind gewagte Annahmen; dagegen kann man das
Nachstehende unterschreiben: „Sein Geist war vielleicht uni-
verseller als der irgend eines andern Menschen. Schöpferkraft
uud Gedächtniß, Phantasie und Denken, sie alle sind in ihm
gleichmäßig und im schönsten Verhältniß entwickelt. Was er
genau und treu beobachtet hatte, gab er auch genau wieder;
er überträgt die Natur in seine Dichtungen und schon des-
halb wird er mustergültig für alle Zeiten bleiben. Alle seine
Gestalten sind lebenswahr. Er war ein großer Baumeister,
einer der größten Männer der poetischen Architektonik, wie
Homer, Aeschylus, Dante und Goethe auch. Kein Tempel
mit dorischen Säulen kann an Einfachheit und Erhabenheit
mit dem gefesselten Prometheus sich messen, kein St. Peters-
dom mit der Divina Commedia, keine mittelalterliche Burg
mit Hamlet oder Richard dem Dritten." A.
I
Die altperuamsche Iejlung Hllanlay Iambu.
Das alte Peru unter der Herrschaft der Jnkas war ein
Culturstaat, allerdings in eigenartiger Weise. Das Reich
hatte eine theokratisch-absolutistische Grundlage; es war ein
socialistischer Polizeistaat, in welchem jeder Einzelne an seste
Vorschriften gebunden war und unter der wohlwollenden Be-
vormnndnng vou Herrschern stand, die ihm für Söhne der
Sonne galten. Der Inka wurde als eine Verkörperung der
Gottheit betrachtet. Ihm gehörten Grund und Boden; Privat-
eigenthum iu unserem Sinne kannte man nicht. Die Län-
dereien waren in drei Abtheilungen gesondert: eine für die
Sonne, eine andere für den Inka, eine dritte für die Ge-
meinde. Alle Arbeit war gemeinschaftlich; die väterliche Für-
sorge von oben herab erstreckte sich auf alle Peruaner ohne
Unterschied, und im ganzen Reiche gab es nicht einen einzigen
Menschen, der Mangel und Roth gelitten hätte. Die Jnkas
kannten den Hang zur Trägheit, welcher den Indianern inne-
wohnt; deshalb war dafür gesorgt, daß Jeder arbeiten mußte,
dann aber auch, daß Niemand überbürdet wnrde. So sehr
wurde ans Arbeit gehalten, daß auch hochgestellte Leute, wenn
sie vor die Thore der Hauptstadt Eusco kamen, um sich aus
den Provinzen au den Hof zu begeben, eine Last auf die
Schultern nehmen und in den Palast tragen mußten.
Peru kann für ein Ideal und Muster eiues wohlwollend
bevormundenden Polizeistaates gelten. Europäer würden ihn
nicht ertragen können, aber für die ganz anders gearteten
Indiana erscheint er als ein Segen. Nie sind sie so glück-
lich gewesen als in den Jahrhunderten, da sie von den Söhnen
der Sonne beherrscht wurden. Durch die Jnkas wurden die
rohen Horden gesittigt und bis zu einer gewissen Culturstuse
erhoben; durch die christlichen Spanier sind sie in jene Ar-
mnth, Barbarei und Uncnltnr zurückgeworfen worden, in
welchen wir sie zu bei weitem überwiegenden Theil in Peru
und Bolivia finden.
Die Spanier haben aus Kosten der unterdrückten Ein-
geborenen Kloster, Kirchen und Regiernngspaläste gebaut,
aber nur selten ein Werk von öffentlichem Nutzen.
Der Wegebau ist von ihnen ganz und gar vernachlässigt
worden und was ste vorfanden, haben sie versallen lassen. So
die mit Recht gerühmten Jnkastraßen, welche Alexander
von Humboldt mit den großartigsten Römerstraßen verglichen
hat. Die, welche von Eusco aus nach Quito, also in nörd-
licher Richtung bis unter deu Aequator führte, war 500 spa-
irische Meilen lang und lief anf der Kammhöhe der Cor-
dilleren; eine andere lag im Tiefland und durchzog die Küsten-
regio». Gegenwärtig hat Peru nicht eine einzige Straße,
welche diesen Namen verdient; einige kurze Eisenbahnstrecken
sind vou Ausländern gebaut worden.
Die Baukunst der alten Peruaner war bewundernswürdig;
dafür zeugen die großartigen Trümmer,' welche sich bis heute
erhalten haben und uoch manches Jahrhundert lang den Ein-
Wirkungen der Zeit Trotz bieten werden. Wir wollen hier
nur eins derselben schildern, die alten Festungswerke von
Ollantay Tambu in der Nähe von Urubamba.
Der Weg von CuSco dorthin führt in norduordöstlicher
Richtung über die öde Pampa d'Anta, welche 14,000 Fuß
über deni Meere liegt. Am Nordende derselben tritt dem
Reisenden ein großartiges Panorama entgegen; drei kolossale
Bergriesen mit schneebedecktem Haupt erheben sich vor ihm:
der Jllahnaman, der Malaga und der Salcantay; sie
gehören zur Sierra de Huilcanota. Vor derselben zieht sich
das Thal von Urubamba hin mit den Schluchten von Silcay,
welche der Huilcamayo durchbricht. Er entspringt unter
diesem Namen auf dem Plateau von Raya, nimmt im Fort-
gange seines Laufes die Namen Quiuquijaua, Urcos, Calca
undAucai an und heißt Urubamba von der gleichnamigen
Stadt ab. Dieser mündet in den Qnillabamba de Santa
Ana, welcher seinerseits dem Apnrimac zuströmt, diesem
Hauptarme des Ucayali. Der Weg in jener Gegend ist
beschwerlich; er führt durch die überaus wilde Schlucht von
Occobamba uud zwischen Urubamba uud Ollantay Tambu
hat man die Brücke über den Mimbres zu passireu.
Luftbrücken, sogenannte Barbaeoas, sind in Gebirgs-
gegenden von Peru keineswegs selten uud ohne sie wäre
manches Mal an ein Weiterkommen nicht zu denken. Unsere
von Marcoy entworfene Zeichnung giebt eine der solideren
Luftbrücken; gewöhnlich sind sie weniger fest. Wo ein
Derumbo stattgesunden hat, d. h. eine große Erdmasse
hinabgerutscht ist, oder tiefe Schluchten oder nicht zu um-
gehende Felsen den Weg hemmen, dort rammt der Indianer-
in den weichen Boden oder in die Steinritzen Pfähle ein,
bindet krenzweis über dieselben einige starke Aeste, füllt den
Zwischenraum mit mattenartig geflochtenen Baumzweigen
Die altperuanische Fest
oder Rohr aus und wirft Erde darüber. Tschudi sagt,
und wir glauben es ihm, daß man eine solche Barbacoa nur
mit Angst und Schauder betrete; denn oftmals ist sie nur
an einer Seite befestigt, schwebt in ihrer größten Ausdehnung
frei in der Luft, ächzt und schwankt und ist manchmal so
abgenutzt, daß die Maulthiere mit ihren Hufen durch das
Zweigwerk oder die Rohrmatten treten und bei dem Versuch,
ihre Beine herauszuziehen in den Abgrund stürzen und wohl
auch die Brücke mit sich reißen. In einem solchen Falle ist
dann aus längere Zeit jede Verbindung unterbrochen. Unter
den Jnkas wurden solche Luftwege immer im besten Znstand
erhalten.
Man gelangt auf die Höhen von Ollantay Tambn, hat
eine weite kreisförmige Landschaft zu seiueu Füßen und blickt
hinab aus das Jndianerdors Ollantay, auf die Ruinen der
ng Ollantay Tambu. 23
alten Festung und die großartigen Steinbrüche. " Eine alte
Jnkastadt Ollantay, die in manchen Erdbeschreibungen er-
wähnt wird, hat es niemals gegeben.
Man ist einstimmig darüber, daß die alten Peruaner eiu
„ geradezu bewundernswürdiges System der Befestigung hatten
und daß ihre Fortificationskunst jedem neuern Ingenieur
Ehre machen würde". lieber das ganze weite Reich waren
die Festungen, Pncara's, auf den vortheilhaftesten Punkten
angelegt worden, und in Anbetracht der Waffen, welche man
damals kannte, ungemein stark. Allemal hat man sie der
Oertlichkeit angepaßt; manche sind einfach und besteheu nur
aus Thürmeu, andere sind aus gestampfter Erde, Piss, auf-
geführt worden. Die, welche unser Bild zeigt, fand Marcoy
am linken Ufer des Hnilcamay -Urnbamba.
Nächst den Festungswerken des Berges Sacsahnama,
Die Mimbres-Hängebrücke zw
welche zum Schutze der Hauptstadt dienten, sind jene von
Ollantay die großartigsten. Sie sind jüngst wieder, wie
unser Bild zeigt, von Petit 1 Marcoy gezeichnet und von
Clements M arkham mit Enthusiasmus beschrieben worden.
Durch das Thal von Hnilcamayo zieht sich ein reißend
schneller Flttß über und dnrch Steingetrümmer. Ztt beiden
Seiten wird es voit senkrecht aufsteigenden Bergwänden ein-
geschlossen. Da wo die Marca-cocha-Schlncht in dasselbe aus-
läuft, hat in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts Ollantay
die Festung gebaut. Zwei hohe Felsen steigen zu beiden
Seiten der Schlucht itt düsterer Majestät schroff empor; tut
Schale liegt das Dorf und ans dem westlichen dunkeln Kalk-
steinfelsen die Festung; die Zugänge nach Osten und Süden
sind durch Mauerwerk befestigt. Auf einem kleinen, etwa
300 Fuß hohen Plateau liegen eine Menge Trümmer umher;
)en Urubamba und Ollantay.
sie gehören ohne Zweifel einem Bau an, der nicht vollendet
wurde. Bou ausgezeichnet schöner Arbeit sind sechs Granit-
blocke, deren jeder zwölf Fuß hoch ist; sie sind durch kleinere
Baustücke mit einander verbunden. Dergleichen liegen auch
noch an anderen Stellen umher nnd bilden Anfänge zu einer
Mauer.
Hinter diesem Punkt, an den steilen Wänden des Berges
liegen manche Rninen kleiner Gebäude, die mit Lehnt be-
worfeu sind; sie haben Giebel, Thür- und Fensteröffnungen.
Weiter westlich zieht sich von der Ebene bis ans die steile
Spitze eilte fortlaufende Befestigungsmatter hinauf. An der
Ostseite, unmittelbar unter der Hanptrnine, ist der ganze
Berg terrassirt, nnd zur obersten Terrasse führt ein Thor
mit großartigen Granitschwellen. Die Terrassenmauern sind
aus vieleckigen genau in einander passenden Blöcken znsam-
'24 Die altperuanische F,
mengesetzt und enthalten kleine Nischen; wenn man die inneren
Seiten derselben mit den Fingern berührt, geben sie einen
metallartigen Klang.
Bis zur Ebene herab trugen diese Terrassen sechszehn
Fuß breite hängende Gärten, welche Fruchtäcker bildeten; jetzt
wachsen iu denselben Cactus und Heliotrop. Auf der andern
Seite steigen, wie schon bemerkt, die Felsen senkrecht bis zu
einer schwindelnden Höhe und dort ist ein ungeheurer Block
angebracht, der als ?)uti huatauo bezeichnet wird, d. h.
Stätte zur Beobachtung der Sonne.
Wie haben die mit unseren vervollkommneten mechanischen
Werkzeugen völlig unbekannten Peruaner es angefangen, so
kolossale Massen weithin fortzubewegen? Die Festung steht
ans Kalksteinselsendie allesammt höchst sein bearbeiteten
Baustücke siud von Granit. Der nächste Steinbruch, aus
Eine altperuanische Fe>
geblieben ist, sieht man eine drei Zoll tiefe Rinne, die keinen
andern Zweck gehabt haben kann, als zur Einfügung eines
Seiles zu dienen.
Am Fuße dieser cyklopischen Festungswerke liegt ein von
Gebäudeu umgebener Hosraum; jene gehörten zu dem Palaste
des Erbauers Ollantay. Jenseit des wilden Gießbaches
und durch diesen vom Palaste getrennt liegt das Dorf.
Der gegenüberliegende Berg heißt der Flötenplatz,
Pineülluna. In halber Höhe desselben, auf einem nn-
gemein schwer zugänglichen Punkte, liegen drei Gebäude; sie
sollen Klosterräume für die der Sonne geweiheten Jung-
frauen gewesen sein. Auch hier siud Terrassen aufgemauert
worden.
ung Ollantay Tambn.
welchem derselbe geholt werden konnte, liegt zwei Stunden
weit entfernt ans der andern Seite des Flusses. Mau holte
also die gewaltige Masse aus dem Gebirge, schaffte sie von
dort ins Thal, dann über deu Fluß und weiter den Festungs-
berg hinauf. Dazu hat eine ungeheure Summe von Arbeit
und Ansdaner gehört.
Zur Jukazeit hatte man nur kupferne Werkzeuge; das
Kupfer war mit einigen Procenten Zinn und Kieselerde ver-
setzt. Damit konnte man den Granit nicht so bearbeiten
wie er vorliegt; man wird also das Ebenen und Glätten
vermöge des Reibens mit anderen Steinen und durch ge-
pulvertes Material und einer an Kieselerde reichen Pflanze
bewerkstelligt haben. Beim Transporte benutzte man wohl
Seile, die aus den starken Fasern der Aloepflanze geflochten
worden waren. An einem Baustücke, das unterwegs liegen
ig aus gestampfter Erde.
Vom Kloster der peruanischen Vestalinnen hat man nn-
gefähr 300 Fuß zu steigen, um an eine senkrechte Felswand
zu gelangen, welche ganz jäh etwa 900 Fuß tief abfällt.
Ganz an: Rande stehen zwei Thürme, von welchen die zum
Tode Verurtheilten in den Abgrund hinuntergestürzt wurden.
An einem andern Punkte, wo der Felsen über die steile
Schlucht hinaustritt, haben die Werkleute das Gestein in
einen Thronsaal umgewandelt und zwei großartige Sessel
mit Baldachin, breite Stufen und Gallerien ans dem 'Ge-
stein herausgehauen.
Der Ueberlieferung zufolge sind alle diese gewaltigen
Werke in der kurzen Zeit von zehn Jahren hergestellt wor-
den und Peru hat ähnliche iu nicht geringer Anzahl. .a.
Schilderungen
Schilderungen a
Es ist jetzt endlich die zweite Hälfte des Hauptwerkes
über die schwedische Expedition nach Spitzbergen im Jahre
1861 erschienen, entworfen von einem der Theilnehmer an
der Expedition, nämlich dem Finnen K. Chydenins; doch da
dieser leider allzu früh von dem Tode abgerufen wurde, von
den nachlebenden Gefährten herausgegeben unter dem Titel:
„Svenskaexpeditionen tili Spetsbergen är 1861, utförd
under ledning af Otto Tor eil. Ur deltaganles anteck-
ningar ock andra handlingar skildrad afK. Chydenius.
Stockholm. P. A. Norstedt & Söner." (gr. 8. 480 S.)
(d. i. Die schwedische Expedition nach Spitzbergen im
Jahre 1861, ausgeführt unter der Leitung des O. T. Aus
den Aufzeichnungen der Theilnehmer und anderen Urkunden
geschildert von K. Eh.), mit vielen Illustrationen und einer
Karte.
Jetzt erst ist es möglich, das ganze Werk in seinem Cha-
rakter und in seiner Bedeutung zu würdigen. Es ist eine
popnlaire, allgemein faßliche Darstellung der weiten und oft
mühsamen Reisen der Theilnehmer an der Expedition in diese
hochnordischen Gegenden und gleichzeitig eine Schilderung der
dortigen Natur. Durch das Studium dieses Werkes erhält
man ein treues uud wahres Bild von der in so vieler Ve-
ziehnng höchst interessanten Inselgruppe Spitzbergen. Die
Wahrheitsliebe uud edle Begeisterung des echten Gelehrten
begegnen uns hier so, daß während das Aussehen des Landes,
die hohen, zackigen Bergspitzen, die mächtigen Gletscher, die
tief einschneidenden Meerbusen, die schäumenden Gletscher-
flüsse, die ergreifende Oede der Natur, die Spärlichkeit der
Pflanzenwelt und der wechselnde Reichthum des Naturreiches
in demselben nebst dem Leben der Polarfahrer mit den leb-
haftesten Zügen geschildert werden, doch stets cht tiefer Ernst
hindurchschimmert und die naturgetreue Wahrheit der Schil-
derungen verbürgt.
Durch diese Expedition, sowie durch die beiden anderen
schwedischen wissenschaftlichen Expeditionen nach Spitzbergen
in den Jahren 1858 uud 1864, ist über die Natur und die
Geographie dieser Inselgruppe ein neues Licht verbreitet uud die
Möglichkeit einer über 4 Grade umfassenden Meridianmessung
daselbst constatirt worden. Als besonders auffallend erscheint
es, daß Spitzbergen, welches seit der Zeit, da Barents im
Jahre 1596 die zerschnittenen, scharfen Gebirgsgipfel desselben
entdeckte, von denen das Land den Namen erhielt, zwar von
vieleil Tausenden besucht, aber dennoch in seinen Natnrverhält-
nissen bisher äußerst unvollständig beschrieben worden ist.
In dieser Hinsicht haben die wenigen, aber einsichtsvollen
schwedischen Reisenden mehr ausgerichtet, als die sämmt-
lichen „Fangexpeditionen" vor ihnen. Doch darf nicht ver-
schwiegen werden, daß ohne die Erfahrung iu Betreff der
Schifffahrt iu den spitzbergenschen Gewässern, welche durch
den Walfisch-, Walroß- und Seehundsfang gewonnen ist,
ganz bestimmt, trotz des Eifers der Theilnehmer, diese wissen-
schaftlichen Expeditionen nicht im Stande gewesen sein würden,
alles auszuführen, was jetzt möglich gewesen ist; auch müssen
wir erwähnen , daß ebenfalls wissenschaftliche, geographische
und naturgeschichtliche Vorarbeiten über diese Gegenden gemacht
worden sind von John Phipps, späterhin Lord Mulgrave,
Scorcsbl), Parry, Sabine, dem Norweger Keilhan,
dem Schweden Lovän und der von der französischen Regie-
rnng ausgerüsteten Expedition unter G aimard auf der Cor-
vette „La Recherche", an welcher unter Anderen die Schweden
C. I. Sundewall, C. B. Lilliehök, P. A. Siljeström
Globus XI. Nr. 1.
Spitzbergen.
us Spitzbergen.
und U. Güldenstolpe, die Dänen Kröyer und Bahl
und der Norweger Chr. Boeck Theil nahmen.
Es sind ungemein reiche Ernten von Natnrprodncten,
welche die Flora, Fauna, Mineralogie und Geologie Spitz-
bergens aufklären, nach Schweden gebracht worden uud zieren
jetzt die Sammlungen des naturhistorischen Reichsmufeums
in Stockholm. Der wissenschaftliche Gewinn davon ist nn-
schätzbar, besonders hinsichtlich einer genanern und vollständi-
gern Kenntniß der Naturerzeugnisse der arktischen Zone, aber
auch besonders dadurch, daß neue Beiträge gewonnen sind
zur Erklärung der älteren geologischen Verhältnisse
in der skandinavischen Halbinsel. Hier mag auch angeführt
werden, was Mancher vielleicht gar nicht geglaubt hat, uäm-
lich daß dieses Spitzbergen, welches jetzt von gewaltigen
Gletschern und Schneemassen bedeckt ist, die npr während
einer kurzen Zeit des Jahres gestatten, daß kleine mit Grün
bekleidete Landstreifen an den Tag treten, ehemals mit
grünen Wäldern und einer reichen Vegetation
prunkte. Schon längst waren Steinkohlen auf Spitz-
bergen entdeckt worden, die schwedischen Expeditionen aber
haben durch das Auffinden zahlreicher, in den Bergen ver-
wahrter Ueberreste von Thieren und Pflanzen und durch die
Entdeckung neuer Steinkohlenlager das Vorkommen
dieser Mineralschätze über allen Zweifel erhoben. In dem
Werke heißt es unter Anderm:
„In dem Sandsteine ans dem niedrigen Lande längs
dem südlichen Ufer (der Kingsbai) traf Blomstrand ein
nicht unbedeutendes Kohlenlager an, welches nebst den im
Sandsteine gefundenen Abdrücken von Blättern und anderen
Pflanzentheilen an den Tag legt, daß es in der Entwickelnng
unseres Erdballs eine Zeit gegeben hat, da schattige Wälder,
dem Anscheine nach hauptsächlich aus Laubhölzern bestehend,
die nnserm Ahorn gleichen, überall die Thäler und Gebirgs-
ränder bedeckten, wo jetzt, wenn sie nicht gänzlich von mäch-
tigen Eismassen erfüllt sind, die längs dem Erdboden hin-
kriechende, zollhohe Polarweide der einzige Repräsentant der
holzigen Pflanzenarten ist."
Ist aber in unseren Tagen Spitzbergen arm an Pro-
_ dncten des Pflanzenreichs, so kann es sich doch noch eines
Naturlebens rühmen, dessen Reichthum den Polarfahrer
oft mit Staunen erfüllen muß. Wenn auch Rennthiere in
verhältnißmäßig großer Anzahl vorkommen, so daß deren
alljährlich 1000 bis 1500 Stück erlegt werden, so ist den-
noch klar, daß bei der armen Vegetation die eigentlichen
Landthiere nur sparsam repräsentirt sein können. Das eigent-
liche Thierleben wird am Meeresufer, in dem umgebenden
Meere und auf dem Treibeise angetroffen. Herden von Wal-
rossen und Robben, dann einzelne Gruppen von Eisbären,
halten sich auf den Eisfeldern auf, während Walfische (jetzt
eigentlich nur noch der sogenannte Weißfisch), Fische und
andere Meerthiere im Ocean nmherfchwärmen. Die an den
Abhängen der Strandfelsen heckenden zahllosen Vögelschaaren
gewähren den eigentümlichsten Anblick.
Die Theilnehmer an der Expedition beschreiben einen
„Vogelberg" folgendermaßen: „Wir hatten hier zum ersten
Male Gelegenheit, einen wirklichen Alkenberg mit seinen
Myriaden von colonienweise heckenden Vögeln kennen zu ler-
nen. Zuerst vernimmt man von den steilen, hohen Absätzen des
Berges einen gleichmäßig brausenden, dem Donner eines ent-
fernten Wasserfalles ähnlichen Laut. Die ungleichen Stirn-
men der verschiedenen Arten vermischen sich zu einer einzigen
4
26 Schilderungen
Tonmasse, und noch kann das Auge nicht mehr unterscheiden,
als die eine und die andere der großen Möwen, welche längs
der Felsenkante hinsegelt, aber bald in dem Schatten derselben
verschwindet. Man kommt näher, und immer betäubender
wird der Lärm, die Disharmonie löst sich in ihre verschie-
denen Stimmen auf, man erkennt das Knurren des Alks,
das Knirren der Rothgans; aber es mischen sich darein un-
zählige andere -unerkennbare und wunderliche Laute, hervor-
gerufen von den verschiedenen «Arten vieler Millionen von
Thieren, deren Lebensthätigkeit der stärkste Trieb der Natur
auf das Höchste gesteigert hat. Grobe, fast menschliche
Stimmen, heisere Ausrufungen, jammernde Töne erschallen
von deu Felsen. Plötzlich ertönt ein neuer fremder Laut,
vor dem der Lauscher zusammenfährt, so Unheimlich schneidet
er ihm in die Ohren. Das ist der Blaufuchs, der die
Vogelcolouie mit seinem Geheul begrüßt, das bald einem
Gebelle, bald einem Nothruse gleicht. Was kann er damit
meinen? — Die alten holländischen Walfischfänger hielten
dieses Geheul für das des'Teufels, der ihr Vorhaben ver-
höhnte, und sür ein omen sinistrum."
„Man klettert ein gntes Stück an dem Bergfuße empor,
um diese großartige Werkstätte des Lebens in größerer Nähe
zu betrachten. Die Alken bilden die Hauptmasse der Co-
lonie. Sie sitzen dicht zusammengepackt in langen Reihen
an den unzugänglichsten Abhängen; in allen Klüften der
Bergseite, ans allen Absätzen erhebt sich Brust an Brust,
und nur die äußersten Kanten des Felsens, wohin der Blau-
fuchs sich vielleicht wagen könnte, sind leer gelassen. So
lernen auch die Thiere aus der Erfahrung. Aber es ficht
so ans, als ob aus deu Felsen nur für die halbe Anzahl
Platz wäre; denn eben so unzählig sind die, welche dieselben
von und nach deni Meere umschwärmen, und damit der
zuletzt ankommende ausruhen kann, muß ihm immer einer
von den sitzenden seinen Platz einräumen. Auf den niedri-
geren und unzugänglichen Absätzen haben einzelne Schwärme
von Teisten ihre Wohnungen, und die Rothgans oder der
Seeköuig, dieser schöne, hochnordische Schwimmvogel, nicht
größer, als eine kleine junge Ente, macht ost in Schwärmen
von zwanzig bis dreißig Stück seine Ausflüge. Gleich der
Thurmschwalbe durchschneidet er die Lust in scharfem Fluge
in einem nach unten gekrümmten Bogen mit gellendem
Geschrei, iu welches sich bisweilen ein wiehernder Ton mischt.
In einer senkrechten Felsspalte hat eine kleine Schaar des
Laras tridaetylus (Wintermöwe) seine Eolonie; Raub-
möven, diese Friedensstörer der Vogelberge, sind auf Plüude-
rung aus; kaum hat eine Wintermöwe ihr Nest unbewacht
gelassen, so benutzen sie die Gelegenheit zum Raube. Nun
ersolgt ein blutiger Kampf, der oft so endigt, daß der Räuber
hinausgeworfen und unter lärmendem Geschrei mit Flügel-
schlügen iu die Flucht getrieben wird. Zn oberst aus den
freistehenden Felsenkanten hat die Elfenbeinmöwe ihr gewal-
tiges Nest angelegt, welches von dem einen der Gatten be-
wacht wird, während der andere umherfliegt; bald bemerkt er
den Zuschauer, umkreist ihn mit heiserem Geschrei einige Mal
und setzt sich auf die nächste Spitze, gleichsam um feine Be-
wegungen zu bewachen, oder man sieht ihn lange ans den
ls Spitzbergen.
höchsten Kämmen der Felsenberge friedlich den Raum mit
den Alfen theiten, obgleich er ohne Frage einer ihrer ärgsten
Feinde und der Plünderer ihrer Nester ist."
Außer der naturgeschichtlichen Ausbeute hat die Expedition
eine Menge von physikalischen und meteorologischen Beobach-
tnngen vou nicht geringem Werthe gesammelt nnd die ark-
tische Geographie mit einer neuen Karte über Spitzbergen
bereichert, welche manche alte fehlerhafte Vorstellung vou den:
Aussehen und der Lage dieser Inselgruppe berichtigt hat.
Die Karte ist ausgearbeitet von A. E. Nordenskiöld und
O. Duuvr nach Beobachtungen und Ortsbestimmungen
bei deu Expeditionen von 1861 und 1364. Diese Karte
nebst sechs Specialkarten über verschiedene Häsen ist in ver-
jüngtem Maßstabe dem Werke beigegeben, sowie sie anch
bereits von einem der größten Kartographen unserer Zeit,
Dr. A. Petermann, mit großem Lobe erwähnt worden und
in seinen „Geographischen Mittheilungen" ebenfalls in ver-
jüngtem Maßstabe veröffentlicht worden ist.
In nahem Zusammenhange mit der Frage über die
Geographie Spitzbergens steht die über das Vorhandensein
eines offenen Polarmeeres. Die schwedischen Polar-
fahrer sind, im völligen Gegensatze zn Petermann's Ansichten,
zu der Ueberzeugung gelaugt, daß es kein offenes Meer
am Nordpole giebt, wenn auch gegen das Ende des Som-
mers in gewissen Jahren das Meer im Norden von Spitz-
bergen ein gntes Stück nach dem Pole zn eisfrei sein
kann. Dagegen bekräftigt ihre Beobachtung, daß im Früh-
linge sich große Schaaren von Zugvögeln nach Norden be-
geben, das Vorhandensein eines noch nördlicher» Lan-
des. Gleichwohl solgt daraus keineswegs, daß dieses Land,
wie wohl von dem einen und dem andern Geographen be-
hanptet worden ist, ein wärmeres Klima haben sollte, als
z. B. Spitzbergen und die Küste von Sibirien.
Ein interessanter Abschnitt des Werkes ist das 16. Capitel,
welches die Geschichte Spitzbergens behandelt und unter Anderiu
zeigt, wie einträglich früher, ehe noch Habsucht die Walfisch-
jagd gänzlich rninirt hatte, die Fangreisen nach dieser
dnrch ihre Lage ungastlichen Inselgruppe sein könnte, wo da-
mals bisweilen ein einziger Hafen von 200 bis 300 Fahr-
zeugen mit Besatzungen von über 12,000 Mann besucht
wurde. Besonders waren es die Holländer, welche den Wal-
fifchfang im Großen und mit bedeutendem Gewinn zu treiben
verstanden. Während der Fangzeit hatten sich mehrere Hand-
werker und Kauflente an: Ufer des Versammlungspunktes
der Holländer, der an der nordwestlichen Küste von Spitz-
bergen belegenen Bucht Smeerenberg, niedergelassen.
„Man holte sogar täglich srisches Brot nach den Fahr-
zeugen, und der Bäcker hatte die Gewohnheit, durch Lünten
oder Hornblasen Anzuzeigen, wann das Brot fertig war."
Von 1669 bis 1778 gingen 14,167 holländische Fahrzeuge
aus den Walfischfang bei Spitzbergen aus nnd fingen 57,590
Walfische, die in reinem Gewinn 44,292,800 Gnlden ein-
brachten.
Stockholm, im November 1866.
Dr. C. F. Frisch.
Julius Mohl über
Julius Wohl über %
Der ganze Orient, das gesammte Asien von den Dar-
danellen bis nach Japan, vom Ganges bis zu den Mün-
düngen der Lena ist mehr oder weniger von europäischen
Einflüssen abhängig geworden. Das Abendland ist mit
Macht eingedrungen, läßt sich nicht mehr abweisen und macht
in jedem Jahre größere Fortschritte.
Europa also ist nun Gebieterin, aber es versteht den
Orient noch nicht genug und daher rührt sein vielfach unklu-
ges und gewaltthätiges Verfahren gegen die asiatischen Völker.
Julius Mohl in Paris hebt in seinem Jahresbericht an
die asiatische Gesellschaft, 1865 (im Journal asiatique),
scharf hervor, „daß Europa uur umzureißen und zu zerstören
weiß. Und doch liegt Alles daran, daß es selber wisse, was
es beginne, dflß es die Menschen, mit denen es zu thun hat
und auf die es einwirken will, verstehen lerne. Es darf
nicht immerfort nnd doch unnützer Weise Verstöße machen
und feindlich' auftreten gegen Ideen und Einrichtungen, welche
nun einmal tief im Geiste der Völker bewurzelt sind; es darf
diesen nicht ihren eigentlichen Lebensnerv abschneiden."
Wir finden — so fährt der große Gelehrte uud grüud-
liche Kenner .des Morgenlandes fort — den Orient fast
überall in einem Zustande des Verfalles; aber er wird doch
von den altüberkommenen Vorstellungen beherrscht, welche
den Menschen die Richtschnur für ihr Handeln gebeu. Der
gemeine Mann kann sich über diese Gedanken und Borstel-
lungen nicht in Auseinandersetzungen einlassen, aber er ge-
horcht ihnen blindlings und thut das um so mehr, da die
gelehrte Classe seines Volkes diese Ansichten theilt und oben-
drein den Schlüssel zur Seligkeit in der Hand hat. Die
Missionaire wissen daö sehr wohl. Die Bekehrung wilder
oder roher Völker hat keine großen Schwierigkeiten; dagegen
ist der Mann aus dem Volke, welches zu einer uralten Re-
ligion sich bekennt und sein Vertrauen in eine gelehrte Priester-
käste setzt, für die Bekehrung unzugänglich. Wie unsicher
ist in Indien immer noch die Herrschaft der Engländer, durch
welche doch, man kann das nicht in Abrede stellen, so viele
Verbesserungen eingeführt worden sind!
Aber das Publicum in England weiß von Indien viel
zu wenig und hat sür die Völker dort keine Theilnahme; man
wirkt aber nur eingreifend und wohlthätig auf eine Nation,
wenn man aufrichtige Sympathie für sie hegt. Mau kann
ein Volk wohl lenken, falls man seine Eigeuthümlichkeiten
und seine Geschichte begreift, uud das Gute an ihm zu re-
spectireu weiß. Die Untersuchungen der Gelehrten nun und
die Ergebnisse ihrer Forschungen wirken allerdings nicht sofort
und unmittelbar, aber sie üben unbestreitbar Einfluß auf die
öffentliche Meinung, und diese hat in unseren Tagen eine
gewaltige Macht. „Der Einfluß, welchen Europa bis jetzt
im Orient ausgeübt hat, ist im Allgemeinen ein unheilvoller
gewesen, weil man für Asien kein tieferes Verständniß hatte.
Man hat sich allerdings gerühmt, daß man die Civilisation
überall hintrage; wenn man aber jenen Erdtheil nicht gründ-
licher kennen lernt, wird man nichts weiter zu Wege bringen,
als daß man im Oriente noch mehr Trümmer zu Trümmern
häuft und sich selber Schimpf und Schande bereitet/'
Die Bedeutung der orientalischen Studien wird von
Julius Mohl sehr gut Hervorgehoben. Sie müssen auch für
das gesammte Leben des Morgenlandes ersprießlich gemacht
werden. Hier sind unglücklicherweise die Wissenschaften im
Verfall. Früher ist der Orient in Vielem uns Abendländern
weit voraus gewesen, dann aber in Folge eiues Zusammen-
im Orient.
.eformen im Hrient.
wirkens verschiedener Umstände stehen geblieben, also rück-
ständig geworden. Er hielt seine Wissenschaft für abge-
schlössen, vernachlässigte die Kritik und die Beobachtung, und
begnügte sich mit ein- für allemal festgestellten Formeln.
Deshalb ist es schwer, ihm unsere abendländischen Wissen-
schaftei^ unmittelbar beizubringen, weil er eben ganz andere
Ausgangspunkte hat; sein Geist kann nicht plötzlich nnd mit
einem Mal eine so weite Kluft überspringen. Die Orien-
taten müssen denselben Weg machen, welchen auch wir zurück-
gelegt haben und das können sie mit unserer Beihülfe ver-
hältnißmäßig leicht. Zunächst kommt Alles darauf an, in
ihnen das Bedürfniß nach Lernen und Wissen rege zn machen.
Sie sehen uud begreifen dann, wie wir uns mit ihren hei-
ligen Büchern, ihrer Geschichte und ihren Wissenschaften be-
schäftigen; sie können dann lernen, was Kritik ist und werden
auch bald finden, wie großen Nutzen die nenerworbeneu Wissens-
schätze ihnen bringen müssen.
Dieser abendländische Einfluß ist schon jetzt vielfach ficht-
bar bei Hindus, Chinesen und Arabern; die Einwirkung zeigt
sich bald in der Gestalt von Nachahmung, bald in jener der
Controverse und beide wirken gemeinschaftlich auf denselben
Zweck hin. Der größte Schritt zur Wiederbelebung wird
gethan sein, sobald unsere europäische Methode in den gelehr-
ten Schulen Asiens zur Geltung kommt, und dieser Hoffnung
dürfen wir uns wohl hingeben. Die Reform kann nur
aus demJnnern einerNation kommen und man wirkt
nur dann'sicher auf sie ein, wenn man ihre gelehrten Classen
für den Fortschritt gewinnt; zu diesen hat das Volk Ver-
trauen und aus ihren Händen wird es die Verbesserungen
annehmen. —
In Deutschland, Frankreich und Rußland werden die
orientalischen Studien mit immer wachsendem Eifer und
großartigem Erfolge betrieben; dagegen fehlt in England der
rechte Eifer. Mohl beklagte das schon in einem frühern
Jahresberichte (1864). „Die asiatische Gesellschaft in Lon-
don hält sich durch den Eifer einer Anzahl von Männern, die
früher im Orient gelebt haben und ihren Studien und Jnter-
essen aus der Jugendzeit treu bleiben; es ist aber auffallend,
zu sehen, wie wenig Boden und Stütze die orientalischen
Studien in jenem Lande haben. Die Regierung thut nichts
für sie, die Universitäten thun auch beinahe so gut wie nichts,
die Geistlichkeit zeigt nur ein schwaches Interesse, wenn es
sich nicht etwa um biblische Dinge handelt, und das große
und reiche Publicum verhält sich auch gleichgültig. Seit zwei
Jahrhunderten betrachtete man Asien als etwas, wofür sich
nur die ostindische Compagnie zu interessiren brauche. Die
Meisten, welche einen langen Theil ihres Lebens im Oriente
verbracht haben, beschäftigen sich nach ihrer Heimkehr nicht
ferner mit demselben, weil sie finden, daß das, was ihnen
so lange Zeit nahe gelegen hat, der englischen Gesellschaft
Langeweile verursacht und fast Schrecken einjagt. Darin
liegt eine Frivolität, die uns an einem dem äußern Anscheine
nach so ernsthaften Lande billig in Erstaunen setzt."
In der politischen Geschichte des Morgenlandes sind die
Fortschritte langsam und gehen stufenweise. Es kommt nicht
bloß darauf an, daß wir uns mit Eroberungen, Schlachten
und Dynastien beschäftigen, sondern vielmehr darauf, die
Einrichtungen dieser Völker zu begreifen, die Ideen, welche
in ihnen gähren und treiben, die Beweggründe, aus denen
sie handeln. Dann erst verstehen wir ihre vormalige Größe
und ihren gegenwärtigen Verfall. Die Geschichte der großen
28 Aus allen
Monarchien bietet, so lange wir uns an die äußeren That-
fachen halten, nur ein sehr geringes Interesse dar. Aber
unter diesen Staatsactionen liegt auch eine innere Geschichte,
die unserer Theilnahme im hohen Grade wUrdig ist.
Die Geschichte der Civilisation in Asien bildet den
Erdtheilen.
Mittelpunkt, auf welchen hin alle orientalischen Studien sich
richten. Sie verlieren diesen Punkt niemals aus dem Auge,
und so verschieden, einseitig, speciell und dürr die vielen Ar-
beiten auch dem Anscheine nach sind, sie alle haben doch einen
größern oder geringem Werth für den Aufbau.
K u s allen
Hall's arktische Expedition und Spuren von Franklin's
Leuten.
Wir haben seiner Zeit im „Globus" berichtet, daß Dr. C. F.
Hall aus Cincinnati 1865 eine neue Erpedition nach der Re-
pulsebai unternommen hat, um von dort aus, in Gesellschaft
der ihm eng befreundeten Eskimos, weitere Spuren von Frank-
lin auszusuchen. Nun sind Nachrichten von ihm in Boston ein-
gegangen. Am 15. November kam ein Walfischfahrer, die
Dampferbark „Pioneer", Capitain Morgan, aus dem hohen Nor-
den im Hafen von New-London an. Hall hatte die Absicht, mit
dieser Bark seine Tagebücher, allerlei Sammlungen und Briefe
heimzusenden, daö Schiff fuhr aber ab, um etwa 50 Miles von
der Repulsebai einen bessern Fischgrund aufzusuchen, und konnte
seine Absicht, nach der Bai zurückzukehren, des Eises wegen nicht
ausführen. Morgan verkehrte mehrfach mit Dr. Hall. Der
„Pioneer" gelangte am 26. Juli 1866 ins innere Ende der Re-
pulsebai, die nördlich von Rowes Welcome liegt. Dort traf er
Hall in Gesellschaft einer Horde Eskimos in bestem Wohlsein;
weiße Leute waren damals in jener Gegend nicht und Hall war
hocherfreut, als er dergleichen wieder sah und sich mit ihnen
unterhalten konnte. Er hatte im verflossenen Winter ein ganz
behagliches Leben geführt, denn er ist in die Lebensweise der Es-
kimos völlig eingewöhnt und hatte Vorrathe vollauf. Im Herbst
1865 hatte er einen Walfisch gefangen und im Sommer 1866
wieder einen, auch war viet Wild in der Umgegend, so daß er bis
weit ins Innere eine Anzahl von „Depots" machen konnte; er
wollte im Falle der Roth die in denselben niedergelegten Lebens-
mittel benutzen. Im Frühjahr 1866 unternahm er einen Ausflug
nach Nordosten bis zur Committeebai und King Williams
Land, sand aber dort die Eingeborenen so verrätherisch, daß er
umkehren mußte; es war seine Absicht gewesen, noch etwa 100
Miles weiter zu gehen. Die verschiedenen Eskimofamilien liegen
oftmals mit einander in blutiger Fehde, tragen verborgene Waffen
und ermorden einander wegen wirklicher oder vermeintlicher Be-
leidigungen. Auch Hall's Leben wurde bedroht. Uebrigens hat
er auch diesmal wieder viele Spuren von Franklin's Erpe-
d itio n gefunden, insbesondere auch sch r ift l i ch e Aufz e ich n u n g e n,
die seiner Meinung nach von Capitain Erozier's Hand her-
rühren. Auch hat er erfahren, daß dergleichen Documente noch
an einigen anderen Stellen seien und diese will er aufsuchen,
weil möglicherweise in denselben nähere Aufschlüsse über das Schicksal
der Schiffe „Erebus" und „Terror" enthalten sind. Die Eskimos
weit und breit wissen sehr wohl, weshalb er sich unter ihnen auf-
hält und tragen ihm Alles zu, was sie wissen und erfahren. So
haben sie ihm von einem Boot erzählt, das umgestülpt sei; unter
demselben hatten 17 bis 25 weiße Männer gelegen, alle mit
abgehauenen Händen und Füßen. Die Eskimos behaupten,
daß sie bei der Verstümmelung nicht betheiligt gewesen seien,
sondern daß die That von schiffbrüchigen weißen Menschen verübt
wurde. Das klingt aber sehr unwahrscheinlich. Andere wollten
wissen, es sei unter den Ueberlebenden eine Meuterei ausgebrochen.
Sie hätten versuchen wollen, die Hudsonsbai zu erreichen, aber
Alle, mit Ausnahme von Dreien, seien ermordet worden. Diese
drei hätten sich längere Zeit unter den Eskimos aufgehalten und
die Absicht gehabt, bis zu den Ansiedelungen der Weißen vorzu-
dringen, sie wären jedoch vorher gestorben. Morgan überließ dem
Dr. Hall mancherlei Sachen, welche demselben nützlich sein konnten;
er weiß auch, daß zwei oder drei Walsischfahrer in der Repulsebai
L r d t ij e i l e n.
überwintern; also wird Hall von denselben allerlei Nothbedars
erhalten. Sein lebhafter Wunsch war, in Begleitung von 6 oder
8 weißen Männern seine Erpeditionen ins Innere unternehmen
zu können; er hätte dann von feindlichen Eskimos nichts zu be-
fürchten. Vielleicht findet er solche Leute unter dem Schiffsvolk
der überwinternden Walfischfahrer. k
Muschelhügel im nordamerikanischen Staate Maine.
Im Octoberhefte des „New England Historical and Genealo-
gical Register", das zu Boston erscheint, bespricht I. N. Shep-
pard den Inhalt der beiden ersten Jahresberichte des Vereins
für Erdkunde zu Dresden. Er hebt namentlich den Vortrag von
Woldemar Schulz über einen Muschelhügel in Maranham in
Brasilien und jenen Karl Andree's über die dänischen Kjök-
kenmöddings hervor und knüpft daran einige Bemerkungen. In
Dresden war auf die bekannte Thatfache hingewiesen worden, daß
in den dänischen Küchenabfällen Knochen vom Auerhahn gefunden
werden, den man nur in Nadelwäldern findet; diese kommen in
Dänemark nicht mehr vor und sind im Verlaufe der Zeit durch
Laubwälder ersetzt worden.
Herr Sheppard sagt nun, es sei in Neuengland wohl bekannt,
daß dort aus einer abgetriebenen Strecke Lanbwaldes hinterher
Fichten und Kiefern wachsen. Er weist einen „Austernhügel" in
Neweastle, Eounty Lincoln, im Staate Maine, nach. Derselbe
liegt am westlichen Ufer des Damariseotta auf einem Land-
vorsprunge, welcher seit fünf oder sechs Generationen im Besitz
einer Familie Gliddon sich befindet. Der Muschelhügel ist schon
1838 vom Geologen E. T. Jackson beschrieben worden.
„Dieses Bett von Muscheln bildet eine Masse, deren höchster
Punkt 25 Fuß über dem Meeresspiegel liegt und sich allmälig
nach der Küste hin so absenkt, daß sie noch 6 Fuß über i>ie höchste
Fluthmarke emporragt; sie mißt 108 Ruthen (— zu 16y2 Fuß
englisch —) in der Länge und 80 bis 100 Ruthen in der Breite.
Die Muscheln bilden regelmäßige Lager oder Schichten, sind voll-
konimen gut erhalten und durch die Einwirkungen des Wetters
gebleicht, versteht sich, so weit sie den Einwirkungen desselben
ausgesetzt sind. Meinen Messungen zufolge enthält dieser Hügel
nicht weniger als 4-1,906,400 Cnbiksuß Muscheln."
Als Sheppard vor einigen Jahren die Stelle besuchte und an
der Bank von Muscheln hinging, bemerkte er, daß sie, einer senk-
recht abfallenden Mauer von 12 bis 15 Fuß Höhe gleich, Schich-
ten aufwiesen, die so glatt und gleichmäßig waren, als ob sie,
wie er sagt, von irgend einer „übernatürlichen Hand" dorthin ge-
legt worden seien. Die Stelle liegt etwa eine Mile unterhalb
der Brücke von Nobleborough und es sollen bort früher viele
und große Laubbäume gestanden haben.
Jackson vermuthet, daß der Muschelhügel von den Indianern
herrühre; gewiß ist, daß dieselben früher jene Stelle häufig besucht
haben. Aber dagegen sprächen die ungemein regelmäßige Schichtung
der Lagen und der Umstand, daß die Schalen so gut erhalten seien;
auch kämen dort in der See nur wenige Austern vor. Der
Hügel ist von verhältnißmäßig junger Ablagerung, denn er liegt
auf Diluvialboden. „Man sagt, daß Pfeilspitzen. Stilette
aus Knochen und menschliche Gebeine indem Muschelhügel
nahe der Oberfläche desselben gefunden worden seien." Williamson
bemerkt in seiner Geschichte Maines, daß an den Küsten dieses
Aus allen
Staates vormals Austern und andere Muscheln in großer Menge
vorgekommen feien.
„Die dänischen und brasilianischen Muschelhügel und dieser
Oyster niound in Maine tragen das Gepräge hohen Alterthums.
Verdanken sie nicht etwa ihren Ursprung einer und derselben
Raee?" So fragt Sheppard, der aber mit dem Stande der
Untersuchungen über die Muschelhügel nicht bekannt ist. Dasür
zeugen schon die Worte: „Jene in Dänemark verdanken den
Dänen ihren Ursprung. Es ist nicht nur möglich, sondern wahrschein-
lich, daß diese Austernablagerung das Werk der Normannen
sei und daß wir in derselben ein Denkmal ihrer Einwanderung
in Amerika vor uns haben." Diese Ansicht ist platterdings un-
richtig. Weder Dänen noch Normannen haben mit den Muschel-
Hügeln etwas zu schassen, welche einer viel frühern Epoche und
einem viel frühern, längst verschwundenen vorgeschichtlichen Volke
angehören.
Ein „antediluvianisches" Riesenthier in Brasilien.
Wir erhielten von Herrn Karl von Koseritz in Porto-
Alegre fol-gende Mittheilung, die wir einfach so geben, wie
sie uns zukam. Das Nähere bleibt abzuwarten.
Im großen Kaiserreiche Brasilien war bis jetzt noch kein
„antediluvianisches" Geripp entdeckt worden und alles, was man
bis heute bei Nachgrabungen vorfand, waren vegetabilische Neber-
reste, welche über das wirkliche Alter dieses südamerikanischen
Continents keinen Aufschluß geben konnten.
Nun endlich ist das Geripp eines „vorsündfluthlichen Riesen-
thieres" aufgefunden worden und zwar in unserer Provinz Rio
Grande do Sul. Der Fazendeiro (Gutsbesitzer) Antonio
Mancio Ribeiro ließ nämlich auf seiner Fazenda im Muni-
cipium von Alegrete einen Theil der Ausläufer der Serra
Jarao, eines hohen Bergkegels von Granitformation, zum Baue
einer Landstraße durchstechen, und fand in einer Ablagerung von
rother Thonerde, einige 40 Fuß unter der Oberfläche, die wohl-
erhaltenen Ucberreste eines „urweltlichen" RiesenthiereS in trans-
versaler Lage. Die Knochen lagen in vollständiger Ord-
nung. Ribeiro ließ dieselben augenblicklich sammeln, und auf den
Rath eines zufällig vorbeireisenden fremden Arztes in Leinöl ab-
kochen, um ihnen Consistenz zu geben.
Da die Knochen einzeln herausgenommen wurden,, so konnte
er mir die Totallänge des Gerippes, dessen Zusammensetzung der
nicht wissenschaftlich gebildete Mann nicht fertig bekam, nicht an-
geben, doch hat er einen Beinknochen vom Knie bis zum
Fußgelenk gemessen, der eine Länge von 30 Spannen (zu 3
Zoll die Spanne) hatte! (?)
Antonio Mancio Ribeiro, der mir diesen merkwürdigen Fund
bei seiner letzten Anwesenheit in Porto-Alegre zeigte, hatte sich
aus einem der Riesenzähne einen Peitschenstiel an-
fertigen lassen, den ich hier sah und untersuchte. Das Stück Zahn
beweist die enorme Größe des Thieres und gleicht dem schönsten
Elfenbein.
Ribeiro versichert, daß die sämmtlichen Knochen wohl er-
halten, daß Kopf, Rückgrat, Füße ,c. vorhanden feien, so daß
eine Zusammensetzung einem bewanderten Manne keine Schwierig-
keiten bietet.
Der Besitzer dieser Seltenheit versprach mir, dieselbe in den
nächsten Wochen auf Lastwagen hierher zu bringen, wo ich dann
Gelegenheit haben werde, das Geripp zusammenzusetzen
und Photographien abnehmen zu lassen. Sobald sich
das urweltliche Ungethüm hier befindet, werde ich nicht unter-
lassen, Ihnen für den „Globus" eine genaue Beschreibung desselben
mit photographischer Abbildung zugehen zu lassen, da ich über-
zeugt bin, daß ein solcher Fund in Südamerika, und
zwar der erste dieser Art, für die Wissenschaft im Allgemeinen
von großem Interesse sein wird.
Die Wahrheit obiger Angaben garantire ich, da
Antonio Mancio Ribeiro ein sehr angesehener und achtbarer
Mann ist und ich den Zahn gesehen habe.
Das Tobten eines Zwillingskindes bei einigen wilden
Völkern.
Manches, das uns Europäern unwahrscheinlich und bei unserer
Anschauungsweise als unmöglich erscheint, ist darum doch That-
Erdtheilen. lli)
fache und ereignet sich häufig. Was wir mit Recht für ein Ver-
brechen erklären, kommt dem wilden Menschen nicht selten wie
eine Nothwendigkeit und eine gute oder nützliche Handlung vor.
So ist es auch mit dem Tödten eines Zwillingskindes, das in
Südafrika nicht selten ist. Ein Arzt, Dr. H. Ealloway, der
zu Spring Vale in der Kolonie Natal lebt, schreibt darüber an
die Londoner anthropologische Gesellschaft Folgendes:
Die Eingeborenen haben ihre Kinder sehr lieb, aber das
eigene Leben haben sie doch noch lieber. Eltern werden unter
gewissen Umständen ihre Kinder zu Grunde gehen lassen, sie auch
wohl tödten, wenn sie wähnen, dadurch ihr eigenes Leben erhalten
oder auch nur Krankheit von sich abwenden zu können. Die
Sitte, ein Zwillingskind umzubringen, kommt unter einigen
Stämmen und Familien der Kasfern vor und hat ihren Grund
im Wahnglanben. Unter manchen Stämmen sind Zwillings-
geburten selten, bei anderen nicht; bei den letzteren läßt man
beide Kinder aufwachsen, bei den ersteren gilt solch eine Geburt
für eine Ungeheuerlichkeit und deshalb muß eins der Kinder
sterben. Man untersucht beide sorgfältig und dem schwächsten
steckt man einen Erdklumpen in den Mund, an welchem es lang-
sam erstickt. Nachher begräbt man es neben der Eingangsthür
der Hütte und pflanzt eine Jkgena, d. h. Zwergaloe, auf die
Grabstelle. Man meint, wenn beide Kinder aufwüchsen, müsse
Vater oder Mutter sterben, früher oder später; auf jeden Fall
werde die Mutter früh alt und unfruchtbar, wenn man beide
Kinder am Leben lasse; im letztern Falle sei auch unausbleiblich,
daß die Zwillinge einander tödten würden, indem einer dem
andern Krankheiten zu Wege bringe. Die alten Weiber im Kraal
schärefn allen diesen Widersinn, an welchem sie streng festhalten,
dem Volk ein. Nun trifft es sich aber auch, daß ein Vater sich
dem Kindesmorde widersetzt. Dann wird er sofort von den Alten
im Dorfe bedrängt und gedrängt; sie wissen ihm Beispiele vor-
zuhalten und ausführlich zu erzählen, welches Unheil dadurch ent-
standen fei, daß man beide Kinder am Leben gelassen habe, und
sie lassen dann nicht nach bis er in die Tödtung willigr. Ealloway
kennt einen Fall, daß ein Mann, in dessen Familie Zwillings-
geburten nicht selten waren, eine Frau aus einem andern Stamme
heirathete, in welchem sie fast gar nicht vorkamen. Die Frau gebar
Zwillinge und sofort versammelten sich ihre Verwandten, um „das
Unglück abzuwenden". Der Mann widerstand und gab vernünf-
tige Gründe an; der Mord unterblieb. Als aber die Kinder
etwa 14 Jahr alt waren, erkrankte die Mutter und nun verstand
es sich von selbst, daß der Mann daran schuld sei; hätte er ein
Kind getödtet, dann wäre die Mutter nicht krank geworden. So
lautete die Logik der Wilden.
TXis Kind wird dicht neben der Thür begraben, weil das
dem überlebenden Zwillinge zu Gute komme. Dieses letztere, so
meint man, vermisse das andere, und dieses habe aus dem Grab
heraus eine wohlthätige Wirkung. Wenn es schreit, so thue es
das, weil es sich nach jenem sehne; dann trägt man es ans das
Grab und läßt es dort, bis es wieder ruhig wird. Deshalb ist
das Grab dicht bei der Hütte; man braucht das schreiende Kind
nun nicht weit zu tragen. Die Aloe gilt als Vertreterin des Ver-
storbenen; in ihr ist sein Geist oder Schatten. Man schneidet
alle Stacheln ab, damit das lebendige Kind sich nicht beschädige,
sich an der Pflanze emporziehen könne und „dadurch stark werde".
Es würde ein Gleiches an seinem Zwillingsbruder gethan haben,
wenn dieser am Leben wäre.
Bei den Kaffern, welche Nahrungsmittel in Menge haben,
hat diese Tödtung nichts zu schaffen mit Mangel; Milch ist im
Ueberflusse vorhanden; hier liegt ein bloßer Wahn zu Grunde.
Uebrigens haben die Eltern mit der Tödtung des Kindes nichts
zu thun; diese wird von den alten Weibern besorgt. In jenen
Tlieilen des Kafferlandes, welche der Herrschaft Englands unter-
worfen sind, hat man dieser Barbarei ein Ende gemacht.
Behaarte Menschen, die sich forterben.
Die folgenden Thatsachen sind von Interesse, weil sie zeigen,
d.iß und in welcher Weise Abnormitäten an Menschen übertragen
werden und sich forterben können. Gewährsmänner sind: Erstens
Crawfurd, der heute noch lebt und Präsident der ethnolo-
gischen Gesellschaft in London ist; er war vor mehr als 40 Iah-
ren englischer Gesandter in Birma. Zweitens Oberst Aule,
30 Aus allen
der vor nun etwa 10 Jahren in gleicher Eigenschaft dort sich
aufhielt.
„Der Großvater Schiwe maong stammte aus Laos; der
Häuptling seiner Heimath hatte ihn, als er ein fünfjähriger
Knabe war, dem Könige von Awa (Birma) als eine Merkwür-
digkeit geschenkt. Als er ausgewachsen war, hatte er die gewöhn-
liche Größe, 5 Fuß 3^ Zoll, war schlank, zart gebaut und heller
von Hautfarbe als die Birmanen zu sein Pflegen. Stirn,
Wangen, Augenlider und Nase waren mit schlich-
ten, seidenartigen, silbergrauen, 4 bis 8 Zoll
langen Haaren bewachsen. Dasselbe war aus dem
ganzen Körper der Fall, mit alleiniger Ausnahme
von Händen und Füßen. Am längsten, 5 Zoll, war das
Haar auf Rückgrat und Schultern, und überall saß es fest, fiel
nicht aus. Als Schiwe maong 30 Jahr alt war, sah er aus wie
60, und das kam von der E i g e n t h ü m l i ch k e i t se i n e r Z a h n -
bildung. Er hatte im Unterkiefer nur 5 Zähne, nämlich die
4 Schneidezähne und den linken Hundszahn, im Oberkiefer nur 4,
von denen die zwei äußeren wie Hundszähne aussahen. Alle
übrigen fehlten und statt des Zahnfleisches hatte er eine harte,
fleischige Leiste; allem Anscheine zusolge fehlte auch der Alveolar-
proceß. Uebrigens waren die Zähne zwar klein aber gesund; er
erzählte, daß er seine Milchzähne erst im 20. Jahre verloren habe,
und erst damals habe er seine völlige körperliche Ausbildung er-
halten. Dieser behaarte Mann sah ganz gut aus und war intel-
ligent. Bei seiner Geburt waren lediglich seine Ohren mit 2
Zoll langen Flachshaaren bewachsen; jene auf dem übrigen Kör-
per wuchsen später. Als er 22 Jahr alt war, schenkte der König
ihm eine Frau, die ihm 4 Töchter gebar; die erste und zweite
starben jung, und weder sie noch die dritte hatten irgend etwas
Abnormes an sich. Aber die jüngste hatte bei ihrer
Geburt Haare an den Ohren und bald wuchsen ihr
dergleichen am ganzen Körper."
Das ist die Erzäblung Crawsurd's, die von Oberst Uule
(1860) in folgender Weise weiter geführt wird. „Diese Tochter —
sagt er — heißt Map h otis; att ihr war die haarige Eigenthüm-
lichkeit völlig ausgebildet; von ihrem ganzen Gesichte konnte man
wegen des langen, seidenweichen herabhängenden Haares nichts
weiter sehen als die äußerste Lippe. Sie sah aus wie ein lang-
haariger Terrier, war aber eine angenehme, recht intelligente
Frau. Sie brachte ihren Mann und ihre zwei Knaben mit; der
älteste hatte nichts Ausfallendes an sich, dagegen zeigte der
jüngere die F a m i l i e n e i g e n t h ü in l i ch k e i t, und er hat
allem Anschein nach dieselbe in der dritten Generation. Der
Mutter fehlten die Hunds- und Kauzähne." (Anthropological
Keview, Juli 1866, S. 234.)
Cholera und indische Pilgerfahrten.
Bisher hat man, und wohl mit Recht, angenommen, daß die
böse Seuche ihren Weltgang von dem Gangesdelta aus ange-
treten habe; dort ist sie einheimisch. Gewiß ist auch, daß sie
an anderen Oertlichkeiten unter gewissen Umständen und Be-
dingungen sich erzeugt, und dann weiter verschleppt wird. Wir
wissen, daß das Ungeheuer mit geheimnißvollem Ursprünge sich
an die Fersen der mohammedanischen Pilgerkarawanen heftet; bei
den Hinduwallfahrten zeigt sich dieselbe Erscheinung. Dr. LeitH,
Präsident der Gesundheitscommission zu Bombay, hat darüber
einen umfassenden Bericht veröffentlicht.
Pandharpur liegt 119 Miles von der Maharatten-Haupt-
stadtPunah entfernt, am rechten Ufer des Flusses Bhima. Dort
steht das berühmte Götzenbild Bitoba, eine Jncarnation
Wischnu's, der einmal an jenem Ort erschienen ist. So berichtet
die Legende. Das Idol ist Gegenstand hoher Verehrung bei den
Maharatten und von weit und breit her wandern Pilger zu dem-
selben. Die Wallfahrt gilt für besonders wirksam im Juli und
October, und die Andachten dauern dann vom elften Tage deö
zunehmenden bis zu jenem des abnehmenden Mondes. Zu den
etwa 14,000 Einwohnern der Stadt kommen dann noch 50,000 bis
100,000Pilger, vr. LeitH besuchte 1865den Bitobatempel. Der-
selbe besteht aus drei Vorzimmern und einem Gemach, in welchem
der Götze sich befindet; dieses letztere hält nur 8 Fuß im Viereck,
und daö steinerne Idol steht unter einer 30 Fuß hohen Kuppel.
Echtheiten.
Im zweiten Vorzimmer halten sich stets einige Brahminen aus,
um die Opfergaben entgegenzunehmen; beim Einlaß werden
jene Frommen bevorzugt, welche am meisten spenden. Bevor die
Pilger in den Tempel Einlaß finden, drängen sie sich in einem
Hofraume zusammen, dessen freie Fläche nur 449 Quadratyards
einnimmt. Dort stehen oder sitzen sie stundenlang dicht anein-
ander gedrangt; Arme und Kranke, die nicht Kraft genug haben,
sich Bahn zu brechen, müssen vom Morgen bis zum Abend dort
aushalten und dabei strenges Fasten beobachten, sie leiden also
Hunger und Durst, sind durch das Hin- und Herdrängcn abge-
müdet und mit Schweiß bedeckt. Die Atmosphäre in dem Hof-
räum ist abscheulich, da überall der widerwärtigste Schmutz
herrscht und Niemand den Hof verlassen darf, auch wenn er ein
natürliches Bedürfniß zu befriedigen hat. Ins Innere werden
immer nur zwanzig Personen eingelassen, und wenn dann ein
Brahmine die Thür öffnet, ist dcr Andrang so stark, daß keiner
auch nur die Arme rühren kann. Die Luft ist erstickend, die
Kleider triefen von Schweiß, und wenn die Andächtigen, welche
so lange in dem dunkeln Hosraume verweilten, in das blendend
erleuchtete Götzengemach treten, verlieren sie beinahe das Bewußt-
sein. Die inneren Wände sind feucht von den Ausdünstungen der
Frommen, auch das Idol wird naß davon. Dann sagt ettt Priester:
Der Gott ist ermüdet.
Nachdem der Pilger im Tempel seine Andacht verrichtet hat,
wird er herausgelassen. Der Reiche findet in der Stadt selbst
ein Unterkommen in überfüllten Wohnungen oder auch in einem
Zelte; der Arme hat höchstens eine Decke, in welche er sich hüllt,
wenn er sein Lager unter freiem Himmel am Flußufer aufsucht.
Er trinkt das Wasser aus dem Bhima, welcher durch Unreinig-
ketten von Menschen und Vieh besudelt ist.
Am fünfzehnten Tage in den heiligen Zeiten besuchen die
Wallfahrer den in der Nähe liegenden Kala Gopaltempel.
Dabei geht Alles im höchsten Grad ausgelassen zu und der
Menschettandrang ist ungeheuer. Hier wird keinerlei Kastenunter-
schied beobachtet und Alle genießen die Lustbarkeiten und aus-
schweifenden Vergnügungen, an welchen, wie die heilige Sage
erzählt, Gott Wischnu sich ergötzte, als er noch jung war. Leute
verschiedener Kasten speisen gemeinschaftlich. Man weiß nicht
genau wie viel Geld der Vitobagötze den Priestern jährlich
einbringt; 60,000 Rupien (zu 20 Silbergroschen) mindestens,
und die englische Regierung steuert ihrerseits 3000 Rupien bei.
Seit Jahren ist nun beobachtet worden, daß zu Pan-
dharpur unter den Pilgern die Cholera mit großer Heftigkeit
auftritt und dann durch die Heimkehrenden weiter verbreitet
wird. Sie findet in jener Stadt einen Brutherd, der recht
eigentlich für sie geschaffen ist. Alles ist so abscheulich besudelt,
daß Morgens ein Fremder sich nicht auf Straßen oder Plätze
begeben und daß er erst ausgehen kann, wenn die Schweine für
etwas Reinlichkeit gesorgt haben, vr. Leith hat Vorschläge zu
besserer Lüftung des Tempels gemacht; er beantragte, daß die
Pilger künstig nicht am feuchten Flußufer, sondern auf trocknem
Boden schlafen sollen; es soll für gutes Trinkwasser gesorgt
und die Straßen sollen gefegt werden. Am besten wäre es,
diesem ganzen Unfug ein Ende zu machen. Da es sich aber um
eine „heilige Sache" handelt, so kann die Regierung nicht mit
einem Machtspruch eingreifen und die Wallfahrtes zum Bitoba-
götzen werden fortdauern.
Sklavenhändler und Auswanderer im Kaukasus.
Mehr als eine halbe Million mohammedanischer Bergbewohner
haben ihre alte Heimath verlassen und in verschiedenen Gegenden
der Türkei von der Donau bis zum Tigris neue Wohnsitze erhalten.
Man sieht diese „Aristokraten des Müßigganges" nirgends gern.
Die Russem sind nun allerdings Herren des Kaukasus, aber doch
noch lange nicht in ruhigem Besitze. Mittheilungen vom Schwarzen
Meer, August 1866, berichten über einen Aufstand, der in Folge
einer unter den Bergvölkern weit verzweigten Verschwörung in
der Landschaft Daghestan und zu Suchum Kaleh ausgebrochen
sei. Am letztern Orte wollte man die russische Besatzung nieder-
säbeln und dann nach der Türkei flüchten. Der Versuch war
blutig, mißlang jedoch.
Ein Bericht der „Allgemeinen Zeitung" aus Konstantinopel
Aus allen
will wissen, daß die kaukasischen Sklavenhändler an der Spitze
der Bewegung ständen. Die Türken beziehen noch immer
Sklaven aus dem Kaukasus, wo die Weiber es für ein beneidcns-
werthes Glück halten, in einen Harem nach Stambnl gebracht zu
werden. Der Handel ist zwar verboten, blüht aber fort und
wird in mohammedanischen Gegenden nur schwer auszurotten sein,
weil das Volk ihn für erlaubt und ganz in der Ordnung hält.
Der Haussklav in der Türkei kann zu den höchsten Ehrenstetten
gelangen. Noch immer zählt man dort viele Würdenträger, die
einst tscherkessische Sklaven gewesen sind. Die hülfsbedürftigen
Mädchen finden ein gutes Unterkommen. Die Tscherkessinnen sind
gewöhnlich weit schöner als die Türkinnen und spielen deshalb in
den Harems fast immer die Herrinnen. Die Mutter des letzt
herrschenden Sultans war eine tscherkessische Sklavin, ebenso die
gegenwärtige Vicekönigin von Aegypten. Der gesammte weibliche
Hofstaat des Sultans, der Prinzen und Prinzessinnen besteht aus
Tscherkessinnen. Die eigentlichen Sklavenhändler, welche den Markt
versorgen, sind in der Regel türkische Unterthanen, sogenannte
„Lassen" (Lazen), die an der Küste des Schwarzen Meers und im
Innern bis an die georgische Grenze wohnen, und ihre lebendige
Waare um so leichter in die türkischen Städte bringen, weil, wie
bemerkt, die Tscherkessenmädchen kein größeres Glück kennen, als nach
Konstantinopel zu kommen; sie haben über Ehe und häusliches
Glück ganz andere Ansichten als die christlichen Europäerinnen.
Barbarei der Engländer auf Neuseeland.
Es fehlt der Sprache an Ausdrücken, um nach Gebühr die
Abscheulichkeiten zu kennzeichnen, welche von den „hochherzigen
Briten" namentlich auf Neuseeland planmäßig gegen die Ein-
geborenen, die Maoris, verübt werden. Seit Jahren dauert, mit
nur kurzen Unterbrechungen, ein blutiger Krieg, welcher durch
Ungerechtigkeit, Gier nach Landbesitz und Hochmuthsdünkel der
Coloniften hervorgerufen worden und mit ausgesuchter Barbarei
und Treulosigkeit von Seiten der weißen Christen geführt worden ist.
Diese finden selbst in England, wo man doch auf die Eingeborenen
(falls diese nicht etwa Neger sind, für welche eine krankhafte
Sentimentalität zur Schau getragen wird) sehr gleichgültig herab-
sieht, kaum noch Vertheidiger, und schon vor einigen Jahren
äußerte ein Londoner Blatt, „man müsse sich schämen, einem
Volke anzugehören, das so entmenschte Ungeheuer hervorbringe."
Wir haben im „Globus" mehrmals die wunderliche Seete
der Pai Marire geschildert, die auch als Hau hau's be-
zeichnet werden. Die Bnchstabcureligion, welche von den Eng-
ländern als Ehristenthum nach Neuseeland importirt wurde, hat
in die Köpfe der Maoris lediglich Verwirrung gebracht und hat
diese Menschen aus dem geistigen Gleichgewichte geworfen, indem-
sie den alten Glauben untergrub, während der neugepredigte
den braunen Leuten unverständlich war. Diesen hatten sie äußer-
lich angenommen, als sie aber sahen, von welcher Beschaffenheit die
weißen Bekenner desselben sind und daß alle schweren Drangsale,
welche über die Ureinwohner kamen, gerade von diesen Weißen her-
rühren, da warfen sie den neuen Glauben ab. Sie machten sich
eine seltsame Religion zurecht, die in wilden Ungeheuerlichkeiten
besteht; diese bezeugen, wie völlig wirr es in dem Hirn der Maoris
aussieht. Es bildete sich die Seete der Hau hau's; diese er-
mordeten einen Missionair, und die Thäter wurden gefangen und
aufgehängt. Der Krieg dauerte fort, vie Ueberlegenheit der
Europäer machte sich geltend, trotz der tapfersten Gegenwehr
verloren die Maoris mehr und mehr an Boden, aber die einstchts-
vollsten unter den Häuptlingen bemühten sich seit einiger Zeit,
einen ehrlichen Frieden herbeizuführen.
Unter diesen Häuptlingen war William Thompson, welchen
die Engländer in ihren Berichten oftmals gerühmt haben, diesen
allzeit freundlich gesinnt, und im August 1866 trat er als Ver-
mittler auf, um endlich dem Blutvergießen ein Ende zu machen.
In der Melbourne? „Germania" vom 20. September lesen wir,
daß er im August nach der Stadt Wellington kam, nm mit der
Regierung zu verhandeln. Er wurde ohne Rücksicht behandelt,
nicht als Gast beim Gouverneur aufgenommen, sondern in ein
Wirthshaus gewiesen. Er wandte sich an das neuseeländische
Parlament, mit dem Gesuche, daß man den Maoris die von der
Regierung eonfiseirten Waikato-Landereien herausgeben solle. Er
Erdtheilen. 31
hatte bis auf Weiteres seine Landsleute beschwichtigt und aus
einen Frieden vertröstet; auch ist dieser Häuptling trotz alledem
Christ geblieben.
Nun wird in der „Germania" Folgendes berichtet. Ein Major
Mac Donnell war mit 250 Mann Milizen nach Waingongora
marschirt und h.itte dort eine Zusammenkunft mit zwei Häuptern
der Hau hau's. Als er unbedingte Unterwerfung verlangte, ver-
sprachen sie, am folgenden Tage eine bestimmte Antwort zu
geben. Diese erfolgte auch; die Hau hau's erklärten, sich iiiiter-
werfen zu wollen; sie würden ihn in Kawae erwarten, um das
Nähere zu verabreden. Mae Donnell ging mit einer Truppen-
abtheiluug dorthin und traf eine Anzahl bewaffneter Krieger,
welche eben eine Mahlzeit hielten. Die Häuptlinge erklärten,
daß sie zum Abschlüsse des Friedens bereit seien, doch wünschten
manche der Ihrigen noch über einige Punkte näher zu verbandeln.
Statt auf einen jedenfalls nicht unbilligen Wunsch einzugehen,
„überfiel der Major während der Nacht das Dorf
Kawae und ließ alles, was in seine Hände fiel,
massacriren; was entfliehen konnte, rettete sich in das Ge-
büsch. Die Trophäen der Engländer bestanden in 10 Leichen;
eben so viele Frauen und Kinder wurden gefangen genommen und
auch Waffen erbeutet. Das Dorf wurde dann in Brand
gesteckt unv der Major zog mit seinen Leuten wieder nach
Waingongora zurück. Natürlich wird diese Heldenthat gewaltig
ausposaunt und die englischen Ansiedler sind entzückt darüber.
Sie erklären einen solchen Vernichtungskrieg für die
beste Weise, mit den Eingeborenen fertig zu werden.
Der Native Resident Magistrat Parriö zu Patea ist jedoch
anderer Meinung; er begab sich nach obigem Uebersall in größter
Eile zum Gouverneur nach Wellington, von wo er den gemessenen
Befehl an den Major zurückbrachte, daß dieser ohne Erlaubnis;
von Herrn Parris nichts mehr vornehmen solle."
Agassi; über den Amazonenstrom.
Der berühmte Naturforscher ist im October aus Brasilien
nach Nordamerika zurückgekehrt und hält nun in Boston Vor-
träge über seine Reise, zu welcher ihm ein reicher Manu jener
Stadt, Thayer, die Geldmittel gab. Agassiz spricht mit großer
Vorliebe vom Amazonenstrome, welchen er bis zur perua-
nischen Grenze hinauffuhr. Er fetzte, was wir allerdings schon
längst wissen, auseinander, daß das Stromgebiet des Haupt-
stusses eine weite, reich bewaldete und bewässerte Ebene bilde.
Die Entfernung von der Mündung bis zur Quelle betrage, dem
Strom entlang, 4000 Miles; die Ebene, durch welche derselbe
fließe, sei durchschnittlich 1200 Miles breit, an manchen Stellen
sogar 1800, und die ganze Abdachung vom Fuße der AndeS bis
zur Mündung betrage nicht über 250 Fuß. Dieses Stromthal
kann mit keinem andern verglichen werden; die Mündung ist
160 Miles breit. Seen und Lagunen hat der Amazonas in
Menge. Im August und September beginnt der Schnee der
Andes zu schmelzen, aber das übt auf den Strom einen nur
geringen Einfluß, da er in seinen unteren Theilen erst im März
anschwellt; seinen höchsten Wasserstand hat er vom Juni bis
October; er steigt von 30 bis zu 50 Fuß. Die südlichen Neben-
flüsse haben Hochwasser, wenn die von Norden her einströmenden
den niedrigsten Wasserstand haben und umgekehrt. Es giebt
Zeiten, in denen ein großer Theil des Beckens unter Wasser steht
und man in den Wäldern schifft. (— Das hat Wallace in
seinen Reisen vortrefflich geschildert. —) D.is Klima ist ungleich
günstiger als im tropischen Afrika. Die Nächte sind nicht schwül,
weil der Amazonenstrom von Westen nach Osten läuft, also dem
Passatwind entgegen, so daß kühle Winde stromauf wehen. Die
mittlere Jahrestemperatur stellt sich auf 82° F., die höchste auf
95 °, die niedrigste auf 72" F. An jedem Abend verspürt man
den frischen Wind. — Wenn die Gegenden am Amazonenstrom
bisher in ungünstigem Rufe standen, so liegt die Schuld daran zu
nicht geringem Theil an der schlechten brasilianischen Verwaltung
und in der Lebensweise der Leute. Man schickt junge unerfahrene
Männer als Beamte dorthin, die den Aufenthalt für ein Eril
halten und sobald als möglich wieder fortkommen möchten; außer-
dem werden die Indianer von den Weißen nicht gnt behandelt.
Die Wälder könnten einen großen Gewinn abwerfen, denn nicht
32 Aus allen
weniger als 170 Arten werthvoller Hölzer sind vorhanden; a b e r
bis ans den heutigen Tag hat noch Niemand daran
gedacht, eine Sägemühle am Amazonenstrome zu
bauen! Man fällt einen Baum und hauet sich mit der Art
ein Brett aus demselben zurecht. Die Dampfer, welche den
Strom befahren, sind fo bequem eingerichtet und werden so gut
geführt, daß ein Ausflug bis an den Fuß der AndeS eben so
angenehm ist wie eine Fahrt auf dem Rhein. Der Strom wird
in der nächsten Zeit den Schiffen aller Nationen geöffnet werden.
Bemerkenswerth ist, daß er kein Delta hat, obwohl er, gleich
Nil, Mississippi und Ganges, eine ungeheure Menge von Schlamm
ins Meer wälzt. Dieser Umstand erklärt sich daraus, daß der
Ocean, aus noch nicht genau ermittelten Ursachen, in wahrhaft
entsetzlicher Weise an den Gestaden des südamerikanischen Con-
tinenteS nördlich vom nördlichen Vorgebirge Brasiliens Ver-
Wüstungen anrichtet. Von diesem Punkt aus läuft die Küste
gen Norden und ein Rand von 200 bis 300 Miles breit ist
bereits vom Meere verschlungen worden; der Amazonas hat einst
300 Meilen weiter in den Atlantischen Ocean gereicht als jetzt!
Die Grenze zwischen Chile und Bolivia. Diese ist
23 Jahre lang streitig gewesen; nun sind aber beide Theile über-
eingekommen, den 24. Grad südlicher Breite als Scheidelinie
festzustellen. Bolivia, wesentlich ein Binnenstaat, also ohne See-
macht, besitzt an der Küste des Stillen Weltmeers nur eine Strecke
wüsten Gestades; dort erhob es, wie wir schon früher mehrfach
hervorgehoben, Anspruch an die Inselgruppe der Meril-
loneö, die wegen ihres Reichthums an Guano von großem
Werth ist; andererseits behauptete Chile ein Eigenthumsrecht.
Nun hatte eine Pariser Handelsfirma, das Haus Arnaud, sich
bereit erklärt, der Republik Bolivia 3 Millionen Dollars zu
leihen; dafür sollten eiserne Kriegsschiffe gekauft und dann die
Feindseligkeiten gegen Chile eröffnet werden; der bolivianische
Congreß hatte dazu seine Genehmigung ertheilt. Jetzt hat aber
dieser Staat ausnahmsweise und Zeitweilig einen verständigen
Präsidenten, Herrn Melgarejo, und dieser begriff, daß ein fried-
licher Vergleich besser fei als ein kostspieliger Krieg. Beide
Staaten haben sich in das Streitobject getheilt, jeder nimmt die
Hälfte. Die Ausbeutung des Guano ist jenem französischen
Handelshause zuerkannt worden; dasselbe erhält die eine Hälfte
des Ertrags und die andere wird zwischen den beiden Republiken
getheilt, sobald die Firma der einen wie der andern Republik je
3 Millionen Dollars leihweise vorgestreckt haben wird. Die Inseln
selbst sind als bolivianisches Territorium anerkannt worden.
Fortschritt in Chile. Unter allen Republiken Amerikas
wird dieser Staat am wenigsten von bürgerlichen Unordnungen
heimgesucht; er erfreut sich geordneter Zustände und eines gedeih-
lichen Fortschrittes. Während das heillos zerrüttete Mexico binnen
einem halben Jahrhundert mehr als 50 Präsidenten und Dikta-
toren aufweist, hat Chile sich in derselben Zeit mit 6 Präsidenten
beholfen, welche überdies nicht säbelrasselnde Generäle, sondern
zumeist bürgerliche Menschen waren und sind. 'Es kommt dem
Lande auch zn Gute, daß es von der Negerplage verschont geblieben
ist, und bei allerdings ausgedehnter Mischung mit indianischen
Elementen doch das weiße Blut, also auch die höhere Kultur,
entschieden vorwaltet. Die Bevölkerung wächst rasch an; nach
der Zählung von 1365 betrug sie 1,814,218 Köpfe. Die Ein-
fuhren stellten sich in demselben Jahre aus 21,240,976 Dollars,
wovon beinahe 76 Procent auf europäische Waaren kommen
(16,137,573 D.); die Ausfuhren hatten einen Geldwerth von
25,712,623 Dollars; davon gingen nach Europa für beinahe 16
Millionen und von diesen für 9% Millionen nach England.
Rindfleisch vom La Plata. Dasselbe kommt nun in
vollkommen frischem Zustande nach Europa, seitdem eine Ersin-
dung der Herren M'Eall und Sloper in London sich praktisch
bewährt hat. Das Verfahren ist noch ein Geheimniß, gewiß
bleibt, daß die erste Sendung frischen Rindfleisches, welche in
London in der Mitte Septembers 1866 aus Buenos Ayres ein-
Erdtheilen.
traf, nichts zu wünschen übrig ließ. Ein Freund der Erfinder,
Namens Paris, war vor mehreren Monaten nach dem La Plata
gegangen, um die Zubereitung zu überwachen. Am 27. September
wurde in der London Tavern eine große Speiseprobe abgehalten,
die vortrefflich ausgefallen ist. Auch wurden Fässer rohen Flei-
sches geöffnet, deren Inhalt fo frisch war, als sei die Waare eben
erst vom Londoner Fleischer geholt worden. Man wird nun ans
Werk gehen, dieselbe in möglichst großer Menge zu holen. Wirth-
schaftlich und für Handel und Schifffahrt ist diese Angelegenheit
von großer Bedeutung, denn bisher sind jährlich zwischen 2 und
3 Millionen Stück Rindvieh in den La-Plata-Gegenden nur der
Häute, Hörner und Klauen wegen geschlachtet worden; das Fleisch
wurde zum großen Theil den Geiern zur Beute und hatte an
Ort und Stelle so gut wie gar keinen Preis.
In Neugranada, oder wie es jetzt heißt den Vereinigten
Staaten von Columbien, ist ein sehr ersprießliches Werk voll-
endet worden, nämlich eine Landstraße aus dem Staate Caucä.
nach Antioquia. So können nun die Erzeugnisse einer höchst
fruchtbaren Gegend, die bisher isolirt war, in den Handel ge-
langen. Sodann wird eine Pferdebahn zwischen Barbaeüas
und Tuquerreö gebaut, auf welcher die werthvollen Hölzer
aus den dichten Wäldern jener Region transportirt werden sollen.
Nichts ist diesen jungen Ländern nützlicher als fahrbare Wege,
an denen es noch fast ganz mangelt.
Aus Schanghai wird eine Thatsache gemeldet, welche beweist,
daß europäische Neuerungen in das Blumenreich der Mitte ein-
brechen. Ein Chinese, der bei einem der europäischen Consulate
angestellt war, fand, nach Landesbrauch, keine Ungebühr darin, sich
mit zehn Dollars bestechen zu lassen. Verboten ist das allerdings,
aber die Mandarinen nehmen es bekanntlich nicht genau damit,
und jener ConsulatSdiener glaubte sich auch nicht an das Verbot
kehren zu müssen. Das hatte er indeß schwer zu bereuen; man
statuirte an ihm ein Erempel. Er wurde zehn Tage lang öffent-
lich ausgestellt, und zwar mit Handschellen. Sodann hatte man
(wie es früher bei uns in Deutschland mit „Meßdieben" geschah,
die am Pranger stehen mußten) eine Tafel über ihm befestigt,
auf welcher seine Missethat verzeichnet war. Nach Verlauf jener
zehn Tage bekam er dann noch einen Denkzettel, der in einhundert
wohlgezählten Hieben mit einem derben Bambusrohr bestand.
Außerdem wurde er seines Dienstes entlassen. „Welch ein Bei-
spiel geben uns hier die Chinesen!" so ruft ein englisches
Blatt aus, indem eV -berechnet, wie viel Bambushiebe in Groß-
britannien und Irland verabreicht werden müßten, falls jeder, der
bei Parlamentswahlen eine Bestechung annähme, nach jenem
chinesischen Maßstabe die ihm gebührenden Streiche erhielte!
Und nun gar in Nordamerika, wo man, wie das oftmals in Reden
und Zeitungsartikeln behauptet worden ist, für einen Dollar und
eine Gallone Branntwein eine irische Stimme kaufen kann und
wo die Zahl der wahlberechtigten Jrländer weit über eine Million
betragen mag! _
Die Steinkohlen in Neusüdwales sind ein werthvoller
Schatz für die Colonie; man findet sie selbst unter dem Kalkstein
in großer Mächtigkeit. Die australische Kohle ist älter als die
europäische. Der Sandstein streicht von Sydney aus nach Süden
hin bis zum Flusse Paddy, wo auf jener Seite auch die Kohle
ein Ende hat; dann aber beginnen sofort die Goldfelder und
man findet Eisenstein in Menge; die Fitzroy-Gruben sind daran
sehr ausgiebig.__
Der Atlantische Telegraph. Während der unterseeische
Theil desselben bisher seine Dienste nicht versagt hat, kommen
Unterbrechungen auf Neufundland vor, wo der Draht durch
Wüsteneien und Waldeinöden geführt werden mnßre. Nicht ohne
Grund besorgt man, daß namentlich im Winter bei starkem
Schneefalle, der auf jener Insel nicht ausbleibt, Störungen vor-
kommen werden. Man hat deshalb beschlossen, ein unter-
seeischeöTelegraphentau von derTrinity-Bai, Neufund-
land, nack Boston zu legen.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
beitrage zur Kunde von Japan.
ii.
Wesen der japanischen Cultur. — (Zivilisation schon in sehr früher Zeit. — Charakter des Volkes. — Die Berührung mit Völkern dcs
Abendlandes. — Unangemessenes Benehmen der Europäer und Amerikaner. — Der heilige Berg Fusi yama. Häusliches Leben. ,jn
Benteng-Uokuhama. — Hausdienerschaft. — Die Toris. — Familienleben, Kindererziehung und Spiele. -
Die Bildung der^Iapaner.
Das schöne Jnselreich des Sonnenaufgangs, Nippon, das
wir Japan nennen, ist ein Cnltnrland in der vollen Be-
dentnng des Wortes. Zwar weichen Anschauungen, Sitten,
Gebräuche und Einrichtungen vielfach von denen der euro-
Peuschen Menschheit ab und an dem ganzen japanischen Wesen
erscheint uns Vieles recht seltsam. Aber das ist auch um-
gekehrt der Fall; der Japaner seinerseits findet an der euro-
päisch-christlichen Civilisation Vieles verwunderbar und ver-
werslich. Er gehört eben einer ganz andern großen
Stammgruppe des Menschengeschlechts an, und es
wäre von unserer Seite geradezu widersinnig, von ihm zu
verlangen, daß er sich in unserer Weise hätte entwickeln
sollen. Manche bei uns haben sich daran gewöhnt, überall
den europäischen Maßstab als den allein richtigen anzulegen;
das ist jedoch entschieden unstatthaft und verstößt gegen alle
Gerechtigkeit.
Die Cultur jenes ostasiatischen Jnselreiches ist eigen-
artig; sie ist homogen, in ihrer Entwickeluug und Fort-
bildung von Außen her, bis auf unsere Tage herab, nicht
gestört worden; sie ist durchaus original und farbig. Nur
von einer Seite her hat Japan einige fremdartige Elemente
aufgenommen, von China, aber es hat diefe selbständig in
sich verarbeitet und zu seinem vollen Eigenthum gemacht.
Kein anderes asiatisches Volk kann sich an Civilisation
mit den Japanern messen. Diese haben ein geordnetes und
gegliedertes Staatswesen, das sich wesentlich unterscheidet
sowohl von dem patriarchalischen Despotismus und der ver-
rotteten Mandarinenwirthschaft in China, wie von dem anar-
chischen Feudalismus der Afghanen, den auf religiöser Kasten-
trennung beruhenden Einrichtungen der Hindus, wie von der
Willkürherrschast in den mohammedanischen Ländern. Man-
ches im öffentlichen Leben Japans erinnert an unsere mittel-
alterlichen Zustände, an die Einrichtungen der Feudalzeit, aber
mit einem für Japan manchmal sehr vortheilhaften Unter-
schiede. Japan hatte allezeit geordnete Rechtszustände und
eine Menge von wohlthätigen öffentlichen Anstalten und Ein-
richtnngen, von welchen einst in Europa auch die hervor-
ragenden Köpfe noch gar keine Ahnung hatten.
Ich will nur Einiges hervorheben. Japan hat seit länger
als einem Jahrtausend Civilstandsregister, die in Europa
bekanntlich sehr neuen Datums sind. Seit vielen Jahrhun-
derten sind Geburten, Heirathen und Sterbefälle in jeder
Gemeinde verzeichnet worden. Das Finanzwesen hat sich
allezeit in musterhafter Ordnung befunden und ehe das Land
mit den Fremden in unliebsame Berührung kam, hat man
außerordentliche Abgaben kaum gekannt. Pässe und Nr-
künden aller Art sind von den Staatsbeamten immer ge-
bührenfrei ausgestellt worden.
Globus XI. Nr. 2.
Schon vor tausend Jahren hatte Japan ein Postwesen
und zwar ein sehr geregeltes. Jeder der mehr als sechszig
Landesherren muß in seinem Gebiete dasselbe in bester Ord-
nnng halten; allemal in Zwischenräumen von IV? bis 4
Stunden befinden sich Stationen, an denen Träger oder
Pferde gewechselt werden. Auch Laufzettel sind seit Jahr-
Hunderten in Japan bekannt, nicht minder Postschiffe, die
sich in einem aus lauter Inseln bestehenden Lande als noth-
wendig erwiesen, die aber Europa erst sehr spät eingerichtet
hat. Die Beförderung der Correfpondenz ist sicher, rasch,
und seit Jahrhunderten tragen Briefträger die Schriften in
einem Kasten, der an einer langen Stange befestigt ist; ge-
wöhnlich gehen mehrere hintereinander in Begleitung eines
Postbeamten, welcher an den verschiedenen Stationen die
Briefe abgiebt. Als man in Europa noch nicht wußte, was
Postkarten mit Verzeichnung aller Ortschaften und
mit Angabe der Beförderungstarife seien, hatte dergleichen
Japan, und dazu Preiscouraute, welche iu deu Wirths-
Häusern angeschlagen waren, um die Reisenden gegen Ueber-
vortheilung zu sichern.
Die Anlage von Wasserbecken zur Speisung der Ca-
näle, durch welche die Felder befruchtet werden, ist schon seit
dem Jahre 36 vor Christi Geburt bekannt. Theestranch
und Apfelsinenbaum sind früh ans China eingeführt
worden. Seit dem fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung
hat Japan den Maulbeerbaum und die Seidenzucht;
zwei Jahrhunderte später kannte es den Gebrauch des Erd-
öls uud der Steinkohle. Die Einrichtung der Pferde-
Posten füllt ins dritte Jahrhundert; im vierten Jahrhundert
ließ der Herrscher Getreidespeicher bauen, damit das Volk
nach Mißernten nicht Hungersnoth leide. Das „Rad, welches
den Süden anzeigt", also den Compaß, hatte Japan schon
543, Wasseruhren werden um 660 erwähnt und 670 die
Wassermühlen. Seit dem dritten Jahrhundert waren am
Hose die chinesischen Schriftzeichen im Gebrauch; die eigen-
artigen Schriftzeichen der Japaner wurden erst gegen das
Ende des achten Jahrhunderts erfunden.
Die erste Volkszählung hat im Jahre 86 vor Chri-
stns stattgefunden; damals wurden auch vou der Regierung
Schiffswerften angelegt. Im zweiten Jahrhundert nach
Christus sind die Provinzen in Verwaltung skr eise und
diese in Unterdi st riete getheilt worden. Im fünften Jahr-
hundert wurde iu jedem Bezirk eiu Gelehrter beauftragt, Bei-
träge zu einer Landeskunde zu sammeln und namentlich
Alles zu sammeln, was auf die volksthümlichen Ge-
bräuche und Ueberlieferuugeu Bezug häl Mit gu-
ten Landstraßen ist Japan seit anderthalbtausend Jahren
versehen; es verfertigte Baum Wollenpapier im siebenten
34 Beiträge zur K
Jahrhundert und kennt den Druck mit Holzstöcken seit
1206. Den Schulen ist seit den ältesten Zeiten große
Sorgfalt zugewandt worden; der Unterricht erstreckt sich auf
alle Volksclassen und im Verkehr herrscht durchweg ein Höf-
licher Anstand. Unter allen Asiaten haben allein die Japaner
das, was wir im europäischen Sinn als Gesellschaft be-
zeichnen können; auch ist die Stellung der Frauen un-
endlich günstiger als iu China, Indien oder bei den moham-
medanischen Nationen. Es herrscht Wohlstand; im Acker-
bau stehen uns die Japaner mindestens gleich, im Garten-
bau sind sie uns ebenso wie in manchen Zweigen der Jndu-
strie entschieden voraus; an Seetüchtigkeit und Tapser-
keit bleiben sie hinter keinem Volke zurück. Dazu kommt, daß
kirchliche Unduldsamkeit bei ihnen völlig unbekannt ist. Japan
kennt keine religiöse Inquisition, keine Scheiterhaufen, keinen
Menschenmord aus religiösen Motiven. Die Christenverfol-
Zungen hatten keinen kirchlichen Grund; sie fanden statt, nach-
dem, durch europäische Priester mißleitet, die zur europäischen
Glaubenslehre bekehrten Japaner ehre politische Partei bil-
deten und dem Herrscher gefährlich wurden. Sie waren nicht
rde von Japan.
vom Fanatismus eingegeben, wie die Hugenottenverfolgungen
und die Bartholomäusnacht.
Das japanische Leben bietet demnach viele Lichtseiten dar
und wir begreifen fehr wohl, wie es kommt, daß alle Europäer,
welche Japan aus eigener Anschauung kennen lernten, von
Land und Volk mit Begeisterung sprechen. Freilich sind auch
Schattenseiten vorhanden, und wir werden Gelegenheit haben,
auch dieser zu erwähnen; gewiß ist aber auch, daß Japan
in mancher Beziehung den europäischen Völkern gegenüber
Manches voraus hat.
Bor allen Dingen das im Allgemeinen höchst anständige
Benehmen des Volkes, von welchem jenes so vieler Europäer
im Lande höchst unvorteilhaft absticht. Namentlich haben sich
manche Engländer, ihren Gesandten Alco ck mit eingeschlossen,
höchst unanständig uud verletzend benommen. Wir sinden in
dem zweiten Bande der „Preußischen Expedition nach
Ostasien (Berlin 1866)" an mehr als einer Stelle vor-
treffliche Bemerkungen.
„Der holländische Gesandte, Herr de Graess van Pols-
brock, und außer ihm alle übrigen Consuln, führten bittere
Fusi yama, der fjeüi
Klagen über ihre iu Ä)okuhama angesiedelten Landsleute, deren
Anmaßung und Rücksichtslosigkeit fortwährend betrübende
Collisionen hervorrief. Wir hatten leider schon damals viel-
fache Gelegenheit, uns von der Richtigkeit dieser Angaben zu
überzeugen; nicht lange nachher kam es zum offenen Eclat.
Die Japaner find von Natur durchaus jovial uud
zu freundschaftlichem Verkehr mit den Fremden ge-
neigt; sie fördern gern aus jede Weise deren Vergnügen und
Bequemlichkeit, sofern nur uicht gegen persönliche Rechte oder
die Sitten und Gesetze des Landes verstoßen wird."
Was sollen die Japaner von der sittlichen Qualität christ-
europäischer nnd christamerikanischer Völker denken, wenn sie
Auftritte folgender Art erleben?
„Die Matrosen des nordamerikanischen Kriegsdampfers
„Niagara" gingen bei Mknhama auf Urlaub ans Land und
verübten mehrfach die gröbsten Excesse. Sie drangen in die
Häuser und mißhandelten deren Bewohner, Fremde wie Ja-
paner; der französische Geschäftsträger wurde aus der Straße
insultirt und ein japanischer Beamter mußte sich mit der
blanken Waffe seiner Haut wehren. Alle Genngthnnng, die
Berg aus Nippon.
den Gekränkten werden konnte, bestand in dem Versprechen
des Capitains, die Schuldigen vor ein Kriegsgericht zu stellen."
Anch unter unseren jugendlichen Handelsbeflissenen waren
Rowdies: „Ein Hamburger Handelscommis, dessen eman-
cipirtes Auftreten den Japanern schon lange verhaßt war,
ging trotz des allgemein bekannten Verbotes mit einigen
Engländern auf die Jagd und wurde vom Polizeibeamten
verhaftet. Man nahm ihm das Gewehr ab, band ihm (nach
Landesbrauch) die Hände auf den Rücken und packte ihn in
eine Sänfte. Auf der Landstraße begegneten ihm seine Jagd-
geführten; sie fielen sogleich über den Häscher (Feldhüter) her
und befreieteu ihn mit Gewalt. Nun hatten aber damals
die Deutschen noch gar kein Recht, in Japan zu wohnen und
wurden nur bis auf Weiteres geduldet; trotzdem benäh-
men fich einige deutsche Kaufleute fast wie ein über-
müthiger Feind in erobertem Lande. Sie pflegten mit
verhängtem Zügel durch die Straßen von Aokuhama zu jagen
als ob die Stadt ihnen gehöre, behandelten die einhei-
mischen Beamten mit vornehmer Verachtung und
brüskirten alle Sitten und Gewohnheiten des
Beiträge zur Ki
Landes. Natürlich sollen die Cousulu und Gesandten die
eingebildeten Rechte solcher Leute gegen die einheimischen Be-
Hörden vertreten, ihnen die angemaßte Stellung mit Nachdruck
viudiciren! Waren es auch nur wenige aus der Zahl der
Ansiedler, aus welche diese Beschreibung in allen Stücken
paßt, so muß man doch leider gestehen, daß deren Betragen
von der großen Mehrzahl contenancirt wurde; der hoch-
fahrende Tou war allgemein und unter den obwaltenden
Umständen durchaus ungemessen. Statt den außergewöhn-
lichen Verhältnissen, der Erschließung eines seit über zwei-
:be von Japan. 35
hundert Jahren gesperrten Landes Rechnung zu tragen, statt
im Einverständniß mit den Diplomaten durch kluges, rück-
sichtsvolles Verhalten sich allmälig die richtige Stellung zu
verschaffen, sprach man den Gesetzen des Landes Hohn."
Einen wunderbar erhabenen Anblick bietet, von der Bucht
von Deddo aus gesehen, der Fnsi yama, der heilige Berg
der Japaner, besonders wenn er sich rosig beleuchtet aus
einer weißen Wolkenschicht erhebt, während das tiefere Land
noch in schattigem Dunkel liegt. Er ist in der That „ein
Berg ohne Gleichen", und unbedingt der schönste vulkanische
Pilger, welche zum ?
Kegel der Welt. Seine Entfernung voll der Küste beträgt
etwa 50 Seemeilen lind er tritt in majestätischer Einsamkeit
hervor. Sein Gipfel liegt 14,177 englische Fuß über dem
Meeresspiegel (früher nahm man 12,450 Pariser Fuß an).
Aime Humbert schreibt: „Der Eindruck, welchen diese mit
ewigem Schnee bedeckte Pyramide macht, ist unbeschreiblich.
Dieser herrliche Bergriese verleiht der ganzen Landschaft das
Gepräge einer hohen Feierlichkeit." Der eben erwähnte eng-
tische Gesandte Alcock unternahm einen Zug nach dem hei-
ligen Berge, welchen er in seinem Buche über Japan aus-
führlich beschrieben hat. Die Reisenden wurden überall mit
si yama wallfahrten.
Achtung und Höflichkeit empfangen; die Lehnfürsten (Danmos)
hatten au deu Grenzen ihrer refpectiven Gebiete Ehrenwachen
zur Begrüßung und zum Empfang der Fremden aufgestellt;
die Volksmenge zeigte sich framdlich und ehrerbietig. Da
wo diefe die Hauptstraße verließen, wurden die Wege be-
schwerlich und die Gasthöfe waren nicht mehr auf den Em-
pfang vornehmer Gäste eingerichtet, weil nur Pilger aus
deu unteren Clafsen ans den Fnsi yama zu den heiligen
Stätten wallfahrten. Es machte einen sehr Übeln Eindruck
auf das Volk, daß jene Engländer die heiligen Stätten nicht
mit Achtung behandelten. Was würde John Bull fagen,
5*
36 Beiträge zur K
wenn Japaner in seine Kirchen kämen und beschmutzte, zer-
rissene Stiefel auf die Altäre werfen wollten? Diese civi-
lisirten Europäer und Unterthanen der Königin Victoria haben
sich dort oben höchst unanständig betragen. Beiläufig bemerkt,
soll der sehr umfangreiche Krater eine Tiefe von etwa 350
Fuß haben. Nach der japanischen Ueberliesernng wäre der
Berg 286 vor Christi Geburt in einer einzigen Nacht aus
der Erde hervorgewachsen, während gleichzeitig im Mittlern
Theile der Insel Nippon ein umfangreiches Gebiet versunken
wäre und den großen Landsee von Oomi gebildet habe. Die
Jahrbücher erwähnen unter den Jahren 800 und 864 nach
Christus furchtbarer verheerender Ausbrüche. Der letzte ist
erfolgt im Jahre 1707 und feitdem hält man den Vulkan
für erloschen.
* *
tbe von Japan/
Als der schweizerische Bevollmächtigte Humbert im Früh-
ling 1863 vor Aokuhama in der Bai von Aeddo ankam,
lagen dort einige zwanzig Kriegs- und Kauffahrteischiffe ver-
schiedener Nationen vor Anker, zumeist auf der Rhede, gerade
gegenüber dem europäischen Viertel, das leicht an den wei-
ßen Häusern und den Consnlatsflaggen zu erkennen war.
Dasselbe wird als Benteng bezeichnet und liegt neben der
japanischen Stadt an der Mündung eines Flusses. Der
Schweizer stieg beim holländischen Generalconsnl Polsbroek
ab, dessen wir weiter oben schon erwähnt haben. Unser Bild
zeigt dessen Wohnung. Die japanische Regierung hatte sie
ihm bauen lassen uud ihren Baumeister streng angewiesen, die
landesübliche Architektur mit den europäischen Anforderungen
auf Bequemlichkeit und Behäbigkeit in Einklang zn bringen.
Das Hauptgebäude bildet ein längliches Viereck mit zwei
Wohnung des holländischen
langen Seitenflügeln; es ist theils aus Ziegelsteinen, theils
aus Holz und gestampfter Erde aufgeführt. Die geräumige
Veranda steht ein paar Ellen über der Erde auf Pfeilern
und läuft an drei Seiten des Hanfes hin; sie macht einen
angenehmen, zierlichen Eindruck, und von ihr aus gelangt
man durch gläserne Flügelthüren in die Säle und Wohn-
zimmer. Jedes Gemach ist für sich, hat aber auch eine Thür
nach dem breiten Corridor. Alles ist lecker, sehr bequem und
lustig. Eine Zickzacktreppe führt auf das Dach, auf welchem
ein Belvedere angebracht worden ist; von diesem aus hat
man eine herrliche Aussicht nach der Landseite hin und auf
das Meer.
Die zahlreiche japanische Dienerschaft wohnte in netten
kleinen Gartenhäusern. Die Loge der Thürsteher lag neben
neralconsnls in Uokuhama.
dem Eingangsthore zum Garten, der mit einem Zaun starker
Pfähle nmhägt ist; nur da, wo er vom Meere bespült wird,
hat er eine leichte Einzäunung von Bambusrohr. Portal
und Zaun sind schwarz angestrichen und die Hauptpfeiler
oben mit Kupfer beschlagen. Es besteht aus drei Thüren;
die große in der Mitte hat zwei Flügel und ist für den Haus-
Herrn und dessen Gäste; neben ihr sind zwei kleinere für die
Dienstleute und Verkäufer; die letzteren werden bei Sonnen-
Untergang verschlossen. Der Oberthürsteher war ein biederer
Familienvater, welcher über die Dienerschaft im Hause uud
selbst in der Nachbarschaft eine gewisse Autorität ausübte.
Bei diesem gastfreien Manne war immer warmer Thee zu
haben, die Tabackspfeifen ließ er nicht ungefüllt; kein Wnn-
der, daß er den ganzen Tag über Besuch beiderlei Geschlechts
Portiers im holländischen Genera
rechtes erfreut, bei dienstlichen Verrichtungen einen Säbel
tragen zu dürfen. Der Veto trägt möglichst wenige Kleider,
wenn er aber bei feinem Herrn Dienst hat, zieht er eine
blane Jacke au und bindet ein blaues Tuch um den Kopf.
Einer unferer Vetos ist verheirathet; an jedem Morgen geht er
an den Brunnen, schüttet einen Eimer Wasser nach dem andern
über seine Frau, seine Kinder, sein Pferd und über sich selber.
Weiterhin liegen die Hundeställe und der Hühnerhof in
der Nähe der Wohnung des Haushofmeisters (Comprador,
wie man in China sagt); bei den Japanern heißt er Nan-
kinfang, d. h. ein Mann aus Nanking, womit im Allge-
meinen ein Chinese bezeichnet wird. Zum Comprador eignet
sich der Chinese vortrefflich; er versteht das Einkaufen auf
dem Markte, hat Genie für die Küche, macht sich aber auch,
nsulate zu Benteng-Iokuhama.
fo viel er kann, Korbgeld und Schwänzelpfennige. Die japa-
nischen Köche in Uokuhama sind Eklektiker; sie haben das
Beste aus der Kochkunst Europas, Indiens, Chinas und Ja-
pans ausgewählt und machen ihre Sache gut. Die Aus-
Wartediener, Koskeis, sind sämmtlich Japaner. Jener des
Herrn Humbert war ein aufgeweckter Burfch; er hieß To
und der Schweizer ließ sich voll ihm in der japanischen
Sprache unterrichten. Mit einer Frage des Zweifels, einem
Ob, fing er an, ging dann zur Verneinung und zuletzt zur
Bejahung über.
Ariuaski? Ist etwas da? — Arinasi. Es ist nicht
da. — Arinas. Es ist da. — Dann kamen die Wörter:
Nippon, Japan; Tschi, Feuer; Tfcha,Thee; Ma,
Pferd; Misu, Wasser; Fuue, einSchiff, Kinkwa, Krieg.
Beiträge zllr K
hatte. Dabei erfüllte er aber alle feine Obliegenheiten ganz
musterhaft. Der Portier oder Monban hat nicht bloß auf
die Thür zu passen; er muß auch bei Tage wie bei Nacht
die Stunden anschlagen ltitb das thüt er, indem er mit einem
Hammer auf einen ehernen Gong klopft, der am Sims
seiner Loge hängt. Durch Anschlagen an den Gong giebt
er auch zu erkennen, was für Perfoneit gekommen sind. Ein
Schlag bedeutet einen Kaufmann oder einen Bewohner des
europäischen Quartiers; zwei Schläge verkündigen einen Dol-
metfcher oder Offizier; drei einen Confnl, Schiffscomman-
danten oder japanischen Gouverneur; vier Schläge einen Mi-
nister oder Admiral. Der Weg vom Portal bis zur Veranda
ist so weit, daß man Zeit genug hat, sich auf den Besnch
vorzubereiten. Der Monban ist auch Aufseher über die
Nachtwächter, welche zwei Mal iu jeder Stunde itnt Haus
de von Japan.
und Garten die Runde machen. Der Wächter giebt seine
Anwesenheit dadurch zu erkennen, daß er mit zwei Holz-
stücken auf einander schlägt, im Fall einer Gefahr schlägt er
Lärm auf einem Gong.
An der Südseite des Palissadenzauns liegen mehrere
kleine Gebände, alle vereinzelt und hinter Gebüsch versteckt.
Das eine wird von einem Chinesen bewohnt, welcher die Auf-
ficht über das Leinenzeug besorgt; unweit davon liegen die
Pferdeställe und die Hütten der Reitknechte, Beto s, welche
allesanlmt Japaner sind. Jedes einzelne Pferd hat feinen
Veto, welcher ihm sorgfältige Pflege widmet und sich selten
von ihm trennt. Wenn der Herr reitet, läuft der Beto
nebenher, um stets seines Dienstes gewärtig zu sein. Diese
kräftigen Betos bilden eine Körperschaft, die ihre eigene
innere Jurisdiction hat und deren Obmann sich des Vor-
38
Beiträge zur Kunde von Japan.
Es wurde Lärm geschlagen und Humbert fragte: Tschi
arinaska? Antwort: Arinaska. Als einige Zeit nach-
her das Feuer gelöscht worden war, kam To und sagte:
Arinafi.
Beuteng hat seinen Namen nach einer Meergöttin, welche
dort eine besondere Verehrung genießt; aber vor Ankunft der
Europäer wohnten hier nur Fischer und einige Bauern; jetzt
hat sich die Ortschaft sehr vergrößert und die japanische Re-
gierung hat eine Kasernen- und Beamtenstraße bauen lassen.
Benteng ist ein Vordorf bei Aoknhama; das Thor des letz-
teru ist bei Tage dem Verkehr geöffnet, aber, was überhaupt
von den Straßen gilt, bei Nacht geschlossen. Nachdem man
dasselbe passirt hat, kommt man in einen langen Baumgang
und zwar durch eine der geheiligten Pforten, welche als
Toris bezeichnet werden. Unsere Abbildung zeigt die Bau-
art einer solchen. Ein Tori deutet allemal darauf hin, daß
fich in der Nähe ein Tempel oder eine Capelle befindet. Der
Japaner widmet Dingen, die bei uns Europäern--) keine be-
Vetos, Reitknechte des holländischen Gcneralconsulats in Benteng-Uvkuhama.
sondere Aufmerksamkeit erregen, z. B. einer Grotte, einem
Springquell, einem Riesenbaum oder einem phantastisch ge-
stalteten Felsen, eine Art von religiöser Verehrung oder er
hat vor ihnen eine abergläubige Scheu. Diese ist eine Folge
der buddhistischen Dämonologie, und die Bonzen benutzen
diese Gefühle, um in der Nähe folcher Gegenstände einen
Tori zu errichten, manchmal auch mehrere, die in größerer
oder geringerer Entfernung von einander liegen. So tritt
in Japan, allerdings nur in ländlicher Einfachheit, dieselbe
architektonische Idee hervor, aus welcher in Griechenland die
Propyläen hervorgingen. Nicht selten hat der Tori eine
Tafel, auf welcher mit goldenen Buchstaben auf schwarzem
Grunde eine erbauliche Inschrift sich befindet. Bevor der
Japaner in den Tempel tritt, geht er in eine Capelle, wo
er mit Weihwasser sich Hände und Gesicht wäscht und alle-
mal auch Tücher zum Abtrocknen findet.
Humbert besuchte die drei Straßen, in welchen die Zoll-
beamten, die Hafenaufseher, die Polizeileute, überhaupt die
Beiträge zur K
unteren Beamten wohnen, welche man als Aakuuins be-
zeichnet; das Wort bedeutet eigentlich Amtmann. Sie
tragen als Zeichen ihres Amtes einen runden, zugespitzten
Hut von lackirter Pappe und im Gürtel an der linken Seite
zwei Säbel. In Aokuhama sind mehrere Hundert solcher Aa-
knnins thätig. Jeder hat sein besonderes Hans und die mei-
sten sind verheirathet. Der Schweizer machte bald nähere
Bekanntschaft mit mehreren dieser Familien; er gab ihnen
kleine Geschenke, namentlich Zucker und Kaffee, und schickte
kranken Frauen und Kindern allerlei Erquickungen.
„Eines Nachmittags meldete der Moubau, daß eine An-
zahl von Beamtenfrauen nebst Kindern vor dem Thore seien
und mich zu sprechen wünschten. Diese Damen waren
von ihren Männern ermächtigt worden, mir Dank auszu-
ibe von Japan. öy
sprechen; auch waren sie begierig, die Einrichtungen einer
europäischen Wirtschaft zu sehen. Bald war vor der Be-
randa eine Gruppe heiterer Gestalten: vier Frauen, zwei hei-
rathsfähige Mädchen und eine Anzahl von Kindern. Die
ersteren waren einfach aber sauber gekleidet; sie hatten keine
Schminke aufgelegt und die Zähne waren, wie es sich für
eine japanische Ehefrau gebührt, rabenschwarz. Dagegen
hatten die jungen Mädchen ihre Lippen carminroth gefärbt,
um das blendende Weiß ihrer Zähne noch stärker hervorzu-
heben; die Wangen waren roth geschminkt, und in das Haar
hatten sie scharlachrotheu Krepp geflochten; der breite Gürtel
bestand aus hellfarbigen Zeugen. Die Kinder gehen stets
barhaupt, auch scheert man ihnen das Haar ab und läßt nur,
je nach Alter und Geschlecht, einige Büschel stehen."
Ein Tori, geheiligte S)
„Die Frauen sagten mir allerlei schöne Dinge und ich
führte sie in die Zimmer, nachdem sie auf der Veranda ihre
Schuhe abgelegt hatten. Ueber das, was sie nun sahen, äußer-
teu sie anfangs eine naive Verwunderung, und bald entstand
allgemeine Heiterkeit, als sich die ganze Gruppe iu den gro-
ßen Spiegeln beschauen konnte. Dann betrachteten sie die
an den Wänden hängenden Bilder genau; namentlich jene
des Königs der Niederlande und seiner Gemahlin. Es wollte
ihnen aber nicht recht in den Sinn, daß der holländische
„Ta'iknn" neben seinem Pferde stand, wie ein japanischer
Beto. Ueber den Gebrauch der Stühle und Sessel kamen
sie bald ins Klare; was man aber mit den Sophas wolle,
blieb ihnen anfangs unklar ; sie fragten, ob man sich mit
kreuzweis übereinandergeschlagenen Beinen darauf setze, wenn
man von dem davorstehenden tische essen wolle? Sie san-
?rtc, in Uokuhama.
den es sehr unbequem, daß man mit herabhängenden Beinen
auf einem solchen Stück Möbel sitzen müsse. Die Uniform-
knöpfe mit dem Schweizerkreuz gefielen ihnen sehr, und sie
betrachteten Knöpfe als eine Curiosität, denn in Japan be-
darf man derselben nicht, weil die Kleider einfach mit Schnu-
reu befestigt werden. Einige Parfümerien fanden Beifall;
das Kölnische Wasser wurde weniger gewürdigt, weil die Ja-
panerinnen keine Batisttaschentücher tragen. Ich zeigte ihnen
solche, die mit Appenzeller Spitzen besetzt waren; die Frauen
meinten, dergleichen seien zum Besatz au Röcken vornehmer
Damen geeignet; den Gebrauch, welchen die Europäerinnen
von einem solchen Sacktuch machen, verschmähe man in Ja-
pau, nnd das geringste Mädchen würde sich schämen, ein
Tuch in der Hand zn halten oder dasselbe gar in die Tasche
zn stecken, nachdem man dasselbe nach europäischer Weise be-
40 Beiträge zur K
nutzt habe. Man bedient sich eines vegetabilischen Papiers,
das in kleinen viereckigen, zusammengewickelten Stücken in einer
dazu bestimmten Rockfalte getragen wird; nach dem Gebrauche
wird das Papierstückchen bei Seite geworfen. Ich zeigte
ihnen dann noch Nadeln verschiedener Art, Zwirn und der-
gleichen; sie kamen sofort dahin überein, daß man in Europa
in Betreff derartiger Werkzeuge weiter sei als in Japan; eine
Nähmaschine hatten sie nie zuvor gesehen. Mit großer Theil-
nähme und uicht ohne eine gewisse Rührung betrachteten sie
die Photographien in meinem Familienalbum. Deu Kin-
dern gab ich, zu ihrer großen Freude, eine Anzahl Schweizer-
landschaften."
*
ibe von Japan.
Die Kinder haben in Japan gute Zeit und erfreuen sich
bei dem geordneten Familienleben einer sorgfältigen Erzie-
hnng. Humbert war davon sehr erbaut. Manchmal be-
suchte er auch eiue Kleinkinderschule iu seiner Nachbarschaft.
Die Kinder saßen zwanglos im Lehrzimmer und der Schul-
meister sagte ihnen Wörtersätze vor, welche sie nachsprachen.
Zunächst muß jedes Kind, wie bei uns das Abc, so in Ja-
pan das Jrova nachsprechen. Dasselbe besteht aus vier
Zeilen und enthält nicht Selbstlauter und Mitlauter, sondern
die Grundtöne der japanischen Sprache, deren Zahl auf 48
festgestellt worden ist und die ein kleines Gedicht bilden, dessen
Anfangswort Jrova lautet; daher die Benennung. Hier
ist der japanische Text; das v wird in manchen Dialekten
wie f ausgesprochen, manchmal auch wie ein aspirirtes h;
das w wie das englische w; d und t werden oftmals ver-
wechselt, ebenso g und k, auch s, ds, z und ts.
Ii'ova ninoveto tsirinuru wo. Wagayo darezo
tsune naramu. U wi no okuyama kefu koyete. Asaki
yumemisi evime Sczu un. — Zn deutsch: „Farbe uud
Gernch sind vergänglich. Was kann es in unserer Welt
Beständiges geben? Der heutige Tag ist im tiefen Abgrunde
des Nichts verschwunden. Er war das gebrechliche Bild
eines Traumes; er verursacht uns uicht die geringste Unruhe."
Diese Lebensanschauung stimmt allerdings mit der abend-
ländischen nicht überein; die Japaner machen sich das Leben
leicht; in ihren Freuden liegt eine naive Lebhaftigkeit; Miß-
geschick drückt sie nicht mit Centnerschwere zn Boden, Ent-
behrnngen erduldet man mit Ergebung und ohne Murren;
der Tod hat keine Schrecken. Namentlich herrscht unter den
in Uvkuhama.
Kindern große Heiterkeit und die Eltern gönnen ihnen gern
die Lust. Manche Reisende haben behauptet, daß in Japan
die Kinder nicht weinen; das ist nun allerdings der Fall,
denn ein Kind empfindet ja auch Schmerzen; ausgemacht
bleibt jedoch, daß sie nur selten weinen. Aber die Kinder-
erziehung ist nicht etwa eine weichliche. Das Kleine wird
schon früh dem Einflüsse von Wind und Wetter ausgesetzt;
man gewöhnt das nackte Wesen, welchem das Haar ab-
geschoren worden ist, auch an die brennende Mittagssonne.
Die Mutter trägt den Säugling wie einen Packen auf dem
Rücken und zwar in einer so zweckmäßigen Weise, daß sie
dabei nicht ermüdet und daß namentlich dabei die Bauer-
srauen Feldarbeit verrichten können. Im Hause dürfen die
Kleinen sich nach Herzenslust umhertummeln; alle Zimmer
uud Gäuge siud mit vier Zoll dicken Matten belegt, an
Stühlen und Tischen können sich die Kinder nicht beschädi-
Vcamtenfrauen
Eine Klcinsindcrschule in Jokuhama.
42
Beiträge zur Kunde von Japan.
gen, denn solcher Hansrath fehlt in Japan. „Man erlaubt
dem Kinde, naturgemäß zu leben; es hält sich viel in freier
Luft auf und wird tut Hause keinem strengen Zwang unter-
worfen. Die Eltern sorgen für Spielzeug, Spiele und Feste;
auch auf den Schulbesuch wird sehr streng gehalten. Aber
beim Unterrichte wird nichts übereilt und nichts künstlich
und krankhaft übertrieben. Keinem Japaner fällt es ein,
seine Kiuder vom Schulbesuche fern zu halten; derselbe ver-
steht sich so durchaus vou selbst, daß es weder Schulregula-
tive noch' Schulzwang giebt. Jeder Japaner und jede
Japanerin kann wenigstens lesen, schreiben und rechnen.
Wahrlich, in derPädagogie der Japaner ist Vieles gar nicht
zn verachten!
Der Obmann der preußischen Gesandtschaft, Graf Eulen-
bürg, erhielt aus seine Fragen über das Schulwesen die Aus-
kunst, daß es Privat- und Regiernngsschnlen gebe; in letzte-
Japan ische Kinder spiele.
reit würde kein Schulgeld bezahlt, es bedürfe aber zur Auf-
nähme einer besondern Erlanbniß. Wer sich dort auszeichne,
werde gleich nach beendetem Lehrcursus angestellt und be-
soldet. Schulzwang bestehe nicht und sei auch nicht noth-
wendig; die Eltern aller Stände sorgten aus eigenem An-
triebe sehr eifrig für den Unterricht ihrer Kinder. Für die
Kenntniß der Landesgesetze, namentlich der älteren, trage
man in den Schulen Sorge. —
„Spielzeuglüden giebt es inAeddo unzählige, gewiß mehr
als in irgend einer europäischen Stadt; die Japaner sorgen
auf das Liebreichste für ihre Kinder und sind sehr erfinde-
risch in Jugendbelustigungen. Manche Läden enthalten nur
Puppen iu allen Größen und Anzügen; die Mädchen spielen
dort so gern damit wie bei uns, und die Knaben haben ihre
Säbel, Peitschen, Steckenpferde:c.; man findet Spielsachen
für jedes Alter und Bedürfniß. Der Kreisel giebt es gegen
Japanische Kinderspiele.
dreißig Arten, darunter viele sehr künstliche; sie laufen bergan,
tanzen auf dem Seile, zerspringen in Stücke, die sich weiter
drehen und was dergleichen mehr ist. Ihre Drachen haben
die abenteuerlichsten Gestalten und machen sogar Musik. Mit
Kreiseln und Drachen ergötzen sich vielfach auch Erwachsene,
wie denn die Japaner überhaupt bei allem Lebensernste große
Freunde von Scherz und Spiel sind."
Dieser Satz, welchen wir dem vortrefflichen Werke: „Die
preußische Expedition nach Ostasien" (I, S. 311) entlehnen,
kann zur Erläuterung der Illustrationen dienen, welche japa-
nischen Zeichnungen nachgebildet worden sind. Wer diesel-
ben genau ansieht, wird finden, wie viel die japanischen Kin-
derspiele mit unseren deutschen gemein haben. Wir sehen
große Schneebälle und einen Schneemann, Knaben, die mit
einander ringen, das Reiftreiben, das Steckenpferd, Drachen-
steigen, Ballschlagen und Kreisel. Das Alles ist nicht ans
der Fremde entlehnt, sondern original, wie das ganze Leben
der Japaner überhaupt.
Der Knabe bildet sich früh in der Art aus, daß er kör-
perkräftig werde und Beschwerden ertragen könne. Der Ja-
paner ist ein Turner in seiner Weise. Mehrere Mitglieder
der preußischen Gesandtschaft hatten Gelegenheit, einigen
Ringkämpfen beizuwohnen. Das Ringen ist unter allen
Volksclassen beliebt und die japanischen Großen halten be-
sondere Ringer zur eigenen und zur Volksbelustigung; sie
scheinen zum Hofstaat zu gehören und stehen in gutem An-
sehen. „Von Gestalt sind sie wahre Riesen, nicht bloß an
Höhe, sondern an Ausdehnung aller Körperformen, klumpige
Fett- und Fleischmassen, denen man Gewandtheit und an-
dauernde Muskelkraft uicht zutrauen sollte. Doch hebt ein
solches Ungeheuer mit Leichtigkeit zwei Centner schwere Reis-
säcke auf die Schultern und trägt sie tanzend davon. Von
Gewandtheit und Ausdauer zeugen ihre Kämpfe, bei denen
sie bald ringen und einander zu Bodeu werfen, bald wie
Bullen mit Donnergewalt gegen einander rennen, daß die
Blutströme zur Erde fließen. Der Anblick ist widerlich, die
Ringer ahmen auch die Gewohnheiten des Stieres nach, des-
sen Natur sie angenommen haben; sie stampfen vor dem An-
griffe den Boden mit den Füßen, stieren einander wütheud
au, wühlen den Sand anf und schleudern ihn brüllend und
schnaufend über die Schultern. Aber Dank den dicken Fett-
Massen sind ihre Wunden nicht gefährlich und nach dem
Kampfe stehen sie lachend wieder auf."
So sind die Kämpfe der Ringer von Profession jenen
der englischen und amerikanischen Preiskämpse ähnlich; im
gewöhnlichen Leben wird das Ringen als eine Uebnng zur
Kräftigung des Leibes betrachtet. Es ist so harmlos wie
das Ballspiel, welches zu Pferde geübt wird._ Die Spieler
führen Stangen mit kleinen Netzen an der Spitze; sie thei-
len sich in zwei Parteien, die eine mit rothen, die andere mit
weißen Bällen. Jede vertheidigt ein Fangloch und sucht
ihre eigenen Bälle in das des Gegners zu treiben. Das
Spiel erfordert viel Gewandtheit zu Pferde.
Als besonders anziehend werden von Augenzengen die
Herm. Vambery: In
Kreisel- und Schmetterlingsfpiele geschildert. Bei
letzterm läßt der Jongleur zwei durch einen Seidenfaden ver-
bnndene Stückchen Papier durch die Bewegungen seines Fä-
chers das Flattern und Spielen zweier Schmetterlinge so
täuschend nachahmen, daß man es wirklich zu sehen glaubt;
— ein sehr anmuthiges Kunststück, das sich bei stiller Luft
auch im Freien ausführen läßt und dann gewöhnlich damit
schließt, daß einer der Schmetterlinge hoch in die Lust gejagt
r turkomanischen Wüste. 43
wird und sich, langsam herabsinkend, aus eine von dem Iong-
leur gehaltene Blume niederläßt. Die Kreiselspiele erfordern
einen größern Apparat, sind aber sehr künstlich und sinnreich
erfunden. Der Jongleur läßt den Kreisel von der Hand
über den Arm, über Schultern und Rücken bis in die andere
Hand hinablaufen und mit unglaublicher Geschicklichkeit die
wundersamsten Sprünge vollführen.
In dem Bericht über die preußische Expedition finden
Japanische Kinderspiele. ^
wir folgende Stelle, mit welcher wir uusern heutigen Aufsatz
schließen:
! „Nicht das religiöse Bekenntniß, sondern eine praktische
Sittenlehre verbindet in Japan das Bewußtsein aller Stände
und Secten. „Wer reinen Sinn und Wahrheit hegt,
redlich lebt und handelt, ist den Göttern auch ohne
Gebet und Tempelbesuch augeuehm." Ein Vers dieses
Sinnes ist in Jedermanns Munde, und sehr bezeichnend fin-
den ethischen Standpunkt des Volkes. Wer das einträchtige,
heitere Familienleben, die Achtung vor dem Alter und die
Sorgfalt für dasselbe, sowie jene für Frauen und Kinder,
und die anständige Höflichkeit des geselligen Verkehrs unter
den Japanern gesehen hat, kann sich der Ansicht nicht ver-
schließen, daß sie, ungeachtet mancher Auswüchse, auf einer
erheblichen Stufe der sittliche» Bildung stehen."
„Tritt man in die Häuser der arbeitenden Classen, so
Japanische Kinderspiele.
findet man die jüngeren Männer iu emsiger Thätigkeit, hnit
zufriedenen, heiteren Gesichtern; die älteren Familienglieder
um den Theetopf hockend, ihre Pfeifchen rauchend, schmucke
Frauen und Mädchen bei den häuslichen Besorgungen und
hübsche fröhliche Kinder um sie her in munterm Spiel.
Wohnung und Hausrath sind auch bei den unbemittelten
Ständen reinlich ltnb ordentlich, so viel es Gewerbe und
Beschäftigung zulassen; man sieht wohl Flickwerk aber nichts
Zerrissenes, weder Schmutz, noch Lumpen und Scherben.
Im Einklang mit dieser anständigen Behaglichkeit der Woh-
mutg steht auch die körperliche Reinlichkeit der Japaner; die
meisten baden täglich, sei es zu Haus in Wcutueu, sei es iu
den öffentlichen Bädern, deren es iu allen Straßen giebt."
Welch ein Gegensatz zwischen diesen Japanern und den
im Gebiete der europäischen Civilisatiou belegenen irländischen
oder slovakischen Menschen! Gewiß haben wir Europäer
nicht die miudeste Ursache, auf die „heidnischen" Japaner
herabzusehen, von denen ja schon vor dreihundert Jahren der
heilige Taverius so entzückt war, daß er sie fast für deliciae
generis humani hätte erklären mögen.
Zu der turkomanischen Wüste.
Bon Hermann Vambery, in Pesch.
„Die Ehil meuzili Turkestau oder die 40 Stationen
durch die Wüsten Turkcstan," so hörte ich immer meine asia-
tischen Freunde sagen, „sind weit mühsamer, weit härter als
die Chil menzili Arabistan oder die 40 Stationen, die man
durch die Wüste von Damaskus uach Mekka zu macheu hat.
Auf dieseu finden die Pilger jeden Tag frische Cisternen, die
Tausende reichlich mit Wasser versehen; man findet warmes
Brot, gekochte Speisen, wohl mich kühlen Schatten, ja alle
Bequemlichkeiten. — Auf jenen hat menschliche Fürsorge der
armen Reisenden noch gar nicht gedacht. Die stete Gefahr
zu verdursten, gemordet, ausgeraubt oder von den Sand-
stürmen lebendig begraben zu werden, ist ihr Begleiter.
Gut gefüllte Schläuche und Mehlsäcke, die besten Pferde und
Waffen werden sehr häufig nutzlos, und nur Allah! Allah!
rufend muß man seinem Ziele entgegenstreben."
Wie weit dieses wahr oder unwahr ist, wie fürchterlich
44 Herm. Vambery: In
imposant der Wüstenweg zwischen Persien und den mittel-
asiatischen Oasenländern sei, ist den Lesern meines Reise-
Werkes ziemlich bekannt. Ich schulde nur noch mit einigen
Einzelheiten die Beschreibung der Erlebnisse unserer Kara-
wane. Der Vorwurf, zu graphisch, zu coucise gewesen zn
sein, trifft mich nicht ganz unverdient. Wir wollen das
Versäumte nachholen *).
*
In den ersten drei Tagemärschen hatte die unendlich viel-
sagende Todesstille der Wüste den mächtigsten Zauber auf
meine Seele ausgeübt. Oft starrte ich stundenlang vor mich
hin ohne ein Wort zu reden, und da meine Gefährten mich
in religiöser Anschauung glaubten, so wurde ich auch selten
gestört. Nur halb und halb bemerkte ich, wie einige Mit-
glieder der Karawane während des Marsches sich schlafend
auf ihren Kameelen schaukelten, und durch ihre possirlichen
Bewegungen und fortwährendes Auffahren die Gesellschaft
aufs Köstlichste unterhielten. Der vom Schlummer Ueber-
wältigte pflegt sich mit beiden Händen fest am hohen Sattel-
knöpf anzuhalten, doch dies hindert nicht, daß er entweder
durch Vorwärtsbewegung sich das Kinn so stark anschlägt,
daß die Zähne klappern, oder durch die Rückwärtsbewegung
mit eineni Purzelbaum herabzufallen droht. Manchmal ver-
wirklicht sich auch letzteres unter hellem Gelächter der ganzen
Karawane. Der Gefallene wird für den Helden des Tages
erklärt und muß die derbsten Witze wegen seiner Ungeschick-
lichkeit anhören.
Den wahrlich unerschöpflichen Born des Frohmuths bil-
dete eiu junger Turkoman, Namens Niyaz birdi, der
ebenso staunenswürdig 'geistesrege als körperlich behend war,
und durch jede Bewegung und jedes Wort den ehrwürdigen
Mollah selbst so manches Lächeln entlockte. Obwohl Inhaber
mehrerer beladenen Kameele, pflegte er dennoch größtentheils
zu Fuß zu gehen, dabei nach rechts und links hinzurennen, um
jede Gruppe wilder Esel, die sich etwa zeigte, durch Geberden
oder Geschrei zu erschrecken. Einmal gelang es ihm auch,
ein junges Wild-Eselchen, das wegen Mattigkeit von der
Schaar zurückblieb, zu erhaschen. Das junge scheue Thier
wurde an einem Seil mitgesührt, und es gab wirklich drollige
Scenen, als er demjenigen, der es zu besteigen wagte, einen
Preis von drei Löffel Schafsschwanzfett aussetzte. Drei Löffel
Schafsfett ist ein starkes Reizmittel für Hadschis iu der Wüste,
es fanden sich auch viele angelockt. Doch mit dem nncivili-
firten Bileamsgaul war nichts auszurichten, und die armen
Hadschis hatten kaum aufgesessen, als sie rechts oder links
auf dein Sande ausgestreckt lagen.
Nur nach einem mehrstündigen Marsche ist allgemeines
Erschlaffen bemerklich. Aller Augen sind dann auf den
Kerwanbaschi gerichtet, der in solcher Zeit seinen Blick überall
herumschweifen läßt, um einen paffenden Stationsplatz aus-
zufpähen, das heißt einen Ort, wo mehr oder besseres Fut-
ter für die Kameele zu fiuden ist, oder wo Karawanen ans
demselben Wege fchon einmal Rast gehalten haben. So-
bald ein solcher gefunden ist, eilt er voraus, auch die jüngeren
Mitglieder der Karawane zerstreuen sich nach rechts und links,
um dürre Wurzeln und Stauden oder sonstiges Brennmaterial
zu sammeln. Das „Niederlassen" wird in sehr kurzer Zeit
bewerkstelligt. Die Hoffnung auf Ruhe erfrischt die er-
schöpften Kräfte. Schnell sind die Stricke gelöst, schnell die
schwersten Ballen in kleine Haufen zusammengelegt. Im
') Der Herr Verfasser deutet auf sein ausgezeichnetes Werk:
„Reisen in Mittelasien, von Teheran durch die turkomani-
sche Wüste an der Ostküste des kaspischen Meeres nach Chiwa, Vu-
chara und Samarkand, ausgeführt im Jahre 1863 von Hermann
Vambery. Leipzig, bei Brockhaus 1865. Mit einer Karte.
er tnrkvmanischen Wüste.
Schatten pflegt der ermüdete Reifende sich niederzulassen, und
kaum haben die hungerigen Kameele, die der Marsch und die
schwere Last am meisten mitgenommen, sich der Weide zn-
gewandt, als in der Karawane eine feierliche Stille eintritt.
Diese Stille ist wie eine Art Rausch oder Betäubung, möchte
ich sagen; denn alles schwelgt nur im Genüsse der Ruhe und
Erholung.
Das Bild einer frisch gelagerten Karawane in Sommer-
monaten und dazu noch auf den Steppen Mittelasiens bietet
einen wahrhaft interessanten Anblick dar. Während die Ka-
meele iu sichtbarer Ferne begierig grasen oder die saftigen
Disteln brechen, sitzen die Reifenden, auch die ärmsten unter
ihnen, mit der Schale Thee in der Hand und schlürfen das
thenre Naß mit begierigen Zügen. Es ist bloß ein grünlich
znckerloses warmes Wasser, manchmal auch sehr trübe, doch
hat menschliche Knnst noch keine Speise erdacht, noch keinen
Nectar erfunden, der so geschmackvoll, so erquickend wäre,
wie dieser anspruchslose Trank aus der Station in der Wüste!
Ich erinnere mich noch ganz der wundervollen Wirkung.
Mit deu ersten Tropfen fließt ein fanftes Feuer in die Adern,
welches belebt ohne besonders zu reizen. Die späteren drin-
gen in Herz und Kopf; das Auge wird besonders hell und
fängt zu strahlen an. Ich fühlte in solchen Momenten eine
unbeschreibliche Wonne und Wohlmuth; meine Gefährten ver-
sanken in Schlaf; ich aber konnte mich wach erhalten, und
war so glücklich, mit offenen Augen zu träumen.
Nachdem der Thee die Kräfte wiederhergestellt hat, wird
die Karawane allmälig bewegter und geräuschvoller. Sie
ist gewöhnlich in verschiedene Gruppen oder Zirkel, hier
Koosch genannt, eingeheilt, welche die einzelnen Häuser
der wandelnden Stadt vorstellen. Ueberall giebt es etwas
zu thun, und überall sind es die Jüngeren, welche ans Werk
sich begeben, während die Aelteren ruhen. Hier ist man mit
Brotbacken beschäftigt. Ein zerlumpter Hadfchi knetet ganz
rüstig mit seinen schmntzigen Händen den schwarzen Teig
durch i er knetet schon eine halbe Stunde lang, und doch sind
seine Hände noch nicht rein, da ein mehrtägiger Schmutz
von einem einzigen Teige nicht absorbirt werden kann. Dort
kocht man. Um zu wissen, was gekocht wird, braucht man
sich gar nicht umzusehen, da der Geruch des ranzigen Schaf-
fettes, besonders aber das Aroma des ein wenig zu sehr
pikanten Kameel- oder Pferdecotelettes sich selbst ankündigt.
Fürs Auge haben die Speisen wenig Anlockendes, doch in der
Wüste kümmert man sich nicht darum, der Riesenappetit deckt
alle Fehler zu, und Hunger ist bekanntermaßen der beste Koch.
Auch an Unterhaltung fehlt es nicht in der lagernden
Karawane, wenn die Rastzeit etwas verlängert werden kann.
Die beliebteste Zerstreuung ist das Zielschießen, wobei als
Preis immer eine gewisse Quantität Pulver und Blei aus-
gesetzt ist. In unserer Karawane war diese Belustigung
nur selten möglich, denn durch die geringe Zahl waren wir
steter Gefahr ausgesetzt, und durften uns wenig hörbar ma-
chen. Meine Gefährten pflegten die Mußestunden mit Koran-
lefen, Schlafen, mit Erfüllung sonstiger religiösen Pflichten
oder ulit Toilette zuzubringen. Ich sage Toilette, doch wird
hoffentlich Niemand glauben, daß hier von einem Bondoir,
seinem Parfüm :c. die Rede ist. Die Turkomaueu pflegen
mit einer kleinen Zange sich die Haare vom Oberkinn aus-
zurnpseu; was die Toilette der Hadschis und auch die meinige
anbetrifft, so war sie so einfach, so prosaisch, daß es kaum
erwähnt werden kann. Die nöthigen Requisiten waren
Sand, Feuer und Ameisen — die Art der Anwendung
will ich als Räthsel dem Leser selbst überlassen.
Uebrigens scheint unter allen Völkern Asiens der Tatar
auch nur der einzige zu seiu, der ins bizarre Gemälde des
Wüstenlebens sich am besten hineinpassen kann. Aberglän-
Her in. Vambery: In
bisch und als blinder Fatalist kann er die stets drohende
Gefahr leicht ertragen, Schmutz, Armuth und Entbehrungen
fehlen ihm selbst im häuslichen Zirkel nicht; kein Wunder
daher, wenn er in Kleidern, die monatelang nicht gewechselt
wurden, und mit einer Kruste übers Gesicht doch so vergnügt
dasitzen kann. — Diese innere Seelenzufriedenheit konnte
mir nie gleichgültig bleiben, frappirte mich aber am meisten
beim Abendgebete, an dem alles Antheil nahm, um Allah
für die genossenen Wohlthaten zu danken.
In solcher Zeit pflegte die ganze Karawane eine einzelne
lange Linie zu bilden nnd an der Spitze eines Jmams gegen
die im Untergehen begriffene Sonne gewandt das Gebet zn
verrichten. Die weit und breit umher herrschende Todesstille
erhöht die Feierlichkeit des Moments, und wenn die Strahlen
der sinkenden Sonne meinen wild und doch so vergnügt aus-
sehenden Gefährten ins Gesicht leuchteten, dann schien es, daß
sie im Besitze aller irdischen Bequemlichkeit schon gar nichts
zu wünschen mehr hätten. — Da dachte ich mir oft, wie
würden diese Leute in einem weichgepolsterten Ersten-Classen-
Coup« oder in einem Gasthos ersten Ranges sich ausnehmen?
Wie unendlich weit sind die Vorzüge der (Zivilisation noch
von diesen Ländern!
So viel vom Karawanenleben bei Tag. Bei Nacht wird
die Wüste romantischer aber auch gefährlicher. Da dieMacht
des Auges gebrochen ist, so beschränkt sich der Kreis der Sicher-
heit nur aus die nächste Umgebung, und während des Mar-
sches sowohl als auch aus der Station sncht alles nahe bei
einander zu bleiben, alles fest aneinander sich zu schmiegen.
Bei Tag hat die ziehende Karawane nur eine einzige lange
Kette, bei Nacht wird diese in 6 bis 8 kleinere getheilt, die
eng zusammen eiu festes Viereck bilden, dessen äußerste Theile
immer vou den Beherzteren eingenommen sind.
Bei Mondschein gewährt der lange Schatten der dahin-
ziehenden Kameele einen eigenthümlichen Anblick. In der
sternlosen sinstern Nacht ist alles grauenvoll, und einen Schritt
weit aus der Reihe sich zu entfernen, heißt fo viel als aus
der heimischen Wohnung in die öde Verlassenheit stürzen.
*
* *
Aus der Tagesstation wühlt Jeder denjenigen Ort, der
ihm am meisten gefällt, bei Nacht wird unter Aufficht des
Kerwanbaschi eiu festes Lager geschlossen. In der Mitte
befinden sich die Waarenballen, um diese herum liegen die
Menschen und als Schutzmauer werden die Kameele in einem
Kreise dicht aneinander niedergelegt. Ich sage gelegt, denn
diese wundervollen Thiere hocken auf Befehl nieder, blei-
ben die ganze Nacht bewegungslos an ihrem Platz nnd er-
heben den nächsten Morgen, wie die Kinder, nur auf Befehl
sich wieder. Sie werden mit dem Kopfe gegen das Aenßere,
mit dem Rücken gegen das Innere der Karawane gelegt,
denn sie wittern aus der Ferne schon den Feind, machen
durch ein dumpfes Geröchel auf die Gefahr aufmerksam, und
selbst iu ihreu Ruhestunden dienen sie als Schildwache. Die
im Innern des Rayons schlafenden Menschen befinden sich
in der nächsten Umgebung der Kameele, die bekanntlich den
übelsten Geruch der Welt haben, nicht am allerbeqnemsten.
^st ereignet es sich, daß das salzige Futter und Wasser, das
diese Thiere bei Tag genießen, auf die iu der Schußweite
Liegenden handgreifliche Folgen haben. Sehr oft erwachte
ich mit einem derartigen Frescogemälde, doch man kümmert
sich kaum darum, denn wer könnte diesem Thiere grollen,
das so garstig in Gestalt, aber so geduldig, so frugal, so saust
und so nützlich ist.
Kein Wunder, wenn der Reisende in der Wüste das
Kameel hoch über alle Thiere preist und es bis zur Anbetung
liebt. Vou einigen Disteln genährt, welche die übrigen Vier-
der tnrkomanischen Wüste. 45
füßler verschmähen, durchzieht es ohne zu ermüden Wochen,
ja Monate lange Strecken. In jenen öden verlassenen Re-
gionen ist die Existenz des Menschen an die jenes Thieres
geknüpft, und dabei ist es noch so geduldig, daß eiu Kiud
eine ganze Schaar von dieseu hohen starken Thieren mit
einem „Tschuch!" niederhocken, mit einem „Bcvr!" auf-
stehen läßt.
Aus ihren großen dunkelblauen Augen konnte ich so vie-
les herauslesen. Wenn der Marsch zu laug oder der Sand
zu tief ist, pflegten diese einen Ausdruck von Wehmuth zu
veRathen. Besonders ist dies beim Belasten der Fall, wenn
ein zu schwerer Waarenballen ihm auf den Rücken geladen wird.
Unter der Bürde sich krümmend, kehrt es den Kopf gegen
seinen Herrn, in seinem Auge glänzt eine Thräne, sein Stöh-
nen ist so schwer, so rührend, als wenn es sagen wollte:
„Mensch, habe doch Erbarmen mit mir!"
Das Kameel hat, ausgenommen zn einer gewissen Zeit
des Jahres, wenn Naturgesetze es in einen halb trunkenen,
betäubten Zustand versetzen, ein auffallend ernstes Aussehen.
In seinen Zügen ist ein Ausdruck des chaldäisch-
semitischen Typus nicht zu verkennen, und an wel-
chem Theile des Erdballes es heute auch anzutreffen sein
möge, es ist dennoch unbestreitbar, daß seine primitive Heimath
in dem Binnenlande zwischen dem Tigris und Euphrat oder
in der arabischen Wüste zu suchen sei.
Die Turkomanen stören diese ernste Miene durch die
barbarische Weise, in welcher das Leitseil in der dnrchlöcher-
ten Nase befestigt wird *).
Angenehm nnd erquickend wirkt das Commandowort zum
Lagern auf Reisende und Thiere; störend und unmuthig da-
gegen wirkt das Signal zum Aufbruche. Am ersten erhebt
sich der Kerwanbaschi von seinem Sitze. Auf seinen Ruf
oder aus eiu Zeichen wird alles reisefertig, auch die armen
*) Es ist auffallend, wie verschieden die Urtheile der Reifenden
über das Kameel ausfallen. Wahrend viele dasselbe aus Erfah-
rung preisen und sehr hochstellen, wie z. B. Herr Vambery, der
doch gewiß vollauf Gelegenheit fand, das Thier zu beobachten und zu
würdigen, wird dasselbe von Anderen mit einer gewissen Verachtung
behandelt. So sagt Gifford Palgrave (Central and Eastern Ara-
bia, London 1866. J. p. 39): „In England habe ich oftmals von
dem gelehrigen Kameele sprechen hören. Wenn man mit dem
Worte gelehrig den Begriff d u m m (stupid) ausdrücken will, dann
ist das Kameel ein wahres Muster von Gelehrigkeit. Will man
aber dam't ein Thier bezeichnen, das so viel Interesse an seinem
Reiter nimmt, wie das überhaupt von Seiten eines Thieres möglich
sein kann, ein Thier, das einigermaßen versteht, was man will, wie
das Pferd oder der Elephant, dann muß ich sagen, das Kameel sei
nicht im Mindesten gelehrig. Im Gegentheil, es kümmert sich gar
nicht um seinen Reiter, weiß kaum, ob derselbe auf ihm sitzt oder
nicht, geht, einmal in Bewegung, geradeaus, lediglich, weil es zu
stupid ist, sich zur Seite zu wenden, und wenn es durch einen Dorn
oder einen Zweig sich veranlaßt sieht, vom geraden Wege abzulenken,
verfolgt es die neue Richtung nur, weil es zu dumm ist, den rechten
Weg wieder einzuschlagen. Es macht keinen Versuch, den Reiter ab-
zuwerfen, denn solch ein Kraftstück geht über die Grenze seiner In-
telligenz hinaus; fällt man aber hinunter, dann denkt es nicht daran,
stehen zu bleiben und bekümmert sich nicht um uns. Wenn man
es frei laufen läßt, schlägt es selten den Weg zu der gewohnten
Weide ein, und der erste Beste kann sich seiner bemächtigen, ohne
Widerstand zu finden. Um den Reiter kümmert es sich nur dann,
wenn dieser aufsitzen will; dann hakt es zurück, iperrt seinen gewal-
tigen Rachen auf und würde beißen, wenn es das wagen dürfte, und
stößt rauhe Seufzertöne aus der Kehle hervor. Kurz und gut, das
Kameel ist kein Hausthier und hat sich nur zähmen lassen, weil es
stupid und in hohem Grade passiv ist. _ Es ist irgend welcher Zu-
neiguug und selbst der Gewohnheit unfähig, wird nie völlig zahm,
ist aber auch nicht aufgeweckt und angeregt genug, um eigentlich wild
zu werden." Das Alles mag fein; aber der Araber hat doch Recht,
sein Kameel als „Schiff der Wüste" zu bezeichnen, und wir müssen
dieses Thier als einen Hauptbeförderer der Civilisation betrachten.
Wie wollte man ohne das Kameel reisen können in dem weiten
Wüstengürtel, der sich vom Westende der Sahara bis zum Ostende
der Gobi breit über zwei Erdtheile hinbreitet? -'•
46 Hcrm. Vambery: Zu
Kameele auf der Weide verstehen denselben, und eilen oft
ohne getrieben zu werden der Karawane zu. Ja, was noch
mehr Wunder nehmen kann, sie finde» sich ganz in der Nähe
jener Waarenballen oder Reifenden ein, mit denen sie vorher
belastet waren. In einer Viertelstunde hat Alles iu der
Marschkette seine Stelle eingenommen, auf der Statiou blei-
beu nur die abgenagten Knochen und die Brandstätten der
improvisirten Herde zurück.
Diese Spuren von momeutanem Leben auf der Wüste
vergehen oft so schnell, wie sie entstanden; manchmal aber
bleiben sie durch klimatische Znsälle längere Zeit erhalten;
und wie freuet sich der nachfolgende Reifende, wenn er auf
eine verlassene Feuerstätte stößt. Dieser verbrannte schwarze
Fleck erscheint als ein prachtvolles Kerwanserai, als der lieb-
lichste Rosenhain in seinen Augen, und der Gedanke, daß
hier Menschen waren, daß hier Leben eristirte, macht die
große Einsamkeit der Wüste für Augenblicke anheimelnd.
Ich habe von Brandstätten gesprochen und kann nicht
umhin, nrich an jene auf Tagereisen weit sich erstreckende
abgebranntenEbenen zu erinnern, denen ich in der Wüste
zwischen Persien und Chiwa begegnete und über welche ich
aus dem Munde der Nomadeu so viel Wunderbares hörte.
In der heißen Jahreszeit, wenn die sengende Sonne das
Gras und die Stauden gleichsam zu Zunder gedörrt hat,
ereignet es sich, daß ein unvorsichtigerweise geworfener Funke,
vom Winde angefacht, die Steppe in Brand stecken kann.
Die ohne Unterbrechung genährte Flamme greift mit einer
derartigen Schnelligkeit um sich, daß man selbst zu Pferde sich
nur schwer retten kann; über das dürre Gras rollt sie gleich
einer ausströmenden Fluth hin, bei dichteren Gebüschen fährt sie
mit wild lodernder Wnth empor, und große Strecken in kurzer
Zeit durchfahrend, kann nur ein Fluß oder See ihren nnge-
stümeu Lauf hemmen. Bei Nacht muß es einen schrecklichen
Anblick gewähren, wenn der Horizont weit und breit durch
diefes Flammenmeer beleuchtet ist, und selbst beherzte Mäu-
uer verlieren dann den Mnth. Der Zaghaste ist bald ver-
loren; wer aber genug Geistesgegenwart besitzt, kann sich
wohl retten, wenn er, so lange das Feuer noch in der Ferne
ist, das in seiner nächsten Umgebung befindliche Gras in
Brand steckt. Die neue Gluth läßt einen verwüsteten Boden
zurück, auf dem das heranrollende Feuer keine Nahrung sin-
det. So ist ein Zufluchtsort gewonnen worden. — Nur so
kann der Mensch mit Feuer gegen Feuer sich wehren.
Oft wird dies als eine Waffe von einem Stamme gegen
den andern angewandt, und die Verwüstung soll eine schreck-
liche sein. Oft bedient sich auch desselben ein fliehendes
Liebespaar, um sich gegen Verfolgung zu schützen. So lange
kein Wind weht, kamt man vor der langsam um sich greifenden
Flamme sich retten, doch oft wird diese von den: kleinsten
Lüftchen vorwärts getrieben und die Fliehenden finden den
vereinten Tod in ihrem eigenen Präservativmittel.
Merkwürdig ist es, daß das imposante Aussehen und die
allerhänfigsten Naturerscheinungen der Wüste selbst dem dort
einheimischen Nomadeu nicht gleichgültig bleiben. Als wir
auf dem hohen Plateau vou Kaflaukin, welches einen Theil
des nordöstlich sich erstreckenden Ustjnrt bildet, uns befan-
!r tnrkvmanischen Wüste.
den, war der Horizont fehr oft mit der schönsten FataMor-
gana geschmückt. Eine Luftspiegelung in der großen Wüste
Mittelasiens, iu jener heißen und doch klaren Atmosphäre,
giebt unstreitig das allerfchönste optische Gaukelspiel, das
man sich nur vorstellen kann. Diese in der Luft tanzenden
Städte, Thürme und Schlöffer, diefe Bilder von großen Ka-
rawanen, kämpfenden Reitern und einzelnen Riefengestalten,
die von einem Orte verschwinden und auf einem andern wie-
der emportauchen, haben mich stets ergötzt. Meine Gefähr-
ten, besonders die Nomaden, sahen nur mit einer stillen Ehr-
furcht nach jenen Gegenden. Ihrer Meinung zufolge sind
dies die Schatten der einst dort vorhandenen und nnterge-
gangenen Städte und Menschen, die nun gespensterartig zu
gewisser Zeit des Tages iu den Lüften sich herumtummeln.
Ja, unser Kerwaubaschi wollte sogar behaupten, daß er schon
Jahre lang an gewissen Orten immer ein und dieselben Fi-
gureu sehe, und daß auch wir, im Falle wir ans der Wüste
untergingen, nach einer gewissen Reihe von Jahren über dem
Orte unseres Unterganges in der Luft herumhüpfen und her-
umtanzen würden.
Diefe bei den Nomaden so oft auftauchende Sage vou
vergangener Civilisatiou auf der Wüste ist nicht fern von
jener neuern europäischen Behauptung, nach welcher jene
Strecken, die wir Wüste neunen, nicht so sehr durch Natur-
gesetze, als durch sociale Umstände in solche verwandelt wor-
den wären. Als Beispiel wird die Sahara in Afrika oder
die große Wüste Mittelarabiens angeführt, wo es eher an flei-
ßigen Händen, als an urbarem Boden fehlen soll. Was
letztere Orte anbelangt, mag die Behauptung wohl richtig
sein, doch auf die Steppen Mittelasiens ist sie nicht
anzuwenden. An einzelnen Punkten, wie Merw, Mangisch-
lak, Borgen und Otrar, hat es in vergangenen Jahrhnnder-
ten wohl auch Cultur gegeben wie heute, im Ganzen aber ist
die Wüste Mittelasiens, so weit Menschengedenken hinaus-
reicht, immer eine schreckliche Wüste gewesen. Die tage-
langen Strecken ohne einen Tropfen Trinkwasser, die oft
hundert Meilen weit sich erstreckenden Landstriche tiefen gruud-
losen Sandes, die ungestüme Wnth der klimatischen Excesse
— sind derartige Hindernisse, mit denen Kunst, Wissenschaft
oder sonstige geistige Errungenschaften es nur schwer würden
aufnehmen können. — „Turkistan und seine Einwohner,"
so sagte mir einst ein Mittelasiate, „hat Gott in seinem
Zorne erschaffen, denn so lange der bittersalzige Geschmack
von den Quellen in der Wüste nicht weichen wird, so lange
werden die Turkistauer Groll und Bosheit aus ihrem Her-
zen nicht entfernen."
Ja, Groll und Bosheit der Menschen sind es, welche
dem Reisenden in der Wüste weit gefährlicher sind, als die
Wnth der entfesselten Elemente! Sengende Hitze, brennen-
der Sand, quälender Durst, Hunger, Mattigkeit, ja, das
Alles wäre zu ertragen, wenn nur die stete Gefahr vor deu
Lanzen einer umherirrenden Räuberhorde oder, was noch
ärger ist, die Furcht vor den Banden einer ewigen Sklave-
rei nicht den Geist ewig umschweben würde. Was ist das
Grab einer dichten Sandwolke im Vergleiche zu dem lang-
samen Foltertode einer tnrkvmanischen Gefangenschaft?
Bodengestaltung und Seen in der Lombardei.
47
Wodengejlaltung und '
Freiherr Karl von Czörnig in Wien hat sich um die
Statistik große Verdienste erworben. Er ist nicht nur selber
Meister seiner Wissenschaft, sondern hat auch das Talent,
im Interesse derselben tüchtige Kräfte ausfindig zu machen
und angemessen zu verwenden. Dafür zeugen die vielen
statistischen und ethnographischen Arbeiten über die Länder
des Kaiserthums Oesterreich, welche allesammt unter seiner
Mitwirkung und unter seiner Oberleitung erschienen sind.
Seine neueste und hoffentlich nicht die letzte Arbeit ist
eine von ihm allein verfaßte Monographie: „Die Lom-
bardie. Darstellung der natürlichen Verhältnisse
des Landes. Wien 1866." Wir sagen dem Verfasser für
die Zusendung dieser geradezu musterhaften Abhandlung un-
fern besteu Dank. Herr v. Czörnig war früher ein Jahr-
zehnt lang als Beamter in der Lombardei thätig, in einer
Stellung, welche ihm möglich machte, statistisches Material
zu sammeln und die ganze Provinz ans eigener Anschauung
kennen zu lernen. So konnte er eine in der That plastische
Darstellung des in so vieler Beziehung interessanten Landes
liefern und er steht dabei vollkommen auf der Höhe der
Wissenschaft. Auf nur 50 Seiten giebt er eine umfassende,
vollkommen klare und übersichtliche Schilderung der Lombardei
nach Lage, Flächenraum, Gestaltung und Begrenzung; er
schildert Gebirge und Thäler, die Ebenen und deren Schich-
tnng, die Gewässer, Dämme und Canäle; Klima, meteorolo-
gische Beschaffenheit, die geologischen Verhältnisse und die
Terrainbildung; er schließt dann mit einer Charakteristik der
verschiedenen Landestheile. Die Anschaulichkeit wird wesentlich
gefördert durch die beigegebene Karte, auf welcher die Ein-
theilnng in Berg-, Hügel- und Tiefland sehr gut hervor-
gehoben erscheint; auch gewährt sie einen guten Einblick in die
hydrographischen Verhältnisse, welche gerade für die Lombardei
von so hervorragender Bedeutung sind. Diese hat Herr v.
Czörnig mit besonderer Borliebe behandelt.
Wir wollen einige wenige Proben ausheben, um dem
Leser zu zeigen, daß unser Nrtheil ein gerechtfertigtes ist.
Die Bodengestaltnng der Lombardei und ihre Beziehungen
auf die Cultnrverhältnisse.
Die Mannigfaltigkeit der natürlichen Verhältnisse bringt
es mit sich, daß in dem Lande alle Stufen der Terrain-
bildung vorkommen; kaum aber giebt es ein anderes Gebiet,
namentlich von so beschränktem Umfange, in welchem sich,
wie in der Lombardie, die drei großen neben einander ge-
lagerten Zonen des Berglandes, des Hügellandes und des
Tieflandes so deutlich herausstellen. Während die erstere
die Centralalpen und ihren Südabhang sammt den dazwischen
gelagerten Gebirgsthälern— das Bergland — umschließt,
fügt sich daran als ein mehr oder weniger breiter Saum
das Hügelland, dnrch welches sich die Gebirge meist in
ziemlich raschem Uebergauge verslachen, sammt der hiervon
nicht zu trennenden höhern trocknen Ebene — die Dilu-
viallande ; während unterhalb dieser Zone der der Be-
Wässerung zugängliche Theil der Lombardie, das Tiefland,
sich bis zum Po und theilweise über denselben erstreckt. So
klar in die Augen fallend sich die natürliche Eintheilnng des
lombardischen Bodens darstellt, ist es doch nicht ohne Schwie-
rigkeit, die Grenzlinie festzustellen, welche das Bergland von
dem Hügellande scheidet. Will man sich hierbei von jeder
mehr oder weniger willkürlichen Anschauung fernhalten, so
muß bei Entwerfung dieser Scheidelinie nach Wissenschaft-
een in der Lombardei.
licheu Grundsätzen verfahren werden. Als ein solcher Grund-
satz empfahl sich, das Bergland so weit zu erstrecken, als die
Thäler von steileren Gehängen, d. i. von solchen, die mit
einem Winkel von wenigstens 45° einfallen, begrenzt werden,
während die Mündungen dieser Thäler mit weniger geneigten
Thalwänden, sowie die sich verflachenden Hügelgelände der
Zone des Hügellandes zugewiesen werden. Zwischen letztcrem
und dem Tieflande erscheint die Abgrenzung minder schwierig,
da fast alle Gebietstheile der Lombardie, welche der Bewässe-
rnng zugänglich sind, der künstlichen über das ganze Tiefland
hin verbreiteten Berieselung auch wirklich unterzogen sind;
wobei natürlich einzelne durch Terrainerhöhung bedingte Ans-
nahmen keine weitere Beachtung finden können.
Diese Gliederung des lombardischen Gebietes in Berg-,
Hügel- und Tiefland spiegelt sich nicht nur in der Boden-
gestaltnng ab; sie ist auch überhaupt maßgebend für fast
alle Bediuguugeu der Cultur, der gesellschaftlichen
und staatlichen Einrichtungen, so daß sie die Eigen-
schast der natürlichsten und durchgreifendsten Eintheilnng des
Landes an sich trägt.
Das Bergland, einerseits von ausgedehnten Gletschern,
andererseits von den großen Landseen umsäumt, birgt in sich
den nie versiechenden Quell des iu üppiger Fülle herabströ-
Menden befruchtenden Wassers, welches, in den Behältern der
Seen geläutert uud erwärmt, die erste Bedingung des Frucht-
segens und Reichthums des Landes darbietet. Die Gebirge
liefern treffliche Bausteine und Metalle; die Abhänge sind,
wenn auch nur mehr zum Theile, von Nadel-, Eichen- und
Kastanienwäldern besetzt, in der Tiefe gedeiht an geschützten
Orten die Rebe, der Lorbeer, ja selbst die Olive. Der
Bewohner, rein celtischer Abstammung, verbindet mit
körperlicher Gewandtheit geistige Schwerfälligkeit, hält zäh
am Alten, Hergebrachten, wie auch an seinen Bornrtheilen,
ist streit- und proceßsnchtig, und bleibt trotz seines Fleißes
arm. Die Gemeinde-Gebiete sind groß, die Wohnsitze, meist
in den Thälern längs der Bäche und Flüsse gelegen, klein.
Das Grundeigenthum zunächst den Wohnsitzen gehört den dort
angesessenen Privateigentümern, das höher gelegene Weide-
cnd Waldland meist den Gemeinden. Es giebt keinen großen
Besitz im Berglande, aber .fast Jedermann ist Besitzer, Eigen-
thümer, Erbzinsmann oder Erbpächter, in dessen Folge die
Grundzerstückelung den höchsten Grad erreicht und
die Bearbeitung des Bodens denBebauer nicht hin-
reichend beschäftigt. Da der schmale Streifen cultur-
fähigen Bodens in den Thalniederungen die in den Wohn-
sitzen dicht gedrängte Bevölkerung nicht zu ernähren vermag,
so hat sich fast an allen Orten seit nrvordenklicher Zeit eine
durch Herkommen geregelte Auswauderuug gebildet
und entwickelt. Die Bewohner der einzelnen Orte wenden
sich je einer und derselben Beschäftigung gewerblicher Art zu,
und ziehen im Frühjahre gewöhnlich je in dieselben Städte
und Gegenden des Auslandes, von wo sie im Beginne des
Winters mit dem Ersparten zu ihrer Familie in die Heimath
zurückkehren. Wenn sie aber auch jahrelang in der Fremde
verweilen, bewahren sie ihre Anhänglichkeit an den Heimath-
lichen Boden, wohin sie fast immer zurückkehren, um dort
ihre Tage zu beschließe». Diese Auswanderer des lombar-
dischen Berglandes sind über ganz Europa zerstreut, der
stärkste Zug aber ist nach anderen Theilen Italiens gerichtet.
Das charakteristische Merkmal des Berglandes in volkswirth-
schaftlicher Hinsicht liegt, in Folge der herrlichen Alpentristen,
48 Bodengestaltung und
während der guten Jahreszeit in der Aufzucht des Viehes,
welches im Herbste der Ebene zuwandert.
Das lombardische Hügelland umfaßt ein Gebiet,
über welches die Natur alle ihre Reize und Segnungen aus-
geschüttet hat. Die nach Süden auslaufenden Hügel und
Höhenzüge bilden mit den dazwischen liegenden offenen Thal-
mnlden eine liebliche Landschaft, in welcher das gemäßigte
Klima sowohl als die allenthalben sichtbaren Spuren einer
vorgeschrittenen Cultur des fruchtbaren, in einen Garten ver-
wandelten Bodens, sowie eines mit Geschmack und Kunstsinn
verbundenen Reichthums zum Aufenthalte einladen. Die
feine elastische Luft dieser Zone läßt den Maulbeerbaum vor-
züglich gedeihen, mit dessen Blättern genährt der Seiden-
wurm die feinsten Fäden spinnt. Die Nebe wird hier sowohl
in eigenen Pflanzungen an den Abhängen der Hügel, als
anch in den Ackerfeldern der Ebene zwischen anderen Cnlturen
gezogen. Der tresflich angebaute Boden gewährt Jahr für
Jahr drei- und vierfache Frucht. Die Bewohner,
gemischter, aber vorwiegend celtischer Abkunft, ver-
einigen in sich die Abzeichen celtischen und roma-
nifchen Wesens. Ihre geistigen Anlagen sind vorzugsweise
ausgebildet und stehen im Ebenmaße mit der körperlichen
Entwicklung; sie kennzeichnen sich durch Scharfsinn, schnelle
Auffassung und große Geschäftsgewandtheit, Pflege der Künste
und besonderes Talent für deren Ausübung, anderntheils aber
auch durch eine große Beweglichkeit und leichte Entzündbarkeit,
die, auf Abwege geleitet, in den Städten leicht zu politischer
Aufregung und auf dem Lande zu blutigem Zank und Hader
führt.
Hier vereinigen sich Fleiß und Intelligenz, um dem Boden
den reichsten Ertrag abzugewinnen, wie auch hier die Mann-
sactur-Jndnstrie sich mehr und mehr entfaltet. Ein großer
geschlossener Grundbesitz besteht hier ebenfalls nicht, sondern
es ist der mittlere Besitzstand vorwaltend, welchem zu
Folge jeder Complex von Grundstücken in der Regel eben
groß genug ist, um eine ackerbauende Familie zu beschäftigen.
Doch befinden sich in der Regel mehrere solcher Complexe in
den Händen einzelner wohlhabender Besitzer, welche in den
Städten leben uud ihre Grundstücke durch Pächter bewirth-
schaften lassen. Es ist dies die Colonenwirthschast, wo
derPächter gewöhnlich dieHälfte des Ertrages oder
einen Pachtzins an Getreide oder einen mit An-
wendnng beider Systeme festgestellten Pachtschil-
ling entrichtet. Die Gemeindemarkungen sind klein aber
zahlreich; in denselben breitet sich die dichtgedrängte Bevöl-
kerung oft zu volkreichen Ortschaften aus, welche häufig auf
Höhen und Abhängen, fast immer aber fern von den größeren,
in tiefen Thalmulden rinnenden Flüssen erbaut sind. Cha-
rakteristisch für das Hügelland (in Volkswirthschaft-
licher Hinsicht) ist die Seiden- und Weincultur, das
Colonensystem nnd die damit verbundene Spaten-
wirthschaft, endlich die Mannfactnr-Jndustrie.
Das lombardische Tiefland (insbesondere der west-
liche, zwischen dem Tessin und der Adda gelegene Theil des-
selben) ist eines der fruchtbarsten und ertragreichsten Gebiete
Europas, weniger durch natürliche Anlage, als durch An-
Wendung von Capital und Intelligenz, welcher es in jähr-
hundertlangem Ringen und Mühen gelang, den Wasserreich-
thnm der lombardischen Flüsse und Quellen über die ganze
Fläche des Tieflandes hin auszubreiten und wieder abzuleiten,
sohin denselben dem Bedürfnisse der Bodenbestellung je nach
dem Willen des Besitzers nnterthan zu machen. Der künst-
lichen Bewässerung zunächst ist die reiche Ernte an Reis und
Getreide jeder Art zu danken; durch sie werden die immer
grünenden Wiesen erzielt, welche zahlreiche Herden milchreicher
Kühe erhalten und die Käsewirthschast möglich machen; sie
öcen iu der Lombardei.
endlich ist die unerläßliche Bedingung des hier zur Erschei-
nnng kommenden Großbetriebes der Landwirtschaft.
Hier aber steht (abgesehen von den Städten, welche hin-
sichtlich der Charakteristik ihrer Bewohner jenen des Hügel-
landes gleichen) in dem Ringen nach reichem Ertrage die
Pflege des Menschen, der meist nur als ein unent-
behrliches Element der Wirthschaft zur Geltung
gelangt, zurück. Die Bewohner, vorwiegend romani-
scher (und im Osten etrnskischer) Abstammung, be-
finden sich der großen Mehrzahl nach in der ungünstigsten
Lage und gewinnen in saurer Mühe kaum das zum kümmer-
lichen Leben Unentbehrliche, wodurch insbesondere bei man-
gelhaster Nahrung und harter Arbeit in den sumpfigen
Reisfeldern und unter Wasser stehenden Wiesen ihre Race
immer mehr verkümmert und herabkommt. Sie ge-
nügen auch trotz der Dichtheit der Bevölkerung dem Bedürf-
nisse des Landbaues nicht, weshalb zur Zeit der Maulbeer-
eutlaubuug und der Ernte zahlreiche S^aaren fremder Ar-
beiter aus den benachbarten Gebirgen von Parma, Piemont
und der italienischen Schweiz herbeikommen, deren Zuströmen
als ein notwendiges Uebel betrachtet werden muß. Die
Bewohner theileu sich, mit Ausnahme der Städte, in ver-
gleichungsweise wenige Großpächter, eine durch Jntelli-
genz, reiche Erfahrung, Arbeitsamkeit und Ehrenhaftigkeit der
Gesinnung ausgezeichnete Classe, und die überwiegend
große Anzahl von Taglöhneru, ständigen sowohl als
ohne bleibende Verwendung. Der Grundbesitz besteht der
Natur der Sache nach fast durchaus aus großen Com-
plexen, welche den Städtern (meist dem dort ange-
sessenen Adel) uud den großen Corporationen (zunächst
den Wohlthätigkeits- und Krankenanstalten) gehören, von diesen
aber nicht bewirtschaftet, sondern (wie erwähnt) verpachtet
werden. Nur zwischen der Adda und dem Mincio, wo die
Bewässerung nicht so allgemein ist, kommt die Selbstbewirth-
schaftuug größerer Besitzungen und der Kleinbetrieb häusiger
vor. Die Gemeinde-Gebiete des Tieflandes sind umfassend,
die Wohnsitze aber darin sehr zerstreut liegend, meist aus
kleinen Gehöften, die in Mitte der Grundstücke des Eigen-
thümers liegen, bestehend, welche Zersplitterung der
Bevölkerung zwar für die Bebauung des Laudes vortheil-
Haft, für die öffentliche Sicherheit aber sowie für die Erzie-
huug und Bildung des Volkes sehr nachtheilig ist. Charak-
teristisch für die Tiefebene in volkswirtschaftlicher Hinsicht
ist die künstliche Bewässerung des Landes, die Cultur des
Reises und der Winterwiesen, der Großbetrieb der Landwirth-
schast und das eigenthümliche System des Großpachtes.
Die Seen der Lombardei.
Die wichtigste und interessanteste Erscheinung in dem
natürlichen Haushalte der Lombardie bilden die Seen, welche
den Saum der Hochgebirge gegen die Ebene bezeichnen. Zu
den bedeutendsten Seen gehören: der Lago Maggiore (Tessin),
der Comersee (Adda), der Jseosee (Oglio), der Gardasee
(Mincio); zu jenen (mindestens für die Lombardie) zweiten
Ranges: der Luganersee (Tresa) und der Jdrosee (Chiese),
an welche sich noch eine zahlreiche Menge anderer kleiner,
zum Theil höchst anmnthiger Seen (wie die Seen des Piano
d'Erba mit dem Lambro, die Seen von Varese :c.) reihen.
Die Bestimmung der Seen ist eine vielfache und über-
aus wohlthätige. Vor Allem dienen sie als die Becken, welche
das in Gebirgsströmen und Gießbächen herabströmende Wasser
in sich aufnehmen und ansammeln; sie verhindern dadurch,
daß es nicht eben so schnell, als es von den Bergen herab-
rinnt, in den Hauptsammelcaual aller Gewässer Oberitaliens,
den Po, abfließe; dieser Abflnß wird mittelst der Seen zu-
gleich regulirt, indem das vergleichungsweise enge Rinnsal
Heinr. Ditz: Bilder aus
des austretenden Flusses das Wasser zwar regelmäßig, aber
allmälig und in weit geringerer Menge abführt, als es zeit-
weise den Seen zuströmt. Eine zweite, nicht minder wohl-
thätige Einwirkung der Seen besteht darin, daß sie das ihnen
durch die Gebirgsbäche zufließende, durch beigemengte erdige
Theile getrübte und Geschiebe mit sich führende Wasser durch
die eintretende Stühe klären und an der Oberfläche erwärmen,
wodurch das abfließende Wasser für die Befruchtung der be-
wässerten Landestheile weit tauglicher gemacht wird.
Die Seen sammeln nicht allein das Wasser, sondern sie
tragen auch zu dessen Entstehung bei, sowohl durch die Ver-
duustuug an ihren ausgedehnten Wasserflächen, als auch durch
die Condensiruug der über sie hinziehende» feuchten Dünste.
Der Schifffahrt dienen die Seen, indem sie die
Wassercommuuication, wie iu keinem andern Lande
Europas, bis an den Fuß der Alpenpässe vorschieben.
Endlich führen sie durch die günstige Insolation der Ufer-
gegenden und die geschützte Lage mittelst der im Norden ab-
schließenden Gebirge, welche die Nordwinde abwehren und die
Glnt des Sommers mäßigen, ein mildes gleichmäßiges Klima
herbei, in welchem die Früchte des Südens gedeihen, nud die
Menschen eine in der ganzen Fülle einer südlichen romantisch
gelegenen Landschaft prangende Wohnstätte finden.
Eine weitere für die Landescultnr sehr belangreiche Eigen-
schast der lombardischen Seen nud der durch ste genährten
Flüsse besteht darin, daß ihre Hochwasser in der Regel
nicht zu gleicher Zeit eintreten, und demnach leichtern
Abfluß in dem allen gemeinsamen Pöbelte finden, weil die
Bedingungen, unter welchen sie entstehen, nicht die gleichen
sind. Der Lago Maggiore, welcher mit seiner ausge-
dehnten Fläche bis in die Alpenregion hineinreicht, erhält
seine Zuflüsse von den Abhängen des Simplon und des St.
Gotthard; diese Abhänge sind den vom Adriatischen Meere
herziehenden warmen Seewinden ausgesetzt, welche die in der
Höhe gelagerten Schneemassen und das Gletschereis schmel-
zen, reichlichen Wasserzuflnß bringen und starke Hochwasser
verursachen, weshalb der Tessin der wasserreichste
dem magyarischen Ungarn. 49
Zufluß des Po ist. Der langgestreckte, im südlichen Theile
sich gabelude Comersee, mit seiner nur durch den versan-
beten Lauf der Adda getrennten Verlängerung, dem Lago
di Mezzola, reicht ebenfalls bis an den Fuß der Hochalpen,
die warmen Seewinde nehmen aber nur geringen Einfluß
auf seine Hochwasser, da die das Veltlin im Süden be-
grenzende Orobische Alpenkette den Seewinden den Zugang
zu den Gletschern der Central-Alpenkette und zn dem Thale
des Veltlin wehrt, welches nur den Westwinden offen
steht. Die von den Seewinden herbeigeführten warmen
Dünste erkalten sich daselbst nnd condensiren sich zu Schnee
und Eis. Dadurch entstehen gewaltige Schneemassen, welche
bei ihrem Schmelzen bedeutende Hochwasser erzeugen; doch
erscheinen sie nicht selten, wenn die durch die Nordwinde in
der Ebene herbeigeführte Regenzeit im Herbste eintritt, erst
im Sommer des darauf folgenden Jahres.
Diese Hochwasser werden demnach nicht von denselben
Ursachen erzeugt wie jene des Lago Maggiore; sie erreichten
aber, namentlich seitdem die Gebirgsbäche durch die mitge-
führten Geschiebe den Ausfluß verengt hatten, eine bedroh-
liche Höhe, bis dieser Gefahr durch zweckmäßige Wasserbauten
gesteuert wurde.
Der Lago d'Jseo erhält seine Zuflüsse von den Glet-
schern des Monte Adamello, welcher auf dieser Seite den
Seewinden nicht ausgesetzt ist; seine Ufer verflachen sich gegen
Süden, wo der Oglio aus dem See fließt.
Der Gardasee hat zwar von allen lombardischen Seen
den größten Wasserspiegel, allein da er entfernter von den
Hochalpen liegt nud keine bedeutenden Zuflüsse hat, so sind
auch seine Hochwasser von weniger Bedeutung, und sein Aus-
sluß, der Mincio, führt die geringste Wassermasse mit sich
fort. Die Tiefe der Seen ist eine verschiedene, immer sehr
bedeutende, dort aber am größten, wo die Hochgebirge am
nächsten hinzutreten, wie im Lago Maggiore mit 2531 Fuß
und im Comersee mit 1860 Fnß; doch hat auch der weite
Gardasee, obwohl entfernt von den Hochgebirgen, die nam-
hafte Tiefe von 1847 Fuß.
Iilder aus dem magyarischen Ungarn.
Von Dr. cam. Heinrich Ditz.
I.
Die waldlose Steppe nnd der asiatische Nomade. — Armnth an Bäumen und Baumvertilgung. — Das ercessive Klima und dessen Un-
gastlichkeit. — Anblick der Puszta. — Wiederbewaldung; die Akazie. — Kein Berg, kein Wald, kein Stein. — Die schlechten Wege
und Straßen. — Bauart der Häuser. — Verminderung des Umfanges der Puszten durch Anbau.
Auf folgenden Blättern wollen wir nicht ein Bild des
ganzen Ungarlandes vor den Augen des Lesers entwickeln,
sondern nur jenes Theiles, den das vornehmste Volk dieses
Landes, der Magyar oder eigentliche Ungar, einnimmt. In-
dem wir uns jedoch auch hier auf wenige Einzelheiten be-
schränken müssen, wählen wir jene Bilder aus, die durch
ihre Eigenthümlichkeit und durch den grellen Gegensatz zu
unseren Verhältnissen vielleicht nicht ohne besondern Reiz sein
dürften.
Die Karpathen, dav stebenbürgische Gebirgsland und die
gewaltige Douau sind allmälig zu Touristenstrichen geworden;
das ungarische Unterland, die große Ebene und Steppe, war
es uoch nie nnd wird es schwerlich je werden. Hier gerade
wohnt der Kern-Magyar nahezu ungemischt, und hier gerade
Globus XI. Nr. 2.
sind wir in jener Gegend des „heiligen" Ungarlandes, wo man
sich mitten auf der Hochsteppe Asieus wähnt, in dem Lande,
welches man auf der andern Seite das „Europa im Kleinen"
nennt. Der Magyar verläßt seine Heimath nie oder höchst
selten, um dem Auslände ein Bild von deren Leuten zu ge-
währen, wie der Slovak und der Serbe; und da wir unserer-
seits uns so selten in die dürren Sandhügel seiner Heiden,
in die baumlose Steppe und in die endlosen Sümpse ver-
irrten, so ist gerade jener Landstrich bei uns am wenigsten
bekannt, welcher nicht nur die Wiege der ersten Nation des
Ungarreiches ist, sondern welcher gerade jetzt auch den Anflug
nimmt, eine land- und volkswirthschaftliche Bedeutung zu
erringen, die bald die Aufmerksamkeit Europas aus sich ziehen
dürfte.
50 Heinr. Ditz: Bilder aus
I. Das Land des Magyaren.
Bevor der Ungar seine heutigen Wohnsitze einnahm, hütete
er sein langhörniges Rindvieh ans der Hochebene Asiens. Als
er nach Europa zog, wollte er auch hier nichts Anderes als
eine gute fette Weide, und das war bestimmend für die Wahl
seiner neuen 'Heimath. Für den Nomaden trägt das ein-
grenzende Gebirge den Stempel der Unfreiheit an sich, und
nur die unbegrenzte Ebene sagt ihm zu. Deshalb mied der
Ungar fast allenthalben das Gebirge, wogegen er in der
Ebene ganz ungemischt auftritt; nur im Bauat und in der
Bäxsla durfte sich der Deutsche und der Serbe mit ihm in
die Ebene theileu.
Aber nicht schon die Ebene, erst die baumlose Ebene, erst
die Steppe entsprach dein Sinne des nomadisirenden Ma-
gyaren vollkommen. Wir dürfen wohl als gewiß annehmen,
daß der alte Magyar seine jetzige Heimath nicht als eine
Steppe vorgesunden, sondern daß er die Ebene erst zur Steppe
gemacht hat. Wer das enorme Wachsthum gewisser Baum-
gattungen kennt, dessen sich z. B. die Akazie im ganzen Unter-
lande, und die Weide, besonders in den Theißgegenden, erfreut,
ein Wachsthum, das jetzt noch Waldbestande ohne alle Sorg-
falt von Seite des Menschen sich bilden läßt, wenn man nur
nicht hindernd in den Weg tritt, — wer das sieht, der wird
sich nicht ausreden lassen, daß in Ungarn der Wald und nicht
die Steppe das Ursprüngliche war. Die Gegend zwischen
der Theiß und der Kraßna nördlich von Debreczin, dieNyir,
hat von der Birke ihren Namen (Nyir = Birke) und viele
Ortschaften tragen dieses Wort in ihrem Namen, wie Nyir-
egyhäza, Nyirbütor. Das deutet wohl auf das vor Alters
häufige Vorkommen dieses Baumes, auf Birkenwalduugen
hin. Heute aber soll sich nicht mehr die Spur eines solchen
Baumes hier vorfinden.
Es ist wohl schwer zu sagen, ob es wirtschaftliche Be-
rechnung des alten Ungarn war, als er dem Walde den
Garans machte. Daß er von dem heilsamen Einfluß des
Waldes auf das Klima nichts wußte, läßt sich annehmen.
Und da fein Holzbedarf sich nahezu auf Null reducirte, da er
feiu Haus von Kothziegeln aufbaute und es mit Schilf deckte,
und da er seine Speisen mit dem Stroh seiner Wirthschast
und dem Dünger seiner Rinder kochte, so hatte der Wald für
ihn wenig oder gar keinen unmittelbaren Werth, und das
Erste, was ihm beim Anblick eines Baumes einfiel, war, daß
dort, wo der Baum wachfe, sein Ochse nicht grasen könne.
Näher noch liegt es, die Feindschaft des Magyaren mit
dem Walde von der Gewöhnung an die Steppe in Asien
herzuleiten. Wer von jeher an die unbegrenzte Aussicht der
Steppe gewöhnt ist, dem nimmt der einschränkende Baum
die Freiheit, er engt den Gesichtskreis dessen ein, der ohne
Schranken frei sein möchte. Man muß die Wuth des Un-
garn gegen Wald und Baum gesehen haben, um dieser An-
ficht beizustimmen. Die Rodungslust de^ Nnthenen
ist sprichwörtlich; einem Ungarn aber kann es nur ein
Zigeuner gleich thnn, und nur eiu ungarischer Zigeuner.
Die alten Völker hatten gute Götter in ihren Bäumen und
es gab Bäume bei fast jedem Volke, die man heilig und
unverletzlich hielt. Von diesem Aberglauben ist der Ungar
von jeher frei gewesen; ihm ist kein Baum vor dem Tode
heilig; erst weun mau das Feuer an seinen grünen Stamm
gelegt hat, und wenn nach dem Märtyrertode die dürren Aeste
vergebens ihre Knochenfinger ausstrecken, um den Sturmwind
um Mäßigung und die eilenden Wolken um Feuchtigkeit für
die klaffend dürre Erde anzuflehen, erst dann spricht der
Ungar den Baum^ selig und gönnt ihm noch einige Zeit die
Stelle, die er einnimmt. Wenn der Ungar oder der Zigeuner
Fener an einen Baum legen kann, so ist die Freude groß.
dem magyarischen Ungarn.
Ist aber der Baum bereits so hohl, daß man das Feuer ihm
in seine'innersten Eingeweide legen kann, so ist die Freude
unbeschreiblich. — Wenn man Hindernisse in der Wieder-
bewaldung Ungarns sieht, so sehe man sie nicht im Klima,
sondern im Volke. Nicht das Klima, sondern das Volk
muß man mit dem Walde und Banme versöhnen.
Wir gebeü nur einige Zahlen, um die Größe der Baum-
armnth auf der ungarischen Ebene darzulegen. Die Wald-
.fläche beträgt in dem Comitate:
Szolnok ....
Csanäd j *
Jazygien 1
Kumanien > • • 1,37
Hajdukendistrict J
Bäcs.....
Esongräd . . .
Pesth-Solt. . .
Szaboleö....
TorontÄ.... • • 7,58
ii. s. w.
Die absolute Waldfläche beträgt demnach im Comitate Szolnok
nur drei österreichische Joch oder 6^/4 preußische Morgen
auf der Quadratmeile.
Dieser Waldarmuth verdankt Ungarn zum großen Theil
sein widerwärtiges Klima. Ungarn ist ein Binnenland, und
dort, wo es dem Meere am nächsten ist, trennen es hohe
Gebirge von ihm. Das Land aber erhitzt sich schneller und
kühlt sich auch schneller wieder ab, als das Wasser; deshalb
ist der Temperaturwechsel der Binnenländer so schroff und
unvermittelt; dadurch werden die Luftströmungen stärker und
was an der Küste mäßiger Wind ist, das artet im Binnen-
lande in reißenden Orkan aus. Den Beruf, welchen
das Meer für die ihm anliegenden Länder in Bezug
auf das Klima hat, muß man im Binnenlande dem
Baume oder Walde zumessen. Indem der Wald Wärme
absorbirt, mäßigt er die Hitze, und er lindert die Kälte, wenn
er die überschüssige Wärme wieder ausstrahlt. Dadurch wird
der Wechsel der Temperatur minder grell; die heftigen Winde
werden mehr verhütet, und wenn sie dennoch entstanden sind,
so dient der Wald dazu, sie zu brechen, wenigstens in jenen
Luftschichten, iu deren Bereich der Mensch, das Vieh und die
Früchte des Feldes sich befinden. — Die Wolken, welche über
das Binnenland hinwegziehen, sind naturgemäß regenärmer,
als die des Küstenlandes. Das Binnenland leidet deshalb
in manchen Fällen an Dürre. Und hier sollte es wiederum
des Waldes Aufgabe fein, die Feuchtigkeit der Wolken an
sich zu ziehen, und die angezogene vor den ausdörrenden
Winden zu schützen, wie nicht weniger, die zeitweilig über-
mäßigen Regengüsse in sich aufzunehmen und dadurch un-
schädlich zu machen.
Wir haben gesehen, daß die ungarische Ebene keinen
Wald hat, um die ihm zukommende Rolle zu spielen. Die
Ungastlichkeit des ungarischen Klimas ist deshalb nur
natürlich. Das Klima ist trocken; die Regenmenge erreicht
etwa 13 bis 15 Zoll, während sie in Deutschland das Dop-
pelte und mehr beträgt. Und wie ungleich vertheilt sich diese
Feuchtigkeit noch ans die einzelnen Jahreszeiten! Der letzte
ernste Regen fällt im Mai; dann kommt die wasserarme
Zeit bis September, und der Winter erhält etwa drei Viertel
aller Niederschläge. Aus diesem Grunde muß sich der un-
garische Landwirth im Frühling so sehr mit der Bestellung
der Saat beeilen, damit bei eintretender Dürre die Frucht
der Gefahr des Unterganges schon entwachsen sei.
Das Bild der ungarischen Puszta in den Monaten Juli
und August ist das eines ausgebrannten Moores. Die Dürre
ist die Hauptplage des ungarischen Landwirths; nach einer
Zusammenstellung des ungarischen landwirtschaftlichen Ver-
Heinr. Ditz: Bilder aus
eins hatten die 75 Jahre vor 1364 nicht weniger als 22
Mißernten, und darunter 19 wegen Dürre und nur 3 wegen
Kälte und Nässe. Und in welchem Grade hier die Mißernte
sich zeigt, ist leider noch in frischem Andenken. Wo man
Menschenleben mit Sägemehl zu fristen sucht und für die
Thiere absolut nichts mehr zur Fristung des Lebens weiß,
da muß in der That die Roth ihren Gipfel erreicht haben.
In 519 Gemeinden belief sich der Ernteausfall in dem durch
feuie Dürre so schrecklichen Jahre 1863 auf einen Werth
von nicht weniger als 126 Millioueu Gulden. Aber auch
hier zeigte sich wieder, daß dort die Roth in gelinderm Grade
auftrat, wo sich Wald in der Nähe befand.
Um so erfreulicher ist es deshalb, zu sehen, wie die großen
Güter in Ungarn auch iu dieser Beziehung ihre Aufgabe so
gut begriffen haben uud auch in der Bewaldung dem Bolle
das beste Beispiel zu geben bemüht sind. Die größeren
Grundbesitzer sind allenthalben mit dem besten Erfolge be-
strebt, ihre Güter mit einem Waldgürtel zu umsäumen, die
Wege zu Baumalleen zu machen und das in Tafeln einge-
theilte Feld durch Baumreihen zu scheiden. Daß dadurch
die Kraft der Orkane gebrochen und die Ausdörrung des
Bodens durch die Winde mehr verhütet wird, ist nichts der
kleinste Vortheil dieser Pflanzungen, obschon auch der Holz-
Werth nicht gering anzuschlagen ist. Die Akazie bildet fast
ausschließlich den Bestand solcher Pflanzungen und diese ist
hier so schnellwüchsig, daß man z. B. ans dem Hofe von
Kis-Szällü,s einen acht- oder neunjährigen Baum finden
kann, welcher in der Brusthöhe elf Zoll Durchmesser enthält;
15- bis 20jährige Schläge werden leicht 30 bis 50 Fuß
hoch. Durch eine solche Bepslauzung sind ganze Gegenden,
welche noch vor wenigen Jahren das Bild der unfruchtbaren
Wüste boten, zu einer Art Park geworden. Vor allem gehört
hierhin die jetzt so rühmlichst bekannte Herrschaft Alten-
bürg; nicht weniger die Krone des Alföld, die fchöne Herr-
schast Magocs, wie auch Hatzfeld, Kis-Szs-llä-s u. A.
Leider muß mau sich sagen, daß diese Erscheinung bis
jetzt nur über die Köpfe des eigentlichen Volkes hinweg-
gegangen ist; im Volke selbst ist sie noch nicht gar häusig
zu finden. Wenn der Ungar wirklich auf einen Messias für
sich hofft, so sollte man ihn lehren, daß dieser einst in der
Gestalt eines Baumes herabkommen werde. Dann würde
er vielleicht die Bäume schonen und den Wald erziehen, anstatt
ihn, wie jetzt, zu vernichten.
Man sollte ihn aber auch lehren, daß er erst dann kom-
men werde, wenn Ungarns Wege in einem solchen Zustand
sein werden, daß sie selbst um Weihnachten zur Krippe des
ueuen.Messias eine Wallfahrt, wir meinen eine Waldfahrt
erlauben. Denn wie der Wald für ein gedeihliches Klima
mangelt, so fehlen hier die Straßen einem gesegneten
Verkehr, und es ist schwer zu sagen, ob der Ungar die Ex-
tremität seines Klimas mehr empfindet oder die zeitweilige
Unergründlichkeit jener üppigen Unkrautgürten, welche man
in Niederungarn Wege nennt.
Drei Dinge sind es, welche durch ihre völlige Abwesenheit
d i e e ch t e H e i m a t h d e s M a g y a r e n charakterisiren. Kein
Berg, kein Wald nnd kein Stein. Uns, denen der
©teilt nur wegen seiner Unfruchtbarkeit bekannt ist und die
wir ihn als ein freies, als ein werthloses Gut- betrachten,
uns wird es schwer begreiflich, von welchem Segen der Fels
für ein Land ist. Um dieses recht klar zu sehen, muß man
den Charakter der ungarischen Ebene wiederum stndiren. Wo
diese nicht mit bodenlosem Flugsand überschüttet ist, wie ans
der Kecskemeter undDebrecziner Heide; da deckt ebenso
bodenloser Humus die Ebene, und dieser Humus ruht wieder
nicht auf festem Gestein, sondern auf einer mächtigen Thon-
oder Sandschickt oder auf losem Geröll.
dem magyarischen Ungarn. 51
Die Folge des Steinmangels ist zunächst der berühmte
schlechte Zustand der ungarischen Wege. Da die Steine
fehlen, so hört aller Straßenbau von selbst auf; um eine
Straße zu machen, thut man nichts weiter, als den Ranm
ausstecken, welcher für die zukünftige Straße bestimmt ist.
Bei den älteren Straßen hat man nicht einmal das für noth-
wendig erachtet; dort läßt man jeden Fuhrmann den Weg
selbst suchen und giebt ihm einen Spielraum oft von der
Breite einer Stunde. So ist z. B. die „Reichsstraße",
welche die beiden großen Städte Szegedin und Therefiopel
verbindet; Szegedin mag nahezu 70,000 Einwohner zählen;
Therefiopel etwa 50- bis 60,000; die Entfernung ist nicht
völlig 6 Meilen. Hier sollte man doch einen starken Verkehr
und dem entsprechend eine gute Straße vermuthen. Aber
anstatt desseu findet man ganze Strecken hindurch nicht die
Spnr eines Weges; der eine Fuhrmann verfncht sein
Glück eine halbe Stunde nördlich vom Telegraphendraht,
und der andere eine halbe Stunde südlich; der Grund dieser
Abweichung ist nur der, daß der erste Fuhrmann vorigesmal
auf der südlichen Linie stecken geblieben ist, der andere aber
auf der nördlichen, uud Jeder sucht jetzt dem alten Unglück
anszubeugen, leider nur, um wahrscheinlich in ein größeres
zn fallen. Wenn man aus diesem Wege nicht hin nnd wieder
ein Täfelchen mit den tröstenden Worten: Orszag üt
(Reichsstraße) fände, so wäre es schwer, dem verzweifelten
Glauben zu widerstehen, daß man sich mitten auf der uuweg-
samen Steppe eines unbewohnten Laudes befände. Weitern
Zweck, als deu, daß sie den Reisenden versichern, er sei trotz
allen gegentheiligen Anscheins dennoch auf einer der Haupt-
straßeu Uugarns, haben auch diese Täfelchen nicht. Daß die
schlechten Straßen kein Vorwurf für die Bewohner sind,
wenn sie anch oft noch schlechter sind, als sie zn sein brauch-
teu, liegt nahe. Wenn selbst in der Hauptstadt des Alföld
(Unterlandes), in dem industriereichen Szegedin, die zwei oder
drei gepflasterten Straßen eine ganz kleine Ausnahme bilden,
so ist es begreiflich, daß man anderwärts an Steinstraßen
nicht zu denken hat. Das einzige Wegematerial ist boden-
loser Schmutz, der im trocknen Sommer zu einer leidlich
guten festen Unterlage austrocknet. Im Flugsande dagegen
verschlechtern sich danu uoch häufig die Wege. Auf dem
Humus- und Thonboden erweicht jeder Regen die Oberfläche
dergestalt, daß die feste Unterlage für die Beine der Thiere
und die Rüder des Wagens im Unendlichen liegt. Von der
Mühseligkeit, dauu in Ungarn zu fahren, fehlen nns die
Begriffe. Anstatt der 12 deutschen Meilen, die der Ungar
bei guten Wegen mit seinen zwei Pferden macht, muß er sich
im Winter und nach jedem größern Regen mit zwei oder
drei Meilen begnügen, wenn sein Gespann auch aus 4 oder
6 Pferden besteht. Deshalb muß im Winter aller Verkehr
stocken. Die Dörfer versehen sich im Herbste mit ihrem
Winterbedarf, und der Landwirth verfährt sein überschüssiges
Getreide vor Ausbruch des Wiuters, weint er es nicht bis
zum nächsten Sommer aufspeichert. Im Winter und bei
schlechten Wegeu würde sogar der Verkehr über die Gasse in
Stadt und Dorf aufhöret! müssen, wenn nicht durch hölzerne
Fußbahnen (Bohlwege) die Verbindung ermöglicht wäre. Und
selbst hier kommt es vor, daß mau eine viertel Stutide und
mehr zu gehen hat, um zu dem gegenüberliegenden Nachbar
zn gelangen. Man muß so lange der Straße entlang gehen
bis man einen Uebergang zu der auderu Seite gewinnt.
Eine kleine Illustration möchte vielleicht ein bezeichnenderes
Bild geben als unsere ganze Beschreibung: Ans dem Markt-
platze der Stadt Zombor verschwand vor einigen
Jahren eine Kuh in der unergründlichen Tiefe des
Schmutzes „uud ward nicht mehr gesehen".
Auf diesen schlechten Zustand der Straßen und auf dessen
52 Karl Andree: Betr.
großen Nachthcil für die wirlhschaftliche Entwickelung der un-
garischen Ebene wollten mir hinweisen, als wir oben sagten,
daß der Messias des Alföld erst dann kommen werde, wenn
selbst um Weihnachten die Möglichkeit einer Waldfahrt ge-
sichert sei. So schwer auch die Erfüllung einer solchen Ans-
gäbe sein mag, so wird die Zukunft doch nicht an der Mög-
lichkeit verzweifeln, wenn sie einmal deren Notwendigkeit
eingesehen hat.
Dem Mangel an Steinen verdankt die ungarische Ebene
auch die unansehnliche Bauart ihrer Häuser und dm
fast gänzlichen Maugel an bemerkenswerthen Baudenkmälern.
Wenn sich der Ungar der Ebene hoch versteigt, so nimmt er
als Baumaterial Backsteine aus schlechtem Thon. Für die
niederen Classen der Bevölkerung genügt aber eine Koth-
ziegelwand. Der ungarische Arbeiter baut sich mit größter
Leichtigkeit ein Haus, indem er zwei Bretterwände in der
Entfernung von 1V2 Fuß aufrichtet, dazwischen Erde wirft,
die Erde feucht macht und dann von seinen Kindern diese
Erdwand stampfen läßt. Morgen stellt er die beiden Bret-
terwände im rechten Winkel an die bereits fertige Dreckwand
und baut die zweite Wand, und wenn er so in 4 Tagen mit
dem Unterbau fertig ist, deckt er am fünften das lange Schilf-
rohr über den einzigen Quersparren seiner Hütte. Er schnei-
det Fenster in die Wände und die Dürre ist ihm behülflich,
die feuchten Kothwände rasch auszutrocknen und bald bewohnbar
zu machen. Hohe Häuser lassen sich aus solchem Stoffe natür-
lich nicht aufführen, uud wenn auch das Material noch so gut
wäre, so litte es der lose Untergrund nicht, daß man ihm eine
schwere Last auflegte. Deshalb find fast alle Häuser der
Ebene einstöckig, und selbst in den größeren Städten sind die
mehrstöckigen bald gezählt. Großartige Bauten aber fehlen
gänzlich.
Wir sind gewohnt, nicht von Ungarn zu hören, ohne daß
dabei der Pnszten Erwähnung geschieht. Das Wort Puszta
ist recht vieldeutig im Ungarischen. Ursprünglich heißt es
nichts Anderes als Wüste, und die Wüste Sahara heißt
auch beim Ungarn nicht anders als Sahara puszta. In einer
engern Bedeutung aber versteht man unter Puszta das un-
cultivirte Feld, also hauptsächlich die Hutweide für die zahl-
reichen Herden der Pferde, des Rindviehs, der Schafe uud
der Schweine. Noch vor zwanzig Jahren nahmen diese
Weide-Pnszten den größten Theil des Unterlandes ein. Da-
mals war die Weidenutzung die lohnendste, jedenfalls loh-
»tungen über Mexico.
nender als der Anbau mit Getreide. Als der Statistiker
Ungarns, Schwartuer, im Jahre 1809 noch 1300 Pnszten
rechnete, entschuldigte er die ungarische Sitte, viel Vieh
uud wenig Menschen zu ziehen, mit den Worten: „Das
Schaf wird nur für seinen Herrn geschoren, die tausend
Menschen aber, die auf jeder Puszta wohnen könnten, müssen
auch noch dem Könige uud dem Comitate zollen und auch
mehr Nahrung verlangen, als die Schafe."
Zeit und Erfahrung haben gezeigt, daß diese Berech-
nnng eine falsche war. Eben weil der Getreidebau so loh-
nend wurde, setzte man das Messer an die Puszta nnd zapfte
eifrig an ihrem nahczu unerschöpflichen Blute, von welchem
bereits zehn oder zwanzig fette Saaten sich genährt haben.
So groß auch immerhin heutzutage uoch die Weidestrecken
sein mögen, so ist doch der größte Theil der alten Puszta in
fruchtbares Kornfeld verwandelt. Die große Pnszta wird
immer seltener und es dürfte nicht unwahrscheinlich sein, daß
sie bald ganz verschwinden wird.
Wie es scheint, ist eine dritte Bedeutung des Wortes erst
jüngerer Natnt und erst aus der Aufteilung der alten Ge-
meindeweide hergeleitet. Einen entfernt vom Dorfe liegenden
Grundbesitz pflegt man gleichfalls Puszta zu nennen; solcher
Grundbesitz mag dann wohl einen Theil der alten Weide-
Puszta gebildet haben. Ebenso pflegt man die einzeln ge-
legenen Höfe Pnszten zu nennen, was wohl denselben Grund
hat, weil auch sie meist ans alter Hutweide angelegt sind.
Merkwürdiger Weise hat man in Süddeutschland mit dem
Begriffe des Einzelhofes gerade wie in Ungarn den der Wüste
verbunden: in Süddeutschland nämlich nennt man die Einzel-
Höfe Einöden.
Das Wort Puszta hat eine große Anhänglichkeit an das
magyarische Volk. Es bezeichnet immer das Element, in
dem die ungarische Volkswirthfchaft sich bewegt. Und wenn
in Zukunft ein Culturhistoriker die Geschichte der ungarischen
Cnltur schreiben wollte, so könnte er nicht unzweckmäßig fol-
gende Dreitheiluug annehmen: die erste Periode würde jene
Zeit umfassen, in welcher das Wort Pnszta so viel heißt wie
Wüste; in der zweiten heißt es so viel als Hutweide, und in
der dritten, welche bald anheben dürfte, wäre die vorzüglichste
Bedeutung die des Einzelhofes. Die Culturgeschichte Ungarns
würde in der ersten Periode die Nomadenwirthschast, in der
zweiten die Weide- und extensive Landwirthschast, und in der
dritten den intensivern Ackerbau darzustellen haben.
etrachtungen über Mezico.
Von Karl Andree.
II.
Ich lese in einer Decembernnmmer von „Galiguauis
Messenger", daß Mexico nach einer amtlichen Zählung,
welche von Seiten der kaiserlichen Regierung veranstaltet
wurde, in 20 Provinzen 7,995,426 Einwohner habe. Es
versteht sich gegenüber den wirren Zuständen von selbst, daß
diese Zahl nur eine annähernd richtige sein kann. Auch
kommt für unsere Betrachtungen daraus nichts an; die Haupt-
fache ist, daß wir die einzelnen Bestandtheile kennen
lernen, aus welchen diese Volksmasse zusammengesetzt ist.
Der amtliche Bericht bringt darüber Angaben, welche geradezu
Schrecken erregen müssen:
Weiße nur etwa..... 300,000 Köpfe,
Abkömmlinge von Indianern . . 800,000 „
Indianer........ 5,000,000 „
Mischlinge ....... 1,500,000 „
Europäer und Nordamerikaner etwa 40,000 „
Man sieht, die Zahlen treffen nicht genau zu, auch ist
nicht klar, was mit „Abkömmlingen von Indianern" gemeint
sein solle; man wird sie aber wohl den Mischlingen (Mestizen
und Zambos) hinzufügen müssen.
Für 1862 sind, wie wir früher im „Globus" (IV. 336)
mitgetheilt, 8,283,008 Seeleu angegeben worden. Das ist
Karl Andree: Betrachtungen über Merico.
53
viel zu hoch; wir wissen, daß die Bürgerkriege und die all-
gemeine Anarchie, mehrfacher Mißwachs und das weit ver-
breitete Räuberwesen einer Vermehrung der Volksmenge hin-
derlich waren; einer der besten Leute, welche Mexico gehabt
hat, der vor einigen Jahren verstorbene Finanzminister Lerdo
de Tejada, nahm für 1850 nur 7,661,919 Seelen an.
Wir greifen schwerlich fehl, wenn wir acht halb Millionen
als eine annähernd richtige Ziffer betrachten. Tejada, der
sein Land vortrefflich kannte, bemerkt, daß mindestens drei
Fünftel nnvermischte Indianer seien; von dem Reste
habe kaum ein Drittel europäisches Blut iu den
Adern, doch dürfe man hier nicht etwa eine strenge
Ahnenprobe anstellen. Das übrige waren Mischlinge.
Tejada sprach 1850 ein Urtheil aus, welches durch und
durch begründet ist, von anthropologischer Einsicht zeugt und
durch die ganze Geschichte Amerikas, insbesondere aber auch
durch jene Mexicos, bestätigt wird.
„Die Verschiedenheit der Racen ist das größte
Hinderniß für das Gedeihen und die EntWickelung
Mexicos gewesen und wird es auch sein und bleiben,
falls nicht eine von ihnen ganz unbedingte Ober-
Herrfchaft über alle anderen gewinnt. Denn durch
sie zerfällt die Volksmenge in Bruchtheile, die keine Ge-
meinsamkeit mit einander haben und völlig verschieden
sind durch ihren Ursprung, ihre Erziehung, ihre
Gewohnheiten und sogar durch ihre Sprache."
„Jede einzelne Abtheilung verfolgt Tendenzen
und hat Richtungen, welche jenen aller übrigen wi-
derstreben, und nimmermehr werden sie sich unter-
einander dahin verständigen, daß sie gemeinschaft-
lich auf eiueu und denselben Zweck, anf ein und
dasselbe Ziel hinwirken." (Tiene cada una de ellas
diversas tendencias, y jamas podran entenderse entre
si para trabajar unidas hacia un mismo fin. — Cua-
dro sinoptico de la Republicä mexica en 1 850.)
Damit ist ausgesprochen, daß die Wurzel alles Nebels iu
der ethnischen Anarchie, in der Znsammenhanglosigkeit
und in dem von Innen herauskommenden Widerstreite der
verschiedenen Volksbestandtheile liegt. Wer weiß ein Mittel,
diese tiefen Antagonismen zu beseitigen?
Hier haben wir also die Racensrage mit all dem Ver-
hängnißvollen, was in ihr liegt; haben den geheimnißvollen
aber nnvertilgbaren Widerstreit, der sich immer schärfer in
den Vordergrund rückt und in einer Weise Geschichte macht,
die uns Grauen erregt. Alexander v. Humboldt, welcher
sich mit der anthropologischen Seite der Naturwissenschaften
nicht eingehend beschäftigt hat, besuchte Mexico, als dasselbe
unter Herrschaft der Spanier stgnd. Durch diese wurde der
ethuische Gegensatz so weit nieder und im Zaume gehalten,
daß allgemeine und wilde Ausbrüche des Racenkampfes nicht
stattfinden konnten. Die Obergewalt der Weißen war un-
bestritten, die braunen, schwarzen und gelben Elemente blieben
gebunden und so kam es, daß, im Allgemeinen wenigstens,
Ruhe und Ordnung vorhanden waren.
Humboldt täuschte sich, als er für Mexico eine „glän-
zende/Zukunft" in Aussicht stellte. Er ließ die Vergangen-
heit und das Wesen der verschiedenen Racen außer Acht; die
physischen und moralischen Verhältnisse, welche das Leben
der Völker bestimmen und regeln, hat er hier nicht gewürdigt.
Er theilte übrigens seinen Jrrthnm mit fast allen hervor-
ragenden europäischen Staatsmännern, die in dem Wahne
befangen waren, daß die „Freiheit" allein auch bei Bevöl-
keruugeu von so buntscheckiger und gemischter Art Wunder
wirken werde. Der englische Anthropolog Knox saßte schon
vor längerer Zeit die Dinge richtiger auf; er sah die Anar-
chie voraus, welche über Amerika hereinbrechen müsse, als
das, was so lange latent und gefesselt gewesen, sich nnge-
bunden und ungehindert so geben konnte, wie es seiner eigent-
lichen Natur nach ist. Er äußerte in Bezug auf die poli-
tischen Phantasien Cannings: „Ein englischer Premierminister
kann allerdings wunderbare Dinge durchführen; er kann Könige
absetzen, durch ein Decret Königreiche ins Leben rufen, aber
eine Race machen, das kann er nicht."
Die Geschichte lehrt, daß die verschiedenen großen Ur-
oder Stammgruppen sehr verschieden geartet sind; wir finden
unter ihnen wesentliche Unterschiede und Abweichungen in leib-
licher, geistiger und sittlicher Beziehung. Die Blutvermi-
schuug zwischen verschiedenen Menschenracen, welche von der
Natur selbst so durchaus verschiedenartig angelegt sind, eine
Amalgamiruug zwischen höheren und niederen Racen, er-
giebt niemals etwas Harmonisches; die Mischlinge
haben in sich kein psychisches Gleichgewicht.
Berthold Seemann,'E.G. Sqnier, Richard Burton
und viele andere Reisende, welche als Anthropologen bcob-
achteten, heben die Thatsache hervor, daß vielfach eine Race
von der andern absorbirt wird, in derselben aufgehe, wo eine
Vermischung stattfindet. So das weiße Element in Central-
amerika und Mexico, seitdem kein regelmäßiger und frischer
Zugang aus Europa mehr erfolgt, im Jndianerthum. Das
Geheimniß der Selbsterhaltung ist leicht zu er-
gründen; die Weißen haben alle Ursache, ihr Blut rein zu
erhalten, die „Aristokratie ihrer Haut" zu bewahren; nur
um diesen Preis können sie sich überhaupt erhalten.
Das angebliche „Vornrtheil der Hautfarbe" beruht auf
einem richtigen, durchaus naturgemäßen Jnstinct, und
noch allemal und überall hat sich die Natur gerächt, wenn
man demselben zuwider handelte. Die Vermischung wirkt
nachtheilig auf die körperlichen, intellectnellen und moralischen
Eigenschaften und Begriffe derjenigen Völker, welche die
weisen Fingerzeige der Natur und ihre Gesetze außer Acht
lassen. Die Menschen, welche solchen Vermischungen ihren
Ursprung verdanken, haben im Allgemeinen in ihrer ganzen
Beschaffenheit große Mängel, und nicht selten treten diese in
einem solchen Grad hervor, daß sie gegenüber den reinen
Racen einen sehr unvortheilhaften Gegensatz bilden.
Ich habe schon vor Jahren iu meinen „Geographischen
Wanderungen" hervorgehoben, daß solche Mängel auch in
dem sich zeigen, was sich auf das staatliche Leben und
Treiben bezieht. Die anarchischen Zustände in den ehemals
spanischen Republiken Amerikas, mit fast alleiniger Ausnahme
von Chile, geben Zengniß vollauf. Wir sehen die ethni-
sche und die staatliche Anarchie überall, wo die nnbe-
dingte Gleichberechtigung aller Racen und Mischungen prak-
tisch durchgeführt worden ist. Jene Länder sind durch die
uneingeschränkten Raceuvermischungeu völlig demoralisirt
worden. Die höheren Typen werden, weil sie sich in einer
nur geringen Minderheit befinden, von den anderen zersetzt
und absorbirt; das aber ist gleichbedeutend mit einem lieber-
wiegen der Barbarei, durch welche die Culturelemeute entfernt
werden. Dieser Kampf dauert nun in einem großen Theil
Amerikas seit etwa einem halben Jahrhundert ohne Unter-
brechnng. In jenen sogenannten Republiken giebt es eben
keine Gesellschaft in unserm europäischen Sinne; Alles
in ihnen ist Abstoßung und Gegensatz, es fehlt an innerer
Durchdringung der einzelnen Bestandtheile.
Berthold Seemann, der jüngst in Nicaragua war, be-
tont ganz entschieden die Thatsache, daß die braunen Südsee-
insulaner auf einer höhern Civilisationsstnse stehen als die
Mischlinge in Centralamerika. Diese zeigen keine Fähigkeit,
die Grundsätze sich anzueignen, durch welche unsere bürger-
lichen, gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen bedingt
werden. Organisationen, wie wir sie haben, sind weder mit
54 Kar^ Andree: Betrc
Jnstinct und Anlagen oder den Gewohnheiten dieser Jndia-
ner, Neger, Mestizen, Mulatten und Zambos verträglich.
Auch eiue sorgfaltige Erziehung könnte ihnen dieselben nicht
einflößen; sie zeigen eben kein Verständniß dafür und sind
eben deshalb für eine praktische Ausübung derselben nicht be-
fcthigt.
Wer das im Auge behält, wird sich nicht darüber wnn-
dern können, daß die unbedingte Gleichstellung aller Raceu
und Mischlinge eine endlose Anarchie ins Leben gerufen hat
und allmonatlich Revolutionen erzeugt. Vou dem Tage der
Unabhängigkeit an bis heute sind diese Pfeudorepublikeu nie-
mals zn irgend welcher anhaltenden Ruhe gekommen, denn
eine Umwälzung'löst die andere ab. Mexico, welches aber
nicht etwa eine Ausnahme bildet, hat seit 1821 mehr als
45 Regierungswechsel geseheu und mehr als drei- oder vier-
mal so viele Revolutionen, die Hunderte von „Pronuncia-
nüentoö" ungerechnet. Die europäischen und Nordamerika-
nischen Staatsformen haben sich dort als durchaus uubrauch-
bar und unausführbar erwiefeu.
In Mexico ist die Zahl der eigentlichen Spanier auf
6000 Köpfe zusammengeschmolzen. In den Madrider Cortes
erstattete vor etwa vier Jahren ein Abgeordneter, Pacheco,
Bericht über seine Sendung nach Mexico. Das Ergebniß
seiner Beobachtungen lautet: „Die Elemente der Bevölkerung
von Mexico sind unfähig, aus sich heraus etwas Gedeihliches
zu gestalten. Ein großer Theil muß dem Untergang an-
heimfallen, insbesondere das europäische Element, sobald es
nicht wieder frischen Zuwachs aus der alten Welt bekommt.
Die Mischlinge aller Art können nicht dauern, sobald sie
nicht ununterbrochen frisches Blut aus den reinen Typen
erhalten. Ein Rückschlag zum Indianischen ist über-
all nicht zu verkennen; der Indianer aber ist im Wesent-
lichen noch so, wie zur Zeit der Entdeckung." —' Man muß
hinzufügen, daß zwar sein Naturell dasselbe geblieben, daß
aber durch die Eroberung uud deu Druck der Spanier ein
verhängnisvoller Bruch in fein ganzes Leben kam. Das
Alte verlor er und in das Neue und Aufgezwungene konnte
er sich nicht finden. Daher die allgemeine Verwirrung, für
welche sich bis jetzt keiu Ende absehen läßt.
Ich sagte oben, daß Mexico, richtig gezählt, von der Un-
abhängigkeit bis zur Gründung des offenbar auch nur ephe-
ineren Kaiserthums die Regierung 45 mal gewechselt habe.
Es hat weder die Dictatnr noch die republikanischen Formen
ertragen; der normale Zustand war, wenn der Ausdruck hier
angewandt werden könnte, eine wilde Anarchie. Die Bürger-
kriege sind aber immer mehr in Racenkriege ausgeartet
und das ist ihre schlimmste Seite.
Seit länger als zwanzig Jahren habe ich die mexicani-
schen Verhältnisse mit Interesse verfolgt. Man macht sich
in Europa nur schwer eine klare und richtige Vorstellung von
den: wirklichen Stande der Dinge in jenem Lande.
Wenn ich mich recht erinnere, so war es Montesquieu,
der das folgende Wahrwort aussprach: „Gott hat die schönsten
Länder der Welt zwei Völkern iu die Hände gegeben, welche
am unfähigsten sind, aus denselben etwas zu machen; ich
meine die Türken und die Spanier."
Der Satz ist vollkommen richtig. Das Unglück, der
Jammer, welcher auf Mexico lastet, dieser volkreichsten Be-
sitznng, welche die Spanier jemals besessen, hat zwei Haupt-
Ursachen: einmal die Nachwirkungen des grundfalschen und
grundverderblichen Systems, nach welchem das Mutterland
die Colonien regierte, sodann das ethnische Chaos, welches für
alle Creolenrepubliken oder, um den allerdings falfchen Ans-
druck Napoleon's zu wiederholen, für das „lateinifche Ame-
rika", so verhängnißvoll erscheint.
Gleich von den Tagen des Aztekenwürgers Corte; an
hingen über Mexico.
war das spanische Regiment auf Blut und Scheiterhaufen
gegründet. Von 1535 bis 1821 wurde „Neuspanien" von
Vicekönigen regiert; der letzte derselben, Don Juan O'Donoju,
der 63ste iu der Reihe, erkannte die Unabhängigkeit Mexicos
an. Die Politik des Madrider Hoses war mißtrauisch uud
voll Argwohns gegeu die eigenen Diener. Die Vicekönige
wurden allemal nach einer nur kurzen Amtsdauer wieder ab-
berufen. Sie mochten die ihnen gegönnte Zeit benutzen, um
sich zu bereichern, aber sie sollten nicht mit den Interessen
der Colonie verwachsen und iu derselben nicht Wurzel schla-
geu. Der Hof ernannte nur solche Männer, welche der
Geistlichkeit genehm waren, und diese übte thatsächlich eine
Controle über die königlichen Beamten aus. Mehr als ein-
mal hat der Erzbischos vou Mexico neben seinem geistlichen
Amte das eines Vicekönigs bekleidet. Die unheilige Jnqui-
sition drückte wie eiu schwerer Alp aus das ganze Leben und
verbrannte uach Herzenslust Alle, die ihr mißliebig und ver-
dächtig waren. Als das spanische Joch abgeschüttelt wurde,
hoben die Neuspanier neben vielen anderen Beschwerden auch
deu Umstand hervor, daß die christlichen Priester mindestens
eben so viel wo nicht mehr Menschen geopfert hätten, als die
aztekischen Priester in Moutezuma's Tagen dem Kriegsgotte
Huitzilopochtli. Spanische Beamte und Inquisitoren ver-
brannten Druckschriften lediglich aus dem Grunde, weil die
Creolen keinen Verstand zum Bücherschreiben hätten! Als
Regierungsgrundsatz galt, daß wo möglich gar keiu Aus-
länder die Colonie besuchen, noch weniger sich in derselben
länger aushalten dürfe. Europa follte nichts über diefelbe
erfahren, und was über Mexico im Druck erschien, unterlag
zuvor einer dreifachen strengen Censur. Erst durch Alexan-
der v. Humboldt's Werk über Neufpanien wurde man iu
Europa näher mit den Verhältnissen desselben bekannt*).
Nach allen Seiten hin lag schwerer Druck auf dem schönen
Lande. Das Monopolwesen der Regierung ließ keiue Be-
triebsamkeit und EntWickelung zu, alle Kräfte blieben gebnn-
den. Mexico durfte nur spanische Maaren und diese in
spanischen Fahrzeugen beziehen; eine eigene Rhederei war
ihm nicht gestattet. Kein Mexicaner durfte Bergbau auf
Eisen treiben, er sollte nur altspanisches Eisen verwenden;
er durste weder Weinreben noch Oelbäume pflanzen; der
Anbau von Hans, Flachs und Safran war ihm unbedingt
verboten. Selbst von j>en Weißen lernten verhältnißmäßig
sehr wenige Lesen und Schreiben; für Indianer nnd Misch-
linge Schulen zu gründen, ist der übermäßig reichen Geist-
lichkeit selten in den Sinn gekommen. Die Bekehrung zum
Christenthum besteht lediglich in äußerem Formelwesen, aber
die Racenantipathie tritt auch dabei hervor. Die Jndia-
ner wenden sich von weißen Christus- und Madonnen-
bildern ab; sie haben ihre eigene Schutzheilige, „Unsere Mut-
ter Gottes vonGuadalupe", deren Puppe nicht weiß, sondern
braun ist. Auch ist dieses Bild, natürlich in „wnnderthä-
tiger Weise", nicht von einem Europäer, sondern von einem
Indianer aufgefunden worden.
Ueber das weite Land lag eine schwarze Nacht der Un-
wissenheit. Endlich kam die Krisis. Das Mutterland fiel
einem Napoleoniden zur Beute, Neuspanien jedoch blieb noch
*) Die Zustände in Mexico und Guatemala, wie sie sich gestal-
tet hatten als die Spanier etwa ein Jahrhundert lang im Lande ge-
wesen waren, sind bekanntlich von Thomas Gage geschildert wor-
den. Dieser englische Dominikanermönch kam 1629 ins Land, ver-
weilte dort länger als zehn Jahre und veröffentlichte, zum Entsetzen
der Regierung und der Geistlichkeit Spaniens, ein Buch, in welchem
er mit rücksichtsloser Wahrheitsliebe die abscheuliche Tyrannei der Spa-
nier schilderte. Das Werk gehört zu den interessantesten, die jemals
geschrieben worden sind und ich werde gelegentlich näher auf dasselbe
eingehen, weil es, obwohl fast drittehalbhundert Jahre alt, doch Schlag-
lichter auf die Verhältnisse des heutigen Mexico wirft.
Karl Andree: Betrachtungen über Mexico.
!> ly
dem legitimen König aus dein Hanse Bonrbon getreu. Aber
nicht lange. Manche weiße Mexicaner (Creolen) hatten
Europa besucht itnb von da die freisinnigen Anschauungen
mitgebracht, welche das achtzehnte Jahrhundert kennzeichnen.
Die Principien der französischen Revolution drangen bis
über den Oceau, und nach und nach wurde die geistige Gah-
rnng unter den Creolen allgemein; sie waren der langen
Zurücksetzung gründlich müde geworden. Wodurch, so fragten
sie, ist Spanien, das uns wie Stiefkinder behandelt und uns
lediglich ansbenteu will, berechtigt, uns in zweite Linie zu
stellen und zurückzusetzen; weshalb werden die höheren Aem-
ter und Würden uns vorenthalten, warum sollen die Gachn-
pinos (so bezeichnet man die in Europa gcboreucu und nach
Mexico hinübergekommenen Spanier) eine uns gegenüber
Privilegirte Kaste bilden? Wir verlangen Gleichstellung.
Das große Wort war ausgesprochen und der Vicekönig,
nun der Bedrängte, konnte nicht umhin, einige Zugestand-
nisse zu machen. Aber schon diese erregten Erbitterung unter
deu Privilegium; sie erklärten den Vicekönig Jtnrrigaray
für einen Hochverräther, nahmen ihn (im September 1808)
gefangen und schickten ihn nach Spanien.
Damit hatten die Altspanier das erste Beispiel von Auf-
lehnung gegen den Stellvertreter ihres Monarchen gegeben.
Der Damm war durchbrochen und die wilden Wasser der
Revolution strömten unaufhaltsam ein. Es war die Absicht
der Creolen, alle Gachupiuos aus dem Laude zu vertreiben.
Schon damals spielte die napoleon ische Politik in die
mexikanischen Wirren hinein. Joseph Bonaparte, König
von Spanien, knüpfte durch seinen Agenten Desmolard Ver-
bindungen mit den Creolen an und stachelte sie gegen die
Bonrbons auf; er versprach Gleichberechtigung und politische
Freiheit. Die Bicekönige Garibay und Lizana hatten alle
Privilegien der Altspanier wieder hergestellt; die Folge war,
daß Geheimbünde entstanden und Pläne zur Abschüttelung
des spanischen Joches entworfen wurden. Die Verschwörung
kam zum Ausbruch, die Revolution war da. Es ist bezeich-
nend, daß der Mann, welcher zuerst die Fahne des Aufstau-
des erhob, ein Mestize und Geistlicher war, der Pfarrer
Hidalgo; ihm folgte im Süden ein anderer Pfarrer und Misch-
lnig, Morelos, der Vater des in unseren Tagen oft genannten
Generals Nepomnceno Almonte. Jene beiden Priester be-
fehligten bald mehr als eiumalhunderttauseud Indianer.
Diese folgten ihnen blindlings und zum ersten Male feit
Jahrhunderten trugen die braunen Leute wieder
Waffen; sie führten Krieg gegen die Weißen. Hier liegt
der verhängnisvolle Wendepunkt iu der mexicanischen Ge-
schichte. Von 1810 spielt gerade die Geistlichkeit eine
hervorragende Rolle in allen Revolutionen — sie oder die
Indianer gaben allemal den Ausschlag.
Spanien suchte sich in Mexico zu behaupten, aber schon
1821 war seine Sache verloren. Der Verrath, welchen ein
Ehrgeiziger Soldat, der General Jtnrbide, an seinem König
übte, wurde entscheidend. Der Vicekönig Apodaca hatte ihn
gegen den Äufurgeutenführer Guerrero geschickt, aber er be-
kämpfte ihn nicht, sondern machte gemeinschaftliche Sache mit
ihm, erklärte Mexico für unabhängig und ließ sich im Mai
1822 zum Kaiser ausrufen. Gegen ihn zettelte dann einer
seiner Günstlinge, der Verrath mit Verrath vergalt, Lopez
de Santa Anna, eine Verschwörung an, entthronte den
Kaiser und proclamirte die demokratische Föderativrepublik.
Als der vertriebene Jtnrbide abermals in Mexico erschien,
um seinen Thron wieder aufzurichten, erschoß man ihu.
Seitdem ist Alles im Schwanken geblieben, das Experi-
mentiren nnd die Anarchie haben kein Ende genommen; eine
Regierungsform und ein politisches System solgte dem an-
dern und allemal in jähen Sprüngen. Mexico hat alles
Denkbare und Mögliche probirt: Kaiserthum, demokratische
Föderativrepublik, ceutralisirte Republik und Dictatnr und
dabei Präsidentenwechsel gehabt, wie sie sonst in der Welt
in solcher Menge nicht vorgekommen sind. Santa Anna
z.B. ist siebenmal vomPräsidentenstuhle hinabgeworfen wor-
den und zweimal Dictator gewesen.
Die Volksmassen sind in Mexico wie weiches Wachs, das
bald von einem Dictator, bald von der Geistlichkeit, dann
von einem säbelrasselnden General oder von einem radicalen
Politiker sich kneten läßt. Diese alle sind Demagogen und
haben mit der unwissenden, buntscheckige« Menge ein nin so
leichteres Spiel, da dieselbe für jeden beliebigen Plan in Be-
wegnng gefetzt werden kann. Es ist unzählige Male vor-
gekommen, daß eine nnd dieselbe Stadt oder Landschaft im
Verlauf eines einzigen Jahres sich für zwei oder drei einan-
der schnurstracks zuwiderlaufende „Pläne", d.h. Revolutious-
Programme, erklärte. In Mexico hat man selbst den Be-
griff von dem verloren, was Autorität ist; man kennt keine
solche, weder der Menschen, noch der Gesetze. Alles ist zer-
klüftet und atomistisch zersplittert.
Im Jahre 1857, als die Unordnung in Mexico ärger
als je zuvor war, sprach ich folgende Ansicht aus, der ich
auch heute beipflichte: „Mancher meint wohl, daß eine straffe
Einherrschaft diesen Wirren ein Ende machen könne, aber
diese Auffassung hält nicht Stich. In Mexico würde selbst
das Genie Friedrich des Großen oder Napoleon's oder die
Weisheit des belgischen Leopold weder Hülfe noch Rettung
bringen. Das Volk verträgt keinen Zwang und keine Frei-
heit; es schwankt immer zwischen Anarchie und Dictatnr.
Es giebt ja kein Mittel, das Blut zu ändern, und
der Fehler liegt eben im Blute. Eine Aenderung ist
nur möglich, wenn ein kräftiger Menschenschlag zu Hundert-
tansenden und Millionen ins Land einströmt, die Waffen
und das Regiment in die Hände nimmt uud Alles — Creo-
len, Mischlinge nnd Indianer — unter Gehorsam zwingt.
Der Starke und Fleißige behält am Ende Recht, der Schwache,
Znchtlose und Träge muß unterliegen nnd sich fügen. So war
es zu allen Zeiten und in Mexico wird es nicht anders sein."
Präsident Arista schloß 1852 die Sitzung des mexicani-
scheu Congresses mit folgenden Worten: „Als Sie sich hier
versammelten, durchdrang mich die Beforgniß, daß Ihrer hier
keine andere Aufgabe harre, als die traurigste, welche dem
Menschen zu Theil werden kann: dem Leichenbegäng-
nisse des Vaterlandes beizuwohnen."
56
Die Völkerbewegungen am obern Niger.
Iie HölKerbewegungen am obern Alger.
General Faidherbe über iseiiegambicn.
Die Fnlbe und ihre Machtentwickelnng.
Mage und Quentin.
Der König von Sego, — Die Reisenden
Wir haben neulich gemeldet, daß die beiden Reisenden
Mage und Quentin nach mehrjähriger Abwesenheit vom
obern Niger in St. Louis am Senegal eingetroffen und im
September 1866 nach Frankreich zurückgekehrt sind. Ihre
Gesundheit hat schwer gelitten, aber sie sind außer Lebens-
gesahr und arbeiten an einem Werke, das ohne Zweisel wich-
tige Ausschlüsse Uber die Wirren in jenen Regionen geben wird.
Aufmerksame Leser des Globus erinnern sich maucher
unserer Artikel, in denen wir die Kämpfe schilderten, welche die
Franzosen am obern Senegal mit dem Hadsch Omar zu
sühren hatten. Als er sich ihnen nicht gewachsen sah, zog er
an den obern Niger, eroberte Hamdallahi, die Hauptstadt
des westlichen Fnlbereiches Massina, tödtete dessen Herr-
scher, trachtete dahin, sich auch zum Gebieter von Timbuktu
zu machen, starb aber vor zwei Iahren, wir wissen noch nicht
auf welche Weise, denn sein Ableben wird verheimlicht. Drei
seiner Söhne sind Könige am obern Niger; einer residirt in
Sego, und bei diesem mußten die beiden französischen Rei-
senden längere Zeit verweilen; ihren Plan, nach Timbnktn
vorzudringen, konnten sie bei der allgemeinen kriegerischen
Verwirrung nicht ausführen.
Wir schicken diese Notizen voraus, um die nachfolgenden
Bemerkungen des Generals Faid herbe (Nouvelles Annales
des Yoyages, Oetober 1866) einzuleiten. Diefer ausgezeich-
nete Mann war zwei Mal Gouverneur von Senegambien
und verwaltete die Colonie ganz vortrefflich. Er kennt Nord-
und Westafrika gründlich und was er sagt, ist immer, weil
von Gewicht, der Beachtung Werth. Auch war er es, von
welchem Mage und Quentin den Auftrag erhielten, die Zu-
stünde am ober» Niger näher zu erforschen.
Dort machen die Fulbe (Puls, Peuls) reißende Fort-
schritte; sie wollen die Lehre des Propheten von Mekka in
ganz Centralafrika zur Herrschaft bringen. Von woher
stammen eigentlich diese Fulbe (Fellatah der Araber)?
Heinrich Barth meint, sie seien von Osten her gekommen;
doch hat er eine Menge historischer Angaben gesammelt, die
es ihm unzweifelhaft erscheinen lassen, daß ihr Ursitz im
westlichen Sudan, am Senegal, sei; aber er kann nicht
umhin, einzuräumen, daß sie allerlei Uebereinstimmendes mit
asiatischen Völkern und nicht mit jenen Senegambiens haben.
Er fragt sich, ob sie nicht einst die überwiegende Mehrzahl
der Bevölkerung im vormaligen Königreiche Ghana ge-
bildet hätten und dann durch die Berberu nach Südeu bis
zum Senegal zurückgedrängt worden feien, von wo sie dann,
nach Osten vordringend, den Sudan eroberten.
Jenes Reich Ghana war ein großer sudanesischer Staat,
zu welchem auch die Gegend gehörte, in welcher nun Tim-
buktu liegt. Auf ihn trafen die Berbern, als sie bis an den
Südrand der großen Wüste vorgedrungen waren. Faidherbe
hat seine frühere Ansicht, daß die Bewohner von Ghana mög-
licherweise hätten Fulbe seiu können, fallen lassen. Ein
Hauptgrund dafür ist folgender. Wenn sie vor vierzehn Jahr-
Hunderten die Hauptbevölkerung eiues großen Reiches bilde-
ten, wie käme es dann, daß wir sie später als Hirtenstämme
finden, welche verschiedenen Negerkönigen nnterthan waren?
Erjt im 16. Jahrhundert und uach manchen Religionskriegen
machten sie sich unabhängig, und mächtige Staaten bildeten
sie erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts.
Die Bevölkerung von Ghana bestand nicht, wie Barth
gemeint hat, aus Fulbe, fouderu aus Soniuke, einem sehr
schwarzen, eiugebornen Volke. Faidherbe glaubt nachweisen
zu können, wie dasselbe anfangs vor den Berbern nach Sü-
den hin zurückwich, späterhin vor den Mohammedanern über-
Haupt, besonders nachdem die Congregation der Mara-
b uts (Morabiteu, Morabtius, Almoraviden) großen Einfluß
gewann. Sie entstand im 11. Jahrhundert am Senegal nn-
ter den Lemtnna, einem Stamme der Zenaga-Berbern,
und dnrch sie erhielt der Fanatismus, welcher um jeden Preis
die Schwarzen bekehren wollte, neue Antriebe. Nebenher war
dieses Geschäft auch profitabel, denn widerspenstige Heiden
wurden nach der Nordküste gebracht und dort als Sklaven
verkauft.
Was alfo das vielbesprochene Ghana betrifft, so bildeten
in demselben die Soninke das herrschende Volk; das Reich
hatte vom 4. Jahrhundert n. Chr. eine lauge Reihe einhei-
mischer Könige. Diese wurden im 11. Jahrhundert zurück-
gedrängt durch berberische Zeuagastämme, welche damals Ge-
bieter von Sedschelmessa (Tasilelt) waren, dem Kernpunkte
der berberischen Colonien in der Sahara. Der Sitz der
Königsgewalt in Ghana wurde damals uach Aukar (Walata,
Viru) verlegt, das etwa 60 deutsche Meilen westlich von
Timbuktu liegt. Dort trafen dann die Soninke zusammen
mit den Zenaga-Berbern, diesen Molaththemin, den Ver-
schleierten, sogenannt vom Worte Litham, dem Schleier,
welchen noch heute alle Tuareks tragen, und diese gehören be-
kauutlich zur Race der Zenaga. Im 13. Jahrhundert uuter-
lagen die Soninke dem Eroberer Mali, Herrscher einer den
Soninke verwandten Nation, welche wir als Malinke oder
Mandingos bezeichnet. Ihr Stammland liegt am Nord-
abHange des Konggebirges und von Futa Dialo, in der Re-
gion, welche in alten arabischen Werken als Wangara be-
zeichnet wird. Im 15. Jahrhundert kamen die Souiuke
wieder empor in Walata; an ihrer Spitze stand Soni-Ali,
dessen Gebiet nach Westen hin bis Adrar (20° N., 15" W.
von Paris) reichte. Er erlaubte den Portugiesen, dort eine
Factorei zu gründen. Im folgenden Jahrhunderte müssen
dann aber die Soninke nach Süden zurückweichen, und sie
setzen sich in Kaarta fest (in Koniakari). Dort werden sie
vertrieben von Hirten, welche bis dahin ihre Unterthanen ge-
wesen, von Puls (Füllje), welche das kleine Königreich Chasso
(Khasso) bildeten und dessen Hauptstadt Koniakari war. Die
Soninke kamen dann an den Senegal und gründeten Kad-
schaga (das Land Bakel) und dort wohnen sie noch heute.
Die Soninke sind stolz auf ihre Vergangenheit, nament-
lich sind es die Bakiri, ihre gegenwärtigen Häuptlinge.
Unter alleu schwarzen Völkern Senegambiens sind sie die
intelligentesten. Auf ihrem Rückzüge nach Süden hin ließen
sie unterwegs einige Stämme fitzen; so die Diawara in der
Provinz Nioro (Kaarta); die Diasuna, weiter nach Osten
hin auch in Kaarta, sodann die Guidimakkas in Gan-
gara, am rechten User des Senegal zwischen Bakel und
Medine.
Wir wenden uns wieder zu den Puls, welche von Ge-
ueral Faidherbe, der sie genau kennt, in folgender Weife ge-
kennzeichnet werden. Sie fallen uus auf durch feine Körper-
formen, große Beweglichkeit, einen im Allgemeinen sanften
Die Völkerbewegunc
Charakter, sind aber sehr erregbar und von einer exaltirten
Leidenschaft. Ich glaube, sie sind aus Ostafrika gekommen,
etwa aus Ober-Aegypten, vielleicht noch von weiterher, und
verbreiteten sich bis in den westlichen Sudan, wohin durch sie
der große Buckelochs kam und außerdem eiue Art behaarter
Schafe, welche ursprünglich diesen: Theil Afrikas nicht ange-
hören. Sic setzten sich als Sieger in Fnta Toro am Se-
negal fest, fchon im 16. Jahrhundert, und dort tritt nun eine
interessante physiologische Erscheinung hervor.
So lauge die Fulbe ihr Blut unvermischt erhielten,
ging ihnen offenbar die Fähigkeit ab, große politische Gemein-
weseu zu bilden. Jetzt aber fand zwischen ihnen einer-
seits uud den Uolofs und Mandingos andererseits
eineKrenznng statt, derenProdnct dieToucouleurs bil-
den. Jene beiden Völker waren von den Fulbe besiegt worden.
Durch die Blutmischuug erhielten diese einen mehr Positi-
ven und praktischen Zuschnitt und mehr Subordinationsgeist;
auch gewann ihr Körper mehr Muskelstärke und es kam in
die bisherige» Hirten eine gewisse Anhänglichkeit an Boden
und Ackerbau. So wurden die Toncnlenrs vonFnta Toro
fähig, große Reiche zu stiften, nachdem sie im 18. Jahrhun-
dert den Islam angenommen hatten. Durch diese» erhielten
sie neue Antriebe und wurden nun Eroberer.
Erst im 18. Jahrhundert entstanden, unter Ab du el
Kader, Beherrscher von Fnta Toro, die Torodo am Se-
negal, eine religiöse Aristokratie, welche von Toucouleurs,
also Mischlingen von Fulbe uud Schwarzen, gebildet wurde.
Sie spielte sehr bald im Strombecken des Senegal eine her-
vorragende Nolle, verschaffte sich in den französischen Facto-
reien Feuerwaffen uud Schießbedarf und gewann dadurch
rasch ein großes Uebergewicht.
Nach Abdn el Kader trat zu Eude des vorigen Jahr-
Hunderts ein anderer Marabnt aus, der gleichfalls aus dem
senegambischen Futa stammte. Das ist der berühmte Oth-
man dan Fodio, welcher zwischen dem Niger und dem
Tschad-See aus deu Trümmern von Haussa und der umlie-
genden Länder das große östliche Fnlbereich gründete.
Bei seinem Sohne Mohammed Bello erschienen 1825 die
englischen Reisenden Denham und Clapperton, durch welche
wir in Europa zuerst nähere Kuude über dieses Reich er-
hielten.
dieses östliche Fnlbereich kann nun als festbegründet an-
gesehen werden, obwohl es noch immer Kriege mit den unter-
fochten Völkern zu führen und Aufstände niederzuschlagen
hat. Doch scheint es jetzt einer vergleichweisen Ruhe zu ge-
nießeu, nachdem der Islam im centralen Sudan unbedingt
zur Herrschaft gelangt ist. Barth hat über die Verhältnisse
aus eigener Anschauung eingehende Nachrichten gegeben. Er
wurde von Atin, dem zweiten Nachfolger Bellos, wohlwol-
lend aufgenommen.
Mage und Quentin waren weniger glücklich als der
deutsche Reisende. Sie kamen mitten in die wilden Wirren
hinein, durch welche die Gegeudeu am obern Niger zerrüttet
werden. Denn dort streiten jetzt zwei Parteien heftig um
dle Herrschaft.
Nach Abdu el Kaders Tode 1770 konnten sich die To-
rodo, dle Marabuts des senegambischen Futa, großer Erfolge
rühmen. Ihre Krieger, die zugleich Missiouaire für die Aus-
breitung des xStflam waren, gründeten Herrschaften in Haussa
uud in Massina, die letztere unter Scheich Amadn Labbo,
am Niger zwischen Sego und Timbuktu; sodann jene von
Fnta Dialo, welchen die Küste vom Casamancestrom bis nach
Sierra Leone hin untergeben ist. Diese alle waren bis in die
neueren Zeiten in leidlicher Ruhe. Sie bekamen von den
Franzosen eine Art Tribut, fingen aber fast in jede»: Jahre
allerlei kleine Streitigkeiten mit den Gouverneuren an. Da
Globus XI. Nr. 2.
l am obern Niger. 57
erhob sich im Jahre 1854 ein Torodo aus der Umgegeud
vou Podor, El Hadsch Omar, predigte deu heiligen Krieg
gegen die Ungläubigen, wurde aber von den Franzosen überall,
so weit der Senegal schiffbar ist, zurückgeschlagen und wandte
dann alle feilte Kräfte auf, um am obern Senegal und obern
Niger ein mächtiges mohammedanisches Fnlbereich zu grün-
den, gleichsam ein Nebenstück zu jenem, welches Dansodio im
Osten zusammenerobert hatte. Schon 1862 hatte er ein
Gebiet von etwa 80,000 Qnadratlieues unterworfen, man er-
kannte selbst in Timbuktu seine Oberherrschast an, nachdem
er das Reich Massina bezwnngen hatte. _
Omar hatte sei» neues Reich zunächst aus den Trüm-
mern zweier bis dahin noch heidnischen Staaten oder Länder
gegründet: Kaarta, am rechten User des obern Senegal,
und Sego oder Segn, am obern Niger. Beide waren im
Besitz der Bambara, oder Bamana wie sie selber sich
nennen, und diese gehören zu der großen Völkergruppe der
Mandingos oder Malinke. An Farbe und Haar sind sie
wie andere Neger, aber diesen allen weit überlegen und viel
weniger unintelligent; auch haben sie eiue kuochige, gut eut-
wickelte Nase. Zwischen ihnen und den Schwarzen an der
Guineaküste finden wir einen ganz enormen Abstand. In
jenen beiden Staaten hatten sie zwei absolute Monarchien,
in denen sogar eine Art von stehender Armee gehalten wurde,
welche aber, selbst die Befehlshaber eingeschlossen, nach uralt
afrikanischer Art aus Sklaven bestand; diese Kriegerskla-
ven hatten ihrerseits wieder ihre eigenen Arbeitssklaven.
Null kamen aber Aufstände vor ltxtb dann wechselten die Rol-
len; die Sklaven wurden Gebieter und umgekehrt. So ge-
schah es im 18. Jahrhundert in Sego. Es war begreiflicher-
weise viele Zerrüttung in diesen schwarzen Königreichen. Als
nun die Mohammedaner gegen sie anstürmten, brachen sie
zusammen. Diese verkündeten Gerechtigkeit und Gleichheit
aller Gläubige» vor Gott. Omar kam mit dei» Schwert
u»d mit dem Koran.
„Man hat nicht selten gefragt," so äußert sich General
Faidherbe, „ob die Annahme des Islam für die
Schwarzen einen Fortschritt bedeute? Sobald der-
selbe in Berührung mit höher entwickelten, aufgeklärten Ge-
sellschaften geräth, treten sofort scharf die Mängel hervor,
welche ihm anhaften, aber gegenüber solchen Zustünden, wie
wir sie bei deu schwarzen Fetischanbetern finden und wo es
kein anderes Gesetz giebt als den Willen und den Eigensinn
des Gebieters, dort ist er ein Fortschritt. Hier nur einen
Beleg. Im Jahre 1640 verbot der heidnische König
vonCayor, DanDemba, seinen Unterthanen, Salz
an ihre Speisen zu thuu, deuu es sei uicht zu dul-
deu, daß sie Gewürz äßen, dessen auch ihr Herrscher
sich bediene."
„Die muselmännischen Kadis lassen gewiß Manches zu
wünschen übrig, wenn sie Recht sprechen; aber sie bleiben doch
ein großer Fortschritt, wenn man sie den Fetisch-Oberpriestern
gegenüberstellt, die zugleich Minister, Zauberer und amtliche
Vergifter bei deu heidnischen Negerkönigen sind."
El Hadsch Omar und seine Söhne eroberten also wäh-
rend der letztverflossenen Jahre ein neues westliches Fulbereich
zusammen. Der Berührungspunkt desselben mit den fran-
zösischen Besitzungen liegt in der Nähe von Medine, das
etwa 250 Lieues von der Strommündung entfernt ist. Die
Fulbe kaufen Waffen ititb Schießbedarf von den Franzosen,
die ihnen näher sind als die Engländer am Gambia.
Nun wurden, wie wir im „Globns" oftmals erzählt haben,
im Jahr 1863 die Herren Mage uud Quentin vom Gon-
verneur Faidherbe abgeschickt, um mit der neuen Macht dar-
über zu verhandeln, daß noch über Medine hinaus, weiter
nach dem Innern hin, Handelssactoreien der Franzosen ge-
8
58 Die Völkerbewegun
gründet werden könnten. Aber die Reisenden fanden, wie
schon gesagt, Alles in Verwirrung; die heidnischen Völker-
Haben ihre Waffen noch nicht abgelegt und die Muselmänner
machen die größten Anstrengungen, um das, was Hadsch
Omar begonnen, zu vollenden und definitiv jene fchönen und
fruchtbaren Länder zu unterwerfen.
Die altafrikanische, barbarische Welt hat durch den Islam
eine Art von Wiedergeburt erfahren; sie ist durch Fanatis-
mus galvauisirt worden. Die Mohammedaner begreifen aber
sehr wohl, daß der Einbruch der Europäer, sainmt Waaren
uud Jdeeu, vom Senegal her stattfinden werde, und sie folgen
also nur einem richtigen Jnstincte, wenn sie einem solchen
Andränge alle Hindernisse in den Weg legen.
Mage und Ouentin gelangten am 28. Februar 1864,
auf dem Wege Uber Bafulabe, Knndian, Diangunte und
Niamina, in Sego au und wurden von dem dortigen Könige
Ahmcdu et Mekki, einem Sohn HadschOmar's, sehr gut
ausgenommen. Ahmedu's Mutter ist die Schwester des weiter
oben erwähnten Königs Alm. Der alte Hadsch Omar war
in Hamdu Allah (Hanidallahi), der Hauptstadt vou Massina,
gefangen genommen und getödtet worden; aber sein Sohn
leugnete die Thatsache ab. Denn er hält es für nöthig, daß
die unterworfenen Völker fortwährend glauben, der alte ge-
waltige Krieger weile immer noch unter den Lebenden.
Am Ende des Jahres 1864 schickten die Reisenden zwei
Eilboten nach St. Louis am Senegal; sie wurden sogleich
wieder abgefertigt und nahmen Briese an Ahmedn mit, in
welchen derselbe gebeten wurde, die Heimkehr der beiden Eu-
ropäer zu beschleunigen. Jene Boten wurden aber lange Zeit
in Nioro, der alten Hauptstadt von Kaarta, aufgehalten uud
waren von aller Verbindung mit Sego abgeschnitten, weil
die Provinz Bachnlu gegen die Fulbe rebellirt und ein
Bündniß mit dem mächtigen arabischen Stamme der Uled
Embarek abgeschlossen hatte. Von St. Louis schickte Faidherbe
dann denSpahilientenant Perraud ab, welcher am 10. Fe-
brnar 1865 jene beiden schwarzen Boten noch in Nioro fand.
In der Umgegend von Sego selbst hatten sich die Bambara
empört; an ihrer Spitze stand Mari, der letzte Sohn oder
ein Neffe des Königs Mansgong, welcher in Sego herrschte,
als Mungo Park dorthin kam. Nenn oder zehn feiner Söhne
regierten dort nacheinander, bis Omar 1861 die Stadt nahm.
Mari lag mit 12,000 Mann in einem Dorfe wenige Mei-
len von Sego, aber Ahmedn schlug ihn aufs Haupt. Mage
nahm an der Schlacht Theil. Er that es, weil am Hofe
Ahmedu's eine Partei den Franzosen feindlich ist, und diese
wollte er zum Schweigen bringen. Etwa 3500 Bambaras
wurden getödtet und einige Tausend Frauen erbeutet.
Damals war deu Reisenden die Rückkehr unmöglich,
weil auch nach Westen hin Alles in Verwirrung stand. Im
April 1865 griff Ahmedn das Dorf Dina an; dasselbe liegt
oberhalb Sego zwischen Bammakn und Niamina. Mage
nahm auch diesmal am Kampfe Theil und wurde leicht ver-
wuudet. Von Juni bis September 1865 belagerte Ahmedn
das große Dorf San fand ig am Niger und blieb in der Re-
genzeit 62 Tage vor dem Platze liegen; in diesem herrschte ent-
setzliche Hungersnoth. Dann kamen demselben 10,000 Mann
n ain obern Niger.
zn Hülse, warfen sich in den Platz und es folgten mehrere
blutige Kämpfe. Plötzlich hob Ahmcdu die Belagerung anf,
weil Sego von Mari bedroht wurde; die Verwundeten wnr-
den auf dem Niger dorthin gebracht. Mage erkrankte, aber
Ahmedn versprach, ihm am I.Juni 1866 eine Bedeckung zn
stellen, die ihn sicher nach Kaarta bringen folle. Sie bestand
aus 400 Reitern, welche dann in Kaarta recrntiren sollten.
Nach 21 Tagen kamen beide Europäer wohlbehalten in
Medine an, waren also nun anf französischem Boden. Sie
verdienen das größte Lob für ihren Mnth und ihre Ausdauer.
Ahmedn hat sich bereit erklärt, europäische Waare gegen eine
Eingangsabgabe von 10 Procent iu sein Gebiet zu lassen.
Durch einen Vertrag vom August 1860 ist die Grenze zwi-
schen den Staaten des Hadsch Omar und deu französischen
Besitzungen, und zwar mit gutem Vorbedacht, derart festge-
stellt worden, daß Bafulabe, 40 Lieues oberhalb Medine,
alfo etwa 300 Lienes von der Senegalmündung entfernt,
bei jeder den Franzosen passend erscheinenden Gelegenheit, in
Besitz genommen werden darf.
Mage meint, daß jetzt die Aussichten Ahmedu's uicht
günstig seien. Er hat in Sego 15,000 Mann, wovon
10,000 Sklaven, und zwar zumeist Söhne jener Kronsklaven
des Königs von Sego sind, die in den Kämpfen mit Omar
getödtet wurden. Etwa 3000 derselben zählen nicht über
17 Jahre. Ahmedn ist energisch, hat aber alle Hände voll
zu thuu und muß alle Augenblicke Aufstände niederschlagen.
Man trägt das. Joch mit Widerwillen nnd der Herrscher
hätte Verstärkungen von Toncouleurs aus Fnta sehr nöthig.
Mage wagt nicht zu sagen, was aus alle dem herauskom-
meu werde.
In der Region nigerabwärts von Sego bis Timbuktn
standen die Dinge im Sommer 1866 folgendermaßen. Ein
Neffe Omar's hatte in Massina zu kämpfen mitBa Labbo,
dein Erben des von Omar bezwungeneu und Hingerichteten
Königs Ahmedn Labbo, und dieser Ba Labbo war gleichzeitig
im Kriege mit Sidi, dem Nachfolger des durch Heinrich
Barth so allgemein bekannt gewordenen Scheich Ahmed Bekkay
von Timbuktu. Es ist wahrscheinlich, daß die Timbuktier,
welche sich auf die Saharier und namentlich auf die Auelim-
miden-Tnareks stützen, Alles aufbieten werden, um sich von
den Fnlbe wieder durchaus unabhängig zu machen, und die
günstige Gelegenheit dazu ist jetzt gegeben. Denn die Fnlbe
liegen, wie bemerkt, einander selbst in den Haaren; die einen
haben Partei für die altregierende Familie in Massina, also
für Ba Labbo, genominen, und die anderen stehen auf Seiten
Ahmedu's von Sego. —
Mit Mage's und Qnentin's Rückkehr werden vorerst wohl
die Reifen nach dem obern Niger ihren Abschluß gefunden
habeu. Seit 1859 wurden durch die Franzosen von St. Lonis
am Senegal aus folgende Expeditionen unternommen, welche
wir allefammt in den früheren Jahrgängen des „Globus"
geschildert haben: — jene von Vincent, Bourrel, Bu
el Moghdad, Mage (ersteReise nachTagant), Lambert,
Braouezec, Pascal, Aliun Sal und dann die zweite
Expedition Mage's. Alle diese Reisenden sind wohlbehalten
zurückgekommen.
Fortschritte und Eroberungen der Nüssen in Inner-Asien.
59
Jortschritte und Eroberungen
Wissenschaftliche Erpedition im Kirgisenland und in Türkistair im
und Hände
Die Russen dringen iu Centralasien unaufhaltsam vor.
Ihr Gebiet reicht heute von der Mündung des Uralflusses int
Westen bis zur Nordgrenze Koreas, und im Ostmeere sind
sie Nachbarn Japans. Nach Süden hin haben sie sich keil-
artig eingedrängt, bis über den Jssi tul hinaus, bis au den
Fuß des Himmelsgebirges (Thian schon). Sie haben nach
und uach die kirgisischen Raubnomaden gebändigt und den
Karawanen sichere Wege verschafft; das Chanat Chiwa ist
ihnen längst nicht mehr gefährlich, daS wichtigste Mongolen-
Volk, jenes der Kallas, ihnen befreundet; sie controliren den
Karawanenhandel nicht bloß durch die Gobiwüste, sondern
überall iit Asien auf der ganzen Strecke vom Kaspischen
Meere bis zum Großen Ocean.
Während der letztverflossenen Jahre haben sie jene^nra-
nische Region in Angriff genommen, welche man als Tür-
kist an bezeichnet. Nach dieser Richtung hin bewegen sie
sich schon seit 1717. Damals versuchten sie in dem Oasen-
laud am untern Oxus, im Chanate Chiwa, festen Fuß zu
gewinnen, und die ersten Bestrebungen, directen Handels-
verkehr mit Buchara zu eröffnen, fallen in das Jahr 1731.
Mit einer bewundernswürdigen Zähigkeit und Ausdauer haben
sie Schritt auf Schritt — ein Schweizer würde sageu „un-
entwegt" — ihr Ziel verfolgt und nun dasselbe erreicht.
Ihnen gehört der Aralsee, sie beherrsche» die Mündungen des
Oxns, sie sind mit ihren Dampfern den Jaxartes bis in die
Nähe von Chokand hinauf gefahren und haben nun auch
Taschkeud, eine der wichtigsten Handelsstädte Ceutralasieus,
dauernd in Besitz genommen.
Man meldet aus Asien, daß sie von der mohammedani-
scheu Bevölkerung „mit Jubel empfangen worden seien und
daß man sich Glück dazu wünsche, unter die Herrschaft der
Russen gekommen zu sein". Einige deutsche Zeitungen haben
über diese Angabe gespöttelt, ganz gewiß mit Unrecht. Wer
die Verhältnisse Türkistans kennt, wird sie begreiflich und
wahr finden.
Daß Taschkend in die Hände der Russen fallen werde, ist
schon vor zwei Jahren von einem ausgezeichneten Reisenden,
Arminins Vambery, mit Bestimmtheit vorausgesagt worden.
Die ansässige Bevölkerung in den Städten Türkistans ist
voil gauz anderem Schlage als die Herrscher. Diese sind ur-
sprünglich nomadische Tnrkomanen und Usbeken, jene ist von
iranischer Abstammung, den Persern bluts- und sprachver-
wandt. Diese Tadschicks werden von ihren Besiegen: unter
einem drückenden Joche gehalten und sind jeder Willkür aus-
gesetzt. Aus deu Reihen der genannten Nomadenvölker gehen
die Herrscher des Landes hervor und sie üben ihre Gewalt
in barbarischer Weise. Hier nur ein Beispiel, das mir eben
einfällt. Als Alexander Bnrnes vor etwa 35 Jahren in
Kabul sich befand, besuchten ihn afghanische Kaufleute, deren
Karawane aus Buchara zurückgekehrt war. Dort hatte der
Chan den Hindlckansleuten untersagt, ihre Todten zu ver-
brennen; jeder Mohanuuedaner, der mit einem Hindu hau-
delte, mußte doppelte Abgaben zahlen. Ein Hindu unterhielt
ein' Liebesverständniß mit der Tochter eines bucharischen
Bäckers; darüber ergrimmte der Herrscher, er ließ das
Paar in einen Backofen stecken und verbrennen!
Man darf nicht vergessen, daß die Tadfchicks Ackerbauer,
Handwerker nild Kaufleute sind. 'Diese letzteren fmdet man
der Küssen in Inner-Asien.
Jahre 1865. — Das Land am Jarartes. — Dampfschifffahrt
auf alle» Handelsplätzen von Nifchni-Nowgorod bis Calcutta
und von Kleinasien bis EHma; sie sind auch zahlreich in den
Städten des westlichen Sibiriens und überall mit den Russen
befreundet. Sie wissen, daß diese den Mohammedanismns
unangetastet lassen, und wenn sie einen Vergleich zwischen
der Herrschaft des Czars und jener der ihnen eben fo fremden
turkomauifcheu Gebieter ziehen, so sällt derselbe in jeder Be-
ziehuug zum Vortheile der ersteren aus. Diese unterjochten
Tadschicks können bei einem Wechsel nur gewinnen; dem
Islam droht durch denselben keine Gefahr, während Grau-
famkeit und Erpressungen aufhören und an die Stelle der
Willkür feste Normen nud Ordnung treten. Man kommt in
regelrechte Zustände und diese weiß der Tadschick wohl zu
würdigen; sie sind ein langentbehrtes Gut, das obendrein fest
bestimmte Abgaben und Sicherheit vor Plünderung und Er-
Pressungen gewährt.
Iu Asien vertritt Rußland ganz entschieden die Sache
der höhern Cultnr gegenüber der Barbarei. Das wird auf
den ersten Blick einleuchtend, sobald man die dem Czar unter-
worseneu Gebiete neben jene stellt, welche asiatischen Herrschern
preisgegeben sind. Die Ausdehnung der russischen Herrschaft
kommt allemal Ulld sofort deni Handelsverkehr zu Gute.
Außerdem hat die Wissenschaft einen großen Gewinn; nament-
lich wird die Erdkunde in Folge dieser Eroberung wesentlich
bereichert. Kriegsoperationen und wissenschaftliche Reisen
sind bis in die jüngste Zeit neben einander hergegangen und
in Folge des Vordringens der Heere haben wir einen nicht
geringen Theil Centralasiens weit genauer kennen gelernt als
je zuvor.
Wir haben die wissenschaftlichen Expeditionen, welche von
Rußland aus bis zum Jahre 1864 iu Sibirien, im Amur-
gebiet und in Jnnerafien unternommen worden sind, in den
frühern Bänden des „Globus" dargestellt. Ueber jene, welche
1865 in der Kirgisensteppe und dem neuerworbenen Theile von
Türkistan stattfand, hielt am 2. November 1866 Herr Clauß-
nitzer im Verein für Erdkunde zu Dresden einen
Vortrag, bei welchem er die Mittheilungen zu Grunde legte,
die Herr Romanowsky in der Geographischen Gesellschaft
zn St. Petersburg gemacht hat. Wir geben Einiges aus-
zugsweise.
Die neuerworbenen Gebietsteile Türkistans stehen unter
dem Generalgouverneur von Orenbnrg. Dieser ließ auch
manche Gegenden der Kirgisensteppe näher erforschen; nament-
lich erhielt Staatsrat!) Girß den Austrag, das Leben und
die wirtschaftlichen Verhältnisse der Kirgisen ins Auge
zu fassen, Vorschläge zu Verbesserungen zu machen und
statistische Data zu sammeln. Es kommt sowohl in den
orenburgifchen wie iu den kirgisischen Steppen daraus an,
die Ländereien zweckmäßig zu vertheilen.
Generallieutenant Dlotowsky erhielt den Auftrag, die
Grenzen der uralischen Kosacken auf dem linken Ufer des
Ural-(Jaick-) Flusses festzustellen. Sie waren darüber mit
den Kirgisen in Irrungen gerathen.
Strnve, der schon vielfach erprobte, machte wieder eine
Reise, um iu deu neuen Gebietsteilen astronomische Bestim-
mungen zu machen und topographische Arbeiten vorzunehmen;
er hat dadurch die Kartographie wesentlich bereichert. Seine
Arbeiten von 1365 erstrecken sich von Merke Kanghan
8*
60 Fortschritte und Eroberungen
(— südlich von der südlichsten Bucht des Balchasch-Sees;
siehe Kiepert's vortreffliche Karten von Asien in vier Blättern,
1864 —) nach Westen hin bis zum Syr Darja (Jaxartes),
dann südlich über die Stadt Türkistau, die auchHazret heißt,
bis zur Mündung des Tschirtschick westlich von Taschkend,
dann auch bis $u den Quellen dieses Flusses.
Ssewertzow und Tatarinow haben den Kara tau
(den Gebirgszug östlich von Hazret) genauer als bisher ge-
scheheu konnte auf Steinkohlen untersucht, und dort sowohl
wie bei Tschemkend und am Ausflusse des Ans die besten
Erfolge gehabt. Wie wichtig diese Funde in einem so holz-
armen Lande sind, leuchtet von selbst ein.
Capitain Holmstern wurde beaustragt, den kürzesten Weg
von Semipalatinsk, diesem wichtigen Handelsplatz am rech-
ten Ufer des obern Jrtysch, und Petropawlowsk am Jschim
nach Taschkend zu ermitteln. Die jetzige Karawanenstraße
führt westlich vom Balchasch-See durch die sogenannte
hungerige Steppe. Gleichzeitig untersuchte Oberst Bab-
kow den eben genannten See, über welchen er zwei Karten
geliefert hat. Der Balchafch ist schon deshalb von großem
Interesse, weil er das östliche Ende des gehobenen vormaligen
Meeresbodens bildet, der sich jetzt von ihm aus als hungerige
Steppe bis zum Aral-See und über denselben hinaus als
Wüste Barssnki und als Ust urt bis zum Kaspischeu Meere
hinzieht.
Den Forschungen der russischen Reisenden znsolge hat
Vambery die Bewohnerzahl der türkistanischeu Chanate zu
hoch veranschlagt, nämlich 7 Millionen, die Bewohner der
Steppen mitgerechnet. Nach Bachtschuriu, der 1865 iu
Taschkend seine Angaben sammelte, hat diese Stadt etwa
100,000 Einwohner, Namengan 30, Pekend 10, Tlaü 5,
Tschemkend 4, Agaluck 3 Tausend Seelen. Die Gesammt-
zahl der ansässigen Bewohner am rechten Ufer des Jaxartes
betrage 190,000, jene der Nomaden etwa 150,000, Total
340,000 Köpfe. Chokand habe 40,000, Chodschend 45,000,
Andijan 40,000, Kossän 30,000, Margilan 20,000 Ein-
wohner. Die Gesammtbevölkerung am linken Ufer stelle sich
auf etwa 300,000 Köpfe.
Theilweife sind die Steppen ganz ohne Wasser, theil-
weise werden sie von Raubuomaden durchzogen; der ganze
Landstrich zwischen 36 und 47° N. hat etwas Unwirkliches,
im Sommer steigt die Hitze auf 40 bis 45° R. Die an-
sässigen Menschen bewohnen die Oasen und solche Gegenden,
die der Bewässerung fähig sind, die Nomaden suchen das
Weideland auf. Aber auch die Städte gewähren einen ein-
tönigen Anblick; sie haben kleine, aus Luftziegeln gebanete
Häuser mit flachen Dächern, und diese Wohnungen sehen
graugelb ans wie der Erdboden selbst; sie sind mit Lehm-
mauern umgeben, haben schmale, krumme Straßen, kleine
freie Plätze, die zumeist mit Verkaufsbuden bedeckt sind, und
hohe Festungsmauern, diese gleichfalls aus Lehmziegeln.
Gärten sind selten; Taschkend mit seinen 100,000 Ein-
wohnern hat nur 10 Häuser, bei welchen sich dergleichen be-
finden.
Einzelne Striche am Syr Darja liefern ungemein er-
giebige Ernten. Dort giebt Weizen das 70ste, Gerste das
100ste und Hirse das 500ste Korn. Diese Gegenden liegen
am Flusse uud sind den Überschwemmungen ausgesetzt, welche
fruchtbaren Schlamm ablagern, oder sie werden künstlich be-
wässert. —
In Rußland wirft man fehr natürlich die Frage auf,
ob dieses Land am Jaxartes sich zur Ansiedelung für Eu-
ropäer eigne? Man meint es, und hat vielleicht nicht nn-
recht, wenn dabei Leute in Frage kommen, welche von den
Steppen des südöstlichen Rußlands und vom Nordgestade
des Kaspischen Meeres stammen. Auch diese türkistanischen
der Russen in Inner-Asien.
Regionen' sind zum größten Theil unbewaldet; im eigent-
lichen Stromthal des Syr Darja wächst fast nur Brenn-
holz, wenig Bauholz; auch sind Bremsen und Stechmücken
im Sommer eine arge Plage. Diese mag ein Kosack, der
z. B. früher iu Gnrjew an der Mündung des Uralstroms
in das Kaspifche Meer gelebt hat, ertragen können, schwerlich
aber ein Mensch aus Europa.
Was die Dampfer betrifft, so sind dieselben schon 1864
bis Tf chinas gefahren, welches nur 30 Werst von Taschkend
liegt, und sie haben ihre Fahrten bis in den Herbst fort-
gesetzt. Höher hinauf bis Namengau wird die Schifffahrt
keine Hindernisse finden, also 300 bis 400 Werst, sobald
man geeignete Fahrzeuge aus den Syr Darja bringt. Bis-
her sind zu der Fahrt nur Schisse benutzt worden, welche
zugleich einen beträchtlichen Tiefgang für die Befchiffnng des
Aral-Sees hatten, jetzt, 1866, bauete man Boote, die nur
2 Fuß Tiefgang haben sollen. Dadurch werden Handel
und Civilisation rasch große Fortschritte machen. — Herr
Romanowsly bemerkt hier beiläufig, daß die Türkistaner bis
heute keine andere Art, die Temperatur der Luft zu bezeichnen,
kennen, als nach der Art ihrer Chalate, d. h. leichten und
langen Oberröcke, welche sie anziehen, um sich gegen die
Kälte zu schützen. Sie sagen also: wir haben eine Kälte
von 3. 4 oder 5 Chalaten. Auch ist bis in die jüngste Zeit
hinein das Glas bei ihnen nicht im Gebrauch gewesen;
seitdem aber die Russen nach Taschkend gekommen sind, hat
sich ein großartiger Bedarf für diese Waare herausgestellt.
Auch europäische Ackerbau-Werkzeuge, bisher ganz unbekannt,
werden verlangt. Gutes Mehl lieferte Türkistan uicht;
ein solches galt für einen Luxusartikel und wurde aus dem
Karawanenwege vonOrenbnrg oder auch aus dem westlichen
Sibirien herbeigeschafft.
Seitdem die Kirgisen unter russischer Herrschaft stehen,
macht unter ihnen der Ackerbau Fortschritte; sie sind nun
sicher, daß sie des Ernteertrages nicht niehr beraubt werden.
Manche Kirgiseudörser sind heute schon so wohlhabend wie
die Kosackendörser. Die friedlichen Zustände äußern ihre
guten Folgen, das Eigenthum ist nun sicher.
Die Zahl der nomadischen Kirgisen, welche unter
dem Generalgouverneur von Orenbnrg stehen, beträgt gegen
1 Million Köpfe, außerdem siud etwa 200,000 ansässige
Ackerbauer und zum westlichen Sibirien mögen etwa 250,000
Kirgisen gehören.
Rußlands Handel mit Jnnerasien war von verhältniß-
mäßig geringer Bedeutuug. Während des Jahrzehnts 1851
bis 1861 betrug derselbe, so weit er über die Oreuburgischen
Zollämter vermittelt wurde: Ausfuhr etwa 1,500,000, Ein-
fuhr 2,701,150 Rubel. In Bezug auf die übrigen Zoll-
ämter fand Herr Romanowsky keine nähere Angabe, glaubt
aber, daß auf denselben die Einfuhr zwei Drittel der obigen
Zahl nicht überschreite.
Seit 1861 ist in Folge des großen nordamerikanischen
Krieges der Verkehr rasch angewachsen. In Rußland stellte
sich starke Nachfrage nach mittelasiatischer Baum-
wolle ein, deren größerer Bezug auch einen bessern Absatz
russischer Fabrikate im Gesolge hatte. Im Jahre 1863 be-
trug die Ausfuhr russischer Waaren über die orenbnrgische
und sibirische Linie schon 4,904,925 Rubel, die Einfuhr
9,760,727 Rubel; im Jahre 1865 die Ausfuhr 6,574,170
und die Einfuhr 12,091,149 Rubel.
Die Besitznahme Taschkends muß nothwendig für die
Ausdehnung des russischen Handels von großer Bedeutung
werden, denn dieser Platz, einer der wichtigsten von Inner-
asien, steht mit Chokand, Buchara, Kundus und Kaschgar
einerseits, andererseits mit Persien, Afghanistan, Kaschmir
und Indien in lebhaftem Verkehr.
Aus allen Erdtheilen.
61
Vambery sagt am Schlüsse seines Werkes: „Das Fort-
schreiten der russischen Pläne in Mittelasien ist nicht im
Mindesten zu bezweifeln. Der Civilisation halber müssen
wir den russischen Waffen den besten Erfolg wünschen." —
Ob im Fortgange der Zeit Rußland und England in jenen
asiatischen Regionen zusammenprallen, kann uns Deutschen
vorerst gleichgültig sein, wir haben Mächst nur danach zu
trachten, daß Rußland sein Tarifsystem ändere und verbessere,
damit wieder, wie ehemals, deutsche Fabrikate nach Jnnerasien
gelangen können. —a.—
Ans allen
Gerhard Rohlfs zu Kuka in Bornu. Der kühne Rei-
sende war im August 1866 in dieser Stadt, von welcher auch
Eduard Vogel seinen Zug nach Waday antrat; hoffen wir, daß
Rohlfs glücklicher sei und uns nach seiner Heimkehr gründliche
Aufschlüsse über das noch so wenig bekannte Land gebe. Sein
letzter Brief, welcher in Bremen bei seinem Bruder, Dr. Hermann
Rohlfs, eingetroffen ist, trägt das Datum vom 20. August 1866.
Im April v. I. war Rohlfs von Anay und Schimfedru in Bilm«,
einer Oase im Lande der Tebus (Tibbus), aufgebrochen und trotz
der großen Hitze und vielfacher Entbehrungen durch die von Tuareks
unsicher gemachte Wüste nach Kuka gelangt. Seine Gesundheit
war vortrefflich, aber mehrere seiner Diener waren in Folge des
raschen klimatischen Wechsels lder trocknen Wüste und heißfeuchten
Ufergegend des Tsad-Sees) und übermäßigen Genusses von Fleisch
und Früchten erkrankt. Der Sultan wies dem Reisenden ein
Wohnhaus an, vor welchem der Europäer aus Vegesack die bre-
mische Flagge aufzog. Er schreibt: „Die krausköpfigen Schwar-
zen sehen mit Staunen und Bewunderung das schöne, rothweiß
gestreifte Stück Zeug in der Lust flattern, welches ihre neidische
Habgier weckt und viel passendere Verwendung zu einem elegan-
ten Burnus fände." Der Sultan von Bornu, dessen ältester Sohn
Bu Bekr, der Intendant Alamina, der Vogel'S guter Freund
war, auch der jetzige Großwesir, der ein geborner Fellatah (Fulbe)
ist, bezeigten dem Europäer wohlwollende Aufmerksamkeit. Sie
zeigten sich (— ob ehrlich und aufrichtig oder nur zum Schein,
wird die Folgezeit lehren —) seinen Reisepläuen günstig und
förderlich; „aber andere Höstinge intriguirten", und namentlich
waren die fremden Kaufleute, welche den Handel mit dem Sudan
vermitteln, ihm nicht gewogen. — Rohlfs hatte sich schriftlich an
den Sultan von Waday gewandt und um Erlanbniß zum Eintritt
in dieses Land und zugleich um sicheres Geleit gebeten. Bis auf
Weiteres mußte er in Kuka verweilen, da in Folqe des anhat-
tenden Regens die Wege in der Landschaft Baghirmi, welche er
Passiren muß, ganz grundlos waren. Er hoffte gegen Ende des
Jahres 1866 in Wara, der Hauptstadt von Waday, oder in Besche
einzutreffen; Rohlfs glaubte von Kuka nach Wara in 35 Tagen
zu gelangen. — Es wäre ein Ruhm für Deutschland mehr, wenn
es ihm gelänge, feinen Zweck zu erreichen. Afrika ist ein Feld,
auf welchem manche unserer unverzagten Entdecker unvergängliche
Lorbeern erworben haben und Gerhard Rohlfs hat schon bewie-
sen, daß er der Mann ist, Alles daranzusetzen, um einen großen
Plan glücklich zu Ende zu führen. (Wir lesen soeben, daß Rohlfs
von Kuka aufgebrochen fei und seine Weiterreise angetreten habe.)
Die europäischen Gefangenen in Abyssinien.
Wir haben über das Schicksal derselben und über die Zu-
stände unter Kaiser Theodoros mehrfach gesprochen (zuletzt „Glo-
' S-159 und 372 ff.) und erzählt, daß der Gewaltherrscher
die Gefangenen freigegeben habe. Er ließ sie dann aber wieder
in Fesseln legen und den britischen Bevollmächtigten Rassam oben-
drein. Der Halbbarbar ist trvtz seines christlichen Aushänge-
schildeö unberechenbar. Kürzlich sind wieder Briefe angelangt,
welche beweisen, daß die Eingekerkerten sich in einer sehr betrübten
Lage befanden. So schreibt der Judenmissionair Stern aus
Magdala unterm 25. August 1866: „Auch das schwache Auf-
dämmern von Hoffnung, welches vor einigen Monaten für uns
emporflimmerte, ist wieder verschwunden. Abermals sind acht von
uns in Ketten, darunter Herr Rassam, Dr. Blane und Lieute-
nant Prideaur. Unsere nun sehr strenge Gefangenschaft ver-
Lrdtheilen.
danken wir der unbegründeten Angabe, daß Frankreich, England
und die Türkei Truppen gegen Abyssinien marschiren ließen!
Herr Rassam erklärte das Gerücht für durchaus unwahr. An
demselben Tage, an welchem Theodor die britische Regierung der
Doppelzüngigkeit und Falschheit beschuldigte, machte er mir den
faden Borwurf, ich hätte seinen Charakter erniedrigt, indem von
mir behauptet worden sei, er stamme nicht in gerader Linie
vom König Salomon ab! Ich entschuldigte mich wegen dieses
mir schon oft zum Vorwurf gemachten Verbrechens, aber Seine
Majestät sagte, er werde mir diese Sünde nicht eher verzeihen,
als bis ich ihm irgend einen Dienst geleistet haben würde. Am
Abend desselben Tages betheuerte er Herrn Rassam Freundschaft,
sagte auch mir und Herrn Rosenthal, wir sollten nur wohl-
gemuth sein, denn er habe ja nichts gegen uns. Wir und unsere
Mitgefangenen tranken also seine Gesundheit in gutem Araki,
der uns auf der kaiserlichen Branntweinbrennerei verabfolgt wor-
den war." — Drei Wochen später, am 15. September, schreibt
Stern: „Es ist unmöglich auch nur zn vermuthen, wie lange
diese Gefangenschaft dauern werde." Consul Cameron schreibt
an demselben Tage: „Offenbar naht für uns Alle eine Krisis
und Gott allein weiß, ob ich mit dem Leben davon komme. Der
König schreibt noch immer freundliche Briefe an Herrn Rassam;
gestern hat er, seitdem wir in Ketten sind zum ersten Mal, an
mich und Herrn Stern eine freundliche Botschaft gesandt. Er
wird hier erwartet, wie man sagt, um mit dem Metropoliten,
der hier auch gefangen sitzt, Freundschaft zu schließen. Wenn
aber die Dinge eine andere Wendung nehmen, so werden wir
möglicherweise ans bedenkliche Art in dieselben verwickelt" —
Die obigen Briefe sind an Dr. Beke gelangt; gleichzeitig
meldete diesem sein Korrespondent in Snez: Rassam, Cameron
und die übrigen würden immer noch in Magdala gefangen ge-
halten; er habe aber auch aus guter Quelle erfahren, Rosen-
thal und M'Kelvie hätten Erlaubniß erhalten, in Gaffat zu
bleiben; der letztgenannte und ein Herr Kerans hätten dem
Kaiser ihre Dienste angeboten, doch habe er nur die von Keran's
angenommen. Die Herren Bardel, Makerer, Steiger,
Brandeis, Elster und Schiller seien gleichfalls in des Kai-
fers Dienste getreten. Das müßte nach dem 15. September ge-
schehen sein, weil in Cameron's und Stern's Briefen davon nichts
erwähnt wird. Negns Theodor verlacht die europäischen Mächte;
er weiß sehr wohl, daß sie mit den Waffen ihm nichts anhaben
können.
Aus Rassam's früheren Briefen, welche er am 22. März
1866 zu Korata geschrieben, ergiebt sich, daß Theodor ihn damals
mit großer Aufmerksamkeit und ungemein höflich behandelte. Der
König schenkte dem englischen Abgesandten Lebensmittel vollauf,
manchmal an einem Tage 1060 Brote, 2 Kühe, 20 Hühner, 500
Eier, 10 Krüge Milch, viel Honig ic. Auch stellte er ihm 1200
Packträger zur Verfügung nnd gab ihm eine ans 209 Kriegern
bestehende Ehrenwache, die von nicht weniger als 50 Ofsizieren
befehligt wurde! So ging Rassam nach dem etwa50Miles vom
Tzana-See entfernt liegenden Damot, wo der König damals
sein Hoflager hatte. Nicht weniger als 300 Offiziere und der
erste Minister zogen dem Europäer eine Strecke weit entgegen,
um ihn zu begrüßen. Bald nachher hatte Rassam Audienz, über-
gab den Brief der Königin Victoria nnd erhielt gleich am fo>-
genden Tage die Botschaft, daß die Freilassung der achtzehn Ge-
fangenen verfügt worden sei; Seine Majestät habe diesen Schritt
gethan, um zu zeigen, wie sehr er die Freundschaft der britischen
62 Aus allen
Monarch in zn schätzen wisse. In den späteren Audienzen benahm
Theodor sich gleichfalls freundlich, aber charakteristisch ist die fol-
geude Bemerkung: „Alle Engländer und Franken haben sich, seit
dem Tode meiner Freunde Bell und Plowden, wie es mir scheint,
verrückt, unhöflich und übellaunig benommen." HerrnRafsam
wurde ein Ehrengeschenk von 10,000 Thalern förmlich aufgedrungen.
Unter solchen Umständen glaubte er das Beste hoffen zu dürfen,
aber bald erfolgte ein jäher Umschlag.
Nachschrift. Wir lesen soeben, daß neuerdings Briefe von
Herrn Rassam in London eingetroffen sind, datirt vom 5. Novem-
ber 1866. Die Gefangenen befanden sich noch immer in Hast in
Amba Magdala und trugen Fesseln, die aber leichter waren als
jene, welche man ihnen früher angelegt hatte. UebrigenS wur-
den sie gut behandelt und reichlich mit Lebensmitteln versehen.
Oberst Merewether war damals im Begriff, sich mit den von
Theodoros engagirten Ingenieuren von Aden nach Massawah zu
begeben, und es war seine Absicht, ins Innere von Abyssinien zu
Theodoros zu gehen, salls dieser die Gefangenen noch nicht frei-
gegeben habe.
Nachrichten Von Livingstone. Die jüngsten sind vom
18. Mai 1866 aus Ngomano am Rosuma. Er war an
diesem Flusse 30 Miles weiter vorgedrungen als auf seiner frü-
Hern Erpedition von 1861. Bon dort wollte er das bis jetzt uns
noch unbekannte Nordende des Nyassa-Sees zu erreichen suchen.
Er schreibt, daß er an der Mündung des Rosuma (die, beiläufig
bemerkt, ein nicht ganz unbeträchtliches Delta bildet) keine Stelle
finden konnte, um seine Kameele durch die Ufermoräste und das
Mangrovegestrüpp auf festen Boden zu bringen. Deshalb fuhr
er etwa 25 Miles weiter nach Norden und fand in der Mikin-
danibai einen vortrefflichen Landungshafen. Derselbe reicht tief
ins Land hinein und hat in 10 bis 14 Faden sehr guten Anker-
grnnd. Von dort aus zog Livingstone in südwestlicher Richtung
bis an den Rosuma und dann diesen Fluß entlang bis zur Ein-
mündung des Loendi; dieser strömt aus Südwest her und der
Reisende hält ihn für eine Fortsetzung des Hauptarmes. Der
Häuptling von Ngomano, das am Zusammenflusse der beiden
Arme liegt, benahm sich recht gut und Livingstone gedachte bei
ihm zu verweilen, bis er einen Weg um den Nyassa ausfindig
geniacht haben würde. Zu beiden Seiten des Rofuma läuft eine
Kette bewaldeter Hügel von 400 bis 600 Fuß Hohe. Die Ein-
geborenen gehören zum Stamme der Makondas. Livingstone,
der überall in den schwarzen Menschen „tüchtige Arbeiter" aus-
wittern will, erklärt auch die Makondas für solche, weil — sie
ihm halfen, einen Weg für Menschen und Thiere zu bahnen. Er
fand auch Spuren von Steinkohlen. Der englische Consul in
Sansibar, Playfair, erklärt den Hafen in der Bai von Mikindani
für eine neue Entdeckung. Auch der Insel Sansibar gegenüber,
aus dem Festland, ist in einer Bucht ein sicherer Ankergrund ge-
sunden worden und der Sultan läßt dort einen Hasen anlegen.
Noch eine Nachricht überHall's arktische Expedition.
Die „Newyork Tribüne" giebt in einem Brief aus St. Johns
in Neufundland einige weitere Mittheilungen. Dort war ein
Theil vom Schiffsvolke des amerikanischen Walfischfahrers „Ante-
lope", der bei Niantelick Island scheiterte, angekommen; die Leute
waren durch die Dampfer „Wolf" und „Lion" gerettet worden.
Der Eapitain der „Antelope" hatte bei Herrn Hall eine goldene
Uhr, einige silberne Lössel und noch andere Sachen gesehen, die
nur von Franklins Erpedition herrühren konnten. Er erwähnt
serner, daß die Ueberbleibsel von einigen Leuten der Erpedition
an der Eommitteebai unter einem Boote lägen und daß sie von
den Eskimos dorthin getragen worden seien. Diese wollten aber
nicht erlauben, daß Hall dorthin gehe und Untersuchungen anstelle.
Da aber, wie schon früher bemerkt, einige Schiffe in der Re-
pulsebai überwintern, so wird er doch wohl seinen Zweck erreichen.
Die Ursachen der Nilüberschwemmung.
Samuel Baker hat den Gegenstand in der geographischen
Abtheilung der British Association eingehend erörtert. Zuerst
schilderte er die Wanderungen, welche er 1861 am Atbara und
am Blauen Nil unternahm, um aus eigener Anschauung das
Berhältniß kennen zu lernen, in welchem sie zu dem Hauptstrome,
Erdtheilen.
dem Weißen Nil, stehen. Am 13. Juni kam Baker an den
Atbara, dessen breites und tiefes Bett er so gut wie völlig aus-
getrocknet fand; von einer Stromrinne war keine Spur vorhan-
den, nicht ein einziger Wassertropsen gelangte aus diesem wichti-
gen Zuflüsse in den Nil. Der Reisende ging dann 130 Miles
weiter auswärts bis nach Gozerajun, wo er am 22. Juni Zeuge
eines höchst merkwürdigen Schauspiels war. In Abyssinien war
die Regenzeit eingetreten; nun kam urplötzlich ein ungeheurer
Wasserschwall wandartig den Atbara hinabgerauscht, und dieser
war binnen wenigen Minuten ein gewaltiger Strom von
25 Fuß Tiefe und 1500 Fuß Breite! Noch weiter aufwärts, bei
Guraste, befand Baker sich in der Region, in welcher der Atbara
fruchtbares Erdreich in ungeheuren Massen abreißt, welches dann
bis nach Aegypten hinabgeführt wird; so dick war das Wasser,
daß es einem Brei glich. Dann wurden mehrere Zuflüsse des
Atbara überschritten und es ergab sich, daß die Gewässer im All-
gemeinen einen Abzug in der Richtung von Südost nach Nord-
West haben. Unter diesen Zuflüssen ist der Set tit oder Takazzs
der beträchtlichste und er führt dem Atbara fast alle aus Ostabys-
stnien nilwärts fließenden Gewässer zu.
Am 11. Juni 1862 war Baker wieder in Chartum und trat
von dort seine berühmte Reise auf dem Weißen Nil nach dem
Luta-Nzige-See an. Wir haben dieselbe im vorigen Bande des
„Globus" ausführlich geschildert. Er hebt den gewaltigen Eon-
trast hervor, welchen der Charakter dieses Stromes gegenüber den
aus Abyssinien herabfließenden Gewässern bildet. Der Bahr el
Abiad kann recht eigentlich als einMoraststrom bezeichnet wer-
den. Aber Aegypten würde nicht eristiren, wenn dieser Weiße Nil
nicht vorhanden wäre und wenn dieses Land lediglich auf den abyf-
sinischen Blauen Nil sich angewiesen sähe. Allerdings erhält
Aegypten seine alljährlichen Überschwemmungen vermöge der abys-
sinischen Gewässer; diese haben nur während der Regenzeit, von
Juni bis September, Wasser abzugeben, in den übrigen Monaten
aber nicht. Dagegen liefern die großen Binnenseen dem Weißen
Nil ihren Wassertribut ohne jede Unterbrechung, denn auf den
Hocheebnen in der Nähe des Aequators fällt zehn Monate hin-
durch Regen. Dieser fortwährende Wasserzufiuß ist Ursache, daß
Aegypten nicht zur Wüste wird. In der Jahreszeit, in welcher
Abyssinien keinen Regen hat, liefern die Seen alles Nilwasser;
die fruchtbaren Überschwemmungen im Delta dagegen sind ledig-
lich ein Werk der abyssinischen Gewässer.
Wir wollen hier beiläufig erwähnen, daß Baker an eine Ver-
bindung zwischen dem Tanganyika-See und dem von ihm entdeck-
ten Luta Nzige (Albert) nicht glaubt. Livingstone ist eben
jetzt unterwegs, um darüber Forschungen anzustellen.
Elias Lombardini hat seine Berechnungen über die Länge
des Nils veröffentlicht. Er nimmt von den obersten Zuflüssen
des Nyanza-Sees (die uns aber noch nicht bekannt sind!) eine
solche von 6270 Kilometer an. Davon kämen 920 auf die Strecke
vom See bis Gondokoro, 1000 von dort bis zur Einmündung des
Bahr el Gasal, 1250 von dort bis Chartum, 1000 von da bis
Assuan, wo der Nil in Aegypten eintritt, 1000 für das obere
und das mittlere Aegypten, 200 für Unterägypten, das Deltaland.
Das gesammte Stromgebiet hätte (natürlich nur annähernd aus-
gedrückt, denn über die Zuflüsse von Westen her sind wir ja noch
sehr wenig iin Klaren) 325 Millionen Heetaren, wäre also fünf-
bis sechsmal so groß als Frankreich. Der Nil hat eine gewaltige
Länge, aber seine Wasserfülle ist nicht viel stärker als die doppelte
der Rhone.
Der fossile Schädel in Kalifornien. Wir haben über
die Auffindung desselben, „Globus" X. S. 352, Nachricht ge-
geben. Jetzt lesen wir Näheres über den Fundort. Man traf
auf den Schädel, als man einen Brunnen grub, in 150 Fuß
Tiefe; die Stätte befindet sich etwa 2 Miles von Angels Camp iin
County Calaveras. Finder war ein Bergmann, James Matson;
er gab den Schädel an den Kaufmann Scribner; von diesem kam
er erst an Dr. James und von diesem an den Geologen des
Staates Californien, Professor Whitney. Dieser begab sich an
Ort und Stelle, untersuchte den Brunnen, nahm Zeugenverhöre
vor und überzeugte sich, daß Alles, was man ihm gesagt hatte,
richtig sei. Der Brunnen, oder vielmehr Schacht, in welchem sich
gegenwärtig etwas Wasser befindet, geht durch vier Lagen gold-
Aus allen
haltigen Kieses und fünf Lagen vulkanischen Lavaflusses; von
diesen ist die obere ganz compact, ohne irgend einen Spalt,
welcher etwa der Vermuthung Raum gäbe, daß das Fossil durch
denselben hätte einsinken können. Whitney will das Wasser ent-
fernen lassen und noch tiefer graben. Wenn sich Alles wie gesagt
verhält, dann ist jener Schädel ein Beweis, daß der Mensch auf
Erden war, ehe der Shasta und die Berge in Butte County
und alle vulkanischen Berge Kaliforniens sich auf der Erdober-
fläche befanden. Der Gesichtswinkel des Schädels ist jener der
heutigen Indianer Kaliforniens. Whitney wird ein Faksimile des
Schädels an die verschiedenen anthropologischen Gesellschaften senden.
Ein Mastodon ist jüngst bei Cohoes unweit der Stadt
Troy im Staate Neuyork 33 Fuß unter der Erdoberfläche gesun-
den worden, und zwar so wohl erhalten, daß man das Knochen-
gerüst vollständig wird zusammenstellen können. Das Thier ist
2«) Fuß lang und 15 Fuß hoch, die Zähne sind 8 Fuß lang;
der Unterkiefer 4 Fuß 9 Zoll. Professor Ägassiz wird einen Be-
richt erstatten.
Die Expreßcompagnien zur Beförderung nach dem
weiten Westen und an den Großen Oeean. Man hat in
den Vereinigten Staaten schon oft darauf hingewiesen, daß die
Macht des großen Kapitals sich immer mehr und zwar mit mono-
polistischen Bestrebungen geltend mache. Es sei gewaltig genug,
um die Concurrenz fern zu halten. Im October 1866 haben
nun auch die verschiedenen Gesellschaften, welche bisher die Ueber-
landverbindung mit dem westlichen Innern und nach Kalifornien
besorgten, sich „consolidirt". ES sind: die Halloday Overland
Company; die Overland Mail Company; die American Erpreß
Company zwischen dem Missouri und dem Großen Oeean. Sie
bilden nun unter der Firma Wells, Fargo und Kompagnie eine
einzige Gesellschaft, die mit 10,000,000 Dollars Capital arbeitet.
Sic besorgt Bank-, Erpreß- und Transportgeschäfte und befördert
auch die Post; sie steht in unmittelbarem Anschluß an alle Post-
linien im Osten des Missouri; sie hat auf einer Strecke von 4000
Miles tägliche Postwagenverbindung, und der Verkehr von
Colorado, Idaho, Montana, Oregon und Kalifornien, so weit
derselbe über Land nach Westen wie nach Osten hin stattfindet,
gelangt in ihre Hände. Dazu kommen noch mehr oder weniger
auch Sonora, Untercalisornien und das westliche Mexico; auch
hat sie erklärt, daß sie nach den Sandwichsinseln und Japan ope-
rircn wolle. Ein Wettbewerb mit einem solchen Leviathan wird
kaum möglich sein; doch muß unter den obwaltenden Verhält-
nissen jene „Eonsolidirung" als sehr nützlich betrachtet werden,
weil fortan Regelmäßigkeit und Einheit in vie Operationen kommt.
Dampfichifffahrt. Philadelphia wird jetzt regelmäßig
von 20 transatlantischen Dampfern besucht; sie haben von
800 bis 2700 Tonnen Tragfähigkeit und verrichten den Dienst
regelmäßig. Allwöchentlich fährt ein Schiff zwischen Phila-
delphia und Liverpool. Diese Linie zählt 6 Dampfer, und
sie stellt für Waaren und Fahrgäste billigere Preise, als in Neu-
York und Boston der Fall ist. — Linie nach Havana; 2 Mal
im Monat; 2 Schiffe. — Verschiedene Linien nach Boston, Neu-
orleans, Savanah, Kharleston, Richmond und Norfolk. Diese
kann man aber doch nicht als transatlantisch bezeichnen.
Boston besitzt 22, Neuorleans 33 Dampfer für überseeische
Fahrten.
TenBalmett vom Tajo bis zur Wolga. Im December
^ ist die Estremadurabahn eröffnet worden. Die Bahn-
strecken von Lissabon bis St. Petersburg haben eine Länge von
6303 Kilometer (jeder % englische Mile oder 1000 Meter).
Die russische 5lcihii geht von St. Petersburg bis Nischni-Now-
gorod und auch schon eine Strecke wolgaabwärts. Sie berührt
Madrid, Paris, Brüssel, Berlin, Warschau und die beiden russi-
schen Hauptstädte. Eine Löcomotive, welche in der Stunde 54
Kilometer, 33 Miles, zurücklegte, also in Eourierzügen, würde
von Lissabon bis Petersburg in 117 Stunden gelangen können.
Der Verkehr zwischen Europa und Nordamerika
wurde 1866 durch 13 verschiedene Dampferlinien vermittelt;
Erdtheilen. 68
darunter sind 2 deutsche, welche wegen ihrer Vortrefflichkeit im besten
Rufe stehen. Es sind etwa 420 Fahrten gemacht worden, so daß
auf jeden Tag mehr als ein Dampfer kommt. Die Einnahmen
der verschiedenen Linien haben mehr als 20,000,000 Dollars
betragen.
Eisenbahnen und Telegraphen in Canada. Amtlichen
Berichten zufolge betrug zu Ende 1835 die Länge der Eisenbah-
nen 2148 Miles; Baukosten 121,543,139 Dollars; Einnahme im
Jahre 10,910,673Dollars. Die Grand Trunklinie ist 1377
Miles lang, die Great Western 345, die Northern 97.
Durch Eisenbahnunfälle kamen 58 Menschen ums Leben. — Die
drei Telegraphencompagnien sind: die Montreal, die Provincial
und die amerikanische Vermont-Boston, welche aus kanadischem Ge-
biet 43 Mikes im Betrieb hat. Die Länge der Telegraphen be-
trug 4973 Miles; befördert wurden 379,331 Telegramme.
Der Suez-Canal. An demselben wird eifrig fortgearbeitet,
doch fehlt noch sehr viel, bis er fahrbar wird. Von Port Said
aus hat man im Salzwassercanal eine durchschnittliche Tiefe von
7 bis 9 Fuß (etwa ein Viertel der erforderlichen Tiefe); aus der
weitern Strecke bis Suez hat man einen provisorischen Wasser-
canal von 7 Fuß Tiefe, welcher mit dem Salzwassercanal durch
Pumpen- und Schleufenwerke in Verbindung steht. Auf 60 Sta-
tiouen hat man die normale Canalbreite von 60 Meter, also
mehr als 130 Fuß hergestellt, aber auf den Stationen von Nr.
61 bis 75 und Jömaila ist dieselbe noch nicht hergestellt. Alle
Arbeiten sind gut und machen den Ingenieuren Ehre. Nun aber
beginnen sehr wesentliche Schwierigkeiten, weil es darauf ankommt,
j>en unablässig einschießenden Sand immer wieder auszubaggern.
Im Ganzen ist das Canalunternehmen noch in dVtt Anfängen,
man hofft jedoch, dasselbe mit Hülfe von Zeit und viel Geld fer-
tig zu bringen. Die für den Bau veranschlagten Kosten reichen
bei Weitem nicht aus.
Ausdehnung derTelegraphenlinien in Rußland. Seit
dem 27. September 1366 ist das unterseeische Tau in derStraße
von Kertsch in Thätigkeit. Dasselbe ist nur 12 Werst, also
noch nicht 2 deutsche Meilen lang, der Strang jedoch von Wich-
tigkeit, weil er die Verbindung zwischen dem südlichen Rußland
und dem Kaukasus vermittelt. Der Landtelegraph wurde oftmals
durch atmosphärische Einflüsse gestört, namentlich auf der Strecke
zwischen Stawropol und Nowo Tscherkask. Die sibirische Li-
nie ist zwischen Tjumen und Tobolsk vollendet. — Im
fernen Osten, im Amurgebiete, bis wohin vom Westen her,
aus Amerika und über See die amerikanische Telegraphengesell-
schast die Drähte herzustellen hat (bis Nikolajewsk), ist die Linie
festgestellt und abgesteckt worden. Im Herbst 1866 begann man
mit Errichtung der Stangen zwischen Anedyr und Charika. —
Die Linie zwischen Warschau und Siedlcze ist seitEndeSep-
tembers im Betrieb.
Goldeinfuhr von Australien. Im September 1866
kamen von dort nach England für 636,777 Pf. St. gegen 233,556
desselben Monats im Vorjahr. Vom 1. Januar bis 30. Septem-
bcr 1366 wurde von den australischen Kolonien und Neuseeland
für 6,639,379 Pf. St. eingeführt, gegen 2,155,232 in derselben
Zeit 1865 und 2,421,722 in 1864. Die Gesamteinfuhren von
australischem Golde stellten sich für die Jahre
1853 ..... 9,064,763 Pf. St.
1859 ..... 8,624,566
1860 ..... 6,719,000
1861 ..... 6,331,225
1862 ..... 6,704,753
1863 ..... 5,995,368 „
1864 ..... 2,656,971
1865 ..... 5,051,170 „
Australien liefert also immer noch im Jahre für nahe an
40 Millionen Thaler Gold.
Aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika.
Klagen über Wahlbestechungen. Diese sind seit man-
chem Jahr an der Tagesordnung, und eine Partei macht der
64
Aus allen Erdtheilen.
andern die bittersten Vorwürfe. Man könne, so wird gesagt, eine
Million Stimmen, jede für ein paar Dollars oder etliche Gallonen
Branntwein kaufen; sie seien feil auf dem politischen Markte,
und wenn nun gar noch eine Million Neger das Stimmrecht er-
hielten, dann sei die Musterrepublik ganz und gar fertig. Bei
den Wahlen int November 1866 scheint es ärger hergegangen zu
sein als je zuvor; die Dinge sind selbst den besseren Blättern der
radical-republikanischen Partei zu arg gewesen. So klagt die
„Newyork Times": „Die Greenbacks (das grüne Papiergeld)
flössen am Wahltage wie Wasser. Wenn es mit diesen Bestechungen
so sortgeht, dann können am Ende nur die Meistbietenden in ein
Amt gelangen. Die Wähler marschirten truppweise, von bekannten
Wardpolitikern commandirt, zu den Stimmbuden. Dort erhielt
jeder ein Ticket (Wahlzettel) in die Hand gedrückt, und nachdem
dieses abgegeben worden war, erhielt der Stimmgeber 2, 3, 4, 5
bis 10 Dollars, je nachdem der Mann war, auf die Hand. Dies
geschah offen und ungenirt in Gegenwart sehr vieler Leute. In
der Stadt Albany allein ist wenigstens der vierte Theil der Stim-
men gekauft worden; manche wurden mit 25 Dollars bezahlt."
— In ähnlicher Weise berichtet die zu Tr o y, gleichfalls im Staate
Neuyork, erscheinende „Presse": „Der Krieg ist eine Hauptursache
der Demoralisation des Volkes gewesen. In ihm liegt auch die
Ursache, daß der Preis aller Lebensbedürfnisse so hoch gegangen
ist; eine Bestechung der mittellosen Wähler ist also um so leichter.
Es waren hauptsächlich die Leiter der radicalen Partei, welche in
frechster Weise auf die Mittellosigkeit der Wähler speculirten.
Man spricht ganz öffentlich davon, daß die Neuengland-Fabrik-
besitzer mehrere Hunderttausende zusammenschössen und in den
Staat Neuyork an die loyalen Clubs zum Aufkaufen von Wahl-
stimmen schickten. Noch mehr zahlten die Fabrikherren unseres
Staates, so daß man ganz wohl annehmen kann, es seien wenig-
stens eine halbe Million Dollars verausgabt worden, um stimm-
berechtigte Bürger zu bestechen. Kein Stimmengeber kann sich
erinnern, daß je an einem Wahltage so viel Geld geflossen fei
als diesmal und doch wurden die meisten Käufe privatim abge-
macht. Diese leichtsinnigen schwachen Menschen werden die Folgen
ihrer Käuflichkeit selber bald genug zu fühlen bekommen und
endlich begreifen, daß sie sür ein paar armselige Thaler ihre Frei-
heiten und Interessen wegwarfen."
Nicht weniger als 152 „stabbings", also Mordanfälle
mit Dolch- und Messerstichen, sind 1866 allein im Staate
Kentucky zur gerichtlichen Anzeige gelangt. Nicht weniger als
51 Menschen sind in Folge dieser Stabbings gestorben. — Da-
gegen war im November zu Hebron im Uankeestaate Connecticut
ein großes „revival" eine große gemeinsame echtpuritani-
sche Andachtsübung mit tagelangem Beten. Ein reicher Fa-
brikant, dessen Geschäft ihm in Folge der exorbitanten Schutzzölle
80 bis 120 Procent abwirft, that seinerseits ein Uebriges, um
auch durch seine Fabrikarbeiter Gott danken zu lassen. Er ließ
die Spindeln ruhen und schickte täglich drei Mal alle Arbeiter
und Arbeiterinnen zum Betplatze, damit sie dort dem Herrn sich
mit Dank nahen konnten für das gute Geschäft des Principals.
— Zu Detroit fand am 8. November eine baptistische Taufe statt.
Der Geistliche hatte aber große Mühe, den Täufling, eine sieb-
zehnjährige Lady, im Flusse völlig unterzutauchen und sie wäh-
rend des kalten Bades zu segnen. Die Crinoline war zu groß
und einige fromme Baptisten mußten helfen, sie unter das Wasser
zu drücken. *
Aus Boston schreibt man: „Es gehört in unserem Staate
Massachusetts zum Fortschritt in der Freiheit, daß die Polizei
an Sonntagen in Privathäuser eindringt und Verhaf-
tungen wegen Kartenspielens vornimmt." Das ist frei-
lich ganz im Sinne des Uankee-Puritanismus, der sich nebenher
als „Hort der Freiheit in der neuen und alten Welt" ausgiebt.
Wie schwer die südlichen Staaten durch ihrenKrieg für
Unabhängigkeit gelitten haben, ergiebt sich aus Folgendem: Nach
den amtlichen Steuerlisten in Georgia ist sür 1866 das steuer-
Pflichtige Eigenthum auf 222,183,787 Dollars tarnt worden; im
Jahr 1860 betrug dasselbe 672,202,447 Dollars. Hier ergiebt
sich also ein Ausfall von mehr als 400 Millionen. Dazu kommt
noch der Verlust, welchen die Bewohner an den conföderirten
Staatspapieren erlitten, der auch auf weit über 100 Millionen
veranschlagt werden kann. Der Staat Georgia verlor' während
des Krieges etwa 85,000 Weiße, also etwa ein Achtel der männ-
lichen Bevölkerung. Aber trotz alledem hat sich der Süden nicht
beugen lassen; er ist zwar vom Norden, welcher auch 300,000
fremde Söldlinge gegen ihn aufbot, mit den Waffen besiegt wor-
den, aber von seiner Würde hat er nicht ein Jota vergeben.
In St. Louis, Missouri, hat die Schulbehörde einen sehr
verständigen Beschluß gefaßt. Sie verbietet allen Kindern, die
noch nicht sieben Jahr alt sind, den Schulbesuch. Dabei geht
sie von der durchaus richtigen Ansicht aus: „daß ein zu früher
Schulbesuch der körperlichen Entwickelung nachtheilig sei, und
daß ein Kind, bei welchem das Auffassungsvermögen schon einiger-
maßen entwickelt sei, in Wochen das lerne, was man ihm früher,
trotz aller Lehrquälerei, in Monaten nicht beibringen könne."
In Philadelphia saß am 10. November die Jury, um
über einen Mörder abzuurtheilen. Die Sitzung mußte aufgehoben
werden, weil einer der Geschworenen einen Anfall von Säufer-
Wahnsinn bekam und großen Unfug verübte.
In dem Fabrikbezirke von Killingly, Staat Connec-
ticut, sind 1256 Kinder zwischen 5 und 16 Jahren; davon besucht
nicht die Hälfte eine Schule; sie arbeiten in den Fabriken. Die
Blätter heben hervor, daß manche Uankee-Fabrikmagnaten wohl
Geld für Negerschulen geben, aber die weißen Kinder, welche
von ihnen ausgebeutet werden, unberücksichtigt lassen. Daran ist
aber weiter nichts zu verwundern; in England treten ähnliche
Erscheinungen hervor. Man hat Geld vollauf für Neger- und
Heidenbekehrung in fremden Erdtheilen, während jüngst ein Geist-
licher in der Anthropologischen Gesellschaft zu London nachwies,
daß er mindestens 40,000 Arbeiter kenne, welche „weder lesen
noch schreiben, noch beten können, noch je etwas von Gott gewußt
haben". Die modische Philanthropie hat eben ihre wunderlichen
Seiten und Logik darf man an ihr nicht suchen.
Das Armenhaus zu Busfalo im Staate Neuyork ist
gewiß ein sehr angenehmer Aufenthalt für die Armen, wenn
denselben Alles zu Gute kommt, was von Seiten der Verwaltung
verausgabt wird. Diese hat für 1865 unter anderen Gegenständen
auch verrechnet: für 3000 Dollars Thee, für 500 Dollars Austern
und für 900 Dollars Branntwein und Cigarren.
Auf den großen Seen schwammen bis 1800 nur Indianer-
kähne; aber 1841 stellte sich die Handelsbewegung auf diesen
Seen schon auf 65 und 1851 aus 300 Millionen Dollars. Dann
wuchs sie immer gewaltiger an, bis sie 1861 den kolossalen Be-
trag von 550 Millionen Dollars erreichte. Man glaubt an-
nehmen zu dürfen, daß sie 1872 wohl eine Milliarde erreichen werde.
Neue Goldfunde werden sehr häufig gemacht. So im
November zu Madoc in Canada und in Abbeyville-County,
Staat Südcarolina. Der Dampfer „Miner", welcher vom obern
Missouri in St. Joseph ankam, hatte für etwa 200,000 Dollars
Goldstaub an Bord, und auch die vielen Boote der Pelzhändler,
welche er unterwegs antraf, hatten fast alle mehr oder weniger
von dem edeln Metalle.
Steinkohlen in Kansas. Bei Leavenworth sind mehrere
3 bis 6 Fuß mächtige Kohlenlager entdeckt worden. Sie sind
von sehr guter Beschaffenheit und sür das holzarme Prairieland
von großer Wichtigkeit.
Chicago in Illinois wird bald alle anderen Städte des
Westens bei weitem überflügelt haben. Im Jahre 1866 sind
dort nahe an 8000 Gebäude aufgeführt worden; sie kosteten etwa
7 Millionen Dollars. Daß darunter „viele Waarenhäufer und Kir-
chen" sind, versteht sich von selbst in einer Handelsstadt, deren
Bewohner in mehr als 20 kirchliche Secten zerfallen.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaetion verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Hleberland nach Kritisch Eolumbia und den Holdgruben vsn Karibou.
i.
Parallelismus zwischen Sibirien und den Ländern der Hudsonsbai-Compagnie. — Prairiegegend und Waldregion und das Land im Westen
der Felsengebirge. — Die hydrographischen und klimatischen Verhältnisse der Saskatschewanregion und das Passageland. Britisch Colnmbia,
seine Seen und Flüsse. — Metall- und Holzreichthum. — Von St. Paul in Minnesota nach Fort Garry am Red River und znm
Saskatschewan. — Die Winterhütte auf der schönen Prairie. — Jagd und Pelzthiere. — Leben und Treiben i» Fort Edmonton.
Die Krih-Jndianer. — Tafelfreuden im Prairielande.
In das „nordamerikanische Sibirien" strömt mehr und
mehr frisches Leben ein. Nicht ohne Grund bezeichnet man
mit diesem Namen die weite Region, welche sich im Norden
des fünfzigsten Breitegrades zwischen der Bassinsbai, dem
Polarmeer und dem Stillen Ocean ausdehnt; sie bietet in
Bezug auf Bodengestaltuug, Klima und Erzeugnisse manche
Uebereinstimmnng mit den: asiatischen Sibirien dar. Auch
dieses „Nen-Britannien", wie man wohl das gesammte Ge-
biet der Hudsonsbai-Gesellschaft bezeichnet, hat seine mit
Moos und Filz überzogenen Moraststeppen, also Tnndras,
eine ungemein ausgedehnte Waldregion, unabsehbare Wiesen-
steppen, Seen in unzähliger Menge, ein reiches Geäder von
Flüssen, und große Ströme, welche ins Eismeer münden.
Prairien und Wälder werden von Jagd- und Fischernomaden
durchzogen; wir finden auf beiden Seiten der Behringsstraße,
diesem schmalen Sunde zwischen Amerika und Asien, das
Rennthier und den Bären; andere Pelzthiere treten in wenig
verschiedenen Arten oder vicarirenden Formen auf; so in
Amerika das Musethier für das Elenn der östlichen Erdhalbe,
das Bighorn iu den Felsengebirgen für das Argali der dann-
sdK" Alpen und des Altai, während die Wolverene dem
,vjellfraß der alten Welt entspricht, und der Biber in beiden
Erdtheilen sich vollkommen gleicht.
Diese Region hat lange vereinsamt und verödet dagcle-
gen; bis in unser Menschenalter hinein ist sie von weißen
Leuten nur des Pelzhandels wegen besucht worden. Welcher
andere Antrieb hätte auch deu europäischen Mann in jene
nordischen Wüsteneien verlocken können? Edle Metalle, wie
in Mexico und Peru, waren von dort nicht zn holen, und
Ansiedelungen für den Betrieb des Ackerbaues konnte man
ans fruchtbarem Boden in einem mildern Himmelsstriche und
näher der Meeresküste unter günstigen Bedingungen für den
Absatz der Erzeugnisse mit viel weniger Mühe gründen.
Es ist nicht ohne Interesse zu verfolgen, wie sich im ame-
rikanischeu Sibirien ähnlich wie im asiatischen der Fortgang
ki geographischen Entdeckungen und die Geschichte des Lan-
des vorzugsweise an den Pelzh andel knüpfte, und wie dann
auch, nachdem der Ertrag der Pelzthiere sich verminderte, da
wie dort diuch ue reichen Goldsnnde neue Anstöße zur
EntWickelung gegeben wurden. Der canadische Waldgänger
und Ruderknecht hat viel llebereinstimmendes mit dem russi-
scheil Promuischlennik Sibiriens; gleich diesem ist er, aber
von einer andern Himmelsgegend her, bis an das Große
Weltmeer und an die eisigen Gestade des Polaroceans vor-
gedrungen. Hier sind Trappers, dort Zobelfänger, und die
Hansirer, welche vou einer Handelsstation zur andern ziehen,
Globus XI. Nr. 3.
gleichen den russischen Chodebtschiki, die vom Ural bis zum
Strande der Lamnten am ochotskischen Meere schweifen und
europäische Kleinwaaren den Jagdnomaden an die Sammel-
platze oder in die Zelte und Hütten bringen. Der rus-
sische Jäger führt aus seinen Zügen als Hauptnahrungsmittel
Pilmeni mit sich, feingehacktes Schaffleisch in kleinen, mit
Mehlteig umhüllten Kugeln, und der amerikanische „Voya-
genr" hat seinerseits den Pemmican, welcher aus fein-
gehacktem Büffelfleisch besteht und in lederne Säcke verpackt
wird. Auch Neu-Britannien hat in jedem Jahre eine Zeit,
in welcher der Boden nach dem Hinwegthanen des Schnees
dem Wanderer die größten Schwierigkeiten darbietet. Diese
amerikanischen Zeiten der „Entwegnng" entsprechen durch-
aus deu sibirischen Wremen« raspntisja. Auch spielt in
beiden Regionen die Schiffskarawane eine gleich wichtige
Rolle nnd in Nordamerika hat man den ans Birkenrinde
verfertigten Kahn wohl auch als „Wasserdromedar" bezeichnet.
Ich habe diesen Parallelismus in meiner „Geographie
des Welthandels" (Stuttgart 1867 I. S. 211 ff.) hervor-
gehoben. Aber ein wesentlicher Gegensatz stellt sich insofern
heraus, als im amerikanischen Sibirien bisher keine Städte
vorhanden waren, das asiatische dagegen in seiner ganzen
Breite mit Wohnorten gleichsam übersäet ist. In Sibirien
wurde die Ansiedelung planmäßig von Seiten der rnssi-
schen Krone betrieben, welcher daran lag, das Land mit
europäischen Leuten zu bevölkern; auch verfolgte sie dabei
politische Pläne. In Nordamerika dagegen lag der Hudsons-
bai-Gesellschaft Alles daran, ihr Monopol zn bewahren und
jede Colonifation fern zn halten. Für ihre Zwecke genügte
es vollkommen, daß sie an geeigneten Punkten Handels-
statio nen, sogenannte „Forts", errichtete, welche dann auch
in einer zusammenhängenden Kette von Canada nnd der
Hudsonsbai bis an den Großen Ocean und an die Mündun-
gen des Mackeuziestromes reichten.
Andere feste Wohnsitze gab es nicht in dieser „Pelzregion".
Ihre Ausdehnung ist gleich jener der Landmasse im Norden
einer Linie, welche vom Biscayischen Meerbusen, nach Osten
hin durch den nördlichen Gols des Mittelländischen Meeres,
durch das Adriatische und Schwarze Meer bis zum Kaspi-
schen und Aralsee und weiter in nordöstlicher Richtung bis
zum Ochotskischen Meere gezogen wird.
Man werfe einen Blick auf die Karte. Der südliche
Theil ist zumeist Prairiegegend, theils mit sehr srncht-
barem Boden, theils sumpfig oder sandig; hier zieht der
Büffel, auch jetzt uoch in Herden von vielen Tausend Hänp-
tern, je nach der Jahreszeit gen Norden oder Süden, denn
66 Ueberland nach Britisch Columbia
diePrairien bilden seine Weidefluren. Diese werden hoch nach
Norden hin, am Friedensflusse (Unjigah), von Waldstrecken
unterbrochen und setzen sich dann weiter fort bis zum großen
Sklavensee. Der nördliche Strich, zum Polarmeere hin,
besteht aus offenen, waldloseu Einöden, „Barren Gronnds",
aus welchen Rennthiere, Wölfe und Polarfüchse umherstrei-
fen; Alles Uebrige ist Waldregion, und diese erstreckt sich
von Canada und der Hudsonsbai nach Westen hin bis in
die Felsengebirge und gen Norden an einzelnen Stellen,
z.-B. am Mackenzie, bis ans Polarmeer. Denn in Folge
des Aufsteigens der Isotherm (SonnenwärMelinien) ist der
westliche Theil Nordamerikas weniger kalt als der Osten,
und während an der Hudsonsbai der Wald nicht über 60"
nördl. Br. hinausgeht, reicht er am Großen Bärensee bis
65v; Birken, Pechtannen nnd Pappeln kommen noch unter
68^ vor.
Das Land im Westen der Felsengebirge hat ein beträcht-
lich milderes Klima. In diesen Rocky Mountains liegt eine
Anzahl von Nebergangspässen, welche im Fortlause der
Zeit von den Pelzhändlern, zuerst gewöhnlich nach Weisung
der Indianer, überschritten worden sind und eine Verbindung
zwischen der westlichen und der östlichen Abdachung möglich
machen. Unter diesen ist sowohl in hydrographischer Bezie-
hnng wie als Knotenpunkt für den Verkehr die fogenauute
Pnnchbowle ganz besonders bemerkenswert^ Diese Vertie-
fung oder Einfenkung liegt in einer Meereshöhe von etwa
7500 Fuß zwischen den auf allen Karten verzeichneten Berg-
riefen Hooker und Brown; sie bildet die Athabaska
Portage, wo die Karawanen zu rasten pflegen, welche von
den Pelzstationen am Friedensflusse und am Saskatschewan
nach denen am Fraserslnsse, überhaupt nach Britisch Colnm-
bia, oder umgekehrt von diesem letztern ans nach Osten zie-
hen. Dort liegt ein kleiner See, aus welchem der nördliche
Arm des Columbiastromes abläuft, und wenige Schritte von
demselben fließt aus einein andern Teiche der westliche Arm
des Athabaska, der ein Nebenwaffer des Mackenzie ist,
welcher seinerseits ins Eismeer mündet. Etwas südlich von
diesen Quellteichen entspringt der Saskatschewan, dieser
echte Prairiestrom, der in östlicher Richtung eine Anzahl von
Gewässern der weiten Wiesensteppen in sich aufnimmt, in
den Wiuipeg-See fließt, aus diesem als Nelson heraus-
tritt und sich in die Hndsonsbai ergießt. Weiter nördlich
an dem Athabaska-Tragplatze liegen die Quellen des Frie-
densslusfes, Unjigah, in ganz geringer Entfernung von
denen des Tacontche Teffe, der heute allgemein Fräser
genannt wird und als solcher so berühmt geworden ist. An
oder aus allen diesen Stromläufen ziehen die Land- nnd Wasser-
karawanen hin.
So lange bloß Indianer und Pelzjäger aus diesen Wegen
wandelten, erregten dieselben eine verhältnißmäßig geringe
Aufmerksamkeit. Aber wie mit einem Schlage gewannen die
westlichen und nordwestlichen Einöden eine bedeutend gestei-
gerte Wichtigkeit, als 1848 iu Calisoruieu uud später im
Stromgebiete des Fräser die ungemein ergiebigen Goldgruben
entdeckt wurden. Dadurch ist urplötzlich ein wunderbar reges
Leben und Treiben in die pacififchen Gestadeländer gekommen
und im Laufe der letztverflossenen siebenzehn Jahre sind mehr
als zwei Millionen Menschen theils ans dem Seewege, theils
Uber Land nach jenen meist weit ab in vereinsamter Ferne
liegenden Gegenden gezogen. In diesem kurzen Zeiträume
hat sich dort eine Anzahl von Staaten gebildet, und im Ge-
biete der nordamerikanischen Union ist nun das gesammte
Land politisch orgauisirt. Durch die neuen Staaten uud
Territorien zieht eine Poststraße und die große westöstliche
Eisenbahn von Neuyork nach San Francisco wird zuverlässig
vollendet werden, ehe hundert Monate verflossen sind.
und deu Goldgruben von Caribou.
Im britischen Gebiete, also im Norden des 49sten Breite-
grades, welcher die Grenzscheide bildet, nimmt die Ent-
Wickelung einen langsamem Verlauf. Das ganze Land zwi-
fchen Canada und Britisch Columbia, das man früher Neu-
Caledonien nannte, ist noch unbesiedelt, oder vielmehr, man
hat erst schwache Anfänge zu Niederlassungen gewagt. Aber
allmälig nimmt die Colouisirung doch ihren Fortgang, seit-
dem die Hudsonsbai-Gefellfchaft nicht mehr in der Lage sich
befindet, die weißen Leute, insoweit sie nicht in ihrem Dienste
stehen, fern zu halten. Denn ihr Gebiet ist nun ein Pas-
sagelaud geworden, das alljährlich von Tausenden nach
Osten wie nach Westen durchzogen wird. Manche sind unter-
wegs zurückgeblieben, und so ist es gekommen, daß nun schon
am Winipeg-See und am Saskatschewan Dörfer gegründet
worden find. Hier wiederholt sich eine Erscheinung, welche
abermals an das asiatische Sibirien erinnert. Auch in den
amerikanischen Einöden, die für so nnwirthlich galten, liegen
ausgedehnte Strecken, welche den Anbau unserer Getreidearten
und der Hülsenfrüchte reichlich lohnen und sich sehr wohl zur
Viehzucht eignen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß binnen
heute und einem Menschenalter eine ununterbrochene Kette
von Niederlassungen vom obern See bis iu die Quellen-
region des Saskatschewan vorhanden sein und die Zahl der
Bewohner einige Hunderttausende betragen wird. An der
westlichen Seite des Hochgebirges, im Goldlande, nimmt die
Besiedeluug ohnehin einen verhältnißmäßig raschen Fortgang.
Der Pelzhandel reicht in Nordamerika bis in die erste
Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts hinauf; er blieb aber,
so weit die Hudsonsbai-Gefellfchaft in Betracht kommt, nur
anf die Gegenden im Osten der Felsengebirge beschränkt. Es
war ein Deutscher, Fiedler, welcher, von dem Handels-
Posten Fort Bnckingham am Saskatschewan ans, als der Erste
in die Felsengebirge eindrang und bis in die Quellengegend
des Missouri gelangte. Aber der Erste, welcher das Hoch-
gebirge überschritt, warSimonFräser (1806 oder 1808). Er
war vom Fort Tschipewäyan, das an der Westseite des Atha-
baska-Sees liegt, bis zum Unjigah gelangt, und dauu aus
der Westseite an den Tacoutche Tesse gekommen, wo er an
einem nach ihm benannten See unter 54° n. Br. den ersten
Handelsposten der Engländer gründete. Nun war die Bahn
bis in den pacisischen Westen hinein gebrochen, und schon
1811 erschienen Pelzjäger, welche von Osten her Überland
gekommen waren, auch am Columbiastrome in Oregon und
dem heutigen Gebiete Washington.
Die jetzige Colonie Britisch Columbia, ein rauhes,
durchaus unebenes Land, wird von Gebirgen durchzogen,
welche zum Theil eiue beträchtliche Höhe erreichen, und hat
viele Flüsse und Seen. Die Höhen sind zumeist mit Fichten
und Tannen bewaldet, in den Thälern sprießt ein sehr nähr-
Haftes Gras empor und die Ufergegend der Flüsse ist mit Wei-
den, Erlen, Pappeln, Birken und theilweise auch mit Nadel-
holz bestanden. Manche Höhen haben keinen Wald, aber
dafür einen ganz prächtigen Graswuchs. Dieses höchst saftige
„Buuch-Gras" scheint der Westseite eigentümlich zu sein,
unterscheidet sich von dem Grase der Prairien und der Fluß-
Niederungen, wird 20 bis 30 Zoll hoch, wächst in einzeln
stehenden Büscheln und ist auch bei dürrer Zeit für das Vieh
sehr nährend.
Im Osten bilden die Felsengebirge, im Westen die Wo-
gen des Großen Weltmeeres die Grenze dieser Colonie; im
Norden liegt russisches Gebiet, im Süden dehnen sich die
amerikanischen Territorien Washington nnd Idaho aus. Wir
sagten schon, daß das ganze Land uneben sei; in der That
wird es nach allen Richtungen von Wiederlagen und Aus-
läufern der Rocky Mountains durchzogen nnd manche Gipfel
find mit ewigem Schnee bedeckt; auf anderen bleibt er neun
Ueberland imcfc Britisch Columbia
Monat im Jahre liege«. Dagegen fällt er in den Thalern
in verhältnismäßig geringer Menge und dauert nur selten
eine Woche lang an. An der Küste ist der Winter sehr mild,
aber es regnet viel. Im Jahre 1863 hatte man zu Victoria
auf der Vancouverinsel in der ersten Decemberwoche noch
keinen Schneefall gehabt.
Ein Sechstel der Oberfläche besteht aus Wasser. Einer
der größten unter den vielen Seen, Stuarts Lake, ist etwa
50 Miles lang nnd 4 bis 5 Miles breit; Fräsers Lake hat
80, Mac Leods Lake (55° it. Br.) 55 A!iles im Umfang.
Der letztere nimmt seinen Abfluß zum Friedensflusse, also
zum Eismeere. Die Quellen des Fräser ström es liegen
nahe bei deuen des Eanoe River, dem nördlichsten Quell-
slnsse des Columbia. Der Fräser macht in seinem obersten
und den Goldgruben von Caribon. 67
Laufe einen weiten Bogen, erst nach Westeu, dann nach Sil-
den, und das Land, welches diesen Bogen ausfüllt, ist das
goldreiche Caribou. Dann strömt er bis in seine Mün-
dungsgegend vorzugsweise in der Richtung nach Süden; sei-
neu Hauptzufluß bildet der T h o m p s o n, welcher auf der linken
Seite bei den sogenannten F orks mündet und auch ein Gold-
gebiet durchströmt. Der Fräser ist an seiner Mündung etwa
1 Mile breit und 36 Miles aufwärts, bis Fort Langley,
für größere Schiffe fahrbar. Es liegt in der Bodengestal-
tung, daß alle diese Flußläufe nur C asc ad eu ströme bilden
und als solche bloß streckenweise für Kähne schiffbar sind.
Diese gehen bis Fort Aale.
Gold ist am Fräser und zwar zuerst am nntern Laufe
desselben im Jahre 1857 gefunden worden, und in den nach-
Nachtlager
sten vier Jahren gab jene Gegend reichen Ertrag. Als dann
die Ausbeute für nicht mehr ergiebig genug gehalten wurde,
zogen die meisten Goldgräber weiter landein und überließen
die, ihrer Meinung nach, nicht mehr lohnenden „Diggings"
den Chinesen. Diese arbeitsamen und unermüdlichen Söhne
des Blumenreiches der Mitte haben dann für manche hnn-
derttansend Dollars Gold in jenen, wie man meinte, be-
reits erschöpften Gruben gefunden. Aber die weißen Diggers
hatten vernommen, daß weit hinten in derCaribou-Wild-
niß das Goldgraben ungleich besser lohne; sie zogen also in
Masse dorthin und an den Williams River, wo sie ihre
Arbeit allerdings reichlich belohnt finden. Sie ist indeß sehr
beschwerlich, denn es handelt sich dabei nicht um das Hin-
wegsprengen von Quarzgestein, sondern man muß mit der
Hacke den 20 bis 40 oder 50 Ellen tiefen Thon, Lehm,
. Red River.
Sand und Kies aufhacken, ihn mit der Schaufel entfernen
nnd findet dann erst das edle Metall.
Man ist einstimmig darüber, daß die Caribon-Region
unermeßlich reiche Schätze berge und das Goldgraben mehr
als einer Menschengeneration lohnende Arbeit gewähren könne.
Aber außer dem Golde ist sie auch in anderen Metallen nn-
gemein ergiebig; man hat Platin«, Silb er und vor alle»
Dingen Kupfer iu ganz ungeheurer Menge gefunden. Das
rauhe Land, welchem indessen der zum Ackerbau geeignete
Boden nicht etwa gänzlich mangelt, hat eine werthvolle Hülfs-
quelle auch an den Wäldern, welche einen großen Theil
desselben bedecken. Schon jetzt werden beträchtliche Holz-
ladungen nach Ostasien, den Sandwichsinseln und nach Süd-
amerika verschifft. Dazu kommt, daß die Insel Vancouver
reich an Steinkohlen ist, die sonst in den Ländern an der West-
Ueberland uacb Britisch Columbia
küste Amerikas selten auftreten. Bis jetzt ist Victoria auf
Vaucouver der wichtigste Handelsplatz; die Stadt zählt
zwischen 15,000 und 20,000 Einwohner, hat einen vor-
trefflichen Hafen und eine Werfte auch für Kriegsschiffe.
Baucouver ist in der allerjüngsten Zeit mit dem festläudi-
scheu Britisch Columbia vereinigt und New-Westmiuster
definitiv zur Hauptstadt erklärt worden. Diese liegt etwas
oberhalb der Mündung des Fräser, unterhält regelmäßige
Dampfschifffahrt mit Victoria und hat ein Münzamt erhal-
ten, damit man das Gold nicht ferner nach San Francisco
zum Ausprägen zn schicken nöthig habe.
Der englischen Regierung entgeht die Wichtigkeit dieser
Colonie keineswegs und sie hat die ganze Strecke zwischen
Canada und Britisch Columbia sorgfältig untersuchen lassen.
Tie vortrefflichen Arbeiten von Capitaiu Palliser und
Dr. Hector sind bekannt und wir haben derselben mehrfach
im „Globus" erwähnt. Man weiß nun, daß vermittelst
des Winipeg-Sees und des Saskatschewan wenigstens mehrere
Monat im Jahre eine Dampfschifffahrt bis in die Nähe der
und den Goldgmbcn von Caribou. 69
Felsengebirge möglich ist, uud schon vor Jahren drang Ca-
pitain Syuge auf die Anlage einer interoceanischen Eisen-
bahn von Halifax in Neuschottland nach der Küste des Großen
Oceans, welche ganz durch britisches Gebiet führen folle.
Aber die Nordamerikaner sind eifriger ans Werk gegangen
und es scheint als ob jene britische Bahn vorerst keine Aus-
ficht auf Verwirklichung habe. In der Prairieregion würden
die Bodenverhältnisse keine Schwierigkeiten darbieten, Holz
und Steine sind vollauf vorhanden; und was die Gebirgs-
Übergänge anbelangt, so ist Palliser, der seinerseits sechs neue
Pässe entdeckte, der Ansicht, daß sie keine Hindernisse darbieten,
welche die fortgeschrittene Technik unserer Zeit nicht überwin-
den könne. Uns scheint die Zeit für ein solches Unternehmen
noch nicht da zu sein.
Inzwischen geht eine Karawane nach der andern über
die Prairien und die Felsengebirge nach dem westlichen Do-
rado. Beschwerlich genug ist der weite Weg von mehr als
1200 Wegstunden, für eine wohlausgerüstete Gesellschaft von
bewaffneten Männern bietet er indessen keine großen Ge-
Piairie-Hühner.
fahren. Aber einzelne Reifende, die auf Jagdabenteuer aus-
gehen uud sich „au der Wildniß erlaben" wollen, finden in
jenen Einöden Aufregung und Beschwerden in reichlicher Fülle
und in dieser Beziehung sind Visconnt Milton nnd Dr.
Cheadle, welche im Sommer des Jahres 1862 eine Ueber-
landreise nach Britisch Columbia unternahmen, in ihren kühn-
Ken Erwartungen nicht getäuscht worden. Selbst dem Huu-
qutodi- waren fie nahe. Wir wollen den Mittheilungen der
Relsemeu Einzelnes entlehnen und ihre Angaben vervoll-
ständigen.
* • .S V. * *
*
2>oit Nendorf bis St. Paul im Staate Minnesota be-
nutzt man Eisenbahnen nnd Dampfer. Bon dort ab gehen
alljährlich Karawanen nach Fort Garry, dem Hauptorte
der Red-River-Colonie; sie bleiben etwa 36 Tage unter-
wegs und durchziehen zumeist Prairieland, das an manchen
Stellen einen parkartigen Anblick gewährt. Doch ist zwi-
scheu St. Paul und Fort Abercrombie und weiter nach George-
town eine Fahrpost vorhanden und nach Fort Garry kann
man vermittelst der Dampsboote gelangen. Die beidenMei-
senden fanden aber dergleichen nicht vor und schifften in
Kähnen den Strom hinab, in den vielbeschriebenen Nachen
aus Birkenrinde, welche von einigen Mestizen (Bois brulss,
wie mau sie ihrer gelbbräunlichen Hautfarbe wegen bezeichnet)
gerudert wurden. Mehr als einmal hatten sie Sturm;
Abends gingen sie ans Ufer uud schlugen ihr Zelt auf; am
7. August langten sie, nach sechszehntägiger Stromfahrt, in
Fort Garry an. Dasselbe liegt am nördlichen Ufer des
Asfiuiboiu, der hier in den Red River mündet, ist mit
Mauern umgeben, mit Thürmeu slankirt, und Sammelplatz
für eine Menge von Indianern und Mischlingen, welche
Pelzwerk und Büffelfleisch gegen allerlei Maaren vertauschen.
Die Colonie am Red River ist 1811 von dein schotti-
schen Lord Selkirk als Ackerbauniederlassung gegründet und
anfangs Assiuiboia genannt worden. Aus der Vermischung
der Schotten und französischen Canadier einerseits, und der
Krih- und Odschibwä-Jndianer andererseits, entstanden die
Bois brnles, welche theilweise etwas Ackerbau treiben, aber am
liebsten als Jäger umherziehen und dem Büffel uachstelleu.
nicht ein einziger Diebstahl vorgekommen. Unter sich führten
diese Rothhäute ein durchaus friedliches Familienleben.
Den Hauptzeitvertreib des langen Winters bildete die
Jagd. Je nach der Oertlichkeit stellt man dem Bär nach,
oder dem Hermelin, dem Wieseliltis (Foutereau), dem Baum-
marder, dessen Pelz als Sable oder amerikanischer Zobel
in den Handel kommt, oder dem Pekan, welcher jenem gleicht
und dessen Pelz als Woodshock bezeichnet wird, oder dem
Fuchs und dem Luchs, dem Hasen und dem Biber, die Moschus-
rotte nicht zu vergessen, welche auch Watsuß oder Mnsk-
wasch genannt wird, binnen 12 Monaten dreimal Junge
wirft und jährlich mindestens eine halbe Million Felle in
den Handel liefert.
Die beiden Europäer geizten nach dem Ruhme, tüchtige
Trappers zu werden und waren gelehrige Schüler der Bois
brnles, welche sich ans das Fallenstellen vortrefflich verstanden.
Ihre Freude war groß, als sie die ersten gelungenen Thaten
sahen, und doppelt groß, wenn sie Abends einige Prairie-
Hühner heimbrachten. Aber mißgestimmt waren sie, wenn
ihnen der Onickhatsch das Spiel verdorben hatte. Dieser
Kjellsraß, oder Wolverene (Gulo luscus), cht kräftiges,
schlaues Thier, das bis in die Polarregion hinaufreicht, ist
bem Jäger in tiefster Seele verhaßt; sie schimpfen weidlich
auf diesen Carcagou, denn so bezeichnen ihn die Mestizen;
bei den Indianern heißt er noch obendrein der Bösewicht,
Kekuaharkeß. Tag und Nacht schleicht er dem Jäger nach
und verläßt ihn nicht wieder. Verliert er an einem See die
Witterung, flugs galopirt er rund um, bis er sie wieder-
findet und dann schleicht er noch bis dahin, wo die Fallen
gestellt worden sind. Mit großer Geschicklichkeit weiß er
herauszuholen, was sich gefangen hat und richtet ganz un-
geheure Verwüstung an; denn auch die Verstecke, in denen
man Lebensmittel geborgen hat, plündert er aus, und aus
den Fallen, in denen sich noch nichts gefangen hat, weiß ei
ohne Schaden für sich den Köder heranszulangen. Auge-
nehmen Zeitvertreib gewährt der kleine, schwarz und blaue
Specht, der sich bei jedem Trapperlager einfindet und dreist
bis in die Hütte kommt.
Die Reisenden blieben bis zum 3. April 1863 in ihrer
Hütte auf der schönen Prairie. Dann zogen sie am Nord-
arme des Saskatschewan hin, der noch mit Eis bedeckt war,
und erreichten am 20. April Fort Pitt, wo sie acht Tage
70 Ueberland nach Britisch Columbia
Die beiden Reisenden blieben drei volle Wochen in Fort
Garry. und der September kam heran. Sie hatten keine
Aussicht, vor Eintritt des Winters die Felsengebirge über-
steigen zu können und beschlossen deshalb, irgendwo in der
Saskatschewan-Region die kalten Monate zu verleben. Sie
mietheten vier Bois brnlss, kauften Pferde, versorgten sich
reichlich mit Pemylican, getrocknetem Fleische, Mehl, Thee,
Salz, Taback, Rum, Büffelpelzen und allerlei Kleinkram für
die Indianer. Alles wurde auf sechs Karren geladen und
so zog man fort gen Westen, zunächst am Assiuiboin hin
nach Fort Ellice, wo sich Indianer verschiedener Stämme
eingefunden hatten. Am 25. September erreichten sie den
südlichen Arm des Saskatschewan und am andern Tage Fort
Carlton, wo die Mestizen zu ihrer Unterhaltung einen Ball
veranstalteten. Es war auffallend, daß viele Mestizinnen
hier, wie auch in anderen Handelsposten, durch Kröpfe ver-
uuziert werden; die Indianer und deren Frauen blei-
ben davon verschont.
Das Wetter war im October noch sehr schön. Am 14.
und den Goldgruben von Caribou.
gelangten die Reisenden an eine Stelle, die sie als entzückend
schildern, als die „schöne Prairie", welche etwa 300 Mor-
gen groß und von bewaldeten Hügeln umgeben ist. Sie hat
einen kleinen See, in welchen mehrere klare Bäche fallen.
Dort beschlossen sie ihre Hütte zn bauen, von welcher wir
ein getreues Abbild geben. Sie war 15 Fuß lang, 13 Fuß
breit; die Mestizen sägten Pappelbäume der Länge nach durch,
legten rohe Stämme an- und aufeinander und verfertigten
ein Dach aus jungen Tannen. Der Lord stach Rasen und
verstopfte die Oeffnungen; Dr. Cheadle holte Steine nnd
baute einen Rauchfang, der eben fertig war, als am 23.
October der kleine See sich mit Eis bedeckte und am andern
Tage Schnee fiel. Man war dürftig genug eingerichtet,
hatte aber Vorräthe vollauf, saß warm und erhielt von In-
dianern aus der Nachbarschaft Besuche. Alles hatte in der
That einen romantischen Anstrich. Die Söhne der Wildniß
wurden wie Menschen behandelt, nicht in roher Mnkeeweise;
deshalb benahmen sie sich vortrefflich nnd während der sechs
Monate, in denen sie mit den Fremden verkehrten, ist anch
Wolvcrme (Fjellfraß, Gulo luscus).
72 Ueberland nach Britisch Columbia
blieben und dann „durch eine der schönsten Landschaften der
Welt" weiter nach Norden wanderten. Am 14. Mai waren
sie in Fort Edmonton, das wir näher schildern wollen.
Fort Edmonton am nördlichen Arme des Saskatschewan
ist ohne Zweifel der bei weitem bedeutendste Handelsposten,
welchen die Hudsonsbai-Gesellschaft in jener nordwestlichen
Prairieregion besitzt, gleichsam ein Karawanserai im
nordamerikanischen Steppenlande, und eiue der wich-
tigsten Fleisch- und Fischstationen. Von dort ans erhalten
andere Handelsposten, die eine weniger günstige Lage haben,
ihren Bedarf an Lebensmitteln. Der amerikanische Maler
Ein Häuptling d«
sich anch vermindert hat, schwärmen doch immer noch in nn-
zählbarer Menge auf den Prairien der Umgegend umher;
deshalb ist es möglich, zu Fort Edmonton Fleischvorräthe,
namentlich Pemmican, einzulegen. Auch im Sommer hat
mau dort, in Folge eigenthümlicher Vorkehrungen, frisches
Fleisch. Der Büffel erscheint in jener Gegend in der Wiu-
terzeit und die Jäger erlegen manches Tausend. Um das
Fleisch aufzubewahren, ist ein großes, viereckiges Loch aus-
gegraben worden, welches Raum für das Fleisch vou sieben-
bis achthundert Büffeln hat. Dasselbe ist mit großen Eis-
blöcken, welche man aus dem Saskatschewan heraussägt, ge-
und den Goldgruben von Caribon.
Paul Kane (Bruder des bekannten 'Nordpolfahrers, wenn
ich nicht irre), welcher das ganze britische Nordamerika von
Canada bis Oregon uud zur Vanconver-Jnsel durchzog, faud
dort wahrhaft Ueberfluß an Büffelfleisch, Wildpret verschie-
dener Art, eingesalzenen Gänsen, Weißfischen und Hasen,
sodann Mehl, Kartoffeln, die er als vortrefflich schildert, und
sehr schmackhafte Rüben. Gerste gedeiht in jener Gegend,
53030' nördl. Breite (113°49'tnestl. Länge von Greenwich),
sehr gnt, während der Weizen manchmal durch Sommerfröste
leidet und der Mais, wegen des zu kurzen Sommers, nicht
reif wird. Die Büffel, fo fehr im Allgemeinen ihre Zahl
; Krih-Indianer.
pflastert und an den Seiten mit dergleichen förmlich aus-
gequadert. Nachdem man den Thieren Kopf und Beiue ab-
gehauen hat, zerlegt man sie in große Viertel, an denen man
die Haut läßt, verpackt sie in Eis und überdeckt sie mit
Stroh, über welches ein Dach zum Schutze gegeu die Son-
nenstrahlen kommt. Das Fleisch hält sich bis zum nächsten
Spätjahr und bleibt nicht nur frisch, sondern ist ungemein
zart und saftig.
Das „Fort" besteht aus einem großen zweistöckigen Ge-
bände, in welchem der Oberaufseher und andere Beamte
wohnen. Neben demselben liegen die Magazine der Com-
Eine Krih-Mestizin.
melancholisch erscheint, wie sonst bei den nordamerikanischen
Indianern ; aber in den Zügen und in den schwarzen Augen
liegt doch immer etwas Finsteres, während die portraitähn-
lichen Züge der Mestizin, welche von einem weißen Vater
und einer braunen Mutter stammt, nicht ohne Anmnth sind.
Diese Krihs sind treffliche Schwimmer, Fischer und ^)tn-
derer und vor allen Dingen auch sehr gewandte Jäger, deren
Dienste der Hudsonsbai-Gesellschaft zu Gute kommen. Sie
legen großen Werth auf ihren Haarschmuck aus Schwans-
und Adlersedern; anch dienen Hörner, Zähne und Klauen
verschiedener Thiere zu Zierrathen. Den Frauen dagegen
Globus XI. Nr. 3.
ist der Haarschmuck vollkommen gleichgültig, sie sind aber
stolz darauf, daß der Kopfputz des Mauues recht schmuck und
stattlich aussehe; dagegen tragen sie Armbänder und Ringe
und tättowireu sich. Das freundliche Gestcht der Mestizin
erklärt sich, wenn wir hervorheben, daß die Krihfrauen unter-
allen Indianerinnen des Nordens für die hübschesten gelten;
sie sind wohlgestaltet, haben regelmäßige Züge und halten,
was hervorgehoben zu werden verdient, auf einige Sauberkeit.
Auch werden sie im Allgemeinen von den Männern nicht
hart behandelt; sie dürfen, was bei anderen Jndianerstämmen
nur selten und ausnahmsweise vorkommt, mit ihnen essen,
Ueberlaud nach Britisch Columbia
paguie, welche dort das Pelzwerk uud die Haudelswaareu
aufspeichern läßt; die niederen Beamten und die Dienstleute
hausen mit ihren Familien in Blockhäusern. Das Ganze
ist mit einem hohen Pfahlwerk umgeben und bildet ein un-
regelmäßiges Sechseck von etwa 150 Ellen Länge uud 35
Ellen Tiefe. Die Bewohner verzehrten im Jahre 1859
(als Capitain Palliser uud Dr. Hector iu Fort Edmonton
waren) 2500 Centner Büffelfleisch und 160,000 Pfund
Weißfische; die übrigen Nahrungsmittel nicht gerechnet. Die
Zahl der Insassen stellte sich damals auf 40 Männer, 30
Frauen uud 80 Kinder.
und den Goldgruben von Caribou. 73
In diesem Fort versorgen sich nicht weniger als sieben
verschiedeneJndianerstämme mit europäischen Waaren, welche
von ihnen mit Pelzwerk bezahlt werden. Edmonton liegt
im Gebiete des weitverbreiteten Stammes der Krihs (Crees),
welche mit den Assiniboins sprachverwandt sind und auch als
Knistenos bezeichnet werden. Sie gehören der Gruppe der
sogenannten nördlichen Indianer an und sind, wie unsere,
der Zeichnung Paul Kaue's nachgebildete, Illustration dar-
thut, ein kräftiger und wohlgebauter Menschenschlag mit durch-
dringendem Blicke. Bei vielen hat der Gesichtsausdruck keines-
wegs etwas Offenes nnd Unangenehmes, weil er nicht so
Ritt durch einen Fluß in dcr Waldregion.
ft
Heinr. Ditz: Bilder aus
ja sie haben sogar das Privilegium, sich mit ihnen zu be-
rauschen! Das ist gewiß Viel eingeräumt, nach indianischen
Vorstellungen nämlich; aber bei feierlichen Gelegenheiten und
großen Festen ist das Weib aus der Gesellschaft der Männer
verbannt. Vater wie Mutter beweisen den Kindern eine
fast übertriebene Zärtlichkeit; der Bater straft den Knaben
niemals, unterrichtet ihn aber sorgfältig in Allem, was zur
.Jagd und Fehde nöthig ist. Ueberhaupt haben die Krihs
einen guten Namen, weil sie von Natur uicht wild und nicht
bloß im Verkehr unter einander, sondern auch gegen die
Fremden ehrlich sind. Aber Keuschheit ist nicht vorhanden
und Untreue von einer Frau verübt gilt nur dann für straf-
bar, wenn sie ohne Vorwissen des Mannes begangen worden
ist; nicht selten wird von ihm die Gattin gegen ein Hand-
gelb vermiethet, dem Gastfreund aber, ohne irgend welchen
Anspruch auf Ersatz, zu beliebiger Verfügung gestellt. Das
Unzusammenhängende im Wesen der Wilden, .an die kein
Völkerkundiger deu Maßstab der weißen Menschenrace an-
legen wird, zeigt sich auch beim Krih. Er ist unbeständig,
prahlerisch, sorglos, denkt nicht an den kommenden Morgen,
ist ein leidenschaftlicher Spieler und Trinker und hat durch
sein Zusammenleben mit demoralisirten Europäern wahrlich
nicht gewonnen. Er ist nicht mehr der gewaltige Krieger der
früher» Zeit; Branntwein, Keuchhusten, Masern, Pocken und
Syphilis haben die Zahl des Volkes beträchtlich vermindert.
Es ist vorgekommen, daß Mütter ihre Töchter ums Leben
brachten, damit sie nicht eine Bente der schweren Lasten und
des Eleuds würden, welche sie selber manchmal erdulden
müssen; denn auch bei deu Krihs ist das ganze Leben der
Weiber eine ununterbrochene Kette schwerer Arbeiten und
Entbehrungen.
Durch die Indianer und die Jäger der Compagnie und
deren Aufkäufer oder Reisedieuer gewinnt das Leben in jenem
Fort etwas Farbiges. Auf den Wiesen schwärmen nahe an
tausend Pferde in halbwildem Zustand umher ; sie suchen sich
dem magyarischen Ungarn. 75
auch im Winter ihr Futter selbst, indem sie den Schnee mit
den Husen wegscharren. Ein einziger Mann ist hinreichend,
diese ganze Herde zu bewachen, denn sie verläuft oder zer-
streut sich nicht, weil ihr Naturtrieb ihr sagt, daß sie bei-
sammen und in der Nähe menschlicher Wohnungen bleiben
müssen, um nicht eine Bente der in zahlreichen Rudeln um-
herschwärmenden Wölfe zu werden. Das Pferd läßt sich
mit leichter Mühe einfangen und wird als Transportthier
benutzt, so daß im Sommer ganze Pferdekarawanen zwischen
den einzelnen Handelsposten hin- und herwandeln. Im
Winter dagegen ist der Hund, so wild und nngeberdig er sich
auch benimmt, viel nützlicher; zwei Hunde ziehen eine ans-
gewachsene Büffelkuh meilenweit über den Schnee hinweg,
ohne zu ermüden.
Der'Maler Kane verlebte die Weihnachtstage im Fort
Edmonton und hatte dort lustige Zeit. In der großen Halle
versammelten sich die Beamten mit ihren Familien und ein
canadischer Fiedler spielte muntere Weisen. In der Luft
draußen hatte man eine Kälte, bei welcher das Quecksilber
gefror; aber der Tanz war sehr munter. Als eingeladene Gäste
erschienen auch die Häuptlinge der verschiedenen Indianer-
stämme, mit welchen das Fort in Handelsverbindungen steht,
namentlich jene der Schwarzfüße, Dickbäuche, Poyagans und
anderer. Sie hatten das Antlitz bemalt und waren ball-
mäßig aufgeputzt, auch die „Squaws", reiublütige Iudiane-
rinnen wie Mestizinnen, hatten sich nach Kräften geschmückt.
Auf die Tafel wurden folgende Gerichte gestellt: Ge-
kochter Büffelhöcker; ein nnzerlegt gekochtes Büffel-
kalb, das durch einen Kaiserschnitt zu Tage gefördert worden
war, — ein Gericht, welches von den Feinschmeckern der
Prairien sehr hoch geschätzt wird. Sodann Muffle, d. h.
eine getrocknete Schnauze vom Elennthier; Weiß-
fisch in Büffelmark gebraten; Büffelznnge und Bi-
berschnauze; sodann Kartoffeln, Rüben und verschiedene
Gemüse. A,
Wilder aus dem magyarischen Ungarn.
Von Dr. cam. Heinrich Ditz.
II.
Mangel an Maß in tev Puszta. — Das große Dorf Hold Mezö VÄsärhely. — Tanya und Tanya-Wirthschaft im Gegensätze zur Dorf-
» wirthschaft. — Verbesserungen und Fortschritt.
II. Ein ungarisches Dorf.
Die Erscheinungen aus der ungarischen Steppe sind nichts
weniger als mannigfaltig; aber je einförmiger diese Erschei-
nnngen, um so kolossaler pflegen sie auszutreten. Während
man anderwärts 3000 bis 5000 Pflanzenarten rechnen kann,
treffen auf die ungarische Steppe etwa 500; eben so sind
nur wenige Gattungen aus dem Thierreich vertreten. Aber
was die Steppe einmal trägt, das trägt sie gleich in Mil-
liarden von Exemplaren.
Der Steppe fehlt in Allem das rechte Maß: sie
kennt nur Uebermaß und völligen Mangel. Ent-
weder Kälte ober Hitze, aber kein mildes Wetter; entweder
Monate langev Regnen oder Monate lange Dürre, keine
Abwechselung. Entweder Grnndherren im Besitze von meh-
reren, ja bis zu 50 Quadratmeilen, oder besitzlose Arbeiter;
der mittlere Grundbesitz ist nur schwach in Ungarn
vertreten. Und neben dem menschenleeren unabsehbaren Felde
Riesendörfer und Städte; ein mäßiges Dorf oder ein Weiler
ist fast nirgends zu finden. Es giebt gewaltige Ströme dort
und von Flüssen ganz unberührte Gegenden; eiueu Bach kennt
die Steppe nicht; und Land, welches immer von der Dürre
verschont bleibt, leidet um so gewisser vou der Nässe. Eine
richtige Mitte ist in. der ungarischen Ebene nicht vorhanden.
Dieses zeigt sich auch an der Ungeheuern Größe der Wohn-
sitze aus der Ebene. Manches Dorf konnte mit seiner Mark
ein deutsches Fürstenthum der alten 16. Curie bedecken. Um-
faßt doch die Mark von Theresiopel nicht weniger als 34
Quadratmeilen, jene von Kuu Sz. Märton 20 Qnadrat-
meilen, die von Debreczin 13 Quadratmeilen, vou Szegediu
13, von Väfärhely 111/7, von Kecskemvt 10 Quadrat-
meilen n. s. w.
Wir wollten dem Leser ein Bild von den Größenverhält-
nissen und von dem Leben eines ungarischen Dorfes geben,
und dazu wählen wir Hold Mezö Väsurhely, 5 Meile»
10*
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Heinr. Ditz: Bilder ans dem magyarischen Ungarn.
nordöstlich von Szegedin. Freilich nennt der Eingeborene
seine Heimath eine Stadt, und auch der Staat hat der Ort-
schast Vg.särhely (d. i. Marktflecken) die Rechte eines Markt-
fleckens gegeben, worauf schon der Name deutet; allein volks-
wirtschaftlich ist V-z.särhely ein ganz unverfälschtes Dorf,
wie alle ungarischen Ortschaften, welche sich nur dadurch von
den kleineren Dörfern unterscheiden, daß dort der Kuhhirt
eine große, hier aber eine sehr große Herde aus die Weide
treibt. Wie wir gleich sehen werden, besteht Va.sg.rhely fast
aus einer rein landwirthschaftlichen Bevölkerung, und das
rettet ihm beim Nationalökonomen und beim Socialpolitiker
den Charakter als Dorf. Wir sagen „rettet"; denn die
ungarische Industrie und das dortige Gewerbe ist nicht im
Stande, einer Stadt jene Achtung zu verschaffen, welche ihr
als solcher gebührt, und ein städtisches Dorf ist besser und
lieber gesehen, als eine Bauernstadt.
Hold Mezö Va-särhely (spr. Hold Mäsö Wascharhäldj),
zum Unterschiede so genannt von Maros Sßasaicheft) in Sie-
benbürgen, mag jetzt eine Bevölkerung von mehr als 50,000
Seelen besitzen, da die Zählung von 1357 bereits 42,457
Einwohner ausweist. Die großartigen Entwässerungen in
Folge der Theißregulirung und das Aufreißen der Hutweide
zu Ackerfeld hat die Landwirtschaft feit den letzten zehn Iah-
ren in fehr hohem Grade erweitert und gehoben, was gewiß
auch auf die Zunahme der Bevölkerung Einfluß übte. Dem
Berufe nach gab es 1357: 3992 Grundbesitzer mit 1604
landwirthschaftlichen Hülfsarbeitern; 1018 Handwerker und
Gewerbetreibende mit 593 gewerblichen Hülfsarbeitern; 149
Kaufleute mit 76 mercantilen Hülfsarbeitern; 725 Söldner;
2498 Taglöhuer.
Die Gewerbe sind hauptsächlich solche, welche Producte der
Landwirtschaft verarbeiten, Bäcker, Fleischer, Müller u. s. w.
Allein an Mühlen gab es 1857 nicht weniger als 149 und
seit dieser Zeit haben sich allein die Windmühlen um weitere
50 vermehrt. Nach dem provisorischen Grnndsteuer-Kataster
von 1852 gab es auf der Väfärhelyer Mark: 57,657 Joch
Ackerfeld, 12,771 Joch Wiesen und Gärten, 2039 Joch
Weinberge, 26,761 Joch Hutweide, 163 Joch Wald, 1202
Joch Sumpf und Röhricht, 5995 Joch uuproductives Land;
in Summa 106,588 Joch. Im Jahre 1865 dagegen wiesen
sich 111,582 Joch aus. Im letztgenannten Jahre dürfte sich
auch das Ackerfeld aus Kosten der übrigen Wirtschaftszweige
besonders der Hutweide, der Sümpfe, Oeduugen und selbst
der Wiesen um 20,000 Joch vermehrt haben. Da je 10,000
Joch eine Quadratmeile bilden, so beträgt demnach das Gebiet
von Väftrhely 111/7 Quadratmeilen.
Es giebt Felder aus der Mark Vaftrhely, welche fünf
deutsche Meilen vom Orte entfernt sind. Vom Dorfe aus
können diese Felder natürlich nicht bewirtschaftet werden.
Hier hat sich der Ungar durch ein eigenes System ansge-
Holsen, welches wir die Tanyawirthschast nennen.
Wo der Ungar einen größern Gntscomplex in einiger
Entfernung von seinem Wohnsitze zusammenliegen hat, da
verlegt er auch gleich die uöthigen Wirtschaftsgebäude auf
sein Besitzthum und behält im Orte nur sein Wohnhaus.
Diese Wirthschaftsgebäude mit dem Hosraum nennt man
Tanya (Lager, Herberge). Die Tanya besteht aus einem
sehr bescheidenen Wohnhause, welches eine, höchstens zwei
Stuben für den Herrn und Stube und Küche für den Tanyas,
d.i. den Aufseher der Tanya während des ganzen Jahres,
enthält. Dann ist noch da der Stall für das Zuchtvieh wie
für die Arbeitsthiere, endlich ein Wagenfchober und ein Ge-
treidekasten. Bei der anspruchslosen Bauart des Ungarn
kosten diese vier Gebäude oft keine 1000 Gulden.
Die Beschaffenheit der ungarischen Landwirthschaft bringt
es null mit sich, daß alle Arbeit sich auf zwei Zeiten zu-
sammenhäuft und daß in der Zwischenzeit die Arbeit nur
die gewöhnliche Tagesarbeit ist. Im Frühjahr pflügt man
ein Mal, säet darauf und dann läßt man die Saat mit
Gottes Segen wachsen, bis sie reif ist. Die ungarische Land-
Wirtschaft ist bisher höchst einseitig gewesen; Verschiedenheit
der Prodnctionszweige kannte sie nicht, sondern sie verlegte
sich fast ausschließlich auf den Getreide-, ja fast nur auf den
Weizenbau, und so ist es nicht möglich, die Arbeit auf das
ganze Jahr gleichmäßiger zu vertheilen. Also von der Saat
im Frühjahr bis zur Weizenernte ist eine ziemlich arbeits-
lose Zeit, nur das Hacken des Mais und das Säubern des
Weizens von Disteln macht eine Ausnahme. Kommt dann
die Ernte, so ist die Arbeit um so größer; man will nicht
nur die Früchte mähen und in große Tristen setzen, sondern
man drischt sie sogleich und säubert sie. Ist das geschehen,
so bestellt man die Winterfrucht, verfährt seinen Weizen und
gönnt sich wieder Ruhe bis zum nächsten Frühling.
In der arbeitslosen Zeit nun sitzt der Bauer in seinem
Dorse, wo er, frei von allem Schmutze der Landwirthschaft,
einen halben Städter fpielt. Zur Tanya fährt er ab und
zu, um zu überwachen, oder er hat einen seiner Söhne be-
ständig dort, während die übrigen beim Vater im Dorse sind.
Die Söhne wechseln entweder von Woche zu Woche oder von
Jahr zu Jahr ab. Soust ist auf der Tanya nur dasjenige
Dienstpersonal, welches zur Bewachung des Hofes und Feldes
wie zur Pflege der Thiere erforderlich ist.
Unser Väsärhely hatte im Jahre 1357 aus seine 3992
Grundbesitzer 2530 Tanyen gegenüber von 4674 Häusern
im Märktflecken. Die ganz kleinen Grundbesitzer und jene
größeren, deren Ländereien in der Nähe des Dorses liegen,
wirthschaften vom Wohnhause aus und haben deshalb keine
Tanya. Die großen Grundbesitzer haben dagegen so viele
Tanyen, als sie größere Complexe zusammenliegen haben.
Die Tanyenwirthschaft ist natürlich nur in jenen Ge-
genden der ungarischen Ebene zu finden, wo jeder Grund-
besitzer sein Eigenthum an einem oder mehreren großen Com-
plexen beieinander hat. Wo dagegen die Parccllirnng vor-
herrscht und deshalb die Grundstücke des einen Herrn im
ganzen Felde zerstreut siud, da kann die Tanya, die bei einem
Acker liegt, den übrigen Aeckern nur wenig oder gar nicht
dienen. Die „Commassation", d. i. die Zusammenlegung
der Grundstücke, welche seit mehreren Jahren viele Fortschritte
machte, scheint deshalb auch der Ausbreitung der Tanyen-
Wirtschaft förderlich zu fein.
Die Tanyenwirthschaft muß dort verschwind« , wo ent-
weder die Landwirthschaft so mannigfaltig oder b fe Bearbei-
tung so intensiv wird, daß die Arbeit anf< dem Felde sich
gleichmäßiger über das ganze Jahr vertheilt und es nie Ar-
beitsserien für den Landwirth mehr giebt. Denn wo der
Bauer Tag für Tag auf seiner Tanya sein muß, da ist die
Tanya nicht mehr ausschließlich Wirthschaftshof, sondern auch
Wohnhaus, und die Tanya wird zum Eiuzelhofe.
Wenn auch die Tanyenwirthschaft viele Vorzüge vor der
reinen Dorfwirthschaft hat, indem doch immer wenigstens
Einer das Feld im Auge behält, iudem das Vieh sein Futter
in der Nähe findet, der Dünger viel eher dem Felde kann
gegeben werden u. A., so steht sie doch weit hinter der eigent-
lichen Hoswirthschaft zurück, bei welcher der Bauer beständig
auf seinem Gute wohnt. Das Auge des Herrn macht nicht
allein die Pferde fett, es düngt auch die Saaten;. die vielen
Hin- und Herwege vom Dorfe zur Tanya würden wegfallen,
wenn der Landwirth seinen Wohnsitz im Dorfe ganz aufgäbe
und wenn sich die Feldarbeiter in kleinere Gruppen auflösten,
anstatt daß sie jetzt in den Riesendörfern aufeinander liegen;
ebenso müßten sich die Handwerker vertheilen, damit man
nicht mehr nöthig hätte, für jede kleinste Reparatur mög-
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Heinr. Ditz: Bilder aus
licherweise 5 Meilen zum Dorfe zu machen. Wenn die
Bauern ihre Wohnhäuser im Dorfe aufhöben, wie viel hätte
man da nicht erspart an Möbeln, Geräthen, an Beleuch-
tuugs- und Feuerungsmaterial uud anderen Dingen. -
Der reinen Hoswirthschast gegenüber mag die Tanyen-
Wirtschaft allerdings als ein Nebel erscheinen; für Ungarn
jedoch ist sie bis jetzt wenigstens ein notwendiges. Die
schlechten Wege, welche oft mehrere Monate lang jeden Ver-
kehr mit dem Dorse unmöglich machen, würden das Leben
auf einem ungarischen Einzelhofe zu keinem reizenden machen.
Ebensowenig einladend- ist es, auf eiuem Einzelhofe zu woh-
nen, in einem Lande, wo die Sicherheit des Lebens wie des
Eigenthnms oft noch so precairer Natur und wo die Bevöl-
kernng noch so schwach ist, daß bei einer theilweisen Auf-
lösung der Dörfer der Hofbauer sich dergestalt von seinem
Nachbar getrennt sieht, daß er sast ifolirt ist. Was aber
jetzt der Ungar schon thuu könnte uud thuu sollte, ist der
Ausbau in Weiler oder die Auflösung in kleinere Dörfer.
Gerade die großen Dörfer sind die Ursache, daß eine inten-
fivere Landwirthschaft nicht nur noch nicht betrieben wird,
sondern auch uicht einmal angezeigt ist.
Dieselben Ursachen, welche jetzt die großen Dörfer vor-
dem Auseinanderfallen in Einzelhöse schützen und dadurch
die Tauya aufrecht erhalten, haben auch vor Zeiten die tlei-
ueren ungarischen Dörfer in große znsammengeworsein die
Uugastlichteit der ungarischen Ebene für den Einzelhof und
die Unsicherheit vor fremden und einheimischen Räubern.
Den Räuber erzieht der Krieg am tüchtigste» und den
Dieb die Gelegenheit. Wie die fast zweihnnderljährigen
Kämpfe mit den Türken und die vielen inneren Unruhen das
Räuberthum begünstigten, so die menschenleere aber viehreiche
Puszta den Diebstahl, und selten knüpft sich so viel Unschuld
an Diebstahl und Raub wie in Ungarn, wo der Mann von
Fach jede That iu diesem Genre nur aus dem Gesichtspunkte
einer „nicht verfehlten Gelegenheit" betrachtet.
Unser heutiges Hold Mezö Vasarhely verdankt seine Größe
eben den türkischen Raubhorden, welche einst die Gegend ver-
wüsteten. Auf der Mark des heutigen Marktfleckens standen
damals 18 Dörfer, deren Namen die Geschichte noch auf-
bewahrt hat. Im Jahre 1666 zogen die 16 übrigen zu
den beiden Dörfern Hold Mezö *) am Hold tava (Mondsee)
und Vasarhely, weil sie dann sowohl den Horden besser zu
widerstehen vermochten, wie sie auch einen gnten Zufluchtsort
auf einem nahegelegenen Hügel fanden, welcher zwischen den
Sümpfen am See lag. Von ähnlichen Ursachen mag sich
die Größe der meisten übrigen Dörfer herschreiben.
Um das Jahr 1813 fand man auf der Stelle, wo eines
der alten Dörfer gestanden hat, welche nach Vasarhely ge-
zogen sind, Nagy-Szöllös nämlich, einen Keller voll Wein.
Die Fässer waren vermodert, der Wein aber hielt sich „in
seiner eigenen Haut".
Vasarhety hat seine hohe Bevölkerung (4000 ans die
Quadratmeile) aufrecht erhalten, trotz der großen Abzüge
seiner Söhne. Zahlreiche Colonien in der Militairgrenze
sollen von den Vüsärhelyeru gegründet sein; die wenigen,
welche nur hier anführen, sind uns nur als ein Theil ge-
nannt: Debc-lliacja, Füves, Kula, Majlath, Banomsalu,
(Samson nnd Keserüfaln.
Wir haben Vasarhely mit großer Vorliebe gewählt, um
in ihm eilt nngcn isches Dorf zu schildern. Nicht nur, daß
es mitten im Herzen des Alföld liegt und daß es, abgesondert
) Hold mezo heißt Mondfeld. Eine neuere Schreibart
Nt Hod mezö und Hod tava, was Viberfeld und Bibel-
te ich bedeutet. Ob hier Biber gewesen sind, ist mir nicht bekannt-
r d,e mvndsichclförmige Gestalt des jetzt ausgetrockneten Sees ist
gar incht zu verkennen.
dem magyarischen Ungarn. ~7
von der großen Verkehrsstraße und noch unbeleckt vom nivel-
lirenden Kosmopolitismus, die nationalen Eigenthümlichkeiten
am besten zeigt, sondern anch, weil das Volk von Vasarhely
unter allen Ungarn eine sehr hohe^Stelle, vielleicht die höchste,
einnimmt, seiner Bildung und Tüchtigkeit wegen. Und wie
es scheint, verdankt Vasarhely dieses dem Religionsbekenntnisse
seiner Bewohner, welche zu zwei Drittel» „Calviner" sind.
Die Calviner zeigen sich in ganz Ungarn als die gebildetsten,
rührigsten, sittenstrengsten und lebensernstesten Einwohner,
und selbst die Andersgläubigen räumen ein, daß man schon
am Aussehen des Dorfes und bei der ersten Berührung her-
ausfinden könne, ob das Volk reformirt sei oder nicht. Wenn
man den Calvinismus in Ungarn Magyar Hit (unga-
rischen Glauben) nennt, so ist durch diese Benennung
Ungarn nicht weniger geehrt als die Reformirten. Die resor-
mirte Gemeinde in Vasarhely — nicht die politische — hat
auf ihre Kosten ein gerühmtes Gymnasium gegründet und
unterhält es auch ohne den geringsten Zuschuß von Seiten
des Staates. Obschon die Anstalt noch juug ist, stehen ihre
Saminlnngen doch keinem deutschen Gymnasium nach. Wenn
wir noch um 20 Jahre zurück in der Zeit wären, so würden
wir sagen, Vasar-Hely habe viele lateinische Bauern.! heute
wissen wir, daß diese lateinischen Bauer» viel bezeichnender
gebildete, oft sogar rationelle Landwirthe genannt werden.
Die Landwirthschaft um Vasarhely, mitten auf der weglosen
ungarischen Ebene, ist eine verhältnißmäßig sehr hohe; denn
sie ernährt nicht nur auf der Quadratmeile über 4000 Men-
schen, sondern führt noch jährlich ans: an Weizen 481,000
Bietzen, Gerste 90,000 Metzen, Mais 148,000 Metzen,
Handelsgewächse 44,000 Metzen. in Summa 763,000
Metzen. Dazu kommen noch zur Ausfuhr 6000 Stück
Rindvieh, 100 Pferde, 1500 fette Hammel, 3000 fette
Schweine, 240,000 Stück Federvieh. Nur an Schafen
und Lämmern werden 4500 eingeführt.
Wer die Gegend von Vasarhely znni letzte» Male vor zeh» *
oder zwanzig Jahren gesehen hat, wird sie jetzt kaum wieder-
erkennen. Die alte Puszta ist aufgerissen. Die früher nn-
absehbaren Sümpfe sind durch die Theißreguliruug trocken
gelegt und das allgemeine Sinken des Grundwassers in Un-
garn hat auch in Vasarhely sein Opser gefordert. Wo früher
das haushohe Schilfrohr wuchs, da wogt jetzt der üppigste
Theißweizeu, und in dem Becken des Mondsees, in welchem
noch 1861 die Douaufchiffe ankerten, um das Getreide von
Vasarhely einzuladen, sind jetzt Gärten angelegt. Im vori-
gen Herbst theilte man den Grund unter die Bürger von
Vasarhely aus, wodurch ein Jeder um etwa 6 Ruthen Land
reicher geworden ist. Der Damm der zukünftigen Alfölder
Bahn läuft längs des alten Sees, und wenn in einigen
Jahren der Reisende mit der Karte in der Hand den Mondsee
sucht, so wird er staunen über den riesigen Kohl und Kopf-
salat, den er im See findet.
Dann aber, wenn auch Vasarhely und das Alföld auf
das Schrillen der Locomotive lauscht, welche es in'einer
Stunde mitten in die Welt führen soll, .und wenn es auch
sür die Welt kein Kunststück mehr ist, jeden Tag nach Vasar-
hely zu kommen, um hier mehr Ellenwaare nnd Nettigkeiten
auszubieten, dann wird man auch in Vasarhely und im Al-
söld allmälig „europäisch" werden, und wenn wir nach zehn
oder zwanzig Jahren dann wieder über die „bedächtige" gelbe
Theiß in das Alföld setzen, finde» wir vielleicht ein reg-
sameres und wohlhabenderes Volk, aber dennoch werden wir
schmerzlich es vermissen, daß das alte Ungarn, das lebens-
heitere, gemüthliche und herzliche Ungarn auch hier sich zurück-
gezogen hat, und nur ungern wird dann der Bekannte viel-
leicht „Conversation machen" müssen, den man als Fremden
gelehrt hat, als Freund zum Freunde zu sprechen.
78
Ernst Boll: Mittheilnngen über die Insel Rügen.
Wittheilungen üb
Von Dr.
<L?teiu- und Bronzezeitalter. — Hünengräber und Kegelgräber. — D
— Das slavische Volk der Nauen. — Gott Swantevit und
Wer die ersten Bewohner Rügens gewesen sind, nach-
dem die Jungfrau Europa das unbequeme Eisgewand ab-
gelegt, mit welchem sie zu Ansang der jetzigen Schöpsnngs-
Periode (wie neuere Geologen wollen) sast vom Kops bis zu
den Füßen bekleidet gewesen sein soll,'— ob ihre ersten wirt-
schaftlichen Einrichtungen auch so wenig kostspielig und so
urgemüthlich sich gestaltet haben, wie es die jetzt so viel be-
sprochenen Kjoekenmöddings bei den frühesten Bewohnern der
dänischen Inseln voraussetzen lassen, — ob sie vielleicht gar
schon vermittelst Pfahlbauten ein vorhistorisches Venedig in
die Flnthen des Baltischen Meeres hineingebaut hatten, —
das alles sind Fragen, auf welche wir die Antwort schuldig
bleiben müssen.
Nur so viel dürfen wir mit Bestimmtheit behaupten, daß
auch auf Rügen in vorgeschichtlicher Zeit schon mehrere
charakteristisch verschiedene CulturPerioden aus einander
folgen, welche schwerlich alle von einem und demselben
Volke durchlaufen worden sind. Vermögen wir auch diese
Culturperioden von einander zu sondern und ihre Reihensolge
festzustellen, so haben wir es in Bezug ans die Träger der-
selben doch nur erst bis zu Vermuthungen gebracht, trotz des
regen Eifers der Alterthumsforscher und der Naturforscher,
welche jetzt mit vereinten Kräften in das Dunkel der mensch-
lichen Urgeschichte einzudringen sich bemühen.
Die älteste rügianische Culturperiode reicht wahrschein-
lich in jene weit vor dem Anfange aller menschlichen Ge-
schichtschreibnng liegende Zeit zurück, in welcher die Bewoh-
ner unseres Planeten, mit dem Gebrauche der Metalle uoch
unbekannt, nur Stein, Knochen und Holz zur Anfertigung
ihrer Werkzeuge, Waffen und Gerätschaften verwendeten.
Denn daß nicht etwa nur die Nügiauer allein noch auf die-
ser Culturstuse standen, während andere Völker schon eine
höhere erstiegen hatten, dagegen spricht die Gleichartigkeit und
weite Verbreitung der Ueberreste aus diesem sogenannten
Steinzeitalter, welche man nicht allein schon über einen
großen Theil Europas und Asiens, sondern auch über das
nördliche Afrika verfolgt hat, und worüber im „Globus"
VIII. 224. 307 und X. 9. 186 schon speciellere Nachwei-
snngen gegeben sind.
Diese rügianische Urbevölkerung, welche uns zahlreiche
Beweise ihres Daseins hinterlassen hat, stand in der Zeit,
aus welcher wir die Spuren ihrer Thätigkeit kennen, nicht
mehr auf der tiefsten Sprosse der Culturleiter, wie z. B.
uoch jetzt die Papuas, die Buschmänner und Feuerländer.
Mit großer Ausdauer und Kunstfertigkeit wußte sie die här-
testen und sprödesten Steinarten zu bearbeiten, nm daraus
nicht allein brauchbare, sondern auch geschmackvolle Waffen
und Werkzeuge (wie „Globus" IX. 17. 19 deren einige dar-
stellt) anzufertigen, — darunter z. B. schneidende In-
strumente, die noch jetzt so scharf find, daß man
Papier ganz glatt damit durchschneiden kann, wie
ein mir vorliegender, an der Schneide etwas hohlgeschliffener
polirter Meißel aus gelblichem Hornstein dies mit Leichtig-
feit bewerkstelligt. Solche Steinwerkzeuge, wie man sie auf
die Insel Aügen.
rnst Boll.
Eisenzeit. Tempel- und Burgwälle. — Der sogenannte Hertha-See.
s Erlöschen des Heidenthnms. — Germanisirung der Insel.
Rügen schon zu Tausenden gesammelt hat, findet man dort
theils aus den Feldern verstreut, theils in den großen länglich-
runden „Hünen g r ä b ern ", in welchen jenes Urvolk seine Tod-
ten bestattete. Diese zum Theil aus mächtigen Geröllblöcken
errichteten und mit solchen auch oft umkränzten Gräber (ver-
gleiche „Globus" IX. 90. 91), von denen Prachtexemplare
z. B. bei Nobbin aufWittow, bei Mukran auf Jasmnnd,
bei Cilwitz und Krakow unweit Bergen vorkommen, —
geben den Beweis, daß anch in dem Zweige der Mechanik,
welcher sich mit der Bewältigung großer Lasten beschäftigt,
jenes Volk es verhältnißmäßig schon sehr weit gebracht hatte.
Gegen diese in einzelnen Fällen mehr als hundert Fuß lau-
gen Grabhügel schwinden die Gräber auf unseren Kirchhöfen
zu wahren Maulwurfshügeln zusammen, und weil man spä-
ter, als den Leuten ein tieferes Verständniß dieser merkwür-
digen Baudenkmäler schon abhanden gekommen war, sich für
berechtigt hielt, aus den großartigen Dimensionen derselben
einen Schluß aus die Größe der darin bestatteten Leichen zu
machen, so faßte unter dem Volke allmälig der Glaube Wur-
zel, daß Leiber von Riefen (Hünen) in diefen Gräbern
rnheten.
Dieser Glaube reicht Jahrhunderte weit in die Bergan-
genheit zurück, denn schon in den Urkunden des zwölften Jahr-
Hunderts werden dieselben gelegentlich als tumuli gigantum
bezeichnet, — ein Beweis, daß auch für die damals lebenden
Leute der Ursprung > jener Gräber in eine dunkele Vorzeit
siel. Wie sehr man aber in seiner Dentnng dieser Gräber
fehlgegriffen, haben neuere wissenschaftliche Untersuchungen
der Rsseubarge (wie das Volk sie nennt) gezeigt. Denn
da die Erbauer derselben ihre Todten zum Theil unverbrannt
bestatteten, so hat man in den Grabkammern noch mehrfach
leidlich erhaltene menschliche Gerippe aufgefunden, und diese
haben sich — statt einem Riesenvolke anzugehören — viel-
mehr als Reste von Leuten erwiesen, die an Körpergröße
hinter dem gewöhnlichen Maße unserer kaukasischen Race
zurückstanden. Auch ihr Schädelbau war ein anderer und
zeigt mehr Uebereinstimmnng mit dem der Lappländer,
weshalb einige Gelehrte sich der Meinung zuneigen, daß wir
in der Polarrace noch lebende Abkömmlinge jenes Urvol-
kes vor uns haben, welches aus seinen früheren, weitver-
zweigten Wohnsitzen durch ein anderes ihm überlegenes Volk
verdrängt, in die unwirtlichen polarischen Regionen sich hin-
aufgeflüchtet habe.
Mit dem Auftreten eines zweiten, siegreichen Volkes be-
ginnt eine neue Culturperiode, die man als das Zeitalter
der Bronze bezeichnet; denn diese Leute, obwohl auch ihnen
das Eisen noch unbekannt war, verstanden doch schon Kupser
und Zinn zu einer Metallcomposition, die man Bronze nennt,
zusammenzuschmelzen, und aus dieser, selbst mit künstlerischem
Geschick, Werkzeuge, Waffe», Gerätschaften und Schmuck-
sachen anzufertigen. Die cyclopischen Gräberbauten des Ur-
volles verschwinden bei ihnen, denn sie pflegten die Leichen
zu verbrennen, die Asche m Urnen zu sammeln und letztere
in glocken- oder kegelförmig gestalteten Erdhügeln beizusetzen.
Ernst Boll: Mittheilun
Solche Kegelgräber, wie der Kunstausdruck für dieselben
lautet, sindet man auf Rügen noch häufiger als die Hünen-
gröber; von beiden' zusammen hat Dr. v. Hagenow dort
im Jahre 1828 wirklich gezählt 1526, — aber damit
scheint ihre Zahl uoch lange nicht erschöpft zu seiu, denn bei
meiner letzten Anwesenheit auf der Insel schätzte man die
allein auf der Halbinsel Jasmuud vorhandenen, wenn ich
nicht sehr irre, auf mindestens 2000. Ihre Vertheilung auf
Rügen ist übrigens sehr ungleichmäßig: in der Granitz fehlen
sie gänzlich und es giebt dort auch keine anderen Alterthümer,
desto zahlreicher aber sind sie auf Jasmnnd, namentlich in
der Stubnitz, die man als den eigentlichen Todten-
garten Rügens bezeichnen könnte.
Auch unter diesen Kegelgräbern giebt es noch manche,
die an Größe mit den Hünengräbern wetteifern können. Für
die beiden imposantesten derselben lebt sogar im Munde des
Volkes noch ein uralter Eigenname fort. Das eine ist der
unfern Ralswiek belegene Licham, — ein mir fehr auf-
fallender Name, der auf die rügiauische Borzeit vielleicht ein
merkwürdiges Streiflicht werfen könnte, denn die Aehnlich-
keit desselben mit der im „Globus" IX. 92 für die Dolmen
angeführten cel tischen Benennung Li ach ist doch wohl
etwas mehr als bloßer Zufall! — Das andere große Kegel-
grab ist der Dupua-wor bei Sagard, denn so lautete doch
wohl ursprünglich sein jetzt zn Dnbberwört verderbter Name,
da Dnpna-mogila auch in einer alten pommerschen Urkunde
als generelle slavische Bezeichnung derartiger Hügel vorkommt/
Nach Konewka (dem wir so viele scharfsinnige Deutungen
unserer slavischeu Localuameu verdanken) bedeutete Dupna-wör
so viel als „Sackberg", — etwa ein nach slavischer Sitte
in Säcken zusammengetragener Gedüchtnißhügel? Daß die
etymologische Ableitung richtig sei, welche Säcken eine Rolle
bei der Herstellung dieses Hügels zuertheilt, darauf scheint
auch eine auf ihn bezügliche rügianische Volkssage hin-
zudeuten, welche der um die Keuutuiß seiner heimathlichen
Insel so sehr verdiente Grümbke uns aufbewahrt hat. Die-
selbe lautet folgendermaßen:
,,Vor undenklicher Zeit hausete auf Jasmnnd eine mäch-
tige Riesin, unter deren Botmäßigkeit dies ganze Ländchen
stand, und welche sich einem Fürsten von Rügen zur Ge-
mahlin antragen ließ , entweder aus Neigung zu ihm, Ober-
ilm durch diese Verbindung ihre Macht noch zu erweitern.
Dieser aber schlug die ihm zu große Ehre aus. Erbittert
über den erhaltenen Korb, drohet sie Gewalt zn brauchen,
um entweder die Heirath zu erzwingen, oder sich wegen des
erlittenen Schimpfes zu rächen. Sie beruft ihre Krieger
zusammen, und um diese schnell über den schmalen Arm des
Jasmunder Boddens (bei der Lietzower Fähre) nach Rügen
hinüberzubringen, beschließt sie, denselben mit Sand zu füllen,
und legt sogleich selbst Hand aus Werk. Allein schon der
erste Versuch dazu läuft unglücklich ab. Denn kaum ist sie
mit der ersten Ladung bis nach Sagard gekommen, als iu
der Nähe dieses Ortes iu den Sack, in welchem sie dieselbe
trägt, ein Loch reißt, woraus eine Menge von Sand hervor-
stürzt und den Dupna-wür bildet. Als sie mit dem Rest
bei der Fähre anlangt, zerplatzt der Sack aber gänzlich, und
die hier rnn da verschüttete Masse bildet auch dort eine Menge
kleiner <5 am Hügel. Darauf giebt die Riesin, durch dies
Omen muthlos gemacht, ihr ganzes Ansfüllungs- und Hei-
rathsproject vollständig auf."
Aus das Zeitalter der Bronze folgt nun endlich das des
Eisens, in welchem nun die bis dahin aus Bronze verser-
tigten Dinge durch eiserne verdrängt werden. — Auch in
dieser Periode werden die Leichen verbrannt und die Asche
wird in Urnen beigesetzt, aber die Grabstätten selbst, die so-
genannten Wenden grab er, werden viel unscheinbarer. Da-
zu über die Insel Rügen. 79
für treten aber iu den Tempel- und Burgwällen, wie
solche z. B. uoch jetzt auf Arkona, bei dem Hertha-See, bei
Werder, auf dem Rngard, bei der Stadt Garz und anderen
Orten vorhandeil sind, neue recht ansehnliche Erdbauten auf,
deren Benutzung zum Theil bis in die geschichtliche slavische
Zeit hereinragt. Es wird daher wohl nicht ungerechtfertigt
sein, wenn wir die Slaven auch für die Erbauer dieser
Wälle halten.
In welchem Verhältnisse standen aber diese Slaven, mit
denen wir nun zuerst auf wirklich geschichtlichem Boden an-
langen, zn den Leuten des Bronzezeitalters? Waren sie an-
dern Stammes als diese, und verdrängten oder vernichteten
sie dieselben etwa eben so, wie letztere es mit der noch ältern
Urbevölkerung gemacht hatten, — oder waren sie die allmälig
in der Cultur vorgeschrittenen Nachkommen derselben? Eine
entscheidende Antwort läßt sich aus diefe Frage nicht geben,
ich erlaube mir aber auf einen Umstand hinzudeuten, welcher
geeignet sein möchte, einiges Licht auf dieselben zu werfen.
In der Stubnitz bei dem Forsthose Werder liegt eine sehr
schön erhaltene Umwallung, welche mit anderen erwiesener-
maßen slavischen eine solche Uebereinstiminnng zeigt, daß an
einem gleichen Ursprünge mit denselben gar nicht zu zweifeln
ist. In dein Graben, welcher diesen Wall umgiebt, erblickt
man zwei Grabhügel, deren Inhalt ich zwar nicht kenne,
die aber in ihrem äußern Habitus den Kegelgräbern der
Bronzeperiode völlig entsprechen. Wie kamen diese Gräber
in den wendischen Burggraben, falls die Slaven und die Leute
des Bronzezeitalters wirklich verschiedene, sich bis zur Ver-
tilgnng der letzteren bekämpfende Volksstämme waren? Soll-
ten die Sieger wohl den Besiegten in einer Zeit, wo das
vaeh victis! noch in vollster Geltung stand, ein so ehrendes
Denkmal gesetzt haben?
Doch nun genug von der rügianischen Urzeit, deren Ueber-
reste leider von Jahr zn Jahr auf der Insel seltener wer-
den. Der Hauptfeind derselben ist der auch dort jetzt mit
so viel größerem Nachdruck betriebene Ackerbau. Um für
diesen auch das kleine Fleckchen Land iioch zu gewinnen, wel-
ches die uralten Grabstätten decken, werden die Steinniassen
der Hünengräber hinweggebrochen, die Kegelgräber aber über-
pflügt man so lange, bis sie endlich völlig in der umliegen-
den Ackerfläche verschwunden sind. Manches schöne Grab
hat ans diese Weise in den wenigen Jahrzehnten, seit ich
selbst Rügen kenne, schon seinen Untergang gefunden. Ge-
legentlich bei diesem Vernichtungskriege zn Tage geförderte
Urnen werden gar häufig (worüber Zöllner in seiner Reise
nach Rügen schon vor siebenzig Jahren klagte) von nnwissen-
den, aber neugierigen Landleuten zerschlagen, bloß um zu
sehen, „wat in den olden Pott syn mag"; manches für den
Alterthnmsforscher sehr werthvolle Metallstück wird um eines
zweifelhaften und selbst günstigen Falles meistens nur sehr
geringen Geldgewinnes halber von habgierigen Leuten ein-
geschmolzen; andere zahlreiche Alterthümer geratheu in die
Hände sammelnder Dilettanten und Cnriositätenliebhaber,
welche wohl eine Zeit lang damit herumhegen, hernach aber
oft das Interesse daran verlieren niid sie dann unbeachtet lie-
gen lassen oder wohl gar zum Fenster hinauswerfen. Auf
diese Weise ist für die Wissenschaft schon viel schönes Mate-
rial verloren gegangen, manches ist aber für dieselbe auch ge-
rettet worden und wird in größeren geordneten Sammlungen
aufbewahrt, auf welche wir später gelegentlich noch wieder
zurückkommen werden.
Die wirklich historische Zeit beginnt für Rügen erst
sehr spät, nämlich gegen den Anfang des 12. Jahrhunderts
unserer christlichen Zeitrechnung. Ueber noch frühere geschicht-
liche Hindeutungen auf die Insel, welche man bald hier bald
da zu finden geglaubt hat. ist von der historischen Kritik mit
80 Ernst Boll: Mittheilmi
mehr oder minderer Bestimmtheit der Stab gebrochen wor-
den. Denn daß z.B. der Name Hertha-See, welchen man
jetzt einem kleinen Wasserbecken in der Stübnitz beilegt, nicht
dazu berechtigt, die bekannte, vom Dienste der Hertha
(oder vielmehr Nerthus) handelnde Stelle in der Germania
des Tacitns ans Rügen zu beziehen, hat Barthold in seiner
Geschichte von Pommern und Rügen hinreichend gezeigt. Je-
ner Localname hat sich nämlich nicht etwa, wie die oben er-
wähnten Nanien Licham und Dupna-wür, durch mündliche,
im Volke ununterbrochen fortlebende tteberlieferuug aus dem
Schiffbruche früherer historischer Errnnernngen in die neuere
Zeit herübergerettet, sondern er verdankt seine Entstehung
lediglich der nachweisbar erst im Jahre 1616 ausgesprochenen
Vermuthung des Geographen Klüver, daß Rügen vielleicht
die von Tacitns so unbestimmt bezeichnete „Insel im Ocean"
sein möge. Diese Vermuthung nahm unter der Feder patrio-
tifch-gesinnter, aber unkritischer Schriftsteller durch allmälig
immer dreistere Behauptung den Schein einer wirklich ge-
schichtlichen Thatsache an, und als solche bürgerte sie sich deuu
auch endlich unter den Bewohnern Rügens selbst ein. — Auch
das Volk der Rugier, welches zu den Zeiten Odoaker's in
Italien sich blicken läßt, scheint außer der Nämensähnlichkeit
nichts mit unserer Insel zu theilen gehabt zu haben, und was
endlich die angebliche Schenkung der letztern durch den Kaiser
Ludwig den Frommen an das Kloster Corvey betrifft, so
ist auch diese im höchsten Grade problematisch.
Erst um das Jahr 1100 wird der Borhang ausgezogen,
hinter welchem bis dahin die rügianifche Geschichte gespielt
hatte. Der slavifche Volksstamm, welchen wir um jene Zeit
in dem Besitz der Insel finden, führte den Namen der Ra-
nen oder Rügiauen. Es war dies ein beutelustiges See-
räubervolk, welches der Pfarrer Helmold zu Bofow in Hol-
stein, der um das Jahr 1172 eine Slavenchronik schrieb,
folgendermaßen schildert: „Die Renten siud ein blutdürstiges
Volk, welches mitten im Meere wohnt. Es behauptet unter
allen Slavenvölkern den Vorrang und hat einen König uud
einen berühmten Tempel, in welchem der Swantevit ver-
ehrt wird, gegen den die anderen vielgestaltigen Gottheiten
derSlaven, weil er in Orakelsprüchen wirksamer ist, nur wie
Halbgötter betrachtet werden. Daher nehmen sie, weil dieser
Tempel besonders hoch gehalten wird, auch was die Verehrung
der Götter betrifft, die erste Stelle ein. Dort werden auch
vou allen'slavischen Ländern her Orakelsprüche eingeholt und
jährlich Opfergaben dargebracht. Ja, auch Kaufleute, die
zufällig au ihrer Küste landen, dürfen durchaus nicht eher
dort kaufen oder verkaufen, als bis sie von ihren Maaren
die werthvollsten dem Götzen zum Opfer dargebracht haben.
Geld haben sie nicht uud bedienen sich dessen nicht im Ver-
kehre, sondern was man ans dem Markte kaufen will, erhält
man gegen Leinewand. Das Gold und das Silber, welches
sie etwa durch Raub oder als Lösegeld gefangener Menschen,
oder sonst auf irgend eine Art erwerben, verwenden sie ent-
weder zuni Schmuck ihrer Frauen oder legen es im Schatze
ihres Gottes nieder. Sie legen vielen das Joch der Knecht-
schaft auf, ohne es selbst von irgend einem zu dulden, da sie
wegen der Beschaffenheit ihres Landes unzugänglich sind.
Die Völker, welche sie mit ihren Waffen unterwerfen, lassen
sie an ihren Tempel Zins zahlen. Den Oberpriester ehren
sie höher als den König, denn er erforscht die Orakelsprüche
des Gottes und den Ausfall der Loose; er hängt von dem
Winke der Loose, König uud Volk aber vou seinem Wil-
lcn ab, selbst ihr Heer senden sie dahin, wohin das Loos
weist. Sie zeichnen sich durch viele natürliche gute Eigenschaf-
teu aus, üben in hohem Grade Gastfreundschaft uud er-
weisen den Eltern die schuldige Ehre. Auch findet man bei
ihnen keine Dürftigen oder Bettler. Wenn dort einer durch
n über die Insel Rügen.
Krankheit oder Altersschwäche untüchtig wird, so überweist
man ihn ohne Weiteres seinem Erben, der ihn verpflegen und
fich auf das Sorgsamste seiner annehmen muß. Uebrigens
ist ihr Laud reich an Früchten, Fischen und Wildpret. Ihr
Tempelort heißt Archona."
Auch über die Thateu der Ranen und über die ersten
vergeblichen Versuche, dieses heidnische Volk zum Christen-
thnme zu bekehren , fügt Helmold noch Einiges hinzu, was
wir hier, als von minderm Interesse, nicht wiederholen wollen.
Da, wo er den Faden seiner Erzählung abbricht, nimmt ihn
hernach der dänische Geschichtschreiber Saxo Grammaticus
auf, und giebt uns (wahrscheinlich als Augenzeuge) einen
höchst anschaulichen und lebendigen Bericht darüber, wie es
endlich im Jahre 1168 dem von den Pommerschen und meck-
lenbnrgischen Fürsten unterstützten Könige Waldemar von
Dänemark gelang, mit gewaffneter Hand den Widerstand
des Ränenvolkes gegen das Christenthum zn brechen. Sein
erster Angriff war gegen die starke Tempelburg A r k o u a
gerichtet, die an ihrer westlichen, allein zugänglichen Seite
durch ein 50 Ellen hohes künstliches Werk geschützt war,
dessen untere Hälfte aus einem zum Theil uoch jetzt vorhau-
denen Erdwalle, die obere aber aus einer Art von Plankwerk
bestand. Den innern Raum bildete ein ebener Platz, auf
welchem der hölzerne Tempel des Swantevit stand. Das
Bild dieses Götzen war gleichfalls von Holz, und stellte ihn
in übermenschlicher Größe dar. Es hatte vier Köpfe, an
welchen der Bart und das Haupthaar nach ranifcher Sitte
geschoren waren. In der rechten Hand trug der Götze ein
metallenes Horn, welches der Priester jährlich mit Meth
füllte und aus der Beschaffenheit dieses letztern den Segen
des folgenden Jahres verkündigte; der linke Arm war bogen-
förmig in die Seite gestemmt.
Ein mit dieser Beschreibung, welche Sa^o giebt, recht
gut übereinstimmendes, roh aus Stein gemeißeltes Bild des
Swantevit, von 8 Fnß Höhe, ist noch im Jahre 1848 zu
Horodnica iin östlicheu Galizieu gefunden worden; das zu
Attenkirchen auf Wittow gezeigte steinerne Reliefbild, welches
angeblich diesen Götzen gleichfalls darstellen soll, ist ein unter-
geschobenes Product späterer Zeit. — Nachdem Saxo nun
auch den Swantevit-Cultus noch ausführlicher beschrieben
hat, erzählt er weiter, in welcher Weise die Dünen, einen
hartnäckigen Widerstand erwartend, die Belagerung begonnen
hätten. Diese aber nahm einen überraschend kurzen Verlauf.
Die Bedingungen, unter denen die Uebergabe der Tempel-
bürg erfolgte, übergehen wir und erzählen nur noch die wei-
teren tragischen Schicksale des berühmten Götzenbildes, welches
auf Befehl des Königs am folgenden Tage zerstört wurde.
Die damit Beauftragten ließen zunächst die Vorhänge des
Tempels hinwegnehmen und bestellten Diener, welche das
Bild umhauen sollten, ermahnten diese aber, recht vorsichtig
dabei zu Werke zu geheu, damit nicht der Götze beim Nieder-
stürzen auf einen von ihnen falle, und es dann heiße, Swan-
tevit habe sich gerächt. Denn schon hatten die RaneN iu
großer Zahl sich eingefunden, indem sie ein Strafgericht an
den Zerstörern zu sehen hofften. Aber das Bild wurde
unten an den Schienbeinen abgehauen, und fiel rücklings an
die Wand ohne Schaden zn thun. Mit gleicher Behutsam-
keit brach man daraus die Waud selbst ab, und als dies ge-
fchehen, stürzte Swantevit krachend zu Boden. Nun erst
konnte man den innersten Raum des Tempels recht über-
blicken, dessen Wände zwar mit noch glänzenden Pnrpnrdecken
behangen waren, die aber schon so verrottet waren, daß sie
von der bloßen Berührung zerfielen. Darauf wurde den
Ranen befohlen, das umgehauene Bild an Stricken aus der
Burg zu schleppen; ihre Furcht vor demselben aber war noch
so groß, daß sie dies nicht wagten, sondern es durch Gesau-
Ernst Bvll: Mittheilungen über die Insel Rügen.
81
gene und Fremde, die des Gewinnes wegen zu ihnen gekom-
men waren, bewerkstelligen ließen, indem sie glaubten, daß
sie diese gemeinen Leute süglicher der göttlichen Rache bloß-
stellen könnten. Während dies nun vorging, wurden unter
den Nauen verschiedene Stimmen laut: einige beklagten die
schmachvolle Behandlung des Gottes, andere verfolgten ihn
mit Hohngelächter, und es sei kein Zweifel (meint.Saxo),
daß der klügere Theil der Ranen im Stillen über die Ein-
salt erröthet sei, mit der sie sich so lange durch eiue so thö-
richte Gottesverehrung hätten blenden lassen. — Als der
Götze nun in das dänische Lager geschafft war, entstand ein
großer Zusammenlauf der Krieger, um sich denselben anzn-
sehen, und als diese ihre Schaulust befriedigt hatten, nahmen
ihn auch die Großen in Augenschein. Gegen Abend aber
spalteten die dänischen Köche mit ihren Beilen das Götzen-
bild zu kleinen Stücken und verbrauchten dieselben zu den
Kochfeuern, — ein recht eclatanter Beleg zu dem sie
transit gloria!
Mit dem Falle von Arkona war der Widerstand der
Ranen gebrochen. Die Besatzung der zweiten großen Tem-
pelburg der Jusel, Kareuza — deren Wälle man noch jetzt
bei der Stadt Garz erblickt —, machte nicht einmal den
Versuch, sich zu vertheidigen, sondern öffnete den Dänen so-
gleich die Thore. Auch hier wurden die Götzenbilder zerstört
und nun sogleich auf der Jusel Anstalten gemacht, den christ-
lichen Cultus an die Stelle des heidnischen zu setzen. Letz-
terer verschwindet hiermit als öffentlich anerkannte Volks-
religio» gänzlich aus Norddeutschland, denn die Ranen waren
hier die letzten Anhänger desselben gewesen; insgeheim
hat er aber wahrscheinlich noch lange seine Verehrer ge-
funden*).
In unmittelbarem Besitz der Insel blieb zwar der Ranen-
fürst Jaromar, aber er war hinfort ein Vasall des dänischen
Königs. Er behauptete sich auch darin, trotzdem daß die
bisherigen Bundesgenossen Waldemars, die pommerschen
und mecklenburgischen Fürsten, die sich in ihren Erwartungen
auf Landzuwachs getäuscht sahen, mit gewaffneter Hand den
Versuch machten, sich nun selbst der Insel zu bemächtigen.
Aber dies mißglückte nicht allein, sondern lies für den Pom-
mernfürsten sogar so unglücklich ab, daß er den größten Theil
jetzigen Neuvorpommern an Jaromar verlor. Von dieser
Zeit an, seit welcher das „Fürstenthum Rügen" jenen fest-
ländischen Theil mit umfaßt, tritt der insulare leider geschicht-
lich wieder sehr iu den Hintergrund; sogar die Anzahl alter,
aus die Jusel bezüglicher Urkunden ist so genug, daß wir
deren aus den Jahren 1169 bis 1250 nur uoch 18 besitzen!
— Dem Jaromar folgten noch vier seiner Nachkommen in
der Herrschaft über das Fürstenthum Rügen, und als der
letzte derselben im Jahre 1325 starb, ohne einen directeu
männlichen Erben zu hinterlassen, ward das Fürstenthum
in Folge eines Erbvertrages mit dem Herzogthum Pom-
mern vereinigt. Völlig erloschen in männlicher Linie ist
jedoch das alte Geschlecht der Ranensürsten erst in unseren
Tagen, denn die Familie Puttbus, welche ihren Stamm-
bäum ans einen jüngern Bruder Jaromar's zurückführt,
endete in männlicher Linie erst mit dem 1858 gestorbenen
Grafen M. E. zu Puttbus, — einem jüngern Bruder des
1854 verstorbenen Fürsten W. M. zu Puttbus.
Mit der Ehristianisirung Rügens nimmt auch dessen
Germanisirnng dei^ Anfang, und es wiederholt sich hier
dieselbe merkwürdige ^-hatsache, die auch Pommern uud
Mecklenburg darbieten, daß nämlich unter Fürsten sla-
') Ausführlicher habe ich die Geichichtc der Nauen iu meiner
Schrift: „Die Insel Rügen, Reiseerinnerungen von E.
Voll, Schwerin 1858" abgehandelt, auf welche ich mir den sich
für diesen Gegenstand intcressirenden Leser zu verweisen erlaube.
Globus XI. Nr. 5.
vischen Stammes, und zwar durch Mitwirkung der-
selben, deren eigene Nationalität bald ihren völligen Unter-
gang findet. — Es wird nicht ohne Interesse sein, diesen
Vorgang in Hinsicht auf die drei bezeichneten, in ihren Eigen-
thümlichkeiten auf das Innigste verwandten Länder hier ein-
mal etwas näher zu beleuchten, um demselben das Unerklär-
liehe abzustreifen, was aus den ersten Blick in ihm zu liegen
scheint.
Nachdem nämlich im Laufe des 12. Jahrhunderts in
diesen drei Ländern die geistliche Macht des heidnischen Prie-
sterthnms und die weltliche Macht der slavischen Fürsten ge-
krochen war, indem letztere theils dem Sachsenherzoge, theils
dem Dänenkönige lehnspslichtig geworden waren, legte man
kirchlicher Seits sogleich eine sehr ansehnliche geistliche Be-
satzung in dieselben, um das Heidenthum hinfort auch mit
Erfolg niederhalten zn können. Es wurden drei neue Bis-
thümer (zu Ratzeburg, Schwerin und Kamin) gestiftet
und zahllose Klöster gegründet, unter denen namentlich die
des Eistercienserordens (deren eins auch schon im Jahre
1193 zu Bergen auf Rügen errichtet ward) sich wesentliche
Verdienste um die Förderung des Landbaues erworben haben.
Zugleich drängten in die großen Lücken, welche der lang-
jährige Kampf in den Reihen der slavischen Bevölkerung
gerissen hatte, von Westen her zahlreiche deutsche Eiu-
Wanderer ein, welche aus dem Herzogthum Sachsen, aus
Westphalen, Holland und Friesland herbeiströmten. So
gering die Bildung derselben auch an uud für sich nur sein
mochte, so erwiesen sie sich darin der noch vorhandenen sla-
vischen Bevölkerung so überlegen, daß die slavischen Für-
st e n es bald erkannten, wie sehr die Beförderung einer solchen
Einwanderung in ihrem eigenen Interesse liege, und so ver-
nehmen wir z. B. von dem rügianischen Fürsten Witzslav I.
schon im Jahre 1221 urkundlich den im Munde eines Slaven-
fürsten gewiß sehr merkwürdig lautenden Ausspruch: „daß
er es für eine böse Wendung (die Gott verhüten möge!)
halten würde, wenn in seinem Lande der frühere Stand der
Dinge durch Vertreibung der Deutschen uud Rückkehr der
Slaven wieder hergestellt würde."
So kamen denn bald immer mehr deutsche Ansiedler uud
bewohnten die ihnen zugewiesenen Landstriche entweder sogleich
ausschließlich, indem die dort noch etwa vorhandenen Reste
der slavischeu Bevölkerung zur Auswanderung gezwungen
wurden, oder man gestattete letzteren neben ihnen, aber in
einem gedrückten, untergeordneten Verhältnisse zn bleiben.
Wo noch von Slaven bewohnte Dörfer vorhanden waren,
mischten sich die deutschen Colonisten nicht etwa unter die
Bevölkerung derselben, sondern legten daneben neue, meistens
gleichnamige Ortschaften an, welche von jenen, so lange der
nationale Unterschied uoch fortbestand, durch die Bezeichnung
„deutsch N. N." und „slavisch N. N.", später aber, als die
Slaven auch hier völlig verschwunden oder germanisirt waren,
durch den Zusatz „Groß N. N." und „Klein N. N." von
einander unterschieden wurden. In den Städten, welche
hier sammt uud sonders deutsche Stiftungen waren,
verfuhr man natürlich anch nicht rücksichtsvoller, und alle
Zünfte wachten auf das Strengste darüber, daß kein
Wende sich in sie einschleiche, indem ein jeder, der als Lehr-
ling bei ihnen eintreten wollte, durch seinen Taufschein nach-
weisen mußte, daß er nicht von slavischen Eltern geboren sei.
In dem konservativen Mecklenburg hing man an dieser For-
derung so zähe fest, daß uoch zu seiner Zeit, wie Dr. Stieber
in seiner im Jahre 1714 gedruckten mecklenburgischen Kirchen-
Historie versichert, ein solches Zeugniß verlangt worden sei,
und die Wenden hätten traditionell damals noch in so schlech-
tem Rufe gestanden, daß man voll Jenland, den man als
einen harten, widersinnigen Kopf habe bezeichnen »vollen, zu
Ii
M-
Ii
W';
; , i'f
.in ;j[j;
82
Berthold Seemann: Zustände in Nicaragua.
lllll
päl
Wr
ife
j.fm:
sagen gepflegt: er habe eine wendische Ader im Nacken.
Jedoch war die Ausübung einzelner Handwerke den Slaven
nicht gänzlich untersagt, aber zünftige Meister durften sie
nicht werden; vo„n letzteren unterschied man sie durch den
Zusatz des Wortes „Wend" zu ihrem Gewerbe, wie z. B.
der „Wend-Schlächter" früher au mehreren Orten Er-
wähnung geschieht. — Auch die Geistlichkeit endlich hatte
kein geringes Interesse daran, die Verdrängung der Slaven
zu begünstigen, theils ihrer eigenen persönlichen Sicherheit
wegen, welche von so hartnäckigen Feinden des Christenthums,
als welche die Slaven sich so lange erwiesen hatten, leicht
gefährdet werden konnte und auch wirklich mehrfach ernstlich
gefährdet worden war, — theils aber, weil die Abgaben,
welche die deutschen Colonisten der Kirche entrichteten, wahr-
scheinlich sowohl regelmäßiger einliefen, als anch reichlicher
ausfielen, wie dies bei dem mangelhaften Betriebe der Land-
wirthfchaft von Seiten der Slaven der Fall sein konnte.
Unter solchen Verhältnissen mußte die Vernichtung der
slavischen Nationalität mit Riesenschritten vorwärts gehen,
und was von Slaven im nordöstlichen Deutschland noch
zurückgeblieben war, suchte bald durch völlige Germauisirung
den Makel seiner Abkunft von sich abzustreifen. Selbst d i e
slavische Sprache verschwand in dem größten Theile
dieses Gebietes so bald, daß z. B. auf Rügen — trotzdem
daß dort viele Slaven seßhaft blieben —, wie Th. Kantzow
erzählt, im Jahre 1404 ans Jasmnnd eine alte Frau ge-
storbeu sei, welche nebst ihrem Manne die letzten Leute
auf der Insel gewesen wären, die noch wendisch hätten
sprechen können.
Was diefer Germa'nisiruNg widerstrebte, wurde in die
unfruchtbarsten Gegenden zurückgedrängt, — im Lüneburgi-
schen in die Aemter Dannenberg, Lüchow und Wustrow, wo
erst im vorigen Jahrhunderte dem Gebrauche der wendischen
Sprache durch obrigkeitliches Verbot ein Ende gemacht worden
ist; — in Mecklenburg in die große südwestliche Heideebene,
wo selbst im Reformationszeitalter die Germanisiruug der
Wenden noch nicht ganz durchgeführt war, — und in Pom-
mern endlich in den äußersten, nordöstlichsten Zipfel von
Hinterpommern, wo jetzt uoch das auch in die angrenzenden
Gegenden Westpreußens hineingreifende Völkchen der Kassnben
lebt — im Ganzen etwa 90,000 Köpfe stark, von denen
aber anf Pommern nur 4000 kommen — welches, geistig
verkommen, arm und unreinlich (vergl. „Globus" YII. 234),
gleichfalls seinem baldigen Untergange entgegenzugehen scheint.
A n st ä n d e in "Nicaragua.
Nach Berthold Seemann.
mA
, -:'i!
II
Dampfer an der Westküste. — Punta Arenas in Costa rica. — Mißbräuche bei der Postbeförderung. — Corinto und Leon in Nicaragua. —
Im Innern. Amerikanische Ansiedler. — Managua. Die niedrige Kulturstufe des Mischlingsvolkes. — Unwissenheit. Die Barfüßigen
und Beschuheten. — Die reichen Goldgruben in Chontales. — Die Stadt Granada. — Ein centralamcrikanisches Musterhotel.
%
ü'f:
II
»fein
Heber kurz oder lang muß dieses an und für sich so
herrliche Land mit seiner trcsflicheu Weltlage vou Bedeutung
werden, namentlich wenn Bcdford Pim's Plan zn einer
Eisenbahn verwirklicht wird.. Wir haben durch diesen unter-
nehmenden Seeoffizier, wie früher durch Reichardt, Squier,
Julius Fröbel und Andere, sehr eingehende Nachrichten über
jene centralamerikanische Republik, welche immer eine gewisse
Anziehungskraft auf Reisende ausübt. Im vergangenen
Sommer hat wieder einer das goldreiche Land durchzogen
und über feine Wahrnehmungen an das „Athenäum" berichtet.
Wir theilen Einiges mit. —
Es ist eine wahre Wohlthat, daß au der Westküste vou
Centralamerika Dampfer fahren, weil in jenen Gegenden
Windstilleu und Ungewisse Luftströmungen herrschen. Aber
die Eingeborenen selber wissen die Vortheile nicht zu würdigen;
sie sind trüge und rückständig. Ein Mann in Chiriqui
sagte Herrn B. Seemann: „Weshalb sollten wir Hispauo-
Amerikaner uns so theurer Transportmittel bedienen? Ein
Segelschiff kann von Chiriqui nach Panama in sieben Tagen
gelangen; wir bekommen unterwegs zn essen und zn trinken
und zahlen nur 23 Dollars; das Dampfschiff nimmt 30
Dollars, legt zwar die Fahrt in 24 Stunden zurück, giebt
uns aber nur zwei Mal zu efseu. Wenn Ihre Landslente
so thöricht sind, mit dem Dampfer zn fahren, so mögen sie
das thnn; wir lassen uns anf dergleichen nicht ein!"
Der Dampfer vou Panama legt bei Punta Arenas
an, dem Hanpthasen der Republik Costa rica. Die Außen-
rhede ist unsicher, aber der Hasen selbst nicht schlecht; ein
Leuchtthurm zeigt die Einfahrt. Vou dort wird viel Kaffee
verschifft. Die Postfelleisen wurden regelmäßig abgeliefert;
vou Seiteu der Beamten ging man aber schlecht damit um,
warf den Inhalt ans dem Fußboden umher und nun fielen
die Leute darüber her, um sich ihre und anderer Adressaten
Briefe auszusuchen. In dem nächstfolgenden Hafen Corinto
geschah derselbe Unfug. Noch mehr. Der oberste Post-
beamte, welcher das Amt hatte, die Briefe ius Innere zn
befördern, konnte nicht lesen und mußte sich die Adressen
erst erklären lassen. Man begreift, daß unter solchen Ver-
Hältnissen viele Briefe nicht an ihre Bestimmung gelangen.
Zeitungsblätter werden ohnehin anf den Postämtern als
Gemeingut behaudelt.
Von Corinto ging der Reisende ins Innere von Nicara-
gna, zunächst nach Leon. Viele Straßen liegen, in Folge
der unaufhörlichen Bürgerkriege, in Ruinen, auch die Käthe-
drale bedarf nothwendig einer baldigen Ausbesserung. Von
ihrem Thurm aus hat man eine herrliche Aussicht auf die
fruchtbare Ebene und die über ihr sich erhebenden Vulcaue.
Das „EuropäischeHotel" ist im Besitz eines Engländers.
Von Leon ging Seemann nach den Districten'Nneva
Segovia und Matagalpa über waldige Ebenen, in denen
Wassermangel herrschte; Eidechsen, Affen, Papageien und
Damwild waren in Menge vorhanden. Die menschliche
Bevölkerung erschien dagegen äußerst spärlich. Tagelang
war kein Bewohner zn sehen, und in den vereinzelten Hütten
waren keim Lebensmittel zu haben.
Am sechsten Tage der Wanderung wurde die Bergland-
schast höher und die Luft srischer. Ocotal, der Hauptort
von Nen Segovia, hat seinen Namen von der Ocote oder
Ocotl, der nicaraguensischen Fichte; in der Umgegend liegen
viele Silbergrnben, namentlich jene von Maqneliza,
Berthold Seemann:
Depilto und Limon. Bei der letztern fand der Reisende
merkwürdige indianische Skulpturen mit einem Basrelief
der Sonne. Der frische Nasen gewährt den Schafen gute
Weide und die Wolle kann man vermittelst des 3tio Coco
verschiffen, welcher unweit von Cap Gracias a Dios in den
Atlantischen Oceau mündet. In den Wäldern der Küsten-
regiou schlagen die Engländer Mahagoniholz und sammeln
Kautschuk. Dieser Weg ins Innere ist schon den Buk-
kauieru des siebenzehnten Jahrhunderts wohl bekannt ge-
wesen uud sie haben ihn einige Mal betreten, um das Land
auszuplündern. Jetzt siud die Leute im Innern in ärm-
lichen Verhältnissen und auch Ocotal ist nicht viel'besser als
eilt Dorf.
Der Weg nach Matagalpa hat die Richtung nach
Süden und führt auf abscheulichen Pfaden über steile Berge,
aber die Landschaft ist manchmal wunderbar großartig. Nach-
dem der Reisende die Goldgruben und andere Minen unter-
sncht hatte, ging er über Jinotega und Santa Rofa
nach Leon zurück. In Jinotega fand er eine Colonie nord-
am erik ani s ch er Ansiedler, die sich in keineswegs günstigen
Umständen befand; der Reisende rieth den Leuten, sich in
anderen Bezirken niederzulassen, wo sie weniger schlechte Ab-
satzwege für ihre Prodncte hätten. Jüngst war noch eine
Anzahl deutscher und amerikanischer Familien angekommen,
welche von der Regierung gutes Land kosten- und steuerfrei
erhalten haben. Alles was in Nicaragua nach Fortschritt
und Verbesserung aussieht, verdankt man den Fremden, und
nur wenn diese in immer größerer Menge sich einfinden,
kann aus dem Laude etwas werden. „Die Eingeborenen
scheinen gar uicht dazu angethan, aus dem Znstande der
Verkommenheit, in welchen sie versunken sind, sich selber zu
erheben."
Seit einigen Jahren ist Managua zur Hauptstadt er-
hoben worden; dasselbe besteht aber nur aus vielen Hütten
und einigen nach europäischer Art gebauten Häusern; es
sollte billig als Dorf bezeichnet werden. Vom National-
Palast ans, der sich am Marktplatz erhebt, hat man einen
Blick auf den großen und schönen Managua-See, von
welchem frische Luft herüber weht. Diese „Hauptstadt" hat
weder eine Bibliothek, noch ein Museum oder Theater oder
öffentliche Vergnügungen. Um 8 Uhr Abends ist Alles
wie ausgestorben; öffentliche Laternen giebt es uicht, aber jeder
Besitzer einer Hütte muß eine Lampe ins Fenster stellen,
welche indeß um die angegebene Zeit gewöhnlich schon er-
loschen ist. Die Leute schlafen nun, aber uicht etwa uach
unserer Art; in ganz Nicaragua giebt es bei den Ein-
geborenen kein Bett, sondern nur hölzerne Gestelle oder
Laltenwerke, die mit Ochsenhaut bespannt sind. Die ange-
sehensten Familien wissen nicht, was ein leinenes Bettlaken
oder überhaupt Bettwäsche ist; sie schlafen in ihren Kleidern.
Morgens steht man auf, schüttelt und reckt sich aus,
aber von Waschen ist keine Rede. Sofort wird der
Kaffee getrunken und dazu eine Cigarette geraucht. Die
ärmeren Clafseu schlafe» nicht selten, ohne andere Bedeckung
als ihre zerlumpten Kleider, unter freiem Himmel, ohne sich
um Mondschein oder Than zu bekümmern; gegen Morgen
wird manchmal eine Decke übergeworfen. Alle haben die
größte Abneigung gegen Waschwasser und warnen den Euro-
päer davor.
Die Wohnungen wimmeln, mit wenigen Ausnahmen,
von Ungeziefer und starren vom widerwärtigsten Schmutz.
In Matagalpa und in Neu Scgovia gilt eiu Befeu für
eine große Merkwürdigkeit; wenn ein hoher Festtag nahet,
bindet man Palmenblätter zusammen und fegt damit in der
Wohnung herum! „Wenn ich einen Vergleich zwischen
den Nicaragueusern und den Polynesiern in Betreff
Zustande in Nicaragua. 83
der Sauberkeit an Menschen und Wohnungen mache, dann
muß ich sagen, daß die elfteren keineswegs als die civili-
sirteren erscheinen. Vor länger als drei Jahrhunderten
sind Christenthum und europäische Eivilisatiou nach Cen-
tralamerika gekommen, ab»r in Hinsicht auf Gesellschaft,
Politik, Intelligenz und Moral stehen diese christlichen
Centralamerikaner hinter den braunen Wilden der
Südsee zurück. Ein Hanpthinderniß, das sich der
Entwickelung entgegenstellte, welche anderwärts wohl durch
die Einwirkungen der Civilisation ins Leben tritt, liegt in
der starken Beimischnng von Negerblut, durch
welche dieses Volk heimgesucht worden ist; dadurch wer-
den hier alle Bemühungen derer, welche den Fort-
schritt anbahnen wollen, zn Schanden gemacht."
Elementarkenntnisse gehören zu deu Seltenheiten, und
von den Verhältnissen des Auslandes haben nur Wenige
eine leidlich richtige Vorstellung. In England und Nord-
amerika wohnen, so glaubt man, Heiden,-die kein christliches
Sacrament kennen. Dagegen haben sie von ihrem Nicara-
gna übertrieben hohe Begriffe. Ein Fremder muß sich wohl
hüten, gegen einen solchen Wahn zu. sprechen; er thnt am
Besten, wenn er die natürlichen Vorzüge des Landes und
dessen reiche Hülssquellen rühmt; dann sagt er die Wahrheit
und verletzt keine Empfindlichkeit. Sgirier schrieb in
seinem vortrefflichen Buch über Nicaragua ganz offen
Alles, was er beobachtet hatte, dafür wurde aber auch seiu
Werk auf dem Marktplatze verbrannt!
Die Nicaragnenfer bilden, von einer Anzahl noch
unvermischter Indianer abgesehen, ein Mischlings-
geschlecht, in welchem Indianer und Negerblut das
bei Weitem überwiegende ist; ein reiner, uuver-
mischter Weißer ist fast so selteu anzutreffen wie
in London ein Neger. Diese Mnlatto-Mestizen-
gesellsch ast thnt sich auf ihren Republikanismus viel zu
gute uud spricht viel von „socialer Gleichheit", sie zerfällt
aber dennoch in Mi verschiedene Classen: die barfüßige
uud die beschuhete.
Unter den Barfüßern, der Niedern Classe, giebt es
auch einzelne reiche Leute; diese tragen als Luxusartikel
manchmal Sandalen, aber nichts in der Welt würde sie be-
wegen können, den Fuß in einen Schuh zu stecken. Sie
würden dafür als vornehmthnerifch von ihren Freunden aus-
gelacht werden. Die Beschnheten sind manchmal so arm
wie Kirchenratten uud ihre Haut ist rabenschwarz; sie haben
aber dabei eine gewaltige Meinung von ihrer Würde und
Wichtigkeit und blicken mit Protectormiene hochmüthig auf
die barfüßige Volksmasse herab.
Diese Classe der Schuhtragenden liefert in Nicaragua,
wie in Centralamerika überhaupt, die politischen Unruhstifter
und Revolutionaire von Profession. Es wäre ein wahrer
Segen für das Land, wenn es sich dieser Snbjecte entledigen
könnte, nur dann wäre einiger Fortschritt denkbar. Die
große Menge würde gern Ruhe haben und auch wohl ar-
beiten, d. h. arbeiten wie man es von einem zur Trägheit
geneigten Volke verlangen kann, das in einem heißen Klima
lebt und sich von Mais, Bohnen und getrocknetem Fleische
nährt. .
Der Reisende lernte den Präsidenten Martinez ken-
nen, welcher seit mehreren Jahren die Ruhe leidlich ausrecht
erhalten hat. Er ist ein recht intelligenter Mann und hat
auch verständige Minister.
Den schönsten District Nicaraguas bildet Chontales.
Unser Gewährsmann ritt von Managua aus dorthin in west-
licher Richtung über ein gewelltes Land und fand selbst gegen
Ende der trockenen Jahreszeit das hohe üppige Gras noch
grün. Die ganze Gegend ist für Ackerbau wie für Vieh-
Ii*
84 Fortschritt und literarische Regsamkeit
zucht trefflich geeignet. In der Nähe von La Libertad steigt
die Hochebene an, die Hitze ist nicht mehr so drückend und
man hat dann und wann eine prächtige Aussicht ans den
See von Nicaragua, dessen Inseln und die ihn umgebenden
majestätischen Vulcaue. La Libertad arbeitet sich jetzt zu
einer Stadt empor. In der Nähe beginnt ein ausgedehnter
Urwald. In diesem „neuen Californien" liegen die in
der jüngsten Zeit so viel besprochenen Gold- und Silber-
gruben. Es versteht sich fast von selbst, daß sie von eng-
tischen Capitalisten ausgebeutet werden. Die Bäume iu
den Wäldern von Chontales haben allesammt eine hellgraue
Niude und gewinnen dadurch einen ganz eigentümlichen
Anblick.
Das Gold in Nicaragua unterscheidet sich in seinem
Vorkommen von jenem Ealiforniens und Australiens. Man
findet nämlich keine Klumpen, „Nuggets", sondern das Me-
tall ist so fein wie Mehl. Es kommt jedoch in großer Menge
vor und zeigt sich sofort, wenn man eine Hand voll Erde in
einem Hornlöffel wäscht. Die Hauptminen liegen etwa. 4
Leguas von La Libertad und es führt eine leidliche Straße
dorthin; diese ist von der „Chontales-Compagnie" und der
„Centralamerikanischen Association" gebauet worden. Am
ergiebigsten sind die Gruben Iavali und La Consnelo.
Es liegt kaum eine Übertreibung darin, wenn man sagt,
daß in jeder Woche neue Fundstätten entdeckt werden; ein
amtlicher Bericht in der „Gazeta de Nicaragua" hat deren
mehr als einhundert namhaft gemacht. Kürzlich wurde ein
alter Baum im Consnelowald entwurzelt und mau fand
unter ihm mehr als tausend Unzen Goldes. Die Chou-
tales-Compagnie war gerade beschäftigt, Dampfmaschinen
aufzustellen.
Die Strecke von La Libertad bis Granada kann man
zu Pferd in drei Tagen zurücklegen. Gran ad a ist, wenn
auch nicht mehr dem Namen nach, die eigentliche Hauptstadt
des Landes. Die Lage am gleichnamigen See, der auch als
Nicaraguasee bezeichnet wird, bringt manchen Vortheil mit
unter den Eingeborenen Ostindiens.
sich. Aus dem See fließt der San Juan ab, der ius Atlan-
tische Meer mündet und mit Dampfern befahren wird. Kurz
vor der Ankunft des Reisenden war wieder ein Erdbeben
verspürt worden; man hatte deshalb eine Menge von Schnp-
Pen und Buden im Freien aufgeschlagen, unter welchen im
Nothsalle die Lente eine Zuflucht finden konnten. Die Prie-
ster hatten das Erdbeben zu ihrem Vortheil ausgebeutet und
von den Gläubigen sehr beträchtliche Geldspenden erhoben.
Je mehr Erdstöße kamen, um so stärker floß auch das Geld
iu ihre Taschen, denn Sünden vergeben wurde nicht gratis
ertheilt.
Von Granada ritt unser ausgezeichneter Landsmann über
Masaya, dessen gleichnamiger See einen Krater füllt, nach
Managua zurück, mitten durch Wälder und unter tropi-
schen Regengüssen. Sein Maulthier brachte ihn, trotz der
handgreiflichen Dunkelheit, an Ort und Stelle nach Managua,
wo er iu dem Hotel de Hambre eine centralamerikanische
Gastwirthschast von echtem Schrot und Korn fand.
„Sehr theuer bezahlt man eine Mahlzeit, die eben hin-
reicht, den Hungertod abzuwehren. Sie besteht aus an der
Sonne getrocknetem Rindfleisch, rothen Bohnen, Eiern und
Maiskuchen. Auf all' und jede Bequemlichkeit muß man
platterdings verzichten, denn das Zimmer hat man mit einem
halben Dutzend anderer Lente zu theilen uud findet nur eine
rohe Bettstelle; für Bettzeug oderHangmatte muß der Reisende
selber sorgen. An dem Abend, als ich eintraf, machte das
„Hotel de Hambre" seinem Rufe ganz besonders Ehre; mein
braves Maulthier bekam weder Gras noch Korn und mußte
sich mit Wasser begnügen; ich meinerseits wurde abgespeist
mit einem Ei, ein paar Maisknchen und einer Tasse Kaffee,
die Milch dazu, so sagte der Wirth, sollte ich am andern
Morgen trinken."
Diese Schilderungen Seemann's über das Volk in Nica-
ragna und dessen Zustände passen auch auf einen nicht ge-
ringen Theil der übrigen Gegenden Centralamerikas und
auch Mexicos.
Jortschritt und tileransche Uegsamln
Ich verdauke der Freundlichkeit eines ausgezeichneten
Orientalisten, des Herrn Dr. Walter Behrnaner, Secre-
tairs an der Bibliothek zu Dresden, die Mittheilung einer
Rede, mit welcher Garcin de Tassy in Paris seinen Lehr-
curfus über das Hindustani am 3. December 1866 eröffnet
hat*). Es ist ein löblicher, in Deutschland nachahmungs-
werther Brauch der Pariser Professoren, daß sie bei Anbe-
ginn der Vorträge über den jeweiligen Stand desjenigen
Zweiges der Wissenschaften, welchen sie speciell behandeln,
eine zugleich gründliche und doch allgemein verständliche
Uebersicht geben. Diese Eröffnungsreden find nicht selten
von großem Werthe. Ich rechne z. B. in diese Classe auch
den Vortrag, welchen Leo Feer über Tibet, den Bud-
dhismus und die tibetanische Sprache gehalten hat und
den ich demnächst in einem Auszuge mittheilen werde. Die
Pariser Professoren geben in diesen Eröffnungsreden Beiträge
zur Cnlturwisfenschaft; sie verstehen es auch, scheinbar-
dürre Gegenstände, namentlich linguistische, in ansprechender
Weise zu behandeln.
*) Cours d'Hindustani ä l'ecole imperiale et speciale des
langues orientales Vivantes pres la bibliotlieque imperiale. Dis-
cours d'ouverture du 3 Decembre 1866. 47 Seiten.
t unter den Eingeborenen Mindiens.
Das thnt auch Garcin de Tassy. Sein Vortrag gewährt
uns einen Einblick in die geistige Regsamkeit und das wissen-
schaftliche Treiben fowohl der Hindu, welche sich zur alteu
Landesreligion bekennen, wie der Mohammedaner; wir sehen,
wie lebhaft die Bestrebungen sind, die morgenländische Wissen-
schaft mit jener des Abendlandes nach Möglichkeit zu ver-
Mitteln und wie viele Ansätze zur gegenseitigen Durchdringung
schon vorhanden sind. Im Abendland erfährt das große
Publicum nur selten etwas von diesen intellectuellen Bewe-
gungen; es ist aber klar, daß namentlich in Indien die gebil-
beten Classen der Eingeborenen geistig in eine neue Phase
getreten sind. Die Entwickelung ist noch in ihren ersten An-
sängen, aber wir dürfen als sicher annehmen, daß sie weiter
gehen werde; es ist nicht daran zu denken, daß ein Stillstand
eintreten könne; die Kngel ist im Rollen.
Da Herr Behrnaner den Vortrag Garcin de Tassy's
seinerseits bei einer wissenschaftlichen Arbeit speciell zn be-
nutzen gedenkt, so bin ich in der Lage, nur aus einzelne
Punkte hinweisen zu können, ich muß mich auf wenige Aus-
züge beschränken.
Bemerkenswerth ist die Rührigkeit der Inder auf jour-
nalistischem Gebiete. Im Jahr 1866 sind nicht weniger
als sechsundzwanzig neue Zeitungen und Zeitschriften
Fortschritt und literarische Regsamke
entstanden. Allein in den nordwestlichen Provinzen erschienen
18 Blätter in Hiudustanisprache, und eines derselben, der
„Akhbar i cilam", hatte 5370 Abnehmer. Es darf uns
nicht ausfallen, daß manche derselben einen blumigen, echt
orientalischen Titel haben; z.B. „das Gestirn der Neuig-
feiten", welches zn Mirat erscheint; „der Zusammen-
ström der beiden Oceane", in Ludiana; „das Lebens-
wasser Indiens" in Agra. Es ist hier nicht am Orte,
alle die einzelnen Zeitungen und Zeitschriften aufzuzählen;
unter denselben sind einige, welche sich speciell mit den Wissen-
schasten befassen, z. B. der „Guyan pardaini patrika",
d. h. „das Wissenschaft anstheilende Blatt", zu Lahore,
welches allmonatlich erscheint und von einem iu Kaschmir
wohnenden ungemein gelehrten Panditen redigirt wird. Es
bringt bildliche Erläuterungen, also Illustrationen, zum Text
und dieser letztere ist doppelt; die eine Colnmne ist in Hindi
mit Dewanagarilettern und die andere in Urdu mit persi-
schen Buchstaben gedruckt.
In literarischer Beziehung ist der „Koh i nnr", also
der Berg des Lichtes, welcher gleichfalls in Lahors erscheint,
eine der wichtigsten Zeitschriften Indiens. Es erscheint' be-
merkenswert!), daß allein in der Nummer vom 6. März 1866
nicht weniger als 167 neuerschienene Werke augezeigt werden;
theils solche, die in Hindustani (also den beiden Dialecten
desselben, dem Urdu und dem Hindi) gedruckt worden sind,
theils im Arabischen, Persien und auch Sanskrit. Manche
Aufsätze des Blattes beschäftigen sich mit der für Indien
bekanntlich so hochwichtigen Frage der Frauenerziehung, und
an lyrischen Gedichten junger, strebsamer Poeten ist gar kein
Mangel.
Auch in Indien fehlt die Neclame nicht; natürlich trägt
sie ein specifisch-morgenländisches Gepräge. Der „Akhbar
i Knrtan" („Neuigkeiten der beiden Welten", nämlich des
Himmels und der Erde) ladet zum Abonnement vermittelst
eines Ghasels ein, uud allzugroße Bescheidenheit kann man
ihm nicht zum Vorwurfe machen.
„Der Akhbar Knrtan ist ein Oceau von Wohlredenheit,
der Akhbar Knrtan ist ein Quell der Beredsamkeit. Seine
geistreichen Ein - und Ausfälle schweifen bis zum hohen
Himmel empor; der Akhbar Knrtan ist wie ein Stern am
Firmament. Die Leute sprechen davon, wie genau und
wahrhast er sei; der Akhbar Knrtan ist wirklich ein sehr
gutes Blatt. Er stellt Alles, was sich iu der Welt begiebt,
ins rechte Licht; er ist für das Auge eiu Gestirn der Unter-
Weisung; sein Styl ist sehr rein; der Akhbar Kurtan steht,
was Klarheit des Ausdrucks betrifft, einzig da. Wer jemals
dieses Blatt gesehen hat, ruft allemal aus: Vortrefflich, du
bist mir willkommen, Akhbar Kurtan. Kurzum, für alle,
deren Herz abgestorben ist, wird der Akhbar Kurtan der
wahre Christus sein, welcher die Todten wieder auferweckte!"
Deu indischen Blättern kann man nachrühmen, daß sie
auf guten Styl halten; dieser sagt freilich uns Abend-
ländern nicht immer zu, aber lobenswert!) bleibt die Rücksicht
auf guten Ausdruck; man hat Achtung vor seiner Sprache.
Wenn wir dahin erst allgemein in Deutschland gekommen
wären, hier bei uns, wo Universitätsprofessoren einen Styl
schreiben, den man an einem Husarenunteroffizier nicht loben
würde! Die „Wahre Morgenröthe" zu Madras, welche in
Urdusprache erscheint, rühmt von sich, daß sie allgemein
geschätzt werde, weil sie des klaren Ausdrucks und guten
Styls sich befleißige; diese feien ganzer Haufen Goldes Werth.
„Die Blätter, welche in gutem Styl und mit Beredsamkeit
geschrieben werden, muß man den Diamanten vergleichen;
jede Zeile ist wie eine Perlenschnur." — Ein in Bombay er-
scheinendes Blatt führt den Titel „Der packende Blitz!".
Bemerkenswerth ist eine Ausgabe des berühmten alt-
uuter den Eingeboreueu Ostindiens. 85
indischen „Bhagavat gita"; der Sanskrittext ist in De-
vanagari gedruckt, hat eine Interlinearübersetzung in Hindi,
eine grammatische Erklärung des Textes und einen Com-
mentar in Bhaschasprache (Hindi), aber mit persischen Lettern.
Mit der Geschichtschreibung befassen sich die Inder nur
selten; sie liegt ihrem zugleich speenlativen nnd phantastisch
angestreiften Geiste nicht nahe; im vorigen Jahre ist jedoch
ein werthvolles Originalwerk erschienen, der „Tarikh Ra-
schid nddin Khaui", eine Geschichte Indiens, insbesondere
des Dekan, mit Benutzung älterer und neuerer Werke. Ver-
fasser ist Herr Hidschr in Haiderabad; in dieser Hauptstadt
des Nizam ist es, 800 Seiten stark, lithographirt erschienen,
in gutem klassischen Urdu, wie dasselbe zu Delhi gesprochen
und geschrieben wird, nicht wie in dem südlichen Dialecte,
dem sogenannten Dakhni, welcher sonst gewöhnlich im Dekan
gebraucht wird.
lieber das Hindustani und die gegenseitige Stellung
seiner beiden Zweigmnndarten, Hindi nnd Urdu, spricht
Garcin de Tassy eingehend und setzt ihr beiderseitiges Ver-
hältniß trefflich ins Klare. Im Lande selbst wird über beide
Mundarten zwischen Hindns und Mohammedanern viel hin-
und hergestritten; die elfteren vertheidigen die alte Mundart,
die letzteren die neue, reformirte, das Urdu. Dieses gewinnt
immer mehr au Ausbreitung, obwohl die meisten Nicht-
Mohammedaner ihr Hindi zur allgemeinen Geltung bringen
möchten. Aber das Hindi zerfällt in wenigstens 17 Unter-
abtheilnngen, von denen keine als klassisch allgemein anerkannt
worden ist; während das Hindustani (dieses Urdu) des Nor-
dens für klassisch gilt und, wie Tassy meint, wohl gar einst
zur Gemeinsprache aller Bewohner Indiens sich erheben werde.
Indem zu Malwa erscheinenden „Akhbar" entwickelt ein
mohammedanischer Gelehrter die Vorzüge des Urdu in
folgender Weife:
„Sanskrit war die Sprache der alten Jndier. Da
hatte man anfangs den Dialeet der Bedas; dann modisicirte
sich die Sprache und wurde so, wie wir sie in den Puranas
nnd Schastars finden. Im Fortgänge zweier Jahrtausende
gewann auch diese Sprache eiu anderes Gepräge und bildete
neue Mundarten, die man als Gathas uud Prakrits be-
zeichnete, und diese erfuhren anch Modifikationen bis auf die
Zeit der muselmännischen Herrschaft. Damals bezeichnete
mau den geachtetsten dieser neuen Hiududialecte als das
reine Indisch, teuth Hindi.- Inzwischen entstand aber
auch das Urdu, welches neben den Sanskrit- und Hindi-
Wörtern eine große Anzahl persischer und arabischer
Wörter in sich aufgenommen hat. Die Vertreter des
Hindi behaupten nun, daß eine gleich dem Urdu aus so
verschiedenartigen Bcstandtheilen zusammengesetzte Sprache
nicht geeiguet sei, das Wiederaufleben der Wissenschaften zu
fördern; höchstens könne sie als Sprache der Verwaltung
dienen; die Inder müßten sich hingegen für ihre neue Lite-
ratur ihrer neuern nationalen Sprache bedienen, des Hindi,
welches das echte nnd rechte Indische sei; das Urdu hin-
gegen sei mehr muselmännisch als indisch, weil die
mohammedanischen Eroberer so viele Fremdwörter in dasselbe
eingeschaltet hätten. Dagegen ist aber geltend zu machen,
daß Hindi und Urdu nicht zwei verschiedene Sprachen sind,
sondern lediglich Mundarten einer und derselben Sprache,
die sehr wohl neben einander bestehen können." Tassy stellt
das Urdu in die erste Reihe, gerade weil es nicht völlig
indisch sei und als Verbindungsglied zwischen dem Jöla-
mismus und dem Hinduismus betrachtet werden könne.
Man schreibt und druckt das Urdu mit persischen Buch-
staben, und auch das gicbt den Vertheidigeru des Hindi
Anstoß; sie meinen, gerade dadurch seien so viele Fremd-
Wörter eingeschwärzt worden; in Bengalen, wo man sich der
86 Fortschritt und literarische Regsamkei
nationalen Schriftlichen bediene, habe mau viele solcher
Eindringlinge wieder ausgemerzt.
An und für sich könnte dieser Streit von geringem Be-
lang erscheinen, es liegt ihm aber etwas Tieferes zu Grunde
als eine grammatische Zwistigkeit. Das Hindi nämlich
repräsentirt den Hinduismus, deu Polytheismus mit
Allem, was sich daraus herleitet und damit zusammenhängt;
das Urdu hingegen ist Vertreterin des Jslamismus, des
Monotheismus, des Semitismus und, wie Tassy meint, auch
der europäischen und christlichen Civilisation. Die Agitation
für das Hindi sei gleichbedeutend mit einem Rückschritt, ahn-
lich jenem des Neugriechischen zum Altgriechischen; in Indien
gehe man gar so weit, auch Werke, die in Urdu verfaßt sind,
mit Devanagarilettern zu drucken.
Es scheint, als ob die meisten Engländer sich für das
Urdu entscheiden. Dasselbe sei klar, ausdrucksvoll, reichhaltig
im Wörterschatz und für Alles passend. Ein Hinauswerfen
persischer und arabischer Wörter würde etwa seiu, als wenn
man alle lateinischen Wörter aus dem Englischen verbannen
wollte. Sprachen macht man nicht nach Belieben und Will-
kür; sie sind flüssig, nehmen neue Bestandtheile an in Folge
von Eroberungen, Handelsverbindungen und wissenschaftlichen
Bedürfnissen. Man könne die wunderbare Mosaik des Eng-
lischen, das germanische und romanische Bestandtheile habe,
dem Urdu vergleichen, in welchem Sanskrit- oder vielmehr
arische Elemente mit semitisch-muselmännischen vorkommen.
Wenn eiue Sprache sich auf Kosten anderer Sprachen be-
reichern kann, dann soll sie das lieber thnn, als daß sie lange,
mühsam zusammengesetzte Wörter aus sich selber macht.
Das Hindi oder vielmehr Hindui, dieses alte Indisch
des Nordens, soll turanisch und vor dem Sanskrit vorhanden
gewesen sein, ist aber durch die Sprache der Aryas dermaßen
erdrückt worden, daß es nun als eine Ableitung der alten ■
Aryassprache erscheint, von welcher auch das Sanskrit kam.
Dann erschienen die mongolischen Eroberer, welche das mit
arabischen Wörtern überladene Persische redeten. Sie führ-
ten in Indien viele Veränderungen im bürgerlichen und reli-
giösen Leben ein; ganze Provinzen wurden zum Mohamme-
danismus bekehrt, dessen heilige Sprache das Arabische ist;
die ganze Verwaltung wurde geändert, neue Aemter, nach
dem Vorbilde derer in Kabul und Persien, wurden geschaffeu
und benannt wie in diesen beiden Ländern. So kamen viele
Fremdwörter, namentlich persische und arabische, welche auf
Religion, Krieg, Regierung, Gewerbe und Künste Bezug
haben, in das Hindi, das nun auch einen andern Namen
erhielt und als Urdu zabaiu, Sprache des Lagers (der
Horde) bezeichnet wurde. Alle diese Wörter kann man nicht
willkürlich durch andere ersetzen. Die indische Akademie in
Lahore hat ein Werk in Urdu: „Geißel für die Beamten
der Regierung," welches ihr zur Begutachtung eingeschickt
worden war, deshalb getadelt und verworfen, weil der Pu-
rismus so weit ging, daß der Verfasser alle arabischen und
persischen Wörter vermieden hatte, um zu zeige», daß man bei
den Gerichten und in den Verwaltungsämtern auch ohne
solche fertig werden könne.
Die Universitäten in Calentta, Madras und Bombay
gedeihen. Von ganz entschiedener Bedeutung ist die Orien-
talische Universität zu Lahore, welche ohne irgend
welches Zuthuu der Engländer von Indern selber begründet
worden ist und von ihnen unterhalten wird. Der Ruhm
der Initiative gebührt einem Deutschen, dem sehr
gelehrten Doctor Leitner, welcher seine ganze Lebensaufgabe
darin findet, die Literatur der Eingeborenen zu heben. Ihm
verdankt auch die Akademie in Lahore ihr Entstehen; bei
Gründung jener Universität lag ihm daran, nicht bloß für
das Pendschab, sondern auch für ganz Indien neuen Auf-
unter den-Eingeborenen Ostindiens.
schwuug in das Studium der asiatischen Sprachen und Wissen-
schaften zu bringen; denn die drei anderen ebengenannten
Universitäten sassen mehr die europäischen Studien ins Auge.
Dr. Leitner ist weit entfernt von der Beschränktheit und dem
Hochmnthsdnnkel vieler christenropäischen sogenannten Civi-
lisatiousbriuger, welche deu Orientalen unsere abendländischen
Ansichten, Vorurtheile :c. mit einem Schlag ansoctroyiren
möchten. Der gelehrte Deutsche versteht vollkommen die Um-
gedungen zu würdigen, innerhalb deren er lebt uud wirkt;
er weiß sehr wohl, daß er sich an Asiaten wendet und nicht
mit Europäern zu thun hat. Er geht iu die asiatische An-
schaunugsweise ein, kennt das Schriftenthum und sucht von
innen heraus zu regeneriren. Damit sind die hervorragenden
Männer unter den Eingeborenen, welche eine sehr erklärliche
Abneigung gegen die Aufdringlichkeit der Missionaire haben,
vollkommen einverstanden. Sie wollen den Geschmack für
die ältere Literatur, sowohl die iudische wie die muselmänni-
sche, wieder beleben, gleichzeitig aber auch die Literatur und
die Wissenschaften Europas ihren Landsleuten vermitteln.
Daß dabei jeder Proselytismus ausgeschlossen werden müsse,
versteht sich von selbst.
Von der Lahore-Universität hängen zwei andere höhere
Unterrichtsanstalten ab (wir könnten sagen Lyceen oder höhere
Gymnasien), eins in Lahore selbst und ein anderes in Am-
ritsir, vielleicht auch iu Delhi. Au jeder dieser Austalten
lehren zwei Professoren Sprache und Literatur der Inder,
in Hindi und in Urdu; die anderen Persisch, Arabisch und
Sanskrit. Die Schüler werden namentlich auch in „gutem
Styl und angemessenem Ausdruck", Adab, geprüft
und sodann in „reiner Ansprache". Wenn mau es bei
uns im gelehrten Deutschland erst dahin gebracht hätte, wo
man hören kann, daß Berliner Professoren ihre Weisheit in
bester Strahlauer oder Teltower Mundart verkündigen, oder
wo sie in Leipzig ein ohrzerbrechendes Meißnisch, in Tü-
bingen ein Urschwäbisch zum Besten geben, das einem Bauer
aus dem Neckarthal abgeborgt zu sein scheint! Aber freilich,
wir sind Europäer uud marschiren an der Spitze der christ-
lichen Civilisation.
In Bengalen unterstützte die Regierung im Jahr 1866
nicht weniger als 2237 höhere und niedere Schulanstalten,
welche 370,000 Schüler zählten; dazukommen 157 Schuleu,
welche keine Unterstützung erhalten; sie zählten 5770 Schüler.
In der Präsidentschaft Madras 933 Schuleu; in den
Nordwestprovinzen 379 Regierungsschulen. In.Mirat
ist eine höhere Lehranstalt für das Arabische.
Die Agitation, welche ins Leben trat, um das weibliche
Geschlecht in Indien einer höhern Bildung theilhastig zu
machen und damit zu einer würdigern häuslichen und gesell-
schaftlichen Stellung zu befähigen, hat deu besten Fortgang.
Dazu haben allerdings die Europäer deu Austoß gegeben,
aber die Eingeborenen lassen es an Eifer zur Förderung der
Sache nicht fehlen. Dafür liegen eine Menge Beweise vor,
namentlich aus dem Gebiete des vormaligen Königreichs Audh,
uud iu Bombay hat sich eine Gesellschaft gebildet, welche
den löblichen Zweck mit Eifer fördert; an der Spitze steht
der gelehrte Hindu Bhau Dadschi.
Die Mohammedaner haben in Bengalen eine aus-
schließlich muselmännische Akademie, Andschuman
islami, gegründet, welche allmonatlich eine Sitzung in Eal-
cutta hält oder auch in Aligar. Die Missionaire behaupten
nicht selten, daß die Muselmänner den Wissenschaften feind-
lich gesinnt seien. Die ganze Literatur, namentlich der Araber,
bei denen das christliche Mittelalter wissenschaftlich in die
Schule ging, liefert allein schon den Gegenbeweis. Aber
auch Mohammed der Prophet hat gesagt: „Die Tinte der
Gelehrten ist von größerem Werth, als alles Blut
Ed. Habich: Eine Deputation von Kausteut
der Märtyrer." Jene muselmännische Akademie steht mit
der East Jndia Association in London in Verbindung; die
angesehensten Mohammedaner Bengalens sind eifrige Theil-
nehmer; sie zählte am 30. September 1865 schon 387 Mit-
glieder und die Zahl ist seitdem beträchtlich angewachsen.
Am 7. März 1866 hielt sie eine Jahressitzung, in welcher
der Generalgouverneur und alle höheren Beamten zugegen
waren. Unter den Vorträgen, welche die Akademie halten
läßt, war auch ein von völligem Sachverständniß zeugender
Uber die britische Verfassung.
In Indien herrscht die größte religiöse Freiheit; „sie ist
das richtige Mittel, verderblichem Antagonismus die Spitze
abzubrechen. Dogmatische Annäherung kann sie nicht herbei-
führen, wohl aber eine gegenseitige Duldung; sie kann Vor-
urtheile abschwäche:?, welche sehr häufig ihre Quelle in gegen-
fettiger Unkunde habe». Die Hindus wollen den Beweis
führen, daß ihre Religion nicht fo sei, wie sie von ihren
Gegnern dargestellt wird; viele unter ihnen sind Gegner un-
sittlicher und widersinniger Bräuche, die sich eingeschlichen
t bei Fabre Geffrard, Präsidenten von Haiti. 87
haben; sie verlangen energisches Einschreiten gegen die Witt-
wenverbrennungen und gegen den Menschenmord des Dschag-
ganath; viele Hindus erklären sich gegen die Vielweiberei und
viele Mohammedaner gegen das Euuuchenwesen." Das aus
Reinigung bedachte Brahmanenthum lebt wieder kräftig auf,
dafür zeugt der Brahma sabha oder Samadsch, jener
Verein aufgeklärter Hindus in Calcutta, der sich an das
Wesen der alten Religion hält und die Mißbräuche abschafft.
In der Moschee zu Lahore wird öffentlich für die Königin
Victoria gebetet.
Der Islam macht fortwährend Fortschritte. Ein wahha-
bitischer Kaufmann hat, von einigen Jüngern begleitet, die
Provinz Concan durchzogen und viele Mohammedaner zn
seinen puritanischen Reformen bekehrt. Wir erfahren durch
Garciu de Tassy, daß die Wahhabiten zahlreiche Anhänger
nicht nur iu Puna und in Ahmadnagar, fondern auch zu
Haiderabad im Dekan haben, wo die im Dienste des Nizam
stehenden Araber sich eifrig bemühen, die Lehre der Wahha-
biten zn verbreiten. A.
Line Deputation von Kaufleuten bei Iabre Heffrard, Präsidenten von ikili.
Von Eduard Habich.
Es sieht wirr und wild genug aus iu der Republik der
Schwarzen auf Haiti. Seit dem Sturze des Kaisers Sou-
louque steht dort ein wohlmeinender und energischer Mann
an der Spitze, den aber in den Augen der Schwarzen der
Vorwurf trifft, daß er ein, wenn'auch sehr dunkelgefärbter,
Mulatte ist; der Reger haßt instinctmäßig den Mischling und
auf Haiti liegt allen Revolutionen der Antagonismus zwi-
scheu Schwarzen und Gelben zu Grunde. Präsident Geffrard
ist keinen Tag seines Lebens sicher, die Verschwörungen und
Aufstände gegen ihn nehmen kein Ende und mehr als einmal
ist er nur durch die Kriegsschiffe der fremden Mächt» vor
dem Sturze bewahrt worden.
Im Herbst 1866 wurde er wieder einmal und zwar durch
den nordamerikanischen Schiffsfähndrich Kaue vor einem
Attentate gerettet. Die europäischen Capitaine hatten alle-
mal ihre Hülfe uneigennützig geleistet, der ?)ankee dagegen
ließ sich seinen Retterdienst bezahlen. Wir lesen in Neu-
yorker Blättern vom 24. November Folgendes: „Ein her-
vorragender Rebell hatte dem Fähndrich Kerne Briefe anver-
traut; dieser lieferte sie dem Präsidenten aus. Sie enthielten
einen vollständigen Plan, wie man die Hauptarsenale und
Magazine zu Port-au-Priuce in die Lnft sprengen, die Stadt
anzünden und den Präsidenten, nebst seinem Cabinet, er-
morden könne. Kane ließ sieh vom Präsidenten für
die Auslieferung der Briefe 25,000 Dollars zahlen;
dafür ist er nun zur Verantwortung gezogen worden."
Daß Haiti mehr nnd mehr in die Barbarei zurückfällt,
ist eine Thatsache; die Verehrung der grünen Schlange greift
immer mehr um sich, nnd im März 1865 mußte der Prä-
sident mehrere Neger hinrichten lassen, welche das Menschen-
fressen systematisch betrieben. Das gerichtliche Urtheil und
eine amtliche Proclamation lieferten die Beweise dafür.
Der nachstehende Bericht, welchen wir zur Veröffent-
lichnng im „Globus" von einem Deutschen, der Angen- und
Ohrenzenge war, erhielten, wird nicht ohne Interesse gelesen
werden.
-i-
* *
Bald nach der Zurückkunst des Präsidenten Geffrard in
seine Hauptstadt Port-an-Prince war dort von der Kaufmann-
schaft beschlossen worden, ihm in einer Adresse die Wünsche der
Bevölkerung vorzutragen. Geffrard hatte im Norden gegen
die Revolution, deren es in Haiti wie in fast allen
Republiken Südamerikas so viele gicbt wie Mond-
Wechsel, gesiegt. Das Land hatte durch den sechsmonat-
lichen Krieg, in Folge der Rebellion des Nordens, viel ge-
litten; die Unzufriedenheit mit dem Präsidenten war bis zum
höchsten Punkte gestiegen und namentlich verletzte die, durch
Geffrard begünstigte, Intervention einer englischen Flotte das
„Nationalgesühl" der Haitianer! Man hatte schon geglaubt,
daß er gezwungen sein werde, das Land zn verlassen; aber
die Intervention der Engländer, welche die Stadt Cap Haiti
beschossen, machte der Revolution ein Ende.
Geffrard kehrte dann nach Port-an-Prince zurück, das
rebellische Volk, eines Führers entbehrend, kroch zn Kreuze; die
Kaufmannschaft sandte eine Deputation ab, um einige Ver-
besseruugen im Finanzwesen als dringend nöthig zn fordern.
Die Deputation bestand ans etwa sechszig Kaufleuten,
in schwarzen Frackröcken, mit Cylinderhüten und weißen
Glanzhandschnhen. Nachmittags nm drei Uhr, bei einer
brennenden tropischen Hitze, war sie im Palast angelangt
nnd wurde in einem großen Saale, dessen Wände mit den
Bildern aller haitianischen Präsidenten ausgeschmückt waren,
empfangen. — Geffrard, ein hübscher Mann, von fast
schwarzer Gesichtsfarbe, befand sich an einem Ende des lan-
gen Saales, anf einer Erhöhung; dort stand ein roth-
sammetner Lehnstuhl.
Der Kaufmann L., ein Mulatte, hielt die Anrede, welche
anfangs sehr in die Breite ging; sie schilderte das Glück der
Bevölkerung, welche sich freue, den Präsidenten durch die
Vorsehung Gottes wieder in den Mauern (?) von Port-au-
Priuce begrüßen zu können. Die Lobeserhebungen und
Floskeln wollten gar kein Ende nehmen, dennoch wurde man
unwillkürlich durch dies leichte Tirailleurfeuer auf einige
strategische Entwickelungen vorbereitet.
88 Ed. Hab ich: Eine Deputation von Kauflei
Auf eitte feste Weise wies L. darauf hiu, daß im „Volk"
sich allgemein der Wunsch nach Reformen kundgebe und
daß die Regierung nur durch eiu Festhalten an der Cou-
stitutiou und durch eine gute Finanzverwaltung das Land
versöhnen könne. — Dieser Theil der Rede wurde mit vielem
Feuer und mit Betonung der Schlagwörter vorgetragen.
Während der Rede standen die Kaufleute in einem Halb-
kreise vor dem Sessel; auch Präsident Gessrard hatte sich
erhoben, und neben ihm staud sein Finanzminister Elie.
Das herkömmliche „Vivo le president" bezeichnete das
Ende der Rede.
Gessrard machte einige ruhige, graciöse Verbeugungen;
dann, als schlauer Feldherr, Uberlegte er einen Augenblick
seinen Plan, während er ziemlich weitläufig für die ihm er-
wiesene Ehre dankte. Ein feines Lächeln auf seinem Gesichte
stand ihm gut zu seinem ganz weißen Kopse, und mit der
größten Gewandtheit vermied er das Hauptthema.
Er sagte, Niemand könne mehr für Reformen fein als
er, daß er Viel gethan habe und noch Viel thun werde, daß
man aber nicht zu schnell gehen dürfe, weil man sonst Alles
verlieren könnte. Das haitianische Volk wäre noch sehr
zurück; die Civilisatiou des Landes körnte keinen Vergleich
aushalten mit der Civilisation Englands, Frankreichs und
Deutschlands (Amerikas wurde — beiläufig gesagt — gar
nicht erwähnt). Er meinte, man müsse Geduld haben; ohne
diese und die Unterstützung Aller wären keilte Reformen thnn-
lich; das haitianische Volk sei wohl gut aber unwissend,
und man müsse langsam gehen, um nicht Alles zu verderbet!.
Dann kant der Wendepunkt und Gessrard slaukirte nach
allen Seiten hin, bis er so viele Rücksichten aufgestellt hatte,
daß er endlich leicht hinwarf, es wolle ihm scheinen, daß das
haitianische Volk noch nicht fähig sei, die Reformen zn ver-
dauen. Das Volk müsse erst herangebildet werden, es
sei noch zu unwissend und deshalb auch zu schlecht, um
Freiheit zu genießen. Es begreife eher eine kräftige, starke
Regierung als Gesetze und eine Constitution. KaiserSou-
lonqne hätte sein Volk gut verstanden, indem er die Con-
stitntion in die Tasche gesteckt und mit einer starken Hand
regiert hätte.
Und so wie nun der Präsident Geffrard vorher Varia-
tionen über die Geduld spielte und jeden Augenblick das Wort
„patience" hören ließ, so wiederholten sich jetzt nur die
Schlagwörter: „1a force, le pouvoir."
Schließlich fügte er hinzu, daß die Ausgaben des Krieges
bereits reducirt seien und daß es sein Bestreben sein werde,
alle möglichen Ersparnisse anzubahnen.
Der Minister Elie machte die Bemerkung, daß die
Gerüchte über die Ausgaben falsch seien und die angegebenen
Summen zu hoch gegriffen wären.
Ein dreimaliges „Viye le president" hatte den offi-
ciellen Empfang abgeschlossen. Präsident Geffrard lud nun,
durch eine graciöse Bewegung der Hand, sämmtliche Kauf-
leute ein, Platz zu nehmen, während er auf dem hohen mit
Sammet gepolsterten Lehnstuhle sich niederließ. Es fattd
eine vou ihm allein geführte Converfation Statt, die mit
unzähligen Anekdoten uud haitianifchen Sprichwörtern, gespickt
war und einen höchst komischen Eindruck auf mich machte.
Auch schien es Geffrard's Aufgabe zu fein, ähnlich wie
Mephistopheles mit dem Schüler, seinen Zuhörern alle Be-
griffe derart zu verwickeln, daß sie gar nicht mehr wußtet,
wie ihnen zu Muthe war. „Meine Herren," Hub er au,
„wir sind noch halbe Barbaren; das Volk kennt nur
deu Chef — de» Präsidenten — nicht aber die Gesetze.
bei Fabre Geffrard, Präsidenten von Haiti.
Wenn ich zum Beispiel den wachthabenden Soldaten vor dem
Palais beföhle, Sie Alle zu arretiren, so würde kein Soldat
danach fragen, ob ich gesetzlich das Recht dazu hätte."
Ergo, die Macht muß dem Präsidenten gegeben werden,
zu thun was er will, und er tadelte die haitianischen Kauf-
leute aus den besseren Classen scharf, daß sie ihn nicht ordent-
lich unterstützten. Statt dessen aber kritisire ihn Jeder: er
könne auch nicht eintnal einen Schritt thun, ohne daß man
es über die ganze Insel wisse.
„Ich gehe, zum Beispiele, iu das Haus eines Kauf- .
mannes, um ihu zu besuchen. Zufälliger Weife ist der
Kaufmann nicht zu Haufe: nun heißt es gleich, ich hätte
eine Liebschaft mit der Frau und sei ihretwegen hingegangen.
Manchmal besuchte ich gern Kaufleute; ich thue es aber
nicht aus Rücksichten für die Reputation der Frau uud des
Kaufmanns." Dabei lächelte der alte, greife Wüstling herab-
lassend, als erwarte er, daß jeder der angeredeten Kaufleute
ihm für diefes Zartgefühl danken müßte.
„Man sagt auch," fuhr er fort, „daß ich reich sei; dies
ist aber nicht der Fall, ich habe nichts;.ich wollte, ich hätte
recht viel Geld, ich bin aber nicht reich. Fragen Sie ein-
mal meinen reichen Vetter N. P., der da sitzt, ob ich ihm
nicht schott oftmals angeboten habe, mit ihm zu tauschen."
So kam eine Geschichte nach der andern, um zu be-
weisen, wie viel er auszustehen habe und wie sehr er zn
beklagen sei. Zur Erläuterung giebt er das interessante Bild
eines Haushalts folgender Weife:
„Meine Herren, denken Sie sich, daß Sie den ganzen
lieben Tag eine Unannehmlichkeit nach der andern im Ge-
Ichäste gehabt haben. Sie sind dadurch sehr verdrießlich ge-
worden und bis aufs Aeußerste gereizt und kommen sehr
aufgeregt nach Hause; die Kinder lärmen in Ihrem Hause
und reizen Sie mehr und mehr. Wettn Sie keine Gednld
haben und kein Vertrauen zu Gott, nun, so prügeln Sie
Ihre Kinder, Ihre Frau utid jagen Ihren Burschen zum
Teufel und — müssen sich dann das Pferd felbst satteln.
Wie viel mehr hat nun der Chef der Regierung auszustehen?
Ja, meine Herren, man muß Geduld haben, nnd Sie müssen
Geduld haben und alle Haitianer müssen Gednld haben. Sie
Müssen mich unterstützen und das Bekritteln meiner Hand-
lnngen unterlassen. Lassen Sie uns fest an einander halten;
und ich bitte Sie, wenn Sie einmal gelegentlich Zeit haben,
so kommen Sie zn mir, je sechs oder zehn zusammen, und
geben Sie mir Ihren guten Rath und lassen Sie uns zu-
sammen sprechen."
In ähnlicher Weise giltg es weiter. Er begreise selbst,
daß zwei Kopse mehr wüßten als ein Kopf und er würde
sie deshalb auch gern anhören; doch gab er den Kaufleuten
ziemlich deutlich zu verstehen, daß er als Chef tausendmal
mehr wisse nnd mehr Erfahrungen habe als sie Alle zu-
sammen, und daß er zwar so höflich fein würde, sie immer
anzuhören, daß sie sich übrigens nicht einbilden müßten, ihren
Rath befolgt zu sehen; sie könnten sich irren, selbst wenn sie
glaubten, die ganze Sachlage richtig zu beurtheilen uud daß
er, Geffrard, sich überhaupt deit Teufel darum scheere, was
für alberne Ideen über Reformen in den Köpfen spukten;
„mais faites moi le plaisir de venir souvent pour m'as-
sister de vos bons conseils". Bei diesen Worten machte
der Präsident Fabre.Gessrard einige obligate Verbenguugeu
und zog sich zurück. Daraus folgte das herkömmliche „Vive
le president'". Der Finanzminister Elie stand aber an der
Thür, dnrch welche die Depntatiou der Kaufleute eingetreten
war, und schüttelte Jedem die Hand.
Deutsche Zeitungen in Südamerika.
89
Deutsche Zeitungen in Südamerika.
Die Zahl der deutschen Blätter nimmt in den fremden Erd-
theilen alljährlich zu. Daß Nordamerika deren weit über ein
Hundert zählt, daß Australien und Neuseeland, dann auch Canada
deutsche Zeitungen haben, ist bekannt. Wir haben jüngst gemel-
det, daß auch zu Hongkong in China ein „Wochenblatt für Scherz
und Ernst" herauskommt. In der Stadt Mexico erscheint seit
Begründung des Kaisertums gleichfalls eine „Deutsche Zeitung";
sie ist mit lateinischen Buchstaben gedruckt und recht dürstigen
Inhalts. In der vor uns liegenden Nummer 28 (vom 23. Juli
1866) lesen wir einen leitenden Artikel, der offenbar in einer sehr
gedrückten Stimmung geschrieben worden ist und dessen Verfasser
sich über die traurige Lage durch Wahnhoffnungen zu täuschen sucht.
„Die Völker sind wie Kinder, welche erst mit dem Alter an
Kraft und Verstand zunehmen. Aber damit eben die Entwicke-
lung der geistigen und körperlichen Kräfte in gehöriger Weise
stattfinde, brauchen die Kinder Lehrer und Vormünder, welche die
ihren Schutzbefohlenen von der Natur verliehenen Anlagen gehörig
ausbilden. Mexico ist eins von diesen Kindern und
Frankreich ist einer dieser Vormünder. Ja, Merico
ist ein Kind, aber ein Kind, für welches man trotz Allem In-
teresse fühlt und das man nicht in den Abgrund stürzen lassen
wird, in welchen böse Leidenschaften und grenzenlose Habsucht es
ziehen wollen. Merico muß auch seine schönen Tage haben und
wird sie baben. Frankreich, zum Vormund für Merico
bestellt, wird seinen Posten nicht eher verlassen, bis
die Erziehung vollständig, d. h. bis das Land im Stande
ist, sich durch sich selbst ohne fremde Hülfe vor seinen äußeren
und inneren Feinden zu schützen. Ein liberaler! Fürst hat feine
persönliche Ruhe geopfert, um an diesem großen Werke mitzuarbei-
ten. Die Vormundschaft sowie der Vormund wurden von den
Mericanern selbst gerufen (?) und haben gern die schwere Arbeit
der Erziehung übernommen." —
Das mag sein, wir wissen aber, daß der „Vormund" nun
seelenfroh ist, mit einem blauen Auge aus den mericanischenHän-
deln sich zurückzuziehen; er läßt jetzt das „Kind" im Stiche, obwohl
er weiß, daß nun die Sündfluth erst recht über das Laud herein-
brechen wird. Die „Deutsche Zeitung" in Merico aber gab sich
dem Köhlerglauben hin: „Frankreich wird seinen Verbündeten
nicht eher verlassen, bevor es seine Verpflichtungen erfüllt hat
und das große Werk der Regeneration vollendet ist." Zwar zog
sich das französische Erpeditionscorps nach Frankreich zurück, „aber
daö Bündniß zwischen Maximilian und Napoleon ist gerade jetzt
fester als je!"
So täuschte man sich selbst, wenn man an das hier Gesagte
geglaubt hat, oder man wollte, den hoffnungslosen Zuständen ge-
genüber, Andere täuschen. Dann wird erwähnt, daß Maximilian
feine Gemahlin als Bevollmächtigte an seinen Bundesgenossen ge-
sandt habe, um mit demselben Verabredungen über die Regelung
der Finanzen und die Einrichtung des Heeres zu treffen, „und
Maßregeln zu treffen, welche unerläßlich sind, um die Regenera-
tion dieses durch so langjährige Revolutionen zerklüfteten Landes
zu vollenden und Frankreichs und Mexicos Interessen, die so in-
nig mit einander verbunden sind, zu wahren." Wir kennen das
tragische Schicksal, welches über die arme Kaiserin hereingebro-
chen ist. Die „Deutsche Zeitung" aber phantasirte: „Im Besitz
einer guten Administration, eines ordentlichen Finanzsystems und
einer brauchbaren Armee wird die Regierung, fremder Hülfe bar,
sich durch sich selbst stärken und erhalten. Unter dem Einflüsse
der heilsamen gesetzlichen Ordnung werden die ehrlichen Leute
muthig und tapfer, wird das Eigenthum heilig sein, und da, wo
Unordnung herrschte, wird Ordnung herrschen. Bis dorthin wird
die Regierung sich auch der im Geheimen arbeitenden Feinde ent-
ledigt haben."
Das Blatt berichtet dann über eine Menge von Verhaftun-
gen, die man in der jüngsten Zeit habe vornehmen müssen. Man
habe die Beweise, daß Feinde der kaiserlichen Regierung gleichzeitig
für zwei Prätendenten Umtriebe gemacht hätten. Nur bei „eiserner
Strenge" sei eine gedeihliche Zukunft für Merico zu erwarten.
Globus XI. Nr. 3.
Dann werden Nachrichten über kriegerische Bewegungen und
über die Niederlagen der „Dissidenten" mitgetheilt; auch solche
über Guerillas und Räuberbanden, was in Mexico immer auf
Eins hinausläuft, fehlen nicht. Dergleichen waren selbst im
Thale der Hauptstadt erschienen; doch wurde die Bande des Fra-
gos bei TlascalZ, erreicht und geschlagen und ein Gleiches geschah
mit einigen anderen. Die Verwirrung im ganzen Lande war gren-
zenlos. Der Räuberhauptmann Pedro Martinez wurde im Juni
bei Cedral geschlagen. Er kam aber wieder, überfiel den Gru-
benort Cedral und führte 500 Maulesel fort; er will sie zurück-
geben, wenn er für jeden Maulesel 30 Silberdollars bekommt.
Die Ortschaft Zaeualtipan unweit von Tulancingo wurde von
einer Räuber- oder „Dissidentenbande" überfallen; sie sprengte
durch die Straßen und tödtete mehrere Einwohner. — Der
Minendistrict von Pachuea war bedroht. „Die Bewohner sind
in fieberhafter Angst, sie fürchten einen Besuch der Guerilleros,
von welchen sie bisher sckou so viel zu leiden hatten; viele Fa-
milien bereiten sich zur Auswanderung vor. — Ju Papantla
war ein Ausstand ausgebrochen, um freie Einfuhr von Waaren
in Teeolntla oder einem andern Hafen an der Küste, welche nicht
deni fremden Handel eröffnet worden ist, zu ermöglichen." Und so
fort ins Unendliche.
Bei weitem besser sind die Blätter, welche in Brasilien und
in Argentinien erscheinen. Die Colonien in der Provinz Santa
Catharina haben in der „Colonie-Zeitung, Anzeiger für
Dona Francisca und Blumenau", ein recht gutes, sehr
sauber gedrucktes Blatt. Verantwortlicher Herausgeber ist Herr
D. Dörfset zu Joinville. Sehr belehrenden Inhalts ist nicht
selten die „Deutsche Zeitung", welche zu Porto Alegre in
der Provinz Rio Grande do Sul erscheint. Wir verdanken, wie
die Leser des „Globus" wissen, ihrem ungemein rührigen Redae-
teur, Herrn Karl von Koseritz, manchen werthvollen Beitrag
über das große südamerikanische Kaiserreich. (In Petropolis
erscheint die „Germania", von welcher wir noch keine Nummer
gesehen haben.)
Diese Blätter erhalten wir seit langer Zeit sehr regelmäßig
und sind durch ihre Mittheilungen in den Stand gesetzt, einen
Einblick in das Leben und Treiben auf den deutschen Niederlas-
sungen zu gewinnen. Im Allgemeinen schreiten dieselben rüstig
fort, und wenn nur ein paar Jahre hintereinander der vierte
Theil der deutschen Auswanderer nach jenem mit fruchtbarem Bo-
den, gesundem Klima und mit Seeküste gesegneten Lande ziehen
wollte, dann wäre dort aller Roth abgeholfen.
ES wird eine Zeit kommen, in welcher man es nur schwer
begreiflich findet, daß fast die ganze Auswanderung nach Nord-
amerika sich lenkt. Die großen Bortheile sind allerdings nicht zu
verkennen, aber der Steuerdruck ist ungemein hoch, die politische
Gegenwart unerquicklich und die Zukunft ungewiß. Auch in
Australien fühlen die Deutschen sich zufrieden und befinden sich
im Wohlstand. In Brasilien sind die Provinzen Santa Catha-
rina, Rio Grande do Sul und Paranä ganz vortrefflich zur An-
siedelung geeignet und in den mindestens 60,000 bis 70,000
Deutschen ist ein Kern vorhanden, an welchem die Ankömmlinge
eine Stütze finden. Sobald in jenen Gegenden nur einige Hun-
derttaufend Deutsche angesiedelt wären, hätte das Deutschthum
als solches eine ganz prächtige Zukunft. Dasselbe würde in den
argentinischen Ländern der Fall sein.
Diese letzteren verdienen weit mehr Aufmerksamkeit, als man
ihnen bisher in Deutschland zugewandt hat. Namentlich trifft die
Exporteure in unseren Seestädten und unsere binnenländischen
Industriellen der Vorwurs der Nachlässigkeit. Man ist versucht,
sich recht bitter zu äußern, wenn man sieht, daß Deutschland,
dessen Handelsmarine nach jener Großbritanniens und Nordame-
rikas die bedeutendste in der Welt ist, in dem Verkehr mit Buenos
Ayres erst die sechste Stelle einnimmt: daß z. B. das kleine
Belgien im Jahre 1864 von Buenos Ayres für 5,950,000 Dol-
lars erportirte und Deutschland für 89,696 Dollars! „Im
Jahre 1861 bezifferte sich der Verkehr des Hafens von Buenos
12
90
Deutsche Zeitungen in Südamerika.
Ayres mit 1,202,856 Patacons (zu 4,412 Francs) und im Jahre
1865 mit 1,191,844. Derselbe hat demnach abgenommen, was
durch einen Vergleich der verschiedenen Jahresausweise bestätigt
wird. Dagegen stieg der Verkehr mit England von 6,733,937
im Jahre 1861 aus 10,443,966 in 1865; der mit Frankreich
gar, in derselben Zeit, von 5,728,849 auf 11,830,992 , und fast
dieselbe progressive Scala gilt für Italien.
Wir finden diese Ziffern in der „Deutschen Zeitung am
Rio de la Plata", in der Nummer vom 10. November 1866.
Es liegt darin gar kein Compliment für die Einsicht der Ham-
burger und Bremer. Deutschland ist in den Jahren 1861 bis
und mit 1865 am La-Plata-Handel nur mit etwa 5 Procent be-
theiligt gewesen; es läßt den Häsen Frankreichs, Belgiens und
Englands in der Ausfuhr so wichtiger Artikel wie Häute und
Wolle den Vorsprung und vernachlässigt den Import unserer Fa-
brikate. Nun hat in jenen sünsJahren die Handelsbewegung über
See nicht weniger als 189,649,682 Patacons betragen, wovon
113,465,971 Patacons auf die Einfuhr und 85,983,711 Patacons
auf die Ausfuhr kommen.
Wir unsererseits haben, wie unsere Leser wissen, fortwährend
auf die große Bedeutung der La-Plata-Region hingewiesen. Die
Deutschen, welche in derselben wohnen und gedeihen, scheinen jetzt
mit Ernst daran zu denken, das alte Vaterland aus seiner bekla-
genswerthen Gleichgültigkeit aufzurütteln. Sie haben, wohl auch
zu diesem Zwecke, das eben genannte Blatt gegründet, für dessen
Zusendung wir dem sehr intelligenten Herausgeber Herrn N. Th.
Napp (wenn wir nicht irren einem Rheinländer) unsern besten
Dank sagen. Er scheint von dem richtigen Grundsatze seines spe-
ciellen Landsmannes, des alten Benzenberg, auszugehen, daß näm-
lich Zahlen beweisen. Deshalb giebt er eine schon durch ihre
bloßen Ziffern sehr beredte Statistik des Zollhauses von Buenos
Ayres sür das Jahr 1865, welcher wir die obigen Angaben ent-
nommen haben.
Die für das alte Deutschland bestimmte „Revue" bringt eine
klare Uebersicht der politischen Vorgänge am La Plata und eine
Menge zum Theil recht interessanter Notizen. Wir wollen aus-
zugsweise einige derselben mittheilen.
In Folge des Krieges gegen Paraguay regten sich die wil-
den Jndianerhorden an den Grenzen; sie hatten im November
schon einige Einfälle gemacht und bei Fraile Muerto einige dort
ansässige Engländer erschlagen.
Die Subscription für die im deutschen Kriege Verwundeten
nahm den besten Fortgang.
Wir finden auch eine Mittheilnng über die Kolonie Ba-
radero in der Provinz Buenos Ayres; sie ist noch wenig bekannt.
Der Staat gab eine Legua (spanische Meile) im Umkreis für den
Ackerbau her; 1858 siedelten sich einige Schweizersamilien dort
an und bauten in dem sehr fruchtbaren Boden namentlich Kar-
toffeln, die vortrefflich gedeihen und sehr gesucht sind. Bald folg-
ten andere Familien und 1865 hat ein einziger Ansiedler für
160,000 Papierdollars Kartoffeln verkauft. Die Lage der Colonie
ist günstig; sie liegt an dem schiffbaren Flusse Riacho, welchen
namentlich italienische Händler (Barqueros) benutzen, um die
Landeserzeugnisse aufzukaufen und zu verschiffen. Allwöchentlich
kommt ein Dampfer nach Baradero, das auch alle vier Tage
Fahrpostverbinduug mit Buenos Ayres hat. Die Colonie zählt
jetzt mehr als 100 Familien, darunter auch Italiener und Basken;
sie hat feit 1864 eine Schule und eine Kirche. Im Jahre 1865
verkaufte Baradero für etwa drittehalb Millionen Papierdoliars
Ackerbauproducte.
Es ist der spanischen Regierung niemals eingefallen-, in den
La-Plata-Ländern auch nur eine einzige Brücke zu bauen;
jetzt sind doch schon einige Dutzend Brücken vorhanden, und jeder
Neubau einer solchen, von welchen! man in Europa kaum reden
würde, ist ein wichtiges Ereigniß. So wird gemeldet, daß im
October in der Provinz Santa Fs „eine großartige Brücken-
anlage" hergestellt worden sei. Sie führt über den Fluß Salado
und ist hauptsächlich bestimmt, die Colonie Esperanza, welche
8 Stunden von der Hauptstadt Sauta Fs liegt, mit dieser in
leichte Verbindung zu bringen. Nun soll zwischen beiden Punkten
eine tägliche Postverbindung stattfinden.
In der Republik Uruguay ist das Project einer Eisen-
bahn zwischen Montevideo und Dnrazno genehmigt worden.
Diese Stadt liegt unweit vom Rio Negro und ist commerciell
von Bedeutung. Man denkt auch an einen Schienenweg von Salto,
dem nördlichen Hafen der Republik und der zweitwichtigsten Handels-
stadt, nach der brasilianischen Grenze, etwa nach Uruguayana.
Man würde vermittelst desselben die Stromschnellen des Uruguay-
flusses umgehen und regelmäßigen Verkehr mit Rio grande do Sul
erhalten. Im Hafen vonColonia delSacramento, am rech-
ten Ufer des La Plata, sollen Docks gebaut werden. Der monte-
videanische Correspondent der „Deutschen Zeitung" schreibt: „Wir
gehen mit Riesenschritten vorwärts. Nur Einwanderung
fehlt uns, es fehlen uns kräftige, schaffende Arme. Mögen diese
recht zahlreich zu uns kommen, damit Ruhe, Ordnung und Sta-
bilität in das hiesige Staatsleben gebracht werden."
Der Gouverneur der Proviuz Santa Fs wird sehr gelobt;
er heißt Orono. In jener Provinz liegen alle größeren Fremden-
colonien des Landes, namentlich San Carlos. Der Gouverneur
bemüht sich nun, „mit allen Kräften und seltener Intelligenz",
Einwanderer heranzuziehen und die Blüthe der vorhandenen Colo-
nien zu befördern. Er errichtet Posteourse und hat der oben er-
wähnten Colonie Esperanza 4 spanische Quadratmeilen Weideland
unentgeltlich überlassen. Die ausgezeichnet guten Ländereien wer-
den zu 400 bis 500 Dollars die Quadratmeile abgegeben. Nun
gehen manche Schafzüchter mit ihren Herden aus der Provinz
Buenos Ayres nach Santa Fe.
Die Colonie San Carlos zählte 1866 schon 138 Fami-
lien, zusammen 732 Köpfe. Davon waren 372 Schweizer, 14
Deutsche, 238 Italiener, 86 Franzosen (zumeist Basken) und 22
Argenttner. Sie besaßen 4196 Stück Rindvieh, 765 Pferde und
Maulthiere, 270 Schweine, 26 Schafe.
Ein Blick in die Anzeigespalten der genannten südamerika-
nischen Blätter sagt uns, daß die Deutschen in Brasilien und
am La Plata lebhaften Antheil an Allem nehmen, was das alte
Vaterland bewegt. Auch bleiben sie den Sitten und Gebräuchen
der Heimath treu und unter den Spaniern, Portugiesen und Ne-
gern gerathen sie nicht, wie so manche in Nordamerika, in die
Versuchung, den Michel auf den Uankee-Jonathan zu pfropfen,
woraus allemal ein sehr unliebenswürdiges Gewächs entsteht.
In Buenos Ayres fand am 13. October „zum Besten der
verwundeten und erkrankten deutschen Krieger" eine musikalische
und theatralische Vorstellung statt. Man führte den „Deutscheu
Krieger" von Bauernfeld auf. Am 14.October hielt der Turn-
verein ein Preiskegeln und am 18. desselben Monats feierte er
sein „Stiftungsfest in der festlich erleuchteten und geschmückten
Halle unter musikalischen Vorträgen der deutschen Capelle des
Herrn Schräder". Bald nachher feierte die Gesellschaft Harmonie
ihr Stiftungsfest und am 14. October hielt der Verein Germania
sein „Kränzchen". Wir erfahren aber aus einer nachträglichen
Bekanntmachung, daß „wegen Mangels an Capital" der Vorstand
des Turnvereins sich nachträglich genöthigt sah, zu erklären, der
Verein könne auch in diesem Jahre die Kosten des Festes nicht
aufbringen; somit werde die Halle nicht geschmückt und auch nicht
bengalisch erleuchtet sein. Er fügt folgende Trostworte hinzu:
„Das macht aber nichts. Gefi 'nungstüchtige amüsiren sich
ohnedem, und da es deren unter den Vereinsmitgliedern nicht
Wenige giebt, ergeht hiermit an diese die Aufforderung, sich, wie
immer am genannten Abend, zu einer gemüthlichen Gesang-
und Glasrunde einzufinden oder dem Vorstande dieSubsidien zu
einem glänzenden Feste noch rechtzeitig in die Hand zu geben."
Deutsche Köchinnen und Diener sind sehr gesucht. — Die
deutsche Buchdruckerei hat zugleich eine Buchhandlung und bietet
neben den unvermeidlichen Grammatiken Ollendorff's auch Menzel's
Geschichte von Europa und Vehse's 42 Bände der Geschichte der
deutschen Fürstenhäuser aus. Auch sämmtliche Romane der Frau
Louise Mühlbach werden zum Kauf angeboten, ebenso die neuesten
Romane von Edmund Höfer, Karl v. Holtet und Levin Schücking.
— Wilhelm Uhlenbeck zeigt seine „Rathenower Brillen" an und
Adolf Reiche macht bekannt, „daß sich die Metallstimmen seiner
erst fünf- bis sechsmonatigen Canarienhähne, unter denen sich
noch sehr viele Doppelglucker befinden, bedeutend gebessert haben!"
In Nr. 249 werden Uhland's Gedichte, die deutsche Ueber-
setzung von Speke's Nilquellen und auch der „Globus" ange-
zeigt; jede Lieferung kostet in Buenos Ayres zehn Papier-
dollars; die deutsche Buchhandlung und Buchdruckerei, S.Martin
Aus allen
Nr. III, Besitzer Herr H. Eurth, ist so freundlich, hinzuzufügen,
vaß der „Globus" „ein sehr interessantes Werk" sei.
Selbst die „Heirathsgesuche" fehlen bei unseren Landsleuten
im Lande der Antipoden nicht. In Nr. 235 sucht „ein junger,
deutscher Kaufmann, 30 Jahre alt, da es ihm hier gänzlich an
Damenbekanntschaft fehlt, auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen
Wege eine Lebensgefährtin. Auf Geld und glänzende Schönheit
wird nicht gesehen, wohl aber aus den Besitz weiblicher Tugenden
und liebenswürdigen Wesens." Die reslectirende Dame darf aber
noch nicht 25 Jahre alt sein und muß ihre Photographie beifügen.
Ein Herr Nägeli empfiehlt in Reimen feine Schwarzwälder-
uhren und allerlei Kurze Waaren; „mit prompter Bedienung werd'
ich mich befassen, und bare Bezahlung, diethu' ich nicht hassen." —
Erdtheilen. 91
In der „Joinviller Coloniezeitung" finden wir Beweise, daß
die Ansiedler ein heiteres Leben führen, In Nr. 27 kündigen
Herr Schmitz und auch Herr Patzsch, Beide in Annaburg wohn-
hast, Tanzmusik an; ein Gleiches thun für Joinville Herr Molitor
und Herr Ravache. Der Turnverein schrieb einen „Rugtag" aus;
Herr Kalotsche hielt in seiner Wirthschast „Zum Deutschen Kaiser"
Coneert und Tanz, und die Gesellschaft „Zum Guten Abend" hatte
ihr Stiftungsfest. — An Kränzchen fehlt es auch nicht; neben
Psianzbohnen und Gurkenkernen werden Luther's kleiner Kate-
chismus und Lina'6 Märchenbuch empfohlen. — Die Straßen in
Joinville lassen wohl zu wünschen übrig, denn eine „Bescheidene
Anfrage" lautet: „Ist wohl Hoffnung vorhanden, daß in diesem
Jahrhundert noch die Prinzenstraße fertig wird?"
Aus allen
Wilhelm Lejean's Reise in Asien. Wir meldeten vor
längerer Zeit, daß Lejean die Absicht habe, das noch so wenig
bekannte Kasiristan zu besuchen, gaben auch einige seiner Mit-
theilun^en aus Mesopotamien. Jetzt erfahren wir, daß es ihm
nicht gelungen ist, in jenes Land einzudringen und die Siah-
Posch (so heißt dieses Volk, welches den Islam bis heute von sich
fern gehalten Hai) in ihrem eigenen Lande zu besuchen. Indessen
wird seine Reise dennoch für die Wissenschaft von Nutzen sein.
Lejean hat Forschungen angestellt im alten Bithynien, Galatien,
Kappadocien, namentlich auch im Flußthal des Sangarius; auch
hat er mehrere alte Städte wieder aufgefunden, z. B. Gordium.
Er durchzog Cilieien, Mesopotamien, Assyrien, ermittelte auch
dort die Lage mehrerer alter Städte und fand bei Derik sehr
merkwürdige „skytho-kimmerische" Gräber. Im April und Mai
1866 war er in Bagdad, streifte in der Umgegend umher und
fand in dem heutigen Sisped das Sispara desBerosns wieder.
Bon Bagdad ging er über Basra nach Karratschi, Lahore und
Peschawar; von dieser letztern Stadt aus gedachte er über Kabul
nach Kasiristan zu gelangen; er konnte aber in jener Richtung
nicht weiter, wahrscheinlich wegen der inneren Fehden um die
Thronfolge, durch welche Afghanistan seit dem Tode des alten
Dost Mohammed zerrüttet wird. So ging er dann zunächst nach
Kaschmir und es war, wie man aus Bombay schreibt, seine Ab-
ficht, nach dem chinesischen Türkistan vorzudringen, wo möglich
bis Gilgit. In Srinaggar, der Hauptstadt von Kaschmir, traf
er einen Abgesandten des Khans von Khotan, der ihm keine
günstigen Aussichten für jenen Reiseplan eröffnet zu haben scheint,
denn er entschloß sich, durch Persien nach Europa zurückzukehren.
[Die jüngsten Nachrichten von Lejean sind zu Paris im Januar
eingetroffen aus Abuschähr (Bender Abuschir) am persischen Meer-
busen. Er meldet, daß er „viel Neues entdeckt" habe, z. B. vor-
sanskritische Sprachen (langues paleo-aryennes), „welche noch
zwischen Kaschmir und Afghanistan bei den Bergstämmen gespro-
chen werden." Lejean will den Beweis liefern, „daß diese Spra-
chen mit den Sprachen Europas einen direetern Zusammenhang
haben als das Sanskrit," Im persischen Meerbusen hat er Stufe
um Stufe die Seefahrt des Nearch verfolgt, um die Grund-
züge zu einem geographischen Commentar über diese Fahrt fest-
zustellen. Ber Abuschähr hat der französische Reisende zwei
Ruinenitädte aus der persepolitanischen Zeit entdeckt, Mesam-
bria (jetzt Nuhil) und das Hierametis des Nearch (Gheramita)^.
Livingstone scheint auf feiner Expedition zum Nyassa-
See kein Glück zu haben. Wir meldeten bereits, daß er vom
Rofumasirome aus weiter ins Innere vorgedrungen sei. Nun
waren aber im December 1866 zu Bombay Nachrichten aus San-
sibar an der afrikanischen Ostküste angelangt, die ungünstig
lauten. Bier oder fünf indische Diener, welche den Reisenden
begleiteten, waren aus dem Innern an die Küste zurückgekehrt,
weil das Fieber sie arg mitgenommen hatte. Sie berichteten, daß
die Erpedition zu Mataka, einer volkreichen Ortschaft, welche
L r d t h e i l e n.
nur zwei Tagereisen vom Nyassa-See entfernt liegt, „z u fa m m e n-
gebrochen" sei; alle Lastthiere, welche Livingstone aus Indien
mitgebracht hatte, seien gestorben. — Das geschah gerade in einer
Gegend, welche, Livingstone's Meinung zufolge, ein sehr gesun-
des Baumwpllenparadies sein sollte! Es geht ihm also ähnlich
wie mit seinen Prophezeiungen über ein gesundes Land am Schire
und am Schirwa, durch welche er so vielen, die daran glaubten,
ums Leben geholfen hat.
Besteigung des Mount Hood in Oregon. Die „Ca-
nadian News" melden, ohne ein Datum anzugeben, daß dieser
wahrscheinlich höchste Berg in Oregon bestiegen worden sei von
den Geistlichen Atkinson und Higgins, den Doctoren Harvey und
Elarke, einem Herrn Hood und acht anderen entschlossenen Man-
nern. „Das Wetter war sehr warm und wir hatten die größten
Schwierigkeiten und Gefahren zu bestehen. Nach Thermometer-
Messungen ist der Berg 17,640 englische Fuß oder etwa 5300
Meter hoch, besteht zum großen Theil aus Lava und Asche und
hat einen Krater, aus welchem unablässig Schwefeldämpfe emporstei-
gen. Die gewaltigen Gletscher haben eine schöne hellblaue Fär-
bung und bilden ungeheure Abstürze. Die Flora ist ganz alpi-
nisch und wir haben etwa dreißig bisher den Botanikern noch
nicht bekannte Pflanzen gesammelt."
Die Nüssen zu Taschkend in Türkistan.
Wir haben jüngst darauf hingewiesen, daß die moskowitischen
Eroberer von der ansässigen iranischen Bevölkerung, also den
Ackerbauern, Handwerkern und Kaufleuten, keineswegs mit Wider-
willen aufgenommen worden sind. Diese Tadschicks oder Sarten
litten schwer unter dem Druck und der Willkür ihrer nomadischen
Herrscher, welche einem ganz andern Stammvolk angehörten und
turanische Leute sind.
Die Russen scheinen sich in Taschkend schon vollkommen sicher
zu fühlen. Anl 30. August legten sie den Grundstein zu einer
Kirche und veranstalteten bei dieser Gelegenheit ein „Volksfest".
Ein russisches Blatt, die „Zeit-Chronik", giebt eine ausführliche
Schilderung desselben, „damit die Leser eine Vorstellung von der
Lebensweise unserer neuen Staatsgenossen gewinnen." Das Nach-
folgende giebt allerdings einen nicht uninteressanten Einblick in
die Verhältnisse; wir entlehnen es der „Deutschen Petersburger
Zeitung" vom 22. Oetober (3. November) 1866. —
Um 1 Uhr ritt General Kryschanowski mlt einem großen
Gefolge nach Min-Urück, dem außerhalb der Stadt belegenen
Vergnügungsorte der Russen.
Es hatten sich hier über 30,000 Sarten und Kirgisen ver-
sammelt. Das Fest wurde der Volkssitte gemäß mit einem W ett-
rennen eröffnet. Gegen 30 Pferde, ausschließlich von Knaben
geritten, nahmen an dem Rennen Theil, dessen Ziel das 18 Werst
entfernte Niasbek war. Fast gleichzeitig mit ihnen liefen auch
25 halbnackte Sarten als Schnellläufer, die eine Entfernung
von U/4 Werst zurückzulegen hatten. In der Erwartung der
12*
92
Aus allen Erdtheilen.
Rückkehr der Renner und Läufer begannen die Volksspiele,
welche der bekannte Sarte Seid-Asim leitete. Generaladjutant
Kryschanowski stieg dom Pferde und nahm auf einem für ihn
eingerichteten Sitze Platz. Vor ihm bildete sich ein Kreis dichter
Volksmassen zu Fuß; hinter diesen standen die berittenen Zu-
schauer. Ringsum hatten Knaben und Erwachsene luftige Platze
auf Bäumen eingenommen.
Zuerst traten vier Knaben mit Schellentrommeln in den
Raum; nach dem Taete der Trommeln gingen sie erst langsam,
dann immer schneller im Kreise herum, bis sie endlich zu sprin-
gen und sich zu drehen anfingen. Die Sarten sahen diesen Tän-
zen sehr gern zu, und es entstand daher ein großes Gedränge in
dem Kreise. Dieser Tanz war übrigens aus dem Stegreife ar-
rangirt worden, so daß die Knaben ihn in ihrer gewöhnlichen
Kleidung und nicht, wie es sonst zu geschehen pflegt, in Frauen-
tracht aufführten. Bald meldete man auch die Rückkehr der Ren-
ner und Schnellläuser. General Kryfchanowski begab sich, von
der ganzen Volksmenge begleitet, zu dem Wege. Der erste Knabe
kam unter dem Rufe „Seid-Asim, Seid-Asim!" herangesprengt,
durch welchen Namen er den Eigenthümer des Pferdes bezeichnete.
Der zweite rief: „Ssergaly, Ssergaly!" d. h. das Pferd des
Bijers (Richters) von Ssergaly. So ging es fort. Das erste
Pferd gewann einen Preis von 100 Rubel, das zweite einen von
50 R. u. s. w. Gleich daraus erschienen, müde, matt und mit
Staub bedeckt, auch die Schnellläufer. Der erste erhielt 10 R.,
der zweite 5 R., der dritte 3 R., der vierte 2 R. als Sieges-
preis, den anderen wurde- 1 Rubel zu Theil. General Kryscha-
nowski legte einigen der am meisten ermüdeten älteren Läufer,
mit bereits ergrauten Bärten, und den Knaben noch einige Rubel
aus seiner Tasche hinzu.
Dann folgte das W e t tr i n g e n, in welchem sich ein Sarte, der
alle sich ihm stellenden Gegner überwand, besonders auszeichnete.
Nach vem Ringen brachte man einen großen Kessel herbei,
der mit einem flüssigen Mehlbrei halb angefüllt war. In diesen
Mehlbrei warf man einen Silberrubel. Es kam nun darauf an,
denselben mit dem Munde herauszuholen. Sofort fuhren auch
zwei Sarten mit den Köpfen in die flüssige Masse, bis einer der-
selben nach mehrfachen Wechselsällen in diesem nicht gerade appe-
titlichen Kampfe den Sieg davontrug und den Silberrubel mit
dem Munde herausbrachte. Nach diesem Scherze folgten wieder
Tänze, Ringer-Wettkämpfe und andere Belustigungen.
Um 3 Uhr wurde die ganze Volksmasse mit Fleisch, Pilaw
und Bier bewirthet. Man hatte zu diesem Mahle über 100
Hammel, 4 Pferde und einige Kühe geschlachtet und 10 unge-
heure Kessel voll Bier herbeigeschafft. Das Volk setzte sich in
Gruppen nieder und vor jede Gruppe wurden Schüsseln mit Fleisch
und Pilaw gestellt.
Um vier Uhr begann das Festdiner bei dem General Kry-
schanowski, das in einer Laube servirt war. — Schaaren Volkes
umgaben den Raum. Als der General den Toast auf das Wohl
des Kaisers ausbrachte, fiel ein Kanonenschuß. Die in der Nähe
stehenden Soldaten nahmen den von der Tafel her erschallenden
Hurrahruf auf, derselbe ging, als die Sarten erfahren, was
das zu bedeuten habe, auf diese über und erschütterte lange die
Lüfte. Dasselbe^ geschah mit den die folgenden Toaste begleitenden
Hurrahrufen.
Den Tag beschloß eine Abendgesellschaft bei General
Romanowski, zu welcher alle russischen Offiziere und Beamten
und die angesehensten Sarten und Kirgisen eingeladen
waren. Um 7 Uhr wurde der Garten mit farbigen Laternen,
die an den Bäumen und an Schnüren längs der Alleen auf-
gehängt waren, und durch Lampen, welche die Wege einsäumten,
erleuchtet. Später wurde noch ein Feuerwerk abgebrannt. Die
Sarten waren über die ihnen bisher unbekannte Pracht der Jllu-
mination und des Feuerwerks so entzückt, daß einer von den Vor-
nehmeren bemerkte: „Warum führen die Russen Krieg? sie brau-
chen nur ein solches Fest mit einem solchen Feuerwerk zu veran-
stalten und ihre Feinde zum Zusehen einzuladen. Wenn die solche
Wunder sehen, werden sie die Arme sinken lassen und nicht mehr
mit ihnen Krieg führen."
Forschungen in Central- und Süd-Asien. Die Russen
dringen von Norden her immer weiter nach Mittelasien, während
die Engländer von Süden her ein Gleiches thun. Während jene
mit dem Chan von Buchara Krieg führten, untersuchten britische
Ingenieure die Hochgebirge, welche sich im Norden des Himalaya
erheben.
H. Johnson hat 1865 und 1866 Triangulirungen im
Karakorum-Gebirge vorgenommen; bis an den südlichen
Fuß desselben reicht der englische Einfluß. Während seiner Ar-
betten erhielt er von K Hot an aus eine Einladung, dorthin zu
kommen. Diese Provinz liegt in der sogenannten hohen Buchara
oder Osttürkistan, welches 1759 von den Chinesen in Befitz ge-
nommen wurde. Die Häuptlinge der einzelnen Provinzen sind
Usbeken und Mohammedaner, das Volk ist zum Theil buddhistisch.
Johnson folgte der Einladung, überschritt die Gebirge und Hoch-
ebenen, welche zwischen dem Himalaya und dem Kusn hien lie-
gen, und gelangte nach Eltschi, der Hauptstadt von Khotan,
deren astronomische Lage er bestimmt hat.
Im Südosten hat M. J.Thomson Wanderungen durch
Kambodscha gemacht und auch den berühmten Tempel von
Angkor, unweit vom Binnensee Tuli sap besucht. Als Ausbeure
brachte er eine Menge von Photographien und einige Hundert
Zeichnungen mit. Wir wollen bemerken, daß unser Landsmann
Adolf Bastian in Bremen die Denkmäler in Kambodscha gründ-
lich erforscht und seinerseits eine große Menge von theilweise
durch eingeborene Künstler ausgeführten Zeichnungen zurückgebracht
hat. Er wird den Gegenstand in seinem umfangreichen Werke.»
„Die Völker des östlichen Asien; Studien und Reisen
von Adolf Bastian, Leipzig 1366" (bei Otto Wigand), erläu-
tern. Dieses Werk, von welchem bis jetzt zwei Bände erschienen
sind, eröffnet der Wissenschaft ganz neue Horizonte, es lehrt uns
geradezu eine neue Welt kennen.
Die Veracruz - Mexico - und die Missouri-San-Fran-
cisco-Bahn.
Beide sind in der That gigantische Unternehmungen. Zwar
ist die erstgenannte nicht sehr lang, und die Entfernung zwischen
beiden Punkten beträgt in gerader Linie nur etwa 50 deutsche
Meilen. Aber während Veracruz am Meeresufer liegt, finden
wir die Stadt Mexico in einer Höhe von 7008 Pariser oder 734«)
englischen Fuß über dem Meere. Bei einer gleichmäßigen Stei-
gung würde dieselbe nicht weniger als 36^ Fuß aus die Mile
betragen haben, aber die Sache wurde durch die eigentümliche
Bodenbeschaffenheit noch schwieriger, denn man mußte Punkte
überschreiten, die viel höher liegen als die Stadt Merico. Wir
finden zwischen den beiden Endpunkten zwei Hochebenen, von denen
die zweite, hochgelegene etwa 8000 Fuß englisch Meereshöhe
hat. Das eine Plateau wird vom andern durch eine etwa 55
Miles breite Strecke getrennt, die durchaus gebirgig ist und das
östliche Ende des obern Plateaus bildet. Die Breite des untern
Plateaus beträgt auch etwas mehr als 50 Miles; dieses liegt
etwa in 700 bis 1500 Fuß Meereshöhe. Von der einen Hoch-
ebene zur andern beträgt die Entfernung 110 Miles und auf dieser
Strecke muß die Bahn etwa 6000 bis 7000 Fuß erklimmen; hier
ist das Problem zu lösen, daß sie auf einer Strecke von 55 Miles
6540 Fuß oder 119 Fuß per Mile (= 1760 Uards) ansteigt oder
2 Fuß auf durchschnittlich 44^ Fuß. Die größte Steile, welche
bisher in Amerika überwunden wurde, ist jene bei Chanarcillo
aus der Copiapobahn in Chile. 196 Fuß auf 13 Miles; dagegen
wird die Bahn in Merico, bei Maltrata unweit Orizaba, auf einer
Strecke von 23 Miles 211 Fuß per Mile Neigung haben. Dabei
muß dort über den Fluß Metlac, etwa auf halbem Wege zwischen
den Städten Orizaba und Cordova, ein mächtiger Viaduct gebaut
werden. Derselbe soll in einer eisernen Brücke bestehen, die eben
jetzt in England gebaut wird; sie wird eine 380 Fuß hohe Schlucht
überspannen.
An der großen nordamerikanischen Ostwestbahn sind die Ar-
beiten im Jahr 1866 tapser gefördert worden. Aus der Westseite
der Sierra Nevada, in Kalifornien, waren namentlich anch 12,000
Chinesen beschäftigt im Jahr und 1867 sollen weitere 10,000
in Arbeit genommen werden. Am Ende des Jahres 1866 war
die Bahn bis nur 16 Miles vom höchsten Uebergangspunkt über
die Sierra Nevada entfernt vollendet. Die nachstehenden Ziffern
thun dar, welche Steigungen die Bahn auf der Westseite des
Aus allen Erdtheilen.
93
Gebirges von San Francisco aus zu machen hat; bis Cisco wurde
sie schon im October mit Locomotiven befahren.
Entfernung. Meereshöhe.
San Sacramento.....— Miles. . 54 Fuß,
Arcade...... • • - 71/2 " ■ . . 76
Antelope..... ... 15 „ , > . 180
Junction ..... > . 189
Hocklin...... . . 260
Pino....... . . 420
Newcastle..... , . 989
Auburn ...... . 1385
Clipper Gap .... ... 42 „ . . 1785
Colsar...... ... 62 „ . . 2443
Gold Run..... - - - 641/2 „ - . 3245 „
Dutch Flat..... ... 67 „ . . 3425 „
Alta....... . . . 69 „ . . 3625 „
Cisco....... . . . 68 . . 5911 ,,
Uebergangshöhe . . . . . . 105^4 „ - . 7042 „
Das Eisenbahnnetz in Ostindien.
Vor etwa 15 Jahren wurde der Plan zu dem großen Netz
entworfen und dann mit solchem Nachdrucke betrieben, daß dasselbe
jetzt nahezu vollendet ist. Bombay, Madras, Calcutta und viele
der wichtigsten Binnenstädte sind durch Schienenwege in Verbin-
bring gebracht worden und man baut nun auf manchen Punkten
die erforderlichen Zweigbahnen.
Im Sommer 1866 hat der Oberingenieur Danvers in einem
Bericht an den Generalstatthalter die Fortschritte im Bau hervor-
geHoven, und der Pariser „Monitenr" bringt einen Auszug. Der
ursprüngliche Plan faßte eine Anzahl Linien ins Auge, die zu-
fammen etwa 8000 Kilometer lang sein sollten. Davon waren
1865 schon 5.860 Kilometer vollendet und in Betrieb. Das ganze
Netz wird 81,000,000 Pf. St. kosten; davon waren am 1. Mai
1865 verausgabt worden 60,645,000 Pf. St. Die Regierung
hat den Actiouairen 5 Procent Zinsen garantirt. Die Netto-
einnähme betrug 1865 schon 1,341,000 Pf. St. und es sind zwi-
schen 12 und 13 Millionen Fahrgäste befördert worden. Die Ein-
geborenen legen nur geringen Werth auf die verschiedenen Wagen-
classen und ziehen durchschnittlich die wohlfeilste vor; mehr als
94 Procent haben Plätze in der dritten Classe genommen und
man sieht in demselben Wagen reiche Kaufleute und höhere Be-
amte neben armen Kulis der niedrigen Kasten.
Wir bitten unsere Leser einen Blick auf die Karte zn werfen.
Man sieht dann, wie die Linien laufen von der Coromandelküste
nach der Malabarküste und jene, welche bis an den Fuß des Hi-
malaya reichen. Damit begreift man sofort den strategischen und
commerciellen, überhaupt volkswirtschaftlichen Werth derselben.
Im Süden wird die Halbinsel zweimal von Schienenwegen
durchzogen; von Madras nach Calicut, über Veüore und
Salem, und von Madras nach Bombay, über Ballary und
Puna.
Weiter nach Norden läuft eine Bahn von Calcutta über
Patna und Benares nach Mirzapur; eine Zweigbahn dieses
Stranges geht über Allahabad, Agra und Delhi bis Lahore
und soll, mit Ueberbrückung des Indus bei Attock, bis Peschawar
weiter geführt werden. Eine andere Zweigbahn von Mirzapur
aus geht über Dschabbalpur und Nassik nach Bombay. Eine
Zweigbahn vereinigt Bombay mit Surat, Baroda und Ahmenabad.
An der Küste von Sindh geht die von Karratschi aus lausende
Bahn nach Haiderabad und weiter bis Multan und Lahore. Jeder-
mann begreift, daß auf einem so Ungeheuern Räume die Bodeu-
gestaltung und die Ströme dem Fortschritte der Arbeiten gewal-
tige Hindernisse bereitet haben. Diese sind jedoch allesammt glück-
lich überwunden worden.
Als besonders wichtig wird die Linie von Lahore im Pend-
schab hervorgehoben; man meint, daß ein nicht unbeträchtlicher
Theil des Waarenzuges aus Türkistan und Afghanistan
auf diese Bahn hingelenkt werden könne; jetzt geht dieser Zug
durch Persien und ans Kaspische Meer, also auf russisches Gebiet.
Es zeigt sich, wie auch hier wieder die Interessen der beiden
großen Reiche, Rußlands und Englands, in Eonflicte kommen.
Auf den Strömen des Pendschab sind ganze Dampferflotten in
Thätigkeit und auch sie schaffen, gleich den Locomotiven, Landes-
erzeugnisse zur Aussuhr an die Küste. Der Waarenandrang in
Bombay ist so groß, daß die Zollspeicher nicht mehr ausreichen.
Vom I. Januar bis 22. August 1865 waren dort 710,418 Ballen
Baumwolle verschifft worden; in derselben Zeit von 1866 aber
schon 816,805 Ballen, wovon 819,881 für England bestimmt
waren.
Neberhaupt gewinnt Bombay eine immer größere Bedeutung;
dort centralisiren sich, schon der geographischen Lage wegen, die
Telegramme, die Reisenden aus und nach Europa und Massen
von Waaren. Wir haben im „Globus" früher die Wichtigkeit
dieses großen Emporiums eingehend geschildert.
Die Eisenbahn zwischen Bombay und Nagpore ist
Anfang Novembers 1866 dem Verkehr übergeben worden.
Die europäisch-indischen und australischen Telegraphen.
Die Beförderung der Telegramme zwischen London einerseits und
Bombay, Madras oder Calcutta andererseits ist sehr verschieden.
Sie hat bisher von zw ei Stunden bis zu sechszehn Tagen
betragen; die Durchschnittszahl der aus Indien abgeschickten Tele-
gramme bctrug 30 für den Tag. Ein Telegramm von 20 Wör-
tern nach Indien kostet 1 Pf. St. 1 Schilling; davon entfallen
auf die internationale Telegraphencompagnie 3 Sch. 6 Pence;
auf den deutsch-österreichischen Telegraphenverein 10 Sch. 6 P.;
die türkische Linie 1 Sch. 8 P.; auf jene des persischen Golfes
und Indiens 2 Sch. 19 P. Im Jahre 1865 wurden aus Groß-
britannien 11,070 Telegramme nach Indien abgefertigt, die etwa
33,000 Pf. St. kosteten, aus Indien kamen dorthin 8403; Kosten
etwa 28,000 Pf. St. Aus Indien kamen nach den Ländern des
europäischen Continentes etwa 2500 Telegramme und die Einnah-
men des indisch-europäischen Telegraphen beliefen sich während der
ersten zehn Monate des Jahres 1865 auf 69,770 Pf. St.
Melbourne, die Hauptstadt der australischen Provinz Vic-
toria, kann jetzt Nachrichten aus Europa binnen 20 Tagen erhal-
ten. Das dort erscheinende Blatt „Argus" schreibt: „Es unter-
liegt keinem Zweifel, daß wir, bevor viele Jahre vergehen, die
Zeit nicht mehr nach Tagen, sondern nach Stunden berechnen
werden. Cap Dort (die Nordspitze Australiens an der Toms-
straße) wird demnächst mit der Telegraphenlinie verbunden wer-
den, welche von Sydney in Neusüdwales nach Norden hin bis
Brisbane in Queensland vollendet ist, und nach Süden bis Mel-
bourne und Adelaide reicht. Es ist unausbleiblich, daß der Draht,
durch welchen Sing aPore mit B ata via in Verbindung ge-
bracht worden, bis zur Nordküste Australiens verlängert werden
muß." _
Beyrnt in Syrien hat durch die Dampfschifffahrt ganz
ungemein gewonnen. Vor zehn Jähren war es verhältnißmäßig
unbedeutend und zählte kaum 10,000 Seeleu, Ende 1866 war
die Bewohnerzahl auf mehr als 100,000 gestiegen.
Zwischen Java und Australien will die niederländische
Regierung im Jahre 1867 eine Dampferlinie ins Leben treten
lassen.
Schiffbrüche an den Küsten von Großbritannien und
Irland 1865. Die Zahl derselben hat eine geradezu bedenk-
liche Höhe erreicht; sie betrug 1656 gegen 1350 im Jahre
186-1. Im Durchschnitt kommen auf die zehn Jahre von 1855
bis und mit 1865 nicht weniger als 1372 Unglücksfälle aufSee.
Bei jenen 1656 Unfällen haben 2012 Fahrzeuge nnt einem
Gehalt von mehr als 377,000 Tonnen Schaden gelitten; 1690
Schiffe waren Engländer, 238 gehörten fremden Flaggen an; von
84 Fahrzeugen kennt man die Nationalität nicht. Von den eng-
tischen waren 1198 Küstenfahrer und 492 Schiffe im langen
Cours; 342 Unfälle ereigneten sich in Folge von Zusammenstößen,
deren 240 bei Nachtzeit stattfanden; 540 Schisse gingen total
verloren; bei 745 Unfällen trägt das schlechte Wetter die Schuld,
bei 236 die Nachlässigkeit oder Unfähigkeit der Schiffsführer;
83 waren schlecht gebaut oder fehlerhaft betakelt. Fischerfahr-
zeuge waren 98, Kohlenschiffe 676, mit Mineralien beladen
259, sodann verschiedene 980. Dreimaster waren 82, Dampfer 130,
94 Aus allen
Schooner 542, Briggs 419 und 570 Barken und Schaluppen. 902
hatten weniger als 100 Tonnen (zu 20 Centnern) Tragfähigkeit,
793 von 100 bis 300 Tonnen, 210 von 300 bis 600, und 107
mehr als 600 Tonnen. Der Menschenverlust betrug 693
Köpse, die sich aus 164 Fahrzeuge vertheilen; 1864 gingen nur
576 Menschenleben verloren. — Im Jahre 1865 sind 37 neue
Rettungsboote gebaut worden; die Gesammtzahl derselben be-
trägt gegenwärtig 162. Durch diese Boote sind 1865 nicht
weniger als 532 Menschen von 73 verschiedenen Fahrzeugen
gerettet worden. Außerdem wurden 20 Schiffe durch sie in
Sicherheit gebracht, und 85 anderen, die in Gefahr zu sein
schienen, wurde Hülse gebracht. — Die Gesellschaft zur Rettung
Schiffbrüchiger hat von 1824 bis 1865 nicht weniger als 14,980
Menschen vor dem Tod im Wasser bewahrt.
Ein kühner Seefahrer. Anfang Novembers 1866 ist in
Southampton die eiserne Schooneryacht „Themis" eingelaufen,
nachdem sie eine merkwürdige Reise gemacht hat. Sie ist eine
„Nußschale" und hat nur 140 Tonnen Tragfähigkeit. Ihr Eigen-
thümer, ein Capitain Hann an, der von Haus aus ein Land-
offizier ist, hatte sich vorgenommen, die Sandwichsinseln und die
Magellansstraße näher zu erforschen und stach am 17. April
1864 in See. An Bord hatte er seine Frau nebst Dienerin,
einen Schiffslieutenant, Untersteuermann, Zimmermann, sechs
Matrosen, einen Koch, Aufwärter und Jungen.. Von Europa
segelte er wohlgemuth nach Madeira, Teneriffa, Rio, Buenos
Ayres, Port Julian an der patagonischen Küste und dublirte Cap
Virgin am östlichen Eingang zur Magellansstraße; diese verließ
er am Cap Pillar, dem westlichen Eingang, am Morgen des
12. September und gelangte ohne Unfall nach Callao in Peru.
Nachdem er hier Vorräthe eingenommen, trat er die Fahrt nach
Honolulu auf den Sandwichsinseln an, eine Strecke von 5000
Seemeilen, ohne unterwegs anzulaufen. Der Lieutenant war
fchon am 4. November auf Mas a fuera gestorben und Hannan
übernahm nun selber den Befehl. Er legte jene weite Entfernung in
40 Tagen zurück und kreuzte vom 22. Januar bis 29. November
1865 zwischen den Sandwichsinseln umher, wo er jeden einzelnen
Ankerplatz besuchte. Am 29. November steuerte er dann nach
den Marquesasinseln, war am 8. Februar 1866 zu Valparaiso
in Chile, besserte die „Nußschale" aus und segelte am 21. Fe-
bruar wieder nach der Magellansstraße, um nun den Sar-
miento-Canal in derselben genau zu untersuchen. Dieser
Canal bildet eine nordwestliche und nördliche Abzweigung vom
westlichen Theile der Straße, und vermittelst desselben kann die
Fahrt durch die letztere wesentlich abgekürzt werden. Vom 19.
März bis 23. Mai steuerte die „Themis" in der Straße umher,
hatte dabei ununterbrochen Frost, Schnee, Regen und Sturm,
erforschte aber eine Menge von Buchten und Ankerplätzen. Am
6. Januar war Frau Hannan gestorben; die Leiche blieb 10
Monate an Bord und ist nun in England begraben worden. Die
Ergebnisse dieser kühnen Fahrt sollen nautisch nicht ohne Be-
lang sein.
Die Industrieausstellungen in Brasilien sind jetzt an
der Tagesordnung. In den südlichen Provinzen feiert das deut-
sche Element ganz entschiedene Triumphe (in den Nordprovinzen
leben nnr einzelne Deutsche zerstreut). Aus der Ausstellung für
die Provinz Rio grande do Sul, zu Porto Alegre, waren mehr
als zwei Drittel der Aussteller Deutsche uud alle bedeutenderen
Zweige der Industrie waren fast ausschließlich durch sie allein
vertreten. Zu Desterro in der Provinz Santa Katharina war
dasselbe der Fall; auf derselbe» sah man nur wenige Gegenstände
ausgestellt, welche nicht der deutsche Fleiß geliesert hatte. Ausge-
stellt waren Gegenstände aus den deutschen Colonien Dona Frau-
eiSea, Blumenau, Jtajahy, Brusque und Angelina.
Australien. Colonie Victoria. Die Jndustrieaus-
steHungen sind auch im „fünftenWelttheile" sehr beliebt. Auf
jener in Melbourne spielten die Mineralien eine hervorragende
Rolle. Abgesehen vom Golde, das sich dort von selbst versteht,
waren auch viele edle Steine zur Ausstellung gekommen; allein
der Ovens-Distriet hatte Diamanten, Jaspis, Rubine, Carniole,
Amethyste, Topase und Agate geliefert.
Erdtheilen.
Der „Frauen-Verein der Erpedition zur Aufsuchung Leich-
hardt's" hat beschlossen, daß durch Mc Jntyres Tod kein Still-
stand eintreten solle. Der bisherige zweite Befehlshaber derselben,
Slowman, ist angewiesen worden, die Güls Country, d. h.
die Gegend am Meerbusen von Earpentaria, näher zu erforschen.
In Melbourne betrug der Werth der Einfuhren vom
1. Januar bis 15. September 9,625,981 uud jener der Aus-
fuhren 7,370,654 Pfd. St., also in neunthalb Monaten beinahe
120 Millionen Thaler — in einer Stadt, von welcher vor 20
Jahren noch nicht ein Haus stand! Wo damals Wildniß war,
ist am 22. August 1866 an Bourke Street East ein Stück Land,
das bei einer Straßenfront von 27 Fuß etwa 200 Fuß Tiefe hat,
für 20,000 Pfd. St. verkauft worden.
Aus der Colonie Neusüdwales sinden wir in den Blättern
Nachrichten über Unfug von Buschkleppern, welche, wie ge-
wohnlich, die Straße unsicher machen und Postwagen ausplün-
dern, und über Unfug von Straßenpredigern. Ein ge-
wisser Mac Gibbous hat den „Antichrist" genau kennen gelernt,
hält Schreireden über denselben an den Gassenecken zu Sydney,
fordert die Jrländer aus, ihn anzuhören, schmähet Papst und
Katholicismus und läßt sich dafür von den handfesten Söhnen
der Smaragdinsel durchprügeln. So wird er, wonach sein Trach-
ten gerichtet ist, in die Lage versetzt, sich für einen „Märtyrer
des wahren Gotteswortes" auszugeben; er hat aber an einem
Reverend Westwood einen Concurrenten gefunden, der alles Unheil
in der Welt dein Papste zuschreibt und viele Prügeleien in Scene
setzt. Die Sydneyer sind über die Entdeckung eines Erdöllagers
bei Wollongong mehr erfreut als über die Gassentheologen.
In der Colonie Südaustralien hat man im Port Lin-
coln Districte, nur eine Wegstunde von der Meeresküste, Stein-
kohlen gesunden. — Die Colonie schreitet erfreulich fort; sie
hat 1865 für 1,228,000 Pfd. St. Getreide und für 620,000
Pfd. St. Mineralien ausgeführt. — Alle Einwanderung auf
Kosten der Regierung ist eingestellt worden. Ein Gleiches ist
von Seiten der Colonie Queensland geschehen.
Mineralreichthum in Brasilien. Man wußte, daß in
der Provinz Maranhan bei Chapada Kupfererze liegen. Ein
unternehmender Engländer, welcher in Brasilien schon zu man-
cherlei nützlichen Unternehmungen den Anstoß gegeben, Nathamel
Plant, hat nun im Herbst 1866 jene Gegend näher ersorscht
und sich überzeugt, daß jenes Kupfererz sehr reichhaltig ist; so-
dann hat er ein sehr mächtiges Lager hydraulischen Kalkes auf-
gefunden. — Der uuermüdliche Capitain Burton besuchte die
Bleigruben bei Jporango in der Provinz St. Paulo und fand
sie stark silberhaltig. Die User des Jguape sind reich an
Gold. Burton fand dort auch gute Braunkohle, Schiefer und Kalk
und hofft auch Steinöl zu finden. Der Jguape kann das ganze
Jahr hindurch von den Minen bis zur Mündung von Nachen
mit 30 Centner Last befahren werden, und (vor dem Ausbruche
des Krieges gegen Paraguay) 40 MileS unterhalb der Minen und
80 Miles oberhalb der Mündung, sind bis zur Stadt Xiririca
Dampfer gefahren. Der Hafen Cananea, wo sich eine blühende
deutsche Ansiedelung befindet, ist bei jedem Winde sicher.
Giebt es biegsames Jtacolumit^Gestein, sogenanntes
Gelenkquarz? Der Jtacolumi, das heißt „der Stein mit
seinem Sohne" — denn so benannten die Indianer den Berg
wegen seiner eigentümlichen Felsenbildung — liegt in der bra-
Manischen Provinz Minas geraes, unweit von der Hauptstadt
Ouro preto und hat nach v. Eschwege eine Höhe von 5720 eng-
tischen, nach Spir und Martiuö von 5368 Pariser Fuß. Er ist
1859 von Dr. Heubner bestiegen und geognostisch näher beschrieben
worden. Sein mürber Quarzsandstein mit schieferiger Tertur
wird als Jtacolumit bezeichnet, oder als Jtacolumitquarz. Herr
v. Eschwege, von welchem dieser Name stammt, bezeichnete als
Varietät desselben ein Gestein, welches die Eigenschaft besitze, sich
selbst in größeren Tafeln einigermaßen biegen zu lassen und also
eine gewisse Elasticität zeige. Er nannte es biegsamen oder
elastischen Sandstein, auch Gelenkquarz, und in vielen euro-
päischen Sammlungen befinden sich Muster. Nun bemerkt Herr
v. Tschudi im zweiten Bande seiner Reise durch Südamerika,
daß spätere Forscher diesen Gelenkquarz nicht gefunden haben,
Aus allen
obgleich er nach v. Eschwege's Angaben in der nächsten Nähe von
Ouro preto vorkommen soll. Tschudi selber konnte, des anhal-
tenden Regenwetters halber, den Jtaeolnmi nicht besteigen, aber
ein deutscher Gelehrter. Geograph der Provinz Minas geraeS,
Herr Fr. Wagner, erzählte ihm Folgendes:
Im Jahre 1823 habe er, Wagner, sich alle Mühe gegeben,
den biegsamen Sandstein aufzufinden und deshalb auf das Sorg-
faltigste an allen jenen Stellen nachgeforscht, wo derselbe nach
Herrn v. Eschwege's Mittheilungen austreten soll, aber stets
vergeblich. Eines Tages habe er wiederum in der Lavra do
Velo so (eine halbe Stunde von der Stadt), dem Hauptfundorte
von Eschwege, nachgesucht und sei dort zufällig mit einem Neger
zusammengetroffen, der eine rothe Weste mit blanken Knöpfen
trug; auf letzteren waren Hammer und Schlägel. Wagner fragte:
Woher hast Du die Weste? — Vom Baron Eschewege; ich bin
in seinem Dienste gewesen, bis er voriges Jabr (1822) abreiste.
— Nun, so kannst Du mir gewiß auch sagen, wo man hier den
Stein findet, der sich biegen sdobrar) läßt? — Der Neger lachte
verschmitzt und entgegnete: Ja, Herr, der Stein kommt hier
vor, aber biegen läßt er sich nicht. — Wie? der Baron
hat doch biegsame Steine gehabt? — Ja, Herr, aber wir
haben sie erst biegsam gemacht. — Auf welche Weise denn?
fragte der in hohem Grade erstaunte Wagner, und der Neger er-
klärte: „Wir haben die Taseln auf die Schmiedeesse neben ein
schwaches Feuer gestellt und dann ziemlich lange geblasen; nach-
her ließen wir die Taseln langsam auskühlen, und sobald sie
kalt waren, konnte man sie biegen."
Wagner gab dem Neger ein Trinkgeld sür diese Auskunft,
und setzte noch jahrelang, aber immer gleich erfolglos, seine Nach-
forfchungen nach dem biegsamen Sandsteine fort. Eben so wenig
wurde derselbe von Herrn Buzelin gefunden, einem eifrigen und
intelligenten Naturaliensammler, der seit Jahren in der Nähe
von Ouro preto wohnt. Andere Naturforscher sind auch nicht
glücklicher gewesen.
„Es fragt sich nun, ob der Jtacolumit, in dünne Tafeln
gespalten und allmälig erhitzt, nach dem Abkühlen vielleicht durch
eine Verschiebung seiner Moleküle eine gewisse Biegsamkeit erlangt.
Möglicherweise hat Herr v. Eschwege bei seinen vielen Schmelz-
versuchen diese Eigenschaft des Jtacolumit zufällig entdeckt. Jeden-
falls ist es eine höchst auffallende Erscheinung , daß so viele Na-
turforfcher vergeblich nach dem Gelenkquarz gesucht haben. Mög-
lieh ist auch, daß nach Eschwege's Abreise noch biegsamer Sand-
stein als Jndustrieproduet jenes Negers durch dritte Personen
nach Europa gekommen ist." Dr. Heußer sagt: „Wir fanden
bloß an Einer Stelle einen mürben Quarzschiefer, den wir für
den Gelenkquarz hätten halten können, und zwar bei der Kirche
S. Francisco in Ouro preto selbst. Es zeigt aber dieses Gestein
nur Spuren von Biegsamkeit und bricht leicht."
Weinbau in Canada. Seit 1860 hat man diese, wie
das Blatt „Canadian News" sich äußert, „große Angelegenheit"
erörtert und bei Quebeck Reben gepflanzt. Nun hat Canada
Winter, welche an Strenge den russischen nichts nachgeben, aber
man hofft dennoch günstige Erfolge, weil der Sommer heiß ist.
„Die ersten 15 mit Reben bepflanzten Acres haben schöne Trau-
ben geliefert und aus diesen ist ein Wein gewonnen, so vorzüglich,
daß er mit manchen der besten Sorten Europas sich messen kann."
Darin wird wohl einige Übertreibung liegen; wir wissen, daß
die nordamerikanischen Weine (nur jene im Westen der Sierra
Nevada, also die kalifornischen, ausgenommen) etwas Wildes und
Erdiges haben, und das eigentlich Feine ihnen mangelt. Löblich
aber bleiben die Versuche in Canada immer; das Land verdankt
sie deutschen Colonisten, die aber anfangs einen Fehler
machten, indem sie die heißesten Lagen für ihre Weingärten aus-
suchten. Schon im vorigen Jahrhundert hatten die Jesuiten Ver-
suche mit dem Weinbau gemacht; die sranzösische Regierung sah
aber denselben nicht gern; eanadischer Wein, so meinte sie, hätte
dem Absätze des französischen Weines Schaden bringen können.
Das genannte Blatt phantasirt: „Wir zweifeln nicht, daß im
Fortgange der Zeit der allerbeste Wein der ganzen Welt an den
Ufern des St. Lorenz wachsen wird! Die strengen Winter
brauchen wir nicht zu fürchten, sie haben den Weingärten von
Clair House keinen Schaden gethan und man hat die Reben
Erdtheilen. 95
nicht einmal gegen die Kälte geschützt." Die canadische Zeitung
beruft sich dann daraus, daß ja auch in dem nicht minder kalten
Rußland Wein wachse. Allerdings, aber nicht bei St. Petersburg
oder Archangel, sondern am Don und in der Krim, die keinen
moskowitischen Winter haben.
Der Haringsfang an der norwegischen Küste erscheint
von großem Belang. Er theilt sich in die Winter- oder Früh-
jahrsfischerei und in den Sommerfang. Der erstere ist der bei
weitem wichtigste. Ein Confularbericht im „Moniteur" bemerkt,
es sei schwer zu sagen, wohin derHäring ziehe, wenn er die nor-
wegische Küste verlassen habe (er geht nämlich in die Tiefe und zieht
nicht, wie man früher wähnte, weit weg), und unerklärlich sei der
Wechsel und Unterschied, welcher in der Zeit seines Wiedererschci-
nens stattfinde. So viel aber ist ausgemacht, daß er zuweilen
eine Meeresgegend plötzlich verläßt und eben so unvermuthet wie-
der sich einfindet Das ist namentlich an der schwedischen Küste
beobachtet worden, wo er 1808 auf einmal verschwand und seit-
dem sich dort nie wieder in größeren Mengen hat sehen lassen.
Und gerade damals begann die große Häringsfischerei an den nor-
wegischen Küsten; hier beginnt die erste Saison im Januar und
dauert bis Ende März. Im Jahre 1866 waren die Häringe in
solcher Menge namentlich bei Kinn und bei der Insel Karin, daß
die Fischer manchmal nur mit großer Mühe die übervollen Netze
einziehen konnten. Es wurden etwa 750,000 Fässer gewonnen
und davon wohl 600,000 eingesalzen; der Durchschnittspreis be-
trug 10 bis II Mark (hamburgische) an Ort und Stelle. Man
ersieht schon ans dieser Angabe , welchen Vortheil der Fang ab-
wirft. _
Die Guano-Inseln an der Südwestküste von Afrika.
Im Laufe des Jahres 1865 hat die englische Regierung mehrere
Inseln vor jener Küste förmlich in Besitz genommen. Drei der-
selben liegen in der Bucht von Angra Pequena, zwischen 26 und
27° S. Br., nämlich Pinguin Island, Shark Island
und eine andere, die noch nicht benannt worden ist. Sodann die
Insel Possession, 27°S, und Mercury in der Spencer-Bai,
zwischen 25 und 26° S. Sie alle liefern frischen Guano, der
in London mit 16 bis 20 Pfd. St. die Tonne bezahlt wird. Alle
sind mit Fettgänsen förmlich bedeckt, und auf einer derselben
finden sich die Pinguine in solcher Menge ein, daß kaum Platz
da ist, wohin der Mensch seinen Fuß setzen kann. Jene Vögel
sind die einzigen Bewohner, mit Ausnahme der Arbeiter, welche
im Auftrage von mehreren Handelshäusern der Kapstadt sich dort
aushalten, um täglich den frischen Guano zu sammeln und ans
die Schiffe zu bringen. Die Inseln ragen nur wenige Fuß über
die Meeresfläche empor und die gegenüberliegende Küste ist absolut
dürr und felsig, und nur zeitweilig finden sich Namaqua-Hotten-
toten dort ein.
Die Chinchonapflanzen, welche Clements Markham aus
Peru geholt und in den Nilgherri-Gebirgen in Indien eingebürgert
hat, gedeihen vortrefflich. Im Sommer des Jahres 1866 ist von
dort die erste Probe von dieser indischen Fieberrinde nach
Europa gekommen und zwar gleich in einer Gewichtsmenge von
nahe an 60 Centnern. Chemiker und Aerzte haben Versuche
angestellt und erklären, daß diese indische Rinde eben so gut und
wirksam sei wie die beste peruanische. Fernerhin ist also nicht
mehr zu besorgen, daß Mangel an dieser woblthätigen, geradezu
unentbehrlichen Arzneipflanze eintreten werde.
Levensverachtung der Chinesen. Die zu Schanghai er-
scheinende englische Zeitung erzählt Folgendes:
Wohlhabende Eltern hatten eine Tochter verheirathet. Einige
Zeit nachher kamen sie in bedrängte Umstände und baten ihre
Tochter um Aushülfe. Der Mann gab ihr einen Rock zum Ver-
setzen. Die Tochter aber steckte ohne Wissen des Mannes einen
Geldwerth von 16 Dollars in die Rocktasche, ohne dem Vater
etwas davon zu sagen; sie meinte, er werde das Geld schon fin-
den; der Mann aber, bei welchem er den Rock versetzte, fand das
Geld, sagte aber nichts und gab 2 Dollars auf das Kleidungs-
stück. Als bald nachher der junge Ehemann ausfindig machte,
daß seine Frau ihrem Vater 16 Dollars gegeben habe, schlug er
96 Aus allen
Lärm, und bic Frau wurde so betrübt, daß sie sich erhing.
Nun erfuhren die Eltern der jungen Frau, daß der Pfandleiher
sie betrogen habe, und die Mutter nahm sich die Sache so zu
Herzen, daß sie mit Opium sich vergiftete. Gleichzeitig
stürzte sich der Pfandleiher, der nun um seinen Credit gekom-
men war, in einen Brunnen und ertrank. Diese Vorgänge
sind für die Chinesen charakteristisch und dergleichen kommt gar
nicht selten vor. In Canton klagte eine junge Frau ihren Freun-
dinnen, daß ihr Mann sie roh behandle. Diese äußerten ihren Ab-
scheu gegen eine solche Ehe und um nicht selber in die Lage kommen
zu müssen, einen Mann zu nehmen, gingen sie, die junge Frau
mitnehmend, an einen Teich und ersäuften sich!— In Hongkong
waren drei Seeräuber eingesperrt. Um nicht vor Gericht zu er-
scheinen, beschlossen sie, ihrem Leben ein Ende zu machen. Im
Gefängniß befand sich ein mit zwei Eisenstäben vergittertes Ken-
ster; es kam nun darauf an, daß die drei sich an zwei Stangen
aufhängen konnten« Am andern Morgen ergab sich, daß der dritte
Mann es den beiden ersten möglich gemacht hatte, sich an ihren
Haarzöpsen zu erhängen. Den einen hatte er dann dadurch zu
Falle gebracht, daß er den Haarzopf desselben mit den Zähnen
abgenagt. Dann hatte er den Leichnam als eine Art von Stuhl
gebraucht, um sich seinerseits an der hoch angebrachten Stange
aufzuknüpfen und hatte diese Unterlage dann mit dem Fuße weg-
gestoßen. Das Alles geschah in der größten Stille. Die Wächter,
welche vor jenem Gefängniß ihr Lager hatten, merkten nichts
von Allem was geschah.
Eine sievenzehnstündige Rede in der gesetzgebenden
Versammlung auf der Insel Bancouver. Die Verhältnisse
in den Colonien sind nicht selten von ganz eigenthümlicher Art
und finden in unserm alten, dichtbevölkerten Europa kein Neben-
stück. Parlaments- und Kammerreden von sechs und mehr Stunden
sind wohl vorgekommen, beispiellos aber ist, daß ein Redner volle
siebenzehn Stunden hintereinander spricht und dann von einem
andern abgelöst wird, der ununterbrochen sieben Stunden lang
redet. Der Fall ist folgender.
Vor einem Jahre hatte die Colonialregierung der Insel Van-
couver, welche bekanntlich vor der Nordwestküste Amerikas, Britisch
Columbia gegenüber, liegt, in der Umgegend der Hauptstadt Vic-
toria eine beträchtliche Menge Ländereien wegen rückständiger Ab-
✓gabeit mit Beschlag belegt. Sie machte indeß in ihrem Amts-
blatte bekannt, daß die Besitzer diese Ländereien wieder bekommen
sollten, wenn sie binnen zwölf Monaten nach der Beschlagnahme
die Steuern entrichtet hätten. Wenige Tage vor Ablauf des Ter-
mins verlautete jedoch, daß die Regierung ein Complot geschmiedet
habe und mit der Majorität der gesetzgebenden Versammlung
dahin übereingekommen sei, daß die letztere einen Vorschlag ge-
nehmigen solle, durch welchen die vollziehende Gewalt ermächtigt
werde, jene Bewilligung sür ungültig zu erklären, keine rück-
ständigen Steuerzahlungen anzunehmen und das Land zu behalten.
An dem Tag, an welchem jene zwölf Monate zu Ende gingen,
sollte der Regierungsvorschlag erörtert und genehmigt werden.
Zwei Männer beschlossen, denselben zu vereiteln; der eine heißt
Amos de Eomos und der andere Leonard Mac Elure. Die Sitzung
wurde Schlag 12 Uhr Mittags eröffnet; es kam darauf an, die
Maßregel zu vereiteln. Mac Clnre hatte das Wort und sprach
bis zum andern Morgen fünf Uhr, volle siebenzehn Stunden lang,
und er hielt aus, so große Anstrengungen auch seine erkauften
Gegner machten, ihn zu ermüden. Als er seine Arme auf den
Tisch stützen wollte, schrien sie, das sei nicht in der Ordnung und
verhinderten ihn daran; er wollte einmal den Fuß auf seinen
Stuhl setzen, aber auch das gestatteten sie nicht, es sei nicht er-
laubt; ja er durste seine Hand nicht auf irgend etwas lehnen,
sondern mußte stehend reden. Die Verschworenen gingen während
der Zeit dann und wann aus dem Sitzungssaale, um stch zu er-
srischeu, aber dem Redner gönnten sie nicht ein Glas Wasser.
Endlich als der Morgen grauete, bald nach fünf Uhr, sank er
völlig erschöpft zusammen. Aber statt seiner erhob sich Amos de
Comos und redete sieben Stunden lang, bis die Mittagsstunde
Erdtheilen.
geschlagen hatte. Seine wüthenden Gegner schrien, lärmten,
heulten, aber das Alles ließ er sich nicht anfechten, sondern er-
klärte ganz kaltblütig, er werde nötigenfalls fortfahren zu reden,
bis der Engel Gabriel wieder komme und seine schmetternde
Drommete ertönen lasse. Inzwischen hatte sich Mac Elure erholt
und als mit dem Glockenschlage Zwölf die Sitzungen der Assembly
für 1866 ein Ende hatten, schüttelten die beiden Redner einander
die Hände; sie hatten durch ein beispielloses Kraststück das Com-
plot vereitelt.
Im Mormonenqelnet Utah sind die Zustände sehr un-
befriedigend. Aus einem amtlichen Bericht an den Eongreß geht
hervor, daß die Heiligen des jüngsten Tages mit den Unions-
behörden noch immer auf dem schlechtesten Fuße stehen. Man
muß eine nicht unbeträchtliche Anzahl Truppen im Lande halten,
um die „Heiden", d. h. alle Nichtmormonen, gegen die Heiligen
zu schützen. Vor einem Ausschüsse des Kongresses ist auch Joseph
Smith, Sohn des Stifters und Propheten, abgehört worden.
Dieser Mann glaubte ohne Weiteres, die Prophetenwürde erben
zu können; die Mormonen zogen aber Brigham Uoung vor und
seitdem ist Joseph der Jüngere diesem Patriarchen spinnefeind,
hat auch eine eigene Secte gestiftet. Er sagte aus, daß die Viel-
weiberei eigentlich gar keinen Glaubensartikel bilde; sie sei als
solcher von Brigham Uoung eingeschmuggelt worden. Dicser be-
hauptet dagegen, daß die Polygamie durch das Wort Gottes, die
Bibel, zur Pflicht gemacht werde; er beruft sich auf das Beispiel
der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob, die alle mehr als eine
Frau gehabt hätten und doch Lieblinge Jehovas gewesen seien.
Er beruft sich serner auf die Könige David und Salomo, Aus
der Bibel könne man ihm nicht beweisen, daß Polygamie uner-
laubt sei; wer etwas gegen sie einwende, lehne sich gegen Gottes
Gebote auf und wer ihre Abschaffung erzwingen wolle, mache
sich heidnischer Tyrannei schuldig. Aus den amtlichen Berichten
des Generals Connor, welcher seit 1862 die Unionstruppen in
Utah befehligt, geht hervor, daß die Vielweiberei als Grund-
dogma des Mormonenthums gepredigt und in den Schulen gelehrt
wird. Ob aber seine Behauptung, daß Brigham Uoung 1853 nicht
weniger als 80 unschuldige Personen habe ermorden lassen, rich-
tig ist, wagen wir nicht zu entscheiden. Wunderlich genug sind
jene Heiligen, man hat ihnen aber auch manches Böse nachgesagt,
das sich hinterher als völlig unwahr oder doch als sehr über-
trieben herausstellte. > _
Eine Spekulation mit der heiligen Schrift. Der
britische Consul Williams zu Apia auf Upolo, einem zu den Na-
vigatoreu (Sanoa-Jnfeln) gehörenden Eilande, veröffentlicht, mit
sehr begreiflicher Entrüstung, das Folgende: Die Eingeborenen
der Ellis-Gruppe wünschten dringend, christliche Lehrer zu erhal-
ten. Um das „Low", Brot, der christlichen Religion zu erhalten,
bat der Häuptling, einen englischen Schissscapitain,
welcher bei der Insel vor Anker lag, um eine Bibel. Dieser
gab ihm aber erst die heilige Schrift, als er den da-
für geforderten Preis, nämlich 50 Gallonen Coc os-
nußöl, in Händen hatte. — Wahrscheinlich hat der fromme,
eivilisirte Eapitain seinem Jehova dasür gedankt, daß er mit Got-
tes Wort ein so profitables „Business" gemacht habe.
Einwanderung in die Transvaalsche Republik, Süd-
afrika. Berichte aus Eapstadt melden, daß die Regierung der
holländischen Boers mit dem Schotten Mac Korkindale einen Ver-
trag über Einwanderung abgeschlossen habe. Sie giebt dcr von
ihm gebildeten Compagnie bedeutende Landstrecken mit fruchtbarem
Boden und in gesunder Lage. Die Holländer vertragen stch mit
den Schotten besser als mit den Engländern, vielleicht weil jene
beiden in kirchlicher Richtung manches Uebereinstimmende haben.
In Honduras, Centralamerika, hat man bei Erandique
sehr ergiebige Opalgruben entdeckt.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Ncdaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
/
Ackerland nach Britisch Kolnmbia und den Goldgruben von Karibou.
ii^
Vom Fvrt Edmonton nach den Felsengebirgen. — Charakter der Gegend. — Biber und Biberbaue sonst und jetzt. — Am Athabaska-
flnsse; über Jasper House an den Fraserfluß. — Urwälder und Gebirgsflüsse; Noch und Gefahren. — Ersatzmittel für den Taback. —
Der Weg nach Fort Kamlups am Thompson River. — Die merkwürdige Terrassenbildung am Fräser. — Weganlagen in der Gebirgs-
wildniß. — Die Earibou-Region und deren Goldertrag. — Der Oregon- oder Tschinnk-Jargon.
Im Fort Edmonton sprach eine Anzahl von Diggers
vor, welche am White Mud Creek, also dem Bache, welcher
weißen Schlamin führt, Gold gegraben hatten. Ihr Ob-
mann, ein Kentnckier, konnte einen mit Goldstaub gefüllten
Sack vorweisen, und er versicherte, daß jeder Arbeiter feit
Anbeginn des Frühjahrs mehr als 360 Dollars klar gemacht
habe.
Dr. Cheadley und Lord Milton erhielten von den Be-
wohnern des Forts keine tröstliche Auskunft über den Weg,
welcher vor ihnen lag. Die Jahreszeit fei noch nicht weit
genug vorgerückt; die Schneeschmelze habe erst begonnen und
alle Bergwasser seien hoch angeschwollen; bequem und ohne
Gefahr könne man dieselben nur im Hochsommer und Herbst
Yassiren. Die Gegend im Westen der Gebirge sei in hohem
Grade ungastlich und überaus dicht bewaldet. Namentlich
biete der Leather-, 9)ellow Head oder Jasper-Paß große Ge-
fahren und werde deshalb schon seit längerer Zeit von den Be-
amten der Compagnie gemieden. Nichtsdestoweniger beschlossen
die Reisenden, gerade diesen Paß zu überschreiten, dabei so
viel als möglich der „Emigrantenroute" zu folgen und zu
versuchen, ob sie direct an den Caribou oder uach Fort Kam-
lups am Nordarme des Thompson gelangen könnten.
Am 3. Juni 1863 brachen sie auf, waren zwei Tage
später am St. Alb an-See, wo katholische Missionaire eine
Niederlassung gegründet haben, deren Bewohner, gleich dem
Dorfe Ste. Ann, zumeist aus Mestizen bestehen, welche den
Dienst der Hudsonsbai-Gesellschaft verlassen haben. Anfangs
glich die Gegend einem Park, dann aber folgte nach Norden
hin dichter Wald, der fast ohne Unterbrechung Hunderte von
Miles weit das Land bedeckt. Hin und wieder findet man
verhältnißmäßig offene Stellen, an denen der Baumwnchs
nicht fo kolossal ist, wie sonst überall; fischreiche Seen und
Bäche siud iu Menge vorhanden. Am Pembinaslnsse
fanden die Reisenden Ausbisse von Steinkohlenlagern. Das
Gelände war zumeist hügelig und wellenförmig, und die
Thalgründe waren sehr feucht, oftmals mit Mnskegs aus-
gefüllt, d. h. Morast, der etwa 6 Zoll hoch mit Filz und
Moos bedeckt ist, also Tnndras in kleinem Maßstabe. Das
Wandern war namentlich auch deshalb sehr beschwerlich, weil
überall umgefallene Baumstämme lagen. In diesen Wäl-
dern Hausen der schwarze Bär und das Musethier (amerika-
nische Elenn); auch au Enten, Tauben und einer Art von
Auerhuhn war kein Mangel. Die schöne Wandertaube mit
langem Schweif zieht auch über die Felfengebirge nnd kommt
noch am Nordarme des Thompson vor.
Der Biber ist über das ganze nördliche Amerika ver-
Globus XI. Nr. 4.
breitet, aber seine Zahl hat beträchtlich abgenommen, denn
er ist selbst bis in die tiefsten Schluchten der Felsengebirge
von den Trappers verfolgt worden. Die Hndsonsbai-Com-
pagnie, welcher daran lag, daß er sich wieder vermehre, be-
fahl deshalb eine fünfjährige Schonuugszeit und verbot den
Gebrauch stählerner Fallen, weil in diesen auch die Inn-
gen sich sangen. Früher muß der Biber in sehr beträcht-
licher Menge vorhanden gewesen sein. Die Reisenden fanden
an unzähligen Stellen der Waldregion Spuren seiner Thä-
tigkeit. Einst gelangten sie an eine Kette von Sümpfen,
welche dadurch entstanden war, daß die Biber einen Wasser-
reichen Bach ganz regelrecht abgedämmt hatten. Aber die
Biberwohnungen waren allesannnt, zum Theil schon seit lan-
ger Zeit, verlassen; zwar die mit Gras bewachsenen kegel-
förmigen Erhöhungen standen noch da, und allemal auf trocke-
nem Bodeu, aber von den Thieren selber war selten etwas
zu sehen. Doch sand man den Bächen entlang dann und
wann frische Spuren, namentlich junge Bäume, welche der
• Biber durch feine Arbeit zum Sturze gebracht hatte. Einen
dieser Bäche verfolgten die Wanderer, bis sie an die Abdäm-
mung kamen, welche unser Bild zeigt. Sie war durch Stämme
und Zweige gebildet worden, über welche das Wasser sanft
hinwegstoß. Dicht oberhalb derselben stand die 6 bis 7 Fuß
hohe Biberwohnung, welche gleichfalls aus Zweigen gebaut
und mit einem aus Schlamm verfertigten Mörtel belegt
war. Diefe Ansiedelung war offenbar sehr alt, denn es
lagen Baumstämme umher, die von den Bibern gefällt, aber
zum Theil fchon verfault oder mit dickem Moos überzogen
waren. Einer derselben hielt mehr als eine Elle im Durch-
Messer; dagegen waren die frischgefällten Bäume vergleich-
weise nur dünn; offenbar find jetzt die Bibercolonien nicht
mehr so stark nnd zahlreich wie ehemals und haben deshalb
über geringere Arbeitskräfte zu verfügen; sie können also jetzt
nur noch kleine Bäche abdämmen.
Die Stellen, an denen sich Biber angesiedelt, waren für
die Reisenden stets eine angenehme Erscheinung, denn dort
war allemal eine kleinere oder größere Lichtung nnd Gras-
wuchs, welcher den abgemüdeten Pferden Futter gewährte.
Inzwischen wurde die Hitze drückend und die Stechmücken
machten sich in lästiger Weise bemerkbar. Die Pserde hat-
ten vom Stich einer Brenise zu leiden, welche von den Me-
stizen als Bulldog bezeichnet wird nnd sich manchmal mich
durch Rauch und Qualm uicht abhalten läßt, die armen
Thiere zn martern. Sehr gefährlich wurde am Mac-Leod-
Flusse ein Waldbrand, der dadurch entstanden war, daß die
Pferde, um sich vor den Bremsen zu schützen, bis dicht aus
13
lleberlmtb uacb Britisch Colnml
Lagerfeuer gegangen waren und mit ihren Hufen glühende
Kohlen hinweggeschleudert hatten, die dann Feuer singen.
Dann und wann sah man an den Bäumen Namen, welche
von Auswanderern eingeschnitten worden waren.
Nach mühsamer Wanderung kam der Zng an den obern
Athabaskaflnß, der sehr rasch in einem tief eingesurch-
teu Bette strömte und hoch angeschwollen war. Bon den
Hügeln dieser Gegend hatten die Reisenden den ersten Aus-
blick auf die Felsengebirge, nachdem sie drei Wochen lang im-
iner nur durch dichten Wald gezogen waren, ohne irgendwo
eine freie Aussicht zu habeu. Aber auch hier Wald und
immer nur Wald! Prächtig nahmen sich die mit Schnee be-
deckten Bergriesen aus. Als man höher gekommen war,
sah man nicht selten Spuren vom Bighorn, diesem grauen
Bergschafe des Rocky Mountains. Bald nachher wurde
Jasper Haus erreicht, ein Posten der Hndsonsbai-Gesell-
schast, der damals ohne Bewohner war. Die Reisenden zim-
inerten ein Floß und setzten auf das linke Ufer hinüber, denn
an diesem liegt das Fort. Aber nachdem sie sich gelagert
hatten, fand sich ein Mestize ein, und am Abend kamen zwei
Tschntschuaps-Jndianer, welche bei Fackellicht Fische speerten
und diese gern verkauften. Pulver und Taback sind zwei
Waaren, welche der braune Mann am liebsten nimmt. Ein
paar Tage später kam der Verwalter von Jasper Hans an,
ein Herr Macaulay, welcher den Reisenden in der Person
eines alten irokesischen Mestizen einen erfahrenen Führer
verschaffte. Sie zogen dann am Strome hinauf, den sie an
einer Stelle durchwateten, nicht ohne Gefahr, und in ähn-
licher Weise, wie es schou früher einige Male der Fall ge-
wesen war. Dann und wann fanden sie einen leidlich guten
Platz für das Nachtlager, und am 9. Jnli, nach fünftägiger
Wanderung von Jasper Hans, bemerkten sie zu ihrer uicht
geringen Ueberraschnng, daß ein Bach seinen Abzug nach
Westen hin hatte. Sie waren über die Wasserscheide gekom-
inen, ohne etwas davon bemerkt zuhaben; der Cowdnng-Paß
war überschritten und am 10. Juli standen sie am Fräser-
flnsse, der vou Südwesten her durch eine enge Schlucht
strömte, sich ein paar Miles weiter unterhalb in die Breite
ausdehnte und dann den Moose Lake, seinen Quellsee, bil-
det. Der Weg ging am Nordufer des ausgetreteueu Fluffes
hin und war in hohem Grade beschwerlich, da man fast den
ganzen Tag im Wasser waten mußte, und wo dieses aufhörte
allemal ein Morast ansing. So ging es einige Tage lang fort.
Der Moose-See hat eine herrliche landschaftliche Umgebung;
vou den Höhen, welche ihn umschließen, salleu die Bäche in
rauschenden Cascaden herab.
Die Vegetation nahm auf der Westseite des Gebirges
allmälig einen andern Charakter an. Nun traten die Ceder
und die Silbersichte aus, bald auch eine Art von Aralis, eine
große mit Stacheln versehene Liane und mehrere Rosaceen.
Der Baumwuchs war geradezu kolossal. Manchmal war der
Weg, da wo er kaum eine Elle breit ist und an Schwindel
erregenden Abgründen hinführt, zum Halsbrechen gefährlich.
So gelangt man an die große Fork, Gabeltheilung des Fra-
ser; dort vereinigt sich ein Arm, der von Nordosten her-
kommt, in fünf Mündungen mit dem Hauptarm. Anch dort
ist die Landschaft ungemein großartig, „imposant nnd Pracht-
voll über alle Beschreibung"; über alle anderen Höhen ragte
der mit Schnee bedeckte Robson Peak hervor.
Von nun an traten Schwierigkeiten ein, gegen welche alle
früheren Hindernisse als unbedeutend erschienen. Ein Berg-
ström nach dem andern mußte überschritten werden, überall
lagen Baumstämme im Wege, ein Pferd ging verloren, in-
dem es vom Wildbache mitgerissen wurde. Dahin waren
nun die Vorräthe an Salz, Thee und taback, mit welchen
gerade jenes Roß beladen war; dazu noch mit Schreibpapier,
l und den Goldgruben von Caribon. 99
Creditbriesen, Instrumenten und Uhren, mit des Doctors
Herbarium und Milton's wollenen Decken; — Alles ist den
Fräser hinab in den großen Ocean geschwemmt worden. Zum
Glück wurde ein anderes Pferd, welches Pemmican und Mehl
trug, den Finthen, obwohl mit großer Anstrengung, noch
entrissen.
Am 18. Juli setzten die Reisenden auf das andere Ufer
des Fräser hinüber, auf einem von den Tfchutfchnaps ver-
fertigten Einbanme. Sie waren feit ihrem Aufbruche vom
Fort Edmonton sechs Wochen unterwegs gewesen und hatten
immer gutes Wetter gehabt; jetzt siel der erste Regen bei
einem fürchterlichen Gewitter. Sie wollten nun nach Cari-
bon hinein und überschritten, anch diesmal ohne es gewahr
zn werden, die Bodenschwellung, welche die Wasserscheide
zwischen dem Fräser nnd dem Columbia bildet. Sie kamen
an den Canoe River, einen Zufluß des letztern, mußten
wieder ein Floß verfertigen,-wurden wieder durchnäßt und
erlitten überhaupt allerlei Ungemach: Kochofen und Zinn-
geschirr gingen verloren, nur ein eiserner Kessel war noch
vorhanden. So gelangte man in das Thal des Thompson,
zunächst an den kleinen See Albreda. Unser Bild zeigt den
Charakter der Landschaft; der hohe Spitzberg, welcher mit
Schnee bedeckt ist, erhielt durch Dr. Cheadle deu Namen
Monnt Milton. Ueberall waren die Gebirgswasser hoch
angeschwollen, Menschen und Thiere waren abgemüdet und
jetzt gingen die Vorräthe auf die Neige; der Mangel an gei-
stigen Getränken, deren die beiden Reisenden sich seit einem
Jahr enthalten hatten, war ihnen sehr gleichgültig, aber mit
Schmerz entbehrten sie den labenden nnd erquickenden Thee
und den anregenden Taback. Den kleinen Rest, welcher ihnen
noch übrig geblieben war, vermischten sie mit Kinn i kin ick *).
Offenbar hatten sie den rechten Weg verloren. 'Nach
Caribon, also nach Westen hin, konnten sie nicht gehen; sie
kannten den Pfad nicht und es fehlte ihnen an Lebensmitteln,
anch besaßen sie nur noch ein einziges Beil. Es blieb nichts
übrig, als am Thompson hinab nach Süden zu gehen, um
Fort Kamlnps zu erreichen. Unterwegs kamen sie an eine
Stelle, wo ein Einschnitt im Baume sagte, das}, hier ein
„Schlachte'-Lager" gewesen sei. Allerlei Spuren zeigten, daß
Auswanderer, daran verzweifelnd, sich einen Pfad durch die
dichten Wälder bahnen zn können, ihre Pferde zurückgelassen,
ihre Ochsen geschlachtet und dann ein Floß gebaut hatten,
um auf demselben stromab bis Fort Kamlnps zu fahren.
Cheadle und Milton waren in einer bedenklichen Lage.
Ihre Vorräthe bestanden nur noch in 10 Psnnd Pemmican
und ebenso viel Mehl, also sehr wenig für fechs Menschen.
Sie hatten nur noch wenig Pulver, Wild zeigte sich selten,
die Kleider hingen in Lumpen ans dem Leibe, die Fußbeklei-
duug (Mokassins) ließ Alles zu wünschen übrig. Die Pferde
waren abgehungert und matt, und bei alledem wußte man
nicht, wie weit und wie lang lind wie überhaupt der Weg
fei! Au eiu Hinabfahren auf dem hoch angeschwollenen, an
Felsblöcken und reißenden Stromschnellen überreichen Flusse
war uicht zu denken.
Am Abend kam der Führer niit einem kleinen schwarzen
Bären zurück, welchen er geschossen hatte, eine willkommene
Beute, da man nun wieder einmal frisches Fleisch genoß,
ein Gericht, welches seit dem Abzüge von Jasper Hans unter
die unbekannten Dinge gehört hatte. Aber freilich fehlten
*) Kinnikinick, die Blätter der Bärenbeere (Arctostaphylos
uva ursi). Sie werden über einem Feuer getrocknet, in der Hand
klein zerrieben und in die Pfeifenköpfe gestopft. Nicht bloß die In-
dianer, sondern anch die „Traders" bedienen sich derselben statt des
Tabacks und rauchen sie gern. Iiis Naturalist in Vancouver Island
and British Columbia, by John Keas Lord. London 1866.
I. p. 305. A.
13*
Neberland nach Britisch Columbia
und den Goldgruben von Caribou.
101
Salz, Brot und Thee und Birkenrinde mußte den Taback
ersetzen.
Am 31. Juli drangen die Reisenden weiter in den dich-
ten Wald ein; wohin, das wußten sie selber nicht. „Man
muß mit eigenen Augen einen solchen Wald gesehen haben,
in welchem Riesenbäume hundert Ellen hoch emporgewachsen
und dann nach allen Richtungen hin umgestürzt sind. Sie
bilden zusammen mit dem Untergestrüpp ein wildes und wir-
res Durcheinander. Die Stämme von Cedern sind verfault
und iu langstreifige Mooshügel verwandelt; zur Hälfte san-
feit sie in den Boden ein und andere eben so gewaltige
Stämme sind in die Kreuz und Quere darüber hingeschlagen,
grünen wohl noch, weil erst vor kurzer Zeit ein Sturmwind
sie zu Boden gerissen hat, und hängen zur Hälfte in der
Luft, während andere gewaltige Stämme von ihnen abgc-
knickt oder halb entwurzelt worden sind."
Die Wanderer hatten jetzt noch Rubebu zu essen. Dieses
Gericht wurde in der Weise hergestellt, daß mau etwas Mehl
und Pemmican, von letztem nnr ein etwa faustdickes Stuck,
in kochendes Wasser warf. Satt würde man nicht davon,
aber der Mehlvorrath war schon bis aus drei Pfund zu Ende!
Am zehnten Tage, 3. August, erreichte man die erste lichte
Stelle, eine Sumpfwiese; am 7. wurde wieder im allerdich-
testen Urwalde das letzte Stück Pemmican verzehrt und aller
Vorrath bestand nur noch in einem Viertelpfund Mehl.
Eheadle und ein junger Assiuiboin gingen auf die Jagd,
kamen aber mit leeren Händen zurück. Der Vater des letz-
tern hatte einen Marder geschossen und mitten im Dickicht
erraffen am Fraftrflusft
einen tobten Mann gesunden, der offenbar dort verhungert war.
Sebent dieser Jndiauerleiche lagen ein Beil, welches den weißen
Männern sehr willkommen war, und zerschlagene Pferde-
knochen, aus welchen das Mark herausgesaugt worden war.
Dieser Anblick war nicht gerade ermunternd für Leute,
die sich selber dem Hungertode uahe glaubten. Den Marder
hatten sie verzehrt, jetzt schlachteten sie ein Pferd, aßen sich
tüchtig satt und trockneten den Rest des Fleisches am Feuer
und über dem Rauche. Im Ganzen hatten sie, abge-
sehen von der einen Mahlzeit, nur etwa 40 Pfund Fleisch
von dem magern Rosse. Zum Glück erlegten sie in den
nächsten Tagen wieder einen Marder, zwei Waldhühner und
fingen auch einige Fische; aber sie waren an eine Stelle ge-
kommen, wo sie nicht weiter kommen konnten. Auf der einen
Seite der reißende Strom, auf der andern eine kerzengerade
Bergwand! Sie mußten wieder umkehren, um an einem
andern Punkte weiterzukommen.
Die Noth war hoch gestiegen, als man am 18. August
einige Bäume sand, an denen Zweige mit einem Messer ab-
geschnitten waren; am 21. sah man Spuren von Pferdehufen
in einem Morast und einen Eederstamm, aus welchem ein
Kahn verfertigt worden war. Auch bemerkte man an einigen
Bäumen Axthiebe, fand da und dort alte Marderfallen und
konnte aus dem Allen schließen, daß man einen alten Trap-
perpfad aufgefunden habe, der hoffentlich nach Fort Kamlups
hinabführen werde. Auch wurde nun das Thal breiter, das
Gebirge niedriger, man kam auf einen Pfad, der einem Weg
ähnlich sah, und endlich wurde eine offene, eine wirklich lichte
I
m
Ueberland nach Britisch Columbia intb den Goldgruben von Caribou.
Gegend erreicht. Die abgemagerten lind ausgehungerten Rei-
senden jubelten nun hellauf; seit elf Wochen waren sie un-
unterbrochen auf der Wanderung gewesen, seit mehr als dreißig
Tagen als Verirrte int Wald umhergestreist und fast hatten
sie alle Hoffnung ausgegeben, jemals wieder einen Men-
schen zu sehen. Sie waren aus dcis Alleräußerste gefaßt ge-
wesen.
Nun befanden sie jich endlich wieder ans einem betretenen
Pfade und am 23. begegnete ihnen ein Indianer mit seiner
Frau, die ein Kind auf dem Rückeu trug. Welch ein won-
niger Anblick für Menschen, die sich schon ausgegeben hatten!
Sie druckten die braunen Leute aus Herz und diese begriffen
natürlich eine solche Exstase nicht. Aus Allem aber ließ sich
abnehmen, daß Fort Kamlups nicht mehr weit entfernt sei.
Nun kehrte die Hoffnung wieder; am 24. traf man eine
Gruppe von Indianern, die um ein Feuer herum saßen und
Beeren in einem Kessel kochten. Als man ihnen das Wort:
Fort Kamlups! zurief, sagten sie: „Aiyu beaueoup,
Ein Zickzack-Weg in Britisch Columbia.
boaueoup; aiyu the, aiyu tabac, aiyu saumon, aiyu
whisky, Kamlups!" Die französischen Ausdrücke haben sie
von den cauadischeu Reisedienern der Hndsonsbai-Compagnie
gelernt;, aus dem Ganzen aber war zn entnehmen, daß im
Fort kein Mangel herrschte.
Am andern ^.age fand man zwei Jndianerleichen am
Wege, neben ihnen lagen, von Fremden durchaus unberührt,
alle ihre Habseligkeiten. Am 28. August, Nachmittags, ge-
wahrten die vielgeprüften Wanderer endlich eine Höhenkette,
an welcher das vielersehnte Fort Kamlups liegt; gegen Abend
zogen sie dort ein. Im Hofranme waren eben mehrere Me-
stizen und Indianer mit dem Nachtessen fertig, und ein alter
brauner Mann, der sich als Capitaiu St. Paul vorstellte,
fragte im sogenannten Oregon-Jargon, wer die Fremden
seien. Sie gaben ihm Antwort, baten aber vor allen Dingen
um Speise und Trank.
„Ihr sollt im Augenblick so viel haben wie Ihr wollt,
aber jeder von Euch muß einen Dollar bezahlen." — „Her
Goldgräber in einer Schenke ant Caribou.
bis in die Goldgruben von Caribou führt. Unterwegs fielen
ihnen die merkwürdigen Terrassen auf, welche den Regio-
nen des Fräser und des Thompson einen so eigenthümlichen
Charakter gebeu. Diese interessanten geologischen Bildungen
reichen auf einer Strecke von etwa 300 Miles bis zn den
Schluchten, den sogenannten Canons, oberhalb Yale. Man
bezeichnet sie im Land als „Banqnettes" und sie erscheinen
wie vollkommen nivellirt, auch ist ihre Höhe auf beiden Ufer-
seilen dieselbe. Sie bilden förmliche Ebenen und an manchen
Stellen, in der Art wie unsere Abbildung zeigt, drei Etagen.
Die untere Stufe bietet eine vollkommene Fläche dar, die oft
eine meilenweite Ausdehnung hat und sich 40 bis 50 Fuß
über das Flußufer erhebt; die Böschung erscheint so regel-
mäßig wie bei einer Eisenbahn, Die Zweite Ctage liegt 60
bis 70 Fuß höher als die uutere, und ist gewöhnlich nur
einige Morgen breit; die dritte liegt ungefähr 500 Fuß vom
Wasser entfernt. An allen diesen Terrassen des Fräser findet
man das feinste Gold, das als Goldmehl bezeichnet wird.
Die Ausbeute ist aber nicht so ergiebig, daß sie Diggers an-
ziehen könnte; diese finden in anderen Gegenden ihre Arbeit
reichlicher belohnt.
Die Reisenden zogen nun wieder an den Thompson und
gelangten an eine Stelle, wo eine beträchtliche Anzahl Chi-
nesen beim Straßenbau beschäftigt waren. Der Weg, welcher
von dort uach Mle führt, namentlich die Strecke unterhalb
Lytton, hat gewiß nur wenige ihres Gleichen. Sie ist iu das
Gestein des Gebirges eingehauen, bildet ein seltsames Zickzack
und hat nicht einmal ein Geländer oder eine Seitenwand.
und den Goldgruben von Caribou. 103
Thee und Zucker, statt getrockneten Pferde- und übelriechenden
Mardersleisches oder, was noch schlimmer war, statt des
Fastens! Aber jeder von uns vertilgte Speisen für drei
oder vier Menschen."
Das Fort liegt am südlichen Ufer des Thompson unweit
von der Stelle, wo die beiden Hauptarme des Flusses sich
vereinigen. Ringsum erheben sich mit Bunchgras bewachsene
Hügel, auf denen Pferde, Rindvieh und Schafe reichlich eine
vortreffliche Weide finden.
In Fort Kamlnps erhielten die Reifenden Pferde und
ein Beamter der Hndsonsbai-Compagnie begleitete sie nach
Fort Aale, wo der Fräser schiffbar wird. Am 8. September
brachen sie von Kamlups auf, verließen am Ende des Kamlup-
Sees den Thompson, gingen in das Bonapartethal und trafen
auf die damals noch nicht vollendete Straße, welche von Aale
Ueterland nach Britisch Columbia
damit, und wenn die Portion hundert Dollars kostet!" rief
der junge Lord.
Run wurde aufgetragen, was die Küche hergab: Kohl
mit Speck, frischgebackenes Brot und Thee, der so lange und
so schmerzlich entbehrte! Spät Abends kamen mehrere weiße
Leute an, gerade recht zu einem Tanzvergnügen, welches die
Mestizen veranstaltet hatten.
Am andern Morgen, 29. August 1863, fanden die Rei-
senden, daß sie noch nicht eigentlich in Fort Kamlups waren;
sie hatten in einem Vorwerk übernachtet; der Handelsposten
selbst lag am andern Ufer des Thompson. Sie wurden dort
gastlich empfangen, nahmen dann ein warmes Bad und ver-
schafften sich Kleider. „Der Lumpen, welche um uns herum
hingen, waren wir satt und überdrüssig. Nun aber hatten
wir Otium cum dignitate, Schöpscoteletten, Reispudding,
104 lieberlaub nach Britisch Columbia
Zwischen Lytton und Aale hat der Sand eine ungemein
ergiebige Goldausbeute geliefert; namentlich haben die dort
thätigen Chinesen im Durchschnitte täglich 10 Dollars ge-
wonnen.
Die Reisenden waren nun wieder in einer civilisirteu
Gegend und wir können von ihnen scheiden. Wir wollen
nur bemerken, daß sie ohne weitere Gefährde nach New-West-
minster gelangten und von dort einen Ausflug iu die Cari-
bougegeud machten, welche von Anfang an ihr Ziel gewesen
war. Sie erreichten dasselbe allerdings auf einem andern
Wege als auf dem, welchen sie ursprünglich hatten einschlagen
wollen. Aus das oftmals geschilderte Leben und Treiben in
den Grubengegenden brauchen wir nicht näher einzugehen.
Wir wollen nur bemerken, daß sie sich in ihrem Zelt am
Red River besser befunden hatten als in den Gasthäusern in
Caribon, wo sie Diggers aus aller Welt Enden trasen.
Am 5. März 1864 waren sie wieder, aus dem Weg
über Panama und Nenyork, in England zurück.
*
-i-
Der Emigrantenzug ist iiu Laufe der letztverflossenen
Jahre ziemlich stark geworden; es ist eine gewisse Regel-
Mäßigkeit in die Art des Reifens gekommen, das zwar seine
großen Beschwerden hat, aber keine erheblichen Gefahren bietet.
Man rechnet von. St. Paul in Minnesota bis Pembina
am Red River 450 Miles, von dort nach Carlton Honse
600, von dort bis Fort Edmonton 400 und von hier bis
an den obern Fräser 200, im Ganzen etwa 1650 bis 1700
Miles, sage 450 deutsche Meilen. Dieser Weg ist von eiu-
zelnen Emigrantenzügen schon in 75 bis 80 Tagen zurück-
gelegt worden.
Gold ist schon 1852 ans den Königin-Charlotte-Jnseln
gefunden worden; man wußte recht wohl, daß dieses edle
Metall auch am Fräser und in der Cascadenkette in Oregon
vorhanden sei. Als 1853 der damalige Capitain M'Clellan
die Militairstraße von Fort Wallawalla am Columbia nach
Steilacoom am Pngetsnnde vermaß und über den Racheß-
Paß ging, fanden feine Leute so viel, daß sie täglich nebenher
für 2 Dollars Gold sammelten. Die englische Regierung
erhielt erst 1856 einen amtlichen Bericht über das Vorkom-
men des Goldes in Britisch Columbia durch den Gouverneur
Douglas; ^sie legte iudeß nur geringen Werth ans die Mit-
thcilnng. Aber fchou 1858 sind sür 337,765 Dollars,
1859 schon 1,211,309 und 1860 für 1,303,332 Dollars
vom columbischeu Hafen Victoria nach San Francisco ver-
schifft worden; im Jahr 1861 gingen für 1,636,870 Dol-
lars dorthin. Dabei ist nicht gerechnet, was im Lande blieb,
was direct nach Europa verschifft wurde und was die Rei-
senden mitnahmen. Im britischen Gebiet reicht die Gold-
region vom 49. bis 57. Grad nördl. Breite und 116. bis
132. Grad westl. Länge von London.
Die frühere Benennung Neu Caledonia ist durch eine
königliche Verordnung vom 2. August 1858 iu Britisch Co-
lumbia umgewandelt worden. Sie stellt als Grenze fest:
im Süden den 49. Grad nördl. Breite, im Osten die Haupt-
kette der Rocky Mountains, im Norden Simpsons River und
den Finlay River, welcher einen Zweigarm des oben mehr-
fach erwähnten Friedensfluffes bildet, im Westen den Stillen
Ocean.
Weiter oben ist des sogenannten Oregon-Jargons
erwähnt worden, einer seltsamen Mischsprache, welche erst
gegen Ende des vorigen Jahrhunderts sich gebildet hat. Sie
ist durch das Bedürfnis; des Handels entstanden. Als die
Schiffer an die Küsten des heutigen Oregon und Britisch
Columbia, namentlich nach dem Nutka-Suude kamen, wußten
sie sich Nlit den Indianern nur durch.Zeichen zu verständigen.
und den Goldgruben voll Caribon.
Nach und nach nahmen die braunen Leute einige Ausdrücke
aus der Sprache der Engländer an und diese machten sich
Wörter der verschiedenen Jndiauerstämme zu eigen, z. B.
aus dem Nasquali, Tsehailisch und namentlich aus dem
Tschinnk; deshalb heißt jene Handelssprache auch wohl der
Tschinuk-Jargon. Man kam nach und nach dahin, Alles
auf den gegenseitigen Verkehr Bezügliche genau ausdrücken
zu können. Man nahm von den Tschinnks namentlich die
Fürwörter und die Zahlwörter an, europäische Gegenstände
wurden von den Indianern in einer ihnen mundgerechten
Weise bezeichnet. Bald kamen durch die cauadischeu Reise-
diener der Hudsonsbai - Gesellschaft anch französische Wörter
hinzu; der Jargon erhielt auch Bezeichnungen für Gegenstände
der Nahrung und Bekleidung :c., und der Wörterschatz ist
nach und nach auf etwa 600 Ausdrücke angewachsen. Damit
reicht man im Verkehr aus und der Jargon wurde iu alleu
Häfen der Nordwestküste verstanden. Wo die Bewohner eines
Handelspostens, z.B. im Fort Vancouver am Columbiastrom,
fünf verschiedenen Völkerschaften angehörten: Engländern und
Amerikanern; französischen Canadiern, Tfchiuuks, Krihs
(Knistenos) und Sandwichs-Jnsnlanern (Kanackas), die auch
einige Ausdrücke zum Wörterschatze beigetragen haben, bildete
der Jargon ein willkommenes Verständigungsmittel, und den
Kindern, namentlich solchen, welche Mischlinge sind, wurde
er zur Muttersprache. Jetzt überflügelt ihn, seitdem die Ein-
Wanderung so viele tausend weiße Menschen in jene Gegenden
wirft, das Englische mehr und mehr; auch nimmt die Zahl
der Indianer rasch ab.
Die ersten eingehenden Nachrichten über den Oregon-
Jargon hat Haie im siebenten Bande der Wilkes'schen
United States Exploring Expedition (Onartansgabe, S.
635 bis 650) gegeben und ich habe (Karl Andree, Nord-
amerika in geographischen und geschichtlichen Umrissen,
Braunschweig 1851. S. 213 s.) Auszüge aus dieser Ab-
Handlung mitgetheilt. Seitdem sind in den Vereinigten
Staaten einige Schriften über diese Handelssprache erschienen,
die mir nicht zugänglich waren. Ich finde aber in The
great Gold fields of Caribou etc. By William Oarew
Hazlitt, London 1862, p. 177 f. einige hundert Ausdrücke
des Tschinuk-Jargon, wie er am Fräser und Thompson ge-
sprechen wird. Sie sind angeblich „a füll vocabulary"
derselben und dem „San Francisco Bulletin" vom 4. Juni
1861 entlehnt worden. Folgende Proben können zeigen, in
welcher Weise die Indianer sich fremde Wörter zurecht ge-
macht haben.
Sun, Tag. — Sitkum sun, Mittag. — Larey (bar-
ley), Gerste. — Wapito, eine einheimische Knollenfrucht für
Kartoffel. — Pulally (powder), Pulver. — Musket, Flinte.
— Mercie, Dank; der Indianer hat für denselben kein
Wort in seiner Sprache, weil ihm der Begriff fehlt. —
Lepras (pater), Priester. — Lepied, Fuß. — Lum, Rum.
Boston, Amerikaner. — Kapo (capot), Rock. — Lehasch
(häche), Axt. — Lacassett^ Kassette, Koffer. — Lepla
(plat), Schüssel. — Latabel, Tisch, dergleichen der Indianer
früher nicht kannte. — Lapip, Pfeife. — Tintin (onomato-
p Lisch, wie manche andere Wörter im Jargon, wie z.B. auch
tum wata, Wasserfall), Musik. — Oeihy, Sandwich-Insu-
laner (von Hawaii). — Oloman, alter Mann, bedeutet auch
schwächlich und müde:c.
Ich will uoch die Zahlwörter hersetzen, welche aus dem
Tschiuuk in den Jargon übergegangen sind.
1 Ikt. 2 Mox. 3 Klone. 4 Locket. 5 Quinum.
6 Tahum. 7 Sinimox. 8 Sotkin. 9 Quies. 10 Tati-
lum. 11 Tatilum pi ikt. 12 Tatilum pi mox. — 100
Tatilum tatilum u ikt takamonak- — 1000 Ikt hyass
takamonak.
Von Messina bis an den Fuß des Aetna.
105
Don Messinn bis an den Znß des -Hehu,.
Italienische Unsanberkeit. — Schlechte Postverwaltung. — Die Fiumare. — Geistliche und nicht geistliche Bettler. — Forza d'Agro und
Cap Alessio. — Pracht der Landschaft. — Die Ruinen von Tauromenium. — Ein vuleanischer Ausbruch des Monte Frumento am Aetna. —
Glühende Lavaströme.
Neulid) lasen mir iu einer londoner Zeitschrift, es sei
gut und vortrefflich, daß Italien sich die staatliche Einheit
erworben habe und, unbehelligt von bonrbonischen oder Habs-
burg-lothringischen Fürsten, sich selber bestimmen könne. Den
Bewohnern des Landes wurde aber gleichzeitig dringend ein-
geschärft, daß sie nun auch neue Pflichten zu erfüllen Härten.
Halb Italien sei eine von Ungeziefer wimmelnde Schmutz-
höhle, und weit über die Hälfte der Bewohner seien an Leib
unb Kleidung im höchsten Grad unsauber, obwohl Wasser
zum Reinigen des äußern Menschen überall fließe. Die liebe
Gewohnheit des Straßenraubes müsse ein Ende nehmen, die
Bettelei arbeitsfähiger Müßiggänger möge man künftig für
einen Schimpf und eine Schande halten; das füße Vichts-
thnn der Lazzaroui und anderer Bummler von Handwerk
mache das Volk in den Augen eines jeden Fremden verächtlich.
Höchst wünschenswerth sei, daß man auch von dem oft ultra-
heidnischen Aberglauben zurückkomme und für vernünftigen
Volksuuterricht sorge.
Gewiß giebt es in Italien eine sehr große Menge gebil-
deter Lente von großer Intelligenz, und gerade diese sind es,
welche die nicht selten schreckenerregende Versunkeuheit und
Verwahrlosung der vielen Millionen Menschen im Volke
bitter beklagen. Sie hängen mit ihrer Civilisation wie eine
Lichtwolke über einem chaotischen Sumpfe von Barbarei.
Wenn, amtlichen Berichten zufolge, bei dem jüngsten Auf-
stand (1866) in Palermo Mönche und wilde, von ihnen zur
Megärenwuth aufgestachelte Weiber und Kinder die Leichen
ermordeter Soldaten des Königs iu Stücke zerrissen, mit
den Zähnen in das Fleisch bissen und mit Kannibalengelüst
an diesem herumkaneten, — dann fragt man: was haben
Kirche und bonrbonische Könige gethan, um solche sittlich
verwilderte Barbaren zu Menschen, wenn auch nur zu halb-
civilisirten zu machen?
Wir haben im vorigen Jahrgange einige Bilder aus Siei-
lien, namentlich ans Palermo und Messina mitgetheilt. Sie
sind von dem tüchtigen, auch mit deutscher Wissenschast ver-
traueten Elisve Reclus entworfen worden, der in: Früh-
jähre 1865 eine Reise in Sicilien machte, hauptsächlich um
die vulcauischen Ausbrüche des Aetna zu beobachten. Wir
werden gelegentlich seine darauf bezüglichen Schilderungen
mittheilen; heute begleiten wir ihn anf der Fahrt von Mef-
sina nach Taormina. —
Gegenwärtig ist die Eisenbahn zwischen Messina und
Catauia, welche an den Gestadehöhen hinführt, vollendet, und
das ist für die Reifenden ein sehr großer Vortheil. Früher
mußten sie die Fahrt aus dem Meer oder in entsetzlichen
Carrioleu machen, welche man mit dem Namen Postwagen
beehrte; sie waren abscheulich und gereichten der Postverwal-
tung zur Unehre. Diese sorgte nicht dafür, daß der alte Kasten
jemals gereinigt wurde; er roch immer entsetzlich übel und
das Rütteln und Stoßen nahm kein Ende. Wo der Weg
leidlich eben war, sagt Reclus, waren wir immer in eine
Wolke dichtesten Standes gehüllt und mußten einen Schleier
vor den Mund halten, um nur athmen zu können. Es gab
aber anch Stellen, wo wir keinen Staub schluckten, dann
nämlich, wenn wir in einem mit Kieseln besäeten Bette einer
Fiumara hinfuhren. Diese Gießbäche, welche von den
Globus XI. Nr. 4.
Höhen der pelorischen Gebirgskette tomuieu, sind für gewöhn-
lich bloß schmale, dünne und flache Wasserläufe; wenn aber
andauerndes Regenwetter eintritt, wälzen sie sich, einen ge-
waltigen Wasserschwall bildend, ins Unterland hinab, reißen
große Steinblöcke mit sich, durchbrechen die Dämme, salls
deren vorhanden sind, treten weit über die Ufer und ver-
wüsten die Felder. Manche dieser Fiumare sind dann wohl
eine halbe deutsche Meile breit. Bei niedrigem Wasserstand
braucht man nicht zn besorgen, daß der Wagen ins Meer
hinabgerissen werde, aber derselbe wird auf den Steinen eilt-
setzlich hin- und hergeworfen und an tiefen Schlaglöchern ist
auch kein Mangel. Kein Wunder, daß Jeder, welchem es
die Mittel erlaubten, diesen Weg vermied und den Dampfer,
welcher direet von Messina nach Catania fuhr, gern vorzog.
Der Landweg hatte noch einen andern Uebelstand. Bri-
ganten waren im Frühjahr 1865 nicht vorhanden, aber dafür
gab es in größter Menge zudringliche Bettler. Schon vor
der Abfahrt von Messina unterließ der Schaffner, der Sig-
nor Corriere, wohlweislich nicht, den fremden Herren Rei-
senden deu gutgemeinten Rath zn geben, daß sie sich mit
kleiner Münze zu versehen hätten, um den Anforderungen
der armen Leute gerecht zu werden. Die Postillone forder-
ten ihrerseits au jeder Station fünf Bajocchi extra für sich.
Der Signor Corriere seinerseits bettelte zwar nicht direet,
gab aber durch allerlei süße Worte, feine Redewendungen
nud sehr sprechende Blicke zn verstehen, daß er sich gewiß
nicht täusche, wenn er aus die Großmnth der edelen Herren
Reisenden rechne.
Wehe dem, welcher den Kopf aus der Wagenthür steckt;
er sieht nur Leute, welche ihm die Hand entgegenhalten. In
den Dörfern und vor jeder Hausthür Buckelige, wirkliche
oder nichtwirkliche Lahme, Greife und alte Weiber, — Alles
in Lumpen. Auf der Landstraße rennen Jungen in Schwär-
men neben dem Wagen her, in: dichtesten Staube. Und da
die Kirche auf Sicilien uichts dazu beigetragen hat, die Bet-
telei als etwas Verwerfliches zu schildern, so kann es nicht
Wunder nehmen, daß vor den Kirchen, Oratorien und Ca-
pellen, die in höchst überflüssiger Menge am Wege stehen,
bettelnde Mönche aufpassen und ein Paternoster und ein
Ave Maria für diejenigen hermurmeln, welche ihnen ein
Stück Geld zuwerfen. Solch ein Mönch, ein vierschrötiger
junger Kerl, lief uns in einer Fiumara nach und quälte,
daß wir ihm eine plump aus Holz geschnitzte Puppe abkaufen
möchten,kdie einen Heiligen vorstellte. Ich habe wunderliche
Mönchsgestalten genug auf Sicilien gesehen, aber dieser
Bnrsch, der seine Kutte hoch aufgeschürzt hatte, dessen Bart
wirr und wild aussah und der uns int Laufen fortwährend
anbettelte, dieser Mönch bleibt mir vor Allen unvergeßlich.
Der sicilianische Bettler hat etwas Eigenartiges. Ihm
fehlt die zudringliche Unverschämtheit des mit aufgebauschten
Redensarten um sich werfenden Spaniers, der uus eine Hand
so entgegenstreckt, als ob er in der andern ein Messer bereit
halte. Auch ist er ganz anders als der Pariah in London
und anderen großen Städten Nordeuropas, der sich vom
Elend völlig niederdrücken läßt und durch dasselbe gleichsam
seine Seele eingebüßt hat. Der sicilianische Bettler ist ein
mit sich und mit seinem Schicksal zufriedener Mensch, servil
14
Von Messina bis an
und dabei doch ironisch; er erniedrigt sich und spielt den
Demüthigen, meist nicht ohne eine gewisse hohnlächelnde
Miene. Unter allen Umständen bleibt ihm ein Trost: wenn
ihm Nieinand etwas giebt, so findet er doch stets ein 3!acht-
lager, gleichviel wo, einige Apfelsinen und vielleicht auch
Maccaroni. Uebrigeus drückt er sich immer mit ausgesuchter
Höflichkeit aus. In einem Dorfe hatte solch ein Signor-
Bettelbummler stch herabgelassen, einem meiner Mitreisenden
an den Koffer zu fassen und diesen wieder auf den Wagen
zu heben. Er bekam dafür einige Bajocchi, hätte aber gern
mehr gehabt und äußerte fich wie folgt:
„Ohne Zweifel habe ich alle Ursache, Ew. Excellenz sehr
dankbar zu sein für die Belohnung, welche Sie mir in so
herablassender Weise verabfolgt haben. Ein Recht, von Ew.
bell Fuß des Aetna. 107
Excellenz mehr zn fordern, als Sie mir gaben, steht mir
nicht zu, ich flehe nur Ew. Excellenz wohlwollende Gunst an.
Indessen will mich doch bedünken, daß Ew. Excellenz gütige
Großmnth sich veranlaßt sehen könnte, mir einige Bajocchi
mehr zuzuwenden, um mich siir meine Bemühung zu ent-
schädigen." Dann wandte er sich zn uns übrigen und rief
mit trinmphirender Miene: „Ich stelle das Urtheil Ew. Ex-
celleuzen anHeim!"
Trotz des Staubes, Elendes und Bettelns bewundert
man doch die Landschaft. In den breiten Betten der Fiu-
inare hinauf kann der Blick bis ins Gebirge hineinschweisen.
Zuerst sieht man nach Westen hin den Dinnamare, diefen
Bimaris der Alten: er führt seinen Äcameu, weil man von
seinem Gipsel eine Aussicht sowohl auf das ionische wie aus
Ruinen des alten Theaters von Tanromenünn.
das sardinische Meer hat. Dann fährt man um die Aus-
läuser des Scuderi, der über 3000 Fuß hoch ist uud die
übrigen Gipsel des pelorischen Gebirges überragt; nachher
folgen andere Ausläufer, welche als Vorgebirge oder gewal-
tige Bergwurzeln bis ins Meer hinein sich verzweigen. Ober-
halb des Gestadeabhanges trägt jede Bodenstufe oder Terrasse
ein Dors und die Trümmer einer alten Burg; in allen
Buchten liegen Lusthäuser und Orangegärten, uud am Strande
sieht man eine Menge von Nachen, die sich aus der Ferne
wie große schwarze Fische ausnehmen, welche von den Wellen
auf den Sand geworfen worden find.
Ienfeit des höchst malerischen Dorfes Savoca erhebt
sich ein Borgebirge, dessen scheinbar unersteigliche Felsenwände
gekrönt sind von der alten Burg Forza d'Agrö. Sie liegt
dort oben wie eines Adlers Horst. Nach der Seeseite hin
fällt diefes Cap Alefsio sast senkrecht ab. An der Basis
findet man viele Grotten und ein prächtig gebanetes Fort,
welches zu Anfang unseres Jahrhunderts von den Euglän-
dern aufgeführt worden ist. Jetzt ist dort Alles mit Ephen
und Myrthen überwuchert.
Als wir Cap Alessio erreichten, ging die Sonne hinter
den neptnnischenBergen unter und warf deren mächtigen
Schatten über das Wasser. Im Osten ergossen die letzten
Strahlen ihren schimmernden Glanz auf das iouische Meer,
dessen veilchenblaue Tinten am Horizont mit dem Lufthimmel
sich verschmolzen. Zur Linken stieg die düstere Bergkette
empor, welche iu der Richtung nach Messina hin mit den
Höhenzügen des Festlandes verbunden zu sein schien, stch
14*
108 Von Messina bis an
dann nach Sitbeit hinbog und zwischen beiden Meeren ein
mächtiges Vorgebirge bildete. Auf dem blauen Spiegel
schwammen große Segelschiffe, Dampfer und Nachen. Auf
der andern Seite des Cap Alessio ist der Blick begrenzter,
aber die Landschaft trägt den Charakter einer wilden Schön-
heit. Das Felsgestein ist von unten bis oben in Spalten
anseinandergerifsen, und in diesen Schluchten wuchern Schling-
pflanzen in gewaltiger grüner Fülle. Gerade aus, auf der
andern Seite einer Fiumara, steigt der große Felsen von
Taormina empor; sein Fuß ist in anmuthiger Weise vom
Meer ausgezackt worden, und man könnte sagen, daß die
einzelnen Zacken wie Löwentatzen in die See hinausra-
gen. Jetzt führen Eisenbahntunnels durch alle diese kleinen
Caps; wer aber die Schönheit der Landschaft bewundern will,
den Fuß des Aetna.
steigt vor Alessio aus und geht ju Fuß über die beiden Vor-
gebirge.
Das, auf welchem Taormina steht, läßt sich nur mit
Mühe erklimmen; es bildet gleichsam eine natürliche Cita-
delle, die einen düstern Anblick gewährt. Die Stadt besteht
aus einer Reihe vou Häusern, die auf einer engen Platform
zwischen dem Abgrund und dem steilen Bergabhange stehen,
auf welchem die Burg emporragt. Seit deu Tagen der
Araber ist diese von allen Eroberern Siciliens ausgebessert
worden. Das alte Tauromeuium hatte das Schicksal aller
Städte, die von der Natur mit einer zur Vertheidigung ge-
eigneten Lage bedacht worden sind. Alle Tyrannen Siciliens
legten Werth auf ihren Besitz und in den Römerzeiten war
sie während des Sklavenkrieges längere Zeit eine Znsluchts-
Ei» Lavastr>
stätte der Freiheit; als die Vertheidiger hart belagert wurden,
aßen sie lieber Menschenfleisch, als daß sie sich ergeben hätten.
Der römische Feldherr Rnpilins würde nur Gerippe in der
Stadt gefunden haben, wenn er nicht durch Verrath sich der-
selbe» hätte bemächtigen können.
Bei Einbruch der Dunkelheit stand ich in dem unver-
gleichlichen alten Theater von Tauromenium, in welchem in
besseren Tagen an zwanzigtausend Griechen Platz fanden, und
wo sie wirbelnde Rauchsäulen aus denr Aetna aufsteigen
sahen, während sie den Tragödien des Aeschylns lauschten.
An dieser mit Recht berühmten Stätte erblickt man die ge-
schwnngene Küste der Gegend Messinas, die Berge Calabriens
und den mächtigen Bergriesen Aetna, zu dessen Füßen ganz
Steiften sich hindehnt. Hier war Glanz und Pracht der
am Aetna.
Natur gepaart mit einer wunderbar herrlichen Landschaft.
Mehr als zweitausend Jahre sind ^verflossen, seitdem hier die
Griechen ihrem Gefühl für das Schöne ein volles Genüge
leisten konnten. Aber die Christen, welche Nachfolger der
heidnischen Hellenen itnd Römer waren, haben förmlich ge-
wetteifert, die Werke der Kunst zu zerstören und ztt vernichten.
Selbst angebliche Freunde und Beschützer der Wissenschaft,
und unter ihnen ein Herzog von Santo Stefano, haben
Marmor und Statuen weggeschleppt, um ihre Paläste dantit
ztt schmücken. Das alte griechische Theater war von den
Römern wiederhergestellt worden; die Trüntmer, welche nun
übrig geblieben sind, liefern den Beweis, daß dasselbe ein
herrliches Kunstwerk gewesen ist. Noch sieht man Granit-
säulen, Nischen, in denen freilich jetzt die Standbilder fehlen,
Die Eröffnung des Amazonenstromes.
109
und die Bühne; diese ist unter allen alten Theatern Europas
am besten erhalten. Das Schönste aber sind die Arkaden,
durch deren Oeffuungen man das Blau des Himmels und
des Meeres sieht. Marmorblöcke liegen, allesammt von grü-
nem Gestrüpp überwuchert, weit und breit umher.
Als es dunkler wnrde, wandte ich mein Auge weg voll
den Ruinen nach dein Achtet, der nun meine ganze Aufmerk-
samkeit in Anspruch nahm. Ich sah ihn znm ersten Mal
ans solcher Nähe und bemerkte an dem mir gerade gegen-
überliegenden Nordabhang die rothe Lava einer Eruption.
Schon seit zwei Monaten hatte sich ans der nordwestlichen
Seite ein senkrechter Spalt gebildet nnd ans dieser säst eine
deutsche Meile langen Schlucht quollen Dämpfe und seucr-
flüssige Stoffe. Ein großer Ausläufer des Aetna, der Monte
Frumento, war fast vom Gipfel bis zum Fuße geöffnet,
und der Spalt setzte sich fort bis auf eine ehemals bewaldete
Hochebene, welche mit alten Eruptionskegeln gleichsam über-
säet ist. An dieser Stelle des Berges, in einer Mittlern Höhe
von 2000 Meter, war die vnlcanische Thätigkeit am stärksten.
Mehrere kleine Berge von Schlacken und Asche konnte' ich
mit unbewaffnetem Auge unterscheiden. Bon dort herab war
eilt gewaltiger Lavastrom geflossen; er hatte die Wälder des
Plateaus vernichtet, war an den Abhängen des Aetna her-
untergegangen, und hatte Thäler ausgefüllt nnd viele Frucht-
selber zerstört.
Von Taormina, also aus einer Entfernung von etwa 18
bis 20 Kilometer, konnte ich an jenem Abend allerdings
nicht die Einzelnheiten des Ausbruches beobachten, aber das
Schauspiel int Großen und Ganzen war ungemein ergreifend.
Ein Schwall weißlicher Dämpfe erhob sich über den Gipfel
des Vulcans wie ein riesiges Gespenst, das zum Himmel
emporragte und sich ins All verlor. Weiter nuten, an einem
Grat der prächtigen Pyramide des Aetna, stiegen andere
Dämpfe auf. Sie rührten vom Ausbruche des Frumento
her, bildeten Oualmwolken, dergleichen man bei einer Feuers-
brunst sieht, ttnd zogen darnt über die Walduugeu Hin. Nach
abwärts hin glühete die Lava scharlachrot!) und sie erschien
im Gegensatze zu deut tiefgrauen Qualm uud dem Dunkel
der Nacht nur um so glänzender. Nun war mir das Thal,
welches zwischen dem Vorgebirge von Taormina ttnd dem !
AbHange des Aetna liegt, nicht mehr sichtbar. Vermittelst
einer leicht erklärlichen optischen Täuschung schien es, daß der
große Berg ganz nahe herangetreten sei und der gewältige
vulcauische Ofen fast greifbar auf der andern Seite der
Bodenvertiefung sich befinde. Die Stätte des Ausbruches,
die Glnthpfanne möchte ich sagen, kam mir vor wie eine
mächtige Schmiedeesse uud die rasch hintereinander folgenden !
Detonationen, welche der Wind an mein Ohr herübertrug,
uub dann wieder das schwächere dnmpse Geräusch erinnerten
an Hammerschläge, welche ans den Amboß fallen. Wie nahe
lag hier der Gedanke an die Cyklopen!
Das Gebiet des Aetna beginnt schon am Fuße des
Felsens von Taormina, denn hier trifft man auf die ersten
Lavalagen. Dieser Fluß von Stein gehört zu den beträcht-
lichstett, welche ©teilten kennt. Er hat eine Länge von 25
Kilometer nnd ist an mehreren Stellen einige Hundert Meter
weit ins Meer vorgedrungen.
Auf diesem Lavavorgebirge, das jetzt Cap Schis» genannt
wird, gründeten vor 26 Jahrhunderten ionische Männer die
erste Niederlassung der Griechen auf Sicilien. Aehnlich wie
die europäischen Auswanderer unserer Tage in Amerika oder
Australien ihre Niederlassungen mit Namen bezeichnen, welche
sie ihrer alten Heimath entlehnen, gaben die griechischen An-
siedler der Stadt, welche sie auf fremdem Boden gründeten,
die Benennung Naxos und errichtetem in der Nähe ihrem
Schntzgott Apollo ein Standbild. Die Ortschaft erwuchs
rasch zu einem blühenden und mächtigen Gemeinwesen; hin-
terher kamen Kriege, Züge in entfernte Gegenden, Tyrauuis,
und Dionysius von Syracus führte die Bewohner als Skia-
ven fort, nachdem er die Stadt fast ganz zerstört hatte. Jetzt ist
keine Spur mehr übrig von jener alten Colonic der Griechen.
Südlich vom Vorgebirge Schiso führt eine Brücke über
den kleinen Fluß Cantara (— Kantara ist der arabische
Ausdruck für Brücke —), und dann steigt man die ersten
Bodenschwellungen hinan, welche zum Aetna hinaufführen.
Der Erdboden ist eisengrau, und der Staub, welchen die
Wagenräder aufwirbeln, erinnert an Eisenfeilspäne. Zur
Rechten wie zur Linken erheben sich Mauern, die aus Metall-
blocken ausgebaut zu sein scheinen. Zu dem allen bietet die
grüne Landschaft mit ihrem üppigen Pflanzenwuchs einen
prächtigen Eontrast. Da sind Haine von Oliven-, Oran-
gen-, Citroueu- und anderen Fruchtbäumeu, dann nnd wann
tritt auch eine Gruppe Palmen auf und der ganze Raum
zwischen dem Meer und dem Vulcan ist wie ein Garten, in
welchem zahllose Landhäuser, Kirchen und Klöster nuter schot-
tigern Grün hervorlugen. Der Boden ist ungemein frucht-
bar, die Dammerde hat in Folge wiederholter Alluvionen au
manchen Stellen eine Tiefe von 150 Fuß. Eine Ortschaft
reihet sich an die andere. Die lange Vorstadt von Riposto
reicht weit feldein, bis dahin wo die ersten Häuser von
Giarre und weiter jene von Mascati beginnen; die Dörfer
sind wie eine Perlenschnur um das ganze Gebirge herum-
gezogen. An diesen fruchtbaren niederen Gehängen ist auch
der Baumwuchs üppig. Das Ganze wird vom Kegel des
Aetna überragt und die Aussicht ist so wunderbar schön, daß
keine Feder sie beschreiben kann.
Die Eröffnung des
Die gewaltigen Stroittriesen Südamerikas sind nun ohne
Ausnahme dem Schifffahrtsverkehr aller Völker erschlossen.
Im Orino eo, derHauptwasserader Venezuelas, können schon
längst fremde Fahrzeuge bis nach Angostura, das jetzt Ciudad
Bolivar heißt, hinnauffahren, und auch deutsche Schiffe holen
von dort in jedem Jahre werthvolle Ladungen.
Die Zuslüssc des La Plata, namentlich auch dessen
Hauptstrom, der Paraguay, sind gleichfalls durch Verträge
den fremden Flaggen geöffnet. An der Lebhaftigkeit des Ver-
kehrs auf diesem wundervollen Stromgestechte haben nicht
Amazonen ström es.
weniger als vier Staaten ein lebhaftes Juteresse: Uruguay,
Argentinien, Paraguay und Brasilien. Für dieses letztere ist
die freie Schifffahrt hier eine wahre Lebensfrage. Der P a-
ragnaystrom kommt recht eigentlich ans dem Herzen des
Landes, und er hat 400 deutsche Meilen oberhalb des La-
Plata -Aeswarmnts auch bei niedrigem Wasserstande in der
Fahrbahn eine Tiefe von mindestens 7 Fuß. Durch ihn
steht die große Provinz Matto grosso, deren Flächenratttn
jenen von Deutschland Übertrifft, mit der Außenwelt in Ver-
bindung , denn bis nach Cnyabä. fahren Dampfer. Ein
110 Die Eröffnung des
Blick auf die erste beste Karte von Südamerika kann zeigen,
was das fagen will. Nebenbei mag die Thatfache hervor-
gehoben werden, das; nach Ausbruch des Krieges gegen den
paraguyenfifchen Dictator Lopez, welcher den Strom sperrte,
diese Provinz Matto grosso (d. h. dichter Wald) einmal län-
ger als vier Monate ohne Verbindung mit der Hauptstadt
Rio Janeiro war. So ungewiß, beschwerlich und langwie-
rig ist die Verbindung zu Lande, welche lediglich vermittelst
der Maulthierkarawanen unterhalten werden kann, denn Stra-
ßen fehlen in diesen Theilen des Innern völlig.
Der argentinische Dictator Rofas, der jeder Fortentwicke-
lnng feindlich gegenübertrat, duldete die freie Schifffahrt aus
dem La Plata oberhalb Buenos Ayres nicht; sie ist erst seit
seinem Sturz, in den Jahren nach 1853 nach und nach
durch Verträge eröffnet worden. Europäische Fahrzeuge von
mäßigem Tiefgange können aufwärts bis Ro fari o gelangen;
Stromdampfer gehen Ins Albnqnerqne und, wie schon be-
merkt, bis Cuyaba. aufwärts. Seitdem die Schifffahrt frei
ist, hat sich ein frisches Handelsleben eingestellt, auch Euro-
päer, insbesondere Italiener, betheiligen sich von Montevideo
und Buenos Ayres aus sehr lebhaft an der Stromschifffahrt;
die Einwanderung nimmt zu und man bauet Eisenbahnen
von den Flußhäfen nach dem Innern.
Der Verkehr auf dem obern Paraguay ist durch die Will-
kürhaudluugeu und Vertragsverletzungen des Dictators Lopez
gestört worden, dessen aggressives Verfahren manchen deut-
schen Zeitungen unbekannt zu sein scheint; sie würden sonst
nicht als Fürsprecher eines nach Monopolen strebenden Ge-
waltherrschers auftreten, welcher seinen Nachbarstaaten den
Krieg geradezu aufgezwungen hat. Er belegte, ohne vor-
herige Kriegserklärung, brasilianische und argentinische Fahr-
zeuge mit Beschlag und sperrte, vermöge seiner starken Fe-
stnng Humaitü, die Schifffahrt auf dem Paraguay und Pa-
rauä. Ein Zweck des noch nicht beendigten Krieges in jenen
Theilen Südamerikas ist darauf gerichtet, die freie Strom-
schiff fahrt ein- für allemal zu sichern.
Doch wir wenden uns zum Amazonenstrome. Ein
Erlaß der brasilianischen Regierung vom 7. Decembcr 1866
hat verfügt, daß vom 7. September 1867 an die Schifffahrt
auf dem Amazonas allen Flaggen freigegeben fei. Gleich-
zeitig werden aber auch zwei andere Ströme unbedingt eröff-
net: der Tocantins und der San Francisco.
Ueber dm erstern wurde im „Globus" oftmals gesprochen
und hervorgehoben, daß er während der letzten Jahre mehr-
fach hydrographisch erforscht worden sei. Er bildet die Haupt-
Wasserader der üppig fruchtbaren, aber bislang nur spärlich
bevölkerten Provinz Goy g.z, und sein wichtigster Zufluß, der
Aragnay, kommt aus Matto grosso. Die Mündung liegt
eine kleine Strecke oberhalb der Hafenstadt Pars,, dem ein-
zigen Seeplatze des gesammten Amazonenstromgebietes. Die-
sem Stapelorte ist eine große Zukunft sicher; keine andere
Hafenstadt der Welt hat ein fo ausgedehntes Hinterland.
Der San Francisco kommt aus der au Gold und
Diamanten reichen Provinz Mi lins (welche jüngst von Herrn
I. I. von Tschndi in musterhafter Weise eingehend geschil-
dert worden ist; wir werden das Werk demnächst besprechen);
er durchströmt dann von Süden nach Norden die Provinz
Bahia, macht, indem er sich von Westen nach Osten wen-
det, die Grenze gegen die Provinz Pernambuco und mün-
det etwas südlich vom 10. Grad südl.Br. in das Atlantische
Weltmeer.
Die beiden eben genannten Landschaften gehören zu den
wichtigsten Provinzen Brasiliens; sie sind Zucker- und Baum-
Wollenregionen, ihr Inneres ist einer großen Entwicklung
fähig, und der San Francisco ist ihre Hauptpulsader für den
Verkehr. Da aber die beiden Hauptstädte Bahia und Recife
Amazonenstromes.
am Ocean liegen, und der Bau von Landstraße» in Brasilien
sich noch in deu ersten Anfängen befindet, hat man von beiden
Punkten Eisenbahnen bis zum Sau-Fraucisco-Strome gebauet.
Bis aus Weiteres siud diese Provinzen von größerm Be-
lang als die beiden am Amazonas. Weder in jener von
Parä. noch in Alto Amazonas ist irgend welcher Anbau
von Belang vorhanden; die ganze Region ist zumeist uoch
so, wie die Natur sie geschaffen hat; die Wohnorte liegen
weit auseinander, und ein Gebiet, das viermal so groß ist
wie Deutschland, hat nicht so viele Bewohner, wie unsere bei-
den Städte Hamburg und Berlin zusammengenommen. Die
Zahl der wirklich weißen Menschen wird schwerlich 20,000
erreichen; das übrige sind Mischlinge und indianische Jagd-
oder Fischernomaden. Von dem was wir als Arbeit be-
zeichnen könnten, ist im ganzen Amazonenstrom-
gebiete noch nie die Spur vorhanden gewesen; der
Indianer bringt die Naturprodncte des Waldes oder das was
er den Strömen abgewinnt, an die Hafenplätze, oder ein
Hausirer holt sie ihm ab nnd versorgt ihn mit den wenigen
Waaren, welche er bedarf und die er jetzt nicht mehr entbeh-
ren kann *).
Für den Amazonenstrom paßt in der That das Wort
„ungeheuer". Seine Hyläa, diese Waldregion, erstreckt sich
in ununterbrochener Breite über den ganzen Raum zwischen
dem 7. Grade nördl. und 18. Grade südl. Breite, von den Andes
bis zum Ocean. Fast alles ist dicht mit Bäumen bewachsen,
nnr dann und wann treten morastige Wiesen flächen anf.
Wege sind nicht vorhanden, sondern nur vereinzelte Indianer-
pfade; deshalb ist die Verbindung nur vermittelst der Flnß-
wege möglich. Ich habe in meiner Geographie des Welt-
Handels (I, S. 257) Folgendes hervorgehoben, um die Aus-
dehuuug dieser Region der Selvas (Wälder) anschaulich zu
machen.
„In den brasilianischen Urwäldern gelangt man zumeist
nach einigen Tagereisen auf lichte Flächen oder auf kahle
Serras (Bergzüge), aber in der Hyläa des Amazonenstroms
wird man auf Wochen, ja Monate langen Fahrten kaum
einige Morgen Landes finden, die nicht mit Bäumen bestan-
deu wären. Eine Linie, welche man von der Mündung des
Paranahyba in 41 y2 Grad w. L. V.Gr, gerade nach Westen
hin bis Guayaquil am Stillen Weltmeere zieht, schneidet die
Grenze dieser Waldregion unter etwa 781/2° w. L. und geht
auf einer Strecke von fast 500 deutschen Meilen durch das
Centrum derselben. Auf den ersten 200 Meilen, bis etwa
zum 56. Längengrade, beträgt die Breite dieses Urwaldes
von Norden nach Süden kaum 100 Meilen. Dann aber
dehnt sie sich nach beiden Richtungen immer weiter aus, bis
sie etwa unter 67° w. L., wie schon gesagt, vom 18. Grad südl.
bis zum 7. Grad nördl. Breite reicht, also von den Ufern des
Orinoco bis zum nördlichen AbHange der bolivianischen Andes!
Um einen Punkt, der etwa 16 deutsche Meilen südöstlich von
Tabatinga am Südufer des Amazonas, nahe dem Mün-
dnngsdelta des Javari liegt, kann man einen Kreis ziehen,
der 230 deutsche Meilen im Durchmesser halt, und das
Ganze ist nur ein durch die unzähligen Flußläufe
unterbrochenes Waldgebiet."
Gewaltig ist die Wasserfülle. Vom 4. Grad nördl. bis
zum 20. Grad südl. Breite fallen sämmtliche Gefließe, welche
von der Ostseite der Andes Herabkommen, in den Amazonen-
ström. Das bedeutet so viel, als ob sämmtliche Gewässer
vom Nordcap bis nach Gibraltar sich in eine einzige große
*) Wir verweisen auf die Schilderung der brasilianischen Pro-
vinz Alto Amazonas, „Globus" X. S. 281 ff., welche dieVer-
Hältnisse eingehend und anschaulich darstellt, und die jetzt von erhöh-
tem Interesse ist. Ueber die Garimpeiros, welche die Producte
in den Wäldern sammeln, ebendaselbst S. 380.
Tie Eröffnung des
Mulde ergössen. In Folge der tropischen Regen haben sie
alle ein regelmäßiges Anschwellen und Fallen; das erstere
erreicht im Hauptstrom eine Höhe von 40 bis 50 Fuß über
den niedrigsten Wasserstand. Dann ist die Ufergegend weit
und breit überschwemmt, und in dieser Region des „Gapo"
sind überall die Wälder sechs Monate in jedem Jahre von
10 bis zn 40 Fuß hoch überschwemmt. Der Indianer befestigt
seinen Kahn an den Aesten der Riesenbäume; er kennt in
diesem Wasserwalde Fahrbahnen, durchschneidet mit seinem
Nachen auch die Mündungen der verschiedenen Flüsse, schifft
aus einem Flusse in den andern und vermeidet die heftigen
Strömungen. Von der Einmündung des Tapajöz unweit
Santarem, aufwärts bis zu jener des Coary, kann dann
ein Kahn mehr als 300 Meilen von Osten nach Westen und
umgekehrt fahren, ohne ein einziges Mal den Amazonas sel-
ber zu berühren. Die Fahrbahn in diesem Gap» geht durch
Seen, durch enge Canäle zwischen Inseln, quer über die
Mündungen des Madeira, des Purus und hundert anderer
größerer und kleinerer Zuflüsse des Hauptstroms.
Die ganze Region ist ungemein reich au Nalurerzeug-
uissen, aber nach den allerhöchsten Annahmen, die ich finde,
beträgt der Handelsverkehr des gestimmten Amazonasgebietes
jährlich etwa 25 Millionen Thaler. In London, Paris
und auch iu deutschen Blättern werden enthusiastische Hoff-
nungen au die Freigebung des Amazonas geknüpft. Ge-
wiß verdient der Entschluß der brasilianischen Regierung, die-
sen Strom freizugeben, unbedingtes Lob, und wir wollen
dasselbe wahrhaftig nicht verkleinern. Aber Brasilien selber
hat bisher mit diesem überschwenglich fruchtbaren Gebiete
nichts Rechtes anzufangen verstanden. Rauben wird ihm
dasselbe keine fremde Macht, und Regsamkeit kann nur durch
Ausländer ins Land kommen. Aber die Bedingungen
des Anbaues, welche sich in anderen Gegendeu zweckmäßig
erweisen, passen nicht für den bei weitem größten Theil dieser
Regionen. Wir haben jüngst den, wir möchten fast sagen,
Dithyrambus mitgetheilt, welchen Agassiz über dieselbe an-
gestimmt hat (XI, S. 31). An und für sich betrachtet, sagt
der ausgezeichnete Naturforscher nur was wahr ist; daß aber
weiße, europäische und nordamerikanische Menschen in diesen
Äeqnatorialgegenden colonisiren und arbeiten könnten, das
widerspricht jeder Erfahrung.
Die Frage, welche sehr scharf ins anthropologische Gebiet
hineinspielt, ist auch hier: woher die Menschen nehmen,
welche arbeiten wollen und arbeiten können? Auf die
Eingeborenen, die Waldindianer, ist gar nicht zu rechnen.
Sie sind von der Natur eigenartig geschaffen worden; es fehlt
ihnen nicht bloß an aller Anlage zn dem, was wir unter
Arbeit verstehen, sondern sie haben nicht einmal einen Be-
griff von der Sache. Alle Versuche, sie ihrer umherschwei-
senden Lebensweise abwendig zumachen, sind ohne Ausnahme
kläglich gescheitert. Es liegt gar kein Grund zn der Annahme
vor, daß es in Zukunft anders sein werde. Auch hat noch
nie ein des Landes und der Leute Kundiger sich einer solchen
Wahnhoffnung hingegeben, und namentlich in dem trefflichen
Werke des Naturforschers Bates, der elf Jahre lang unun-
terbrocheu am Amazonas sich aufhielt, sind darüber manche
Beobachtungen zu finden. Auch Reisende wie Wallace und
Mar cot) sind derselben Ansicht. Wir werden demnächst im
Globus", nach Marcoy's Schilderungen, näher auf die
Verhältnisse am obern Stromlauf eingehen.
Die Zahl der Neger ist in dieser Region nicht vonBe-
lang und wird schwerlich mehr als etwa 15,000 Köpfe be-
tragen. Man hat bisher die schwarzen Leute in anderen
Provinzen vorteilhafter verwenden können; im Amazonen-
stromgebiete hat überdies die Sklaverei eine sehr milde Form.
Der Besitzer muß seinen Neger schon deshalb in aller Weise
AmazvnenstrvmeS. 111
schonen, weil derselbe jeden Augenblick Gelegenheit findet, in
die Wälder zu entlaufen. Auf die Neger kann man hier,
so weit Arbeit in Frage kommt, platterdings nicht rechnen.
Ohnehin geht Brasilien einer großen wirthfchaftlichen Krifis
entgegen, und es handelt sich nur darum, über dieselbe mit
möglichst geringen Verlegenheiten hinwegzukommen. Die
Sklaverei wird aufgehoben werden. Verfährt man nicht
hastig, sondern nimmt sich an Westindien und Nordamerika ein
warnendes Beispiel, befolgt man vielmehr das verständige
Versahren, welches die Holländer bei der Emaucipation in
Surinam beobachtet haben, dann kann derUebergang zn den
neuen Verhältnissen ohne verhältnißmäßig starke Erschütte-
rnngen stattfinden. Ein nordamerikanischer Geistlicher, Kid-
der, giebt an, daß im Laufe des letzten Jahrzehnts etwa eine
Million Sklaven in Brasilien emancipirt worden seien. Diese
Zahl ist offenbar zu hoch gegriffen; gewiß bleibt aber, daß
die Freilassung der Neger in jener Zeit sehr beträchtlich war.
Es bleibt abzuwarten, ob die Schwarzen in Brasilien
eine Ausnahme machen werden, oder ob sich auch an ihnen
dieselben Erscheinungen wiederholen, welche wir überall da
sehen, wo man den Neger mit einem gewagten Sprunge aus
der Sklaverei iu einen Zustand unbedingter Freiheit versetzt
hat, ohne ihn irgendwie durch Uebergänge an das neue Ver-
hältniß zu gewöhnen und ihm jene wohlwollende Fürsorge an-
gedeihen zu lassen, welcher er so sehr bedürftig wäre.
Der Chinese und der indische Kuli wird wohlhabend,
wo er in den Colonien an die Stelle des arbeitscheuen freien
Negers tritt. Beweise: die Inseln Mauritius, Nsuuiou,
Trinidad :c. Wir meldeten vor einiger Zeit, daß eine Gruppe
indischer Kulis, welche man mit großen Kosten von der Ma-
labarküste nach Demerara geholt hatte, wo die Neger nicht
arbeiten mochten, nach fünfjähriger Dienstzeit in ihre Hei-
math zurückfuhren. Sie waren nicht nur mit Kleidung und
vielerlei Maaren reichlich versehen, sondern besaßen, nachdem
sie das Geld für die Ueberfahrt bezahlt hatten, noch über
60,000 Thaler bare Ersparnisse. • Diese Malabaren hatten
freilich gearbeitet. Ich müßte mich sehr täuschen, alle bis-
herigen Erfahrungen und Analogien müßten nichts gelten,
wenn es im Amazonenstromlande gelänge, die freien Neger
zum Arbeiten zn vermögen. Rechneu kann man darauf
nicht. Will mau diese Region nutzbar machen, dann bleibt
nichts übrig, als asiatische Arbeiter dorthin zu schassen.
Wie dem aber auch sein möge, auf jeden Fall wird die
Eröffnung des Amazonenstroms neue Antriebe in jene Re-
gion bringen und dieselbe zu regsamerm Leben erwecken. Bon
europäischen Ansiedelungen kann allerdings keine Rede sein,
aber von großer Wichtigkeit erscheint der Umstand, daß der
Amazonenstrom sammt seinen Zuflüssen, namentlich den vom
Süden her einmündenden, eine Fahrbahn bis nach Peru und
Bolivia eröffnet, und auch diesen Ländern den Weg zum
Atlantischen Oceau ermöglicht. Peru war bisher für Absatz
und Bezug vou Waaren auf die Südsee allein verwiesen,
und Bolivia gleichsam abgesperrt, da der Pilcomayo und
Bermejo unsichere Wasserstraßen zum Paraguay bilden. Nun
sind, wie wir früher im „Globus" mitgetheilt haben, Dam-
pfer den Ucayali hinauf bis in den Pachitea, in die Nähe
der tirolischen Niederlassung Pozuzü gegangen: Chandleß
hat den Purüs bis in seine Quellgegenden schiffbar gesnn-
den. Daß auch der Madeira trotz seiner Stromschnellen
befahren werden kann, das ist im Juni 1866 durch den
deutschen Kaufmann Kronenboldt bewiesen worden, der
mit einigen großen Kähnen und mehr als 100 Mann Schiffs-
Volk aus Bolivia bis nach Manaos (Barro do Rio Negro)
gelangte, und dann mit einer assortirten Waarenladung aus
dem Madeira nach Bolivia zurückkehrte.
Der Krieg- welchen der Dictator vou Paraguay deu Bra-
z 12 Ernst Boll: Mittbeilnu
ftlicinent aufgezwungen hat, wirkt auch insofern nachteilig,
als er Millionen verschlingt, die zweckmäßiger auf deu Bau
von Straßen und die Verbesserung der Stromläufe durch
Wegsprengen von Felsen in den Stromschnellen oder Um-
gehnngscanäle verwandt worden wären. Diese sind eine
wahre Lebensfrage für das ausgedehnte Kaiserreich, in Ivel-
chem sich ohne alle Frage ein Streben nach Entwickelnng
u über die Insel Rügen.
zeigt und an dessen Spitze ein sehr intelligenter, Hochgebilde-
ter Herrscher steht. Die Eröffnung des Amazonas ist eine
große That, uud wenn man bis anf Weiteres, wie schon be-
merkt, keine sanguinischen Hoffnungen an dieselbe knüpfen
darf, so bleibt doch gewiß, daß durch sie in die weite Region
des Amazonenstroms frischeres Leben einströmen werde.
Mittheilungen übe
Von Dr. (
Die Halbinsel Mönchgut. — Verschwinden alter Eigenthümlichkei
Anf Rügen wurde zuerst die Halbinsel Mönchgut völlig
germanisirt, denn nachdem der Fürst Jaromar II. im Jahre
1252 das Ländchen Reddeviz an das bei Greifswald belegene
Kloster Nilda (Eldena) verkauft hatte, wurde das „Mönch-
Gut" (wie die Halbinsel hinfort hieß) von dem Kloster so-
gleich ganz und gar mit deutschen Ansiedlern besetzt. Mit
den übrigen, von ihnen durch die Granitz auch räumlich ge-
trennten Rügianern, unter denen dazumal das slavische Ele-
meut noch vorwaltete, stand diese Colonie lange Zeit hindurch
auf sehr gespanntem Fuße, weshalb sie sich auch möglichst
gegen dieselben abzuschließen suchte. Namentlich heiratheten
die Mönchguter fast nur unter einander, und wuchsen dadurch
allmttlig zu einer einzigen großen Familie zusammen, welche
in ihrer Abgeschiedenheit bis in unsere Zeit hinein „eine
gewisse patriarchalische Einfachheit des Charakters und eine
Eigentümlichkeit in Sprache, Kleidung und Sitte sich be-
wahrte, durch welche sich die Mönchguter vor allem übrigen
rügianischen Landvolk auszeichnen. Die Gewalt der Mode
hat über dies Völkchen noch nichts vermocht. Schnitt und
Farbe ihrer Kleider sind wie vor Jahrhunderten und ver-
rathen noch Spuren des Mönchthums, worunter dies Länd-
chen einst stand, und auf die Beibehaltung dieser Tracht wird
so strenge und gewissenhaft gehalten, daß eine Mönchguterin,
welche es wagen wollte, fich wie andere rügianische Bauer-
mädcheu ein wenig nach der Mode zu kleiden, Gefahr laufen
würde, allgemein verspottet und nie verheirathet zu werden."
So berichtet noch im Jahre 1806 Dr. Grümbke aus eigener
Anschauung über die Nachkommen jener unter dem Schutze
des Krummstabes im 13. Jahrhundert dorthin verpflanzten
deutschen Colonisten, — jetzt aber, nachdem so viele Rei-
sende die Halbinsel besucht, uud so viele Mönchguter Männer
ihre Soldatenjahre iu den festländischen Städten der pren-
ßischen Monarchie verlebt haben, hat auch unter ihnen schon
manches sich anders gestaltet. Denn auch Mönchgut hat sich
dem Einflüsse nicht ganz entziehen können, welchen ein regerer
Verkehr mit anderen Leuten auf Lebensweise, Sitten und
Charakter eines Völkchens, welches in langer Abgeschiedenheit
gelebt hat, dann endlich, wenn diese Schranken einmal gefallen
sind, oft zwar nur langsam, aber doch unfehlbar ausübt.
Sobald es mit fremdem Wesen, mit fremder Sitte häufiger
in friedliche Berührung kommt, beginnt in Bezug aus seine
eigenen althergebrachten Eigentümlichkeiten ein langsamer
oder schneller wirkender moralischer Zersetznngsproceß
sich ebenso geltend zn machen, wie ein physischer Zersetzuugs-
r die Insel Wugen.
ernst Boll.
i und Volkstrachten. — Anklänge an Slavisches. — Ortsnamen.
proceß iu jcbcut organischen Wesen eintritt, sobald das Leben
ans demselben entwichen ist.
Diesem Naturgesetz füllt leider auch manches Harmlose
zum Opfer, und so wenig ich mich, wo es sich um die Er-
Haltung vou etwas wirklich Veraltetem und dadurch uubrauch-
bar oder gar schädlich Gewordenem handelt, conservativer Ge-
sinnungen rühmen kann, sehe ich es doch mit Bedaueru, wie
in Folge des durch die verbesserten Communicationsmittel
während der letzten Jahrzehnte so großartig gesteigerten Reise-
Verkehrs gar viele locale Volkseigenthümlichkeiten sich immer
mehr abschleifen und verwischen, wodurch die Bewohner großer
Ländergebiete eine immer gleichförmigere und daher für das
Auge des beobachtenden Reisenden auch langweiligere Phy-
siognomie annehmen. Es kommt mir dabei auch nicht int
Entferntesten in deu Sinn, die Zeiten zurückzuwünschen, tat
welchen die Landstraßen so schlecht waren, daß vier bis fünf
Meilen schon eine starke Tagereise ausmachten, und so im-
sicher, daß man vor dem Beginn einer längern Reise kirch-
liche Fürbitte für sich einlegen ließ oder gar sein Testament
machte, sondern ich bedanre nur, daß wir in diesem Falle
des Guten, was die neuere Zeit gebracht, nicht so ganz un-
getrübt uns erfreuen können.
Zu den harmlosen Dingen, welche den bezeichneten Ein-
flüssen von Tag zn Tag mehr erliegen, gehören z. B. auch
die eigentümlichen, theils geschmackvollen, theils geschmack-
losen Volkstrachten, durch welche sich die Bewohner der
einzelnen deutschen Landschaften so vielfältig uud oft so charak-
teristisch von einander unterscheiden. Diese Trachten gehen
unter unseren Augen ihrem völligen Absterben mit schnellen
Schritten entgegen, und daher ist es ein sehr dankenswertes
Unternehmen, daß der Maler A. Kreischmer es sich gegen-
wärtig angelegen sein läßt, dasjenige durch bildliche Darstel-
lnngen für die Nachwelt zu retten, was jetzt noch von solchen
Volkstrachten in Deutschland übrig geblieben ist. Es war
dazu die höchste Zeit, denn wenige Jahrzehnte später würde
ein solches Unternehmen sich wahrscheinlich nicht mehr ans-
führen lassen. Die Reihe seiner seit dem Jahre 1865 (bei
J.Bach in Leipzig) lieferungsweise erscheinenden, sehr sauber
in Farbendruck ausgeführten Bilder beginnt mit der Mönch-
guter Tracht, von welcher er uns eine Darstellung giebt,
die im Wesentlichen noch mit Grümbke's sechszig Jahre älterer
Schilderung übereinstimmt.
Nach Leuten ranischer Abkunft würde man sich auf Mönch-
gut, wie aus dem Vorhergehenden erhellt, jetzt natürlich ganz
Ernst Boll: Mittheilm
vergebens mnsehen; aber aus der übrigen Insel möchte ein
aus Erkennung der Staminesunterschiede geübtes Auge auch
gegenwärtig vielleicht noch einige Nachkommen germanisirter
Slaven herausfinden^). Der gewöhnliche Beobachter freilich
glaubt auch hier nur Deutsche vor sich zu haben, aber der
Ueberzeuguug, daß einstmals hier Slaven gewohnt haben,
wird auch ein solcher sich uicht erwehren können, wenn er
ans die vielen, dem deutschen Ohre fremdartig klingenden
Ortsnamen achtet, die ihm bei seinen Wanderungen durch
die Insel aufstoßen. Sind Sprachstudien ihm nicht ganz
fremd, so wird ihm über den slavischen Ursprung der-
selben nicht lange ein Zweifel bleiben, wenn auch ihre Deu-
tung meistens sehr schwer fällt. Denn fast alle diese ur-
sprünglich gewiß bedeutungsvollen Namen fiud nach dem
Aussterben der slavischen Sprache auf Rügen in dein Munde
des Volkes, welches nun das Verftändniß für dieselben ver-
loren hatte, so sehr entstellt worden, daß jetzt fast jeder Ver-
such zu ihrer Erklärung fehlschlagen muß, wenn man ihre
ursprüngliche Form nicht aus alten, in die slavischen Zeiten
zurückreichenden Urkunden wieder herstellen kann; aber leider
schwanken sie selbst in diesen nicht selten hin und her, weil
die Namen bei den Slaven noch keine durch Schriftlichen
fest ausgeprägte Form hatten, und die Geistlichen bei Ab-
fassnng der Urkunden daher gezwungen waren, die Orts-
namen so niederzuschreiben, wie sie sich nach der im Munde
der Leute wohl sehr wechselnden Aussprache am besten durch
Buchstaben wiedergeben ließen. Sehr viele ganz entschieden
slavische Localnamen, die sich als solche durch ihre En-
düngen auf Kn, band, gast, in, itz, ow, oder durch die
Vorsilben ne, ni (nicht), Pra, Pri (bei), Po (an), pod,
Pud (unter), sa, za (jenseits), wo (an) verrathen, werden
sich daher nicht mehr erklären lassen, weil gerade für Rügen
(wie oben schon erwähnt) die Anzahl alter Urkunden so
gering ist. Dazu kommt nun noch der die Deutung so
erschwerende Umstand, daß auch der ganze Dialect, in wel-
chem diese Namen wurzeln, schou ausgestorben ist, weshalb
man bei ihrer Erklärung seine Zuflucht zu den mehr oder
weniger mit jenen verwandten lebenden slavischen Dialecten
— besonders dem tschechischen, polnischen und russischen —
zu nehmen gezwungen ist. Daß sich aber, zumal wenn man
einige Kenntniß von der Lage und der natürlichen Beschaffen-
heit der betreffenden Oertlichkeiten besitzt, trotz aller jener
Schwierigkeiten doch noch mancher Name befriedigend deuten
läßt, mögen folgende Beispiele zeigen.
Auf Verehrung der Göttin B ab a unter den Ranen scheint
der Name des Dorfes Bobbin aus Jasmnnd hinzudeuten,
denn derselbe lautete früher Babyn und in der Nähe des-
selben giebt es einen Hügel, der noch jetzt den Namen „Tem-
Pelberg" führt.
Eine allgemeine Bezeichnung für göttliche Wesen war
unter den Slaven das Wort Boc oder bosz, busz (zu
sprechen: botz, bosch, bnsch), auch in den Formen boh,
boc, bug vorkommend. Aus dasselbe sind in allen slavi-
schen Ländern einige Ortsnamen zurückzuführen, wie z. B.
in Hinterpommern der Dorsname B al-buc (d. h. der weiße
Gott), in der Mark Brandenburg der Stadtname Jntre-
boc (jetzt Jüterbogk), in Mecklenburg der Name Goda-
busz (jetzt Gadebusch). Mit dem Worte pol (Ebene, Feld)
verbunden finden wir bosz auch wieder in den Dorfnamen
Boszpol (unweit Danzig), Bozepol (in Hinterpommern)
und Bospole (jetzt Basepol) in Mecklenburg. Berücksich-
*) Von dm auf der Insel ansässigen Adelsfamilien führen die
auf Wittvw wohnenden Lanken ihren Stammbaum noch auf sla-
vifche Vorfahren zurück. Auch die Barnekow sind (ihrem Namen
nach zu urtheilen) wahrscheinlich slavischer Abkunft.
Globus XI. Nr. 4.
en über die Insel Rügen. 113
tigen wir nun, daß auch jetzt noch iu Galizieu ein Dorf den
Namen Pod-bnsz (d. h. unter dem Gotte) führt, so dürfen
wir wohl kaum daran zweifeln, daß auch der Name des
Ortes Putbus, welcher früher Pode-busz lautete, eine
gleiche Abstammung hat und wahrscheinlich auf die Lage
desselben in Bezug auf ein früheres ranisches Heiligthum
anspielt, denn von der Lage eines Ortes unter oder unterhalb
anderer Dinge sind mehrfach slavische Localnamen entlehnt
worden, wie z. B. Pud-glowe*), Pnd-gora, Podz-
damba (Potzdam, d. h. unter den Eichen). Mit dem
Worte Kamen (Felsblock, Stein) verbunden, scheint busz
auch in den Namen Buß-kam und Us-kan zu stecken, mit
welchen zwei große Geröllblöcke bezeichnet werden, deren einer
bei dem Görenschen Höwd, der andere aber bei Saßnitz im
Meere liegt.
Eine mitBirken und Tannen bestandene sandige Wald-
fläche — eine Heide — belegen die Slaven mit dem Namen
Bor. SolcheLocalitäten waren und sind vielleicht auch noch
jetzt die Boro wer Heideberge auf Jasmund, die Bo-
rower Heide bei Bergen und der Borsberg in der
Granitz**). Auch der Name Bors, den ein kleines Gehölz
am westlichen Ufer von Jasmnnd führt, ist wohl nicht, wie
Grümbke will, auf deu Fisch Baarsch (plattdeutsch: Bors)
zurückzuführen, sondern auf das slavische Bor.
Dem slavischen Worte Breg, welches „Rand, Strand"
bedeutet, verdankt das lang am Strande des Breeger Boddens
sich hinerstreckende Dorf Breege seinen Namen. — Von
Breza, die Birke, scheinen die Dorsnamen Breetz (früher
Bresitz) und Bresen (im Kirchspiele Rambin) abznstam-
men, — ganz unverkennbar aber ist von dem Worte Broda
(Fährstelle, Uebersahrtsort) der Name des Dorfes
Schaprode (urkundlich sza-brode) abzuleiten, welcher auch
in Böhmen als za-brod und bei Danzig als za-brodda
wiederkehrt ***).
Ein sehr vielfach bei der Benennung langgestreckter Dör-
fer, Landseen, Bergrücken u. s. w. verwendetes Wort ist auch
das Eigenschaftswort dolge, lang. Auf Rügen treffen wir
es in dem Namen „der Dolgen", welchen ein Bergrücken
in der Granitz führt, und in Verbindung mit most (Brücke)
auch in dem Dorfnamen Dolgemost f).
Das Wort Gard, welches einen eingeschlossenen, von
einer Schutzwehr umgebenen Ort, eine Burg bezeichnet,
kommt in allen slavischen Ländern (anch in den Formen
grad, grod, gor od, hrad) theils allein, theils in mannig-
faltigen Zusammensetzungen zu Ortsnamen verwendet vor.
Aus Rügen haben wir neben den Wällen der alten Tempel-
bürg Karenza die Stadt Gartz, ferner das Dorf Garditz,
neben welchem gleichfalls ein alter Burgwall liegt, und auch
der Rugard bei Bergen ist von einem solchen gekrönt; ans
Jasmund liegt Sa-gard (d. h. die jenseitige Burg) und an
der westlichen Küste von Mönchgut der Berg Swantegard
(d. h. die heilige Burg).
*) Dieser Name bietet einen interessanten Beleg dafür, wie das
Volk es liebt, alte Namen, deren Bedeutung man nicht mehr ver-
steht, so umzuformen, daß sie ihm wieder zu bedeutungsvollen wer-
den. Pud-glowe ist der urkundliche Name des ehemaligen Klo-
fters Pudagla auf Usedom, welches so benannt wurde, weil es
unter einem in den Schmollen-See vorspringenden „Höwd" (Vor-
gebirge, Berghaupt, — slavisch glo wa) angelegt wurde. Dieses Höwd
heißt jetzt bei den Umwohnern der „Glaubensberg"!
") Einen Bölsberg giebt es auch am rechten Elbufer ganz
nahe bei Pillnitz. Er wird der schönen Aussicht wegen häufig besucht.
A.'
*") So in Böhmen: Deutsch-Brod, Böhmisch-Brod, und
bei Dresden die Ortschaft Kötschen-Broda :c. A.
i) Im vormaligen Fürstenthum Hildesheim die DolgerHe^ide.
15
114 Ernst Boll: Mittheilun
Noch häufiger tritt namenbildend auf das Wort Gora,
auch gor und wär (in anderen Dialecten gura, gurra,
hora), der Berg. Der jetzige Name der Stadt Bergen
ist nur eine Uebersetznng ihres altern urkundlichen Namens
Gora; Goor heißt jetzt noch ein Dorf auf Wittow und ein
auf einem Berge belegenes Gehölz unweit Vilmnitz, und den
Namen Gören führt eins der Dörfer auf Mönchgut. Nach
der Analogie von Dammgarten, Liebgarten und Wolgde-
garten ist endlich auch der Name des unterhalb Arkonas be-
legenen Dorfes Puttgarten auf Pnd-gora zurückzuführeu.
Der Name dupua-wör ist von mir oben schon erklärt
worden; anch bei Wörke unweit Patzig sind viele alte Grab-
Hügel.
In dem Namen des schönen Waldes Granitz finden wir
das auch in die deutsche Sprache eingebürgerte slavische Wort
Grauiza (Grenze) wieder, und die Ableitung des Namens
der Halbinsel Jasmund, welche mit ihren blendend weißen
Kreideusern weithin in das Meer erglänzt, von dem Eigen-
fchastsworte Jasuy, d. h. glänzend, ist wenigstens sehr
wahrscheinlich.
Unter den Bäumen haben bei rügianischen Localnamen
außer der Birke (breza) auch Jawor (der Ahorn) und
Jesen (dieEsche) Pathenstelle vertreten, — erstem- bei dem
Dorfe Gagern im Kirchspiele Gingst (urkundlich Gawarne),
letztere bei dem kleinen Gehölze I essin g unweit Strüfseu-
dorf; auch der jetzt bei den Geographen in „schlesisch-mähri-
sches Gesenke" corrumpirte Gebirgsname ist nichts anderes
als Gesenik, wie die anwohnenden Slaven diesen Bergzug
benennen.
Wo wir das Wort Kamen (Felsblock, Stein) zu einem
norddeutschen Ortsnamen verwendet finden, können wir sicher
darauf rechnen, daß wir in der Nähe einer solchen Loealität
reiche Gerölllager, oder auch einzelne, durch Größe besonders
ausgezeichnete Steinblöcke antreffen. Auf Mönchgut führt
ein steiler, von Geröllblöcken nmsäumter Ufervorfprung den
Namen Kamink, neben dem Dorfe Kamin auf Wittow
liegen im Breeger Bodden die „Harker Steine" und in
dem Gehölze Kamnow bei Mukran trifft man eine der
größten rügianischen Steinkisten (Hünenbett). Die großen
Geröllblöcke Büß-kam und Us-kan sind oben schon bespro-
chen; ihnen reihet sich an der nördlichen Küste von Jasmund
noch der Swaute-kks an, — ein Name, der Wohl aus
Swaute-kamen verderbt ist und heiliger Stein bedeutet. Aller
Wahrscheinlichkeit nach steckt Kamen endlich auch noch in
dem bekannten Namen Stnbben-kamer, der wohl eigent-
lich Stowen-kamen lauten sollte, denn die Stubnitz wird
noch jetzt von den Jasmnnder Landleuten „Di Stowe" ge-
nannt. Was aber dieser letztere Name bedeutet, den nrknnd-
lich auch ein Wald bei Liebenwalde führt und der als Fluß
Stubiuiza (jetzt Stepenitz) auch bei Lübeck auftaucht, ist
noch nicht ermittelt.
Auf das Wort Karwa, Sumpf, ist der Name Gar-
Witz zurückzuführen, welchen die größte, früher ohne Zweifel
sehr sumpfreiche Wiesenfläche auf Rügen führt; am nörd-
lichen Rande derselben liegt ein Dorf, welches ursprünglich
Charwa hieß, jetzt aber zu Carow verunstaltet ist. Auch
das weiter ostwärts nach Mönchgnt hin in snmpsreicher Ge-
gend belegene Dorf Garftiz ist wohl gleicher Abstammung.
Ob der zur westlichen Granitz gehörige Berg Knae-
selow und die zwischen dem großen nnd kleinen Jasmnnder
Bodden sich einschiebende schmale Halbinsel Naeselow auf
das Wort Knaes (Knese), d. h. Hm:, zurückzuführen sei,
bleibt zweifelhaft, dagegen finden wir für das auf Wittow
au einer sogenannten Wedde (d. i. einer kleinen seichten
Meeresbucht, die man durchwaten kann) belegene Dorf Kon-
top eine ganz sichere Ableitung in dem slavischen Kon-top,
n über die Insel Rügen.
welches Pferdeschwemme bedeutet uud auch in anderen
slavischen Ländern mehrfach als Ortsname verwendet ist.
Warum einem Ziegenbock (flavisch Kosel) in dem
Namen des Dorfes Kofel bei Trent ein Denkmal gesetzt sei,
darüber sehlt uns jede Auskunft. Der Name kommt mehr-
fach auch in anderen slavischen Gebieten vor, aber doch lange
nicht so häufig, wie der Dorfname Kowal, d. h. derSchmied,
durch welchen man zu der Zeit, als Schmiedewerkstätten
auf dem Laude noch selten waren, diejenigen Dörfer aus-
zeichnete, iu denen ein solcher Künstler wohnte; auf Rügen
verdankt ihm das Dorf Cowall bei Gartz den Namen.
Sehr oft haben in allen slavischen Ländern Wiese und
Wald — Lanka und Las — bei den Ortsnamen Verwen-
dung gefunden, erstere z. B. bei den vielen Dörfern anf Rü-
gen, die den Namen Lanken führen, letzterer bei der „Läse",
einem Theile der Granitz , nordwärts vom Selliner See.
Warum diese auf die natürliche Beschaffenheit der Oertlich-
keit hindeutenden Namen so oft vorkommen, ist nicht schwer
einzusehen, weshalb aber sogar das Wort Lop ata, d. h. die
Schausel, für das Dorf Loppate (jetzt Luppat) bei Po-
seritz den Namen hergegeben hat, bleibt uns völlig verborgen;
vereinzelt steht aber auch dieser Name keineswegs da, denn ihrer
viereckigen, schanfelförmigen Gestalt wegen haben die Russen
die südliche Spitze derHalbinsel Kamtschatka gleichfalls mit
dem Namen Lopatka belegt.
Das Wort Most (die Brücke), welches auf Rügen nur
einmal als Ortsname vorkommt, ist oben unter Dolge fchon
erwähnt worden. Als Endsilbe zweier Dorfnamen kommt
Mysl (d. h. sinnig, gesinnt) vor, nämlich in Czeri-mysl
(jetzt Zirmoisel) und Pre-mysl (d. h. scharfsinnig,
jetzt Promoisel). Aehnliche von Personen (wahrscheinlich
den Erbauern) entlehnte Ortsnamen giebt es anch in ande-
ren slavischen Ländern, wie z. B. Radomysl (d. h. froh-
sinnig) in Polen, im Lüneburgischen (jetzt Redemoisel) und
Altenbnrgischen (jetzt Rademenschel) nnd Dobromysl
(d. h. gutgesinnt) in Galizien, — ein Name, der sich in ge-
wissen Kreisen auch als menschlicher Taufname empfehlen
möchte, falls Tristram Shandy's Bater Recht hat mit feiner
Behauptung, daß der Taufname des Kindes den wesentlich-
sten Einfluß auf die ganze weitere Geistesentwickelnng dessel-
ben habe.
In dem zur Granitz gehörigen Pant-Berge taucht das
altslavische, urkundlich vorkommende Wort Pant, d. h. der
Weg, Fußsteig, uoch einmal wieder auf, und das in san-
diger Gegend belegene Dorf Pyask (jetzt Patzig) entlehnte
feinen Namen, gleich vielen anderen Ortschaften in den Sla-
Venländern, von dem Worte Piasek, welches „Sand" be-
deutet, während in dem Dorfnamen Ranzow das flavifche
Ranzow (die San) gleichfalls gar nicht zu verkennen ist.
Von Sekera (die Axt), Sikerina (der Aushau, die
Lichtung im Walde) stammen die Namen der Dörfer Sit er
oder Ziker ans Mönchgut und auf dem Zudar, von Se-
racowe (die Kirche) aber der Name des Kirchdorfes Zir-
kow, welcher urkundlich Seracowe lantete. — Gleicher Ab-
stammung mit dem lanenburgischen Dorfe Schmielau (frü-
her bei Helmold Zmilow) ist der Name der Bruchfläche
Rngeu-Smilow in der Stübnitz, — beide zurückzuführen
anf Smilow, d. h. Binsenort.
Das oben schon erwähnte Beiwort Swante (heilig) ha-
ben wir in Swante-gard und Swante-kamen schon kennen
gelernt. Es steckt aber auch in dem Dorfnamen Swantow
(früher Swante-gora), in Swantelow (einem Gehölze bei
Strüssendorf) und in dem Berge Swantich anf Hiddensöe;
auch das Dorf Schmantevitz auf Wittow heißt urkundlich
eigentlich Swantevitz.
Der Name des Dorfes Schwierenz auf Jasmund scheint
Polen und
in dem polnischen Worte Swierczyna (die Fichte) seine Er-
klärung zu finden, der in den kleinen Jasmnnder Bodden ans-
mündende Ofsen-See aber in Ust, d. h. die MUndnng. —
Für die Wnrlitzer Tannen am Quitzelaser Ort, in denen
früher Adler gehorstet haben mögen, bietet sich in Wnrla,
worla (russisch: orel), d. h. der Adler, eine passende Ab-
leitung dar, den Namen Wustrow (russisch: ostrow, d. h.
Insel, Halbinsel) führt eine kleine Halbinsel bei E. M.
Arudt's Geburtsort Schoritz, und in demWissower Ort nebst
den Wissower Klinten — einem der imposantesten nnd hoch-
sten Abschnitte des steilen Kreideufers zwischen Saßnitz und
Stubbeukamer — erkennen wir das Eigenschaftswort Wif-
soky, wisse (hoch) wieder. Auch das Beiwort Zar, zaruy
(schwarz), welches besonders hänsig zur Bezeichnung dnnkeler
Gewässer vorkommt, ist in demWasserlaufeZaruitz aus der
Halbinsel Jasmnnd und in dem Dorfe Zarnekow vertreten.
Doch nun genug der flavischeu Sprachprobeu! Ich würde
uicht gewagt haben, diesen Gegenstand hier so ausführlich ab-
zuHandeln, weuu ich nicht geglaubt hätte, daß er für den Le-
Rnthenen. 115
ser des „Globus" als eiu ihm näherliegender mindestens
ein eben so großes Interesse beanspruchen dürfe, als die Ent-
zifferung der Keilschrift und der Hieroglyphen, welche gleich-
falls in dieser Zeitschrift fchon abgehandelt worden ist. —
Bevor wir nun aber von den Zeiten der Herrschaft ranischer
Fürsten über Rügen gänzlich scheiden, will ich gelegentlich
noch erwähnen, daß gegen den Schluß derselben, nämlich zu
Anfang des vierzehnten Jahrhunderts, Rügen der Sage nach
durch eine gewaltige Stnrmflnth heimgesucht sein soll, in
Folge deren die Insel damals entweder erst vom Pommer-
schen Festlande losgerissen wäre, oder doch wenigstens im
Süden von Mönchgnt einen sehr ansehnlichen Landverlust
erlitten hätte. Allein alles, was wir von der wirklichen Ge-
schichte Rügens vor jenem Zeitpunkte kennen, widerspricht
dieser Sage auf das Bestimmteste, wie ich fchon mehrfach in
anderen Schriften gezeigt habe, — am ausführlichsten in
meinen „Beiträgen zur Geognosie Mecklenburgs mit Berück-
sichtiguug der Nachbarländer" (Neubrandenburg, 1866.
S. 12l' ff.).
10 I c it lt 11 i»
Während jene Polen, welche dem russischen Scepter unter-
warfen sind, über Bedrückung schreien, erheben die Rnthenen
(Rnssniaken oder Rnssinen) in Galizien einen Schinerzensruf
über den andern, weil die Tyrannei, welche von Seiten der
Polacken ihnen auferlegt werde, geradezu unerträglich gewor-
den sei. Tie Politik des österreichischen Ministers Belcredi,
die man mild bezeichnet, wenn man sie widersinnig nennt,
hat für gut befunden, den Polen in Galizien volles Ober-
Wasser zu geben und die eine Hälfte der Landesbewohner,
welche aus Rutheueu und Deutschen besteht, der Willkür der
andern Hälfte preiszugeben.
Statthalter ist dort der Pole Goluchowski, derselbe
ungebildete Barbar, welcher vor einigen Jahren als Mi-
nister des habsbnrgischen Kaisers Franz Joseph in Wien die
dortige Akademie der Wissenschaften für eine überflüssige An-
stalt erklärte, die er, angeblich aus finanziellen Gründen,
gern aufgehoben hätte! In Oesterreich war die Regierung
Individuen wie diesen Belcredi, Goluchowski und ihresgleichen
in die Hand gegeben!
Der „Allgemeinen Zeitung" wird von der polnischen
Grenze geschrieben: „Goluchowski rottet das Deutsch-
thum in Galizien mit derselben Consequenz aus, wie die
Russen das Polenthum im Königreich Polen. Er ist jetzt
sogar schon so weit gegangen, das letzte deutsche Blatt des
Landes, die „Lemberger Zeitung", zu unterdrücken.
Er hat aus allen rutheuischeu Schulen, in denen bisher
das Deutsche obligater Unterrichtsgegenstand war, dasselbe
verbannt und dafür das polnische Idiom eingeführt. Die
rnthenische Sprache wird möglichst zurückgedrängt, weil sie
angeblich nichts weiter als ein verdorbener russischer Dialect
sei. Die dritthalb Millionen Rutheueu, welche in Galizien
und der Bukowina wohnen, sind aufs Aeußerste gereizt und
würden sich fofort den Russen in die Arme werfen,
wenn das Petersburger Eabinet entgegenkommende ofsicielle
Schritte thäte. So aber ist die Unterstützung eine verborgene
und Goluchowski nimmt davon Gelegenheit, zahlreiche
Rnthenen einsperren zulassen, unter dem Borwande, daß
sie russische Propaganda machen."
Als im jüngsten Landtage zu Lemberg die polnische Ma-
% lt f I) C n C lt.
jorität den polnischen Sprachzwang durchgesetzt und die rnthe-
nische Sprache für rechtlos erklärt hatte, indem die ruthe-
nischen Schulen fortan polonifirt werden sollen, rief ein
ruthenischer Geistlicher, der Abgeordneter ist, den übermüthi-
gen Polacken zu: „Die russische Knute über Euch!"
Die Polen haben, ihre ganze Geschichte liefert dafür
den Beweis, einen Zwang anf andere Völker geübt,
wann und wo sie irgend konnten; deshalb sind sie auch bei
alleu anderen Slaven verhaßt. Sympathie für die polnische
zügellose, sittlich wurmstichige, aller strengen Arbeit abge-
wandte, aller bürgerlichen Elemente bare Adelsdemokratie hat
kein verständiger Mensch in der Welt. Nur als politisches
Paradepferd wird dann und wann in Londoner und Pariser
Zeitungen die „edle, hochherzige, zu Boden getretene Nation"
in Scene gesetzt, wenn es eben ins System paßt. Weiter
hat es keinen Zweck, und der Hängegendarmen und der
Mordbrenner, welche z. B. in Lodz die ärgsten Greuelthaten
gegen fleißige deutsche Arbeiter verübten, wird dann nicht
erwähnt.
Diese Polacken haben die niederen Stände ihres eigenen
Volkes immer „wie Hunde" behandelt. Als in Galizien,
zur Zeit des Aufstandes der Bauern von 1846, die Edel-
leute dem Volke viel vom „polnischen Patriotismus" vor-
gaukelten, riefen die Bauern: „Wir sind keine Polen, wir
sind Masnren!"
Auf dem Slavencongresse zu Prag, 1848, wollten die
Polen vor allen das große Wort führen, erregten aber durch
ihr hochfahrendes Wesen allgemeinen Anstoß. Als die übri-
gen Slaven sich ihren Zumuthungen nicht fügen wollten,
zogen die Polen fort, schlössen sich den aristokratischen Ma-
gyaren an und fochten in Ungarn gegen ihre flavischen
Stammverwandten; viele traten auch in türkische Dienste
und bekämpften in den Reihen der Mohammedaner die fla-
vischen, christlichen Bosnier. Auf slavische Sympathien
haben sie nicht das mindeste Anrecht und deswegen stehen sie
unter den Slaven vereinsamt.
Ernst Moritz Arndt sagt in seinem Versuche verglei-
cheuder Völkergeschichte: — „Polens Geschichte heißt Leicht-
fertigkeit, Wildheit und Unordnung von Anfang bis zu Ende.
15*
1 IG Polen und
Der Pole ist ewig ein großer wilder Junge geblieben. Ja,
wäre diese Jugend noch eine unschuldige! Aber es ist der
Mann, der halbe Greis in grauen Locken mit Jugendleicht-
siun und Jugendübermnth. Der Pole ist, gleich einem alten
Renommisten auf Universitäten, leicht, schön (?), gewandt ans
dem Tanzboden, auf dem Fechtboden und bei Gelagen voran.
Aber fragst Du nach seinen Thaten, Werken und
Arbeiten, — o, schlage das Buch zu! — Warum hat
Gott solche Völker geschaffen, solche, die ewig unmündig
bleibeu? Der Pole gehört Zu der Gattung, welche die Fa-
Milien als heillose Verschwender ausrufen lassen. Er ist ein
listiger, gescheidter, abgeschliffener, durchliederlichter Unmün-
diger. Er hat fein Reich, feine Ehre, sein Gnt nicht bloß
durch Leichtsinn nnd Leichtfertigkeit verloren; nein, er hat sie
anch durch die Laster des Hochmuths, der Ungerechtigkeit, der
Untreue, des Ungehorsams und der Verrätherei verspielt. Er
hat die Beispiele von Bürgerthum, Gesetzlichkeit, Zucht und
Gehorsam bei seinen Nachbarn in Schweden und Deutsch-
land vor Augen gehabt; ihm ist nicht der Weg zur europäi-
schen Kunst und Wissenschaft gesperrt gewesen. Aber der
Leichtsinnige uud Uebermüthige hat uichts lernen wollen, nicht
einmal durch die Waffen. Uebermüthige Herren oben, elende
Sklaven unten , Juden in der Mitte zwischen Beiden, kein
Bürger in den'Städten, kein Sinn der Arbeitsamkeit, der
Sparsamkeit nnd des Fleißes. Geborgter Prunk, erlogener
Glanz, Liederlichkeit, Wildheit, Schwelgerei, Verschwendung
der Hochherzigkeit, die man für Ritterlichkeit und Freiheit
hielt! Das war Polen schon vor 300 Jahren und dabei
sollte Land und Reich bestehen?"
So äußerte sich der alte Arndt. Den Phantasten, welche
noch wähnen, daß eine „Wiederherstellung Polens^ ein Ding
der Möglichkeit sei, ist freilich nicht zu helfen. Sie vergessen,
daß die Geschichte keine Rückgänge macht und daß solch ein
Volk, das ohne alle Anlage zu einem gediegenen Bürgerthum
ist, in unserm Jahrhundert keinen Anspruch daraus hat, einen
Culturstaat zu gründen. Den Polen fehlen dazn die ethno-
logischen Vorbedingungen. Es ist ja nicht etwa Zufall, daß
ihre sogenannte Republik, d. h. ihre anarchische Adelsrepnblik,
zu Grunde ging, und daß die Weltgeschichte, von drei ver-
schiedenen Himmelsrichtungen her, mit eisernem Tritt einen
„Staat" zerstampfte, der durch seinen unbändigen Adel und
seine Pfaffen zu einer der gebildeten Welt unerträglichen Car-
ricatur geworden war.
Die polnische „Republik" war ein zusammenerobertes
Land, in welchem die polnisch redenden Menschen, also die
Polacken, höchstens ein Drittel der Bevölkerung
bildeten. Ueberall, wohin sie kamen, brachten sie, das Volk
in schmachvoller Weise unterjochend, ein Junker-und Jesuiten-
regiment. Dadurch erklärt sich auch, daß Rußland, als seine
Zeit gekommen war, mit so leichter Mühe die östlichen uud
südöstlichen Provinzen der „polnischen Republik", in welcher
lediglich die Adelsdemokratie zählte und Rechte hatte, an sich
nehmen konnte. Sie waren ohnehin altrussisches
Land. Schon 1654 unterwarfen sich die Kosacken, vom
polnischen Adel und von polnischen Jesuiten auf das Aergste
gedrückt und gepeinigt, dem russischen Czar. Vou Seite der
Polacken wollte man ihnen mit Gewalt den papistischen
Glauben aufdrängen, man schloß die Bekenner der griechi-
schen Kirche vom polnischen Senat ans, nnd erhöhete für sie
Steuern und Frohnden.
Die Ereignisse haben ihren Schatten ein volles Jahr-
hundert laug vor sich hergeworfen. Die von dem herrschen-
den Adel mißhandelten Kosacken hatten sich bei König Ladis-
laus dem Vierten in einer Klageschrift bitter beschwert, daß
man sie von Seiten der Posen so arg tyrannisire. Der
König legte beim polnischen Reichstag (dem Adel) ein Für-
Ruthenen.
wort ein, aber die Junkerdemokratie erklärte ihm, der Reichs-
tag habe mit großem Mißvergnügen bemerkt, daß
er sich der Schismatiker annehme! Das verdroß den
König und er forderte, implicite, die Kosacken ans, das schwach-
volle Joch der Polacken abzuwerfen. Er schrieb au den
Hetman:
'„Ihr habt Waffen, Flinten'nnd Säbel, um
Eure Freiheit zu vertheidigen. Auf diese rechnet, aber
keineswegs auf mich, denn ich vermag zn Euren Gunsten
nichts!"
So war die polnische Wirtschaft. Zwei Drittel von
Polen waren unterjochte Völker, und anch in dem übrigen
Drittel waren die Bauern Sklaven. Was man Polen nennt,
bestand officiell aus 150,000 Adelsfamilien, von denen neun
Zehntel mehr oder weniger bettelhaft und bestechlich, alle aber
durchaus uuwirthschaftlich waren.
Im neunzehnten Jahrhundert legen wir, wie billig, einen
großen Werth auf Wirthschaftlichkeit und bürgerliche
Ehrbarkeit; wir finden in diesen die Stützen für ein Cul-
tnrleben, nicht aber in einem outrirten uud unduldsamen
Katholicismns. Wir lieben das Jnconseqnente, Leichtfertige,
Turbulente, das verschwenderische, eitle Wesen und einen
PseudoPatriotismus nicht, der im Hängegendarmenthnm und
im Deutschenhaß eine Art von Glorie sucht, der nicht red-
lich, anhaltend, rechtschaffen arbeiten, der nicht bürgerlich
werden will, und der, obwohl selber in kläglicher Lage, doch
frech uud wahnwitzig und übermüthig genug ist, andere Na-
tionalitäten zu tyrannisiren.
„Die Knute über Euch!" rief, wie bemerkt, 1866 ein
ruthenischer Geistlicher im galizischen Landtage zu Lemberg.
Jeder Geschichtsknndige weiß, daß namentlich die Ruthenen
unter dem Drucke der polnischen Adelsdemokratie, unter Leu-
ten vom Schlage der Golnchowski und Sapieha eine schwere
Leidensgeschichte durchlebt haben. Man wollte sie, vermittelst
der Jesuiten, zur römischen Kirche hinüberzwingen und brachte
es im Fortgange der Zeit wenigstens dahin, daß man sie
„unkte".
Der Rnthene hat von jeher gegen die Polacken eine
tiese Abneigung gehabt und sie ist wohl begründet. West-
galizien hat zumeist polnisch redende, Ostgalizien ruthenische
Bewohner. Die Ruthenen zählen im österreichischen Kaiser-
staate gegen 3 Millionen Seelen, von denen reichlich 2 Mil-
lionen auf Galizien kommen. Sie gehören zn dem großen
Volksstamme der sogenannten Kleinrusseu (Russinen, Rnssnia-
ken), welche zusammen genommen mehr als 13,000,000
Köpfe zählen, während die Gesammtzahl aller Polacken auch
heute nicht mehr als höchstens 3Millionen Seelen beträgt.
Als 1833 und dann wieder 1848 die Polen sich an die
Ruthenen wandten, um deren Hülfe bei ihrer Revolution sich
zu versichern, erhielten sie die drastische und wohlverdiente
Antwort: „Ihr habt uns nie wie Brüder behandelt,
fondern wie Knechte. Ihr selber seid nicht ein Volk
gewesen, sondern die Mitglieder Eures unruhigen Adels haben
sich, und immer nur sich allem, als das Volk betrachtet."
Und heute treiben die Polacken in Galizien wieder dasselbe
frevelhafte Spiel, und eine imbecile Regierung läßt sie ge-
währen, leistet ihnen Vorschub. Das galizische Vene-
tien ist in die Erscheinung getreten. So hat es die Wiener-
Weisheit gewollt. Schon im Oetober 1866 haben die von
den Polen gepeinigten Ruthenen erklärt, daß sie Russen
seien. Ethnologisch ist das auch ganz richtig.
Die Polacken in Warschau und Lublin beklagen sich, daß
die russische Regierung ihren demonstrirenden Frauen das
Tragen schwarz und rother Unterröcke verbiete und daß ihre
Kinder in den Schulen Russisch lernen müssen. In Lemberg
decretiren die galizischen Polacken auf dem Landtage, und die
Der 10. Februar
österreichische Regierung gestattet, daß die ruthemschen Kinder
in den Schulen nicht mehr in rutheuischer Sprache unter-
richtet werden dürfen und sie lastet ihnen polnischen Sprach-
zwang ans! Und diese Polackeu haben die Dreistigkeit, von
Europa Sympathie für ihre „unterdrückte Nationalität" zu
verlangen!!
Wir legen hier geringen Werth darauf, daß sie uns
Deutsche ingrimmig hassen. Der Träge hat eine instinct-
mäßige Abneigung gegen den Fleißigen, der Verschwender
mag den Sparsamen nicht, an welchen sein Gut und seine
Habe übergeht. Wir wollen hier nur, um zu zeigen, wie die
Polen gegen „slavische Brüder" verfahren, die Erklärung
mittheilen, welche von Seiten der ruthenischen Bevoll-
mächtigten 1848 auf dem Prager Slavencougreß
abgegeben wurde. Durch sie erläutern sich die heutigen Zu-
stände in Galizien.
„Die Polen haben auf uns kein Anrecht. Zwi-
schen uns und ihnen liegt eine Klust, liegt ein tie-
fer Abgrund, welchen keine Zeit ausfüllen kann.
Sie haben nur dort auf Sympathien zn rechnen, wo man
ihre Sprache redet. Sie lieben allerdings ihr Vaterland
und opfern sich für dasselbe, aber sie können keinen
andern neben sich leiden. Liebe polnischen Nachbarn!
Wundert Ench doch ja nicht, daß wir Ruthenen Galiziens
nicht mit Euch sympathisireu. Wenn wir aus deu Er-
sahrungeu, welche wir gemacht, Nutzen ziehen und uns aus
der Vergangenheit für die Gegenwart eine Lehre nehmen,
1806 in Kairo. 117
dann schlagt an Eure Brust, die Schuld liegt au
Euch! Jedes Wort von Gleichheit, das aus Eurem
Munde kommt, ist eine Lüge. Noch gauz vor Kurzem
habt Ihr Ench höchst wegwerfend über die rutheuische Na-
tionalität geäußert, und doch zählt Galizien einige Millionen
Ruthenen, welche von den Polen durch Sprache, Sitten und
Religion völlig verschieden sind."
Damals war der polnische Adel in Galizien revolutionär
und antiösterreichisch, wahrend die Ruthenen treu zum Kaiser
hielte». Jetzt kokettirt der polnische Adel mit österreichischer
Loyalität und mißhandelt die Ruthenen, die ihm von der
scharfsinnigen Wiener Cabiuetspolitik überantwortet worden
sind. Was Wunder, wenn diese tyrannisirten Ruthenen den
Polen zurufen: „Die Knute über Euch!" Und was
Wunder, wenn sie sich der Stammverwandtschaft mit den
Russen erinnern und dem Wiener Cabinet erklären: „Wir
sind Russen!"
Die Nemesis bleibt nicht aus; das östliche Veuetien ist
fertig; Europa hat ein „Schmerzenskind" mehr, und die
Völkerpsychologie ist um ein neues Capitel reicher*). A»
*) Die flanschen Verhältnisse sind von mir 1859 in der zu
Leipzig anonym erschienenen Schrift: „Die westslawischen Völker,
ihre Stellung in Europa und ihre Bestrebungen" (Lorck's Zeitheste,
Nr. 9) eingehend erörtert worden. Die Schrift entstand in Folge
von Debatten mit einem der hervorragenden Männer unter den Ultra-
tschechen. Ich habe keinen Grund, die Autorschaft zu verleugnen.
A.
Der 10. Isebrua
Am Morgen des 10. Februar 1866 machten wir einen
vergeblichen Gang nach dem, wie man uns sagte, trotz des
öffentlichen Verbotes noch immer bestehenden Sklavenmarkte.
Ein einäugiger Geselle mit schmutzigem Turban uud duuke-
lem, fleckigem Kaftan führte uns durch die belebten, budcn-
reichen Straßen in einen Thorweg, welcher von neugierig
gaffenden Moslems belagert war. Einige traten an unfern
Führer heran, wechselten einige arabische Worte mit ihm,
worauf er uns bedeutete, es sei heute nichts zn machen; ein
Pascha sei gekommen, die kurz erst zu Schiff ans Abyssinien
angelangten Sklaven und Sklavinnen zu sehen und die Blüthe
derselben sich auszulesen.
So zogen wir also uuverrichteter Sache noch eine Weile
im Bazar umher, sahen in die kleinen Budenräume, iu wel-
chen die Besitzer derselben neben den aufgestapelten Waaren
kauerten, theils ihre Waaren musternd, theils betend, wobei
sie den Kops taetmäßig hin- uud herbewegten und das Gebet
aus de:n Buche ablasen, theils rauchend oder Kassee eiu-
schlürfend, theils aber auch mit prüfendem Blick die vorüber-
gehenden Franken betrachtend und dieselben abschätzend, um
wie viel sie wohl die „Giaurs" (der Schimpfname für den
Christen) vorkommenden Falls betrügen könnten, ohne sich
ihr Gewissen zu sehr zu beschweren. Auch auf der dicht-
gedrängten Straße wurde gehandelt uud Börse gehalten. Da
pries der Eine seine Seidengewänder, ein Anderer hielt trium-
phirend Waffen aus Damaskus mit goldglänzenden Einlagen
vor die Augen der erstaunten Europäer; dort zankten sich
Einige um dichtwolkige Ambraspitzen (Bernstein), die Zierde
des Tschibuks und das Charakteristicum häuslichen Wohl-
staudcs. In den Auslagen der Bilden sahen wir reichgestickte
Goldschuhe; eine kleine Araberin, dicht verschleiert, niit kohl-
1866 in Kairo.
schwarzen Augen unter der weißen Hülle, stellte eben Versuche
au, ob sie au den zierlichen Fuß paßten; faltenreiche, seidene
Gewänder umhüllten die zarten Körperformen der jungen
Dame.
Hier lag in Fächern Liunen geschichtet, dort sah man
zahlreiche Cofias zum Schutze von Kopf und Haar; hier
Rosenkränze aus Glasschmelz, andere aus wohlriechendem
Sandelholz.
Dort in des Hauses offenem, bndenumzogenem Hofraume
sieht man zahlreiche Teppiche, groß und klein, reich an Far-
benpracht uud anmuthiger Zeichnung, Erzeugnisse des persi-
schen Reichs und der Smyrnoten. Dabei saßen Tschibuk
schmauchend die Kaufleute iu ihren seidenen Kaftans, das
weiße Tuch um den rothen Tarbusch zum Turban geschlungen;
andere kauerten mit untergeschlagenen Beinen im engen, dicht-
erfüllten Budenraum uud berechneten auf einem in der linken
Hand gehaltenen Stück Papier ihr „Soll und Haben". Die
Rechte führt eine braune Rohrfeder; im Gürtel steckt das
Messingtintenfaß, mit welchem das Federrohr verbunden ist;
einem Streit Hamm er gleich blickt es keck aus den Falten der
Umgürtuug. Hier hat eiu Blechner seinen Laden aufgeschla-
gen; an der Decke hängt eine Menge der Fannß, d.h. Lam-
penlaternen, welche hier Jeder, den eine späte Stunde auf
die Straße lockt, tragen muß, da Gasbeleuchtung, ja über-
Haupt nur eine öffentliche Beleuchtung, in der Stadt fehlt *).
Außerdem hat er die beschriebenen Tintenzeuge, arabische
Kaffeemühlen uud Kaffeekannen, das sogenannte „Könneke",
*) Gegenwärtig, 1867, ist man damit beschäftigt, zunächst sür
die Hauptstraße, Muski, Gas einzuführen, das in Alerandria schon seit
1864 brennt. Der Vicekönig hat zn Kairo in seinem Palast am
Nil gleichfalls schon seit einiger Zeit Gasbeleuchtung. A.
118 Der 10. Februar
in allen Größen; sie sind von Messing, im Innern ver-
zinnt und haben einen langen Stiel. Dort werden Güllen,
d. h. Wasserflaschen, und rothe Pseiseuköpfe verkaust und so
geht es weiter. Bude an Bude, bis alle Bedürfnisse des Le-
Kens im Bazar ihre Vertretung und Befriedigung gefunden.
Eine Hauptrolle spielen natürlich auch die Tabacksmagaziue;
denn den Taback, den geliebten Tschibuk, die Cigaretta oder
das Nargileh kann der Orientale noch weniger entbehren als
Speise und Trank.
Es ist ein ungeheures Tosen und Treiben auf beut Ba-
zar, uud es befängt dies Gewühl, dies Gezänk, GeHandel
und GePreise die Sinne des nüchternen Europäers.
Auch wir wandten uns von dem Lärmen, aus der sinn-
verrückenden, bunten Welt des orientalischen Handelslebens
wieder heraus, am Bazar an auf der Straße arbeitenden
und hämmernden Kupferschmieden vorüber in die „Muski",
d. h. „ueue Straße", in welcher die oft mit 2000 Thalern
bezahlten Läden der Europäer dicht neben einander sich hin-
ziehen.
Diese, die breiteste und gewissermaßen die Hauptstraße
Kairos, uneben und, wie alle Straßen der Stadt, nicht ge-
pflastert, ist theilweise mit schattenbereitenden Brettern und
aus Palmzweigen geflochtenen Matten überdeckt. Man wird
die Mnski jetzt bedeutend verlängern und hat zn diesem Zweck
ein großes Quartier durchbrochen; sehr malerisch sieht diese
Trümmerstraße aus, welche in die zerstörten ägyptischen
Hänser einen Einblick gewährt.
Auch auf der Muski ist Leben die Fülle; Reiter zu
Pferde und zu Esel, letztere mit ihren Treibern, Carossen
mit dem stockbewasfneten und lustig gekleideten „Seis",
welcher vorherspringt, um schreiend und schlagend Platz zn
bereiten, dazwischen Kameelzüge mit nugeheueru Baumwollen-
ballen oder langen Balken beladen, außerdem die zahlreichen
Fußgänger und Fußgäugeriuueu der verschiedensten Art, Alles
das drängt sich und schiebt sich an einander vorbei, hält sich
gegenseitig auf und gelangt endlich, mitunter nicht ohne kräf-
tigen Fluch, Stock- oder Peitschenhieb, zu seinem Ziele.
Hier schreit ein KastanienhLndler, dort ein Brotverkäufer;
hier ist am Spieß gebratenes Hammelfleisch auf der Straße
feil, dort Zuckerwerk, da die Früchte der Banane nnd der
Dattelpalme. Am Boden kauern blaugewandete Fellahinen,
goldbehängt; sie haben riesige Körbe voll prächtiger Apfel-
sinen vor sich stehen. Andere Weiber ziehen mit der Wasser-
gefüllten Amphora, welche sie frei auf dem Kopfe tragen,
durch die Straßen; dort trägt eine ein kleines Kind nach
der hier allgemeinen Sitte rittlings auf der Schulter. Wci-
ber aus den höheren Schichten, vielleicht Bewohnerinnen ir-
gend eines Harems, watscheln unsicheru Ganges wie Enten
durch die Straßen.
Großentheils besteht ihre Tracht aus einem langen und
faltenreichen, aber unförmlich die Körperformen bedeckenden
Seidengewande von bunter, schreiender Farbe; rosa, tiefroth,
gelb, orange, grün, blau oder kaffeebraun. Ein langer weißer
Schleier, welcher nur die dunkeleu Augen mit den geschmück-
ten Brauen und Wimpern frei läßt, überzieht die Forme»
des Gesichts. Ein schwarzer über den Kopf genommener
Seidenüberwurf fällt, vom Winde aufgebläht, über dcu
Rücken. Gelbe oder rothe Pantoffeln dienen als Fußbeklei-
duug, scheinen aber stets zu eng zu seiu.
Die gemeinen Frauen, die Fellahinen, gehen meist bar-
fuß und nchit verschleiert; sie tragen ihr einfaches blaues
Gewand, wie die Männer den braunen Burnus.
Das Kinn haben sie tätowirt mit blauen Streifen, welche
einem Barte ähneln; anf der Stirn einen blauen Stern;
auch die Arme tragen blaneingeätzte Verzierungen. Die Fin-
gernägel sind mit „Henna" roth gefärbt. Die Ohren zieren
1866 in Kairo.
schaufelartige Goldgehänge, eine Kette von Münzen umgiebt
den Hals, offene Silberspangen sind am Handgelenk ein-
geklemmt, schwere Silberringe tragen sie an den Fingern.
Mitunter sieht man auch Silberspangen an den nackten Knö-
cheln der Füße und manchmal trägt eine braune Schöne
einen goldenen oder silbernen Ring in einem der Nasenflügel.
Zum Frühstück kehrten wir zurück nach unserer Wohnung
vor der Stadt bei den grünen Anlagen des Esbekieh-Platzes,
den von Myrthengängen durchzogenen Sykomoren- und Aka-
zienalleen mit ihrem Schatten und mit ihren Wiesen neben
Schutt und Flugsand.
*
-i- *
Nachmittags gegen drei Uhr holte uns iu goldglänzender
Uniform der preußische Consnl Dr. Brugsch ab, um mit
uns nach Schubra zn fahren, zu Halim Pascha, dem Oheim
des regierenden Vicekönigs Jsmael Pascha.
Wir fuhren unter Leitung des besternten Consnls aus der
Stadt in die von Akazien und mächtigen Sykomoren gebildete
Schnbra-Allee, vorbei an den Lehmhütte» der Vorstadt, bei
welchen ein buntes Volksgewirr toste, vorbei an reich geschmück-
ten Häusern, vorbei an dicht vergitterten manernmzogenen
Harems und einem Schloß des Vicekönigs Käser el Nuß
(— denr Absteigequartier der fremden europäischen Prinzen —),
reich aber geschmacklos. Weiterhin wurde der Weg uneben,
die Umgebung eintönig; später fuhren wir dicht am gelb-
fluthenden, breiten Nil, sahen die Segelstangen emportauchen,
die Möveu hin und wieder fliegen und erblickten in duftiger
Ferne jenseits der Ufer, von Palmhainen theils verdeckt, die
Pyramiden von Gizeh.
Nach etwa einer halben Stunde hatten wir das Dorf
Schubra erreicht, die Besitzung des Pascha, und fuhren durch
ein reich ornamentirtes maurisches Portal in die herrlich an-
gelegten Gärten, welche in den ersten Januartagen in üppi-
gem Grün prangten, aus dem die goldenen Orangen leuch-
tend hervorblickten.
Vor der Treppe des Palastes hielt der Wagen; ein Lakei
öffnete den Schlag; wir stiegen aus und schritten empor,
voran Fürst und Consnl, in zweiter Reihe Hauptmann und
Architekt.
Durch eine von grünenden Schlingpflanzen umsponnene
offene Vorhalle geleitete man uns in den Empfangsalon, in
dessen Mitte sich eine Glasfontaine in dem sie umgebenden
Bassin spiegelte. Ringsum standen Divans an den Wän-
den, mit reichem, orientalischem Goldstoff überzogen. Von
gelbwolkigem, orientalischem Alabaster erglänzte der Boden;
lichtreiche Kronleuchter hingen von der Decke des in enro-
päisch - orientalischen Mischmaschformen behandelten Saales.
Hier erwarteten wir den Pascha. In kurzer Zeit trat
er ein, ein junger Mann, etwa 35 Jahre alt, mit nicht sehr
starkem Bart, tieser Hautfarbe und elegantem, im Gegensatze
zu den sonst gesehenen Orientalen, raschem Wesen. Natür-
lich völlig europäisch gekleidet, nur auf dem Haupte den na-
tionalen Tarbusch.
Er begrüßte uns sehr freundlich in französischer Sprache;
wir nahmen Platz auf den golddurchwirkten Divans. Ein
kleiner Hund sprang, sobald der Pascha sich niedergelassen
hatte, zu ihm empor, schmeichelte ihm und er barg ihn lächelnd
und streichelnd sogleich unter seinem Rock.
Dies zeugt von den freien Ansichten und der Religions-
emancipation des Pascha; denn bent Orientalen ist der Hund
ein unreines Thier, und die Berührung mit einem solchen
befleckt ihn, so daß er sogleich die vorgeschriebenen Waschungen
vornehmen muß*).
*) Gleichwohl tobtet der Orientale keinen der wilden Hunde, die
in Mengen Städte und Dörfer bevölkern, in welchen sie in bestimm-
Der 10. Februc
Die Unterhaltung begann und erstreckte sich namentlich
Uber Landwirtschaft, ein Feld, in welchem der Pascha sehr
viel erstrebt.
Er führt, namentlich aus England, Maschinen ein, welche
ihm die Aecker seiner zahlreichen Besitzungen eggen, pflügen,
welche die Saat aussäen. Andere Maschinen dienen zum
Dreschen, zum Reinigen der Frucht. Ueberhaupt, was irgend
brauchbar ist für ägyptische Verhältnisse von neuen Maschi-
nen, neuen Erfindungen, das wird bei Halim nicht fehlen.
Als Triebkraft werden Locomobilen in Anwendung gebracht.
Auch besitzt er Dampfpflüge, die sich bewähren.
Ueberhaupt ist Halim Pascha sehr aufgeweckt, versteht
seine Zeit und verträumt seine Tage nicht wie die meisten
Orientalen in erschlaffendem Nichtsthun, und sollte er zur
Regierung und iu den Besitz des reichen Nilthales gelangen,
so wird er vermöge der durchaus rationellen Behandlung
und Bearbeitung dem fruchtbaren Lande noch weit mehr
Schätze entlocken, als bisher aus demselben geschöpft wurden.
Auch in Oberägypten legt er anf seinen Gütern Zucker-
fabriken an, und feine Thätigkeit krönt der Erfolg.
Indessen hat ihm erst kürzlich, ob aus Neid, ob aus
irgend einem andern Grunde, der Vicekönig, niit welchem er
in Feindschaft lebt, einen Theil seiner Besitzungen entrissen,
und Halim vermag gegen solche Gewaltthal nichts zu thun.
Bor dem Portal des Gartens sahen wir eine Menge
eiserner Maschinentheile liegen, welche, wahrscheinlich erst ans
dem Occident angekommen, ihrer Vereinigung zu einem brauch-
bareu Ganzen harren.
Halim ist der jüngste Sohn des Gründers der ägyptischen
Dynastie, Mohammed Ali's. Er ist der zweite Prätendent
zur Regierung nach Jsmael Pascha. Vor ihm kommt dessen
Bruder Mustapha Pascha, welcher in der Gegend des alten
Heliopolis und in Oberägypten Besitzungen hat*); Musta-
ten Vierteln leben und Hausen und keinen Hund aus» einem andern
Viertel aufkommen lassen in ihrer Mitte.
Denn da der Orientale trotz der vielen vorgeschriebenen Wa-
schungen doch und besonders im Haus und auf der Straße der Un-
reinlichkeit, dem Schutt, Staub und Kehricht, dem überall verwesen-
den Aase und dergl. nirgend Einhalt thut, so sind die Hunde sehr
nützlich; sie üben, da Niemand sie nährt und füttert, eine Art
Straßenpolizei; sie fressen eine Menge des auf die Straße geworfenen
Unraths, belagern die gefallenen zu Aas verwesenden Thiere vor den
Thoren der Stadt uud vertilgen auf diese Weise eine Fülle von Stof-
fen, deren Ausdünstungen sonst leicht verheerende Epidemien hervor-
rufen könnten.
*) Bei Erment (dem alten Hermonthis) oberhalb Theben in
Oberägypten besitzt Mustapha eine immens große Zuckerfabrik. Es
ist ein langgestrecktes, steinerbautes Gebäude, mit einem leichten Po-
loneeau-Dachstuhl und mit Wettenblech gedeckt; ein einziger Raum;
vorne befinden sich in demselben i?ie gewaltigen Stahlwalzen, drei an
der Zahl, welche das Zuckerrohr zermalmen; eine sehr massive,
mächtige Dampfmaschine ist die treibende Kraft. Dann folgen, auf
einem höher errichteten Boden stehend, die drei verschiedenen großen
Kessel, in welche der ausgepreßte Saft hinaufgepumpt, wo er geläu-
tert, mehr und mehr gedichtet und endlich fast krystallisirt wird; an
den Kesseln angebrachte und mit Glasscheiben verschlossene Oessnungen
lassen den Verlauf dieser Vorgänge beobachten.
Dann kommt der letzte Theil des Raumes, woselbst der kry-
stallinische Zuckerbrei in eiserne, muldenartige Gefäße geschöpft wird
zum Zweck der Abkühlung uud völligen Verdichtung.
Hunderte von wohlgehaltenen Kameelen schleppen von den Fel-
dern die Lasten des Zuckerrohrs den ganzen Tag über herbei; im
großen Hof wird das Rohr in gewaltige Haufen' aufgeschichtet, uud
eine Menge halbnackter, bronzefarbiger Aegypter schiebt es hastig zwi-
schen die Walzen, wo es geräuschvoll zermalmt wird.
Wir kamen am Abende des 21. Februar 1866 nach Erment
und sahen gerade die Züge belasteter Kameele von den Feldern kommen.
Aus den beiden Seiten des Rückens tragen sie die Rohrbüudel; bei
jedem Kamee! geht sein Führer, welcher es beladet.
In kurzer Zeit waren die Thiere entlastet und kehrten zurück,
um von Neuem die Arbeit zu beginnen. Jetzt saßen die Führer
hoch oben auf dem Tragsattel; mit leichtem Stock, womit sie auf
den Hals der Kameele stachen, trieben sie die Thiere an.
1866 in Kairo. . 119
pha lebt aber aus Äugst vor brüderlichem oder verwandt-
schaftlichem Gift beinahe stets im Auslande, gewöhnlich in
Konstantinopel oder Paris*).
Wir waren kurze Zeit in der Unterhaltung begriffen, die
sich inzwischen von der Landwirthfchaft auch auf Jagd und
andere Dinge verbreitet hatte, als eben so viele Diener eintra-
ten, wie Personen sich im Saale befanden. Es nahete der
landesübliche Tfchibnk.
Jeder Diener trug eine solche langstielige Pfeife schon
brennend — denn anders als bereits angezündet nimmt der
Orientale nie eine Pfeife entgegen — vor sich in der Rech-
ten, die Linke hatte jeder nnterthänigst auf den Magen gelegt.
Nun ward zunächst nnferm Fürsten mit einer vortrefflich
vollführten Wendung der Tfchibnk geboten, dann dem Eon-
ful, dem Hauptmann und mir.
Der Pascha ließ sich eine ganz kurze Pfeife reichen, wir
dagegen erhielten die Prachtpfeifcn.
So bestand z. B. der Tfchibuk des Fürsten aus einer
ungefähr 6 bis 7 Fuß langen Jasminröhre, welche mit Email
verziert und reich mit Goldfaden überfponnen war. Der be-
sondere Werth aber lag in der großen, dichtwolkigen Ambra-
spitze, welche in der Mitte ein Kranz großer Brillanten um-
gab. Je wolkiger und dichter, desto kostbarer ist der Bern-
stein für den Orientalen, und es werden für diese in Kon-
stantinopel gearbeiteten Spitzen, deren Stoff das nördliche
Deutschland, größtentheils Danzig, dem Süden liefert, uuge-
heure Preise bezahlt, welche sich bis zu 100 englischen Pfnn-
den und mehr steigern. Mit dem Schmucke kostbarer Steine
erhebt sich der Preis natürlich ins Unglaubliche.
In lustigem Paß ging die ganze lange Procession vorwärts;
bald verwandelte sich derselbe in rasche Earriere und wir sahen mit
erstaunten Augen diese Kameelreiterei über die Felder dahingalopiren,
in der That ein merkwürdiger Anblick; zumal für uns, da man uns
überall gesagt hatte, „die Kameele gehen nur im Schritt." Aller-
dings, dies ist eine volle Wahrheit, sobald die Thiere belastet sind,
dann schleichen sie ordentlich melancholisch daher, den langen Hals
und fccn Kopf gesenkt.
Frei, nur einen leichten Reiter auf dem Höcker tragend, eilten
sie aber munter über die leeren Felder.
Ebenso hatte man uns gesagt, die Kameele ruheten nie anders,
als daß sie sich auf die Kniegelenke, den Bauch und die entsprechen-
den Gelenke der Hinterbeine niederließen, was sie allerdings ebenfalls
thun im Zustande der Belastung. Aber wir hatten späterhin zu
Esneh (dem alten Latopolis) in Oberägypten Gelegenheit, junge und
alte Kameele zu sehen, welche gemüthlich auf der Seite liegend des
Schlafes in der lieben Sonne sich erfreuten. Und so hatten wir
denn in diesen beiden Fällen wieder einmal, wie schon öfter, die
Erfahrung gemacht, wie gut es ist — namentlich im fabelreichen
Orient — die Augen selbst aufzuthun uud die Mittheilungen Anderer
nur mit Vorsicht und nach eigener Ueberzeugung aufzunehmen.
Die Zuckerfabrik Mustapha's besuchten wir spat am Abend und
trafen Alles reichlich mit Gas erleuchtet, während Kairo, die Residenz,
weder Oel- noch Gaslicht besitzt. Die Araber, welche nicht gerade
an der Arbeit waren, lagen ans dem Boden des großen Saales schla-
send umher; gänzlich verhüllt in ihre braunen Burnusse, einem
Haufen elender Lumpen gleichend und so zusammengerollt, daß auch
nicht eine einzige Körperform sichtbar ward. Unregsam, trotz des
Maschinenlärms und des eiligen Verkehrs und Durcheinanderrennens
der Arbeiter. Es war ein höchst überraschender Eindruck, auf einmal
mitten im Lande der armen Fellahs diese großartige, im europäischen
Stil errichtete Anstalt mit ihrer eigenen Gasfabrik anzutreffen und
wir verließen sie sehr befriedigt. (— Es mag beigefügt werden, daß
Ismail Pafcha, der regierende Vicekönig, diese Zuckerfabrik angekauft;
er hat überhaupt alle Besitzungen der übrigen Glieder seiner Familie
erworben, indem er diese Verwandten durch beträchtliche Absindnngs-
summen entschädigte. — A.)
*) Er spielt in der türkischen Hauptstadt eben jetzt eine große
Rolle als einer der Führer der jungtürkischen Partei, welche darauf
hinarbeitet, dem osmanischen Reiche eine Art von Constitution zu
verschaffen. Vor etwa einem Jahre wurde dieser Mustapha Fazyl
Pascha solcher Bestrebungen halber vom Sultan aus Stambul fort
und auf Reisen geschickt, gegenwärtig scheint er aber wieder Einfluß
gewonnen zu haben. A-
120 ' Der 10. Februar
Auch unsere Tschibuks waren reich verziert und hatten
Ambraspitzen mit Diamantringen.
Tschibuks sind ein nothwendiges Erforderniß für einen
geordneten und behäbigen orientalischen Hansstand. Denn
alte Sitte gebietet, solchen dem Gastfreunde zu reichen, und
je reicher der Tschibnk, desto besser und imponirender muß
der Eindruck sein, welchen der Gast vom Wohlstande des
Hauses empfängt.
Doch nicht nur die breunende Pfeife, aus welcher auch
der Nichtraucher des Anstaudes halber einige Züge thnn muß,
heischt die Sitte; auch der Kaffee darf nicht fehlen. Auch
bei Halim Pascha trat jetzt wieder der schwarzgekleidete Die-
nerschwarm herein.
Der eine trug in silbernen Ketten hängend ein zierliches
Kohlenbecken von demselben Metall; in der Glnth stand die
Kaffeekanne mit der kennten Labung. Ein anderer hatte
eine runde Silberplatte aus der Rechten, von welcher eindrit-
ter einen blauen, reich mit Gold gestickten Sammetüberwurs
entfernte, und nun zeigten sich zierlich kleine Porzellantassen
ohne Henkel und goldene Untertassen, Eierbechern nicht nn-
ähulich, auf der Platte aufgestellt.
Nun wurde die Kanne den Kohlen enthoben, der Kaffee
in die Porzellanschalen gegossen und diese in die goldenen
Untertassen gesetzt, damit man die heiße Obertasse halten
könne. Darauf reichte die Dienerschaar dieselben dem Range
nach mit der dem Orientalen bei derBeweguug eigenen Wurde
umher; daß dabei die Linke auf dem Magen lag, brauche ich
nicht zu erwähnen. Der Hauptmauu und ich konnten uns
beim Pathos der Kasfeereichungsceremonie, die wir nun schon
so oft durchgemacht, des Lachens nicht erwehren; es geht da-
bei Alles so steif, so reliefartig zu, wie auf den altägyptifchen
Darstellungen.
Jndcß der Kaffee war gut und echt arabisch zubereitet;
im Grunde der Tasse blieb der Rückstand des feingemahlenen
Pulvers, welchen die Orientalen zum Thcil mitgenießen.
Bedächtig schlürfte mau den heißen Trank; die Diener
lauerten auf das Fertigwerden, stürzlen, sobald Jemand die
Tasse abgesetzt, rasch herbei, und mit flachen Händen oben
und unten zusammeuklappend uahmen sie den Gästen die
Tassen ab.
Nachkur die Unterhaltung noch eine kurze Weile geführt
war, begleitete der Pascha den Fürsten bis zur Treppe und
entließ uns sehr freundlich.
Wir wandelten noch ein wenig durch den grünen Garten
und besahen dann das in demselben erbaute große Marmor-
und Alabasterbad Said Pascha's, des Vorgängers des jetzt
regierenden Vicekönigs Jsmael Pascha.
Durch eine von Säulen aus orientalischem Alabaster
getragene Vorhalle tritt man in die ebensalls von solchen
Säuleu gestützten Hallen, welche das große im Geviertraum
sich ausdehnende Bassin umgeben. Ueber dem letzten: lächelt
der ewig blaue Himmel Aegyptens. Ans den abgestumpften
Ecken des Bassins sprudeln löwenartige Alabasterungeheuer
ihre Wasserstrahlen in dasselbe. In den Ecken, hinter der
ringsumgebenden Halle, befinden sich reichgeschmückte mit
weichen Seidendivaus ausgestellte Salons,
Hier verbrachte der lüsterne Said manche Stuude seiueS
thatenlosen Lebens. Er selbst, dick und unbeholfen, segelte
im Kahn auf dem Bassin und erfreute sich am Spiel seiner
vielen Odalisken, welche im Wasser, aller Hüllen entledigt,
um ihn herum waren und mit ihm kosten.
Um ähnliches Vergnügen anch bei Fahrten auf dem Nil
sich bereiten zu können, besaß er ein jetzt dem Zerfall entge-
gengehendes schwimmendes Bad von Eisen construirt, worin
ebenfalls seine Frauen und Sklavinnen zu seiner Belustigung
sich baden mußten.
1866 in Kairo.
Das Badeschisf ward seinem Niidampfer augehängt, und
so konnte er jeden Augenblick seinen Wünschen Genüge lei-
sten. Jetzt steht das Schiff, seines Schmuckes, seiner reichen
Draperien beraubt, auf der Werfte des Arsenals zu Bulak
und erinnert au die ZeitSaid's, der ein Narr und ein will-
kührlicher Despot genannt wird *).
Nachdem wir das Bad, dessen Umfassungen und Boden-
belag gleich den Säulen aus orientalischemAlabaster bestehen,
betrachtet, uns aber durch den Stil uud die ganze Anlage,
welche mehr Pracht als Schönheit zur Schau bringt, nicht
sonderlich ergötzt fanden, bestiegen wir wieder unfern Wagen.
Doch hielt man uns noch auf, reichte dem Fürsten einen
Strauß blühender, duftender Rosen und außerdem auf Blät-
tern zierlich geschichtet die herrlichen Jnfsusf-Effendi- (d. i.
Herr Josef) oder Mandarinen-Orangen. Sie haben einen
harzigen Geruch, die Schale löst sich viel leichter als bei den
anderen Orangen, uud die Frucht ist saftig uud vou besou-
ders seineni und würzigem Geschmack.
Nie, außer verkümmert in Rom, habe ich diese Frucht
in Europa gesehen, auch im ganzen Orient nirgends; sie
scheint nur im Lande des heiligen Stromes zu gedeihen **).
Endlich traten wir die Rückkehr an, fuhren wieder durch
die Lehmhütten vouSchubra, dann durch die fchattigeSchubra-
Allee mit ihren herrlichen Bänmen und verzehrten während
der Heimfahrt die saftigen, erquickenden Goldfrüchte.
In der Vorstadt herrschte noch dasselbe rege Lebeu; hier
hatte ein Zauberer und Schlangenbändiger, der unter Ver-
drehungen und schrecklichem Gesang die Giftschlangen vor-
wies, welchen er zuvor die Zähne ausgebrochen, eine Menge
verschiedenartigen Volkes um sich versammelt, und durch den
Schall der Tarabuka, welche er von Zeit zu Zeit anschlug,
lockte er noch mehr in seine staunenerregende Nähe. Dort
saß ein blinder Bettler am Wege und erbat sich singend einen
Bakschisch. Hier hält eine Gruppe der blaugekleideten Fel-
lahinweiber Orangen feil und kaut dabei gierig an den süßen
Stengeln des Zuckerrohrs. Kinder, schmutzig und vermach-
lässigt, zum Theil in sehr ursprünglicher Kleidung, balgen
sich bei ihnen im Staub. Da wird geschachert, und wegen
einiger Piaster ein langwieriger Streit begonnen. Dort aber
ist ein Bild der Ruhe, ein Caf«, dessen Gäste rauchend und
schlürfend dem Getriebe mit orientalischem, vielgerühmtem
Phlegma zusehen; sie lockt der Schlangenbändiger nicht, sie
wollen sich ihren „Kief", das irdische Paradies, nicht stören
lassen. Dort eilen europäische Kaufleute, den einheimischen
Tarbusch tragend, durch das Volksgewimmel, emsig mit ein-
ander die Geschäfte besprechend; ob es lautere sind, das steht
dahin. Denn der handeltreibende Europäer im Orient ist nicht
immer ein Mann von reinem Wasser, nnd es bezeugen dies
auch die Mittheilungen der Consuln. Großentheils treibt der
moralische Schifsbruch in der Gesellschaft Europas die Leute
übers Meer, wo sie mit Anwendung aller Mittel Geld zu er-
schwindeln bestrebt sind. Hier drängt sich ein Eselreiter mit sei-
nem anstachelnden Treiber durch die Menge; dort kommt ein
Zug Kameele, sie halten die Köpfe tief gesenkt, denn lange,
ungeschlachte und schwere Balken drohen nickend über denselben.
Aber hier naht etwas gar Drolliges: ein großer Tisch wan-
delt vorüber, und wenn man recht zusieht, so wird er von
einem armen Esel geschleppt. So ist das Volk der Araber;
") Ein gewisser Zug von Gutmüthigkeit soll ihm nicht abge-
gangen sein, und man erzählt, wem es gelungen sei, ihn zum Lachcu
zu bringen, der habe gewonnenes Spiel bei ihm gehabt und in der
Regel alle seine Wünsche durchgesetzt. So erfuhren wir von unserm
Begleiter auf der Nilreift, Omar Effendi Magar, welcher schon zur
Zeit Said's in ägyptischen Diensten stand.
**) Sie kommen, soweit sie in den Handelsverkehr gelangen, zu-
meist aus Malta. A.
August Wunderwald aus Braunschweig,
Rücksicht, Mitleid für ein Thier besitzt es so wenig wie für
den Menschen.
Dort haben sich unter dem Schatten einer Sykomore Fel-
lahm gelagert, im braunen Burnus, ihrer sast einzigen Be-
kleidnng, und verzehren mit Genuß ihren Knoblauch und das
lederarlige Brot, die karge Kost des Volkes.
Es ist ein so buntes, wechselvolles Treiben, daß man noch
lange davon forterzählen könnte.
Jetzt aber fahrt unsere Carosse vorüber und vereinigt
Alles unter einer gemeinsamen Staubhülle.
Wir gelangten endlich an einigen mit hölzernen Erkern
ausgestatteten Häusern vorüber aus den Platz und zu den
Anlagen der Esbekieh und stiegen an Shephard's Gasthofe
ab, wo wie unsere sehr leidliche Wohnung hatten.
Zahlreiche Eseljungen in blauen Kitteln waren noch mit
ihren Thieren vor der Terrasse des Hauses versammelt und
priesen dieselben den Europäern an: „gut Esel daS, sehr gut
Herr", hörte man hier einen rufen, und überhaupt in allen
europäischen, besonders aber in der englischen Sprache wußten
sie ihre Thiere zn loben.
Auch der unvermeidliche einäugige Wassenhändler mit
der Pfadfinder im brasilianischen Urwalde. 121
persischer, ciselirter Stahlhaube, mit Dolchen und Klingen,
mit Lanzenspitzey und Streitäxten, alle aus dem wassenrei-
chen Damaskus, trieb sich noch auf der Terrasse umher und
erwartete das Hereinfallen irgend eines Engländers.
Denn diese schreckenerregende Nation bevölkert zum größ-
ten Theile das Gasthaus, und sie ist der Grund, weshalb es
so schlecht ist. Zwar hat es große Räume, aber schlechte
Zimmer, die einer bequemen Einrichtung ermangeln; außer-
dem ein ganz entsetzliches nur halbgekochtcs Essen.
Besonders gräßlich sind die Tage, wann von Alexandria
die indischePost angekommen und dcr ganze Schwärm Thee-
gesichter, welcher über Suez nach Indien geht, über deuGast-
hos und über die Tische herfällt, dem gierigen Geier nur ver-
gleichbar. Dann hungert der länger verweilende Gast und
sieht mit stummem Entsetzen dem unruhigen Bienenschwarm
zu, der iu Eile Alles zu vernichten droht, und erst, wenn die
Söhne und Töchter des großen Culturvolkes mit der Eisen-
bahn dem Rothen Meere zusahreu, kehrt die Ruhe einiger-
maßen wieder und ist eiu behaglicheres Dasein möglich.
So war in reichem Wechsel wieder ein Tag verrauscht in
dcr Stadt der Khalifeu am geheiligte» Nilstrom. K.
Ungust Wnnderwald aus Araunschweig, der Pfadfinder im brasilianischen
In Nordamerika waren es deutsche Männer, welche
als kühne Pioniere von den Gegenden am Atlantischen Ocean
in die Hinterwälder und nach dem weiten Westen vordran-
gen. Die angloamerikanischen Schriftsteller pflegen, nur we-
nige abgerechnet, die Verdienste und die Thaten der ersten
deutschen Einwanderer und Schanzgräber mit Stillschweigen
zu übergehen nud rühmen desto mehr ihre Landsleute. Aber
schon 1682 waren deutsche Männer in Pennsylvanien Boll-
bürger; 1685 gründeten Frankfurter Mennoniten German-
town am Schnylkill, andere ließen sich am Mohawk und
amSnsqnehannah nieder und manche zogen an den Rappa-
Hannock in Virginien. Man sieht, die Deutschen sind nicht
jung und neu indem Lande, auf welches die „Native Yankees"
allein ein Anrecht zn haben vermeinen.
Nicht die Yankees waren es, welche zuerst in einem
Dampfer den Ohio hinabfuhren; das waren vielmehr 1811
die drei deutschen Männer Rosenfeld, Becker und Hein-
rich. Iu dem heutigen Staat Ohio siedelten die Deutschen
sich eher an als die Nordamerikaner. Es ist auch ein Deut-
scher gewesen, Schreve, der zuerst, und zwar mit seinem
eigenen Dampfboot, die ganze Flußstrecke von Pittsburg am
Ohio bis Neuorleans am Mississippi befuhr, und in solcher
Weise „Bahn brach". Als noch kein englisch redender Mann
Verkehr mit den Indianern int westlichen Pennsylvanien
unterhielt, standen die deutschen Colonisten mit denselben in
friedlichem und freundlichem Umgange und hatten sich nicht
über die Rothhäute zu beklagen, weil sie dieselben wie Men-
schen behandelten. Jakob Kreider sagte ihnen Mondsinster-
nisse vorher, und war hochgeehrt unter ihnen, wie Konrad
Weiser aus dem Schwarzwald auch; die Indianer wollten
nicht mit Yankees, sondern nur mit diesem Deutschen Verträge
abschließen, weil sie ihn allezeit als treu und wahr bewährt
gefunden. Durch diesen Mann sind manche Gegenden im
Globuö XI. Nr. 4.
Westen zuerst bekannt geworden. Als er, in hohem Alter,
starb, wallsahrteten die Indianer zum Grab ihres „guten
Vaters" nud keiner ging an demselben vorüber, ohne eine
Hand voll Erde auf den Hügel zu werfen.
Die ersten Ansiedler im westlichen Virginien sind gleich-
falls Deutsche gewesen, die Gebrüder Eckerlin; sie bauten
sich am Monongahela Blockhäuser, schon vor 1757. Das
erste weiße Mädchen, welches auf der Nordseite des Ohio
geboren wurde, war Maria Heckewelder (16. April 1781),
T echt er des bekannten Herrnhnters Heckewelder, dem wir ein
treffliches Buch über Pennsylvanien verdanken. Die ersten
Angloamerikaner kamen erst 14 Jahre später nach Ohio als
die deutschen Ansiedler.
Auch iu Brasilien sind es wieder Deutsche, welche in
methodischer Weise iu die Wälder vordringen und dieselben
lichten. Auch dort gebührt ihnen der Ruhm, daß sie unter
allen die tüchtigsten Ansiedler bilden. Dafür zeugen ihre
Niederlassungen iu den Südprovinzen Santa Catharina, Rio
grande do Snl und Parana. Es wird, wir haben das
schon mehr als einmal betont, eine Zeit kommen, in wel-
cher man nicht mehr begreift, daß vom deutschen Mutter-
land auS nicht Jahr für Jahr zehn-- bis zwanzigtausend
Auswanderer nach Südbrasilien gezogen sind, wo das deut-
sche Element, wenn es für und für aus der alten Welt
Znzng erhält, sichere Aussicht auf eiu kräftiges Gedeihen hat,
wo es, in schönem, gesundem Lande mit herrlichem Klima
nicht zn besorgen braucht, von einer andern Nationalität ins
Gedränge gebracht oder gar ausgesogen oder, wie so vielfach
in Nordamerika, corrumpirt und veryankeet zu werden. Wie
ständen die Dinge in Südbrasilien, wenn statt der jetzt dort
zerstreutlebenden 80,000 Deutschen deren jetzt eine Million
sich angesiedelt hätten!
Doch auf diesen Gegenstand wollen wir heute nicht näher
16
12 2 August Wunderwald aus Braunschweig,
eingehen, sondern nur auf die Thatsache hinweisen, daß die
verschiedenen „Colonicn" inSüdbrasilien mehr oder weniger,
zum Theil allerdings wegen numerischer Schwäche langsam,
gedeihen. „Wir holen es aber trotz alledem und alledem
durch, sind zufrieden, arbeiten fleißig und kommen wacker vor-
wärts." So schrieb ein Ansiedler aus Rio Grande.
Die nachstehende Skizze zeigt, in welcher Weise deutsche
Männer in Südbrasilien als „Pioniere, Schanzgräber, Bahn-
brecher und Pfadfinder" auftreten. Wir verdanken die Mit-
theilung derselben Herrn Karl v. Koseritz in Porto Alegre,
einem rüstigen und unermüdlichen Vorkämpfer der deutschen
Interessen, welche er nicht nur bei deu Verwaltungsbehörden
und bei den Gerichten als gewandter Sachwalter, sondern
auch in der von ihm geleiteten „DeutschenZeitung" von Porto
Alegre vertritt. Wir glauben, unseren Lesern einen Dienst
zu erweisen, wenn wir sie mit einem südamerikanischen Hin-
terwälder, mit August Wunderwald, bekannt machen, der
schon viele „Picaden-Expeditionen" mit Erfolg gemacht hat
nnd recht eigentlich als Bahnbrecher bezeichnet werden kann.
-i- *
In Santa Catharina, einer der schönsten Provinzen
des südlichen Brasiliens, giebt es bedeutende Landstrecken,
welche durch deutsche Kraft und Ausdauer der urwäldlichen
Wilduiß abgewonnen und der Cnltur zugänglich gemacht
worden sind. Wie fruchtbare Oasen erheben sich diese deut-
scheu Colonien mitten aus dem Urwalde Brasiliens, abge-
schlössen und unbeeinflußt von fremden Elementen, in deutsch-
thümlicher Weise sich entwickelnd und erweiternd, wo schon
Tausende von Deutschen wohnen, unter denen so hell nnd
lauter, wie im deutschen Mutterlande, die deutsche Zunge
klingt und Gott im Himmel Lieder singt. Aber hat bis jetzt
der Deutsche daran gedacht, dieselben sein zu nennen, sie als
Glieder von des Deutschen Vaterland zu betrachten und als
solche schützen und fördern zn helfen? O nein! — er kennt
sie zumeist noch gar nicht, ja er hat zum größten Theile viel-
leicht kaum eine Ahnung davon, wie des Deutschen Vaterland
im Geiste des Vater Arndt sich bereits über die südliche
ErdHälfte ausgedehnt nnd anf derselben festen Grund und
Boden gewonnen hat. Daher dürfte es wohl jedem „wacke-
ren" Deutschen von Interesse sein, die Zustände und Ver-
Hältnisse sclcher deutschen Vorposten näher kennen zn ler-
nen, und vor Allem verdient es gewiß ein Pfadfinder — der
Mann, der die äußerste Spitze jener Vorposten bildet nnd
dessen Leben nichts wie eine Kette von Mühen nnd Gefahren
ist, um der vordringenden deutschen Cnltur durch die Wild-
nisse des brasilianischen Urwaldes die Bahn zu brechen —,
daß er bei seinen deutschen Genossen zur näheren Bekannt-
schast eingeführt werde.
Wir meinen den Pfadfinder der Colonie Dona Fran-
cisca, August Wunderwald, wie er, nach einigen im
Kreise seiner Familie gehalteneu Rasttagen, auf dem be-
stimmten Sammelplatze mit seinen Arbeitsgenossen sich wieder
zusammenfindet, um einen neuen Waldzug zu unternehmen.
Er ist ein loyaler Braunschweiger von echt deutscher Na-
tnr, immer gutes Mnths, zäh und ausdauernd in Verfolgung
seines Plans, ein Eroberer zwar nur auf beschränktem Ge-
biete, aber im edelsten Sinne des Wortes, denn seinen Schrit-
ten folgen nicht Greuel und Verwüstung, sondern Cnltur und
neues Leben.
Von den Beschwerden und Gefahren eines solchen Wald-
znges kann sich schwerlich einen rechten Begriff machen, wer-
den brasilianischen Urwald nicht kennt, wer bloß enro-
päische Waldungen oder auch nordamerikanische Wälder ge-
sehen hat. Der Urwald in dem vom Atlantischen Oeean
bespülten Küstenlande dxr Provinzen St. Catharina und
er Pfadfinder im brasilianischen Urwalde.
Parana hat noch ganz den tropischen Charakter; er ist nicht
ein Bestand von hohen, ziemlich gleichmäßigen Bäumen, unter
deren Laubdache man frei umhergehen oder Herden weiden lassen
kann, vielmehr bildet er ein wirkliches Dickicht, ein wildes
Wirruiß der verschiedenartigsten in- und durcheinander ver-
wachsenen Baum- und Pflanzenformen. In ihm drängt sich
dichtes Unterholz mit dem Oberholze; große, alte, starke
Bäume sind gar nicht so häufig darin; denn kaum hat sich
ein Baum emporgearbeitet zu größerm Umfange, so nehmen
schon unzählige anvere Pflanzen und Bäume auf ihm über-
Hand; in den Poren seiner Rinde, auf seinen Arsten und
Zweigen heften sich allerlei Moose und Flechten und in diesen
wiederum allerlei Samen an, welche da, hoch im luftigen
Gebiete, bei der steten Waldfeuchtigkeit zu keimen beginuen
und lustig weiter wachsen, indem sie entweder, wie die Ana-
nasarten, ihre Nahrung lediglich aus der Luft und vom
Baume ziehen, oder sich überdies bald noch dircct und selb-
ständig mit der Muttererde in Verbindung setzen. Letzteres
thun vornehmlich die Lianen, diese Schlinggewächse, welche,
aus den höchsten Aesten entkeimt nud ausgesprossen, von oben
herab viele zähe, faserige Stränge (Cipos) nach dem
Boden treiben, die, sobald sie die Erde berühren, in dieselbe
einwurzeln und daraus neue Nahrung ihrer in lustiger Höhe
befindlichen Mutterpflanze zuführen, oder auch neue, oft ganz
andersartige Schossen und Schlinger emportreiben, zugleich
das Haupt und die Krone des Baumes mit den vielfachen,
sich immer straffer anspannenden Leinen und Tauen fest an
den Boden kettend. Audere Schlingpflanzen kriechen am
Stamme empor und überziehen denselben, sich überall fest-
faugend und ihn mit polypenartigen Armen weiter und dich-
ter umschlingend. So wird jeder, zu einiger Größe sich
emporarbeitende Baum alsbald wieder zum Träger einer be-
sondern, höchst mannigfaltigen Pflanzenwelt. Mit all den
Pflanzen, die ein einziger solcher Banm trägt, könnte oft die
Fläche eines ganzen üttorgeus dicht besetzt werden.
Kein Baum dieses Urwaldes gewährt, wie unsere Eiche,
ein Bild der urwüchsigen Kraft, des kühnen und freien Em-
porstrebeus, vielmehr gleichen die meistm derselben einem ge-
ketteten Riesen, dessen Haupt durch fremdartige, zu Boden
gehende Triebe gebunden nnd gebeugt ist, dessen Kraft in
unseligen Umarmungen verkümmert und dahinsiecht, dessen
Leben nicht mehr Zweck, sondern nur noch Mittel zum Zwecke,
nur noch zum Lasttragen bestimmt ist, bis es über kurz oder
lang unter der Wucht der auf ihm wuchernden Schmarotzer
zusammenbricht. Daher finden sich im Urwalde überall ge-
stürzte Rieseustämme, deren unverwüstlicher Kern oft noch
wohlerhalten ist, während vielleicht schon neue riesige Bäume
über ihnen emporgewachsen sind.
Am undurchdringlichsten wird der Urwald da, wo, anstatt
des Unterholzes, Rohr (Taquara) Platz gegriffen hat. Es
giebt hier verschiedene Sorten Rohr von ein halb bis 4 und
5 Zoll Durchmesser, sämmtlich inwendig hohl, manche mit
einem milchigen, magnesiareichen Wasser angefüllt, mit Glie-
dern von 3, 4 und 5 Fuß Länge. Einige derselben sind mit
langen, spitzen, hakenförmigen Dornen versehen; gegen die
stärkeren Sorten, deren cylindrische Wandungen einen halben
bis 1 Zoll Dicke erreichen und eine ungeheure Festigkeit be-
sitzen, ist uur mit der schärfsten Axt etwas auszurichten. Das
Rohr findet sich am meisten in Flnßthälern, kommt aber auch
an Bergeu vor; es wächst gewöhnlich so dichtgedrängt, daß
man kaum 10 Schritte weit durch dasselbe hinsehen kann
und treibt gerade Stengel von so ungeheurer Länge, daß deren
Spitzen noch über die höchsten Bäume viele Fuß hoch empor-
schießen.
Wenn man vom Küstenlande nach Westen hin vorschrei-
tet und das mit der Meeresküste ziemlich parallel laufende
August Wunderwald aus Braunschweig,
Gebirge — Serra do mar oder Serra gerat genannt
— übersteigt, so gelangt man auf die sogenannte Hoch-
ebene, wo weite freie Grasflächen (Campos) mit dem
Urwalde abwechseln und letzterer einen ganz andern, den nörd-
amerikanischen Waldungen ähnlichen Charakter annimmt. Da
trifft man zum Theil ganz gleichmäßigen, dicht geschlossenen
Hochwald von den verschiedensten Laubhölzern, mit Palmen-
und Farrenbäumen vermischt, in welchem der Boden säst
durchgängig rein und unbedeckt, nur hier nnd da mit verein-
zeltem, geringem Unterholze bestanden ist (matto limpo),
oder man gelangt zum größern Theil in Gegenden, wo das
Nadelholz, die Brasilfichte (Pinie), vorherrschend wird, welche
im Urwalde des Küstenlandes nirgends vorkommt. Diese
Pinien Waldungen bilden herrliche, gleichmäßige, lichte
Hochbestände, in denen der Boden entweder mit bnscharti-
gem Unterholze bewachsen (matto catanduba) oder dicht
mit 5 bis 6 Fuß hohem Grase bedeckt ist (matto sa-
chinal), welches den zahlreichen Viehherden des Hochlandes
namentlich znr Winterzeit eine treffliche Weide bietet.
Das ist im allgemeinen Umrisse die Beschaffenheit der
Gegenden, in welchen derPfadfinderansB raunschweig
mit seinen wackeren Genossen seine Thätigkeit entfaltet. Die
Dauer des Waldzuges, deu sie eben (im December 1866)
vorhaben, ist etwa auf 8 bis 10 Wochen berechnet. Wäh-
rend dieser Zeit sind sie von der Menschenwelt gänzlich abge-
schloffen, einzig und allein auf sich selbst angewiesen. Wie
der Soldat, der ins Feld zieht, sind die Leute ausgerüstet;
aber ihre Last wird schwerer. Im Urwalde giebt es nichts
zu leben, wenigstens ist kein Verlaß darauf, etwas zu finden,
wenn es gerade gebraucht wird. Die Jagd liefert ihnen
allerdings jeweiligWildpret, besonders Federwild nndAssen
im Ueberfluß, bisweilen gehen sie aber auch Wochen lang,
namentlich bei Regenwetter, ohne mir einen Schwanz zu
sehen. Auf Früchte des Waldes ist gar nicht zn rechnen;
zwar giebt es deren viele, aber die meisten haben Eigen-
schaften, die sie weit eher zn kräftigen Arzneimitteln, als zu
Lebensmitteln tauglich machen. Nur die im Urwalde des
Küstenlandes allenthalben vorkommende Kohlpalme liefert
in dem Marke ihres Blätter- und Blüthenschaftes ein ange-
nehmes, dem Spargel ähnliches Gemüse, aber der anhaltende
oder ausschließliche Genuß dieses Palmenkohls erzeugt schon
in wenigen Tagen die hartnäckigste Verstopfung des Unter-
leibes. Anf dem Hochlande sind es die Pinien, deren
Samenkerne zur Zeit der Reife im gerösteten Zustande ein
kräftiges, den Kastanien ähnliches Nahrungsmittel bieten, und
zu diesem BeHufe besonders von den Indianern (Bngres)
sorgsam eingesammelt und in ausgebrannten Erdgruben aus-
bewahrt werden.
Unsere Waldläufer müssen sich daher mit Lebensmitteln
wohl versehen, wenn sie nicht in Noth und Elend gerathen
wollen, aber da sie Alles aus eigenem Rücken transportiren
müssen, so beschränken sie sich auf das Unentbehrlichste. Eine
knapp berechnete Quantität Dörrfleisch (Carne secca),
Mandioemehl, schwarze Bohnen, Salz und Kaffee, sowie
etwas Branntwein, bilden ihren Mundvorrath, doch der
schwarze Taback, Fnm genannt, darf dabei niemals
fehlen. Dazu kommen noch einige Arznei- nnd sonstige
Hülssmittel für etwa vorkommende Krankheiten und Ver-
letzungen. Alles dies wird mit den noch übrigen Gegen-
ständen zum Schutze gegen Regen und Nässe in Blechbüchsen
r Pfadfinder im brasilianischen Urwalde. 123
verpackt und dann erst in die Tornister und Quersäcke auf-
genommen. Einige Jagdgewehre und Aexte, sowie ein lau-
ges, tüchtiges Waldmesser, welches Jeder haben muß, um
sich durch den Urwald Bahn zu machen, vollenden ihre Aus-
rüstung. So rücken sie aus, ein Jeder mit 60 bis 70 Pfund
Gepäck auf dem Leibe — eine höllische Last anf den rauhen,
beschwerlichen Pfaden, die zum Glück mit jedem Tage etwas
leichter wird.
Nun dringen sie ein in den Urwald. Einige der Leute
legen ihr Gepäck ab und nehmen ihre Messer zur Hand, um
alsbald weiter vorzurücken. Voran geht der Pfadfinder,
der bald kriechend, bald kletternd, möglichst schnell und leicht
sich durchzudrängen und durchzuschlagen sucht, immer mit
spähendem Auge das Terrain für eine künftige Weganlage
musternd, bald rechts, bald links zu näherer Untersuchung
abbiegend, in der Hauptrichtnug aber stets seinem getrenesten
Wegweiser, dem Taschen-Compaß, folgend. Hinter ihm
her arbeiten die „Picadenschläger" (— Picada bedeutet
Waldpfad, Schneufe —), welche die vom Pfadfinder mar-
kirte Richtung so weit freihauen und aufräumen, daß die
übrige Mannschaft mit dem Gepäck ungehindert durchkommen
und uach Befinden die geöffnete Linie nach Länge und Nei-
gnng gemessen werden kann. Endlich folgt die letzte Abthei-
lung der' Leute, welche von dem gesammten Gepäck so viel
wie sie je nach den Umstünden fortbringen können, aufnehmen
und in der freigeschlagenen Strecke weiterschaffen, dann wieder
umkehren und einen weitern Theil des Gepäckes nachholen,
und so in ähnlicher Weise, wie die Katze ihre Jungen fort-
schleppt, das ganze Gepäck nachtransportiren.
So geht es, mit Ausnahme einer geringen Unterbrechung,
während welcher „einHappen" gefrühstückt wird, rastlos vor-
wärts und immer weiter, bis Nachmittags gegen 3 bis 4
Uhr, wo dann, sobald ein Bach erreicht ist, Halt gemacht,
am Bache ein Lagerplatz sreigeschlagen und zum Aufbau einer
Hütte geschritten wird. Die Hütte besteht eigentlich nur
aus einem einseitigen Dache, welches vorn an der hohen
offenen Seite auf zwei in die Erde getriebenen Gabeln nnd
einer darüber gelegten Querstange ruht und hinten unmittel-
bar auf die Erde stößt. Die von der Querstange nach dem
Boden gelegten, mit Cipo befestigten Dachsparren werden mit
den breiten Blättern der sogenannten Dach Palme (einer
palmenartigen Rohrpflanze) oder gewöhnlicher mit Palmen-
zweigen behängt; auf gleiche Weise wird bei kaltem oder
nassem Wetter auch die Windseite zugemacht und dann noch
der Boden der Hütte dicht mit Palmenzweigen überbreitet,
welche znr Lagerstätte dienen; somit ist dieHütte fertig. Bald
prasselt vor derselben ein lustiges Feuer, rings nm dasselbe
brodeln die angesetzten Kochtöpfe, und von allen Seiten ragen
Spieße in die Flammen, an welchen das zum Braten ange-
steckte Fleisch bereits wohlduftenden Geruch verbreitet.
Währenddem entledigen sich die Leute ihrer von Schweiß
oder häufig auch von Regen durchnäßten Kleidung, waschen
sich in dem kühlen Gewässer des Bachs, ziehen trockne Klei-
der an und dann geht's mit nicht geringen« Appetite an die
Mahlzeit, bei welcher auch die stärksten Portionen, wie sie
mitunter eine reichliche Jagd darbietet, in unglaublich kurzer
Zeit verschwinden. Ein „ordentlicher Kaffee" begleitet die
Mahlzeit oder folgt derselben und dann werden die Fum-
pfeifen in Brand gesteckt, zn welchen der Wald in den ver-
schiedenen Rohrarten die schönsten langen Rohre liefert.
16*
124
Aus allen Erdtheilen.
U n s allen
Das allgemeine Stimmrecht in Neuyorc.
Der Londoner „Economist", bekanntlich eine entschieden libe-
rale Zeitschrist, erhielt von einem seiner Neuyorker Correspondenten
folgende Betrachtungen, die von cultur-politischem Belang sind.
Im Staate Neuyork geht man jetzt damit um, eine Eon--
vention einzuberufen, welche angemessene Vorschläge zn Abände-
rung der Staatsverfassung vorschlagen soll. Eine solche Revision
kann allemal nach Ablauf von 20 Jahren stattfinden. In der
Stadt Neuyork gilt das allgemeine Stimmrecht und die Folge ist
eine allgemeine administrative Zerrüttung gewesen. Durch die
Volksmasse sind Beamte gewählt worden, die es lediglich auf ihre
eigene Bereicherung abgesehen haben. Bei jeder Arbeit, die ver-
geben wird, findet sich ein Vorwand zum Plündern, alle Eon-
traete werden erkaust und verkauft, große Summen für ganz un-
nütze Ausgaben bewilligt und Besoldungen an eine Menge müßiger
Leute vergeudet, damit sie bei den Wahlen richtig stimmen.
Aber die Armenhäuser und wohlthätigen Anstalten werden ver-
nachlässtgt und die Polizei war bis in die neueste Zeit äußerst
demoralisirt. Und während die Stadt eine erbärmliche Verwal-
tung hat, sind die Steuern und Abgaben immer höher geworden,
so daß heute nicht weniger als 8 Pfund Sterling (etwa
56 Thaler) auf den Kopf kommen, also vierthalbmal so viel
als durchschnittlich in England an Staatsabgaben aus den Kopf
entfallen, und zweimal so viel als in Holland, dem am höchsten
besteuerten Land in Europa. Die besitzenden Classen sind über
das Unwesen so empört, daß sie schon mit einem Vigilanzeomite
gedroht haben; sie möchten die bestehenden Gesetze mit Gewalt
suspendiren und Neuyork mit Hülfe einer, allerdings ungesetzlichen,
MUitairpolizei regieren. Doch dahin kommt es nicht. Die Eon-
vention wird in den ersten Monaten des Jahres 1367 zusammen-
treten und die städtische Verfassung reformiren. Dafür sind zwei
Pläne vorgeschlagen worden. Der erste geht dahin, das household
suffrage wieder einzuführen, weil, so lange dasselbe galt, die
Stadt eine wohlfeile Verwaltung hatte. Dadurch würden die
Eingewanderten und Armen vom Stimmkasten ausgeschlossen.
Dann werde die fortan speeifisch amerikanische Wählerschaft auch
nur echte Amerikaner wählen, welche die Steuern vermindern,
oder wenn nicht, doch nützlich verwenden würden. (— Aber
der „Economist" sollte doch erwägen, daß die überwiegende Mehr-
zahl der städtischen Bewohner der Stadt Neuyork aus echten, ein-
geborenen Amerikanern besteht. Dasselbe gilt auch vom Eon-
gresse, und doch weiß man allgemein, wie hoch sich für die über-
wiegende Mehrzahl der Herren Volksrepräsentanten der Tarif für
die Stimmenerkaufung stellt. Dadurch, daß Native Amerieans
in die Aemter gelangen, würde also an und für sich rein nichts
geändert werden; denn gerade diese wollen Geld machen. —)
Ein zweiter Plan ist noch radikaler, aber noch beliebter.
Es handelt sich darum, der Stadt alle Selbstverwaltung !
zu nehmen und sie lediglich als „das Magazin, das Waaren-
lager des Staates" anzusehen und demgemäß zu behandeln. Der
Gouverneur soll ein Bureau von Commissarien ernennen, welche
für eine bestimmte Anzahl von Jahren die Stadtverwaltung zn
besorgen hätten. Eine Dietatur dieser Art sei nothwen-
dig, um die allzupopulaire Administration zu besei-
tige n. (—Gewiß ist die Neuyorker Stadtverwaltung sehr schlecht;
man muß aber in Obacht behalten, daß sie aus Demokraten be-
steht. In der Gesetzgebung des Staates aber haben, in Folge
der Wahlen auf dem platten Lande, die Radicalrepublikaner eine
überwiegende Mehrheit, und sie wollen diese benutzen, um ihre
politischen Gegner, deren feste Burg bisher die Stadt Neuyork
gewesen, aus den fetten Aemtern zu verdrängen und dieselben,
sammt allen „Jobs", die nun einmal daran hängen, ihren eige-
nen Anhängern in die Hände zu spielen. Das ist ganz offenbar
eine Hauptmoral in dieser Geschichte und ein Hauptgrund der
tugendhaften Entrüstung. —)
„Beide Vorschläge beweisen, daß das allgemeine Stimmrecht,
welches seit 19 Jahren in der größten Stadt Amerikas in Uebung
c§ x b 11} e i [ e «.
war, sich entschieden nicht bewährt hat. Die Verwaltung ist nicht
wohlfeil, nicht glänzend (magnificent!) und bei den ansässigen
Bewohnern nicht populair gewesen. Für jeden Denker springt
aus diesen Neuyorker Verhältnissen eine sehr praktische Lehre
hervor: die Theorie, laut welcher man das allgemeine Stimmrecht
als ein unfehlbares Politisches Instrument vertheidigen möchte,
fällt in sich selber zusammen. In Neuyork hat jeder Erwachsene
ohne Unterschied der Naee und des Glaubens und ohne irgend
welche Rücksichtnahme auf Besitz eine Stimme, und als Resultat
stellt sich heraus, daß die Massen durch corrupte Beamten äugen-
blicklichen Vortheil und Nutzen erstreben, nicht aber Vortheile,
welche in der Zukunft liegen und die durch Beamte mit reinen
Händen zu erzielen wären. Die Freiheit wirkt in Neuyork nicht
so, wie Holzkohle in einem Filter; sie schlägt nicht etwa die un-
reinen Stoffe nieder und macht das Wasser klar, sondern der
Schmutz wird in steter Bewegung gehalten und steigt oben auf.
Nun sagen zwar manche vortreffliche Liberale, Neuyork bilde nur
eine Ausnahme, weil sich so viele Ausländer und Einwanderer
in der Stadt befänden; aber gerade dieser Grund spricht gegen
sie. Wenn es überhaupt Classen giebt, die, gleichviel aus welchem
Grunde, vom Stimmrecht ausgeschlossen werden müssen, dann wird
die Theorie des allgemeinen Stimmrechts von selbst hinfällig
und es handelt sich dann nur noch darum, zu bestimmen, welche
Classen überhaupt stimmen sollen. Streicht man die, welche nicht
lesen und schreiben können und die Armen aus, stellt man über-
haupt verschiedene Kategorien auf, dann fällt die demokratische
Regierung weg, und eine konstitutionelle tritt an die Stelle. Die
Meinung, daß eine demokratische Regierung auch eine wohlfeile
sein werde oder müsse, hält nicht Stich."
Wir fügen diesen Betrachtungen des „Economist" die nach-
stehenden aus der „Times" (vom 4. December) bei, die wir im
Allgemeinen für vollkommen richtig halten. Sic zeigen sehr klar,
welcher Ausartung das Repräsentativsystem in den
Vereinigten Staaten, in Folge des Mißbrauches, welchen die
Parteien damit treiben, anheimgefallen ist, und daß dabei nichts
so sehr zu kurz kommt, als gerade die Freiheit. Man ist von
den Ueberlieferungen und der Praxis der guten alten Zeit, von
dem was Männer, wie Washington, Jesserson, Madison, Monroe,
Jackson K, für ersprießlich hielten, völlig abgewichen, und ist
nach und nach durch die Habsucht der Stellenjäger und das wilde
Parteitreiben in die nun herrschende Verwirrung hineingetrieben
worden.
Sehr richtig hebt die „Times" hervor, daß die Repräsentativ-
Maschinerie der Vereinigten Staaten keine repräsentativen Körper-
schaften liefert. Man nehme z. B. die Staatslegislaturen in
Neuengland. Die Mehrheit der Bürger in diesen sechs Staaten
! gehört der radiealrepublikanischen Partei an, aber im Lande
ist auch eine sehr beträchtliche und einflußreiche demokratische
Minderheit, die noch vor wenigen Jahren in Maine die Mehrheit
bildete. Die Stimmgeber gehören also zwei großen Parteien an,
aber in allen sechs Legislaturen herrscht nur eine Partei. Die
Legislaturen erfüllen also den Zweck, daß das Volk in ihnen ver-
treten sein solle, mit Nichten, es wird nur eine Partei vertreten.
Ganz dasselbe zeigt sich im Buudeseongreß (— der jetzt
nur ein Rumpf ist, in dem die herrschende Partei ihre Dietatur
zum Ausschluß von 1l) oder 11 Staaten mißbraucht, um sich an
der Gewalt und im Besitze der Aemter zu halten —). Von den
etwa vier Millionen Wählern in den Nordstaaten haben etwa
2,200,600 radical-republikanisch und 1,800,600 demokratisch ge-
stimmt. (— Man sieht daraus, weshalb die Partei der nörd-
liehen Dietatoren dem Süden unannehmbare Bedingungen sür
den Wiedereintritt in die Union stellte; man will sie so lange als
möglich aus dem Kongresse fernhalten; denn jene ausgeschlossenen
Staaten würden demokratisch stimmen, und damit würden die so-
genannten Republikaner, welche nur eine Minorität des ge-
stimmten Volkes bilden, sofort ihren Gegnern die Plätze zu räu-
Aus allen Echtheiten.
125
men und die Aemter, die ja in Amerika immer als eine Haupt-
fache betrachtet werden, abzugeben haben. —) Von 192 Reprä-
sentanten des Rumpfeongresses sind 143 Radiealrepublikaner und
49 Demokraten, also etwa 1 von 3. Während nun die eigent-
lichcn Nord- und Nordweststaaten bloß radicalrepublikanifche Re-
Präsentanten in den Congreß geschickt haben> sandten die söge-
nannten Vorderstaaten fast nur demokratische Abgeordnete; nicht
als ob in Delaware, Kentucky und Maryland keine Republikaner
wären, sondern weil die Demokraten in der Mehrheit sind. Nur
in den mittleren Staaten, Pennsylvanien und Neuyork, sind beide
Parteien einigermaßen annähernd vertreten.
Bei einer so durchaus fehlerhaften Organisation leidet der
individuelle Charakter und die unabhängige Meinung. Das Votum
eines Staates mag eine Zeit lang hin - und herschwanken, aber
bei dieser Ungewißheit kommt der Staat zu kurz. Wer in Ame-
rika als Politiker mit Erfolg auftritt, weiß, daß er blindlings
mit der Majorität gehen muß; er hat sich unbedingt jenen schlauen
Speeulanten zu fügen, welche man als „Drahtzieher" bezeich-
net; er darf nur den Glauben seiner Partei haben und vor allen
Dingen jeter gemäßigten Auffassung entsagen. So fehlen un-
abhängige und gemäßigte Männer, welche ein Ding auch von
zwei Seiten betrachten, im Congresse durchaus. Die Parteigänger
der verschiedenen Seiten im Congreß haben nicht einmal ein
nachbarliches Gefühl, das sie näher zusammenbringen könnte. In
den Jahren, welche dem Ausbruche des Bürgerkrieges voraus-
gingen, hat sich gezeigt, welches Unheil durch eine solche Ent-
fremdung angerichtet wird. Im Süden gab es auch Unionilten,
sie fanden aber keine südlichen Vertreter im Congresse; in Neu-
england waren viele Leute auf Seite des Südens, es ging ihnen
jedoch ebenso. So war die Gesetzgebung in zwei feindliche Lager
gespalten, und man kam nicht zusammen, um zu erwägen und
zu berathen, sondern um die gegenseitige Stärke zu messen.
Es fehlt jede Vermittlung, welche ausgleichend wirken könnte;
es fehlen die unabhängigen Männer mit unabhängiger Stel-
lung. Die ganze Legislative fällt solchergestalt in die Hände
eines geheimen Ausschusses, eines „Caueus", der jedesmal
herrschenden Partei; derselbe beginnt seine Operationen sobald die
Wahlen vorüber sind. Dieser geheime Ausschuß, welchen
übrigens die Verfassung nicht kennt, bestimmt, was geschehen
und was nicht geschehen soll, und wenn er besorgt, daß die
von ihm eingebrachten Anträge und Vorschläge eine ihm unlieb-
same Beleuchtung und Erörterung erfahren könnten, dann schneidet
er, vermittelst der „vorläufigen Frage", jede Diseussion ab. Diese
Frage bedeutet im Congresse nicht mehr und nicht weniger als
jene: ob ohne weitere Berathung über eine Sache ab-
gestimmt werden solle? Die Majorität der Partei hat sich
selbstverständlich dem Willen des Caucus zu fügen, und so wird
abgestimmt, ohne daß ein Gegenstand überhaupt erörtert worden
wäre!
In der Theorie wird die legislative Gewalt der Union von i
eineni Repräsentantenhaus ausgeübt, von Vertretern, welche öffent-
lich und vor allem Volk im Congresse sitzen; in der Praris
befindet sie sich in der Gewalt einer geheimen Macht, welche
Ediete erläßt, denen unbedingt Folge gegeben werden muß. So
wird, im Interesse einer Partei, welche obendrein inl Gestimmt-
Volke die Minderheit bildet, die Möglichkeit einer Wiederherstellung
der Union ins Ungewisse hinausgeschoben und was in den Ver-
einigten Staaten nicht vorhanden ist, das ist eine Repräsentativ-
regierung.
Steindenkmäler im Lande Hannover.
Es ^ist bekannt, daß das nordwestliche Deutschland reich an
solchen ist, auch jetzt noch, nachdem viele derselben zerstört worden
sind; man hat die Steine beim Straßen- und Hausbau benutzt.
Von nun an aber werden sie vor der Zerstörung sicher sein, weil
sie für den Staat angekauft werden. Wir wissen es Herrn Dr-
H. Gut he Dank, daß er in seinem ausgezeichneten Werke: „Die
Lande Braunschweig und Hannover" (1867, S. 615) auf einige
der bedeutendsten „Hünengräber" aufmerksam gemacht hat, nament-
lich auf die „Sieben Steinhäuser" bei Fallingbostel (an
der Böhme, im Lüneburgischen); zwei derselben sind leider schon
zerstört worden. Die übrigen schildert Dr. Guthe in folgender
Weise:
Sie liegen in der Nähe des Meierhoses Südbostel. Vier
von ihnen, in eine gerade Linie gestellt, sind in der gewöhnlichen
Weise construirt, so, daß man über eine Anzahl ins Viereck ge-
stelltet- Träger einen oder mehrere granitne Decksteinc gelegt hat.
Die Träger ragen jetzt nur noch sehr wenig aus der Erde empor;
die Decksteine sind zum Theil von bedeutender Größe, einige der-
selben 13 Fuß lang und9Fuß breit. Das fünfte und größte
Denkmal dagegen ist ein wahres steinernes Haus und
in feiner Vollständigkeit einzig im nordwestlichen
Deutschland.
Sieben aufrechtstehende, genau in einander passende, inwen-
dig bearbeitete, ungleiche Granitblöcke schließen mit einem einzi-
gen, über sie gelegten, inwendig ebenfalls bearbeiteten Deckstein,
einen überirdischen Raum ein, dessen Grundfläche ein Quadrat
von etwa 12 Fuß Seite ist und dessen Höhe 5y2 Fuß beträgt.
Zwei Granitblöcke stehen als Thürpfosten über dem Eingange.
Der Beckstein ist 17 Fuß lang, 14/, Fuß breit und 1% Fuß
dick; er wiegt mindestens 150,006 Psnnd.
Häufig sind mehrere solcher Hünengräber wie von einer Ein-
zäunung von einer oder mehreren Reihen kreisförmig oder oval
geordneter Granitblöcke umgeben. So liegen z. B. bei Wall-
Höfen, ini Amt Osterholz (also nicht mehr im Lüneburgischen,
sondern im Herzogthum Bremen), drei solcher oblongen Hünen-
betten, von denen z. B. das erste, welches aus 25 Granitblöcken
von je 6 bis 9 Fuß besteht, in einem Oval von 124 Fuß Um-
fang vier aus Trägern und Decksteinen aufgeführte Hünengräber
einschließt. Berühmt ist ferner das sogenannte Bülzenbett bei
Sievern im Amte Lehe (gleichfalls im Bremischen).
Die ausgezeichnetste Gruppe von Steindenkmälern ist aber
jedenfalls die des Giersfeldes im Kirchspiel Ankum, Amt
Bersenbrück (im Osnabrückischen). Es sind acht steinerne Denk-
mäler, sämmtlich Hünenbetten der größten Art. Sie liegen in
zwei Gruppen, jede von vier Denkmälern, an und aus zwei klei-
nen Heidehügeln. Jedes der acht Denkmäler war ursprünglich
ein geschlossener Steinkreis, innerhalb dessen sich eine bedeutende
Menge, in einem Falle nicht weniger als sechszehn, Gräber be-
finden. Die größte Steinsetzung ist 125 Fuß lang und in der
Mitte 12 Fuß breit; die sechszehn Gräber, sämmtlich mit Deck-
steinen auf Trägern, sind noch wohl erhalten.
Besonders reich ist auch das Arenbergische an solchen Denk-
malern, besonders wohl, weil die dort so wenig dicht wohnende
Bevölkerung zur Zerstörung derselben keine Veranlassung fand.
Eisenvahnvau in Algerien. Die Franzosen sind eifrig
am Werke, das Bahnnetz in ihrer nordafrikanischen Besitzung zu
erweitern. Man arbeitet jetzt an dem Strange, welche bis Bu
Mefda, also in das Thal des Schelif führen soll; er zweigt von
der Bahn ab, welche von Algier durch die Melidscha nach
Blidah führt. In der Provinz Oran ist man mit dem Bau
des Geleises von der Stadt Oran über St. Denis au Sig nach
Relizane beschäftigt; dasselbe wird etwa 140 Kilometer lang.
Abgesehen von dem Bau einiger Brücken und eines Dammes
durch die Habrafümpfe bieten sich auf der ganzen Strecke keine
Schwierigkeiten dar. Desto größer sind die Hindernisse bei der
Bahn zwischen Constantine und Philippeville; die Strecke
ist nur 80 Kilometer lang, erfordert aber nicht weniger als 10
Tunnels, in einer Gefammtlänge von 4109 Meter; etwa 2500
Meter sind vollendet. Die bedeutendsten unter diesen Tunnels
sind der bei Philippeville, 828 Meter lang, und jener von El
Kantur, welcher durch den Gebirgszug geschlagen wird, welcher
sich zwischen dem Sassas uud dem Roumel erhebt. Cr wird 1050
Meter lang. Dazu kommen noch zwei bei Constantine von 224
und 827 Meter. Man hofft im Jahr 1868 mit den Arbeiten
fertig zu werden, so daß der Dampfwagen dann vom Meeres-
strande bis in die alte Hauptstadt Jugurthas einfahren kann.
Der sibirisch-amerikanische Telegraph. Im Frühjahr
1866 segelte von San Francisco aus eine Flottille nach dem nörd--
lichen Großen Oeean, welche Arbeiter und Materialien für den
Bau des Telegraphen an Bord hatte. Wir haben über den Fort-
gang des Unternehmens mehrfach Mittheilungen gemacht; jetzt
lesen wir in der „Allgemeinen Zeitung" in einem Briefe aus
San Francisco, daß mehrere Erpeditionsschiffe im November nach
Iii 1
126 Aus allen
diesem Hafen zurückgekehrt waren. Ueber das Ergebniß der Be-
mühungen wird Folgendes gemeldet.
Die Reisen von einem Punkte der Küste bis zum andern
waren glücklich, und die Erforschungen lieferten günstige Ergeb-
nisse, obgleich man den Tod zweier der Beamten, des Herrn
Kennicott und des Herrn Legard, zu bedauern hatte. Im Monat
August trafen die meisten Schiffe der Flotte in Plover Bai (Kamt-
schatka) zusammen, wo drei große Holzhäuser gebaut wurden,
denen man den Namen Kelseyville beilegte, und wo man am
21. August die erste Telegraphenstange feierlichst setzte. Die Bai
ist geräumig (27 Miles tief), liegt etwas südlich von der Be-
rings-Straße und bietet trefflichen Ankergrund. Die Bewohner
der Gegend, die Tehanktschis (nach Anderen Tehanktars ge-
nannt), sind den Eskimos verwandt; sie tödten jeden der ihrigen,
der nicht arbeitskrästig ist, sind sonst aber harmlos und wenig
diebisch. Fünfzehn Mann wurden dort zurückgelassen, um die
Telegraphenpfähle nördlich nach der Berings-Sraße und südlich
uach der Anadyr-Bai zu pflanzen, was aber erst im Frühjahr ge-
schehen kann. Das nöthige Holz war von Washington Territory
mitgebracht worden.^
Die Vegetation jener Gegend ist sehr spärlich, und liefert
fast nur das nöthige Moos für die Rennthiere, an Wild, Geflü-
gel und Fiscken fehlt es aber nicht. In der Anadyr-Bai traf die
Erpedition mit der Abtheilung zusammen, welche dort überwin-
tert und ihre Vermessungen vollendet hatte. Die Kälte war häu-
fig unerträglich, hatte aber nicht verhindert, daß man in den mit
Hunden besvannten Schlitten bedeutende Reisen unternehmen konnte.
Die russische Niederlassung am Anadyr heißt Anadyrsk
und besteht aus fünf Dörfern, von denen Makora, Kräport und
Pokovükot die bedeutendste» sind. Die Kwickpack-Erpedition
erreichte ihren Zweck, obgleich ihr Chef, Herr Kennicott, im Mai
gestorben war. Ein Theil derselben erreichte Fort Tankan,
wodurch dargethan wurde, daß der Kwickpack-Fluß für Trans-
portzwecke benutzbar ist; eine andere Abtheilung ging von
Norton Sound nach Park Channel an der Berings-Straße,
und eine dritte wird während des Winters nach Britisch Colum-
bia. aufbrechen, wodurch die ganze Kette der Vermessungen zur
Vollendung gebracht werden soll. Capitain Libby hat sein Quar-
tier in Grantley Harbor aufgeschlagen.
Zur Statistik von Britisch Birma. Dasselbe begreift
bekanntlich das Land an den Mündungen des Jrawaddy, das vor-
maligc Pegu, und bildet eine Haupterportgeciend für Reis, der aus
den Häfen Ranguhn und Bassein in großer Menge verschifft wird.
Unter der britischen Herrschaft, welche die Sicherheit für Leben
und Eigenthum gewährt und die Abgaben geregelt hat, ist ein
Fortschritt unverkennbar. Im Jahr 1862 betrug die Volksmenge
1,897,897 Seelen; 1865 war sie auf 2,196,180 gestiegen. Im
erstgenannten Jahre waren 1,552,563 Acres unter Anbau, im
letztgenannten schon 1,767,093 Acres. Die Landtare wirft
2,837,255 Rupien (zu 20 Silbergroschen) ab; der Ertrag der
Zölle stellt sich ans 2,055,276 Rupien; die Gesammteinnahme
auf 10,255,735 Rupien; die Handelöbewegung, also Ein- und
Ausfuhr, stellte sich für 1865 auf die beträchtliche Summe von
103.417,338 Rupien. Auf das Volksschulwesen verwendet die
englische Regierung freilich nur 50,000 Rupien.
Die Bewegung in den Straßen von London ist in der
That kolossal. Man hat berechnet, daß in dem Halbjahr vom
6. November 1864 bis zum 7. Mai 1865 täglich, im Durchschnitt,
Fußgänger gewandert sind über die Southwarksbrücke 12,963;
über die Westminsterbrücke 47,000, über Blacksriarsbridge 48,500
und über die Londonbridge 95.000.
Die Einwohnerzahl von Warschau betrug 211,396 Köpfe
im Jahr 1863; sie stieg im folgenden Jahr aus 222,906 und
hatte zu Ende 1865 die Zahl von 243,512 erreicht.
Die Gesundheitsstationen in Indien. Das heiße Klima
des indischen Tieflandes wirkt bekanntlich in hohem Grad er-
schlaffend auf die Europäer. Deshalb wurden sogenannte Sa-
natarien zu einem unabweisbaren Bedürfnisse, und an geeig-
neten Oertlichkeiten zu denselben fehlt es im Gebirge nicht. Nach
Erdtheilen.
und nach sind nun sieben solcher Stationen gegründet worden:
Dardschiling, Nyni-Thal, Mussuri, Dharmsallah,
Dalhousie, Murri und Simlah. In dem letztern pflegt
der Generalgouverneur während der Sommermonate zu verweilen,
weil dann in der bengalischen Tiefebene und namentlich in der
Hauptstadt Calcutta das Klima entsetzlich abspannend und erschlaf-
send wirkt. Der zeitweilige Hofhalt und die kühle, gesunde
Lage ziehen viele Leute an, und Simlah, das 1841 ein unbedeu-
tendes Dorf war, hatte 1866 schon mehr als 12,000 Einwohner,
darunter etwa 1000 Europäer. Die Gegend ist ganz herrlich;
man hat die Wohnungen nicht nach einförmigem, regelrechtem
Plane aufgeführt, sondern die Häuser, von denen etwa 300 nach
europäischer Art gebaut worden sind, liegen zerstreut umher, auf
einem Vorsprunge des Berges Dschako und theilweise im Walde.
Auf den drei Bazaren, deren jeder eine besondere Boventerrasse
einnimmt, herrscht ein buntes Leben; dort treffen die Gebirgs-
bewohner mit den Leuten aus dem Unterlande zusammen; man
sieht dort gleichzeitig Sikhs, Afghanen, Kaschmirier und Ladakhis
aus Kleintibet. Durch die Eichen und andere Bäume, welche
in gemäßigten Himmelsstrichen wachsen, erhält diese etwa 7000
Fuß über dem Meere liegende Landschaft einen fast europäischen
Charakter. Der Ankömmling hat die Wahl unter drei verschic-
denen Gasthöfen; er findet ein Lesecabinet, eine Bibliothek und
sogar ein Theater; auch für Schulen ist gesorgt worden. — Das
Sanatarium Dalhousie liegt auch auf einem Vorberge des
Himalaya zerstreut, in einer Höhe von 6500 bis 8000 Fuß. Der
Anblick auf die schneebedeckte Kette und die weißen Gipfel des
Hochgebirges ist gewaltig und macht einen feierlichen Eindruck.
Aus jenem Schnee kommt der Ravi herab, der an der Gesund-
heitsstation vorbeifließt hinab nach Lahore. Europäer machen
sich dann und wann das Vergnügen, auf dem im obern Laufe
sehr reißenden Strom auf Flößen hinabzufahren, die noch heute,
wie in den Tagen des Alterthums, ausgeblasene Schläuche zur
Unterlage haben.
Die Wittwenverbrenuunqen in Indien. Es erfordert
große Anstrengungen, diesen abscheulichen Brauch auszurotten,
weil gerade die Frauen selber in dem Wahne stehen, daß sie sich
und auch ihren verstorbenen Mann entehren, wenn sie sich nicht
von den Flammen zerstören lassen. Indische Blätter berichteten
neulich einen merkwürdigen Fall. Unter den eingeborenen Fürsten
hatte ein Radschpute, Maharao Ram Singh, Herr des Fürsten-
thums Kotah, sich rühmlich dadurch ausgezeichnet, daß er mit
aller Krast jenem heillosen Brauch entgegenarbeitete. Nun hat
es sich aber getroffen, daß die Wittwe gerade dieses Mannes
Alles aufbot, um auf dem Scheiterhaufen'zu sterben; sie wollte
sich in der Hauptstadt von Kotah, die Harauti heißt, öffentlich
verbrennen und war in hohem Grade empört, als der britische
Resident Bruce solch ein Todtenopfer nicht dulden wollte. Er
sperrte die Fürstin ein, aber sie erbrach die Thüren und wollte sich
platterdings verbrennen. Man mußte sie noch einmal festnehmen
und sie bleibt fortan unter strenger Überwachung.
Das Hinschwinden der Jndianerstämnie in Südame-
rika. Wir finden in dem soeben erschienenen zweiten Bande der
„Reisen durch Südamerika, von I. I. von Tschudi"
(Leipzig, Brockhaus, 1866) folgende interessante Bemerkung:
„Es ist eine höchst eigenthümliche Erscheinung, daß In-
diane rstamme, welch e durchKrieg oder Epidemien Plötz-
lich sehr stark reducirt wurden, sich in der Regel nie
wieder erholen und nur noch als wenig zahlreiche Fa-
milien gewöhnlich noch Jahrzehnte lang hinsiechen, bis
sie endlich ganz aussterben. Bei ihnen tritt nicht mehr die
Vermehrungsprogression ein, wie sie vordem vernichtenden Schlage
stattgefunden hatte und bei anderen unter den nämlichen physi-
schen Bedingungen lebenden Völkern beobachtet wird. Meines
Wissens ist dieses Verhältniß noch nirgends erörtert worden.
Ich habe es bei einem genauen Studium der nord-
und südamerikanischen Völker als Regel gefunden.
Sehr verminderte Fruchtbarkeit des Weibes ist die Hauptursache;
auf welchen Physiologischen Einwirkungen dieselbe aber beruht, ist
wohl schwer zu ermitteln."
Herr von Tschudi erläutert den Gegenstand an einem Stamme,
Aus allen
dessen schwache Reste er am obernMueury traf. Dort wohnte,
wenige Meilen von Alto dos Bois und Capellinha, wo ein Q-uar-
tel, d. h. ein Militairposten zum Schlitze gegen Angriffe der In-
dianer errichtet war, ein Portugiese. Vor nun etwa 80 Jahren
suchte bei diesem der Stamm der Malalics, welchen von Osten
her die Naknenuks-Botofuden drängten, Zuflucht und Schutz;
sie siedelten sich in der Nähe des Militairpoftens an. Der Com-
Mandant behandelte sie unvernünftig, preßte sie zu Soldaten, ver-
kürzte sie in ihrer Löhnung, bestraste auch kleinere Vergehen hart.
Kein Wunder, daß sie abermals in die Wälder zogen. Dann aber
fielen jene Botokuden wieder über sie her und rieben den Stamm
zum großen Theil auf. Der Rest entfloh', ging wieder nach Alto
dos Bois und wurde von jenem Portugiesen Antonio Gomez Leal
auf der Fazenda S. Pedro freundlich aufgenommen.
Vor 1787 zählten jene Malalics mehr als 500 Individuen;
sie erschienen nach dem ersten Kampfe mit den Botokuden kaum
150 Köpfe stark, und als sie nach ihrem zweiten Rückzüge bei
Gomez Leal sich wieder sammelten, waren ihrer nur noch — 26!
Trotzdem sie, sagt Herr von Tschudi, nun schon 70 Jahre ansässig,
keinen besonderen Gefahren ausgesetzt sind und ungestört nach
ihren Neigungen leben, dabei nur sehr mäßige Arbeiten verrichten
und auch an keinen Nahrungssorgen leiden, ist ihre Zahl doch
nicht aus me^r als einige 30 Individuen gestiegen. Ich. habe
mehrere von ihnen gesehen.
Geistererscheinungen in China. Diese sind jetzt allge-
mein Mode geworden in dem arg zerrütteten Blumenreiche der
Mitte. Jede Stadt will ihren eigenen Schutzgeist haben, der
Unglück von ihr abwenden soll. Die Geister lassen es auch nicht
an sich fehlen; sie erscheinen wann und wie das Volk es wünscht-
Der Pariser „Moniteur" enthält einen Bericht, dem zufolge der
Statthalter der Provinz Echan si bei dem kaiserlichen Hof in
Peking um eine angemessene Belohnung nachgesucht hat; auf
diese habe der Schutzgeist der Stadt Sing tschang Anspruch, weil
er im Verlaufe der letztverflossenen Jahre nicht weniger als drei
Mal Verderben von ihr abgewandt. Er ist durchaus praktisch zu
Werke gegangen. Als im 26sten Regierungsjahre des Kaisers
Tao kuang die Rebellen jene Stadt umzingelten und sich zum
Erstürmen bereit machten, wurden sie allesammt, ohne eine einzige
Ausnahme, derart von Kopfschmerzen befallen, daß sie gar nicht
mehr gehen konnten, sondern sich zur Erde warfen um zu schlafen.
Da machten die Kaiserlichen einen Ausfall und massacrirten alle
Feinde. Das Alles war so durch den Schutzgeist veranstaltet
worden; natürlich haben viele Leute ihn gesehen. Derselbe Geist
vertrieb bald nachher alle Wölse, welche unter dem Vieh große
Verheerung angerichtet hatten. Dafür kamen aber nachher die
Rebellen, mit welchen der Schutzgeist indeß wieder fertig wurde.
Er bewirkte durch Zauber, daß auf allen Hügeln weit und breit
gewaltige Lagerfeuer emporloderten; die Rebellen glaubten, durch
den Schutzgeist verblendet, daß bei jedem Feuer tausend kaiserliche
Soldaten ständen und zogen deshalb in aller Eile ab. Nun soll
der Kaiser wo möglich allen Städten einen solchen Unheil ver-
scheuchenden Genius verschaffen. Nöthig hätten sie ihn allerdings.
Die Chinesen zu San Saeramento in Californien
haben am 16. October 1866 an den Bürgermeister eine Eingabe
gerichtet, in welcher sie sagen: „Die Unterzeichneten bitten eine
sehr verehrliche Stadtbehörde, daß ihnen fortan gestattet werde,
Feuerwerke abzubrennen und anderweite Feierlichkeiten zu veran-
stalten, welche zu den Sitten und Gebräuchen ihres Heimathlan-
des gehören, und die insbesondere zu veranstalten sind während
jener drei Feiertage, an denen es sich darum handelt, den Teufel
aus der Stadt zu treiben, namentlich auch aus dem Stadt-
viertel, in welchem die Chinesen wohnen."
Ein Ausflug auf der Insel Ueso. Im südlichen Theile
dieser nordjapanischen Insel liegt der Hasen Hakodadi, welcher
dem Verkehr mit den Ausländern offen steht, und dort haben sich
Kaufleute verschiedener europäischer Völker niedergelassen. Sie
unternehmen dann und wann Streifzüge in der Umgegend und
treffen dort mit den in unseren Tagen viel besprochenen Einge-
borenen, den behaarten Ainos, zusammen. Japaner wohnen nur
an der Küste und in den wenigen Städten. Ein Engländer |
Erdtheilen. 127
schildert seinen Ritt in die Wälder. Etwa 4 deutsche Meilen von
Hakodadi liegt das große Dorf Ono, wohin die Eingeborenen
Landeserzeugnisse bringen; in der Nähe liegen mehrere Seen, an
denen überhaupt die Insel nicht arm zu sein scheint. Ein anderes
großes Dorf, Mauri, liegt unweit der Volcanbai und etwas
landeinwärts, rinas von dichtem Wald umgeben, der Voleanfee.
In jener Gegend leben viele Bären; die Felle dieser Thiere sind
ein für die Ainos wichtiges Handelsproduet. Der Reisende be-
rührte noch mehrere Dörfer, z. B. Skabe, das am Fuße des
Vuleans liegt. An diesem ist, namentlich auch in der Nähe von
Kakuni, die Gegend weit und breit mit Lava und Bimsstein
überdeckt. Vor etwa 15 Jahren hat der Vulcan einen Ausbruch
gehabt und dadurch ist viel Land verwüstet worden. Man kann
heute die verschiedenen Lagen von Lava und Dammerde genau
beobachten; sie liegen, scharf abgeschnitten, über einander und
zeigen deutlich, daß der Feuerberg im Verlaufe der Zeiten manche
sehr bedeutende Eruptionen gehabt hat. Das Dorf Kakuri hat
ausgezeichnet gute Schwefelbäder, die von den Japanern viel be-
sucht und nach Gebühr gewürdigt werten.
Deutsche Landsleute in Brasilien. Die „Deutsche Zei-
tung" von Porto Alegre schreibt: Ueberall wohin wir auch in
Brasilien sehen, sind es deutsche Männer, die an der Spitze des
Fortschrittes stehen; schon oft haben wir Namen von Deutschen
ehrend erwähnt, die als Pioniere der Zukunft in Wald und Fluß
vorwärts dringen, um dem Verkehr neue Gegenden, fast möchten
wir sagen Welten zu erschließen. Da ist der alte und unermüd-
liche Pfadfinder von Donna Franeisca, Wunderwald, der Pique
auf Pique in den Urwald schlägt; Herr v. Holleben, der die
Provinzen Parana und St. Catharina durch die Serrastraße in
Verbindung setzt, und jetzt wieder lesen wir, daß die Ingenieure
Gebrüder Keller, nachdem sie bereits die Flüsse Jvahy, Tibahy,
Parauapanema und Parana untersucht haben, eine neue Forschung
auf dem Flusse Jguafsu vorgenommen haben, bei der sie der
Landmesser Julius Kalkmann, ein Dolmetscher und 24 Arbei-
ter begleiten. — So sind es überall die Deutschen, die der Civi-
lisation neue Bahnen brechen und das Dunkel der brasilianischen
Urwälder lichten, hier der Kolonist mit der Art, dort der In-
genieur mit der wissenschaftlichen Exploration. Erkennt man nun
aber das Verdienst der Deutschen genügend an?
Hohes Alter in Brasilien. Blätter aus Bahia melden,
daß auf dem Engenho novo (neuen Zuckerplantage) de Para-
guaffu eine Frau im Alter von 131 Jahren gestorben ist.
Nach ihrer eigenen Aussage und zufolge der Ermittelungen des
Ortsgeistlichen kam sie 1734 zur Welt. Sie war aus Jguapo
gebürtig und zweimal verheirathet, hatte aber keine Kinder. Bis
wenige Tage vor ihrem Ableben ist sie in ungeschwächtem Besitz
aller geistigen Fähigkeiten geblieben. Bei dieser Gelegenheit wird
bemerkt, daß hohes Alter bei den Bewohnern des Rio Paraguasso
durchaus nicht zu den seltenen Erscheinungen gehöre.
Queensland in Ostaustralien erhielt 1865 durch Ein-
Wanderung einen Zuwachs von 14,368 Köpfen und hatte Ende
Decembers 88,404 Einwohner; aus 100 Männer kamen 69 Frauen;
aber das Mißverhältniß gleicht sich allmälig aus, da auf 100
männliche Geburten etwa 125 weibliche kommen. Der Ueber-
fchuß der Geburten über die Todesfälle betrug 1770 Köpfe. Un-
ter jenen Einwanderern waren 1771 Deutsche. Eine Zählung
ergab für die noch so junge Eolonie 5l,00i) Pferde, 15,000
Schweine, nahe an 900,000 Stück Rindvieh und 6,810,000 Schase.
Südamerikanische Höflichkeit. In der Mitte des Sep-
tembermonats kamen Dietator Lopez von Paraguay und General
Mitre, Präsident der Argentinischen Republiken, im freien Felde
zusammen, um über Friedensbedingungen zu verhandeln. Als
sie einander begrüßt hatten, überreichte Mitre seinem Feinde mit
zierlichen Complimenten, an denen die spanische Sprache Ueber-
fluß hat, als Ehrengeschenk eine — Reitpeitsche. Dann ver-
handelten die beiden Feldherren ein paar Stunden lang und zum
Abschied verehrte Lopez dem Präsidenten auch eine — Reit-
peitsche. In Europa wird man das seltsam finden; wer aber
weiß, welch' eine Rolle dieses Werkzeug bei den Gauchos spielt,
128
Ans allen
Erdtheilen.
wird die Sache nicht auffallend finden. Es giebt keine besseren
Reiter als die Argentiner, und sie halten ans eine Reitpeitsche,
deren Stiel manchmal kostbar verziert ist, so viel wie ein euro-
päischer Offizier aus seinen Degen.
Aus dem russischen Reiche.
Der Krieg der Russen gegen den Emir von Bu-
chara ist zu Ende. Die Wuth der Usbeken nnd Turkomanen
vermochte nichts gegen die Ueberlegenheit europäischer Kriegs-
kunst. Die Bucharen hatten im Sommer schon mehrere Nieder-
lagen erlitten, aber sie besaßen im Flußthale des Syr Darja
(Jarartes) noch ein starkes Bollwerk, das befestigte Dschüsak.
Dieses wurde von den Nüssen nach einer fünftägigen Belagerung
am 18. October 1866 mit Sturm genommen; sie verloren dabei
nicht volle 10(1 Manu und erbeuteten 16 Fahnen, 53 Geschütze
und viele Sachen von Werth. Die Zahl der Gefangenen betrug
etwa 2000. — Mit dem gleichfalls besiegten Ehan von Cho-
kand hatte man freundliche Beziehung angeknüpft und gegen
Ende des Jahres war der Handelsverkehr wieder in regelmäßigem
Gange; die Truppen kehrten aus Türkistan nach Westsibirien
zurück.
Telegraphen verkehr nach China. Das Telegraphen-
departement meldet, daß die Telegraphcnagentur, welche behufs
Erlangung eines regelmäßiger« Telegraphen- und Postverkehrs
mit China bei der russischen Gesandtschaft in Peking errichtet
werden sollte, nunmehr bereits eröffnet worden ist und die Corre-
spondenz von Kjachta nach China mit der Post in 15 Tagen, per
Estafette noch schneller befördert werden kann. Die Depeschen
aus Rußland und Westeuropa nach Peking und Tien-tsin werden
bis Kjachta durch den Telegraphen nach dem Tarif und weiter
durch die Post gegen eine Zahlung von 30 Kopeken befördert.
Eine Estafette von Kjachta nach Tien-tsin kostet bei einem Pferde
98, bei zwei Pferden 147 Rubel. Die Post geht einmal wo-
chentlich ab und zwar aus Kjachta am 5., 12., 19. und 26.,
aus Peking am 4., 11., 20. und 27. jeden Monats neuen Stils.
Die nach Peking und Tien-tsin bestimmten Depeschen sind an die
russische Agentur in Peking zu adressiren, welche sie weiter be-
fördert. Die ans China nach Rußland bestimmten Depeschen sind
dem russischen Agenten einzureichen.
Für die Dampfschifffahrt auf dem Syr Darja ist
mit dem Jahre 1866 eine neue glücklichere Epoche eingetreten.
Wenn die Schifffahrt sich nicht früher in erwünschter Weise hat
entwickeln wollen, so lag das an der Beschaffenheit des Flusses
selbst, welche die Fahrt aus demselben erschwerte, an dem Mangel
an Brennmaterial und einer ausreichenden Flottille auf dem Aral-
see. Diesen Uebelständen ist durch den am 18. Juni bestätigten
neuen Etat der Aral-Flottille, durch die Beschaffung von Fahr-
zeugen, welche den Eigenthümlichkeiten des Fahrwassers im Syr
Darja besser angepaßt sind, nnd durch die Auffindung von reichen
und guten Steinkohlenlagern durch den Generalmajor Tschern-
jajew abgeholfen worden.
Akmolly im Gebiete der sibirischen Kirgisen wurde
im Jahre 1862 zur Stadt erhoben und dient den taschkentischen
uud bucharischen Karawanen zum Centralpunkte. Bei den un-
günstigen politischen Verhältnissen in Taschkent und Buchara war
die Zahl der ankommenden Karawanen in den beiven verflossenen
Jahren sehr gering und die Preise der asiatischen Jmportwaaren
stiegen bedeutend. Im vorigen Jahre (1866) sind im Laufe des
September über 1500 Kameele angekommen, deren Ladung groß-
tentheils aus Baumwolle bestand. Im Mai, Juni und Juli sind
auf dem Markte in Akmolly 300 Pferde, gegen 3000 Ochsen, un-
gefähr 35,000 Schafe, Lämmerfelle, Roßhaar, Leder und andere
Maaren im Betrage von 170,300 Rubel abgesetzt worden.
Colonisation am Amur. Ein Blagowjeschtschenskischer
Correspondent meldet: daß der Dampfer „ArmiralKorssakow" mit
zwei Barken, aufweichen sich 150 Colonistensamilien (meist aus der
Wolgagegend) befanden, von Chabarowka aus den Ussuri
hinausgegangen ist. Die Ufer des Ussnri, sagt der erwähnte
Correspondent, sind sehr mannigfaltig und malerisch gestaltet. Sie
sind reich an ausgezeichneten Cedernwäldern und in den Thälern
ist der Boden überaus fruchtbar und wohl geeignet, alle Produete
des gemäßigten Himmelsstriches zu erzeugen. Leider sind zu we-
nig Hände und andere Mittel vorhanden, um diesen fruchtbaren
Boden gehörig auszubeuten. Die hiesigen Wälder und Gebirge
wimmeln von Pelzthieren; für den Zobel bezahlt man höchstens
4 Rubel in klingender Münze. Die Bewohner dieser Gegend
sind vorzugsweise Russen; ihre Beschäftigung ist der Ackerbau, zum
Theil auch der Handel, mit dem es jetzt etwas besser geht als früher.
Ein Schreiben des Chefs der rnssisch-geistlichen
Mission in Peking, des Archimandriten Palladij, meldet,
daß auf die Nachricht von der Rettung des Lebens des Kai-
fers die ganze christliche Bevölkerung in die Kirche geeilt sei,
um ein Dankgebet darzubringen. Die Alba sin er uud christ-
lichen Eingeborenen brachten in dem Wunsche, das Anden-
ken an dieses Ereigniß zu verewigen, eine kleine Summe zu-
stimmen, kauften dafür einen langen Schleier aus grobem Can-
nevas und ließen auf die eine Hälfte das Gebet für das lange
Leben des Kaisers, auf die andere einen auf dieSache bezüglichen
Psalmvers sticken. Am 30. August, dem Namenstage Sr. Ma-
jestät, hängten sie den Schleier dem von den Albasinern vom Ufer
des Amur mitgebrachten hölzernen Bilde des heiligen Ni-
kolaus um.
Von dem Christenthum der Jakuten giebt der „Sibi-
rische Bote" folgende Beschreibung. Von den 48,000 Einwohnern
der Ulusse Batursk und Meginsk verstehen nur 200 das Zeichen
des Kreuzes mit Worten zu begleiten und das „Bater Unser"
auswendig herzusagen. Die Anderen machen das Zeichen des
Kreuzes ganz bewußtlos oder haben gar keine Idee von Gott
und vom Gebet. Die Mehrzahl der Jakuten erkennt Nikolaus
den Wunderthäter für den höchsten Gott an, von Jesus Christus
haben sie nur sehr verworrene Begriffe. Vor noch nicht langer
Zeit lebten nnd starben die christlichen Jakuten in Folge des Man-
gels an Geistlichen ohne Beichte, Trauung und Todtenamt. In
Betreff der Ehen kommt es auch jetzt noch oft genug vor, daß
der weniger bemittelte Jakute die Tochter des Nachbars in fein
Haus nimmt und mit ihr wie mit der gesetzmäßigen Frau lebt.
Der japanische Golfstrom wird, wie die Zeitung „Kü-
stengebiet von Ostsibirien" benierkt, auch an der östlichen Seite
der Insel Nippon, längs der Kurilengruppe und an dem östli-
chen Ufer Kamtschatkas wahrgenommen. In Folge dessen ist
das Klima von Petropaw low sk, wo die Kälte nicht stärker als
30 Grad Reaum. wird, bedeutend gelinder als in Nikolajewsk
am Amur, das mit jenem unter gleichem Breitengrade liegt und
oft eine Kälte von 42 Grad hat. Dieselbe Kälte herrscht übri-
gens auch schon auf dein westlichen Ufer von Kamtschatka in glei-
cher Höhe mit Petropawlowsk, trotz der geringen Breite der Halb-
insel an dieser Stelle.
Neue reiche Goldsandlager sind, wie der „Sibirische
Bote" meldet, ganz zufällig im Nertschinskischen am Debak,
Darassuk und D schalmatsch in entdeckt worden.
Der Naphthareichthum in der kaukasischen Gegend
ist ungemein groß. Die „Petersburger Zeitung" meldet, daß außer
dem artesischen Brunnen ain Flusse Kudako, welcher täglich einige
Tausend Pud Naphtha auswirst, noch viele andere Quellen ent-
deckt worden sind, welche zusammengenommen eine ganz nnge-
heure Menge liefern. Nicht alle Naphtha ist mit Schwefel ver-
setzt; manche Arten geben ein ganz reines Gas ohne unangeneh-
men Geruch, die Preise sind ungemein billig.
Der Zustand der Wege im Gouvernement Kiew ist
wohl deutlich genug aus der Erklärung des Kiewschen Gouverne-
ments-Postcomptoirs zu erkennen, nach welcher seit dem 11. Oe-
tober wegen „neuerdings unfahrbar gewordener" Wege keine Post-
equipagen mehr von Kiew nach Ostrow und Moskau entsendet werden.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaetion verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Sevilla und das Volksleben in Andalusien
Ter Alcazar in Sevilla und die Zeit der Mauren. — Erinnerungen an König Peter den Grausamen. — Die BaLos de Padilla und die
Gärten. — Die sevilliauische Malerschule. — Die Vorstadt Triana und die Zigeuner. — Theater; die Sainetes; Darstellung von Volks-
seeuen, Volksgedichten. — Die große Tabacksfabrik und die Cigarreras.
Wir fahren fort mit den Schilderungen aus Sevilla und
aus dem Volksleben in Andalusien, das so farbig und eigen-
artig ist*)-
Der Alcazar in Sevilla ist, nach der Alhambra in
Granada, das herrlichste maurische Baudenkmal in Spanien.
Er ist von einer Gartenlandschaft umgeben, die man niit
vollem Recht als ein irdisches Paradies bezeichne« kann.
Sevilla stand, als Residenz der älmoravidischen Sul-
taue, im zwölften Jahrhundert iu hoher Blüthe. Der Bau
des Alcazar soll schon im elften Jahrhundert begonnen wor-
den sein; der arabische Architekt stammte aus Toledo, aber
von seinem Werk ist nichts übrig geblieben, denn das gegen-
wärtige Gebäude ist im Anfange des dreizehnten Iahrhun-
derts aufgeführt worden. Der Stil ist rein maurisch, doch
sind spatere Zuthateu vorhanden, lieber dein Haupteingange
liest man in großen gothischen Buchstaben, daß der sehr edle
uud mächtige Don Pedro, durch Gottes Gnade König von
Kastilien und Leon „diese Aleazars und diese Faoaden" im
Jahre 1402 aufführen ließ.
Die Araber nannten den Alcazar: Al Kasr, Palast
des Cäsar, denn der Name des römischen Feldherrn war
ihnen gleichbedeutend mit Macht und Majestät. Jene In-
schrist aber beweist, daß Peter der Grausame einen bcträcht-
lichen Theil des Palastes bauen ließ. Er stand mit den
Mauren Granadas in gutem Einvernehmen und der Christ
erhielt von ihnen mohammedanische Künstler und Wertleute.
Kaiser Karl der Fünfte fügte Bauten in griechisch - romani-
scheut Stil hinzu, deren Schwerfälligkeit einen starken Gegen-
satz zu der anmuthigen Leichtigkeit der mo.reskifchen Archi-
tektnr bildet. Dazu kam, daß die seinen Stucco-Arabesken
zu nicht geringem Theil unter dicken Lagen von Mörtel ver-
schwanden. Denn die spanischen Christen der letztverflossenen
Jahrhunderte schätzten die manrische Baukunst nur sehr ge-
ring; auch von der gothischen Architektur hatten sie eine sehr
geringe Meinung. Dem Zeitalter der Inquisition gefiel der
langweilige und frostige „Jesuitenstil" besser, der sich dann
anch über das ganze spanische Amerika verbreitete.
Der Patio de las Doncellas, ein großer Hofraum
im Innern, gewährt einen imposanten Anblick. Dieser Theil
des Gebäudes ist in unseren Tagen durch den Herzog von
Montpensier in altem Stile völlig wiederhergestellt worden,
und ein Gleiches ist mit den Hauptsälen des Gebäudes der
Fall. Der Hofranm „der jungen Mädchen" (Doncellas)
heißt so, weil einer alten Überlieferung zufolge der König
) Vergleiche „Globus" X. 17. 129. 225. 275.
Globus XL Nr. 5.
zu Sevilla iu jedem Jahr eine Sendung vou einhundert
Mädchen von einem seiner Lehnfürsten erhielt.
Der Alcazar hat, gleich der Alhambra, auch einen „Saal
der Gesandten". Eine seiner Kuppeln hat die Gestalt einer
halben Apfelsine (media naranja); sie ist von Cedern- und
Lärchenholz, vortrefflich erhalten, von Werkmeistern aus Gra-
nada gearbeitet und die Farben Blau, Roth und Gold haben
noch den besten Glanz. Der Eindruck wird aber dadurch
gestört, daß man eine Anzahl grotesker Figuren von spani-
scheu Königen unterhalb der Kuppel angebracht hat.
An den Alcazar knüpft sich Vieles ans dem Leben des
christlichen Königs Peter, welcher mit Recht den Namen
des Grausamen führt. Unweit von der Thür, welche
zum Patio de las Doncellas führt, sieht mau im Gesandten-
saale ein paar röthliche Flecke. Der Sage nach hat ans
dieser Stelle König Peter seinen Bruder, den Infanten Don
Fadrique, ermorden lassen. Der eifrige und „fromme" König
hatte schon vorher drei andere Brüder, seine Gemahlin, seiner
Mutter Schwester und noch einige andere Verwandte ermordet.
Einige Jahre später wurde er dann, erst 34 Jahre alt, von
seinem eigenen Bruder, Heinrich de Trastamare, todtgestochen.
Dieser schnitt ihm den Kops ab und schickte. denselben als
Siegeszeichen nach Sevilla.
Auf Schritt und Tritt wird man im Alcazar an diesen
wilden und wüsten Tyrannen erinnert, der viel gebetet hat
und den einige Geschichtschreiber als den „gerechten" bezeich-
nen, weil er einige Mal anch Verbrecher nach Gebühr hat
bestrafen lassen. Er war aber auch ein ganz gemeiner Räu-
ber und trieb auch als solcher sein Handwerk in blutiger
Weise. Einst kam, unter schriftlicher Zusicherung sichern
Geleites, der König Abn Said von Granada zu dem christ-
lichen Herrscher nach Sevilla. Dieser „Rey vermejo" wurde
glänzend empfangen und Peter veranstaltete glänzende Fest-
lichkeiteu, um seinen gekrönten Gast zu ehren. Der Maureu-
könig hatte ein zahlreiches Gefolge mitgebracht, das, gleich
ihm selber, großen Luxus entfaltete. Diese Mohammedaner
waren iu Sammet nnd Seide gekleidet; Tracht und Waffen
erglänzten von Perlen und Edelsteinen. Eine Handschrift
aus jeuer Zeit hebt besonders drei schöne Rubine hervor, die
so groß gewesen seien wie Tanbeneier. Der Anblick dieser
Schätze regte die Habgier des christlichen Königs auf, nnd
er erstach mit eigener Hand in einem der Säle des Alcazar
seinen Gast, den mohammedanischen König Abu Said!
Einer dieser durch schnöden Meuchelmord erworbenen
Rubine wurde vou Peter an den berühmten s ch w a r z e n
Prinzen aus England geschenkt, gehörte später der Königin
17
Sevilla und das Vo
Elisabeth und glänzt gegenwärtig in der englischen Königs-
kröne, die man im Tower zn London sehen kann.
Die Baüos de Padilla sind maurische Bäder, welche
Peter für die schöne Maria de Padilla hat restanriren lassen.
Sie war voll Geist und Anmnth, hatte große Gewalt über
den Tyrannen und deshalb glaubte das Volk, sie habe ihn
behext. Peter hatte Blanche von Bonrbon geheirathet; er
ileben in Andalusien. 131
verließ dieselbe am Tage nach der Hochzeit und ging zn
seiner Maria, welche im Alcazar zu Sevilla als Gebieterin
schaltete. Der König erlaubte seinen Günstlingen, die Maria
ins Bad zu begleiten, und solche Höflinge, welche sich bei
ihrem Herrn recht angenehm machen wollten, trieben die
Schmeichelei so weit, daß sie von dem Badewasser tranken.
Einer dieser Hofleute versäumte, einen Schluck zu nehmen
Facadc des Alca
und das bemerkte der König mit großem Mißfallen. So
lautet die Sage; sie zeigt wenigstens, was man deni König
und seinen Höflingen zutranete. Peter ließ seiner Buhle
ein prachtvolles Leicheubegäugniß halten. Sie ist in der
königlichen Capelle der Kathedrale begraben, dicht neben dem
„heiligen" König Ferdinand.
In einem Saale des ersten Stockwerkes wohnte Peter.
tt" in Sevilla.
An der Wand sieht man vier gemalte Todtenköpfe, der Ueber-
lieferung zufolge, an der Stelle, wo Peter die Köpfe von
vier Richtern hatte annageln lassen; sie hatten ungerecht ge-
nrtheilt und weil Peter ihnen den Kopf abschneiden ließ,
heißt er — der Gerechte!
Die Capella de Azulejos ist zum Theil mit Platten
von bemalter Fayence bekleidet, welche Davillier, gewiß ein
132 Sevilla und das Vo
gründlicher Kenner, für die schönsten erklärt, die es überhaupt
gebe. 3u dieser Capelle wurde Karl der Fünfte mit Jsabella
von Portugal getraut.
Die Gärten des Alcazar erinnern an tropische Land-
schasten. Dort trägt die Banane reife Fruchte, welche der
Königin nach Madrid geschickt werden. Die Orangen- und
Granatbäume haben einen kolossalen Wuchs und manche der-
selben mögen wohl in die Tage des grausamen Peter hinauf-
reichen. Einige unter Karl dem Fünften gebanete Lusthäuser
werden vou Citroneubäumen beschattet. Die Gänge sind
mit Backsteinen gepflastert; diese bilden allerlei Figuren. In
den Steinen sind unzählige kleine Löcher angebracht, aus
welchen, sobald ein Hahn aufgedreht wird, ein feiner Staub-
regen emporsteigt; dieser hydraulische Scherz war bei deu
Mauren sehr beliebt; sie legten kupferne Röhren unter die
Steine und kühlten die Luft etwas ab.
Die Stadt mit ihrem ,Walde von Kirchtürmen", wie
Moritz Willkomm sich ausdrückt, bildet in ihren inneren
Theilen ein Labyrinth von engen Gassen und kleinen Plätzen,
hat aber viele prächtige moderne Häuser, davon viele in alt-
römischer Art, mit sontainengeschmückten, marmorgetäfelten
Höfen mit eleganten Gitterthoren. Bemerkenswerth erscheint
die Casa de Pilatos, ein gegen Ende des sechszehnten
Jahrhunderts gebaueter Palast, welcher dem Herzoge von
Medina Celi gehört. Keine andere Privatwohnung kann
sich an Pracht der Bauart und Zierlichkeit mit diesem Hause
messen, in welchem der maurische Stil in sehr gelungener
Weise mit dem Uebergange des Gothischen in die Renaissance
gemischt ist. Der innere Hosraum ist geradezu prächtig; seine
überdeckte Galerie, deren gekrümmte Bogen von weißen Mar-
morsänlen getragen werden, ist mit wunderschönen, vortrefflich
erhaltenen Azulejos verziert; manche derselben haben einen
Metallreslex und gehören zu deu allerschönsteu, die man sehen
kann. Dagegen sind die altrömischen Statuen im Patio,
wie alle die man bisher in Spanien gesunden hat, sehr mittel-
mäßig. Die Casa de Pilatos ist angeblich nach dem Plane
des Hauses aufgeführt worden, welches Pontius Pilatus in
Jerusalem bewohnte.
Unweit von derselben liegt die Juderia, das alte Ghetto,
ans welches die Juden beschränkt waren, bevor die barbarische
Unduldsamkeit der Christen sie aus Spanien vertrieb. Auch
gab es eine Moreria, ein Quartier der Mauren, die auch
aus dein Laude verjagt wurdeu, welches sich dadurch tiefe
Wuuden schlug, denn von da an begann die Zeit der Faul-
heit in Spanien. In der Juderia liegt das Haus, in welchem
kein geringerer Mann geboren wurde als Bartolome Estevan
Mnrillo, nach welchem jetzt die Straße benannt wird.
Unter den Provinzialmnseen ist jenes in Sevilla das
einzige in Spanien, welches bicfcxt Namen verdient. Es
befindet sich im ehemaligen Kloster de la Merced; ans dem
Platze vor demselben erhebt sich ein Standbild Mnrillos, das
1861 in Paris von Eck und Durand gegossen wurde. Die
sevillianische Malerschule, deren erste Meister Belasqnez
und Murillo waren, ist unter den spanischen die bedeutendste.
Das Museum aber besitzt von dem erster« nicht ein einziges
Bild, dagegen viele von Mnrillo; in einem besondern Saale,
el Salon de Murillo, befinden sich deren nicht weniger als
zwölf. Auch vou Z urbar an, von dem altern Herrera
und von Pacheco, dem Schwager des Belasqnez, sind tresf-
liche Bilder vorhanden.
Wir müssen noch einmal auf Peter deu Grausamen
zurückkommen. Er war Nachäffer des berühmten Chalifeu
Harun al Raschid, der Abends verkleidet in den Straßen
von Bagdad umherging und Abenteuer aufsuchte. So däm-
werte auch König Peter in den Gassen von Sevilla umher.
Einst traf er in der Candilejostraße mit einem Unbekannten
kleben in Andalusien.
zusammen, gerieth in Streit lind erstach den Mann. Er
glaubte sich ohne Zeugen, aber eine alte Frau hatte aus
ihrem Fenster Alles mit angesehen und zeigte am nächsten
Morgen den Vorfall bei Gericht an. Der Mörder, sagte
sie, hat Säbelbeine gehabt und als er fortging, knatterten
ihm die Knie. Nun wußte in Sevilla Jedermann, daß das
gerade auf den König Peter paßte, und die Richter geriethen in
eine nicht geringe Verlegenheit, erstatteten aber doch Bericht
an den Herrn. Dieser, so wird erzählt, erklärte sofort, daß er-
den Mord verübt habe und ließ der alten Frau eine Summe
Geldes auszahle». Ja, er verlangte auch, daß man den Misse-
thäter nach aller Strenge des Gesetzes bestrafen müsse, daß
er demgemäß enthaupret werden und fein Kopf an der Stelle,
an welcher der Mord begangen worden fei, ausgestellt werde.
Der König ließ sich demnach enthaupten, — freilich nur in
effigie, nnd ließ dann sein Brustbild in einer Nische am
Hause der allen Frau aufstellen.
Das that Peter „der Gerechte"! Die alte Büste ver-
schwand im Verlaufe der Zeit, uud wurde im siebenzehnten
Jahrhundert durch eine andere ersetzt. Der wilde Peter hat
aus dem Haupt eine Krone und in der Hand ein Scepter.
Bor einiger Zeit hat man ein eisernes Gitter vor derselben
angebracht und nun können die Gassenbuben von Sevilla
die Nase Peters des Grausamen nicht mehr zur Zielscheibe
ihrer Steinwürfe nehmen; die Obrigkeit hat ihnen ein Haupt-
vergnüg en verd orbeit.
-i- *
Die große Vorstadt Triana zählt Ulehr als 13,000
Einwohner nnd liegt am rechten Ufer des Guadalquivir; sie
ist durch eine eiserne Kettenbrücke mit Sevilla verbunden.
Der Name soll von Trajana herkommen; Kaiser Trajan
war bekanntlich aus Italien, das ganz in der Nähe des
heutigen Sevilla lag. Triana verhält sich zu dem letztern
etwa so wie Trastevere zu Rom. Ein großer Theil der
Bewohner besteht aus Zigeunern, welche sich hier eben so
heimisch fühlen wie auf dem Sacra monte in Granada.
Alle Gassen der Triana bieten einen armseligen Anblick
dar, selbst die Hauptstraße, Calle de Castilla, nicht aus-
genommen. Aber die Töpferwaaren dieser Ortschaft hatten
schon in der römischen Zeit großen Ruf, und die Legende
will wissen, daß die beiden Schutzpatroninnen Santa Justina
und Santa Rufina, welche gegen Ende des dritten Jahr-
Hunderts den Märtyrertod erlitten, Töpferstöchter aus Triana
gewesen seien. Sie stehen zn Sevilla in großer Verehrung
und mau hat die Giralda ihrem Schutz anvertraut. Heute
freilich sind die Töpferwaaren Trianas nur ein Schatten
gegen die früheren in der arabischen Zeit, aus welcher noch
herrliche Azulejos vorhanden sind, und selbst im sechszehnten
Jahrhundert wurden in etwa fünfzig Werkstätten sehr hübsche
Fayencen hergestellt, namentlich solche mit Metallreflex.
lieber die Zigeuner, deren wir fchon so oft in früheren
Mittheilungen erwähnten, wollen wir uns heute möglichst
kurz fassen. Sie führen auch in Triana ihr Zigeunerleben
und sind arm; auffallend bleibt, daß sie hier uicht Huf-
schmiede sind, wohl aber Toreros. Die Mädchen und Frauen
arbeiten in den Cigarrenfabriken, sind Tänzerinnen, sagen
wahr, verkaufen Blutwürste oder in Oel gebacken» Psann-
kucheu, handeln mit allerlei Knrzwaaren und Tand und
gelten keineswegs für ehrlich. Auch in Sevilla bilden die
Zigeuner eine besondere Kaste, sind verachtet und der Gacho
(so nennt der Zigeuner den Spanier) verhöhnt sie und macht
sich über sie lustig.
Bei den Begräbnissen haben sie eigentümliche Ge-
bräuche. Die Leiche wird zwischen zwei brennenden Kerzen
auf einen Strohfack gelegt; die Frauen werfen sich platt zur
134 Sevilla und das No
Erde nieder und raufen in ihrem dicken, schwarzen Haar
herum, während die Männer zum Andenken des Dahinge-
schiedenen Branntwein trinken. Ein Volksgedicht sagt, daß
ein Zigeuner im Testamente verordnet habe, man solle ihn
in einem Weinberge begraben, damit er am Rebholze saugen
könne.
Un Gitano se murio
Y dejo en el testamento
Que le enterrasen en viiia
Para chupar los sarraiento.
Auch als Diebe werden sie hingestellt. Ein Zigeuner
wurde ins Gefängniß gebracht, weil er gestohlen hatte. Auf
die Frage eines Dritten, was er denn eigentlich genommen
habe, entgegnete er: „Nur einen Strick, — an welchem sich
vier Maulthiere befanden." Die Calle de la Cava wird
fast ganz von Zigeunern bewohnt; daher in Sevilla das
Sprichwort: „Glaubst du, ich sei in der Cava geboren
worden?. (Si yo naci en la Cava?) D. h. glaubst du, ich
sei ein Lump, ein Mensch aus dem niedrigsten Pöbel?
Manche Gitauas gelten für Hexenmeisterinnen, stellen
Horoskope und „schleudern Flüche", was in ihrer Sprache
Olajai heißt. Davillier theilt den Text eines Fluches im
Calo, der spanischen Zigeunersprache, mit:
Panipen gresite terete tucue drupo! Dein Körper
möge ein schlechtes Ende nehmen.
Camble ostebe sos te diqueles 011 as baes dor bu-
chil, yarjulipe sata as julistrabas! Gebe Gott, daß du
unter die Hände des Schinders kommest und geschleift werdest
wie Schlangen.
Los de mereles de bocata y sos 1er galafres te jal-
lipeen! Möchtest du verhungern und möchten die Huude
dich auffressen. — Dann weiter: Möchten häßliche Krähen
dir die Augen aushacken! Möchte Jesus Christus dir auf
lange Zeit einen räudigen Hund schicken! Möchten meine
Augen dich am Galgen hängen sehen und möchte es mir
vergönnt sein, an deinen Beinen zu zerren und möchten dich
die Teufel mit Leib und Seele in die Hölle schleppen.
*
* *
Sevilla hat zwei Schanbühuen, das Teatro Prin-
cipal und San Fernando. Man giebt in denselben
Dramen, Opern, Zarzuelas, d. h. komische Opern, Lustspiele
und Saiuetes. Es versteht sich von selber, daß der Baile
nacional, der nationale Tanz, allabendlich den Schluß
macht. Die Audalusier führen, gleich den Italienern, im
Theater eine lebhafte Unterhaltung, die manchmal störend
wirkt und dem Nordländer ausfällt. Als Davillier und
Dore einer Vorstellung im Teatro Principal beiwohnten, siel
ihnen eine Gruppe auf, welche der Künstler sofort skizzirte.
Zwei junge, bildschöne Sevillianerinnen saßen in ihren Man-
tillen da; in dem rabenschwarzen, vollen Haare prangte eine
große schneeweiße Dahlia. Neben den beiden Fräulein saß
ihre Mutter, welche allerdings keine Spuren von Schönheit
auszuweisen hatte. Mit ihr unterhielt sich ein Engländer,
ein Tourist des bekannten Schlages, nur daß sein rother, in
Gestalt einer Cotelette herabhängender Backenbart noch aus-
fallender als gewöhnlich war. Er führte mit seiner Nach-
barin das Gespräch in einem Kauderwälsch, das er selber
ganz gewiß für Spanisch hielt, und da er sehr laut redete,
lenkte er bald die Aufmerksamkeit aus seine werthe Person.
Es konnte nicht ausbleiben, daß man Witze über ihn machte;
ohnehin sind die Audalusier zu Spötteleien geneigt und gewiß
entgeht diesen kein Ausländer, der es sich etwa einsallen läßt,
die Kleidung eines Majo anzulegen. Dann bezeichnet man ihn
als einen Franchute oder als einen Jnglis-Manglis.
Die Zarzuela begann. Sie ist ein lyrisches Stück in
sieben in Andalusieu.
Prosa mit eingelegten Couplets, gleichsam eine komische Ope-
rette. Dann folgte ein kleines Vaudeville: Paco y Paca,
d. h. Franz nnd Fränzchen; es war einem französischen Stück
entlehnt. In früheren Zeiten benutzten die Pariser Komö-
diendichter sehr oft spanische Originale, jetzt verhält sich die
Sache umgekehrt. Dem Vaudeville folgte eine Sainete.
Die Saiuetes sind urwüchsige spanische Stücke. Das
Wort bedeutet an und für sich einen schmackhaften Bissen,
welcher dem Gaumen gefällt, oder eine gewürzte Brühe. Bild-
lich übertrug man deu Ausdruck aus kurze Theaterstücke, in
welchen das Laster gegeißelt und das Lächerliche verspottet
wird. Das Stück hat allemal nur einen Act und wenige
Scenen; manchmal ist es ganz in Prosa, gewöhnlich aber
in Versen, die mit Couplets und dann und wann auch mit
einem Chorgesang abwechselu.
Das Sainete führte den Titel: LI Valor de una Gri-
tana. Die vier Personen des Stückes waren alle Gitanos,
d. h. Zigeuner, nämlich Pepiya, ein hübsches, junges Mäd-
chen; Gavirro, Vater derselben; Perico, der Novio, d. h.
der Verlobte der Schönen, und Asaura, der verschmühete
Liebhaber.
Gavirro tritt auf, ein alter gebräunter Zigeuner, das
rechte Urbild eines Esqnilador, d. h. eines Maulthier-
scheerers. (— Wir haben früher im „Globus" ausführlich
über diesen TypnS gesprochen. —) Seine Tochter erscheint;
sie hat sich recht ausgeputzt und ihm schwant, daß sie verliebt
sei. Er sagt ihr das, sie will's aber uicht eingestehen. Da
warnt er sie: „Nimm Dich in Acht; die Liebe ist ein ... .
(Hier bedient er sich eines Ausdruckes, der sich nicht gut
wiedergeben läßt.) Passe wohl auf, daß nicht Schande über
dich komme, wie es deiner Mutter pafsirt ist; die arme Frau
mußte ja ihr Leben unter den Händen des Bntschi (— Zi-
geunersprache, des Henkers —) lassen!"
Allgemeiner Beifall von der Galerie, der Caznela, d. h.
der Kafserole, denn so wird in Andalusien das „Paradies"
bezeichnet.
Der alte Gitano geht ab; hinter den Conlissen hört man
ein Trällern und gleich nachher kommt Perico: „Olesalero!
Deiue Schönheit bringt mich um; ich kann unmöglich wieder
zum Lebeu erwachen, wenn ich nicht ein Stückchen von deinem
Strumpsbande sehe!"
„Liebst du mich wirklich so sehr wie du sagst?"
„Wie, ich? Ich ließe mir ein Auge ausschlagen, nur
um dich Castiliens Königin nennen zu können. Ich würde
mich mit einem Büren ransen, nm dich zu beschützen. Sprich
nur ein einziges Wort und ich jage alle Völker der Welt,
Russen und Franzosen, in die Flucht. Willst du Schärpen
und Mantillen haben? Du brauchst nur den Mmtd aus-
zuthuu. Fünfzehn Fregatten voll schaffe ich dir. Ach, dein
Mänlchen gleicht einem Stücke vom Himmel, und über mich
kommt ein Zittern vom Wirbel bis in die Fußt atzen."
„Ich glaube am Ende, Perico, daß du mich doch ein
Bischen lieb hast."
„Was, ein Bischen? Ich habe dich wahrhaftig so lieb
wie meinen Esel; nein, noch viel mehr lieb als meinen lie-
ben Esel."
Perico geht ab und sein Nebenbuhler Asaura tritt auf.
Er ist zum Weinen betrübt und weiß wohl warum. Ihm
ist das größte Unglück widerfahren, das einem Zigeuner
begegnen kann: man hat ihm seinen Esel gestohlen.
Pepiya sucht ihn zu trösten, aber Asaura, welchem jetzt nur
der Esel im Sinne liegt, apostrophirt diesen und schluchzt:
„O du Sohn meiner Eingeweide, was mag aus dir geworden
sein? Ach, der Esel war so schön, von bester Zucht, so
blond wie ein Engländer und kräftiger als das Roß des
heiligen Jakob (von Compostella). Der Dieb foll in eine
136
Sevilla und das Volksleben in Andalusien.
e verwandelt werden, ein Skorpion soll ihn Stück nach
Stück auffressen!"
Dann wird er ruhiger und möchte sich offenbar dadurch
einigermaßen trösten, daß er der hübschen Pepiya einen Knß
geben will. Das gelingt ihm aber nicht, er bekommt viel-
mehr eine derbe Maulschelle. „Ei, sieh mal, dn? Für dich
bin ich doch viel zn hübsch. Tu weißt wohl vou gar nichts,
darum höre zu. Vor eiu paar Tagen ließ ich mein Strumpf-
band auf die Erde fallen, und da ist an derselben Stelle so-
gleich eiu mit hundert Blumen prangender Rosenstock empor-
gewachsen. Merke wohl auf, Asaura, nicht für dich kämme
ich mich, sondern für Perico."
„Perico! Dem werde ich mit meiner Navaja (großem
Messer) das Herz ans dem Leibe schneiden!"
„Nun, ich will statt seiner den Kamps bestehen. Ich
sage dir: sprich dein letztes Gebet!" Sie wickelt die Mantille
um deu linken Arm und ist bereit znui Gefecht. Da tritt
Perico wieder auf und ruft: „Wir beiden haben die Sache
mit einander abzumacheu. Ich mache eine Viertelcentner-
Blutwurst ans deinen Eingeweiden!"
„Nein, Perico, laß ihn leben! Beschmutze dich nicht
mit dem Blute dieses abscheulichen Affen."
„Laß uns allein, Pepiya! Ich will diesen häßlichen
Strauß in zwei Theile spalten."
„Also vorwärts!" ruft Asaura. „Sag deiue Beichte
her, denn dn wirst bald den Zapeado tanzen müssen."
„Nun, zieh doch dein Eisen, du kleiner Kanarienvogel.
Du sollst mehr Messerstiche bekommen als Heilige im Ka-
Im Theatw Principal z» Sevilla.
lender stehen. Heute geht die Welt unter; einer von uns
beiden muß auf dem Flecke bleiben!"
So apoftrophireu die beiden Zigeuner einander eiu paar
Minuten lang, nach Art der homerischen Helden, aber in
echt volksthümlicher, andalnsischer Art. Nachdem der Kampf
begonnen hat, denkt Perico, daß es doch gar nicht gesund sei,
etliche Messerstiche zu bekommen; er wirft sich deshalb platt
auf die Erde und ruft: „Asaura, du hast mich abgemurkst;
ich biu ein todter Mann!"
Jetzt kommt Pepiya wieder. Als sie deu Geliebten da
liegen sieht, nimmt fie sein Messer und schwört dem Asaura
zu, daß sie ihm einen tüchtigen Javegne, d.h. einen langen
Schnitt ins Gesicht, versetzen werde. Als sie Anstalt dazu
macht, wirft sich Asaura, welche» das Messer noch gar nicht
berührt hat, nieder, als ob anch er tödtlich verwundet worden
sei. Jetzt ruft sie: „Perico, mein Perico, dn bist gerächt!"
schleudert die Navaja (das Messer) weit hinweg und kniet
bei ihrem Geliebten nieder. Sie füllt in Ohnmacht.
Gavirro erscheint wieder; diesmal treibt er einen Esel
vor sich her, denselben, welcher dem Asaura gestohlen worden
ist. Als der Zigeuner drei Leichen sieht, schreiet er hell auf,
ist aber sogleich^ wieder gefaßt und geht daran, den beideu
Liebhabern die Taschen auszuleeren. Als er sie ganz leer findet,
giebt er gräßliche Flüche zum Besten. Er sagt seiner Toch-
ter ein Lebewohl und tröstet sich damit, daß er zwar eine
Tochter verloren, aber doch einen schönen Esel gewonnen habe.
Dieser fängt nun an zn schreien, so liebenswürdig und
laut ein Esel nur yaaaen kann. Asaura erkennt die Töne
Sevilla und das $
seines geliebten Grauchens, springt ans und umarmt ihn zärtlich.
Nun kommen auch Perico und Pepiya wieder zu sich, gebeu
einander die Hand und der alte Zigeuner spricht seinen Segen.
Die Darstellung solcher Volkssceneu verliert natürlich
viel, wenn sie bloß erzählt wird; sie wollen gesehen sein.
Die Schauspieler gaben ihre Rolle so natürlich, daß man
darauf hätte schwören können, sie seien Zigeuner. Diese
kommen im Stücke schlecht fort, aber den audalusischeu
Stutzern, den Majos, geht es in den Sainetes gar nicht
besser; ihre prahlerische Ruhmredigkeit und die Uebertreibnngen,
in denen sie sich gefallen, werden tapfer gegeißelt und dem
Spotte preisgegeben, z. B. in dem Stücke Paco Mandria
y Sacabnches. Diese beiden Phantasienamen gehören dem
andalusischen Dialect an und bezeichnen Renommisten, die
jeden Augenblick thuu, als ob sie einander die Hälse brechen
wollten. Davillier und Dor« wohnten einer Ausführung
des Stückes bei.
Paco Mandria sagt von sich selbst, daß er zum Lieben
und zum Kämpseu geboren sei:
Yo he nacio por quere,
Y a luego pa pelea!
Sacabuches ist sein Nebenbuhler. Beide lügen und schneiden
auf, was das Zeug nur halten will. „Ich bin ein sehr uu-
gekochter Bursch," soy un mozo mü cruo, sagt der erste.
Ungekocht will im Andalusischen so viel bedeuten wie tapser
und muthvoll, mozo cocido, ein gekochter Bursch, dagegeu
bedeutet eiueu Feigling.
„Halt's Maul! Wenn ich nur niese, müssen wenigstens
zwanzig Menschen ins Spital gebracht werden."
„Du Zigeunerabschaum, packe dich fort, oder ich schlage
dir mit einer Maulschelle alle Zähne aus."
„Du, Mozo cocido? Weuu ich grimmig werde, sängt
selbst der liebe Gott zu zittern an; ich schmeiße eine Dom-
kirche um, weuu ich sie nur mit dem Finger berühre!"
„Du verlogener Prahler (mentiroso fanfarron)! Wenn
ich meiu Messer (taja) ziehe, dann zeichne ich dir mehr Messer-
schnitte ins Gesicht, als deine Großmutter graue Haare hatte."
„Ei du Gassenbube (chiquiyo) weißt also nicht, daß
ganz Spanien und Frankreich vom Ruhme meiner Thaten
wiederhallen?"
„Und du weißt wohl nicht, daß ich zweiunddreißig Gen-
darmm mit einein einzigen Schusse niedergestreckt habe?"
„Schweig still, Dummkopf (galla, necio)! Du sollst
erfahren, ob ich ein Löwe, ein Tiger, eine Schlange bin."
„Ketzergesicht, bete deinen Rosenkranz, denn ich will dir
das Herz ausreißen."
So geht es eine Zeit lang fort. Nachdem der Worte
genug gewechselt sind, machen Beide höchst grimmige, wilde
Mienen, ziehen das Messer, als ob sie einander niederstoßen
wollten und — gehen Beide schweigend ab, der eine zur
Rechten, der andere zur Linken.
Ergötzlich ist folgende Verhöhnung der andalusischen Prah-
lerei und Eisenfresserei. Ein Majo fuchtelt mit seiner Na-
vaja (großem Messer) in der Luft umher; er hat seine Jacke
um den linken Arm gewickelt und steht an der Thür des
Circns, aus welcher eine Menge Leute kommen, die eben
einem Stiergefechte zugesehen haben.
„Aqui hay un mozo para otro mozo!" (Hier ist ein
Bursch, der einen andern erwartet.)
Ein vierschrötiger Kerl tritt vor. Man glaubt, er werde
auf die Herausforderung eingehen, aber so dumm ist er nicht.
Er tritt zu jenem hinan, legt ihm Arm in Arm und sagt:
„Nun sind wir unserer zwei, die zwei andere erwarten."
Dann erscheint ein dritter Majo, dann ein vierter und so
sort, bis eiue ganze Gruppe beisammen ist, die sich nun stark
genug glaubt, es mit anderen Leuten aufnehmen zu können.
Globus XI. Nr. 5.
ksleben in Andalusien. 137
Es ist liebenswürdig an den Andalusien:, daß sie ihre
Mängel imd Fehler nicht nur gutmüthig zugeben, sondern
selber darüber sich lustig machen.
In einigen Sainetes müssen die Ausländer herhalten.
Die Spanier sind durchaus nicht ungastlich, aber wenn sie
sich selber bespötteln, weshalb soll dann nicht auch der Fremde
eiu wenig mitgenommen werden. Unter den „estranji's"
sind zunächst die Franzosen und nach ihnen die Engländer
gemeint. Die erstereu werden vom Volksmnnde als Fran-
chntes bezeichnet, oder auch als Gavachos. Dieses Wort
kommt zunächst von den Anwohnern des Flusses Gave in
den französischen Pyrenäen (Gave de Pan) und ist dann auf
alle Franzosen übertragen worden. Man macht sich über
ihre Aussprache des Spanischen lustig und ist auf die Pariser
nicht gut zu sprechen.
Cuentan en Paris que sornos
Atrasados Zascandiles,
Porque escasos de cariles
Miran as er pais au'n.
Mas entiendan los rnuy perros
Que pä andar por esta tierra
Basta el fuego que se encierra
En el pecho e un Andalu!
Das Heißt zn dentsch, ans dem Andalnsischen übersetzt:
In Paris sagen sie, wir seien hochfahrend, und znrückgeblie-
ben, weil wir nur erst wenige Eisenbahnen haben. Diese
ErzHunde mögen aber wissen, daß das Feuer, welches in der
Brust des Andalnsiers lodert, hinreicht, um durch dieses Land
zu kommen.
Ein anderes Volksgedicht ist auch echt spanisch: „Die
Estranjis auf der andern Seite der Pyrenäen, vom Hoch-
mnthsdünkel aufgeschwollen, bezeichnen uns als Afrikaner,
weil wir zu den Stiergefechten gehen. Wenn sie aber zu-
fällig einmal einen Sitz in der Plaza (dein Circns) einneh-
men, dann sperren sie ihr breites Maul auf uud yaaau Oll,
que plaisir!"
» Desde allende el Pirineo
Los estrangis rnuy ufanos
Nos apodan de Africanos
Porque varnos al toril.
Y si alguna vez ocupan
El tendido de la plaza,
Con un palrno de bocaza
Yan graznando: Oh, que plaisir!
*
* *
Wir besuchen die weltberühmte königliche Tabacks-
fabrik. Sie befindet sich in einem mächtigen Gebände, das
170 Meter Tiefe und 200 Meter Länge hat, ist 1757 von
dem Niederländer van den Boer gebant worden, ans drei
Seiten von tiefen Gräben umzogen, und man könnte sie auf
den ersten Anblick für eine Festung oder eine Kaserne halten.
Die Tabacksfabrikation wurde in Sevilla im Jahre 1620
von dem Armenier Johann Baptist Carafsa eingeführt. Der
spanische Taback war ehemals in der ganzen Welt berühmt
und gesucht, namentlich der polvo sevillano, dieser Spaniol-
schnnpftaback. Im vorigen Jahrhnndert wurde in Spanien
fo wenig gerancht, daß ein Raucher die Aufmerksamkeit des
Publicums erregte.
Ein Capataz, d. h. Werkmeister, dient den Fremden
als Führer. Der Schuupftaback wird in den vielen Sälen
zu ebener Erde bereitet, und für die beste Sorte gilt el rape.
Der tabaco picado ist ein Fabrikat, das klein gehackt und
zu Cigaretteu verarbeitet wird. Der Capataz versicherte, daß
das Gebäude nicht weniger als 80 Patios, innere Hofräume,
und eben so viele Fontainen und Brunne» habe. Etwa
16
138
Sevilla und das Volksleben in Andalusien.
200 Tabacksmühlen werden von Pferden in Bewegung ge-
setzt. In den Sälen herrscht ein sehr scharfer, penetranter
Geruch, an welchen die Arbeiter sich gewöhnt haben, der aber
dem Besucher so viel Unbehagen verursacht, daß sie möglichst
bald den Ausgang suchen.
Im ersten Geschoß übernimmt eine Maestra, Aussehe-
rin, das Amt, die Fremden zu geleiten. Dort oben arbeiten
die Cigarreras. Ins Ohr dringt ein immenses Gemnr-
mel, es ist als ob man eine Menge von Bienenschwärmen
summen höre. In langen Galerien sitzen Hunderte und aber
Hunderte von Arbeiterinnen, welche mit großer Fingerfertig-
keit Cigarren rollen und nicht minder geläufig schwatzen. Die
Maestra bemerkte, es sei ein Ding der Unmöglichkeit, den
Arbeiterinnen Schweigen aufzuerlegen; sie würden lieber die
Arbeit ausgeben, als das Plaudern unterlassen.
Ein eigentümliches Geräusch wird durch die Hunderte
von Scheeren (tijeras) verursacht, welche gleichzeitig iu Be-
weguug sind. Diese Tijeras, mit welchen man die Spitzen
der Cigarren abschneidet, sind gleichsam das Symbol der
Arbeiterinnen, und ein Volksgedicht sagt: „Gott sprach:
Mensch, das Brot, welches du essen wirst, sollst du im
Schweiße deines Angesichts erwerben." Es fügte bei: „Du
Cigarreumacherin, wirst von der Scheere leben und tris,
tris, tras macheu."
Dijo Dios: Hombre, el pan que comeras
Con el sudor del rostro ganaräs.
Cigarrera, anadio, tu viviras
Con la tijera haciendo: tris, tris, tras.
Recht fleißige und geschickte Arbeiterinnen liefern in einem
Tage bis zu zehn Packeteu oder atados, deren jedes 50 Stück
In der Tabacksfabrik zu Sevilla.
Cigarren enthält, doch kann man als Gesammtdnrchschnitt
300 Stück annehmen; der Lohn beträgt 5 Realen, also 10
Silbergroschen für das Hundert, und wer fleißig ist, kann
schon etwas Erkleckliches erwerben; aber die meisten bringen
es doch nur bis zu 20 Silbergroschen.
Aristokratien giebt es überall, auch in der Cigarrenfabrik
zu Sevilla; hier wird sie gebildet von den Pureras, welche
Puros, d. h. eigentliche Cigarren verfertigen, im Ge-
gensatze zu den Cigarritos, Cigarros de papel, Cigarretten,
also Papiercigarren. Die spanischen Cigarren sind zn-
meist sehr groß; die größten und dicksten heißen Puroues.
Gewöhnlich besteht die Einlage, d. h. der Wickel, 1a tripa,
aus Birginytaback, das Deckblatt dagegen, la capa, ans Ha-
vana oder Euba. Sie sind übrigens sehr mittelmäßig und
man hat alle Mühe, in Spanien eine gute Havaua aufzu-
treiben. Die Spanier rauchen jetzt sehr viel, aber Pfeifen
findet man fast nur iu Catalonien und auf deu Balearen,
namentlich Majorca.
Die Cigarrera beginnt als dreizehnjähriges Mädchen das
Geschäft als Lehrling und arbeitet sich dann vou einer Stufe
zur andern empor. In deu verschiedenen Abtheilungen sind
ihrer etwa einhundert beisammen und jede Gruppe steht unter
einer Maestra, welche die Aufsicht und Leitung hat. Bei
der Fabrikation vou Papiercigarren sind fast nur Zigeune-
rinnen beschäftigt. Dore fand vortreffliche Gelegenheit zu
Skizzen und wir theilen zwei derselben mit.
Die Arbeiterinnen bringen ihr Frühstück und Mittagessen
mit in die Fabrik, deren weite Räume sich zwei Mal täglich
Sevilla und das Volksleben in Andalusien.
139
in einen großartigen Speisesaal verwandeln. Die gewöhn-
lichen Speisen sind Knoblauch, rohe Zwiebeln, Sardinen,
saure Häringe und geröstete Thunfische. Dazu kommt etwas
Brot und ein Schluck Wasser. Im Durchschnitt sind fünfte-
halb Tausend Personen in der Fabrik beschäftigt, darunter
nur einige Hundert Männer. Die Empepaladoras —
in Spanien hat Alles einen volltönenden Namen — haben
eine fast unbegreifliche Fertigkeit, die Cigarren in Packete zu
bringen. Es wird sehr strenge Aufsicht geführt, damit nichts
veruntreut werde. Jede Cigarrera erhält im Magazin eine
Quantität Taback zugewogeu, welche während des Tages auf-
gearbeitet werden soll. Das bezeichnet man als 1a data,
und dieser Taback wird iu die espuerta, deu Korb, welchen
jede Cigarrera bei sich führt, gethau. Sie muß ihn, in Cigar-
ren verwandelt, in gleicher Gewichtsmenge wieder abliefern.
Die Mädchen sind sehr leicht gekleidet; Hemd und Röck-
chen gelten für ausreichend, Strümpfe gehören zu den Sel-
tenheiten, aber im Haar steckt oftmals eine Nelke, eine Dahlia
oder irgend eine andere Blume. Die Crinolinen oder Kä-
fiche — polisones y mirinaques — haben auch bis in
diese Räume Eingang gefunden und man kann ste in Menge
an den Wänden hängen sehen.
Es gewährt einen interessanten Anblick, zusehen, wie nach
Schluß der Arbeit diese Tausende von Cigarrenmädchen durch
s i
m im
) /
In der Tabacksfabrik zu Sevilla.
die Väle und die Treppen hinab sich drängen, um möglichst
rasch ins Freie zu gelangen. Es ist wie ein Wettrennen,
alle rufen, schreien, singen, und Jede sucht den übrigen vor-
auszukommen. Aber an der Ausgangsthür verstummt aller
Lärm, denn hier wird jede Arbeiterin von einer Maestra
durchsucht, ob sie uicht etwa Taback oder Cigarren mitgenom-
men habe. Ein Volksgesang sagt: „Die Cigarrera nimmt
in ihrem Haar eine Havanacigarre für ihren Jofeph' mit."
Llevan las cigarreras
En el rodete
Un cigarrito habana
Para su Pepe.
Vor dem Fabrikgebäude bilden sich Gruppen, welche dann
nach ihren respectiven Wohnungen ziehen, die Zigeunerinnen
nach der Triana, die übrigen zumeist nach der Macarena.
Die Cigarrera spielt in den Volksromanzen eine nicht
unbedeutende Rolle. Im Allgemeinen gilt sie nicht gerade
als ein Tugendmuster. Es giebt ein besonderes Werk über
die Sitteu, Gebräuche und Sprachweise der Cigarreras, dessen
Verfasser nicht eben gut aus sie zu sprechen ist. Zu Hause
seien sie lärmend und ungeberdig; manche betrügen sich aller-
dings, wie es ordentlichen Frauenzimmern gezieme, andere
aber trieben sich wochenlang müßig umher und tränken in den
Wirthshänsern Branntwein.
140 Karl Andree: Zur
Manchmal ist die Cigarrera auch Maja. Das Wort
läßt sich bekanntlich nicht genau Ubersetzen, denn „Stutzerin"
würde deu Begriff uicht wiedergeben; es handelt sich eben
um einen aparten andalusischeu Typus. Diese Cigarren-
maja ist auf Märkten und Wallfahrten, ferias y romerias,
und bei Stiergefechteu zu sehen. Sie trägt eine Nantilla
de tira, die mit schwarzem Sammet besetzt ist, und ein Kleid
von schreienden Farben. Aber es giebt auch anspruchlosere
Majas, die gebackenen Fisch und Kastanien auf der Straße
verkaufen oder, was auch keineswegs selten vorkommt, gar
keine Beschäftigung haben.
Die, welche sich in besseren Umständen befinden, entfalten
ihren Glanz am liebsten bei großen Festlichkeiten, für welche
namentlich die Kirche sorgt. Dann sind sie Mugeres de
chispa, des jembras de rumbo y trueno. Auch das kann
man im Deutscheu nicht genau wiedergeben, es drückt aber
im Spanischen vortrefflich den Hang diefer Weiber zumVer-
gnügen und zu lärmenden Lustbarkeiten aus. Ganz glücklich
ist die Maja, wenn sie sich in eine Calesa setzen und so
zum Stiergefechte fahren kann; mit Selbstgefühl und inni-
gem Wohlbehagen blickt sie dann anf andere herab, die zu
Fuße gehen. Sobald das Stiergefecht begonnen hat, giebt
sie laut ihr Urtheil über Stöße und Wendungen ab, pfeift
und ruft Beifall und weicht sicherlich erst vom Platze, wenn
der letzte Bulle, ei toro de gracia, den Gnadenstoß vom
Cachetero erhalten hat. Zum Gesellschafter hat sie am
liebsten einen „Mann vom Horn", d. h. einen Stierfechter,
torero, denn ihre Vorliebe für la gente de cuerno ist sehr
markirt. Sie geht mit ihm aus dem Circns in die Schenke,
wo beim Glase ausführlich besprochen wird, was bei dem
Stiergesechte vorgekommen. Abends wird auf einem baile
de candil munter getanzt. Für das Theater hat eine solche
Maja keine besondere Liebhaberei; doch geht sie wohl hin,
wenn derbe Possen aufgeführt werden, oder Räuberstücke, in
denen viel geschossen wird. Dann klatscht sie Beifall und
lacht und lärmt nach Herzenslust.
Die Maja spricht den andalnsischen Jargon in seiner
ganzen Vollkommenheit. Derselbe enthält eine Menge von
Ausdrücken, die sich in keiner andern Sprache genau und
Zur Karte ve
Vor mts liegt die „Neueste Staaten-, Reise- und Eisen-
bahnkarte vou Deutschlaud, der Schweiz und Oberitalien, in
vier Blättern auf Grund topographischen Materials gezeichnet
von L. Ravenstein; Maßstab: 1,700,000, Preis 20Sgr.
Die politische Einteilung ist nach der jüngsten officiellen
Organisation eingetragen. Hildburghausen, Verlag des Bi-
biographischen Instituts. 1867."
Es sind vier saubere und leckere Blätter, übersichtlich,
klar, und wir empfehlen sie zur Uebersicht. Während wir
diese hübschen Karten nicht ohne ein gewisses Wohlbehagen
durchmustern, drängen sich uns allerlei Gedanken auf, denen
wir Worte geben wollen. Die geschichtliche und verglei-
chende Erdkunde ist ein interessantes, belehrendes und loh-
nendes Studium für die Völker wie für die Staatenlenker,
^ie können viel daraus lernen, — vorausgefetzt, daß sie
lernen wolleu. Vergleichen wir eine alte Homann'sche
Karte vom Jahre 1760 mit der von L. Ravenstein, dann
ergeben sich Betrachtungen in Masse und Fülle, und wir
brauchen nur ins Volle hinein zu greifen.
nte von Deutschland.
treffend wiedergebe« lassen, So bedeutet sal, Salz, so viel
wie Anmnth, und man kann einem Weibe nichts Schmeichel-
hasteres sagen, als wenn man sie salero, Salzsaß, nennt,
oder sagt, sie sei recht gesalzen, salado. „Salzfaß mei-
ner Seele" bedeutet so viel als eiu höchst anmuthiges, lie-
benswürdiges Geschöpf. Auch canela, Zimmt, sagt man
von oder zu einer hübschen Frau, und Salz des Zimmtes,
la sal de la canela, oder Zimmtblüthe, flor de la
canela, bildet den Superlativ der Bewunderung. Der Aus-
druck zandunga bedeutet hübsches Aussehen, leichtes, nnge-
zwungeues BeHaben, und paßt auf eine Frau, fciemuy juncal,
d. h. wie der Franzose sagen würde, accomplie ist.
Im Andalusischeu werden die Worte scharf betont;
eigeuthümlich ist demselben der cecco, eiu eigenartiges Zischen,
bei welchem man das s wie das französische c ausspricht,
beim Reden so zu sagen etwas Pfeift. Daran erkennt man
sofort den Andalnsier. Für ihn scheint das d gar nicht zu
existireu, er wirft es aus den Wörtern heraus uud fagt z.B.
calia für calidad (Qualität), enfaao für enfadado (zornig,
bös), elante e mi für delante de mi (vor mir) und fo
weiter. Er ersetzt das h durch deu (semitische«) Kehl-
laut j und sagt jembra für liembra (Frau), jierro für
hierro (Eisen); manchmal gebraucht er statt des b auch ein
g und sagt guevos statt huevos (Eier). An die Stelle des
1 setzt er eiu r uud sagt: parpitä sür palpitar (zittern),
Gibrartä für Gibraltar, und Girarda für Giralda. Im
Ansauge der Wörter verwandelt er - das b üt g; er sagt
gueno statt bueno (gut). Am Ende der Wörter wirft er
die Consonanten fort und spricht muge für muger (Frau);
Jere für Jerez; statt Cadiz sagt er Cai'. Auch die Ver-
setzuugeu der Buchstaben siud häufig; aus virgen, Jungfrau,
wird vinge; aus permitir, erlauben, premitir; aus pobre,
arm, probe. Dazu kommen häufige Abkürzungen; pa für
para (für), sena für senora. Die Zungenfertigkeit der An-
dalnsier ist erstaunlich und sie verschlucken die Hälfte; deshalb
sagen die Spauier: los Andaluces se comen la mitad
de las palabras. Wie dem Allen aber auch seiu möge -
dieser Dialekt hat etwas Lebhaftes, Prickelndes, Farbiges,
und klingt fehr angenehm im Munde einer hübschen Frau.
! Deutschland.
Deutschlaud reicht für jede» ehrlichen Patrioten von Me-
mel bis Trieft, und von der Leitha bis zur Maas, von der
Königsau bis zur Etsch. Das Alles gehört zusammen, und
wir bleiben dabei, „das ganze Deutschland soll es sein." Wir
arbeiten nns jetzt aus der frühern Zerstückelung zur Ein-
heit empor, — nicht zur mechanischen Einheitsstaat-
lerei, die nur eiu durchaus ungermanischer Abklatsch des
französischen Mechanismus seiu könnte und welche das dent-
sche Volk nicht ertragen kann noch will, sondern zur orga-
uischeu Einheit, in welcher alle Stämme, ohne daß ihre
berechtigten Individualitäten gekränkt werden, die ihnen ge-
bührende deutsche Stellung finde». Darauf arbeitet die
Geschichte hiu. Wir werden nicht einer öden, mechani-
schen, bleiernen Einheitsstaatlerei verfallen, nicht, wie man
wohl fpöttifch gesagt hat, einem „Waisenhanscadetten-, Gens-
darmen- und Landraths-Präfectenstaate" zur Beute und nicht
lediglich „eine große Kaserne" werden.
Die gewaltigen Ereignisse des Jahres 1866 haben uns
um mindestens ein Jahrhundert vorwärts gebracht. Aber
Karl Andree: Zur
sie haben doch nur ein Provisorium geschaffen, das in sich
gar keine Gewährleistung der Daner trägt und zur letztern
auch gar keine Spur zur Berechtigung in sich hat. Es ist,
wie es ist, lediglich particularistisch. Geviertheilt nach der
Methode des frühern Strafprocesses sind wir allerdings nicht;
wir sind nur, bis auf Weiteres, gebreitheilt worden und kön-
nen uns das gefallen lassen, weil darin ein Fortschritt liegt.
Aber eiu vergroßpreußtesKleiudeutschlaud von der
See bis zum Maiu, und das ist der norddeutsche
Bund, hat nur Sinn, wenn er lediglich als Kern-
und Anhaltpunkt für Weiteres und Größeres auf-
gefaßt wird, wenn man ihn nur als eine Durch-
gaugsphase, als eine geschichtliche Evolution an-
sieht. Weiter ist er nichts, und soll auch nichts wei-
ter sein. Die übrigen deutschen Krystalle werden an ihn
anschießen und sich mit ihm vereinigen, und im Fortgange
der Zeit — wer könnte sagen, nach welchen Wechselsallen?
— wird das ganze Deutschland eine innig verbundene Ge-
ammtheit werden. Das liegt mit Notwendigkeit im Zuge
der Dinge; dagegen Hilst kein Particularegoismns, keine dyna-
stische Berechnung, keine diplomatische Klügelei, kein sendalisti-
scher Tik, fein demokratisches Aufbäumen, das unser großes
Gebiet in Tausende von Eautöulis eintheilen möchte. Wir
wollen ein mächtiger Bundesstaat werden.
Die Geschichte hat den Ausschlag für die norddeutsche
Großmacht gegeben und ihr Ausspruch ist anzunehmen. Wi-
derstand wäre nnthunlich und Schmollen Hilst eben so wenig.
Gleichviel ob dynastische Nebenbuhlerschaft, altenfritzische Ar-
rondirnngssncht oder patriotisch - deutsche Bestrebungen der
Berliner Politik zu Grunde liegen, — es sind jetzt nahe an
30 Millionen Deutsche vorerst militärisch geeinigt. Damit
ist eiue starke Front nach Außen gewonnen; das Speculiren
auf Zerstückelung Deutschlands von Seiten der Fremden hat
nun ein- für allemal ein Ende.
Es ist zu wünschen, daß au der Spree eiu Dichterwort
sich bewahrheite, dem gemäß der Mensch mit seinen größeren
Zwecken wächst. Man darf nnd soll nicht auf einen mecha-
nischen und soldatischen Einheitsstaat hinarbeiten, sondern das
große deutsche Ziel: Nationale Einheit und staatsbürger-
liche Freiheit im Auge haben. Man soll das föderative Ele-
ment achten; dieses allein ist germanisch und deiu Geist un-
serer Nation angemessen. Tüchtig organisirt und klug ge-
leitet, befriedigt es die einzelnen Stämme unseres große»
Volkes und verleiht der Eentralgewalt eine unberechenbar
größere, allseitig wirkende Kraft, als wenn ein anfgezwun-
gener Mechanismus beliebt würde, der ohnehin nur vou
einer kleinlichen und beschränkten Auffassung zeugen könnte.
Dieser trüge den Keim zu Unheil und ewigem Mißbehagen
in sich und wäre, bei aller scheinbaren Straffheit, doch nur
ein Element der Schwäche. Deutschland läßt sich nicht kaser-
nenmäßig und landräthlich reglementiren.
lind noch eins, das ein umsichtiger, patriotischer und nn-
befangener Herrscher oder Staatsmann nicht außer Acht las-
sen darf.
Unsere gesammte Nation, nahe an 50 Millionen, ist in
einen neuen Abschnitt ihrer EntWickelung getreten. Sie ist
im Aufsteigen, im Fortschreiten, sie wird ein großes Reich
werden. Dieses wird eine große Macht haben und in Europa
den Ausschlag geben. Deutschland wird den Schwerpunkt
bilden, stark und gewaltig in sich selbst sein. Alles drängt
offenbar darauf hin, das alte Reich in neuer Gestalt in die
Erscheinung zu rufen. Nun werfen wir einen Blick über
unsere Grenzen. Wir finden im Westen uud Süden, daß
wir überall verkürzt worden sind; wir sehen drei Staaten,
die einst zum „Reiche" gehörten, von demselben getrennt: die
Schweiz, Belgien uud Holland. Alle drei sind achtbar und
arte von Deutschland. 141
ihre Selbständigkeit darf nicht angetastet werden. Aber sie
sind uns stamm- nnd sprachverwandt: die Schweizer den
Oberdeutschen, die Niederländer mit den Flamingen den Nie-
derdeutscheu. Es liegt im Gange der Notwendigkeit, daß sie
sich einem ehrlich-söderativen und starken Deutschland, welches
in sich freiheitliches Leben entfaltet, gern annähern, sich an das
alte, zu frischem Leben erwachte Mutterland anlehnen würden.
Beide Theile können dadurch an Stärke gewinnen uud das
Berhältniß wird ehrlich und dauerhaft sein, wenn unsere
Stammesgenossen au Schelde, Maas, Niederrhein und in
den Alpen sicher sind vor Länderraub und Einverleibung.
Diese Sicherheit gewährt ihnen allein ein föderatives Deutsch-
laud mit starker Bundesgewalt. Von Seiten eines solchen
finden sie Schutz nnd Sicherheit gegen französische Bedro-
Hungen und Uebergrisfe, und ihre Selbstbestimmung wird
ihnen nicht gekränkt.
Europa wird nicht eher entwaffnen, als bis das neue
Reich deutscher Nation auf föderativer Grundlage zur That-
fache geworden ist. Hier liegt die große nnd ruhmvolle Aus-
gäbe für Preußens Krone und für das Volk des aesammten
Deutschlands.
In unserer Geschichte ist eine gewaltige Rückströmnng
eingetreten. Die zweihuudertjährige Ebbe hat ein Ende, das
Stauwasser ist vorüber, die Zeit der Fluth ist eingetreten.
Die nationale Gesinnung tritt so stark heraus, wie nie zu-
vor; wir alle fühlen und wissen, daß wir vorwärts gekom-
men find, aber auch, daß wir noch in den Anfängen, wenn
auch viel versprechenden stehen. Die politische Quacksalberei
mit ihren Halbheiten mag noch mehr als einen Versuch an-
stellen, sie ist aber nur dazu da, um zu zeigen, was am Ende
als das Notwendige und allein Mögliche sich ergeben muß:
Süd uud Nord freiheitlich entwickelt und in allen
nationalen Beziehungen unter einer kräftigen Een-
tralgewalt, — das allein ist das Ziel und kein an-
de res. Provisorien werden nicht fehlen, aber sie können
eben nur Uebergänge sein.
Wir habeu mit einer mehrhnndertjährigen Vergangenheit
gottlob völlig gebrochen. Das heilige römische Reich deut-
scher Nation hatte einst seine großen Tage und stand als
erste Macht der Welt da. Aber es ging zu Grunde an der
Wählbarkeit des Kaisers, an dem dynastischen Ehrgeiz der
großen Lehnfürsten, an der Selbstsucht der Habsburger, die
nur auf Erweiterung ihrer Hansmacht ausgingen, und in
Folge der Religionskriege. Wir Deutschen haben unsere im
klebrigen nicht hoch genug zu schätzende und auch sonst viel-
fach ersprießliche Mannigfaltigkeit thener bezahlen müssen,
weil uns in nationalen Dingen abging, was das Aller-
notwendigste war, die Einheit mit starker Leitung.
Seit dem heillosen westphälischen Frieden, nnd als unser
Volk aus tausend Wunden blutete, ging das nationale Selbst-
gesühl verloren; das frühere Bewußtsein der Gemeinsam-
feit nnd Zusammengehörigkeit aller Stamme war
fast erloschen. Die Geschichte zweier Jahrhunderte zeigte,
wohin Volk und Dynasten dadurch kamen. Das Reich brach
zusammen und die Schmach des Rheinbundes war da , aber
es folgte die ruhmreiche Erhebung von 1813 mit ihrer Feuer-
taufe.
Das Ausland sieht mit Mißbehagen, daß wir uns ein-
richten wie wir wollen, und daß wir auf eigenen Füßen
stehen. Aber es verschlägt uns wenig, wenn man in Paris
droht: „Ein Händedruck zwischen Frankreich und Rußland
könnte die Grenzen Deutschlands um ein Beträchtliches ver-
engen."
Es hat damit gute Wege; man ist bei uns wachsam und es
könnte sich wohl treffen, daß feindliche Pläne gegen Deutsch-
land an nns zerschellen, wie Glas an einem Granitfelsen.
142 Karl Andree: Zur
Wir Deutschen machen aus unserer Landkarte was
wir wollen, 'und holen uns dazu die Erlaubniß nicht erst
vom Auslände.
Sind denn etwa unsere Grenzen früher nicht mehr als
zu viel verengt und beschnitten worden? Haben wir den
Ausländern Gebietsteile aberobert? Oder sind sie es ge-
wesen, die stets danach getrachtet haben, uns zu verkleinern
und zu schwächen?
Dafür ist nun die Zeit allerdings vorüber, vorüber ein-
für allemal. Aber blicken wir zurück auf unsere Geschichte;
es wird sich zeigeu, wie wir heute ganz anders dastehen als
vor zweihundert Jahren, da Lndwig der Vierzehnte in Europa
das große Wort führte und sich für den eifrigen „Beschützer
der deutschen Freiheit" ausgab.
Einst war Dänemark vom deutschen Reich abhängig
und Kaiser Otto warf seinen Speer in den Lymfiord in Nord-
jütland. Schleswig wurde Deutschland entfremdet; es ist
uns nun wiedergewonnen. In Livland, wo die altenHan-
seaten Städte bauten, waren deutsche Kreuzbrüder und Schwert-
ritter Herren des Landes, dessen Urbevölkerung stets Passiv ge-
wesen ist und nie eine selbständige Geschichte zu machen ver-
standen hat. Aber das weite Gebiet vom Niemen bis zur
Newa wurde seit dem sechszehnten Jahrhundert ein großer
Fechtboden für Polen, Schweden und Russen. Den letzteren
blieb der Sieg, jedoch das deutsche Culturelement ist iu den
baltischen Provinzen lebendig nach wie vor. Der Verlust
unseres Einflusses in jenen Ostseeländern war eine Folge
der heillosen dogmatischen Zänkereien nnd Religionskriege
Deutschlands.
Diese tragen auch eine Hauptschuld an der Zerbröckelung,
die im Westen begann. Im Nordosten wurde nur ein Glied
abgelöst, das locker und los am Hauptkörper hing, aber im
Westen wurden die Dolchstöße gegen unser Herz geführt. Die
gefammten Niederlande, das heutige Belgien eingeschlossen,
waren Reichsgebiet und bildeten nnsern burgundischen
Kreis. Aus dem Reichstage zu Augsburg verfügte Kaiser
Karl der Fünfte, daß die Herzogthümer Lothringen, Brabant,
Limburg, Lützenburg, Geldern, die Grafschaft Flandern, Ar-
tois, Burgund, Hennegau, Holland, Namnr, Seeland, Züt-
phen, die Markgrafschaft des heiligen römischen Reiches Ant-
werpen, die Herrschaft Friesland, Utrecht, Ober-Mel, Gro-
ningen, Fockenberg, Satin, Mecheln mit allen den mediate
und immediate zugehörigen und einverleibten geistlichen und
weltlichen Fürstentümern, Prälatnren, Dignitäten, Graf-
schasten, Frey- und Herrschaften:c. in des Reiches Schutz,
Schirm, Verteidigung und Hülfe fein sollten.
Wo sind sie alle? Frankreich, das heute von„Compen-
sationen" träumt, hat dergleichen in Hülle und Fülle, zu
unserm Schaden und Nachtheil, längst vorweg genommen.
Es riß nach und nach von uns ab: Theile von Luxemburg,
halb Flandern, aus welchem das heutige Norddepartement
besteht, das Artois, welches den größten Theil des Pas de
Calais bildet; die Freigrafschaft Burgund, also die Departe-
meuts des Doubs und der obern Saone; Theile von Na-
mur und Hennegau, das Elsaß und ganz Lothringen. Ist
das noch nicht genug gewesen? Deutschland hat nicht ein-
mal ganz Limburg mehr und jetzt möchte man ihm auch
Luxemburg streitig machen. Die armseligen Diplomaten des
Wiener (Kongresses gaben dem deutschen Bund im Westen
eine geradezu widersinnige Grenze. So reicht unsere Grenze
an der Maas nicht etwa bis an den Strom, sondern läuft
eine halbe Stunde diesseits des Ufers, so daß wir von unserm
deutschen Boden wohl die Maas sehen können, an diesem
wichtigen Strome aber auch nicht den allergeringsten Antheil
haben. Bekanntlich legten Völker und Staaten allezeit gro-
ßen Werth darauf, die Interessen ihres Handels und Ver-
arte von Deutschland.
kehrs in Obacht zu nehmen; der Wiener Congreß dachte an-
ders und gab auch Venlo und Mastricht aus den Händen.
Auch schenkte er das uralte Reichsland Lüttich, dieses schöne
Hochstift mit seinen 26 Städten und 1400 Dörfern, weg.
Was die Schweiz betrifft, der wir das beste Gedeihen,
Unabhängigkeit und frische Freiheit für alle Zeit aufrichtig
wünschen, so ist dieselbe auf Deutschlands Kosten einst sehr
unnützer Weise vergrößert worden. Als die Eidgenossenschast
längst selbständig war, blieb doch das Hochstift Basel beim
Reiche. Man hat es der Schweiz zugewiesen, welche damit
einen wichtigen Zuwachs an Land zwischen dem Sundgau,
Mümpelgart, Burgund, Neuenburg, Solothurn, Bern und
Stadt Basel erhielt. Aehnlich verhielt es sich mit dem Hoch-
stiste Chnr nnd der gefürsteten Abtei St. Gallen,
welche beide zum schwäbischen Reichskreise gehörten. Der
CantonAarg an umfaßt Gebietsteile, die bis in unser Jahr-
hundert hinein Reichsland waren.
Aber Frankreich ist es gewesen, welches die schönste und
reichste Beute auf Kosten Deutschlands sich aneignete. Doch
wozu sollen wir der ewig brennenden und ewig schmerzenden
Wunde, des Elsasses, erwähnen, des herrlichen Landes, wo
man iu Straßburg dem Standbilde Gntenbergs eine fran-
zösischeInschrift gab? Gelüste anfLothringen treten schon
1288 in Frankreich hervor. Karl der Fünfte sagte: „Wenn
Straßburg und Wien zu gleicher Zeit vom Feinde bedroht
sind, dann gebe ich im Nothsalle Wien Preis, um Straß-
bürg zu retten!" Das zeugt von richtiger Einsicht der Dinge.
Die abscheulichen Streitigkeiten um theologische Dogmen
haben für uns das ärgste Unheil im Gesolge gehabt. Sie
tragen eine Hauptschuld, daß das Reich zu Grunde ging;
sie raubten ihm das beste Mark nnd untergruben die Macht.
Seit Moritz vou Sachsen und dem Passauer Bertrage von 1552
ging Alles bergab; damals konnte Frankreich die Abtretung von
Metz, Toul und Berdnn erzwingen, und die Zerbröckelung
begann. Der westphälische Frieden gab den Reichsständen
das unheilvolle Recht, Verträge mit auswärtigen Mächten
zu schließen. Seitdem hörte man nicht auf, mit den Fran-
zosen politische'Unzucht zu treiben und dem Einflüsse der
Fremden Thor und Thür zu öffnen. Lndwig der Vierzehnte
lag allzeit auf der Lauer, während man in Deutschland einer
einheitlichen, nach Vergrößerung lüsternen und planmäßig
erobernden Macht nichts entgegenzusetzen hatte, als ein durch
den dreißigjährigen Krieg tief herabgekommenes Land mit
Uneinigkeit, Zwist und elender Nebenbnhlerei der Fürsten.
Die Folge war, daß 1810 der alte Napoleon alles deutsche
Land bis und mit Lübeck für „eine Anschwemmung Frank-
reichs" erklärte! Auf „Nationalität" wurde begreiflicher-
weise feilte Rücksicht genommen; man eignete sich eben an,
was man haben wollte.
Die Zeiten, in welchen wir wohlfeile Beute abgeben
mußten, sind vorüber. Wir in Deutschland überall wissen
sehr wohl, wie viel in früheren Tagen gesündigt worden ist.
Wir wissen, wie standhast und nachdrücklich die Beherrscher
Frankreichs jede Position behaupteten, wie folgerichtig sie alle
Schwächen des frühern Deutschlands für sich auszubeuten
verstanden, und wie sie stets darauf hinarbeiteten, zu trennen
um zu siegen. Das ^?piel ist ihnen früher stets gelungen.
Jetzt liegen die Dinge anders; auch nicht ein deutsches Dorf
wird verloren gehen; darüber ist man in dem vorläufig
dreigetheilten Deutschland überall einverstanden. Dreitheilig,
ja. Aber das Herz unserer ganzen Nation hat einen und
denselben Schlag, das ist nicht zerstückelt und läßt sich auch
nicht zerstückeln. Wir werden keinen Selbstmord begehen.
Wir befinden uns in einem schweren Ringen, wir haben
eine gewaltige Arbeit vor uns. Tage harter Prüfung wer-
den uns nicht erspart bleiben, und an Tasten, Fehlern und
Ernst Boll: Mittheilur
Mißgriffen wird auch fernerhin kein Mangel sein. Die
rechten Männer für die Lösung der großen und ruhmreichen
Aufgabe sind offenbar noch nicht da, aber sie werden nicht
fehlen, und durch alles Volk geht ein gewaltiger Drang nach
einer im germanischen Geiste durchzuführenden Gestal-
tung des großen und ganzen Deutschlands. Macht im In-
n über die Insel Rügen. 143
nern bunte Grenzen auf der Landkarte fo viel ihr wollt,
macht immerhin Experimente und Flickwerk, die ihr für Weis-
heit und für Notwendigkeit ausgebt, — der Geist der Ge-
schichte wird Sieger bleiben und wir werden ein einheitliches
und freiheitliches Deutschland bekommen.
Karl Andree.
Mitteilungen über die Znset Kügen.
Von Dr. Ernst Boll.
III.
Zustände auf der Insel im sechzehnten Jahrhundert. Edelleute und Bauern.
Die Herrschaft der pommerschen Herzöge über die
Insel wahrte vom Jahre 1325 bis zum endlichen Ansster-
ben dieses Fürsteugeschlechtes im Jahre 1637. Ebenso wie
wir über eine Episode aus der ranischen Zeit durch die tress-
liche Schilderung des Saxo Grammaticus ein genügendes
Licht ausstrahlen sehen, geben uns während der pommerschen
Periode plötzlich int Resormationszeitalter, — in welchem
auf der Insel int Jahre 1536 der Katholicismns durch die
lutherische Lehre verdrängt ward, — zwei Schriftsteller sehr
interessante Aufschlüsse über die insularen Zustände, wie die-
selben unter der germanisirten Bevölkerung um die Mitte
des sechszehnten Jahrhunderts sich gestaltet hatten.
Einerseits geschieht dies durch Thomas Kantzow, wel-
cher um das Jahr 1540 seine meisterhafte Chronik von
Pommern schrieb. Am Schlüsse der Geschichtserzählung
giebt er anch noch eine Skizze von dem Lande und dessen Be-
wohnern, und da schildert er denn anch die Insel Rügen und
ihre damaligen Zustände etwas specieller, indem er Folgendes
darüber berichtet:
„Die Insel ist so stark bevölkert, daß man meint, es
gebe wohl 7000 wehrhaftige Männer aus derselben (was
auf eine Gesammtbevölkerung von 40,000 bis 44,000 Ein-
wohnern hindeuten und noch um einige Tausend Seelen hin-
ter der jetzigen Volkszahl zurückbleiben würde). DieRügianer
sind Zeutsch (d. h. germanisirt) und es ist schon über hundert
Jahre her, daß der letzte Wende aus der Insel gestorben ist.
Sie sind ein sehr zänkisch und „mortisch" Volk, so daß
sich an ihnen schier das alte lateinische Sprichwort bewahr-
heitet: omnes insulares mali! Denn im ganzen Lande zu
Pommern werden kein Jahr so viel vom Adel und anderen
erschlagen *), als allein in dieser kleinen Insel. Es giebt auch
bei diesem Volk so viele Rechtsstreitigkeiten, als im halben Lande
zu Pommern. Denn alle Sonnabende hält der Landvogt
sammt den Aeltesten vom Adel des ganzen Landes zu Bergen
Gericht; da hat er von srühe Morgens bis schier an den
Abend genug zu thuu, uud er hört auch nicht gern um des
Mittagsmahles willen aus, denn so wie er sie weggehen läßt
und nach dem Essen wieder bescheidet, so trinken sie sich
entweder voll und richten einen neuen Lärm an, oder wenn
sie wiederkommen, treiben sie eine solche Ungestümigkeit vor
*) Zu Güstow steht noch jetzt ein Steinkreuz zum Gedächtnis
des im Jahre 1500 dort ermordeten Predigers Thomas No-
renberg; der mündlichen Ueberlieferung nach soll er von betrunkenen,
ans Stralsund zurückkehrenden Bauern, die mit einander in Streit
gerathen waren nnd unter denen er Frieden stiften wollte, erschlagen
worden sein.
Gericht, daß der Herr Landvogt nirgends mit ihnen auskann.
Darum bringt er die Sache gern in einer ununterbrochenen
Sitzung zu Stande, oder wenn es zu laug wird, verweist
er die Entscheidung aus den nächsten Gerichtstag. Es ist
kein Edelmann oder Bauer im Lande so schlecht, daß er sein
Wort nicht selbst redete, und daß er nicht ihr gewöhnlich
Landrecht wissen sollte. Und aus solcher Vermessenheit will
einer dem anderen in nichts weichen, nnd es kommt daraus
viel Hader und Mord; sonderlich gerathen sie in den Krügen
oder Wirthshänsern leichtlich an einander, nnd wenn einer
von ihnen sagt: „dat walde Gott nnd een kold Isen", — so
mag man ihm wohl aus die Fäuste sehen nnd nicht aufs
Maul, denn er ist bald au einem. Und es geschieht in
den Krügen so viel Schlagens uud andere Injurien, daß oft
ein Edelmann, der einen Krug hat, so viel au Buße nnd
Strafgeld im Jahre darans gewinnt, als sonst von einem
halben oder ganzen Dorfe. Und wo die Rügianer gehen
oder reisen, habensieeinenSchweinespieß undeinenReut-
ling (Jagdmesser) an der Seite; wenn sie zur Kirche gehen,
setzen sie die Spieße entweder vor die Kirchenthür, oder sie
nehmen sie mit hinein, und es soll sich bisweilen, wenn sie
aus der Kirche gehen, ein Lärm erheben. Gehen sie zur
Kirche, so sind sie gewassnet, gehen sie zur Hochzeit, so siud
sie gewassnet, bringen sie einen Todten zn Grabe, so sind sie
gleichfalls gewassnet, — kurz, man findet sie nirgends, sie
haben denn ihre Wehre bei sich. Daraus kann man erach-
ten, wenn sie die Streitlust, die sie unter sich zeigen, inKrie-
gen und gegen den Feind gebrauchten, daß sie ein tapferes
Kriegsvolk fein müßten."
„Die Geistlichen sind hier im Lande wohl versorgt,
denn es giebt reiche Pfarren mit liegenden Gründen wohl
versehen, und haben zudem den Zehnten von Vieh und Korn.
Es giebt auch viel Adel Hierselbst, reich und arm durch ein-
ander, der aber wenig herauskommt, studirt oder in den
Krieg zieht; denn das ist eine sonderbare Art dieses Volkes,
auch aller anderen, die diesseits der Oder im ganzen Wol-
gastschen Ort (Gebiet) sitze. Etliche deuten es dahin, daß
sie besser versorgt seien, als anderer pommerscher Adel, und
darnm nicht von Nöthen haben zu dienen, — aber es sei
wie es wolle, es ist nicht allein unter dem Adel dieses Ortes,
sondern auch unter Bürgern, und darum muß es eine andere
Ursache haben; und es will sich dies Volk nicht so gedulden
oder leiden, wie andere Leute, und so es nur irgend etwas
hat, so meint es, es habe ein Königreich nnd will darnm
Niemand dienen.— Die Bauern stehen sich wohl und sind
reich, denn sie haben nur bescheidenen Zins und Dienst, und
144 Ernst Boll: Mittheilun
darüber thun sie nichts. Die meisten thnn gar keine Dienste,
sondern geben Geld dasür, daher es kommt, daß die Bauern
sich als frei achten und dem gemeinen Adel nicht nachstehen
wollen. Darin werden sie dadurch um so mehr bestärkt,
daß oft ein armer Edelmann einem reichen Bauern seine
Tochter giebt, und die Kinder sich hernach für halbadelig ach-
ten; diese Kinder werden dann mit dem Namen „KNeesen"
(d. h. Herren, s. oben Knßse) bezeichnet."
Diese Schilderung, welche Th. Kantzow von fehteit rügia-
nischen Zeitgenossen giebt, vervollständigt der gleichzeitige
Stralsunder Chronist I. Berckmann noch durch einige Be-
merkungen über die rügianischen Frauen. Danach zeich-
neten sich dieselben gar sehr durch Ueppigkeit und Luxus aus,
und als der Herzog Philipp im Jahre 1545 eine neue Klei-
derordnnng erließ, hätte dieselbe beinahe zu Mord und Todt-
schlag auf der Insel Veranlassung gegeben. Denn jeneVer-
ordnnng schrieb genau vor, wie viel an Kostbarkeiten jede
Frau tragen dürfe, — was sie mehr habe, solle der Bogt
ihr nehmen; die Rügianerinnen aber überschritten das gesetzte
Maß in allen Stücken, und als nun die Vögte zulangten,
gab dies mit dem „zänkischen und mortischen Volk" natürlich
viele Händel. Die Mittel, diesen Putz anschaffen zu können,
erwarben sie sich dadurch, daß sie den Stralsundern ihre in-
snlaren Prodncte nur zu sehr hohen, ganz willkürlichen Prei-
seit verkauften, — ein Uebelstand, den der Rath jener Stadt
vergeblich abzustellen sich bemühte. „Denn (so schließt der
ungalante Berckmann seinen Bericht) de Frnwen sindt noch
ärger als de Manns mit Drängende, wente (denn) Gierich-
heit iß dar de rechte Mörtel." — Eine sehr unvorteilhafte
Schilderung von den Rügianern macht einige Jahrzehnte
später auch die Gattin eines schwedischen Bischofs, welche im
Jahre 1594 durch die Insel reiste. Sie erzählt in der
Lebensbeschreibung ihres Mannes (Peter Jonan, Bischofs
von Streuguäs), daß ihr auf dem Lande Rügen alle Un-
barmherzigkeit widerfahren sei, daß dort ein Volk wohne, wel-
ches nichts anderes wisse, als die Fremden und Reisenden zu
drücken und zn prellen n. s. w. Die von Helmold gerühmte
alte ramsche Gastlichkeit scheint also damals unter den
germanisirten Rügianern völlig erstorben gewesen zu seiu.
Nach der Charakteristik der Bevölkerung folgen bei Th.
Kantzow noch einige anf die Naturgeschichte der Jusel
bezügliche Bemerkungen: über die Kreidelager auf Jasmund,
in denen goldglänzende Drusen (Schwefelkies) vorkämen, aus
welchen man sich vergebens bemüht hätte Gold zn machen;
über die wenigen Waldungen, welche auf der Insel vorhan-
den, weshalb die Einwohner an vielen Orten gezwungen
seien, „aufgetrocknete Rasen, die sie Torf nenneten", statt
des Brennholzes zu gebrauchen; daß die Herzöge auf Wittow
ein sehr ergiebiges Hasengehege hätten, auf der übrigen Insel
habe aber die Jagd nicht viel zu bedeuten, und erstrecke
sich fast nur auf Hirsche und Rehe, nichtsdestoweniger aber
zögen dort Adel und Bauern gern schöne Windhunde auf,
die sie außer Landes verschenkten; Wölfe seien auf der Insel
nicht mehr vorhanden, und früher hätten dort auch die Ratzen
gefehlt, und alle, die man absichtlich dorthin gebracht, hätten
sich sogleich selbstmörderisch im Meere ertränkt, bis sie nun
endlich, nachdem man aus Fürwitz mit ihrer Uebersiedelung
zu viel experimentirt habe, auch dort sich zu acclimatisireu
anfingen.
„Das Land hat fönst nichts Namhaftiges (fo schließt
Kantzow seinen Bericht), allein daß es große und viele Gänse
hat. Alles, was die Einwohner zu Kauf haben, das müssen
sie zum Sunde (d. i. Stralsund) und nirgends anders zu
Markte bringen. Darum sagt man zum Scherz, wenn die
rügianischen Gänse aus dem Hosthore gehen, so recken sie
den Hals schon auf nach dem Sunde, daß sie dahin zu Markte
n über die Insel Rügen.
wollen." — Dieser frühern Handelsbeschränkung verdankt
anch noch das jetzige Sprichwort, in welchem die rügianischen
Gänse als die Repräsentantinnen halsstarrigen Eigensinns auf-
treten, seinen Ursprung: de hebben ßren ßgenen Kopp,
as de rügianischen Göse. — „Aber solches — fährt
Kantzow fort, der offenbar noch kein Freihandelspolitiker war
— ist den Rügianern gut (?), denn sie können es auch so
klein oder groß nicht zum Sunde bringen, es ist von Stunde
an verkauft. Ehemals haben sie viel Schiffe gehabt, damit
sie seewärts handelten oder kriegten; jetzt aber dürfen sie
keine haben, sondern allein Boote, damit sie ihre Waare zum
Sunde bringen mögen. Doch sind sie Bürger und Bauern
zum Sunde, das ist, sie haben dasselbige Stadtrecht und Frei-
heit, welche die vom Sunde genießen. Deshalb mögen sie
daselbst gleich denen vom Sunde handeln und wandeln und
schiffen nach ihrem Gefallen, aber aus ihrem Lande müssen
sie es nicht thun. Die vom Sunde haben auch von den
pommerschen Fürsten. ein Privilegium, daß gar keine um-
mauerte Stadt oder andere Feste, die vor Gewalt wäre, im
Lande sein dars; denn so die Rügianer einige Festen hätten,
auf die sie sich verlassen könnten, wäre zu besorgen, daß sie
viel Wunders anrichteten, außerdem hat es aber auch noch
andere Ursachen," — nämlich wohl die, damit die hochmögen-
den Herren vom Sunde auch desto ungestrafter auf der In-
sel nach ihrem Belieben schalten uud walten könnten. We-
nigstens erzählt Kantzow an einer andern Stelle, wie die
Stralsunder im Jahre 1504 bei einer Fehde mit dem Pom-
mernherzoge Bogeslaw X. „ etliche Tausend Bürger auf das
Land zu Rügen geschickt und daselbst alle Edellente, Flecken
und Bauern, so dem Herzoge gehörig, ausgeplündert und ge-
fangen, und mit Gewalt unter sich gebracht uud sich hätten
huldigen und schwören lassen; nicht so sehr darum, daß sie
sich au dem Herzoge rächten, sondern damit sie ihm auch
ihre Macht zeigten und also die Sache desto eher zum Ver-
trag brächten." Einige Jahre später (1511) aber machten
die Dünen einen Einfall in die Insel und plünderten und
sengten dort nun in den der Stadt Stralsund gehörigen Gü-
tern, mit welcher sie in Streit gerathen waren. — So muß-
ten also die Insulaner, deren ramsche Vorfahren einst bei
allen umwohnenden Völkern gefürchtet gewesen waren, zu
Anfang des sechszehnten Jahrhunderts den Saudischen und
den Dünen gleichsam als Prügelknaben dienen!
Die zweite, oben angedeutete Quelle, aus der wir
unsere Keuntniß der rügianischen Zustände im Reformations-
zeitalter schöpfen können, hat uns Matthäus v. Normann
erschlossen. Um dem durch den Mangel eines als allgemein
gültig anerkannten Gesetzbuches herbeigeführten schwankenden
Rechtszustande auf der Insel ein Ende zu machen, sammelte
dieser Mann, der um das Jahr 1554 rügiauischer Landvogt
war, alles, was man damals dort, für althergebrachte Rechts-
gewohnheiten hielt, und stellte dies zu einem schriftlichen
Gefetzbuche zufammen, welches später (erst im Jahre 1777)
unter dem Titel „Wendisch-Rügianischer Landgebrauch" ge-
druckt worden ist. Durch diesen Titel verleitet, glaubte ich
früher („Boll, die Insel Rügen", Schwerin 1858) S. 128),
daß in jenen Statuten wirklich noch ein ansehnlicher Rest
slavischen Rechtes stecke, allein nach dem Urtheile von Ge-
lehrten, die in der Rechtsgeschichte gründlich bewandert sind,
soll dies keineswegs der Fall sein. Die Grundlage dieses
angeblich »Wendisch-Rügianischen" Landgebrauches bildet
vielmehr das Westphälische (von Soest über Lübeck hierher
verpflanzte) Recht, modificirt dnrch Römisches Recht und er-
gänzt durch einige eigentümliche alte Satzungen und Ge-
wohnheiten, die sich unter den Insulanern selbst heraus-
gebildet hatten. Bei der Benutzung dieses Bnches als Spie-
gel der rügianischen Zustände im Reformationszeitalter ist
August Wunderwald aus Brannschweig,
freilich die Frage über den Ursprung der in ihm anfgezeich-
neten Rechtsgewohnheiten ziemlich gleichgültig; denn gleich
viel, woher sie auch gekommen sein mögen, — sie regelten
damals thatsächlich das Thun und Treiben aus der Insel.
Wir erfahren aus demselben manche für die damaligen
Culturznstände interessanten Dinge. Welche große Last z. B.
dem Volke damals die „nobele Passion" der hohen Herren
für die Jagd bereitete, erhellt recht deutlich aus den das oben
schon erwähnte Wittower Hasengehege betreffenden Verord-
nungen: „Up Wittow (heißt es in dem Weudisch-Rügiani-
schen Landgebrauch) iß bat ganze Land Fürstl. Gnaden Hasen-
hege, also dat Nemand dar möth jagen, Nette stellen, Stricke
na dem Hasen leggen, Hitzen mit Rekeln (großen Hunden),
nicht scheten edder werpen, wenn se em schon in den Kohl-
garden gingen, by Poen des Halses, edder wo idt I. F. Gn.
will strafen, idt sy Adel edder Unadel. — Dar möth Nemand
by voriger Poen Wind- edder Jagdhunde up Wittow södeu,
edder up dat Land mit sick nehmen, all wenn he schon (ob-
schon er) nichts darmede (darmit) hitzede edder grepe, he hedde
denn von F. Gn. einen schriftliken Befehl, — ock nicht de
Landvagt ahne F. Gn. Schin sülvest, edder ahne Küudigeut,
llm der Schape willen, de dar van der Jagd nichts weten.
— Item, dar möthen up Wittow by Poene van 60 Mark
beyde Adel und Büren jeder männiglich. synen Hunden (denn
dar iß neit Wulf) den vordersten Foth ashowen mit den Klaven
und Blade, de Hund sy klsn edder grot." — Zur nähern
Illustration dieser gesetzlichen Bestimmungen fügen wir hinzu,
daß nach eben diesem Wendisch-Riigianischen Landgebrauch
damals auf Rügen bei Erbtheiluugen das Pferd nur zu 8,
der Pfadfinder im brasilianischen Urwalde. 145
die Kuh zu 5 und das Schaf nur zu 1 Mark gerechnet wurde,
und daß das Bruchgeld für einen erschlagenen
Bauern nur gerade eben so viel betrug, als man
Strafe zu zahlen hatte, wenn man mit einem nn-
verstümmelten, vierbeinigen Hunde auf Wittow
betroffen wurde. — Auch auf das Strandrecht, das
Straßenrecht, auf den damaligen Aberglauben und noch nach
vielen anderen Richtungen hin läßt dieser wendisch-rügia-
nische Landgebrauch merkwürdige Streiflichter fallen, auf
deren speciellere Erörterung wir uns aber hier, da sie zu
vielen Raum beausprucheu würden, wohl nicht mehr einlassen
dürfen.
Während wir die große Naturkatastrophe haben in Abrede
stellen müssen, durch welche die Insel kurz vor dem Ende der
ranischen Fürstenherrschast angeblich heimgesucht worden sein
soll, können wir die verderbliche Kriegskatastrophe nicht hin-
wegleugnen, welche den Schlußact der Pommerschen Herrschaft
über Rügen bildete. Im Jahre 1630 wurde nämlich die
Insel in den wilden Strudel des dreißigjährigen Krie-
g es mit hineingerissen. Kaiserliche Truppen überschwemmten
dieselbe und hausten hier eben so barbarisch, wie sie dies
bekanntlich iu deu benachbarten Ländern Pommern uud Meck-
lenbnrg gethan haben. Zuiu Glück für die Rügiauer wurden
jene aber noch in demselben Jahre von den Schweden
wieder vertrieben, welche sich in dem weitern Verlaufe des
Krieges in dem Besitze der Insel behaupteten, uud endlich
in demselben auch, nachdem im Jahre 1637 der pommersche
Fürstenstamm ausgestorben war, durch den Westphälischen
Frieden bestätigt wurden.
August Wunderwald aus Irannschweig, der Madfinder im brasilianischen
Urwalde,
ii.
Nachdem das Feuer frisch angeschürt ist, die nassen Klei-
der an demselben getrocknet und die Kochtöpfe ausgewaschen
und mit frischem Wasser gefüllt sind, überlassen sich alle der
abendlichen Ruhe, deren Genuß um so behaglicher und süßer
ist, je härter am Tage die Arbeit war. Wie erquickend weht
nun die kühle Abendluft, wie wohlthuend reizt der balsami-
sche Waldesdust, den viele der Blumen des Waldes, gleich
dem Nachtschatten, erst nach Untergang der Sonne in seiner
ganzen Fülle entwickeln. Wie lockend ertönen die girrenden
Nachtrufe der Waldhühner und anderer Vögel, und wie
wahrhaft bezaubernd ist es, wenn Hunderte und aber Hun-
derte von Leuchtkäfern, angelockt durch den heimelnden
Schein des Feuers, heranschwirren und in ihrem blendend
smaragdgrünen Glänze bald leuchtend, bald verschwindend,
die Hütte und das Feuer umkreisen, bis sie ihre allzn leiden-
schaftliche Liebe zum Lichte mit ihrem Tode in den verzehren-
den Flammen bekräftigen. Mitunter freilich erscheinen auch
Schwärme von Mücken und Stechfliegen — sehr stö-
rende Gäste.
Nur unser Pfadfinder kann noch nicht sobald Ruhe sin-
den. Während schon Mancher der Anderen ans dem Ohre
liegt und mit den kräftigsten Zügen zu schnarchen beginnt,
hat er sich erst ein Stearinlicht angezündet und auf einem
zum Tische hergerichteten Blechlasteu sein Tagebuch vorge-
nommeu, um die Ereignisse und Ergebnisse des Tages nebst
Globus XI. Nr. 5.
etwaigen Zeichnuugeu und Beschreibungen in dasselbe einzn-
tragen. Endlich ist auch er damit fertig und die Nacht voll-
ständig eingebrochen. Sorglos ergeben sich Alle in der offenen
Hütte dem erquickenden Schlafe.
Doch plötzlich raschelt und rumort etwas an derHütte. Un-
ser Pfadfinder, der, ein alter Jäger, immer mit hörenden Ohren,
wie der Hase mit sehenden Augen, schläft, bemerkt es am er-
sten; rasch ausspringeud greift er nach der stets bereit liegen-
den Büchsflinte, mit einem Satze steht er, fast wie ihn Gott
erschaffen hat, vor der Hütte und gewahrt da in dem eben
noch flackernden Scheine des Feuers einen von der Hütte sich
wegbewegenden dunkeln Klnmpen. Er „macht Staub" auf
denselben; der durch die Waldesstille erkrachende Schuß schreckt
die übrigen Schläfer in die Höhe, jeder greift nach dem Mes-
ser oder uach sonst etwas, im Gebüsche schlägt es uud stöhnt
es entsetzlich; mit Feuerbränden springt man hinzu und da
zeigt sich — eine verendende Bentelratte, welche, von den
aus der Hütte dnstenden Fettgerüchen angelockt, herangeschli-
chen war und, in Ermangelung eines Bessern, den wohl-
geschmierten Schuh eines Arbeiters mit sich fortgeschleppt
hatte. In gleicher Weise kommen zuweilen Tiger in die
Nähe der Hütte, ohne daß sie den Leuten irgendwie gefähr-
lich werden.
Etwas unheimlicher aber wird das Nachtquartier in sol-
cher Hütte auf dem Hochlande iu denjenigen Gegenden, wo
19
146 August Wunderwald aus Braunschweig,
man ziemlich sicher darauf rechnen kann, daß während der
ganzen Nacht Indianer (vom Stamme der Coroados)
die Hütte umschleichen, um bei sich etwa bietender günstiger
Gelegenheit einen Uebersall zn machen. Diese Indianer sind
scheu und feig, es fehlt ihnen der Muth zu offenem Angriffe.
Aber wenn sie einmal die Gelegenheit zu einem Ueberfalle
für günstig genug hielten, dann würde schwerlich einer unserer
Waldleute mit dem Leben davon kommen. Letztere beobach-
ten daher in solchen Gegenden stets die Vorsicht, daß sie das
Feuer nicht mitten vor der Hütte, sondern an der Seite der-
selben anmachen, also, daß das Innere der Hütte nicht be-
leuchtet und von außen her nicht zu übersehen ist, daß man
dagegen von der Hütte aus die Umgebung derselben möglichst
genau überblicken kann. In der Regel schlafen aber unsere
Leute auch unter diesen Umständen so fest und ruhig, als ob
sie im sichersten Asyle geborgen wären.
Mit Tagesgrauen beginnt jedesmal wieder Leben und
Rührigkeit in der Hütte. Nach eingenommenem Kaffee und
einem kräftigen Imbiß geht man mit frischen Kräften wieder
an die Arbeit. Aber am andern Tage bleibt das Gepäck
in der Hütte liegen, höchstens einer der Leute bleibt zurück,
um die wirtschaftlichen Geschäfte zu besorgen, alte Uebrigen
betheiligen sich beim P i c a d e s ch la g en und kehren gegen Abend
in die Hütte zurück, um uoch eine zweite Nacht in derselben
zuzubringen. Erst am dritten Tage wird, wie am ersten,
von der einen Abtheilung der Leute die Picade weitergeführt,
von der andern Abtheilung das Gepäck nachtransportirt und
gegen Abend eine neue Hütte gebaut.
So rücken sie, je nach der Beschaffenheit und Schwierig-
keit des Terrains, im Durchschnitt täglich 400 bis 500
Klaster (2800 bis 3500 rhein. Fuß) vorwärts ihrem Ziele
entgegen und alle 800 bis 1000 Klafter bleibt auf dem zn-
rückgelegten Wege eine Hütte stehen.
Das geht Alles gut nnd regelmäßig von statten, so lange
günstige Witterung vorherrscht. Aber schwieriger gestaltet
sich die Sache, wenn zuweilen anhaltendes Regenwetter ein-
tritt, und wahrhaft schauerlich ist es, bei einem starken Ge-
witter eiue Nacht in solcher Waldhütte zuzubringen. Da
stürzen in der Regel ungeheure Wassermassen vou den dicht
über dem Walde hängenden Wolken zur Erde herab, alles
wird durchnäßt; von oben durch den eindringenden Regen,
gegen den das leichte Dach der Hütte nicht genügenden Schutz
bietet, von unten durch die von den Bergen herabströmenden,
thalabwärts sluthenden Gewässer. Das Feuer verlischt und
Alles ist in rabenschwarze Fiusterniß gehüllt, die jedoch durch
schnell auf einander folgende, grelllenchtende Blitze von Augen-
blick zu Augenblick von blendender Tageshelle durchzuckt wird.
Unaufhörlich dröhnt der Donner, bald in kurzen, krachenden
Schlägen, bald in lang hiurollendem Geknatter, das Brau-
sen des Sturmes und das wilde Geplätscher der Gewässer
übertönend. Ringsum ächzen und stöhnen die Bäume, man-
cher derselben bricht schon zusammen unter dem Drucke des
Wassers, welches sich in all den Pflanzen und Pflänzchen,
die er auf seinem Haupte trägt, ansammelt. Aber wehe, wenn
der Sturm sich zum furchtbaren Wirbel gestaltet, welcher,
mit unwiderstehlicher Gewalt einbrechend in den geschlossenen
Bestand der Bäume, die stärksten Waldriesen im Nu wie
dünne Reiser abdreht und krachend zu Boden schleudert. Da
bebt wohl auch das Herz der sonst unerschrockenen Männer,
die in der Hütte sich befinden, denn jeden Augenblick droht
ihnen die Gefahr, daß auch über ihren Häuptern ein Ast sich
ablöse und in jähem Sturze die Hütte mit Allem, was dar-
unter lebt, vernichtend niederschmettere. Jedenfalls ist es
aber auch unter weniger schrecklichen Umständen eine trostlose
Lage, im Stocksinstern, durchnäßt und im Wasser sitzend, nach
und nach von einem immer durchdringender» Schauersroste
der Pfadfinder im brasilianischen Urwalde.
geschüttelt, eine ganze lange Nacht nach anstrengender Ta-
gesarbeit schlaflos zuzubringen.
Endlich dämmert der Morgen, aber derHimmel, in ega-
les Grau gekleidet, sendet noch immer durchdringenden Staub-
regen zur Erde hernieder. Alles klatscht vou Nässe; das
Dach der Hütte wird schnell durch Auflegen neuer Blätter
verdichtet und unter dem Schutze desselben mit vieler Mühe
wieder ein Feuer angezündet. Bald brodeln auch wieder die
Kochtöpfe um dasselbe und ein starker Kaffee bringt neues
Leben in die Gesellschaft; die Kleidungsstücke sind wieder
nothdürstig getrocknet und nebenbei zugleich geräuchert. Aber
der Regen währt fort. Den ganzen lieben langen Tag in
der ungemütlichen Hütte nnthätig liegen bleiben, das ist zn
langweilig und unerträglich für unsere Waldleute; ohnedem
tritt die Befürchtung nahe, daß der knapp zugemessene Pro-
viant vor der Zeit alle werden möchte, wenn er im Stilllie-
gen aufgezehrt würde. Daher geht's frisch auf uud wieder
vorwärts trotz des anhaltenden Regens. Die dicken blau-
wollenen Hemden, welche die Leute tragen, schützen eineWeile
dagegen und haben die gute Eigenschaft, daß sie auch durch-
uäßt aus den Körper nicht kältend einwirken. Aber allzu
lange vermögen sie doch nicht dicht zu halten, über kurz oder
lang sind die Leute durchnäßt bis auf die Haut, und nm so
schärfer wird dann fortgearbeitet, um deu Körper in gehöri-
ger Wärme zu erhalten.
Noch mancherlei sind die Beschwerden und Gefahren,
denen unsere Waldleute ausgesetzt sind. Bald gelangen sie
an einen hochangeschwollenen, reißenden und tiefen Strom,
welcher in der gefahrvollsten Weise übersetzt werden muß.
Da suchen sie gewöhnlich, wenn der Fluß nicht zu breit ist,
am User einen hohen, starken Baum, fällen denselben, so daß
er nach dem jenseitigen Ufer zu fällt, und bewerkstelligen auf
diesem schwankenden und unzuverlässigen Stege den Ueber-
gang; oder sie fertigen ein Floß an, welches natürlich nur
sehr mangelhaft ausfallen kann uud dem sich Keiner anver-
trauen würde, wenn ihn nicht die unabweisbare Nothwendig-
keit vorwärts dräugte. Bald wieder ertönt beim Picade-
schlagen plötzlich ein Schrei des Entsetzens und einer der
Leute springt einige Schritte.zurück, bleichen Angesichts und
von einem fröstelnden Schauer durchrieselt. Er war auf
eine fünfFuß lange Joraraca, die größte uud gefährlichste
der hiesigen Giftschlangen, getreten und hatte noch eben im
rechten Augenblicke deren Windung unter seinem Fuße be-
merkt, um durch schnelles Zurückspringen ihrem tödtlichen
Bisse zu entgehen. Zum Glück sind diese Schlangen so träge
wie gefährlich, die Anderen springen rasch hinzu und durch
einen Schuß oder durch einen Schlag mit einer schwanken
Gerte wird dem Ungeheuer der Garaus gemacht.
Weniger gefährlich, wiewohl unheimlich genug ist es,
wenn die Bugres (Indianer) in der Nähe gespürt werden.
So gewahrte unser Pfadfinder bei einer Tour auf dem Hoch-
lande eines Morgens in seiner unmittelbaren Nähe ein star-
kes Brechen im Rohrdickicht. In der Meinung, es sei das eine
Ante (Tapir), suchte er sofort dem Dinge beizukommen,
da sie schon mehrere Tage lang des Fleisches gänzlich ent-
behrt hatten. Aber wie schnell er auch trotz Dickicht und
Dornen vorwärts dringt, so gewinnt doch das vermeintliche
Thier einen immer weitern Vorsprung. Plötzlich ertönen
rings um ihn herum alle möglichen Thierstimmen, sowohl
von Vierfüßlern als von Vögeln. Erstaunt macht er Halt,
da schweigen auch auf einmal alle die Stimmen, aber nach
einer kleinen Weile erhebt sich plötzlich wie ans ein gege-
benes Commando von allen Seiten wieder ein furchtbares
Brüllen, ähnlich wie Ochsenbrüllen, welches nach einer Weile
in gleich präciser Weise wieder abgebrochen wird. Er weiß
nun, mit wem er es zu thun hat, und eilt zurück zu seinen
August Wunderwald aus Braunschweig,
Gefährten. Sie rüsteten sich alsbald gegen einen möglichen
Uebersall und wählten am Abend mit ganz besonderer Vor-
ficht einen Platz zu ihrer Hütte, der mit Wachen umstellt
wurde, die von Zeit zu Zeit Schreckschüsse abfeuerten, da
diese Indianer vor den Feuerwaffen eine unendliche Scheu
haben. Nach Sonnenuntergang wiederholte sich zwar das
Brüllen ringsumher zu mehreren Malen, aber unsere Leute
blieben unangefochten und konnten am andern Morgen unge-
fährdet weiterziehen.
Das bei weitem schrecklichste Loos aber, welches dieselben
treffen kann, ist es, wenn ihr Fortkommen durch ungeahnte
Hindernisse verzögert wird und ihnen die Lebensmittel ans«
gehen. So geschah es auf der ersten Untersuchungsreise,
welche unser Pfadfinder im September 1861 von der Co-
lonie Blumenau ans durch sehr wilde, bis dahin noch nie
betretene Gegenden nach der Colonie Dona Francisca
unternahm. Weit ausgedehnte, fast undurchdringliche Dickichte
des stärksten Rohres und hoch angeschwollene, reißende Flüsse
hatten ihn unterwegs langer als er geglaubt aufgehalten;
dazu war anhaltendes Regenwetter eingetreten und in Folge
dessen die Jagd ganz unergiebig geworden. Täglich wurden
die Nationen verringert, aber endlich waren die Lebensmittel
aufgezehrt und die Leute einzig noch auf Palmenkohl an-
gewiesen, deu sie, in Ermangelung selbst des Salzes, an dem
ersten Tage mit einem noch vorhandenen' Neste Stie-
felfchmiere zubereiteten! Von Tag zu Tag wurden die
Leute matter und hinfälliger. Unser Pfadfinder bot Alles
auf, um sie bei gutem Muthe zu erhalten, aber es wollte
nicht weiter gehen; kaum hatten sie sich einige hundert Schritte
über Berg und Thal fortgeschleppt, so legten sie sich, wo sie
eben standen, wieder nieder und verfielen alsbald, trotz des
Unwetters, in tiefen, ohnmachtähnlichen Schlaf. Um nicht
Alle dem voraussichtlichen Untergänge verfallen zn lassen,
mußte Wunderwald sich endlich entschließen, die zum Tode
Ermatteten zurückzulassen; von Angst und Sorge getrieben
eilte er selbst weiter, zuletzt nur noch von einem Manne be-
gleitet. Da erreichte er zum Glück eine Picade, welche durch
einen ihm entgegengesandten Genossen eben frisch anfgeschla-
gen war, der aber wegen eingetretenen Mangels an Lebens-
Mitteln schon wieder hatte zurückkehren müssen. Das gab
ihm neue Spannkraft; seine letzten Kräfte zusammenraffend,
eilte er weiter und gelangte am neunten der schrecklichen Tage
zu den äußersten Häusern von Dona Franvisca, von wo
dann auch sofort den im Walde zurückgebliebenen Gefährten
rettende Hülfe zugesendet wurde.
Alle fanden sich wieder zusammen, aber in welchen Ge-
stalten! Fahl und hohläugig, eher Gespenstern als Menschen
ähnlich, uud Alle ohne Ausnahme hatten in Folge der erltt«
tenen Strapazen und Entbehrungen eine mehr oder minder
schwere Krankheit zu überstehen.
Gewiß auf keinem Gebiete ist es so schwierig, sich zurecht
zu finden, als in den Gegenden, welche mit dichtem Urwalde
bestanden sind. Der Schiffer anf dem weiten Weltmeere ist
in vieler Hinsicht besser daran, als unser Pfadfinder. Er-
sterer hat nicht nur die Magnetnadel in mehreren kräftigen
und zuverlässigen Exemplaren zum sichern Führer, sondern
er kann auch in freiem Umblick und Ausblick zum Himmel
nach dem Stande der Sonne oder der Sterne den Ort, wo
er sich befindet, aufs Genaueste bestimmen. Unser Pfadfin-
der im Urwalde ist zumeist nur auf einen kleinen Taschen-
compaß angewiesen, und auch an diesem wird er zuweileu
er Pfadfinder im brasilianischen Urwalde. 147
irre, wenn er sich in der Nähe stark eisenhaltiger Gebirgs-
lager befindet; doch auf diesen allein muß er sich verlassen,
um zu seinem Ziele zu gelangen, er wäre in der That sammt
seinen Gefährten leicht verloren, wenn dieses kleine Instru-
ment unterwegs durch irgend einen widrigen Zufall zu Schau-
deu würde. Denn es fehlt ihm oft jeder andere Anhalts-
Punkt, um die Richtung, die er einzuhalten hat, bestimmen
zu köuueu. Tagelang bewegt er sich in dem Dickicht des
Urwaldes fast wie in unterirdischen Gewölbegängen, ohne sich
auf weitere Kreise umsehen und ohne irgend einen einzigen
freien Aufblick zur Sonne oder zum Himmel gewinnen zu
können. Will er einmal eine Aussicht gewinnen, so muß er
erst einen Hügel oder Berg ersteigen und auf diesem einen
der höchsten Bäume erklettern, uud selbst dann, wenn er mit
den mannigfachsten Mühseligkeiten und Fährlichkeiten solch
luftigen Staudpunkt erklommen hat, erreicht er doch sehr hau-
fig seinen Zweck noch nicht, es müssen dann erst noch mehr
oder weniger der umstehenden Bäume niedergeschlagen werden.
Unkundige, welche in den Urwald eindringen, ohne sich
den zurückgelegten Weg durch umgeknickte Reiser (wie es die
Indianer immer zur rechten Hand thnn), oder durch Baum-
einschnitte und sonstige Merkmale kenntlich zu erhalten, ver-
lieren gar leicht jede Richtung und wissen bald nicht mehr
oder täuschen sich darüber, wo Osten oder Westen, Norden
oder Süden ist. Sie wollen nach Hanse zurückkehren und
rennen vorwärts immer tiefer in den Wald; sie glauben in
schnurgerader Richtung zu gehen und laufen fortwährend im
Kreise herum, so daß sie zu ihrem höchsten Erstaunen sich
auf einmal wieder an einem Platze anwesend sehen, welchen
sie bereits vor einigen Stunden passirt hatten. Sie trauen
dann ihren Augen nicht und dünken sich wie bezaubert: eine
beklemmende Angst, eine aufregende Hast bemächtigt sich ihrer,
und nun laufen sie vollständig wirr, während ihre Wohnung
vielleicht kaum eine halbe Stunde in gerader Richtung von
ihnen entfernt liegt, oft halbe und.ganze Tage irrend im
Walde umher. Sie pfeifen und rufen, sie schießen mit ein-
sacher und dann mit doppelter Ladung, aber in all dem dich-
ten Gewirr des Urwaldes verdumpfen diese Nothsignale, bis
etwa endlich der Zufall oder herbeikommende Hülfe den Jr-
renden aus seinem Banne erlöst. So etwas kann nun frei-
lich dem waldkundigen Pfadfinder nicht wiederfahren, aber oft
genug doch kommt er in Lagen, die um nicht viel besser sind.
Bereits über zwölf Jahre ist es nun her, daß unser Pfad-
sinder mit gleicher Energie und Zähigkeit seinem schweren
Berufe obliegt. Schon sind Tansende von Deutschen seinen
Fährten nachgegangen, und wo er vor Jahren, noch völlig
abgeschlossen von der civilisirten Welt, nur von wenigen Ge-
nossen begleitet, mit den Fährlichkeiten und Schrecknissen des
Urwaldes zu kämpfen hatte, da bieten heutzutage freundliche
Wohnungen und fruchtbare Gefilde ciu liebliches Landschafts-
bild. Für drei wichtige Centralpunkte deutscher Colonisation
in Brasilieu — die Colonien Dona Francisca und Bln-
menau in der Provinz Santa Catharina und die schon in
den zwanziger Jahren gegründete Colonie Rio Negro aus
dem Hochlande der Provinz Parana, welche vordem völlig
abgeschlossen von einander lagen — sind durch feine mühe-
vollen Pfade bereits die verbindenden Linien zu einem Bande
vorgezeichnet, welches, im Laufe der Zeit zum Verkehrswege
erweitert, alle drei zu reger Wechselwirkung vereinigen und
für ihre gedeihliche Weiterentwickelung von mächtigem Ein-
flusse werden wird. („Deutsche Zeitung" von Porto Alegre.)
148
Theodor Kirchhofs: Streifzüge im Nordwesten Amerikas, namentlich in Oregon.
Streifzüge im Nordwesten Amerikas, namentlich in Hregon.
Von Theodor Kirchhoff.
I.
Unruhige Geister und neue Reifepläne. — Wohin? Nach Oregon!— Der Oceandampfer „Brother Jonathan".— Seefahrt im Nebel. —
Die Straße von Juan de Fuca. — Ein britischer Kriegshafen in der neuen Welt. — Die Insel Vancouver. — Spaziergang vou
Esquimault nach Victoria. — Was ich in Victoria Alles sah und hörte. — Eroberungspläne. — Wieder in See. — Lustige Seefahrt. —
Die Columbia River Var. — Bei Nacht auf dem Columbia. — Der Willamettefluß.
Es ist ein eigentümliches, alle Nerven des Körpers und
Geistes fieberhaft anspannendes Gefühl, ganz allein und nur
auf die eigene Kraft hingewiesen in die Welt hinauszneilen
und ferne Länder und unbekannte Meere zu durchstreifen,
um sich unter fremden Menschen eine neue Lebensexistenz zu
gründen.
Ein Reifender, der bloß zum Vergnügen reist, kann sich
von solch einem Seelenzustande nur einen schwachen Begriff
machen — von der aufs Aeußerste gespannten Erwartung,
die solch einen heimathslosen Geschäftstonristen ergreift, wel-
cher sich dem nächsten Ziele seiner Reise nähert. Es ist
diesem ähnlich ums Herz, wie einem Soldaten zu Muthe
sein mag, der einem durchs Loos zu decimirenden Regiments
angehört und nun in die dunkle Urne greift, um entweder
den Tod oder neue Lebeushoffnung mit zitternder Hand her-
vorzuziehen.
Mögen Hoffnung und Phantasie die entfernte Küste auch
uoch so reizend mit farbigen, sonnigen Bildern geschmückt
haben, dieselben nehmen sicherlich in der Erwartung immer
mehr düstere Tinten an, je näher und näher sie herankom-
men. Die Reize unbekannter und neu sich entfaltender See-
nerien bleiben nur uoch Nebensache, wenn der kalte Verstand
erwägen muß, wie sich die gesellschaftlichen Zustände und
Hülfsgnellen des fremden Landes zum Wohl oder Wehe des
Reisenden gestalten mögen. Und wenn sich alsdann, wie
es bei der unruhigen Bevölkerung der Goldländer so erklär-
lich ist, die ganze zahlreiche Reisegesellschaft mehr oder wem-
ger in derselben fieberhaften Aufregung befindet, indem nur
Wenige derselbeu einem bestimmten Ziele entgegeneilen und
fast Niemand weiß, was er am morgenden Tage beginnen
will — so kann von einer gemüthlichen Vergnügungsreise
selbstverständlich gar nicht die Rede sein.
So erging es auch dem Verfasser dieser Reiseskizze, der
wie ein steuerloses Schiff auf stürmischem Meer fast willen-
los von Land zu Land umhergetrieben ward — wo jede neue
Küste ihm Hoffnung gab, daß sie den ersehnten Hasen der
Lebensruhe ihm endlich erschließen werde. —
Das Leben in San Francisco, wo ich mich während
mehrerer Monate aufhielt, gefiel mir im Allgemeinen recht
gut; aber man hörte dort tagtäglich so viel von nnerschöps-
lichen Goldminen nnd fabelhaften Schätzen in den „Diggings",
die nur darauf warteten, gehoben zu werden, daß die verzeih-
liehe Sehnsucht danach Einen geistig und moralisch gar nicht
zur Ruhe kommen ließ und körperlich vollständig zu Grunde
richtete.
Wenn ich sage, daß es meinen mit mir von Nenyork
gekommenen Geschäftsfreunden gerade fo erging, so wird sich
der mitleidige Leser wohl genügend in nnsern Seelenzustand
hineindenken können. Da wir — die Gesellschaft bestand
ans drei republikanischen Staatsbürgern — jedoch von der
Vorsehung eben nicht mit allzu viel Langmuth gesegnet wa-
rat, dagegen das Organ des Selbstvertrauens bei uns so
ziemlich leidlich entwickelt war, so konnte ein solcher foltern-
der Seelenzustand nicht lange Bestand haben. Es ward
daher bei einer der fast tagtäglich vorfallenden Lebensplan-
debatten kurzweg beschlossen, die Goldstadt wieder zu verlassen,
uns persönlich in den Goldminen nach Schützen umzusehen
und in irgend einer der zahlreichen Minenstädte an dieser
Küste ein solides Geschäft zu etabliren.
Die Frage nun war — wohin? Eine äußerst kritische
Frage, deuu diese gebenedeiten Goldquellen lagen von San
Francisco weit nach Süd, Ost und Nord entfernt, und es
war eine finanzielle Lebensfrage, in einem Lande, wo man
so zu sagen beim Reifen den Weg mit Ducaten pslastern
muß, gleich die richtige Straße einzuschlagen, namentlich da
die Wege nach den verschiedenen Gold- uud Silberparadieseu
Hunderte von Meilen fast schnurstracks einander entgegen-
laufen uud deshalb eine Veränderung der einmal eingeschla-
genen Reiseroute äußerst schwierig und kostspielig machen
würden.
Sollte die Reise nach den sonnigen Gefilden von Ari-
zona gehen, wo der geschwätzige Coloradostrom so etwa tau-
send Miles südöstlich von San Francisco in der Gegend
von Sonora über unerschöpfliche Goldlager dem Golfe von
Californien entgegenmurmelt? Oder sollte man der Sonne
und dem Vaterlande entgegenwandern, so an hundert Stnn-
den über die breitgipfligen Sierras nach dem Silberlande
Washoe hinüber, nach Virginia City, Aurora, Esmeralda,
Humboldt, oder noch ein paar Hundert Meilen weiter
über die Wüste nach dem idyllischen Reese River? Oder
wären die an den Grenzen der (Zivilisation gelegenen Länder
Oregon, Idaho, Washington und Britisch Columbia
vorzuziehen, nur so und so viele hundert Miles in nördlicher
und nordöstlicher Richtung von San Francisco gelegen, wo
das Gold wie Stroh — unter der Erde — liegen follte?
Da die.Temperatur in Arizona — dort am murmelu-
den Colorado — für eine teutonische Constitution jedoch
reichlich warm sein sollte, indem das Thermometer dort im
Schatten nicht selten zu hundert Graden Fahrenheit Hitze steigt;
da das idyllische Washoe durch des Verfassers höchst interessante
Stagereise über die Sierra Nevada bereits viel von denRei-
zen der Neuheit verloren hatte, und iin Gegentheil die nörd-
lichen Minen für uns noch gänzlich eine terra incognita
waren und gerade deshalb doppelt viele Reichthümer verspra-
chen, so wurde bald einstimmig beschlossen: „Nach Oregon!"
Meine Wenigkeit erhielt nun den ehrenvollen Auftrag,
irgendwo in Oregon •— oder da herum — einen passenden
Gefchäftsplatz für das wanderlustige, golddürstende Kleeblatt
aufzusuchen. So begab ich mich dann nebst Gepäck an einem
windigen Septembernachmittage 1863 auf den zwischen San
Francisco und Portland fahrenden Dampfer „Brother Io-
nathan und eilte wieder in die Welt hinaus, um einen
neuen, wo möglich goldumbauteu Lebeushafen zu entdecken.
DerOceanraddampfer „Brother Jonathan", von der
Theodor Kirchhoff: Streifzüge im N>
„California and Oregon Steamship Company", von etwa
zwölfhundert Tonnen Gehalt, eilte mit seiner lebendigen Fracht
von San-Francisco-müden Abenteurern, Goldjägern, Kauf-
leuteu und Speculantcn schnell hinaus durch das goldene
Thor, den lang schwellenden Wogen und endlosen Weiten
des großen Stillen Oceaus lustig entgegenbrausend.
Die Dampfer, welche auf dieser Linie den Verkehr ver-
Mitteln, gehören zu deu schlechtesten, die nur irgendwo in
der Welt zu siuden sind. Es sind alte, abgedankte Schisse,
„old tubs", wie sie von den Amerikanern passend bezeichnet
werden, welche mit verändertem Namen und nachdem sie
von anderen Dampfschiffsahrtsgesellschasteu als seeuntüchtig
längst verkauft worden, endlich nach diesem abgelegenen Er-
denwinkel gerathen sind, wo man sie oberflächlich renovirt
hat und nun in diesen gefährlichen Gewässern munter mit
ihnen so lange herumfährt, bis sie untergehen, wobei es den
Eigenthümern der Schisse, die auf einer sich mit am besten
rentirenden Dampferlinie der Welt fahren, auf ein paar hun-
dert Menschenleben mehr oder weniger nicht ankommt *).
Das vorläufige Ziel unserer Reise war die Stadt Vic-
toria, 753 Seemeilen von San Francisco entfernt, die
Hauptstadt der zu den großbritannischen nordamerikanischen
Besitzungen gehörenden Insel Vanconver.
Leider versperrte ein undurchdringlicher Nebel jegliche Aus-
sicht ans die Küste, in deren Nähe wir in nordwestlicher Nich-
tnng hinsteuerten, und dabei war das Wetter dermaßen kalt
und unangenehm, daß ein Spaziergang auf dem Verdeck,
selbst für einen abgehärteten Seereisenden, auf welchen Na-
men ich nachgerade wohl mit einigem Recht Anspruch machen
konnte, wenig Einladendes darbot. So begnügte ich mich
damit, die Zeit mit Lesen und Essen und namentlich mit
Schlafen hinzubringen, und zwischendrein den interessanten
Erzählungen vou einein Paar hoffnungsvoller Goldjäger zu-
zuhören, die einen kleinen Abstecher von etwa 1600 Meilen
nach Boise, den berühmten Goldminen im Territorium
Idaho, machten uud von Huuderttauseuden und Millionen
sprachen, als ob sie Vettern von Rothschild wären, trotzdem
sie so zerlumpt aussahen, daß es Einen unwillkürlich srö-
stelte, wenn man durch die polizeiwidrigen Oeffnnngen ihrer
Kleidungsstücke deu nackten Adam ganz verschämt hervor-
gucken sah.
Ich war herzlich froh, als wir nach einer dreitägigen
höchst ermüdenden und langweiligen Fahrt in die Fuca-
Straße einliefen, welche die Insel Vancouver von dem nord-
amerikanischen Festlande trennt.
Die Insel Vancouver, eine bergige, theilweise mit
Schneegebirgen, theils mit Fichtenwaldüngen bedeckte Insel,
760 deutsche Quadratmeilen groß, führt ihren Namen nach
dem berühmten britischen Seesahrer Vanconver, des Mitrei-
senden vom Capitain Cook ans dessen zweiter und dritter Reise.
Die Insel wurde vom Capitain Vancouver während seiner
Erdumsegelungsreise in den Jahren 1791 bis 1794 besucht,
welche deu Zweck hatte, die sogenannte Nordwestpassage von
Westen her zu erforschen und die bis dahin noch wenig be-
kannte Westküste des nordamerikanischen Continents genau
auszuzeichnen.
Von den einander nahe gegenüberliegenden Ufern des Fest-
landes und genannter Insel war vor lanter Nebel fast gar
") Den Dampfer „Vrother Jonathan" hat bereits sein Schicksal
ereilt. Am 30. Juli 1865 war cr bei stürmischem Wetter, das je-
doch einen seetüchtigen Steamer durchaus nicht gezwungen hätte, von
seinem Cours abzugehen, genvthigt, in den gefährlichen Hafen von
Crescent City einzulaufen, wobei cr auf einem unter dem Wasser ver-
borgenen Felsenriff strandete. Von 259 Passagieren — die Mann-
schast mitgerechnet — keimen nur 17, meistentheils Seeleute, in einem
der Nettunqsbote mit dem Leben davon.
Anmerkung des Verfassers.
'westen Amerikas, namentlich in Oregon. 149
nichts zu sehen, ein paar sich in bedenkliche Nähe an uns
herandrängende Felsspitzen ausgenommen, von denen die eine
mit einem Lenchtthurm gekrönt war, dessen Licht durch den
Nebel blutroth, ein feuriges Meteor, zu uns herüberleuchtete
und uns vor den uns umgebenden tückischen Felszacken warnte.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, fand ich unser
Schiff im Hasen von Esquimault (Esqu6imZ.lt), einer
britischen Flottenstation und Nebenhafen von Victoria, vor
welchem Hafen er den für Seeschiffe bedentenden Vorzng grö-
ßerer Tiese hat, ruhig am Quai daliegend. Man war be-
reits emsig damit beschäftigt, Waarengüter auszuladen und
halbentblößte Neger mit weißrollenden Augen schaufelten
Kohlen aus einem Paar sich an unser Schiff anschmiegender
Prahme unter wehmüthigem Gesänge in den untern Raum
des Dampfers.
Die uns zuttächstgelegeueu Ufer sahen sehr alltäglich aus
und entsprachen keineswegs der Erwartung, die ich mir von
einem Hafen mit fremdklingendem Namen, der am Ende der
Welt liegt, gemacht hatte. Ein paar Fregatten of Her
most gracious Queen, der Namensschwester der sich hin-
ter den Waldungen vor unseren Blicken verborgen haltenden
Stadt Victoria, eiue Landstraße, durch gelichtete Holzungen
ins Innere der Insel führend, eine Reihe hölzerner Gast-
hänser, Kneipen und Stores und ein wackeliger Holzqnai,
auf dem eine Gesellschaft dreiviertelangetrunkener Söhne der
Smaragdinsel das Commaudo zu haben schien, — solches
waren die Hanptsehenswllrdigkeiten dieses See- imd Kriegs-
hafens , eines der äußersten Vorposten des britischen Welt-
reichs.
Ans nähere Erkundigung erfuhr ich, daß unser Schiff
bis gegen Abend hier verweilen werde, um Steinkohlen ein-
zunehmen und Waarengüter ein- und auszuladen. Da es
jedoch außer Frage stand, in folch einer interessanten Locali-
tät einen ganzen Tag über freiwillig zu verweilen, so machte
ich mich sofort auf den Weg, um die nur eiue gute Stunde
von unserm Landungsplatze entfernt liegende Stadt Vic-
toria mit einem Besuche zu beehren. Nebenbei war wenig-
stens die Möglichkeit vorhanden, aus der Insel Vanconver
— oder da herum — ein goldumbautes Heimathsasyl zu
entdecken, da ich bereits aus der Reise von San Francisco
her viel von dem fabelhaften Reichthum der „GoldDiggiugs"
in den „British Possessions" gehört hatte, — was mich denn
ziemlich nervös gemacht.
So schloß ich mich einer Gesellschaft von Cariboo-
(Kerribu-) Goldjägern au, welche gleichfalls die Absicht
hatten, die Namensschwester of Her most gracious Ma-
jesty heimzusuchen.
Der vou uns eingeschlagene Weg führte uns theilweise
durch stattliche Fichtenwaldungen, theils au geackerten Feldern
hin, mit herrlichen Fernsichten auf die jenseits der Straße
von Juan de Fuca gelegenen, langgestreckten Schneeberge
von Washington Territory. Bald sahen wir die schmucke
Stadt Victoria mit ihrem Hafen, zwei Schiffswerften
und den stattlichen Speichern der Hndfonsbai-Compaguie vor
uns liegen. Ein rüstiger Marsch in frischer Morgenstunde
durch den duftenden Tannenwald, wo an den unter den hoch-
stämmigen Bäumen wachsenden Büschen Millionen diaman-
teuer Tropsen an dem herbstlich-röthlichen Laube glänzten,
brachte uns nach Verlaus einer kurzen Stunde über eine statt-
liche Brücke in ihre gastlichen Mauern, wo dem Fremdling
für gutes, solides Geld — nicht für hoffnungsfarbige Staats-
papiere — echtes Londoner Pale Ale, delicates Vancouver-
Rauchfleisch uud ausgezeichnete Havana-Cigarren verabfolgt
werden.
Namentlich über die Güte letztgenannter Commodität,
die einem civilifirten Californier fo unentbehrlich wie das
150 Theodor Kirchhofs: ^treiszüge im Nc
tägliche Brot ist, wunderte ich mich außerordentlich, indem
es in England fast ein Ding der Unmöglichkeit ist, für nur
halbwegs humane Preise eine genießbare Havana anfzntrei-
den. Die Stadt Victoria ist jedoch ein Freihafen, wo man
die verschiedenartigsten Luxusartikel fast so billig als irgend
sonst wo in der Welt kaufen kann, und bildet hierin imVer-
gleich zu anderen Besitzungen John Bull's eine rühmliche
Ausnahme.
Die Stadt, welche etwa 4000 Einwohner zahlen mag,
gefiel mir im Allgemeinen recht gut. Sie ist nach moderner
Art erbaut, mit reinlichen, breiten Straßen und stattlichen
Gebäuden und hatte ein recht geschäftsmäßiges Ansehen. Doch
konnte der Tag meines Besuchs in dieser Beziehung nicht
als normal gelten, da es der sogenannte Steamertag war,
d. h. der Tag, an dem der Dampfer von San Francisco
anlangt, welches Ereigniß die Straßen allemal doppelt leben-
dig macht. Man klagte auch dermaßen über Geschäftslosig-
keit und schlechte Zeiten, daß mir bald jegliche Lust verging,
mich hier häuslich niederzulassen.
Im Innern des britischen Festlandes, an dem durch das
„Gold Excitemeut" von 1858 für manchen der damals bei
Tausenden vom Goldfieber ergriffenen Franciscaner so be-
rüchtigten Fräser River, und in dem neu entdeckten eisigen
Goldlande Cariboo sollten sich allerdings noch unerschöpfliche
Goldlager unter Schnee und Eis befinden und die Aussich-
ten für erneu unternehmenden Jünger des Mercnr dort
äußerst glänzend sein. Da der Winter jedoch dort an acht
Monate anhält, und manchmal das Quecksilber in den Ther-
mometern zu gefrieren pflegt, fo daß man gar nicht einmal
genau weiß, wie kalt es ist und wie viele Röcke man regle-
mentsmäßig anziehen muß, und ich mich auch mehr zu einem
sonnigen Klima als zu einer derartigen vergoldeten Auflage
eines englischen Sibiriens hingezogen fühlte, so konnte ich
mich nicht wohl dazn entschließen, mich in solch eisigen Gold-
gesilden unter den Schutz der Klauen des britischen Löwen
zu begeben.
Victoria ist als Freihafen und Hauptstadt der Insel Vau-
couver sowie als Depot der Hudsousbai-Compagnie, welche
hier ihr Hauptwaarenlager hat, vom Red River os the North
bis zum Stillen Meer, sowie als Hanpthandelsstadl der am
nördlichen Stillen Ocean gelegenen britisch-nordamerikanischen
Besitzungen von Bedeutung. Es wird von hier aus ein sehr
einträgliches Schmuggelgeschäft mit den nahen schwer zu be-
wachenden nnd ausgedehnten Küstenstrichen des Festlandes
getrieben und der Handel mit den bereits früher erwähnten
Goldminen im Innern von Britisch Columbia ist sehr leb-
Haft, obgleich die Engländer ans Nationaleitelkeit, Mißgunst
und Opposition gegen Oregon, Washington und Idaho von
dem Reichthnm jener Minen mehr Lärm machen als Ursache
dazn vorhanden zu sein scheint. Außerdem ist der Haudel
mit San Francisco bedeutend und auch der überseeische Ber-
kehr mit den Saudwichsiuselu und China nicht unerheblich.
Auch ein bedeutender Theil des Holzhandels (Lumber-
trade) vom nahen Pnget Souud wird von hier ans ver-
mittelt. Die zahlreichen Sägemühlen am Sunde liefern gegen-
wärtig jährlich au eilte Million Dollars Werth Schiffsbau-
holz, das uach fast allen Seehäfen am Stillen Meer bis
nach China uud Australien hin nnd sogar ums Cap Horn
bis nach Buenos Ayres verschifft wird. Die Größe der dor-
tigen Bäume geht fast ins Unglaubliche. Bäume von 6 bis
zu 7 Fuß im Durchmesser und von 200 bis zu 300 Fuß
Höhe trifft man in Menge, nnd Mastbäume bis zu 100
Fuß Länge, ohne Knoten darin, kerzengerade und mit einem
Durchmesser von Z^/z Fuß 30 Fuß vom Kielende sind etwas
sehr Gewöhnliches.
In früheren Jahren war der von Victoria aus vermit-
>westen Amerikas, namentlich in Oregon.
telte Pelzhandel der Hudsousbai-Compagnie mit den In-
dianern von großer Bedeutung, und noch jetzt bildet das
Rauchwerk einen nicht unansehnlichen Exportartikel dieser
Länder. Diese Indianer, welche meistenteils zu den miß-
gestalteten Flat Heads (Plattköpfen) gehören, lungern in
ganzen Schwärmen in den Straßen herum uud machen in
ihrer halbcivilisirteu zerlumpten Kleidung einen sehr
widerwärtigen Eindruck. Durch systematische Verfol-
guug Seitens der Weißen, dnrch Branntwein uud
die ihrer Race so verderblichen Blattern sind sie
in neuerer Zeit gänzlich entartet und nur uoch ein
trauriger Schatten ehemaligen Nationalstolzes ist
ihnen geblieben. Der Hndsonsbai-Compagnie wird sogar
die monströse Grausamkeit nachgesagt, wollene Decken aus
englischeuPockeuhospitäleru von Enropa importirt
uud unter die arglosen, dnrch ihre Menge Gefahr drohenden
Indianer geschenkweise vertheilt zu habeu, um die lästigen
Herren des Bodens schnell und sicher durch die Blattern zu
vertilgen. Ob diese Beschuldigung gegründet ist, habe ich
jedoch nicht ermitteln können.
Außer den Indianern spielen die emancipirten Afri-
kaner hier eine große Rolle und benehmen sich wo mög-
lich noch roher als auf dem Isthmus von Panama nnd
allen Weißen gegenüber mit der coloffalsten Frech-
heit. Die Amerikaner ärgern sich noch besonders darüber,
daß die Neger hier meistens die Stellen von Polizisten
einnehmen und in ihrer neugebackenen Würde nachsichtslos
die gehaßten Uankees für die allergeringsten Verstöße, wegen
fröhlicher Trunkenheit und kleiner unmoralischer Excentricitäten
unter Schloß und Riegel setzen. Manche Mutige Schläge-
reien sind schon die Folge davon gewesen, wobei insbesondere
die Matrosen sich nie ein Gewissen daraus gemacht haben,
ihren schwarzen Todfeinden gratis per Messerstich einen Paß
ins Land ihrer Väter zu geben.
Ich wanderte den Tag über in der Stadt umher, be-
suchte die prachtvollen Speicher der Hndsonsbai-Com-
pagnie, in denen die verschiedenartigstenHandelsartikel, von
Nähnadeln bis zu Schiffsaukern, von einer Elle Kattnn bis
zu Ballen von Schnittwaaren, in ungeheuren Quantitäten
zum Verkauf ausgeboten sind, beehrte mehrere äußerst elegant
eingerichtete Billard-, Trink- nnd Speisesalons mit einem
flüchtigen Besuche und gerieth znletzt ganz zufällig in ein
conföderirtes Gasthaus, wo man unterm Schutze der den
Vereinigten Staaten fpinnefeindlichen Engländer den Aankees
zum Aerger eine riesige Rebelleusahue ausgehängt hatte.
Der Wirth, ein alter Texaner Ranger, renommirte mit
einigen farbenreichen Schlachtbildern von Bnlls Rnn, dem
amerikanischen Roßbach. Er behauptete in dieser interessan-
ten Asfaire auf Seiten der Conföderirten mitgefochteu zu
habeu, und erlaubte sich allerlei anzügliche Bemerkungen,
wofür die erbosten Yankees ihm blutige Rache schworen, wenn
sie bei passender Gelegenheit Victoria dem ungezogenen John
Bull, seinem Protector, abnehmen würden, zur Strafe für
unberufene Einmischung iu „unsere Natioualzwistigkeiteu und
hinterlistigen Seeraub unter fremden Farben"; so meinten
die Aankees.
Eigentlich sollte auch der ganze Ländercomplex, den die
habgierigen Herren Engländer sich an diesem Erdenwinkel
zugeeignet haben, seiner natürlichen Lage nach den Vereinig-
ten Staateu angehören. Unsere lieben nördlichen Nachbarn
scheinen dieses im Allgemeiuen auch sehr zu wünschen und
fühlen sich weit mehr zur neue» als zur alten Welt hinge-
zogen. Man rechnet hier bereits nach amerikanischem Gelde
und lebt auch ganz nach amerikanischem Stil, so daß eine
derartige politische Umwandlung ohne besondere Störung be-
stehender socialer Verhältnisse sich leicht bewerkstelligen ließe.
Theodor Kirchhofs: Streifzüge im N>
Wenn Victoria und Britisch Columbia einmal den Vereinig-
ten Staaten sich anschließen werden, was sicherlich nur Frage
der Zeit ist, und die Langsamkeit der unterm alten Zopfe
lebenden Engländer dem Unternehmungsgeiste uud „free and
easy Go Ahead" der Aaukees Platz macht, so wird sich dies
an Hülfsgnellen so reiche Land auch schneller entwickeln, Han-
del und Wandel werden einen neuen Aufschwung nehmen
und ich möchte mir keinen angenehmer« Wohnort als die
mit einem herrlichen Klima gesegnete Stadt Victoria wünschen.
Im Allgemeinen verbrachte ich einen recht angenehmen
Tag an diesem äußersten Vorposten der Civilisation. Das
Wetter war wunderschön, mit einem wahrhaft texanischen
Himmel, Essen und Getränke gut, Cigarreu Seele und Leib
erheiternd und die Gesellschaft unter Indianern, Afrikanern,
Mnkees und John Bnlls äußerst „gewählt".
Nachmittags schlenderte ich unter der Escorte von zwei
indianischen Schönheiten, mit denen ich eine höchst interessante
Zeichensprache anknüpfte, zum Laudungsplatze unseres Dam-
pfers zurück und langte wohlbehalten wieder im romantischen
Esqnimault an, gerade als eine Rauferei auf dem Quai zwi-
schen einem Neger und einer Jrländerin zur ungemeinen Be-
lustigung unserer gesammten Schiffsgesellschaft im besten
Gange war, der Steamer bereits ungeduldig zu werde» au-
fing und die am Lande ungebührlich lange verweilenden Gold-
tonriften mit heiserem Geschrei wiederholt zur Eile ermahnte.
Am 21. Abends verließen wir wieder den Hafen von
Esqnimault, begleitet von den Klängen eines Musikchors,
die vou einer im Hafen vor Anker liegenden britischen Fre-
gatte melodisch zu uns herübertönten nnd denen wir höflich
mit einer von den fernen Gebirgen znrückhallenden Geschütz-
salve antworteten.
Allmälig hüllten die Schatten der Nacht die waldigen
Gebirgsnser der Straße von Juan de Fuca ixt ihre dunklen
Schleier und bald schlummerten die zahlreichen Bewohner
des schwimmenden Dampfriesen in enger Klause, unbeküm-
mert um den gefesselten Vnlcan, der unter ihnen tobte, uud
träumten von den Wundern des unbekannten Goldlandes,
dem sie unbewußt schnell entgegeneilten, während unser stol-
zer Feuerrenner der schäumenden Tiefe nnermüdet gen Sü-
den sprengte, um mit der erwachenden Sonne neue Natur-
sceueu vor unseren Blicken zn entrollen.
Herrlich stieg der Sonnenball am nächsten Morgen hin-
ter den Gebirgen von Washington empor, unter denen die
vom Fuß bis zum Gipfel ganz mit frisch gefallenem, blen-
dendem Schnee bedeckten, über 15,000 Fuß hohen Bergriesen
Mount Baker und Monnt Rainier den Himmel selbst auf
ihren eisigen Schultern zu tragen schienen. Die dichten Ne-
bel, welche uns auf der Reise von San Francisco bis nach
Victoria so sehr belästigt und jegliche Fernsicht auf die Küste
abgeschnitten hatten, waren gänzlich verschwunden und eine
muntere Brise kräuselte die Wellen des großen Oceans. Hin
und wieder zeigten sich die dunkele» Rücken riesiger Walfische,
welche ihre blinkenden Fontainen hoch emporspritzten, und
ganze Reihen von Tummlern überschlugen sich mit gehörnten
Rücken im Wasser, in possirlichen Capriolen neben uns her
springend und gleichsam mit dem Dampfer um die Wette
rennend, der selber lustig auf- und abtanzte, als ob es ihn
freue, so bei schönem Wetter über die im lichten Sonnen-
strahle blitzenden und mit weißem Silberschaume gekrönten
Wogenhügel dahinzubrauseu.
Bei stürmischem Wetter soll das Fahrwasser an dieser
offenen Küste außerordentlich rauh und gefährlich sein, na-
mentlich an der mit Recht berüchtigten Einfahrt in den Eo-
lumbiastrom, wo die Wogen bei Nordweststürme» haushoch
emporschlagen und der Schrecken aller Seefahrer in diesen
Meeren sind.
Pesten Amerikas, namentlich in Oregon. 15]
Bei Sonnenuntergaug näherten wir uns dieser interessan-
ten Stelle, der sogenannten „Columbia River Bar", wo
die Brandung aus der Ferne einen imposanten Anblick dar-
bot, wie sich die schanmspeieudeu Wogenberge, wilden Unge-
heuern gleich, donnernd und brüllend über und durch einander
dahinstürzten. Unser Capitain behauptete jedoch, daß das
Fahrwasser daselbst an diesem Tage ziemlich ruhig sei. Wohl
Tage lang wäre er schon genöthigt gewesen, vor der Barre zu
kreuzen, ehe er mit dem Dampfer die Uebersahrt Hütte wagen
können.
Ich war froh, als ein Lootse uns glücklich durch dieses
„ruhige" Fahrwasser gebracht hatte, wo schou ulauches Schiff
elendiglich untergegangen und der Paß zwischen den unterm
Wasser verborgenen Sandbänken stellenweise kaum eine Schiffs-
länge breit ist. Während dieser ruhigen Einfahrt in den
großen Nordweststrom stöhnte der Steamer in allen Fugen,
als ob die Wogen ihm den Dampsathem ausquetschen woll-
ten, ein friedliches Wellenpärchen glitt kosend über das Verdeck
und guckte neugierig oben in den Mastkorb, was meinen Enthn-
siasmns für diese romantische Brandung bedeutend abkühlte.
Schnell fuhren wir jetzt in nach meinen Landmanns-
Begriffen ruhigem Fahrwasser weiter und durchkreuzten zu-
nächst die von langgestreckten Hügelreihen und prächtigen
Waldungen eingeschlossene baiartige Mündung des Co-
lumbiastromes, welche vomCap Disappoiutment imSüd-
Westen bis zum nördlichen Vorgebirge, auf dem ein Leucht-
thurm erbaut ist, die stattliche Breite von drei Lieues hat.
Vom Innern her gewährt diese, mit der halbmondartig den
Ausgaug umspannenden, wildbrandenden Barre, die sich bei
Stürmen an 40 Fuß hoch emporhebt und die Höhe des da-
hinterliegenden Oceans öfters ganz verdeckt, einen imposanten
Anblick.
Der Columbia, mit einer Stromlänge von 340 deut-
schen Meilen und einem Stromgebiet von 15,940 deutschen
Quadratmeilen, ist der Hauptstrom des äußersten amerikani-
schen Westens. Alte spanische uud englische Seefahrer wnr-
den wiederholt durch die Barre abgeschreckt, in die Mündung
hineinzusegelu, welche sie für weiter nichts als einen Meeres-
einschnitt hielten. Dem kühnen amerikanischen Capitain Gray
gelang es im Jahre 1792, mit dem amerikanischen Schiffe
„Columbia", uach dem der Fluß von ihm benannt wurde,
den Eingang über die schreckensvolle Barre zu erzwingen und
der Menschheit die Thore eines neuen Weltreichs zu erschließen.
Etwas vor Dunkelwerden langten wir bei dem von dem
Neuyorker Millionair Astor, einem geborenen Deutschen, im
Jahre 1810 als Pelzhandelsdepot am linken Ufer des Co-
lnmbia gegründeten Städtchen Astoria an. Der Plan des
Gründers, der damals den Grund zu seinem später fürstli-
chen Vermögen legte, diesen Ort zum Haupthandelsplatz des
Columbiathals zu machen, ist nicht in Erfüllung gegangen;
auch ist das Stromufer daselbst durch die dicht hinter der
Stadt aufragenden „Bluffs" so beengt, daß kaum der nöthige
Raum zu Bauplätzen für eine größere Stadt dort gewonnen
werden könnte. Das Project, eine Stadt nahe der Mün-
dung des Columbia an dessen rechtem Stromufer zu erbauen,
wo sich eine ziemlich gnte Hafenstelle befindet, setzte vor ein
paar Jahren manche der specnlationssüchtigen Amerikaner
an dieser Küste in Bewegung, um sich dort Bauplätze zu
verschaffen. Diese Zukuusts-Weltstadt, welche den Namen
Pacisic City erhielt, existirt jedoch gegenwärtig fast nur
auf dem Papier, und die weiter oberhalb im Nebenthale des
Willametteflnffes gelegene Stadt Portland hat bis jetzt
das Geschäftsmonopol des schnell an Bedeutung gewinnenden
Columbiathals behauptet.
Ohne uns lange bei dem wenig Anziehendes bietenden
Millionairkinde aufzuhalten, fuhren wir die Nacht hindurch
152 Wilhelm Hausmann: Draga
bei klarem Mondschein weiter, den von sinstern, nebelmn-
wallten Wäldern eingeschlossenen stattlichen Columbia hinauf.
Die ausgehende Sonne schmückte mit Millionen blitzender
Diamanten das saftig-dunkle Grün der nahen Niesenwcilder»
Mit Macht fuhren wir noch immer den prächtigen Strom
hinauf, der breit und klar seine Wassermassen uns entgegen-
wälzte. Hin und wieder zeigten sich vereinzelt dastehende
Wohnungen und cnltivirtes Land, freundlich zwischen dunkel-
grünen Wäldern daliegend,. welche sich in üppiger Fülle bis
dicht an die Ufer drängten, bis wir um sieben Uhr Morgens,
: ititb Papaluga tu der Moldau.
iu einer Entfernung von etwa 80 Seemeilen von der Barre,
vor der Mündung des Willametteflnffes Anker war-
fen, der sich zu unserer Rechten durch eine breite Niederung
in den Columbia ergoß.
Sobald es die Fluth ermöglichte, welche den Strom noch
bis an die 45 englische Meilen weiter oberhalb gelegenen
Cascade-Fälle hinansteigt, fuhren wir in den Willamette
hinein uud laugten Nachmittags wohlbehalten bei der 10
englische Meilen oberhalb seiner Mündung am linken Ufer
liegenden Stadt Portland an.
Dragaica und "Fapa
Von Wilhelm Hau
Bei dem Ungeheuern Einfluß, den das Gerathen oder
Nichtgerathen der Feldsrüchte auf alle ackerbautreibenden Na-
tionen ausübt, ist es nicht zn verwundern, daß wir bei vielen
Völkern, welche noch auf einer kindlich gemüthlichen Cnltnr-
stufe stehen, auch allerlei Arten von abergläubischem Feld-
zanber ausgeübt sehen. Interessant uud wohl aus dem
höchsten Alterthum stammend sind auch die Gebräuche, welche
vor nicht gar langer Zeit in der Moldau noch in allgemeiner
Uebnng waren.
Wenn gegen das Ende Juli heiße Wiude von der Donau
herauf über die weiten Ebenen der grünen Moldau wehten,
Tausende vou Cikadeu ihr eintöniges Lied schwirrten, die
weithinwogeuden Kornfelder gelber und gelber wurden und
die fruchtschweren Nehren, wie in träumerisches Sinnen ver-
loren, tief sich niederbeugten, dann machte wohl ein altes
erfahrenes Mütterchen die schmucken, schwarzhaarigen Dors-
dirnen, die sich unter der großen schattigen Linde versammelt
hatten, aufmerksam: daß es nun Zeit sei, die Dragaica
— Huldin — aus ihrer Mitte zu wählen. Plötzlich schien
bei dieser zeitgemäßen Mahnung elektrisches Feuer in die
jungen Mädchen zu fahren. Rasch constitnirte sich das
Wahlcomite. Flüsternd neigten sich die Köpfchen von einem
Ohre zum andern. Eifrig wurde hin- und herdebattirt.
Wie bei jeder Wahl zu öffentlichen Aemtern, gab es auch
hier Meinungsverschiedenheiten. Endlich sprangen alle Mäd-
chen vom grünen Rasen auf uud riefen mit lauter Stimme:
„Lano — Helene — soll Dragaica sein! Ans, schmückt
sie zur festlichen Runde!"
Verschämt und erröthend stand die Erwählte; nur zögernd
stimmte sie ein in den Jubel der Freundinnen. Kaum hatte
sie 16 volle Sommer erlebt, war noch nie über die engen
Grenzen ihrer Dorfflur hinausgekommen, und jetzt sollte sie
plötzlich als Dragaica durch mehrere benachbarte Orte ziehen
und die Blicke so vieler fremder Menschen auf sich gerichtet
sehen? — Freilich wnßte sie anch, daß, so hochgeehrt die
Dragaica werde, und ob auch so vieler Bursche Augen ver-
langend nach ihr sehen mögen, sie jedenfalls noch drei volle
Jahre in jungfräulichem Stande verharren müsse. So war
es stets eingetroffen, wie die jetzt achtzigjährige Mutter Pa-
rasciva bestimmt versicherte. Jndeß bald stand die noch im-
mer nachdenkliche schöne Lano, von ihren diensteifrigen Freun-
dinnen geschmückt, in dem heitern Kreise. Rasch hatten
geschickte Hände aus den noch nicht ganz gereisten Korn-
Halmen eine Krone mit Bogen und Spangen geflochten, mit
einem zierlichen Krenze oben darauf. Andere lösten der Fest-
kölligin die stattlichen Flechten, so daß ihr Nabenhaar in
fuget in der Moldau,
mann in Kronstadt.
kräftigen Wellen über die Schultern bis zn den Knien floß.
Seidene Halstücher wurden anl Zipfel mit silbernen Spangen
am Handgelenk befestigt, andere hingen vom ledernen, reich
mit Glassteinen und Messingknöpfen verzierten Gürtel her-
uieder.
Sinnbildlich legte man in die Hände der Dragaica die
Schlüssel, welche zur Eröffnung der Scheunen dienen sollten;
— sonderbarer Weise haben aber die Moldauer Bauern nie-
mals verschließbare Scheunen gehabt, sondern bewahrten ihre
Feldfrüchte, wie heute noch, in unterirdischen Gruben oder
taubenschlagähnlichen Körben von Weidengeflecht. Da aber
Fürst Kantemir in seinem großen Werke über die Gebräuche
der Moldauer ausdrücklich dieser Schlüsselübergabe erwähnt,
so glauben wir, dieser Gebrauch stamme aus früherer Zeit,
wo die Moldau sich größern Wohlstandes erfreute als jetzt.
Sobald alles fertig war, und auch die Begleiterinnen der
Dragaica sich nach Möglichkeit mit dicken Glasperlen, sei-
denen Tüchern uud Blumen im Haare herausgeputzt hatten,
setzte sich der Zug der Mädchen in Bewegung. Beifällig
lächelnd und Segenssprüche murmelnd sahen die Alten den-
selben sich durch das lange Dorf hinausbewegen durch die
Felder. Mit lautem Jubel wurden die singend und tanzend
einherziehenden Mädchen, mit ihrer ernst einherschreitenden
Dragaica in der Mitte, von der benachbarten Dorfgemeinde
begrüßt. Die Bursche steckten frische Sträuße von Korn-
blumen ans die großen breitrandigen Hüte und feuerten hier
und da eine Pistole in die Luft. Auf den alten Fiedeln
eifrig kratzend und die eintönigen aber eigenthümlich auf-
regenden rumänischen Nationalweisen spielend, schlössen sich die
stets gern einige Paras verdienenden Zigeunermusikanten an.
Die Dragaica geht mit ausgestreckten Händen dem Winde
entgegen, in raschem Lauf durch einige Felder, so daß sie wie
fliegend dahinznschweben scheint; die wehenden seidenen Tücher
verstärken sehr diesen Anschein. Ihre Gespielinnen nennen
sie in Anreden und improvisirten Gesängen nur ihre „Be-
Herrscherin", ihre „erhabene Schwester" u. s. w. Mit dem
Spätabend kehrt der Zug, ermüdet aber befriedigt, in feine
Heimathstätte zurück. Alle die einfachen Menschen, welche
die Dragaica heute besucht hat, schlafen sanft und ruhig, iu
dem festen Glauben, daß ihre Feldfrüchte nun vortrefflich
gedeihen, und vor Hagelschlag und Mäusefraß gesichert in
die Scheunen kommen werden.
Daß diese Gebräuche noch vom Cerescnltns der Römer
herstammen sollen, bemühten sich schon mehrere Schriftsteller
zu beweisen; indeß herrschen ähnliche Gebräuche auch bei sla-
vischen Völkern, die sich nicht rühmen, von den Römern her-
Franz Becker: Vorahnungen wilder £
zustammen. — Es ist nicht auffallend, daß die Moldau, die
nach Osten durch kein hohes, waldreiches Gebirge von den
russischen Steppenländern getrennt ist, wenn von dorther
heiße dörrende Winde wehen, an Regen Mangel leidet. Der
einfach gläubige Sinn des Volkes sucht in dieser Noth dann
auch gern Hülfe bei überirdischen Mächten. Die Mittel
freilich, welche man anwendet, um'den erwünschten Regen
auf das dürre Land herabzuziehen, sind drollig genng, doch
„was kein Verstand der Verständigen sieht — u. s. w."
Auch hier folgen wir den Angaben des Fürsten Kantemir,
der doch wohl sein Volk und dessen Gebräuche am Besten
kennen muß. Er war selbst ziemlich aufgeklärt, doch hinderte
ihn das nicht, ganz ernsthast an einer Stelle seines Werkes
zu versichern, daß einst ein altes Weib ein kostbares Pferd
von einer gefährlichen Krankheit gerettet habe dadurch, daß
sie dem Herrn desselben einen Trunk geweihten Quellwassers
gegeben habe.
Also bei Regenmangel und Dürre muß ein Mädchen,
olksstamme bei großen Naturereignissen. 153
welches aber noch nicht über 10 Jahr alt sein darf, die Rolle
der Papaluga übernehmen. Es wird ihr ein Hemd, von
grünen Kräutern und Blättern geflochten, angezogen, und
ein grüner Zweig in die Hand gegeben. Alle anderen Mäd-
chen und Knaben folgen der Papaluga, und fo ziehen sie
tanzend und singend durch die Nachbarschaft. Wo der Zug
aber vorbeikommt, wird er eifrig mit kaltem Wasser beschüt-
tet, wobei sich wieder die alten Weiber besonders thätig
zeigen. Bei großer Hitze und so einfacher Kleidung hat das
Begießen uicht viel zu bedeuten. Die moldauischen Bauern-
kinder gehen auch heute noch nur mit einem großen Filzhut
und einem langen grobleinenen Heinde bekleidet umher. Die
Tendenz des Liedchens, welches sie bei ihrem Umzüge singen,
ist sehr einfach und lautet in freier Uebersetznng ungefähr so:
Papaluga steig' zum Himmel hinauf,
Oeffne des Regens erfrischenden Lauf;
Daß Hirse und Weizen gedeihen schön,
O, Papaluga, erhör' unser Fleh'n!
Vorahnungen wilder Iolksstämme bei großen Naturereignissen.
Mitgetheilt von Franz Becker 5).
Erdbeben kündigen sich, wie man weiß, nicht durch vorauf-
gehende Naturerscheinungen an. Tüchtige Naturforscher, die oft
genug schon Betrachtungen darüber angestellt haben, behaupten nach
manchen Erfahrungen, daß weder drückende Hitze mit rasch ab-
wechselnder Kälte, noch sonstige Lustveränderungen Vorboten jener
großen Erschütterungen sind, da dieselben auch bei dem besten
und regelmäßigsten Wetter stattfinden.
Um so merkwürdiger also muß folgendes Vorkommniß erschei-
nen, da es, wie man glaubt, ein Beweis sei, daß einige ältere
Indianer die Gabe besitzen, ein im Anzüge befindliches Erdbeben
schon einen Tag vorher zu verkünden. Ob nun diese Gabe ihnen
durch eine sorgfältigere Beobachtung der Natur, oder durch ihre
in hohem Grade ausgebildeten scharfen Sinne eigen ist, muß man
dahin gestellt sein lassen.
Mendoza und San Juan sind zwei ziemlich große, ungefähr
zwei Tagereisen von einander entfernte Städte der La-Plata-Re-
publik und liegen ziemlich nahe an der östlichen Seite der Cor-
dilleren.
Bekanntlich wurde die erstgenannte Stadt im Jahre 1861
durch ein Erdbeben gänzlich zerstört. Der größte Stadttheil ver-
sank in den sich öffnenden Rachen der Erde, und die meisten Ein-
wohner wurden lebendig begraben.
Kurz nach der furchtbaren Katastrophe machte ich eine Reise
von Santiago über die Cordilleren nach San Juan. Auch diese
Stadt hatte sehr gelitten und viele Häuser waren eingestürzt;
aber die Einwohner waren glücklicherweise verschont geblieben.
Ich hatte schon viel von dem furchtbaren Ereignisse gehört,
wünschte aber noch mehr davon zu erfahren.
Vor dem Thore der Stadt traf ich einen schon ziemlich be-
jährten Indianer, der traurig auf einem Steine saß.
Neben ihm stand sein treues Pferd, das seinen Herrn, ob-
gleich es ungesattelt und ohne Zaum war, doch nicht verlassen
zu wollen schien.
Ich fragte ihn, ob er mir wohl Näheres über das Erdbeben
mittheilen könne?
„Oh ja," antwortete er mir. „Ich bin aus Mendoza und
einer der wenigen Übriggebliebenen. Ich wußte es schon einen
Tag vorher, daß ein Erdbeben im Anzüge sei. Ich bat wieder-
holt meine Angehörigen und alle übrigen Bewohner der Stadt,
dieselbe mit mir zu verlassen. Aber ich wurde verlacht und ver-
*) Dcr Herr Verfasser lebte länger als zehn Jahre in Südamerika.
Globus XI. Nr. 5.
spottet. Ich mußte allein sort. Weinend kehrte ich der Stadt
den Rücken. Die Befürchtung, daß alle meine großen Söhne mit
ihren Frauen und Kindern und alle Bewohner der Stadt in we-
nigen Stunden nicht mehr sein würden, bereitete mir großes
Herzeleid. Aber ich habe das Meinige gethan. Sie haben den
Scherblick eines alten Indianers verspottet und haben nun dafür
büßen müssen. Ich hatte noch nicht die Stadt San Juan mit
meinem treuen Benkor erreicht, als sich auf einmal unter der
Erde ein Donnern und Toben vernehmen ließ. Erschüttert stieg
ich vom Pferde herab, welches „wie heiße Wüstenluft" zitterte,
sank auf meine Knie und bat den großen Geist der Berge um
Vergebung meiner Sünden. Doch er war unerbittlich. Als ich
mich wieder erhob, wurde der unterirdische Donner immer lauter,
so daß die Haare mir zu Berge stiegen. Mein Pferd stöhnte und
schnaubte. Auf einmal hob sich der Boden entsetzlich und fiel
wieder, wie ungefähr hohe Wellen auf dem Meere. Mein
Benkor konnte sich nicht mehr aufrecht erhalten, stürzte nieder
und verletzte beide Vorderknie. Ich wollte dem armen Thiere
helfen, konnte aber selbst das Stehen nicht behalten und sank
abermals zu Boden. So mochte in dieser schrecklichen Angst und
Verzweiflung wohl eine halbe Stunde (?) vergangen sein, als
endlich der unterirdische Donner nachließ und die Erschütterungen
aufhörten.
„Ich war von diesem schrecklichen Naturereignisse sehr ergrif-
fen. Endlich raffte ich mich mit meinem verletzten Thiere wieder
auf, und kam auch bald darauf in San Juan an. Alle Glocken
läuteten; Messen wurden gelesen. Ein Jeder dankte dem großen
Schöpfer des unterirdischen Feuers, ihn vor fernerem größerem
Unheil bewahrt zu haben. Ich nahm sofort ein anderes Pferd
und eilte wieder zurück nach Mendoza. Es quälte mich die schreck-
lichste Angst und Besorgniß. Ich mußte sehen, was aus den
Meinigen geworden war. Entsetzlich! Dcr Weg zum Thore glich
einer zerstörten Festung, in welcher durch Minen, Bomben, Ku-
geln, Feuer nnd Schwert das Unterste zu Obent gekehrt worden
ist. Auf den zerstörten Dächern und Mauern sah ich die übrig-
gebliebenen Menschen mit zitternden Händen die geliebten Ihn-
gen suchen; aus allen Schutthaufen wimmerten Verwundete und
Sterbende hervor, und die Steine trieften vom Blute der Men-
fchen und Thiere.
„Während dieses schauderhafte Gemälde auf der einen Seite
die züchtigende Ruthe des großen Geistes darzustellen schien, er-
öffnete sich aus der andern Seite eine wahre Nationalversöhnungs-
20
154 Aus allen
stunde. Priester segneten jetzt öffentlich Paare ein, denen man
vor einigen Stunden noch fluchte; feindliche Nachbarn gelobten
in friedlicher Umarmung sich treuen Beistand, und Weiber und
Mädchen schwuren, die heiligen Feste unter immerwährendem Be-
ten und Fasten zuzubringen. Ein Jeder gab der allgemeinen
Sittenlosigkeit und dem Arbeiten an den heiligen Tagen Schuld,
den Zorn der Kirche erregt zu haben, deren Priester diesen Augen-
blick benutzten, um Schenkungen und Vermächtnisse von den be-
güterten Einwohnern zu erlangen." — „Aber die Deinigen,"
unterbrach ich den alten Indianer, „was wurde aus Deinen Kin-
dern und Großkindern?" — „Sie hatten meine Vorhersagung
verlacht und verspottet. Der große Geist hat sie gezüchtigt. Der
Stadttheil, der von ihnen bewohnt wurde, ist vollständig in die
Erde gesunken. Alle sind lebendig begraben."
Der alte Mann wischte sich einige Thränen aus den Augen
und stimmte nach Weise seines Volkes ein Todtenlicd an. Ich
gab ihm ein wenig Aguardiente, — ein dortiges starkes und be-
täubendes Lieblmgsgetränk der Indianer, — welches ihn so sehr
belebte und geistig kräftigte, daß er auf sein Pferd fprang und
mir versprach, mich nach Mendoza zu begleiten. Ich nahm sein
Anerbieten mit Dank an und freute mich, einen so erfahrenen
Führer zu haben. Nach zweitägigem ziemlich schnellem Reiten
kamen wir in Mendoza an.
Die Worte des Alten fand ich vollständig bestätigt. Ein
Theil der Stadt war von der Oberfläche der Erde vollständig
verschwunden, und die meisten Einwohner hatten unter den Trüm-
mern ihrer Häuser ihr Leben ausgehaucht. Niemals sah ich ein
traurigeres und öderes Bild der Verwüstung, als dies zerstörte
Mendoza.
Nicht allein diese Voraussagung des alten Indianers ist ein
Erdtheilen.
Beweis, daß einige derselben große Naturkenntnisse (?) oder einen
ungemein ausgebildeten Scharfsinn besitzen, sondern auch bei den
furchtbaren Erdbeben von Callao und Quito sollen einige Jndia-
ner kurz vor der Katastrophe die Einwohner gewarnt und schon
einen Tag vorher die Städte verlassen haben. —
Nachschrift. Wir hatten im „Globus", 1661, nach den
uns zugänglichen Quellen über das Erdbeben von Mendoza aus-
führlich berichtet. Erst jetzt, Februar 1367, kommt uns eine No-
tiz des Architekten Herrn Franz Stolp in Santiago de
Chile zu, welche wir dem Vorstehenden anschließen wollen.
In Ihrem „Globus", Jahrgang 1861, heißt es: „Ueber
das Erdbeben von Mendoza haben wir sehr ausführliche Nach-
richten u. s. w. In Santiago, der Hauptstadt von Chile, be-
merkte man keine Stöße."— Der Unterzeichnete ist und war zur
Zeit des Erdbebens in Santiago, und stand in dem Augenblicke,
wo Mendoza einstürzte, unter der Kehre (Corridor) eines Hauses
im Gespräch begriffen. Der Stoß, welchen wir also in Santiago
verspürten, war so stark, daß wir alle schnell die Nähe des Hau-
ses verließen in der Furcht, daß dasselbe vielleicht einstürzen könne.
Wir alle waren darüber einig, daß diese Erschütterung wohl die
Fortsetzung eines starken Erdbebens von der Cordillere her sein
müßte und sahen deshalb nach der Uhr, um die Zeit mit etwa
einlaufenden Zeitungsnachrichten zu vergleichen. — Leider hatten
wir uns nicht geirrt, denn Mendoza war in dem Augenblicke der
Erschütterung von Santiago gefallen. Die obige Angabe ist also
unrichtig. Uebrigens wurde die Zerstörung Mendozas in Argen-
tina und Chile als eine Strafe Gottes angesehen, denn die Ein-
wohner des Ortes, welcher jetzt wieder sehr weitläufig ausgebauet
wird, und zwar so, daß er nur aus einer Straße besteht, wa-
reu als das verkommenste Gesindel weit und breit verrufen."
Uus allen
Die Frauen in den Vereinigten Staaten von Nord-
cnnerika.
Sie verlangen für sich das Stimmrecht und den ihnen
gebührenden Antheil am Staatsleben und an Aemtern. Sie
meinen, so gut man einem Negerbnrschen, der nothdürfttg bnch-
stabiren könne, das Stimmrecht verleihe, so gut könne man es
ihnen, den weißen, gebildeten Frauen, auch geben. Die radical-
republikanische Partei will nun zwar den Schwarzen die Wahl-
urne zugänglich machen, um in ihnen Werkzeuge zum Druck auf
die Weißen im Süden zu haben, da aber nüt den weißen Frauen
ein solcher Zweck nicht zu erreichen ist und ein weiblicher Stellen-
jäger einen männlichen Aemterjäger verdrängen könnte, so findet
die Agitation der Franen bei den radicalen Politikern keine Gunst.
Die „Ladies" lassen sich aber nicht irre machen; dafür zeugt die
„Equal Rights Convention", welche sie im November 1866 zu Al-
bany, im Staate Neuyork, abhielten und in der viel Fractur gegen
die arge Tyrannei der Männer gesprochen wurde. Ein Berichter-
statter meldet:
Keine Lady trug Beinkleider. Frau Hasbrouk und ihre Mit-
redaetrice an der „Sibylle", hatten keine Nachfolgerinnen in der
Kleiderreform; Frau Stanton hat die Hosen abgelegt und selbst
Frau Bloomer kleidet sich nach Pariser Mode. Frau Stanton
sah recht hübsch aus; sie ist ein sehr nettes Weibchen, hat mütter-
lichen Ausdruck und die Korkzieherlocken lassen ihr ganz gut; sie
sieht frisch und gesund aus. Das Pastor-Fräulein Olympia
Brown trug ein schwarzseidenes Kleid und hatte während der
Versammlung ihren Hut nicht aus dem Kopfe; sie trägt aber ihr
Haar so, wie es vor zwei Jahren Mode war nnd sieht nicht sehr
fürchterlich aus. Miß Brown hat jetzt eine Predigerstelle (pastor-
sliip) in Newburgh übernommen; sie sieht noch wie ein Backfisch
aus (has a girlish look about her). Fräulein Bessie Bisbee
wurde mit jenem Applans empfangen, auf welchen eine hübsche,
erst zwanzig Jahr alte Dame allezeit rechnen kann.
Frau Lucy Stone war Präsident. Mit Ausnahme des Mu-
latten Frederic Douglas und des Herrn Parker Phillsbnry mach-
Lrdlljeile n.
ten die männlichen Redner eben keinen besonderen Eindruck. Herr
Stebbins aus Rochester las eine lange höchst prosaische Adresse
in näselndem weinerlichen Tone, worüber die Zuhörer keine große
Freude empfanden. Dann trat Herr Beach auf, „ein verrückter
Mann" (a crazy man), welchen der Präsident mit den Worten
vorstellte, daß derselbe weit hergekommen sei, um hier zu reden.
Herr Beach warf alles Mögliche durcheinander: die französische
Revolution, die Freiheit, die Menschenrechte, die Theologie und
noch ein halbes Schock anderer Dinge, auch sprach er viel über
die rothen Indianer und deren Papuses (Kinder), vergaß auch
nicht zu bemerken, daß die Indianer gewaltige Jäger seien und
sich auf weiten Jagdgründen lierumtummelten. Er habe einmal
aus offener See ein Schiff angetroffen; alle Leute am Bord seien
todt gewesen und das Steuerruder habe gefehlt. Das war der
Frau Anthony doch zu stark; sie fiel Herrn Beach in die Rede
und er mußte abbrechen.
Jetzt verkündete die Vorsitzende, daß Herr Lawrence „einen
Gesang singen" werde, welchen er erpreß für diese Gelegenheit
zurecht gemacht habe; der Stoff desselben sei, daß es in der Welt
doch besser werden müsse. Der Singsang wurde mit Beifall auf-
genommen, man vernahm aber auch da und dort Zischen. „Es
war übrigens eine ganz liebliche Melodie." Derselbe Gentleman
gab noch ein Lied zum Besten, in welchem die erhabene Idee
durchgeführt wurde, daß es kein Uebel in der Welt mehr geben
werde, wenn einmal die gute Zeit wirklich gekommen fei; Poli-
tiker, Doctoren, Advocaten zc. (mit dem ic. meinte er die Theo-
logen) würden dann alle abgeschafft sein, abolished, gleich der
Negersklaverei. — Frau Stanton vertheidigte diesen Gesang mit
Lebhaftigkeit; einige Leute wollten denselben befremdlich und ftlt-
sam finden, das sei mit ihr nicht der Fall. Wenn die Frauen
für ihre Dienste richtig belohnt werden, dann können sie sich auch
mehr Vergnügen machen und die Weiber werden dann verhält-
nißmäßig reich sein. Dann würden sich auch die Männer nicht
vor dem Heirathen fürchten; „es wird dann keine alten Jung-
fern und keine alten Junggesellen mehr geben."
Aus allen
Am zweiten Tage borgte Fräulein Anthony einen Herrenhut
und ließ Geld sammeln. Herr PhillSbury verlas eine von ihm
verfaßte Adresse an das Volk des Staates Neuyork, worin er
„eine Handvoll Gründe" gegen die obwaltenden Zustände vor-
brachte. „Die Weiber werden wie überführte Verbrecher behan-
delt, nicht wegen eines Verbrechens, nicht wegen der Farbe, son-
dern wegen des Geschlechts. Sie sind durch ihre gebietenden
Herren und Meister, durch Aechtung vermittelst der gesetzgebenden
Gewalt, nicht bloß ein klein Bischen, nicht bloß etwas Wenig,
sondern unermeßlich tief herabgedrückt, unter Myriaden der mensch-
lichen Raee, herabgedrückt durch Männer, deren einziger, obwohl
nicht einzusehender und gar nicht zu erforschender Grund für ein
solches Verfahren darin besteht, daß sie leiblich verart beschaf-
sen sind, als Männer in den Censustabellen Figur zu machen.
Das kann und soll aber nicht ewig so bleiben. Der Engel
der eonstitutiouelleu Convention wird bald herabkom-
men und das Wasser umrühren. Mögen Alle, welche der
Heilung bedürfen, sich beeilen, um die Taufe zu empfangen.
Jetzt, gerade nun, jetzt und gegenwärtig, ist die rechte Stunde da.
Die große Glocke der Humanität hat die Stunden an-
geschlagen und ihr Schall wälzt sich fort, hinweg über
die kontinente, Echo rnsend sowohl aus den Thälern
der Alpen wie jenen der AlleghanieS und süße Musik
mischend in den Wiederhall beider Hemisphären. Wir
in Neuyork haben diese Glockentöne vernommen und gehorchen
frohen Muthes der Aufforderung. Wir kommen zu Hülse der
Gerechtigkeit und dem Recht, wir sind wacker gegürtet und ge-
rüstet mit den Waffen einer heiligen, einer göttlichen Sache und
die Allmacht selber ist für das Gelingen unserer guten Sache
verpflichtet. Ja, schon stehen ganze Heerschaaren uns zur Seite
und unsere Grundsätze können niemals eine Niederlage erleiden.
Die Aussichten sür uns sind ermuthigeud, und vertrauensvoll legen
wir unser Unternehmen in Hand und Herz des harrenden und
erwarteudeu Volkes!"
Bombastischer Unsinn solcher Art hat allemal bei einem
augloamerikanischen Publicum auf Beifall zu rechnen, der auch
diesem Herrn PhillSbury nicht feblte.
Der Berichterstatter fährt fort: „Pastor Olympia Brown
nahm das Wort. Wenn wir alle unsere Schuldigkeit thun, dann
wird man im nächsten Jahr erleben, daß die Vereinigten Staaten
anch Frauenbürgerinnen haben. Mögen die alten Frauen
und jene im mittler» Alter ihre Erfahrungen hier mittheilen;
wir können Alles gebrauchen. Wenn der HErr kommt, muß er
uns wach finden. Eine leichte Arbeit haben wir allerdings nicht,
aber wir müssen das Opfer bringen."
Eine der angenommenen Resolutionen lautet: „Beschlossen,
daß das Wort männlich, welches dreimal in dem jetzt der Be-
rathung unterliegendenAmendement zur Verfassung vorkommt, eine
grobe Beleidigung sür die Frauenschaft in der ganzen Welt enthält.
Es ist ein beleidigender Verstoß gegen den Genius des neunzehn-
ten Jahrhunderts und wir hoffen, daß schon aus diesem einzigen
Grunde das Amendement verworfen werde." —
Die Radiealen suchen sich die unbequemen, wiewohl vom
Standpunkte dieser selben Partei ganz richtigen und consequenten
Zumuthungen der starkgeistigen Frauen, durch gute und schlechte
Witze vom Halse zu schaffen. Die Weiber glaubten sich beleidigt
und zurückgesetzt und daran denke doch kein Mann; ob sie aber
etwa eine bewaffnete Garde bilden wollten, wie die Amazonen
deö Königs von Dahome? Wenn man sie in Regimenter for-
mirte und ins Feld schickte, würden die weißen Ladies sich gewiß
sehr tapfer schlagen, doch habe man bisher aus guten Gründen
vorgezogen, Krieg und Waffenstreit den Männern allein zu über-
lassen. Die „Tribüne" sagt: „Wenn aber Frau Stanton ein
Regiment Dragoner für den Dienst an der Grenze gegen die
Indianer mobil machen oder eine Batterie ins Feld führen will,
dann werden wir das Unfrige thun. damit ihr Vorschlag in sorg-
fältige Erwägung gezogen werde. Aber sie svll es bleiben lassen,
uns Männern Schuld zu geben, daß wir je die Absicht gehabt
haben, die Frauenwelt zu beleidigen."
Karl Nitter's Geographie von Palästina und der
Sinaihalbinsel ist soeben, 1367. zu Edinburgh in einer eng-
lischen Ausgabe erschienen. Uebersetzer ist W. L. Gage. Wir
Erdtheilen. 155
haben an und für sich über das Buch nichts zu sagen, wollen
aber auf eineAnzeige desselben im Londoner „Athenäum" (vom
26. Januar 1867, Nr. 2018) hinweisen, weil dieselbe abermals
einen traurigen Beleg dafür giebt, wie stupid und anmaßend sich
manche englische Kritiker benehmen, sobald es sich um deutsche
Gelehrsamkeit handelt. In dieser Stupidität leistet gerade das
„Athenäum" Ausgezeichnetes, und von dem hohen Stande der
Wissenschaften in Deutschland weiß dieses Londoner Blatt nichts
oder will davon nichts wissen. Neulich brachte es eine Anzeige
über Oskar Peschel's Geschichte der Erdkunde, Stuttgart
1865. Dieses meisterhafte Werk des ausgezeichneten deutschen
Gelehrten wurde mit einer halben Spalte abgefertigt; daö „Athe-
uäum" wußte über dasselbe weiter nichts zu sageu, als daß das
Buch manche Thatsachen und Notizen enthalte. Nun besitzen aber
die Engländer so wenig wie irgend ein anderes Volk ein Werk, das
auch mir annähernd einen Vergleich mit Peschel's Buche aushal-
ten könnte; noch mehr, sie haben gar nichts derartiges in ihrer
Literatur, nicht einmal in Rudimenten, denn Major's Arbeiten
können doch nicht mit denen des deutschen Autors sich messen.
Ueber Peschel's „Geschichte des Zeitalters der Entdeckungen", welche
1858 erschien, wird kein Wort gesagt.
Nun ist es interessant zu sehen, wie ein kritisches Organ,
das in England großes Ansehen und eine weite Verbreitung hat,
seine „dloekisllness" — um einen englischen Ausdruck zu ge-
brauchen, zu Deutsch müßten wir sagen „klotzköpfige Dummheit"
— zeigt in einem Urtheil über Karl Ritter. ES hat keine
Ahnung davon, daß dieser große Mann der Wissenschaft eine neue
Bahn gebrochen, daß er ihr weite Horizonte eröffnet, daß er
Schöpfer der wissenschaftlichen und der vergleichenden Erdkunde
ist. Das „Athenäum" erklärt es sür einen Mißgriff, daß man
Nitter's Werk über Palästina und die Sinaihalbinsel übersetzt
habe. Dann äußert der gelehrte Londoner Thebaner Folgendes:
„Karl Ritter war seiner Zeit ein ganz respeetabler Sammler von
Thatsachen. Für eine Autorität kann man ihn nicht gelten lassen;
er war ein Gelehrter, der nur in seiner Bibliothek Reisen machte,
ein adventurer (also Jemand der Streifzüge macht) in seinem
Lehnsessel, ein Entdecker am Professorentische. Niemand wird in
Abrede stellen, daß er eine große Kraft hatte, Bücher durchzu-
lesen und eine große Fertigkeit der Aneignung besessen habe. Er
schrieb aus anderer Leute Untersuchungen eine gewaltige Biblio-
thek zum Nachschlagen zusammen, und weil er nun ein dickes
Buch zusammencompilirt hatte, ließen seine Schüler es sich bei-
fallen, ihn einen großen Geographen zu nennen. Seine Erdkunde
von Asien ist früher einmal ein nützliches Buch zum Nachschlagen
gewesen und hat uoch heute Werth, insofern man ans demselben
ersieht, welches der Stand der geographischen Wissenschaft vor
etwa zwanzig Jahren gewesen." Das „Athenäum" fügt hinzu:
„Mehr Verdienst können wir Karl Ritter nicht zugestehen."
Er geht dann auf Ritter's Palästina und die Sinaihalbinsel
über und hebt hervor, daß seit Nitter's „Kompilation" in Asien
viele neue Forschungen angestellt worden seien. Das wissen wir
Alle sehr wohl; aber was kann Ritter, dessen Darstellung jener
Länder in die Jahre 1848 und 1850 fällt, dafür, daß er nicht
jetzt sein Buch schreibt? Er ist seit Jahren todt! Es wird ihm
vorgeworfen, daß er nicht persönlich in Palästina gewesen sei und
kein Arabisch verstanden habe; er sei nur Robinson gefolgt, was
einfach nicht wahr ist; denn was bis 1848 über jene Gegenden
erschienen war, das kannte Ritter allerdings. Robinson war
lange in Palästina gewesen und sein Werk galt gerade bei den
Engländern für eine große Autorität! Das „Athenäum" fügt
bei: „Ritter und Robinson lebten in einer vorwissenschaftlichen
Periode, das geht aus ihren Schilderungen Jerusalems hervor."
Und: „Ritter war ein Zusammenschreiber zweiter Hand; es Wim-
melt in seinem Buche von Jrrthümern."
In dem frommen England ist es bekanntlich seit einiger Zeit
Mode geworden, viel Geld zu geben, damit im „heiligen Lande"
jeder Klotz und jeder Stein mikrologisch untersucht werde. Roth-
borstige Entdecker kriechen in jede Höhle, wenden jeden Stein
um, messen jede Mauer ab, trinken Thee auf dem Sinai und essen
Beefsteakes auf dem Horeb. Da sind sie denn glücklich zu dem
großen Resultate gelangt, daß in Robinson und Ritter sich Irr-
thümer befinden und daß diese eine ganz falsche Darstellung der
„heiligen Stadt" geben. Man solle lieber eine Schilderung dersel-
20*
156 Aus allen
Benin „Kitto'S Cyclopädia" oder den Artikel Jerusalem in „Smith's
Dictionary" lesen, als auch nur einen einzigen Tag an Gage-
Ritter's Buch verlieren!
Die Franzosen in Korea.
Diese Halbinsel, über welche wir nur sehr dürftig unterrichtet
sind, wird nun wohl auch dem allgemeinen Verkehr eröffnet wer-
den; seitdem China und Japan erschlossen sind, ist die Absperrung
kaum noch haltbar. Es wird etwa ähnlich gehen wie in Cochin-
china. Als sich dort, den Landesgesetzen zuwider, Missionaire
heimlich eingeschlichen hatten und ermordet wurden, fing Kaiser
Napoleon mit dem Kaiser von Annam, welchem das Land gehörte,
Krieg an; er erklärte feierlich im „Moniteur", daß er ihn ohne
irgend welche Absicht auf Eroberung führe, lediglich „im Jnter-
esse der christlichen Civilisation", die ja überhaupt in den Redens-
arten unserer Tage eine so erbauliche Rolle spielt. Er vergaß
aber sein feierliches Versprechen und eignete sich einen großen
Theil von Cochinchina mit Saigong an. Nun sind auch in Korea
Missionaire ermordet worden; über die näheren Umstände und
Veranlassungen sind wir noch nicht zuverlässig unterrichtet, wir
wissen aber, daß in Korea tüchtig bombardirt wurde und die „christ-
liche (Zivilisation" wieder einmal an der Arbeit war. Die „Revue
des deur Mondes" äußerte neulich: „Wie oft wähnen die Mis-
sionaire, sie brauchten nur einen Fuß irgendwohin zu setzen und
dann seien die Landeseinwohner schon halb bekehrt, ließen es sich
aber nicht merken, weil sie Furcht vor der weltlichen Macht hätten.
Daher rühren aber auch die unaufhörlichen Eingriffe
in das Gebiet der weltlichen Autorität; daher kommt
das Tichten und Trachten nach Herrschaft und Einfluß, das in so
bedauerlicher Weise hervortritt." Freilich führen die Missionaire
allein das große Wort und mit salbungsreichen Floskeln, und
nach ihren einseitigen Darstellungen urtheilt dann das unkritische
große Publicum auch einseitig und sehr unbarmherzig über die „ver-
stockten Heiden", welche keinen Fürsprecher finden. Die „Times",
welche es sonst nicht gern mit dem missionsschwärmenden John
Bull verderben möchte, bemerkt aber doch: „Die Ursache der
Verfolgung der Missionaire hat in neun Fällen unter zehn ihren
Grund darin, daß in einem Lande, wo das Volk an und für sich
so sehr gleichgültig gegen religiöse Dinge ist, wie in Ostasien,
insbesondere China, die weltliche Gewalt eifersüchtig auf den Ein-
fiuß ist, welchen die Geistlichen über die Neubekehrten erlangen;
um die Lehre selbst bekümmert sie sich wenig. Gelegentlich, wenn
die Missionaire so unverständig sind, einen im ganzen Lande
üblichen Gebrauch, z. B. die Verehrung der Vorfahren, anzu-
greifen, erregen sie auch den Unwillen des Volkes und rufen
Demonstrationen hervor. Wenn sie aber, wie das neuerdings
von Seiten der französischen Missionaire in China geschieht, eine
Art von bürgerlichem Protectorat über ihre Neubekehrten sich an-
maßen, dann wird auch die Regierung ihnen aufsässig. Was
nun die Koreaner anbelangt, so haben sie bis auf die jüngste
Zeit sich stets äußerst human gegen die Mannschaft von Schiffen
benommen, welche an ihrer Küste scheiterten. Auch die Missio-
naire haben lange Zeit unangefochten und »„belästigt in Korea
leben dürfen. Schon daraus kann man mit Sicherheit schließen,
daß sie durch ihr Benehmen der Regierung Anstoß gegeben und
die Rachehandlung hervorgerufen haben, der sie zum Opfer fielen.
Die „Revue des deur Mondes" ihrerseits bemerkt noch: „die Dinge
würden wahrscheinlich besser stehen, wenn das Apostolat sich stets
innerhalb der gebührenden und natürlichen Grenzen hielte, die
ihm nun einmal gesteckt sind." Diese Ansicht ist vollkommen
richtig; erst brüskirt man die „Heiden" und wenn man zu Scha-
den kommt, gleichviel ob durch Aufdringlichkeit, Uebermuth oder
Mangel an Klugheit, dann wird gegen die „Barbaren" geeifert
und man lehrt sie die Mores der Civilisation mit Kanonen.
Wenn einmal ein buddhistischer Bonze aus den Straßen Roms
gegen den Papst predigen wollte, was würde ihm geschehen?
Aber unsere Civilifatoren verlangen für sich überall Privilegien,
welche sie Anderen nicht gestatten! Das ist die Logik von der
Geschichte!
Aus der Sudsee. Zu den besten Kennern der polynesischen
Inselgruppen gehört W, T. Pritchard, der soeben ein Werk
Erdtheileu.
über dieselben veröffentlicht hat. (Polynesian researches, or
life in the South-Pacific Islands. London 1867.) Er ist
Sohn des Misstonairs Pritchard, der vor etwa 30 Jahren viel
genannt wurde, als England und Frankreich seinethalben in diplo-
matische Zwistigkeit gerathen waren. Der Sohn, welcher längere
Zeit Consul auf den Navigatoren und den Fidschi-Inseln war,
erzählt die Veranlassung.
Am 21. November 1836 landeten zwei katholische Priester,
Laval und Carret, auf Tahiti, wo damals Königin Pomare
herrschte. Als sie dieser allerlei Unannehmlichkeit bereiteten, schaffte
man sie fort, aber im Januar 1837 erschienen statt ihrer zwei
andere Geistliche, denen aber das Landen verboten wurde. Da
kam am 29. August 1838 Dupetit Thouars mit der Fregatte
„Venus", 60 Kanonen, verlangte Genugthuung sür die angeblich
den Franzosen zugefügte Beleidigung und 2000 Dollars Straf-
gelder. Auch sollte die französische Flagge auf der Jusel, wo
eben die Königin krank danieder lag, aufgezogen und mit 21 Ka-
nonenfchüssen begrüßt werden. Da aber auf Tahiti keine Kano-
nen waren, so lieh der Franzose seine eigenen Geschütze her. Von
dem Tage an war Tahiti den Franzosen versallen, sie benahmen
sich als Gebieter, und als der englische Consul Pritchard Vor-
stellungen machte, wurde er am 3. März 1814 vom französischen
„Gouverneur der Insel Tahiti" eingesperrt. Dieser hatte, krast
angemaßter Machtvollkommenheit, schon am 7. November 1813
die Königin Pomare abgesetzt und im Namen des Königs Lud-
wig Philipp Besitz von dem Archipelagus der Gesellschaftsinseln
genommen. Bruat hatte an jenem Tage die Flagge der Königin
Pomare, in welcher eine Krone eingestickt war, zn Boden gewor-
fen, die Krone mit Füßen getreten und dabei gesagt: „Hier liegt
die Krone Englands wieder einmal im Schmutze!" — Pritchard
schildert sehr ansprechend den Archipelagus der Navigatoren,
d. h. der Samoa-Jnseln, wo er seit 1848 auf Apia, einem
Hafen auf der Nordküste des Eilandes Upolu, wohnte. Er war
Augenzeuge eines Krieges, welchen die Eingeborenen unter ein-
ander führten und in welchem einmal an 3000 Kämpfer auf jeder
Seite ins Feld rückten. In einem Seetreffen rannte ein großes
mit 8 Kanonen besetztes Widderfchiff drei große Doppelschiffe in
den Grund; sie waren je mit 150 Mann besetzt und führten
einige Neunpfünder. Ein Neger aus Westindien, der nach den
Navigatoren verschlagen worden war, spielte damals eine große
Rolle als Häuptling, und die Engländer bezeichneten ihn als den
Schwarzen Prinzen. Die Häuptlinge erfreuen sich großer Vor-
rechte, welche manchmal von ihnen in sehr unangenehmer Weise
ausgeübt werden. Hier ein Beispiel. In Salaclua an der Süd-
Westküste von Savaii wohnte der Engländer For, ein sehr ordent-
licher Mann, der Kokosöl einhandelte. Eines TageS kam Saclusi
zu ihm. Dieser junge Häuptling brachte Oel. Während dasselbe
gemessen wurde, nahm er heimlich ein Stück Rollentaback weg.
For kam hinter die Sache und sprach: „Du hast mir Taback
gestohlen, gieb ihn wieder heraus!" — Saclusi entgegnete: „Ich
bin Häuptling, ein Häuptliug kann nicht stehlen; ich
nahm Deinen Taback, weil ich rauchen wollte; hier ist er."
Dann ging Saclusi fort, lud fein Gewehr und kam wieder. For
saß ruhig vor seiner Thür und rauchte eine Pfeife. Der Insu-
laner rief: „Du hast gesagt, ich hätte Dir Taback gestohlen; ich
sage Dir, ein Häuptling kann nicht stehlen!" Und dabei schoß
er ihm eine Kugel in die Brust; For war auf der Stelle todt.
Zur Charakteristik der Hierarchie in Rom. Die päpst-
liche Curie und ihre Priester verlangen bekanntlich für ihren
Glauben, ihre Kirche :e. in der ganzen Welt nicht nur religiöse
Freiheit, sondern auch das Recht, Proselyten zu machen unter
Heiden, Türken oder Christen. Sie Privilegiren sich als allein
berechtigt. Aber sie sind weit entfernt, Anderen mit gutem Bei-
spiele voranzugehen und das, was sie auf dem ganzen Erdballe
für sich in Anspruch nehmen, Andersgläubigen zu gestatten. Die
crasseste Unduldsamkeit ist System der Curie und ihrer Hierarchie
überall, wo sie herrschen kann; wo sie nicht herrschen kann, for-
dcrt sie für sich — „religiöse Freiheit". Der biblische Ausspruch:
„Was Du nicht willst, das Dir geschicht, das thu auch keinem
Andern nicht," gehört nicht unter die Marimen der Curie. Nun
streiten wir ihr das Recht nicht ab, in ihrem Staate die Aus-
Aus allen Erdtheilen.
157
Übung anderer religiösen Bekenntnisse zu verbieten; dasselbe Recht
haben aber auch andere souveraine Staaten, auch die heidnischen,
und wer selber unduldsam ist, hat nicht die allermindeste Befug-
niß, sich zu beklagen, wenn man sein eigenes Princip auch gegen
ihn anwendet.
Folgende Thatsachen sind charakteristisch. Seit etwa sechs
Jahren hat ein Geistlicher aus Schottland, I. Lewis, Privatgct-
tesdienst für seine PresbyterianischenLandsleute gehalten und
zwar iu seiner eigenen Wohnung, und lediglich für britische Un-
terthanen, in aller Stille. Von Seiten der römischen Bevölke-
ruug ist niemals Beschwerde darüber geführt worden.
Nun erhielt in der ersten Woche des Januars 1867 der eng-
lifche Conful in Rom vom Cardinal Randi, dem Stadtgonver-
neur, eine Mittheilung, der zufolge der presbyterianische Geist-
liche Lewis „gesetzwidrige religiöse Versammlungen" abhalte; diese
seien durch die römischen Gesetze ausdrücklich untersagt, und Le-
wis, welcher dieselben übertreten habe, sei dadurch der Ge-
Walt der Inquisition verfallen, welche ihn verhaften
und einsperren könne. Der Consul schreibt weiter: „Da
aber Monsignore Randi mir gestattet, Ihnen diese Notiz zukom-
men zu lassen, so möchte ich Ihnen dringend anrathen, daß Sie
dergleichen Neuerungen einstellen, dem Monsignore Randi einen
Besuch machen und ihm versprechen, daß sie die gesetzwidrigen
Handlungen niemals wiederholen werden. Im Fall dieses ge-
schieht, hoffe ich, daß es möglich sein werde, die Ihnen zugedachte
Ausweisung abzuwenden." Lewis machte bei Randi dagegen gel-
tend, daß man bisher dem protestantischen Gottesdienste, wenn er
nur für Ausländer abgehalten worden sei, keine Hindernisse in
den Weg gelegt habe. Der Cardinal entgegnete, es handle sich
hier einfach um eine gesetzwidrige Handlung, von der ihm An-
zeige gemacht worden sei, und Lewis könne von Seiten der In-
quisition verhaftet werden, falls man ihn nicht etwa ohne Wei-
teres aus Rom wegweisen wolle. Lewis dagegen erklärte seiner-
seits, daß er am nächsten Sonntage nicht umhin könne, seinen
presbyterianifchen Gottesdienst abzuhalten, weil es, am Sonn-
abend, zu spät sei, seiner Gemeinde Kunde von dem Verbote zu-
kommen zu lassen. Er hielt auch seine Predigt.
Dann gab der englische Geschäftsträger, Odo Russell, dem
Staatsminister Cardinal Antonelli Kunde von der Sachlage. Die-
ser Biedermann behauptete dem Engländer dreist ins Gesicht, die
päpstliche Regierung wisse gar nicht, daß schon seit sechs Jahren
derartige Gesetzwidrigkeiten vorgekommen seien. Er hielt dann
dem Papste Vortrag, und Seine Heiligkeit erklärte, „daß er sei-
ber das Einschreiten gegen Lewis veranlaßt habe; das entspreche
durchaus dem oftmals von ihm verkündeten Grundsätze, daß ketze-
rischer Gottesdienst in katholischen Ländern durchaus uustatthast
und platterdings nicht zu dulden sei." Antonelli hat überdies
erklärt, daß er auch den protestantischen Gottesdienst, welcher bis-
her im Hause der nordamerikanischen Gesandtschaft abgehalten
worden ist, nicht länger dulden werde. Die Schotten haben nun
außerhalb der Mauern der heiligen Stadt Rom ein Haus ge-
mietet, um dort nach presbyterianischer Fa^on zu beten.
Wir registriren einfach diese Vorgänge, weil sie zur Ge-
schichte der Uneultur in unserm Jahrhundert gehören, und weil
die römische Curie allemal, wenn man in Cochinchina oder sonst
wo einen ihrer Agenten ausweist, laute Klagen über Unduldsam-
keit und Barbarei der „Heiden" erhebt.
Die Expedition des Herzogs von Luhnes nach dem
Todten Meere. Sie wurde 1864 unternommen und wir haben
derselben oftmals erwähnt; sie erstreckte sich auf Syrien und Pa-
lästina bis ans Rothe Meer. Der wissenschaftliche Stab war
sehr tüchtig; ihm gehörten der berühmte Geolog Lartet und der
Schiffslieutenant Vigne an, Letzterer besonders als Kartograph.
Er hat jüngst eine Uebersicht der Reise veröffentlicht; eine große,
umfassende Arbeit, welche der Herzog selbst unter der Feder hat,
wird später erscheinen.
Ein Abschnitt Vigne's behandelt das Todte Meer und
den Wadi Ära bah. Das erste« bildet bekanntlich eine neue
gauz ungeheure Depression, eine in ihrer Art einzige Boden-
einsenkung. Nach Vigne'S sehr sorgfältigen Messungen liegt der
Spiegel des Todten Meeres 392 Meter tiefer als jener des Mittel-
ländischen Meeres und 1170 Meter tiefer als Jerusalem, das
seinerseits 779 Meter über dem Mittelmeere liegt. Daö Wasser
hat einen ungemein starken Salzgehalt, der eonstant ist; das ein-
fließende Süßwasser vermischt sich mit demselben nur in den oberen
Lagen. Die Zuflüsse sind: der Jordan, der Zerka Main, der
WadiModscheb und der WadiSafieh; am Westufer befinden
sich mehrere süße Quellen. Fische und Muscheln dieser süßen
Gewässer sterben sofort ab, sobald sie in das Salzwasser kommen;
Vigne fand im eigentlichen See nicht ein einziges lebendes Wesen;
nur in einiger Entfernung von den Flußmündungen, im Brak-
Wasser, kommen noch Fische und Schaalthiere vor. Als größte
Tiefe fand Vigne 350Meter; im Süden beträgt sie dagegen an
manchen Stellen nur 6 Meter. — In den Bemerkungen über
den Wadi Arabah zeigt der Reifende, daß die Wasserscheide
zwischen dem Todten und dem Rothen Meere von einer Hoch-
ebene gebildet wird, welche nach Osten und Süden steil abfällt.
Ihr höchster Punkt liegt 346 Meter über dem Mittelmeere. Alle
von dem Plateau nach Süden hin ziehenden Wasserläufe haben
ihren Abfluß zum Akabahbufen, jene nach Norden hin zum Todten
Meere.
Die deutschen Colonien in der Provinz Nio Grande in
Südbrasilien.
Die Deutschen in jener Provinz können von sich rühmen,
daß sie mit Eifer für Schulwesen und Jugenderziehung sorgen;
namentlich zeigt sich unter den Lehrern das löbliche Bestreben, den
Fortschritten der Pädagogik gerecht zu werden. Sie bleiben mit
Deutschland in Verbindung, haben in der Hauptstadt St. Leopoldo
eine Lehrerbibliothek angelegt und halten in bestimmten Zwischen-
räumen Lehrerversammlungen. Wir finden in der zu Porto Alegre
erscheinenden „Deutschen Zeitung" die Angabe, daß im Juni 1866
auf den deutschen Colonien im Munieipium von St. Leopoldo
56 deutsche Schulen vorhanden waren mit 49 Lehrern und 5 Leh-
«rinnen; sie zählten 1958 Schüler, wovon 699 Mädchen und
1259 Knaben. Das Curatorium jener Lehrerbibliothek steht mit
dem pädagogischen Verein zu Dresden in Sachsen in brieflichem
Verkehr und hat eine Zuschrift desselben beantwortet. In dersel-
ben heißt eS:
„Ermnthigend und anregend ist es für uns, zu wissen, daß
Freunde in der alten, lieben Heimath Theil nehmen an unseren
Bestrebungen, deutsche Sitte und Bildung auf den hiesigen Co-
lonien zu befördern. Wir haben hier mit großen Schwierigkeiten
zu kämpfen, aber wir wissen, daß deutsche Nationalität und
Sitte hier eine Zukunft haben, wie kaum irgend anderswo
im Auslande, und daß unsere Provinz durch Boden, Klima und
Lage für die deutsche (Kolonisation eine in der alten Heimath noch
wenig anerkannte Wichtigkeit hat."
Dann folgen nachstehende Angaben über das Land.
Die Provinz Rio Grande do Snl, in der südlich gemä-
ßigten Zone zwischen 29°25' und 33°45' südlicher Breite gelegen,
hat einen Flächenraum von 8230 Quadrat-Leguas (iLegua — 3/±
geographische Meilen) mit einer Bevölkerung von 420,000 Seelen.
Die Serra Gerat, welche sich längs der Ostküste Südameri-
kas hinzieht, tritt im Nord-Osten, an der Grenze von St. Ca-
tharina, nahe der Küste, in unsere Provinz, und wahrend der
Hauptzug, von Osten nach Westen, als meistens waldloses Kamp-
gebirge sich nach dem Uruguay hinstreckt, sendet das Hauptgebirge
waldbedeckte Gebirgszweige in der Richtung von N.-O. nach
S.-W. nach dem Nio dos Sinos, Eahy, Taquary und Rio Pardo.
Dieses Waldgebirge bildet das Gebiet der deut-
scheu Colonien der Provinz Rio Grande do Sul. Diese
Colonien lieaen in einer ziemlich horizontalen Linie zwischen 50°
und 540 w. L. (von Greenwich) und 29» und 30» s. B. Es sind:
1) Die Colonien am Rio dos Sinoö oder die deutschen
Colonien von St. Leopoldo.
Dieselben umfassen die Stadt St. Leopoldo mit der Land-
gemeinde Lomba Grande, den Hamburger Berg, Campo Bom,
Estaneia, die Berghammer-Schneids und deren Fortsetzung, die
Kaffee-Schneids, die 48er Pikade, Neu-Schneids, Padre Eterno,
Portugieser-Schneids, Banm-Schneids, Mundo Novo, Neu-Petro-
polis. Die deutsche Bevölkerung im Munieipium St. Leo-
poldo beträgt 15,531 Seeleu.
2) Die Colonien am Cahy,Marata,Parici,St.Benedicto,
Salvador, Eöcadinha, Forromeeco, Franeez, Feliz mit 3920 Seelen.
158 Aus allen
3) Die sehr fruchtbaren aber noch wenig bevölkerten Colo-
nien am Taquary: Estrella, ConventoS, St. Emilia, Teutonia
mit 550 Seelen.
4) Die Colonien am Rio Pardo und Rio Pardinho
oder die deutschen Colonien von St. Cruz: das Fachinal, St.
Cruz, Picado Rio Pardinho, Andreas, Dona Josepha, Ferraz,
St. Johann.
Die Colonien von St. Cruz befinden sich in einem sehr blü-
henden Zustande und haben eine Bevölkerung von 4445 Seelen.
Daran stoßen die neuen Ansiedelungen am Butuearahy
und Rio Pardense.
5) Etwa 20 Leguas von St. Cruz entfernt als westlicher
Vorposten der deutschen Colonien: St. Angelo mit 880 Seelen
im Flußgebiete des Jakuhy und Santa Maria da Bocca do
Monte mit 550 Seelen.
Abgesondert von diesen Colonien liegen im N.-O. der Pro-
vinz: Tres Forquilhas mit 605 und Torreö mit 567 Deut-
scheu, und etwa 21 Leguas von der Stadt Rio Grande entfernt
an der Westküste der Lagoa das Patos die blühende Privat-
colonie St. Lourenco mit 1482 Seelen.
Die deutsche Bevölkerung auf den Colonien der
Provinz Rio Grande do Sul beträgt 27,930 Seelen.
Hierzu kommt die in den Städten: Rio Grande, Pelotas, Porto
Alegi e, Rio Pardo, Cachoeira, Alegrete, S. Gabriel, Uruguayana
wohnende und die in der Campagna zerstreut lebende zahlreiche
deutsche Bevölkerung.
Ueberall, wo man in unserer Provinz reist, findet man
Deutsche. Ueberall hat deutscher Fleiß hier den Urwald in
fruchtbare Plantagen umgewandelt, dort in den Städten Handel
und Gewerbe emporgehoben, dort in der Campagna mitten unter
brasilianischer Bevölkerung sich eine einflußreiche und geachtete
Stellung erworben. Deutsche Sprache und deutsche Sitte haben
die Deutschen hier so sehr bewahrt, daß es den Reisenden in St.
Leopoldo ganz deutsch anheimelt und er in unseren Waldeolonien
ganz vergißt, daß er in Brasilien lebt. Mit jedem Jahre gewinnt
die deutsche Bevölkerung eine sich immer mehr entwickelnde Macht.
Die gesammte deutsche Bevölkerung dieser Provinz wird auf 40,000
bis 50,000 Seelen veranschlagt.
Die walisische Colonie an der Ostküste von Pata-
gonien. Wir haben derselben schon einigemal erwähnt; jetzt
liegt uns der Bericht des Geistlichen L. Humphreys vor, welcher
an Ort und Stelle beobachtete. Er verweilte dort vom Juli 1865
bis dahin 1866. Seine Landung bewerkstelligte er an der New-
Bai, deren Einfahrt 7 Miles breit ist; sie erstreckt sich 22 Mi-
les landein und bildet einen trefflichen Hasen, der nur bei den
übrigens nur selten eintretenden Ostwinden nicht ganz sicher ist.
In dieselbe mündet der Chnpat, welcher durch ein in drei Ab-
theilungen zerfallendes Thal fließt. Die Ansiedelung ist bis
jetzt auf das untere Thal beschränkt worden; dieses hat eine Länge
von 45 Miles und eine durchschnittliche Breite von 5 Miles.
Die wenigen Sümpfe trocknen bei niedrigem Wasserstande aus.
Stammholz ist wenig oder gar nicht vorhanden, aber viel Strauch-
werk, und somit ist an Feuerungsstoffen kein Mangel. Das zweite
Thal ähnelt dem erster», aber die Bäume wachsen höher und der
Sandstein liefert gutes Baumaterial. Hier sind für den zweiten
Nachschub walisischer Einwanderer 200 Farmen von je 100 Acres
ausgelegt worden. Die dritte Abtheilung des Thales ist nur erst
theilweise erforscht worden, man weiß aber, daß eö schmal uud
von Felsen eingeschlossen ist. Der Chupat hat klares, süßschmecken-
des Wasser; gutes Brunnenwasser erhält man, wenn tief gegra-
ben wird; das an der Oberfläche und in geringer Tiefe ist zu-
meist brakig. Das Klima wird als entschieden angenehm und
gesund geschildert, der Boden als fruchtbar; unter den wilden
eßbaren Pflanzen wird ein wilder Sellerie, eine Rübe und eine
Kartoffel genannt. Mais, Gerste, Kartoffeln und überhaupt die
europäischen Gemüse gedeihen gut; die Weizenernte findet um die
Weihnachtszeit statt, und die Ansiedler haben bereits viele Tau-
send Obstbäume gepflanzt. Die Gegend ist sowohl für den Acker-
bau wie für die Schafzucht geeignet, und ist jener am benachbar-
ten Rio Negro ähnlich. An der Mündung derselben haben die
Argentiner vor etwa zwanzig Jahren die Niederlassung Pata-
gones gegründet, und dort ist der Weizen allezeit sehr gut ge-
Erdtheilen.
diehen; eine der dortigen Estancias zählt über 100,000 Schafe.
Die Waliser Ansiedler am Chnpat besaßen ini Juli 1866 etwa
100 Stück Rindvieh, davon waren 60 Melkkühe; Zahl der
Pferde 40; jede Familie besaßHühner und Schweine. Wild ist in
der Umgegend jetzt noch in Menge vorhanden: Hasen, Guanaeos,
Armadille, Ganse, Enten und Rebhühner; auch der Strauß läßt
sich nicht selten sehen. Die Hasen sind sehr groß und werden bis
zu 18 und 20 Pfund schwer; Fluß und Bai sind fischreich. In
New-Bai laufen manche Schiffe ein, welche an der patagonischen
Küste demRobbenschlag obliegen, der noch immer lohnend ist.
Die zuerst gegründete Ortschaft heißt Tre R aw fon. Humphreys
betont, daß die argentinische Regierung der Ansiedelung in ehr-
licher Weise und nach besten Kräften Borschub leiste; sie zahlte
der Colonie monatlich 700 Dollars und versorgte sie reichlich mit
Lebensmitteln, bis die Dinge so weit gediehen waren, daß die
Colonisten alle auf eigenen Füßen stehen konnten. Diese haben
mit dem Häuptling der Indianer einen Freundschastövertrag ab-
geschlossen; sie geben ihm Reitsättel und Branntwein; er bringt
Häute und frisches Fleisch; dann und wann versteht sich auch ein
Indianer zur Aushülfe bei der Arbeit.
Die Gesellschaft derMeffageries imperiales hatte am
Ende des Jahres 1866 eine Flotte von 66 Dampfern. Davon
wurden 15 benutzt, um den Postdienst von Marseiile ans und im
Mittelmeere (für die Länder am indischen Oeean) zu besorgen;
davon kamen 3 aus das Mittelländische Meer für die ägyptische
Fahrt und 12 auf den indischen Oeean. Die Dampfer fahren
auf 6 verschiedenen Routen, von welchen 2 Hauptrouten sind,
nämlich jene vonMarseille nach Hongkong und von Mar-
seille nach Mauritius. Die 4Nebenrouten sind: von Point
de Galle auf Ceylon nach Calcutta; von Hongkong nach
Schanghai; von Schanghai nach Japan und von Singa-
Pore nach Batavia. Der Dienst findet bis jetzt allmonatlich
statt. Die Schiffe sollen vertragsmäßig 9 Knoten in der Stunde
zurücklegen, haben aber im Mittelmeere 10 bis 11 Knoten ge-
macht und im indischen Ocean 9% Knoten.
Die deutsche Kriegscorvette „Vineta" ist auf einer
Fahrt um die Erde begriffen. Sie ist von Canton aus nach den
chinesischen Gewässern gefahren, um dort den deutschen Handel
gegen den Seeraub zu schützen. Diescr ist, wie wir früher nach-
gewiesen haben, während der letzten Jahre frecher als je zuvor
betrieben worden und auch einige deutsche Fahrzeuge sind gekapert
worden. In den östlichen Gewässern fahren ununterbrochen 300
bis 400 Schiffe unter deutschen Flaggen.
Schiffbrüche im Jahre 1866. Die bis zum 1. Februar
1867 ermittelte Zahl derselben betrug, laut einer Veröffentlichung
der Seeversicherungsgesellschast „Veritas" zu Paris, nicht weniger
als 2932. Diese alle sind vollständig auf See verunglückt. Da-
von waren 2732 hölzerne, 32 eiserne Segelschiffe und 168 Dam-
pfer. Es verunglückten davon durch Widereinanderrennen 120,
durch Feuersbrunst 101, durch Erplosion 4, durch Schiffbruch 2336,
als fernerhin zur Fahrt untauglich geworden 160, durch Eisgang
zertrümmert 15, verschollen und als verloren angesehen 136.
Verunglückt sind der Nationalität nach 1461 englische, 335 ame-
rikanische, 261 französische, 96 holländische, 56 preußische, 53
norwegische, 49 italienische, 48 hannoversche, 41 dänische, 40
österreichische, 40 spanische, 37 schwedische, 27 hamburgische,
26 russische, 24 griechische, 17 bremische, 13 oldenbnrgische
11 portugiesische, 10 schleswig-holsteinische, 9 belgische, 8
mecklenburgische, 8 türkische, 7 brasilische, 5 chilenische, 4
lübeckische, 3 mericanische, 2 peruanische Schiffe und je 1 von
Columbia, Hayti und der argentinischen Republik. (Also deutsche
Fahrzeuge 172; ein verhältnißmäßig, bei unserer großen Handels-
marine, günstiges Resultat.)
Der arabische Hasen Dscheddah am Rothen Meere.
Bekanntlich landen dort viele Mekkapilger, welche über See
kamen. Der französische Arzt Daguillon fuhr im April 1866 auf
einem mit wenigstens 1200 Pilgern belasteten Dampfer von Suez
aus dorther. Am 1. April hatte er auf dem Deck um 4 Uhr
Nachmittags 30» C. Hitze, am 2. April, um dieselbe Tageszeit,
Aus allen
26°, sie stieg aber bei Südost auf 31°. Die Stadt liegt auf
21» 32' nördl. Breite, 35° 54' östlich von Paris, im Hintergrund
einer Bai. Mekka ist nur 15 Lieues entfernt. Große Schiffe
müssen 2 Miles vom Lande Anker werfen, kleinere können bis
ziemlich nahe an die Stadt kommen. Das ganze Jahr hindurch
sieht man etwa 50 Fahrzeuge im Hafen liegen, während der
Pilgerzeit ist aber die Zahl viel beträchtlicher. Der Bazar ist
reich versehen, besonders mit Waaren aus Indien, von wo ohne-
hin jeder Wallfahrer Handelsgegenstände mitbringt. Man findet
Zimmt, Weihrauch, Elephantenzähne, Pfeffer, Reis, Gewürznelken,
Zucker, Alaun, Galläpfel, Kokosnüsse, Muskatnüsse, Vanille, Thee,
Sandelholz, sehr schöne Seidengewebe, Baumwollenstoffe, Zinn,
Gold, Perlen. Daguillon bemerkte, daß die Leute tapser Wein
und Branntwein tranken; der letztere wirv in der Stadt gebrannt
und man macht aus dem Genüsse kein Hehl. Die Stadt ist sehr
ungesund, weil sie von Morästen umgeben und ein Theil des
Hafens verschlammt ist; die Miasmen sind bei Westwind sehr
gefährlich. Die Pilger bringen Typhusfieber, Blattern und Cho-
lera mit, die in jedem Jahre mehr oder weniger heftig auftreten;
die Straßen bleiben unsauber. Alles könnte besser sein, wenn
man die Sümpfe austrocknete, den Hasen reinigte und die Pilger
außerhalb der Stadt im Freien lagern ließe. Die christlichen
Engländer machen gute Geschäfte, indem sie aus ihren Fahrzeugen
jährlich aus Indien und dem östlichen Archipelagus etwa 40,000
mohammedanische Pilger nach Dscheddah bringen. Manches Schiff
ist mit 1000 bis 1200 Menschen belastet. Am 14. April stieg
auf dem Rothen Meere während eines Gewitters die Hitze auf
38« C.
Journale in Großbritannien. Die Zahl derselben betrug
zu Ende des Jahres 1866 nicht weniger als 1257; davon er-
schienen 226 in London, 707 in anderen englischen Städten; 43
in Wales, 139 in Schottland, 128 in Irland und 14 auf den
kleineren Inseln. Nur 53 erscheinen in England täglich, Wales
hat nur eine täglich erscheinende Zeitung, Schottland 12, Irland
eben so viele, 1 auf den Inseln; im Ganzen nur 78. Die Zahl
der Magazine, Revuen und Wochenblätter beträgt 537. Nur
sehr wenige sind, nach deutschen Begriffen, geistig freigesinnt,
und die Zahl der Magazine ie., welche sich ausschließlich mit dem
Steckenpferde John Bulls, kirchlichen und dogmatischen Dingen,
befassen, stellt sich auf die erkleckliche Zahl von 106!
Eine deutsche Zeitung in China. Sie erscheint in der
Stadt Victoria aus Hongkong und führt den Titel: „Omnibus
für Ernst und Scherz", „in der deutschen Druckerei von A. Wolff."
Den Eapitainen und der Mannschaft der zwei- bis dreihundert
deutschen Seeschiffe, welche fortwährend in den ostasiatischen Ge-
wässern und namentlich an der Küste von China fahren, wird
dieses deutsche Blatt gewiß sehr willkommen sein.
Kohlen in Italien. Die Apenninenhalbinsel gilt für
arm an Brennstoffen; deshalb bemüht man sich jetzt, Lignit und
Steinkohlen zu finden. Schon vor zwanzig Jahren gewannen
einige Italiener Lignit in den Abruzzen, und 1857^ erhielt ein
Franzose von der neapolitanischen Regierung das Privilegium,
bei Pizzo Kohlen zu fördern. Daö Ergebniß war befriedigend,
doch fehlte es an Capital zum großen Betriebe. Auf der Bahn
zwischen Neapel und Capua heizt man mit Lignit, und zahlt für
den Cantaro, also etwas mehr als 2 Centner, 10 Silbergroschen.
Seit einigen Monaten hat nun ein Gelehrter in Neapel, der
Geolog und Chemiker Cassola, eine „Kohlenagitation" begon-
uen, welche Erfolg verspricht. Man hat ihm brennbare Stoffe
aus sehr vielen Gemeinden zugeschickt, damit er dieselben prüfe,
und es zeigt sich, daß zunächst Süditalien viel reicher ist als man
geglaubt hat, namentlich die Provinzen Abruzzi, Capitanata, Ba-
silieata und Cala.brien. Die Kohle von Bagnara bei Benevent
ist nach Cassola's und eines französischen Chemikers Versuchen so
gut wie die Äeste von Newcastle. In großer Menge kommt das
sogenannte Dissolido vor, eine Moorerde, welche bei den zu
Neapel angestellten Versuchen 19 Procent Oel ausgegeben hat,
und welches die Stadt Potenza zum Gase für die Straßeubeleuch-
turnj verwenden will. Mehrere Handelskammern und Gemeinden
si'.v thätig, um die Kohlenagitation weiter zu fördern und meh-
Echtheiten. 159
rere Ingenieure sind in verschiedenen Landestheilen mit Unter-
suchungen beschäftigt. ____
Steht unserer Erde eine neue Gletscherperiode bevor?
Der bekannte Physiker Babinet hat diesen Gegenstand jüngst
in einem besondern Vortrag erörtert. Zuerst entwickelte er die
alte Gletscherperiode, die Eiszeit, und sprach über die erratischen
Blöcke; dann führte er den Satz durch, daß eine Eiöperiode zu
bestimmten Zeiten wiederkehren und auf Jahrtausende alles Leben
auf der Erde zerstören müsse. Unsere Sonne bewegt sich, wie
man weiß, durch den Weltenraum nach einem Punkte hin, der
im Sternbilde des Herkules liegt. Sie ist ihrerseits ein Pla-
net und gehört als solcher zu einem System, dessen Centrum
oder Sonne für uns zu weit entfernt liegt, als daß wir dasselbe
wahrnehmen könnten. Dennoch sind die Planeten unseres
Sonnensystems nur Trabanten unserer Sonne. Diese letztere
beschreibt ihrerseits höchst wahrscheinlich eine Ellipse um ihre
Haupt- oder Centralsonne, aber eine Ellipse, die viele tausendmal
größer ist als jene, welche unsere Erde beschreibt. Eben deshalb
müssen auch viele tausend Jahre vergehen, bevor unsere Sonne,
beim Beschreiben ihrer Ellipse, wieder zu ihrem Ausgangspunkte
zurückkommt. Nun hängen unsere Jahreszeiten von der Entfer-
nung unserer Erde von unserer Sonne ab und es ist höchst wahr-
scheinlich, daß diese letztere, indem sie den Lauf um ihre Sonne
vollendet, längere Jahreszeiten hervorbringt. Sie wird an einem
Punkte kälter werden als an einem andern, die Abkühlung unserer
Sonne wird auf der Erde eine größere Kälte zur Folge haben,
es wird also wieder eine Eisperiode entstehen nnd dann auch
umgekehrt wieder eine heiße Periode.
Fossilien und Steinwerkzeuge in Lothringen. Herr
Husson hat der Pariser Akademie der Wissenschaften Bericht er-
stattet über seine Untersuchung der Höhlen im Bezirke von Toul.
Er hat insbesondere Nachgrabungen veranstaltet am ersten Ein-
gange der sogenannten Labyrinths (les Trous de Sainte Reine)
und die Ueberzeuguug gewonnen, daß der an ihrer Oberfläche
liegende Thon dem nachalpinischen Diluvium angehöre. Das
eigentliche alpinische Schwemmgebilde beginnt erst in 2y_> Meter
Tiefe. Jene obere Thonlage enthält fossile Knochen vom Bär
und ist in einer vergleichweise jungen Periode von Menschen ge-
stört worden, denn Husson fand in derselben Asche und organische
Ueberreste von Moos und Blättern ; sodann bemerkte er den Ein-
druck eines menschlichen Fußes und ein aus Hirsch- oder Renn-
thiergeweih verfertigtes Amulet. Seiner Ueberzeugung zufolge
haben Bär und Hyäne die Periode des alpinischen Diluviums
überlebt, denn Knochen dieser Thiere werden in der ungestör-
ten Erdlage gefunden. Aber man findet in diesen Höhlen auch
einige wenige Stellen, die völlig mit dem ausgefüllt sind, was
Elie de Beaumont als terrains meubles sur les pentes schil-
dert, herabgerutschtes Erdreich, das an Abhängen lag; in dem
ungestörten Theile desselben hat Husson Kinnladen von Bären
und Hyänen gefunden, den Rest eines Kiefers vom Pferde, und
sehr viele Knochen vom Hippopotamus, Rhinoceros, Hirsch und
Renntlner. Einige dieser Knochen waren der Länge nach gespal-
ten und trugen Spuren von Zähnen und Krallen von Carnivoren.
Der bei weitem wichtigste Fund besteht aber in einem Bruchstück
von einem Topfe und einem Stückchen Kohle, die beide zusammen
von einem Stalagmiteonglomerate umschlossen sind. Diese That-
sache liefert einen klaren Beweis dafür, daß schon wäh-
rend der Diluvialzeit Menschen auf Erden gewesen
sind. ______
Die Winden oder Slowenen in Krain. Auch dieser
Bruchtheil der Slawen macht seine „Nationalität" seit einigen
Jahren besonders dadurch bemerklich, daß er, nach dem Vorbilde
der Böhmacken (Tschechen), gegen das deutsche Culturelement in
Steiermark und Krain sich aufbäumt und so viel die Mittel er-
lauben gegen dasselbe Sturm läuft. Und doch ist es eine That-
sache, daß gerade in Krain „jeder Funke geistigen und jede Spur
materiellen Wohlstandes, welchen man im Lande findet, deut-
schen Ursprungs sind. Verbesserte Landwirtschaft, Viehzucht, die
wenigen Fabriken und gewerblichen Anstalten, die das Land be-
sitzt, die geistige Belebung (des überall, wo er sich noch selbst
160 Aus allen
überlassen ist, so rohen Volksstammes der Slowenen) verdankt
das Land der deutschen Intelligenz, Initiative und Thätigkeit."
Und diesem deutschen Elemente erklären nun die slowenischen Agi-
tatoren, an der Spitze ein Herr Bleiweis, den Krieg! Mit
Recht erinnert ein Berichterstatter der „Allgemeinen Zeitung"
daran, daß die folgenden Worte, welche vor nun sechszehn Jahren
geschrieben wurden, heute eine noch erhöhete Geltung haben: „Der
erlogene Haß, die künstlich provoeirte Abneigung der Slawen
und Magyaren (— die letzteren haben sich besonnen und nun
etwas gebessert —) gegen das deutsche Element in Oesterreich er-
scheinen wirklich ekelhaft, weil sie alles gesunden Grundes ent-
behren, weil sie mörderisch gegen die Zukunft und gegen die Ent-
Wickelung jener Nationen auftreten." Der Berichterstatter der
„Allgemeinen Zeitung" fügt hinzu: „Wer den slowenischen Ver-
sammlungen in der Cittavnitza (— eine Nachahmung der böh-
mackischen Besedas —) beigewohnt und gehört hat, wie die
Mitglieder derselben nach den ersten slowenischen Begrüßungen
und Gemeinplätzen stets zur deutschen Sprache ihre Zuflucht
nehmen, wenn sich ernstere politische, wissenschaftliche oder tech-
nische Discussionen entspinnen, ist keinen Augenblick im Zweifel
darüber, aus welchem Born die wenige Bildung geschöpft wurde,
welche heute im Herzogthum Krain zu finden ist und die man im
Ultraslowenismuö ersticken will." — Die Slowenen sind an sich
passive Leute, welche für die Culturentwickelung gar keine Be-
deutung haben, wir wollten aber nicht versäumen, die obigen No-
tizen mitzutheilen, weil wir demnächst die Agitationen unter den
Slavcn vom ethnologischen Standpunkte näher zu behandeln ge-
denken. Dabei müssen auch die kleineren Bruchtheile berücksichtigt
werden; auch sie haben sich anreizen lassen, eine wenn auch nicht
besonders rühmliche Rolle zuspielen und allerlei Lärm zu machen.
Die europäischen Staaten 1817 und 1867. Im Laufe
eines halben Jahrhunderts sind verschwunden: 3 Königreiche,
1 Großherzogthum, 8 Herzogtümer, 4 Fürstentümer, 1 Kur-
fürstenthum und 4 Republiken. Damals hatte Europa 59 Staa-
ten; jetzt zählt es deren 41. Die großen Staaten haben sich
durch Eroberungen und, wie der zarte Kunstausdruck im diplo-
matischen Rothwelsch lautet, „Annexionen" ganz ungemein ver-
größert. So haben „annectirt" Rußland 567,364 englische Ge-
Viertmeilen, Frankreich 4620, Preußen 29,781, die Vereinigten
Staaten von Nordamerika 1,968,000, Sardinien 83,041. Das
britische Reich in Indien erhielt einen Zuwachs von 451,616.
Der beträchtlichste Verlust kommt auf Mexico, die Türkei, Oester-
reich und das Königreich der Niederlande.
Die Auswanderung aus Mecklenburg hat von 1852
bis 1866 nicht weniger als 72,906 Köpfe betragen. Aus den
Besitzungen der Ritterschaft hat sich die Bevölkerung vermindert,
und das steht als merkwürdige Ausnahme da, denn in allen C u l-
turländern nimmt dieselbe zu.
Spanien geht ernstlich damit um, die Negersklaverei
abzuschaffen. Die Regierung hat verfügt, daß jeder Sklav,
welcher den Boden der iberischen Halbinsel betrete, ohne Weiteres
ein freier Mann sei. Vortrefflich! Es wäre zu wünschen, daß
nun auch den weißen Spaniern die Freiheit gegeben werde, nach
einer beliebigen Fa^on selig zu werden; wenn aber ein weißer
Unterthan der Königin Jsabella eine in England gedruckte Bibel
hat, dann wird er als Criminalverbrecher ins Gesängniß ge-
worsen. _
Die Hau hau's auf Neuseeland. Wir haben früher über
den Wahnglauben dieser wunderlichen Secte ausführliche Mitthei-
lungen gegeben. Jetzt melden die australischen Blätter, daß sie
im Laufe des Sommers keine weiteren Fortschritte gemacht und
daß ihr Stifter, Te na, sich mit dem englischen Gouverneur Grey
befreundet habe, ja denselben auf seinen Reisen begleite. „Das
Entstehen und rasche Umsichgreifen, aber auch die kurze Dauer
und der Verfall dieses seltsamen Fanatismus liefern den Beweis,
wie unstät der Charakter der Maoris ist; sie scheinen unfähig,
Erdtheilen.
mit folgerichtigem Denken irgend ein religiöses System festhalten
zu können. (— Ihre alte Mythologie verstanden sie wohl, aber
die Dogmen der Christen werden ihnen nicht klar.—) Unter den
Hau-Hau'ö sind viele, die eine durchaus christliche Erziehung und
Schulbildung erhalten hatten, aber sie sind eben nicht dazu an-
gelegt und befähigt, die neuen religiösen Theorien in sich auf-
zunehmen und geistig zu bewältigen. Jetzt sind die Hau-Hau's
empört über den Abfall ihres Stifters Te na, und wer heute unter
ihnen wieder mit einem neuen Glauben auftritt, dürfte sofort auf
großen Anhang rechnen."
Die Fans oder Paljuins in der Aequatorialregion West-
afrikas sind durch Du Chaillu'S, Burton's und Winwood Meedes
Schilderungen allgemein bekannt geworden. Es unterliegt keinem
Zweifel, daß sie Menschenfleisch genießen. Sie sind vor wenig
länger als einem Menschenalter aus dem Innern bis in die Küsten-
gegend vorgedrungen, wo sie nun, als Nachbarn der Mpongue,
bis hart an die Seekante vorzudringen streben. An Thatkrast
sind sie den Negerstämmen der Küste entschieden überlegen. Nun
haben bekanntlich die Franzosen am Gabon eine Faetorei ge-
gründet und betrachten sich als Herren jener Gegend; zu ihnen
ist im verflossenen Sommer eine Deputation der Fans gekommen
und hat sich bereit erklärt, einen Handels- und Freundschaftsbund
zu schließen, sobald man ihnen erlaube, ihre Wohnsitze hart an
der Seekante auszuschlagen. Das ist ihnen bewilligt worden.
Zum Zeichen der Aufrichtigkeit brachten die Wilden sofort mehrere
Kinder ihres Stammes mit, damit sie die von den Missionairen
gegründete Schule in der Faetorei besuchen möchten. Von Seiten
der Küstenneger ist ein solches Anerbieten nie gemacht worden.
Die Fans bringen viel Elfenbein in den Handel und unterhalten
Handelsverbindungen weit nach dem Innern hin.
In dem puritanischen Neuengland greift ein Verbrechen
mehr und mehr um sich, das wir nicht wohl näher bezeichnen
wollen. Ein Blatt, der „Boston Pilot", ist darüber empört und
zieht die Schmach ans Tageslicht, namentlich den Unfug, daß
sogenannte Doctoren in den Zeitungen sich empfehlen, um Müt-
tern behülflich zu sein, die noch nicht geborenen Kinder zu be-
seiligen. Er ist ferner empört, daß Zeitungen sich dazu hergeben,
die lobpreisenden Ankündigungen und Empfehlungen solcher „Aerzte"
in ihre Spalten aufzunehmen. Jüngst hat ein ehrenhafter Arzt,
Dr. Natan Allen, zu Lowell in Massachusetts über dieses Mord-
system unter den frommen Uankees einen öffentlichen Vortrag
gehalten, in welchem er sagt: „Wir sehen die Folgen dieser Scheuß-
lichkeiten. Ich habe mich überzeugt, daß in manchen Städten die
Zahl der Sterbefälle jene der Geburten bei weitem übertrifft und
daß das anglo-amerikanische Element sich an Zahl vermindert,
während jene der Eingewanderten sich vermehrt. Die Familien
dieser letzteren haben doppelt und dreifach so viele Kinder als die
amerikanischen. Ich will die Bezirke Dunstable und Wilmington
in Massachusetts als Beispiele anführen. Sie sind seit 200 Iah-
ren besiedelt, und eine Prüfung der Register zeigt mir, daß die
Anzahl der Kinder immer schwächer wurde. Die erste Generation
hatte deren im Durchschnitt 8 ans jede Ehe; die drei nächsten
Generationen hatten eben so viele; aber auf die fünfte kommen
nur 41/2, auf die sechste weniger als 3 und auf die jetzige kaum
zwei!" — Die irisch-amerikanischen Blätter weisen nach, daß im
Jahre 1860 von 35,445 Geburten in Massachusetts weit über die
Hälfte auf Kinder von Nichtamerikanern kommen, daß also 250,060
Nichtamerikaner weit mehr Kinder erzeugten, als 1,000,000'ein-
geborene Dankees. „Such beeing the case it is not to be
wonclerecl at, that a „foreign bull" is occasionally xiatura-
lized in the advertisement columns."
Nicht weniger als siebenzehn Ehescheidungen wurden
in Neuyork an einem einzigen Tage von den Gerichten ausge-
sprechen. Der „Tribüne" zufolge waren in jener Stadt im No-
vember 1866 mehr als 800 solcher Scheidungsklagen anhängig;
fast alle unter Angloamerikanern, unter den Deutschen sehr we-
nige, ebenso unter den katholischen Jrländern.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Sevilla und das Volksleben in Andalusien,
Ii.
Jahrmärkte und Wallfahrten. — Die Romeria von Rocio. — Der Barbier von Sevilla. — Kirchliche Aufzüge und Festlichkeiten.
Pafos in der Osterwoche: fromme Brüderschaften. — Das Monumento in der Kathedrale. — Die Volkstänze und ihre Geschichte.
Literatur über die Castagnetten. Die baskifche Trommel. — Der Fandango.
Weit und breit berühmt ist dieFeria de Sevilla, die-
ser Jahrmarkt, der sich au Bedeutung mit deu Messen vou
Santi Ponce und Mairena messen kann. Ans allen Theilen
Andalusiens strömt eine große Menschenmenge zusammen,
und der Handel mit Pferden und Rindvieh ist bedeutend.
Nirgends hat man bessere Gelegenheit, den echten Typus des
Chalan Gitauo, des Roßkamms, zu betrachten, dessen
Ränke und Listen sprichwörtlich geworden sind, obgleich er
sich so unbefangen und unschuldig wie ein Kind stellt.
In den langen Budenreihen sind alle möglichen Waaren
zum Verkauf ausgestellt, uud die Zahl der Botelerias,
Schenkbuden, ist kaum zu zählen. Jene, welche von Zigen-
nern gehalten werden, haben Schilder mit Inschriften im
Calo, d. h. der Zigeunersprache. Die Tabernas sind Bn-
den, in denen man auch speisen kann. Abends sammeln sich
vor denselben verschiedene Gruppen, welche durch den Anis-
branntwein (manzanilla oder aguardiente) in sehr heitere
Laune versetzt siud. Natürlich fehlen Majos und Majas
nicht; sie machen sich lustig über die vorbeigehenden usias
und die sefiores del futraque, denn so werden von ihnen
die Herren im Frack bezeichnet. Dore und Davillier hörten
mit an, wie eine Maja einen sehr stumpfuasigeu Herrn, im
chato. wie die Spanier sagen, apostrophirte uud^ihm folgende
Verse gleichsam ins Gesicht sang:
Chato, no tienes narices
Porque Dios no te las diö.
A feria se va por todo,
Pero por narices, no.
Das Heißt: „Stumpfnasiger, du hast keine Nase, weil Gott
dir keine gab. Auf dein Markte kann man Alles kaufen,
aber keine Nase." An sogenannter Musik ist natürlich kein
Mangel: hier klimpert einer auf einer Gnitarre, und ein
Anderer spielt aus der Zambomba oder Zampimpa,
einem kleinen, höchst einfachen Instrumente; ein Stück Per-
gament ist über ein walzenförmiges Töpfergeschirr gespannt;
in dem Pergament befindet sich ein Loch, in welchem der
Musiker mit einem kleinen Stab herumfährt, um unange-
nehme Töne hervorzubringen. Das Ding ist eine Art von
sevillanischem „Waldteufel". Nachts geht es auf dem Rück-
wege zur Stadt lustig genug her, doch kommt dabei nur sel-
ten Streit vor.
Das bedeutendste Volksfest ist die velada de San Juan,
der Johannisabend. Am 23. Juni strömen gewaltige Men-
schenmassen auf der Alameda de Hercules zusammen, die,
man kann sagen, mit Lichtgnirlanden behängt ist. Berühmt
ist auch die Feria de Torrijos, welche bei Gelegenheit
einer Wallfahrt (romeria) nach dein gleichnamigen kleinen
Globus XI. Nr. 6.
Dorfe in der Nähe von Sevilla abgehalten wird. In einer
Einsiedelei befindet sich ein wnnderthätiges Christusbild, ei
Cristo de Torrijos. Die Rückwanderung findet Abends
durch die Triaua statt, uud dann ist die Straße de Castilla
merkwürdig belebt. Schon gegen Sonnenuntergang nehmen
Leute aus den wohlhabenden Classen auf langen Reihen
von Stühlen Platz; Fenster und Ballone sind von geputzten
Frauen besetzt, die ihre Fächer spielen lassen und die Heim-
kehr der Pilger von Torrijos erwarten. Sie kommen end-
tief). Voran reiten auf stattliche:: andalnsischen Rossen mit
laug herabwallender Mähne einige Majos; hinter jedem sitzt
seine Maja, welche ihm den Arm um die Hüfte gelegt hat.
Sein Anzug ist echt volksthümlich, fein Sombrero calaöes,
der breitkrämpige Hut, ist keck nach einer Seite hingeschoben,
die Jacke reichlich mit silbernen Filigranknöpfen besetzt, und
ans jeder Tasche der Jacke hängt ein von der Maja gesticktes
weißes Sacktuch. Natürlich fehlt der seidene Gürtel und
das kurze Beinkleid nicht. Die Majas, welche sonst so viel
auf die Volkstracht halten, machen an diesem Tage eine Ans-
nähme und sind wunderlich genug aufgeputzt. Sie travesti-
ren sich in Senoras, indem sie bei den Trödlerinnen allen
möglichen Tand aufborgen, um pariserisch auszusehen. Bald
wird das Gedränge immer stärker; nun kommt eine lange
Reihe von Karren, die von mächtigen Ochsen gezogen wer-
den; ihre Hörner sind mit Bändern uud Pompons geschmückt,
und zwar so, daß dieser Putz eiue hohe Pyramide bildet.
Jeder Karren trägt eine Schaar von jungen Mädchen, welche
Nationallieder singen; dazu wird Guitarre gespielt, man klap-
pert den Tact mit Castagnetten und paukt auf die baskische
Trommel lpandero). In dem Gewühl war kein Betrun-
kener zu sehen; endlich aber machte man einen solchen aus-
findig; ein Zigeuner war der Länge nach über seinen Esel
gebunden und wurde obendrein von einigen Kumpanen gehal-
ten. Sie hatten einen alten Mantel über ihn geworfen, aber
die Stricke gaben dann und wann nach und der Betrunkene
fiel zur Erde. Eine hübsche junge Frau witzelte: Debaja
de una mala capa bay un buen bebedor, unter einem
schlechten Mantel ist manchmal ein guter Trinker. Der Witz
gefiel und wurde laut bejubelt.
Bei den Romerias (Römerfahrten, Wallfahrten) sind
Tanz, Wein, Gesang und Lustbarkeiten aller Art die Haupt-
sache; um die Reliquien der Heiligen kümmert man sich nicht
viel. Deswegen sagt ein Sprichwort, ein junger Mann solle
sich auf der Romeria ja keine Braut aussuchen, und ein an-
deres meint, bei der Romeria werde mehr Wein als Wachs
verbraucht.
Etwa zwöls spanische Meilen von Sevilla, unweit der
21
Sevilla und das Volksleben in Andalusien.
163
Stadt Almonte, liegt das kleine Dorf Rocio, wo sich ein
wuuderthätiges Madonnenbild befindet. Dorthin pilgern zu
bestimmten Zeiten ganze Schaaren von Wallfahrern auch
aus Cadiz, Jerez, Huelva und selbst aus Portugal. Auch
hier ist das Fest der Heiligen mit einem großen Viehmarkt
verbunden; viele Hunderte von Fuhrwerken aller Art stehen
neben und durch einander, nnd manche bilden eine kreisrunde
Wagenburg. Inmitten derselben wird gekocht, gesotten und
gebraten; als Kochgeschirr dient vielfach der eiserne Eimer,
aus welchem man auch das Vieh tränkt. Jeder findet sein
Unterkommen im Freien, seine Bettstelle aus platter Erde
und als Decke hat er für die Nacht außer dem bestirnten
Himmel seinen Mantel.
Am nächsten Morgen wird das Bild der Jungfrau in
großem Zuge feierlich umhergeführt. Es ist ein altes, ver-
räuchertes Gemälde, das in einer kleinen Kapelle sich besiu-
det. Man hat es aus einen Karren mit ungeheueren Rädern
gestellt, und dieser wird von aufgeputzten Ochsen gezogen.
Der kleine Tempel ist mit weißem Kattun und mit Spitzen
behängt, mit Blumen geschmückt nnd auch Laternen fehlen
nicht. Seidene von den Ecken der Kapelle auslaufende Bän-
der sind an die Hörner der Ochsen geknüpft. Den Zug er-
öffnete ein Majo, der eine schrillende Pfeife ertönen ließ nnd
mit der linken Hand auf eine vor seiner Brust hängende
Trommel schlug. Dann folgte eine Schaar von anderen
Majos, welche lange Gabelstöcke trugen; die Majas rührten
Castagnetten und baskische Trommeln. Hinterher kamen
Karren in Menge, auch hier, wie bei Torrijos, mit zum
Theil sehr hübschen Mädchen beladen, und hinterher drängte
sich die lustige Menge. Bei diesem Feste werden viele Nüsse
verzehrt und auch alfajores, gewürzte Zuckerkuchen, welche
arabischen Ursprungs sind. Sie werden von zumeist sehr
Heimkehr von der Wallfahrt aus Nocio in Andalusien.
schönen Serranas verkauft, d. h. Frauen und Mädchen
aus dem Gebirge, deren Hautfarbe tief gebräunt ist. Sie
haben eine ganz andere Tracht als die Andalnsierinnen,
z. B. einen schwarzen Filzhut und eine Kapuze von schwar-
zer Wolle. Das Rocio-Fest schließt allemal mit lustigen
Tänzen. Dore hat eine Skizze derselben entworfen.
*
* *
Wir dürfen den Barbier von Sevilla nicht vergessen.
Beaumarchais konnte nichts Zweckmäßigeres thuu, als seinen
Figaro einen Sevillaner sein zu lassen, denn dort ist der
Barbero ein Typus, und die Zahl der Barbierstuben ist
groß. Man erkennt dieselben sofort an der hellgrünen oder
blauen Thür mit gelben Streifen und an einer kleinen Per-
sienne von grüner Farbe über dieser Thür. Die Vacia,
d. h. das Barbierbecken aus Blech oder Messing, fehlt natür-
lich nicht, es hängt, was ja auch in anderen Ländern der
Fall ist, über der Thür; in Spanien erinnert es an den be-
rühmten Aelmo de Mambrino und den tapfern Ritter
ans der Mancha. Im Schaufenster befindet sich ein alter
Perrückenstock neben Pomadebüchsen uud Haarölsläschcheu;
auch kann man in der Barberia Blutegel aus Estremadura
kaufen, sich die Ader öffnen lassen, und mancher Bartputzer
setzt deshalb auf fein Aushängeschild, daß er „approbirter
Professor der Chirurgie" sei; manchmal ist er auchGeburts-
Helfer und Zahnausreißer, comadron y sacamuelas.
Wir haben es also mit einem vielseitigen Talente zn thun,
das aber allemal in einem sehr bescheiden möblirten Zimmer
seine Thätigkeit entwickelt. Ein Canaps, ein halbes Dutzend
Stühle und ein Tisch reichen völlig aus; an den Wänden
hängen einige sayencene Barbierbecken, die in Valencia oder
in der sevillanischen Vorstadt Triana verfertigt worden sind,
21 *
164
Sevilla und das Volksleben in Andalusien.
und einige colorirte Lithographien, welche Scenen aus dem
Ewigen Juden oder ein Stiergefecht darstellen. Die Gni-
tarre fehlt niemals.
In den Barbierstuben wird viel geschwatzt und geklatscht,
denn der Barbero erfährt jede Kleinigkeit und jeden Scandal
des Stadtviertels, und das weiß auch alle Welt. Deshalb
macht das Volk im Gesäuge sich über ihn lustig. EinMäd-
chen singt, daß ihre Mutter von ihm nichts wissen wolle nnd
sie auch nicht, also fort mit dem Narren von Bartputzer.
And«, vete, anda vete,
Barbere loco;
Que ni madre no quiere
Ni yo tampoco.
In einem andern Couplet kommt er noch schlimmer weg.
Dasselbe räth den Mädchen, ja keinen Barbier zn Heirathen;
er lege sich hungrig schlafen und stehe Morgens ohne einen
Heller auf:
Ne te amores, mi nina,
De maestro de barbero
Que se acuestan sin cenar
Y amanecen sin dinero.
Die Barberos der Vorstädte werden etwas wegwerfend
als Barberillos bezeichnet. Diese arbeiten fast immer
unter freiem Himmel, sind aber viel malerischer als ihre Ge-
nossen in der eigentlichen Stadt, denn sie tragen sich noch
andalnsisch. Die Straße ist ihre Bude, der Himmel ihr
Dach, ein Rohrstuhl ihr Möbel; Becken und Scheermesser
verstehen sich von selbst, ebenso etliche Wallnüsse. Man
wird fragen, was der Barbier mit diesen anfängt? Wenn
irgend ein Gallego oder Astnriano dem Künstler einen sehr
borstigen Bart zum Putzen hinreicht, dann schiebt derselbe
ihm eine Nuß zwischen Backe und Zahnfleisch, um richtig
und glatt putzen zu können. (— Die Spanier würden also
sagen: über die Nuß barbieren, wie man bei uns sagt:
über den Löffel barbieren. Diese Anwendung des Löf-
fels habe ich iu einem Dorfe auf dem Schwarzwald mit an-
zusehen Gelegenheit gehabt. — Äu meinen Studentenjahren
übernachtete ich einst in einem Dorfe am Ostabhange des
Harzes; am Morgen fanden sich mehrere Bauern im Schenk-
zimmer ein und der Barbier steckte jedem einen kleinen Apfel
in den Mund. Sie wurden buchstäblich über deu Apfel
barbiert. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, daß sehr oft
zn gleichem Zwecke eine Kartoffel genommen werde. Das
war zu lockend; ich konnte nicht widerstehen, dachte an Iuveual's:
quo tondente gravis juveni mihi barba sonabat, uud
ließ mir mein Gesicht, den hoffnungsvollen Schnauzbart natür-
lich ausgenommen, über die Kartoffel barbieren! — A. —)
*
-!- *
Die kirchlichen Aufzüge und Feierlichkeiten sind
int Volksleben der Spanier und insbesondere der Audalnsier
von nicht geringem Belange. Unter diesen „funciones"
spielen wieder die Pasos eine hervorragende Rolle. Das
Wort bedeutet eigentlich ein Jesusbild während der Passion,
dann aber auch alle die hölzernen Figuren in Lebensgröße,
welche in den Kirchen stehen und während der Osterwoche
aus Straßen und Plätzen umhergetragen werden. In frü-
Heren Zeiten verschmäheten es die ersten Bildhauer Spaniens
nicht, solche Figuren zu schnitzen und mit eigenen Händen
anzumalen, und namentlich in Valladolid befindet sich eine
interessante Sammlung solcher hölzernen Puppen. Jetzt hat
jede größere Stadt Fabrikanten, pintores de esculturas,
welche ans dem Bemalen dieser Slawen und anderer kirch-
lichen Sculpturen ein Gewerbe machen. Sie halten sich
dabei streng an das Herkommen; die Jnngfran Maria ist
allemal weiß und blan und St. Johannes trägt nur einen
grünen Rock; Judas Jscharioth wird als verrätherischer Jude
aufgefaßt und deshalb gelb angepinselt. Bekanntlich dictirte
die unduldsame Barbarei der Christen im Mittelalter den
Juden das Tragen eines gelben Kleides, und ein solches zog
auch die Inquisition den Leuten an, welche auf ihren Befehl
verbrannt wurden, — Alles zur größern Ehre Gottes!
Jesus Nazareno del gran poder, d. h. Jesus der Na-
zareuer von der großen Gewalt, ist eine Holzpuppe, welche
der St. Loreuzkirche iu Sevilla gehört. Sie hat einen wei-
ten Rock von schwarzem Sammt, der mit Gold- und Silber-
stickereien förmlich überladen ist; das große Kreuz, welches sie
trägt, ist von kostbarer Arbeit, und die Gesichtsbilduug der
Figur, wie unser Bild zeigt, stark jüdisch markirt. Sie bildet
einen scharfen Gegensatz gegen die Auffassung der modernen
Nazarenerschule unter den Maler», welche ihren Christus
gern mit weichen Zügen uud blonden Haaren malen, was
auf keinen Fall für ein semitisches Antlitz aus Palästina
paßt nnd sich von der Lebenswahrheit entfernt. Auf jeder
Seite steht ein Engel mit einer Laterne. Dieser Christus
wird vou Angehörigen der in Sevilla so zahlreichen religiö-
fen Brüderschaften, cofradias, getragen; diese Leute stud aber
durch herabhängende Teppiche verdeckt, so daß es aussieht,
als bewege sich daö schwere Gerüst vou selber fort. Uebrigeus
müssen alle Pasos in der Kathedrale eine Station machen.
Die großen Festlichkeiten beginnen am Palmsonntage uud
an diesem werden alle Palmzweige in der Domkirche einge-
seguet. Jedes Haus ist mit dergleichen geschmückt, denn der
Volksglaube wähnt, daß es dann gegen Blitzschlag geschützt
sei. Das Domcapitel üoit Sevilla schickt alljährlich Palm-
zweige an jenes von Toledo, nnd dieses sendet dagegen das
Wachs, welches zu dem Cirio pascual, der Osterkerze, ver-
wandt wird. Dieselbe gleicht einem Mastbaume uud hat ein
Gewicht von 29 Centnern, die Höhe beträgt 25 Fuß. Tie
Umzüge am Nachmittage des Palmsonntags werden als Volks-
seste betrachtet, nnd malerisch genug nehmen diese Schange-
pränge sich aus. Den Neigen eröffnet allemal der Paso von
Christus zwischen den beiden Schachern, nnd große Laternen
fehlen auch hier nicht. Voran geht eine Abtheilung Solda-
ten, dann kommt ein Fahnenträger einer Cofradia, hinterher
folgen Büßer, .,Nazarenos", in langen Röcken und mit Kap-
pen, welche das Gesicht verhüllen. Diese „caperuza" ist
anderthalb Ellen hoch, läuft fpitz zu und gleicht der Kopf-
bedeckung, welche aus alten Bildern den Nekromanten und
Geisterbeschwörern gegeben wird. Der Rock hat einen Schlepp,
der auf der Straße über dein rechten Arme getragen wird.
Der Nazarener zeigt gern seine sauberen weißen Strümpfe
und Escarpins mit silbernen Schnallen.
Hinter den hermanos mayores, den Angehörigen der
größeren Brüderschaften, ziehen die mozos del cordel, eine
Art von Dienstmännern, je zwei neben einander; jeder trägt
einen Korb mit Wachsstöcken. Daß die Geistlichkeit der ein-
zelnen Pfarrkirchen bei den Pasos zugegen ist, versteht sich
von selbst, eben so daß viel Musik gemacht wird; Arien und
Märsche ans beliebten Opern fehlen dabei nicht. Am Mou-
tag und Dienstag finden keine großen Feierlichkeiten statt;
am Mittwoch dagegen wird in der Kathedrale ein großer
Vorhang zerrissen, ■ auch werden, genau wie im Theater der
Fall ist, Donner und Blitz hervorgebracht, um recht anschau-
lich zu zeigen, wie es einst im Tempel von Jerusalem her-
gegangen sei. Nachmittags ziehen wieder viele Pasos in der
Stadt umher und Abends locken die tinieblas (Darstellung
der Finsterniß) alles Volk in die Kathedrale; dann wird ein
Miserere gesungen, das wohl eine volle Stunde dauert und
sehr gut ausgeführt wird. Die Kirchenmusik der Sevillaner
Domkirche ist berühmt. — Am Donnerstag noch mehr Pomp;
Morgens weiht der Erzbischof das heilige Oel uud die nnge-
166 Sevilla und das Vol
mein zahlreiche Geistlichkeit starrt förmlich in ihren prächti-
gen, kostbaren Gewändern.
Als Prachtstück fignrirt das berühmte Monnmento,
oder Santisimo, wie die Spanier sagen, das heilige Sa-
crament. Dasselbe ist im sechszehnten Jahrhundert von einem
italienischen Künstler verfertigt worden und bildet einen kolos-
salen Tempel von Holz, der stückweis auseinander genom-
men werden kann; der Anfban nimmt volle drei Wochen
Zeit in Anspruch. Dieser Tempel hat die Gestalt eines
griechischen Kreuzes, besteht aus vier Stockwerken, die von
dorischen, ionischen und korinthischen Säulen getragen wer-
den, und hat manche Kolossalstatuen, welche Abraham, Mel-
chisedech, Aaron, Moses und andere Juden des alten Testa-
mentes vorstellen; dazu kommen dann viele neutestameutliche
Personen und allerlei Heilige.
Dieses Monnmento wird in dem T ras coro aufgeschla-
gen, der Stelle hinter dem Chor, genau über dem Grabe, in
welchem der Sohn des Christoph Colnmbns ruht. Wenn
alle Wachskerzen brennen, macht das Ganze einen wahrhaft
magischen Eindruck. An dem Monnmento werden an jenem
Tage 30 Centner Wachs verbraucht, und die Zahl der Ker-
zen beträgt etwa achthundert.
Am Charsreitage spielen nicht Holzsiguren, sondern Men-
schen von Bein und Fleisch die Hauptrolle. Da sieht man
den lebendige» Tod; er hat eine Sichel in der Hand und
sitzt auf der Weltkugel, über welche ein Kreuz emporragt.
Ihm folgen als Engel verkleidete Kinder; der heilige Michael
ist als Krieger angeputzt und hat einen Säbel in der Hand;
der „Schutzheilige" führt deu „Menschen" an der Hand;
diesen letztern stellt ein vierjähriger Knabe vor. Der heilige
Gabriel hat eine Lilie, der heilige Raphael ein Pilgergewand;
in der einen Hand trägt er einen Stab, in der andern einen
Fisch. Christus liegt in einem gläsernen Sarge und dieser
wird von Kriegern in römischer Tracht geleitet. Hinterher
gehen die Mutter Maria, der heilige Johannes, Joseph von
Arimathia, Nicodemns und andere neutestamentliche Gestal-
teu. Das Ganze erinnert an die mittelalterlichen Mysterien-
Am Sonnabend findet eine allegorische Procession statt;
sie stellt die Gründung der Kirche vor. Gott Bater sitzt auf
einem Wolkenthrone, neben ihm Gott der Sohn und Gott der
heilige Geist; aus den fünf Wunden des Gott-Sohnes rinnen
eben fo viele Blutstreifen, welche auf die Kirche fallen und
ihr Leben verleihen. Die Kirche wird durch ein junges Mäd-
chen in Priesterkleidung vorgestellt, was einen wunderlichen
Eindruck macht. Der Glaube, auch ein junges Mädchen,
kniet mit verbundenen Augen vor Gott den Bater. Der
Glaube ist bekanntlich blind.
Davillier findet, daß alle diese Processionen und dieses
Kirchengepränge sich seltsam ausnehmen und einen betrüben-
den, niederschlagenden Eindruck machen; man denke dabei nn-
willkürlich an die scheußlichen Menschenmorde, welche in so
großer Masse vou der Inquisition verübt worden sind. Wie
stiefmütterlich wird dagegen mit armen Leuten verfahren!
Die beiden Reifenden fahen nn entierro de limosna, ein
„Almofenbegräbniß". Ein armseliger Sarg wurde von einem
Pferde im Trabe gezogen; voran zogen einige arme Leute,
die Kreuze und Laternen trugen; auch sie liefen in vollem
Trabe. Dore skizzirte diese betrübende Scene.
Am Ostersonntage werden Tausende von Lämmern ver-
zehrt; Morgens zieht Alles in die Kirchen und Nachmittags
zum Stiergefecht. Man veranstaltet dergleichen anch nach
portugiesischer Weife, und dabei erlegte eine jnnge Stierfech-
terin zwei Stiere- mit eigener Hand. Hinterher kam ein
Torero, welcher auf Stelzen lies und unter jubelndem Beifall
der Menge auch etliche Bullen niederstreckte. Morgens wird
gebetet und das Kreuz geschlagen; Nachmittags muß Blut
'leben in Andalusien.
fließen, sonst gilt das heilige Osterfest nicht für vollständig
und gelungen.
*
* *
Bei den Südfpaniern greift der Tanz viel mehr und
inniger ins Volksleben ein, als bei irgend einem andern
Bolke. Schon in den Zeiten der Römer waren die gadi-
tattischen Tänzerinnen gesucht und berühmt, gleich den
Musikanten aus Corduba, also dem heutigen Cordova.
Auch die Basken, diese iberischen Urbewohner der Halbinsel,
waren schon in den Tagen des Alterthums als leidenfchaft-
liche Tänzer bekannt. Der Dichter Martialis, der selber aus
Spanien gebürtig war (aus Bilbilis, dem heutigen Cala-
taynd), hebt in seinen Epigrammen hervor, daß die Stutzer
in Rom sich darin gefielen, Arien zu summen, die im lustigen
Cadix, jocosae Gades, gesungen würden. Aus den Briefen
des jüngern Plinins wissen wir, daß in Rom kein Fest für
vollendet galt, wenn dabei „Austern, seltene Fische und gadi-
tanische Tänzerinnen" fehlten.
V. A. Huber hat in seinen Skizzen aus Spanien diese
alten andalusischen Tänze als die „Poesie der Wollust" be-
zeichnet, uud dieselbe Bezeichnung kann man auch auf die
heutigen andalusischen Tänze anwenden, die im Wesentlichen
wohl denen des Alterthums gleichen. Ein englischer Kunst-
archäolog hat behauptet, zur Statue der Venus Kallipygos
habe wahrscheinlich die von Martial geschilderte gaditanische
Ballerina Telethusa Modell gestanden.
Selbst in den Jahrhunderten der Inquisition konnten
Geistliche es wagen, Bücher über die spanischen Tänze zu
schreiben, z. B. ein Pater Marti in Alicante eine AbHand-
lnng über die delicias gaditanas. Zumeist suchen sie den
Zusammenhang zwischen den Tänzen des Alterthums und
jenen unserer Zeit nachzuweisen; so finden sie in der crissa-
tura der Römer den heutigen meneo wieder, im lactisma
den zapateado oder den tacaneo. Auch mit Castagnet-
ten wurde beim Tanze schon vor zweitausend Jahren geklap-
pert. Sie gehören nothwendig zum Volkstanze und die cro-
talia der Alten waren offenbar castaöuelas, bestanden aus
zwei hohlen Theilen, die man gegen einander schlug, und
waren, obwohl zumeist von Bronze, doch häufig auch aus
Holz verfertigt. In den Tagen des Andalnsiers Trajan
war das Klappern mit Castagnetten bei den vornehmen Rö-
merinnen sehr beliebt; sie hatten Mandelform und waren
nicht selten mit werthvollen Perlen geschmückt. Facere cro-
talia, das erfahren wir aus Plinins, war ein modischer Zeit-
vertreib. Auch die Castagnetten haben eine eigene Literatur
und als Hauptwerk kann die zu Madrid 1792 aus der köuig-
licheu Druckerei hervorgegangene Crotalogia gelten, „ oder
Wissenschaft der Castagnetten; eine wissenschaftliche An-
Weisung über die Art, mit Castagnetten zu spielen beim
Tanze des Bolero" :c. Der Titel füllt eine ganze Seite
und Verfasser war wieder ein Geistlicher, der Licentiat Fran-
cisco Augustin Florencio. Das Buch hat fünf Auf-
lagen erlebt! Aber der Licentiat wurde heftig von einem
Herrn LopezPolinario angegriffen, dagegen aber auch gläu-
zend gerechtfertigt von Don Alejandro Moya, der einen
Triunfo de las castanuelas herausgab. Diese Dinge wnr-
den mit äußerstem Ernst behandelt. Florencio bringt in
seinem Buche den Christoph Colnmbns und Galilei mit den
Castagnetten in Verbindung; er stellt eine Menge Regeln
auf, beschreibt eine neue Art von Castagnetten, die er selber
erfunden habe; spricht von der Tänzerin Copa Syrisca, welche
laut Virgils Zeugniß beim Klappern den schönen Körper an-
mnthig gedreht habe. Er setzt dann auseinander, daß die „Wis-
senschaft" sich m folgenden Silben formuliren lasse: Tirira,
tirira, tirira, tirira, ti ta ti ta. Man müsse aber dabei wohl
168 Sevilla und das Vol
die „drei crotalogischen Einheiten" wahrnehmen, nämlich die
Einheit der Handlung, der Zeit und des Ortes! Das wird
aus Aristoteles bewiesen.
Es giebt männliche und weibliche Castagnetten, machos
y hembras; der macho giebt den tiefen, die hembra den
hellen Klang. Licentiat Florencio bittet am Schlüsse des
Buches auf seine Gesundheit vier Seguidillas Boleras
zu tanzen.
Die sogenannte baskische Trommel heißt bei denSpa-
niern el pandero oder la pandereta; sie ist das tympa-
num der Alten, und die Mosaiken aus der Römerzeit, z. B.
im Museum zu Neapel, lassen darüber keinen Zweifel zu.
Die spanische Pandereta ist, gleich dem italienischen Tambn-
rello, sowohl auf dem Holzwerk wie auf der darüber gespaun-
ten Haut mit Pinseleien verziert. Bei diesen sind gewöhn-
lich grelle Farben stark aufgetragen. Da sieht man einen
Map und eine Maja, welche die Malaguena del torero,
den Jaleo de Jerez ober einen andern andalusischeu Tanz
aufführen. Einen weitern Schmuck bilden die Monas,
Bänderknoten, und einige Sonajillas, Metallplatten. Es
giebt kein Volksfest ohne Pandereta, und die Bettelstudenten,
welche in Spanien noch nicht ausgestorben sind und wie vor-
mals im Lande umherstreifen, sind manchmal große Virtno-
sen auf diesem Instrumente; man bezeichnet sie deshalb auch
wohl als Estudiantes de la Tuna.
Die Spanier haben eine Menge von Ausdrücken für ihre
Lieblingsinstrumente. Die castaiiuelas heißen auch castane-
tas und patillos; man sagt auch wohl ganz einfach: la leiia,
das Holz, hat aber auch castanetada, castaiieteo, casta-
netazo, castaneteado und castaneton, und als Zeitwort
für das Spielen des Instrumentes castanetear. Das letz-
tere sagt man auch von einem Menschen, dem vor Frost die
Zähne klappern. Eine lebhafte Person wird mit einer Ca-
stagnette verglichen. — Wenn mehrere Panderetas, baskische
Trommeln, gleichzeitig ertönen, so ist das eine panderada;
ein Schlag auf das, Fell ist eiu panderazo, und pandere-
tero ist sowohl der Verfertiger wie der Spieler der Pande-
reta; pandereteo ist das Spielen auf der Trommel und
auch eiue Lustbarkeit, bei welcher dieselbe gerührt wird; da-
vou ergiebt sich das Zeitwort panderetear von selbst. Dann
kommen die Sprichwörter: Wer viele Worte macht und
damit doch eigentlich nichts sagt, ist ein pandero. —
Als die Araber Spanien eroberten, fanden die alten Tänze
und Balladen eine Zuflucht in den Gebirgen Asturiens; aus
dem zehnten Jahrhundert kennt man noch den Tanz König
Alonzo des Guten. Alt ist auch der tnrdion, bei welchem
man viele Körperwindungen machte, und die gibadina, Tanz
der Buckeligen, eben so der piedegibao, d. h. Fuß der Bücke-
ligen. Die gibadina und die alemanda waren im sechs-
zehnten Jahrhundert allgemein Mode neben der pavana.
Diese letztere saud im übrigen Europa allgemeine Aufnahme;
sie war ein ernster, gemessener Tanz und hat ihren Namen
von pavo, Pfau, „weil die Tänzer vor einander gleichsam
Räder schlugen, wie der Pfau." Wahrscheinlich ist dasMe-
nnet eine Nachahmung der Pavana; ob diese in Padova
(Padua) erfunden worden ist und daher den Namen hat,
bleibt ungewiß. Sprichwörter: son entradas de pavana,
wenn Jemand mit gravitätischen, wie wir sagen, spanischen
Schritten eintritt und den Wichtigen spielt; auch spricht man
von pasos de pavana; der paspie, welcher im siebenzehn-
ten Jahrhundert bei den Franzosen sehr beliebt war, ist eiue
Art der Pavane. Vor ihr war der pascacalle, Straßen-
gänger, berühmt; die jungen Leute tanzten ihn bei Nacht auf
den Gaffen, und er ist auch nach Frankreich und Italien ver-
pflanzt worden. Die folias stammen aus Portugal, kamen
aber schon früh nach Spanien; dieser Tanz war sehr graciös.
leben in Andalusien.
Im sechszehnten Jahrhundert unterschied man zwischen
danzas uud bayles. Die ersteren erforderten allemal ernste,
gemessene Schritte und die Arme durften dabei nicht bewegt
werden; bei den letzteren war freiere Bewegung gestattet, sie
waren von leichterer Art uud es gab sogar „Schelmentänze",
bayles picarescos. Dahin gehörten die Sarabande, bei
welcher auch Lieder allzu freien Inhalts gesungen wurden.
Sie wurde 1588 zuerst getanzt und bald so beliebt, daß eiu
Geistlicher ernsthaft versichert, sie richte mehr Unheil an, als
die Pest. Die Literatur über oder vielmehr gegen diese za-
rabanda ist ganz ansehnlich; aber alles Verketzern Half nichts;
sie hüpfte über die Pyrenäen, wurde zunächst am Pariser
Hos unter Ludwig dem Vierzehnten und dann auch im übri-
gen Europa beliebt, während sie in Spanien eine Menge
von Nachahmungen fand. Als das Land am schwersten unter
weltlichem und geistlichem Drucke litt, tanzte das Volk am
meisten und unzählige neue Tänze kamen auf; der escarra-
man und die chacona; Schelmentänze waren: la carre-
teria, las gambelas, el Polio, la Japona, el rastrojo,
la gorrona, la pipironda, el hermano Bartolo, el pol-
villo, la perra mora, el guiriguirigay, el Anton Colo-
rado, el canario, el zapateado, la gira, la danza primo,
el bizarro, la paisana, la gallarda, la palmadica, la
guaraclio, el zapateado und wer weiß wie viele andere
mehr.
Die Zapateado ist noch heute in Andalusien sehr be-
liebt. Auch die Araber und Mauren hatten ihre besonderen
Tänze, namentlich an Festtagen und bei Hochzeiten; so die
Zambras uud Leylas. Auch die canas, Volksgesänge
mit schwermüthigen Weisen, mit welchen manche Tänze be-
gleitet werden, sollen von den Morisken herstammen. Diese
haben in Granada und Valencia noch lange nach der Erobe-
rnng die Tänze und Gesänge ihrer Vorfahren bewahrt, ob-
wohl auch bis auf diese die rohe Tyrannei der Christen sich
erstreckte. Durch königliche Ordonnanz wurden die Leylas
und Zambras verboten, welche sie mit derDulzayua (einem
Hautbois), der Anasiles (Trompete) oder mit dem Land,
dieser moriskischen Gnitarre, begleiteten. Aber noch heute
kann man in den andalusischeu Gebirgen von Bauern oder
Serranos Arien moriskischen Ursprungs vernehmen, nament-
lich Rondeiias und Malaguenas.
Ju der Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts wurde am
Hofe Philipps des Vierten großer Pomp entfaltet und, viel
getanzt. Die früheren meist einfachen Pas machten verwickel-
ten Tänzen und dem Ballet Platz; auch kamen die dansas
liabladas, diese sprechenden Tänze mit allegorischen und
mythologischen Gestalten, mehr uud mehr in Gunst. Einer
derselben, in welchem acht Nymphen, Cnpido, die Poesie, Ber-
schwiegenheit, Freigebigkeit, Verschwendung, der friedliche Be-
sitz und dergleichen mehr siguriren, ist von Cervantes im
Dou Quixote beschrieben worden.
Die alten Nationaltänze verschwanden nach und nach von
der Bühne; zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts waren
sogar Sarabande und Chacone so gut wie vergessen; statt
ihrer kamen die Seguidillas, der Fandaugo und'der Bolero
in allgemeine Gnnst. Ueber die Seguidillas habeu wir
die ersten Nachrichten aus der Mancha; dort sind sie anfge-
kommen; das Wort bezeichnet auch die Gesänge, mit welchen
sie begleitet werden. <^ie unterscheiden sich nicht wesentlich vom
Bolero, sie haften dieselben pasadas, estribillos und bien
parados, d. h. Figuren, Refrains und Taktpausen. Nur ist der
Bolero, welcher jetzt überhaupt nicht mehr als Volkstanz gel-
ten kann, sondern nur auf dem Theater vorkommt, langsamer.
Ueber den Fandaugo sagt der Dichter Thomas de Ariarte:
„Er ist unter uns der beliebteste, die Bewegungen sind voll
Geschmack uud Phantasie; er ist in hohem Grade anmnthig,
Sevilla und das Volksleben in Andalusien. 169
A70
Am obern Amazonas. Der peruanische Stromhafen 9kauta.
er entzückt durch das Aufgeweckte, welches in ihm liegt, Ein-
heimische und Fremde gleichermaßen und läßt selbst die alte-
sten Greise nicht ungerührt." Eiu anderer Dichter ruft aus:
„Ja, er ist es Werth, tut Tempel der Göttin Venus aufPa-
Phos oder iu Guidos ausgeführt zu werden. Seine süßen
Weisen dringen gleich elektrischen Funken ins Herz, Alles,
Jung und Alt, wird durch ihn zn neuem Leben erweckt. Da
treten die Tänzer auf; diese klappern mit den Castagnetten,
jene schnalzen mit den Fingern; hinreißend weich, leicht und
biegsam sind die wonnigen Bewegungen der Weiber, welche
mit ihren Fersen den Tact stampfen. Die beiden Tanzen-
den suchen sich, fliehen sich, verfolgen einander. Sie will in
Schmachten fast vergehen und aus ihrem feurigen Auge fprüht
hinsterbende Gluth, daß sie sich ergebe; er will ihr in die
Arme sinken; — da hört plötzlich die Musik auf und urplötz-
lich stehen beide ohne Bewegung da. Aber mit dem Wieder-
beginne der Musik fängt der Fandango abermals an. Da
klingen Guitarren und Geigen, da vernimmt man die taco-
neos (das Aufstampfen mit der Ferse), das Geklapper der
Castagnetten, das Schnalzen der Finger; man sieht die wei-
chen und anmnthigen Bewegungen der Tänzer, die in einer
Atmosphäre von Freude, Vergnügen und Wonne schwimmen."
Um obern Amazonas. Aer peruanische Stromhafen Uanta.
Wir stellten neulich (S. 109) Betrachtungen über den
Amazonenstrom au, welcher noch im Laufe dieses Jahres
deu Flaggen aller Völker eröffnet wird. Es kann nicht aus-
bleiben, daß von nun an reges Leben in diese ausgedehnte
bisher gleichsam verödet und, man kann wohl sagen, nnange-
brochen daliegende Region einströmt. Bon der Mündung
bis zum Huallaga aufwärts werden nach und nach alle
Nebenströme vou Dampfern befahren werden, und manche
derselben sind länger als Wolga, Rhein, Rhone oder Donau.
Unsere Leser wissen, daß in bcit letzten Jahren manche der-
selben näher untersucht wurden, und daß alle auf weiten
Strecken schiffbar sind, einige sogar bis in die Nähe ihres
Quellgebietes. Auf jeden Fall eröffnen sich dem Verkehr-
großartige Aussichten.
Den Nordamerikanern sind die Vortheile, welche dort in
Aussicht stehen, nicht entgangen, und sie waren es, welche
fort und fort anf die Eröffnung des Stromriesen drangen.
Der ausgezeichnete Hydrograph Manry veranlaßte schon
1850 die Washingtoner Regierung, den Amazonas durch
Lewis Herndon näher untersuchen zu lassen^).
Maury ging von der nicht unrichtigen Annahme aus,
daß die Stromgebiete desMississippi und desAma-
zonas gegenseitige Ergänzungen bilden, indem jedes
iu Hülle und Fülle habe, was dem andern mangele, sie seien
gleichsam Zwillinge. Als Herndon von der Mündung des
Huallaga bis zu jener des Ucayali (eine Strecke von 210
Miles) auf dem Amazonas fuhr, stellte er unwillkürlich einen
Vergleich mit dem Mississippi an. Er vermißte natürlich
die Ansiedelungen und Plantagen, die Städte und Dörfer
auf den Uferhügeln und auch den lebhaften Schifffahrtsverkehr.
Aber der Eindruck war ein ungemein großartiger, die Oede
und Einsamkeit bewältigend; der Strom wälzte die trüben
Wogen seiner mächtigen Wasserfülle majestätisch dahin, riß
ganze Wälder vom Lande ab und schwemmte sie zu Inseln
zusammen. DieWildmß erschien prachtvoll und feierlich und
der ganze Eindruck war so, daß man von einer gewissen Furcht
übermannt wurde. Aber wer den Amazonas iu seiner gan-
zen Länge bis nach Para hinabgefahren ist, wird gestehen,
daß er eine der herrlichsten Regionen, eine prachtvolle Land-
schaft gesehen hat, der eine große Zukunft sicher ist.
„In diesem Stromgebiete," sagt Herndon weiter, „findet
) Exploration of the valley of the Amazon, by Lieutn. Wm.
Lewis Herndon, U. S. Navy. Washington 1854. Es ist ein vor-
treffliches, sehr reichhaltiges Buch. A.
man in den Gebirgen Silber, Eisen, Kohle, Kupfer, Queck-
filber, Zink und Zinn, aus den Nebenflüssen wäscht man
Gold, an Diamanten und Edelsteinen fehlt es gleichfalls
nicht, und die Wälder liefern eine geradezu uuerfchöpfliche
Fülle vou werthvollen Hölzern, Gewürzen, Arzneipflanzen
und Gummi- und Faserstoffen. Das Klima ist ein ewiger
Sommer und die Ernte dauert das ganze Jahr hindurch.
Für den Anbau aller tropischen Plantagengewächse ist nner-
meßlicher Raum vorhanden. In diese prächtige Waldeinöde
muß der Dampf Leben bringen, aber ich glaube, daß jetzt
(1850 und 1851) in der ganzen Ungeheuern Provinz nicht
40,000 Dollars baren Geldes vorhanden sind!" —
Mit Ausnahme des großen Mündungshafens Para, der
etwa 30,000 Einwohner zählen mag, hat das ganze Gebiet
des Amazonenstroms nicht eine einzige Ortschaft, die wir in
unserm europäischen Sinne als eine ordentliche Stadt
bezeichnen könnten; selbst Manaos (Barra do Rio Negro)
kann nicht eigentlich für eine solche gelten. Die übrigen sind
lediglich Dörfer oder nur eine Anhäufung von Weilern, ohne
regelmäßige Straßen. Nauta, vou welchem wir eine von
Paul Marcoh entworfene Zeichnung geben, kann als eine
Art von Typns für diefe Ortschaften gelten.
Unsere Leser wissen, daß wir diesen Reisenden den Ucayali
abwärts bis zur Mission Sarayacn begleitet haben, von
welcher er eine anziehende Schilderung entworfen hat („Glo-
bns" X, 353 bis 363). Bevor wir ihm in Nauta wieder
begegnen, wollen wir noch Einiges über die verschiedenen
Namen bemerken, welche der südamerikanische Riesenstrom
sührt.
Die Tnpinambas-Jndianer in Brasilien kennen nur deu
untern Lauf, und diesen bezeichneten sie alsParanaHnasn,
d. h. großer Fluß. Als die Gebrüder Piuzon (oder Pin-
tzoüs) die Mündung entdeckten, die ihnen so gewaltig wie ein
Meer vorkam, nannten sie ihn die Süße See, mar dulce,
aber nach ihnen bezeichnete der Spanier Francisco Orel-
lana ihn nach seinem Namen. Späterhin trat das Wort
Amazonas an die Stelle, als Erinnerung an die weiblichen
Krieger, die Amazonen, mit welchen derselbe Orellana an
der Mündung des Rio Nhamnndaz zu kämpfen hatte. Den
obern Lauf dieses großen Stromes bezeichneten die alten Pe-
rnaner als Tunguragua, die spanischen Eroberer dagegen
als Maraüon. So hieß eine eßbare Frucht, Anacardium
occidentale, welche zwischen San Jaen de Bracamoras und
San Regis in großer Menge wächst. Die Bezeichnung
Solimoens wurde dem Strome gegeben, als Pedro Texeiro
17 2
Am oberu Amazonas. Der peruanische Stromhafen Nauta.
von seinem Zuge nach Quito zurückkehrte. Der Name ist
verderbt aus Sorimaos; so hieß ein weit verbreiteter In-
dianerstamm, welcher zur Zeit der Eroberung Brasiliens auf
einer Strecke von etwa 150 Wegstunden am Strome ver-
breitet war. —
Nauta wird in unseren Tagen sehr oft genannt, weil
bis dorthin die Dampfer auf dem Amazonas fahren; es ist
ans diese Weise zu einer Art von Umschlags- oder Stapelort
geworden, dem eine Zukunft nicht fehlt. Demi derselbe hat
das ganze Gebiet des Ucayali und des Huallaga zum Hin-
terlande, und auch die Dampfer, welche küuftig den letztern
Fluß befahren, werden dort ihre Station haben.
Auf die Wichtigkeit der Lage hat vor einigen Jahren An-
tonio Naimondi, Professor der Naturgeschichte an der Uni-
versität zu Lima, entschieden hingewiesen*). Die heutige Ort-
schaft, ein „pueblo", datirt, so wie sie nun ist, aus dem
Jahre 1830 und hat nach Raimondi etwa 1200 Einwohner,
während Marcoy in den 49 Häusern derselben nur etwa
750 Köpfe zählte, aber er bemerkt, daß außerdem etwa 250
Seeleu auf die „schwimmende Bevölkerung" kommen.
Die Lage am Strome, so ziemlich der Mündung des Uca-
yali gegenüber, ist günstig genug. Das sahen die Jesuiten
eiu, welche an jener Stelle zu Anfang des vorigen Jahr-
Hunderts eine Mission gründeten; von derselben ist jedoch,
wie von vielen anderen, keine Spur übrig geblieben. Marcoy
(„Le Tonr du Monde" Nr. 345) bemerkt, daß auf der Stelle
der Mission ein Jndianerdors entstand. Man brachte ge-
taufte, und was man so zu nennen beliebte, „bekehrte" In-
dianer von den Stämmen der Cocamas und Cocamillas
von der Mündung des Huallaga und ans der Umgegend von
Gran Laguna dorthin. Was von diesen Stämmen am Hnal-
laga zurückblieb, gerieth mit den spanischen Soldaten, welche
in den Missionen lagen, in Fehde und zog dann auch nach
Nantct hinab. Dort hatten die früheren Ankömmlinge die
besten Plätze für sich genommen; die späteren aber scheuten
die geringe Arbeit, Lehm- und Strohhütten zu bauen oder
den Wald auszuroden. Theils wurden sie Schisssknechte,
theils Fischer und Diener bei den verschiedenen Kaufleuten,
welche sich in Nauta niedergelassen hatten.
Am Strome trifft man sogenannte lomas, niedrige Hü-
Gnc Egaritea auf dem Amazonenstrom.
gel, die am linken Ufer bis hinab nach Tabatinga an der
brasilianischen 'Grenze reichen. Auf einem derselben steht
das Dorf Nauta mit seinen bunt und ohne alle Regelmäßig-
keit ganz nach Willkür und Belieben aufgebauten Hütten, so
wie unser Bild sie zeigt. Auch die Umgebung hat nichts
Anziehendes. Nauta ist Hauptort eines Districts, der an
der Mündung des Huallaga beginnt und abwärts bis über
Omaguas hinausreicht. Ans der ganzen Strecke von etwa
dreißig deutschen Meilen liegen überhaupt nur fünf Dör-
*) Apuntes sobre In provincia litoral de Lorcto; por Antdnio
Kaimondi, Lima 1862. Dieses werthvolle Werk, das auf Kosten der
peruanischen Regierung gedruckt wurde, enthält die ausführlichste und
zuverlässigste Schilderung von Nordperu, so weit dasselbe dem Ge-
biete des Amazonas angehört, welche wir überhaupt haben. Die No-
tizen über Nauta stehen S. 91 bis 95. Sie sind auch benutzt wor-
den in der Geografia del Peru, obra postuma del D. I). Mateo
Paz Soldan, corregida y aumentada par su hermano M. F. Paz
Soldan. Paris 1862. Ich kenne nur den ersten Theil, 745 Seiten,
und weiß nicht, ob ein zweiter Theil erschienen ist. Auch dieses
Werk, das eine gute Nebersicht von Peru giebt, ist auf Kosten der
peruanischen Regierung gedruckt worden. Die Mittheilungen über
Nauta S. 545 ff. , A.
fer: Urarinos, Parinari, San Negis, Nauta und
Omaguas; dazukommt dann noch Jqnitos und die Strecke
bis zur Mündung des Rio Ncipö.
Die geistliche Obhut wird vom Pfarrer zu Nauta besorgt.
Dieser macht in jedem Vierteljahr einmal seine Rundreise im
Sprengel und bleibt iu jeder Ortschaft einen Tag und eine
Nacht. Man wird gern glaube», daß sein Amt ein beschwer-
liches sei. Er macht die Reise auf einer Egaritea, einem
jener plumpen Jndianerschiffe, welche auch jetzt uoch zur Be-
fördernng von Handelswaaren benutzt werden und über welche
wir bald mehr zu sagen haben.
Peru hat auf diesem Theile seiner Nordostgrenze drei
Missionen: Pevas, San Jose de losNahnas uudCa-
ballo cocha. Die geistliche Oberleitung derselben befand
sich früher in Moyobamba, ist aber jetzt in Chachapoyas, wo
ein Bischof wohnt. Marcoy fand überall die Geistlichen
in einer sehr bittern Stimmung, die sich begreifen läßt,
wenn man erfährt, daß ihnen gar kein Gehalt ausgezahlt
wird oder daß sie doch iu ungebührlicher Weise verkürzt wer-
den. Um leben zu können, treiben sie Handel mit gesalzenen
Fischen, Sassaparille, Banmwollenzeng, Angeln und Har-
Theodor Kirchhoff: Streifzüge im Nordwesten Amerikas, namentlich in Oregon.
173
punen; am Sonnabend Abend schließen sie ihr Conto ab und
ant Sonntag Morgen legen sie das Priestergewand an.
Die Staatsbeamten stehen unter einem Corregidor, der
zu Balsapnerto am Huallaga wohnt; es ist eben in diesen
Gegenden Alles weit und zerstreut; der jenen vorgesetzte Un-
terpräsect wohnt noch weiter weg, in Moyobamba. Der
Reisende hörte viele Klagen über Härte und Willkür der
Beamten, welche er mit „tyrannischen Landjunkern" vergleicht;
sie saugen ihre Untergebenen aus. Die peruanische Regie-
ruug hatte Jeden, der sich in einem Dorfe auf der Nordost-
seite der Audes niederlasse, auf 25 Jahre von jeder Abgabe
befreit; trotzdem legten die Uuterpräsecten solchen Leuten einen
Tribut auf, der in Salzsischen und Wachs besteht. Die Re-
gierung hatte seruer ihre Beamten angewiesen, jedem Reisen-
den gegen eine festgestellte Taxe ein Fahrzeug zu stellen; die
Rnderer sollten aber nur verpflichtet sein, gegen einen gleich-
falls festgestellten Lohn nur zehn spanische Meilen weit zu
fahren, um dann von anderen abgelöst zn werden. DieBe-
muten fanden es aber ihrem Privatnutzen angemessen, die
Stationshütten zu verbrennen und die Ruderer zu zwingen,
gegen unverschämt verkürzten Lohn die Pirognen bis nach
Egas an der Mündung des Tesfs oder gar bis au jene des
Rio Negro zn bringen, also über 100 deutsche Meilen weit.
Dieser Unsng hat nun in Folge der Dampfschifffahrt ein
Ende genommen. Aber die Indianer sind anch jetzt uoch
allerlei Mißhandlungen unterworfen; sie werden beliebig ein-
gesperrt oder mit einer Karbatsche aus Lamantinhaut ge-
peitscht. Als Nauta noch Mission war, peitschte man die
Neubekehrten vor dem Altar in der Kirche, zur Erinnerung
an die Geißelung Christi, wahrscheinlich um ihnen die Reli-
gion der Liebe recht thener und Werth zn machen. Deu In-
dianern wollte aber die Trefflichkeit einer so milden BeHand-
luug nicht wohl einleuchten; die verstockten heidnischen Böse-
wichter zogen es vor, in die Wälder zu fliehen, und manche
von ihnen bauten sich 150 spanische Meilen von Nauta und
den Geistlichen entfernt das Dorf Jnrupary-Tapera.
Streifzüge im Nordwesten Amerikas, namentlich in Hregon.
Von Theodor Kirchhoff.
11.
Portland, die Hauptstadt des Webfoot-Landes. — Geschäftskniffc, — Regenwetter in Oregon. — Wieder auf dem Columbia.
Hvod und Mouut St. Heleus. — Jndianersage.
— Mvunt
Der Willamettesluß ist reizend mit seinen von herrlichen
Wäldern und saftig-grünen Wiesen eingefaßten Ufern und
dem klaren, grünlichen Gewässer, das mich an den Vater-
Rhein erinnerte, dem er auch an Breite ziemlich gleichkommt.
Stattliche Fichtenwaldungen, welche aus deu höhergelegenen
Bergzügen die mit dunkelgrünem Laubholz gekrönten niedri-
gereit Hügel überragten, gewährten mitunter herrliche Fern-
sichten, deren immer wechselnde Bilder ich in gemüthlicher
Ruhe vom hohen Verdeck des „Brother Jonathan" herab
bewunderte-
In Portland nahm ich Quartier im eleganten „Deuison
Honse", einem Hotel erster Classe, und ruhte vorläufig ein
wenig von den Strapazen meiner letzten Reise aus, die mich
nach einer Fahrt von ungefähr 295 Seemeilen ans denBe-
fitzungen of Her niost gracious Majesty in die Haupt-
handelsstadt des jungen, goldreichen Freistaates Oregon ver-
setzt hatte.
Die Stadt P ortland verdankt ihren Namen einem Wür-
selspiel. Die zwei ersten Besitzer des Grund und Bodens,
auf dem die Stadt erbaut werden sollte, ehrsüchtige «Söhne
Neu-Euglauds, stritten sich nämlich um den Namen des neuen
Karthago. Der Eine wünschte es Boston zn taufen und
der Andere zog den Namen Portland vor, und säst wäre vor
lauter Zanksucht die Stadt gar nicht gegründet worden. Zu-
letzt kam man überein, Würfel entscheiden zu lassen, und der
Name Portland hatte die meisten Augen. So ist sogar das
Geschick werdender Städte dem launigen Schicksal überlassen,
selbst wenn es, wie in diesem Falle, nicht blind, sondern mit
vielen Augen versehen ist.
Nachdem ich mich in den gastlichen Räumen des großen
Speisesaales vom „Deuison Honse" gehörig mit Speise und
Trank gestärkt, bei welcher Gelegenheit ich künftigen nach
Oregon reisenden Feinschmeckern die außerordentlich saftigen
Portländer Bärenbraten recht angelegentlich anempfehle,
j machte ich einen längern Spaziergang durch die Stadt. Viel-
leicht, daß mir dieselbe als künftiger Wohnort zusagen würde.
Das geschäftige Leben und schmucke „Go-Ahead-Aeußere"
derselben machten auf mich einen sehr vortheilhasten Eindruck,
so daß ich bald bedeutende Lust verspürte, iu ihren Mauern
meine Heimath aufzuschlagen.
Allein — „der Mensch denkt, und der liebe Herrgott
lenkt!" Sogar in Oregon, am Ende der Welt.
Es nutzte zu nichts, daß ich die Hauptgeschäftsstraße von
Portland Dutzende von Malen aus- und abwanderte und in
fast jedem Hause nachfragte, ob dasselbe wohl zn vermiethen
sei, bei welchen Fragen die Herren Ladendiener etlicher elegan-
ten Wholesale-Geschäste ganz erstaunt die Augen weit ans-
sperrten. Alle Häuser waren leider schon besetzt und Nie-
mand schien Lust zu haben, mir seinen Platz zn überlassen.
In den Nebenstraßen hätte ich vielleicht ein Asyl finden kön-
nen; aber damit war mir nicht gedient. „Aut Caesar, aut
nihil!" das war meine Parole — und somit sagte ich mich
von dem ungefälligen Portland wieder los, um weiter in die
Welt hinauszuwandern und anderswo mein Glück zu suchen.
Während ich in den mit Holz gepflasterten und mit statt-
lichen Häuserreihen gezierten Straßen aus- und abwanderte,
siel nur unwillkürlich das mürrische Aussehen der Einwohner
aus, welches um so auffälliger war, da die Sonne golden-
klar aus den unumwölkteu Tiefen des blauen Himmels her-
ablächelte und Alles zur Freude einzuladen schien. Auf uä-
here Erkundigung der Ursache dieser höchst seltenen psycholo-
zischen Erscheinung an den Portländern erfuhr ich, daß es
eben dieser helle Sonnenschein war, der die Leute so mürrisch
machte. Alt und Jung hätten sich an das sonst hier zn
Lande fast unaufhörliche Regenwetter so sehr gewöhnt, daß sie
sich darüber ärgerten, wenn einmal den ganzen lieben langen
Tag über die Sonne scheine. Im verflossenen Winter sollen
die Leute vor Freuden ganz außer sich gewesen sein, da es
174 Theodor Kirchhoff: Streifzüge im No
— Gott sei Dank! — bloß 134 Tage lang ohne jegliche
Unterbrechung Wolkenbrüche regnete.
Die glücklichen Bewohner dieses Regenlandes erniedrigen
sich selten so weit, Regenschirme auszuspannen, die hier nn-
verkäuflich sind, sondern lieben es, beim heftigsten Platzregen
wie Enten in den schwimmenden Straßen umherzuspazieren,
weshalb man ihnen den Ehrentitel „Webfeet" (Schwimm-
fußler) gegeben hat, ans welche Benennung sie nicht wenig
stolz sind. Zu diesen sogenannten „Webfeet" gehören außer
den Portländern auch uoch die Bewohner des ganzen aus-
gedehntenWillamettethals, wo es noch mehr regnen soll als
in Portland.
Ich dankte einer gnädigen Vorsehung, daß ich noch bei
Zeiten die Amphibiennatur des Webfoot-Landes entdeckt
hatte; sonst wäre ich sicherlich am folgenden Tage das Thal
des Willametteslnfses weiter hinaus gereist, um mir dort in
einem schattigen Winkel ein neues Arkadien aufzusuchen. So
entschloß ich mich, lieber jenseits der Berge, am obern Co-
lnmbia, mir eine neue Heimath zu sucheu.
Portland ist eiue blühende Geschäftsstadt, die ün schnellen
Wachsen begriffen ist und gegenwärtig an 5000 Einwohner
zählt. In seinen Mauern liegen das Irrenhaus und Zucht-
haus des^Staates Oregon und 21 Aerzte sorgen für das
leibliche Wohl der Bevölkerung. Bedeutend ist der Handel
mit dem im Innern des Landes, östlich der Cascade-Gebirge
(Cascade Range) gelegenen Golddistricte, sowie mit dem
prodnctenreichen Willamettethal. Letzteres ist namentlich
auch noch durch seine ungeheuer großen rothen Aepsel berühmt,
die Alles ihrer Art auf Erden an Größe wenn auch nicht
gerade an Feinheit des Geschmacks übertreffen und einen be-
deutenden Exportartikel Portlands bilden. Zur Zeit ist die
Stadt der Haupthandelsplatz des Staates Oregon und ver-
mittelt den Verkehr dieses Goldkindes vom Oncle Sam so-
wie der benachbarten Territorien Washington ltnb Idaho mit
San Francisco und der äußern Welt.
Um mich den in amerikanischen Handelsverhältnissen Un-
eingeweihten durch Zahlen verständlicher zu machen: — In
Portland werden alljährlich von 10 bis zu 12 Millionen
Dollars an Maaren verkauft, meistens für den Bedarf von
Oregon und Idaho. Der Handel wächst im Verhältniß wie
sich jene Länder entwickeln und sich deren Einwohnerzahl ver-
größert, welche (1865) etwa 160,000 Köpfe zählen mochte,
die sich reißend vermehren. Ein volles Drittheil dieser Ein-
wohnerzahl kommt auf das Territorium Idaho, welches vor
wenigen Jahren noch eine menschenleere Wildniß war. Was
dem Handel in diesen Ländern einen solchen Aufschwung
giebt, ist der im Verhältniß zur Einwohnerzahl enorme Con-
snm vou Waaren aller Art. Namentlich der Verbrauch von
Kleidungsstücken ist unter den biederen Goldgräbern, welche
die Mehrzahl der Bevölkerung bilden, eiu ungeheurer. Mit
weniger als zwei uagelueueu Anzügen per annum und vier
Mal so viel Unterzeug versteht es Keiner dieser Sterblichen
seine Blöße zu decken, und ein neues Paar Stiefeln für jeden
Monat oder höchstens anderthalb Monate im Jahr ist für
einen dieser Herren durchaus uichts Ungewöhnliches. Der
Maßstab europäischer Verhältnisse ist durchaus unpassend in
einem Lande, wo eine Stadt wie Portland bei einer Ein-
wohnerzahl von nur 5000 den Verkehr einer europäischen
Handelsstadt hat, die drei oder vier Mal so groß ist. Wäh-
rend diese nur die Bedürfnisse der nächsten Umgebung ver-
sieht, muß jene die einer Ländermasse liefern, deren Flächen-
räum dem von ganz Deutschland gleichkommt und deren Ein-
wohner durch ihre Verschwendungssucht ihre geringe Zahl
gleichsam verzehnfachen.
Trotzdem Portland gegenwärtig in solcher Handelsblüthe
steht, so ist seine zukünftige Größe damit noch nicht gesichert.
>westen Amerikas, namentlich in Oregon.
Die Stadt liegt, wie bereits erwähnt, in einem Seitenthale
der großen Verkehrsader des Landes, des Columbia, und die
Schifffahrt auf deu Gewässern des Willamette, namentlich
an dessen Mündung, ist durch Saudbänke sehr gehindert, so
daß es nicht unwahrscheinlich ist, daß eine am untern Co-
lnmbia neu zu gründende Handelsstadt in nicht gar langer
Zeit Portland den Rang ablaufen könnte. Sobald sich die
nöthigen Capitalisten fänden, ein solches Project tatsächlich
zu unterstützen, würde die Veränderung der herkömmlichen
Handelsroute iu einem erst sich bildenden Staate wie Oregon
binnen unglaublich kurzer Zeit zu bewerkstelligen sein. Die
Portländer lächeln natürlich mit bleichen Gesichtern über eine
solche Möglichkeit, welche ihre Stadt rniniren würde, und
manchem derselben läuft die bittere Galle vor gerechtem Aerger
über, wenn ein Fremder solche Gedanken des Hochverraths
zu äußern wagt.
Die Moral der Kaufleute dieses Entenhafens soll
durch das Handeln mit ihren Landsleuten, den sprichwörtlich
knauserigen Webfeet, gänzlich untergraben sein. Wer sich
an die gentile Kaufweise der alten calisornischen Minenarbei-
ter gewöhnt hat, denen die Ausgabe eines Zwanzigdollar-
stücks nicht halb so viel Sorge macht, als einem europäischen
Kleinstädtler die eines Fünsgroschenstücks, dem ist es aller-
dings nicht zu verargen, wenn er den sparsamen Webfeet,
die besser für Buxtehude als für Californien oder Oregon
passen möchten, im Handel manchen verzeihlichen kleinen
Schabernack spielt. Die Webtoot-Ladies sind fast noch knau-
seriger, als ihre Lords. Um eine Mrd Kattun wird oft
halbe Stunden lang gefeilscht. In neuerer Zeit haben die
das Land überflnthenden Californier diese sonst von der gro-
ßen Welt abgeschlossenen in idyllischem Naturzustande leben-
den Schwimmsüßler etwas verfeinert; aber einen honetten
Handel abzuschließen ist heute noch für einen Webfoot ein
absolutes Ding der Umöglichkeit.
Die zahllosen Kniffe, welche die Portländer Pankee-
Kaufleute sich angewöhnt haben, um ihre Landsleute trotz
deren Knauserei zu übervortheilen, sind, wenn anch nicht
Welt-, so doch oregon-berühmt:
Beim Speckabwiegen, während der Verkäufer die Stücke
von der Straße in den Store hereinschleppt, gelegentlich
einen ungewogenen Schinken die Kellerluke hinunterznwer-
sen, — Einem statt eines verkauften Paares Zwölfdollar-
Hosen aus Versehen ein Paar Zweinndeinhalbdollarhosen
einzuwickeln, wenn der Dampfer, auf dem der Käufer abrei-
seu will, bereits zum zweiten Mal gepfiffen hat, — beim
Eierkausen mit einer bewundernswerthen Fingerfertigkeit die
Eier zu handhaben, und anstatt eines halben Dutzends in
der Regel acht oder neun Eier ans einmal zu fassen und da-
bei die Dutzende und Schocks mit einer solchen Geschwindig-
keit falsch zusammenznaddiren, daß der bejammernswerthe
Eierverkäufer dem Rede- und Rechnungsfluß des Kaufmanns
gar nicht zu folgen vermag, — von falschen Gewichten, wo-
bei die Gewichte von großen Wagschalen auf kleineren benutzt
werden und goldene statt kupferner Gewichte beim Goldstaub-
wiegen sehr profitabel sind und dergleichen abgedroschenen
Kunstgriffen mehr, welche sogar die Portländer Zeitungen
öffentlich rügen, will ich hier gar nicht reden. Ob aber
mancher Webfoot, der eine Rechnung bezahlt, weiß, daß
er dabei mitunter die Jahreszahl mitbezahlt, möchte ich be-
zweifeln!
N. N. hat z. B. seine Aussteuer zur Wanderung nach
Bois« gekauft und bittet sich die Rechnung ans; da schreibt
der Verkäufer oben an nach der Begrüßungsformel zunächst
in möglichst nachlässiger Handschrift den Namen der Stadt
Portland nebst Monats- und Jahresdatum daneben, und
dicht darunter die verkauften Artikel, — z. B. wie folgt:
Theodor Kirch ho ff: Streifzüge im Nordwesten Amerikas, namentlich in Oregon.
175
Rechnung für Herrn N. N.
von
Jonathan Miller u. Comp.
Dollars.
Portland, Oregon, 1. September 18 63
1 grüne Wollendecke............ 8 00
1 brauner Sammethut........... 5 00
1 bunter Kittel.............. 7 50
1 rothes Unterhemd und dito Hofen..... 3 00
1 himmelblaues Oberhemd......... 2 50
1 Paar genagelter Cavallerieftiefel...... 3 00
I Paar Lederhandschuhe.......... 75
1 Paar Webfoot-@o<Jen, d. h. in Portland ge-
strickte Strümpfe . 50
I Paar grün- und blaucarrirter Hosen .... 10 50
1 Paar Drell-Oberhosen.......... 1 50
1 Ledergurt............... 75
1 seingezahnter Kamm........... 25
1 Schlachtermesser.................75
1 Revolver...............2100
1 Pfund Pulver............. 1 00
3 Pfund Pistolenkugelu.......... 75
1 Kästchen Zündhütchen.......... 37
4 Pfund Kautaback ............ 4 00
1 Arkansas-Zahnstocher (Bowie Ivnife) - . 2 00
96 75
Beim Addiren wird die Jahreszahl, wie bei obigem
Documente, ganz einfach mitgezählt, was bei einer längern
Rechnung nach dem Decimalfystem, wo die Jahreszahl 1863
für 18 Dollars und 63 Cents stünde, nicht leicht auffallen
wird. Sollte der Rechnungsfehler dennoch bemerkt werden,
so ist er natürlich weiter nichts als ein Versehen gewesen,
welches jedem ehrlichen Manne Yassiren könnte, und das der
Verkäufer mit Vergnügen wieder gutmacht. Wie bereits
erwähnt, die sprichwörtliche Rechtschaffenheit der Portländer
schließt selbstverständlich jeglichen Verdacht absichtlichen Be-
trnges aus. Der Verfasser hat diesen feinen Juduftriekniff
auch nur als Fingerzeig für „rechtschaffene" einwandernde
Yankees mitgetheilt, dannt sich dieselben vor dergleichen Schel-
mereien iu den Goldlanden in Acht nehmen können.
Am folgenden Morgen hatte sich das Wetter bereits wieder
geändert, der Himmel war mit einem undurchdringlichen Grau
überzogen und es regnete, als ob Jupiter Pluvius alle seine
Schleusen aufgethan, um die Verfäumuiß vom vorigen Tage
wieder gut zu machen. Von meinem Fenster ans sah ich
lange dem Regen zu, der lustig auf dem Holzpflaster herum-
plätscherte, und beobachtete die schirmlos iu Schaaren die
Straße auf und ab wandernden Portländer. Vergebens hoffte
ich, daß der Regen aufhören sollte. An den vergnügten
Mienen der Schwimmfüßler erkannte ich, daß dazu keine
Hoffnung vorhanden sei. Ich entschloß mich daher, mich
möglichst schnell iu eiu trockueres Land zu versetzen.
Bald erfuhr ich. daß noch an demselben Nachmittag ein
kleiner Flußdampser nach der Stadt Vaucouver gehe, vou
wo aus ich an: folgenden Morgen auf einem größern Dampf-
boote den Columbia weiter hinauffahren könnte, welche Ge-
legenheit ich denn auch sofort zn benutzen beschloß.
Ich wanderte am 24. September Nachmittags um drei
Uhr unter plätscherndem Regenguß an die Landungsbrücke
und begab mich au Bord eines Diminutiv-Dampfers, der
ungefähr die Größe eines der Rettungsboote des „Great
Eastern" hatte; — und bald darauf ging's unter einem wah-
ren Süudfluthsregeu den Willamettefluß wieder hinunter.
Bald lag die Mündung des Willamette hinter uns und
tapfer arbeitete unser kleiner Dampfer gegen die Wassermassen
des großen Nordwest-Stroms. Die riesigen Waldungen au
den Ufern des stattlichen Columbia, der hier ungefähr so breit
ist, wie der obere Mississippi, aber weit schöner und mit
hohen, schilflosen Bänken, aus denen majestätische Bäume —
nicht verworren durch einander geworfene, halb verwitterte
Baum- und Rohrmassen wie beim Vater der Flüsse — sich
bis dicht ans Ufer drängen, wurden bei dem abwechselnden
Regen und Sonnenschein prächtig beleuchtet. Von dem Au-
genblicke unserer Einfahrt in den Columbia, bis wir das sechs
englische Meilen weiter oberhalb am rechten Stromufer gele-
gene Städtchen Vanconver erreichten, stand ein flammender
doppelter Regenbogen über den Cascade-Gebirgen gerade vor
uns am pechschwarzen Himmel und überwölbte gleichsam deu
breit darunter hinströmenden Columbia, iudeß rechts und links
von uns finstere Schatten und helles Sonnenlicht sich geister-
hast über die dunkelgrünen Wälder jagten.
Mitunter, jedoch nur selten, sahen wir die gewaltigen,
mit blendend weißem Schnee bedeckten, isolirt dastehenden
Kuppen des Monnt Ho od (nach Dana 15-bis 16,009, nach
Congreve 18,316 Fuß hoch über der Meeresflache und nach
der Angabe A. v. Hnmboldt's zuerst im Jahre 1853 von
Lake, Travaillot und Heller erstiegen) und Mo mit St. He-
lens (etwa 14,000 Fuß hoch), die in silberner Pracht ans
dem dunkeln Gewühle der Wolken hervortauchten. Wie Schild-
wachen, aus der Ebene bis über das Wolkengewimmel in den
Himmel emporragend, stehen diese Bergesriesen etwa dreißig
englische Meilen rechts und links am Eingange des Felsen-
thales des Cascade-Gebirges da, durch welches der Columbia
dem Meer entgegenströmt, täuschen aber durch ihre riesigen
Verhältnisse das Auge so sehr, daß man sie, besonders den
Monnt Hood, ganz in der Nähe wähnt. Diese vereinzelt
dastehenden Bergriesen, denen nach Norden Monnt Rai-
uier und Baker und nach Süden Mount Jefferson,
Three Sisters und Shasta Butte fast auf demselben
Längengrade folgen, siud eilte dieser Küste eigentümliche,
seltene Bodenformation, welche ans eine vnlcanische Hebung
schließen läßt. Nicht wie bei anderen Gebirgen erheben sich
diese Bergriesen als höchste Gebirgsziuuen mit davor liegenden
Höhenzügen, die sich allmälig ernporthürmeu. Direct steigen
sie aus der Ebene empor und gewähren dem Auge den im-
posanten Anblick einer ununterbrochen über 15,000 Fuß hoch
isolirt aufsteigenden schnee- uud eisbedeckten Gebirgsmasse.
Der einer kolossalen Schneepyramide ähnliche Hood und
dessen weiter uördlich gelegener, knppelförmig gebildeter und
gleichfalls ganz mit Schnee bedeckter Schwesterberg St. He-
leus waren ehedem Vuleane. Letztgenannter Berg soll noch
jetzt mitunter recht unruhig sein und wars, als Fremont diese
Gegend im Jahre 1853 zum zweiten Male durchzog, einen
seinen Aschenregen aus, welcher das Land weit und breit, bis
nach Dalles hinauf, bedeckte. Auch dem friedlichem Monnt
Hood wird nachgesagt, daß das unterirdische Feuer in ihm
nur schlummere uud Manche behaupten, sie hätten Rauch-
wölken an seinem Gipfel gesehen. Von allen Bergsteigern,
die seinen Gipfel erklommen haben, wird erzählt, daß unter-
halb der höchsten Schneekuppe ein Krater liege, aus dem fast
ununterbrochen Schwefeldämpfe emporsteigen *).
*) Am 8. Octobcr dcs Jahres 1865 wurden von einer im Fort
Vancouvcr liegenden Militairabtheilung am frühen Morgen ganz
deutlich dichte Rauchwolken gescheit die vom Gipfel dcs Mount Hood
rollten. Am selbigen Tage erschütterte ein heftiges Erdbeben die
Stadt San Francisco, bei welchem die Erdwellen aus nördlicher
Richtung kamen. Aus mehreren Black Buttes — schwarzen, näm-
lich kahlen Gipfeln — einer mehr östlich gelegenen Nebcnkette der
Cascade Range stiegen am selbigen Tage Flammen und Rauchsäulen
empor, wie mir glaubwürdige Augenzeugen, die von Canyon City in
Oregon kamen, auf meiner letzt.cn Reise von Portland nach San
Francisco berichteten. Der nordwestliche Abhang des Mount Hood,
wie ich von Salem aus im Willamettethale bemerkte, war ganz von
Schnee entblößt, der, wie man mir erzählte, um dieselbe Zeit fast
plötzlich verschwunden war. Daß die vnlcanische Thätigkeit die>er
17(i
H. Birnbaum: Die neuesten Forschungen über den Magnetismus des Crdganzeit.
Einen schrecklich schönen Anblick muß diese Gegend ge-
währt haben, als noch anstatt des friedlichen Columbia Monnt
Hood und Monnt St. Helens ihre ranchenden Lavaströme
dnrch dieses Thal wälzten und die alten Bergesriesen wie
zwei ungeheure Fackeln flammend und drohend am Eingange
jener Höllenschlucht dastanden.
Unter den Indianern Oregons lebt noch eine alte Sage,
wonach die Stelle, an welcher der Columbia gegenwärtig
die Berge durchbricht und eine Reihe von Stromschnellen und
Wasserfällen bildet, ehedem von einer kolossalen natürlichen
Felsbrücke überspannt war. Monnt Hood und Monnt St.
Helens waren Mann und Frau, lebten im besten Einver-
nehmen in ihren beiderseitigen Bergschlössern und pflegten
sich über die Brücke hin gegenseitig Besuche zu machen, wäh-
rend ihre Kinder, die rotheit Männer, in ihren Canoes unter
Berge Oregons mit dem Erdbeben von San Francisco in engem
Zusammenhange stand, ist mir sehr wahrscheinlich.
der Brücke im friedlichen Columbia Lachse fingen. Aber der
eheliche Friede hatte keinen Bestand. Mann und Frau er-
zürnten sich, schleuderten sich gegenseitig ungeheure Felsblöcke
an den Kopf und machten ihrem Zorne mit göttlichen Don-
nerworten Luft. Die Brücke brach von den darüber hin- und
herrollenden gewaltigen Felsblöcken zusammen und füllte das
Bett des Stromes mit ihren Trümmern, über welche die
sonst so friedlichen Gewässer sich nun brausend einen Weg suchen
mußten. Mann und Frau haben sich seit jener Zeit nie wieder
vertragen und stehen jetzt stumm grollend einander gegenüber.
Diese Sage ist unter den verschiedenen Jndianerstämmen
von Oregon und Washington so allgemein verbreitet, daß man
sich des Gedankens kaum erwehren kann, es lägen natnrhisto-
rische Thatsachen derselben zum Grunde. Wahrscheinlich ist
unter dem Zank der Berge eine gewaltige vnlcanische Erd-
revolntion zu verstehen, welche das Bett des Stromes mit
Trümmern und Felsblöcken bedeckte und Alles drunter und
drüber warf.
Die neuesten Forschungen über den Magnetismus des Lrdganzen und die
magnetischen Observatorien.
Von Dr. H. Birnbaum.
Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts erregte Dr. God-
win Knight außerordentlich großes Aufsehen durch die An-
fertigung seiner Magnetnadeln, welche in Hinsicht der in-
wohnenden Kraft Alles übertrafen, was man bis dahin zu
Stande gebracht hatte. Bon allen Seiten strömten die See-
fahrer nach diesem weltberühmten Magnetiker, um sich von
ihm einen Compaß zu kaufen, der in Hinsicht der Empfind-
lichkeit und Zuverlässigkeit allen Anforderungen am besten
entsprach. Das Merkwürdigste iu der Sache war nun aber,
daß Knight vorgab, bei der Anfertigung seiner Nadeln gar
keinen eigentlichen Magnet in Anwendung gebracht zu haben.
Er besitze allerdings zweiMagnetmagazine von 240 magne-
tischen Stahlstäben, welche den Nadeln die Kraft gäben, aber
der den Stahlstäben eingeflößte Magnetismus sei ein freies
Geschenk der Natur, wozu weder natürliche noch künst-
Ii che Magnete mitgewirkt hätten, Er behauptete sogar, daß
er der Natur das Geheimniß abgelauscht habe, sich an jedem
Punkte der Erde solche Magazine aufs Neue anfertigen zu
können, ohne die geringste Beihülfe von schon vorhandenen
wirklichen Magneten. Mau staunte den Manu an. Das
Vorgeben seiner Leistungen stieg an das Unglaubliche. Und
dabei war Dr. Knight doch ein von der ganzen Welt ge-
achteter Ehrenmann, so daß an eine Charletanerie auch kein
Gedanke war. Man zweifelte nicht daran, daß er in der
That ein Natnrgeheimniß entdeckt haben müsse, womit er
wirklich ein solches Wunder ins Leben rufen könne. Hätte
damals der vielgenannte Schwabe Franz Anton Mcsm er
schon gelebt und geheilt, so würde man sicher in dessen thie-
rischem Magnetismus einen befriedigenden Schlüssel der Auf-
klärung gefunden haben. Denn was wäre dem jugendlich
kühnen und überall leicht fertigen Mesmerismus nicht alles
möglich gewesen zu erklären, obgleich er in sich selbst für
gewissenhafte Naturforscher stets das unerklärlichste Räthsel
war und bis aus den heutigen Tag geblieben ist. Diese
Marktschreierei konnte dem Doctor Knight nicht zu Hülfe
kommen, aber wenn dies auch möglich gewesen wäre, so
würde er sie verächtlich von der Hand gewiesen haben, dazu
besaß er einen viel zu ehrenwerthen, wahrheitsliebenden Cha-
rakter. Seine Entdeckung hatte eine viel solidere Grundlage,
davon war man überzeugt; um so mehr steigerte sich nun
aber die Spannung, sie selbst kennen zu lernen.
Da eine solche Erforschung der Natur des Magnetismus,
wenn sie wirklich, wie Knight vorgab, auf Wahrheit und
Wirklichkeit beruhte, für das gefammte praktische Seewesen
von der allergrößten Wichtigkeit war, so konnten die Män-
ner der Wissenschaft nicht gleichgültig dabei bleiben; die So-
cietät der Londoner Gelehrten war daher auch bald ent-
schlössen, den Doctor Knight zu einer sachverständigenBe-
sprechung des Gegenstandes einzuladen. Er folgte dieser Ein-
laonng ungesäumt, erklärte aber unverhohlen, daß er aus
mercantilem Grunde genöthigt sei, seine Entdeckung geheim
zu halten. Er sähe darin eine gar wichtige Erwerbsquelle,
die augenblicklich aufhören würde, in seinem Interesse zu
fließen, sobald er das Geheimniß veröffentliche. Was übri-
gens die Kunst der Anfertigung kräftiger Magnetnadeln mit
Hülfe seiner Magnetmagazine beträfe, worauf vor der Hand
das praktische Leben am meisten Gewicht zu legen habe, so
wäre er gern bereit, dieselbe an die Öffentlichkeit zu bringen,
und auch die beiden Magazine selbst wolle er zum Besten
der guten Sache dem königlichen Museum als Geschenk hin-
terlassen. Dies wurde nuu mit Dank entgegengenommen
und dabei die Hochherzigkeit gebührend gerühmt; aber man
verfehlte auch nicht zu bemerken, daß damit die Wissenschaft
selbst sich noch nicht zufrieden erklären könne, für diese sei
ja noch nicht einmal der Beweis geliefert, daß die Ent-
decknng mehr wie eine bloße Behauptung sei, daß sie in der
Thatsache auch keinen Zweifel mehr zulasse. Da war nun
Knight sogleich bereit, diesen Zweifel auf der Stelle zu be-
seitigen, und er bat sich zu diesem Zwecke ein paar unmag-
netische Stahlstäbe aus. Mit diesen begab er sich in ein
angrenzendes Nebenzimmer, blieb hier einige Minuten allein
und kam dann mit den Stäben zurück, die ganz unverkenn-
bar jetzt einen kräftigen polarischen Magnetismus zeigten.
Damit stand nun die Thatsache fest, daß er den Stahlstäben
H. Birnbaum: Die neuesten Forschung
ohne Beihülfe von schon vorhandenen Magneten Magnetis-
mns eingeflößt habe. Wie hatte er dies nun aber möglich
gemacht? — Das war eben die Frage, welche er nnbeant-
wortet ließ. Darin steckte das Geheimniß, womit er nicht
hervortreten wollte.
Als die Männer von Fach nun die Gewißheit erhalten
hatten, daß man Stahlstäbe ohne Beihülfe von schon vor-
handenen Magneten magnetisch machen könne, war es ganz
natürlich, daß man sich anstrengte, dieses merkwürdige Phä-
nomen zu erklären, aber wie stark der Scharfsinn auch ange-
spannt wurde, so dauerte es doch sehr lange, bis man der
wahren Ursache wirklich auf die Spur kam. Der Zufall
half zuletzt noch besser als alle gelehrten Grübeleien.
Etwa dreißig Jahre später kam nämlich ein Schieferdecker
zu Reaumur, dem berühmten Naturforscher zu Paris,
um sich über eine merkwürdige Erscheinung Aufklärung zu
erbitten, die er soeben an der Eisenstange gemacht habe, welche
die Wetterfahne uud den Knopf eines Thurmes getragen hatte.
Bei dem Hinabwinden dieser Stange sei es ihnen ausfallend
gewesen, wie sie sich mit ihrem untern Ende immer stark
nach Norden gekehrt habe, so daß sie zu der Vermnthung
gekommen seien, in der Stange wirke eine magnetische Kraft,
wie in der frei aufgehängten Magnetnadel, und um darin noch
mehr Gewißheit zu erlangen, hätten sie auch Eisenfeilspäne
in die Nähe gebracht, welche dann wirklich von der Stange
angezogen und festgehalten worden wären. Rsaumur
konnte die erbetene Aufklärung nicht sogleich geben, er unter-
ließ es aber nicht, sich an Ort und Stelle zu begeben, damit
er sich durch eigene Beobachtung und Versuche von der Rich-
tigkeit der Wahrnehmung überzeugen konnte. Die Sache
verhielt sich jedoch wirklich so, wie sie der Schieferdecker zur
Mittheilung gebracht hatte. Als nun Rsaumur diesen
merkwürdigen Gegenstand vor der Akademie der Wissenschaf-
ten zu Paris zur Sprache brachte, erklärten einige Sach-
verständige, wie man schon mehrfach die Erfahrung gemacht
habe, daß Eisenstangen, wenn sie Jahre lang in senkrechter
Lage erhalten wären, ganz von selbst den Magnetismus an-
genommen hätten. Die Ursache liege sehr wahrscheinlich in
dem andauernden Einflüsse des Erdmagnetismus.
Der junge Akademiker Antheaulme benutzte dies nun
zu einer streng wissenschaftlichen Untersuchung. Er ging von
dem bekannten Erfahrungssatze aus, daß das weiche Eisen
im Wirkungskreise eines kräftigen Magneten sogleich selbst
polarisch-magnetisch werde. Dürft man also die ganze Erde
als einen kräftig wirkenden Magneten ansehen, so müsse eine
weiche Eisenstange, sobald sie in eine Richtung gebracht wäre,
die der Declination und Jnclination des Ortes, oder was
dasselbe sagen wolle, dem Wirkungskreise der Achse des Erd-
Magnetismus genau entspräche, selbst zu einem polarischen^
Magnet werden. Und als er dann die Sache durch einen
Versuch prüfte, hatte er die Freude, Alles gerade so bestä-
tigt zu finden, wie er es vermuthet hatte. Die aufgerichtete
weiche Eisenstange zog an beiden Enden Eisenseilspäne an,
und stieß in dem untern Ende die Nordspitze uud in dem
obern Ende die Südspitze der Magnetnadel ab; folglich war
sie polarisch-magnetisch und trug oben den Süd- und unten
den Nordmagnetismus. Die weitereu Versuche Antheaul-
me's lehrten auch noch, daß in dem Maße als die Eisen-
stange weniger weich war, das Einflößen des polarischen
Magnetismus durch den Erdmagnetismus langsamer vor sich
ging, aber dafür auch andauernder in der Stange verblieb,
und ihn dann sogar außerhalb des bezeichneten Wirkungs-
kreises deutlich an den Tag legte Ferner ergab sich, daß
die Stange den polarischen Magnetismus in eben dem Maße
geringer zeigte, als ihre Lage von der Richtung des erdmag-
netischen Wirkungskreises abwich, und sogar gänzlich ver-
Globus XI. Nr. 6.
über den Magnetismus des Erdganzen. 177
schwand, wenn sie senkrecht zu dieser Richtung stand. In
Paris wich die Richtung derHauptachse des erdmagnetischen
Wirkungskreises, oder die sogenannte Jnclination, nur einige
zwanzig Grade von der lothrechten Lage zur Erdoberfläche ab ;
daher zeigte die Stange in dieser lothrechten Lage wohl nie
den größten aber doch immer noch einen deutlich ausgepräg-
ten polarischen Magnetismus. Damit war nun Alles er-
klärt, was sich aus die Wahrnehmung des Schieferdeckers
bezog, denn die senkrecht emporgerichtete Eisenstange war an
sich nicht ganz weich und wurde durch den Einfluß des Wet-
ters allmälig noch mehr gehärtet; das jahrelange Verharren
in ihrer Lage mußte daher auch einen bleibenden polarischen
Magnetismus in ihr erzeugen. Mit diesen Erfahrungen
machte sich Antheaulme nun auch an die Erklärung des
Knight'schen Geheimnisses. Er brachte gehärtete Stahl-
staugen in die Achsenrichtung des Erdmagnetismus; da zeig-
ten sie allerdings einen noch kaum bemerkbaren polarischen
Magnetismus, so wie er aber auf die Stangen in der bezeich-
neten Lage einige Hammerschläge ausübte, war auch der Zweck
erreicht; sie waren durch diese Erschütterung zu wirklichen
Magnetstäben geworden. Man kann sich denken, mit wel-
chem Triumph diese wichtige Entdeckung an die Öffentlichkeit
gebracht wurde. Der Seefahrer erhielt dadurch eine Vor-
schrift, sich überall auf der Oberfläche der Erde mit Hülfe
des Erdmagnetismus Magnetstäbe und Magnetnadeln zu
Stande bringen zu können, selbst wenn es ihm an jedem
andern wirklichen Magnete fehlte. In dem ganzen Gebiete
der Lehre vom Erdmagnetismus war diese Entdeckung von
der allergrößten Bedeutung. Sie sollte aber dennoch gar
bald durch eiue noch viel wichtigere Entdeckung des Erdmag-
netismus übertreffen werden. Diese wurde durch das Stre-
ben der Naturforscher veranlaßt, den ursachlichen Zusammen-
hang zwischen dem Polarlichte uud dem jedesmaligen Schwan-
ken uud Zittern der-Magnetnadel aufzufinden, worauf schon
in einem srühern Artikel*) — „der Magnetismus der Erde"
— hingewiesen worden ist.
Im Herbste des Jahres 1828 wollte der Verein der
Naturforscher und Aerzte in Berlin tagen. Alezander
v. Humboldt, der damals nach langer Abwesenheit in Pa-
ris wieder nach seiner Vaterstadt zurückgekehrt war und hier
seinen bleibenden Wohnsitz genommen hatte, wurde zum vor-
bereitenden Geschäftsführer und später zum Präsidenten der
Gesellschaft gewählt. Er bot Alles, was in seinen Kräften
lag, auf, diese Zusammenkunst recht glänzend ausfallen zu
lassen, die berühmtesten Gelehrten der gebildeten ganzen Welt
wurden von ihm persönlich eingeladen und er hatte die Freude,
von allen Seiten die bereitwilligste Zusage zu erhalten. Bei
dieser Gelegenheit wandte er sich auch an den großen G anß
in Göttingen, als den Repräsentanten der deutschen
astronomischen höchsten Gelehrsamkeit. In dem durchweg
liebenswürdig abgefaßten Einladungsschreiben sagte er unter-
Anderem: „Sie dürfen mir meine Bitte nicht abschlagen,
weil sie den innigsten Wunsch der ganzen Versammlung in
sich schließt, den hochverehrten Meister der caleulirenden Astro-
nomie, der das Wunder zu Stande gebracht hat, die Bahnen
der Planeten und Kometen in so viel Stunden zu berechnen,
als vor ihm die gewandtesten Calcnlatoreu kaum in Monaten
erreichen konnten, — der durch seine schon früh bewährte
Gewandtheit den Astronomen die verlorengegangene Ceres
wieder ausgefunden hat, — diesen angestaunten Meister von
Angesicht zu Angesicht einmal vor Augen haben zu können.
Es ist daher meine Bitte nur der Ausdruck der ganzen Ver-
sammlung, und darin liegt eine nicht zu umgehende Verpslich-
tung zur Gewährung. Ganz besonders bin ich dabei aber
*) „Globus", achter Band, zwölfte Lieferung, S. 377. ;
23
178 H. Birnbaum: Die neuesten Forschung«
persönlich interessirt, den Mann kennen zu lernen, der mein
College werden sollte bei der in Berlin nach meinem Plane
zu begründenden ecole polytechnique, welche sich der Pa-
riser würdig zur Seite stellen dürfte. Ist nun auch dieser
Plan durch das eifrige Dazwischentreten der königlichen Re-
gierung zu Hannover gescheitert, so hat sich doch die Gesin-
nung Ihrer Freunde in nichts geändert, die alle sehnlichst
wünschen, Sie hier begrüßen zn können. Alle diese Gründe
zusammengefaßt, rechne ich also sicher darauf, daß Sie kom-
men, und unter dieser Voraussetzung habe ich Ihnen auch
schon eine Wohnung in meinem eigenen Hanse ausgewählt.
Denn wenn Sie einmal hier sind, so möchte ich Sie auch
gern ganz haben und so ununterbrochen und so nahe wie
nur möglich." — Einer so freundlichen Einladung zu sol-
gen, hielt Ganß für eine unabweisbare Ehrensache. Kaum
war er aber in Berlin angekommen, so erfuhr er auch, wie
man bei der Erforschung der Gesetze des Erdmagnetismus
und dessen Ursachen auf seine scharfsinnige Unterstützung ge-
rechnet habe. Die Entschuldigung, daß ihm dies Gebiet der
Erdkunde noch ganz fremd sei, wurde nicht angenommen,
weil es dabei viel weniger auf das schon fertige Wissen über
den Erdmagnetismus ankomme, als auf das erst noch zu
erreichende, und in dieser Hinsicht ständen ihm geistige Hülfs-
mittel zu Gebote, wie sie kaum ein Anderer iu seiner Gewalt
habe. Durch die Vorträge des Dr. Wilhelm Weber,
Privatdocenten der Physik in Halle, wurde Gauß mit dem
Stande der wissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiete des
Erdmagnetismus bekannt gemacht. Sowohl diefe Vorträge
als die persönliche Bekanntschaft des jungen geistreichen Ge-
lehrten hatten für Gauß außerordentlich viel Anziehendes,
er erkannte darin fogleich ein Feld, auf dem er sich bald hei-
misch fühlen würde, und entdeckte in dem jnngenWeber eine
Persönlichkeit, die ihm in jeder Hinsicht zusagte, mit der er
gern verkehrte; ganz vorzugsweise war es ihm lieb, in dem
jungen Gelehrten auch einen tüchtig durchgebildeten Mathe-
matiker zu erkennen. Wir werden gleich sehen, welche wich-
tige Folge diese zufällige Bekanntschaft nach sich zog.
> Bei der Versammlung der Naturforscher in Berlin bil-
dete der Erdmagnetismus das Hauptthema. Durch Alexan-
der v. Humboldt und seinen Freund Franz Arago zu
Paris wurde ein Verein begründet zum Beobachten der
Magnetnadel in festgestellten Terminen. Für diesen söge-
nannten magnetischen Verein ward auch Gauß gewonnen.
Es sollte dadurch zunächst die durch Arago ausgesprochene
Vermuthung zur Gewißheit gebracht werden, daß bei jedem
Polarlichte an allen Punkten der Erde die Magnetnadel in
zuckende, zitternde und schwankende Bewegung versetzt werde.
Dazu war ein gleichzeitiges Beobachten der Magnetnadel,
aber auch zugleich ein genaues Feststellen des Eintreffens
eines jeden Polarlichtes nöthig. Dies letztere übernahmen
die für diese Beobachtung günstig gelegenen Observatorien
in Upsala und Christiania. Alle übrigen Mitglieder
machten sich anheischig, die Beobachtung mit einer von G am-
bey in Paris angefertigten Magnetnadel in den genau fest-
gestellten Terminen durchzuführen, damit eine Gleichmäßig-
keit in Hinsicht der Größenbestimmung zu Grunde läge.
Diese Nadel besaß einen ganzen Fuß Länge, trug an den
Enden zugleich noch Mikrometer, so daß man die Variatio-
nen bis auf eine Winkelminute genau feststellen konnte.
Alexander v. Humboldt hatte damals vom Kaiser von
Rußland die ehrenvolle Aufforderung erhalten, Central-
asien zu bereisen, um so viel als möglich die gesammte Na-
tnr dieses Landes zn erforschen. Bei dieser Gelegenheit bil-
dete nun das Beobachten der Magnetnadel in den festgestell-
ten Terminen eine Hauptthätigkeit, und es ergab sich aus
den gewonnenen Resultaten eine säst an Gewißheit grenzende
über deu Magnetismus des Erdganzen.
Wahrscheinlichkeit, daß die durch ein Polarlicht erzeugte Un-
ruhe in der Magnetnadel sich ganz gleichzeitig über die ganze
Erde verbreite. In Paris, Berlin, Göttingen, Ko-
penhagen, Mailand, Upsala, Ch.ristiania und in
den durch Alexander v. Humboldt gewählten Stationen
Centralasiens war zu wiederholten Malen das ungewöhn-
liche Zittern, Zucken und Schwanken ganz gleichzeitig beob-
achtet nnd stets bei dem Erscheinen eines im Norden wahr-
genommenen Polarlichtes. Der Zusammenhang zwischen
beiden Erscheinungen war also kaum in Zweifel zu ziehen.
Aber wenn man diese Thatsache auch nicht in Abrede stellen
konnte, so war man doch noch sehr weit davon entfernt, die
Ursache angeben zu können, welche beiden Phänomenen zur
Grundlage dienten. Man kannte weder vom Polarlichte noch
vom Erdmagnetismus den eigentlichen Ursprung.
Alexander V.Humboldt hat das Polarlicht ein „mag-
netisches Gewitter" genannt und damit zugleich eine An-
dentung der Erklärung dieses merkwürdigen Phänomens ge-
geben. Dabei blieb es nur unbegreiflich, wie eine magne-
tische Thätigkeit der Erde auch mit Lichterzeugung in Ver-
bindung stehen könne. Jetzt, wo wir in nnserm Wissen be-
deuteud weiter vorgeschritten sind, wo wir an eine Wechsel-
beziehung zwischen Licht, Wärme, Elektricität und Magnetis-
mns nicht mehr zweifeln können, erhält der Hnmboldt'sche
Ausspruch eine viel höhere Bedeutung. Schon Hawksbe e
hat zu Anfang des vorigen Jahrhunderts die Entdeckung ge-
macht, daß im luftleeren oder auch nur im luftverdünnten
Räume die Elektricität nicht bloß gut geleitet werde, fondern
daß sie auch leuchte und zwar in flimmernden, zuckenden
Strahlen, gerade wie bei dem Polarlichte. Dies Leuchten
im luftleeren Räume hat man in unseren Tagen auch mit
der durch Magnetismus erweckten Elektricität hervorgebracht.
Man nennt dies das elektrische Ei. Bedenken wir nun,
daß die Höhe der Polarlichtstrahlen durchschnittlich nahe an
fünf Meilen hoch gefunden ist, so sehlt es in dieser Region
auch nicht an der verdünnten Luft, welche dem Phänomen
des Leuchtens nöthig ist. In der Nähe des Südpols unserer
Erde hat man eben so häufig auch Südlichter beobachtet,
und Dalton berichtet von mehreren Beispielen, wo er in
London das Nord- und Südlicht ganz gleichzeitig wahrge-
nommen habe. Ja, man ist jetzt ziemlich allgemein der An-
ficht, daß jedem Nordlicht auch ein Süd licht entspreche,
und daß dadurch das gestörte magnetische und elektrische Gleich-
gewicht des Erdganzen wieder ausgeglichen werde. Die Haupt-
achse der Polarlichter fällt jedesmal in die Richtung der
Magnetnadel, also fast immer verschieden von der Achse der
Erde. Ungleiche Erwärmung erzeugt Elektricität, und nach
Faraday's scharfsinniger Forschung wird immer durch Elek-
tricität auch Magnetismus erweckt, sowie durch Magnetismus
tmch stets Elektricität ins Leben gerufen wird. Dies Alles
zusammengefaßt führte zu der Ueberzeugung, daß die Sonnen-
wärme die Erde und ihre Atmosphäre fortwährend elektrisch
und magnetisch mache und zwar so, daß da, wo die größte
Wärme erzeugt würde, auch die stärkste Elektricität vorkomme,
und daß da, wo die größte Kälte sei, auch der Maguetis-
mns am meisten vorwalte. Das Ganze ist allerdings noch
Hypothese, aber doch schon eine solche, welche sehr viel Wahr-
scheinlichkeit für sich hat. Wir wollen nun sehen, wie die
weiteren Forschungen der Gelehrten die Faraday'sche An-
sicht immer mehr bestätigt haben. Dazu müssen wir un-
sere Aufmerksamkeit wieder auf Gauß und Weber lenken,
welche in ihrer wissenschaftlichen Vereinigung ganz neue Eut-
deckungen gemacht haben, welche von der ganzen denkenden
Welt angestaunt worden sind.
In Göttingen.war der Lehrstuhl der Physik durch den
Tod von Johann Tobias Mayer erledigt. Durch Gauß'
H. Birnbaum: Die neuesten Forschung
besondere Fürsprache ward derselbe 1831 wieder durch Wil-
Helm Weber besetzt. Zwischen beiden Männern bildete sich
nun sogleich ein wissenschaftliches Freundschaftsband, und so
innig und folgenreich, wie kaum ein anderes bestanden hat.
„Eines Tages," erzählt W. Sartorins v. Walters hau-
sen in der Biographie Ganßens, „es war noch im Winter
1832, trat ich zufälligerweise iu die Sternwarte; Gauß
lehrend und mittheilend, wie immer, nahm eine kleine Bous-
sole zur Hand und zeigte mir an allen eisernen Stangen,
welche die Fenster verschließen, daß sie durch die Einwirkung
des Erdmagnetismus selbst zu Magneten geworden waren.
So wie eine Lawine, durch einen kleinen an eine Bergwand
fallenden Stein plötzlich in Bewegung gesetzt, zu ungeheurer
Größe anschwillt, mächtig genug, um Thäler zu sperren und
Gletscherströme aus ihrem frühern Laufe zu verdrängen, so
wuchsen aus jenen einfachsten Versuchen durch Ganßens schö-
pferifche Kraft jene bewundernswürdigen Forschungen hervor,
die ganz unerwartet eine Straße verließen, die man seit Jahr-
Hunderten zu betreten gewohnt war, um aus einer neuen Bahn
der neubelebten Wissenschaft eine endlose Perspective für
die Zukunft zu eröffnen. Das Magnetometer in feiner ge-
genwärtigen Gestalt kam sehr bald in den Gebrauch, und
schon im Herbst des Jahres 1833 übergab Gauß der So-
eietät seine Abhandlung über die Bestimmung der absoluten
Intensität des Erdmagnetismus. Im folgenden Frühjahr
begann man, nachdem durch Gauß' und A. v.Hnmboldt's
Aufmunterung ein magnetischer Verein gebildet worden war,
an den früher schon vom letztgenannten großen Naturforscher
festgesetzten 4Mündigen Terminen die Variationen der De-
clination zu beobachten. Die correspondirenden mit Instru-
menten derselben Art angestellten Beobachtungen liefen bald
von Norden und von Süden ein, und führten zu der merk-
würdigen Erfahrung, daß die den täglichen Gang der Mag-
netnadel störenden Kräfte ganz gleichzeitig einwirkten, — ein
Resultat, welches zwar fchon vermnthet worden war, das aber
in dieser Allgemeinheit und Präcision alle Physiker im höchsten
Grade überrascht hat."
Das Gauß'sche Magnetometer, mit dessen Hülse dies
wunderbare Resultat allein hat gewonnen werden können, ist
nun folgendermaßen eingerichtet. Es gehört zu demselben
eine mehrere Pfund schwere parallelepipedische Stahlnadel,
welche an einer ungedrehten Schnur aus Seideucocousäden
horizontal aufgehängt worden ist. Ihr eines Ende trägt
einen kleinen Planspiegel, welcher senkrecht zu ihrer Achse ge-
richtet ist. Ans diesen Spiegel ist 15 Fuß von dem Unter-
stütznngspnnkte entfernt ein Fernrohr gerichtet, durch welches
man von einer unter ihm angebrachten, in Zolle und Linien
eingetheilten Scala das Spiegelbild beobachten kann , so daß
also die geringste Schwankung in der Nadel auch ein merk-
liches Verändern der Lage des Spiegelbildes zur Folge hat;
ähnlich wie bei den Schwankungen eines Stubenspiegels alle
abgespiegelten Gegenstände in Bewegung versetzt zu sein schei-
nen. Das beobachtende Auge sieht nun nach katoptrischen
Gründen und wie Jeder aus Erfahrung weiß, das Spie-
gelbild eben so weit hinter dem Spiegel, als der betreffende
Gegenstand selbst davor liegt; daher wird man auch bei dem
Magnetometer die abgebildeten Scalentheile in 30 Fuß
Entfernung vom Auge sehen, wenn sie wie das Fernrohr
15 Fuß vom Spiegel abstehen. Die Winkelbewegungen der
Magnetnadel werden daher im Fernrohr zwischen 30 Fuß
laugen Radien beobachtet, während sie bei den Gambey'-
schen Nadeln sich nur auf Radien von 1/2 Fuß bezogen.
Folglich gehören die bei den Schwingungen der Ganß'schen
Nadel wahrzunehmenden Grade, Minuten und Secnnden
einem 60 Mal größern Kreise an, als die bei der Gam-
bey'schen, es läßt sich daher auch 60 Mal genauer beobach-
über den Magnetismus des Erdganzen. 179
ten. War es also möglich, mit der Gambey'schen Nadel
die Schwingungen bis auf eine Minute genau zu messen,
so mußte das Gauß'sche Magnetometer die Messung bis aus
eineSecnnde genau geben. Das ist aber eine Genauigkeit,
welche den strengsten astronomischen Beobachtungen zur Seite
zu stellen ist. Außer diesem Vorzuge ist dann die verhält-
nißmäßig große Entfernung des Beobachters von der Magnet-
nadel der Sache um ebenso viel günstiger, als die gar
große Nähe bei der Gambey'schen Nadel ihr ungünstig ist.
Der Gauß'sche Apparat kann ohne große Vorkehrungen
eben so gut bei Nacht als bei Tage gebraucht werden, wäh-
rend der Gambey'sche nur mit Nachtheil und Unsicherheit
bei Licht seine Anwendung findet.
Zu den ersten Versuchen, welche Gauß und Weber
mit diesem Magnetometer anstellten, wurde nicht weit von
der Göttinger Sternwarte ein besonderes magnetisches Ob-
servatorinm erbaut, wobei zur Abwehr aller störenden Neben-
einslüsse gar kein Eisen in Anwendung kam, sondern überall,
wo man ohne Metall nicht fertig werden konnte, sich des
Kupfers bediente. Die im Innern aufgehängte Magnet-
nadel war sehr kräftig, betrug aber das verhältuißmäßig
sehr große Gewicht von 20 Pfund, und dies besonders aus
dem Grunde, um das Drehnngsmoment zu erschweren, damit
zufällige kleine Luftbewegungen so wenig wie nur möglich
einwirken konnten, und der Erdmagnetismus ganz allein nur
auf die Nadel einwirkte. Die Beobachtungen zeigten dann
eine ununterbrochene Schwankung der Magnetnadel, aber
zugleich eine sehr große Verschiedenheit in dieser bestän-
digen Bewegung, woraus also folgte, daß der Erdmagnetismus
fortwährenden Veränderungen unterworfen war, denn nur durch
feinen Einfluß wurde die Nadel in Bewegung gefetzt. Da
sich durch Versuche ergab, daß das Vorhandensein von Eisen
in der Nähe der Nadel ihren Gang nicht wesentlich störte,
sobald dasselbe nur unveränderlich fest auf seinem Platze ver-
harre, so entschloß man sich, noch ein zweites Magnetometer
in dem astronomischen Observatorium einzurichten, wobei aber
die Magnetnadel zu noch besserer Abwehr aller zufälligen
Störungen das Gewicht von 25 Pfund besaß. Die Beob-
achtnngen an beiden Apparaten stellten aber sogleich die wnn-
derbare Wahrnehmung heraus, daß alle Bewegungen
beider Nadeln auf dasGeuaueste mit einander har-
mouirteu, daß jede Aeuderung in dem Gange der
einen sich in der andern ganz gleichzeitig zeigte
und auf dieselbe Weise. Daraus schlössen sie nun schon,
daß in beiden Nadeln der Erdmagnetismus allein, aber ans
dieselben in stets veränderlicher Art thätig war. Ja es tauchte
in ihnen schon die Vermnthnng auf, daß die Nadeln auch
in größerer Entfernung den harmonischeu Gang der Varia-
tionen zeigen würden, und sie hatten keinen größern Wunsch,
als daß diese Wahrscheinlichkeit durch wirkliche Beobachtung
bestätigt werden möchte. Dazu war es nöthig, daß auch an
recht vielen anderen Orten ähnliche Magnetometer einge-
richtet und gleichzeitig mit ihnen beobachtet wurden. Hierzu
bot man in Paris, Kopenhagen, Mailand, Leipzig
und mehreren anderen Orten bereitwillig die Hand. Und
in kurzer Zeit war der früher von Alexander v. Hnm-
boldt ins Leben gerufene Verein mit dem von Gauß und
Weber begründeten neuen zu einem einzigen verschmolzen,
wobei man aber statt der Gambey'schen Magnetnadel
nun das Gauß'sche Magnetometer zu Grunde legte und
daher auch viel genauere Resultate erzielte. Wo man nun
aber auch auf _ der Oberfläche der Erde beobachten mochte,
überall kamen in derselben Zeit ganz genau dieselben Varia-
tionen in den Schwingungen der Magnetnadel vor, alle
Nadeln waren unaufhörlich in Bewegung, aber
ganz harmonischen einer und derselben Weise, als
23*
wmm
Beobachtete Variationen der Magnetnadel in Kopenhagen und Mailand mit Hülfe des Gauß'schen Magnetometers.
1834. November 5 und 6.
Anmerkung: Auf Kopenhagen beziehen sich die obere Linie, der Scalenschlüssel links und die Uhrzeit oben, auf Mailand die untere Linie, die Scalentheile rechts und die Uhrzeit unten.
Die Mailänder Uhrzeiten sind 15 Minuten kleiner als die von Kopenhagen.
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Ein neues Project zur Durchstechung der Landenge von Darren.
181
feinere Windungen als die elftere erhalten hat. Da übrigens
Mailand 3% Grad westlicher als Kopenhagen liegt, so
war dort die Beobachtungszeit 33/4mcil 4 Minuten oder 15
Minuten früher als hier, welches in unserm graphischen Bilde
ebenfalls noch zu berücksichtigen ist. Der Anblick der beiden Cur-
ven gewährt aber sogleich die Ueberzeugnng, daß der Haupt-
gang der magnetischen Variationen an beiden Orten ein ganz
harmonischer ist, daß also der Einfluß der erdmaguetifchen
Kraft ein ganz gleichzeitiger und gleicher gewesen sein muß. Die
scheinbaren kleinen Ungleichheiten sind viel weniger der Kraft
selbst zuzuschreiben, als der Ungleichheit der Maßgrundlage.
Die vou allen Seiten eingegangenen Beobachtuugsresul-
täte zeigten denselben harmonischen Gang, wie wir ihn für
Kopenhagen und Mailand zur Anschauung gebracht ha-
ben, um so überraschender mußte es daher sein, als auf ein-
mal von Marburg eine Beobachtnngstabelle einlief, welche
gar nicht mit den übrigen in Einklang zu bringen war.
Ganß und Weber vermutheten sogleich, daß in dem Mar-
burger Magnetometer irgend eine fehlerhafte Einrichtung
vorkommen müsse und schrieben daher an Professor Gerling,
der die Beobachtungen gemacht und das Magnetome^er ein-
gerichtet hatte. Die Antwort aus dieses Schreiben fiel nicht
recht befriedigend ans, denn sowohl der Apparat als die Me-
thode der Beobachtung war ganz genau so durchgeführt, wie
es Gerling bei seinem großen Lehrer Ganß in Göttin-
gen durch unmittelbare Anschauung zum geistigen Eigenthum
gebracht hatte. Da entschloß sich Ganß zu einer Reise nach
Marburg, um die Sache auf das Sorgfaltigste zu unter-
suchen. Anfangs konnte auch er nicht den geringsten Fehler
entdecken. Das Magnetometer war ganz nach Vorschrift
richtig eingerichtet, und ebenso konnte man an der Beobach-
tnngsmethode irgend etwas Fehlerhaftes finden. Ganß war
schon im Begriff wieder abzureisen und den vorkommenden
Fall als eine Ausnahme von der allgemeinen Regel den
Mitgliedern des magnetischen Vereins zu melden, zu der man
bisher noch keine Ursache habe auffinden können. Da warf
er zufällig uoch einen prüfenden Blick in den Kasten, welcher
die Nadel als Schutzhülle umgab, und entdeckte darin ein
feines Spinnengewebe, welches der freien Schwingung der
Magnetnadel sich behindernd in den Weg gestellt hatte. Da-
mit war nun auf einmal das unerklärliche Räthfel gelöst,
und es konnte natürlich jetzt nicht mehr von einem Ausnahme-
falle der allgemeinen Regel gesprochen werden. Der Ver-
ein erhielt rasch seine beobachtenden Mitglieder in Amerika,
Afrika, Asien, überhaupt auf dem ganzen Erdenrund, aber
von allen Punkten führten die Beobachtuugsrefultate zu der
festen Ueberzeugnng, daß die ganze Erde nur eine ein-
zige magnetische Kraft in sich trage, wie eine ein-
zige Kraft der Schwere, daß ihre Wirkung auf die
horizontale Magnetnadel allerdings nnnnterbro-
chenen Variationen unterworfen sei, daß aber diese
Aenderungen ganz gleichzeitig und ganz Hanno-
nisch seien.
Dove in Berlin hat uns einen sehr geistreichen Schlüs-
sel zu den Variationen der Magnetnadel gegeben. „Da
die östlichen Gegenden der Erde des Morgens früher und
stärker als die westlichen erwärmt sind, so müssen diese solg-
lich eine stärkere Anziehung ausüben, und es muß daher die
Nadel sich nach Westen bewegen, am Nachmittage aber, wo
die entgegengesetzten Wärmeverhältnisse stattfinden, nach Osten
zurückkehren. Ebenso erklärt sich nun leicht, warum die Va-
riatioueu im Sommer beträchtlicher sind, als im Winter, da
auch im Sommer die Wärme größeren Schwankungen, als im
Winter unterworfen ist." — Dadurch ist nun allerdings schon
Etwas zur Aufklärung der Aendernng der magnetischen Kraft
des Erdganzen gegeben, aber es bleibt dabei doch noch Vieles
unerklärlich, es fehlt uns noch an einem Alles aufklärenden
Principe der erdmagnetischen Thätigkeit, wie wir ein
Princip der allgemeinen Gravitation durch Newton
haben. Dahin streben die Männer der Wissenschaft, und es
fehlt uns nicht an der Hoffnung, daß dies auch noch erreicht
werden wird. Dazn gehört allerdings ein zweiter Newton.
cSin neues Mozect zur Aurchstechung der Fandenge von Darier
Seitdem Alexander v. Humboldt eine Anzahl von Punk-
ten nachweisen zu können vermeinte, auf welchen ein int er-
oceanifcher Canal zur Verbindung der Südfee mit
dem AtlautifchenWeltmeer ausführbar sei, hat man den
Gegenstand nicht mehr aus den Augen verloren. Der be-
rühmte Mann blieb bis an sein Lebensende dabei, daß man
schon einmal eine Depression der Gebirgskette auffinden müsse,
welche der Anlage einer solchen Wasserstraße keine unüber-
steiglichen Hindernisse entgegensetzen werde, und er hatte sich
in seinen Lieblingsgedanken so sehr hineingearbeitet, daß er
selbst eine Atrato-Truaudo-Linie für ausführbar hielt. So
weit bis jetzt Untersuchungen und Vermessungen angestellt
wurden, sind die Ansichten Hnmboldt's nicht bestätigt wor-
den und die Erforschungen der Landenge durch Codazzi,
Gisborne, Strain, Pr6vost, Bonrdiol, Flachat und
Andere haben zu gar keinem irgendwie praktischen Ergebnisse
geführt.
Ein für große Seeschiffe fahrbarer Canal dnrch Central-
amerika wäre allerdings für den Weltverkehr von ganz nn-
berechenbarer Wichtigkeit, und es begreift sich, daß die seefah-
renden Nationen immer und immer wieder auf die Sache
zurückkommen. Die Bemühungen, einen Snezeanal herzu-
stelleu, geben ohnehin einen neuen Antrieb, obwohl die Voll-
endnng dieser Wasserstraße noch weit entfernt liegt. Was
bis jetzt dort geschehen ist, kann trotz aller französischen An-
preisnngen immer nur erst als ein Anfang betrachtet werden.
Ueber den Canal selbst und dessen Brauchbarkeit und Ertrag-
sähigkeit wird sich erst ein Urtheil fällen lassen, wenn er für
große Seeschiffe fahrbar ist, nachdem die weit ins Meer
hinauszubauenden Hafendämme an beiden Enden hergestellt
sind und sobald durch eine jahrelange Erfahrung ermittelt
worden ist, daß der Canal nicht versandet. Ueber die Ren-
Labilität läßt sich ohnehin im Voraus gar nichts Sicheres
aufstellen.
Wie dem aber auch fein möge, die Anstrengungen für
den einen wie für den andern großen interoceanifchen Canal
sind löblich. Es liegt für eine Zeit, welche sich, wie die
unsere, in kolossalen Unternehmungen gefällt und manche
derselben mit entschiedenem Erfolge durchgeführt hat, ein
prickelnder Reiz darin, jene Schranken zu durchbrechen, die
das feste Land zwischen den großen Weltmeeren aufgeworfen
hat. Man steift sich nun einmal darauf, mit einem und
demselben Schiffe rund um den Erdball zu steuern und eine
solche Fahrt in einhundert Tagen zu machen.
182 Ein neues Project zur Durchsd
Wir lesen soeben in einem Berichte der „Allgemeinen
Zeitung" aus Panama vom 23. Januar 1867, daß Nord-
amerikaner wieder einmal das Project eines Darien-Ca-
nals verfolgen. Der Berichterstatter, ein offenbar sehr ver-
ständiger Mann, schreibt:
„Die Nordamerikaner haben ihre Blicke zunächst Wieder-
aus den Isthmus von Panama, nicht auf Tehuautepec
oder Nicaragua gerichtet, trotz des verlockenden Vermefsnngs-
resultatig, welches der französische Schwindler Felix Bellt)
zwischen dem Nicaragua-See und der Salinas-Bai gesunden
haben will. Seit einigen Tagen verweilt hier eine Expe-
dition nordamerikanischer Ingenieure unter der Lei-
tnng Herrn Davidson's, welche im Auftrage der Regierung
von Washington das Gebiet der Provinzen Danen und Pa-
nama nochmals zu dem erwähnten Zweck untersuchen uud
Nivelliruugeu zwischen den beiden Oceanen an neuen noch
nicht erforschten Punkten vornehmen soll.
Nach den Instructionen des Contreadmirals Davis, der
sich im Auftrage des Präsidenten Johnson sehr eingehend
mit diesem wieder anstauchenden Riesenproblem beschäftigte,
und eine neue Broschüre darüber veröffentlicht hat, soll die
Expedition vor Allem drei Linien in Angriff nehmen: 1) die
Linie über Chepo zwischen der Mündung des Rio Ba-
yano und dem Golf von San Blas, dem schmälsten,
aber am wenigsten Erfolg versprechenden Theil des Isthmus;
2) die Linie vom Golf von San Miguel an der paci-
fischen Seite nach der Caledonia-Bai. Dorthin locken
immer wieder die schönen Naturhäsen an beiden Weltmeeren,
aber die viel ersehnte Depression der Cordillere in dieser Rich-
tung blieb bis jetzt immer mehr ein frommer Wunsch als
eine wirkliche Entdeckung, obwohl einige französische und eng-
tische Abenteurer, welche das Gebirge Danens niemals wirk-
lich überschritten, uns von deren Existenz sehr viel vorgelogen
haben. Endlich 3) die Linie vom Golf von San Miguel
oder von Puerto Quem ad o an der äußersten Südgrenze
Dariens nach dem Golf von Uraba.
Obwohl man von dieser mit bedeutenden Mitteln ans-
gerüsteten Forschungsexpedition neuerdings wieder große Er-
Wartungen hegt, sind wir doch fest überzeugt, daß de-
ren Resultate weder den Hoffnungen der National-
ökonomen undHandelslente, noch selbst den wissen-
schaftlichen Anforderungen der Geographen genü-
gen werden. Das heißfeuchte entnervende Klima, der dichte
Urwald und das weglose Gebirge sind furchtbare Hindernisse,
welche Europäer und Nordamerikaner, auch wenn sie vom be-
sten Eifer beseelt den Isthmus betreten, bei diesen Expeditionen
bisher noch immer unterschätzt haben. Als Vasco Nuüez de
Balboa vor vierthalbhundert Jahren jenen ewig denkwürdigen
Zug durch Darien unternahm, der zur Entdeckung des Stillen
Weltmeeres führte, war diese Provinz noch ziemlich stark bevöl-
kert. Jetzt ist das Innere eine menschenleere Wildniß, und
man kann nicht mehr wie zur Zeit der spanischen Herrschast
Indianer als Pfadfinder und Lastthiere pressen. Unterstützung
von den farbigen Ansiedlern am Golf von San Miguel,
meist Mulatten und Zambos, darf die nordamerikanische Ex-
pedition selbst bei sehr hoher Bezahlung der gemietheten Leute
nur in äußerst geringem Grade erwarten. Noch größere
Schwierigkeiten hat eine Ueberschreituug der Landenge von
Chepo, deren farbige Bewohner nicht nur große Faulleu-
zer, sondern auch die verworfensten Gauner und Spitzbuben
des ganzen Jsthmusstaates sind."
So weit der Bericht aus Panama, und wir können dem,
was er in Betreff der Ausführung sagt, nur nnsern Beifall
geben. Er hätte an die Erfahrungen und Leiden des nord-
amerikanischen Lieutenants Strain erinnern dürfen, welche
seinen Ausspruch durchaus bestätigen.
ung der Landenge von Danen.
Er erwähnt auch französischer Untersuchungen und deutet
damit wohl auf jene, die in der jüngsten Zeit von Flachat
und Bourdiol angestellt worden sind; man kann aber diese
beiden Mäuner nicht wohl als Abenteurer bezeichnen. Der
erstere, Civilingenienr auf Guadeloupe, stellte seine Unter-
suchungen im November 1365 an und gelangte auf dem
Rio Grande del Darien, der anchTuyra heißt, zunächst
nach Pinogana, das etwa mittewegs zwischen beiden Ocea-
nen liegt. Dort konnte er keine Indianer miethen, weil sie
fast alle in den Wäldern waren, um Kautschuk zu sammeln.
Er begab sich dann auf die Loma (d. h. Hügel) Don Jnlio
und ließ Bäume fällen, oder vielmehr fällte dergleichen mit
eigener Hand, um iu der Waldöde wo möglich einen freien
Blick zu gewinnen. Nach einigen Tagen ruderte erdenTuyra
wieder aufwärts; er fand in demselben viele Stromschnellen
und das Wasser wnchs rasch. Dann bestieg er einen andern
Hügel von etwa 87 Fuß Höhe über dem Niveau des Stro-
mes und überzeugte sich, daß in dieser Richtung ein Canal
zu den unmöglichen Dingen gehöre. Der Fluß strömte in
einem äußerst unebenen Gelände; unweit vom Hügel lag
eine kleine Hochebene, und von derselben, welche mindestens
300 Fuß über dem Meere liegt, stieg ein Gebirge auf. Nach
Südsüdost dagegen schien die Bodengestaltung günstiger zu
sein und Flachat vermuthete dort einen Einschnitt der Cor-
dillere. Er ging nach Pinogana zurück und fuhr am 8. De-
cember wieder den Tnyra hinauf; er hatte das Fieber, kam
an die Mündung des Nebenflusses Pumufa, ruderte eine
Strecke weit auf demselben, mnßte aber umkehren, denn die
Indianer wollten nach Hanfe. Doch war er bis an den
Fuß einer Einfenknng in der Cordillere gekommen. Was
weiter hin ist oder liegt, hat er nicht gesehen. (Nouvelles
Annales des voyages, October 1866. S. 96.)
Flachat schildert dann die Landschaft und die Bodengestal-
tnng. Darien ist, ihm zufolge, ein Becken von sehr unregel-
mäßiger Gestalt und auf allen Seiten von Gebirgen und hohen
Hügeln umschlossen. Der niedrigste Theil liegt westlich von
Realo de Santa Maria und erstreckt sich am Rio grande
del Chncnnaqne nach Javisa hin, und in dieser Richtung
läuft das Thal aus zumTuyra und in den Golf von San
Miguel vermittelst der Boca chica und Boca grande. Der
Strom ist sehr reißend und sein Bett ungemein veränderlich.
Das Land ist nur in den niederen Theilen an den Ufern des
Chncunaqne und des Tnyra bewohnt. Der Golf von San
Miguel ist geräumig und tief, aber die Rhede nicht ge-
schützt und bei West und Nordwest sehr gefährlich. Vom Golf
aus gelangt man in den südlichen Hafen von Darien, wel-
cher von der Mündung des Tnyra gebildet wird, vermittelst
der beiden eben genannten Bocas. Die nördliche ist durch
eine Insel gesperrt, die als Barre vorliegt. Die Boca chica
ist selbst bei Tiefebbe zugänglich, aber die Gezeiten sind sehr
gefährlich.
Im Norden des Tnyra-Aestuariums mündet der Rio
Savana, der eigentlich eine tiefe Bucht ist, in welche der
Rio Lara und der Rio del Principe fallen, die über
Ebbe- und Fluthbereich nicht schiffbar sind. Zwischen dem
Savana und dem Chucunaque liegen hohe Hügel, welche eine
Wasserverbindung zwischen beiden unmöglich machen. Bour-
diol dagegen behauptet eine solche Möglichkeit. „Man kann
einen Canal von der Mündung des Lara in den Savana
bis zum Chucunaque graben und zwar bis etwas unterhalb
des Punktes, wo der Sncubti in diesen letztern einmündet.
Derselbe würde 12 Kilometer lang sein und der Niveau-
unterschied, der vermnthlich nur 44 Meter beträgt, müßte
durch 10 Schleusen und eine Ausgangsschleuse aus-
geglichen werden." — Man sieht leicht, daß ein interocea-
nischer Canal mit 11 Schleusen ein höchst unbequemes Ding
Friedrich Ewald: Land und Leute im Oldenburgischen.
183
sein würde. Ein anderes Project möchte die ganze Mün-
dung des Tnyra durch Schleusen nnd Abdämmungen ganz
schließen. Doch wir gehen ans solche Phantasien nicht weiter
ein. Man tappt eben noch immer völlig im Ungewissen;
jeder will eine Depression in der Cordillere von nur
450 oder 23V Fuß Meereshöhe bemerkt haben, aber Nie-
mand hat eine solche nachgewiesen, und daraus kommt
es eben an. Wir wollen nun abwarten, was die Nordame-
rikaner ausrichten nnd ob sie glücklicher sein werden, als vor
ihnen ihr Landsmann Strain. A.
Land und Leute im Hldenburgischen.
Von Friedrich Ewald.
Die alten Stedinger und die freien Friesen. — Gegensatz von Marsch und Geest. — Anbau der Heide. —
Der Marschbauer, dessen Haus, Heimwesen und Dienerschaft. — Die Viehzucht im
Moorbrennen und Höhenrauch.
Adenburgischen.
Als im Jahre 1853 Preußen den bekannten Kriegshafen-
vertrag mit Oldenburg abschloß uud an dem Jadebusen die
Bedingungen zu einer gedeihlichen und kräftigen Entwickclung
seiner jungen Mariue fand, da ward das Ländchen, an dessen
Existenz man im lieben deutschen Vaterlande bislang gar
wenig gedacht hatte, plötzlich zu einer ungeahnten Wichtigkeit
erhoben, aber nur, um fast eben so rasch wieder der Ver-
gessenheit anheimzufallen. Die Bauten am Jadebusen, so
großartig und umfassend sie auch sein mögen, sind doch im-
mer nur noch in ihren Anfängen begriffen und darum wenig
geeignet, die Aufmerksamkeit des großen Publieums auf sich
zu ziehen. Bis zur Stunde aber führen noch die Schienen-
stränge des deutschen Eisenbahnnetzes zur Rechten und zur
Linken an Oldenburgs Grenzen vorbei und hätten uicht die
neuesten politischen Ereignisse ein Helles Streiflicht auf das
Land geworfen, wahrscheinlich würde es denen „im Reich"
immer noch die ultima Thüle sein, an das man, wenn über-
Haupt je. mit völliger Gleichgültigkeit, wie an einen außerhalb
der Welt belegenen Posten dachte.
In alten Zeiten scheint es anders in dieser Beziehung
gestanden zu haben. Führten doch, wie uns die Chronisten
melden, die Grasen von Oldenburg den Titel „des Hei-
ligeu Römischen Reiches Baumeister an der See-
kanten", weil, wie erklärend hinzugefügt wird, „durch die
Eindeichungen gleichsam ein Grund gelegt sein möchte, dem
tobenden Meere einen größern Abbruch zu thnn, viel mehr
Lands zu gewinnen und damit dem Heiligen Römischen Reiche
und der Posteriorität zu dienen;" — „indem," heißt es fer-
ner, „an einem folchen (d. h. durch Deiche gesicherten) Orte
die feisten Ochsen uud mnthigsten Pferde weiden, die Dörfer
und Häuser auferbaut, auch die Felder begraset und bepflüget
seien; ja, was noch mehr ist, an einem solchen Ort, da zuvor
die ungestüme salzene See gewesen, da die Fische ihre Woh-
nungen gehabt, man anitzo des högsten Gottes Wort rein
und unverfälscht Predigen hören kan."
Zu keiner Zeit aber hat dieser Winkel des deutschen
Vaterlandes mehr von sich reden gemacht, als damals, wo
ein Theil des jetzigen oldenburgischen Gebietes, das Ste-
dingerland, von dem Erzbischof Gerhard von Bremen und
dem fanatischen Konrad von Marburg verketzert und ver-
lästert, von dem Papste mit dem Jnterdict belegt und vom
Kaiser (Friedrich II.) in des Reiches Acht und Bann gethan
wurde. Die unerhörten Unterdrückungen des Bremer Erz-
bischofs und seiner Priester hatten die freien, keines Joches
gewohnten Friesen nach langem Grollen endlich zu offener
Empörung gebracht. Der Volksmund, welcher überhaupt
gern das Vereinzelte, zeitlich und räumlich Auseinanderliegende
zu einer concreten Gestalt zusammenfaßt, nennt als nächste
Veranlassung dazu die schamlose Handlung eines Priesters,
der einer Friesenfrau, als sie dem Abendmahlstische sich nahte,
den von ihr gespendeten und zu gering befundenen Beicht-
groschen statt der geweihten Hostie in den Mund steckte. Der
Gatte der ruchlos geschmähten Frau aber erschlug deu frechen
Priester mit seiner Streitaxt.
Die Geschichtsforschung hat diese Erzählung nicht als
vollgültig bewiesen angenommen; gewiß ist, daß die „Steder
Ketter" durch ihre Widersetzlichkeit gegen den übermüthigen
Clerns blutige Rache auf ihr Haupt herabbefchworeu hatten.
Der Erzbischof ließ gegen sie das Kreuz predigen, als ob
dieser edle und tüchtige Volksstamm dem Auswurf der Mensch-
heit gleich zu achten sei. „Wo ein jeglich Mann Fried und
Gleit hat," so ließ sich die Reichsacht vernehmen, „da sollet
Ihr keines haben und wir weisen euch die vier Straßen der
Welt im Namen des Teufels." Ein Kreuzheer von 40,000
Mann rückte gegen die Stedinger zu Felde. Die Streit-
macht der letzteren betrug nur elftausend Mann und obwohl
sie wie Verzweifelte kämpften, erlagen sie doch der vereinten
Macht des Bremischen Erzbischoss und des Grafen von Ol-
denburg. In der Schlacht von Altenesch im Jahr 1234
(im jetzigen Amte Berne) wurden ihrer sechstausend erschla-
gen, niedergeritten oder suchten in den Wellen der Ochtum
und Weser ihr Grab, während die Uebrigen vor der gewal-
tigen Uebermacht der Ritter und Reisigen in wilder Flucht
zerstoben. Die Unterwerfung des Stedingerlandes unter die
Oldenburger Grafen, mit deren Gebiet es seitdem vereinigt
geblieben ist und die lange schon nach diesen fruchtbaren
Marschdistricten lüstern gewesen, ward durch die Bluttanse
von Altenesch endgültig besiegelt und des Erzbischoss geist-
liches Regiment hat von da ab wohl nicht eben sanft auf
dem unglücklichen Volke gelastet.
Noch jetzt finden wir die Nachkommen jener alten Friesen,
die sich mit Stolz die „edlen und freien" nannten und die?
wenn auch erfolglos, doch fo ruhmvoll ihre Freiheit verfoch-
ten, in den Marfchdistricten des Herzogthums Oldenburg
wie des angrenzenden Ostfrieslands. Ist auch der alte trotzige
Nationalstolz im Laufe der Zeiten untergegangen, gleichwie
manche Stammeseigeuthümlichkeit verblaßt und verschwunden
uud das Geschlecht selbst ein zahmeres geworden ist, so möchte
doch noch ein Rest desselben in jenem Gefühle mitleidiger
Geringschätzung sich erhalten haben, mit welchem der echte
Marschbauer auf den Geestbewohner herunter sieht und das
schwerlich in der durchschnittlich viel größern Wohlhabenheit
184 > Friedrich Ewald: Land u
des Erstern seinen alleinigen Grund hat, zu dem vielmehr
wohl die Stammesverschiedenheit — die Bewohner der Geest-
districte sind fast ganz und gar sächsischen Ursprunges —
ein gewichtiges Wort redet. Oder kann man etwa einen
prägnantem Ausdruck dieser Geringschätzung sich denken, als
die Aeußerung von jenem Mädchen, das, von einem im
„Butja'rlanu" (Butjadingerland, die nördlichste der Weser-
marschen) verübten Morde erzählend, beruhigend hinzufügte:
„Ah, 't is aber man 'n Geestkeerl wäseu!"
Wie durchschnittlich das ganze uordwestdeutsche Flachland
(vergl. meinen frühern Aufsatz über dasselbe, „Globus",
Bd. IX), so zerfällt auch das Herz'ogthum Oldenburg (denn
nur mit diesem, ausschließlich seiner beiden unorganischen
Anhängsel, Eutin und Birkenfeld, haben wir es gegenwärtig
zu thnn) in Moor-, Geest- und Marschdistricte. Unter
ihnen nimmt ohne Frage das Moor mit seinen ärmlichen,
am wenigsten noch von der Cnltnr beleckten Bewohnern den
niedrigsten Rang ein, so daß z. B. in echt charakteristischer
Weise ein geschmackloser, häßlicher Anzug in den Marsch-
districten unendlich häufig das Prädicat „moorig" („he sütt
ut, as wenn he ut 'n Moor is") — womit aber nicht etwa
der Begriff von schmutzig sich nothwendig verbindet — erhält.
An die „Moore" schließen sich zunächst die ausgedehnten
Heideebenen, welche mit unter den Begriff „Geest" ge-
rechnet werden und die namentlich in dem Mittlern und süd-
lichen Landestheile sich auf stundenweite Entfernungen er-
strecken. Dem Baumwuchs bietet die dünne Erdkrume keinen
günstigen Boden; höchstens strecken einige vom Sturm zer-
zauste Kiefern dem Wanderer ihre knorrigen Aeste entgegen.
Von lebenden Wesen erblickt man lange Strecken hindurch
nichts als eine Schaar jener kleinen grobwolligen Schafe, die
in ganz Norddeutschland unter dem Namen Heidschnuckeu
bekannt sind, eifrig das dürftige Heidekraut abnagend, bewacht
von ihrem Hirten in dem großen Wollenmantel, der, die
kurze Pfeife im Munde, das grobe wollene Strickzeug in den
runzligen Händen, jahraus, jahrein dieselbe einsörmige, arme
Existenz führt.
Gleichwohl aber macht von Jahr zu Jahr die Coloni-
sation der Heide größere Fortschritte. Gehen auch die
ersten Anbauer meistens zu Grunde über dem mühevollen
Werke, sie dürsten sich, wären sie überall eines abstracten
Jdeenganges fähig, mit dem Bewußtsein zur Ruhe legen,
daß sie, die unscheinbarsten wohl unter allen „Pionieren
der Civilisation", einem nachfolgenden Geschlechte die Stätte
bereitet und die Wege geebnet haben. Statt der einen
magern Kuh, welche neben der Hütte des Vaters ihr küm-
merliches Dasein fristete, hegt dann vielleicht der Sohn zwei
oder drei auf der dem dürren Heideboden schwer abgewonnenen
Wiese, welche unter steter Pflege und gehöriger Düngung
mit einer immer dichtern Grasnarbe sich bedeckt. Oder er
pflügt wohl auch mit einem Gespann Ochsen ein Feld, das
ansangs nur dem genügsamen Korne des Buchweizens Nah-
rung gewährte, bald aber mit dem lichten Grün des Roggens
sich bedecken wird, und nun seinem Eigenthümer die gewisse
Aussicht auf ein weniger kümmerliches und entbehrungsvolles
Dafein gewährt.
Der ersten Inangriffnahme und Cultivirung des Heide-
bodens verdanken wir jenen, in ganz Nord- und Mittel-
dentschland bekannten und aller Orten mit Seufzen empfan-
genen Gast, der unter dem Namen Höhen-, Haar- oder
Heerrauch den über seinen Ursprung uneinigen Gelehrten
so viel Kopfzerbrechens verursacht hat und der noch heute in
Mitteldeutschland vielfach mit der Erklärung „zersetzte Ge-
witter" abgefertigt wird.
Soll nämlich eine Heidefläche zum Buchweizenbau her-
) Leute im Oldenburgischen.
gerichtet werden, so schürft man im Frühjahr, sobald nur
der Erdboden den gehörigen Grad von Trockenheit erlangt
hat, die obere Bodenschicht mit eigens dazu bestimmten schau-
selarügen eisernen Werkzeugen ab und bringt an die solcher-
gestalt losgeschälten „Soden" oder „Plaggen" Feuer, das
zwar nicht mit heller Flamme brennt, sondern nur glimmt,
oder wie man es hier nennt, „schwält", eben dadurch aber
auch jene furchtbare Menge von Rauch erzeugt, die von den
oldenburgischen, ostfriesischen und bremischen Moor- und
Heideflächen aus fast über ganz Deutschland sich wälzt. In
die Asche, welche somit als Dungmittel dient, säet man dann
zunächst Buchweizen, der später in mannigfacher Gestalt,
gewöhnlich als zu einem steifen Brei gekochte Grütze, wenn's
hoch kommt als ein zolldicker Pfannkuchen, auf dem Tische
des Heidebauern erscheint.
Mit dem Leben dieses Letzlern verglichen darf dasjenige
des Marschbauern als ein durchweg opulentes bezeichnet
werden. Wie stattlich, behaglich und wohlhäbig aber z. B.,
wenn wir zunächst nur auf das Aenßere achten, die Woh-
nung eines solchen „Hausmannes" sich gegen die des armen
Colonen auch ausnimmt, ganz unverkennbar haben beide
denselben gemeinsamen Grundtypus, den der niedersächsischen
Bauart nämlich, von welcher der alte Justus Moser sagt,
daß sie in ihren Gruudzügen vollkommen sei und zum Muster
dienen könne. „Der Herd," fährt er fort, „ist fast in der
Mitte des Hauses und so angelegt, daß die Frau, welche bei
demselben sitzt, zu gleicher Zeit Alles übersehen kann. Ohne
von ihrem Stuhle aufzustehen, übersieht sie zu gleicher Zeit
drei Thüren, dankt denen, die hereinkommen, heißt solche bei
sich niedersitzen, behält ihre Kinder und Gesinde, ihre Pferde
und Kühe im Auge, hütet Keller und Kammer, spinnet
immerfort und kocht dabei. Ihre Schlafstelle ist hinter diesem
Feuer und sie behält aus derselben ebeu diese große Aussicht
und sieht ihr Gesinde zur Arbeit aufstehen und sich nieder-
legen, das Feuer verlöschen und anbrennen und alle Thüren
auf- und zugehen, höret ihr Vieh fressen und beachtet Keller
und Kammer."
Es möge mir verstattet sein, an diese meisterhafte Schil-
derung des kernigen deutschen Mannes noch einige Zeilen zu
reihen, in denen Ludwig Eckardt, der geistvolle Aesthetiker,
das niedersächsisch-westphälische Bauernhaus würdigt. „Wäh-
rend," sagt er, „das mitteldeutsche noch jetzt an den Nach-
wehen des Bauern- und dreißigjährigen Krieges zu kranken
scheint, ist das westphälische das einzige organische und echte
Bauernhaus, ein groß und behaglich gewordenes Zelt, das
Mann und Thier unter einem Gesammtdache vereinigt; der
ganze Bau ist völlige Hingabe an den Zweck des
ländlichen Lebens; nur dieses im Auge habend, lebt der
Westphale mit und unter seinem Vieh; es ist eine Wiege
praktischer Menschen."
Ist nun auch die Grundform des niedersächsischen Bauern-
Hauses hier und daModisicationen, immer aber nur uuerheb-
lichen, unterworfen worden, so spricht für ihre Vortrefflichkeit
jedenfalls auch der Umstand, daß sie von den Marschbewoh-
nern friesischen Ursprunges fast ausnahmelos angenommen
wurde. ^ Die wesentlichste von ihnen eingeführte Veränderung
besteht in der Querwand, welche, das Gebäude in zwei nn-
gleiche Hälften, eine vordere größere und eine hintere kleinere,
zerlegend, Stallung und Wirthfchaftsränme von der eigent-
lichen Wohnung trennt. Der zu letzterm Zwecke dienende
Theil des Hauses heißt durchweg „Windfang" — ein
Name, der ursprünglich wohl eben nur jener Querwand
zukommt — und so wenig auch geleugnet werden soll, daß
diese Absonderung ihm eine größere Bedeutung, vor Allem
mehr Stattlichkeit verliehen hat, so hat er doch Eins dafür
eingebüßt: die Gemüthlichkeit und Poesie, welche jenen nie-
Richard Brenner's Expedition in Oftafrika zur Erst
drigen, offenen, kaum einen Fuß über den Boden erhöhten
Herd des altfächfifchen Geestbauernhauses umschwebt.
Kaum kann man etwas Behaglicheres, Patriarchalischeres
sehen, als die abendlichen Familienversammlungen an diesem
Herdfeuer, dessen flackernder Schein das ganze Innere des
Hauses schwach erhellt, — ein Lichteffect, der vielleicht eines
Rembrandt Pinsels nicht ganz unwerth wäre. Da sammelt
sich nach des Tages Arbeit Alt und Jung, die Alten zunächst
dem wärmenden Feuer, der Großvater und Vater mit der
kurzen Pfeife („Däfke") im Munde, die Frauen und Mäd-
chen Kartoffeln schälend, Bohnen und Erbsen aushülsend oder
was sonst etwa der ländliche Haushalt erfordert. Hin nnd
wieder gesellt sich ein Nachbar, ein fremder Gast dazu; daun
wird in ruhig-bedächtiger Weise erzählt, politisirt, über den
Preis von Korn und Vieh, von Butter und Heu, von Raps
nnd Wolle verhandelt, — und in dem großen Kessel, der an
eiserner Kette über dem Feuer schwebt, brodelt derweil die
Abendmahlzeit, an der die ganze Hausgenossenschaft gemein-
sam Theil nimmt.
Daß in den Marschen der Bauernstand einen durchweg
vornehmern Zuschnitt hat, spricht sich allein schon in der viel
strengern Scheidung von Herrschaft und Gesinde aus. So
sind z. B. die gemeinsamen Mahlzeiten meines Wissens fast
nur noch in dem Jeverlande (westlich vom Jadebnfen) üblich,
welches letztere überhaupt durch das zäheste Festhalten am
Althergebrachten sich auszeichnet. In den übrigen Marsch-
districten haben „de Deensten" oder „bat Volk" ihren
abgesonderten Tisch. An ihm führt unausbleiblich der
Großknecht dm Vorsitz und keiner von den Mitdienstboten
würde wagen, ihm denselben streitig zu machen. Seltsam
genug, daß auch hier die Etikette ihr Wort mitzusprechen hat!
So ist mir z. B. ein Fall bekannt, wo der Großknecht eines
Bauernhofes iu die sinnloseste Wuth gerieth, weil einer der
jüngeren Knechte beim Zu-Felde-Fahren die unerhörte Frech-
heit gehabt hatte, mit seinem Gespann an ihm vorbeizujagen!
chung des Schicksals des Barons K. v. d. Decken. 185
Es gelang dem Hausherrn nur mit Mühe, den Zornigen,
in seinem Rechte so schwer Gekränkten zu beschwichtige».
Jeglich Ding hat hier eben seine Ordnung, an der Keiner
ungestraft zu rütteln wagen darf.
Als die hauptsächlichste Erwerbsquelle Oldenburgs und
speciell der Marschen, denn die Geest hat wohl kaum neu-
nenswerthe Ausfuhrartikel, ist ohne Frage die Viehzucht
zu betrachten, während der Ackerbau erst iu zweiter Linie
steht. Den hauptsächlichsten Absatzmarkt für das schwere
oldenburger Vieh und die fette, aromatische Marschbutter
bildet England, denn der „Engelsmann" bezahlt gnt und so
vermitteln die zwischen London und einem Hafenorte an der
Weser (Nordenhamm) fahrenden Dampfschiffe des Norddeut-
scheu Lloyd regelmäßige und höchst bedeutende Viehtrausporte.
Einen wahrhaft infernalischen Anblick soll auf See das In-
nere eines solchen Schiffes gewähren — eine Scenerie, die'
man sich zur Genüge ausmalen kann, wenn man erfährt,
daß das Rindvieh genau iu derselben Weise, wie Menschen,
der Seekrankheit unterworfen ist.
Nicht minder stark als nach Ochsen und Rindern ist die
Nachfrage nach den oldenburger Pferden, um deren Ver-
edluug schon vor Jahrhunderten die Grasen des Landes sich
große Verdienste erworben haben. Noch gegenwärtig ist die
Regierung unablässig bemüht, durch Ertheiluug bedeutender
Prämien die Zncht edler Thiere zu begünstigen. Der all-
jährlich am Medardnstage (8. Juni) in der Residenzstadt
Oldenburg stattfindende Pferdemarkt gehört zu den be-
kniendsten in ganz Norddeutschland und hat fast den Cha-
ratter eines Volksfestes angenommen. Letzteres ist, neben-
bei bemerkt, in noch viel höherem Grade der Fall bei den
zur Spätsommerzeit an verschiedenen Orten eingerichteten
„Thierschauen" — Ausstellung und „Prämiirnng" von
Ochsen, Milchkühen, Kälbern, Fohlen und Schafen — die
sich eines ganz ungewöhnlichen Zudranges und Interesses rüh-
men dürfen.
Richard Meimers Expedition in Hl
des Iarons «;
Im October 1865 nahm die Expedition des Herrn von
der Decken auf dem Dschubstrome den bekannten unheilvollen
Ausgang. Mehrere Mitglieder derselben wurden ermordet;
auch' von der Decken und Dr. Link wurden von den Somalis
überfallen und niedergehauen. Wir haben seiner Zeit die
Einzelnheiten berichtet. Eine Anzahl von Negern hat die
Katastrophe mit vielen Einzelnheiten in Sansibar erzählt,
und die Thatsache scheint leider nur allzuwahr zu seiu. Aber
auf Aussagen der Neger kann man sich nicht verlassen; es
ist immerhin möglich, daß Link und von der Decken noch
am Leben seien. Wer aber den Charakter und das Wesen der
Somali kennt (■— sie sind von Richard Burton vortresf-
lich geschildert worden —), wird sich über die Sache selbst
kaum noch einer Täuschung hingeben.
Aber es ist brav und rühmlich, daß von deutscher Seite
uichts vernachlässigt wird, um über das Schicksal jener
Männer ins Klare zu kommen. Die Nachforschungen in
Betreff Eduard Vogel's haben noch heute nicht aufgehört,
und Gerhard Rohlfs befindet sich vielleicht jetzt in Wadai.
Richard Brenner setzt alles daran zu erfahren, welches
der eigentliche Ausgang von der Decken's uud Liuk's gewesen
Globus XI. Nr. 6.
afrika znr Lrsorschung des Schicksals
. v. d. Decken.
sei. lieber seine Pläne und den Anfang seiner Reise brachte
die „Deutsche Allgemeine Zeitung" eine Mittheilnng, die wir
bis auf Weiteres zurücklegten. Jetzt eben erhalten wir eine
Nummer der deutscheu St. Petersburger Zeitung zugesandt,
in welcher Dr. Brenner, Bruder des Reisenden, weitere Mit-
theilnngen veröffentlicht. Wir theilen beide Berichte mit,
ersuchen aber unsere Leser, eine beliebige Karte von Ostafrika
zur Hand zu nehmen, sie werden dann ein anschauliches Bild
von dem Schauplatze der Bestrebungen Brenner's gewinnen.
*
* ^
Der Bericht der „Deutschen Allgemeinen Zeitung" lautet
folgendermaßen.-
Ansang Septembers 1866 war das Commandofchiff der im
indischen Ocean kreuzenden Kriegsschiffe, der „Highflyer", vor
Brawa gewesen; hier hatte ein Somali-Scheich dem Eommodore
erzählt, daß oberhalb Brawa, fünf Tagereisen im Innern, sich
gefangene Europäer befänden. Der Befehlshaber des „Highflyer"
hatte darauf mit dem Scheich verabredet, daß er Anfang Novem-
bers wieder nach Brawa kommen wollte, um nähere Nachrichten
einzuholen, für die er, wenn sie von Werth wären, 100 Pf. St.
Belohnung zahlen wolle. Durch jene Erzählung wurde der
24
186 Richard Brenner's Expedition in Ostafrika zur Erst
Glaube, daß Baron v. d. Decken und Dr. Link noch am Leben
seien, wieder angefacht.
Die Erben des Baron v. d. Decken haben gegen Ende des
vorigen Jahres zwei Afrika-Reisende ausgesandt, um den That-
bestand zu constatiren. Der eine der beiden Herren ist Th. Kin-
zelbach, früheres Mitglied der deutschen Erpedition unter K. v.
Heuglin, später Begleiter von Werner Munzinger auf der Reise
nach El-Obed und in jüngster Zeit als Dragoman (Dolmetscher)
bei dem preußischen Generalconsulat in Kairo beschäftigt. Der
andere ist einer der treuen Begleiter des beklagenswerten Ba-
rons von der letzten Reise her, ein Mann, dessen Muth schon
erprobt worden, als die Somali das Lager der Erpedition des
Barons am oberen Dschuba angegriffen, einer von den Männern,
die von der letzten Erpedition zurückgekehrt sind, Hr. Richard
Brenner aus Merseburg.
Die nachfolgenden Nachrichten sind einem Schreiben des Hrn.
R. Brenner, datirt Aden, 31. October 1866, entnommen.
Ende Oetobers trafen die beiden Reifenden, Hr. Brenner
und Hr. Kinzelbach, auf dem englischen Kriegsschiff „Highflyer"
auf der Rhede von Aden zusammen. Brenner schreibt:
„Am 3. November gehen wir, Kinzelbach, ich und Ravens
(ein Herr, der sich Hrn. Brenner als Begleiter angeschlossen hat)
und mein Suaheli-Diener, den ich hier engagirt habe, an Bord
des „Highflyer" und fahren zunächst nach Brawa; dort ist eine
Stunde Halt, um die bewußte Nachricht einzuziehen. Der Ca-
pitain wünscht, daß wir dort nicht das Land betreten, weil er
sonst eine große Verantwortung für unsere Sicherheit übernehmen
müsse. Von Brawa aus gehen wir nach der Insel Lamu, wo
ich mit Ravens, meinem Diener und dem Gepäck ans Land
steige, während Kinzelbach mit dem „Highflyer" nach Sansibar
weitergeht. Ich betrachte Lamu als meine Ausgangsstation,
die außerordentlich günstig liegt, weil ich alle mir bekannten
Punkte von hier aus leicht erreichen kann, und ich bin sehr er-
freut, daß ich gar nicht nach Sansibar zu gehen brauche und un-
nöthiges Aufsehen vermeiden kann. Kinzelbach nimmt mir nun
einen Brief an den Hamburger Eonsul Witt in Sansibar mit,
in dem ich diesen ersuche, mir das Boot, in welchem wir uns von
Berdera herab geflüchtet haben, ausgerüstet, bemannt und mit
allem Röthigen versehen, nach Lamu aus einer Dhau (einem ara-
bischen Küstenfahrzeug) zu senden. Bevor das Boot in Stanv
gesetzt ist und nach Lamu kommen kann, können einige Wochen ver-
gehen, weil Ansang Novembers der Nordostmonsun einsetzt und
die Dhau schlimmstenfalls von Sansibar bis Lamu acht Tage
Zeit gebrauchen wird, welche Zeit ich benutzen werde, an der
Küste Erkundigungen einzuziehen. Trifft die Dhau mit dem Boot
ein, so fahre ich unverzüglich nach der Formosabai herab und
gehe den Danafluß mit dem Boot hinauf. Ich weiß von frü-
her, daß von der Gallastadt Tscharra am Dana um jetzige
Zeit Karawanen nach G enahneh (einem Ort am Dschuba oberhalb
der Stelle, wo das Lager des Barons v. d. Decken angegriffen
wurde) abgehen; einer solchen Karawane werden wir uns an-
schließen, und ich hoffe, so ohne Gefahr diesen Ort zu erreichen." —
Der Plan des Herrn Brenner scheint uns ein sehr wohl an-
gelegter und ausführbarer. Aber selbst wenn es Hrn. Brenner
nicht gelingen sollte, Genahneh zu erreichen, so würde er ganz im
Sinne des Barons arbeiten, wenn er es versuchte, den Zusam-
menhang der Flüsse Osi und Dana zu erforschen und festzustel-
len, ob der Osi und Dana nicht einfach die Ausmündung von
einem und demselben Flußgebiet bilden, was uns sehr wahrscheinlich
zu sein scheint.
-i-
* *
Das Nachstehende ist von Dr. Brenner in St. Petersburg.
Die nächste von dem Reisenden übernommene Aufgabe ist
die Erforschung des Schicksals des seit dem tragischen
Ende der am oberen Dschub (auch Dschuba genannt) ver-
unglückten Erpedition verschollenen Unternehmers
derselben, des Barons v. d. Decken und seines Begleiters, des
Dr. Link. Der Tod dieser beiden Männer ist nämlich noch kei-
neswegs glaubwürdig festgestellt, da die bezüglichen Aussagen
lediglich aus dem Munde Eingeborener stammen, welche möglicher-
weise ein Interesse daran haben können, daß das Schicksal jener
Männer nicht zum Gegenstand weiterer Forschungen gemacht werde.
fchnng des Schicksals des Barons K. v. d. Decken.
Auch zeichnen sich die Eingeborenen Ostasrikas im Allgemeinen
durch eine ganz außerordentliche Lügenhaftigkeit aus. Eine hier-
auf allein gegründete Hoffnung, daß die genannten Reisenden
noch am Leben und zwar in Gefangenschaft bei ihren Feinden,
den Somalis von Barderah (so, nicht Berderah, lautet der Name
jener Stadt im Munde der Eingeborenen) seien, würde nun srei-
lich auf den schwächsten Füßen stehen. Mehr Halt gewinnt die-
selbe durch die von einem Somali-Häuptling dem Commodore des
englischen Kriegsschiffes „Highflyer" gemachte Mittheilung, daß
sich am oberen Dschub, 5 Tagereisen weit im Innern, zwischen
der Küstenstadt Brawa und der Stadt Makdoschu, Europäer als
Gefangene befänden, eine Angabe, welche freilich ebensowohl wie
die von der Ermordung der Reisenden aus eigennütziges Grün-
den erdichtet sein kann. Endlich kommt hierzu noch folgender
Umstand: Unter einer Partie im Frühjahr 1866 von O'Swald
u. Comp, (einem mit Sansibar in lebhaftem Verkehr stehenden
Hamburger Handlungshause) in Sansibar angekaufter Häute,
welche von der Küstenstadt Brawa gekommen, befand sich eine
Büffelhaut, auf welcher englische Buchstaben geschrieben wa-
ren, deren Sinn allerdings nicht mehr enträthselt werden konnte.
Wenn hiernach die Vermuthung, daß sich gefangene Europäer in
den Händen der Somalis am oberen Dschub befinden, nicht ganz
ohne Grund ist, so ist endlich ferner noch zu bedenken, daß die
zum Theil aus Engländern bestehende Mannschaft eines vor meh-
reren Jahren in der dortigen Gegend der afrikanischen Küste ge-
strandeten amerikanischen Schiffes („St. Abbs" ?) verschollen und
möglicherweise in die Hände der Somalis gesallen ist, welche die-
selben als Gefangene zurückhalten.
Abgesehen nun von dieser seiner nächsten Aufgabe hat sich
mein Bruder, welcher die der verunglückten Erpedition zu Grunde
liegende Idee als ein heiliges Vermächtniß des von allen seinen
Gefährten hochverehrten und geliebten Barons v. d. Decken be-
trachtet, noch weitere Ziele gesteckt. Er schreibt mir hierüber in
einem Briese von früherem Datum: „Aber Du wirst es voll-
kommen begreifen, wenn ich mir selbst noch eine andere Aufgabe
gestellt habe, die ich in ruhiger Erwägung aller Umstände und
in frischer Erinnerung an die vor meinen Augen hingemordeten
Gefährten entworfen habe. Es grlt, aus dem Wege, den der
Baron mit ungeheuren Opfern und Meiern Blute angebahnt hat,
weiterzuschreiten. Specielle Pläne sür Reisen in Afrika kann
man nicht machen, weil man stets bereit sein muß, sie nach den
Umständen zu modificiren, aber ich kann Dir im Allgemeinen
mittheilen, auf welche Weise ich mein Ziel zu erreichen hoffe, und
welche Garantien sür das Gelingen meines Planes ich besitze.
Du wirst Dich erinnern, daß ich von der Osi-Erpedition *) her
der einzige überlebende Europäer bin, auch habe ich Dir erzählt,
daß wir am dritten Tage stromauf die Gallastadt Tscharra
erreichten und dort sehr freundlich aufgenommen wurden. Da-
mals wurde uns von dem Gallachef erzählt, daß ihm die große
Handelsstadt Genahneh, oberhalb Bardera am Dschub, wohl-
bekannt sei, und daß jährlich einmal, am Schlüsse der heißen
Jahreszeit, eine Galla-Karawane nach jener Stadt ziehe.
Nun, aus diese Nachricht, die damals ohne besondern Werth für
uns war, weil wir Genahneh auf dem Dschub zu erreichen hoff-
ten, gründet sich mein Plan, dessen vorläufiges Ziel dieErrei-
chung von Genahneh ist. Die Bewohner dieser Stadt liegen
in ewigem Kriege mit den Barderahleuten und werden einen mit
Schießgewehr bewaffneten Weißen mit offenen Armen aufnehmen.
Von hier aus hoffe ich das Schicksal des Barons zu constatiren,
wenn dies nicht bereits an der Küste möglich gewesen sein sollte.
Außerdem verspricht der Aufenthalt in Genahneh wichtige An-
haltspunkte zn liesern sür eine sei es sofort oder später zu un-
ternehmende weitere Verfolgung des Deckenschen Planes, der be-
kanntlich in der Erreichung Abessiniens von Süden her
bestand. In dieser Beziehung sind folgende Punkte zu bemerken:
1. Genahneh steht in lebhaftem Verkehr mit den nördlichen
Gallaländern und auf dem dortigen Markte erscheinen Artikel
aus Europa, die von Norden herabgekommen sind. (Also Ver-
kehrsstraße nach Norden!)
*) Die beiden Flüsse Osi und Deine, welche in die Formosabai
münden, wurden von dem Baron v. d. Decken in Begleitung eini-
ger Erpeditionsmitglicder vor der Reise auf dem Dschub eine Strecke
weit nach dem Innern zu untersucht.
Richard Brenner's Expedition in Ostafrika zur Erforschung des Schicksals des Barons K. v. d. Decken.
2. Der Dschub zweigt oberhalb Genahneh einen Arm nach
Südost ab und ist erst oberhalb dieser Abzweigung Verkehrs-
straße nach Nordost.
3. Die Suprematie der Somali wird in Genahneh nicht
mehr anerkannt; Araber und Galla dort.
Ich begebe mich also in die Gewalt der Galla, und rechne
auf die Spur von Treue und Ehrenhaftigkeit, die ich bei diesem
Stamme gefunden habe, vor Allem aber auf ihre unversöhn-
liche Feindschaft mit den Somali, und glaube, daß ich rich-
tig rechne."
In dem von Aden aus datirten Briefe, welcher der von der
„D. A. Z." gemachten Mittheilung zur Quelle gedient hat, setzt
nun der Reisende einen andern und zwar der Zeit nach ersten
Theil seines Planes specieller auseinander, nämlich die von ihm
vor der Erpedition nach Genahneh beabsichtigte Landtour,
welche im Gebiete der Somali auszuführen und offenbar mit
größeren Gefahren verbunden ist als jene. Mein Bruder beab-
sichtigte, sich vom „Highflyer" auf der Insel Lamu aussetzen zu
lassen, daselbst ein ihm von Sansibar aus ebendahin zu senden-
des Boot abzuwarten und in der Zwischenzeit eine mehrwöchent-
liche Tour in das Innere desjenigen Gebietes zu unternehmen,
in welchem diejenigen Somali wohnen, welche die (treulosen)
Theilnehmer der verunglückten Erpedition waren. Er schreibt
hierüber:
„In Lamu (Insel unweit der Küste, nördlich von der
Formosabai, südlich von der Mündung des Dschub; nördlich von
dieser liegen die Inseln Tula und Kiama) werde ich unser
Hauptgepäck zurücklassen in mir bekannten, sicheren Händen, nehme
eine Dhau nach Tula und Kiama, die ich in acht Tagen errei-
chen kann. Bon Kiama fahre ich in einer halben Stunde uach
dem Festlande hinüber und steige in der Bai aus, in welcher wir
mit dem „Welf" vor unserm Einlaufen in den Dschub gestrandet
waren, und wo ich, traurigen Andenkens, genau bekannt bin.
Am Meeresstrande entlang erreiche ich in vier Stunden die Mün-
dung des Dschubs und die Somalistadt Uumbo. Vom
Gallaufer aus schicke ich einen Boten hinüber und bitte um Er-
laubniß, die Stadt betreten zu dürfen, was nicht verweigert wer-
den wird. Zur größern Sicherheit erzähle ich dann beiläufig,
daß ich mit einem Kriegsschiff gekommen bin und von dem-
selben'wieder'abgeholt werde. Nun hoffe ich schon in Yumbo
wichtige Ausklärungen über das Schicksal des Barons zu erlan-
gen, anderenfalls gehe ich in Begleitung der Uumboleute nach
Manamsunde (2 Tage stromauf), wo der Führer Barakka
wohnt, der mit dem Baron in Barderah war und jedenfalls ge-
naue Nachricht geben kann. Meine Aufgabe ist dann, ihn zu
überzeugen, daß ich sonst keinen andern Zweck habe, als eben
nur die Wahrheit zu erfahren.
Wenn ich einigermaßen Glück habe, kann ich nach 14 Tagen
bis 3 Wochen wieder in Lamu sein. Trifft dann die Dhan mit
dem Boot und der in Sansibar durch den hanseatischen Eonsul
Witt zu miethendcn Mannschaft ein, so fahre ich unverzüglich
nach der Formofabai hinab und gehe den Danasluß mit dun
Boot hinauf, während die Dhau mit einem Briefe von mir an
Euch nach Sansibar zurückkehrt.
Wie ich Dir bereits mitgetheilt, gehen von den Galastädten
Tscharra und Tschaggana am Dana um diese Zeit Kara-
wamen nach Genahneh. Einer solchen werde ich mich an-
schließen.
Sollten aber Umstände eintreten, die sich der Ausführung
dieses Planes entgegensetzen, dann gehe ich den Dana so weit
wie möglich hinauf und muß dabei immer näher an Genahneh
kommen, weil der Dana von Nordwesten kommt, und möglicher-
weise ein Arm des Dschub ist (?). Aeußersten Falles ist die
Erforschung des Dana und Osi allein schon eine würdige
Aufgabe. Wahrscheinlich konime ich aus dieser Reise auch in die
Nähe der äquatorialen Schneegebirge, die man von Tscharra aus
sehen kann, und hoffe den großen Kaniaberg zu besteigen.
Wenn Du demnach nach Verlauf der nächsten 6 bis 7 Wo-
chen meiner gedenkst, so stelle Dir ein Boot vor, welches zwischen
den stillen Usern des schönen Danafluffes hinauffährt — die Ne-
187
ger rudern im Takt und singen ihre eintönige Weise dazu —
und am Steuer sitzt ein Europäer, den Du immerhin um sein
Geschick beneiden kannst."
Neuerdings habe ich nun den Auszug eines Briefes meines
Bruders erhalten, welcher bei Ankunft an der Küste geschrieben
ist und die Beschreibung der ersten, die Landtour einleitenden,
Schritte enthält. Dieser Brief ist datirt: Am Bord des
»Highflyer ". 4 Grad nördlicher Breite, in Sicht der asrika-
nischen Oftküste. Am 16. November 1366. „Wir sind vor
Brawa*) angelangt. Ein Somali, den Kinzelbach in Aden
engagirt, wird mich in Brawa einführen. Ich werde mich be-
mühen, in der freundlichsten Weise mit den Brawa-Chess zu
verkehren. Nach einem Aufenthalt von 18 bis 20 Tagen in Brawa
beabsichtige ich in einer Dhau in den Dschub einzulaufen, um
bis zur Stadt Uumbo zu gelangen, von wo aus ich dann die
Tour nach Mauamfuude unternehme. Sollte die Stärke der
Brandung mich verhindern, die Barre an derMündnng des Dschub
zu passiren**), so fahre ich in die Bai bei EapBissel, von da
zu Fuß nach Uumbo und nach Manamsunde, und kehre über
Tula zurück nach Lamu.
Morgen, am 19 November, gehe ich in Brawa ans Land,
mache dem Somalichef Mohammed ***) meine Aufwartung, lade ihn
zu einem Besuch an Bord des „Highftyer" ein, bleibe während der
Zeit als Geißel am Lande und habe von Eommodore Paisley
das Versprechen erhalten, daß Scheich Mohammed mit allen mi-
litairischen Ehrenbezeugungen und Salutschüssen empfangen wird.
Davon verspreche ich mir eine achtungsvolle Behandlung. Wäh-
reud der Zeit in Brawa werde ich den Fluß Wobi untersuchen,
welcher auf der Karte in einem See endigt, was aber unrichtig
sein soll.
Der „Highflyer" wird morgen, wenn ich in Brawa bin, noch
einen Tag hier verweilen, und darauf mit Kinzelbach, von
dem ich nun Abschied nehme, über die Sechellen nach Sansibar
gehen. Treffe ich dann von Manamsunde wieder in Lamu ein,
so hoffe ich das durch Kinzelbach bestellte und mit 3 Mann ver-
sorgte Boot vorzufinden, mit dem ich den zweiten und größern
Theil meiner Ausgabe, die Dana- und Genahnehtour, antrete.
Genahneh zu erreichen und das Danagebiet zu erforschen ist mit
weniger sichtbarer Gefahr verknüpft, als mein Aufenthalt in
Brawa und Manamsunde.
Die Liebenswürdigkeit und Zuvorkommenheit der englischen
Offiziere des „Highflyer" gegen uns Deutsche ist nicht genug anzu-
erkennen. Wir sind mit der größten Gastfreundschaft als Gäste
auf dem Schiffe aufgenommen worden.
18. November. Soeben kommt Brawa in Sicht, ich sage
allen den Meinen ein herzliches Lebewohl, in der festen Hoffnung
auf ein glückliches Wiedersehen!
19. November. Abdio ist in Brawa, ich soll zu ihm kom-
men. Eine Karawane von Barderahleuten ist auch in Brawa;
ich werde sie sehen! In einer Stunde gehe ich ans Land. Ca-
pitain Paisley schickt so eben einen Empfehlungsbrief für mich
an den Scheich von Brawa. — Ist Abdio's Einladung Frechheit
oder gutes Gewissen ? — Der Dragoman des Schiffes erzählt, daß
in Brawa viele Sachen vom Baron seien. Lebt wohl!
So weit reichen meine Nachrichten. Der Reisende verläßt
uns im Begriffe, den ersten Schritt in den Löwenrachen zu thun.
Heute muß es bereits entschieden sein, ob der erste Theil seines
Unternehmens ein glückliches Ende erreicht hat, in welchem Falle
mein Bruder in diesen Tagen zur Insel Lamu zurückgekehrt sein
wird. Sobald ich die sehnsüchtig erwarteten weiteren Nachrichten
von Lamu aus erhalte, werde ich davon Mittheilung machen.
*) Die Somalistadt, von welcher die angeführte Nachricht stammt
über die Gcfangenhaltung von Europäern. Ebenda wohnt der spä-
ter genannte Abdio, welcher vor Barderah eine sehr zweideutige
Rolle gespielt hat.
**) Auf dieser Barre ging das kleine Dampfschiff der frühem
Eppedition verloren.
'") Die Somali sind Mohammedaner, die Galle Heiden.
24"
188
Aus allen Erdtheilen.
f us allen
A. Gohring's Reise in Venezuela.
Wir haben am 20. Februar ein Schreiben dieses Reisenden,
datirt Carupano, 28. December 1866, erhalten. Herr Göh-
ring aus dem Altenburgischen begleitete Herrn Professor Bur-
meifter auf dessen erster Reise in der La-Plata-Region, verweilte
später jahrelang in Leipzig, und lag dem Studium der Natur-
Wissenschaften ob; er ist ein vortrefflicher Zeichner und Holzschnitzer
und besonders auch Konservator und Ausstopfer von Thieren. Ein
wissenschaftlicher Berein in seinem Heimathslande machte es dem
jungen strebsamen Manne möglich, nach London zu gehen, wo
er seine Studien im Zoologischen Garten fortsetzte. Man erkannte
dort bald die Tüchtigkeit des jungen Deutschen, der im Austrage
der Vorsteher jenes Gartens im September 1866 nach West-
indien abreiste. Der Herausgeber des „Globus" hat mit Herrn
A. Göhring manchen Verkehr gehabt und sich über dessen wissen-
schastlichen Eifer, über seinen Wissensdrang und seine Unterneh-
mungslust immer gefreut. Wir werden von ihm Mittheilungen
für unsere Zeitschrist aus dem Innern von Venezuela erhalten.
Wir geben aus dem oben erwähnten Briefe einige Auszüge:
„Ich kam nach einer Seefahrt von 8 Wochen zu Port of Spain
auf der Insel Trinidad (vor den Mündungen des Orinoco) an.
Dort war keine Gelegenheit zur Weiterreise nach La Guayra,
dem bekannten Hasen auf dem Festlande von Venezuela, denn der
Dampfer, welcher bisher die Verbindung zwischen beiden Häsen
unterhielt, war verunglückt. Also unternahm ich einen Ausflug
nach Auma im Innern von Trinidad, kehrte aber bald wieder
nach Port of Spain zurück, weil dort Gelegenheit nach Mar-
garita sein sollte, aber ich wartete von einem Tage zum andern.
Endlich ging ein kleines Fahrzeug von nur 27 Tonnen nach
Carupano (etwas östlich von Cnmanä) ab. Auf Trinidad
habe ich mit lieben deutschen Landsleuten und Engländern sehr
angenehm verkehrt und schon einen Vorgeschmack der reichen süd-
amerikanischen Natur genossen. Trinidad ist eine prächtige
Insel, hat den herrlichsten Pflanzenwuchs und reiches Thierleben.
Ich habe dort mehrere Landschaften gezeichnet und Ihren Rath
nicht vergessen, die verschiedenen Menschentypen genau zu beob-
achten. Ich sah dicht neben einander Europäer. Chinesen, indische
Kulis, Indianer, Neger, Mulatten und eine Musterkarte von
Mischlingen. Der Weg von Port of Spam nach Arima, das
ziemlich in der Mitte der Insel liegt, ist sehr schön und inter-
essant; er führt dem Gebirge entlang, welches sich an der Nord-
lüfte hinzieht, durch prächtige Zuckerpflanzungen und üppige Wäl-
der. Weiße Leute sah ich unterwegs nur selten. Ich werde Ihnen
später über diesen Ausflug Mittheilungen machen und einige
Zeichnungen beilegen. Wenn ich Ihre Antwort erhalte, werde
ich schon ein gutes Stück der Provinz Cumanä durchforscht haben.
Hier in Carüpano wurde ich von Herrn Borne mann,
einem der drei im Ort angesessenen Deutschen, sehr freundlich
aufgenommen. Ich fand auch hier keine Reisegelegenheit nach
La Guayra und entschloß mich daher, die Gegend zwischen hier,
Cariaco und Caripe zu durchforschen; auch will ich die Region
des Golfes von Paria näher untersuchen, und erst nach Ostern
die Reise nach dem Westen von Venezuela fortsetzen. Jetzt haben
wir noch Regenzeit und eine Wanderung ins Innere ist daher
vor Ende Januars unthunlich.
Ich habe längere und kürzere Ausflüge gemacht. Mit mei-
nem freundlichen Wirthe ritt ich nach Pilar, einer kleinen Ort-
schaft, nach dem Innern zu. Wir brauchten dazu von hier aus
4^/2 Stunden. Der Weg führt zunächst in dem prachtvollen Thale
von Carupano hinauf; dann schließt das letztere, welches eigent-
lich als eine Tiefebene betrachtet werden kann. Die Bergketten
zunächst der Küste sind mit niedriger Vegetation bedeckt, zumeist
mit feinblättrigen Mimosen; über diese erhebt sich der Riesen-
cactus und auch die Agave mericana. Je weiter von der Küste
ab, um so üppiger wird der Pflanzenwuchs. Schon nachdem ich
nur eine Stunde geritten war und das Aussteigen begonnen hatte,
weidete sich mein Auge an dem prachtvollen Urwalde. Ich be-
cS 151 f) c i f e n.
stieg, etwa eine deutsche Meile von hier, einen Berg, von welchem
aus ich zugleich das earaibische Meer und den Golfo
trifte sehen konnte, ich brauchte den Blick nur von Norden
nach Westen zu wenden. Wer es nicht selber gesehen hat, wird
sich keinen Begriff machen können von der Schönheit und Man-
nigfaltigkeit der hiesigen Landschaften. Ich gestehe Ihnen, daß
ich jetzt im höchsten Hochgenüsse schwelge. Meine Sammlung
von Naturalien, Landschastsskizzen und ethnographischen Zeichnun-
gen wächst von Tage zu Tage an und ich glaube, daß ich einen
reichen Schatz mit nach Europa zurückbringen werde.
Mich hat, wie Sie sehen, der Zufall hierher geführt. Wäre
aufTrinidad eine direete Gelegenheit gewesen, so würde ich gleich
nach Caracas gegangen sein. Bon Carupano habe ich früher
gar nichts gewußt. Als ich aber am 12. November 1866 die
Küste von Venezuela am Golfe von Paria erblickte, stieg sofort
der Wunsch in mir auf, hier späterhin längere Zeit zu verwei-
leu; nun bin ich aber jetzt schon hier. Ich gedenke Ihrer sehr
oft, wenn ich die wunderbar gemischten Menschentypen sehe,
oder wenn die Chaymas-Jndianer hier aufmarschiren; dann
wünsche ich Sie hierher, Sie fanden Stoff in Menge zur Beob-
achtung. Sie dürfen überzeugt sein, daß ich Ihrer Rathschläge
in Bezug auf die aufmerksame Beobachtung der Racen und der
Mischlinge stets eingedenk bin und ich werde Ihnen dafür die
Beweise liefern. Ich lege eine kleine Karte bei, um Ihnen eine
Uebersicht von meinen bisherigen Ausflügen und auch von denen
zu geben, welche ich für die nächsten Monate projectirt habe.
(— Diese Karte fehlt leider in dem Briefe. —) Nachschrift: Ich
finde erst heute, 6. Januar, Gelegenheit, diesen Brief nach Tri-
nidad abzusenden. Nach einigen Monaten hören Sie mehr von
mir." —
Wir dürfen also hoffen, den Lesern des „Globus" interessante
Schilderungen aus einem Theile Venezuelas, der von Europäern
selten besucht worden ist, mittheilen zu können.
Doetor Ori's Reisen im Sudan. Wir erhalten von einem
Naturforscher, der Nordostafrika aus eigener Anschauung gründlich
kennt, folgende Mittheilung: „Das Athenäum", welches uns
vor Kurzem so überraschende Ausschlüsse über die wissenschaftliche
Bedeutungslosigkeit Ritter's ertheilte, hat sich wieder einmal recht
gründlich blamirt. Mit einer, amerikanischem Zeitungs-Gefasel
entsprechenden, Naivität theilt es uns mit, daß Dr. Ori soeben
von einer mehrjährigen Forschungsreise aus den „noch wenig ge-
kannten" Ländern Dar-Sileh und Dar-Fur zurückgekehrt sei
und demnächst die Welt in Erstaunen setzen werde »durch die
Schilderung seiner wunderbaren Erlebnisse, an welchen auch seine
unerschrockene Frau thätigen Antheil genommen habe. Als bei
Ausbruch des nordamerikanischen Bürgerkrieges der Times-Cor-
respondent Russell in Neuyork erschien, um sich nach dem Kriegs-
schauplatze zu begeben, verwechselten einige dortige Tages-Blätter
die Person dieses Herrn mit der des bekannten englischen Premier,
da sie es ganz in der Ordnung sanden, wenn ein solcher zum
Zeitvertreib auch einmal das Amt eines Berichterstatters über-
nähme. Das genannte Journal, welches Englands Wissenschast
im Auslande vertritt, scheint jenem amerikanischen an Naivetät kaum
nachzustehen. Es findet darin nichts Auffälliges, wenn die Sul-
tane von Dar-Fur und Wadai der Frau eines italienischen Doc-
tors die Honneurs machen, sie mit Auszeichnung empfangen und
reich beschenkt wieder entlassen. Nicht einmal ein Wort des
Staunens widmet das „Athenäum" dem Umstände, daß bisher noch
nirgends das Geringste über diese wunderbare Reise verlautete,
obgleich doch die Vorbereitungen zu einem so waghalsigen Unter-
nehmen die Runde durch alle Zeitungen hätten machen müssen.
Doch kehren wir zu dem wackern Dr. Ori zurück, dessen Ver-
dienste die Welt anerkennen wird, auch wenn sie nicht vom „Athe-
näum" ausposaunt worden wären. Dr. Ori ging vor Jahren
als Arzt der ägyptischen Regierung nach Chartum, entsagte
aber bald seiner Stellung, da er, als gewissenhafter Arzt, den
Aus allen
Jntriguen des Generalgouverneurs ausgesetzt, sich in derselben
nicht halten konnte. Mehrere Jahre führte er ein zurückgezoge-
nes, nur zoologischen Beschäftigungen gewidmetes Leben, welche
seine Eristenz kümmerlich fristeten; den Europäern in Chartum
aber entzog er seine ärztliche Hülfe nicht, und noch lange werden
dieselben von seinem Geschick und seinen Kenntnissen des Lobes
voll sein. Da erhielt er vor etwa drei Jahren den Auftrag, für
den Turiner Zoologischen Garten Thiere im Sudan aufzukaufen,
und zu dein Zwecke Reisen von Chartum aus zu unternehmen.
Der König von Italien interessirte sich selbst lebhast für die
Sache, setzte große Summen aus und verschmähte es nicht, durch
ein eigenhändiges Schreiben an den jetzigen Vice-König für Dr.
Ori alle diejenigen Erleichterungen und Protektionen zu erwir-
ken, welche ähnliche wissenschaftliche Unternehmungen in früherer
Zeit, namentlich unter Mehemed Ali's Regierung, so fruchtbrin-
gend gemacht hatten. Zugleich wurde Dr. Ori zum Oberazt der
Regierung ernannt und mit vollem Gehalt und unumschränkten
Vollmachten für seine Reise versehen. Das Hauptgebiet seiner
Forschungen war die Gegend am Atbara und Setit, wo
er sich stellenweise ganz häuslich niederließ, um seltene Thiere
aus der Umgegend herbeizuschaffen. Seine werthvollsten Errun-
genschaften bestanden in mehreren Elephanten und Giraffen. Die
Schilderung seiner Erlebnisse und nicht weniger die Bearbeitung
des reichen zoologischen Materials, zu welcher ihn jahrelange
Studien an Ort und Stelle außergewöhnlich befähigen, wer-
den mit Recht das Interesse der gesammten gebildeten Welt
beanspruchen dürfen." (—Da hier vom „Athenäum" die Rede
ist, so wollen wir gleich anschließen, was wir vor einigen Tagen
niederschrieben, als wir die Nummer vom 16. Februar 1867 ge-
lesen hatten. „Das „Athenäum" läßt keine Gelegenheit vor-
über, gegen Deutschland auszufallen. Von dem Gange und der
Entwickelung der deutschen Literatur und Wissenschaft weiß das
Londoner Blatt nichts. Dann und wann greift es aber irgend
ein Buch aus der großen Menge aus, um daran einen Ausfall
gegen Deutschland zu knüpfen. Ein Herr L. Ehlers hat in
Berlin „Römische Tage" veröffentlicht. In etwa 20 Zeilen wird
gesagt, daß das Buch eben nichts Neues enthalte. Dann erzahlt das
„Athenäum", die römischen Zollbeamten hätten die italienischen
Zeitungen confiscirt, in welche Herr Ehlers ein paar Stiefel ge-
wickelt habe; man dürfe sich zu solchem Behufe nur römischer
Zeitungen bedienen. Herr Ehlers antwortete: „Ganz recht, da-
für passen allerdigs die römischen Zeitungen." Diese Worte
greift das „Athenäum" heraus um beizufügen: „But even a
german epigram does not justify a german book." Wir
heben solche Dinge, die scheinbar als Kleinigkeiten betrachtet wer-
den können, hervor, weil sie in das erbärmliche und verächtliche
System dieser Zeitschrift gehören, und weil dieselbe in England
viel gelesen wird. Sie repräsentirt den literarischen John Bull-
Philister in der unliebenswürdigen Weise." A. —)
Thätigkeit der geographischen Gesellschaft in St.
Petersburg 1860. Unsere Leser wissen, daß wir mit großem
Interesse den Bestrebungen folgen, welche dich Gesellschaft in so
rühmlicher Weise versolgt. Sie entfaltet eine in der That preis-
würdige Thätigkeit, und auch ihre Arbeiten im Jahre 1866 lie-
fern wieder dafür einen erfreulichen Beweis. In der jüngsten
Jahresversammlung, welche zu Ende Januarö 1867 stattfand,
führte Graf Lütke, der berühmte Seemann, den Vorsitz, und
Baron Th. R. Osten-Sacken, als Seeretär, gab eine Ueber-
ficht der Arbeiten im verflossenen Jahre.
In Betreff der von der Gesellschaft entsendeten Expeditio-
nen meldete der Bericht, daß die nach dem Schwarzen Meere
ihre Untersuchungen binnen Kurzem beendigt haben werde. Die
türkistanische oder transtschuische Erpedition, welche für
die vom Kriegsministerium gewährten Mittel unter der Leitung
des Herrn Ssjewerzow entsendet worden ist, hat im Laufe des
Sommers von 1366 sehr wichtige Resultate in der Erforschung
der geologischen und industriellen Verhältnisse des Landes gewon-
nen. Die Erpedition nach West-Rußland, welche wegen
des polnischen Aufstandes auf unbestimmte Zeit hatte verschoben
werden müssen, soll im Frühling d. I. ihre Thätigkeit beginnen.
Die statistische und ethnographische Abtheilung beschästigen sich
mit den vorbereitenden Maßnahmen, die in dieser Hinsicht zu er-
Erdtheilcn. 189
greifen sind. — Die Erpedition zur Erforschung des Ge-
treidehandels in Rußland wird gleichfalls noch in diesem
Jahre abgehen. Dieselbe wird für die vereinigten Mittel der
freien ökonomischen und der geographischen Gesellschaft unter-
nommen.
Die Gesellschaft hat im Laufe des Jahres folgende Schriften
herausgegeben: Den 1. Theil der „Memoiren der statistischen
Abtheilung"; die „Arbeiten der physikalischen Abtheilung der sibi-
rischen Erpedition", den geologischen und botanischen Bericht der
Herren Schmidt und Glehn enthaltend; drei Lieferungen des
„Geographisch-statistischen Wörterbuches des russischen Reiches",
welches jetzt bis zu dem Buchstaben P geführt ist; sieben Liefe-
rungen der „Mittheilungen" und in einem besonderen Buche die
„Beschreibung von Nowaja-Semlja". Beendigt sind: der
1. Theil der „Memoiren der ethnographischen Abtheilung", der
1. Theil der „Memoiren für allgemeine physikalische und mathe-
matische Geographie", ein neuer Band der „Erdkunde Asiens
von Ritter" und eine Lieferung des „Geographischen Wörterbu-
ches", durch welche der 3. Band dieses Werkes beschlossen wird.
Am Schlüsse des Berichtes wurden noch Nachrichten über die
Thätigkeit der sibirischen und kaukasischen Abtheilung der Gesell-
schaft mitgetheilt.
Nachdem der Bericht verlesen, erfolgte die Vertheilung der
Preis-Medaillen.
Die Kon st antin-Medaille wurde dem wirklichen Mit-
gliede N. I. Danilewski ertheilt für seine Untersuchungen und
die in einjähriger Arbeit gewonnenen wissenschaftlichen Resultate
an den Ufern des Asowschen Meeres und seine 15jährige un-
ermüdliche Thätigkeit im Interesse der geographischen Gesellschaft.
Kleine goldene Medaillen erhielten: das wirkliche Mitglied
P. P. Sfemenow für die wichtigen Dienste, welche er der Ge-
sellschast und der Wissenschaft erwiesen, und für seine vieljährigen
nützlichen Leistungen in seiner Eigenschaft als Präses der Abthei-
lung der physikalischen Geographie; das wirkliche Mitglied W.
P. Besobrasow für die wichtigen Dienste, die er der Gefell-
schaft geleistet und für seine vieljährigen nützlichen Arbeiten im
Gebiete der Statistik, unter Andern» auch bei den Beschäftigungen
des politisch-ökonomischen Eomites; das wirkliche Mitglied M. F.
Kriwoschapkin für sein Werk „Der Bezirk Jenisseisk und
sein Leben"; das eorrespondirende Mitglied N. A. Ssj e w er z o w
für seine Untersuchungen im westlichen Tian-Schan und
in Türkistan überhaupt.
Silberne Medaillen wurden zuerkannt: Herrn M. K.
Ssidorow sür seine bemerkenswerten, mit einer Karte versehe-
nen Aufzeichnungen über die wenig bekannten Gegenden an den
Flüssen Tunguska, Kurejka und anderen Zuflüssen des
Jenissei; Herrn I. F. Babkow für seinen von einer Karte
begleiteten Artikel über die Untersuchung des Balchaschsees
und seine beständigen interessanten Mittheilungen über die in
Westsibirien und an der chinesischen Grenze ausgeführten geogra-
phischen Arbeiten; dem Seeretär des statistischen Comites in
Archangelsk, Herrn P. Tschubinski, für seine auf Ansuchen
der Gesellschaft abgefaßte ausführliche Recension der „Beschrei-
bung des Gouvernements Archangelsk" vom Stabscapitain Kos-
low und sür seine anderweitigen Mittheilungen über die Statistik
des Gouvernements; Herrn N. Galkin für seinen interessanten
und an neuen Angaben reichen Aufsatz über die Turkmenen
im 1. Bande der Memoiren der ethnographischen Abtheilung;
Herrn P. A. Mullow für feine thätige Betheiligung bei Ab-
fassung des Programms zur Sammlung volkstümlicher
juridischer Gebräuche und sein Werk „Ueber die Beweise
im Volksaericht".
Eine Bronzemedaille erhielt der Geistliche I. Tweri-
schin im Dorfe Zuganskoje (Kreis Beresow) sür seine vieljährigen
Mittheilungen über die Getreideernte in jener Gegend.
Nach der Vertheilung der Medaillen wurden der Versamm-
lung vom General-Lieutnant Blaramberg, Chef der Abtheilung
für militairische Topographie, zwei vorzügliche chartographische in
vier Farben chromolithographirte Arbeiten vorgelegt: eine oro-
graphische Karte des Militärbezirks Odessa in 4 Blättern und
ein Probeblatt der neuen Spezialkarte des europäischen
Rußlands, beide im Maßstabe von 10 Werst auf den Zoll.
Die zuletzt genannte Karte soll aus 144 Blättern bestehen.
190 Aus allen
Zur Bevölkerungsstatistik Frankreichs. Folgende Mit-
theilungen sind dem „Moniteur" entnommen. Die 89 Departe-
ments zählten im Jahre 1866 eine Bevölkerung von 38,067,094
Seelen, mit Ausschluß der Land- und Seetruppen, die sich am
15. Mai 1866, dem Tage der Zählung der Armee, in Algerien,
Rom, Merico, in den Kolonien und den auswärtigen Marinestatio-
nen befanden, und sich auf etwa 125,009 Mann belaufen mochten.
Von diesen 38,067,094 gehören 19,014,109 dem männlichen und
19,052,985 dem weiblichen Geschlechte an. Für die 86 alten
Departements betrug die Zunahme der Bevölkerung in dem Zeit-
räume von 1856 bis 1861 677,783 Seelen, von 1861 bis 1&66
nur 673,797 Seelen, was der „Moniteur" durch die Abwesenheit
einer größern Anzahl von Soldaten erklärt. Die drei neuen
Departements haben eine Vermehrung von 7136 Köpfen, so daß
also der GesammtzuwachS der Bevölkerung Frankreichs innerhalb
der letzten fünf Jahre 680,933 beträgt. In 58 Departements
hat die Bevölkerung um 737,392 Seelen zu-, in 31 dagegen um
106,459 abgenommen. Die stärkste Zunahme nächst dem Seine-
departement (mit 197,256) weisen das Norddepartement (88,661),
Bouches-du-Rhone (40,791), Finiötere (34,735), Gironde (34,662),
Pas-de-Calais (25,439), Seine-et-Oife (20,654) :c. nach. Ver-
loren haben an Bevölkerung: Manche (17,522), Orne (8732),
Var (6976), Lot (6623), Calvados (6083) k. Die zehn bevöl-
kertsten Departements von Frankreich sind: 1) Seine 2,150,916;
2) Nord 1,392,041; 3) Seine inferieure 792,768; 4) Pas-de-
Calais 749,777; 5) Gironde 701,855; 6) Rhone 678,648; 7)
Finistere 662,485; 8) Saüne-et-Loire 600,006; 9) Loire infö-
rieure 598,598; 10) Bas-Rhin 588,970.
Die Handelsmarine Frankreichs. Sie ist vergleichweise
ganz offenbar im Rückgange begriffen; auf keinen Fall hält
sie auch nur annähernd Schritt mit,der frischen Entwickelung
unserer deutschen und der englischen Rhederei. Der amtliche Be-
richt liefert dafür deutliche Beweise. Alle für den Handel be-
schäftigten Fahrzeuge, 15,259 an der Zahl, hatten eine Trag-
fähigkeit von 1,008,084 Tonnen, jede zu 20 Centner, zu Ende
des Jahres 1865. Das waren 75 Fahrzeuge und 9565 Tonnen
mehr als im Vorjahre, aber die Zahl der großen Seeschiffe
ist sehr gering. Frankreich hatte nur 58 Schiffe von 800 Ton-
nen und darüber; 37 von 700 bis 800 T.; 53 von 600 bis 700;
116 von 500 bis 600; 253 von 400 bis 500 und 293 von 300
bis 400 Tonnen. — Keine der großen Seestädte erreicht auch
nur annähernd die Rhederei von Bremen oder von Hamburg.
Die von Havre hielt nur 108,591 Tonnen; von St. Malo
41,151; Nantes 111,063; Bordeaux 130,888; Marseille
gar nur 92,385 Tonnen. Wir werden gelegentlich eine Ueber-
ficht der gesammten deutschen Rhederei zusammenstellen, wollen
aber hier gleich bemerken, daß die Rhederei allein der Weser und
so weit die wirklichen Seeschiffe in Betracht kommen, viel be-
trächtlicher ist, als jene der sämmtlichen französischen Häfen am
Mittelmeere, die von Algerien mit eingeschlossen. Im Jahre
1865 hat die französische Rhederei nur um 586 Tonnen zuge-
nommen.
Ein Vergleich mit England ergiebt Folgendes: Groß-
britannien mit Irland besaß am 31. December 1865 nicht weniger
als 27,868 Fahrzeuge mit einem Gehalte von 5,666,873 Tonnen ;
es hatte 1861 nur erst 3,862,384 Tonnen, die Zunahme in fünf
Jahren hat also 1,804,000 Tonnen betragen. Im Jahre 1865
kamen auf Liverpool 1,556,477 Tonnen, auf London 1,126,369,
auf Sunderland 247,783Tonnen. Die Tragfähigkeit der
gesammten französischen Handelsschiffe, bei welchen
jeder Flußkahn mitgerechnet wird, betrug noch nicht
zwei Drittel der Rhederei Liverpools. Und was die Zahl
der großen Seeschiffe anbelangt, so tritt England ganz entschie-
den in den Vordergrund. Es hatte ein Schiff von 13,243 Ton-
nen (den Great Eastern); eins von 2940; drei von 2300 und
mehr; 15 von 2000 bis 2800; 108 von 1500 bis 2000; 984
von 1000 bis 1500; 592 von 800 bis 1000 Tonnen Tragfähigkeit.
Aus Neucaledonien. Diese französische Besitzung kommt
nur langsam vorwärts, obwohl die natürlichen Bedingungen zur
Entwickelung in vollem Maße gegeben sind. Aber die Regierung
reglementirt, nach französischer Art, Alles und Jedes und deshalb
mangelt das frische Gedeihen. Die Verwaltung hat jüngst einige
Ziffern veröffentlicht, aus denen sich ergiebt, wie nach etwa zehn-
jähriger „Colonisation" die Dinge stehen; Wohngebäude 162,
Rindvieh 5438, Pferde 367, Esel 31, Schafe 3140, Ziegen 810,
Schweine 1174. Mit Zucker, Kaffee, Reis, Mais, Bohnen :c.
waren nur 350 Hectaren bepflanzt. Die weiße Bevölkerung be-
trug 1060 Kopfe, wovon 202 Engländer waren; 862 Einwoh-
ner sind Katholiken, 173 Protestanten. Die Beamten, Soldaten,
farbigen Einwohner und deportirten Sträflinge (230 an der Zahl)
sind dabei nicht mitgerechnet.
Gesellschaftlicher Verkehr zwischen den Eingeborenen
von Oftindien und den Engländern. Der Abstand zwischen
beiden ist in vieler Hinsicht sehr groß und ohnehin zeichnen sich
die Briten nicht durch gesellige Zuthunlichkeit oder leichte Um-
gangsformen aus; ihr steifes Wesen ist einer gegenseitigen Annähe-
rung 'hinderlich. Indessen kann sie doch, wie das Beispiel von
Bombay zeigt, stattfinden, und dann hat sie eine sehr wohlthä-
tige Einwirkung. In jener Hafenstadt verkehren die Europäer nicht
bloß im Handel, sondern überhaupt im gesellschaftlichen Leben mit
den Jndiern sehr freundschaftlich und im besten Einvernehmen. Das
ist namentlich der Vermittelung der Parsis zu verdanken, unter
denen es bekanntlich viele sehr gebildete Leute giebt, auch solche,
die mit den Fortschritten der europäischen Wissenschaft sehr wohl
vertraut sind. Jn Caleutta dagegen, der Reichshauptstadt, hatte
bis vor Kurzem eine solche gegenseitige Annäherung noch nicht
stattgefunden. Einige Gencralstatthalter suchten sich allerdings
mit einflußreichen Hindus auf guten Fuß zu stellen, die Sache
blieb aber in den Ansängen. Nun scheint der Bischof von Cal-
cntta abermals das Eis brechen zu wollen. Die Zeitung „Friend
of Jndia" meldet, daß er eine Abendgesellschaft gegeben habe,
die etwa 80 Personen, und zwar zur größeren Hälfte Eingebo-
rene, zahlte. „Alle Anwesenden verkehrten auf dem Fuße völliger
Gleichheit und die gegenseitige Höflichkeit ließ nichts zu wünschen
übrig. Bischof und Missionaire unterhielten sich mit mohammeda-
nischen Malayen und orthodoxen Brahminen, und die englischen
Oberrichter sprachen mit den indischen über Kuchen, Rheinwein
und Champagner. Englische Damen führten lebhafte Gespräche
mit vornehmen Herren (Bäbus) aus Benares oder Lacknau, die
ihrerseits freilich noch nicht so weit von Vorurtheilen emaneipirt
sind, daß sie ihre Frauen mitgebracht hätten. Dagegen hatte ein
zum Christenthum übergetretener Hindu seine Ehehälfte bei sich.
In Summa, man sprach von Kunst, Musik, Malerei, und Alles
nahm einen so guten Verlauf, daß sich Niemand langweilte.
Man discutirte im besten Hindustani über die Erziehung des
weiblichen Geschlechtes; einige Bäbus betonten mit Stolz, „daß
Jesus Christus nicht etwa ein Europäer, sondern ein Asiat ge-
Wesen sei." Nun sollen auch wissenschaftliche Vorträge für ein
gemischtes Publicum gehalten werden, und solche können offenbar
wohlthätige Anregungen geben, wenn die Engländer dabei ihrer
leidigen Sucht, kirchliche Dinge einzumischen und Proselyten-
macherei zu treiben, nicht sröhnen wollen.
Ausfuhr von Rio Janeiro 1866. Dieselbe stellte sich
aus den Werth von 7,716,002 Pf. St. Davon kommen auf Kaffee
9,674,480 Arrobas (6,772,136 Pf. St.), Zucker 280,246 A.
(88,000), Baumwolle 273,440 A. (410,166), gesalzene Häute
4,606,210 A. (53,300), getrocknete Häute 360,000 A. (930»),
Hörner 3000 Pf. St., Diamanten 360,000 Pf. St. ic. Rio er-
portirte also nahe an 300 Millionen Psund Kaffee. Die Baum-
wolleausfuhr betrug 1863 nur erst 2500 Ballen, sie stieg im
folgenden Jahre auf 13,600, und 1865 schon auf 29,700 Ballen,
1866 aber auf 41,000, die zumeist aus der Provinz San Paulo
kamen. Dort haben eingewanderte Nordamerikaner aus den Süd-
staaten dem Anbau Aufschwung gegeben. Brasilien liefert jetzt
schon theilweise eine Baumwolle, welche der georgischen nahe
kommt.
Die Verkehrs!,eweguug auf dem Amazonenstrome.
Wir haben jüngst die Bedeutung dieses riesigen Binnengewässers
und seiner Eröffnung für alle Flaggen geschildert. Sie erstreckt
sich nicht allein auf Brasilien, sondern auf noch vier oder viel-
mehr fünf andere Staaten Südamerikas. Bolivia hat mit dem
Aus allen
Hauptstrome Verbindung vermöge des Madeira; Peru durch
den Jurua, den Purüs und den Javary, Venezuela durch
den Rio Negro, Neugranada durch den Jya oder Putumayo
und den Japors. Auch Ecuador glaubt vermittelst desMorena
eine Verbindung herstellen zu können. — Das „Diario do Rio"
bemerkt, daß die brasilianischen Provinzen im Stromgebiete nur
256,480 Bewohner zählen, wovon 215,600 auf Pars., die übri-
gen, etwa 41,000, auf Alto Amazonas kommen. Von Peru kom-
men — die Provinz Loreto — 51,000 Seelen auf dieses Strom-
gebiet; von Bolivia — Departement Beni — 30,000; von
Venezuela 16,000; von Ecuador, Neu Granada, den boliviani-
schen Provinzen Santa Cruz und Cochabamba etwa 690,000,
so daß das ganze Gebiet des gewaltigen Amazonen-
stromes nur annähernd etwa eine Million Einwohner
zählt! Der Handelsverkehr hat sich binnen 15 Jahren ver-
dreifacht.
Zu Anfang des Jahres 1867 fuhren 17 Dampfer auf dem
Strome, auf einer Strecke von 2450 Miles, von der Mündung
bis Uurimagu as in Peru. Die brasilianischen Dampfer versehen
den Dienst bis Tabatinga an der Grenze von Peru (1721 Mi!es
von Para, welches nun Velen: heißt); dabei ist die Fahrt auf
den Nebenströmen nicht mit eingerechnet.
Im Amazonasgebiete haben Taufende von Verbrechern aller
Art eine Zuflucht gefunden und in abgelegenen Gegenden Nie-
derlassungen gegründet, sogenannte Mocambos, unabhängige
Gemeinden, deren einige bis zu 2000 Köpfe zählen und denen
bisher die brasilianische Regierung nichts anhaben konnte. Im
ganzen Gebiete kommt nur 1 Sclave auf etwa 45 freie Leute.
Colonifation in Westsibirien. Die russische Regierung
scheint es mit derselben ernst zu nehmen, und sie thut recht dar-
an. Die Hauptverwaltung von Westsibirien hat im Herbst 1866
einen Erlaß veröffentlicht, demzufolge etwa 32,000 freiwillige
Einwanderer eingeladen werden, sich im Gouvernement Tobolsk
anzusiedeln. Es wird ihncn freigestellt, besondere Dörfer zu bil-
den oder sich an die bereits vorhandenen anzuschließen.
Port d'Urban, der Seehafen des Natal-Landes, hatte
nach der Zählung von 1866 schon 4991 Einwohner; die Zahl
hatte sich seit 3 Jahren nur um 355 Seelen vermehrt. Die Zahl
der Weißen, meist Holländer und Engländer, betrug 3187 Köpfe,
der Kaffern 1349, der indischen Kulis 464. Die beiden
letzteren vertragen sich sehr gut und die Kulis geben sich Mühe,
die Sprache der Kaffern zu erlernen.
Zur kirchlichen Statistik Italiens. Die ungeheuren
Reichthümer und Einkünfte, welche bisher im Königreiche Italien
(Rom und was vom Kirchenstaate noch dazu gehört, ausgenom-
men) dem über die Maßen zahlreichen Clerus zu Gute kamen,
sind von der italienischen Regierung fpeeisicirt worden, und die
„Allgemeine Zeitung" giebt folgende Ziffern.
Die Rente der unterdrückten Klöster betrug 9,528,126
Lire. Das Personal vertheilte sich in folgender Weise: Prie-
ster und Chorschwestern 12,138; Laienbrüder und Schwestern 6030.
In den bereits unterdrückten Bettelorden: Priester und Chor-
fchwestern 7521; Laienbrüder und Converfen (Laien) 5335. In
den noch bestehenden Bettelorden: Priester und Chorschwestern
4203; Laienbrüder und Conversen 3169. Gesammtzahl: 38,396.
Die Rente der männlichen Orden, welche sich mit dem
Unterricht abgaben, betrug 451,732 Lire, die der weiblichen
904,313 Lire. Die männlichen Orden für die Krankenpflege hatten
Einkünfte von jährlich 151,401 Lire. Die 229 (!!) Bischofssitze
hatten an Gesammtrente 5,538,372 Lire. In dem Gesetzentwurf
war beabsichtigt, von den Bisthümern nur 69 beizubehalten,
mit einer Rente von 966,619 Lire, während die erübrigenden
4,572,372 Lire dem Cultussonds zufallen sollten. Die Einkünfte
der einzelnen Diöcefen sind natürlich sehr verschieden; wir süh-
ren einige der reicheren an: Florenz mit 52,144 Lire, Arezzo
79,466, Pisa 176,177, Bologna 79,695, Jmola 99,086, Ferrara
209,581, Ravenna 105,427, Mailand 89,486, Neapel 54,789,
Reggio 91,333, Palermo 139,951, Cefalu 111,850, Girgenti
109,757, Catania 158,174 Lire. Daneben giebt es wieder Diö-
cefen, welche kaum 6000 Lire Einkünfte haben. Die 288 Se-
Erdtheilen. . 191
minarien haben eine Rente von 3,225,001 Lire. Es giebt
268 Metropolitaneapitel mit 4599 Canonikern und 2651
Beneficiaten, 338 Collegiatstifte mit 4046 Canonikern und
1363 Beneficiaten, deren Gefammteinkünfte 208,614 L. betragen.
Die Gesammtzahl der Pfarreien beträgt 16,330, mit einer
Gesammtrente von 14,563,688 Lire, Vicepfarreien und Coadju-
torien 10,971 mit 3,524,439 Lire; Zahl der einfachen Benefi-
cien 19,075 mit einer Gesammtrente von 6,588,297 Lire. Kir-
chensabriken, Verwaltungen und dergleichen 9932, mit Einkünften
von 11,939,661 Lire. Die Gesammtrente des Kirchen-
Vermögens betrug bei der Gesetzvorlage (im December 1865)
67,444,656 Lire. Im Zusammenhang mit diesen Angaben geben
wir die jüngst veröffentlichte Statistik des Jesuitenordens
am Ende 1866: Gesammtzahl 8167 gegen 7952 im Jahre 1865.
Die Jesuiten sind in 21 Provinzen vertheilt, wovon 5 in Italien
mit 1588 Jesuiten.
Statistik der Priesterschaft in Oesterreich. Einem Be-
richte aus Wien zufolge leben im österreichischen Kaiserstaate
55,370 nicht regulirte Priester, welche vom Staate keine Be-
soldung erhalten. Unter denselben befinden sich ein Patriarch,
4 Primaten, 11 Erzbischöse, 58 Bischöse und 25 insulirte Aebte.
In 720 Klöstern zählt man 6754 Priester und 1917 Mönche,
in 298 Conventen 5198 Nonnen. Das geistliche Eigenthum wird,
viel zu gering, auf 185.670,000 Gulden veranschlagt, aber die
jährlichen Einkünfte daraus betragen mehr als 42 Millionen Gul-
den. Während die niedere Geistlichkeit zum Theil sehr ärmlich
dotirt ist, bezieht der Erzbischos von Olmütz die Kleinigkeit von
300,800 Gulden im Jahre, und der Abt vom Kloster Neuburg
158,000 Gulden. Dieses Kloster zählt 20 Mönche.
Das Mormonenthum und Brigham Noung. Es
war ein echter neuengländischer Uankee, Joseph Smith, welcher
die Secte der Mormonen stiftete. Sie ist einer von den man-
chen Ablegern des Fanatismus, deren das Puritanerthum der
UankeeS so manche geliefert hat und noch liefert. Das jetzige
Haupt der Mormonen, „der Seher und Prophet, welcher Gottes
Bibelwort befolgt und auslegt", Brigham Uoung, beruft sich in
Bezug auf die Vielweiberei, wie wir schon neulich bemerkten, aus
die Erzväter der Juden, die alle Jehova sehr angenehm gewesen
feien. „Beweist mir das Gegentheil aus der Bibel, ihr könnt
es nicht!" Auch beruft er sich darauf, daß die Polygamie von
Anbeginn Sitte und Brauch der überwiegenden Mehrzahl der
Menschen gewesen sei. Sie könne also Gott nicht unangenehm
sein, sonst würde er sie nicht zugelassen haben. Ein amerikanischer
Republikaner dürfe erst recht nichts gegen sie einwenden, denn
er habe sich der Majorität zu fügen.
Das ist Brigham Uoung's Logik und er sowohl wie jeder
Mormone ist von der Heiligkeit und Richtigkeit jener Ansichten
überzeugt. Wir freilich wissen, daß die Secte einem plumpen
Betrug ihr Entstehen verdankt und daß ihr Haften an wir
möchten sagen Mosaisterei ein Anachronismus ist; aber, was
hilft das Alles? Die Mormonen sind einmal da und gewiß eine
interessante Erscheinung. Brigham Uoung hat bei der letzten
halbjährlichen Conferenz in Great Salt Lake City seine Ansichten
wieder einmal erläutert und in seinem amtlichen Blatte, den
„Deseret News", mitgetheilt.
„Als ich zum letzten Mal in Lowell, Massachusetts, mich
befand, waren dort 14,000 Frauenzimmer mehr als männliche
Seelen. Sie leben und sterben als vereinzelte Personen und
werden vergessen. Haben sie den Zweck erfüllt, für welchen sie
geschaffen wurden, den Plan, für den sie auf die Erde gesetzt
wurden? Nein, das haben sie nicht. Zweitausend gottessürchtige
Männer sollten dort hingehen und jeder sollte sich 7 Weiber
nehmen (seveii wives apiece). So steht in der Bibel:
Und an jenem Tage sollen 7 Weiber die Hände auf einen Mann
legen und ihm sagen: Wir wollen unser eigen Brot essen und
unsere eigenen - Kleider tragen; laß uns genannt werden nach
deinem Namen und nimm unsere Schmach von uns. — Die
Regierung der Vereinigten Staaten hat nicht die Absicht, dahin
zu wirken, daß diese Prophezeiung erfüllt werde, aber Gott der
Allmächtige ist der Meinung, daß sie sich erfüllen solle. Glaubt
ihr nicht, daß Gott der Herr Sieger bleiben werde? Ich denke,
192 Aus allen
er wird Sieger bleiben und dazn wollen wir unsererseits ihm
behülslich sein. Es ist Beschluß des Allmächtigen, daß am jüngsten
Tage sieben Weiber sich festhalten sollen an einem Manne; er
soll sie berathen und unterweisen. Sie wollen ihre eigene Wolle
spinnen, ihre eigenen Kleider verfertigen und Alles thun, damit
sie ihr eigenes Leben bestreiten können, wenn sie nur seinen Na-
men tragen und die Schmach von ihnen genommen wird. Wo-
für ist das Gebot gegeben worden? Nicht sür diese Welt,
sondern für die Auferstehung. Der Geist des Herrn ist auf
das Volk gekommen und insbesondere auf die Weiber, damit der
Weg zur Erfüllung des Wortes gebahnt werde. Das weibliche
Geschlecht ist so lange betrogen und von den Männern unter die
Füße getreten worden, daß nun der Geist über sie gekommen ist
und daß sie einen Platz, einen Namen, ein Haupt verlangen;
denn der Mann ist des Weibes Haupt und er soll sie einführen
in das himmlische Reich unseres Vaters und Gottes."
Man sieht, daß es sich hier um einen religiösen Wahn han-
delt, dergleichen im Lause der Jahrhunderte so mancher austaucht.
Die Mormonen glauben an denselben und es ist wenigstens Me-
thode darin.
Christliche Missionaire in Ostasien. Da in jedem Jahre
den Missionsgesellschaften Millionen von Thalern zufließen, so
kann es nicht Wunder nehmen, daß ihre Sendboten in China
jetzt 55 protestantische Kirchen haben. Als Japan eröffnet wurde,
war ein großer Andrang von Missionairen dorthin, und jetzt,
Ende des Jahres 1866, befinden sich in Nangasaki und Jokohama
nicht weniger als 95 derselben. Bekehrt haben sie kaum ein paar
Seelen im Jnselreiche des Sonnenaufgangs; die Japaner lassen
sich auf solche Dinge nicht ein, wissen aber den Missionairen eine
praktische Seite abzugewinnen, indem sie sich von denselben in
europäischen Sprachen unterrichten lassen.
„Ein verschollener Pastor." Folgende Thatsache, welche
in einer Zeitung zu Helsingsors in Finnland zu lesen ist, kann
nur in einem Reiche vorkommen, das eine so ungeheure Ausdeh-
nung hat wie Rußland.
Im Jahre 1863 ward in der von Schweden und Finnen
bewohnten Verbrechereolonie Werchne-Sujetuk im Minusinschen
Kreise des östlichen Sibiriens ein Pastorat und eine Lehrerstelle
aus Kosten Finnlands eingerichtet und der Pastor Roschier nebst
dem Katecheten Adamson dazu designirt. Im Sommer 1864
erfolgte die Abreise, im Herbst die Ankunft, welche Hr. Roschier
in einem Briefe meldete, der außerdem eine Beschreibung des
schrecklichen Zustandes enthielt, in dem er die Colonie vorgefun-
den. Seit jener Zeit ist ihm zwar der Gehalt regelmäßig alle
Vierteljahre ausgezahlt, auch sind ihm Bücher gesandt worden,
aber keine Nachricht von ihm oder Adamson ist angelangt, weder
an den finnischen Senat, dem Roschier Bericht zu erstatten ver-
pflichtet ist, noch an seine Schwester, noch an die Tochter Adam-
fon's in St. Petersburg, noch an das Moskauer Consistorium,
dem jene Pfarre zugetheilt ist. Auch eine Anfrage an den Ge-
neral-Gouverneur von Ostsibirien ist bis jetzt unbeantwortet ge-
blieben. Nur einmal kam der Brief eines dortigen Ansiedlers
in Finnland an, der den Pfarrer als lebend und thätig schildert
und auch mit dem Petschaft desselben versiegelt war.
Aus einer Neuyorker Zeitung. In einer Nummer
des „Herald" findet man die nachfolgenden „Jtems" verzeichnet:
Eine Familie vergiftet. — Ein angeblicher Mörder verhaftet. —
Ein Bruder hat seine Schwester todtgefchossen. — Einem Phila-
delphia 8000 Dollars gestohlen. — Ein Schwindler verhaftet.
— Scheußlicher Mord an einem jungen Manne in Philadelphia
verübt. — Ein Bostoner schlägt seiner Mutter das Gehirn aus
dem Kopfe. — Ein Polizist in Washington von Dieben geschos-
sen. — Ein Mann, der seine Frau todtgeschlagen hat, verurtheilt.
— Ein Soldat geschossen. — Ein Mann bei einem Wettrennen
geschossen. — Falschmünzer in St. Louis. — Zwei Mordthaten
in Nashville. — Ein Betrüger in Washington verhaftet. — Ver-
Erdtheilen.
zweifelter Versuch eines Mörders zu entrinnen. — In Richmond
ein Mann ermordet. — Lynchjustiz in Minnesota, — Ein Mann
hat seiner Frau die Kehle abgeschnitten. — Ein Leichenbeschauer
geschossen. — Mord durch eine Negerin verübt. — Das ist ziem-
lich viel für ein christlich civilisirtes Land. In Brooklyn giebt
es 20,000 Weibspersonen, die Gewohnheitssäuftrinnen sind. —
Ein Mann in St. Louis hat sich an der Schnur der Peitsche
aufgehängt, mit der seine Frau ihn durchgeprügelt hatte. — Wer
Selbstmord begehen will, kann die Auslage sür Strick, Dolch
oder Pistole sparen; er braucht nur nach dem glücklichen Staate
Missouri zu gehen, dort wird er gratis todtgeschlagen. — Manche
Neger in Neuorleans trennen sich von ihren weißen Weibern, um
zu zeigen, daß auch sie gebildet und vornehm seien; sie werden
aristokratisch, — Am Weihnachtstage fand zu Neu-Ulm in Minne-
sota eine eigenthümliche Festfeier statt. Zwei Uankees, Campbell
und Liscomb, kamen von einem Jagdzuge, gingen in ein Trink-
Haus und stachen dort zum Zeitvertreib einen Deutschen Namens
Spinner todt. Neu-Ulm ist vorwiegend deutsch. Der Scheriff
verhastete die beiden Mörder und legte ihnen Handschellen an.
Als sie nach dem Gesängniß unterwegs waren, fiel die wüthende
Menge über sie her, schlug sie mit Knütteln und Steinen zu
Boden, hing sie auf und zerhackte sie dann in Stücke. Die
beiden Mörder hatten in der nördlichen „Freiheitsarmee" gedient!
Westaustralien als Deportationscolonie. Wir ent-
nehmen einem Berichte des Gouverneurs die Angabe, daß in
England 1865 nicht weniger als 556 Verbrecher zur Deportation
nach Westaustralien verurtheilt wurden. Sie ist bekanntlich die
einzige Colonie, welche noch Sträflinge aufnimmt. Am 31. De-
cember 1865 waren 8716 Deportirte dort,' etwa 500 waren im
Laufe des Jahres gestorben oder entflohen; 1066 wurden frei-
gegeben und 2180 erhielten Straflinderung; 1347 erhielten Er-
laubnißscheme und durften bei Privatleuten in Dienste treten,
manche Andere wurden beim Straßen- und Brückenbau verwandt,
noch Andere freigelassen, aber unter polizeiliche Aussicht gestellt.
In dem genannten Jahre ist es nur 47 Sträflingen geglückt, sich
durch Flucht zu befreien. Drei andere hatten sich auf einem
Holzschiffe versteckt und kamen nach Bombay in Indien, wo man
sie wieder einfing. Die meisten, welche in der Colonie sich zu
verbergen suchten, wurden zumeist von der aus schwarzen Austra-
liern bestehenden Polizeimannschaft wieder angefangen. Zur
Strafe erhält der Flüchtling 50 bis 100 Peitschenhiebe, muß 6
bis 18 Monate lang Eisen tragen und wird nach vollbrachter
Tagesarbeit von seinen Gefährten abgesperrt. Im Laufe des
Jahres fanden 1061 Bestrafungen für leichtere Vergehen und
205 für schwerere statt. Man sieht, die Zahl ist erschreckend
groß, selbst wenn man erfährt, daß je 42 von 100 Missethaten
in der Trunkenheit verübt worden sind. Die Gesammtbevölkerung
der Colonie betrug 20,279 Seelen.
Auf Neuseeland wendet man dem Bezirke Elutha aus
der Südinsel einige Aufmerksamkeit zu. Die Bewohner desselben
haben in einer Denkschrift an die Regierung hervorgehoben, daß
der Fluß Molineur ungemein wasserreich sei. Derselbe er-
gieße in jeder Secunde 26,600 Fuß Wasser ins Meer; das sei
mehr als der Nil und 16 Mal mehr als die Themse. Der Mo-
lineur sei für kleinere Fahrzeuge etwa 70 Miles weit schiffbar
und man werde ihn bis zur Quelle befahren können, sobald einige
Regulirungen des Strombettes vorgenommen, würden. Die ganze
Gegend eignet sich ganz ausgezeichnet sür Ackerbau und Viehzucht.
Saint Pierre und Miquelon, die beiden kleinen Fifcher-
infeln bei Neusundland, welche den Franzosen gehören, haben
ein sehr rauhes, unangenehmes Klima, sind aber gesund. Im
Jahre 1855 kamen aus je 69 Sterbefälle 10!) Geburten und ein
hohes Alter ist nicht ungewöhnlich. Hauptbeschäftigung ist der
Fischfang. Der Verkehr wächst; während 1863 die Handelsbewe-
gung, d. h. Ein- und Ausfuhr, 9,206,000 Francs betrug, stieg
sie 1864 auf 11,271,000 und 1865 schon auf 13,660,000 Francs.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Ncdaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Eine Bolera mit ihrer Mutter.
Sevilla und das
Volksbälle. — Eine Tanzakademie. — Va Campaneui.
Im Theater kommt fast allemal nach dem Schlüsse der
eigentlichen Vorstellungen ein ba'ile nacional, der nicht selten
das Beste am ganzen Abend ist. Doch sind diese Tänze im
Theater bei weitem nicht so farbig als die Volksbälle,
welche pomphaft als „Akademien" angekündigt werden. Der
Director" versendet Anschlagzettel auf Rosapapier; sie sind
theils spanisch, theils französisch abgefaßt und versprechen das
Menschenmögliche. Director Don Luis Botella in Sevilla ist
sehr gewandt im Verfassen solcher Anschlagezettel; er verspricht
Globus XI. Nr. 7.
in Andalusien.
Malagueüa del Torero. — El Ole. Der Bolen'.
grandes y sobresalientes bailes del pays in dem schönen
und geräumigen „Salon duRecreo'", rue de Tarifa, Nr. 1.
„Dona Amparo Alvärez", von mehreren der accreditirtesten
Sänger begleitet, „wird tanzen; der Director des Salons
hat kein Opfer gescheut, um den Anwesenden Genuß und
Entzücken zu verschaffen." Dann zeigt er an, daß nicht we-
niger als sechszehn verschiedene Tänze zur Aufführung gc-
langen. Wir wollen den Katalog hersetzen, zum Vergleichen
mit dem weiter oben Mitgetheilten; man ersieht aus ihm,
25
194 ' Sevilla und das Ve
was heutzutage beliebt ist. Los bailes de palillos seran los
siguentes: Seguidillas, bolero, manchegas, mollares,
boleras de Jaleo, la jacara, ole, polo del contraban-
dista, ole de la curra, jaleo de Jerez, malaguenas del
torero, boleras robadas, jota, vito, gallegada y los pa-
naderos acompafiadas ä la guitarra.
Davillier hat (im „Le Tour du Monde", Nr. 365) eine
solche „Akademie" vortrefflich geschildert. Der Saal bildete
ein höchst einfaches längliches Viereck, und von einer Aus-
schmückung hätte auch das schärfste Auge nichts entdecken
können. An den Wänden befanden sich vier große mit Stroh-
matten belegte Canapes und eine Anzahl von Stühlen; die
Fenstervorhänge bestanden aus weißem Kattun, die Wände
waren mit Kalk geweißt; an denselben hingen mehrere illn-
minirte Lithographien gewöhnlicher Art und Bilder berühm-
ter Tänzerinnen. Das Portrait des Herrn Directors in
großem Costüm, in welchem er den Jaleo de Jerez tanzt,
fehlte anch nicht; doch war er an diesem Abende trotz der
„Akademie" keineswegs stattlich gekleidet, denn er trug nur eine
ganz gewöhnliche Jacke. Trotzdem erschien dieser kleingewach-
sene aber doch schlanke Mann mit dem buschigen Backenbart
und dem schwarzen von Pomade glänzenden Haupthaar als
der wahre Typus eines andalnsischen Tänzers.
Während wir uns mit ihm, dem „Herrn des Hauses"
(dueäo de la casa), unterhielten, wurde es nach und nach
lebhaft im Saale. Die „Liebhaber", aficionados, trugen
zumeist Beinkleider von schwarzem oder kastanienbraunem
Tricot und die Marsille, kurze audalusische Jacke. Diese
Leute waren zumeist Handwerker; aus den höheren Stän-
den kommt selten Jemand zu solchen Castagnettenbällen. Von
Fremden waren Deutsche, Engländer, Franzosen und Russen
da, auch fehlten einige ausländische Damen nicht.
Woraus bestand denn nnn das Orchester? Aus einem
Ciego, einem blinden Manne, der ausgeigen sollte. Don
Luis Botella machte ein freundliches Gesicht, als der Saal
sich nach und nach füllte; er ging dann und wann znrCasse.
Der Eingangspreis ist, „je nach dem Aussehen der Personen,"
verschieden von 4 bis zu 20 Realen. Die Beleuchtung ließ
zn wünschen übrig, da nur sechs bis acht Lampen an den
Wänden hingen. Von der Treppe her vernahm man Wei-
berstimmen, Lachen und Castagnetten, und bald rauschten die
Gewänder. Sechs in Seide gekleidete Boleras, in dem
klassischen Costüm, welches unsere Bilder zeigen, traten ein;
mit ihnen kamen einige alte Frauen, welche Garderobenstücke
zum Umkleiden trugen. Zuletzt erschienen zwei wahrhaft
typische Gestalten, welche sich von den übrigen fernhielten:
eine junge, bildhübsche Tänzerin mit ihrer Mutter, die tief-
gebräunt war und wohl selber keinen Anspruch aus Schön-
heit machte. Das war eine Dneüa, wie sie nur im Buche
steht, und binnen wenigen Minuten hatte Dore die prächtige,
lebenswahre Skizze entworfen, welche der Leser sieht.
Dejad paso ä las bailadores! Macht den Tänzerin-
nen Platz! rief mit gewichtigem und befehlendem Tone der
maestro del balle. Das Balletcorps schritt majestätisch
einher und hielt einen Umzug durch den Saal, während Don
Luis Botella nicht ohne Würde allerlei Anordnungen traf
und die besten Sitze den personages de campanillas, „den
Leuten, welche Schellen haben," den „Dickköpfen" anwies,
denn sie hatten einen harten Thaler bezahlt. Besondere
Aufmerksamkeit widmete der Herr Director einigen Jnglis-
Manglis, welche durch ihr sehr exotisches Aussehen und ihre
Ungeduld, den Ball beginnen zu sehen, auffallend genug
waren. Die Audalusier hatten Stehplätze, wie es sich für
Leute gebührt, die nur halbe Eingangspreise zahlen. In-
zwischen kratzte der Blinde aus seiner Geige einige Noten
herunter und zwei Tänzerinnen traten an. Allgemeine Auf-
sieben in Andalusien.
merksamkeit. Jetzt klapperten die Castagnetten und der Tanz
begann.
Alza, Morenita! rief der Maestro der jüngsten zu,
deren bräunlicher Teint und schwarzes Haar dieser Bezeich-
nung wohl entsprachen.
Jui, Jerezana! Anda salero! riefen die Aficionadas
der andern zu. Sie war hübsch gleich dem „Mohrenmäd-
chen" und ein recht robustes Ding.
Die solchergestalt durch Beisall aufgemunterten bailari-
nas machten ihre Sache vortrefflich. Dann traten sie ab und
ein anderes Paar kam an die Reihe, um bald einem dritten
Platz zu machen. Man bezeichnet sie als boleras dero-
badas, Tänzerinnen, die sich sortschleichen, weil jede der Reihe
nach sich entfernt, um gleich nachher, nachdem die anderen
ein Gleiches gethan, wieder anzutreten.
Die Zuschauer machten den Tänzerinnen Complimente,
während die Dneüas kamen, um jeder ein wollenes Tuch
über die Schultern zu werfen, denn die Mädchen hat-
ten sich angestrengt und holten aus tiefer Brust Athem.
Dann gingen sie in ein Nebenzimmer, wo das Büffet war,
und ließen sich mit Zuckergebäck und Limonade regaliren. Ihr
Appetit ließ nichts zu wünschen übrig. Die Russen und
Jnglis-Manglis waren splendid und die Mädchen konnten
sich nach Herzenslust eine Güte thun.
Jetzt kam dieHanptperson, laCampanera, eine schlanke,
bräunliche Gestalt, die mit einer reizenden Leichtigkeit und in
höchst ungezwungener Weise auftrat. „Sie war bewaffnet
mit zwangloser Dreistigkeit und mit Castagnetten." Wir
hatten sie schon vor etwa zehn Jahren tanzen sehen, sie war
also nicht mehr neu, aber was ihr an Jugendfrische man-
gelte, wurde reichlich durch Kunst ausgewogen. Sie ist von
sehr hoher Abkunft, Tochter desThürmers (carnpanero) auf
der Giralda, und sie blieb getreulich bei ihrem Vater wohnen,
diese Campanera, des Thürmers Töchterlein. Jetzt tanzte
sie den Jaleo de Jerez. Gleich die ersten mudanzas (Figu-
ren) wurden vortrefflich executirt, obwohl der Blinde dann
und wann falsch geigte; darüber entstand Murren, man rief:
Weg mit der Geige, her mit der Guitarre! Aber der Gui-
tarrenspieler war noch nicht da. Im Nu riß Dore dem
Blinden die Violine sammt dem Bogen aus der Hand und
spielte sofort einen Jaleo auf. Bekanntlich ist er ein aus-
gezeichneter Geiger und kein geringer Tenorfänger; Rossini
hat ihm das öffentlich bezeugt. Nun allgemeiner Beifall
von Seiten des Pnblicnms und auch der Campanera, welche
sich selbst übertraf und in die allerbeste Laune versetzt wurde.
Sie nahm sich einen Jnglis-Manglis, obwohl derselbe weder
ein Adonis noch rät' Apollo war, aufs Korn, tanzte vor ihm
und warf ihm dann ein gesticktes Taschentuch zu. Der
Jnglis-Manglis mit dem laugen rothen Backenbarte wußte
nicht, was das zu bedeuten habe und blickte fragend umher.
Nach dem Tanze wurde ihm dann zu Gemüthe geführt, daß
es guter Ton sei, eine solche Auszeichnung generös zu er-
wiedern, indem man in einen Zipfel einen blanken Thaler
knüpfe, oder noch besser ein Goldstück. Der Engländer that
das letztere und die Campanera machte zum Dank dafür
einige Pas vor ihm.
Endlich erschien der langersehnteGuitarrero nebstmeh-
reren Sängern. Dieser Enrique Prado, denn so hieß er,
war seines Zeichens ein Kammmacher, hatte eine hübsche
Stimme, sang aber, wie fast alle Andalusier, etwas durch
die Nase. Er gab manche hübsche Couplets zum Besten,
welche mit Tänzen abwechselten. Im Ganzen war der
Abend farbig und genußreich, doch' bildete er nur eine Art
von Vorspiel zu pikanteren Auftritten, wie man sie auf den
bailes de candil erlebt. Diefe Volksbälle werden in den
Vorstädten Triana und Macarena abgehalten. Ein lustiger
Iii einer Academia de Vayle z» Sevilla.
Sevilla und das Volksleben tu Andalusien.
197
Guitarrenspieler Namens Coliron führte die beiden Tou-
risten beim „Onkel" Miüarro ein; dieser Zigeuner hielt
in Triana ein Gasthaus, in welchem die Majos und Majas
dann und wann zu tanzen pflegen.
Die bailes de candil, Tanzvergnügungen der unteren
Classen, finden gewöhnlich in Schenken (tabernas oder bo-
tillerias) statt. Den Namen führen sie, weil die Belench-
tung insgemein sehr spärlich ist und nur aus einem candil,
einer kupfernen Lampe, besteht, welche an der Wand hängt.
Man nennt sie auch wohl Bälle mit dicken Knöpfen oder
dicken Schellen (bailes de boton gordo oder cascabel
gordo), weil die Leute aus dem Volke an Jacke und Hosen
dicke Knöpfe aus Filigranarbeit zu tragen Pflegen.
„Wir ließen uns von Coliron in das Zigeunerviertel
der Triana zum Onkel Miüarro führen. Vor der Thür
standen bereits einige Lente, die Papiercigarren rauchten;
wir begrüßten sie und gingen ohne Weiteres in den «saal, in
welchem wir einige Bekannte fanden, die wir schon in der oben
La Malaguena bei Toro.
geschilderten „Akademie" gesehen hatten. Dann begaben wir
uns in den Patio, einen mit Säulen umgebenen Hofraum, der
auch noch ans den guten Zeiten der mohammedanischen Mo-
risken stammte, und in dein hundertjährige Citronenbänme
und Bananen wuchsen. Die Luft war aromatisch, der Abend
schön. Zwischen den Säulen standen gewöhnliche Bänke und
Stühle. Die „Blüthen und Blumen" der Cigarreras hat-
ten sich eingesunden; bald begann das Klimpern aus den
Guitarren und dann ließ sich el Barbero hören, der für
einen sehr renommirten Sänger galt. Er stimmte den Polo
an, welcher .als Gesang und Tanz allgemein beliebt ist, gleich
der, wie schon früher bemerkt, von den Morisken herstam-
Menden Caüa, die aber eine melancholische Weise hat. Diese
ist der wahre Prüfstein für den andalnsischen Sänger, nament-
lich den Maulthiertreiber, Schleichhändler und derartige Leute,
denn sie erfordert sehr starke Lungen, weil sie sich viel in
Sevilla und das Vt
tiefen Tönen bewegt, und dann wieder ungemein lebhaft wird
um in die höchsten Lagen überzugehen. Es möge hier ein- für
allemal gefagt werden, daß die polos, tiranas, rondenas,
oles, malagueüas, tonadas nnd noch manche andere Volks-
gesänge und Tänze, gleich deu oanas, arabischen Ursprungs
oder doch moriskischen Weisen nachgebildet worden sind."
Der Barbero und Coliron machten ihre Sache gut. Je-
uer begann:
La que quiera que la quieran
Con faitiga y caliä,
Busque un mozo macareno
Y lo güeno provara!
„Die, welche mit Gluth und Leidenschaft geliebt werden
will, braucht sich nur einen Burschen aus der Macarena zu
holen und dann hat sie das Beste, was es giebt!"
El Ole gaditano.
alter Zigeuner zu, dem die Tänzerin nicht lebhaft genug zu
sein fchien; sie lächelte und drohete ihm mit dem Zeigefinger.
Da nahm der, welcher den Barbero abgelöst hatte und wel-
chen man den Cyreuäer nannte, das Tamburin und warf es
vor der Candelaria nieder. Nun war fie Feuer und Flamme
nnd tanzte mit wunderbarer Schnelligkeit um das Justru-
meut herum.
Endlich waren die Tänzer erschöpft und sanken nieder.
Aber dem alten Zigeuner war nichts geschenkt; er hatte „mehr
Knoblauch in die Brühe" verlangt und sie forderten ihn nun
auf, una tonada zum Besten zu geben. Das Publicum
forderte stürmisch von ihm eine Tonada. Der Alte sang:
Moza güena, tu zandunga
Yale mas que Gibrartä;
Güenos clises abiyas
Eres jembra e calia!
Zleben in Andalusien. 199
Allgemeiner Beifall uud Verlangen nach einem andern
Couplet. Der Barbero begann:
Yen acä, chiquiya
Que vamos a bai'lar un polo
Que se junde medio Seviya.
Also: „Komm, Kleine, wir wollen einen Polo tanzen, daß
halb Sevilla zusammenstürzt!"
Der Barbero hatte ein vortrefflich gewachsenes, robustes
Mädcheu zum Tauz aufgefordert, una moza rolliza, wie
die Spanier sagen; man nannte sie die Candelaria nnd
sie entfaltete nicht geringe Anmuth. Das Pnblicmn rief,
daß sie ein verführerisches, ein entzückendes Wesen sei; der
Enthusiasmus steigerte sich, selbst die Frauen wurden davon
ergrissen. Alza, Morena! Mas ajo al pique! (Vorwärts,
Brünette, mehr Knoblauch in die Brühe!) So rief ihr ein
Los Pcinaderos, sevillianischer Tanz.
„Reizendes Mägdlein, deine Anmuth ist mehr werth, als
ganz Gibraltar; du hast reizende Augen und bist ein voll-
endetes Weibsbild!"
Noch eins, Onkel, noch eins! rief die Candelaria, welche
nun den alten Zigeuner neckte, über dessen sehr abgebrauchte
Stimme ohnehin allerlei Stichelreden fielen. Er aber rief:
Yiva la Macarena, trank ein Glas Branntwein und fang
wieder ein Couplet. Dann tanzten einige Zigeunerinnen
den Zarandeo und den Zorongo. Während der Pausen
wurde ein allerdings sehr frugales Mahl eingenommen, das
aus Brot, Sardinen und in Oel gebackenen Fifchen bestand;
an Wein und Branntwein war kein Mangel, aber die Spa-
nier sind im Trinken mäßig.
Ein junger Torero, der erst vor wenigen Wochen aus
Jerez nach Sevilla gekommen war, nahm die Guitarre uud
sang las ligas de mi morena, d. h. die Strumpfbänder
200
Sevilla und das Volksleben m Andalusien.
meines braunen Mädchens; dann stimmten andere Sänger
die hellen und lebhaften Weisen der Caleseras de Cadiz
an, oder die Tiranas mit langsamem Tacte, dann auch Ron-
denas und Malaguenas mit melancholischem Accent und
noch andere echt andalusische Stücke. Es war eine förmliche
Blumenlese.
Nach den Gesängen abermals Tanz. Da war ein juu-
ges Zigeunermädchen, kupferbrauu, mit krausem Haar und
Augen schwarz wie Gagat (ojos de azabache) und begann
den Tango americano mit großem Feuer. Der Tango ist
ein Negertanz, die Melodie abgerissen und so zu sageu gehackt.
Daun folgte der Punto de la Havana, mit welchem man
die Decimas begleitet, welche nmn während der Pausen zwi-
schen den Tänzen zu singen pflegt. Manche derselben enthal-
ten bis zu dreißig Couplets. Zuletzt kam eine Rondefia mit
Couplets. Der Tanz wurde von einem Gnapo, Stutzer aus
der Macarena, mit einer reizenden Pareja oder Partnerin
aus demselben Stadtviertel entzückend schön aufgeführt. Da-
zu wurde gesungen: „Schöne Gottheit, weine uicht, beklage
dich uicht über meine Liebe. Es ist ja den Bienen eigen,
daß sie stechen, wo sie Blumen finden."
Hermosa dei'dad, no llores,
I)e mi amor no tomes quejas,
Que es propio de las abejas
Picar donde encuentran flores.
Auf Messen, Jahrmärkten und bei Wallfahrten zu den
Heiligen führt man Tänze unter freiem Himmel auf. Der
Spanier improvisirt sie überall, wo es ihm paßt; er braucht
keinen Saal und die Musik ist überall zur Hand, denn in
jeder Schenke ist eine Guitarre zu finden, und an blinden
Der Bolcro.
Geigenkratzern ist auch kein Mangel. Die erste beste Tän-
zerin giebt den Zapateado zum Besten; er ist unter allen
andalusischeu Tänzen der lebhafteste, und wird gewöhnlich von
nur einem Mädchen getanzt; sobald dieses ermattet, tritt
sofort ein anderes ein. Der Name bezeichnet das Wesen
des Tanzes; zapatear heißt zu wiederholten Malen mit
dem Fuß auf den Boden stampfen. Die jüngste Zigeunerin
setzte uns durch ihre man möchte sagen unglaubliche Beweg-
lichkeit in Erstaunen; sie stampfte auf, während sie gleich-
zeitig mit unnachahmlicher Grazie ihre schwarze Sammet-
mantille flattern ließ und mit den Armen anmnthige Bewe-
gnngen machte.
Eine sehr heitere Melodie hat der Vito sevillano, wel-
chen die Stutzer in der Art tanzen, daß sie ihn „zwischen
zwei Gläsern andalnsischen Weins" aufführen, gewöhnlich in
den Melonengärten und in den Landhäusern am Gnadal-
quivir. Wir hatten eine Einladung erhalten, dort einem
ländlichen Tanze beizuwohnen, der gleich nach dem Früh-
stücke begann. Auf dem Tische standen noch einige Gläser
voll goldgelben Weins. Ein Mädchen, „die schöne Encar-
uaciou", sprang wie ein Reh aus deu Tisch und sogleich be«
gann das Spiel mit Guitarre, Cclstaguetteu und Panderos.
Sie tanzte zwischen den Gläsern, ohne eins derselben zu be-
rühren, mit wunderbarer Leichtigkeit, gewandt und sicher.
Dazu der Gesang: „O herrliche, liebliche, nahe dich mir,
hier ist der Stier" :c. Dann ein anderer: „Die Mädchen
sind Gold, die Frauen Silber, die Wittwen sind Kupfer und
die Alten sind Blech." ' >
Am obern Amazonas. Der peruanische Stromhafen Nauta.
201
Las doncellas LvH de oro,
Las casadas son de plata;
Y las viudas son de cobre,
Y las viejas de hoja de lata.
Das Mädchen tanzte dabei immer fort. Da rief eine
Stimme: Tire oste la cana! Das Glas schleudern, tirar
la cana, bedeutet, daß die Tänzerin mit rascher Bewegung das
Glas emporhebt und den Inhalt während des Tanzes, der nicht
unterbrochen wird, austrinkt, ohne einen Tropfen zu verschüt-
ten. Encarnacion machte ihre Sache vortrefflich, trank, machte
noch einige Sprünge und Wendungen und empfahl sich dann.
Ole! ist ein Zuruf, mit welchem man die Tänzer an-
muntert. Davon hat der Ole gaditano den Namen, und
er soll genau mit jenen gaditanischen Tänzen der Römerzeit,
welcher wir weiter oben erwähnten, übereinstimmen. Er
erfordert wo möglich noch mehr Gewandtheit und zwanglose
Haltung als die übrigen Tänze, und wir haben ihn von der
berühmten Nena vortrefflich ausführen sehen. Das Mäd-
chen war biegsam wie ein Rohr und bog sich mit einem ge-
radezn hinreißenden Schmachten mit Schultern und Armen
bis zur Erde nieder. Da lag sie, gesenkten Hauptes wie in
' Exstafe, man wußte nicht, ob am Boden oder frei schwebend;
dann, wie von einem elektrischen Schlage berührt, erhob sie
sich, tanzte wieder und klapperte mit den Castagnetten.
Jede Stadt Andalusiens hat ihren besondern Tanz, in
welchem sie hervorragt; so Cadiz deu Ole gaditano, Jerez
seinen jaleo, Ronda die rondena, Malaga die malaguena,
aber in Sevilla werden sie alle gemodelt und gleichsam ver-
edelt oder idealisirt. „Dort ist die Heimath unnachahmlicher
Amirath, der unwiderstehlichen Anziehungskraft, der entzücken-
den Attitüden, der glänzenden Touren, der seinen Bewegnn-
gen vereinigt."
In früheren Zeiten wurden bei den Fiestas auch alte
Romanzen gefnngen, die zum Theil moriskischen Ursprnn-
ges sind. Jetzt ist der Brauch nicht mehr allgemein, aber
doch noch nicht völlig in Abgang gekommen.
Die andalnsischen Tänzerinnen sind denen, welche wir
auf unseren Theatern sehen, bei weitem überlegen. Es ist
in ihnen nichts von Abrichtung und Zwang; nichts ist ge-
macht, alles ist urwüchsige, freie Bewegung, Unabhängigkeit,
Inspiration, ein Sichgehenlassen des ganzen Körpers, das
man nur hier und nirgendwo anders findet. Man sieht,
diese Mädchen tanzen aus Vergnügen, ihrer selbst wegen; die
Bewegungen ihrer Arme, die ganze Haltung, der meneo,
haben einen ganz andern, viel mehr packenden und fesselnden
Charakter als die geometrischen Figuren und das eingelernte
BeHaben unserer Ballettänzerinnen. Bei den Andalusiern ge-
wahrt man davon keine Spur, uichts erinnert an Martern
der Lehrzeit und an das „Einstudiren". Alles ist ungemachte
Wellenlinie, und weder das Gehüpfe des Ballets noch das
ganz unschöne, weite Auseinandersperren der Beine kommt
bei ihnen vor. Von den Tänzern kann man allerdings nicht
mit so uneingeschränktem Lobe sprechen, aber sie sind wenig-
ftens nicht unbedeutender als unsere Ballettänzer. Die Bo-
leras und Bailarinas auf den spanischen Theatern wer-
den nur mäßig bezahlt; den Bolero und den Fandango tanzt
man, wie schon angedeutet wurde, fast nur noch auf den Bret-
tern. Der elftere kam gegen Ende des vorigen Jahrhunderts
auf, und wir wissen, daß er von Don Sebastian Cerezo
um 1780 erfunden worden ist; auf den Theatern wird er
gewöhnlich von mehreren Parejas, Paaren, getanzt, in Pri-
vatkreisen dagegen nur von einem Paare. „Der Bolero
macht trunken, der Fandango entflammt," sagen die Spa-
nier. Der letztere war gegen Ende des siebenzehnten Jahr-
Hunderts bekannt, und 1712 schrieb ein Dechant aus Ali-
caute, Namens Marti, eine lateinische Abhandlung über
denselben. —
Die Tänze sind, wir wiederholen es, für das Volksleben
in Spanien von so großer Bedeutung, daß es angemessen
erschien, näher aus dieselben einzugehen. Wir haben aber
nicht einmal alle jene aufgezählt, die in Andalusien vorkom-
men; auch die übrigen Landschaften haben besondere Tänze.
Um obern Amazonas. Der peruanische Stromhafen Uauta.
ii.
Nauta hat, wie bemerkt, eine keineswegs ansprechende Um-
gebung, aber am entgegengesetzten AbHange des Hügels
strömt ein kleiner Fluß, der aus dem Innern der Wälder
kommt. Sein Lauf ist ungemein ruhig. Die Indianer in
der Pampa delSacramento würden ihn als Ghens bezeich-
nen, am Ucayäli, zu Sarayacu, würde mau ihn Mayn
nennen,'hier aber macht sich schon brasilianischer Einfluß
geltend und deshalb heißt er J-garape. Der Ausdruck ist
aus der Sprache der Tupinambas entlehnt und bedeutet
„kleiner Fluß" oder, streng wörtlich genommen, „eingeschlos-
jener Fluß", von i, Wasser, und garape, Schlucht. Er ist
mehrere Meilen lang, an manchen Stellen bis nahe an 100
Fuß breit und von 12 bis 30 Fuß Tiefe. Marcoy fuhr
eine Strecke weit auf ihm und bereuete es nicht. Der Pflan-
zenwuchs an den Ufern war geradezu prachtvoll und über
alle Beschreibung üppig. Dann und wann lachten der blaue
Himmel und die helle Sonne in dieses Walddunkel hinein,
in welchem ein seltsames, magisches Zwielicht spielte. Schade
nur, daß an manchen Stellen ein gefräßiger Kaiman das Be-
Hägen störte! —
Globus XI. Nr. 7.
Nauta liegt am linken User des Amazonas (— en la
orilla izquierda del Maranon; Paz Soldan giebt,
S. 545, unrichtig an, es liege auf dem rechten User: „si-
tuado en el mär gen derecho del rio" etc. — A. —)
und alle Fahrzeuge, welche aus den oberen Flüssen kommen
oder vom Amazonas aus in dieselben Hineinstenern wollen,
halten dort an. Man handelt mit Strohhüten (sombreros),
gesalzenen Fischen, Sassaparille, mit Lonas und Tocuyos,
d.h. Baumwollenzeugen und Knrzwaaren, mit Messern, Bei-
len, Aexten, Waldmessern, Glasperlen und sonst noch allerlei
Kleinigkeiten; aber bis heute ist Alles bloßer Tauschhandel.
Zn den eben angegebenen Landeserzeugniffeu kommen noch
Vanille, Copaivabalsam, Copal, verschiedene Harze :c. Vor
1851 war der Platz durchaus unbedeutend, aber seitdem dann
im folgenden Jahre die Dampfschifffahrt begann, fing er an
sich zu heben. Die peruanische Regierung wollte auch die
Nebenflüsse in ihrer Provinz Loreto mit Dampfern befahren
uud kaufte zwei solche mit geringem Tiefgange in Nordame-
rika; sie wurde aber von den Pankees betrogen und mußte
1856 die beiden Fahrzeuge als unbrauchbar außer Dienst
26
Am obern Amazonas. Der
stellen. Später sind dann andere an die Stelle getreten
(Raimondi S. 91). Nanta liegt nur 153 spanische Varas
oder 128 Meter über dem Oeean.
Marcoy fuhr auf einer Egaritea, von welcher wir in
der vorigen Kummer eine Abbildung gegeben, den Amazonas
hinab bis nach Loreto, dem letzten Dorf an der perua-
nischen Grenze; nach diesem hat die Provinz ihren Namen
erhalten. Nach einer zweistündigen Fahrt kam er an der
Mündung des Ucayali vorüber; der Hauptstrom macht dort
eine große Krümmung. Das Fahrzeug war iu Brasilien
gebaut worden und hatte Ähnlichkeit mit einem kolossalen
Holzschuh. Das Schisfsvolk bestand aus sechs Ruderern,
lauter Cocamas, und einem Piloten. Am Morgen ruderten
sie sehr wenig und vermieden jede Anstrengung, dafür tran-
ken sie aber desto mehr Caysuma. So heißt iu diesenGe-
genden das Getränk, welches man in Peru Chicha nennt
und das am Ucayali Mazato heißt; die alten peruanischen
Onichuas bezeichneten es als Acca und in ihrem Lande wird
es aus Mais bereitet, während man zrnn Mazato Bananen
verwendet; doch ist die Art der Verfertigung eine und dieselbe.
Die gekochte Frucht wird gepreßt, man läßt sie gähren,
destillirt sie ein wenig und so dient sie zugleich als Getränk
und als Nahrung. Am obern Amazonas bereitet man die
Caysuma aus süßen Mauiocwurzelu; unterhalb der Mündung
des Rio uegro, abwärts bis Para, ueunt man dieses anre-
gende Getränk Macachera.
Das Schiffsvolk landete im Laufe des Tages mehrmals,
lediglich um ein wenig am Ufer umherzuschweifen, denn alle
diese Indianer sind von Hans aus Vagabunden. Marcoy
benutzte die Gelegenheit, um Pflanzen zu sammeln und fand
an: linken Ufer des Amazonas anf einer Strecke von nur
drei Leguas nicht weniger als elf Varietäten von Ficus; am
rechten Ufer walteten Gyneriums und Cecropias vor.
Nachmittags gegeil 4 Uhr begannen die Cocamas sich
tüchtig hinter die Ruder zu legen und machten nun ihre Sache
ganz vortrefflich. Ihre fchanfelförmigen Ruder gleichen den
Schwänzen des Lamantins; sie halten damit genauen Tact
und der Pilot pfeift, um sie aufzumuntern. Wenn er da-
mit aufhört, beginnen die Ruderer ihren Gefang, in dem
etwas ungemein Trauriges liegt. Es sind lauter Kehltöne,
und statt der Worte wiederholen sie immer und immer wieder
ein Hooonh.
Die Cocamas sind seit längerer Zeit getauft und Chri-
sten, so weit derartige Indianer eben als solche bezeichnet
werden können. Sie haben ihren alten Glauben verloren
und dafür Beinkleider und Hemd angezogen, auch ihre alten
Sitten und Gebräuche eingebüßt, fo sehr, daß ihnen nicht
einmal eine Erinnerung daran geblieben ist. Nur die Sprache
ihres Stammes haben sie bewahrt, aber sie ist durch den
Verkehr mit den Brasilianern im Osten und den Peruanern
im Westen schon sehr verändert worden und wird im Fort-
gange der Zeit mehr und mehr zersetzt werden.
Wir haben früher aus dem Vocabnlarinm der verfchie-
denen Stämme am Ucayali einige Mittheilungen gegeben;
Marcoy hat etwa 80 Wörter aus der Sprache der Cocamas
aufgezeichnet, aus welcher wir einige wenige anführen.
Gott, der Schöpfer: Yara; der böse Geist, Teufel:
Mahi; Himmel, Sonne, Tag: Cuarachi; Kahn, Pirogne:
Egara, daher Egaritea; Ruder: Apocuyta; Blasrohr,
aus welchem man Pfeile bläst, also eine fogenannte Sarba-
cane: Punä; Gift: Huirari; Maniok: Yahuiri; Banane:
Panara; Baumwolle: Hamaniu; Wachs: Mapa; Peccari-
Schwein: Tahuatzu; Tiger (Jaguar): Yahuara; Kaiman:
Yacare. — Von Zahlwörtern haben die Cocamas in ihrem
eigenen Idiom nur die ersten vier: 1 huipi, 2 mucuyca,
3 musaperica, 4 iruaca; darüber hinaus haben sie die
manische Stromhafen Nanta. 203
Zahlwörter aus dem Qnichna entlehnt, also: 5 piccho,
6 zoeta und so weiter.
Gegen sechs Uhr Abends rnheten Ruderschlag und Gesang.
Die Egaritea legte nun bei Omaguas au, einem der früher
genannten Dörfer, welche zum District Nauta gehören. Der
Ort ist geradezu widerwärtig und hat auch eiue unangenehme
Lage an einer Böschung von rothgelbem und braunem Thon,
auf welchem hin und wieder ein Büschel Gras wächst. Die
elenden Hütten bilden zwei verschiedene Gruppen; die größte
unter ihnen hat ein Dach in Gestalt eines Bienenkorbes und
ein Kreuz. Das ist die Kirche. Im Hintergrunde dichter
Wald. Beim Einbrüche der Dunkelheit sah das Dorf frei-
lich nicht so schlecht aus, wie bei hellem Tage; ans den Hütten
stieg blauer Rauch empor, welchen ein leichter Wind nach
Norden hin wehete; die letzten Strahlen der Sonne vergolde-
ten die Wipfel der Bäume.
Omaguas ist ein Missionsdorf, welches 1697 von Je-
sniten aus Ecuador gegründet und unter den Schutz des hei-
ligen Joachim gestellt wurde. Anfangs lag es am rechten
Ufer des Stromes, etwa eine Meile oberhalb der heutigen
Stelle. Als aber unter den Omagnas-Jndianern eine Seuche
ausgebrochen war, hielt man die Oertlichkeit für ungesund
und sie wurde verlassen. Ein Theil der Indianer ließ sich
„in der Nähe", am kleinen Fluß Ambiacn nieder, der
nur 40 Leguas entfernt lag. Andere fuhren den Amazonas
hinauf bis in den Hnallaga, siedelten sich neben den Dörfern
der bekehrten Cocamas an, wanderten später mit diesen in
die Pampa del Sacramento und uoch heute wohnen einige
ihrer Nachkommen in Sarayacn.
Aber während diese Omaguas sich iu den westlichen Ge-
genden niederließen, wurden ihre Stammgenossen, welche am
Ambiacn wohnten, von einer bösartigen Blatternkrankheit
heimgesucht. Sie verließen ihr Dorf und baneten das heu-
tige Omaguas. Sie waren aber in Folge der Seuche so sehr
zusammengeschmolzen, daß die Missiouaire eine Anzahl von
Cocamas bei ihnen ansiedelten. Beide Stämme vermischten
sich mit einander; nach einiger Zeit bestand die ganze Ein-
wohnerschast nur aus Mestizen und seit etwa achtzig
Jahren giebt es iu Peru keinen einzigen reinblüti-
gen Omagna mehr. Diese Art und Weise des Erlö-
schens von Stämmen und seine Verwandlung in Mischlinge
kommt iu Südamerika mehrfach vor. Aber die Omagnas-
Mestizen kann ein anthropologisch geübtes Auge leicht er-
kennen an dem dicken Kopfe, an der eigentümlichen Abrnn-
dnng deö Gesichtes, das weder Halbslächen noch Ecken zeigt,
an den weichen Zügen nnd an einem gewissen gutmüthigen
Zuge. —
Marcoy verweilte zwei Tage lang in diesem wenig an-
genehmen Dorfe, in einer großen Hütte, die eine Art von
Karawanserei, einen Einkehrstall möchte man sagen, vorstellte;
in demselben finden durchreisende Kaufleute ein Unterkom-
men. Die Hütten der Indianer sind höchst armselig und
die Stechmücken scheinen hier ein Paradies zu haben. Sie
marterten den Reisenden bis zur Verzweiflung; am dritten
Morgen badete er im Strome, um die fieberhafte Aufregung,
eine Folge der Mückenstiche, etwas zu dämpfen und flüchtete
dann in seine Egaritea, welche gleich nachher rasch stromab
schoß. Das Dorf der Omaguas-Cocamas zählt 29 Hütten
und 115 Einwohner.
Das Schiff fuhr nun in der Nähe des rechten Ufers.
Marcoy hätte gern einige Leute vom Stamme der Mayo-
rnnas gesehen, deren Gebiet 30 Leguas am Ucayali und
etwa 75 Legnas am Amazonas einnimmt. Aber keiner
kam in Sicht; das Ufergelände war bald mehr oder weniger
kahl, dann und wann zeigte es anch wohl kräftigen Pflan-
zenwnchs und im Strome lagen sehr viele Inseln. Gegen
26*
Theodor Kirchhoff: Streifzüge im Nordwesten Amerikas, namentlich in Oregon.
205
Abend wurde nach den? linken User hinüber gerudert und
bei Einbruch der Dunkelheit vernahm Marcoy das Lünten
einer Glocke. Aus der Mission Jquitos vernahm er das
Angelus.
Auch dieses Dorf. ist armselig. Es liegt zwischen Ba-
nanen, Arum, Cauacorus, Helikouieu, Strelitzien und eini-
gen Palmen hoch Uber dem Ufer. Man steigt eine in den
Thon eingehauene Treppe etwa 60 Fuß hoch aufwärts, ge-
langt auf eine Ebene und dort liegen die Hütten; auf den
meisten hingen die Dächer in Fetzen. Jnl Ganzen zählt man
zweiunddreißig Wohnungen, welche sich in zwei Gruppen
theilen; an Ort und Stelle bezeichnet man sie stolz genug
als Barrios, Vorstädte. Die Einwohnerzahl beläuft sich auf
wenig über hundert Köpfe. Das Dorf lag von 1791 bis
1817 weiter im Innern und die ganze Bevölkerung bestand
aus Jquitosindianern. Da traf es sich, daß in Folge von
Erdbeben und vulkanischer Thätigkeit der Feuerberge vou
Pasto die Quellen versiechten; die Leute zogen fort uud sie-
betten sich hier am Amazonenstrom an. Dort vermischten
sie sich mit anderen Stämmen und die Reinheit der Race
ging verloren. Heute sind sie so völlig geblendet mit ihren
Nachbaren, nämlich den Omaguas und Cocamas am rechten
uud den Ticuuas am linken Ufer, daß nun in ihnen das
Blut vou vier verschiedenen Stämmen fließt. Sie
bewohnen 19 Hütten; in ben übrigen hausen arme Mestizen
und einige Spanier.
Slreifzüge im Nordwesten Amerikas, namentlich in Hregon,
' Von Theodor Kirchhoff.
III.
Das Fort und die Stadt Vancouver. — Wie die biederen Goldgräber wandern. — Der Steamer „Wilson G.Hunt". — Prächtige Natur-
bilder. — Eisenbahn im Urwald. — Deutsche Emigranten. — Die „Iris". — Glanz der Wildniß. — Herrliches Flußpanorama. —
Die Central-Bergwüste. — The Dalles. — Geographisches. — Geschäftliches. — Road Agents. — Mein Musentempel.
Etwas vor Sonnenuntergang langten wir in Bancou-
ver, dem vorläufigen Ziele meiner Reife, an, wo ich in
einer erbärmlichen, den Namen Hotel beanspruchenden Spe-
lunke mein Quartier bezog.
In der Nähe der Stadt liegt ein sogenanntes Fort, d. h.
ein unbefestigter Militairposten der Vereinigten Staaten.
Ehedem war derselbe vou Bedeutung und gewährte der sich
in seiner Nähe ansiedelnden Stadt Schutz gegen die Indianer,
und noch jetzt sieht der saubere Exercirplatz mit deu gelben
Kasernen und Garnisonsgebäuden dabei recht gut aus, ob-
gleich nur wenig Militair dort liegt.
Der frühere Glanz des Städtchens gehört, seit die Gold-
lager am obern Columbia und namentlich die von Boise im
Territorium Idaho entdeckt wurden, zu den Dingen, die da
gewesen sind. Die Einwohnerzahl ist in Masse nach den Minen
gewandert, und nur solche, die durch die Gewalt der Verhält-
uisse zurückgehalten wurden, sind dageblieben. Ein trostloseres
Städtchen als dieses Vancouver war mir bis jetzt auf allen
meinen Reisen in Amerika noch nicht vorgekommen. ^ An den
zusammensinkenden Häusern paradirten noch in Gold und
bunten Farben gemalte Namen und Geschäftssinnen längst
verschollener Kaufleute und an allen Ecken konnte man Aus-
Hängeschilder sehen, welche Salons, Hotels uud Verguüguugs-
orte aller Art bezeichneten. Aber außer etwa Ratteu uud
Mäusen gab es keine lebende Wesen mehr in diesen Salons.
Eher möchte man wähnen, in ein zerfallenes Dorf des classi-
schen Italien als in eine nur wenige Jahre alte Stadt des
jungen und blühenden Freistaats Oregon hineingeratheu zu
sein! Die meisten der hölzernen Häuser waren zugenagelt,
bei vielen sowohl Fenster als Thüren eingeschlagen, auf den
öden Straßen wuchs das Gras in idyllischem Naturzustande
und wurde von dem frei umherlaufenden Vieh als Weide
benutzt.
In Californien, wo nicht weniger als 100,000 Goldjüger
fortwährend von einem Platze zum andern wandern, um nach
Schätzen zu suchen, ist ein solcher Zustand der Dinge ganz
an der Tagesordnung und man könnte solche zerfallene Städte,
wie dieses Vancouver, schockweise auszählen; aber hier, im
sprichwörtlich soliden Oregon, hatte ich so etwas nicht er-
wartet!
Wenn im gesegneten Californien so ein quecksilbriger
honest miner von ueueutdeckteu, oft hundert Stunden ent-
sernt gelegenen Goldlagern hört, die natürlicher Weise jedes-
mal von fabelhaftem Reichthume sind, so nagelt er in der
Regel ganz einfach sein Haus zu, da an Verkauf desselben
nicht zu denken ist — indem eben Jedermann fort und Nie-
mand dableiben unll — und lustig geht's, uiit Wollendecke,
Schaufel und Hacke, mit Goldwäscher-Pfanne uud Feuerrohr
aus dem Rücken nnd öfters mit Weib und Kind im Gefolge,
fort in die Wildnisse hinein, ohne sich viel um die verlassene
Heimath zu grämen oder daran zu denken, ob man dieselbe
je wiedersehen werde. Gerade in dieser Zeit, wo Zehn-
tansende nach dem Colorado, nach Washoe, Reese River,
Oregon uud Boise rennen, als ob die ewige Seligkeit davon
abhinge, diese Gold- und Silberparadiese möglichst schnell zu
erreichen, ist es damit ärger als je, und alte, sonst blühende
Städte des wie kein anderes Land der Welt von der Natur
gesegneten Californien stehen wie ausgestorben da.
Auf einem alten Springfederbette, auf deffeu sanften
Ruhekissen ich jede Stahlfeder fühlen konnte, verbrachte ich
eine ruhelose Nacht. Froh war ich, als ich an: nächsten
Morgen das Dampssigual des Steamers Wilson G. Hunt
hörte uud dieseu Platz der Verödung wieder verlassen konnte.
Angenehm überrascht war ich, diesen stattlichen Raddampfer
mit dem Luxus ausgestattet zu sehen, wofür die amerikanischen
Flußdampfboote mit Recht berühmt sind, was ich aber in
einer so entlegenen Gegend nicht erwartet hatte. Wenn auch
nicht gauz so glänzend eingerichtet als die den Sacramento-
ström befahrenden californischen Dampfboote, konnte dieser
durch die Wildnisse Oregons brausende Dampfer sich doch
mit manchem seiner europäischen Genossen an Comfort und
Eleganz messen und war ohne Frage ein schwimmender Pa-
last zu nennen in Vergleich zu den: soeben vou mir ver-
lasseueu Hotel der berühmten Stadt Vancouver.
206 Theodor Kirchhofs: Streifzüge im N
Bald setzte sich unser schwimmendes Hotel .'in Bewegung
und trug uns schnell stromaufwärts. Das Wetter war uoch
regnerisch, klärte sich jedoch immer mehr auf.
Die Uferbänke des Columbia zeigten sich dicht bewaldet,
mit hier und dort von der Axt gelichteten Stellen, wo ein
kühner Pionier sein Blockhaus Hingebant und der unaushalt-
sam vorwärtsschreitenden Cultur die erste Bahn brach. All-
mälig nahm die Gegend einen wildern Charakter an. Die
Spuren der Civilisation wurden seltener. Indianer in bnn-
tem Kostüm, zu dem Stamme der Tschi-nnks gehörend,
glitten mit ihren leichten Canoes geräuschlos hinter Büschen
und Felszacken hervor oder starrten das vorüberbrausende
Dampfungeheuer von kleinen, im Strome gelegenen Felsen-
inseln an, wo sie Lachse zum Wintervorrath auf einfachen
Gerüsten gedörrt und aufgeschichtet hatten.
Dann ragten zu beiden Seiten schroffe, basaltgeformte
Felssäulen auf und hin und wieder drängte sich ein kühnes
mit Fichten bewachsenes Borgebirge in den Strom hinaus
und zwang denselben, sich in kurzen Windungen einen Aus-
weg zu suchen.. Hohe Säuleninseln stiegen jäh aus dem
Schooße der Wellen empor, aus einer Stelle mitten im
Strome eine theilweise mit Fichten bewachsene Felsmasse,
welche den Namen Castle Rock führt, die sich herrlich aus-
nahm und Stoff zu manch seltsamem Märchen — vielleicht
einer Lorelei des Columbia — geben könnte.
Weiterhin fiel ein Bach von schwindelnder Höhe über eine
Basaltwand wie ein silberner Schleier wallend in die gäh-
nende Tiefe. Das Schauspiel erinnerte mich lebhaft an die
Cascade d'Arpeuaz in der französischen Schweiz, welche ich
auf der Reise von Gens nach Chamouny vor ungefähr einem
Jahr und gleichfalls im Regen, jedoch in etwas anderen
Lebensverhältnissen bewundert hatte.
Je mehr wir uns den Cascade-Bergen näherten, um
so romantischer wurden die Scenerien, namentlich in der Nähe
des wegen seiner wilden Schroffheit mit Recht bewunderten
Cape Horn. Graue Wolken wälzte» sich an den Gebirgen
hin und her und burgenartige Felspartien strebten kühn aus
dem klaren Wasser des Stromes himmelan.
Wo der Columbia die sich dichter zu einander hindrän-
genden Berge durchbricht, ist das Fahrwasser, wie bereits
erwähnt, durch eine Reihe von Stromschnellen und Was-
serfüllen unterbrochen, die jedoch nicht bedeutend sind, welche
Stelle wir auf einer sieben englische Meilen langen, ans der
Washington-Seite durch einen wilden Urwald gebauten Eisen-
bahn mit Windeseile umkreisten. Ein anderer, auf der Ore-
gon-Seite des Stroms liegender Schienenweg wird zur Zeit
nicht benutzt.
Der Unternehmungsgeist der „OregonSteam Navigation
Company", welche den Columbia zuerst durch die Kraft des
Dampfes dem Verkehr eröffnete, verdient alle Anerkennung.
Wer die Schwierigkeiten zu würdigen versteht, in einem jungen,
spärlich bevölkerten Staate drei durch Stromschnellen von
einander gesonderte Dampferlinien mit der Regelmäßigkeit,
welche man in alten Staaten zu sehen gewöhnt ist, aus weit-
ausgedehnten, gefahrvollen Wasserstraßen bis tief ins Innere
des Landes auf- und abzusenden; Schienenwege durch Ur-
Wildnisse um die Stromschnellen — es giebt deren zwei,
Cascades und Dalles— zu legen; Maschinenwerkstätten,
Leichterprahme und Waarenhänser zu erbauen, Quais aus den
Felsenmauern zu sprengen, und alles dieses mit beschränkten
Mitteln durchzuführen: — der wird jener Energie die ihr
gebührende Achtung uicht versagen. Trotzdem herrscht in
Oregon große Mißgunst gegen diese Gesellschaft, da dieselbe
nach überwundenen Schwierigkeiten ihr zeitweiliges Monopol
durch enorme Preise von Güterfracht und Fahrbillets aufs
Aeußerste auszubeuten sucht. Die Frachtsätze von Portland
vwesten Amerikas, namentlich in Oregon.
bis nach Dalles belaufen sich z. B. auf fünfzehn Dollars
pro Tonne und von Dalles bis nach Wallula, dem nord-
östlichen Endpunkte der Linie, sogar auf 40 Dollars die
Tonne. Die Entfernung von Portland nach Celilo, dem
Nordendpunkte der Eisenbahn oberhalb Dalles, beträgt 106
und nach Wallnla 216 englische Meilen. Ob es im In-
teresse der Gesellschaft liegt, dem Geldbeutel Oregons so
die Daumschrauben anzusetzen, ist allerdings wohl sehr zwei-
selhaft, indem Californien bereits darauf hinarbeitet, billigere
Routen über Land nach den nördlichen Minendistricten her-
zustellen, was der Dampfschifffahrt auf dem Columbia großen
Abbruch thun würde.
Ein seltsamer Anblick ist es, die Riesenschritte der Civi-
lisation im Innern dieser Wildnisse zn betrachten. Es ist
dieses ein Hauptcharakteristicnm amerikanischer Scenerien.
Man mag kommen wohin man will, überall über die endlose
Breite dieses Continents verfolgt Einen dasselbe Bild: Ur-
Wälder, Eisenbahnen, Indianer, Dampfschiffe im nächsten
Beieinander. Der freie Bürger im steten Kampfe mit der
freien Urnatnr, die er Schritt vor Schritt bewältigt, vor kei-
nen Hindernissen zurückschreckend und immer vorwärts, vor-
wärts strebend.
Als wir auf den oberhalb der Stromschnellen uns er-
wartenden Dampfer „Iris" stiegen, langte ein langer Wagen-
zng deutscher Emigranten an der nahen Fähre an. Das Herz
thaute mir ordentlich auf, als ich so ganz unvermnthet in
diesem entlegenen Erdenwinkel die ehrlichen Gesichter meiner
lieben Landsleute begrüßen konnte. Rüstige Männer waren
es, junge Burschen, Frauen und Kinder, welche den weiten
Weg vom Missouriflusse über Laud durch die Wildnisse des
Continents zurückgelegt hatten, um sich im Willamettethale
eine neue Heimath zu suchen. Ob die guten Leute wohl eine
Ahnung von den Reizen des ^ed-toot-Landes hatten?
Schwerlich. Oft noch werden sie an das schöne Deutschland
zurückdenken, wenn sie hier mit den Enten um die Wette
durchs Wasser waten müssen!
Die Bergpartien wurden immer grandioser je weiter wir
kamen und bildeten ohne Frage das schönste Flußpanorama,
das ich noch in Amerika gesehen. Gewaltige, nackte Fels-
abhänge drängten sich zu beiden Seiten an den klaren grün-
lichen Stroni und langgestreckte Basaltsaxaden spiegelten sich
mauernähnlich in den blanken Wellen und thürmten sich ba-
stionenartig hoch über uns empor. An einer Stelle trat die
gewaltige Schneepyramide des Monnt Hood plötzlich wie
hingezaubert zwischen den Bergen hervor und verschwand eben
so schnell wieder hinter den näher gelegenen Felsmauern, als
ob der Herrscher des Thals erstaunt aus das seinen Lieblings-
ström peitschende Dampfungeheuer herabgeschaut hätte. Die
Fernsichten in das mitunter breit sich erweiternde Thal des
Columbia mit den bewaldeten Berggipfeln, den kühnen Fels-
Partien uud grünen Abhängen, waren bezaubernd; und dabei
wurden diese herrlichen Scenerien durch eine prächtige Be-
leuchtung doppelt schön. Schwarze Wolken kamen und gingen
und dunkle Schatten und helles Sonnenlicht durchkreuzten
abwechselnd die reiche Urnatnr. Nur die traulichen Städte
und bemoosten Burgen fehlten, um uns urplötzlich aus den
Wildnissen des neuen Continents auf den alten Vater Rhein
versetzt zu denken. Nie hätte ich es mir träumen lassen, solch
einen prächtigen Strom in diesem entlegenen Erdenwinkel an-
zutreffen!
Als besondere Merkwürdigkeit muß ich noch die sogenann-
ten „untergetauchtenWaldnngen (submergedforests)"
erwähnen, von denen bereits Fremont in seiner Reisebeschrei-
bung vom Jahre 1842 spricht. Es sind dieses aus tiefem
Flußbette, mitunter ziemlich weit vom User entfernt unterm
Wasser stehende, halb vergangene Baumgruppen, deren
Theodor Kirchhoff: Streifzüge im N>
Stämme man deutlich im klaren Wasser wie am Grunde
hingepflanzt sehen kann. Fremont erklärt das Dasein dieser
an fünf oder sechs Stellen vorkommenden Wälder ün Flusse
durch das Herabgleiten mit Wald bewachsener Erdmasseu
von den Seiteu der nahe am User liegenden Berge (also
Erdschlipse, land slides). Er sah an einer Stelle Bäume
im grünen Blätterschmuck unter dem gelben Laubwerk des
Halboergangenen Wasserwaldes tief im Strombette stehen,
wohin dieselben augenscheinlich durch einen solchen Erdschlips
von einem nahe gelegenen Berge versetzt waren. Die unter
dem Volke gangbare Erklärung ist jedoch, daß diese Wal-
düngen ursprünglich dort gewachsen, wo sie jetzt stehen, zn
einer Zeit, als der Columbia uoch ein niedrigeres Niveau
hatte; daß der Fluß iu verhältnißmäßig neuerer Zeit durch
eine Erdrevolution bei den Cascades aufgedämmt worden
und iu Folge dessen diese Waldungen überschwemmte und in
sein Strombett aufnahm.
Daß in dieser Gegend einmal eine furchtbare vulcanische
Erdrevolution stattgefunden, kann fogar dem oberflächlichen
Beobachter nicht entgehen. Noch jetzt ist die Erdkruste hier
herum, welche zum größten Theil aus verbranntem Gestein
und basaltähnlichen Felsmassen besteht, in langsamer Sen-
knng begriffen und macht mitunter allerlei seltsame Risse uud
Veränderungen sowohl au den Bergen als im Strombett.
Wahrscheinlich haben verschiedene Ursachen zusammengewirkt,
um diese Bäume ins Strombett zu verpflanzen, uud vulca-
uische Hebungen und Senkungen des Bodens und Erdschlipfe
werden wohl beide ihr Theil dazu gethau haben.
Plötzlich erweiterte sich das Thal und der ganze Charakter
der Gegend veränderte sich. Die Basaltsormatioueu traten
weiter zurück oder verschwanden gänzlich, der Baumwuchs
aus den Bergen wurde immer spärlicher und diese gewannen
mehr uud mehr das Ansehen der Bergwüste vou Washoe.
Wir hatten augenscheinlich die Grenze des großen nordame-
rikanischen Nordwest-Plateaus überschritten, wahrscheinlich der
Boden eines abgelaufenen ehemaligen Binnenmeers, das sich
nordöstlich vou der Sierra Nevada uud deren nördlichen
Ausläufern, der Cascade Range, ausdehnte, in Folge einer
gewaltigen vulcauischen Erdrevolution die Gebirgsmauern
durchbrach und den Columbia bildete, indem eo den aus-
gedämmten Wassern einen Abfluß zum Meere verschaffte, —
eine schreckliche Bergwüste, die nur in langen Zwischen-
räumen, ost von zwanzig bis zu fünfzig Stunden vou eiu-
ander entfernte, urbare Thäler birgt, die wie Oase'.l der Sa-
hara darin zerstreut liegen.
Einen schrossern Uebergaug in Scenerie und Klima habe
ich nirgends sonstwo auf diesem Coutineut gesehen. Aus
einem prächtig-romantischen, dichtbewaldeten Thale, wo der
jährliche Regenfall von fünfzig bis zu sechzig Zoll beträgt,
wo schwere Wolken sast das ganze Jahr hindurch an den
Bergen hängen und das Klima so mild ist, daß nur in sel-
teneu Fälle« im Winter der Strom gefriert, wurden wir,
gleichsam um eine Bergecke tretend, plötzlich in eine trockene,
von der Sonne versengte und von sast aller Vegetation enl-
blößte Bergwüste versetzt, iu ein Land, wo der jährliche
Regenfall nur etwas über vierzehn Zoll beträgt, wo im
Sommer fast fortwährend heftig wehende, trockene Winde die
heißen Lüfte mit Staubwolken füllen und wo-der Winter mit
einer sibirischen Kälte austritt. Ueppigeu Baumwuchs findet
man innerhalb seiner Grenzen nur auf den höheren Gebirgs-
zügen, den Blne Mountains (blauen Bergen) und deren
Verzweigungen, wahrscheinlich ehedem Inseln im großen
Nordwest-Binnenmeer, dessen Wogen das Felsengebirge im
Osten begrenzte, sowie in weit zerstreut liegenden Thälern
und Thalkesseln und an den Flußläufen, welche hin und
wieder Goldwäschereien enthalten, deren romantische Umge-
vesten Amerikas, namentlich in Oregon. 207
bungeu, im Kleide üppiger Vegetation, mitunter das Auge
angenehm überraschen, wie dieses namentlich in denl großen
Boise Basin der Fall ist. Alles Uebrige ist eine sast bäum-
lose, saudige und sonnverbrannte Wildniß. Nur Wachholder
und verdorrtes Gestrüpp fristen in ihr ein kümmerliches
Dasein.
Aber diefe Bergwüste ist reich an edlen Metal-
l en, die sich entweder in silber- und goldhaltigen Quarzadern
(ledges) keilartig, meistens mit der Spitze nach oben, tief in
die Berge gesenkt haben, die sie gleichsam durchspalten, wie
in Washoe, South Boise und Owyhee (O-wei-hi), oder als
körniges Gold in den Flüssen, auf Sandbänken oder unter
der aufgeschwemmten Erde aus dem sogenannten Bed Rock
(Grundfelsen) gefunden werden, wie im Columbia-, Salmon-,
Powder- (bei Auburu), Burut-, Malheur- (Malliuhr), John-
Day-River, Canyon Creek n. f. w., oder auch in weiten und
engen Thalkesseln und angrenzenden Schluchten, wie im be-
rühmten Boise Basin, im Mormon Basin, bei Oro Fino,
Elk City, Florence und wie die Gold- uud Silberparadiese
alle heißen mögen, die ohne jeglichen Zusammenhang über
diese Wildniß zerstreut liegen.
Auf den Beschauer macht dieses Land den Eindruck, als
ob der Fluch Gottes auf ihm läge. Aber die Habgier der
Menschen nach edlen Metallen bevölkert auch diese Bergwüste
mit arbeitsamen Städten (mining camps), die wie Pilze
aus der Erde wachsen, allerdings auch oft eben so schnell
wieder verschwinden, und biedere Goldgräber in kleinen Ab-
theilnngen, mit Hacke und Schaufel, Goldwäscher-Pfanne,
wollener Decke und dem Feuerrohr auf der Schulter oder dem
Revolver im Gürtel, durchstreifen dieselbe alljährlich nach
allen Richtungen (go prospecting), um neue Schütze zu
entdecken, umlauert vou ihren Todfeinden, den Indianern,
und im fortwährenden Kampfe mit den tausenderlei Gefahren
der Wildniß.
Bei einer Biegung des Stromes bekamen wir plötzlich
die Häuserreihen der 93 englische Meilen von Portland ent-
sernt liegenden Stadt Dalles City zu Gesicht. Als die
Souue im Westen glänzend hinter die mit spärlichem Tan-
nenwnchs gekrönten Berge sank, legte unser Dampfer am
Dalleuser Wharf Boat (Landungsprahm) an und bald darauf
kutschirte ich aus eiuern Gepäckwagen durch die Straßen nach
dem sashionableu Globe Hotel, iu dessen gastlichen Räumen
ich vorläufig mein Hauptquartier aufschlug. Iu einem dimi-
nutiveu Zimmerchen, worin die für den Comsort meines
Hauptes bedenklich niedrige Stubendecke ä la Washoe aus
ungebleichtem Baumwollenzeug bestaud, machte ich es mir
den Umständen nach bequem; doch hatte ich bedeutende Mühe,
für meinen Reisekoffer ein Unterkommen zu finden, da das
Bett allein bereits die größere Hälfte meines Logis einnahm.
Die Stadt Dalles City, nach den oberhalb de<8 Orts das
Fahrwasser im Columbia unterbrechenden Stromschnellen,
welche den indianischen Namen „Dalles" führen, meistens
„The Dalles" genannt, zählt etwa 1800 Einwohner. Die
„Oregon Steam Navigation Company" hat daselbst ans-
gedehnte Maschinenbauwerkstätten errichtet und von hier aus
einen Schienenweg zur Umgehung der oberen Stromschnellen
erbaut. Der Geschäftsumsatz der Stadt beläuft sich aus an-
nähernd zwei und eine halbe Mittion Dollars, meistens int
Handel mit den weiter int Lande liegenden Minen und durch-
reisenden Miueru. Laudwirthfchaft wird in der öden Um-
gegend, außer iu den engen Thälern einiger „Creeks" (Neben-
flüßchen des Columbia), nur sehr wenig betrieben. Die
Stadt hat sich, wie viele der älteren Städte des entlegensten
Nordwestens, in der Nähe eines Forts, ähnlich dem bei Bau-
couver, angesiedelt, welches den Einwohnern in früheren Zeiten
Schutz gegen die feindlichen Jndianerstämme gewährte.
208 Friedrich Ewald: Land u
Der Platz, welcher so gesund sein soll, daß man sprich-
wörtlich von ihm sagt, es sterbe Niemand dort, außer man
schießt oder sticht ihn todt, was allerdings mitunter vorkom-
men sost, gefiel mir recht gut. Von halbe Jahre lang dauern-
den Regenschauern, vor denen mir noch vom Web-foot-Lcmde
her graute, war hier nichts zu befürchten. Ich erwog daher
allen Ernstes die Vortheile, welche mir Dalles City als einst-
weilige Heimath darbot.
Außer deu soeben erwähnten klimatisch-socialen Auszeich-
uuugeu sprachen noch mehr Gründe dafür, mich in diesem
Goldhasen am Ende der Welt anzusiedeln. Em Blick auf
die Landkarte überzeugte mich von der glücklichen natürlichen
Lage des Platzes als Centralort, wo der Verkehr von den
fächerartig im Innern des Landes zerstreut liegenden Minen-
districten als nächstem Auslaß uach dem untern Columbia
zusammenfließen mußte. Man erwartete hier binnen Kurzem
glänzende Geschäfte, da die Goldminen im verflossenen Som-
mer eine reiche Ausbeute gegeben hatten. Taufende von
Goldgräbern, mit Massen von „Dust" (Goldstaub) beladen
und sast kleiderlos, würden hier aus der Wiuterverguügungs-
reise nach San Francisco demnächst durchpassiren und sich
an diesem Vorposten der Civilisation mit neuen Kleidern und
anderen Luxusartikeln versehen. Außerdem wäre der Herbst/
zu welcher Zeit viele Minenarbeiter die Golddistricte verlassen,
indem man daselbst im Winter, wenn das zum Goldwaschen
unentbehrliche Wasser gefriert, nicht in den Minen arbeiten
kann und folglich alsdann wenig „Dust" dort circulirt, die
allerschlechteste Jahreszeit, um in solch eingefrornen Gold-
Paradiesen ein Geschäft zu etabliren.
Die weiter oberhalb im Thale des Columbia gelegenen
Plätze Umatilla, Wallula, Walla Walla :c. hätten
nicht die geschäftliche Bedeutung von Dalles, so daß nichts
dabei zu gewinnen war, dorthin überzusiedeln, und die Reise
über die Bergwüste nach dem vierhundert englische Meilen
entfernten Boiss Basin oder nach dem eben so entlegenen
Owyhee war mit allerlei Unannehmlichkeiten verknüpft, die
keineswegs einladend waren. Außer der weniger angenehmen
als romantischen Uebersteiguug der aus der Reiseroute lie-
geuden Blne Mountains, welche derjenigen der Sierra Nevada,
die ich noch in frischem Andenken hatte, treffend ähnlich sein
sollte, gab es hier noch gratis unterwegs allerlei unschuldigen
Zeitvertreib, der mir wenig behagt hätte. Die Landstraße
follte z. B. gegenwärtig von Zollwächtern, roadagents
(Straßenagenten) genannt, besetzt sein, die sich sehr uu-
mauierlich aufführten. Nicht damit zufrieden, von den fried-
liebenden Reisenden die üblichen Abgaben in Gestalt über-
) Leute im Oldenburgischen.
flüssiger goldener Uhren, Ketten, Ringe, Busennadeln, Gold-
staub, Klein- und Großgeld und ähnlicher Luxusartikel zu
erheben, sollten sie die Herren Goldtouristen außerdem noch
äußerst grob behandeln uud sich ein Vergnügen daraus machen,
dieselben höchst unpassender Weise zu Zielpunkten ihrer scharf
geladenen Revolver zu nehmen.
Nach reiflicher Ueberlegnng entschloß ich mich, vorläufig
iu The Dalles meinen Wohnsitz aufzuschlagen und suchte nun
zunächst eine passende Localität für unser zu etablireudes
Geschäft. Ich entdeckte auch bald wie gewünscht gerade an
der Hauptstraße, dem Broadway von The Dalles, ein leeres
Hans, einen verlassenen Holztempel des Mercnr, aus dessen
geheiligte Wände die Trauer der Einsamkeit gestempelt war,
den ich mir für die bescheidene Summe von fünfzig Dollars
pro Monat Miethzins für das nächste Halbjahr als Heimath
reservirte.
Nachdem ich die nöthigen Correspondenzen über den Er-
folg meiner oregonischen Entdeckungsreise an meine Geschäfts-
freunde nach San Francisco geschrieben, nahm ich mir Muße,
meine neuerworbene Heimath etwas genauer zu recoguosciren,
um den reichlich antiken Tempel des Gottes der Kaufleute
und Diebe in eine heitere Musenwohnung und eiu respec-
tables modernes Geschäftshaus umzuwandeln.
Wie Marius auf den Trümmern von Karthago setzte
ich mich inmitten meines Palastes, nicht ans eine gefallene
poetische Marmorsäule, sondern auf eine prosaische zerbrochene
Tabackskiste und infpicirte den mich umgebenden Ruin.
Bald hatte ich ein paar Handwerker angestellt, welche
den Fnßboden aufrissen, die fnßtiefen Löcher etwas ausebneten
und neue Ladentische und Börter zusammennagelten, indeß
ich selber, nachdem ich nach kurzem Scharmützel die lang-
geschwänzten Ureinwohner meiner Burg glänzend in die Flucht
geschlagen, mit eigenen Händen die hölzernen Wände meines
Palastes mit herrlichen, hellgrün geblümten Tapeten behing,
um meiner neuen Heimath einen idyllischen Charakter zu
geben.
Um die Mußezeit nützlich anzuwenden, versuchte ich meiu
Genie in der Malerkunst, namentlich auch, um mich zu
prüfen, ob es sich iu der Zukunft lohnen möchte, in die Fuß-
stapfen des Apelles zu treten. Ich kaufte verschiedene Töpfe
mit bleichen und flammenden Farben, nebst einer Auswahl
von Pinseln, und decorirte meinen Musentempel zum Er-
staunen aller Dalleuser „in the latest style". Die Laden-
tische wurden mein Meisterwerk, mit einem sastig-glänzenden
Roth wie überhaucht.
Und so war ich nun ein Geschäftsmann in The Dalles.
Land und Leute im Htdenburgischen.
Von Friedrich Ewald.
II.
Die Einförmigkeit der Landschaft. — Volkscharakter und Sprichwörter.
^andwirthschaft.
Von dem Felde des materiellen Nutzens, des praktischen
Erwerbes, möge mich der Leser auf das ästhetische Gebiet
begleiten, um eine Antwort zu erhalten auf die Frage, welche
Ausbeute in Bezug auf landschaftliche Schönheit das
Oldenburger Herzogthum gewähre? — Geradezu arm sind in
dieser Beziehung die Märschen zu nennen. Zwar haben
auch sie ihre schöne Zeit, die in den Beginn des Sommers,
etwa zu Ende des Maimonats fällt. Dann weilt das Auge
nicht ungern auf jenen weiten grünen Wiesenflächen, welche
für diesmal die dichterische Bezeichnung von einem „blumen-
gestickten Teppich" vollkommen rechtfertigen, wenn bnchstäb-
lich kein Quadratfuß Bodenfläche sich findet, der nicht mit
Friedrich Ewald: Land u
den weißen, gelben und röthlichen Blumen des Maßliebs, des
Löwenzahns und des Schaumkrautes bedeckt wäre. Aber, die
Monotonie ermüdet. Da ist keine Hebung und Senkung
des Bodens, keine lebendige Abwechselung von Wiese, Feld
und Gehölz, nichts als Weiden und wieder Weiden, durch
Gräben von einander getrennt und begrast von den Herden
des stattlichen, fast ausnahmelos schwarz und weiß gefleckten
Rindviehes und der glänzend braunen Pferde. Daß diese
Landschaft keine Effecte, keine malerischen Motive darbietet,
bedarf nicht der Versicherung. Sucht man diese, so wende
man sich zu den wellenförmigen und holzreichen der Geest
und man wird in einigen derselben so Eigenartiges antreffen,
daß, wie man behauptet, in ganz Dentfchland seines Gleichen
nicht gefunden wird. Ich meine die berühmten Eichen
des Hasbruch und des Neuenburger Urwaldes. Sieht
man diefe herrlichen Stämme, die so mächtig, so schön und
stolz zum Himmel ragen, in so wundervolle Gruppen sich
ordnen, so begreift man, warum schon mancher Jünger der
edlen Malerkunst aus weiter Ferne herbeigepilgert kam, um
diese tausendjährigen Waldriesen durch seinen Pinsel zu ver-
ewigen. — Aber auch abgesehen von diesen besonders aus-
gezeichneten Waldpartien bietet das Geestgebiet manches Bild
voll landschaftlicher Anmuth; namentlich dürfte hier der etwa
anderthalb Stunden von der Stadt Oldenburg belegene, von
lieblichen hügeligen Ufern umgebene Zwischen ahner See
zu nennen sein. Im südlichsten Landestheile endlich, bei
Damme, treffen wir ans die letzten Anslüufer der Min-
dener Gebirgskette, deren Profile, wenngleich nur flach ge-
schwnngen, doch das Einerlei der Ebene immerhin wohlthuend
unterbrechen, so daß diese Gegend den stolzen Namen der
oldenburgischen Schweiz davongetragen hat.
Fragen wir nun endlich nach dem Charakter des
Volkes, welches diese verschiedenen Landestheile bewohnt, so
kann ich, was das Allgemeine anbetrifft, wiederum nur aus
die früher bereits vou dem Bewohner des nordwestdeutschen
Flachlandes gegebene Schilderung verweisen. Im Einzelnen
indeß sind hier doch manche Unterschiede zu constatiren. Ich
rechne dahin vorzüglich die größere Ruhe und Gelassenheit,
welche als Erbtheil des stammverwandten Holländers den
friesischen Marschbewohner kennzeichnet. Jede Hast, jede
Ueberstürznng ist ihm in höchstem Grade zuwider und wird
mit einem: „man (nur) sacht! man sacht!" beschwichtigt.
So schwer es ist, für irgend eine Sache ihn zu erwärmen
oder gar zu enthusiasmiren, so wenig liebt er seinerseits alle
irgendwie überschwänglichen Ausdrücke, so selten läßt er sich
zum Lobe und zur Bewunderung herbei. Schon Goldschmidt
in seinem verdienstlichen Buche: „Der Oldenburger in Sprache
und Sprüchwort," hebt hervor, daß man auf die Frage nach
Ernte, Vieh oder dergleichen selbst bei dem befriedigendsten
Stande der Dinge selten eine andere Antwort erhalte, als
höchstens: „Ah, billig good; 't geiht; 't helpt sick; 't kunu
slimmer Wasen; man mutt tofräen sien!" — Dagegen ver-
zagt unser Mann auch nicht leicht, wo ihn ein wirkliches
Mißgeschick betrifft, sondern verfolgt ruhig und mit der ihm
eigenen Zähigkeit den Weg, der ihn zum Ziele zu führen
verspricht.
Der Geestbewohner, obwohl auch er seine Portion
Ruhe und Gelassenheit empfangen hat*), ist im Ganzen
') Ueberhaupt ist der ganze Unterschied kein krasser, scharf zu
markirender. Ist doch z. V. gerade die Geest auch der Schauplatz
folgenden mir durchaus verbürgten Geschichtchens. Zwei Reisende
kehren in einem Dorfwirthshanse ein und während sie ans das be-
stellte Getränk warten, fallt ihnen einige Unruhe im Hause in etwas
auf. Als endlich die Wirthin das Verlangte bringt, entschuldigt sie
die Verzögerung mit den Worten: „Wi hefft eben 'n littgct (kleines)
Malheur'hat. ' Mien M a n n hett sick uphnngen."
Globus XI. Nr. 7.
v Leute im Oldenburgischen. 209
rühriger und rascher. Biel trägt dazu natürlich der gerin-
gere materielle Wohlstand bei, der eine unausgesetztere Thä-
tigkeit nöthig macht, wie ja überhaupt seine Hanptbeschäf-
tigung, der Ackerbau, mannigfaltigere Verrichtungen erfordert,
als die Viehzucht. — Bei der großen Vorliebe für das Alt-
hergebrachte ist es seltsam, daß es im ganzen Umfange des
Herzogthums keine eigentlichen Nationaltrachten giebt; als
schwacher Ueberrest einer solchen wäre wohl nur das in den
Geestdistricten für Frauen und Mädchen gebräuchliche, nur
den Hinterkopf bedeckende, eng anschließende bunte Mützchen
zu nennen. Keine Marschbewohnerin trägt ein solches Hänb-
chen; dasselbe wird daher immer nur schlechtweg als „Geest-
mütze" bezeichnet und verräth sofort, wo seine Trägerin hei-
misch ist.
Daß Oldenburg vermöge seiner geographischen Lage eine
nicht unbedeutende seemännische Bevölkerung hegen muß,
wird Jedem, der nur einen Blick auf die Karte wirft, ein-
leuchtend sein. Von Alters her sind auch die Friesen mit
dem Meere vertraut gewesen und noch jetzt stallen die An-
wohner des linken Weserufers, namentlich die Bewohner des
Stedingerlandes, ein großes Contingent zu der Oldenburger
und Bremer Handelsflotte. Merkwürdig ist dabei die sou-
veraine Verachtung, mit der diese aus dem Schooße einer
bäuerlichen Bevölkerung hervorgegangenen „Fahrensmän-
ner" aus den Bauernstand herabsehen. Dies Gefühl einer
vermeintlichen Überlegenheit macht sich in einer Menge von
drastischen Redensarten Luft und „'t regent, as wenn 't up'n
Buuru regent," „'n Buur un siene beiden Offen sünd dree
Beester," sowie ähnliche kraftvolle Aeußeruugen kann man
häufig genug aus dem Munde von Seeleuten hören.
Von jenem trockuen Humor, der als ein wenn auch nur
untergeordnetes poetisches Element der nüchternen Verstän-
digkeit des Niederdeutschen sich gern zugesellt, hat überhaupt
der Oldenburger sein reichlich Theil empfangen. Viel trägt
zur EntWickelung desselben die plattdeutsche Sprache bei, die,
„nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt", eine Fülle
sinnlich-greifbarer Wendungen und Ausdrücke hat, wo manch-
mal das Hochdeutsche sich in etwas dürftigen Äbstractionen
bewegt; nnd wenn es wahr ist, daß der Charakter eines
Volkes erkannt werde an den Sprichwörtern, die in sei-
nem Munde leben, so hat dieser Ausspruch eine ganz beson-
dere Berechtigung in Bezug auf die plattdeutsch redenden
Bewohner des norddeutschen Flachlandes. Die hier gäng
und gäben Sprichwörter haben, indem sie eine äußerst con-
crete Fassung erhalten, vielfach eine anekdotenartige Pointe
und werden meistens mit eben so viel Glück als Geschick
angewandt. So z. B.:
„De wat kann, den kümmt wat! harr de Snieder seggt,
harr 'n Paar Strümpe to versahlen kragen."
„Hier sitt ick good! harr de Katt seggt, harr bie 't Speck
säten."
„Kiek! sä de Katt un keek in 'n Pott; do kreeg se Eenen
mit 'n Sleef (großer hölzerner Löffel) up'n Kopp."
„Wat old is, dat ritt (reißt), harr deDüwel feggt; harr
siener Grotmoder dat Ohr as reten."
„Alles mit Mateu, sä de Snieder, do slog he sien Fro
mit de Ehle (Elle) doot."
Ich weiß nicht, ob ich mich darin irre, allein es will
mich bedünken, als ob diese anekdotifch-sprichwörtlichen Redens-
arten im Munde der oldenburgiscken Bevölkerung ganz vor-
zugsweise leben und wenn ich in Folgendem noch einige be-
sonders drastische Ausdrücke, wie sie der Volkswitz eingegeben
hat, anführe, so behaupte ich damit nicht etwa, daß dieselben
nicht auch anderwärts vorkommen, sondern daß sie hier be-
sonders lebhaft, wie kleine Münze int täglichen Verkehr, ver-
ausgabt und eingenommen werden.
27
210 A. Leist: Die Völker
„He kickt in een Spor(Spnr, Wagengeleise, hier so viel
wie: auf eine Stelle) as 'n boot Kalf."
"He hett sick bekehrt von 'n Schrubber to 'n Haidbeffen
(Scheuerbürste zum Haidebesen)."
„För Geld kannst 'n Düwel danzen sehen."
^He schreet as 'n Elk (Iltis) — he sütt ut, as wenn
em de Düwel ut 'n Busch jagt harr — he stappt, as 'n Pogg'
(Frosch) in 'n Maanschien — he sütt ut, as 'u Sack vull holten
Läpels un Sleese (letzteres von einem ungewöhnlich magern
Menschen gebraucht) — das Alles sind Redensarten, denen
man den Vorzug großer Anschaulichkeit nicht wird absprechen
können.
„Du schast (sollst) mit up Ianblievtohns (Jan bleib zu
Hans) sien'n Wagen."
„Da steit em an, as 'n Hund dat Grassräten."
„He hett twölwerlei Handwark un darteinerlei Unglück."
„Elk (jedes) Ding hett 'n Enn(Ende), man 'n Wust (Wurst)
hett twee Ennen."
„Beel Koppe, veel Sinne, sä de Knecht, do smeet (warf)
he mit 'n Wagen vull Buskohl (Kopfkohl) von 'n Diek (Deich)
heraf."
Vielleicht hängt dieser häufige Gebrauch von Sprichwör-
tern eng zusammen mit der geringen Redegewandtheit des
Niederdeutschen und speciell des Oldenburgers. Vielfach sind
sie ihm l'esprit des autres; es ist so bequem, gleich eine
fertige Redensart zur Hand zu haben, weshalb sich also noch
mit unnöthigen Worten Plagen? Diese geringe geistige Be-
weglichkeit ist es auch ganz vorzugsweise, welche in unseren
Landsleuten den Widersinn gegen alle Arten von Neuerungen
hervorruft. Unvergeßlich wird es mir sein, wie mir einmal
ein alter Arbeiter auseinandersetzte, daß eigentlich alles Un-
glück und der schlechte Verdienst unserer Tage von „de Mäßig-
feit" (so heißen schlechtweg die Mäßigkeits- und Enthaltsam-
keitsvereine) herstamme. Auf meine verwunderte Frage, wie
denn das zugehe, erhielt ich folgende Erklärung:
„Gewiß! van de Mäßigkeit, dat globen Se.man! Fröher,
do gungen de Buurn in 't Weerthshus un drunken Branwien;
denn harr de Weerth 'n Verdeenst. Denn worden se hitzig
un flogen Finster un Stöhle un Dische in twei — denn
harr 'n de Gläscher un de Discher wat to dohn. Denn
slogen se sick Löcker in 'n Kopp — denn verdeende de Docter
wat. Naher, denn gung 't in Saken (kam es zur Klage),
denn kregen de Affkaten wat to leben. Aberst nu? wat is 't
nu up Stä? (auf der Stelle, gegenwärtig). Nu stekt se de
Fööt an 'n Aben (Ofen) un lest in de Böker; se weer't jo
woll noch lnter Pastoren, un all de Verdeenst von de Annern,
de fallt weg!"
Ob wohl unsere Nationalökonomen diese besondere Art,
den Umlauf des Capitals zu vermitteln, schon der gebührenden
Berücksichtigung unterzogen haben?
Verkennen läßt es sich indessen nicht, daß diese systema-
tische Opposition gegen das Neue, eben weil es neu ist, im
Großen und Ganzen längst einer weniger vornrtheilsvollen
der europäischen Türkei.
Auffassung Platz gemacht hat. Wohin sind z. B. die Zeiten,
wo der Marfchbauer echten Schlages die von den Verwal-
tuugsbehörden an vielen Strecken angelegten, reinlich besan-
deten Fußpfade hartnäckig nicht benutzte, sondern statt dessen
lieber wenige Schritte davon durch den fast unergründlich
tiefen „Klei" (engl. clay, Thon) knetete? — Wie fehr der
rationelle Betrieb der Landwirtschaft sich gehoben hat, das
beweisen unter Anderem die vielen landwirtschaftlichen Ma-
schinen, welche innerhalb der letzten Decennien unter unseren
Landleuten zur bleibenden Anwendung gekommen sind. Vor-
züglicher Anerkennung erfreuen sich dabei diejenigen, deren
Erfindung wir unseren praktischen Vettern jenseits des Oceans
verdanken. In den beiden nördlichsten Wesermarschen zumal
(dem Stad- und Butjadingerlande) dürste es kaum eine grö-
ßere Bauernwirthfchaft geben, in welcher nicht einige dieser
außerordentlich zweckmäßig constrnirten, leicht zu handhabenden
Maschinen und Geräthe sich eingebürgert hätten.
Daß indessen zur Hebung der heimischen Industrie nicht
noch Vieles geschehen könnte, soll keineswegs geleugnet werden.
Das Fabrikwesen z. B. ist noch nicht anders 'als in sehr
schwachen Anfängen vorhanden und doch würden die Bedin-
gungen zu seiner Entfaltung wegen des in den großen Torf-
mooren vorhandenen nahezu unerschöpflichen Feuerungsmate-
riales uud der ausgezeichneten Wasserstraßen sich keineswegs
ungünstig stellen. Wenn indessen der Charakter eines Volkes,
ohne irgendwie indolent und träge zu sein, sich nicht geeignet
zeigt, der auf die Spitze getriebenen Entfaltung industrieller
Thätigkeit die Hand zu bieten, sollen wir darin unbedingt
einen Grund zum Bedauern erblicken? Ich gestehe, daß ich
geneigt bin, diese Frage zu verneinen und an ein, bei ähn-
licher Gelegenheit von Riehl gesprochenes Wort zu erinnern:
„Wo der Nationalökonom nur Grund zum Bedauern hat,
da sieht der Socialpolitiker wenigstens nach Einer Seite hin
Licht."
Einen Zweig fabrikmäßigen Betriebes jedoch giebt es in
unserem Ländchen, welcher in solcher Blüthe vielleicht in ganz
Deutschland nicht wieder angetroffen wird — die massenhafte
Ziegelsteinproduction nämlich, auf welche bei dem absoluten
Mangel an Bruchsteinen der Flachlands- und vor Allem
der Marschbewohner wohl seit den ältesten Zeiten schon an-
gewiesen war. Die Flußufer und Seeküsten entlang zieht
sich ein ganzer Kranz solcher Ziegeleien, von weitem schon
kenntlich an den grell rothen Dächern und der langgestreckten
Gestalt ihrer Trockenhäuser. — Vielleicht darf ich später
eiumal den Leser einladen, mit mir eine Wanderung durch
eine dieser Ziegelfabriken anzutreten. Es fällt während der-
selben dann wohl noch hin und wieder ein Streiflicht auf
das Ländchen, für welches ich seine freundliche Aufmerksam-
keit rege zu machen'suchte. Gegenwärtig, wo, bis auf Wei-
teres, ganz Norddeutschland zum wenigsten als ein organisches
Ganze sich fühlt, dürfte es vielleicht mehr als je an der Zeit
sein, die einzelnen Glieder dieses Organismus, ihre Kraft
und Leistungsfähigkeit kennen zu lernen.
Die Dölker der europäischen Türkei.
Von A. Leist.
Indem wir die Nationalitäten, von welchen die enropäi-
sche Türkei bewohnt wird, der Reihe nach vorführen und die
Wohnsitze derselben besonders bezeichnen wollen, beginnen wir
mit den Griechen, welche von den Osmanen wenigstens
zum Theil zuerst unterjocht worden sind, als letztere im Jahre
1356 von Galipoli aus ihre verheerenden Eroberungszüge
begannen. Diese führten allerdings erst fast 100 Jahre fpä-
ter den gänzlichen Untergang des griechischen Reiches herbei.
A. Leist- Die Völker
Wenn nun die Bevölkerungsverhältnisse der Griechen in den
ehemaligen Provinzen ihres Reichs durch das gewaltsame
Eindringen der Türken und deren besonders in den Städten
erfolgten Niederlassung sich umgestaltet haben, und wenn mit
dem Wechsel der Herrschaft der Glanz so vieler griechischen
Städte verblichen, Wissenschaft und Kunst, Bildung und
Wohlstand allmälig einem halbbarbarischen Znstande Platz
gemacht haben, so ist dies zum Theil eine natürliche Folge der
äußerst drückenden türkischen Regierung. Eine befremdende
Erscheinung aber bleibt es, daß die Griechen, welche in der enro-
päischen Türkei gegenwärtig 1,300,000 Köpfe zählen und
sich namentlich in den Städten vor ihren Nachbarvölkern
durch Betriebsamkeit, Handelsgeist und Reichthum auszeichnen,
und bei aller auch durch die Unwissenheit ihrer Geistlichkeit
geförderten Verwahrlosung in geistiger Beziehung doch noch
namentlich deu Bulgaren sehr überlegen sind, gerade von
letzteren aus dem nordöstlichen Macedonien und aus den
nördlichen Theilen Rumeliens immer mehr und mehr ver-
drängt werden, so daß nur noch Thessalien als annähernd rein-
griechische Provinz übriggeblieben ist mit Ausnahme des von
Trikala gegen Mezzowo sich hinziehenden Gebirgszuges, wo
sich noch zahlreiche macedo-wallachische (zinzarische) Hirten-
ansiedeluugeu befinden. In dem früher rein griechischen
Macedonien ist jetzt, besonders im Nordosten, das bulgarische
Element dem griechischen schon überlegen.
Wenn wir von dem einst griechischen Macedonien sprechen,
ist es kaum uothweudig, zu erinnern, daß hier die Griechen
der byzantinischen und der lateinischen Herrschaft gemeint sind,
welche Nachkommen jener alten Griechen waren, die meist
nur als Colouisteu die großen Städte an der Küste von
Macedonien und Thracien und am Ausflüsse des Hebrus
(der heutigen Mariza) bewohnten. Die Bewohner des In-
nern dieser Provinzen, wahrscheinlich auch alte Urstämme der
Slaven, galten den Griechen für rohe Barbaren. Bei den
schwankenden und immer noch dunklen ethnographifchen Ver-
Hältnissen der europäischen Türkei ist es nicht leicht, die Lage
der gegenwärtigen griechischen Wohnsitze, besonders auch wegen
häufiger Vermischung der Griechen mit fremden Elementen,
genau anzugeben. Außer Thessalien bewohnen die Neu-
griechen, nur hin und wieder mit Zinzaren, und in den
Städten wie Saloniki und anderen mit Osmaneu, Arme-
uieru n. s. w. untermischt, den paradiesisch schönen Theil des
südlichen Macedoniens, wo dieselben auch, wie z. B. auf der
Halbinsel Athos, mit dem nur dem Sultan zinsbaren und
sonst ziemlich unabhängigen Mönchsstaate ganz unvermischt
auftreten, indem sich dort gar kein Muselmann niederlassen
darf. Mit Ausnahme von Konstantinopel und seiner nächsten
Umgebung sind die Griechen in allen Theilen des südlichen
Rumeliens und den hinzugehörenden Inseln die vorherrschende
Bevölkerung. Doch sind die Städte im Innern Rumeliens,
wie Adrianopel, Philippopel, Eski Sagra, Tatar-Bazardschik,
Selimnia n. s. w., nicht allein stark mit Osmanen, sondern
auch mit Bulgaren, Armeniern und Arnanteu vermischt. In
Thracien, am rechten Ufer der untern Mariza — deren
Benennung eine serbische ist — giebt es auch noch zinzarische
Wohnsitze. Adrianopel, welches von 1361 bis 1453 die
Residenz der osmanischen Sultane war, hat mit seinen zahl-
reichen türkischen Moscheen und den vielen industriellen An-
stalten der Osmanen eine echt türkische Physiognomie, ob-
gleich unter den 170,000 Einwohnern dieser Stadt ein Drit-
tel Griechen sind, welche nebenbei den besten Wein in der
europäischen Türkei erzeugen.
Die Lust zum Handelsgeschäft hat die Griechen nicht
allein in alle Handelsstädte der europäischen Türkei, sondern
auch in die Donansürstenthümer gelockt und man findet sie
gleich den Armeniern auf allen Emporien Rumäniens uud
ix europäischen Türkei. 211
auch in den wichtigsten Handelsstädten von Serbien. Daß
die Pflege der Heilkunde in der ganzen europäischen Türkei
hauptsächlich in den Händen der noch am meisten für die
Wissenschaft eingenommenen Griechen sich befindet, ist eine
bekannte Sache.
Das bulgarische Element, Uber dessen etwaige tech-
nifche und geistige Cnltur mau iu der Geschichte der Ver-
gaugenheit nur wenige Lichtpunkte auffinden dürfte, nimmt
gegenwärtig einen sehr ausgebreiteten Raum ein. Dasselbe
hat sich bei dem Mangel an geistiger Pflege und einer ihm
eigenthümlicheu geistigen Indolenz allmälig mit fo stumpfer
Willeulofigkeit an die drückende Herrschaft der Türken ge-
wohnt, daß es sich weniger wie seine Nachbarvölker durch
Aufstände geschwächt und auch nicht, wie z. B. die Serben,
den Trieb zur Auswanderung behufs der angestrebten Ver-
besserung seiner Lage empfunden hat. Nicht allein die Ser-
ben, fondern auch die Rumänen, Griechen und felbst die
Albanefen sind vereinzelt oder in Massen in die benachbarten
Staaten, die sich einer christlichen uud mildern Regierung
erfreuten, ausgewandert, aber der Bulgar hat sich mit Er-
gebenheit in die türkische Herrschaft gesügt und ist an seiner
Scholle kleben geblieben, obgleich denselben der Vorwurf der
Trägheit keineswegs trifft, denn es kommen nach Serbien
15- bis 20,000 fleißige Bulgaren für die Dauer der Ernte-
zeit, welche wegen ihres bekannten Fleißes den arbeitsuchenden
Wallachen vorgezogen werden.
Der Glanzpunkt der Machtentfaltung der Bulgaren und
ihrer Könige fällt in das 9. Jahrhundert, in welchem die-
selben den Anmaßungen der Kaifer von Konstantinopel sieg-
reichen Widerstand entgegensetzten, nachdem die Bulgaren
vorher durch die Bemühungen der beiden slavischen Apostel
Cyrillus und Methodius zum Christenthume bekehrt worden
waren. Auch vorher schon, im Jahre 811, blieb der Kaiser
Nicephorus im Kampse gegen die Bulgaren. Der König
Simeon Meich verewigte sich durch das noch heute florirende
Kloster Hilendar ans dem heiligen Berge Athos (Svetagora),
welches derselbe im Verein mit dem serbischen Könige Ne-
manja l. 1198 bis 1199 durch ein Diplom stiftete. Die histo-
risch wichtigen Werke des Erzbischoss Daniel, welcher in
Serbien unter dem Könige Miluiu 1245 lebte, befinden sich
in Hilendar, wo der Sage nach auch Kraljewitsch Marko be-
graben sein soll. Im Jahre 1330 legte der Beherrscher von
Bulgarien, Michail, sich den Titel Zar bei, doch schon 1392
machte die osmanische Uebermacht dem ganzen bulgarischen
Reiche ein Ende. Im Verlaufe der fpäteru Zeit nahm ein
großer Theil der Bulgaren die mohammedanische Religion
an und dieser bildet auch heute noch, wie die Serben in
Bosnien, hier die mohammedanische Bevölkerung in den
Städten und auf dem Lande, so daß es eigentliche Türken
oder Osmanen in Bulgarien, oder wie die an der Donau
liegenden Paschaliks seit ihrer im December 1864 erfolgten
Reorganisation heißen, im „ TnnaVilajeti" (Donau-Pro-
viuz), nur wenige giebt, natürlich das Militair ausgenommen.
Wenn also der ehemalige Redactenr des „Journal de Eon-
stantinople" unlängst im „MemorialDiplomatique" behaup-
tet hat, daß sich der in verschiedene Nationalitäten zertheilten
Bevölkerung gegenüber in der europäischen Türkei nicht 2,
sondern 6 Millioueu (es sind nur 5 Millionen) „Türken"
befinden, fo hat derselbe die Nationalitätsverhältnisse außer
Acht gelassen, und nur aus die Bekenner des Islam Rück-
ficht genommen. Und daß die serbischen Mohammedaner
nicht die besten türkischen Patrioten sind, beweisen die ewigen
Empörungen derselben in Bosnien.
Wie überall, so nimmt aber vorzugsweise in der Tu na-
Vilajeti die Verarmung der mohammedanischen Bevölkerung
furchtbar überhand, und diese Verarmung ist es, welche den
212 A. Leist: Die Völker
gegenwärtig schon bestehenden)Anflösnngsproceß herbeigeführt
hat, den keine reorganisirte Armee und kein Bund mit den
Westnmchten aufhalten kann. Die türkische Indolenz und
Trägheit zieht im Strome der materiellen Interessen überall
den Kürzern. Was will denn der am Alten sortdanernd
hängende Türke, der nicht fördert, was in keiner Beziehung
mit dem Koran steht, was will er denn im Verkehr mit den
Griechen, Armeniern, Ratzen (Serben), Juden und Zigen-
nern, von denen es schwer zu sagen ist, wer den anderen an
Schlauheit und Geldgier übertrifft? „Du kannst ja," sagt
das Sprichwort, „ans einem Griechen, oder Armenier,
oder Ratzen zehn Juden machen, und es bleiben dir
noch drei Zigeuner übrig!"
Von dem neuerwachten Geiste, der auch schon die meisten
Völker der europäischen Türkei zu beleben begonnen hat, sind
aber auch die christlichen Bulgaren bisher so wenig berührt
worden, daß ihre Lebensfähigkeit kaum hinreicht, um sich
gegen die andringenden Elemente der Albanefen, Serben, ja
sogar der Wallachen, welche schon in die Dobrudscha eiuge-
drangen sind, behaupten zn können, so daß sich die ethno-
graphischen Verhältnisse der bulgarischen Grenzdistricte sehr
bald eben so umgestalten werden, wie manche Gegenden von
Macedonien und Altserbien, wo die Serben von den Alba-
nesen verdrängt worden sind. Doch reicht das bulgarische
Element auch heute noch weit über die Grenzen des ehe-
maligen bulgarischen Königreichs hinaus, denn die bulgarische
Sprache wird auch mit griechischer Beimischung in Philip-
popel, (in den Quellen der Mariza und überhaupt in den
nördlichen Theilen Rnmeliens, sowie in den nordöstlichen
Bezirken Macedomens gesprochen. Im Westen reichen die
Bulgaren noch immer bis au die Quellen des Wardar und
bis zur weiten Ebene des historisch berühmten Amselfeldes
— Kossowopolje —, in welchen Gegenden dieselben mit den
vordringenden Albanesen, mit den Serben, Griechen und zum
Theil auch mit den Zinzaren verschiedene Mischbezirke bilden,
welchen jede scharfe ethnographische Abgrenzung abgeht. Bei
Prischtina — nicht Pristina —, einst von Serben bewohnt,
an den Ufern des Toplitzaflufses, an der östlichen Morawa
und überhaupt im Paschalik Nisch ist jedoch das albane-
sische Element mit Verdrängung des bulgarischen schon so
weit vorgedrungen, daß viele einst ganz bulgarische Dörfer
gegenwärtig ganz oder zum Theil albanesisch sind.
Der neueste Bericht der britischen und ausländischen
Bibelgesellschaft schätzt die bulgarische Bevölkerung in den
erwähnten Provinzen auf 4,000,000 Seelen, wonach alfo
diese als die stärkste Nationalität der europäischen Türkei er-
scheinen, auch Rumänien mit seinen mehr als 4 Millionen
Einwohnern nicht ausgenommen, denn nnter diesen befinden
sich viele Zigeuner, Magyaren, Armenier, Inden und selbst
Deutsche. Trotz der numerischen Stärke sind im Jahre 1863
von der Bibelgesellschaft doch nur 625 Bibeln in bulgarischer
Sprache abgefetzt worden, während die Rumänen der Mol-
dau-Wallachei in demselben Jahre 4000 wallachische Bibeln
gekaust haben. Diese Thatsache ist allein hinreichend, um
den Mangel an Schulbildung und an jeder geistigen Pflege
des bulgarischen Volkes zu zeigen. Nicht allein von den
Türken, sondern auch von den griechischen Patriarchen und
Bischösen werden die armen Bulgaren gepreßt und ausge-
sogen, so daß sie mit allen Ansprüchen an das Leben auf die
äußerste Grenze der Genügsamkeit angewiesen sind. Wenn
der Einfluß, welchen die Missionaire und Bibelverbreiter auf
das bulgarische Volk auszuüben versucht haben, bisher nur
von geringem Erfolge gekrönt war, fo liegt dies zum Theil
in dem Umstände, daß der Haiti Hnmayum von 1856, wel-
cher allen christlichen Völkern der Türkei Gewissens- und
Cultussreiheit verbürgt, uoch immer von der Willkür der-
ber europäischen Türkei.
Paschas oder von der Laune der hohen türkischen Würden-
träger abhängt, wozu noch der Zelotismus der unwissenden
griechisch-katholischen Geistlichkeit kommt. Als eine erfreuliche
und für die Civilifirung der Bulgaren wichtige Thatsache
ist hier zu bemerken, daß endlich die lange Fehde hinsichtlich
der bulgarischen Schriftsprache damit ein Ende genommen
hat, daß in neuester Zeit der Dialect, welcher im östlichen
Bulgarien gesprochen wird, der allgemein literarische
geworden ist, während früher in diefer Beziehung große Will-
kür herrschte und die wenigen Bücher, Urkunden, Lieder n. s. w.
bald im Dialecte des Westens oder im reinern des Ostens
versaßt worden sind.
Fast eben so zahlreich wie die Bulgaren sind auch die
Rumänen in der den Türken tributpflichtigen Moldau-
Wallachei, deren Bevölkerung auf mehr als 4 Millionen an-
gegeben wird, unter welcher sich indeß 120,000 Zigeuner
und fast eben fo viele Ungarn und Deutsche befinden. Aber
auch in dem nordöstlichen Theile von Serbien, zwischen der
Donau und dem Mlawaflnfse wohnen Wallachen, deren Zahl
sich auf 125,000 beläuft und die wegen ihres rohen und
trägen Wesens nicht geachtet sind und meist nur als Hirten,
Tagarbeiter und Fuhrleute ihr Brot verdienen. Merkwür-
diger iu kulturhistorischer Beziehung sind die maeedonischen
Wallachen, welche auch Zinzaren genannt werden, weil
sie das wallachische Zahlwort tschintsch (fünf) in ihrer eigen-
thümlichen Mundart wie „zinz" aussprechen. Diese sind
in Macedonien, Albanien, Thessalien u. s. w. zerstreut und
es ist von denselben schon früher im „Globus" die Rede
gewefen.
Ein erfreulicher Aufaug ist in der Moldau-Wallachei
jüngst in der Förderung des Volksunterrichts gemacht wor-
den, indem der Erziehungsrath fortwährend bemüht ist, neue
Volksschulen zu gründen, die schon vorhandenen zu organi-
streu und so viel nur möglich ist mit besseren Lehrern zu
versehen. Daß die Wallachen meist sehr arm und elend sind,
liegt eben in ihrer Unwissenheit und Trägheit und in dem
Umstände, daß sich dieselben mehr der Viehzucht als dem mehr
Fleiß und Mühe erfordernden Ackerbau widmen; da wo sich
dieselben mit letzterem beschäftigen, cultiviren sie vorzugsweise
nur den Kukuruz (Mais), welcher von den Rumänen in der
Moldau Popnschoi, in der Wallachei aber Porumb ge-
nannt wird und die tägliche Mamaliga liefert; diefe ist
ein in Salzwasser gekochter Brei und vertritt das Korn- oder
Weizenbrot. Auch die Vermögenden genießen die Mamaliga
fast täglich, aber doch mit Butter oder Büffelsahne.
Die Grenze der wallachischen Sprache wird durch Bul-
garieu schars abgemessen; nach Bessarabien, Ungarn und
Siebenbürgen pflanzt sich dieselbe von der Moldan-Wallachei
ans weiter fort.
Außer den Bulgaren sind alle Slaven, welche die Türkei
und ihre tributpflichtigen Länder bewohnen, in Bezug auf
Sprache und Abstammung ein und dasselbe Volk und es
liegt nur in ihrer geschichtlichen Entwickelung und anderen
Verhältnissen, daß dieselben nicht mit einem gemeinschast-
liehen Namen bezeichnet werden. Man unterscheidet dem-
nach im Allgemeinen Serben und Jllyrier in der euro-
päischen Türkei. Erstere bekennen sich zur griechischen Kirche
und gebrauchen das cyrillische Alphabet(Asbuki), wäh-
rend die Jllyrier (— die Bezeichnung ist, ethnologisch genom-
men, ganz unrichtig und obendrein modern erfunden —) in
Bosnien, Türkifch-Dalmatien und Albanien Katholiken sind
und steh der lateinischen Buchstaben bedienen.
Die eigentlichen Serben, welche das Fürstenthum
Serbien, Türkisch-Serbieu, Rascieu, die Herzegowina, den
östlichen Theil von Bosnien und einige Gegenden von Alba-
nieu bewohnen, zählen wenigstens 2 Millionen, wozu aber
A. Leist: Die Völker
auch die mohammedanischen Serben in Bosnien und in der
Herzegowina gehören, welche sich ja anch der serbischen Sprache
bedienen. Am ungemischtesten findet man allerdings die
Serben im Fürstenthum, welches unter 1,100,000 Bewoh-
nern 950,000 Serben zählt. Es dars hier die Thatsache
nicht unerwähnt bleiben, daß in früherer Zeit bedeutende
Landschaften Albaniens und des nördlichen Macedoniens uu-
vermischt von Serben bewohnt wurden, wo jetzt die alba-
nefische Bevölkerung vorherrschend ist, indem diese die Wohn-
sitze eingenommen hat, welche die in wiederholten großen
Zügen im 16., 17. und 18. Jahrhundert nach den nnga-
rischen Ländern ausgewanderten Serben verlassen haben. Die
LandschastMasnritza, die „berühmten" Städte Jpek, Pris-
ren, Prischtina, Vranjan und andere mit ihrer Umge-
gend waren früher rein serbisch, während sie jetzt vorHerr-
schend oder zum Theil von Albanesen bewohnt werden.
Viele Ortschaften in Macedonien und Albanien erinnern durch
ihre Namen an die einstigen Wohnsitze der Serben. Der ser-
bische Weise Dosistheos Obradowitsch, welcher Albanien be-
reiste, erklärte den Albanesen den serbischen Namen einer ihrer
schönsten Landschaften „Lepa zita",d. h. „ Schönes Getreide".
Die katholischen Serben, oder wie dieselben auch be-
zeichnet werden: Illyrer, sind in der Türkei minder zahlreich
als die Orthodoxen und zerfallen in folgende Stammgenossen:
a) Bosniaken, welche den nördlichen und Mittlern Theil
von Bosnien, aber auch selten unvermischt bewohnen;
b) Croaten, oder die Bewohner der Herwatlick, wie
die Türken ihren Antheil von Croatien nennen, etwa 60,000.
c) Morlachen, welche viel wilder und nncivilisirter als
selbst die Bosniaken sind, denn sie kennen nicht einmal das
Brot und begnügen sich mit Proja und Male, d. h. Mais-
und Hirsefladen, mit gekochten und zn Muß gestampften Boh-
nen und dergl. Diese türkischen Morlachen dürften kaum
mehr als 100,000 Seeleu zählen.
d) Die Dalmatiner in Türkisch-Dalmatien und in der
Herzegowina. Diese Katholiken haben meist Franziskaner-
Ordensbrüder zu Seelsorgern, welche unter dem bosnischen
Bischöfe in Serajewo stehen.
Die Albanesen dürften nicht viel über anderthalb Mil-
Honen Köpfe zählen. Die Arnanten in Mittelalbanien
bekennen sich zum Islam, sind daher Staatsbürger und als
solche militairpflichtig und unter dem erwähnten Namen wegen
ihrer Rohheit und Tapferkeit bekannt. Albanesische Räuber
sind es auch meist, welche im Innern der Türkei die elenden
Handelswege noch unsicherer machen und den Verkehr noch
mehr lähmen. Die nördlichen Albanesen sind meist Katho-
liken, haben Erzbischöse und Bischöfe und dehnen sich weithin
in das slavische Gebiet aus. Die südlichen Albanesen da-
gegen im Epirns bekennen sich zur griechischen Kirche. Es
ist bekannt, daß die Albanesen viel für ihre Unabhängigkeit
gefochten haben und einige Stämme derselben _ leben auch
heute noch ziemlich unabhängig. So die Mirditen, deren
Hauptort Kroja (Ak Hissar, Weißburg) die einst be-
rühmte Feste des Helden Skanderbeg ist. Die rohen Chi-
marioten, die von ihrem Hauptorte Chimara den Namen
haben und gefürchtete Räuber sind. Die Sulioten mit
der Bergfeste Snli, welche am griechischen Freiheitskriege
sich sehr eifrig betheiligten und daher auch zu großem Theile
nach Griechenland auswanderten.
Die Albanesen sind bis jetzt in den einst von Serben
und Bulgaren hauptsächlich bewohnten Gebieten mit ihren
Niederlassungen weit über die östliche Morawa hinaus vor-
gedrungen.
Eingerechnet Konstantinopel beträgt die Zahl der echten
Türken, Osmanen tatarischer Abkunft, in den ver-
-schiebenen Provinzen der europäischen Türkei keine 2 Millio-
der europäischen Türkei. 213
nen, von welchen allein 600,000 in compacter Masse in
Konstantinopel und dessen nächster Umgebung wohnen, die
übrigen leben mehr oder weniger zerstreut in allen Provinzen,
besonders in den Städten und zahlreich unter ihren slavischen
Glaubensgenossen in Bulgarien und Bosnien. Daß die
muselmännische Bevölkerung in neuer Zeit eher ab- als
zunimmt, wie Göhlert in seinen Studien über die Bevöl-
kernng der europäischen Türkei behauptet, wollen wir nicht
in Abrede stellen, besonders wenn man die große Verarmung
der Mohammedaner in der Türkei in Betracht zieht, aber
die Ziffer 700,000 eigentlicher Türken oder Osmanen, welche
derselbe annimmt, ist doch zu gering gegriffen. Und wenn
derselbe die Osmanen zu deu absterbenden Völkern in Europa
zählt und meint, daß man. genau den Zeitpunkt angeben
könnte, bis zu welchem sie in Europa ausgestorben sein wer-
den, falls man genaue Aufzeichnungen über die Geborenen
und Gestorbenen hätte, so vergißt er doch, daß sich die Os-
manen in Europa immer durch Zuwanderung aus Asien
ergänzen. Daß die türkische Sprache in der Türkei die
Geschäfts- und Amtssprache ist, bemerken wir nebenbei.
Inbegriffen unter den gegen 5 Millionen zählenden mo-
Hammedanischen Bewohnern der Türkei in Europa sind auch
die Tataren in der Dobrndscha und in dem angrenzenden
Theile Bulgariens, deren Anzahl sich aber auf keine 20,000
beläuft. Sie sind Ueberbleibsel derjenigen Tataren, deren
Gebiete die Pforte nach und nach an Rußland abgetreten
hat, wo ihre Stamm- und Religionsgenofsen immer mehr
von anderen Elementen verschlungen werden. Sie sind viel
mit Türken, Wallachen, Bulgaren, Armeniern n. s. w. ver-
mischt, da nun einmal in diesen Provinzen mit Aus-
uahme der Donausürstenthümer und Thessaliens
weder eine ethnographische noch kirchliche Einartig-
feit vorhanden ist. Zur Vermehrung dieser Vielartigkeit
sind in neuester Zeit (1864) die aus ihrem Vaterlande aus-
gewanderten Tscherkessen gekommen, welche von der tür-
tischen Regierung in folgender Weife vertheilt wurden. Etwa
13,000 Familien sind in die Paschaliks von Silistria und
Widdin gekommen. Fast eben so viel wurden in die Pascha-
liks von Nisch und Sofia dirigirt, wovon sich über 40,000
Köpfe nächst dem Amselfelde und der Stadt Prischtina sollen
niedergelassen haben. Zehntausend Familien wurden gegen
Sistow, Ntfopol, Rustschuk und zum Theil in die Dobrudscha
geschickt, so daß im Jahre 1364 und 1865 etwa 200,000,
nach Anderen sogar 300,000 Tscherkessen in der europäischen
Türkei als Colonisten sich niedergelassen hätten, welche Ziffer
denn auch in den neuesten statistischen Berichten genau auf-
recht erhalten wird. Allein es ist bekannt, daß diese Aus-
Wanderungen der Tscherkessen von der Pforte keineswegs be-
Hufs eines Colonifationsverfnches angeregt worden sind, fon-
dern letztere hat nur die Trausportiruug und die Aussetzung
ihrer Religionsverwandten besorgt und um das fernere Schick-
sal derselben sich gar nicht gekümmert. So mußte es kommen,
daß die Ausgewanderten in die äußerste Noth geriethen, und
ein großer Theil derselben, welcher von Hunger und Krank-
heit nicht aufgerieben wurde, ist wieder in das Vaterland
zurückgekehrt. Die Türken können demnach von diesen Nie-
derlassungen nichts Ersprießliches erwarten.
Es giebt in der europäischen Türkei auch noch viele Ar-
menier, Zigeuner, Juden u. s. w., allein diese wohnen
nirgends in compacten Massen zusammen und es werden sich
bei der unausbleiblichen Auflösung der Türkei eben nur die
oben erwähnten Völker betheiligen. Ob sich die christliche
Bevölkerung, je nachdem dieselbe aus Griechen oder Slaven
besteht, zur Einverleibung mit Griechenland und Serbien, und
die Albanesen und Bulgaren zur Gründung eigener Staaten
erheben werden, dies mnß natürlich erst die Zukunft lehren.
214
Wie die europäische Civilisation wilde Völkerstämme zu Gründe richtet.
Me die europäische Zivilisation wi
Die Thatsache selbst unterliegt keinem Zweifel, das weiß
jeder Ethnolog, und nicht bloß die Südsee liefert Beweise in
Hülle und Fülle. Gewöhnlich meint man, daß Brannt-
wein, Syphilis, Blattern und andere Krankheiten allein oder
doch vorzugsweise es seien, welche so grauenvolle Verheeruu-
gen unter den „Wilden" anrichten, und ganze Volkerstämme
von der Erde hinwegfegen, sie dem rettungslosen Untergange
weihen. Gewiß sind es, von dem Morde durch Waffen
ganz abgesehen, jene Agentien, die gleich einem Würgengel
über „wilde" Völker kommen, welche das Unglück haben,
mit der „Civilisation" in Berührung zu gerathen. Wir
wissen, daß diese im Osten des Mississippi binnen drittehalb-
hundert Jahren mehr als 200 Jndianerstämme völlig ver-
tilgt hat, während jetzt das Vernichtungswerk im weiten
Westen und bis zu den Gestaden des Stillen Weltmeers
unaufhaltsam seinen Fortgang nimmt. Wo siud zum Bei-
spiel die Tausende von Mönnitarries und von Mandanen
geblieben, welche zu Anfang unseres Jahrhunderts Lewis und
Clarke und dann nach ihnen Prinz Maximilian von Neuwied
am oberu Missouri fanden? Sie alle erlagen den Blattern
und kein brauner Mann ihres Stammes athmet heute noch,
um das jammervolle Geschick zu beklagen, das über sie her-
einbrach; keiner opfert mehr dem großen Geiste, welcher diese
Völker untergehen ließ, blaue Tabackswolkeu!
Mau sagt, es sei ein Gesetz des Fortschrittes, daß die
„wilden Völker" zu Grunde gehen müssen, um den „civili-
sirten" Platz zu machen. Wir wenden dagegen nichts ein,
der Gang der Geschichte von Anbeginn spricht dafür. Die
Menschen führten von je, mit mehr oder weniger Raffine-
ment oder Barbarei, und beides läuft sehr oft auf eins hin-
aus, einen Vernichtungskampf mit sehr verschiedenen Waffen
gegen einander. Darin find sie alle einander gleich, ob sie
Heiden oder Mohammedaner, Buddhisten oder Christen seien;
hier verschlagen Racenverhältnisse und Religionsformeln nichts;
sie alle würgen sich unter und mit einander oder gegen ein-
ander. Die einen thuu es mit nackter Brutalität, die ande-
ren verbrämen die Sache mit Floskeln von Romantik, Hel-
denmnth, Ruhm, Tapferkeit und wie die schönen Ausdrücke
weiter lauten.
Doch mit diesen herkömmlichen Redensarten haben wir
hier nichts weiter zu schaffen und ohnehin glaubt die Welt
daran. Was wir hervorheben wollen, das ist jenes tragische,
dunkle, noch nicht erklärte Verhängniß, welches über so viele
Stämme auch dann hereinbricht, wenn sie nicht mit der bar-
barischen und brutalen Seite unserer christlich-europäischeu
Civilisation in Berührung kommen, sondern wenn das ehr-
liche, redliche Wohlmeinen, die edel gedachte und väterlich ge-
übte Fürsorge, die wahre Humanität, die echte Menschen-
freundlichkeit an sie hinantritt.
Ein Walfischfahrer kommt an eine von braunen Polyne-
siern bewohnte Insel der Südsee. Bis dahin hat nie ein
weißer Mensch das Eiland besucht oder betreten. Die Euro-
päer oder Nordamerikaner gehen ans Land; an Bord des
Schiffes herrscht keine Krankheit, alle Seeleute sind — es ist
das eine Ausnahme — gesund; selbst die so verhängnißvolle
Syphilis fehlt. Die weißen Männer gehen eine Woche lang
mit den braunen Männern und Frauen um, der gegenseitige
Verkehr ist freundlich, beide Theile sind mit einander durch-
aus zufrieden. Das Schiff nimmt Wasser und Nahrungs-
mittel ein und segelt weiter. Die Insulaner sind hoch er-
freut, daß sie so manche, ihnen bisher unbekannte und doch
»e Wlkerstämme zu Hrunde richtet.
so brauchbare Gegenstände eingetauscht haben, vortreffliche
Angelhaken, blanke Messer und Scheeren, Aexte und noch
allerlei andere schönen Dinge. Sie segnen ein Geschick, wel-
ches ihnen solche Männer aus weiter Ferne an ihre Küste
geführt hat.
Aber nicht lange; die Freude macht bald einem Grauen
und daun einer wilden Verzweiflung Platz. Die Weißen
waren gesund, aber unter den braunen Leuten entstehen nach
Verlauf vou zwei, vier, sechs Monaten Krankheiten, die
man nie zuvor gekannt. Die Kranken sterben; sie ster-
ben in Masse, jede Familie hat ihre Opfer zu bringen. Zwar
verschwindet die Seuche auf einige Zeit, aber sie kehrt nach
Verlaus bald darauf wieder. Die Menschen sind von nun
an verdüstert; sie wissen nicht mehr recht, was sie mit sich
anfangen sollen. Sie sind — ich wiederhole die schon mehr-
fach im „Globus" von' mir betonte Bezeichnung, weil sie
mir die Sache am besten auszudrücken scheint — sie sind
aus dem alten Gleichgewicht geworfen worden und
können sich nicht mehr mit sich selber zurechtfinden.
Hier stehen wir einem anthropologischen Räthsel gegen-
über. Es ist noch nicht erklärt worden, wie es komme, daß
solche Erscheinungen ins Leben treten können und daß sie sich
bei den braunen Polynesien!, nicht aber bei den schwar-
zen gezeigt haben. Bei jenen hat schon der bloße Eon-
taet zwischen zwei verschiedenen Racen hingereicht,
um die unheilvolle Erscheinung hervorzurufen.
Doch es ist lediglich Zufall, daß der Walfischfahrer eine
Insel besucht. Ihm liegen Civilisationsbestrebungeu fern;
er will die Ungeheuer der Tiefe Harpuniren, will Thran si&*
den und Barten heimbringen. Dagegen kommt der Mifsio-
nair, um den „Wilden", neben seiner Lehre, von welcher sie
freilich nur selten und im besten Falle nur sehr dürftig eini-
ges Wenige begreifen, seinerseits auch die „Segnungen der
Civilisation" zu bringen. Das letztere ist auch durchgängig
die Absicht der politischen Beamten, falls die wilden Leute
Uuterthanen weißer Menschen geworden sind. An dem red-
lichen Wohlwollen, ihnen jene „Segnungen" zu verschaffen,
darf nicht im Mindesten gezweifelt werden; man meint es
in der That gut uud ehrlich. Jene Menschen sollen ferner
keine Wilden bleiben, man will ihnen eine, wie man meint,
bessere Lage verschaffen, will sie sittigen, heben, bilden, dem
civilisirten Europäerthum nahe bringen; man möchte ihnen
ihr Leben leichter, angenehmer, bequemer, wie man sagt,
menschenwürdiger machen. Dabei geht man von wahrhaft
humanen Grundsätzen aus, die Bestrebungen sind an und
für sich gut und edel.
Und doch richtet man den „wilden" Menschen mit diesem
ehrlich gemeinten Wohlwollen zu Grunde. Man ahnt ge-
wöhnlich gar nicht einmal, daß dasselbe gleichbedeutend mit
Vernichtung sei. Es ist ein scheinbar hartes Wort, aber
es ist doch ein Wahrwort, daß unsere Civilisationsphilan-
thropie eine unzählige Menge von Menschen von der Erde
vertilgt und ganze Völker dem Untergange geweiht hat. Sie
verschlingt mehr Menschen als alle Anthropophagen unter
den Negern im Nigerdelta oder sonst wo in Afrika.
In einem frühern Bande des „Globus" haben wir nach
dem Bericht eines Engländers mitgetheilt, daß und weshalb
die wollenen Decken, welche als „Civilisationswaare" an
die Stelle der landesüblichen und herkömmlichen Bekleidung
getreten sind, als ein wahres Danaergeschenk sich erweisen.
Die Darstellung bezog sich aus einige Inseln der Südsee.
Wie die europäische Civilisation wi
Jetzt finden wir in dem soeben erschienenen fünften Bande
der Transactions of the Ethnological Society of Lon-
don, 1867, S. 243 bis 254 einen ganz vortrefflichen Auf-
satz von Gilbert Malcolm Sproat über die Indianer
an der Westküste von Bancouver Island. Dieser
Mann war fünf Jahre lang Beamter und Gutsbesitzer in
der Niederlassung Alberni am Nitiuaht-Suude, der
einen tiefen Einschnitt im Hintergrunde des großen Bar-
clay-Snndes an der Westküste bildet. Diese letztgenannte
Bucht ist aus allen Karten verzeichnet; sie liegt nördlich von
dem äußern Eingange zur Juan-de-Fnca-Straße.
Im nordwestlichen Amerika ist die Zerklüftung und Zer-
splitterung der Stämme und Völkerschaften ungemein groß,
und wir finden diese Erscheinung auch auf der Vaucouver-
Insel. Auf ihr leben nicht weniger als drei verschiedene
Stammgruppen, deren Sprachen völlig von einander abwei-
chen. Die eineGruppe spricht das Quoquoulth, das man
wohl auch als Fort-Rupertspräche bezeichnet; die zweite
redet das Kauitschan oder Tongeith und die dritte hat
die Athspräche. Die erstgenannte Sprachgruppe waltet im
Norden und Nordosten vor, die zweite im Osten und Süden,
die Ath an der Westküste.
Sproat's sorgfältige Beobachtungen beziehen sich auf die
Ath-Jndianer zwischen PacheenaH und Nespod. Er be-
zeichnet sie als Ath, weil alle Benennungen der einzelnen
Stämme dieser Gruppe das Assixum ath haben. Die ver-
schiedenen Stämme haben unter sich kein nationales Band,
nnd eben so wenig eine allgemeine Bezeichnung für ihre
Stammgruppe, denn der Name Mahtmahs bezeichnet nur
den Begriff „die Leute".
Diefe Ath stehen in jeder Beziehung auf einer sehr nie-
drigen Stufe. Sie kennen keine Götzenbilder, keine
Metalle, kein Hausthier und haben keine Ahnnug
von Ackerbau. Sie repräfentiren den eigentlichen „Wil-
den", den sogenannten „Naturmenschen" nach allenRichtun-
gen hin. Sproat kam 1860 mit zwei Schiffen, um von
dem heutigen Bezirk Alberni Besitz zu nehmen; er hatte 50
Mann Soldaten an Bord. Am nächsten Tage ließ er einen
Häuptling holen, welchem er durch den Dolmetscher mit-
theilte, daß er, Sproat, den ganzen Bezirk der Köni-
gin von England abgekauft habe. Das mochte dem
braunen Manne unverständlich sein, er erklärte seinerseits,
daß er geneigt sei, das Land zu verkaufen, und Sproat gab
ihm was er forderte. Hauptbediuguug war, daß die Jndia-
ner sofort ihr Dorf abbrechen und fortziehen sollten. Die
brauneu Leute waren über das Alles unzufrieden, sie benäh-
men sich feindselig und nur die Furcht vor Flinten und Ka-
nonen verhinderte einen Ausbruch. Dann zogen sie weiter
ins Innere hin, wo bald nachher Sproat jenen Häuptling
aufsuchte.
„Häuptling," fagte ich, „befindet ihr euch wohl^ sind eure
Frauen gesund, eure Kinder munter; habt ihr Fische und
Früchte genug?"
„Ja, wir befinden uns alle gefuud und haben vollauf zu
essen. Aber nun wissen wir nicht, wie lange das
noch dauern wird. Wir sehen eure Schisse und hö-
ren Dinge, die unser Herz schwach machen. Man
sagt, daß bald noch mehr König-Georgs-Lente (Engländer)
kommen wollen; sie werden uns unser Land, unser Brenn-
holz und unsere Fischereien nehmen. Wir sollen nur einen
kleinen Fleck Landes behalten und Alles thuu, wie es die
König-Georgs-Leute haben wollen."
Der alte Häuptling ahnte, was kommen werde; er war
gleich von vornherein verdüstert. Eine Zeitlang benahmen
sich die Indianer noch drohend, aber allmälig begriffen sie,
daß sie den Fremdlingen gegenüber machtlos seien.
e Völkerstämme zu Gruude richtet. 215
Wir wollen ans Sproat's Schilderung einige Züge her-
vorheben, um zu zeigen, wie diese „Naturmenschen" leben.
So niedrig und tief sie stehen, findet man an ihnen doch
einige schätzbare Eigenschaften. Sie haben Achtung vor
dem Weibe, das nicht als Sklavin betrachtet wird. Ferner
zeigen sich bei ihnen gewisse, allerdings eigenthümliche Vor-
stellungen von Rang und Eigenthum; sodauu haben sie eine
Menge von Gebräuchen in Bezug auf die Stammesverhält-
nisse. „Ihre gesammteu Zustände scheinen genau
denjenigen zu gleichen, welche bei den Menschen
vorkamen, die unmittelbar vor dem Steinzeitalter
und dem Zeitalter der Fichte lebten, etwa dem, von
welchen die Kücheuabsälle in Dänemark herrühren. Mir
ist klar geworden, daß die Beschaffenheit des Holzes,
über welches die Menschen verfügen konnten, von großem
Einfluß auf ihr ganzes Leben fein mußte. Leute in einem
Knochenzeitalter, die weiches Holz besaßen, waren mög-
licherweise in einer bessern Lage, als jene, die nur Steine
und hartes Holz zur Benutzung hatten."
Die Ath wohnen vorzugsweise au den drei großen Sun-
den Nitinaht, Klaohquat und Nutka; an dem erstgenannten,
also dem Barclay-Snnde, liegt die schon erwähnte Nieder-
lassung Alberni. Auf der weiter oben bezeichneten Strecke
zwischen PacheenaH und Nespod zählte Sproat mehr als 20
Stämme, die zusammen etwa 1700 streitbare Männer hat-
ten. Während einige Stämme bis zu 100, 200, ja 400
Kriegern zählten, gab es einige, die deren weniger als 60,
ja bis zu 5 herab hatten. Viele Männer sind kräftig und
hübsch gebaut, manche bis zu 180 Pfund schwer; die durch-
schnittliche Höhe beträgt 5 Fuß 6 Zoll. Der Brauch, den
Kopf platt zu drücken, ist allgemein. Hautfarbe dunkelbraun.
Die Dörfer wandern, weil der Ath dem Zuge der Lachse
und anderer Fische folgt; er läßt aber das Pfahlwerk der
Häuser stehen und nimmt nur die Bretter mit; so kann er
jene wieder benutzen, wenn er abermals an den frühern Platz
kommt. Nicht felten stehen am Ufer eines Flusses Häuser-
reihen, die wohl eine Drittelmile lang find; jede Wohnung
hat 25 bis 40 Fuß Tiefe und 10 bis 12 Fuß Höhe. Sie
werden aus Cederuholz aufgeführt.
Die Hauptnahrung sind Fische, besonders Wale, Heil-
bntten, Häringe, Lachs und Schalthiere. Bis vor zwanzig
Jahren hatten noch wenige Handelsschiffe diese Gegend be-
sucht und die Nahrung der Aths bestand nur in Fischen,
wilden Beeren und Wurzeln; jetzt haben sie auch
Mehl, Kartoffeln, Reis und Syrnp.
„Dieser Wechsel in der Nahrung hat bei den
Stämmen, unter welchen ich lebte, höchst nachthei-
lige Folgen für ihre Gesundheit gehabt. Sie essen
wohl auch Gänse, Enten und Hirsche, ziehen aber Fische ent-
schieden vor."
Die Ath haben eine sehr ausgebildete Höflichkeitsetikette,
die herkömmlich ist und streng beobachtet wird. Es geht
äußerst förmlich bei ihnen zu und jeder Verstoß gegen gutes
Benehmen wird bemerkt; man wetteifert in Höflichkeit. „Im
Vergleich zu englischen Land- und Handwerksleuten hat das
Benehmen der Ath etwas Würdiges."
Ihre Kähne sind vortrefflich gearbeitet, man möchte sagen,
nach einer vollkommenen Zeichnung; das weiche und doch
dauerbare Cederuholz kommt ihnen dabei sehr zu statten.
Bevor sie eiserne Aexte kannten, fällten sie, ohne sich des
Feuers zu bedienen, die dicksten Stämme mit einem meißel-
förmigen Werkzeuge, das sie aus Elenngeweihen
verfertigt hatten. Sie hielten dasselbe, wie wir nnsern Mei-
ßel halten, und schlugen darauf mit einem etwa zwei Pfund
schweren Steine. Außerdem hatten sie eine Art von Beil
und einen Bohrer, die beide noch jetzt im allgemeinen Ge-
216 Wie die europäische Civilisation wi
brauche sind. Das erstere ist eine große Muschelschale,
die in einem hölzernen Stiele befestigt wird. Den aus Vo-
gelknochen verfertigten Bohrer handhaben sie anders als
wir den unsrigen. Wenn man sie fragt, welche Werkzeuge
sie benutzten, bevor sie die eisernen kannten, dann zeigen sie
allemal dergleichen aus Knochen vor, und ihre Häuser und
Kähne liefern deu Beweis, was sie mit solchen Knochen-
instrumenten herzustellen vermochten."
Heber die religiösen Vorstellungen der Ath konnte Sproat
wenig erfahren. Der fchon erwähnte Häuptling sagte: „Ihr
versteht nichts von solchen Dingen, das können nur alte In-
dianer." Sie belügen den, welcher sie ausfragen will, um
den Unbequemen loszuwerden. So viel steht indessen fest,
daß sie Sonne und Mond verehren, besonders den Voll-
mond (hup Path), und die Sonne, wenn sie im Zenith steht;
doch ist der Mond die höhere Gottheit; „er antwortet auf
die Gebete, welche man an ihn richtet und sieht Alles uud
Jedes auf der Erde." Auch Qnawteaht wird verehrt; die-
fer hat alle Dinge gemacht und lehrte die Menschen, sich in
Zeiten der Noth und Bedrängniß an Sonne und Mond zu
wenden; er ist aber eine geringere Gottheit als diese beiden.
So sind die Ath. Ich komme nun aus den anfangs er-
örterten Gegenstand zurück und lasse den aufmerksamen Be-
obachter reden.
„Ich hatte früher keinen Begriff davon, wie die Civi-
lisation anf das Verschwinden der Wilden einwirkt.
„Wir gründeten die Niederlassung Alberni. Anfangs
war davon keine besondere Einwirkung auf die Eingeborenen
zu bemerken; die veränderten Umstände schienen indeß ihnen
gnt zu thun nnd zu statten zu kommen. Dann und wann
arbeiteten sie als Tagelöhner und kauften sich für ihren Lohn
nene wollene Decken. Viele trugen auch alte Kleider,
welche die Weißen abgelegt hatten nnd gefielen sich in sol-
chem Staate. Man verkaufte ihnen zu niedrigen Preisen
Mehl, Kartoffeln, Reis und andere Nahrungsmittel, denen
sie sehr bald Geschmack abgewannen, und sie verlebten den
ersten Winter nach Ankunft der Ansiedler viel bequemer und
behaglicher als sie jemals vorher eiueu solchen zugebracht hatten.
„Erst geraume Zeit nachher zeigten sich Symptome, daß
unter den Indianern, welche der Ansiedelung zunächst wohn-
ten, eine Veränderung vorging. Ich war damals sehr
beschäftigt und hatte die stufenweise, allmälige EntWickelung
nicht genau verfolgt. Nun aber wurde ich aufmerksamer und
fand, daß einige junge Indianer sich in widerwärtiger Weise
enropäisirt hatten. Die große Mehrzahl der braunen Leute
betrachteten die Ansiedelung nicht mehr, wie früher, mit einer
gewissen Unbefangenheit; sie hatten sich apathisch und ver-
düstert in ihre Dörfer zurückgezogen und brüteten offenbar
über finstere Gedanken.
„Anfangs machte die Thatsache, daß sie sich von uns
entfernt hielten und uns mieden, einen bedenklichen Eindruck,
ich überzeugte mich jedoch bald, daß hier kein Uebelwollen im
Spiele war. Die Neugier des Wilden war nun befriedigt.
Jetzt war Verwirrung in feinen Geist gekommen;
er fühlte seine Fähigkeiten, seine Einsicht über-
rascht und überwältigt, als er Dampfmaschinen,
Dampfschiffe und das rastlose Treiben der weißen
Menschen sah. Den civilisirten Leuten gegenüber war
Mißtrauen zu sich selbst in ihn gekommen, in seine alten
Gewohnheiten und Überlieferungen, und nun fuhr er,
entsetzt und erschrocken, in sich selber zusammen,
niedergeschlagen und ganz und gar entmnthigt. Er
ist von Natur voller Argwohn und Mißtrauen; jetzt macht
er es sich gewissermaßen zur Lebensausgabe, Alles was die
Weißen thun, scharf und prüfend zu beobachten, und besorg-
nißvoll darüber hin und her zu simuliren, was sie wohl eigent-
>e Völkerstämme zu Grunde richtet.
lich beabsichtigen. Nun verachtete er auch sein bisheri-
ges Leben, Wesen und Treiben; auch die alteu Stammes-
brauche und Ceremonien wurden vernachlässigt.
„Dann stellte sich die Thatsache heraus, daß unter den
Indianern Krankheiten in ungewöhnlicher Menge
zum Vorschein kamen, besonders uuter denen, welche
in der Nähe der Niederlassungen weißer Menschen
sich aufhielten. Wir konnten diefe betrübende Erschei-
nuug, für welche keine handgreifliche Urfache vorlag, nur aus
der veränderten Nahrungsweife erklären, welche feit
unserer Ankunft stattgesunden hatte. Branntwein, Syphilis
und andere dergleichen Zerstörungsmittel waren hier nicht im
Spiele.
„Die Sterblichkeit nahm zu, aber nicht etwa in
Folge übermäßigen Genusses geistiger Getränke, denn ich
hatte Sorge dasür getragen, daß ein solcher unmöglich statt-
finden konnte. Auch geschlechtliche Liederlichkeiten kamen
nicht vor. Die Wirkungen, welche eine veränderte
Ernährungsweise ausübt, lagen vor, nnd dazu kam
die stumpfe uud dumpfe Verzweiflung, die ge-
drückte Stimmung, die Entmuthiguug, welche über
diese Indianer hereingebrochen ist, seitdem sie sich
in der Gegenwart und in der Berührung mit einer
höheren Raee befanden.
„Welche Folgerungen sollen wir aus diesen Thatsachen
ziehen? Es will fast scheinen, daß die Wilden ver-
schwinden müssen." —
Es trifft sich, daß wir in demselben Bande der „Ethno-
logieal Transaetions" (S. 239 bis 242) eine Mittheilung
über die Eingeborenen der andamanischen Inseln
finden, welche gleichfalls zur Erläuterung des eben erörter-
ten Gegenstandes dienen kann.
Die Andamanen, ein Archipelagns im östlichen Theile
des bengalischen Meerbusens, werden in unseren Tagen oft
genannt, weil seit 1857 die Engländer eine Anzahl indischer
Sipahis dorthin gebracht haben, deren Deportirnng ihnen
nach Beendigung des großen Ausstandes in Indien ange-
messen erschien. Sie legten bei Port Blair eine Nieder-
lassung an und kamen nun auch in Berührung mit den
schwarzen Eingeborenen, von denen man bis dahin nur sehr
wenig wußte. DieseMincopies sind in fast noch höherem
oder niedrigerem Grade „Naturmenschen", als die Athindia-
ner auf der Jnfel Vanconver, und sehr scheu.
Bor etwa anderthalb Jahren traf es sich, daß eine An-
zahl dieser Mincopies überrascht wurden, als sie sich heran-
geschlichen hatten, um deu Deportirten Werkzeug und Ge-
räthschasteu zu stehlen. Es gelang, sieben dieser Wilden ein-
zufangen. Man hielt sie ein paar Wochen lang in Port
Blair gefangen; einer entfloh, drei andere wurden entlassen.
An den drei übrigen, die jüngere Lente waren, wollte man
Studien machen, deren Ergebniß von Herrn Fytche, dem
Commissair der Provinzen Tennasserim und Martaban in der-
eben erwähnten Mittheilung geschildert wird.
Man schaffte diese drei Wilden auf einem Dampfer nach
Ranguhu, der Hauptstadt des britischen Pegu, stellte sie
dort unter Aufsicht eines englischen Matrosen und ließ sie
täglich spazieren sichren. Es war aber nichts aus ihnen her-
auszubringen und man brachte sie dann nach Manlmän,
das aus der Ostseite des Busens von Martaban liegt. Un-
terwegs wurden sie aufmerksam beobachtet. Den Taback
liebten ste bald außerordentlich; sie zeigten aus die Tasche,
in welche ein Matrose seinen Kautaback gesteckt hatte, um
anzudeuten, daß sie ein Stückchen haben möchten, auch reich-
ten sie ihre Cigarre zum Anbrennen hin.
Dem echten afrikanischen Negertypus nähern sich die Min-
copies nicht so sehr an, wie man bisher Wohl gemeint hat;
David Livingstone's Er
ihr Haar wächst in getrennten Büscheln; sie haben nicht die
nach hinten hervortretenden Fußhacken des Negers, auch sind
die Lippen nicht wulstig und vorstehend, die Nasenflügel nicht
breit; die Haut hat Rußfarbe, nicht ein tiefes volles Schwarz.
Die Verwandtschaft mit den schwarzen Völkern der hinter-
indischen Halbinsel und des Archipelagns und mit den Papuas
auf Neuguinea ist nicht zu verkennen.
Commissair Fytche erinnert daran, wie die schwarzen
Bewohner von Vandiemensland (Tasmania) nun
ausgestorben seien, und wie der Erlöschuugsproceß erst dann
den raschesten Fortgang nahm, als man die Ueberreste nach
einer Insel in der Paßstraße gebracht hatte, um sie mit
Fürsorge zu überwache». Mau gab ihnen gute Nahrung,
aber andere, als sie auf Tasmanien genosfen hatten, und
wollene Decken. Nun stellten sich Lungenkrankheiten
ein uud das Aussterben ging sehr schnell. Die Tasmanier
waren schwarzhäutige Menschen, die Neuseeländer sind
braune Polynesier; aber auch bei ihnen ist genau dasselbe
beobachtet worden. Seitdem sie unsere Nahrungsmittel ge-
nießen und wollene Decken und europäische Kleidung haben,
sind auch bei ihnen in verhängnißvoller Weise Lungen-
krankheiten aufgetreten, die früher bei ihnen uube-
kannt waren.
Auch die drei Miucopies von den Andamanen wurden
lungenkrank, nachdem sie einige Monate in Manlmän mit
der Civilisation in Berührung gekommen und fürsorglich be-
handelt worden waren. Bei dem einen trat das Leiden schon
sehr deutlich hervor, bei deu anderen erst in den Anfängen;
dabei litten sie an Heimweh.
„Ich bin überzeugt, daß sie nicht mehr lernen, als sie
bis jetzt gelernt haben, wenn wir sie auch länger bei uns
behalten. Auch ist es nicht gerathen, ihre Verstan-
deskräste allzu sehr anzustrengen. Sie wissen übri-
gens das Wohlwollen, mit welchem sie behandelt werden, zu
schätzen, und es wird gut seiu, wenn sie ihren Landsleuten
davon Kunde geben. Wir haben sie stets gefügig und wohl-
»rdung am Nyassa-See. '217
gelaunt gefunden, auch zeigten sie Vorliebe für Kinder.
Zu bedauern ist, daß wir kaum ein Wort ihrer Sprache er-
mittelt haben, deren Töne keineswegs verwirrt oder inarticu-
lirt klingen. Es liegt das daran, daß sie jedes Wort,
welches an sie gerichtet wird, nachahmen wollen; wirkön-
nen von ihren eigenen Wortlauten uns nur eine Vorstellung
machen, wenn sie unter sich in ihrer Sprache reden. Sie
sind allerdings noch jung, aber doch schon viel zu alt, um
noch etwas lernen zu können."
Der Commissair fügt hinzu, daß seiue drei and amanischen
Freunde in einer dunkeln, stürmischen Nacht den Versuch zum
Entrinnen wagten, der ihnen auch anfangs gelang. Sie
hatten am Strom einige Bretter gefunden, daraus ein rohes
Floß verfertigt und waren auf demselben guten Mnthes ab-
gefahren. Als Nahrung nahmen sie eine einzige Hamwnrzel
mit! Man schickte drei Polizeiboote hinter ihnen her. In
der zweiten Nacht war das Floß gescheitert; die drei Min-
copies schwammen ans Land. Dort auf der Insel Be-
lookwyn wurden sie von einigen Landleuteu gefangen ge-
nommen und nach Maulmän zurückgebracht. Als der dor-
tige englische Bürgermeister sie vor sich bringen ließ, klopf-
ten sie ihm vertraulich aus die Schulter, waren in der
besten Laune und es fiel ihnen nicht ein, daß sie etwa unrecht
gethan haben könnten. Sie waren sehr hungrig und ließen
sich das Essen vortrefflich schmecken. —
Hier haben wir also Beispiele aus ganz verschiedenen
klimatischen Regionen und von drei oder vier ganz verschie-
denen Menschenracen, auf welche das Wohlwollen unserer
Civilisation verderblich einwirkt. Athindianer in Nordwest-
amerika, schwarze Tasmanier, braune Polynesier und ruß-
farbige, papuaartige Miucopies von den Andamanen sind
durch das, was bei uns zur Behaglichkeit des Lebens beiträgt,
in verderblicher Weise berührt worden, und sie schreiten dem
Untergange entgegen. Daran läßt sich, gegenüber dem ge-
steigerten Weltverkehr, der hente allerwärts hindringt, gar
nichts ändern. A.
David Livingstone's
Es scheint kaum einem Zweifel zu unterliegen, daß Afrika
abermals ein ^ Opfer gefordert hat. Livingstone soll am
Nyassa-See von Zulukasfern erschlagen worden sein. Wir
denken dabei unwillkürlich an Albert Roscher und Karl
von der Decken, welche gleichfalls auf der Ostseite des dun-
keln Erdtheils den Barbaren erlagen.
Zu Livingstone's Begleitern auf dessen frühere Reise
auf dem Nyassa-See und dem Rosnmastrome gehörte Dr.
Kirk („Globus" X, 161 ss. und 193 ff.), welcher seit eini-
ger Zeit britischer Viceconsul in Sansibar ist. Von ihm
ist ein von dort unterm 22.December 1866 datirtes Schrei-
ben au die Londoner geographische Gesellschaft gelangt; er
sagt in demselben, daß er schon drei Wochen früher auf dem
Wege um das Cap der guten Hoffnung einen Brief ähn-
lichen Inhalts abgefandt habe. Er meldet darin den Tod
Livingstone's. „Ich gehe," so schreibt er, „auf einige Tage
nach Kilwa und Mikindany, um zu ermitteln, ob hier
etwas Näheres über die traurige Geschichte bekannt ist; ich
will auch nachforschen, ob dort Briefe angelangt sind, die
Livingstone etwa geschrieben hat, bevor er über den Nyassa
ging. Am 5. December kamen nenn Leute, die von Jo-
Hanna gebürtig sind und zu Livingstone's Begleitern gehör-
Globus XI. Nr. 7.
ordung am Ayassa-See.
ten, hierher nach Sansibar. Sie berichteten, daß auf der
Westseite des Nyassa-Sees, in der Zeit zwischen Ende des
Juli und dem September, die Partie von einer Anzahl M a-
zite's plötzlich überfallen worden sei; dabei wäre Dr. Li-
vingstone nebst etwa der Hülste seiner Leute ermordet wor-
den. Jenen, welche nach Sansibar gekommen sind, gelang
die Flucht, weil, ihrer Angabe zufolge, sie hinter den Uebri-
gen etwas zurückgeblieben waren und nicht gesehen wurden.
Sie alle sagen aus, daß sie dabei geholfen haben die Leiche
Livingstone's noch an demselben Abende zu begraben. ^ In den
Einzelnheiten und diesem oder jenem stimmen allerdings die
Aussagen der verschiedenen Leute nicht genau, aber alle ohne
Ausnahme sagen aus, daß sie die Leiche gesehen haben und
daß dieselbe nur eiueWuude hatte, welche von einem Axt-
hieb in den Nacken herrührte. Ein Mann hat gesehen,
wie der tödtliche Hieb siel. Der Ueberfall geschah unver-
mnthet. Livingstone fand Zeit, diejenigen, welche ihm gegen-
über standen, zu überwältigen; er wollte eben sein Gewehr
wieder laden, als er den Hieb von hinten erhielt. Ich be-
fürchte, daß die Geschichte wahr ist und daß wir schwerlich
über nähere Einzelnheiten Kunde erhalten werden. Ich habe
ausführliche Mittheilungen nach Europa abgeschickt; dieses
28
218 David Livingstone's Erz
mein Schreiben schicke ich mit einem amerikanischen Schiffe
ab, das nach Aden geht."
So weit Dr. Kirk. Wir unsererseits wollen einige Er-
länternngen zu obigem Schreiben geben. Kilwa (8° 57'
südliche Breite), wohin der Viceconsnl sich begeben hatte, ist
die wichtigste Handelsstadt an der afrikanischen Ostküste zwi-
schen Sansibar und Mosambik. Sie wird auch Kilwa oder
Quiloa-Kibendschi genannt und von den Eingeborenen
als Kitofu bezeichnet, d. h. Nabel, nämlich der Suaheli-
küste, weil sie den Mittelpunkt für den Handel jener Gegen-
den bildet. Von dort führt nach Südwesten hin eine Kara-
wanenstraße, welche den nördlichen Rofumafluß überschreitet,
nach dem Nordostgestade des Nyassa-Sees. Der Stadt Kilwa
gegenüber liegt Kilwa Kisiwani, die Insel Kilwa, mit
einem guten Hasen. — Das oben von Dr. Kirk erwähnte
Mikindany ist eine Landungsbucht mit einem vortrefflichen
Hafen. Sie liegt etwa 25 englische Meilen nördlich von
der Mündung des Rofuma (Ruvuma) und ist erst durch
Livingstone näher bekannt geworden („Globus" XI, S. 62).
Wir wollen kurz zusammenstellen, was bis jetzt über Li-
vingstone's Expedition verlautete. Am 18. Mai 1866 war
der Reisende am Rofuma uud zwar bei der Ortschaft Ngo-
mano, die 30 Miles oberhalb der Stelle lag, welche er auf
seiner frühern Expedition von 1861 erreicht hatte. Von
dort wollte er nach dem noch nicht bekannten Nordends des
Nyassa aufbrechen. Das ist auch geschehen. Weiter sind
von ihm selber keine Nachrichten eingelaufen. Aber in: De-
cember 1866 waren nach Bombay, über Sansibar, nngün-
stige Berichte gekommen. Vier oder fünf der indischen Die-
ner, welche Livingstone begleitet hatten, waren aus dem In-
uern an die Küste zurückgekehrt, weil das Fieber sie arg
mitgenommen. Sie sagten aus, die Expedition sei zn Ma-
taka, einer volkreichen Ortschaft, die zwei Tagereisen vom
See entfernt liege, „zusammengebrochen", und alle Lastthiere,
welche Livingstone aus Indien mitgebracht habe, seien gestor-
ben. Wir fügten („Globus" XI, S. 91) hinzu, daß das
in einer Gegend geschehen sei, welche Livingstone's Ansicht
zufolge ein sehr gesundes Baumwollenparadies sein sollte.
Jene Ortschaft M at ak a finden wir nicht aus der Karte,
welche Livingstone seinem neuesten Werke (Narrative of an
Expedition to te Zambesi and its tribntaries; and of
the discovery of the lakes Shirwa and Nyassa 1858—
1861. By David and Charles Livingstone, Lon-
don 1865) beigegeben hat, wohl aber ist auf derselben an
der Nordostküste ein Matete mit einem Fragezeichen einge-
tragen und dieses wird wohl gemeint sein. An der Nord-
Westseite wohnen nach dem Innern hin aus dem Tasellande
die Mazitn (Masitu), welche einen Stamm der weit ver-
breiteten Kafferngruppe bilden, die man als Zulus bezeichnet.
Ans dem eben genannten Buche erfehen wir, daß Livingstone
mit diesen Mazitus schon früher in unangenehme Berührung
gekommen war (S. 372 ff.).
Er schildert dort die sehr stark bevölkerten Uferlandschaften,
an denen dicht gedrängt ein Dorf auf das andere folge. Man
stauute ihn sammt seinen weißen Gefährten wie ein Mähr-
wunder an; man verglich die Fremden mit Chirombo,
wilden Thieren, und Alt und Jung drängte sich herbei,
um zu seheu, wie sie ihre Nahrung zu sich nähmen. Diese
Leute waren aber keine Kaffern, sondern Neger; viele derselben
sind Fischer, welchen der See reiche Ausbeute liefert. Bei
Chitanda an der Westküste, zwischen 13 und 14° S.,
wurde er, zum ersten Mal in Afrika, bestohlen.
Dann schildert er (S. 381 ff.) den nördlichen Theil des
Sees als durchaus zerrüttet und „voll von Blutvergießen".
„Die Mazitu oder Masitu wohnen im Hochland uud
machen von dort aus Raubzüge gegen die Dörfer in der
»rdung am Nyassa-See.
Ebene. Sie find Zulus, kamen ursprünglich von Süden
her, aus dem Biuueulaude vou Sofala und Jnhambane;
und gehören zu derselben Gruppe, wie jene, welche alljährlich
von den Portugiesen am Sambesi Tribut erheben. (Siehe
„Globus" X, S. 167.) Alle Dörfer nördlich von Makam-
bira (11° 44' S.) waren vor einiger Zeit von diesen Rän-
bern zerstört worden; der eben genannten Ortschaft und dem
Häuptlinge von Maremba (12° S. an der Nordwestküste)
hatten sie jedoch nichts anhaben können. Beide Dörfer wa-
ren mit Dickicht und Pfahlwerk umgeben, welche den Bogen-
schützen einen sichern Stand gewährten. Jenseit Makam-
bira lagen manche verwesende Leichen der von den Mazitn
Ermordeten. Unsere Landpartie fürchtete sich weiter zu ge-
hen, weil sie ein Zusammentreffen mit diesen Mördern be-
sorgte; sie hatte keinen Europäer bei sich."
Livingstone befand sich in einem Boote und unternahm
einen Ausflug landein. An der Küste traf er eine Anzahl
bewaffneter Mazitn, die aus dem Seeraub ein Gewerbe
machten. Weiterhin fand er eine noch zahlreichere Bande
solcher Leute, die das Boot verfolgten, in welchem Dr. Kirk
und Livingstone's Bruder Karl faßeu. Der Doctor selber
hatte eine unliebsame Begegnung mit sieben Mazitns. Sie
waren mit Speeren und Schilden bewaffnet und hatten phan-
tastischen Federputz auf dem Kopfe. Ein Makololo von Li-
vingstone's Begleitern, welcher die Zulusprache verstand,
ging ihnen unbewaffnet entgegen, um ein Gespräch anzn-
knüpfen. Als dann auch Livingstone sich ihnen, die im Schat-
ten saßen, näherte, verlangten sie, daß er in der Sonne
sitzen solle. Als er sich darauf nicht einließ, rasselten sie
mit ihren Schilden und Keulen. Dann nahmen sie wieder
Platz und verlangten ein Geschenk, damit sie ihrem HänPt-
linge beweisen könnten, daß sie mit Fremden, die keine Ära-
ber seien, eine Begegnung gehabt hätten. Alles was Living-
stone besaß, befand sich in dem Boote; er zeigte ihnen seine
leeren Taschen. Als er sein Notizbuch herausnahm, wähn-
ten sie, dasselbe sei ein Schießgewehr und riefen, er folle es
gleich wieder einstecken. Die jüngeren Leute benahmen sich
sehr lästig und verlangten eine Ziege, die man ihnen nicht
gab, weil man keine anderen Lebensmittel hatte. Die älteren
benahmen sich vernünftiger und schienen sich vor Livingstone
zu fürchten. Sie zogen dann ab und liefen die Hügel hin-
auf „wie schüchternes Wild." —
Das war Livingstone's erstes Zusammentreffen mit den
Zulus. Wir müssen bis auf Weiteres dahin gestellt fein
lassen, in welcher Weise ein feindliches Zusammentreffen mit
diesen Barbaren stattgefunden hat. Livingstone's Benehmen
ist oftmals nicht gerade verständig gewesen; er hatte früher
schon allerlei Irrungen mit den Wilden, weil er sich in die
Streitigkeiten zwischen den Mangandschas uud den Ajawas
am Schire mit bewaffneter Hand einmischte. Er ging von
der ganz verkehrten und widersinnigen Annahme aus, daß es
seine Pflicht sei, den schwarzen Sklavenhändlern so viel als
möglich ihr nach europäischen Begriffen abscheuliches Hand-
werk zu legen. Nun sind die Greuel, welche der Sklaven-
raub auch in jenen südostafrikanischen Regionen im Gefolge
hat, oftmals geradezu haarsträubend. Aber diese Afrikaner
haben von der Sache selber eine ganz andere Vorstellung als
die weißen Menschen; sie ist bei ihnen uralt und mit allen
ihren Anschauungen aus das Innigste verwachsen. Wer ihnen
Sklaven wegnimmt, gilt ihnen für einen Feind und Räuber,
au welchem sie Vergeltung üben nnd Rache nehmen. Sie
begreifen platterdings nicht, wie ein wildfremder Mann sich
anmaßen könne und welches Recht ein solcher habe, sich in
ihre Angelegenheiten zu mischen. Das that aber Livingstone;
er beschwor dadurch Gefahren herauf, obwohl er sich fageu
konnte, daß sein Verfahren durchaus keinen praktischen Nutzen
Aus allen (
haben werde. Die Schwarzen verstanden eben nicht, was
er wollte; sie wissen nichts von „philanthropischen Grund-
sätzen und Pflichten"; auch lag es doch aus der flachen Hand,
daß ein paar Europäer inmitten jener Barbaren an den Din-
gen nichts zu ändern vermochten. Aber bei dem englischen
Missionspnblicnm machen Schilderungen solcher Vorgänge,
die begreiflicherweise einseitig dargestellt und mitHnmanitüts-
Phrasen verbrämt werden, einen nicht geringen Eindruck, und
von Kritik ist keine Rede. Die Mazntn sind arge Räuber
und die Stämme am See werden wohl viel von ihnen zu lei-
den haben. Wir wollen hoffen, daß Livingstone beiden Theilen
gegenüber verständiger zu Werke gegangen sei, als er bei den
Ajawas und Mangandschas gethan hat. Sein Tod würde
sich erklären, wenn er sich in die inneren Streitigkeiten ge-
mischt hätte. Auf keinen Fall war das letztere die Aufgabe
oder die Pflicht eines Entdeckungsreisenden. —
Wir lesen soeben, daß in der Londoner geographischen
Gesellschaft am 11. März ein Schreiben des Herrn Ro-
derich Murchison verlesen wurde; der bekannte Geolog
giebt die Gründe an, aus welchen man den Tod Livingstone's
bezweifeln könne. Dieselben sind im Wesentlichen folgende:
Die neun Begleiter Livingstone's, welche nach Sansibar
zurückkamen, sind Mohammedaner von den Comoro-Jnseln.
Reisende versichern, daß solche Leute wohl ihren Chef ver-
lassen haben können, wenn sie sich vor den wilden, heidnischen \
Eingeborenen am Ufer des Sees fürchteten; sie können sich
dann unter einander über das verabredet haben, was sie ans-
sagen wollten. In ihrer Erzählung ist einiges nicht recht
verständlich. Sie behaupten in einem Walde versteckt gewesen
zu sein und doch beschreiben sie den Angriff auf Livingstone,
den fic gesehen haben wollen, umständlich. Sie wollen Li-
vingstone begraben haben, aber sie brachten nichts von seinen
Sachen zurück, kein Notizbuch, keine Haarlocke. —
Murchison vergißt hier, daß Dr. Kirk ausdrücklich be-
tont, die Aussagen der Iohannalente stimmen in diesem oder
jenem nicht genau überein; das würde also die Annahme
einer gemeinsamen Verabredung mehr oder weniger ansschlie-
ßen. Wenn Mnrchison weiter und gauz richtig bemerkt, daß
schon manche Afrikareifende todtgefagt worden und doch wieder
zum Vorschein gekommen seien, so läßt sich daraus nicht schlie-
ßen, daß in Bezug auf Livingstone ein Gleiches der Fall sei.
Hoffen wir, daß er noch am Leben fei und daß es ge-
Aus allen
Die gefangenen Europäer in Abyssinien.
Das Drama, welches König Theodoros in Scene gesetzt hat,
spielt noch immer fort und der Schluß ist nicht abzusehen. Alle
Bemühungen der englischen Regierung, die Freilassung der Ein-
gekerkerten zu bewirken, sind vergeblich gewesen; auch der jüngste
Versuch des Obersten Meriweather ist gescheitert. Die neuesten
Nachrichten gehen bis zum December 1866. Der König hatte
den Misstonair Flad freigegeben, damit dieser ihm europäische
Handwerker, namentlich Feuer- und Waffenarbciter, schicke. Flad
übermittelte nun von Massawah aus die Abschrift eines Briefes,
welchen Königin Victoria an Theodoros geschrieben; er hatte dem-
selben eine Übersetzung in amharischer Sprache beigefügt. Am
19. December überschickte der König eine Abschrift deS englischen
Tertes nach Amba Magdala, wo sich die Gefangenen befinden.
Er ließ denselben allerlei Complimente sagen und zugleich niit-
theilen, daß er demnächst in Person dort erscheinen werde, um
mit Herrn Nassam Rücksprache über die Antwort zu nehmen,
welche er der britischen Königin zu geben gedenke. Der Brief
der letztern war in sehr versöhnlichem Sinn abgefaßt, aber dabei
Erdtheilen. 219
linge, über die dunkelen Vorgänge ins Klare zu kommen. Wir
haben oftmals nachgewiesen, daß der Mann ein beschränktes
Urteilsvermögen hatte, daß ihm kritischer Sinn abging und
daß seine wissenschaftliche Ausbildung eine dürftige war. Auch
steckte er voll von Missionsgrillen und was in England da-
mit verbunden zu sein pflegt, von Phantasien über ein afri-
kanifches Baumwollenparadies. Sodann kokettirte er in sei-
nem letzten oben angeführten Bnche auf eine widerwärtige
Weife mit jenen Pfeudophilauthropeu und Patentfrommen,
welche in der Exeterhalle zu London und anderwärts ihr nn-
erquickliches Wesen treiben.
Aber bei allen diefen Fehlern hat fich Livingstone nnsterb-
liche Verdienste erworben. Sein Unternehmungsgeist, sein
Muth, seine Ausdauer und seine Begeisterung reißen uns
zur Bewunderung hin. Er hat uns einen großen Theil des
südäquatorialen Afrika erschlossen; er durchwanderte das große
Festland in dessen ganzer Breite von San Paulo de Loanda
in Angola bis uach Kilimane au der Mündung des Sambesi,
nachdem er vou der Capregion ans durch das Laud der Bet-
schuaua-Makololos iu das Gebiet der schwarzen Makalaka-
Völker und der Luudastämme gezogen war. Durch ihn ken-
nen wir Manches über die hydrographischen Verhältnisse
jener Regionen, und auch viele seiner ethnologischen Dar-
stellnngen haben Werth, vorausgesetzt, daß man sie kritisch
j behandelt. Die Portugiesen bezeichnen jetzt das Land, wel-
ches der Sambesi durchströmt, als Zambezia; man könnte
die ganze Region im Norden des 20° <2^. besser Living-
stonia nennen, nach dem Manne, ans welchen, wenn er
durch schwarze Barbaren gefallen ist, das Wort des Dichters
paßt: Magnis excidit ausis*)! A.
*) Die Londoner Blätter vom 15. März bemerken, daß Dr. Gil-
land vom Esser County Asylum einen aus Sansibar vom 7. Ja-
nu ar datirtenBrief erhalten habe, welcher Livingstone's beiläufig er-
wähnt, aber kein Wort über dessen Tod enthält. Sie wollen aus
diesem Umstände den Schluß ziehen, daß die Nachricht vom Tode des
Reisenden ungegründet sei.
In der „Times" vom 19. März sagt Mnrchison, er habe nun
Dr. Kirk's ausführliches Schreiben erhalten. „I can now scarcely
kling to the hope, that my dear friend is still be alive." -— Wir
kommen in der nächsten Nummer auf den Gegenstand zurück. —
An der Aussage der Johannaleute fällt uns auf, daß sie behauptet,
Livingstone sei mit einer Art erschlagen worden, während Haupt-
waffe der Mazitus nicht die Art, sondern die Hassagaye ist.
Lrdlheilen,
auch so, daß ein verständiger Monarch nicht umhin gekonnt hätte,
dem darin ausgesprochenen Wunsche Folge zu geben. Nach ein
paar Wochen kam aber Theodoros wieder auf seine alten Grillen
zurück. Am 7. Januar erhielt Rassam von ihm ans dem könig-
lichen Feldlager ein Schreiben, das für die britische Regierung
bestimmt war. Diese, so sagt er, habe ihn an die Türken
verrathen und überhaupt ein Benehmen gezeigt, das ganz ver-
schieden sei von seinem eigenen offenen Charakter und seinem
rechtschaffenen Verfahren! Er erwähnt dann, daß er die Gesan-
genen aus ihrem frühern Gewahrsam nach Amba Magdala habe
abführen lassen, wo sie sich in seinem eigenen Haufe befänden
und mit aller Gebühr behandelt würden, — er verschweigt aber,
daß er sie in Ketten hält! Am Ende des Briefes bemerkt er
dann, daß er die von der englischen Regierung für ihn bestimm-
ten Geschenke und Handwerker möglichst bald zu bekommen wünsche.
Das war naiv genug. — Gleich am folgenden Tage wechselte die
Scene abermals; es kam wieder ein Schreiben aus dem königli-
chen Lager an Herrn Rassam, in welchen: Theodoros seinen hoch-
sten Nespeet vor der britischen Königin und England ausdrückt.
28*
220 Aus allen
Aber auch hier giebt er seinen wunderlichen und verbohrten An-
sichten starken Ausdruck; er vergleicht Victoria mit Hiram von
Tyrus und sich selber — mit König Salomo. Hinterher
recapitulirt er dann die Beschwerden, welche er gegen Rassam,
Cameron und überhaupt alle gefangenen Europäer zu haben
glaubt, und zuletzt folgen wieder Anschuldigungen gegen die eng-
lische Regierung und — die Türken; diese beiden macht er für
Alles, was geschehen sei, verantwortlich. Bei alledem verlangt
er nochmals schleunige Uebermittelung der Geschenke und der
Handwerker, läßt aber kein Wort darüber verlauten, daß er die
Gefangenen freilassen werde.
In einem Blatte wurde die Frage aufgeworfen, weshalb man
„mit dem Barbaren nicht kurzen Proceß mache?" Wer so fra-
gen kann, weiß von den abyssinischen Verhältnissen nichts. Ein
Krieg gegen Theodoros liegt außer dem Bereiche der Möglichkeit.
Sobald ein solcher begönne, würde der Halbbarbar gewiß und
wahrhaftig „kurzen Proceß" mit den Gefangenen machen, und ihr
Leben wäre dann keinen Strohhalm Werth. Es kommt aber eben
darauf an, jene Unglücklichen zu retten. Mit Gewalt kann man
sie ihm nicht entreißen und bei einem Krieg in einem solchen
Lande wäre rein nichts zu gewinnen. Unter den Türken, das
ist uns klar, versteht Theodoros die Aegypter. Diese haben mehr-
fach von ihrem Sudan, namentlich von der Provinz Taka aus,
Ansprüche auf nordabyssinisches Grenzland erhoben, welches Theo-
doros als einen Zubehör seines Reiches betrachtet. Er hegt tiefes
Mißtrauen gegen den Vicekönig Aegyptens, von welchem er Ueber-
griffe befürchtet. Dieser Argwohn hat sich in der neuesten Zeit
noch gesteigert, und zwar, wie für uns gar keinem Zweifel unter-
liegt, aus folgenden Ursachen. Bis 1865 gehörten Suakin
und Massawah, die beiden Haupthäfen an der Westküste des
Rothen Meeres, dem Sultan; dieser trat sie dann an den Vice-
könig von Aegypten ab. Massawah ist der einzige Hafen vor
der abyssinischen Küste und nun in den Händen derjenigen Macht,
welche auch von Norden her Ansprüche erhoben hat. Bei den
Unterhandlungen über die Abtretung Massawahs war die englische
Regierung in Konstantinopel thätig und davon ist ohne Zweifel
Theodoros unterrichtet. So erklärt es sich, daß er die „Türken"
und die englische Regierung zusammenwirft. In England ver-
steht man den Orient nur sehr wenig. Man sollte Werner Mun-
zinger's „Ostafrikanische Studien" lesen. Wir haben
früher im „Globus" aus diesem vortrefflichen Buche den Abschnitt
über die „Gegensätze vom Morgenland und Abendland"
mitgetheilt. __
Die Nordpolarreise des Amerikaners Hayes.
Dieser unternehmende Mann hat sich vergeblich bemüht, bis
in das vermeintlich offene Polarmeer vorzudringen. Wir haben
seiner Bemühungen im „Globus" dann und wann erwähnt;
jetzt eben ist sein Werk: „The open Polar sea: a narrative
of a voyage of discovery towards the North Pole, in the
Schooner United States, London 1867," erschienen und in eng-
tischen Blättern angezeigt und besprochen worden.
Dr. Hayes gedachte die Entdeckungen Kane's weiter zu süh-
ren; er glaubte an das offene Polarmeer, welches Morton gesun-
den haben wollte; es kam also darauf an, vom Smith-Sunde aus
weiter nach Norden in dieses Meer vorzudringen und wo möglich
bis zum Nordpole zu gelangen. Der kleine Schooner „United
States", von nur 133 Tonnen Tragfähigkeit und 14 Mann an
Bord, verließ Boston am 6. Juli 1860 und kam im October 1861
dorthin zurück. Er war am 12. August 1860 zu Upernavik an
der grönländischen Westküste, wo er einige Eskimos als Dolmet-
scher, Jäger und Hundetreiber an Bord nahm und segelte dann
weiter nach Norden. Unterwegs traf er „Eisungeheuer" und unter
diesen einen schwimmenden Berg, der wohl dreiviertel Miles lang
und eben so breit war; derselbe hatte über dem Wasserspiegel eine
Höhe von 315 Fuß und enthielt mindestens 27,000 Millionen
Eubiksuß; sein Gewicht muß mehr als 2000 Millionen Tonnen,
jede zu 20 Centner, betragen haben. Das kleine Schiff gerieth
in manche Gefahren, denen es nur mit großer Noth entkam,
und drang zum Ueberwintern bis in die Hartsteinbai vor, in
den sogenannten Foulkehasen. Hinter demselben thürmten sich
die Gebirge von Westgrönland auf; sie sind von tiefen Schluchten
durchbrochen und in diesen fanden die Jäger viele Rennthiere.
Erdtheilen.
Sie zogen daraus den Schluß, daß das innere Grönland im
Stande sei, Thiere zu ernähren. Bon dem Winterhafen aus
unternahm Dr. Hayes eine Wanderung über das „Eismeer",
einen gewaltigen Gletscher, welcher mit dem Humboldtgletscher
in Verbindung steht. Die Kalte war bei heftigem Sturme un-
gemein empfindlich, Hayes aber zog 70 Miles weit über das Eis,
in einer Höhe von mehr als 5000 (?) Fuß über dem Meere. So
weit sein Auge reichte sah er nichts als eine eisige Sahara.
Trotz aller Schwierigkeiten stellte er Messungen und astronomische
Beobachtungen an, die er im Juli 1861 wiederholte. Dieser
Eismeergletscher rückt an jedem Tage um etwa 100 Fuß vor-
wärts, denn eine gewaltige gefrorene Fluth dringt von West-
grönland aus ununterbrochen nach abwärts.
Bemerkenswerth erschien, daß am 14. November der Wind,
obwohl er 24 Stunden lang aus Nordost kam, doch eine wärmere
Temperatur brachte. Das Thermometer, welches bislang 40» F.
unter Null gezeigt hatte, stand nun auf 4y2°. Man will daraus
günstige Schlüsse für das Dasein eines offenen Polarmeeres ziehen.
Sehr unangenehm war der Umstand, daß unter den Hunden eine
Seuche ausbrach und fast alle hinwegraffte. Hayes' Begleiter,
der Astronom Sonntag, unternahm dasWagniß, nach der North-
humberlandinsel zu gehen, um von den dortigen Eskimos Hunde
zu kaufen; er erreichte diesen Zweck, aber auf Kosten seines Le-
bens. Nun konnte Hayes eine Schlittenreise machen und fuhr
am 16. März 1861 den Smithsund hinauf; halbwegs aber
waren fast alle seine Begleiter krank und völlig abgemattet. Die
Kälte drang bis in das innerste Mark hinein und sie mußten nach
dem Foulkehasen zurückkehren; Hayes aber setzte mit nur drei
Begleitern und vierzehn Hunden seinen Zug bis zum Grinnell-
Lande fort. Das Eis erfuhr, je weiter er kam, einen starken
Druck in Folge einer Meeresströmung, die nach Süden ging.
An manchen Stellen lagen Eisblöcke von 30 bis 60 Fuß Hohe
auf dem Ufer. Im Grinnell-Lande, also an der Westseite
des Smithsundes, hat Hayes keine Gletscher gefunden. Ein
weiteres Vordringen war unmöglich, weil das Eis nicht mehr
Stärke genug hatte, die Schlitten zu tragen. Bevor Hayes um-
kehrte, bestieg er einen etwa 800 Fuß hohen Hügel, von welchem
ab er ein Vorgebirge erblickte, das ihm zufolge unter etwa 82» 30' N.
liegt, also noch 450 Miles vom Nordpol entfernt. Auf dem Hü-
gel errichtete er einen Steinhaufen (Cairn) und legte unter dem-
selben einen Bericht nieder, mit den Angaben, daß er von seinem
Winterhafen aus nach einer mühseligen Wanderung von 46 Ta-
gen bis an die Küsten des Polarbeckens und an den nördlichsten
Punkt auf dem Lande gekommen fei (31«35'N.), welchen je-
mals ein Mensch erreicht habe. Parry ist auf dem Meereise bis
82° 45'N. gekommen.
Am 3. Juni 1861 war Hayes wieder auf seinem Schooner,
den er zu sehr beschädigt fand, als daß er mit demselben eine Fahrt
auf vem Polarmeere noch hätte wagen können. Er geht jetzt
mit dem Plane um, am Foulkehasen eine arktische Colonie
zu gründen, weil es dort an Wild nicht fehlen werde. Diese
Colonie würde dann den Punkt bilden, von dem aus man durch
den Smithsund in das „offene Polarmeer" dringen und dasselbe
erforschen könne.
Handelsverkehr zwischen Tripolis und Jnner-Afrika.
In der Oase Ghat zu Suk el Kebir wird in jedem Jahre
vom September bis zu Ende Novembers ein großer Markt ab-
gehalten, aus welchem Maaren aus vielen Gegenden der Sa-
hara und des Sudan zusammenströmen. Im Jahre 1866 konnte
aber derselbe nicht abgehalten werden, weil ein Krieg unter ver-
schiedenen Stämmen der Tuareks ausgebrochen ist; diese aber
sind Herren des Gebietes zwischen Ghat und dem Niger. Der
Markt von Suk el Kebir ist von nicht geringer Bedeutung. Im
Durchschnitt kommen dort in jeden» Jahre an 30,000 beladene
Kameele an aus Aegypten, vom tripolitanischen Hafen Bengazy
am Mittelmeer, aus der Hauptstadt Tripoli, aus dem südlichen
Algerien, aus der Oase FeMn, aus Marokko, Timbuktu und an-
deren Regionen des Sudan, Als Austauschmünze gilt der Real
Ghati, der etwa 5 tunesische Piaster oder 3 Franken 30 Centimen
repräsentirt. Die ganze Region nach dem Sudan hin ist auch der
Räuber wegen unsicher. Hanptgegenstände dieses afrikanischen
Handelsverkehrs sind: Getreide, Wolle, Baumwolle; dann In-
Aus allen Erdtheilen.
221
digo, der in manchen Gegenden des Sudan wild wächst, Goldstaub,
Gold in Barren, Straußsedern, Elfenbein, Wachs, Gummi, Ben-
zoin, trockene und gegerbte Häute und Felle wilder Thiere. Manche
mohammedanische Kaufleute, welche den Handel nach Jnnerasrika in
den Händen haben, sind mit ihren Geschäften sehr zufrieden, weil
sie während der letztverflossenen Jahre große Profite machten. In
vorderster Reihe stehen die Ghadamsier, Kaufleute aus der Oase
Ghadames; für ihre Rechnung werden vorzugsweise die Karawa-
nen befrachtet, welche von Tripolis nach Ghat, Kano, Tuat und
Timbuktu gehen. Die europäischen Kaufleute in den Hafenplätzen
geben den Ghadamsiern einjährigen Credit und werden in den
eben erwähnten Landeserzeugnissen bezahlt; die definitive Abrech-
nung findet in türkischer Münze statt. Die Hauptartikel, welche
auf solche Weise nach dem Sudan befördert werden, sind sogenannte
maltesische Baumwollenwaaren, Thibets, venetianische Glasperlen,
Papier, verschiedene Seidenwaaren, kleine Spiegel, deutsche Eisen-
und Stahlwaaren ic., und aus dem Innern bringen die Karawanen
auch Elephantenzälme, Straußfedern, Kelab-Häute (d. h. von
wilden Büffeln) und Sennesblätter. — Tripoli steht eigentlich
unter der Herrschaft des Sultans von Konstantinopel; doch haben
die Engländer auf Alles, was dort geschieht, einen entscheidenden
Einfluß. Als sie besorgten, daß die Ghadamsier, denen die Fran-
zosen große Versprechungen machten, mit ihren Waaren den Weg,
statt nach Tripolitanien, nach dem südlichen Algerien nehmen
könnten, bewogen sie den Sultan, den Zoll für diese Kaufleute
herabzusetzen; früher mußten dieselben 13 bis 14 Procent zahlen,
jetzt hat man die Transitabgabe auf 2 Procent herabgemindert
und gewährt dem Verkehr alle möglichen Erleichterungen.
Die chinesische Handelsstadt Mao Tschu. Bisher hat
man wenig oder nichts von derselben gehört, sie ist aber in un-
feren Tagen von Belang geworden. Mao Tschu liegt im südlichen
Theile der Provinz Tschi li, also jener, welcher auch die Haupt-
stadt Peking angehört. Zu Ende des vorigen Jahrhunderts re-
bellirten die Einwohner. Zur Strafe wurden die Mauern ab-
gebrochen und die Stadt sollte fortan nur noch als offener Fle-
cken gelten. Gerade dadurch wurde ihr Gedeihen befördert, denn
es zogen sich nun viele Kaufleute dort hin, und heute werden
auf dem Jahrmarkte zu Mao Tschu Baumwollen-, Seiden- und
Posamentirwaaren in großer Menge abgesetzt. Vom 15. Mai
bis 15. Juni sind alle Bazare mit chinesischen Baumwollenzeugen
förmlich vollgepfropft. Die Stoffe werden derart verkauft, daß
sie lange, schmale Streifen bilden, deren Muster aneinander
passen. Auch Gewebe von Kameelhaar kommen in Menge auf
den Markt; sie werden in derStadt Hang tfchui fabricirt; diese
liegt nur wenige Meilen von Mao Tschu eutsernt.
Der Hafenplatz von Massawah im Rothen Meere vor
der Küste Abyssiniens, 14° 34' nördl. Breite, etwa 500 Miles
von der Bab el Mandeb und 400 Miles von Aden, ist nach
Dschiddah der wichtigste Seeplatz an jenem Meere und hat einen
recht guten Hafen. Die jährliche Handelsbewegung beträgt etwa
6 Millionen Thaler. Aus dem Innern, also aus Abyssinien,
namentlich aus Gondar, Tigre, den Gallaländern und aus noch
entfernteren Gegenden her kommen Karawanen mit allerlei Lan-
deserzeugnissen; auch unterhält der Platz Schifffahrtsverkehr mit
Suez, Kosseir, Dschiddah, Aden, Bombay und der Ostküste von
Afrika. Wir erwähnen Massawahs hier, weil wir eben in einem
geographischen Werke lasen, daß Stadt und Insel dem türkischen
Sultan gehöre; das war allerdings bis 1865 der Fall. Der
Padischah sandte von Stambul eine Besatzung nebst einem Gou-
verneur; in dem eben genannten Jahre hat er jedoch an die
ägyptische Regierung die ganze Küste zwischen Suez
und Massawah abgetreten.
Die Colonie Südaustralien hatte am 26. März 1866,
laut der amtlichen Volkszählung. 165,531 Seelen, davon 85,822
männliche und 78,343 weibliche; dazu kamen noch 1366 Fremde.
Die Zunahme betrug gegen 1861 nicht weniger als 37,335 Köpfe.
Die Kuli-Einwanderung in Westindien dauert fort,
weil die Pflanzer der fleißigen Asiaten nicht entbehren können
und die freien Neger träge sind oder sich zur Arbeit nicht herbei-
lassen. Der „Friend of Jndia" weist nach, daß im Jahre 1865
auf den britischen Antillen 5975 indische und 2758 chinesische
Kulis eingesührt worden sind; davon kommen etwa 500 aufBri-
tisch Honduras, 3000 auf Trinidad und die übrigen zumeist auf
Britisch Guyana. Regelmäßig und in ein förmliches System ge-
bracht ist die indische Kuli-Einwanderung nach Mauritius,
der schönen Zuckerinsel im Indischen Ocean, wohin in jenem
Jahre nicht weniger als 20,270 Kulis geschafft wurden, während
3621, welche ihre Vertragszeit ausgehalten hatten, mit erübrig-
ten Geldern in ihre malabarische Heimath zurückkehrten.
Die Russen an ikrer südasiatischen Grenze entfalten
bekanntlich eine preiswürdige Thätigkeit. Wir haben schon früher
gemeldet, daß Mitglieder des topographischen Corps die Kirgisen-
steppe und überhaupt die Region der sibirisch-chinesischen Grenze
aufgenommen haben. Sie verzeichneten die Karawanenstraßen,
untersuchten den nördlichen Theil des Tarbagataigebirges :c. Sie
haben eine Karte entworfen, und sobald dieselbe veröffentlicht
worden ist,-können wir die Ausnahme übersehen, welche nicht
weniger als 300,000 Quadratwerft umfaßt. Die Grenze ist vom
großen Weltmeer im Osten bis zum Kaspischen Meer, von Korea
und dem Ussuri bis zum Usturt, bis nach Chorassan und Türki-
stan genau verzeichnet.
Das Grenzland zwischen Birma und China, also die
Nordostgegend des erstgenannten Landes, soll im Auftrage der
englifch-ostindifchen Regierung genau erforscht werden. Sie hat
zwei Offiziere ernannt, welche zunächst eine praktikable Straße
ausfindig machen sollen. Sodann hat sie einen Offizier nach Leh,
der Hauptstadt von Ladakh, gesandt; er soll dort als Resident
wohnen und sich dort alle Mühe geben, Handelsverbindungen mit
Khotan und wo möglich auch mit Yarkend anzuknüpfen.
Die Canadian Dominion. Mit dieser Benennung wird
der Bundesstaat bezeichnet, welcher die bisherigen Provinzen West-
und Ostcanada, Neuschottland und Ncubraunschweig
umfassen soll. Die Einkünfte betrugen im letzten Finanzjahre
15,309,840 Dollars, wovon 12,432,748 auf Canada, 1,665,071
auf Neuschottland und 1,212,021 aus Neubraunfchweig entfallen;
Ausgaben 14,391,367, wovon sür die Miliz 1,947,476. Schul-
den 77,550,000, wovon auf Canada 621/2, Neuschottland 8, Neu-
braunfchweig 7Mill.Dollars kommen. Die Schifffahrtsbewe-
gung betrug 1866 nicht weniger als 5,316,316 Tonnen. Ree-
dereien: Canada 230,429, Neuschottland 403,409, Neubraun-
schweig 309,695 Tonnen.__
Wachsthum der Stadt Neuyork. In materieller Ent-
Wickelung schreiten die Vereinigten Staaten von Nordmerika fort,
wahrend fle in politischer Hinsicht sich immer mehr von den gu-
ten Traditionen Washingtons und Jeffersons entfernen. Neuyork
ist binnen wenigen Jahrzehnten die bedeutendste Stadt der West-
liehen Erdhälfte geworden und ihr Wachsthum hat etwas Fabel-
Haftes. In der historischen Gesellschaft zu Neuyork gab darüber
Herr Oswood einige Notizen. Im Jahre 1801 konnte man
ein sehr behagliches Haus für 200 Dollars miethen und mit 750
Dollars kam eine anständige Familie recht gut aus. Jetzt bedarf
sie, um in ähnlicher Weife zu leben, 8000 bis 10,000 Dollars.
In Bezug aus literarische Regsamkeit und Buchhandel waren
Philadelphia, Boston und Charleston in Südcarolina voraus, doch
nahmen die Dinge bald eine andere Wendung, hauptsächlich durch
die Einwirkung des Dampfes und die Vollendung des Eriecanals,
welche in das Jahr 1825 fällt. Im Jahre 1801 betrugen die
städtischen Steuern 17,000, jetzt 17,000,000 Dollars. Die Stadt
hatte zu Ende 1866 nicht weniger als 50,000 Wohngebäude; sie
lieferte 1865 an Manufacturproducten für 159,000,000 Dollars
und mehr als 100,000,000 Dollars wurden in den Zollhäusern
brahlt. Wenn die Bevölkerung in der bisherigen Weise anwach-
sen könnte, würde sie im Jahre 1900 nicht weniger als 4,000,000
Köpfe betragen. Herr Oswood gab in dem neuen, auf das Sol-
datenwefen gerichteten Gefchmacke der Uankees noch folgende No-
ti-en : „Wir haben in der Stadt 2y2 Regimenter Kesselschmiede,
4" Regimenter Fleischer, iy2 Regimenter Mäkler, 3 Regimenter
Schuhmacher, 4^ Regimenter Fuhrleute, 17^ Regimenter Hand-
222
Aus allen Erdtheilen.
lungsdiener, V2 Regiment Geistliche, 9y2 Regimenter weibliche Klei-
derverfertiger, I Regiment Ingenieure und (leider) auch I^Re-
gimenter Advocaten. Die Zahl der selbständigen Kaufleute beträgt
reichlich 6 Regimenter, an Musikanten wäre ein vollständiges
Regiment aufzustellen. Dazu kommen 33 Regimenter Dienst-
boten, und die Schneider können 10 Regimenter bilden. Zahl
der Schulkinder 100,000; so hoch belauft sich auch die Zahl der
Armen.
Die Pensionsliste in den Vereinigten Staaten von
Nordamerika figurirt im Budget mit 33 Millionen Dollars;
das ist so viel, wie einst die ganze preußische Armee kostete. Der
Unterjochungskrieg gegen den Siid&t ist theuer gewesen. Die Zahl
der Pensionaire beträgt 126,722 Köpfe.
Die Neger in Philadelphia.
Die Negromanen in der Quäkerstadt geben sich alle Mühe, ihren
schwarzen Lieblingen womöglich eine gewisse Art von gesellschaft-
licher Gleichstellung auszuwirken, stoßen aber dabei auf ernst-
liche Hindernisse. Man macht im Norden viel Wesens mit human
klingenden Redensarten, aber, wie Schiller sagt, „hart im Räume
stoßen sich die Sachen." Als neulich in dem erzabolitionistischen
Uankeestaate Connecticut eine Jrländerin einen Schwarzen hei-
rathete, that die Gemeinde diesem kund zu wissen, daß er den Ort
zu verlassen habe. Man wollte solch eine „Abomination" nicht
mit ansehen. In anderen Städten ist viel Streit wegen der Frage,
ob man die Neger in den Omnibus und in den Wagen der Stra-
ßeneisenbahnen zulassen solle, oder ihnen wie bisher abgesonderte
Coupes einzuräumen habe? Der Gründe, weshalb man die „ame-
rikanischen Bürger afrikanischer Abkunft" gern von sich fernhält,
find mehrere; einen davon bildet jener eigentümliche „afrikanische
Parfüm", den man in Brasilien als Catinga bezeichnet, diese
Hautausdünstung, welche wie ein Gemisch von verfaultem Fleisch
und Knoblauch riecht. Sie ist nicht bei allen Negern gleich stark,
aber sie ist vorhanden und dem weißen Menschen nicht angenehm.
Diese Eigentümlichkeit wird namentlich im Sommer und im
Winter in warmen Zimmern eine Annäherung beider Racen sehr
erschweren. Nun hatten im Jahre 1865 in Philadelphia etwa
20 Gleichheitsphilanthropen sich zusammengefunden, um auszu-
wirken, daß die Neger in denselben Wagen mit den Weißen Zu-
laß fänden. Sie machten den Direktoren der 19 verschiedenen
Omnibusse und Straßeneisenbahn-Eompagnien die Auswartung
und brachten ihr Begehren vor. Diese erklärten, die Frage einer
Abstimmung der Fahrgäste anheimzugeben, wie das amerikanischer
Brauch ist; es stellte sich heraus, daß eine ungeheure Mehrheit
die Dinge beim Alten lassen wollte. Als bald nachher ein Neger
sich in einen Wagen der Weißen eingedrängt hatte, kam ein Po-
lizeimann und holte ihn heraus. Darüber beschwerten sich die
Gleichheitsphilanthropen beim Bürgermeister und verlangten von
diesem Abhülfe; sie fragten ob die Polizei auf seine Anordnung
so verfahre. Der Bürgermeister, obwohl der radicalrepublikani-
schen Partei angehörend, entgegnete trocken: „Nicht auf meine
Anordnung, Gentlemen, aber mit meinem Wissen und meiner
Einwilligung. Ich bin ganz und gar nicht Ihrer Ansicht, Gentlemen.
Ich wünsche nicht, daß die Ladies meiner Familie in einem und dem-
selben Wagen mit Negern fahren, Gentlemen." Diese Gentlemen
brachten dann ihr Anliegen an die Staatslegislatur, welche das-
selbe dem Eisenbahnausschusse übergab. Dieser wies die Bittstel-
ler ab. Sie wandten sich dann an die Gerichte, bei denen sie
sieben Fälle anhängig machten, in welchen Schwarze aus Omni-
bus ic. hinausgeworfen worden waren. Die Gerichte alle erklär-
ten, daß sie die Sache „ignoriren" müßten. So standen die Sa-
chen ani Ende des Jahres 1866. Die Gleichheitsphilanthropen
haben eine Flugschrift herausgegeben, in welcher sie den ganzen
Hergang erzählen. Sie erklären, es sei ihr ernstes Bestreben, auch
schwarzen Kindern in den Schulen der Weißen Einlaß auszuwirken,
doch sei dazu nur geringe Hoffnung. Auch beklagen sie Folgen-
des. Am 4. Juli, dem Tage der Nnabhängigkeitserklärung, pa-
radirten wie gewöhnlich die Soldaten und Milizen. Die Frage, ob
auch die Neger mit paraditen dürsten, wurde vom Militaircom-
mando mit 13 gegen 3 Stimmen verneint; auch erklärten die
Offiziere des 71. Regimentes, wenn Negertruppen mit auszögen,
würde ihr Regiment nicht ausrücken und sie würden ihre Fahne
nach der Hauptstadt Harrisburg schicken. Im Jnvalidenhause zu
Philadelphia sind 160 weiße Soldaten; sie wollen um keinen
Preis mit den sieben Negerinvaliden zusammenwohnen; diese be-
finden sich in einem ganz abgesonderten Flügel. Die Gleichheits-
Philanthropen sagen: „Ist es nicht hart, alterprobte Abolitioni-
sten zu finden, welche sich einsi alle Mühe gaben, farbige Regi-
menter auf die Beine zu bringen, jetzt aber uns jede Mitwirkung
verweigern, den Unterschied zwischen den beiden Racen zu beseitigen.
Ja, für die Abschaffung der Sklaverei, die freilich fern von ihnen
im Süden stattfinden sollte, waren sie thätig, aber hier in Phi-
ladelphia handelt es sich allerdings um persönlicheBerührung."
In Neuyork läßt man Neger in den Omnibus :e. zu, sie lassen es
sich aber, aus guten Gründen, nur selten einfallen, diese Erlaub-
niß zu benutzen. Aber Philadelphia hat mehr Neger als irgend
eine Stadt im Norden und „fürchtet jede Amalgamation mit ihnen".
In Boston kommt auf 77% Weiße nur 1 Farbiger, in Neuyork
1 auf 631/2, aber in Philadelphia 1 auf 24^/z Weiße, „Die An-
ziehungskraft des weißen Menschen zum Neger verhält sich direct
wie das Quadrat der Entfernungen." Und nun will der wider-
sinnige Radikalismus des Nordens dem Süden, wo der dritte
Mensch ein Farbiger ist, nicht bloß die politische, sondern auch die
bürgerliche und gesellige Gleichstellung der Neger aufzwingen!
Abzug von Edelmetallen aus Europa. Wir haben
den wichtigen Gegenstand schon mehrmals in diesen Blättern er-
örtert; jetzt liegen uns Angaben über das Jahr 1866 vor. Der
Orient verschlingt nach wie vor gewaltige Summen und giebt
wenig zurück- Die Peninsular and Oriental Company versandte
auf ihren Dampfern für 477,275 Pf. St. Gold und 2,374,314
Pf. St. Silber allein von England aus. Außerdem hat sie
aus den Häfen des Mittelländischen Meeres nach dem
Orient gebracht für 536,497 Pf. St. Gold und 3,071,135 Sil-
ber. Von dem Golde gingen 427,918 Pf. St. nach Alerandria,
von dem Silber 2,363,105 nach Bombay und 453,542 nach Cal-
cutta. Dazu kommen noch die Summen, welche von Marseille
auf den Dampfern der Messageries imperiales verschifft worden
sind; sie betrugen 1866 die Summe von 1,499,961 in Gold und
1,604,866 in Silber. Von dem Golde gingen 1,337,015 nach
Alerandria, von dem Silber 741,350 Pf. St. nach Calcutta,
277,835 nach Hongkong und 159,822 nach Saigong in Cochin-
china. — ES ergiebt sich aus einer Zusammenstellung, daß in
den Jahren 1857 bis und mit 1866 aus England nach dem
Oriente verschifft worden sind: Gold 16,074,938 Pf. St.; Sil-
ber 112,522,808 Pf. St. Aus den Häfen des Mittelländi-
schen Meeres in den Jahren 1853 bis 1866: Gold 19,722,678
Pf. St., Silber 49,248,287 Pf. St., also in runder Summe
für etwa 1,400,000,000 Thaler, zumeist für Thee, Seide und
Baumwolle.
Die Perlmuttersischerei im Golf von Panama. Sie
ist bisher in sehr roher Weise von schwarzen Tauchern betrieben
worden. Seitdem der Preis der Perlmutter beträchtlich in die
Höhe gegangen ist, hat sich in Neuyork eine Eompagnie mit einem
Capital von 1 Million Dollars gebildet, um diese Fischerei in
großartiger Weise zu betreiben. Sie hat ein großes Schrauben-
dampfboot gebaut, das als Taucherschiff dient und zunächst bei
der Isla de los Reyes im Perlengolfe seine Arbeiten beginnen
soll. Der Erbauer desselben ist ein Deutscher, Herr Julius
Kröhl; die nautische Leitung besorgt ein Franzose, Herr Pre-
vost. Kröhl rechnet sür jeden der 250 Arbeitstage im Jahre 12
Tonnen (zu 20 Centner) Muscheln, welche 1800 Tonnen Perl-
mutter im Jahre ergeben würden. Da die Tonne in Neuyork etwa
650 Franken kostet, so würde sich ein Ertrag von mehr als einer
Million herausstellen. Dabei sind die Perlen noch nicht gerech-
net. Den Erfolg muß man allerdings abwarten.
Wohlthätigkeitsanstalten in London. Ein Herr Low
hat darüber ein Buch veröffentlicht, aus dem sich ergiebt, daß in
London nicht weniger als 640 solcher Anstalten mit Corporations-
rechten vorhanden sind; dazu kommen dann mindestens noch eben
oder gar noch einmal so viele, denen solche Rechte nicht zustehen.
Low bemerkt, daß allein die ersteren eine Jahreseinnahme von
2^/2 Mill. Pfund Sterling haben, also reichlich 17,000,000 Thaler!
' U'l !
Aus allen
Davon wurden 1866 volle zwei Drittel durch freiwillige Bei-
träge zusammengebracht. In jenen 2^ Mill. Pf. St. sind aber
die Armensteuern, die Almosenbeiträge der einzelnen Kirchsprengel,
manche Legate und das, was der Straßenbettel in Anspruch nimmt,
nicht mit gerechnet. Man nimmt an, daß an die Armen in
London mindestens 5 Mill. Pf. St. im Jahre, also nicht
weniger als 34,009,000 Thaler ausgegeben werden, also mehr
als bis vor 10 Jahren die ganze preußische Armee kostete. Aber
trotzdem hat binnen einem Vierteljahrhundert keine Verbesse-
rung in der Lage der Armen und Hülssbedürstigen stattgefunden.
Hat sich der Pauperismus vermindert? Ist der Straßenbettelei
gesteuert worden? Sind die Zufluchtshäuser für die Armen in
besserem Zustande? Sind die Armen fleißiger und fürsorglicher
geworden? Herrscht weniger Schmutz und mehr Reinlichkeit
unter ihnen? Ist etwas geschehen, um die verschiedenen Classen
einander mehr anzunähern und wohlwollendere Gesinnungen un-
ter ihnen zu erwecken? Diese und manche andere Fragen wer-
den mit Nein beantwortet.
Der Nothstand und das Elend in manchen Schichten der
Hauptstadt sind ungeheuer. So hat in der allerjüngsten Zeit
ein Geistlicher der Mathiaspfarrkirche im Stadtviertel Bethnal-
green einen Bericht über seinen Sprengel herausgegeben, in wel-
chem über die Seiden Weber von Spitalsields Folgendes
bemerkt wird:
Auf einem Räume von 400 Schritt Länge und etwa 200
Schritt Breite sind zwischen 6000 bis 7000 menschliche Wesen in
Armuth, Roth und Schmutz dicht zusammengehäuft. Hinter zer-
brochenen lumpenverstopften Glasscheiben, zwischen schwarzen,
schmutzigen, baufälligen Wänden sitzen dort an schweren Web-
stuhlen hagere ausgehungerte Männer, und sieche kränkliche Kin-
der hängen im jugendlichsten Alter über mühselige Arbeit gebückt.
Es ist hier das Hauptquartier der Seidenmanufaetur von Spital-
fields. Diese Seidenweber sind Abkömmlinge jener Hugenotten,
die zur Zeit, als Verbannte aus ihrem Vaterland, von der Kö-
nigin Elisabeth die Felder um das Hospital von St. Mary, da-
mals außerhalb der Mauern Londons, zur Niederlassung angewiesen
erhielten. Der Ort, jetzt mitten in einem zahlreich bevölkerten
Quartier gelegen, trägt heute noch den Namen Spitalsields, und
heute noch führen die Enkel jener Ansiedler die bekannten Namen
Vendome, Bavine, Lafontaine, Dupin, Blois, Le Beau, Fontai-
neau und Montier, und sind, obwohl in Lumpen gehüllt, noch
stolz aus die Traditionen ihrer Väter. Von dem Wohlstande jener
Zeit und dem kleinen Lurus besserer Verhältnisse ist den jetzigen
Bewohnern dieses Orts nichts als eine traditionelle Liebe für
Vögel und Blumen geblieben, die man fast allenthalben, selbst
da wo der Jammer in traurigster Gestalt erscheint, mit Sorgfalt
gehegt und gepflegt findet. Obgleich in nächster Nähe dieses
Quartiers Raub und Mord und alle Laster ihre Zufluchtsstätte
haben, ist doch die Seidenwebereolonie fast ganz frei davon ge-
blieben, und die Hülse des Geistlichen muß sich hauptsächlich gegen
die grenzenlose Armuth wenden, die dort herrscht. Ein geschick-
ter Arbeiter, der kostbaren Sammet und reiche Seidenstoffe webt,
kann, bei 12- bis löstündiger angestrengter Tagesarbeit, nur
12 Sch. per Woche verdienen, und es giebt manche, die es nur
auf 7 bis 8 Sch. bringen. Die Frauen, die nicht im Stande
sind, den schweren Balken des Webstuhles zu behandeln, sind mit
der Anfertigung von Besatz in Sammet, Seide oder Baumwolle
beschäftigt; sie verdienen dabei etwa y3 des Erwerbs der Män-
ner, und selbst bei diesen elenden Lohnsätzen ist die Arbeit nur
spärlich, und oft sind für lange Zeit die Armen außer Beschästi-
gung. Die übergroße Roth hält die Eltern meist ab ihre Kin-
der zur Schule zu schicken, und die armen kleinen Geschöpfe sitzen
zu Haufe, mit sogenannter Kinderarbeit beschäftigt. Der Haupt-
industriezweig auf diesem Gebiet ist die Fabrikation von Zünd-
holzschachteln, die das Gros mit 2% P- bezahlt werden.
32 Schachteln müssen auf diese Weise für ya P. angefertigt wer-
den, und aus diesem armseligen Gelde müssen die kleinen Arbeiter
noch ihren Kleister selbst bestreiten. Der Berichterstatter sand
ein kleines Mädchen von 4 Jahren, das nach der Aussage ihrer
Mutter ihr Brot schon auf diese Weise seit einem Jahre selbst
verdient hatte. Die arme Kleine, welche nie die dumpse enge
Gasse, wo sie geboren war, verlassen, nie weder Feld noch grüne
Bäume gesehen hatte, trug den baldigen Tod schon auf dem ern-
Erdtheilen. 223
sten blassen Gesichtchen. Solcher Fälle giebt es Hunderte, und
die Sterblichkeit der Kinder in Folge der schrecklichen Ueberfüllung
von Menschen und der unzulänglichen Nahrung und Kleidung ist
fürchterlich. Es ist an der Tagesordnung, von einer Mutter zu
hören, daß sie 6 bis 8 Kinder begraben und nur 1 oder 2 aus-
gebracht hat. Fast keine Familie in der Pfarre bewohnt mehr
als ein Zimmer, für das sie aus dem spärlichen Erwerbe der
Woche 3 bis 4 Sch. bezahlen müssen; unter 20 Familien be-
sitzt vielleicht eine eine Decke, und unter 12 nur eine
ein Betttuch. Zur Zeit der Cholera, als viele der Reeonva-
leseenten in die Hospitäler geschafft wurden, hatte keine der
betreffenden Personen ein zweites Hemd und viele kein
einziges, und doch tragen diese Armen die schreckliche Bürde ihrer
Armuth ohne Klage und verlassen sich auf ihre eigene Arbeit.
Diesen ehrlichen Seidenwebern kommt, wie es scheint, von jenen
35 Millionen Thalern nichts zu Gute. Die Philanthropie John
Bulls ist überhaupt wunderlich genug; die sauleuzenden Neger
haben alle Sympathien der patentirten Christen und Handwerks-
pseudoPhilanthropen der Ereter Hall, und für die Schwarzen ist
immer Geld vollauf da. Zur Bekehrung von „Heiden, Katholiken
und Mohammedanern" werden jährlich 10 bis 12 Millionen Tha-
ler zusammengebracht und zu %0 nutz- und zwecklos vergeudet.
Aber die weißen hugenottischen Seidenweber braucht man nicht
erst zu bekehren, sie sind schon „Protestanten", eine schwarze oder
gelbe Haut haben sie auch nicht, — es ist also ganz in solcher
philanthropischer Ordnung, daß sie elend verkümmern.
Homer in Louisiana ist eine kleine Stadt; in ihr erscheint
eine Zeitung, welche den Titel führt: „The Homer Iliad."
Ein birmanischer Eid. Adolf Bastian, dessen umfang-
reiches Werk über „die Völker des östlichen Asiens" (Leip-
zig, O. Wigand, 1866) eine Fülle neuen Lichtes über die Ratio-
nen Hinterindiens verbreitet, erhielt zu Sittang von einem bir-
manischen Beamten folgende Eidformel, welche für Land und Volk
charakteristisch erscheint. -
„Ich werde die Wahrheit reden; sollte ich nicht die Wahrheit
reden, so mögen die Sünden, als da sind: die Leidenschaften, der
Zorn, die Thorheit, der Stolz, die Verkehrtheit, die Unzüchtigkeit,
die Hartherzigkeit und der Zweifel, vermöge der unverbrüchlichen
Folgen in einander geknüpfter Gesetze, es durch ihren Einfluß
bewirken, daß ich und mein Geschlecht auf der Erde zu Grunde
gehe durch die Thiere des Landes, durch Tiger, Elephanten, Büffel,
Giftschlangen, Skorpione, die alle aus uns einstürmen werden,
uns packen und zerreißen, so daß wir eines schmählichen Todes
sterben. Mögen alle die Unglücksfälle, welche durch Feuer, Wasser,
Tyrannen, Diebe und Feinde verursacht werden, uns treffen, uns
erdrücken uud vernichten, so daß wir gänzlich zu Grunde gehen.
Mögen wir allen solchen Leiden unterworfen sein, wie sie im In-
nern und Außen den Körper quälen; mögen wir mit Wahnsinn,
mit Stummheit, Blindheit, Taubheit, Aussatz und Wasserscheu
geschlagen werden. Mögen Donnerkeile und Blitzstrahlen uns
niederschmettern, so daß ein jäher Tod uns ereilt. Inmitten mei-
ner Lügenreden möge ich ergriffen werden und schwarz geronnenes
Blut ausbrechend tobt niederstürzen vor den Augen des versam-
melten Volkes. Wenn ich auf dem Strome fahre, sollen die bö-
sen Wassergeister mich verfolgen und meinen Kahn umstürzen,
so daß mein Eigenthum verloren geht und ich selber eine Beute
werde der Alligatoren, Delphine, Haie und anderer Ungethüme
der tiefen See, die mich mit ihren Zähnen zermalmen mögen.
Bei der Veränderung meiner Eristenz möge ich nicht unter Men-
schen noch unter Göttern wiedergeboren werden, sondern uugemil-
dert werde ich Strafe und Grauen in dem tiefsten Elend erleiden
an den vier Orten der Pein: unter den Höllen, der Preta, den
Bestien und der Asurakay. — Wenn ich aber die Wahrheit rede,
dann werde ich- nebst meinem Geschlecht durch die zehn Gesetze des
Verdienstes und durch der Wahrheit wirksame Kraft von allen
Leiden und Krankheiten befreit bleiben, von den äußeren und in-
neren des Körpers, und mögen bevorstehende Uebel immer von
uns abgewehrt bleiben. Mögen die zehn Unglücksfälle und die
fünf Feinde ebenfalls fern gehalten werden. Mögen mir Donner-
keile und Blitzstrahlen gnädig sein, die Geister des Wassers und
alle Seethiere, so daß ich stets von ihnen beschützt bin. Möge
224 Aus alle
mein Wohlstand wachsen, gleich der aufgehenden Sonne und dem
zunehmenden Monde. Mögen die sieben Besitztümer, die sieben
Gesetze, die sieben Verdienste des Tugendhaften in meiner Person
fortdauernd verbleiben, und bei Veränderung der Eristenz möge
ich gerettet werden von den vier Zuständen der Bestrafung, aber
eingehen in die glückseligen Welten der Menschen und Götter,
das Verdienst verwirklichend und die letzte Belohnung empfangend."
Der Schädelknochen von Maman in Süd-Nubien.
Wir erhalten darüber aus Berlin folgende Mittheilung: „Un-
streitig einen der merkwürdigsten zoologischen Funde, die je in
Afrika gemacht wurden, bildet der von Dr. Schweinfurth in
den Gräbern von Maman (in Süd-Nubien, 13 deutsche Meilen
nördlich von Kassala) aufgefundene Nagerschädel, über welchen
Professor Reichert vor Kurzem ausführlich in der Gesellschaft
naturforschender Freunde zu Berlin berichtete. Der Schädel fand
sich in einem jener uralten heidnisch-äthiopischen Grabmausoleen,
welche bis 2000 an Zahl den Fuß des isolirt aus der abwechselnd
von Steppenland und dürren Geschieben bedeckten Ebene hervor-
ragenden Dschebel Maman umgeben. Hier in den kleinen Gewöl-
ben von cyklopischer Bauart lag der mit Haut und Fleisch wohl-
erhaltene vertrocknete Schädel auf den großen Steinen, unter de-
nen die Körper der Bestatteten ruhen. Mag er nun einem Thiere
angehört haben, das als Beute von einem nächtlichen Räuber in
diesen abgelegenen Schlupfwinkel gerieth, oder von einem Geschöpfe
herstammen, das hier seine Behausung hatte, jedenfalls wäre er der
lebenden Fauna Süd-Nubiens und im Speciellen der heutigen
Provinz Taka beizuzählen. Dieser Schädel, welcher, oberflächlich
betrachtet, einem Thiere angehörte, das dem Hamster am näch-
sten steht, bietet indeß Eigentümlichkeiten dar, welche es zweck-
mäßig erscheinen lassen, das Urtheil über seine systematische Stel-
lung bis zur Kenntnißnabme aller seiner Theile auszusetzen.
Eigenthümlichkeiten, welche nach Professor Reichert's Ausspruch
nicht allein bei keinem bekannten Nager, sondern überhaupt bei
keinem Säugethiere vorkommen und in ähnlicher Form nur
bei Eidechsen und Schildkröten angetroffen werden. Er ist näm-
lich durch ein Schläsengrubendach, durch eine vom Randknochen
des Scheitelbeines einerseits bis zur Erista reichenden und anderer-
seits bis über die Jochbögen ausgedehnten Ueberbrückung der
oberen Schädelfläche ausgezeichnet, was für die vergleichende Ana-
tomie insofern vom größten Interesse erscheint, als jetzt ein und
dieselbe homologe Bildung unter zwei sehr abweichenden Umftän-
den zur Vergleichung vorliegt, wodurch eine genaue morphologische
Abschätzung der bei einem solchen Brückenbau betheiligten Schä-
delknochen ermöglicht wird. Außerdem trägt der größte Theil der
äußern Schädelflüche dichtgestellte Höckerchen unter der Haut,
welche sich von ähnlicher Bildung, doch in geringerer Anzahl, an
der der Wasserkröte wiederfinden. Höchst seltsam ist auch der
Atlas gestaltet; kurzum der Schädel von Maman scheint einem
Thiere angehört zu haben, welches, dem neuholländi-
schen Schnabelthiere gleich, uns eine ganze Reihe von mor-
phologisch-anatomischen Problemen darzubieten vermag. Daß aus
Afrika uns immer etwas Neues zukomme, beweist aufs Schlagendste
wieder dieser Fund."
Aus dem russischen Reiche.
In Rußland werden die inneren Reichthümer mehr und mehr
erschlossen; insbesondere häufen sich die Nachrichten über neue
Entdeckungen von Mineralien. So meldete im Januar das „Ssa-
rÄower Jntelligenzblatt", daß 45 Werst von Taganro g entfernt
Lager einer ganz vortrefflichen Anthracitkohle gefunden wor-
den seien. — Die „Permsche Gouvernementszeitung" schreibt:
Die Eisenlager bei den permischen Hüttenwerken sind
so bedeutend, daß sie noch Jahrhunderte hindurch ausgebeutet
werden können, und zwar stärker, als dies bis jetzt geschah. Man
braucht, um dies zu beweisen, nur den Berg Blagodat beider
Kuschwinskischen und die Woökreffenski-Mine bei Nischni-Tagilsk
zu nennen, welche beideLager des vorzüglichsten Magneteisensteins
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für d
Druck und Verlag von Friedrich V
Erdtheilm.
von 60 bis 70 Procent Metallgehalt in sich schließen. Seit an-
derthalb Jahrhunderten werden aus diesen Minen jährlich einige
Millionen Pud Erz gewonnen, und doch bleibt noch doppelt so
viel, als gewonnen worden, zurück.
Ueber den Ungeheuern NaphthareichthumderHalb-
insel Taman bringt die „Börsen-Zeitung" einen interessanten
Artikel, in welchem der Boden der erwähnten Gegend mit einem
Schwämme verglichen wird, der ganz mit Naphtha getränkt ist.
Auf dem dem Oberst Nowossilzow in zeitweiligen Besitz gegebe-
nen Terrain amFluße'Kudako ergiebt das jetzt bis auf 220Fuß
Tiefe gebrachte Bohrloch täglich 12,000 Eimer Naphtha. Der
Preis beträgt an Ort und Stelle 2 R. für den Eimer gereinig-
ter Naphtha; bei der beständigen Nachfrage giebt diese Quelle
dem Obersten Nowossilzow also täglich eine Einnahme von
24,000 R., was jährlich 8,760,000 Rubel ausmacht. Werden
auch 760,000 R. für die Herstellungskosten und den etwaigen
Stillstand im Absatz abgezogen, so bleibt immer noch ein Rein-
gewinn von 8 Mill. Rubel jährlich. Man hält die Gegenden
unmittelbar am Schwarzen Meere, am Fuße des Berges
Pekla und in der Nähe der Station Ssennaja für noch reich-
haltiger an Naphtha als die vom Obersten Nowossilzow ausge-
beutete.
Die Naphthainduftrie im Kaukasus, welche im Laufe
mehrerer Jahrhunderte die Bewohner jener Gegend kaum das
tägliche Brot gewinnen ließ, nimmt jetzt Verhältnisse an, welche
für alle bis dahin verlorene Arbeit und Mühe entschädigen wer-
den. Im Thale des Flusses Kudako ist jetzt eine so bedeutende
Quantität Naphtha vorhanden, daß die EntWickelung der neuen
Industrie im größten Maßstabe vollkommen sichergestellt ist. Um
diese ungeheuren Vorräthe in Hunderttausende und Millionen
baaren Geldes umzusetzen, ist die Naphtha nur zu reinigen und
daraus die Erleuchtungsflüssigkeit und das Gas herzustellen, wel-
ches auf allen Märkten der Welt Absatz findet.
Steinkohlenlager in Ostsibirien. Nach Mittheilun-
gen des Kommandeurs der Corvette „Warjag", Capitain-Lieute-
nants Lund, sind unter dem 60. Grad nördl. Breite auf dem
kamtschatkascheu Ufer der Penshinskischen Bucht, in der
Nähe des Flusses Padkatschernaja, gute Steinkohlen entdeckt
worden. (Mitth. d. geogr. Ges.)
Ueber die Thätigkeit der russischen Missionaire
bringt die „Jrkutsker Eparchie-Zeitung" folgende Nachrichten. Die
transbaikalifchen Missionaire haben im Jahre 1865 225 Burä-
ten, Tungusen und Otschoren, und die Jrkutsker 186 Bu-
raten getaust. Außerdem sind in der Eparchie viele Eingeborene
von den Kirchspielsgeistlichen getauft worden, so von dem Vater
Filipp Sfawin allein 456 Buräten. Nach einer Mittheilung
der „Orthodoren Rundschau" sind am 17. Mai 1866 in der Ula-
linskischen Schwestergemeinschast der altaifchen Mission 6 Ginge-
borene getauft worden, die zur Annahme des Christenthums so
gut vorbereitet waren, daß sie ihre Lossagung vom Heidenthume
in slawischer Sprache sprechen und die Glaubensartikel lesen konn-
ten. Ueberhaupt üben die Ulalinskischen Schwestern einen sehr
wohlthätigen Einfluß auf die dortigen Heiden, mit welchen sie
freundlich und sanft umgehen und die sie daher beständig be-
suchen.
Vom Amur. (Ansiedler.) Dem „Kronstädter Boten"
wird aus Blagowjeschtschensk am Amur geschrieben: Am
18. Juni brachte der Dampfer „General Korssakow" neuangekom-
mene Ansiedler aus Chabarowka am Uffuri herüber. Diese
Leute hatten drei Jahre auf ihrer Wanderung aus
den Wolga-Gouvernements hierher zugebracht und ge-
hen von hier nach dem Flusse Chankai, wo ihnen beständige
Wohnplätze angewiesen sind.
Im Juli war die Witterung ziemlich heiß und das Wasser
im Amur hoch. Die Getreide- und Gemüseernte ist sehr gut
ausgefallen; man hat sogar Getreide nach Transbaikalien ausge-
führt.
Rcdactioil verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig,
iewcg und Sohn in Braunschweig.
Aus MemeauF' Keifen im östlichen Sudan.
i.
Vom Mittelländischen Meer aufwärts bis zu den großen
Seen im äquatorialen Ostafrika hat der „heilige Nilstrom"
nur noch einige wenige Mysterien. Er ist in unseren Ta-
gen zu einer großen Fahrbahn sür Vergnügungsreisende,
Naturforscher, Entdecker, Elfenbeinhändler, Jagdliebhaber,
Sklavenhändler und Missionaire geworden. Er wird von
Dampfern befahren, und man macht „Ausflüge" in die gelbe
Wüste, in welcher Telegraphenstangen sich erheben. AegyP-
ten, Nubien und der östliche Sudan sind fast schon modern
geworden und in jedem Jahre erscheinen neue Werke über jene
Regionen.
Diese aber behalten nach wie vor ihren unverwüstlichen
Zauber und üben eine unwiderstehliche Anziehungskraft.
Eine Fahrt auf dem Nil im Dampfer oder in einem Segel-
schiffe, ein Zug durch jene gelbe Wüste, ein Ausenthalt in den
tropischen Wäldern am Vahr el Azrek, dem blauen Strom,
rufen unvergeßliche Eindrücke hervor. Es ist Abend; der
Dampfer legt an; die volle Mondscheibe verwandelt den
In der Wüste bei Korosko.
breiten „König der Ströme" in einen glänzenden Spiegel
und ein linder Lustzug spielt in den Wipfeln der schlanken
Palmen. Auf dem Deck des Bootes lagern Europäer ver-
schiedener Nationen; aus der andern Seite des Markeb el
nar, des „Feuerschiffes", kauern Afrikaner; einige beten,
andere essen oder rauchen Taback.
Ende Januars war der Dampfer bei Korosko in Nu-
bieu. Bon dort ab zieht der Nil in einer großen Biegung erst
gen Südeu, dann nach Osten bis Abu H amed. Die lä-
Globus XI. Nr. 8.
stige Stromfahrt macht einer anstrengenden Reise durch die
Wüste der Bischariu Platz; dadurch kürzt man Weg uud
Zeit beträchtlich ab. Die Karawane, welcher Tremeaux sich
anschloß, bestand aus siebeuzig Kameelen, drei Eseln und
vierzig Führern. Nicht weniger als achtzig große Wasser-
schläuche und eine Menge von Waarenballen wurden aus die
Lastthiere geladen, und nachdem die Kameeltreiber ihre Wa-
schuugen und Gebete vorgenommen hatten, riefen sie noch
Abu Hamed, den Schutzpatron der Wüste, an. Sie hofften
29
Aus Tremeaur' Reist
den Weg bis Berber in vierzehn Tagemärschen zurücklegen
zu können; versteht sich: Jnschallah, wenn es Gott gefiel.
Der Zug ging anfangs durch die Schluchten der Berge,
welche sich als Ketten am rechten Ufer des Nils hinziehen, bald
durch gewundene Engpässe, dann über Bergflächen, die ohne
Pflanzenwuchs und Thierleben sind; nicht einmal Jnsecten
sieht man dort. An allen schwer zu Passirenden Stellen
lagen Gerippe von Thieren, die vom Süden her gekommen
aber verendet waren, bevor sie Korosko hatten erreichen kön-
nen. Die Stellen, an denen Menschen verschmachtet nnd
begraben worden sind, erkennt man an aufgehäuften Kiesel-
steinen. Die Gegend ist in hohem Grade einförmig, ein
Engpaß, ein Berg gleicht dem andern.
Abends lagert die Karawane am Borsprung eines Ber-
ges, der gegen den Wüstenwind Schutz gewähren kann. Von
den Seiten dieser Anhöhe strömen, wenn der Ausdruck er-
laubt ist, lange Läufe gelben Sandes hinab, welche vom Süd-
Westwinde dort au- und aufgetrieben worden sind. Zwischen
denselben ziehen sich thalartige Vertiefungen hin, und unten
vereinigen fie sich in anmuthigeu Krümmungen und Schwiu-
guugen mit dem Sande der Wüste in der Ebene. Die uu-
tergehende Sonne goß ein magisches Licht über diese Land-
schaft. Beim Lagerfeuer, das mit Kameelmist unterhalten
wurde, bereitete man das frugale Abcndeffen, welches für die
im östlichen Sudan. 227
Karawanenleute aus weiter nichts als gerösteten Durrakör-
ueru bestand. Dann legte mau sich auf dem platten Sande
zum Schlafen nieder; das war zweckmäßiger als unter einem
Zelte zu ruhen, weil in einem solchen die Hitze in Folge
der Wärmeausströmungen des Bodens lästig zu werden pflegt.
Am andern Tage wieder eine Menge von Thierleichen,
die aber nicht etwa Gerippe bilden, sondern unter dem Ein-
slnsse der heißen Lust derart vertrocknet sind, daß man den
vollständigen Körper vor sich hat. Sie verbreiten keinen
Übeln Geruch; das Innere, von der ausgedörrten Haut in
Staub verwandelt, wird durch den Wind aus Maul uud
Hintertheil, die offen stehen, herausgeweht, und so ist nur
das vom Fell umschlosseue Knochengerüst vorhanden. Diese
Haut ist so sest und zäh zusammengeschrumpft, daß man die
dicksten Steine gegen sie werfen kann, ohne daß ein Loch
entstände. Menschen, die unterwegs sterben, werden sogleich
im Sande begraben.
In dieser traurigen Sandöde bekommt man ein wahres
Heimweh nach dem Nil. Doch bald drängen sich neue Ein-
drücke auf, denn fobald die Berge verschwinden, gewinnt die
Wüste sofort einen andern Anblick und Charakter. Da liegt
nun die unendliche Sandwüste mit ihrer traurigen Einsör-
migkeit. Die Dschellabs (eingeborenen Kaufleute) bezeichnen
sie als „Fluß ohne Wasser", seltsam genug, da jede An-
Klapperstcine in i
deutuug eines Ufers fehlt; der Ausdruck: Feuerfluß wäre
wohl richtiger. Denn je höher die Sonne steigt, um so
drückender wird die Hitze und die Atmosphäre lastet auf uns
wie schweres Blei. Das Kameel wandert mühsam aus dem
Sande, der unter dem Fuße nachzieht, es läßt den Kops
hängen und die Lippen sind weiß von schaumigem Speichel.
Manchmal tritt auf diesen Ebenen die Luftspiegelung
täuschend und auf mehreren Seiten zugleich hervor, und zan-
bert Wasser herauf, aber das Auge gewöhnt sich bald daran,
diese Gaukelei vou der Wirklichkeit zu unterscheiden. All-
mälig steigt der Boden zu einer sehr niedrigen Hochebene
an; dann und wann steht Sandstein zu Tage und man ge-
langt au den „durchbrochenen Hügel", „El Magdnda",
der eine Landmarke für die Karawanen bildet. Weiterhin
fällt die Ebene wieder ab und bildet nun das eigentliche
„Sandmeer".
Die ägyptische Regierung hat Versuche gemacht, aus der
Karawanenstrecke Brunnen graben und auch Cisteruen an-
legen zu lassen, in welchen das obwohl nur spärlich fallende
Regenwaffer aufgefangen werden könnte; sie waren aber ver-
geblich und die Karawanen müssen ihren Wasserbedarf mit
sich führen. In dieser Wüste begegnete den Reisenden ein Zug
vou Sklaven, welcher nach Kairo bestimmt war. Die Un-
glücklichen schleppten sich mühsam fort uud dann und wann
r nubischen Wüste.
fiel auf den Rückeu des einen oder andern ein Hieb mit dem
Knrbatfch, der aus der Haut des Hippopotamus geflochtenen
Peitsche. Die jungen Sklavinnen, als die werthvollste Waare,
die man schonen mußte, waren je zn vieren auf ein Kameel
gepackt, alle übrigen mußten den beschwerlichen Weg zu Fuße
machen.
Gegen Abend stieg die Wüste wieder etwas an und die
Karawane rastete bei einem kleinen Hügel. Um denselben
lagen runde Steiue, welche kolossalen Kugeln glichen; manche
derselben hingen zusammen, andere bildeten förmliche Grup-
Pen; es sind wahre Klappersteine von Sand mit concentri-
schen Lagen, so wie unsere Abbildung zeigt.
Für die Karawane ist der Zug durch die große nubische
Wüste sehr anstrengend; man findet anf der ganzen weiten
Strecke nur ein einziges Mal Wasser, das ohnehin schlecht
ist, uud keine einzige grüne Oase, wo die Kameele weiden
könnten. Bon elf bis gegen drei Uhr Pflegen die Karawanen
Rast zu machen, in Ausnahmefällen aber, z. B. wenn es
darauf ankommt, einen bestimmten Punkt vor Abend zu er-
reichen, hält der Zug nur eine kleine Weile an. Am 8. Fe-
brnar war aller Anschein vorhanden, daß ein Wüstenwind
nicht mehr lange auf sich warten lassen werde; man sandte
deshalb einen Dromedarreiter voraus, der iu Abu Hamed
die Nähe der Karawane melden und ihr Wasser entgegen«
29*
228 Aus Tremeaur' Reis
schicken sollte. Die Hitze war furchtbar drückend; kein Luft-
zng ging, die sandige Ebene funkelte von Lichtglanz und die
Augen schmerzten. In Südwest wurde der Himmel grau
wie Blei; dann verwandelte sich diese Farbe in ein Braun-
roth, der ganze Horizont nach jener Richtung hin gewann
ein drohendes, unheimliches Aussehen und bald kamen anch
einige glühheiße Stoßwinde.
Das Unwetter rückte immer näher heran. Die Kameel-
treiber erhoben die Hände und murmelten ein Gebet nach
dem andern; Menschen und Thiere waren auf dasAeußerste
abgespannt und erschlafft, aber trotzdem gingen die Kameele
rasch vorwärts; es war als ob sie wüßten, daß jeder Schritt
weiter sie der Grenze der Wüste näher bringen würde. Nach
etwa zwei Stunden war fast die Hälfte des Himmels ver-
im östlicheu Sudan.
düstert. Erfahrene Führer riethen, den Zug nicht rasten zu
lassen; es habe allen Anschein, daß das Ungewitter rechts
von der Karawane vorüberziehen und dieselbe unberührt las-
seu werde, und sie hatten das Rechte getroffen. Man konnte
deutlich sehen, wie in dem braunen Gewölk entgegengesetzte
Luftströmungen auftraten nnd wie gewaltige Sandhosen über
die weite Fläche hinwirbelten. Die Karawane zog weiter und
die Gefahr ging vorüber. Dann wurde mitten in der Wüste
Rast gehalten, und bald lag Alles in tiefem Schlafe. Am
folgenden Tage war der Weg beschwerlicher als je zuvor;
die Fläche war mit spitzen Steinen wie übersäet, die Kameele
schwankten hin nnd her und stießen Klagetöne ^aus. Das
Dromedar, welches vorausgeschickt worden war um Wasser
zu holen, ließ sich immer noch nicht blicken, und doch wurden
Tanz der J
Alle von einem brennenden Durste geplagt. Man zog me-
chanisch nnd wie schlaftrunken weiter; am Himmel die bren-
nende Sonne und nirgends die Spur von einer Wolke. Plötz-
lich vernimmt man ein Geräusch; ein Volk von Hühnern
fliegt herbei, um Futter auf dem Wege der Karawanen zu
suchen. Welch ein willkommener Anblick! Das Raufchen
der Vögel in der Luft drang wie Musik ins Ohr. Nun
mußte ja der Nil, der göttliche Nil mit seinem frischen, laben-
den Wasser in der Nähe sein. Allah Kerim, Gott ist
groß! Kaum eine Viertelstunde nachher kam auch der Dro-
medarreiter in Sicht, und nun hatte die Freude keine Gren-
zen mehr. Die Kameeltreiber begannen zu singen, klatsch-
ten tactmäßig mit den Händen und, eben noch matt und
müde und scheinbar außer Stande zu gehen, fingen sie zn
springen und zu tanzen an; die-Karawane war lustig ge-
worden. Bald waren auch die gefüllten Schläuche zur Stelle.
Das Wasser war lauwarm, es hatte nicht einmal ganz
reinen Geschmack, aber was will aller Nectar des Olymp
gegen Nilwasser bedeuten, das den Verschmachtenden labt!
Auch die Kameele wußten, daß ihnen gleichfalls der Labe-
truuk winke; sie schritten rasch fürbaß zum improvisirten
Gesänge ihrer Treiber: „Allah fei gelobt! Ihr Thiere
nahet euch nun dem Ende des Sandmeeres, der Sturm hat
euch verschont, der heiße Wind hat euch nicht erstickt; die
Sonne hat glühende Funken auf euch herabgeworfen, iudeß
ihr lebt noch; eure Kehle ist trocken, aber ihr seid nicht ver-
durstet; eure Beine sind matt; aber Allah sei gesegnet. Was-
ser ist in der Nähe, gutes Wasser. Hört ihr es murmeln?
Da ist auch kühler Schatten, dort könnt ihr euch ausruhen.
Allah sei gelobt, Allah sei gesegnet!" So lautete der Ge-
Aus Tremeaur' Reisen im östlichen Sudan.
229
sang der Kameeltreiber und sie klatschten dazu immerfort mit
den Händen.
Ein grüner Streifen kam in Sicht; man hörte den Nil,
dessen Strom gegen Granitfelsen prallt; einige Palmen rag-
ten in die Luft empor. Die Karawane hatte die große nubi-
sche Wüste durchmessen und war zu Abu Hamed am Nil.
*
* *
Baumwuchs am Ufer i
Er sah von Chartum aufwärts große Herden von Schafen,
Rindvieh, Ziegen und Kameelen, die man an den Fluß zur
Tränke trieb. Die Kameele erhalten auch dort nur alle drei
Tage Wasser, die Schafe alle zwei Tage, weil die Weide-
strecken ziemlich weit entfernt liegen. Krokodil und Hippo-
potamns ließen fich dann und wann im Wasser oder am
User blicken; die alteren lagen zumeist auf dem Sande und
sonnten sich; sobald ein Boot nahe kam, glitten sie in den
Fluß hinein. Die Nilpferde steckten nur ihren gewaltigen
Nils bei Abu Hamed.
Kopf aus dem Wasser hervor, der aber bald wieder ver-
schwaud. Die ■ Kraniche bildeten förmliche Wolken in der
Luft, am Ufer wimmelte es von Perlhühnern. Dumpalmen
und Dattelpalmen treten oberhalb von Chartum nur noch
bei Kamuyu und Uad Medina auf, dagegen desto mehrAka-
zien und Tamarinden, die letzteren in um so größerer Menge,
je weiter man nach Süden kommt.
Von der Mündung des Abu Ahraz oder Rah ad an
wird die Vegetation immer reichhaltiger, und auch der Bao-
Wir finden den Reisenden am Blauen Nil wieder, an
dem Bahr el Azrek, der aus Abyssinien kommt und sich
bei Chartum mit dem Weißen Nil, dem Bahr el Abiad,
vereinigt, von wo ab dann diese beiden den großen Hauptstrom
bilden.
Tremeaux schildert das reiche Thierleben am Blauen
Nil. Während der trocknen Jahreszeit kommen wilde und
zahme Thiers in unzähliger Menge an den Strom zur Tränke.
Aus Tremeaur' Reisen tut östlichen Sudan.
bab, der gewaltige Riese der Pflanzenwelt, tritt auf; man
bezeichnet ihn in jenen Gegenden als Gongoleß. Das
Volk der Assen wird immer zahlreicher. In den Urwäldern
Hausen Löwen, Panther, Hyänen und Schakals.
In Uad Medina hatte der Reisende eine unruhige Nacht;
unter den Eingeborenen war eine Empörung gegen die ägyp-
tischen Bedrücker ausgebrochen. Tremeanx mußte wachen
und blieb aus dem Deck des Bootes, aber er hatte das nicht
zu bedaueru, denn seit vielen Wochen verspürte er zum ersten
Male wieder einen kühlen Luftzug. Am andern Morgen fuhr
das Schiff weiter; die Menge der Vögel im Gezweig war
merkwürdig groß. Die Affen kamen, neugierig wie sie sind,
aus dem Walde ans User, machten allerlei Fratzen, klapper-
ten oder knirschten mit den Zähnen und liefen dann wieder
ins Dickicht. Papageyen schrien und flatterten lustig hin und
her. Alles in der Natur war munter und guter Dinge, aber
der Eindruck follte nicht ungetrübt bleiben; — die Leiche
eines Negers schwamm den Strom hinab.
Am 1. März kam Tremeanx vor Saba Dnleb vor-
über. Das Dorf foll diesen Namen führen, weil man dort
auf der Fahrt gen Süden die erste Dnlebpalme antrifft.
Einige vom Schisfsvolk gingen aus Laud, um Lebensmittel
einzukaufen. Sie hatten gesehen, wie ein Löwe ein Schaf
wegschleppte. Nun verließ auch der Reisende seine Barke;
er wäre gern einem Löwen begegnet und drang wohlgemuth
iu den Wald ein. Der Wind war für die Fahrt nicht gün-
stig; wenn also der Wanderer durch den Wald geradeaus
ging, schnitt er die Krümmungen des Stromes ab und mußte
Wohnung im Wald am blauen Nil.
gegen Abend die Stelle erreichen, an welcher die Barke zum
Uebernachten anlegen sollte.
Der Charakter des Waldes am Blauen Nil ist
in jener Gegend folgender. Auf hohem Boden ist der Wald
spärlich, hat auch viele lichte Stellen und manche völlig kahle
Punkte, aber in den Niederungen erscheint er wunderbar üppig.
„Ich drang hinein auf gutes Glück. Anfangs erschien mir
Alles eintönig; weiterhin fand ich große freie Stellen, theils
kahl, theils mit hohem aber trockenem Grase bestanden; dann
und wann traten Baumgruppen auf. Das Ganze gemahnte
mich an einen vernachlässigten englischen Park. Aber bald
nachher trat der Wald geschlossen aus; mächtige Stämme
ragten hoch empor und ihre Zweige bildeten ein grünes Ge-
wölbe. An solchen Stellen ist der Boden ganz stach und
kein Unterholz vorhanden. Manchmal kreuzen sich die Ber-
ästungen auch uach unten hin und man hat große Mühe,
vorwärts zu kommen, da man sich oftmals bücken, zuweilen
fogar kriechen muß.
Man findet hier Vögel iu geradzu erstaunlicher Menge;
aber auch Menschen wohnen in diesen Wäldern. Dann und
wann trifft man auf Gruppen von Hütten, die einen
fehr malerischen Anblick gewähren. Der Schwarze wählt
eine Stelle, wo die Baumäste und Zweige eine Art von
natürlicher Wand bilden; die Zwischenräume füllt er mit
allerlei Gezweig, Binsen und Matten aus und so hat er,
was man als Wand bezeichnen kann. Das Dach sticht er
gleichfalls aus Gezweig zusammen. In der Nähe bietet
irgend eine Lichtung fruchtbaren Boden dar, welcher keiner
Aus Tremeaur' Reis
Bewässerung bedarf. Diese Wohnungen gewähren erfrischende
Kühle; wer lange Zeit von den glühenden Strahlen der Sonne
beschienen worden ist, glaubt hier ein wahres Paradies zu
finden. Aber die Kehrseite fehlt nicht. In diesen Wäldern
sind die Vögel und die Affen eine wahre Plage. Die letzte-
ren sind in solcher Menge vorhanden und so frech und zu-
dringlich, daß sie felbst bis in die Hütten kommen, um zu
stehlen; für die Ernten bleiben aber die Vögel viel mehr zn
fürchten."
Man hat eine eigentümliche Vorkehrung getroffen, um
dieselben zu schützen: wir wollen bemerken, daß eine ähnliche
auch in anderen tropischen Waldgegenden, z. B. in Indien
und im hinterindischen Archipelagns, vorkommt. Man bringt,
wie unsere Abbildung zeigt, im Felde mehrere hohe Psähle
im östlichen Sudan. 231
an und diese dienen zum Herstellen eines Sitzes, von welchem
aus ein Mann den Acker übersehen kann. Von diesem Ge-
rüste sind weit und breit.dünne Fäden ausgespannt, die mit
allerlei Gegenständen zum Verscheuchen der Vögel behängt
und an dünnere, über das Feld vertheilte Pfähle befestigt
werden. Der Mann sitzt unter einem Schattendache von
Zweigen auf feinem Gerüst wie die Spinne im Netze und
fetzt von dort aus feine Vogelscheuchen in Bewegung.
Ohne das würde die ganze Ernte verloren gehen, beschädigt
wird sie trotzdem allemal mehr oder weniger.
„Abends erwartete ich am Ufer unsere Barke. Ich hatte
den ganzen Tag im Walde zugebracht, fühlte mich aber nicht
im Geringsten ermüdet, und nahm mir vor, am andern Tag
eine ähnliche Wanderung vorzunehmen. So geschah es auch.
Vorkehrung zum Schutze der Ernte.
Das Ufer steigt da, wo ich mich befand, und auch au vielen
anderen Stellen, etwa fechszig Fuß hoch an; weiter aufwärts
liegt eine ziemlich kahle Hochebene, wo ich der Hitze einer
tropischen Sonne ausgesetzt war; es that mir sast leid, das
Schiff verlassen zu haben. Doch ging ich weiter und die
Hochebene siel bald zur Niederung ab. Der Pflanzenwuchs
wurde nun immer kräftiger, und bald wölbte sich über mir
ein grünes Laubdach, das immer dichter wurde; nur wenige
Lichtstrahlen drangen hindurch. Diefes Düster gab dem
Walde einen eigenthümlich grandiosen Charakter und bald
kam mir Alles zum Erschrecken wild vor. Auch hier fand
ich wieder ein reiches Thierleben. Es kam mir manchmal
vor, als wandle ich nicht in einem Walde, fondern in einer
Grotte. In diefem llrwalde war das Durcheinander gren-
zenlos; Baumstämme lagen am Boden oder waren halb um-
gesunken und die meisten derselben mit Schmarotzerpflanzen be-
deckt; Cactns hingen wie Stricke und Seile von den Zwei-
gen herab, manchmal Schlangen vergleichbar; Kletter- und
Schlingpflanzen wucherten überall. Zuweilen fiud die um-
gestürzten Baumstämme fo morsch, daß sie zusammenfallen,
wenn man sie.anrührt; sie werden zu Mülm uud Staub.
In diesem Gewirr sind keiue anderen Pfade als jene, welche
von den Thieren getreten wurden; oftmals sieht man den
Himmel nicht, wo aber Lust und Sonne eindringen können,
findet man fofort Gras und Strauchwerk.
Hier ist nirgends eine Hütte, hier wohnt kein Mensch.
Diese Natur zeigt eine Großartigkeit, welche erhebend, aber
auch melancholisch wirkt. Manchmal wird man förmlich be-
'q/C<7cji^ RßTfr
232
Aus Tremeaur' Reisen im östlichen Sudan.
iTt •:
i
täubt von dem Geschrei, welches sich beinl Herannahen eines
Menschen erhebt. Da sind wieder die unvermeidlichen As-
sen mit ihrem Gekreisch, ihren Fratzen und ihren Lnftfprün-
gen; sie klettern von Ast zu Ast, von Baum zu Baum, oft-
mals von Vögeln umflattert. Dann raschelt es am Boden,
ein Kriechthier sucht einen sichern Schlupfwinkel.
Die Sonne fängt an, sich zu neigen. Nun fetzen My-
riaden von Thieren sich in Bewegung nach dem Strome hin,
wo sie zur Tränke gehen. Aus jedem Baume nisten Tur-
teltauben; viele flattern auf, sobald ich nahe komme. Auch
Schakale und andere wilde Thiere, die ich nicht erkennen
kann, fliehen vor meinen Schritten. Die gefährlichsten Fleisch-
frefser kommen erst zum Vorschein, wenn die Dunkelheit her-
einbricht. Die Töue, welche ich vernahm, waren für mich
unerhört und feltsam, und oft, wenn ich um mich blickte,
von wem das Geräusch komme, sah ich einen Vogel mit
prächtigem Gesieder, aber wenn er den Schnabel öffnete, stieß
er ein höchst widerwärtiges Gekreisch aus.
In diesem Walde, wo ich ganz Staunen und Bewunde-
rnng war und eineUeberrafchnng nach der andern hatte, waren
mir die Stunden wie Minuten vergangen. Indessen war
es spät geworden und ich befand mich immer noch im dich-
ten Walde, auch deutete nichts auf die Nähe des Flusses.
Ich wußte, daß ich mich auf dem linken User befand, ging
also in der dadurch augezeigten Richtung weiter. So kam
ich an eine sandige Stelle, die mir ein trockenes Regenbett
zu sein schien, ein sogenannter Torrent, der bei der Regen-
zeit mit Wasser gefüllt ist. Hier war eine niedrige, theil-
weise baumlose Ebene mit hohem Gras und Binsen, die bis
zu zwölf Fuß hoch waren; da und dort standen einige Ta-
marinden. In diesem Labyrinthe bemerkte ich zahlreiche Thier-
pfade, die sich aber wieder zwischen Gras und Binsen ver-
loren oder an verschiedenen Stellen abermals Heilten. Ich
mußte mir oftmals mit den Armen Bahn brechen und war
endlich iu diesem Gewirre gäuzlich verloren. Was sollte
ich nun anfangen? Die Thierpfade waren nur am Boden zu
erkennen und oft mußte ich fast kriechen, um sie nicht zu ver-
lieren, zurück konnte ich nicht.
Jetzt höre ich die Tritte einer Anzahl von Thieren, die ich
aber nicht sehen kann, doch meine ich, es seien wohl Antilo-
pen, und das beruhigt mich. Ich hatte mehrere Vögel ge-
schössen, um eiu schmackhaftes Abendessen zu haben; sie wer-
den mir aber zu schwer und ich werfe zwei Perlhühner und
einige Turteltauben weg. Ich fühle mich nun recht abge-
mattet, muß aber vorwärts. Dann setze ich mich, um etwas
auszuruhen und werfe noch einige Vögel fort. Es kommt
mir vor, als vernehme ich Geräusch von Wasservögeln, aber
nicht aus der Richtung her, wohin ich mich wenden muß;
doch ich folge dem Anzeichen und gelange wirklich an den
Strom.
Dort athme ich wieder frei auf und lösche meinen Durst;
dann werfe ich mich auf den Sand hin und vergegenwärtige
mir, was ich Alles an Abenteuern erlebt habe. Nachher be-
trachte ich mir das Wasser und überzeuge mich, daß ich nicht
am Blauen Nil bin, sondern wahrscheinlich an einem Neben-
arm, einer Art von Hinterwasser. Das war keine.tröstliche
Wahrnehmung, aber ich befand mich an einer recht behag-
lichen Stelle und mußte etwas ausruhen.
Nach einiger Zeit ging ich an diesem Flußarm aufwärts
und fand, daß einige Stellen desselben trocken lagen; ich
konnte also nach der Insel hinüber gehen und auf der an-
dern Seite derselben die Barken abwarten, welche stromauf
kommen mußten. Diese Insel war bewaldet und hatte einen
breiten Saum vou hohen Gräsern und Binsen. Dorthin-
ein durfte ich mich nicht wagen, es war kein Pfad zu erken-
nen und ich mußte wohl eine starke halbe Stunde weit am
Ufer hingehen, um an die Stelle zu gelangen, wo die Bar-
ken anlegen sollten. Ich sah die erste derselben in weiter
Entfernung und fetzte mich am Strome nieder, um ihre An-
knnft abzuwarten.
Mein Lagerplatz befand sich unter einigen hohen Bän-
men, in deren Gezweig die Affen ihr munteres Wesen trie-
ben. Als ich eiue Weile ruhig dort saß, kamen sie ganz
nahe heran, bis auf drei Schritt, und waren so frech, daß
sie meine neben mir liegende Doppelflinte betasteten; einer
streckte sogar die Finger in die Läufe. Sie fetzten sich, be-
trachteten mich, und machten allerlei Grimassen und zankten
mit einander. Sie wurden immer dreister; einer wollte so-
gar mein Gewehr fortschleppen, es war ihm aber zu schwer.
Endlich jagte ich sie fort; sie kletterten schreiend auf die
Bäume, warfen Holz aus mich herab und einer war so un-
gezogen, mir einen sehr schmutzigen Denkzettel mitzugeben,
dessen nähere Beschreibung man mir wohl erlassen wird.
Das Ganze machte mir vielen Spaß; nun aber erinnerte
mich das Heulen der wilden Thiere daran, daß die Dunkel-
heit hereinbreche. Zuerst ließ ein Schakal sein langgezo-
genes Uan vernehmen; andere antworteten ihm und dann
wurde Alles wieder still, aber nur eine kleine Weile. Bald
nachher begann das Geheul abermals und nun vernahm ich
auch deu kräftigen, kurz abgestoßenen Schrei der Hyäne. All
dieses Gethier kam jetzt aus seinen Schlupfwinkeln. Die
Dunkelheit brach herein; mir wurde doch sehr unheimlich zu
Muthe und ich mußte aufbrechen. Eine Wahl blieb mir
nicht; ich mußte an dem Flußarme bis zu der trockenen
Stelle hinauf und quer über die Insel gehen, um die Barke
zu erreichen. Dabei war ich jedem Zufall wehrlos preis-
gegeben, weil ich auch mein letztes Zündhütchen verschossen
hatte." —
Also vorwärts! Tremeaux erzählt dann ausführlich, was
ihm weiter begegnete. An das Geheul des Schakals und an
das Geschrei der Hyänen hatte er sich schon gewöhnt, nun
aber mischte sich auch der Löwe mit seinem Gebrüll in das
Abendconcert. Als er aus tiefer Brust seine rauhen Töne
hervorstieß, schwiegen die anderen Thiere eine Zeitlang. Der
Wanderer ging weiter und kam seinem Schiffe immer näher,
aber um zn demselben zu gelangen, mußte er noch einen aller-
dings nur schmalen Waldsanm Passiren, der bis ans Ufer
reichte, aber gerade diese Stelle war sehr gefährlich.
Im höchsten Grade aufgeregt und doch matt und müde,
gelangte der Wanderer endlich zu der Stelle, wo das Boot
am Ufer lag. Das Volk befaud sich aus dem Verdeck und
harrte mit Spannung auf die Ankunft des Vermißten, der
gerade durch jenen Waldfanm kommen mußte, in welchem
der Löwe fo gewaltig gebrüllt hatte. Doch die Gefahr war
vorüber, ein Neger trug den Europäer auf die Barke und
die Mohammedaner sprachen ein Allah Kerim, welches jener,
man kann wohl glauben, aus nun erleichterter Brust mit
einem Amen beantwortete.
Karl Andree: Betrachtungen über Mexico.
233
Betrachtungen über We ico.
Von Karl Andree.
III.*)
Wir sagten am Schlüsse unseres zweiten Aufsatzes, daß
Präsident Arista 1852 dem mexicanischen Congresse zuge-
rufen habe: es lasse sich nichts Traurigeres für den Vater-
landsfreund denken, als wenn er befürchten müsse, dem Lei-
chenbegängnisse der Nation beizuwohnen.
Mexico ist seit nun siebenundvierzig Jahren unabhängig
und hat sich in dieser langen Zeit nicht einen einzigen
Tag in regelrechten Verhältnissen befunden. Alles
ist Wechsel, Umschlag, Katastrophe; es scheint den Gemü-
thern der Menschen der Gedanke an normale Zustünde völ-
lig abhanden gekommen zu sein. Sie wissen in der That
nicht, was sie mit sich anfangen sollen. Freunden der wil-
desten Anarchie muß das Herz vor Wonne klopfen, wenn sie
überblicken, was in Mexico seit länger als einem Menschen-
alter vorgeht. Alles ist aus Rand und Band; zu nicht ge-
ringem Genügen der Uankees, welche auf die weitere Zer-
stückeluug und auf Fortsetzung der „Annexionen", die schon
1648 begannen, klug specnliren. Bon ihnen haben Jnarez
und die „Republikaner" Aufmunterung und Unterstützung
erhalten. Es ist zwar nicht erforderlich, daß jene Nordame-
rikaner die Mexicaner gegen einander aufhetzen, dafür sorgen
diese von selber; sie bemühen sich nach Kräften, daß das
Werk der Vernichtung seinen Fortgang nehme und dem auf
der Lauer stehenden Nachbar in die Hände gearbeitet werde.
Diesem liegt lediglich daran, in dem zerrütteten Lande über-
Haupt gar keine feste Regierung aufkommen zu lassen.
Daß eine solche mit den „Republikanern" und durch deren
Führer rein unmöglich sei, wissen sie sehr wohl; eine Mou-
archie, welche die Zügel straff gehalten hätte, konnte ihnen
nicht passen; daher bieten sie Alles aus, um den Kaiser von
Napoleon's Gnaden zu stürzen. Ohne allen Zweifel errei-
chen sie über kurz oder lang ihre Absicht.
Der Schützling Maximilian ist von: Protector iu einer,
man kann wohl sagen, beispiellosen Weise im Stiche gelassen
und aufgeopfert worden. In der Versammlung der mexi-
«mischen Notabeln (im December 1866), über welche der
Sitzungsbericht vor mir liegt, äußerte Napoleon's Vertreter,
der vielgenannte Marschall Bazaine, dein Kaiser selber ganz
trocken und mit dürren Worten ins Gesicht, daß die Mon-
archie iu Mexico gar keine Aussicht auf Fortbestand habe;
das „Volk" wolle sie nicht und es werde wohl das Beste
sein, wenn der Kaiser das Land räume. Eiu paar Jahre
früher hatte freilich fein Gebieter durch den Mund eben die-
ses Marschalls verkündigen lassen, daß das mexicanische Volk
es sei, welches den Nachkommen Kaiser Karl's des Fünften
gerufen habe, um den Krater der Anarchie zu schließen und
eine Periode des Glücks für das schwerheimgesuchte Laud zu
begründen!
Auch die Geistlichkeit sprach sich damals für den Kai-
ser aus. Jetzt, in jener Notabelnversammluug, waren es
gerade die Bischöfe, welche sich von demselben abwandten
und ihm gleichfalls rundweg ins Gesicht erklärten, sie seien
der Ansicht, daß Seine Majestät baldmöglichst nach Europa
zurückkehre, weil die Monarchie nicht auf das „Volk" rech-
nen könne.
*) Vergleiche S. 16 ff. und S. 52 ff.
Globus XI. Nr. 8.
Nie ist eiu Monarch in einer peinlichem Lage gewesen.
Schon im Anfange des Decembermonats 1866 erließ er
eine Proclamation, in welcher er sagte, daß er „einen Eon-
greß auf breitester und freisinnigster Grundlage" zusammen-
berufen werde; an diesen: würden alle politischen Parteien
sich betheiligen, itub die Versammlung werde entscheiden: ob
das Kaiserreich fortbestehen solle. Im Bejahungsfalle
gedenke er „Grundgesetze zur Kräftigung der Staatseinrich-
tnngen" zu entwerfen.
Wie melancholisch das lautet! Die Geguer des Kaisers
ließen diese Proclamation unbeachtet, sie wollten von ihm
und seinem Congresse überhaupt uichts wisseu uud setzten den
Krieg fort. Dann berief Maximilian jene Notabelnver-
sammlnng, in welcher gerade diejenigen ihm kalt den Rücken
kehrten, welche er für seine Hauptstützen gehalten. Er wird
längst begriffen haben, daß man mit elegischer Wehmnth und
gutem Milieu in Mexico nichts ausrichtet. Ich will hier
bemerken, daß selbst die Nordamerikaner der Person des Kai-
sers die Achtung uicht versagen; die Neuyorker Blätter loben
den Mann. Wenn es, sagen sie, möglich wäre, in das Chaos
einiges Licht zu bringen, so sei das, salls überhaupt ein selb-
ständiges Mexico bestehen solle, nur durch einen Monarchen
ausführbar, deuu mit Republik und Freiheit wisse der mexi-
canische, indianische und buntgemischte „rabble" (d. h. Jan
Hagel, Pöbelhaufe) doch nichts anzufangen, und man müsse
eingestehen, daß derselbe eine „disgrace", also Schimpf und
Schande, für die civilifirte Welt sei. Es wäre ganz zweck-
mäßig — so meinte der „New Jork Herald" —, wenn diese
Mexicaner sich unter einander auffräßen, wie die bekannten
Kilkenny-Katzen in Irland, von denen nach dem Kampfe
nur die Schwänze übrig blieben. Auf ein so günstiges Re-
snltat könne man aber nicht hoffen; es werde noch viel „ver-
min", Ungeziefer, sich erhalten, und da sei es wohlgethan,
wenn dasselbe durch Bürgerkriege sich selber möglichst Ver-
mindere. Nur das Eindringen eines kräftigen Volksschlages
von Norden her könne reine Bahn schaffen.
Damit sind die nordamerikanischen Ansichten und Be-
strebungen sormnlirt. Inzwischen ist das ganze Land, vom
Rio Grande bis zur Grenze von Guatemala, von Sonora
am Stillen Weltmeere bis zum mexicanischen Golf ein Schau-
platz vernichtender Fehden. Nicht große Kriegsheere von
hunderttausend Kämpfern stehen einander gegenüber, es
handelt sich nicht um gewaltige Schlachten, welche eine Ent-
scheidnng herbeiführen und ein Ende des Krieges in Aus-
ficht stellen. Vielmehr ist anch in Bezug auf den Krieg
Alles zerrüttet, zertheilt, zerklüftet. Jede der beiden Parteien
hat ihre Streitkräfte in eine Menge kleiner Körper aufgelöst
und schwerlich zählt einer derselben fünftausend Mann. Das
Ganze ist mehr oder weniger ein Bandenkrieg auf der einen
wie aus der andern Seite, und man beehrt diese zusammen-
gepreßten, an Tracht und Hautfarbe buntscheckigen Leute sehr
uneigentlich mit dem Namen der Guerillas. In der kai-
serlichen Armee wie iu jener der Republikaner dienen auch
Räuberhauptleute, Menschen, die schon früher an der Spitze
von „Guerillas" standen, unter dem Vorwande, daß sie der
clericalen oder der liberalen Partei angehörten, Straßenraub
im Großen trieben, Ortschaften, allemal unter politischen
30
234 Karl Andrer: Betr
Vorwänden, Uberfielen und brandschatzten und „Conductas"
wegnahmen, d. h. Mauleselkarawanen, welche Silberbarren
oder Dollars aus den Bergwerken, unter Bedeckung einer
Abtheilung Regieruugstruppeu, nach einem Seehafen zur Ver-
schiffung bringen follten. Unter den kaiserlichen „Generälen"
hat sich Marqnez als Berauber von Condnctas einen Na-
men gemacht; Mejia, Cobos und Andere im imperialisti-
fchen Heere sind gleichen Schlages, aber nicht schlechter oder
besser als die Räubergeneräle auf republikanischer Seite. Als
Heerführer setzen sie das gewohnte Handwerk fort, und vor allen
Dingen erpressen sie Zwangsanleihen.
So wälzen sich diese bewaffneten Banden über die ganze
Länge und Breite Mexicos hin, und jede Ortschaft, die nicht
im unzugänglichen Gebirge liegt, hat bald von der einen,
bald von der andern zu leiden. „Das Land ist ansgefres-
fett." Natürlich, lieber Finanzen verfügt weder der Kaiser
noch die republikanische Partei; es bleibt den sogenannten
Soldaten platterdings nichts anderes übrig, als sich durch
Raub zu ernähren.
Und wähne man doch ja nicht, daß es sich um feste An-
hänglichkeit an eine Sache, um große politische Grundsätze
handle. Oben wurde gezeigt, wie der Clerus ohne Beden-
ken demselben Kaiser, zu dessen Berufung er fo wesentlich
beigetragen und mitgewirkt, den Rücken kehrte. Unter den
Politikern und Generälen haben manche, wer könnte sagen
wie oft, die Partei gewechselt. Das Gleiche ist mit den
Städten und Provinzen der Fall. Je nach den Umständen
erläßt man heute ein imperialistisches „Pronnnciamiento"
und nach zwei Monaten ein republikanisches oder umgekehrt.
Heute siegen irgendwo die Kaiserlichen, morgen die Repnbli-
kaner, aber entschieden wird nichts. Doch geht es mit dem
Kaiserthum mehr nnd mehr auf die Neige; die zusammen-
gepreßten Soldaten laufen in Menge davou, ein General
um den andern erklärt'sich für die Gegenpartei, eine Pro-
vinz nach der andern wird verloren, und felbst in derHanpt-
stadt plünderte man des Kaifers Wohnung. Dabei werden
auf beiden Seiten blutige Grausamkeiten verübt; der repn-
blikanische General Escobedo, auch ein munterer Räuber,
läßt alle Gefangenen erschießen, die keine eingeborenen Mexi-
caner sind; im Januar erlagen ihm 115 Europäer durch
Pulver und Blei, und seine Indianer vollzogen den Befehl
um so lieber, da sie nun die Freude hatten, weiße Menschen
niederzustrecken.
Das Kaiserthum hatte wenigstens ein Programm auf-
gestellt; es wollte versuchen, dem Lande zu bringen, was die-
sem vor Allem nöthig wäre: Ruhe, Ordnung, Sicherheit der
Person und des Eigenthums. Es fand im Lande derMou-
teznma und Cortez, der Geistlichkeit und des Radicalismus,
der Dictatnren und der Anarchie die wildeste Verwirrung.
Ein Volk ist in Mexico nicht vorhanden, man hat aus zwan-
zig Menschen je einen weißen; man hatte über 400 Gene-
räle und eben so viele Obersten; es waren Räuber da in
Hülle und Fülle, „Aussätzige" (Lsperos) als Pöbel in der
Hauptstadt, und „Gefleckte" (Pintos, Indianer im Staate
Guerrero), sechs Millionen brauner Leute und Tausende von
Handwerkspolitikern, die alle auf Kosten des Staates leben
wollten. So ist Mexico.
In den Vereinigten Staaten von Nordamerika feiert jetzt
der wahnwitzig gewordene Radicalismus tolle politische Or-
gien, indem er einer Million ungebildeter Neger nicht etwa
bürgerliche Gleichstellung, was sich möglicherweise hören las-
sen könnte, sondern politische Gleichberechtigung und Stimm-
recht zudictirt. Jeder Ethuolog, der die Anlagen und Be-
gabuugen der verschiedenen Racen zu würdigen weiß, ver-
steht sofort, was das heißen will nnd welche Summe von
Unheil und Verwirrung dadurch in das ganze öffentliche Le-
htungen über Mexico.
beu kommen muß. Aber so widersinnig diese Ertheilnng des
Stimmrechtes von Seiten der nordstaatlichen Ultraradicalen
in der von nun an auch unheilbar zerrütteten Union Nord-
amerikas immer sein möge, so sehr Washington, Iefferson,
Jay, Madison, Jackson und alle die wahrhaft republikani-
scheu Staatsmänner uud Gründer der nun so kläglich der
Entartung und Corrnption preisgegebenen, ehemals blühen-
den und glücklichen Republik das Haupt verhüllen und bittere
Thränen über das entartete Geschlecht der Gegenwart weinen
würden, — in jenem Nordamerika besteht doch die Mehrzahl
aus weißen Menschen, uud dort ist Rettung möglich,
wenn einst diesem tollgewordenen Aankee-Ultraradicalismus
durch ein Erwachen des gesunden Menschenverstandes das
unheilvolle Handwerk gelegt wird.
Aber in Mexico? Ich habe früher nachgewiesen, daß
unter acht Millionen kaum 300,000 weiße Menschen sind;
das Uebrige ist ein buntes Gewirr von Mischlingen nnd In-
dianern. Es war, ich erinnere daran, der Finanzminister
Lerdo de Tejada, der da sagte („Globus" XI, S. 53), daß
jede einzelne Hautfarbe Tendenzen habe und Richtungen ver-
folge, welche jenen aller übrigen widerstreben; es sei nnmög-
lich, daß sie jemals sich nnter einander verständigen könnten,
daß sie fähig feien, auf ein gemeinschaftliches Ziel hinzuwirken.
Die Wogenschläge der französischen Revolution von 1789
sind über deu Ocean auch nach dem spanischen Amerika ge-
druugeu und haben die Herrschast der Madrider Bonrbons
untergraben. An und für sich war das gut, aber was in
Frankreich und Europa und bei Culturvölkern, mit Auswahl
angenommen, ersprießlich sein konnte, wurde unter den nur
zum geringsten Theile civilisirten Völkern auf der westlichen
Erdhalbe grundverderblich. Man gab sich dem von der An-
thropologie und Völkerkunde als unwahr vernrtheilten Wahne
hin, daß Alles, was für gebildete Nationen gut und richtig
sein kann, auf fämmtliche Menfchen ohne Ausnahme An-
Wendung finden könne und müsse, und dann gleiche Wirknn-
gen haben werde.
Nie ist ein Jrrthum verhttngnißvoller gewesen; gerade
das ganze, ehemals spanische Amerika liefert dafür die Hand-
greiflichen Beweife. Es hat in jedem Jahr, auch jetzt noch,
mehr Revolutionen als Monate, ja als Wochen im Jahre
find', und das Ende ist platterdings nicht abzusehen. Man
blicke auf die La-Plata-Staaten, wo die Diuge sich, soweit
das europäische Element Einfluß gewinnen kann, und nur
durch diesen, allerdings etwas leidlicher gestaltet haben; auf
Peru, wo durchschnittlich jedes Jahr vier Revolutionen bringt;
aus die Geschichte von Ecuador, Venezuela, Neu-Grauada,
Centralamerika und Mexico. Wer die Geschichte nicht kennt,
wird es kaum glauben, daß diese Länder binnen 50 Jahren
mehr als ein Tausend Revolutionen, gewalttätige Prä-
sidentenwechsel und „Pronuncianiientos" gehabt haben.
Was Mexico anbelangt, so ist es außer aller Frage, daß
dort, wie einst in Centralamerika, zur Partei der Radicalen
die besten und gebildetsten Leute des Landes gehörten. Sie
standen namentlich in feindlichem Gegensätze zu der höhern
Geistlichkeit, die in viertehalb Jahrhunderten so viel wie gar
nichts gethan hat für die Ausbildung und Erziehung des
Volkes. Sie erklärten den trägen Clerus für einen Fluch der
Nationen, weil derselbe seine Pflichten völlig verabfänmt,
lediglich ein kirchliches Formelwesen eingeführt und imUebri-
gen nur Reichthümer zusammengerafft habe.
Aber im Hinblick auf die mehr als fechs Millionen roher,
völlig ungebildeter, theils wilden, theils halbwilden Menfchen
in Mexico begingen diese auf dem abstracteu Principe reiten-
den Männer einen verhängnißvollen Jrrthum, indem ste
das Land in eine uneingeschränkte Demokratie umschaffeu und
mit Freiheiten beschenken wollten, dergleichen kein Staat der
Karl Andree: Betr
Welt jemals gehabt hat. Man denke sich bei dem bunt-
scheckigen Gemisch in Mexico den Sprung ans der spani-
schen Zwangsherrschaft in die schrankenloseste absolute, nn-
controlirte Demokratie, und man wird nicht mehr staunen,
daß ein so unverständiger, halsbrechender Versuch mit Roth-
wendigkeit die wildeste Anarchie heraufbeschwören mußte.
Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, ohne daß Licht
und Aufklärung über die eigentlichen Ursachen des Unheils
in die Köpfe gedrungen wäre. Das Verderben geht seinen
Gang, obwohl man der Geistlichkeit einen großen Theil ihres
Besitzthums genommen hat. Bevor man denselben antastete,
besaß der Clerus, welcher uoch nicht viertehalbtansend Köpfe
zählt, ein Jahreseinkommen von zwanzig Millionen Silber-
Piastern, während die Staatseinkünfte nur die Summe von
höchstens elf Millionen erreichten. Die Partei derPnros, d.h.
reinen Radicalen, welche gerade durchgingen, entzog der Geist-
lichkeit einen beträchtlichen Theil des Vermögens, angeblich
um denselben zu Gunsten der Volksbildung zu verwenden.
Aber der Clerus orgauisirte allein im Jahre 1856 mehr als
dreißig Revolutionen in verschiedenen Theilen des Landes
und der Erlös aus den Kirchengütern wurde zu Kriegs-
zwecken verwandt. Wieviel dabei und davon veruntreut wurde,
ist nicht bekannt.
Vor nun gerade zehn Jahren begann recht eigentlich der
politische Hexensabbat!) in Mexico. Die Radicalen hatten
den Dictator Santa Anna vertrieben, und dabei gaben die
wilden Indianer unter ihrem grimmigen Häuptling Alvarez,
dem „Panther des Südens", den Ausschlag. Der Panther
wies den Antrag, die Präsidentenwürde zu übernehmen, ver-
ächtlich von sich, und so gelangte sie an einen weißen Mann,
Jgnaz Comoufort.
Als dieser am 5. Februar 1857 die „Bundesverfassung"
veröffentlichte, welche „der neuen Ordnung der Dinge einen
Abschluß zu geben bestimmt ist", erließ er zugleich ein Ma-
nifest, in welchem er sagt: „Nicht einen einzigen Tag
hat die Regierung Ruhe gehabt; sie muß unablässig
der Unwissenheit und dem Fanatismus die Spitze bieten,
und gegen eine Körperschaft ankämpfen, welche auch in
weltlichen Dingen eine große Gewalt ausübt. Die Republik
fah sich mit einem auswärtigen Kriege bedroht, während der
unablässig erneuerte Bürgerkrieg ihre Kraft erschöpfte. Die
Staatseinnahmen sind im Voraus verpfändet und werden
durch die revolutionären Zustände nur uoch vermindert;
ohnehin sind sie zu gering, um auch nur in Friedenszeiten
auszureichen. Der Ungehorsam eines Theiles der Geistlich-
keit ging so weit, daß sogar die Klöster Mittelpunkte der Ver-
schwörungen bildeten; die geistlichen Rebellen mußten ge-
züchtigt werden und erlitten die verdiente Strafe."
Allem Unheil follte durch eine neue Verfassung ab-
geholfen werden. Wie war dieselbe beschaffen und wie paßte
sie zu den Menschen und zu den Verhältnissen? Ich muß
noch einmal betonen, daß in Mexico ebensowenig gesunde
liberale wie gesunde conservative Elemente vorhanden sind,
und daß die bürgerlichen Bestandtheile der Gesellschaft,
welche in unseren europäischen Staaten den Kern und das
Mark der Gesellschaft bilden, in Mexico durchaus fehlen;
Gewerbe, Handel, Landwirtyfchaft, Gelehrtenstand, an Ord-
nung und Pflicht gewöhnte Beamte, Schulmeister, Adel,
Bauern mangeln oder sind nur spärlich vorhanden; es ist kein
Mittelstand und kein innerer Zusammenhang vorhanden.
Die Menschen leben nur neben einander; es fehlt ihnen die
Cohäsion.
Werfen wir nun einen Blick auf die Verfassung vom
Februar 1857, weil dieselbe, im Hinblick auf solche Ver-
Hältnisse, charakteristisch für die durch und durch unprakti-
schen Bestrebungen der mexicanischen Politiker ist.
htungen über Mexico. 235
Vor allen Dingen werden die sogenannten „Menschen-
rechte" festgestellt. In einem Lande, wo man mehr als
100,000 Barbaren zählte, die das Rauben gewerbmäßig
betrieben und die Anarchie an der Tagesordnung war, wurde
Jedem das Recht, Waffen zu tragen, zuerkannt. Die Todes-
strafe soll abgeschafft sein, — zu größter Genugtuung aller
Gauner und Mörder. Jeder männliche Mexicaner wird,
falls er verheirathet ist, mit dem achtzehnten Jahre
Vollbürger; ist er noch nicht verheirathet, erst mit dem ein-
nndzwanzigsten. Das Stimmrecht ist allgemein, das
Volk sonverain. Alle öffentliche Gewalt geht lediglich
vom Volke aus und wird nur zu dessen Wohlergehen ein-
gesetzt und ausgeübt. Die Einzelstaaten sind in dem, was
ihre inneren Angelegenheiten anbelangt, vollkommen sonve-
rain. Die Gewalten sind getheilt; die gesetzgebende Gewalt
übt ein Congreß, der nur eine Kammer bildet. Zum De-
putirten kann jeder Bürger gewählt werden, der sünfnnd-
zwanzig Jahre alt und keiu Geistlicher ist. Er muß in dem
Staat oder Gebiet, wo man ihn wählt, ansässig sein. Be-
soldete Bundesbeamte können nicht im Cougresse sitzen. Die
Kammer hält alljährlich zwei Sessionen. Die erste be-
ginnt am 10. September und dauert bis zum 15. Decem-
ber, die zweite, welche nicht prorog irt werden kann, wird
am 1. April eröffnet und am letzten Mai geschlossen. In
der Zwischenzeit sitzt ein permanenter Ausschuß, dessen
Hauptaufgabe eigentlich die war, den Präsidenten zu überwachen.
Dieser sollte vier Jahre im Amte bleiben; seine Befugnisse
waren sehr gering nnd bestanden eigentlich nur darin, die
Beschlüsse des Congresses zu registrireu.
Neben diesen unpraktischen Bestimmungen gab es einzelne,
die verständig waren. Man beseitigte alle Binnenzölle und
schaffte das Paßwesen ab, welches auch in Mexico weder Re-
Volutionen noch Raub oder Mord verhindert hat. Aber
das ganze Machwerk war abstract und lustig, weil für
eine folche Verfassung die Menschen nicht vorhan-
den waren. Die vollziehende Gewalt wurde zu einer sol-
chen Ohnmacht herabgedrückt, daß sie sich außer Stande sah,
innere Unruhen zu dämpfen und äußeren Feinden Wider-
stand zn leisten. Es ist als sei Alles völlig daraus berechnet
gewesen, Unruhen zu erregen und den wilden Massen zu ge-
fallen, deueu sie doch rein gar nichts nützen konnte und die
ohnehin von dem „erhabenen" Inhalte nichts verstanden.
Für alle Demagogen, Anarchisten und jeden beliebigen säbel-
rasselnden Oberst und General, der etwa Präsident zu wer-
den sich gedrungen sah, war sie dagegen wie geschassen.
Manche Paragraphen sind geradezu albern. Der Eon-
greß soll z. B. „für das Wohl der Arbeiter" sorgen. Aber
wenn nun, wie das landesüblich in Mexico ist, die „Arbei-
ter" nicht arbeiten wollen? Ohnehin ist eine Arbeiterclasse
in europäischem Sinne nicht vorhanden. Die Verfassung
scheert die Barbaren, die Halbwilden und Gebildeten über
einen Kamm, sie macht Alles, was in der Natur ungleich
ist, aus dem Papiere „gleich". Ein Senat, welcher die an-
dere Kammer im Sinne der Mäßigung hätte controliren
können, fehlte.
Diefe Verfassung trat in Wirksamkeit. Sie war wider-
sinnig durch und durch und bahnte sofort eine Dictatur an,
durch welche sie dann ohne Weiteres außer Wirksamkeit ge-
setzt wurde. Nach wenigen Monaten erklärte Präsident Co-
monfort, daß es ein Ding der Unmöglichkeit sei, mit einer
solchen Constitution überhaupt eiue Regierung zu führen.
Er verlangte die Dictatur, und der aus Pnros, Ultra-
radicalen, zusammengesetzte Congreß selber hielt eiue solche
für unbedingt nöthig. Mexico hatte eigentlich gar keine Re-
gierung. Die Soldaten schrien nach Brot und Löhnung
beim Präsidenten, der dann erklärte, daß ja nicht er Ober-
236 Ludwig Hollaender: F
besehlshaber sei und ohnehin kein Geld habe, weil das Land
ihm keine Mittel zur Verfügung stelle. Manche Depntir-
ten verließen heimlich den Congreß und viele Soldaten das
Heer, während die Zurückgebliebenen meuterten. Comoufort
sprach offen aus, einer solchen Scheinpräsidentschaft sei er
satt und müde.
Das Jahr 1857 wurde seiner Zeit von einem deutschen
Kaufmann in Mexico in folgender Weise gekennzeichnet:
„Bon Uutercaliforuieu und DUraugo bis nach Ancatan ha-
ben wir überall Revolutionen und Räuberbanden weit und
breit. Niemand darf sich auf die Reife wagen. Die große
Messe von San Juan de los Lagos im Staate Jalisco foll
nicht abgehalten werden, weil man keine Güter dorthin fchaf-
fen kann und die Kaufleute wegen Unsicherheit ohnehin aus-
bleiben müssen. An wem liegt die Schuld von all dem Un-
heil? Lediglich an den Mexicanern selbst. Sie lassen
ihrer Natur freien Lauf, um so mehr, da sie eine
starke Regierung nicht dnlden; aus fich selber her-
aus eine solche zu schaffen, dazu sind sie unfähig."
Das Urtheil jenes deutschen Kaufmanns ist ganz richtig.
Der Staat war bankerott, die wilden Indianer waren in
einem großen Theile des Landes Meister und verübten Mord
und Raub gegen ihre zahmen Blutsgenossen und gegen die
Weißen. In ganz Sonora, Chihnahua und Dnrango war
überall das platte Land den Raubhordeu der Apaches preis-
gegeben; auch in Sinaloa und Zacatecas wagte sich Niemand
rmleben am Oranjeflusse.
aus den Städten heraus, iu Aucatau ging neben der Revo-
lntion ein Racenkrieg her, in welchem die Indianer, im Sep-
tember 1857, in einer einzigen Ortschaft mehr als 400
Weiße und Mischlinge abschlachteten. In nicht weniger als
37 Städten hatte man der Bundesregierung den Gehorsam
aufgekündigt; Abgaben zahlte Niemand. Die Geistlichkeit
hatte im Laufe desselben Jahres sechszig und etliche Aufstände
durch ihre Anhänger, die „Religiouistas", gegen die „sacrilegien-
schänderische Regierung der Usurpatoren" ins Leben gerufen.
Merkwürdig, aber nicht auffallend erscheint gegenüber
solchem Chaos eine Erklärung des Vorsitzenden im Eon-
gresse: „Die neue Verfassung ist ein wahres Palladium der
Freiheit, durchaus hnmanitarisch und vorzüglich geeignet,
die Civilisation zu befördern. Wir schütteln alte Vorurtheile
ab und befinden uns im Uebergange zur Wiedergeburt;
wir bringen die Wahrheit, gegenüber dein Jrrthume, zur
Geltung, wir verhelfen dem gefunden Menschenverstände zur
Herrschaft und werfen blinden, veralteten Wahn fort. Auf
die Vaterlandsliebe des mexicanifchen Volkes und dessen gn-
ten Menschenverstand können wir uns völlig verlassen."
Dagegen verlangte der Präsident die Dictatur und zeit-
weilige Aufhebung der Garantien, welche die Verfassung dem
Bürger gebe. Die Begebenheiten, welche dann sich ereigne-
ten, sind einzig in ihrer Art, aber durchaus kennzeichnend
für Land und Leute; wir wollen sie in einem folgenden Auf-
satze zu schildern versuchen.
Iarmleben am Hranjeflusse,
Schilderungen aus dem Innern der südafrikanischen Capregion von Dr. Ludwig Hollaender. *)
Unübersehbar weite, grasbewachsene Flächen strecken sich
entlang den Ufern des Oraujeflusses. So wie er sich aus
den Bergen des Bassutolaudes herausgewunden hat, nmgiebt
ihn überall dieselbe Scenerie, ist er überall von denselben
Bäumen an seinen Ufern umrändert. Mimosen, Weiden,
wilde Lorbeersträuche und knorrige Olivenbäume variiren
wunderbar das mannigfaltige Grün, welches das schmutzige
Wasser des Stroms bis an den Atlantischen Ocean begleitet.
Aber das ist auch das erste Grün, das sind die ersten lang-
gewünschten Bäume, die der Wanderer nach mancher weiten,
mühsamen Tagereise, seitdem er die das Capland quer durch-
ziehenden Gebirge überschritten hat, erblickt. Alles andere
im Norden und Süden den Fluß umgebende Land ist grau
und braun, und nur ein Mal im Jahre, zu Anfang des
Sommers, d. h. im Monat September oder October, wenn
*) Der Herr Verfasser hat eine Reihe von Jahren in der Cap-
region gelebt und schildert, manchmal mit niederländischer Ausfuhr-
lichkeit, das Leben und Treiben der verschiedenen Volksstämme, welche
in jener Region wohnen, aus eigener Beobachtung. Es könnte auf
den ersten Blick scheinen, daß er die holländischen Bauern etwas zu
sehr grau in Grau male, das ist aber nicht der Fall , obwohl die
Farben etwas stark aufgetragen sind. Es ist bekannt, daß jene
„Voers", abgeschieden von allem Culturverkchr und ohne frischen
Zuzug von Landsleuten aus dem alten Mutterlande, sehr rückständig
und einseitig geblieben sind. Aber Much und Tapferkeit fehlt ihnen
nicht, und sie haben es verstanden, sich gegen die Uebermacht der
Engländer, von denen sie sehr feindlich behandelt wurden, zu behaupten.
Ihre beiden Republiken: die transvaalsche und jene am Oranjeflusje,
sind selbständige Staaten, die in ihrer eigenartigen Weise recht gut
gedeihen. A.
der erste Regen gefallen ist, färben sich die weiten Flächen
und einsam in die Höhe ragenden Berge mit dem erfrischen-
den südlichen fast tropischen Grün.
Entsetzlich heiße Tage und Nächte im Sommer folgen
fast ohne allen Uebergang einem ziemlich kalten aber trocknen
Winter. Dort ist kein blüthendnftender Frühling — kein
Früchte tragender Herbst. Das Klima ist gleichförmig wie
das Land und die Bewohner sind dem Land und Klima
ähnlich geworden. Dort sind keine hohen, rauchenden Schorn-
steine — keine wogenden Aehrenselder, keine lachenden Gär-
ten, keine rauschende Musik der Ernte — keine freudigen
Tänze der Jugend. Der erschlaffenden Hitze des arbeits-
losen Tages folgt keine fröhliche Nacht. Kein Lüftchen regt
sich und kein Baum erfrifcht das Auge, das weit hinaus in
unbeschreibliche Fernen durch die ewig klare und durchsichtige
Luft schweifen kann. ^ Hier und da erhebt sich ein znckerhnt-
oder tafelähnlicher Berg, dessen vorspringende Basaltklippen
eigenthümliche Spitzen, Zacken und Ränder bilden. Alle
halbe Stunde etwa trifft man eine Herde am Grase über-
sättigter Schafe, die unbeweglich und schweigsam in der
Sonnenhitze uebeu einander stehen, mitunter auch ein Rudel
Ochsen oder Pferde, gierig nach Wasser lechzend oder eine
fumpsige Pfütze austrinkend. Langsam schwebt in der Ferne
ein Haufen Geier — die Straßenreiniger Südafrikas —,
übersättigt von den Ueberresten eines gefallenen Pferdes, in
die Höhe, ermattet und abgespannt von der Mühe des langen
Fraßes.
Jedes Flußbett ist vertrocknet und längst schon sind die
Ludwig Hollaender: \
Antilopen und Gnus über den Oraujefluß weiter hinein ins
Innere des Landes geflüchtet. Denn Alles haben der Som-
mersonne versengende Strahlen ausgedörrt und Alles —
Mensch, Thier und Feld — wartet auf den nächsten Regen.
Hier in der That, in dieser Gegend giebt es keine Poesie.
Das enorme, farblose Einerlei der Felder und der Berge,
die entsetzliche, Alles erdrückende Stille, die maßlose Häßlich-
feit der ganzen Gegend scheinen allen menschlichen Nieder-
lassungen ihr Ende gesetzt zu haben.
Und dennoch, in dieser Wilduiß, in dieser Negation alles
dessen, was das Leben verschönt, was Gefühle erweckt, was
zur Hoffnung belebt, in diefer unendlichen Armseligkeit leben
Menschen mit menschlichen Gefühlen, schlagen auch Herzen,
die eine verwandte Seele suchen, finden sich zufriedene Exi-
steuzeu.
In diesem Lande, unter diesem Himmel lebt ein eigen-
thümliches Geschlecht. Zum größten Theile sind es Nach-
kömmlinge jener französischen Familien, die, durch Aus-
Hebung des Edicts von Nantes aus Frankreich vertrieben,
nach Holland eingewandert und von da nach dem Cap der
guten Hoffnung übergesiedelt find. Die Namen der Beran-
ger, du Toit, Pleffie, Couffie, Vaurie, de Clerk, Joubert,
Olivier, de Bruiu, Roux find nicht die ungewöhnlichsten, die
wir unter ihnen finden. Aber wenn auch die Namen ge-
blieben sind, und wenn auch die Träger dieser Namen eine
gewisse Selbständigkeit, ein gewisses republikanisches Selbst-
bewußtseiu sich erhalten haben, so haben sie doch alles Andere,
was auf ihre frühere Geschichte Bezug hat, vergessen und
verlernt. Wie ihre Vorfahren in dieses Land gekommen,
weiß kaum uoch einer von ihnen. In ihren Gesichtszügen,
in ihrer Gestalt, in ihrem ganzen Betragen ist keine Spur
mehr vom französischen Nationalcharakter, — auf hundert-
fache Weife sind sie mit Holländern, Deutscheu und Dänen
verschwägert, ihre eigene Sprache sprechen sie längst nicht
mehr, und durch ein abscheuliches Gemeugsel von Holländisch,
Deutsch und Englisch verständigen sie sich untereinander.
Von allen Künsten und Wissenschaften, die ihre Vorfahren
getrieben, in denen diese geglänzt haben, wissen sie nichts, —
sie sind Alle Viehzüchter, afrikanische Farmer, Boers
(sprich Bnhrs, d. h. Bauern) geworden.
Und wenn sie anch nicht immer so schlimm sind wie ihr
Ruf, wenn auch der berühmte Afrika-Reiseude und Missionär
Livingstoue manches in seinem Missionseifer schwärzer gesehen
und erzählt hat, als es in der That wirklich ist, und wenn
sie auch nicht solche Mordbrenner und Sklavenzüchter sind,
wie er sie geschildert hat, und wenn auch alle übrigen Be-
richte der anderen Missionäre, die mit ihnen in Berührung
gekommen, aus verschiedenen Ursachen etwas sehr stark gefärbt
wurden, so sind sie doch in gewisser Beziehung so verkommen,
daß die Frage dem denkenden Beobachter nahe liegt, ob es
nicht besser gewesen wäre, wenn jene stolzen Protestanten
lieber die Religion Ludwig des Vierzehnten angenommen
hätten. Für den, der selber Kinder hat und seinen Stolz
und Ehrgeiz darin findet, seine Nachkommen geistig sowie
körperlich gleichmäßig durchgebildet zu sehen, für den muß
es doch etwas Beschämendes haben, seine Kinder und Kindes-
kinder einem solch hohen Grade geistiger und religiöser Ver-
sumpfung anheimfallen zu sehen, als den, in welchem die
jetzigen Boers von Südafrika sich gerade befinden.
Des afrikanischen Farmers Haus steht entweder halb-
versteckt zwischen ziemlich hohen Bergen, durch die sich schläfrig
ein schnell austrocknendes Flüßchen dehnt, oder es liegt an-
gelehnt an Berges Rand, eine weite Ebene überschauend.
Entweder mit Stroh oder Schilf gedeckt oder mühsam mit
einer Lage von Ziegeln und Kalk belegt, besteht es selten
aus mehr als zwei Zimmern, so lange nicht auch im Hanse
rmleben am Oranjeflusse. 237
ein verheirateter Sohn sich aufhält. Hat sich auch zu dessen
Familie ein Zuwachs gefunden, so wird ein neues Zimmer
angebaut, und da Platz genug vorhanden ist, so geschieht dies
mit der Verheirathnng eines jeglichen Kindes — bis die
Farm für die große Familie zu klein und das Haus zu enge
geworden ist, und dann der jüngere Theil sich nach einem
neuen Wohnsitze umsieht.
Die einzige Thür führt direkt vom Freien in das Wohn-
zimmer, welches zugleich als Küche dient. Die Thür selbst
besteht aus zwei Theilen, einem obern und einem untern, die
beide unabhängig von einander geöffnet werden können, ebenso
wie es bei uns in Deutschland auf manchen Bauernhöfen
der Fall ist. Das andere Zimmer ist Schlafgemach für
Vater, Mutter, verheirathete und unverheiratete Söhne und
Töchter. Zwei Mal im Jahre werden die Zimmer geweißt,
und ein Mal jede Woche wird der Fußboden, der aus Erde
besteht und mit Zusatz von Ochsenblut uud zerstückelten Ter-
miten-(Ameisen-)Haufen zusammengeknetet und gehärtet ist,
mit durch Wasser verdünntem Kuhmist beschmiert, um den
im Laufe der Woche entstandenen Staub zu löschen und die
durch die Hitze sich außerordentlich vermehrenden Flöhe etwas
zu vermindern. Zwei bis drei mit einer Rücklehne versehene
Bänke, sechs bis sieben Stühle, theils in der nächsten Stadt
gekauft (und in diesem Falle ans Mahagoni und mit
Rohr geflochten), oder selbst angefertigt, und dann sind statt
des Rohres lederne Riemen quer über den Sitz gespannt, —
ein langer Tisch, der in der Ecke steht und zu jeder Mahlzeit
in die Mitte des Zimmers getragen wird, ein anderer kleiner
Tisch, in der Nähe eines Fensters nebst zwei Stühlen, und
ans dem stets eine dnrch glühenden getrockneten Mist warm
gehaltene Kaffeekanne sich befindet, bilden meist die vollständige
Möbliruug des Wohnzimmers. In neuerer Zeit findet man
auch wohl eine acht Tage laug gehende amerikanische Wand-
uhr, die aber selten länger als ein Jahr branchbar ist.
Seine Zeit theilt der Farmer sich besser auf andere Weife
ein. Lange bevor ihm der überall rege kaufmännische Geist
eine Uhr verschaffen konnte, hat er gelernt, nach dem Stande
der Sonne die Tageszeit festzustellen — und diese Messung
ist stets richtiger als die durch die Uhr gewonnene. Auf
einem Fensterbrett liegen eine alte zerlesene holländische Bibel
vom Jahre 1637, mehrere Psalmenbücher, ein Kalender vom
letzten Jahre, die Verhandlungen der Synode von Dortrecht,
und verschiedene alte holländische religiöse Werke, die alle
wunderbare Titel führen, wie „Die Trompete der Ewig-
feit", „DerDonn erschlag der Gottlosen", „Der wun-
derbare Balsam von Bethlehem" u. s. w. Von Schrift-
stellern find besonders zwei Namen, Thomas a Brakel und
Smytegeld, sehr beliebt, und es ist in der That erstaunlich,
wie uud wo man immer noch in Holland alle die alten
Bücher aus dem Ende des 17. oder dem Anfang des 18.
Jahrhunderts auftreibt; denn diefe allein sind noch orthodox
calvinistisch. Alle neueren Theologen, die nach oder zur Zeit
der französischen Revolution geschrieben haben, sind bereits
vom Geist der Neuerung angeweht uud unbrauchbar für den
starrsten aller calvinistischen Puritaner — den holländischen
Boer oder Farmer vom Oranjeflusse.
Im Schlafzimmer stehen zwei doppelte hölzerne Bett-
stellen. Es sind in der Regel einfache, auf vier Füßen rn-
hende Holzrahmen, die mit ledernen Riemen verbunden sind
und auf denen meist nur ein fehr dünnes Federbett liegt,
durch das man stets die ziemlich harten Riemen fühlt. In
manchen Farmen haben diese alten Bettstellen aber schon
modernen englischen aus Eisen Platz gemacht. Das eine
derselben dient den Eltern, das andere ist für den verheira-
theten Sohn oder Schwiegersohn bestimmt. Die unverheira-
theten Kinder schlafen auf der Erde. In der Ecke stehen
238 Ludwig Hollaender: \
zwei Wagenkisten, die alle Kleider und Wäsche der Familie
enthalten, und vor einem Fenster vielleicht noch eine nmge-
kehrte leere hölzerne Kiste mit einem kleinen Spiegel. An
den Wänden hängen mehrere geladene Gewehre, einige Pulver-
höruer, lederne Kugelfäckcheu und mitunter einige Antilopen-
geweihe.
Dies ist das Wohnhaus. Natürlich sind während der
letzten Jahre dem Oraujeflufse entlang auch schon bessere
Häuser entstanden, die mit mehr Comfort eingerichtet und
ausgestattet sind, aber selten befindet sich in einem solchen
der wirkliche Boer vom alten Schlage so wohl wie in dem
Hause, iu welchem er selbst ausgewachsen ist. Und nun gar
der verstockte Puritaner, zumal der, welcher aus seiner Kirche
ausgetreten, weil die Synode des Caplandes anch Gesänge
in die Liturgie eingeführt hat, würde jede Verbesserung in
seinem Hause als die größte Sünde gegen Gott betrachten.
Die Blumen auf den Tapeten, oder gar die paar elenden
Holzschnitte an den Wänden würden seine Betrachtungen viel
zu sehr auf weltliche Dinge lenken. Außerdem haben seine
Eltern alles dieses nicht gehabt. So wie sein Bater und
Großvater trägt er sein Haar nach vorn über gekämmt nnd
dicht vor den Augen abgeschnitten, das Gesicht glatt rasirt,
wodurch die ganze Physiognomie einen eigenen dumm-ver-
schmitzten Ausdruck erhält — eine kurze Jacke, iu deren Sei-
tentaschen seine Hände steif aufstehen, und weite Hosen, die
aber nur bis an die Knöchel reichen und die nackten, in den
ungeschwärzten, selbstgesertigten Schuhen steckenden Füße
sehen lassen.
Ein breitkrämpiger, aber vollständig steifer gelblich-grauer
Hut, der stets mit einem schwarzen Flor umgeben ist, da der
Farmer immer um irgend einen Verwandten trauert, und
der mehr nach dem Hinterkopf hin gesetzt wird, vervollstän-
digt die Bekleidung. In derselben schläft er, empfängt er
seine Gäste, besucht er die Kirche, genießt er das heilige
Abendmahl; mit einem Worte, diese Kleidung nmgiebt ihn
bei Tag und bei Nacht. Nur wenn ihm ein Ehrenposten in
der Kirche übertragen ist, z. B. wenn er Kirchenrath gewor-
den ist, wohin einzig und allein sein höchster Ehrgeiz strebt,
verwechselt er zum Kirchgang die Jacke und die hellen Ho-
sen mit einem antediluvianischen Frack und schwarzen Bein-
kleidern, aber die Füße bleiben schmutzig und nackt in den
ungeschwärzten Schuhen. Unentbehrlich ist dem Farmer ser-
ner eine kleine Pfeife, deren Kopf aus einer weit im Innern
des Landes — am Magaliesberge — liegenden weichen
Steinart geschnitten ist. Denn Rauchen bildet, nebst Argn-
mentationen aus der Bibel, die Hauptbeschäftigung des Tages.
Die Boerfran hat, obgleich weniger in der Bibel belesen
als ihr Mann, noch weit strengere Begriffe von Religiosität.
Während es in Südafrika Gebrauch ist, beim Hineintreten
in ein Zimmer jedem darin Sitzenden die Hand zu reichen,
entzieht die orthodoxe Farmersfrau die ihrige jedem Manne.
Es gilt ihr für die größte Sünde, einem andern Menschen
als ihrem Gatten die Hand zu reichen. Ihre Kleidung ist
ungefähr die unserer barmherzigen Schwestern, nur daß Klei-
der und Wäsche nicht so reinlich sind und statt der Haube
eine steife schwarze Kappe, nach Art der Helgolttnder Hüte,
die weit über das Gesicht herüberreicht, den Kopf, den mei-
stens ungekämmten, bedeckt. Gegen Beinkleider, zum Schutz
gegen Kälte, wie sie andere Damen tragen, hat sie ebenfalls
eine religiöse Antipathie, denn in der Bibel steht es irgend-
wo: „die Frau soll nicht tragen die Tracht eines Mannes."
Dagegen führt sie, trotz des Verbotes von Paulus, des ein-
zigen Apostels, den sie vielfach liest, um so mehr das Wort
in kirchlichen Angelegenheiten. Das alte Testament und zu-
mal die fünf Bücher Mosis bleiben und sind die Haupt-
lectüre im ganzen Hause. Moses und die Altväter Abraham,
rmleben am Oranjeflusse.
Isaak und Jakob sind die Vorbilder, denen sie nachzueifern
und die sie nachzuahmen sich bemühen, und stets schwärmen
sie davon, wie herrlich es wäre, wenn das Gesetz von Moses
überhaupt eingeführt würde. Das Leben der Altväter ist
ihnen schon deshalb um so geläufiger und verständlicher, weil
ihr eigenes Leben, was die Viehzucht, das Nomadenleben, die
dürren und trockenen Zeiten, die in Südafrika regelmäßig
wiederkehren, anbetrifft, mit dem in der Bibel geschilderten
vielfache Analogien hat. Daher kommt es wohl auch, daß
sehr Viele es bedauern, selbst keine Juden mehr zu sein und
nicht mehr, wie sie selbst es ausdrücken, dem glückseligen Ge-
schlechte, dem von Gott auserkorenen Volke anzugehören.
Ueber die modernen Juden haben sie nicht die geringste Vor-
stellung. Wie überall in den außereuropäischen Ländern
und überall da, wo überhaupt nur eines Weißen Fuß hm-
gekommen ist, befinden sich auch in Südafrika viele und be-
sonders deutsche Juden, die sich durch unternehmenden Han-
delsgeist und durch Intelligenz einen sehr guten Namen er-
worben haben; nnd so halten denn viele Bauern jeden Deut-
schen selber für einen Juden. Beim Confirmandenunterricht
fragte erst kürzlich ein Pastor mehrere junge Menschen, welche
Sprache die alten Juden gesprochen hätten, worauf diese ganz
ernst erwiderten: „die (duitsche taal) deutsche Sprache!"
Der Boer, trüge zur Arbeit, ist auch zu indolent, um
starke Empfindungen zu hegen. Intoleranz in religiösen Din-
gen ist ihm vollständig unbekannt, aber er hat ein geheimes
Grauen vor der römisch-katholischen Kirche. Der Papst ist
ihm gleichbedeutend mit Teufel, an dessen persönliche Existenz
er fest nach den starren Satzungen seiner Kirche glaubt, und
ein Katholik ist ihm so viel wie ein götzendienerischer Amale-
kite oder Moabite, da er anstatt zu Gott zur Mutter Maria
und zu allen Heiligen bete. Wahrscheinlich haben zu allen
diesen Anschauungen die von den Vorsahren ererbten dunkeln
Überlieferungen Veranlassung gegeben, da dem Boer selber
die einfachsten historischen Kenntnisse, ja selbst die der Re-
formation abgehen. Aber trotzdem wird er selbst einen katho-
tischen Priester, wenn dieser einmal sein Haus betreten, mit
aller Gastlichkeit, die ihm eigen ist, empfangen und ihm so-
fort die gebräuchliche Tasse Kaffee vorsetzen lassen, obwohl er
ihm einen Stuhl so sern wie möglich von seiner Frau und
sich selbst anweisen wird.
Zur bessern Beaufsichtigung stehen gegenüber dem Hause
oder zuweilen auch hinter demselben die Kraale. Es sind
dies viereckige, mit vier Fuß hohen Mauern umgebene Plätze,
wohiuein des Nachts Ochsen, Pserde und Schafe getrieben
werden. Die Mauern bestehen jedoch nicht ans regelrecht
übereinandergelegten und mit Mörtel verbundenen Steinen
sondern sie werden einfach dadurch hergestellt, daß man irgend
welche beliebigen Steine, und Steine giebt es genug in Süd-
afrika, rund oder eckig ohne jegliches Bindemittel einen über
den andern setzt. Schöne große Kraale, mit hohen Mauern
umgeben, um die im Winter zuweilen etwas kalte Nachtlnft
von den Thieren abzuhalten, sind der höchste Stolz des Far-
mers. Hierhin führt er zuerst den Fremden, der ihn besucht.
Es ist das Einzige, was er zu zeigen hat. Was kümmern
ihn die etwaigen schönen Fernsichten oder Ansichten, die wnn-
derbaren Fossilien, die sich auf fast allen Farmen in der
Nähe des Oranjeflnsses finden, — sein schönstes Bild ist der
Kraal mit seinen Bewohnern. Nächst den Gesprächen über
die Bibel und das Abendmahl bildet ein feinwolliges Merino-
schas spanischer oder französischer Race, eine gute milchgebende
Kuh, ein starker Ochs, ein gelehriges Pferd seine Haupt-
Unterhaltung. Doch find die Merinoschafe noch nicht lange,
höchstens seit 20 Jahren, eingebürgert. Lange und harte
Kämpfe hat es gekostet, ehe die Boerfrau zugab, daß ihr
Mann die thenren Merinoböcke unter die eingeborenen cap-
Ludwig Hollaender:
ländischen Schafe, die zwar statt der Wolle nur Haare, da-
für aber einen um so breitern, oft 20 Pfund wiegenden
Fettschwanz besitzen, laufen lassen durfte. Den Weibern lag
mehr an dem Verluste des Fettes als an dem durch die feine
Wolle zu erlangenden Gewinne. Freilich waren damals die
Bedürfnisse der Boers noch nicht so bedeutend als jetzt, da
sie in selbstgefertigten ledernen Jacken und Hosen gingen, und
in ihrer nächsten Nähe gab es noch nicht so viele Städte,
in denen alles Mögliche, Brauchbares und Unbrauchbares,
dem unerfahrenen Boer zum Ankauf aufgedrungen wird.
Aber die Kraale sind nicht allein Ställe sür des Farmers
Vieh, sie sind die Werkstätten, in denen sein Feueruugs-
Material bereitet wird. Wenn in dem Ochsenkraale der Mist
bereits 2 bis 3 Fuß hoch steht, dann werden einige Nächte
lang, kurz ehe der Winter beginnt, oder wenn es einmal
einige Tage geregnet hat, Schafe hineingetrieben, um den
weichgewordenen Dünger zusammenzutreten und zu kneten.
Nachdem dies geschehen, werden von den Kaffirn viereckige
Stücke mit einem Grabscheit herausgeschnitten und diese zum
Trocknen an die Sonne gelegt. Dieser so zubereitete Mist
giebt ein vorzügliches Feuerungsmaterial, sehr ähnlich dem
Torse, den wir bei uns brennen, wenn auch zuweilen der
nicht ganz trocken gewordene Dünger beim Brennen ganz
merkwürdige Gerüche verbreitet und die aus ossenem Herde
gebratenen Cotelettes einen eigenthümlichen, wenn auch für
manche Personen höchst pikanten Geschmack annehmen.
Zur anderen Seite des Hauses und zwar so gelegen,
daß man das durch einen nahe gelegenen Damm aufgefangene
Wasser, oder das kleine Flüßchen, in dessen Nähe das Haus
gebaut ist, dahin zur Berieselung leiten kann, liegt der söge-
nannte Garten. Er enthält etwa 3 Morgen bebauten Landes,
einige schlecht gepflegte Pfirsichbäume, einige junge Maulbeer-
bäume nebst einigen hundert Weinstöcken, die vorzügliche
Trauben liefern. Apfel- und Birnbäume giebt es wenig,
und deren Früchte haben keineswegs den angenehmen aroma-
tischen und saftigen Geschmack wie in Europa. Auf älteren
Farmen sieht man jedoch große schöne Maulbeerbäume und
andere Baumsorten, aber auch der Sinn für Garten- und
BanmcnltNr scheint dem jüngern Geschlecht ganz verloren zu
gehen. Das bischen Gemüse, Kohl, Selleriesträuche (die
gelbe Wurzel gedeiht nicht), Melonen, Gurken, — was Alles
mühsam gezogen wird, muß in der Regel zum Verkauf in
die nächste Stadt wandern, wo es meist vollständig verwelkt
und vertrocknet ankommt. Der Farmer selbst ißt nur Wasser-
melonen, eine abscheuliche geschmacklose große Gurke, und die
sich den ganzen Winter über gut conservirenden fad-süßlichen
Pampuna, eine dem Kürbis ähnliche Frucht, die ein Gewicht
von 80 bis 100 Pfund erreicht.
Hinter dem Garten stehen einige Strohhütten, von faulen
Kaffirn und deren Hunden oder schmutzigen _ und nichts-
nutzigen Hottentoten bewohnt, der unvermeidlichen Diener-
schaft in Südafrika. Die Kaffirn kommen entweder aus
dem Bassutolaude*), oder sind Fingoe-Kasfirn, eng-
lische Unterthanen und die eigentlichen Heloten der Kaffirn,
von denen sie früher unterjocht und als Sklaven behandelt
wurden, ehe die englische Regierung sich ihrer annahm und
ihnen Wohnsitze im Tambukielande, zwischen der Colonie des
Caps der guten Hoffnung und Natal gelegen, anwies. Sie
sind meist gelehrig, wenn auch ohne den stolzen Sinn ihrer
früheren Herrscher, der Kaffirn. Bon letzteren unterscheiden
sie sich zwar nicht durch Farbe oder Gesichtsausdruck, wohl
aber durch geringere Körperstärke, schwttchern Knochenbau
und schlaffe Musculatnr. Außerdem find sie dadurch leichter
") Siehe Märzheft 1866 der Jllustrirten deutschen Monatshefte,
Artikel: Aus dem Baffutolande. Von L. Hollaender.
irmleben anl Oranjeflusse. 239
kenntlich, daß ihnen Allen der linke obere Augenzahn
fehlt, der allen Kindern bald nach dem Zahnwechsel mit
einem Stein herausgeschlagen wird, und durch ein Loch im
linken Ohrläppchen. Circumcisiou wird bei ihnen nicht
verrichtet.
Der Hotten tote ist das eigentliche enfant perdu von
Südafrika. Aus der Reihe der selbständigen Nationalitäten
ist er längst, Dank der frühern holländischen Regierung, ge-
schieden. Eine Hottentotensprache existirt hier nicht mehr;
feine Umgangssprache ist das gemeinste Holländisch mit ver-
schiedenen Kassirwörtern vermengt. Von Natur klein, von
gelblich aschgrauer Farbe, mit schies-geschlitzten Augen, platter
Nase, sehr niedlichen Händen und Füßen und einem beim
weiblichen Geschlecht besonders sehr stark ausgebildeten Fett-
Polster rings um die Hüften, ist er für gewiffe Dinge außer-
ordentlich brauchbar. Er weiß besonders gut mit Pferden
umzugehen und mit bewunderungswürdiger Schärfe die Spur
eines verirrten Ochsen oder Pferdes oder eines vorbeigelau-
fenen Wildes zu verfolgen. Der Boden mag noch fo hart
oder felsig sein, daß kein Abdruck des Fußes oder Hufes für
einen Europäer sichtbar werden kann, das Gras mag so
sparsam oder so dicht wie möglich stehen, der Hottentote
kommt niemals von der einmal ins Auge gefaßten Fährte
ab. Ein umgerolltes Steinchen, ein zerknickter Halm ist oft
das einzige Zeichen und genügt für ihn, um sofort angeben
zu können, von welchem Thiere die gefundene Spur herrühre
und nach welcher Richtung es feinen Lauf genommen. Er
ist in der Regel auch ein treuer Diener, der jahrelang bei
einem Herrn aushält, wenn ihm nur zeitweise die uöthige
Tracht Prügel, denn ohne diese hat er vor seinem Herrn
keinen Respect, verabreicht wird. Doch wird er vollständig
unbrauchbar, sobald er Gelegenheit hat, sich zu betrinken.
Ein Glas Cognac oder Branntwein muß ihm zwar sein Herr
jeden Morgen als Anregungsmittel zur Arbeit geben, aber
vollständig unlenksam wird er, sobald größere Quantitäten
in seine Hände gelangt sind. Alle Leidenschaften werden dann
in ihm erweckt, und Mord und Todtfchlag enden gewöhnlich
die erst zwar ziemlich heitere, aber späterhin ekelhast werdende
Scene, deren Beschreibung wir lieber unterlassen.
Der Hottentote erreicht selten ein hohes Alter. Syphilis,
Skrophulose und Tuberkulose, nicht minder der bei ihm sehr
häufige Aussatz rafft ihn in der Regel vor dem 30. Lebens-
jähre hinweg. Seine Kleiduug besteht in den abgelegten
Fetzen des Herrn, die der Hottentotin in denen ihrer Herrin.
Auch hier übt die Crinoline ihre unbedingte Herrfchaft aus.
Obgleich die Boersfrau diese elegante moderne Garderobe
vollständig ignorirt, so weiß die Hottentotin sie sich dennoch
zu verschaffen, wenn sie sie auch meist über den einzigen
zerfetzten Unterrock, den sie besitzt, anlegt, und die zerbrochenen
stählernen Spangen durch eiferne, einem alten Weinfasse
entlehnte Reifen oder grüne Weidenruthen ersetzt. Ein
Hottentotenweib altert entsetzlich schnell. Mit 25 Iahren
bedecken bereits dichte Runzeln das ganze Gesicht, das dann
mit rother. Erde und schwarzer Kohle täglich srisch bemalt
wird. Ihr Haupthaar ist ebenso wollig wie das des Kassirs,
nur daß es viel dünner aus dem gelblichglänzenden Scheitel
steht. Im Uebrigen ist der Hottentot von Natur ziemlich
gutartig und gutmüthig und weiß besonders gut mit Kindern
umzugehen, die sich in der Regel sehr zu ihm hingezogen
fühlen, wenn sie auch von ihm all den ekelhaften animalischen
Unrath, Ungeziefer u. f. w., mit dem jener behaftet ist, über-
tragen bekommen. Denn der Hottentot wäscht sich höchst
selten und dicke Schmutzflecken bedecken in großen Ringen
das Gesicht nicht minder wie den ganzen Körper. Er hat
wie alle eingeborenen afrikanischen Völkerschaften viel Nei-
guug und Talent zur Musik und ist manchmal ein schwär-
240 Die Sklaverei
merischer Fiedelspieler, wobei der Geschmack allerdings ziemlich
kindlich ist. Eine einzige Melodie kann eine ganze der-
artige Gesellschaft die ganze Nacht hindurch in der heitersten
Stimmung erhalten.
Was von dem heimtückischen Charakter und mordlustigeu
Neigungen der Hottentoten in früherer Zeit oder vielleicht
jetzt noch erzählt wird, gehört in das Gebiet der Fabel.
Wahrscheinlich haben Reisende sie mit den Buschmännern
in Brasilien.
verwechselt. Aber diese finden wir an den Ufern des Oranje-
flnsses längst nicht mehr. Mitunter trifft man noch auf
ganz von der Hauptstraße abgelegener Farm irgend ein dem
Pavian ähnliches, altes, rnnzliches Geschöpf mit dickem
Kopfe und dickem Halse, sonst aber einem Hottentoten sehr
ähnlich, das einem als ein alter Buschmann vorgeführt wird,
aber im Allgemeinen sind sie in dieser Gegend gänzlich aus-
gestorben oder weggehetzt und todtgeschossen worden.
Ate Sklaverei
Es unterliegt keinem Zweifel, daß binnen hier und einem
Menschenalter die Negersklaverei auch in Brasilien ansge-
hört haben wird. Man macht sich allmälig mit dem Ge-
danken an das Unvermeidliche vertraut uud sucht nach Ueber-
gäugeu. Es ist zu wünschen, daß diese so wenig schroff als
möglich seien und daß es gelinge, für die Provinzen, welche
Plantagenbau und tropische Prodncte haben, den nothwendi-
gen Ersatz an Arbeitskräften herbeizuschaffen. Eine Ein-
Wanderung weißer Feldarbeiter kann dort gar nicht in Frage
kommen; man wird also wohl Asiaten holen müssen, weil die
Erfahrung lehrt, daß auf die freien Neger für anhaltende
und regelmäßige Arbeit nicht gerechnet werden kann.
Im vorigen Sommer hat der Kaiser von Brasilien meh-
reren Hundert Staatssklaven die Freiheit gegeben. Enropäi-
sche, namentlich auch deutsche Zeitungen, priesen das als eine
großmüthige, edle That und knüpften daran allerlei salbnngs-
volle Betrachtungen. Nun ist der Kaiser von Brasilien ganz
gewiß ein ausgezeichneter Mann uud vortrefflicher Mensch,
und wir hegen vor ihm aufrichtige Hochachtung; jene Eman-
cipation einer Anzahl von Staatssklaven hatte jedoch mit
philanthropischen Beweggründen nichts zu schaffen. Die
Freigebung erfolgte nämlich unter der Bedingung, daß jene
Neger sofort in die brasilianische Armee eintreten müßten,
um die im Kriege gegen Paraguay stark gelichteten Reihen
derselben füllen zu helfen. Unter denselben Verhältnissen
haben auch manche Privatleute einen oder ein paar Sklaven
freigegeben.
Burmeister hat in seiner Reise in Brasilien und in
der vortrefflichen Abhandlung „über den schwärzen Men-
schert" die Neger und ihre Stellung in dem ausgedehnten
Kaiserreiche eingehend geschildert; er beobachtete als Natur-
forscher und sprach unumwunden aus, was er für wahr und
richtig hielt, ohne sich um europäische Vorurtheile sonderlich
zu kümmern. Ein Gleiches ist der Fall mit I. I. von
Tschndi, welcher in den bis jetzt erschienenen zwei Bänden sei-
ner Reisen durch Südamerika den wichtigen Gegenstand mehr-
fach in Betrachtung zieht. Es ist von Interesse, die Aus-
spräche eines solchen Mannes zu kennen, uud es verlohnt
sich schon der Aufklärung wegen, daß wir sie den Lesern des
„Globus" nicht vorenthalten.
In der Provinz Minas, von welcher zunächst die Rede
ist, werden die Sklaven von den meisten Fazendeiros (Guts-
besitzern) schlecht behandelt. Diese sind aber nicht etwa alle-
sammt weiße Leute, sondern zu nicht geringem Theil Misch-
linge. Ueber das Verhältniß zwischen Herrn und Sklaven
spricht sich unser Gewährsmann in folgender Weise aus.
„Wer in Europa gezwungen ist, viele Dienstboten zu
halten, z. B. der Landwirth, und dabei tausendfache Gelegen-
heit hat, sich über Dummheit, Faulheit, Liederlichkeit, Wider-
setzlichkeit, Trunksucht, Unreinlichkeit, bösen Willen, Dieb-
in Irasitien.
stahl :c. dieses Dienstpersonals freier Leute zu ärgern-, und
körperliche Züchtigungen, oft das einzige Mittel, um sich vor
größerm Schaden zu bewahren, nicht anwenden darf, weil
die Gesetze es verbieten, der wird sicherlich begreifen, daß ge-
gen Sklaven, unfreie Menschen auf einer sehr tiefen Bil-
dnngsstnfe, die alle Fehler schlechter europäischer Dienstboten
im höchsten Grade in sich vereinigen und jedes Geschäft nur
gezwungen verrichten, Strenge das unumgänglich nöthige
Mittel ist, um Arbeit zu erzielen. Sie artet aber häufig iu
Härte und diese in unmenschliche Mißhandlung aus.
„Man kann sich oft eines Lächelns über europäischePhi-
lanthropen kaum erwehren, wenn sie ein Zetergeschrei über
schlechte Behandlung der Sklaven erheben, obgleich sie
auch nicht die geringste Idee vom Charakter und
Naturell der Neger haben, und vielleicht keinen andern
gesehen haben als jenen, der in Rass's unvergeßlicher Natur-
geschichte Kaffeebohnen pflückt. Gleichwohl verlangen diese
Philanthropen in ihrem kleinen häuslichen Kreise oft das
Unglaubliche von ihren Dienstboten; sie schlagen dieselben
zwar nicht, weil sie sonst Strafe zahlen müßten, aber fie wol-
len jeden ihnen zu zahlenden Groschen Lohn durch doppelte
Arbeiten aus ihnen herauspressen. Diese Philanthropen sehen
es ruhig mit an und es erscheint ihnen ganz sachgemäß, daß
Tansende von Fabrikarbeitern bei übermäßiger Austrat-
gung physisch und moralisch dahinsiechen, und finden es am
Ende auch ganz in der Ordnung, wenn ein armer Soldat
wegen eines Insubordinationsfehlers zu lebenslänglicher Ket-
tenstrafe verurtheilt wird."
„Strenge Behandlung der Sklaven habe ich immer be-
greiflich gefunden und entschuldigt, denn sie ist nothwendig;
Mißhandlungen habe ich stets verdammt. Sklaverei ist ein
Fluch für jedes Land, in dem sie ttoch besteht. Abgesehen
von allen ihren schrecklichen Rückwirkungen aus Moral uud
ihren traurigen Einfluß auf die organische EntWickelung der
Nation bedingt sie einen ununterbrochenen, vernichtenden
Racenkampf, in welchem bald der Sklav, bald der Herr-
aggressiv vorgeht und bald der eine, bald der andere unter-
liegt. _ Mit großartigen Erfolgen für die Sklaven hat er
nur einmal und zwar auf St. Domingo geendet; partielle
Aufstände sind in Nordamerika wie in Westindien und Bra-
silien jedesmal und mit großem Verlust an Menschenleben
zum Nachtheil der schwarzen Race ausgefallen. Als traurige
Folge solcher Befreiungsversuche ist immer eine härtere Be-
Handlung der Sklaven eingetreten, die weit mehr Opfer for-
derte _ als der offene Aufstand. Am häufigsten nimmt der
Vernichtungskrieg den Charakter des Einzelkampses an. Es
ist nicht die ganze Sklavenbevölkerung eines Staates, es sind
nicht die sämmtlichen Neger eines Districts oder einer Plan-
tage, welche auf den Kampfplatz treten, es ist der einzelne
Sklave gegen seinen Herrn. Seine Waffen sind Gift
Die Sklaver
oder eine aus dem Hinterhalte geschossene Kugel. Gegen
diese Angriffe ist der harte Sklavenhalter nie gesichert, aber
sein Mißtrauen macht ihn nur noch harter."
Der Rachetrieb der Sklaven bleibt selten in der engge-
zogenen Grenze des Hasses gegen den Unterdrücker, er erstreckt
sich weiter aus unschuldige Opfer und wird dann erst zum
wahren Racenkampfe. Hier nur ein Beispiel.
Herr S., ein Deutscher in Rio Janeiro, hatte eine sechs-
zehnjährige Negerin als Köchin gemiethet und sie vortrefflich
gehalten. Sie war erst wenige Wochen in feinem Hause,
als eins seiner Kinder, ein kleines Mädchen, unter heftigem
Erbrechen erkrankte, wie man glaubte, iu Folge einer Indi-
gestton. Am folgenden Tage überraschte die Frau des Hau-
ses die Negerin in dem Augenblicke, als diese eine Handvoll
Grünspan iu die zum Mittagessen bestimmten schwarzen
Bohnen warf. Sie wurde fogleich verhaftet und gestand auch
unverhohlen: sie sei zwar in dem Hause zufrieden und gut
gehalten, aber ihre alte Muhme habe ihr gesagt, alle Wei-
ßeu müßten sterben; sie solle die Familie vergiften, und
Tags vorher habe sie an „dem kleinen weißen Schnabel"
probirt, ob das Gist wirke.
Vor einer Reihe von Jahren ging eine Fazenda, die
früher dem Könige gehört hatte, durch Verkauf in Privat-
besitz über. Der neue Besitzer, ein durchaus sanfter und
menschlicher Mann, hatte feine Neger bloß im äußersten
Nothfalle uud auch dann nur sehr mäßig strafen lassen. Den-
noch vergifteten sie sich, wahrscheinlich ans Aerger, daß
sie verkauft worden waren. (Die Neger auf königlichen Land-
gütern hießen Negros d'ElRei; sie waren, so lange die por-
tugiesische Königsfamilie in Brasilien regierte, niemals ver-
kauft worden; nach der Unabhängigkeit aber ließ sie ihrePri-
vatgüter veräußern.)
Eine ausgezeichnete Negerin, Namens Antonina, war
Liebling einer Familie. Obgleich man die Gattin des Guts-
besitzers wiederholt darauf aufmerksam gemacht hatte, wie ge-
fährlich die Sklavin sei, nahm sie das Mädchen doch immer
in Schutz, bis sie dieselbe dabei überraschte, daß sie ein Gist-
pnlver in den für die Herrin bestimmten Kaffee schüttete.
Die Negerin wurde nicht bestraft, fondern nach Rio und von
dort nach Rio grande do Snl verkauft. Die Aufführung
Antoninas war aber dort der Art, daß sie bald daraus wie-
der nach Rio verkauft wurde. Hier kam sie in den Besitz
eines Portugiesen, der ihr die Freiheit und einen Theil
seines Vermögens schenkte und sie als Maitresse hielt. Nach
kurzer Zeit starb er, höchst wahrscheinlich anch vergiftet. Als
Thatsache steht fest, daß die Zahl der durch Neger vergifte-
teu Weißen alljährlich eine sehr hohe ist, aber noch ungleich
höher beläuft sich die Zahl der von ihren Herren getödteten
Sklaven.
Der Vernichtungskampf nimmt einen höchst eigenthüm-
lichen Charakter noch dadurch an, daß nicht felten die Skla-
ven durch ihren eigenen freiwilligen Untergang ihren
Herrn pecuuiär zu Grunde zu richten suchen, was für viele
der letzteren weit schrecklicher ist, als ein plötzlicher Tod durch
Kugel oder Gist. Der Sklave weiß, daß er einen sehr hohen
Geldwerth repräsentirt, daß ohne seine Arbeit der Fazendeiro
nicht bestehen kann und durch deu Verlust seiner Arbeits-
kräfte rninirt ist. Deshalb fassen manchmal die Sklaven
einer Fazenda den Entschluß, sich selbst zu vergiften und
führen ihn mit dem größten Stoicismus aus. Sie benutzen
zu dieser schauerlichen Exemtion die Abkochung oder das Pul-
ver der Wurzel einer Liane, des Timbo arvore oder Timbo
boticario. Man hat behauptet, daß diese Pflanze von den
Negern aus Afrika mitgebracht nnd in die brasilianischen
Wälder versetzt worden sei. Man will auch diesen Timbo
immer nur in der Nähe von Plantagen, nie in den entsern-
Globus XI. Nr. 8.
in Brasilien. 241
teren Urwäldern gefnnden haben. Ich kann die Richtigkeit
dieser Angaben nicht verbürgen.
Seltener wählen die Neger den Tod durch Erhängen oder
Ersäufen; von Selbstentleibuug durch Schießgewehr sind mir
keine Beispiele bekannt geworden.
Im Juni 1861 besuchte mich in Rio de Janeiro ein
befreundeter Gutsbesitzer aus der Provinz S. Paulo. Als
ich mich nach einem andern Fazendeiro erkundigte, den wir
im Jahre vorher auf seiner schönen Besitzung besucht hatten,
lautete die Antwort: der arme Mann ist wahnsinnig gewor-
den. Folgende Thatsache ist charakteristisch. Mehrere Tage
nach einander kam während der Messe vor die Kirche der
Pfarre, zu welcher die Fazenda gehörte, ein mit Ochsen be-
spannter, von einigen Sklaven begleiteter Wagen, auf wel-
chem drei bis vier Negerleichen lagen, die beerdigt werden
sollten. Der Geistliche, erstaunt und erschrocken über bie
stets wachsende Zahl der Todten, fragte, ob ans der Fazenda
irgend eine ansteckende Krankheit herrsche. O nein, Herr,
erwiederte einer der Sklaven, wir sind alle gesund, aber, —
so fügte er mit einem verschmitzten Lächeln hinzu, — heute
bringen wir die da, — auf die Todten zeigend, — mor-
gen werden andere uns bringen. Und so geschah es.
Am andern Tage war der Ochsenkarren mit den Leichen der
Sklaven beladen, die Tags vorher ihre todten Kameraden
hergebracht hatten, und so dauerte der Turnus, bis fast alle
Neger der Fazeuda, einige und achtzig an derZahl, neben
einander auf dem Leichenacker rnheten. Sie hatten sich fel-
ber vergiftet. Noch ehe die letzten auf den verhäugnißvolleu
Wageu geworfen wurden, war ihr Herr dem Wahnsinn ver-
fallen; er hatte von Tage zu Tage seinen sichern Ruin näher
rücken sehen. Das war Negerrache! Der unglückliche Mann
hatte seine Neger immer durchaus milde behandelt nnd sehr
gut gehalten. Man hat wiederholt beobachtet, daß eine der-
artige Selbstvernichtuug gerade auf solchen Gütern vorkommt,
auf welchen die Sklaven durchaus human behandelt werden.
Man glaubt die auffallende Erscheinung durch die Annahme
erklären zu können, daß sämmtliche Neger einer Fazenda
durch Überredungskunst eines Einzelnen, der wahrscheinlich
eine hervorragende Stellung als Zauberer oder Priester
(Quiombo) einnimmt, zu einem so excentrischen Schritte be-
wogen werden; — daß dabei nicht gerade Rachsucht speciell
gegen die Person ihres Herrn zu Grunde liege, sondern all-
gemeiner Racenhaß. Solche tragische Fälle seien nicht
Folge einer etwaigen schlechten Behandlung, sondern abhän-
gig von der Anwesenheit eines fanatischen Zauberers. Em
solcher übt bekanntlich eine außerordentliche moralische Macht
ans die übrigen Neger.
Doch giebt es noch eine andere Erklärung. Unter den
Sklaven befinden sich solche, die von königlichem Geblüte
sind, nnd oft wissen die Fazendeiros nicht einmal, daß sie
einen Prinzensklaven besitzen. Trifft es sich nun, daß der
größte Theil der Neger aus einer Plantage dem Stamm
angehört, ans welchem ein Prinz sich unter ihnen befindet,
dann sollen sich bei dessen Ableben die übrigen freiwillig den
Tod geben, um ihm zu folgen. — Das wäre allerdings in
urafrikanischem Sinne gehandelt, Herr von Tschndi hält in-
deß die erstere Erklärung für richtiger.
In Brasilien, uud wahrscheinlich in diesem Lande allein,
kommt es vor, daß ein Gutsbesitzer die Sklaven eines andern
ans Haß oder Rache vergiftet. Unser Gewährsmann betont,
daß ihm mehrere verbürgte Beispiele dieses niederträchtigsten
aller Meuchelmorde bekannt seien. In einem solchen Falle
läßt der Fazendeiro durch einen seiner vertrauten Sklaven
Freundschaft mit den Negern seines Gegners schließen; der-
selbe nimmt irgend eine Gelegenheit wahr, denselben in Spei-
sen, Branntwein oder auf irgend eine andere Art Gift zu
31
242 Oswald Heer über die Polarl
reichen. Es ist sehr schwer, diesem Verbrechen aus die Spur
zu kommen, wenn nicht der Thäter an sich selber zum Ver-
räther wird.
In einem Staate mit geordneten Rechtsverhältnissen
könnte ein als Vergifter bekannter Sklave dem Arme der
Gerechtigkeit nicht entzogen werden, aber in Brasilien wird
nur sehr selten ein envenenador dem Gericht übergeben.
Der Fazendeiro hilft sich selbst, indem er den Sklaven ver-
kaust oder ihn todtprügelu, überhaupt umbringen läßt.
Zur Charakteristik der Neger führt Herr von Tschndi
solgende Thatsache an. Ein Geistlicher, Padre Iva« Mar-
ques, besaß im Bezirke Sabara, Provinz Minas, eine beden-
tende Plantage mit etwa 200 Negern. Aus seinem Sterbe-
bette schenkte er ihnen allen die Freiheit und vermachte ihnen
testamentarisch seine ganze Besitzung. Diese wurde in gleiche
Theile parcellirt, damit jeder einzelne Freigelassene sich als
Grundbesitzer eine behäbige Existenz gründen könne. Aber
nach Verlaus von sechs Monaten saßen schon 72
als Verbrecher im Criminalgesängnisse! „Ich gebe
keinen Commentar dazu, uud gönne gern jenen ihr Rai-
sonnement, welche da meinen, der Uebergang von Sklaverei
zur Freiheit sei für Menschen von so geringer Bildung (und
ich füge bei, von so vielen natürlichen schlechten Anlagen)
ein viel zu rascher gewesen, und die darin eine Entschnldi-
gnng(ü) für den Verbrecher finden wollen. Ich meinerseits
glaube nur, daß solche Beispiele der brasilianischen Regierung
der und ihre fossilen Pflanzen.
als außerordentlich wichtige Fingerzeige bei einer früher oder
später unvermeidlichen Sklavenemancipation dienen sollten."
Die Negerkinder werden aus deu Fazeudas sast ohne
Ausnahme sehr gütig und mild behandelt, ja viel zu uachsich-
tig. Herr von Tschndi bemerkt: Während die Kinder der
deutschen Colonisten schon mit 6 bis 7 Jahren ihre El-
tern und älteren Geschwister auf das Feld begleiten und dort
nach besten Kräften mit helfen, genießen die Negerkinder
mit 12 bis 15 Jahren meistens noch fast die volle Frei-
heit des Nichtsthnns. Höchstens wird der eine oder an-
dere kräftige Junge znm Pagendienst herbeigezogen und die
Mädchen werden in der Küche verwendet. Nur wenn ein
Negerbnrsch zur Erlernung eines Handwerks bestimmt wird,
muß er früh in die Lehre treten; die zur Feldarbeit be-
stimmten Neger werden fast bis zu ihrer Mannbarkeit mit
jeder harten Arbeit verschont. Man spart in der Jugeud
ihre Kräfte, um sie später desto besser ausbeuten zu können.
Wir wollen zum Schlüsse bemerken, daß zu Rio Preto,
im Innern der Provinz Minas, Herr von Tschudi 1858
den Mann kennen lernte, welcher den ersten Pflug in
jenen Gegenden eingeführt hatte. Derselbe warPsar-
rer und ein gebildeter Landwirth. Mehrere Gutsbesitzer
waren seinem Beispiele gefolgt; ja binnen Kurzem waren elf,
sage elf Pflüge aus Rio de Janeiro angekommen!
Brasilien wurde 1500 durch die Portugiesen entdeckt; 1858
hatte man schon Pflüge im Innern der Provinz Minas!!
Hswald Keer über die Wlarländer und ihre fossilen Manzen.
Der berühmte Naturforscher, dessen klassisches Werk: „Die
Urwelt der Schweiz" wir im vorigen Jahre angezeigt haben,
wird demnächst eine „Fossile Flora der Polarländer"
(bei Schultheß in Zürich) erscheinen lassen; sie soll eine Be-
schreibung der in Nordgrönland, auf der Melvillehalbinsel,
dem Banksland, am Mackenzie, in Island und auf Spitz-
bergen entdeckten fossilen Pflanzen enthalten. Diese fossile
arktische Flora gewährt ein hohes wissenschaftliches Interesse,
indem sie ein reiches Pflanzenkleid über Länder ausbreitet,
die jetzt großentheils in Schnee und Eis vergraben sind.
Die hochnordische Welt ist in diesen Tagen wieder vielfach
Gegenstand der Erörterung geworden. Wir kennen sie sehr
gründlich; der hohe Norden ist kein verschlossenes Buch mehr,
die Siegel sind gebrochen worden und wir wissen, daß die
Regionen, welche sich um den Nordpol herumlagern, eiue
große Eiswüste bildeu. Allerdings sind über den 82° nörd-
licher Breite nur einige wenige Seefahrer eine kleine Strecke
weit hinausgekommen, und über das, was jenseits derselben
bis zu dem noch unerreichten Pole liegt, kann man nur Hy-
potheseu aufstellen. An diesen hat es denn auch namentlich
während der letztverflossenen Jahre nicht gefehlt. Man nimmt
an und möchte uachweifeu, daß ein großes offenes Polarmeer
anzunehmen sei. Es kommt, vorausgesetzt, daß nicht bloße
offene Waken (wie unsere deutschen Seeleute ganz richtig
solche eisfreien Stellen nennen) vorhanden seien, darauf an,
den Zugang zu einem solchen hypothetischen „Polarocean" ans-
zusuchen. Wenn man dann wirklich einen solchen gesunden hat,
wird es sich darum handeln, wieder einen Ausgang zu suchen,
der ohne Zweifel ebenso problematisch sein wird wie der Ein-
gang. Denn so viel wissen wir, daß der Eisgürtel, welcher
ein solches — nehmen wir einmal an wirklich vorhandenes
— offenes Meer nmgiebt, nicht allezeit sich gleich bleibt und
die Stellen, wo heute offenes Wasser war, schon morgen oder
nach einer Woche durch Eis versperrt sein können.
Man war ziemlich allgemein der Ansicht, daß die Ent-
decknngsreisen nach dem hochnordischen Eismeere mit der Ex-
pedition Mac Clintock's ihren Abschluß gefunden haben wür-
den. Die Polarreisen sind einer langen Epopöe vergleichbar,
welche sich durch volle drei Jahrhunderte hindurchzieht und
überreich an spannenden Handlungen ist. Aber die Forschung
rastete nicht; aus Nordamerika zogen Hall und Hayes in
die arktischen Eiswüsten und die Schweden erforschten Spitz-
bergen. In Deutschland uud England machte das offene
Polarmeer, nachdem es wieder aus das Tapet gebracht wor-
den war, viel von sich reden, und noch immer munkelt man
von Expeditionen dorthin zur Erreichung des Poles. Jetzt
hat auch ein Franzose, Lambert, den Plan zu einer solchen
Expedition gefaßt und facht denselben plausibel zu machen.
Nachdem so viel über das Problem hin und her erörtert wor-
den ist, so viele Stimmen sich für und gegen die Möglichkeit
der Lösung ausgesprochen haben, thun wir unsererseits wohl,
den Verlauf der Dinge abzuwarten.
Diefer arftifchc Oceau ist ein frostiger Gegenstand. Ein
Dichter hat ihn mit den Worten gekennzeichnet: „Das Eis
ist hier, das Eis ist da, das Eis ist allenthalben." Da sind
die lange arktische Nacht, die strenge Kälte, der Schneesturm,
das ost wildbewegte, immer gefährliche Meer. Der wunder-
bare Reiz der hochnordischen Landschaften ist eigenthümlich
und fesselnd, selbst die Fata Morgana zaubert in jenen öden
Wüsteneien eine trügerische Welt herauf. Die Eisberge ge-
währen ohne Zweifel, aus ungefährlicher Ferne gesehen, einen
schönen Anblick, aber immer und immer wieder spielt das Eis
die Hauptrolle. Auch die Erlebnisse der arktischen Seefahrer
und Entdecker gleichen einander sehr, nur daß, nach ziemlich
Oswald Heer über die Polarlc
denselben Gefahren und Erlebnissen, die einen glücklich heim-
kehren und die anderen ein tragisches Ende finden.
Die Polarfahrten begannen um die Mitte des sechzehnten
Jahrhunderts und etwa fünfzig Jahre spater glaubte schon
Jonas Poole eine Fahrt über den Pol hinaus wagen zu
können! Wünschen wir den neueren Bestrebungen einen bes-
sern Erfolg.
Oswald Heer hat iu dem Vortrage über die Polar-
länder, welchen er im December auf dem Rathhause in Zürich
hielt, einen Blick ans die Geschichte der Polarreisen geworfen
und einige spannende Momente ans denselben hervorgehoben,
wie das dem Zwecke des Vortrages angemessen war. Wir
lassen das aber bei Seite, um dem Meister auf ein Gebiet
zn folgen, auf welchem er klassisch und eine Autorität ersten
Ranges ist. Die arktischen Entdecker fanden im hohen Nor-
den eine Menge fossiler Pflanzen; O. Heer hat dieselben
untersucht und beschrieben; er stellt darüber folgende Erörte-
rnngen und Betrachtungen an.
Wir wollen uns diese Pflanzen etwas näher ansehen. Die
reichste Sammlung stammt aus Nord grönland. Hier liegt aus
einem von Gletschern umgebenen Berge, 1080 Fuß über dem
Meere und bei 70° nördl. Breite, ein ganzer vorweltlicher
Wald vergraben. Stämme und Aeste liegen da in Menge und
das rothbraune eisenhaltige Gestein ist mit Blättern ersitllt. Die
erste wichtige Frage, die sich hier ausdrängt, ist: sind diese Pflan-
zen da gewachsen oder aus südlichen Ländern hergeschwemmt wor-
den? Treibholz ist im hohen Norden an manchen Stellen häufig,
aber dieses Holz ist so zerstoßen, daß es in der Regel die Rinde
verloren hat und von aus südlichen Gegenden hergeschwemmten
Blättern ist nirgends eine Spur zu finden. Das versicherten mir
Professor Malmgren, welcher während zweier Sommer die Küsten
Spitzbergens untersucht, und Sir Leop. Mac Clintock, welcher zehn
Sommer und sieben Winter in der Polarzone zugebracht und die
größten Schlittenreisen in derselben gemacht hat. Er schreibt aus
Jamaica, wo er sich gegenwärtig befindet, daß er niemals an
nordischen Küsten aus der Ferne hergeschwemmte Blätter gesehen
habe, da diese einen solchen Transport nicht ertragen würden. In
der That kann Niemand, der die große Masse dieser Blätter und
ihre vortreffliche Erhaltung gesehen hat, daran zweifeln, daß sie
in Grönland müssen gewachsen sein. Das ist um so mehr der
Fall, da ich von mehreren Arten außer den Blättern auch die
Früchte und Samen, ja von einer selbst die Blüthen nachweisen
konnte. Ueberdies theilte uns Capitain Jnglefield, welcher vor
12 Jahren die Fundstätte untersucht hat, mit, daß er daselbst
einen mannsdicken aufrech tst eh enden versteinerten Stamm
gesehen habe. Wir haben also in der That hier die Ueberreste
eines aus dicken Stämmen gebildeten Waldes vor uns, da wo
jetzt kein einziger Baum, kein einziger größerer Strauch mehr zu
finden ist und unermeßliche Gletscher bis in das Meer humus-
reichen !
Neber die Zeit, wann diese Bäume dort gelebt haben, geben
uns die Blätter sicheren Aufschluß. Im Ganzen sind mir bis
jetzt 70 Pflanzenarten aus diesem Walde zugekommen. 18 der-
selben finden wir auch in den Felslagern Mitteleuropas und in
unserm Lande. Bei uns sind dieselben in die Sandsteine ein-
geschlossen, welche unser Hügelland bilden. Also haben diese Baum-
arten zu gleicher Zeit in Nordgrönland gelebt, als unsere Sand-
steinhügel (also der Zürich- und Hütliberg) gebildet wurden. Man
hat dieses Weltalter die Zeit der Molasse oder die miocene
Zeit genannt und weiß aus der Art und Weise, wie diese For-
matten austritt, daß sie unmittelbar der jetzigen Schöpfung vor-
ausgegangen ist und somit einer relativ neuen Zeit angehöre.
Von jenen 70 Arten Nordgrönlands gehören 47 zu den Holz-
gewächsen und 28 müssen Bäume gebildet haben. Unter diesen
bemerken wir 8 Nadelholzarten. Es sind die Föhren, Eiben, Sa-
lisburien und Sequoien vertreten. Der häufigste Baum dieses
Urwaldes war eine Sequoia (8. Langdorfii Br. sp.), welche
einer californischen Art (der 8. sempervirens) täuschend ähnlich
sieht. Man trifft diese in unseren Anlagen, und am Comer-See
wie um Lausanne sieht man große fruchttragende Bäume; in
ihrem Vaterlande aber soll sie bis 200 Fuß hohe Stämme trei-
der und ihre fossilen Pflanzen. 243
ben. Vom Grönländerbaume haben wir nicht nur zahlreiche be-
blätterte Zweige erhalten, sondern auch Fruchrzapsen und Samen,
welche die nahe Verwandtschast dieser Art mit dem lebenden
Baume bezeugen.
Zu diesen Nadelhölzern gesellen sich 20 Arten Laubbäume.
Unter diesen bemerken wir vier Pappelarten, von welchen zwei
über die ganze Polarzone verbreitet waren, indem ich sie auch vom
Mackenzie und aus Spitzbergen gesehen habe. Dazu kommen
Buchen, Haselnuß, Eichen, Platanen, Ulmen, Nußbäume und
Magnolien. Von Buchen und Eichen sind sogar sieben Arten zu
unterscheiden. Von den Buchen ähnelt eine sehr der Buche un-
serer Wälder, während eine zweite Art an den Kastanienbaum
erinnert. Von den vier Eichen hatte eine halb Fuß lange Blät-
ter und eine andere besaß imniergrünes Laub, wie die italieniiche
Eiche. Ueberdies tritt auch ein Kirschbaum mit lederartigen Blät-
tern auf wie die Lorbeerkirsche, und ein lorbeerartiger Baum hatte
prächtige 4/5 Fuß lange Blätter. Sie sehen, es kommt aus die-
sem Felsen der nordischen Eisregion ein Wald zum Vorschein,
der ganz und gar von der jetzigen Vegetation jenes Landes ab-
weicht. Wir müssen jetzt um 20 Breitengrade weiter nach Süden
gehen, um ähnlichen Baumformen zu begegnen. Vergleichen wir
alle Arten mit den ihnen zunächst stehenden lebenden Pflanzen
und prüfen wir die klimatischen Verhältnisse, welche diese zu ihrem
Gedeihen fordern, so werden wir die Ueberzeugung gewinnen, daß
diese fossile Flora Nordgrönlands ein Klinia voraussetze, wie wir
es in unseren Breiten haben. Die Umgebung von Lausanne
dürfte dasselbe am genauesten ausdrücken. Hier wachsen die Se-
quoien zu hohen Bäumen, welche Früchte und Samen reifen, hier
haben wir in den Gärten prachtvolle Schattengänge von hohen
inimergrünen Prunus-Arten, und auch die Pinie und Eypresse,
der Lorbeer- und Granatbaum, die inimergrünen Eichen und Mag-
nolien ertragen hier die Winter. Lausanne hat eine mittlere Iah-
restemperatur von 8,5° C., bei einer Sommertemperatur von 16,6°
und einer Wintertemperatur von 0,6° (§., Morges (1864 und 1865)
eine Jahrestemperatur von 9,4" und Genf von 9,5° C.
Das ist das Klima, welches die fossile Flora von Atane-
kerdluk in Nordgrönland voraussetzt. Gegenwärtig steht dort die
Jahrestemperatur bei 70° nördl. Breite auf — 6,3° C. Der Un-
terschied von Jetzt und Einst beträgt demnach etwa 15 bis 16° E.;
um so viel muß die mittlere Jahrestemperatur in Nordgrönland
höher gestanden haben, als jetzt, zu der Zeit, wo dort dieser Wald
das Land bekleidet hat.
Fragen wir, ob auch die anderen Theile der Polarzone zur
miocenen Zeit ein viel wärmeres Klima gehabt haben als gegen-
wärtig, so wird uns dieses von allen Seiten bestätigt. Wir wissen,
daß Island damals von einer reichen Waldflora geschmückt war,
deren Ueberreste uns der Surturbrand ausbewahrt hat. Es ha-
ben nicht nur zahlreiche Nadelhölzer und unter diesen der mäch-
tige Mammuthbaum diese Waldung gebildet, sondern auch Ulmen,
Nuß- und Tulpenbäume und ein Ahorn mit spannengroßen Frucht-
flügeln. Dasselbe gilt von den hochnordischen Küstenregionen
Amerikas, wo Franklin und Dr. Richardson am Mackenzie bei
65° nördl. Breite eine ganz ähnliche Flora entdeckt haben. Mac
Clure und seine Gefährten haben auf dem Bankslande bei 74°
nördl. Breite fossile Pflanzen gesammelt. Sie fanden im Innern
des Landes ganze Hügel fossilen Holzes, und auch Mac
Clintock hat welches dort gesammelt. Es hat Herr Prof. Cramer
diese Hölzer einer genauen mikroskopischen Untersuchung unter-
worsen und ermittelt, daß sie von Laub- und Nadelholzbäumen
herrühren und ein von Herrn Mac Clure heimgebrachter Tann-
zapfen (Pinus Mac Clurii Hr.) liegt hier vor uns.
Daß selbst Spitzbergen damals bewaldet war, beweisen die
von den schwedischen Naturforschern dort entdeckten Pflanzen. Die-
selben zwei Pappelarten, welche in Grönland so häufig sind, sin-
den sich auch in Spitzbergen, und zeugen für die große Verbrei-
tung der Bäume damaliger Zeit; ebenso ist die miocene Sumpf-
cypresse (daö Taxodium dubium) nicht nur in Nordgrönlanv,
sondern auch iin Bellsund Spitzbergens (bei 76° nördl. Breite)
entdeckt worden. Dazu kommen Erlen, Weiden, Haselnuß, ja
selbst eine Platane und eine Linde, von welch' letzterer ein Blatt
sogar bei 79° nördl. Breite in der Kingsbay gefunden worden
ist. Versuchen wir nach diesen Pflanzen Spitzbergens das Klima
zu ermitteln, wie es damals auf diesem nördlichsten Festlande be-
31*
244
Oswald Heer über die Polarländer und ihre fossilen Pflanzen.
stand, so werden wir finden, daß es bei 78" nördl. Breite nicht käl-
ter kann gewesen sein als jetzt im südlichen Schweden und Nor-
wegen (bei etwa 60° nördl. Breite), und so führen uns auch diese
Pflanzen zu ähnlichen Resultaten wie die Nordgrönlands.
Wir wissen, daß jetzt die Föhren, Pappeln und Birken um
15 Breitengrade höher nach Norden hinaufsteigen als die Platane.
Zur miocenen Zeit ist es sicher auch so gewesen. Da wir in die-
ser die Platane bis zum 78. und die Linde bis zum 79. Grade nördl.
Breite finden, so werden ohne Zweisel die miocenen Pappeln und
Föhren, die wir aus Spitzbergen und Nordgrönland kennen, auch
um so viel Grade weiter nach Norden gegangen sein, oder mit
anderen Worten, es werden die Waldbäume bis zum Pol gereicht
haben, insofern Festland da gewesen ist, und wir können sogar
mit großer Wahrscheinlichkeit die Baumarten bezeichnen, welche
dort gestanden haben. Es werden eben die beiden nordischen Pap-
peln, die Polarföhre und Mac Clurische Tanne, diesen Polarwald
gebildet haben, die Bäume, deren Reste hier vor uns liegen.
Wie ganz anders muß daher damals dies Polar-
land ausgesehen haben als jetzt! Heute eine unermeßliche
Eiswüste, welche durch die sich abtrennenden Eisberge auch auf
die südlicher gelegenen Länder einen sehr erkältenden Einfluß aus-
übt — und einst, zur miocenen Zeit, grüne, von üppiger Waldnng
geschmückte Inseln, welche vom offenen Meere umspült wurden,
denn das gemäßigte Klima, welches damals bis zum Pol reichte,
schließt wenigstens für die Niederungen die Gletscherbildung aus.
Bestanden aber im hohen Norden solche klimatischen Verhält-
nisse, so müssen auch unsere Gegenden ein ganz anderes Klima
gehabt haben als gegenwärtig. Dies ist auch in der That der
Fall und es bilden diese Entdeckungen in der Polarzone die
schönste Bestätigung für die Schlüsse, die wir aus der vorWelt-
tieften Flora unseres Landes (der Schweiz) gezogen haben. Die
immergrünen Feigen- und Lorbeerwälder, welche da-
mals unser Land bedeckten, die herrlichen Palmen-
Haine, die unsere Flüsse umsäumten, die Elephanten
und Nashörner, die Tapire und Affen, welche sich in
diesen immergrünen Urwäldern herumtummelten, wer-
don uns nun nicht mehr überraschen, wenn wir wissen,
daß zu gleicher Zeit Platanen und Linden undSumpf-
cypreffen Spitzbergen bewaldet haben. In der That
überzeugt uns eine Zusammenstellung der bis jetzt bekannten
Thatsachen, daß damals Mitteleuropa ein subtropisches Klima ge-
habt hat, et>ra wie Nordägypten oder der Süden der Vereinigten
Staaten.
Ueber den damaligen Zustand der jetzigen Tropenländer ha-
ben wir nur unsichere Kunde. Doch wissen wir, daß damals
Java eine Flora beherbergte, welche denselben Charakter hat, wie
die jetzt dort lebende, und aus dem indischen Festlande sind am
Fuße des Himalaya zahlreiche Elephantenarten, eine Giraffe, Ga-
viale, Krokodile und riesengroße Schildkröten entdeckt worden,
welche uns sag.cn, daß die Tropenwelt zur miocenen Zeit wohl
ein ähnliches Klima gehabt haben dürfte, wie gegenwärtig. Die
Temperaturabnahme nach den Polen zu muß aber
viel geringer gewesen sein als gegenwärtig. Nehmen
wir die miocene Flora der Schweiz und Spitzbergens zum Maß-
stab, so betrug die Abnahme auf den Breitegrad nur 0,5« C-, wäh-
rend sie gegenwärtig 0,66" C. beträgt.
Wie soll man sich diesen großen Wechsel des Kli-
mas unserer Erde erklären? Denn der Mensch begnügt
sich eben nicht damit, nur die Thatsachen zu wissen, er ver-
langt auch den innern Zusammenhang der Erscheinungen zu er-
kennen.
Die einfachste Erklärung scheint zu sein, daß dieser Klima-
Wechsel von der andern Verthcilung von Land und Wasser her-
rühre. Auf dem Festlande ist der jährliche Gang der Temperatur
ein anderer als auf dem Meere, und kleine im Ocean liegende
Inseln erhalten daher ein ganz anderes und zwar gleichmäßigeres
Klima als mitten in großen Continenten liegende Länder, wenn
sie auch in derselben geographischen Breite sich finden. Bei die-
sen sind immer die Winter kälter und die Sommer heißer und
das Klima bewegt sich in viel größeren Gegensätzen. Es ist aber
ganz unmöglich, auf diesem Wege das Klima der miocenen Zeit
zu erklären, denn es läßt sich gar keine Eombination von Land
und Wasser auf unserer Erde denken, welche im Stande wäre,
die von uns besprochenen Erscheinungen der Polarländer herzu-
leiten. Island und Spitzbergen sind ja Inseln, welche überdies
durch den Golfstrom eine höhere Temperatur erhalten, als ihnen
nach ihrer geographischen Breite eigentlich zukommt — und dessen
ungeachtet, welch' ein Unterschied zwischen der jetzigen Vegetation
dieser Inseln und derjenigen der miocenen Zeit! Ueberdies ist
es sehr wahrscheinlich, daß zur miocenen Zeit ebenso viel Festland
in der arktischen Zone gewesen ist als gegenwärtig, wie aus den
zahlreichen Fundstätten fossiler Pflanzen und aus den großen Ver-
breitungsbezirken der arktischen miocenen Bäume hervorgeht!
Es muß daher eine andere und zwar eine sehr allgemein
wirkende Wärmequelle gesucht werden. Man glaubte eine
solche in der höhern Temperatur der Erde gefunden zu haben.
Man geht dabei von der Ansicht aus, daß sie ursprünglich feurig-
flüssig gewesen sei und sich allmälig in der kältern Atmosphäre ab-
gekühlt habe. Es ist wahrscheinlich, daß für die ersten Weltalter
die Erdmasse wirklich einen bedeutenden Ueberschuß an Wärme
abgegeben und die Temperatur der Lust erhöht hat. Wir haben
aber nicht zu vergessen, daß die miocene Zeit der jetzigen Schö-
pfung nahe steht, derselben unmittelbar vorangegangen ist. Schon
damals waren in mächtigen, zu ihrer Bildung viele Jahrtausende
fordernden Felslagern zahlreiche Schöpfungen abgelagert, Schöpfun-
gen, die durch lange, lange Zeiträume von einander getrennt sind.
Da die Erkältung der Erdrinde eine allmälig fortschreitende ge-
wesen sein muß, so würden wir für diese früheren Weltalter eine
so hohe Temperatur erhalten, daß kein organisches Leben da mög-
lich gewesen, wenn wir sür die miocene Zeit noch einen so be-
trächtlichen Wärmezuschuß aus dem Erdinnern annehmen wollten.
Vielleicht wird man aber sagen, es seien früher die Erd-
pole anders gelegen gewesen und durch eine solche Poländerung
sei diese Klimaänderung erfolgt. Abgesehen aber davon, daß die
Abplattung der Erde an den Polen einer solchen Hypothese große
Hindernisse in den Weg legt, widerspricht ihr auch die Gleich-
artigkeit der Pflanzenwelt in der ganzen Polarzone.
Wir haben ja diese merkwürdige Waldflora nicht allein in Grön-
land, sondern auch in Spitzbergen und im hohen Nordamerika!
Wir müssen daher bekennen, daß alle diese Erklärungen nicht
genügen und wir hier vor einem großen Räthsel stehen. Die
Thatsachen sind da, sind unwiderleglich, aber wir vermögen sie
noch nicht in die uns bekannten Erscheinungen einzureihen.
Das scheint uns indessen sicher zu sein, daß eS sich hier nicht
um locale, nur einzelne Partien nnsers Planeten beschlagende
Erscheinungen handelt; es muß eine allgemeine, die Stellung
unseres Erdkörpers im Welträume bedingende Ursache gesucht
werden. Wir haben nicht zu vergessen, daß unser Planet nicht
nur alljährlich seinen regelmäßigen Lauf um die Sonne vollendet,
sondern daß er mit dem ganzen Sonnensysteme um einen größer»
Stern kreist. Die Erde ändert daher fortwährend mit dem gan-
zen Sonnensysteme ihre Stellung im Welträume. Schon jetzt
befinden wir uns nicht mehr an derselben Stelle des Weltrau?
mes, wie vor einer Stunde. In dieser kurzen Zeit hat die Erde
eine große Reise zurückgelegt, in 1000, in 10,000, in 100,000
Jahren befindet sich dieselbe in ganz anderen Regionen des un-
ermeßlichen Weltraumes, unendlich weit von dem entfernt, in
welchem sie jetzt sich bewegt. Während wir die Kreise, welche die
Planeten beschreiben, genau kennen, ist von dem unermeßlichen
Kreise, welchen der Allmächtige dem ganzen Sonnensysteme zu
durchlaufen angewiesen hat, nur ein kleines Segment bekannt,
und wir wissen nichts von den fernen Himmelsräumen, welche
dasselbe durcheilt hat, nichts von denen, welchen es jetzt entgegen-
geht. Das aber ist uns bekannt, daß gegenwärtig unser Son-
nensystem in einem relativ sternenarmen Gebiete des Weltraumes
sich befindet; das bewaffnete Auge hat Gebiete des Himmels ent-
deckt, in welchen die Sterne dichter beisammen stehen, und es kann
die Erde einst solche dichter mit Sternen besäeten Himmelsfluren
durchwandert haben. Diese werden auch auf die Temperatur des
Himmelsraumes von Einfluß sein, daher der Weltraum keines-
wegs überall dieselbe Temperatur besitzen wird. Es ist daher zu
vermuthen, daß zur miocenen Zeit unser Planet in einem Gebiete
des Weltraumes gewesen, welches eine höhere Temperatur gehabt
hat als der Raum, in welchem er jetzt sich befindet, und daß die-
ser auf seine Lusthülle einen erwärmenden Einfluß ausgeübt hat.
Im Lause der Jahrtausende führte die Sonne ihre Sternenherde
Stein- und Metallwerkzeu
in kältere Räume des Himmels, und es folgte auf die warme
miocene Periode die Eiszeit, während welcher unser Flachland
denselben Anblick darbot, wie jetzt die Polarzone. Dann trat sie
in einen Raum des Weltalls, der ihre jetzige klimatische Consti-
tution bedingt.
So weit die menschliche Ueberlieferung reicht, scheint im
großen Ganzen allerdings keine Klimaänderung vor sich gegangen
zu sein; allein diese Zeit ist im Verhältniß zur Geschichte der
Erde sehr kurz, sie bildet nur einen kleinen Bruchtheil der Ent-
bei verschiedenen Völkern. 245
wickelungsgeschichte unserer Erde, und unumstößliche Thatsachen
beweisen, daß in den verschiedenen Weltaltern ihr Klima und
ihr Antlitz sich gänzlich verändert haben. Jeder mag diese That-
sachen in seiner Weise sich zurecht legen, mir aber will es schei-
nen, daß nur ein Blick zur Sternenwelt diese, wie noch so manche
anderen den Menschen tief berührenden Fragen, in befriedigender
Weise zu, lösen vermöge, und so müssen Sie es mir verzeihen,
daß ich Ihnen zugemuthet habe, von den Eiswüsten des hohen
Nordens zu den Sternen des Himmels aufzusteigen.
Stein- und Metallwerkzeu
Die Forschungen über das „Stein-Zeitalter" nehmen
einen erfreulichen Fortgang und gewinnen eine immer grö-
ßere Ausdehnung. Dabei zeigt sich, daß man mehr und mehr
von der sogenannten Entlehnungstheorie zurückkommt.
Wir wissen, daß der Mensch auf allen Stufen der Uneultur
oder Cultur „ein Werkzeuge verfertigendes Geschöpf" ist.
Mit den Händen allein kann er Vieles gar nicht beschaffen,
z. B. keine Austernmuschel öffnen; er bedarf dazu irgend
eines Instrumentes, und nichts ist natürlicher und erklärli-
cher, als daß er sich ein solches verfertigt; darauf leiten ihn
Notwendigkeit und Verstand hin. Das Material dazu
nimmt er aus seiner nächsten Umgebung, wo er es gerade
findet.
Wir haben neulich nachgewiesen, daß auf der Vaucouver-
infel, vor der Nordwestküste Amerikas, die Stämme der Ath-
Indianer noch vor sechs Jahren in einem Knochenzeit-
alter lebten; sie verfertigten ihre Geräthschaften aus Mu-
scheln und Knochen. Viele Insulaner der Südsee hatten bis
zur Ankunft der Europäer nur Knochen, Steine und Mu-
scheln und gar kein Metall zur Verfügung. Das Knochen-
und Steinzeitalter dauert mehr oder weniger bis auf unsere
Tage herab fort und ist auch heute noch nicht überall ver-
schwunden. Selbst in manchen europäischen Gegenden, in
denen Metalle seit ein paar tausend Iahren bekannt sind und
zu mannigfachem BeHufe verwandt werden, bleiben Stein-
Werkzeuge ältester Form noch da und dort im Gebrauch, obwohl
man sie mit nur geringen Kosten durch Metall ersetzen könnte.
Nun sind die Geräthschaften und Waffen, namentlich auch
jene aus der vormetallischen Zeit, wenn dieser Ausdruck er-
laubt ist, in sehr verschiedenen Erdtheilen und unter ganz
verschiedenen Himmelsstrichen einander ungemein ähnlich und
häufig gleichen sie sich man kann sagen ans ein Haar. Tylor
(Researches into the early history of mankind and the
development of civilization, London 1865. p. 203) be-
merkt ganz richtig: „So groß ist diese Unisormität der
Steiugeräthschasten aus verschiedenen Gegenden und weit
auseinander liegenden Zeiten, daß man sie nicht als Racen-
kennzeichen verwenden kann. Für die Forschungen in Betreff
des Wachsthums oder der Wanderung von Stämmen kann
man aus ihnen keine Schlüsse ziehen, da man weiß, daß
Pfeilspitzen aus Patagonien, Sibirien, der Insel Man :c.
einander gleichen, oder daß ein Streithammer aus Mexico,
Tahiti oder Irland :c. keine wesentlichen Abweichungen dar-
bietet. Auch ein Beobachter, der schon viele Steinwerkzeuge
geprüft hat, wird in einer Sammlung, in welcher die Her-
fünft der einzelnen Gegenstände nicht näher bezeichnet wor-
den ist, oftmals gar nicht bestimmen können, woher sie stam-
men. Bei manchen giebt allerdings die mineralogische Be-
schaffenheit die nöthigen Fingerzeige, bei vielen aber fehlt ein
solches Charakteristicum."
! bei verschiedenen Walkern.
„Wie will man nun diese Übereinstimmung erklären?
Die Annahme, daß der Mensch unter denselben Umständen
dasselbe thue, wird allerdings für manches geltend gemacht
werden können, es ist aber zweifelhaft, ob sie für den größern
Theil der fraglichen Facta ausreiche. Man nimmt alfo an,
daß diese Aehnlichkeit von einer Connexion herrühre, und daß
bald das eine, bald das andere richtig sei; wir wissen aber
nicht, in welchen Verhältnissen."
Tylor hat sich in seinem werthvollen Bnche noch nicht
genug von dem losgemacht, was ich weiter oben als Entleh-
nuugs- und Wanderungstheorie bezeichnet habe, und er
schwankt dann und wann im Ungewissen und hat Zweifel.
Von dergleichen wird Hadder M. Westropp in einem Auf-
satz über die analogen Formen derWerkzenge bei vor-
historischen undUr-Völkern nicht heimgesucht. (On the ana-
logous for-ms of implements among early and
primitive races; Memoirs read before the Anthro-
pological society of London, 1866, Yol. II. p. 288 sqq.)
Iustiuct uud Notwendigkeit, so argumeutirt er, treiben
den Menschen an, Geräthschaften und Werkzeuge zu verfer-
tigen, welche sein Bedürsniß erfordert. Welcher Race er
auch angehören möge und in wie weiten Entfernungen von
einander er auch wohne, er hat dieselben Bedürfnisse und
natürlichen Antriebe, dieselbe Spontaneität der Eingebungen,
welche ihn allesammt darauf hinleiten, sich das zu schaffen,
dessen er uothweudig bedarf. Das ist bei der ganzen Men-
schensamilie ohne Ausnahme der Fall. Dieselben allgemei-
nen Processe des Denkens und des Jnstinctes führen den
Australier, Neuseeländer, Skandinavier und Peruaner daraus
hin, sich eine Waffe aus Stein zu verfertigen; er geräth in
Fehde und bedarf eines Werkzeuges, uui sich zu vertheidigen.
Ihn hungert und friert, alfo bereitet er sich Werkzeuge zur
Jagd; mit dem Fleische der erlegten Thiere sättigt er sich
und mit dem Felle bedeckt er seinen Leib.
Die Uebereinstimmuug oder auch die völlige Aehnlichkeit
der Werkzeuge und Waffen in allen Stadien der Entwicklung
geben in hervorragender Weise ein Zeu'gniß dafür, wie
gleichartig der Jnstinct und die ursprüngliche Ein-
gebung im Geiste der Menschen wirken, uud zwar
bei allen Nacen und in allen Zeiten. Diese Waffen
und Geräthe zeigen identische Formen, je nachdem wir sie
nach den verschiedenen Epochen des Feuersteins, des Steins,
der Bronze oder des Eisens betrachten. Diese Folgereihe
in den Formen der Geräthschaften, welche in jenen vier ver-
schiedenen Perioden und bei verschiedenen Racen, offenbar-
ganz unabhängig von einander, auftreten, ist ganz sicher-
lich ein Ergebniß der fortschreitenden EntWickelung. Wir
können ja nachweisen, daß in früheren Zeiten dieBölker aus
dem Flint- und Steinzeitalter durch jenes der Bronze ge-
gangen sind und dann erst zum Eisen kamen.
246 Stein- und Metallwerkzeu
Die ältesten Formen von Waffen für Krieg und Jagd
finden wir im Kiesdiluvium, und es stellt sich heraus, daß
diese Flintsteine überall, wo sie gefunden wurden, eine große
Ähnlichkeit mit einander haben. Jene in England gleichen
genau denen von Abbeville und St. Acheul iu der Picardie;
sie sind vou der allerrohesten Arbeit und rühren von einem
Volke her, das sich noch auf der Stufe der Barbarei befaud.
Mau hat sie auch neben Elephantenknochen gefunden; sie ha-
ben mit den bekannten Gerätheu der eigentlichen Steinzeit
keine Uebereinstimmung, rühren vielleicht von Menschen einer
andern Race her als diese und sind Beweise für ein früheres
und viel roheres Zeitalter. Die Verfertiger waren Zeitge-
nofsen von nun ausgestorbenen Thieren, dem Bär, Rhiuoce-
ros, Mammuth. Diese Werkzeuge haben identische For-
men, und diese sind die Folge und das Werk identischer
Absichten.
Auf die Flintperiode folgt das Steinzeitalter. Die
Steinwerkzeuge, welche wir in so vielen Gegenden finden,
sind Zeugen für eine sehr frühe, noch sehr unvollkommene
Civilifation, und so beschaffen, wie sie dem Menschen in einem
noch barbarischen Urzustände durch Suggestion, durch Eiuge-
buug oder natürlichen Antrieb, sich gleichsam aufdrängen. Wir
sehen Steinwerkzeuge für die Bedürfnisse des Krieges und
der Jagd, zur Bereitung von Nahrungsmitteln und Woh-
nungen. Solche Leute verfertigen auch fchon Boote oder
Flöße. Die Menschen des Steinalters waren sicherlich zu
uicht geringem Theil, oder wohl alle, Jäger Völker, befan-
den sich also in einem frühen, unentwickelten Stadium. Wir
können das aus der Art uud Weife abnehmen, in welcher
wir die Knochen der von ihnen verzehrten Thiere finden.
Auch bei den Steinwaffen tritt uns eine große Ähnlichkeit
und Uebereinstimmung entgegen. Eine Steinaxt der Süd-
seeinsnlaner des achtzehnten Jahrhunderts gleicht genau jenen,
welche die Leute im alten Britannien verfertigten. Die Aehn-
lichkeit oder Einerleiheit der Form in Flint-, Stein- uud
Bronzegerätheu und Waffen entspricht allemal der gleicharti-
gen Civilisationsstnse der Racen, welche begreiflicherweise in
verschiedenen Regionen in sehr verschiedene Zeiten fallen
kann. Die Werkzeuge sind also nicht etwa ein Beweis für
ein hohes Alterthum, wohl aber für eiueu uoch wenig ent-
wickelten Urzustand, wie auf den Südseeinseln oder in der
Quellgegend des Purüs, wo Chaudleß vor einem Jahre In-
dianer gefunden hat, die heute noch ganz und gar int Steiu-
alter leben.
In Betreff der Bestimmung des Alters oder der
Vermuthung über dasselbe müssen wir an die einzelnen Re-
gionen nicht einen nnd denselben Maßstab legen. Die Flint-
und Steinwerkzeuge iu Indien und Aegypten werden wohl
einer frühern Periode angehören, als z. B. die in Dänemark
und Irland, und diese einer altern als jene in Neuseeland.
Es ist fchon gesagt worden, daß wir Steinwerkzeuge über die
ganze Erde verbreitet finden, daß sie nicht das Werk einer
besondern Nace seien, sondern Instrumente, deren Schaffung
sich den Menschen auf einer noch rohen und niedrigen Stufe
der Ausbildung, in den ersten Anfängen ihrer Entwickelnng
gleichsam von selbst aufdrängte; sie rühren von natürlicher
Eingebung her: in Skandinavien, Deutschland, Britannien
und Irland, in Asien, Afrika und Amerika, Japan, Teue-
riffa, Australien, Neuseeland uud den Südseeinseln. Viele
dieser Werkzeuge weisen die größte Uebereinstimmung auf,
obwohl Taufende von Jahren uud Taufende von Meilen
zwischen ihrer Verfertigung liegen.
Die Feuersteingeräthe verfertigte der Mensch, wie gesagt,
auf der niedrigsten Stuse seiues Daseins; die Steingeräthe,
als er Jäger geworden war; die polirten Steinwerkzeuge,
nachdem schou eine gewisse Verfeinerung in ihm sich bemerk-
bei verschiedenen Völkern.
lich machte, und als er vielleicht fchon Hirt war; wir haben
alfo drei Abstufungen im Steinalter; das alte, mittlere nnd
neuere (— das „paläolithische, mesolithische und kainoli-
thische" —).
Der Uebergang vom Stein zur Bronze ist gewiß nur
ein sehr allmäliger gewesen; auf keiueu Fall hat er plötzlich
stattgefunden uud der Gebrauch vou Steingerätheu neben
Werkzeugen, die ans Metall verfertigt wurden, hat gewiß
Jahrhunderte und Jahrtausende fortgedauert. Aber auch die
Brouzegeräthfchaften iu Aegypten, Nord- und Mitteleuropa,
Italien, England, Irland, Spanien, Afrika und Amerika
weisen analoge Formen aus. So namentlich auch die Aexte
und Streithämmer; jene von der Tiber gleichen vollkommen
denen vom Mälarsee in Skandinavien. Auch diese Bronze-
sachen sind nicht etwa einer besondern Race oder einem be-
sondern Erdtheil eigenthümlich uud nicht entlehnt, sondern
ein notwendiges Ergebniß des iuneru Antriebes, aber in
einem fortschreitenden Stadium der EntWickelung. Ganz
richtig hat Worsaae bemerkt, daß man die Alterthümer der
Bronzeperiode nicht ausschließlich deu Kelteu oder Griechen,
Römern, Phönicirat, Slaven oder Germanen zuschreiben
könne; sie gehören nicht einem besondern Volke an, sondern
sind bei sehr verschiedenen Völkern auf derselben Civilisations-
stnse im Gebrauch gewesen. Dabei ist aber wohl in Obacht
zu nehmen, daß viele dieser Werkzeuge zwar dem äußern
Anschein uach einander ganz gleich sind, daß aber der auf-
merksame Beobachter, je nach Ländern und Völkern, bei denen
sie vorkommen, einige, wenn auch nur leichte und geringe
Abweichungen nachweisen kann.
Abgesehen von dieser Uebereinstimmung in den Formen,
bleibt es bemerkenswert, daß die Bronze fast überall so
ziemlich dasselbe Verhältniß in der Metallmischung, nämlich
10 bis 12 Procent Zinn als Zusatz zum Kupfer, aufweist.
So z. B. bei den Bronzegeräthen in den alten Gräbern, an
den Nägeln in der Schatzkammer des Atrens zu Mykenä,
an den Gerätschaften in den ägyptischen Gräbern, an den
Werkzeugen der Mexicauer und Peruaner. Dieses Mischungs-
verhältniß ist nicht entlehnt oder gelehrt worden, die Men-
scheu sind in spontaner Weise, aus gleichem Antriebe, glei-
chem Nachdenken und Bedürfniß darauf gekommen, daß" ein
solches Verhältniß für die beabsichtigten Zwecke das Beste
und Brauchbarste sei.
Die älteste Gestalt der Bronzeaxt ist keilartig, und offen-
bar hat ihr jene der Steinaxt zum Muster gedient. Erst
später kamen auch künstlichere Formen auf; man brachte
Verbesserungen an, um den hölzernen Stiel zweckmäßiger
einzulassen und zn befestigen, z. B. die „ausgeschweiften
Celts" und die „Paalstäbe". Bei den frühesten Beilen
wurde der Stiel einfach eingelassen oder auch nur sestgebuu-
den. Auch späterhin, als Eisen schon im allgemeinen Ge-
brauche war, behielt man die älteren Formen für die Ge-
räthschaften noch bei; erst als die Civilisatiou sich rascher
entwickelte uud neue Bedürfnisse sich geltend machten, kamen
dann andere und sehr verschiedenartige Formen aus. Das
Eifeu gab gauz neue Aufriebe*).
Wir wollen hier Einiges aus Tylor's oben erwähntem
Buch hinzufügen. Es liegen, sagt er, keine Beweise vor,
daß die Bewohner Australiens, der Südseeinseln und eines
*) (schon in dem vortrefflichen kleinen Werke: „Leitfaden zur
nordischen Alterthumskunde, herausgegeben von der königlichen
Gesellschaft für nordische Alterthumskunde, Kopenhagen 1837," wird
S. 60 hervorgehoben: „Es ist nicht bekannt, daß man auf irgend
einem Stücke, welches zum Bronzezeitalter gehört, Schrift gefunden
habe, ungeachtet im Uebrigen die Art von einer Geschicklichkeit zeugt,
welche vermuthen läßt, daß man zu der Zeit nicht unbekannt damit
gewesen sein könne." A.
Stein- und Metallwerkzeu
beträchtlichen Theils von Nord- und Südamerika jemals
Metalle und deren Gebrauch gekannt haben. Deshalb ist
die Annahme gerechtfertigt, daß dort das Steinzeitalter bis
zur Ankunft der Europäer niemals unterbrochen worden
ist. In anderen Theilen der westlichen Erdhälfte war das
allerdings der Fall. Die sogenannten Mouud-Builders in
Nordamerika benutzten das gediegene Kupfer, aber die Kunst,
dasselbe zu schmelzen oder in heißem Zustande zu schmieden,
scheint ihnen nicht bekannt gewesen zu sein; sie haben dasselbe
als eine Art hämmerbaren Steines behandelt. Die Euro-
päer fanden aber das Kupfer in Amerika auch iu der Ge-
stall von Messern, Meißeln, Aexten und Zierrathen, und
bei den Eskimos sogar Meteoreisen. Im Britischen Mn-
senm sieht man eine Harpune ans Walroßzahn mit einer
Spitze aus Meteoreisen, und ein Messer, gleichfalls aus einem
Zahne, deffeu Schärfe aus einer Anzahl von Splittern aus
Meteoreifen besteht. Diese Werkzeuge sind wahrscheinlich nicht
alt, aber sie gleichen denen, welche noch jetzt von den Eskimos
aus Stücken europäischen Eisens hergerichtet werden, und es
scheint, als ob sie erst, nachdem sie das letztere kennen gelernt,
auch das Meteoreisen zu benutzen angefangen haben.
In Peru hatte zur Zeit der Entdeckung das Steinzeit-
alter die höchste Stnse der Entwicklung erreicht, welche es
überhaupt jemals gehabt hat, aber gleichzeitig war auch Me-
tall im Gebrauch. Man verstand Gold und Silber, nament-
lich 'zu Schmucksachen, in ganz ausgezeichneter Weise zu ver-
arbeiten, und ein Gleiches war in Mexico der Fall. Im
Berliner Museum siud mexicanische Goldornamente, die sich
an Feinheit der Zeichnung und Eleganz der Arbeit mit den
besten etrnrischen Sachen messen dürfen. Die Bronze war
im Lande der Iukas wie in jenem der Azteken im allgemei-
nen Gebrauche für Werkzeuge und Waffen.
Tylor sagt: „Wir wissen nicht, wie die Kunst, Gold,
Silber, Kupfer und Bronze zu bearbeiten, nach Amerika ge-
kommen ist; ebensowenig, ob ihr Austreten im nördlichen
oder südlichen Theile des Continentes von einander nnab-
hängig war oder nicht." Ich meine, das erstere sei aller-
dings der Fall gewesen; die Entlehnungstheorie kann hier
keine Anwendung finden; die Spontaneität hat auch auf der
westlichen Erdhalbe gerade so ihre Wirkungen geübt, wie iu
der sogenannten alten Welt. Auch hebt Tylor selbst gleich
nachher ganz richtig hervor, daß man eine Verbindung zwi-
schen Mexico und den südlich von ihm liegenden Regionen
nur bis Nicaragua nachweisen könne und vielleicht bis zur
Landenge von Panama.
Aber es giebt auch nicht die Spur, nicht einen Schatten
von Beweis für die Annahme oder Behauptung, daß zwi-
schen Peru und Mexico irgend welche Verbindung bestanden
habe; beide Theile hatten von ihrem Dasein nicht einmal
eine Ahnung, und beide haben sich durchaus unabhängig
von einander entwickelt. Das hätte Tylor schars hervor-
heben sollen. Aber ganz am Platze, gegenüber den Phan-
tasten, welche in luftiger Weife von einer Einwirkung von
Cnlturen Asiens auf die Altamerikaner fabeln, ist die Frage.-
„Wenn die Peruaner und Mexicaner vor 1500 Jahren durch
fremde Einwanderer das Verfertigen und Bearbeiten von
Bronze erst gelernt haben sollen, weshalb geschah
denn nicht ein Gleiches mit dem Eisen?" DieAnsich-
bei verschiedenen Völkern. 247
ten, welche einst Humboldt über eiue Verbindung zwischen
Asien und Amerika aufstellte und welche er aus Aehulich-
leiten iu der Mythologie und den Kalendern herleiten wollte,
sind, was Tylor recht wohl wissen könnte, nicht stichhaltig
und haben keinen soliden Grund.
Als die Kosackeu bis nach Kamtschatka vordrangen, san-
den sie dort schneidende Werkzeuge aus Kuocheu und Stein;
bei den Tschnktschen im nordöstlichen Sibirien findet man
noch heute in verlassenen Jurten steinerne Messer. In dem
in seiner Art hochgebildeten China sind Steinwerkzeuge noch
im vorigen Jahrhundert verfertigt worden, namentlich in der
Provinz Kuaug tuug (Cautou), vielleicht von den alten Ur-
fassen des Gebirges. Einer chinesischen Tradition zufolge
verfertigte Fu hi Waffen aus Holz, Schin nung dergleichen
aus Stein, und Tschi yu solche aus Metall. Hier haben
wir in der Ueberliesernng die verschiedenen Zeitalter und ihre
Uebergänge.
Die Tnngnsen hatten noch im vorigen Jahrhundert stei-
uerue Pfeilspitzen; die alten Fenni, von denen Tacitns be-
richtet, hatten dergleichen aus Knochen. Aber die Tnngnsen
waren bei alledem nicht ungeschickte Eisenarbeiter; sie behiel-
ten iudeß auch Pseilspitzeu von Stein bei. Aehnlich war es
bei den alten Aegyptern; sie hatten Bronze und Eisen in
Fülle und bedienten sich trotzdem ans der Jagd steinerner
Pfeilspitzen; man kann in unseren Museen dergleichen finden
und dargestellt sind sie anch auf den Basreliefs von Beni
Hassan. Steinerne Pfeile sind in Menge auf dem Schlacht-
felde von Marathon gesunden worden, vielleicht rühren sie
von den Barbaren her, welche im persischen Heere dienten.
Wir wissen aus Strabo, daß die Ichthyophagen, die vor-
zugsweise von Fischen sich nährenden Stämme an der Küste
des heutigen Belndschistan am persischen Meere, sich Woh-
nungen aus Walfifchknochen bereiteten, die Rückenwirbel be-
nutzten, um die an der Sonne getrockneten Fifche mit etwas
Getreide vermischt in denselben zu zerkneteu und daß sie aus
diesem Teig ein Brot backten. Eisen hatten sie nicht, ihre
Mühle bestand aus Knochen und Stein. Ihre hölzernen
Pfeile schärften sie an Steinen und ihre Fischnetze bereiteten
sie aus Palmenfafern.
Japan hat eine große Menge alter Steinwerkzeuge;
das Museum iu Leyden besitzt eine schöne Sammlung und
Siebold hat in seinem großen Werke viele derselben abgebil-
det. Die Pfeilspitzen von Obsidian, Feuerstein, Hornstein :c.
gleichen vollkommen denen anderer Gegenden. Eine Sage
will wissen, sie seien vom Himmel herabgeregnet. Alljähr-
lich fliege ein Heer von Geistern unter Sturm und Regen
durch die Luft; nachdem das Wetter sich wieder aufgeklärt
habe, gingen die Leute aufs Feld und sammelten aus dem
Saude die steinernen Pfeile, welche jenes Heer habe fallen
lassen. Man findet sie in großer Menge, namentlich im
nördlichen Theile der größten Insel Nippon uud in dem alten
Gebiete der „Wilden Männer", also der Leute vom Stamme
der Arnos, welche noch jetzt Jesso und die südlichen Kurilen
bewohnen. Alte Steinäxte werden in Japan von den dor-
tigen Liebhabern und Antiquitätensammlern eifrig gesucht.
Alte japanische Messer von Stein gleichen den ägyptischen,
sind aber nicht so fein gearbeitet; manche werden in den
Kamitempeln aufbewahrt. A.
248
W. Radlofs: Die Bergnomaden des Altai.
Die Jergnomaden des Altai.
Von Dr. W. Radloff zu Barnaul am Obi.
I.
Die Culturstufe eines jeden Volkes hängt zum großen
Theil von der Beschaffenheit des Landes ab, in welchem das-
selbe wohnt. Sobald die gesammte Arbeitskraft nicht im
Stande ist, die Schwierigkeiten zu überwinden, welche die
Laudesbeschasseuheit dem Fortschritte der Entwickelung in den
Weg legt, wird diese letztere aufgehalten oder ist Uberhaupt
unmöglich. Eine Hauptbedingung zum Cultnrfortfchritte liegt
unbedingt in bequemen Verkehrswegen zwischen den einzelnen
Theilen des Volkes und mit den Nachbarvölkern, da diese
den Laudesreichthum flüssig machen. Ist aber die Arbeits-
kraft eines Voltes nicht im Staude, diese Hauptbediuguugeu
herzustellen, vermag sie nicht eine dauernde Verbindung mit
anderen Völkern zu unterhalten, so kann es wohl eine gewisse
individuelle Culturstuse erringen, diese wird aber nur eine
sehr begrenzte Höhe erreichen.
Nordasien giebt uns einen deutlichen Beweis für die
Richtigkeit der obigen Behauptung. Rordasien oder Sibi-
rieu bietet neben nnwirthbaren Eisfeldern auch große Land-
strecken dar, die an Reichthnm nur von wenigen Ländern
übertroffen werden. Südsibirien besteht zum großen Theil
aus fruchtbarem Ackerlande, das bei ganz unrationeller Be-
arbeitung doch einen unglaublichen Ertrag liefert; reiche,
fchöne Waldungen ziehen sich den mächtigen Strömen ent-
lang; in den Gebirgen ruhen reiche Schütze an Metallen: Gold,
Silber, Kupfer und Eisen; in den Wäldern wimmelt es von
herrlichem Wild und in den Flüffen von den schönsten Fifchen.
Trotz dieses Reichthums steht Sibirien noch wenig beachtet
da, sein Handel und seine Industrie sind unbedeutend und
die reichen Erzeugnisse des Landes verkommen zum größten
Theile unbenutzt. Viele Leute haben keine Ahnung von die-
sem Reichthum, sondern stellen sich Sibirien als eine öde,
ewig in Eis gehüllte Wüstenei» vor, in der die unglücklichen
„Verschickten" kaum ihr Leben zu fristen vermögen.
Der Reichthum Südsibiriens ist aber den Einwohnern
Mittelasiens längst bekannt. Mehr als ein Volk drängte
sich in die reichen Steppen und herrlichen Flnßthäler, und
lauge Kämpfe haben um seinen Besitz stattgefunden. Einige
sibirische Völker hatten eine gewisse Stufe der Cultur er-
reicht, wie uns die von ihnen übrig gebliebenen Grabmäler
beweisen; aber sie sind alle wieder in sich selbst zerfallen, da
die ungeheure Ausdehnung des Landes künstliche Verkehrs-
straßen verlangt, wie sie nur der Fortschritt unseres Jahr-
Hunderts zu schaffen vermag.
Als die R u s s e n vor drei Jahrhunderten in Sibirien
eindrangen, war das Land von vielen kleinen Stämmen be-
wohnt, die in ununterbrochener Fehde mit einander lebten.
Die Eroberer unterwarfen sich diese Stämme in sehr kurzer
Zeit und nahmen natürlich die besten Landstriche für sich.
Durch die ununterbrochen fortgesetzten Ansiedelungen neuer
russischer Ankömmlinge haben sich die Bevölkerungsverhält-
nisse folgendermaßen gestaltet: In einer langen Strecke am
Nordrande der Sibirien im Süden begrenzenden Bergkette
ziehen sich die Wohnsitze der russischen Einwohner Sibiriens
hin, außerdem au den Flüssen Jenissei, Obi nnd Jrtisch ziem-
lich weit nach Norden und Süden. Diese Gegenden sind
für den Ackerbau am geeignetsten und waren daher für die
sich meist mit demselben beschäftigenden Russen am passendsten.
Ein großer Theil der Eingeborenen ist entweder ganz
mit den russischen Bewohnern verschmolzen, oder hat sich
nur in Sitte und Lebensweise diesen angeschlossen. Die-
jenigen, welche noch an ihrer Nationalität festgehalten, be-
wohnen die Steppen, Gebirge, Wälder und Tundren, welche
nördlich und südlich von den Wohnsitzen der russischen An-
wohuer liegen. In diese nnwirthsamen Gegenden verdrängt,
sind diese versprengten kleinen Völkerschaften vollständig aus
die spärlichen Hülssquellen ihrer Wohnplütze angewiesen.
Die Bewohner der Waldgebirge und Wälder (wie die Tun-
gnsen) sind Jagdvölker; die Anwohner der großen Ströme
(wie die Jenissei-Ostjaken und anderen Ostjaken) be-
schästigen sich mit dem Fischfang; die Steppenbewoh-
ner und Insassen der Felsgebirge treiben Viehzucht. So-
mit finden wir im heutigen Sibirien fast alle Stufen der
Cultur vertreten. Am niedrigsten stehen die nmherschwei-
senden Jagdvölker des Nordens, die mit ihren Fellzelten
große Strecken durchirren uud nur dort sich längere Zeit
aufhalten, wo die Jagd ihnen reiche Ausbeute verspricht.
Etwas höher stehen dieBergnomaden, welche sich neben
der Jagd von der Viehzucht ernähren; dann folgen die Step-
pennomaden und die Fischervölker. Nach diesen kommen die
Ackerbau treibenden angesiedelten Eingeborenen, meist
Völker türkischen Stammes, und znletzt die Vertreter euro-
Päischer Cultur, die russischen Ansiedler.
Das Land, welches die altaischenBergkalmücken be-
wohnen, ist der Altai im engern Sinne des Worts; das
heißt, der Theil des großen altaischen Bergsystems — wie
Ritter es nennt — auf dem einer der Qnellflüsse des Obi-
stroms, die Katuuja, entspringt. Im Westen erstreckt es
sich bis an den Jrtisch; im Osten bis au die Waldgebirge
des Bijasystems — des zweiten Quellflusses des Obi —.
Dies ist der einzige Theil der großen Bergkette, der von den
Eingeborenen Altai genannt wird. Altai ist eine Ver-
schmelzung von Al-Taiga und bedeutet: „erhabenes
Felsgebirge". In der That ist dies eine sehr passende
Bezeichnung des mächtigen Gebirgsstockes, der aus eiuer
bunten Gruppe von riesigen Felszügeu besteht. Zwischen
diesen Bergzügen liegen theils schmale, mit dichtem Wald
bewachsene Schluchten, theils breite, mit herrlichen Wiesen-
Plätzen bedeckte Thäler. Diese letzteren sind die Wohnplätze
der Bergkalmücken.
Nichts Schöneres kann es geben, als diese herrlichen Fluß-
thäler des Altai. Vor unseren Augen breitet sich eine weite
Ebene aus, die den ganzen Sommer hindurch mit kurzem
frisch grünem Grase bedeckt ist, wie es andere Gegenden nur
im Frühjahr darbieten. In den Ebenen schlängelt sich in
malerischen Krümmungen der Fluß, welcher, meist von Schaum
bedeckt, wie ein blendend weißer Silberstreifen sich durch die
grüne Ebene zieht. Die Ufer sind mit dichtem Baumwerk
in buntester Zusammensetzung eingefaßt. Hier stehen die
schwarzen zuckerhntförmigen Pichten (pinus pichta) mit ihren
silbergrauen Rinden und die dunkeln Edeltannen im bunten
Gemisch mit hellgrün glänzenden Pappeln und den schlan-
ken weißstämmigen Birken. Hohe Aspen ragen aus dem
dichten weißlichen Weidengebüsch, den weißblühenden Faul-
bäumen und den gelbblühenden Akazien hervor, und von Zeit
W. Radlvff: Die ^
zu Zeit erhebt sich die mächtige Zirbelfichte (pinus cembra)
mit ihren buschigen Aesten hoch über dieses Blättermeer.
Weiter vom User und auch an vielen Stellen in der Ebene
stehen gruppenweise die starren Lärchenbäume mit ihren ker-
zengeraden gelbrothen Stämmen und slorartigem Grüu. Uu-
ter diesem Baumdache, wo die Feuchtigkeit des Bodens sich
länger erhält, ist die Vegetation üppig, das Gras oft Ellen
hoch und aus ihm quillt ein bunter Blumenteppich hervor.
Man möchte sich iu künstliche Parkanlagen versetzt denken,
wenn nicht die umgestürzten Bäume, welche mit Moos und
Schlingpflanzen umwunden sind, und die abgestorbenen Baum-
rieseu, die ihre kahlen Arme hoch in die Luft heben, dem
ganzen Bilde den wildromantischen Charakter des Urznstan-
des' verliehen. Zu beiden Seiten des Thales erheben sich
die Felswände in mannigfaltigen Zacken und Spitzen. Bald
steigen nackte Felsmassen zn riesigen Bergkegeln auf, an
denen buntfarbige Moosflächen die einzige Vegetation bilden,
bald steigen sie terrassenförmig empor; dann sind die kahlen
Felsen von sammetgrünen Rasenflächen durchbrochen, und
strahlenförmig ziehen sich an den Schluchten dichte Wald-
strecken hin. In der Ferne thürmen sich die Berge immer
höher und höher wie mächtige dunkle Nebelwolken, auf deren
höchsten Spitzen und Gipfeln die weißen Schneefelder glänzen.
Herrlich ist die Natur im Altai, aber ihr fehlt das Le-
ben, denn tagelang kann man nmherstreisen, ohne ein leben-
des Wesen zu entdecken. Zwar weiden viele Viehherden ans
den terrassenförmigen Abhängen der Bergwände und in den
Thälern, aber die große Ausdehnung des Landes, über das
sie sich vertheilen, läßt sie vollständig verschwinden. Noch
spärlicher trifft man Wohnungen der Menschen an; meilen-
weit von einander entfernt liegen ganz vereinzelte Filz-
jnrten in den Uferwaldungen versteckt, so daß sie kaum von
dem aufmerksamsten Beschauer wahrgenommen werden können.
Wenden wir uns vom Wege, der am Fuße des Gebir-
ges sich entlang zieht, abwärts zum Flusse und besuchen wir
eine Kalmückenansiedelung, die dort zwischen den Bän-
men liegt. Sie besteht aus drei Filzjurten, welche eher
einigen Ameisenhaufen als menschlichen Wohnungen ähnlich
sind. Der Weg in die Thalebene ist wohl eine Werst lang,
aber er ist bald zurückgelegt. Kaum haben wir uns der
Waldung genähert, da ertönt schon der Warnnngsruf des
Führers: Akyr, akyr Patpak (langsam, langsam! Sümpfe).
Der Boden wird schlüpfrig und das Gras nimmt jene braun-
gelbe Farbe an, die als sicheres Zeichen des Sumpfes zur
Vorsicht mahnt. Der Pfad verschwindet vollständig, und
nur das an einigen Stellen niedergetretene Gras zeigt, daß
hier Reiter passirt sind. Nachdem der Führer aufmerksam
nach allen Seiten umhergespäht, folgt er einer der Spuren,
und wir reiten dicht hinter ihm her. Mehrmals sinken zwar
die Pferde bis zum Bauche ein, aber dennoch arbeiten sie sich
glücklich hindurch.
Aus einer etwas erhöhten Stelle liegen nun die drei Jnr-
ten vor uns. Sie haben die Form abgestumpfter Kegel
und sind mit von Ranch geschwärzten Filzdecken belegt. Zwei
derselben sind größer, die dritte nur sehr klein. Vor der
einen sind zwei Stangen aufgestellt, zwischen welchen ein
mit allerlei Lappen und Bändern behangener Strick ansge-
spannt ist. Dies ist die dem Schutzgeist geweihte Stätte.
Nicht weit vou der Jurte steht ein aus vier aufrecht stehen-
den Stangen gebautes Gerüst, auf dem an einer schräg dar-
über gelegten Stange eine Pferdehant aufgehängt ist; diese
Erscheinung ist ein dem Kösmös (Teufel) geweihtes Krau-
keuopfer.' Wir finden aber keine Zeit, diese Wohnstätte
genau zu mustern, denn kaum haben wir uns derselben ge-
nähert, so stürzt eine Meute halb verhungerter Hunde auf
uns zu und springt bellend und henlend an den Pferden
Globus XI. Nr. 8.
rguomadeu des Altai. 249
empor, fo daß unsere Knuten sie kaum abzuwehren vermö-
gen. Vom Pferde herabzusteigen dürfen wir nicht wagen,
sondern Hülfe vom Hause erwarten.
Endlich hebt sich der Filzvorhang, der die Thür der Jurte
bildet, und langsam steigt aus derselben eine breitschultrige
Gestalt, die mit steifem Nacken sich höchst ehrerbietig vor
uns verbengt; eine ganze Menge halb nackter Kinder folgen
ihr. Während die Kinder Steine und Stöcke ergreifen und
mit lautem Geschrei: Tschyk, tschyk! sich auf die Hunde
stürzen, so daß diese nach allen Seiten davonlaufen und die
getroffenen ein klägliches Gehenl erheben, führt der Herr der
Jurte mein Pferd zur Thür und ist mir beim Absteigen be-
hülflich.
Wir treten jetzt durch die niedrige Thüröffnung ein. Die
Jurte ist im Innern ziemlich geräumig, kreisrund, hat etwa
drei bis vier Klafter im Durchmesser und besteht ans einem
Holzgestelle, das mit zerrissenen, halbverkohlten Filzdecken,
die an dem Gestelle befestigt sind, bedeckt ist. Die senkrechte
Wand besteht entweder aus einem Gitter, oder ans in den
Boden gesteckten etwa zwei Ellen langen Stäben; auf den
oberen gabelförmigen Enden derselben liegen dünne Stangen,
die sich oben im Mittelpunkt der Jurte gegen einander stützen.
Diese Stangen bilden das Dach.
Die innere Einrichtung ist höchst einfach. Der Thür
gegenüber, etwas nach links, ist das Bett, das aus Filzdecken
besteht; rechts von demselben sieht man eine Reihe Packsäcke
an der Jurtenwand ausgestellt; sie enthalten die bewegliche
Habe der Familie. Ueber diesen dem Bette zunächst stehen-
den Säcken ist gewöhnlich eine Filzdecke oder ein Teppich
ausgebreitet und über diesen sind an den Dachstangen die
Götzenbilder aufgehängt. Zwifchen deu Säcken und der
Thür hängen an der Wand die Utensilien des Hausherrn,
Sattel, Reitzeug und die Flinte mit der Lunte. Rechts
vom Bette befinden sich die Küchengeräthe, der Schlauch, in
dem der Kumis gesäuert wird, einige Kessel, Schalen, Näpfe,
Eimer, Dreifüße, und dazwischen hängen Fleischvorräthe.
In der Mitte ist die Feuerstelle; hier brennt fast ununter-
brachen ein Feuer, welches das Innere der Jurte mit Rauch
erfüllt; rings um der Feuerstelle liegen gewöhnlich vier bis
fünf Fellstücken, auf denen die Hausbewohner und Gäste
Platz nehmen. Gegenüber der Thür zwischen Feuerstelle
und Bett ist der Platz der Hausfrau, und neben ihr links
nach den Säcken zu jener des Hausherrn. Rechts, zwischen
der Stelle der Hausfrau bis zur Thür, sitzen die zur Fa-
milie gehörigen Weiber, an der andern Seite und iu der
Nähe der Thür sitzen die Männer. Dicht neben dem Haus-
Herrn ist die Stelle für den Ehrengast, dem man gewöhnlich
als Sitz eine Filzdecke ausbreitet.
So sieht ohne Ausnahme jede Jurte aus. Reich und
Arm begnügt sich mit den angeführten Hansgeräthen; nur
hat der Reichere größere Kessel und mehr Säcke. Der In-
halt der letzteren besteht bei den Wohlhabenden aus Zeugen,
Fellen und Kleidungsstücken; bei den Armen meist nur aus
Schafwolle und abgetragenen Lumpen. Unreinlichkeit
und Unordnung herrscht aber in allen Jurten im hohen
Grade. Die Kochgeräthe liegen zwischen alten Filzdecken
und Pelzen herum. Das Bett ist ebenfalls mit altem Ge-
rümpel überhäuft und der Boden wird nie gereinigt, sondern,
wenn man es vor Schmutz nicht mehr aushalten kann, ver-
setzt man die Jurte an eine andere Stelle!
Diese elenden Wohnungen, welche im Sommer nicht vor
Regen noch Wind schützen und im Winter die Kälte nich
abhalten, bewohnt der Kalmück in jeder Jahreszeit. Fü
den Winter trifft er keine anderen Vorrichtungen, als da
er rund um die Jurte Erde aufschüttet und an schadhaften
Stellen des Daches neue Filzdecken auflegt. Um diefes Ze
32
250 Barbarei und Fremde
nur einigermaßen erträglich zu machen, muß ununterbrochen
Feuer in demselben erhalten werden, aber trotzdeur müssen
sich die Bewohner noch in Pelze hüllen, um nicht zu er-
frieren.
Die Kleidung der Kalmücken ist eben so gleichmäßig wie
ihre Wohnungen, und es wäre schwer, Reich und Arm an
der Kleidung zu unterscheiden. Im Allgemeinen tragen Alle
die Kleider so lange, bis sie ihnen vom Leibe fallen, so daß
nur der ein stattliches Ansehen hat, welcher zufällig eiu neues
Gewand befitzt.
Die Kinder laufen bis zum siebenten Jahre fast nackt
umher, nur bei Kälte werden ihnen Schafpelze umgeworfen
und Filzstrümpfe angezogen. Männer und Weiber tragen
kurze Hemden und bis zum Knie reichende Hosen von blauem
Daba (Baumwollenzeug), Filzstrümpfe und Stiefel aus
Reh- oder anderen Fellen, mit der behaarten Seite nach
außen; über dem Hemd tragen sie meist einen Pelz ohne
Ueberzng. Außer dieser Allen gemeinsamen Bekleidung ha-
ben die Männer noch eine Jacke mit nach außen herabhän-
geuden Taschen (Tschejmäk), die sie über dem Hemde tra-
gen, nnd die Weiber, d. h. die verheirateten, einen langen
)etze in der Wallachei.
Rock mit weit ausgeschnittenen Armlöchern (Tschödök), der
theils über dem Hemde, theils über dem Pelz getragen wird.
Männer, Weiber und Kinder haben als Kopfbedeckung einer-
lei Mützen; diefe sind dreieckig, spitz nnd außen mit schwar-
zem Lammfell befetzt; am hintern Ende hängen lange rothe
Bänder.herab. Diefe Mützen werden von den verheirathe-
ten Frauen niemals abgenommen, selbst dann nicht, wenn
sie vor Gericht erscheinen. Die Männer scheeren den Kopf
bis anf eine kleine kreisrunde Stelle am Scheitel, an der sie
einen Zopf mit einem langen Zopfbehange und einer Quaste
daran tragen. Die Weiber flechten das Haar in zwei lange
Zöpfe, die Mädchen in viele kleine Zöpfe, an denen sie aller-
lei Muscheln und Glasperlen befestigen; vorn lassen sie zwei
Haarbüschel zur Seite der Schläfe herabhängen. Die Män-
ner gehen bei großer Hitze mit nacktem Oberkörper. Die
Frauen hingegen haben meist alle die eben genannten Klei-
dnngsstücke, wenn dieselben sich auch oft in einem gar jäm-
merlichen Zustande befinden. Unterschiede zwischen Sommer-
nnd Winterkleidung kennt der Kalmück nicht. Im Gürtel
trägt er einen Feuerstahl mit Schwammtasche nnd ein Mes-
ser, und in den Stieseln Pfeife und Tabacksbentel.
Barbarei und Iremdenhetze in der Wallachei.
Wir erhalten von Herrn Wilhelm Hausmann in Krön-
stadt (in Siebenbürgen) folgende Mittheilung:
Großes Aufsehen machte auch in weiten Kreisen die im De-
cember vorigen Jahres vom romanischen Pöbel verübte, sehr un-
motivirte Zerstörung der ganz neu erbauten jüdischen Synagoge;
ebenso die nicht lange darauf erfolgte Fremdenhetze, wobei nicht
der Pöbel, sondern die Regierungsorgane die Hauptrolle spielten.
Namentlich schien es dabei gerade zumeist auf die aus den benach-
barten österreichischen Provinzen eingewanderten Fremden abgese-
hen; indeß blieben auch andere Nationsgenossen nicht verschont.
Aber vie jetzt vor einigen Tagen eingelaufenen Berichte über
die Willkürlichkeiten und Grausamkeiten, gegen Fremde von den
romanischen Autoritäten verübt, übertreffen Alles, was wir selbst
erlebt und gesehen haben bei weitem, und müssen jeden rechtlich
Gesinnten mit Entrüstung erfüllen. — Diese Vorgänge bestätigen
zugleich neuerdings unsere schon in einem frühern Artikel des
„Globus" ausgesprochene Behauptung: daß noch bedeutende Ver-
änderungen und Verbesserungen vorgehen müßten, bis man deut-
scheu Auswanderern rathen könne, ihr „Glück" in den Donau-
ländern zu suchen, und daß es nicht genug sei, nur auf die großen
noch unbebauten Landstrecken hinzuweisen, ohne die politischen und
socialen Verhältnisse gebührend zu würdigen.
Daß man dort nicht nur Bettler, Vagabunden und Verbre-
cher, die etwa dem Lande zur Last fallen könnten, verfolgt, son-
dern Leute, welche demselben durch ersprießliche Thätigkeit nur Nutzen
bringen und an denen der indolente verfolgungssüchtige romänische
Pöbel sich nur ein gutes Beispiel nehmen sollte, mögen folgende
authentischer Quelle entnommene Daten beweisen.
Mitte Januars wurde ein Zimmergeselle, der am Morgen
mit seinen Werkzeugen unter dem Arme zur Arbeit gehen wollte,
auf offener Straße, und obgleich seine Papiere in Ordnung wa-
ren, angehalten. Er bat die rohen Schergen ihn zum Meister
zu führen, welcher jede Garantie für ihn leisten würde. Alles
umsonst; es hieß: Marsch Neamtz — Deutscher — Du frißt
uns das Brot weg. — Als der Arme nach Weib und Kindern
schrie, beruhigte man ihn mit Faustschlägen ins Gesicht, und der
Sergeant rief ihm höhnisch zu: „warte nur, Weib und Kinder werden
Dir schon bald nachfolgen!" — Gegen die hier ohnehin viel benei-
deten und gehaßten Juden wird wo möglich noch rücksichtsloser
vorgegangen. Man zerrt sie am Barte unter Hohn und Spott durch
die Gassen, ohne ihnen nur zu sagen, warum man sie verhaftet.
In der neugebauten Caferne Serejentitor de Orasu sind nahe
an achthundert Menschen zusammengesperrt, die vor Hunger und
Durst halb wahnsinnig alles um sich her zertrümmerten. Blei-
stiftzettel in allen möglichen Sprachen fliegen durch die zerbroche-
nen Fenster auf die Gasse, vollgeschrieben mit den bittersten Kla-
gen über die Roth der Gefangenen. Viele hatten seit fünf
Tagen keine Nahrung erhalten. Das von mitleidigen Menschen
aus freiem Antriebe gespendete Brot muß durch die Hände Wala-
duscher Popen vertheilt werden, anders läßt man es nicht zu. Na-
türlich spielt bei dem feigen habsüchtigen Charakter der Gefangen-
Wärter die Bestechung wieder eine große Rolle. Wer so glücklich
ist, etwas Geld bei sich verstecken zu können, genießt, wenn er
gebührend mit den Aufsehern theilt, allerlei Vortheile. Solche
Gefangene bekommen auch Brot, welches die gefälligen Wärter
für acht Gologan einkaufen und es für sechszehn dem Gefangenen
berechnen. Ebenso bilden die Schlafstellen auf den armseligen
Holzpritschen noch eine Einnahmequelle, auch dafür muß bezahlt
werden, sonst mag man sich's auf dem schmutzigen Fußboden be-
quem machen. — Besucher, welche sich nicht genügend durch einige
Silberstücke zu empfehlen wissen, die sie in die stets empfang-
bereite Hand der Schließer gleiten lassen müssen, werden ganz
einfach mit Fanstschlägen abgewiesen.
Den Massentransport und die Abschiebung der unliebsamen
Fremdlinge schildern Augenzengen in derselben Weise und fast
mit denselben Worten, wie wir in dem eingangs erwähnten Arti-
kel es schon gethan und worauf wir verweisen. Auch heute noch
wie vor zwei Jahren thut die Regierung nichts für die Pflege
der Gefangenen auf dem weiten Transport durch die rauhen stei-
len Hochgebirge. Neu ist es aber, daß mildgesinnte Menschen,
die beim Durchmärsche die armen Verschmachteten durch Speise
und Trank erquicken wollen, zurückgewiesen werden, mit dem Be-
merken, daß solche Speisen uud Getränke viel zu gut für die Ge-
sangenen seien!
Eine scandalöse Seene ereignete sich zu Bucharest am diesjäh-
rigen Feste der Wasser weihe, welches am Feste Johannes des
Täufers, den 19. Januar, begangen wurde. Am gedachten Tage
wird, gleichviel bei welchem Kältegrade, an einer gewissen Stelle
an der Dimbovitza die Ceremonie "der Wasserweihe vorgenommen.
Die Bataillone marschiren unter den Klängen der Musik am Ufer
auf. Alle Civil- und Militairbehörden nebst dem regierenden Für-
sten erscheinen und nehmen die für sie bestimmten Plätze ein. Der
Aus allen
Metropolit, gefolgt von zahlreichen Popen, beginnt die Liturgie.
Bei einer gewissen Stelle wirst der Metropolit ein silbernes Kreuz
in das Wasser. Besonders strenggläubige eifrige Romanen beei-
len sich sodann, das im sandigen Flußbette verschwundene Kreuz
wieder herauszuholen; und trotz des eisig kalten Wassers stürzen
sich Mehrere hinein, da nach ihren Glaubenssatzungen dieses Bad
sie zugleich von Sünden reinigt. Den Eifer verstärken wohl auch
bei profaner Gesinnten die paar Ducaten, welche dem glücklichen
Auffinder des Kreuzes verabfolgt werden. Die Tausende von Zu-
schauern drängen sich natürlich neugierig heran, wenn der Held
des Tages erscheint und triefend nüt triumphirender Miene das
Kreuz bringt, während alle Glocken feierlich zusammenschlagen
und Kanonensalven durch das Dimbovitzathal rollen. Vom jen-
seitigen Ufer rufen neckend einige Stimmen: „Da find auch J u-
den!" Hier schallt es zurück: „Auch Neamtz — Deutsche —
sind da, ins Wasser mit ihnen, sie müssen romänisch
getauft werden!" Mit höhnischem Gelächter treibt man die
vergebens sich Sträubenden in das kalte Wasser.
Nach dem Volksglauben werden so Getaufte erst in echt
romanische Kirchen- und Landeskinder umgewandelt. Wir wür-
den den Betreffenden noch rathen, bei dieser Gelegenheit einen
Stein in den Mund zu nehmen, wodurch sie, nach dem allgemein
herrschenden Volksglauben', auch viel Glück im Lande erleben
würden.
Wir halten jeden Commentar zu den oben geschilderten See-
Erdtheilen. 251
nen für überflüssig, sie sprechen genügend für sich selbst. Was
mag aber der deutsche Fürst „Carolu I." gedacht haben, als er in
seiner Gegenwart uugescheut solche Rohheiten an deutschen Lands-
leuten verüben sah?
Daß die vielen Consulate dem fanatischen Treiben der romä-
nischen Behörden so ruhig zusehen, ist sehr zu verwundern, da
solche auffallende Vorgänge doch zu ihrer Kenntniß gekommen
sein müssen. Eine ernste Zurechtweisung von competenter Stelle
möchte, wie wir den Charakter der Romänen kennen, gewiß nicht
ohne Wirkung bleiben. —
(— Es ist bemerkenswerth, daß die Halbbarbaren in Europa
überall ihrem Hasse gegen Juden und gegen Deutsche einen so
brutalen Ausdruck geben. P o l a ck e n, Tschechen und Wallachen
stehen in dieser Beziehung auf gleicher Linie. Die Inferiorität
und die Trägheit und der Bildungsmangel ärgert sich über Leute,
welche fleißig und betriebsam sind, und aus diesem Aerger gehen
die Gewalttätigkeiten hervor. Bei den ssogenannten höheren
Classen wird die innere Brutalität wohl mit einem allerdings d«nn
aufliegenden Firniß überzogen, aber sobald die Leidenschast aus-
wallt, wird diese Politur von der im Innern grollenden Barbarei
durchbrochen. Das Wort des alten Napoleon: „Man braucht nur
ein wenig an dem glänzenden Lack.zu kratzen und der Barbar
kommt sofort zum Vorschein" ist sehr richtig und gilt auch heute
in Bezug auf die lackirten Halbbarbaren. Bei den unlackirten
tritt er natürlich ganz urwüchsig hervor. —)
Mus allen
Weitere Spuren von Leichhardt's Expedition. Aus
Bowen, Port Denison, Queensland, ist folgender Brief, vom 16.
November 1866, in Melbourne eingegangen.
Berichte von Burke-Town und dem Albert-River-Di-
stritt am Meerbusen von Carpentaria, bis zum 20.Octo-
ber reichend, melden unter Anderm, daß neuerdings ein Baum
mit Leichhardt-Merkzeichen bei Beams-Creek, ungefähr
28 Meilen südwestlich von der Vereinigung der Flüsse Barkly
und Albert entfernt, entdeckt worden ist. Knochentheile und Theile
eines Schädels wurden nahe der Stelle gesunden. Die Art und
Weise, wie die Bänme dort gezeichnet sind, lassen vermuthen, daß
die Partie eine westliche Richtung vom Meerbusen aus eingeschla-
gen hat. — Walker war mit seinen Begleitern Ende Septem-
bers in Bowen eingetroffen, nachdem er den Landstrich von Town-
ville bis zum Meerbusen durchreist hatte. Er berichtete ungünstig
über das Land, und daß das dort wachsende Holz nicht brauchbar
zur Errichtung von Telegraphenstangen sei. Die Gesellschaft litt
während der Reise bedeutend durch Krankheiten. Walker wollte
nach Verlauf von 14 Tagen wieder ausbrechen und quer durch
das Land nach Cardwell vordringen. Die Gold-Profpectirer, welche
ihn begleiteten, haben günstige Meinungen über die durchzogenen
Gegenden in Bezug auf dort vorzunehmendes Goldgraben geäußert.
W. H. Johnson's Reisen von Letz in Ladakh nach
Chotan im chinesischen Türkistan. Alle Nachrichten aus der
großen Provinz, welche die Chinesen als Thian schan nan ln be-
zeichnen, find von Interesse und die ganze Region ist ohnehin für
den innerasiatischen Handelsverkehr von großer Wichtigkeit. In
Yarkend sowohl wie in der Hauptstadt des Chans von Chotan
(Khotan) treffen russische Fabrikate mit den englischen zusam-
men. Johnson ist in Indien erzogen worden, lebte zumeist im
Himalaya und war schon als Jüngling bei den Vermessungen
thätig, welche dort Andrew Scott Waugh leitete. Während er
in Kaschmir mit trigonometrischen Vermessungen beschäftigt war,
lud der Chan von Chotan ihn ein, sein Land zu besuchen. Wir
haben der Reise im „Globus'' schon früher erwähnt; das Fol-
gende ist einem Berichte Rawlinfon's in der Londoner geographi-
fchen Gesellschaft entnommen. Marco Polo, Benedict Goes und
im vorigen Jahrhundert einige Jesuitenmissionaire haben Eltschi
besucht. Die Gebrüder Schlagintweit kamen vom Karakorum-
gebirge her nur bisPutschia, das noch etwas südlich von Eltschi
L r d l h e i l e n.
liegt. Das letztere ist schon durch seine Lage, als Knotenpunkt
der Karawanen, welche den Handel mit China, Indien und Ruß-
land vermitteln, eine Stadt von Bedeutung. Ehemals war es
auch eine Art von buddhistischem Rom für Eentralasien; chine-
fische Reisende fanden dort im 14. Jahrhundert nicht weniger als
14 Klöster, von denen keins unter 3000 Mönche zählte. Bis in
die jüngste Zeit stand es unter Herrschast der Chinesen, aber in
Folge des Krieges mit England, durch welchen der Herr des Blu-
menreiches der Mitte so sehr geschwächt wurde, rebellirten die
Türkistaner und vertrieben die Mandarinen. So bemerkte Johnson,
daßDarkend, westnordwestlich von Eltschi, sich in völliger Anarchie
befand. Er erzählt, daß die angesehensten Bewohner dieser wich-
tigsten Stadt im Lande zu ihm nach Eltschi kamen und ihn baten,
die Stadt für England in Besitz zu nehmen. Der Chan von
Chotan, der früher einmal Indien besucht und dort Reisen ge-
macht hat, wünscht lebhaste Handelsverbindungen. Bisher war
die Scheidegrenze zwischen Indien und Eentralasien sowohl poli-
tisch wie geographisch. Gegenwärtig ist der Maharadscha von
Kaschmir Herr der Pässe, welche nach Türkistan führen, und er-
hebt von den Maaren so hohe Abgaben, daß dadurch der Ver-
kehr nahezu unmöglich gemacht wird. Johnson sagt nun, er habe
eine gute, für Wagen praktikable Straße entdeckt, welche das
ganze Jahr hindurch benutzt werden könne. Auf ihr werde man
aus Indien nach Eltschi kommen, indem man das Gebiet von
Kaschmir zur Linken liegen lasse. Diese Straße werde alsPotu
bezeichnet; sie führe über den Kuen lun, da wo derselbe eine
beträchtliche Einsenknng habe, und gehe dann über Rudok. Auf
dem direeten Wege, welchen Johnson auf seiner Hinreise nahm,
haben die Uebergangspässc 15,000 bis 18,000 Fuß Höhe und
man muß mehrere Tage lang über eine Hochebene ziehen, welche
16,000 Fuß über dem Meere liegt.
Erforschung der Nevengewässer des Purüs durch
Chandleß.
Wir haben früher berichtet, daß dieser Reisende den Pnrüs,
einen der Hauptnebenströme des Amazonas, bis in dessen Quell-
gegend hinaufgefahren »fei. Er hat jetzt der Londoner Geogra-
phischen Gesellschaft einen Bericht abgestattet über die Erforschung
eines Nebenflusses desPurns; es lag ihm daran, bis an die wirk-
> lichen Quellen dieses Flusses und seiner Nebenläufe vorzudringen.
| Diese scheinen alle verhältnißmäßig niedrig über der Meeresfläche
32*
252
Aus allen Erdtheilen.
in undurchdringlichen Wäldern zu liegen. ^Chandleß faßte den
Acquiry ins Auge, der in den Purns an einer Stelle fällt,
welche von der Einmündung des letztern in iden Amazonas etwa
1100 Miles entfernt ist. Er fuhr diesen Acquiry ungefähr 200
Miles hinaus; dann wurde der Fluß enger und schien sich in un-
zugänglichen Waldungen zu verlieren. Ein weiteres Vordringen
war nicht möglich.
Von Interesse sind die Schilderungen über die ganz urthüm-
lichen Zustände der JndianerHorden am Purus und Acquiry.
Diese braunen Leute haben nicht einmal Bogen und Pfeile und
keine Ahnung vomGebrauche der Metalle; sie besitzen
nur Steinwerkzeuge. Anfangs benahmen sie sich sehr miß-
trauisch, wurden aber weniger scheu, als man ihnen Geschenke
hingelegt hatte. Als sie einen Spiegel sahen, fühlten sie sich
höchst beunruhigt und waren nicht zu bewegen, ihre Gestalt oder
ihr Gesicht ruhig in demselben zu betrachten. Einige Stämme
waren sehr kriegerisch, doch wurden von Seiten der brasilianischen
Regierung die friedlichen Horden gegen Angriffe jener in Schutz
genommen. — Chandleß kam bis etwa 2400 Fuß Höhe über dem
Meere; doch meint er, daß auf sein Barometermessen kein genauer
Verlaß sei.
In derselben Sitzung wurden Bemerkungen des Professors
Raimondi in Lima über zwei der nördlichen Zuflüsse des Ama-
zonenstromes verlesen. Wir finden dieselben in dem vor uns lie-
genden Berichte nicht namhaft gemacht. Der bekannte Reisende
Bat es erwähnte, daß in der Region des Purns aus einer Strecke
von 600 Miles von Nord nach Süd, und 300 Miles vort West
nach Ost Alles so dicht mitWald bestanden sei, daß man
auch nicht einen einzigen Acker klarenLandes dort sin-
den könne. Wege oder Pfade finde man nur in der unmittel-
baren Nähe der wenigen Dörfer. Die Dammerde sei 20 Fuß tief.
Wir wollen hier die Notiz anschließen, daß das Decret der
brasilianischen Regierung über die Eröffnung des Amazonenstro-
mes ic. für die Handelsschiffe aller Nationen vom 7. September
1867 an Folgendes feststellt:
Der Amazonas ist frei von der Mündung bis zur brasilia-
nisch-peruanischen Grenze;
der Tocantins bis Cameta;
der Tapajoz bis Santarem;
der Madeira bis Borba;
der Rio Negro bis Manaos (Barra);
der San Francisco bis Penedo.
Wir finden in der zu Joinville erscheinenden „Colonie-Zei-
tnng" vom 12. Januar die Notiz, daß der Dampfer Jnca, wel-
cher mit Gütern befrachtet eine Versuchsreise den Madeira auf-
wärts machen sollte, bei der Ortschaft Ura aus Felsen gerannt
ist. — Die bahianische Dampsergesellschast wird eine Dampfer-
linie auf dem untern San-Francisco-Strome zwischen Penedo
in der Provinz Alagoas und der Stadt Piranhas in der Pro-
vinz Sergipe herstellen.
Aus Ecuador zum Amazonenstrom. Auch in der Re-
vublik Ecuador trachtet man dahin, die Wasserverbindung dieses
Landes mit dem Amazonas nutzbar zu machen. Er erhält aus
demselben mehrere beträchtliche Nebenflüsse, namentlich den Pu-
tumayo oder J^a und den Uapura oder Eaqueta; weiter
nördlich fließen sodann zum Rio Negro, dem wichtigsten Ge-
wässer, welches der Amazonas auf seiner linken Seite erhält, viele
Flüsse. Aber diese atlantische Abdachung von Ecuador ist nur
sehr ungenügend bekannt und für die Forscher dort noch viel zu
thun übrig. Nun melden Berichte aus Quito, der Hauptstadt
von Ecuador, daß die Regierung dem Obersten Proano Unter-
stützung und Geldmittel für ein Unternehmen gewährt habe, das
im Falle des Gelingens von großer Bedeutung für den Verkehr
werden kann. Der Oberst versichert, daß er die verschiedenen Zu-
flüsse des Amazonas in Ecuador untersucht und die Ueberzeugung
gewonnen habe, daß der Morona bis nach Miasal hinauf
schiffbar sei. Dieser Punkt liegt nur 46 Leguas von Guayaquil.
also von der Küste des Stillen Weltmeeres, entfernt. Der Mo-
rona kommt aus Peru und die peruanische Regierung will dem
Unternehmen Proanos aus ihrem Gebiete gleichfalls alle Un-
terstützung angedeihen lassen. Man geht aber höchst sanguinisch
zu Werke, wenn man behauptet, daß man auf diesem Wege, also
den ganzen Amazonas auswärts und den Morona obendrein, Lima,
von Europa aus, in 23 Tagen werde erreichen können.
Aus Südamerika. Die peruanische Regierung Haidas
Decret über Einwanderung vom 4. Januar 1865 erneuert.
Demgemäß sind alle Ausländer, gleichviel ob sie das Bürgerrecht
genommen haben oder nicht, von allen und jeden Abgaben be-
freit. — Dieselbe Regierung läßt jetzt Guano auf eigene Rech-
nung verschiffen. Sie will eine Eisenbahn von Callao nach
Magdalena bauen. Der Telegraph von dem Hafenplatz
Jslay nach Arequipa ist im Januar 1867 bis Tambo de la
Joya dem Betrieb übergeben worden.
Der Handel Englands mit Südamerika nimmt an
Bedeutung ungemein rasch zu. Die britischen Ausfuhren stell-
ten sich nach folgenden Ländern in Pfund Sterlingen so heraus:
1864. 1865. 1866.
Argentinien 1,757,457 1,950,802 2,844,306
Chile. . . 1,683,580 1,601,987 1,852,436
Peru. . . 1,331,692 1,185,756 1,354,697
Uruguay . 993,951 812,861 1,402,174
Brasilien — — 7,223,794.
In Brasilien dauert die Einwanderung aus den Südstaa-
ten Nordamerikas fort; die Provinzen San Paulo und Santa
Katharina erhalten dadurch beträchtlichen Zuwachs an intelligen-
ten Kräften, und derBaumwollenbau, nun rationell betrieben,
gewinnt an Ausdehnung. In Buenos Ayres brachte im Ja-
nuar das Schiff Galileo 48 junge Männer aus England, die
alle wohl mit Capital versehen waren und Schafzucht treiben wol-
len. — Ochsenzungen und gepökeltes Rindfleisch wer-
den in Buenos Ayres mehr und mehr zu einem wichtigen Aus-
fuhrartikel. In dem genannten Hasen hat das Zollhaus 1866
die Summe von 196 Millionen Papierdollars eingenommen, die
jetzt einen Cours von 25 auf den Patacon haben. Von Buenos
Ayres gingen nicht weniger als 144 Schiffe nach Antwerpen;
sie hatten außer Häuten und Hörnern 50 Millionen Pfund Wolle
an Bord. — Im vorigen Jahre haben sich mehrere Schafzüchter
aus Australien in den La-Plata-Gegenden niedergelassen.
Einwanderung in den La -Plata- Staaten. Dieselbe
ist fortwährend im Anwachsen. Es kamen an 1862: 6716 Köpfe;
1863: 10,408; 1864: 11,682; 1865: 11,7.67; 1866: 13,696;
zusammen in fünf Jahren 54,269. Davon kommen seit 1862
auf die Italiener 31 Procent, auf die Franzosen 28, Engländer
10, Spanier 7, Deutschen nur 2 Procent. Die englische Ein-
Wanderung hat sich seit 1864 verdoppelt; sie begreift die großen
Vorzüge und Vortheile Argentiniens, und das wird hoffentlich
fortan auch in Deutschland der Fall sein. Unsere dort angesie-
delten Landsleute befinden sich in guten Umständen. Raum und
gutes billiges Land in gesundesten Gegenden ist in Menge vor-
handen. Jetzt kommen auf 130,000 Ouadratleguas erst etwa
11/2 Millionen Einwohner. — In der Provinz Santa Fs sind
4 „Colonien", Esperanza 1700 Seelen, San Geronimo 800,
San Carlos 800, Helvetia 200 Seelen. Dazu kommen die
Ansiedelungen in Gran Chaco mit etwa 600 Köpfen. In En-
tre Rios liegen die beiden Colonien San Jose; 2280 und
Villa Colon 400 Seelen. Buenos Ayres hat die drei klei-
nen Colonien: Baradero (Schweizer) 900, Patagones 100,
und die Waliser Colonie Chubut 150 Köpfe. —. Aus Mon-
tevideo erschallen immerfort Klagen über Mangel an Arbeitern
aller Art, obwohl die Löhne ungemein hoch stehen. Man wünscht
Handwerker, Dienstboten, Schäfer und Ackerbauer.
Montevideo hat im Jahre 1866 eine auswärtige Han-
delsbewegung von o0,150,000 Dollars gehabt. Unter den
Aussuhren zählen Wolle, Häute, Roßhaare:c. mit 4,058,650
Dollars. Dazu Talg aus den Häsen Uruguays, überhaupt Talg
und andere Producte mit 265,000; es wurden 1,054,766 Stück
Rindvieh und 30,436 Pferde geschlachtet.
Der Hafen von Buenos Ayres war am 12. Januar
1867 so belebt wie nie zuvor. Es lagen nicht weniger als 239
Schiffe vor Anker. Davon waren 38 Deutsche, 50 Engländer,
16 Nordamerikaner, 32 Franzosen, 17 Holländer, 15 Spanier,
48 Italiener, 4 Dänen, 10 Norweger, 5 Schweden, 4 Belgier.
Aus allen
Die Walisische Colonie in Patagonien, am Flusse Chubu t,
hat eine gute Ernte gehalten. Sie steht in freundlicher Beziehung
zu den Indianern, welche im Monat December nicht weniger als
3000 Pfund Straußfedern zum Verkauf dorthin gebracht haben.
Die Stadt Porto Alegre in der südbrafilianischen
Provinz Rio Grande do Sul.
Das so reizend gelegene Porto Alegre, welches sich in
seiner noch nicht hundertjährigen Existenz einer so blühenden Ent-
wickelnng zu erfreuen gehabt hat, ist unter vielen Gesichtspunkten
besonderer Aufmerksamkeit Werth.
Porto Alegre ist die größte und zukunstreichste Stadt der
Südprovinzen Brasiliens, die ihrerseits wieder die lebenskräftigsten
und zu den größten Erwartungen berechtigten des ganzen Kaiser-
reiches sind, denn nicht nur lebt in diesen Provinzen ein gesun-
derer, kräftigerer und thätigerer eingeborner Menschenschlag als
in den nördlichen Theilen des mächtigen Reiches, sondern das
deutsche Element, welches sich in ihnen eoncentrirt hat und in den
drei Provinzen schon an 80,000 Köpfe zählt, übt auch einen be-
deutenden kulturgeschichtlichen Einfluß auf das eingeborene Element
aus und giebt ihm eine solidere und realistischere Richtung, die
nach und nach den hohlen lusttano- und hifpano-amerikanifchen For-
malismus verdrängen und eine Umwälzung zu Stande bringen
wird, bei der das Germanenthum in seiner Verschmelzung
mit dem eingeborenen Elemente wieder einmal seinen belebenden
und veredelnden Einfluß thatsächlich an den Tag legen wird, nicht
nur in materieller, sondern auch in moralischer Beziehung.
Die Concentration des deutschen Elementes in den
Südprovinzen ist naturgemäß, denn hier tritt der Einwanderer
nicht an die Stelle des Sklaven, als weißer Taglöhner, sondern
die Arbeit einer fleißigen Bevölkerung, selbständiger kleiner
Landbesitzer, als welche die Einwanderer hier auftreten, hebt
die Production und den Reichthum des Landes und drängt die
Sklavenarbeit nach und nach nach dem Norden zurück.
Die wachsende Stärke des deutschen Elements in Süd-
brasilien übt den moralisirenden Einfluß aus, den wir oben be-
rührten und dessen Segen Brasilien thatsächlich genießt, so sehr
es sich auch gegen die Anerkennung desselben sträubt.
Der Einfluß der deutschen Arbeit öffnet dem Süden
Brasiliens und hauptsächlich der Provinz Rio Grande neue
Gesichtskreise, denn sie zieht die bisher hauptsächlich Viehzucht
treibende Bevölkerung zum Ackerbau hin, das heißt sie schafft
dieselbe um vom Hirtenvolk zum ackerbautreibenden Volk, und öff-
net ihr so den Weg zur höchsten Eulturentwickelung, deren Basis
stets der Landbau, deren Krone aber die solide Blüthe der Jndu-
strie, des Handels, der Wissenschaften und der Künste ist.
Porto Alegre bildet nun den Mittelpunkt dieser
EntWickelung; es ist nicht nur die größte und reichste Stadt
der Südprovinzen, sondern ihre vorzügliche Lage, durch die sie
einerseits die Lagöa dos Patos, andererseits das mächtige Fluß-
system des Guahyba bis zur Serra Geral hin beherrscht, wird
sie einst zum Knotenpunkte des Verkehrswesens und des Handels
von ganz Südbrasilien machen, wenn die Eisenbahn uns einer-
seits mit Santa Catharina uud Paraick, andererseits ,.mit Mon-
tevideo in Verbindung gesetzt haben wird.
Ihrer hohen Aufgabe angemessen ist auch die EntWickelung
der blühenden Stadt gewesen, die heute noch keine 100 Jahre
zählt, denn noch leben Menschen, die da, wo heute Porto Alegre
steht, dasFischerdorf „Porto dos Casaes" und Rio Grande
als Hauptstadt, ja als einzige Stadt der Provinz gekannt haben.
Daß die schnelle EntWickelung Porto Alegres zum großen
Theile auch dem belebenden Einflüsse der anliegenden deutschen
Colonien zu danken ist, brauchen wir nicht zu wiederholen; ihnen
dankt sein Handel die Blüthe, in der er sich befindet; ihnen dankt
die Stadt ihren Reichthum und ihre EntWickelung.
Der Großhandel ist hier in deutschen Händen;
Handwerk undGewerbe sind hauptsächlich durchDeut-
sche vertreten, sowie der Ackerbau ebenfalls aus dem
deutschen Elemente beruht.
Es ist deshalb doppelt interessant für uns Deutsche, einen
Ueberblick über die Entwickelung und den Fortschritt dieser Stadt
zu gewinnen, an deren Hebung die Deutschen so viel mit gearbei-
tet haben und die in der Zukunft des germanischen Elementes in
Erdtheilen. 25 3
Südbrasilien eine so bedeutende Rolle spielen wird. — Die
„Deutsche Zeitung" zu Porto Alegre, welcher wir diese Notizen
entlehnen, giebt nun folgende Zusammenstellung über die ver-
schiedenen Gewerbszweige:
Die Stadt Porto Alegre zählt gegenwärtig folgende Geschäfte-
79 Schlachtereien; 22 Schneiderwerkstätten; 19 Krämerläden;
Engrosgeschäste, die mit Stoffen handeln 17; mit Victualien 67;
mit Kalk 1; mit Möbeln 1; 1 Waffenschmiederei; 2 Bankgeschäfte;
10 Kaffeehäuser; 6 Apotheken; 4 Kesselschmiede; 8 Büreaus von
Gerichtsschreibern und Notaren; 1 Handlung mit importirtem
Schuhzeug; 5 Feuerwerkläden; 1 Möbelgeschäft; 2 Anctionsge-
fchäfte; 3 Miethpferdeställe; 6 Matratzenmacher; 1 Conditorei;
7 Barbiere; 5 Zimmerleute; 2 Zahnärzte; 7 Waarendeposita;
2 Droguenhandlungen; 3 Buchbinder; 12 Advokatenbüreaus; 10
Handelsbüreaus; 6 Procuratoren; 10 Hutfabriken; 8 Eigarren-
fabriken; 1 Sattelfabrik; 5 Lichtfabriken; 1 Glanzlederfabrik; 1
Oelfabrik; 1 Mattenfabrik; 1 Essigfabrik; 15 Schmiede; 9 Blech-
schmiede; 10 Gasthäuser; 1 Seilergeschäft; 2 Lederhandlungen;
44 Zeugläden; 15 Eifenwaarenhandlungen; 1 Blumengeschäft;
1 Jnstrumentenhandlung; 1 Buchhandlung; 3 Porzellanhandlun-
gen; 2 Spielwaarenhandlungen; 9 Silberschmiede; 2 Papierhand-
lungen; 2 Parfümeriegefchäfte; 3 Handlungen mit fertigen Herren-
kleidern; 2 Glashandlungen; 33 Tischlereien; 6 Töpfereien und
Ziegeleien; 24 Bäckereien; 4 photographische Ateliers; 2 Zucker-
sied ereien ; 5 Uhrmacher; 33 Schuhmacher; 2 Pofamentirer; 1 Ma-
ler-Atelier; 171 Vendas (Victualiengeschäfte en Detail); 6 Holz-
Pantoffelfabriken; 2 Wagenbauer; 1 Dampfsägemühle; 7 Bött-
cher; 3 Drechsler; 3 Buchdruckereien; 1 Glaser.
Das sind im Ganzen 794 Geschäftshäuser, was gewiß ein
Zeichen schneller Entwickelung für Porto Alegre ist, wenn wir
bedenken, daß die Stadt nach allgemeiner Annahme höchstens
20,000 Einwohner hat.
Leider sind unter diesen Geschäften einige Branchen vertreten,
die zum Wohle des Landes wenig beitragen; wir meinen hiermit
hauptsächlich die Unmasse von Vendas, die fast ausschließlich in
Händen von Portugiesen sind, und dem Lande effectiv sowohl in
ökonomischer wie in moralischer Beziehung Schaden bringen, da
ihre Besitzer nur darauf ausgehen, so schnell wie möglich ein Paar
Eontos de Reis zusammenzuscharren, um damit sodann nach Por-
tugal zurückzukehren, wodurch sie nicht nur dem Lande ein starkes
Capital entziehen, sondern auch, da Vielen von ihnen alle Mittel
recht sind, um schnell zu etwas Vermögen zu kommen, die schon
an und für sich verderbte Classe der Sklaven gänzlich demorali-
siren und zu allerhand Verbrechen verleiten.
So ist die zahlreiche Eristenz solcher Kleinläden (Vendas)
ein wahrer ökonomischer Krebsschaden des Landes, und unter die-
fem Gesichtspunkte kann nian das ehemals in den Kammern em-
pfohlene seltsame Project der Nationalisirung des Kleinhandels
fast verzeihlich finden.
Unter den oben angegebenen Geschäften giebt es circa 200
deutsche, 300 brasilianische und 250 portugiesische.
Wie man sieht blühen Handel und Gewerbe in Porto Alegre,
und wenn einst moderne Verbindungsmittel in genügendem Maß-
stabe vorhanden sein werden, wird die „Perle des Guahyba" ge-
wiß den Knotenpunkt des Handels und Verkehres von ganz Süd-
brasilien und mithin auch des hiesigen kräftig emporstrebenden
Deutfchthumes bilden.
Die Einwanderung von Nordainerikanern nach Bra-
silien ist im Anwachsen. Die Fanatiker, welche in dem Uankee-
Rumpfcongresse zu Washington die Mehrheit bilden und gegen
die zehn Südstaaten eine Tyrannei ausüben, dergleichen die Ge-
schichte nicht oft gesehen hat, treiben eine Menge unternehmender
Leute ins Ausland. Viele Familien aus den Südstaaten haben
sich schon jetzt in der brasilianischen Provinz San Paulo nieder-
gelassen, und die Regierung zu Rio hat schon mehr als 600,000
Milreis verausgabt, um die Staatsländereien vermessen zu las-
sen, aus den sich die Tausende von Nordamerikanern, welche
man erwartet, niederlassen werden. Am 19. März brachte ein
Dampfer 220 solcher Ansiedler nach Rio Janeiro und für die fol-
gende Woche war wieder die Ankunft von mehr als 400 ange-
meldet. Bei Eananea haben die Amerikaner schon einige Dampf-
säge mühlen im Gange.
254 Aus allen Erdtheilen.
Australien. Wir haben nach mehrmonatlicher Unterbre-
chung wieder eine Nummer der zu Melbourne erscheinenden „Ger-
mania", der wir einige Mittheilungen entlehnen.
Der Handel von Melbourne hat eine geradezu kolossale
Ausdehnung gewonnen. Im Laufe des Jahres 1866 beliefen
sich die Einfuhren auf den Geldwerth von 13,589,300 Pf. St.,
die Ausfuhren auf 11,496,778 Pf. St. Das ist also eine Han-
delsbewegung von mehr als 25,000,000 Pf. St. oder ungefähr
170,000,000 Thaler, und bemerkenswerth ist bei den Einfuhren,
daß die von Wein, Spirituosen und Bier geringer sind als frü-
her; ein großer Theil des Bedarfes wird durch einheimische Pro-
duetion gedeckt, der Weinbau ist bekanntlich sehr fortgeschritten.
Wir ersehen aus der „Germania", daß ein Herr Bruhn zu
Sandhurst von seinen 5 bis 9 Jahr alten Rebstöcken folgende
Sorten Weine liefert: Shepherd Riesling, Tockayer, Hochheimer,
weißen Pineau, schwarzen Muskat, Chasselas Riesling, Cabinet
Sanvignan, Pedro Ximenes, Schiras, Carignan, weißen Hermitage,
Burgunder, Mataro und Frontignac. Er hat nun auch die Ver-
deilhoreben aus Adelaide nach Victoria verpflanzt.
An Sonnenschein ist freilich kein Mangel. Die „Germania"
schildert die Weihnachts- und Neujahrsbelustigungen,
klagt aber, daß die Hitze sehr groß gewesen sei. Wir glauben
das gern, denn sie meldet an einer andern Stelle: „Der 12. Ja-
nuar war in diesem Sommer der heißeste Tag. Auf dem Mel-
bourner Observatorium zeigte das Thermometer 103°
4'F. im Schatten, in der Sonne war das Maximum
129° und um 1 Uhr Mittags die Hitze aus dem Erd?
boden 145°." Man klagte natürlich auch über Dürre und
eine Menge verheerender Buschfeuer.
Bei einer solchen Temperatur veranstaltete der Melbourner
deutsche Turnverein sein „Neujahrspicknick". „Der Jahreszeit
angemessen war der Tag ein schöner, aber die brennenden Son-
nenstrahlen wirkten doch etwas erschlaffend auf alle lebenden
Wesen in der Natur." Die australischen Deutschen erklärten an
jenem Tage feierlich, daß sie den theuren deutschen drei Farben
Schwarzrothgold treu bleiben und niemals eine andere Farbe
als die deutsche anerkennen würden. Schwarzweiß und Schwarz-
gelb wollen sie weder sein noch werden.
In einem Weizenfelde bei Heathcote wurde am Weihnachts-
tage eine Weizenähre ausgezogen, die genau 450 Körner enthielt.
Aus Jronback im Bendigodistricte sind im December etwa
200 Chinesen größtcntheils nach der Westküste von Neuseeland
abgegangen, von wo sie durch ihre Landsleute günstige Nachrich-
ten erhalten hatten. Die Chinesenstadt zu Jronback. welche vor
einigen Jahren an 1000 Einwohner zählte, bat nun deren nur
noch etwa 300, die zu nicht geringem Theile Spieler und Diebe
sind.
In Südaustralien hat die Regierung verfügt, daß bis
auf Weiteres keine Einwanderer mehr auf Staatskosten nach der
Kolonie befördert werden sollen. — Sie hatte vor Monaten den
Major Warburton ausgeschickt, um die Gegend im Westen der
Colonie zu erforschen; es war ihm aber unmöglich, vorzudringen,
weil seit langer Zeit kein Regen gefallen und kein Futter
für die Pferde zu finden war, deshalb kehrte er unverrichteter
Dinge zurück.
Am 30. December fanden in der Umgebung der Black
Springs zwischen 6% und 8 Uhr Abends nicht weniger als
13 Erdstöße statt, in der Richtung von Osten nach Westen. Es
war ein Geräusch, als ob ein schwer beladener Wagen über eine
Brücke fahre. Schon am 26. December hatte man zwei leichtere
Erdstöße verspürt. Allemal folgten auf jene 15 Erdstöße auch
Windstöße.
Adelaide hatte auch keinen Mangel an Hitze. Sie stieg
am 12. Januar auf 113° im Schatten.
Aus Neusüd Wales, wie so oft, Nachrichten über Dürre.
In Sydney war Wasser so spärlich vorhanden, daß die Behörden
alle Wasserröhren um 7 Uhr Abends sperren ließen. Auch Nach-
richten über Buschklepper fehlen nicht. „Clarke's Räuber-
bände ist so^ lästig geworden, daß die Behörden eine Prämie von
5000 Pf. «t. für Einbringung derselben ausgeschrieben haben."
Sehr ergiebig sind die erst 1365 in Angriff genommenen
Kupfergruben von Currawang.
In der Provinz Queensland hat man in der Gegend
von Port Bowen Kupfererz, Schwefelkies und Gold gefunden;
der Anbau von Kaffee und Zucker ist im Zunehmen. — In der
Colonie ereignen sich manchmal seltsame Auftritte, dahin gehört
folgender, der aus Wangaratta gemeldet wird. Am Sonntag
Abend den 28.Oktober hielt der Geistliche C. Booth Gottes-
dienst in seiner Kirche. Er hatte soeben die Kanzel bestiegen und
den Gesang bestimmt, welcher von der Versammlung gesungen
werden sollte, als ein kleiner Hund, zwischen der Kanzel und
den Sitzen herumlaufend, bemerkt wurde. Ein Mädchen, jedoch
nicht Eigenthümerin des Hundes, suchte ihn aus der Kirche zu
entfernen, indem sie ihn mit Mühe ergriff; das Thier hatte sich
dabei in ihre Kleidung verwickelt, weshalb es wieder aus die
Füße gesetzt werden mußte, um loszukommen. Als dies Booth
sah, verließ er die Kanzel und, auf Händen und Knien
zwischen den Sitzen kriechend, ergriff er den Hund und
trug ihn der Kirchthür zu. Ein Herr Evans trat herbei und
erbot sich, dem ehrwürdigen Herrn die Mühe zu ersparen. Booth
gab Herrn Evans die Vorderbeine des Hundes, hielt jedoch
die Hinterbeine und zerbrach dieselbenmit allerKraft-
anstrengung, worauf er das verstümmelte Thier in
Herrn Evans Händen ließ und zurKanzel zurückkehrte,
um seine Predigt zu halten. Diese Scheußlichkeit hatte zur
Folge, daß Viele die Kirche augenblicklich verließen, und es ist
zu verwundern, daß solches nicht die ganze Versammlung gethan hat.
Zur Statistik von Neuseeland. Zu Ende des vorigen
Jahres ist der Censusbericht für 1864 erschienen. Die Bevöl-
kernng europäischer Abkunft, ohne Soldaten und derenFa-
milien (zusammen 11,973 Köpft), betrug 1364 in der Nacht auf
den 1. December 172,153 Seelen; davon 106,530 männlich und
65,578 weiblich. Aus die Districte vertheilt ergaben sich für
Auckland 42,132 Seelen; Taranaki 4374; Wellington
14,987; Hawke's Bay 3770 ; Nelson 11,910; Marlborough
5519; Canterbnry 32,276; Otago 49,019; Southland
3035 und Chatam Islands 36. Seit 1861 hatte die Volks-
menge um 75 Procent zugenommen; von 1856 bis 1361 um 67
Procent. Sie stieg in 13 Jahren von 26,707 Kopsen in 1851
auf 172,158 in 1364. — sDie eingeborene Bevölkerung,
die Maoris, an deren Vertilgung die Colonistcn mit so un-
barmherzigem Eifer arbeiten, betrug nur noch 55,336 Köpfe; doch
hat sich 1865 und 1866 in Folge des blutigen Krieges ihre Zahl
noch beträchtlich vermindert. — Im ganzen Lande befanden sich,
außer 6742 Zelten in den Golddistricten, 37,996 Häuser, 15,593
mehr als im Jahre 1361. Von je 100 Kopsen waren 34 Eng-
länder, 18 Schotten, 12 aus Irland, 24 in der Colonie geboren,
die übrigen Ausländer aus allen Welttheilen. — Wie die Gold-
erzeugung auf den Handel gewirkt hat, ergiebt sich daraus, daß
die Einfuhren 1864 den Werth von 7,000,655 Pf. St. betrugen,
die ErPorte 3,401,667. Davon kamen auf Wolle 1,070,997
Pf. St. Der Viehstand war von Jahr zn Jahr rasch angewach-
sen und betrug 49,409 Pferde, 249,760 Häupter Rindvieh und
4,937,273 Schafe, deren 1851 nur erst 233,043 auf den Inseln
vorhanden waren. ____
Aus nordamerikanischen Zeitungen.
Die Ortschaft Grondequoit muß eine sehr angenehme
Stadt sein. Neulich verließen zwei siebenzehnjährige Burschen
das elterliche Haus. Der eine besaß ein Pistol und der andere eine
Flinte. Die hoffnungsvollen Vankeejünglinge hatten sich das Wort
gegeben, den ersten besten Mann, der ihnen in den Weg komme,
todtzuschießen. Gesagt gethan. Als ein Herr Kraft ihnen be-
gegnete, sprangen sie von hinten auf seinen Schlitten und jagten
ihm zwei Kugeln durch den Kopf. So lautete ihre eigene Aus-
sage. In der ^hat: ,,the Yankee boys have a good deal
of pluck!"
Das Stimmrecht der Frauen wurde 1366 in der Le-
gislatur des Staates Maine beantragt und sand warme Fürsprecher;
der Antrag wurde mit einer nur geringen Mehrheit verworfen.
Jetzt, 1867, will der Staat Kansas den Frauen dieses Recht zu-
billigen. Die beiden Abtheilungen der Legislatur haben in diesem
Sinn entschieden ftrnb nun soll die Bestätigung einer allgemei-
nen Volksabstimmung anheimgegeben werden. Es ist ganz bil-
lig, daß man gebildeten Frauen Rechte nicht vorenthält, welche
Aus allen
der Uankeeradicalismus dem ungebildetsten Neger zugesprochen
hat. Nun bekommen aber auch die Negerinnen, die ja auch
„Frauen" sind, das Stimmrecht, und das nennt man „progress
and civilization."
Die Sterblichkeit in Neuyork ist entsetzlich. Amtlichen
Berichten der Gesundheitscommission zufolge sind 1866 gestorben
21,206, oder von je 1000 Köpfen 34. Der Arzt Dr. Harris be-
merkt, daß je das dritte Kind sterbe bevor es ein Jahr erreicht
habe. Er klagt darüber, daß die Stadt mit jedem Jahre unge-
sunder werde und spricht sich scharf darüber aus. daß die Bau-
speculanten auch gar nichts thun, um in den „Tenementhäusern"
sür Luft und Licht zu sorgen. Diese entsetzlichen Wohngebäude
sind ein wahres Elend; in ihnen Hausen manchmal 30, 50 und
bis 100 Familien. Solcher Tenementhäuser zählt vie Stadt etwa
16,000, und in denselben wohnen etwa 600,000 Personen, also
reichlich 70 Procent der Gesammtbevölkerung. Außerdem sinden
etwa 16,000 Personen ihr Unterkommen in Kellerwohnungen, in
welche weder Lust noch Licht dringt. „Neuyork wird immer mehr
zu einem ungesunden, aufgetriebenen Wasserkopfe."
Das Repräsentantenhaus des Staates Ohio hat einen „wei-
ßen" Entschluß gefaßt.^ Der Ultraradicalismus drang daraus,
in der Staatsverfassung die Stellen zu streichen, vermöge deren
Wahlrecht ic. den weißen Bürgern zuerkannt wird, felbstver-
ständlich und stillschweigend also die Neger ausgeschlossen bleiben.
Das Haus hatte den gesunden Menschenverstand, darauf nicht ein-
zugehen und verwarf den Antrag. AehnlicheS ist von der ob-
wohl in der Mehrzahl radical-republikanischen Assembly des Staa-
tes Neuyork geschehen. Es soll demnächst eine Convention ge-
wählt werden, um über Verfassungsänderungen zu berathen. Zu
diesem Behuse muß das Volk Delegaten ernennen. Als nun der
Antrag gestellt wurde, auch den Negern das Stimmrecht zur
Wahl der Delegaten zu ertheilen, sprach sich das Haus dagegen
aus. — An solchen Beispielen sieht man recht klar, wie wahn-
witzig und tyrannisch der nördliche Rumpfcongreß zu Washington
verfährt. Er will den von ihm militärisch geknebelten und völlig
geknechteten Südstaaten mit Gewalt den Zwang auferlegen,
daß eine Million Neger volle politische Gleichberechtigung mit
den Weißen haben sollen, während im Norden zwei radical-
republikanische Legislaturen den Antrag auf Ertheilung des Stimm-
rechts rundweg verwerfen.
„In Illinois werden die Mörder fortan gute Tage haben.
Der Staat hat die Todesstrafe abgeschafft. Darin liegt natür-
lich eine Prämie für die Ausübung der Lynchjustiz. Das Volk
wird thun, was die Gerichte unterlassen."
Die Schaubühne bei den Mormonen in Great Salt
Lake City. Man kann nicht sagen, daß die Mormonen finstere Hei-
lige seien; sie lieben vielmehr Scherz und Lustbarkeiten. Jnmit-
ten der Wüstenei, von welcher sie einen Theil in einen blühenden
Garten umgewandelt haben, fehlt auch ein Theater nicht. Ein Herr
Hepworth Diron, welcher ein Buch über „Neu-Amerika" geschrie-
ben, bemerkt, daß bei den Mormonen das Theater früher fertig
geworden sei, als das große Tabernakel; freilich soll das letztere
ein so gewaltiger Tempel werden, wie man ihn zuvor niemals
gesehen. Der Prophet und Seher Brigham Uoung hat nun in
der That ernsthaste Anstrengungen gemacht, das Theater als eine
„Bildungsanstalt" hinzustellen; es soll mehr sein als eine Be-
lustigungsanstalt. Das Gebäude ist einfach, im Innern hell und
lustig, ohne Logen, deren nur zwei vorhanden sind, eine an jeder
Seite des Prosceniums. Im Parterre sind die Sitze durchaus
bequem, An jedem Spielabcnde kann man die Bischöfe und Nette-
sten der Kirche im Theater sehen; sie kommen mit ihren Frauen
und Kindern und klatschen in die Hände, was das Zeug nur hal-
ten will. In der Mitte des Parterres hat Brigham Uoung sei-
nen Schaukelstuhl; dort ist er rings von den übrigen „Heiligen"
umgeben. Wenn er aber in seiner Prosceniumsloge Platz nimmt,
bleibt dieser Stuhl docb nicht leer; dann sitzt statt des Propheten
eine seiner Frauen dort, z. B. Eliza die Dichterin, die blasse
Harnet oder Amelia die Prächtige. Neben diesem Stuhle befin-
den sich die Bänke der angesehensten Heiligen, als da sind Heber
Kimball, der oberste Rath, d. h. Minister; Daniel Wells, zweiter
Minister und General; Georg A. Smith, Apostel und Geschichts-
schreiber der Kirche; Georg G. Cannon, Apostel; Eduard Hunter,
Erdtheilen. 255
präsidirender Bischof; Stenhouse, Redacteur des „Daily Telegraph"
und außerdem noch andere kleinere Lichter.
Eine Seitenloge hat Brigham Uoung für sich behalten, die
andere ist für die jungen Damen, welche Rollen zu spielen haben;
sie gehen dorthin, wenn sie Pausen haben. Brigham Uoung will,
wie gesagt, eine Musterbühne herstellen und wird vom Ober-
regisseur Hiram Clawson redlich unterstützt. Alles ist sauber und
das Publicum benimmt sich im höchsten Grade anständig; nnsitt-
liche Weibsbilder, Taschendiebe, zerlumpte Jungen und Mädchen,
wie man sie vor oder in den Theatern zu London oder Neuyork
findet, sind unbekannt. Die Mormonen trinken nie Branntwein>
rauchen selten Taback, essen aber gern Pfirsiche, auch im Theater.
Das Theater beginnt um 8 Uhr, ist um 10 Uhr zu Ende und
am andern Morgen 6 Uhr geht man wieder an die Arbeit. In
dem Garderobesaale hat jede einzelne Dame ihr besonderes An-
kleidezimmer. Uoung hat die Reform der Bühne bei den Darstel-
lern begonnen, und seine eigenen Töchter, wie jene anderer ange-
scheuen Mormonen, sind Schauspielerinneu ; Actricen vom Handwerk
kennt man nicht und Unsittlichkeiten und Scandale, die anderwärts
an den Theatern nicht fehlen, sind durchaus unbekannt. Hep-
Worth Diron sah drei der Prophetentöchter auf der Bühne, Alice,
Emily und Zina. Alice ist eine der Frauen des Regisseurs Claw-
son; Miß Adams und Miß Alerander sind vortreffliche Talente. —
Brigham Uoung hat ganz das Aussehen eines Engländers aus
dem wohlhabenden Mittelftande einer Provinzialstadt; er kleidet
sich einfach aber sehr sauber und dasselbe thun seine Frauen. Die
Mormoninnen sind nie mit Putz und Modetand überladen. Diron
erfuhr aus Uoung's Munde, daß derselbe 48 lebendige Kinder
habe, von denen mehrere verheirathet sind. Manche sind sehr
hübsch, insbesondere Emily. „Elder Clawson macht ihr den Hos
und die Flamme scheint gegenseitig zu sein. So wird es wohl
nicht schien, daß Emily dem Manne ihrer Schwester Alice ange-
siegelt wird. Ich führte Frau Alice Clawson zu Tische, und nie
ist mir eine Frau vorgekommen, die munterer, aufgeweckter und
netter im Gespräch gewesen wäre. Während die Angloamerika-
nerin von ihrem Manne stets als Herr Jones, Herr Smith :c.
spricht, nennt die Mormonin ihren Mann beim Vornamen."
Vancouver-Jsland, die britische Insel vor der Küste von
Nordwestamerika, ist nun mit dem gegenüber auf dem Festlande
liegenden Britisch Columbia vereinigt worden. Hauptstadt der
Kolonie ist New-Westminster. Britisch Columbia ist nun auch
der Konföderation der „Canadian Dominion" beigetreten.
Madagaskar. Diese „Perle des indischen Oceans" ist nun
definitiv dem Weltverkehr eröffnet worden. Am 27. Juni 1865
haben die Königinnen von England und Madagaskar einen Frie-
dens-, Freundschafts- und, was allemal die Hauptsache ist, Han-
delsvertrag abgeschlossen, dessen Ratificationen am 5. Juli 1866
in der Hauptstadt Antananarivo ausgewechselt worden sind. Ihm
zufolge können britische Unterthanen Häuser und Grundeigenthum
auf Madagaskar besitzen, mit ihren Handelswaaren in allen Be-
sitzungen der Königin ungehindert reisen, und nur drei Provinzen
sind ihnen bis auf Weiteres noch nicht eröffnet worden. Der
Verkündigung der christlichen Religion steht kein Hinderniß im
Wege, britische Unterthanen können Kirchen bauen; sie haben da-
bei Anspruch auf Schutz der Königin und Ihrer Majestät Mini-
ster, sollen auch nicht verfolgt werden und man wird sich in ihre
Angelegenheiten nicht einmischen; die Königin empfängt einen bri-
tischen Agenten in ihrer Hauptstadt und ein madagassischer Di-
plomat kann nach seinem Belieben sich auf der Insel Mauritius
oder in London accreditiren lassen. *
Hebet die Goldlager am Amur theilt der „Sibirische
Bote" Folgendes mit: Die Erlaubniß, durch welche die Privat-
Goldindustrie am Amur gestattet wurde, gelangte im Herbst 1865
an Ort und Stelle. Der Herbst und Winter verhinderten kei-
neswegs die Nachforschungen, und zum Sommer 1866 waren be-
reits mehrere bedeutende Entdeckungen in der Gegend am obern
Amur gemacht. Die nach Goldgehalt und Ausdehnung bedeu-
tendsten Lager befinden sich an den Zuflüssen des Oldoi,
welcher sich bei der Staniza Sswerbejewa in den Amur ergießt,
und des in die Seja mündenden Urkan. Außerdem sind auch
256 Aus allen
noch an derUruga, einem Nebenflusse des Amur, Lager aufgefun-
den worden. Gegenwärtig hat sich die Zahl der Partien, welche
am Amur nach Gold suchen, noch vermehrt, und es sind neue
Entdeckungen zu erwarten. Die reichsten Lager sind von den
Partien der Herren Benardaki, Kapschin, Jkonnisow und
Ssolowjew entdeckt worden; die entlegensten sind 100 Werst
vom Amur entfernt. Obgleich die Lager von ziemlich vortheil-
haften Bedingungen umgeben sind, ist bei der Entfernung des
Landes doch kaum anzunehmen, daß die Hauptarbeiten vor dem
Sommer 1868 beginnen werden.
Die Kohlenminen im Lande der donischen Kosacken
sind bereits seit Peter dem Großen bekannt. Als man diesem die
ersten Stücke Steinkohlen zeigte, sagte er: „Dieses Material wird,
wenn auch nicht uns, so doch unseren Nachkommen sehr nützlich
sein." Lange wollte jedoch der Betrieb keinen Aufschwung neh-
men, und erst 1770 erbot sich der Kosack Dwuchschennow, 3000
Pud Kohlen nach Taganrog zu stellen. Mit der Einrichtung des
Hüttenbetriebes in Lu gan, zu Ende des verflossenen Jahrhunderts,
begannen ernstere Nachforschungen. Von 1837 bis 1839 ließ
A. N. Demidow geologische Untersuchungen anstellen. Bis 1840
erstreckte sich jedoch die Kohlenausbeute auf nicht mehr als 50,000
Pud jährlich. Seitdem hat sie beständig zugenommen, so daß sie
1864 bereits 5,500,000 Pud betrug. In dem zuletzt genannten
Jahre wurde auch die Minenverwaltung am Don einge-
richtet. So sind die Kohlenlager bei Gruschewka (30Qua-
dratwerst) die ersten in Rußland, wo die Kohlengewinnung be-
deutendere Verhältnisse angenommen hat. Außer sür den Ver-
brauch an Ort und Stelle gehen die Kohlen auch noch nach
Rostow, Taganrog, denHäfen desSchwarzen undAsow-
schen Meeres, nach Astrachan und sogar nach dem Syr-
Darja. Im Ganzen sind bereits 68% Mill. Pud Anthraeit
gewonnen worden; in dem Gebiet, welches den Industriellen auf
deren Bitten seit 1864 übergeben worden, sind noch 9581/, Mill.
Pud enthalten. Außerdem ist ein 16% Quadratwerst messendes
Reservegebiet da, das auch noch 2434 Mill. Pud enthält. Der
allgemeine Anthraeitvorrath in den Minen von Gruschewka er-
streckt sich demnach auf 3392% Mill. Pud. Die Kosacken beschäs-
tigen sich wenig mit den Minenarbeiten; man braucht dazu Bauern,
die aus den Gouvernements Tambow, Tula, Woronesch, Char-
kow u. s. w. kommen. Dieselben haben einen guten Verdienst,
im Durchschnitt täglich 90 Kopeken. Man geht jetzt damit um,
eine bleibende Anstedlung zu gründen, den Leuten unentgeltlich
Land zur Hosstelle zu überlassen und ihnen die Rechte der Städte-
bewohner zu geben.
Das Anwachsen des britischen Ausfuhrhandels bis
ins Kolossale ergiebt sich aus folgenden Ziffern; dieselben beziehen
sich auf einen je fünfjährigen Durchschnitt. Es kommen aus jedes
Jahr der Periode von
ErPort.
1826 bis 1830 . . . 35.929,007 Pf. St.
1831 „ 1835 . . , . 40,460,755
1836 „ 1840 . . . 50,012,994
1841 „ 1845 . . . 53,998,146
1846 „ 1850 . . > . 60,888,522
1851 „ 1855 . , , . 88,866,434
1856 „ 1860 . , , . 124,160,913
1861 „ 1865 . . . 144,396,440
In dem erstgenannten fünfjährigen Zeiträume betrug die Be-
völkerung von Großbritannien und Irland gegen 24 Millionen
Seelen; im Jahre 1866 war dieselbe auf nahezu 30 Millionen
gestiegen; für das letztgenannte Jahr betrugen die Ausfuhren den
kolossalen Geldwert!) von 188,827,785 Pf. St. oder 23,000,000
mehr als 1865!
Eine untergegangene Stadt am Iaxartes. Die ruf-
sische „St. Petersburger Zeitung" meldet Folgendes über die
Entdeckung derselben: „Die Kirgisen, welche die Lieferung von
Erdtheilen.
Ziegeln für das Fort Nr. 1 übernommen hatten, brachten auch
prächtige gebrannte Ziegel, an welchen sich noch Cement befand.
Der Jngenieurofsizier Besrodnow erfuhr auf Befragen, daß
die Kirgisen diese Ziegel fertig in alten Ruinen finden. Eine
von dem Eommandanten des Forts Nr. 1, Major Jurij, er-
nannte Kommission begab sich an die bezeichnete Stelle und nahm
über die wichtigen Entdeckungen einen formellen Act auf. Wir
erfahren durch denselben, daß sich 21 Werst unterhalb des Forts
auf dem linken Ufer des Syr-Darja eine ganze unterirdische Stadt
befindet, welche einst am User des Aralsees stand, später mit Sand
und Schlamm bedeckt worden und mit Steppendisteln überwachsen
ist. Die Kirgisen haben die Kuppel eines Gebäudes bereits ab-
getragen und die Ziegel derselben aufgeschichtet. Nach dem Ur-
theil der Commifsion hat die Stadt ungefähr 5 Werst im Durch-
messer. Welcher Epoche sie angehört, vermochte die Commifsion
noch nicht zu bestimmen; so viel erkannte sie jedoch, daß Millio-
uen von Ziegeln daselbst zu gewinnen wären. Der aufgenommene
Act ist sofort dem Generalgouverneur eingesandt worden."
Vulkanische Thätigkeit auf der Insel Kadjack. Die-
ses Eiland liegt bekanntlich vor der Nordweüküste des russischen
Amerika, im Südosten der Halbinsel Aliaschka. Die ganze Region ist
vulcanisch. Aus den Mittheilungen der geographischen Gesellschaft
zu St. Petersburg ersehen wir, daß, laut Mittheilungen des Ver-
Walters Pawlow, welcher die Leitung des Kadjacker Comptoirs
hat, am 14. März 1866, Nachts 3 Uhr, sich eine völlig nndurch-
dringliche Finsterniß einstellte, welche etwa 15 Minuten anhielt.
Während dieser Zeit fiel bei völliger Windstille ein Aschenregen.
Außerdem sind Nachrichten von der Insel Afognak, nordöstlich
neben Kadjack, und aus der Ansiedelung Katmai in der Sche-
lechowstraße auf der Ostküste der Halbinsel Aliaschka eingetroffen.
Sie melden, daß Aschenregen und Finsterniß sich nach Norden
hin bewegten, und deshalb nimmt man an, daß sie von einem Aus-
Wurf eines der südlichen Vulcane auf Aliaschka herrühren. Die
Asche lag etwa l/i Zoll hoch.
In der Nacht zum 23. August 1866 hat in Paulshafen,
Kamtschatka, ein ungewöhnlich starkes Erdbeben stattgesunden.
Durch dasselbe ist der Landungsplatz auf der Insel Ljessny halb
zerstört worden. _
Erforschung von Höhlen in Belgien. Bei Fursooz in
der Provinz Namur liegen sieben Höhlen. In denselben sind
die Thon- und Kieslagen mit Knochen vermischt, die zum Theil
ausgestorbenen Thierarten angehören. In einem gelben Thon
fand man eckige Kalkblöcke neben Knochen von Thieren, Menschen
und allerlei Werkzeugen und Gerätschaften, „die in eine sehr
weit entfernte Zeit hinaufreichen." Die Herren Dupont und
van Beneden, welche die Höhlen untersuchten, sind der Ansicht,
daß diese alten Bewohner Zeitgenossen von Thieren waren, die
wir jetzt nur in den Polargegenden oder auf Hochgebirgen an-
treffen. Die Werkzeuge und Geräthe zeugen von einer Cultur-
stufe, die niedriger ist als jene der Menschen im Steinzeitalter.
Spuren einer ähnlichen, sagen wir Civilisation des Knochenzeit-
alters, finden wir in den südfranzösischen Höhlen, welche von
Lartet und Christy untersucht worden sind.
Polyglotte Tractate. Die Engländer, welche nun einmal
nicht umhin können, kirchliche Dinge in Alles und Jedes zu
mischen, haben in Paris einen großen Saal gemiethet, um wäh-
rend der Industrieausstellung Predigten in verschiedenen Sprachen
„zu evangelistischen Zwecken" halten zu lassen; auch sollen „christ-
liche Conserenzen" abgehalten werden. Auch die Vertheilung von
Tractaten soll ins Große betrieben werden; ein polyglottes Trac-
tätlein ist zu solchem BeHufe in vier Sprachen: Englisch, Deutsch,
Französisch und spanisch, gedruckt worden. Bei dieser Gelegenheit
erfahren wir, daß die Londoner „Monatliche Tractatengefellschaft"
im Jahre 1866 nicht weniger als 457,839 Tractate „Vorzugs-
weise an die höheren und mittleren Classen" in allen Erdtheilen
hat vertheilen lassen.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Aus Tremeam' Keifen im östlichen Sudan.
ii^
Am Blauen Nil. — In Roseres. — Das Fasoglo. — Der Baobab als Elephant des Pflanzenreichs. -
Sklavenjagden und Sklavenhandel. ^— Bestandtheile und Verwaltung des ägyptischen Sudan. — Die
in der obern Nilregiou.
- Dum- und Delebpalme.
ethnologischen Verhältnisse
Die Herrschaft der Aegypter reicht im östlichen Sudan
nach Süden hin bis in das Land Fasoglo, fast hinab bis
zum zehnten Grade nördlicher Breite. Dorthin wollte Tre-
meanx und bis Fasoglo hinauf ist auch der Strom für Barken
fahrbar. Er durchzog also die Landschaft Sennar, wo der
weiße Mensch sich niemals wird bewurzeln können; die kli-
matischen Verhältnisse sind für ihn zu ungünstig und er ist
dort einem ausländischen Gewächse vergleichbar. Er stirbt
eben hinweg; nnvermischt kann er sich nicht erhalten, und die
Geschöpfe, welche er mit eingeborenen Frauen zeugt, sind
eben keine Weiße mehr. Die Behauptung, „daß die Natur
ihn dort in einen Neger umwandle", ist platterdings falfch
und ganz widersinnig; sie steht etwa auf gleicher Linie mit
der Annahme, daß „die Natur einen sudanischen Neger in
Mittel- oder Nordeuropa, oder überhaupt irgendwo, in einen
weißen Menschen" umwandeln könne. In Sennar begeg-
nen sich zwei scharf von einander getrennte Menschenracen,
aber Boden und Klima sind nur für die dunkelfarbige ge-
eignet.
Im Blauen Strome findet man Krokodile in Menge,
und jeder Reifende erlebt in Bezug auf dicfe gefräßigen Am-
phibien irgend ein Abenteuer. El Timfa, el Timfa, das
Krokodil! ist ein Rnf, welchen die Matrosen oftmals erheben,
und sie schreien dann auch gleich nach einer Flinte. Ein
Schwarzer war durch Unachtsamkeit vom Boot ins Wasser
gefallen; fofort kam ein Ungeheuer, schnappte nach ihm und
zog ihn in die Tiefe, wo es ihm ein Bein abriß. Als ge-
schössen wurde, ließ es den Verstümmelten los, den man auf
die Barke zog.
Bald nachher schrie ein Mann: El Baggare el Ba-
har, d. h. die Wasserkuh; er hatte einen Hippopotamus
gesehen. Die Jagd auf diese Thiere ist oftmals beschrieben
worden; wir gehen daraus nicht näher ein, wollen aber doch
angeben, daß man diefen Leviathan des Stromes im Blauen
Flnffe auf eine eigenthümliche Weise fängt. Das Thier
steigt nach Einbruch der Dunkelheit ans Land, um zu grasen
und geht dabei allemal hin und zurück auf demselben von
ihm ausgetretenen Pfade. Einige Jäger stellen sich in der
Nähe desselben auf; sie haben mehrere Lanzen mit angelähn-
lichen Widerhaken, und an denselben ist vermittelst eines acht
bis zehn Ellen langen Seiles ein großes hölzernes Kreuz
befestigt. Andere Jäger erschrecken das Thier, indem sie
schreien, trommeln oder Fackeln schwingen. Das Nilpferd
eilt nun an den Fluß zurück, doch ehe es in denselben hinab
gelangt, wirft ihm ein Jäger die Lanze in den Leib uud läßt
dieselbe los. Das Thier schleppt sie mit sich und dann auch
Globus XI. Nr. 9.
das hölzerne Kreuz. Je rascher es sich bewegt, um so tiefer
dringt, ebeu durch den Widerstand des Holzes, das im Was-
ser gezogen wird, das Eisen ein. Das Kreuz schwimmt an
der langen Leine natürlich stets aus der Oberfläche, und so
weiß man immer, an welcher Stelle unter dem Wasser der
Hippopotamus sich befindet. Bei Nacht verliert man ihn
allerdings aus den Augen, doch wird er jedesmal nach Tages-
anbrnch wieder aufgefunden. Er ist durch den Blutverlust
abgemattet, auch hat er in jener Nacht nicht auf die Weide
gehen können und so steigt er, erschöpft wie er ist, ans Ufer,
um dort zu verenden, denn er muß Athem holen und kann
deshalb nicht lange unter Wasser bleiben.
Am lO.März legte die Barke oberhalb Hed ab at (—auf
Kiepert's Karte Hedebat —) an. Abends kamen Elephan-
ten ans Ufer, fpielten, spritzten aus den Rüsseln einander
Wasser zu und waren guter Dinge. Gleichzeitig machte sich
ein starker Moschusgeruch bemerkbar, der von den Krokodilen
herrührte.
Einige Tage später war Tremeaux in Roseres, an der
Grenze des Negerlandes. Er schildert die Waldvegetation
als wahrhaft grandios; Menschen und Thiere nehmen sich
den Banmriesen gegenüber wie winzige Jnsecten aus. Die
Baobabs haben dort einen kolossalen Umfang, bis zu mehr
als fechszig Fuß. Dazu kommen große Bäume aus der
Fucnsfamilie, Tamarinden und Sterculien, welche dem Bao-
bab ein prächtiges Relief geben.
In diesen Regionen sind die Jahreszeiten nicht von der
Sonne abhängig, sondern sie werden durch die Regenzeit uud
die trockenen Monate bedingt. Während ihrer Bewegung
nach Norden bewölkt sich der Himmel, die Sommerregen tre-
ten ein, geben dem Boden Feuchtigkeit und es ist Frühling.
Den „Winter" bildet die heiße Zeit, in der keine Wolke zu
sehen ist; dann verlieren viele Bäume ihre Blätter, aber das
Vegetationsleben stirbt darum doch nicht ab und manche Bäume
bleiben grün. —
Man hat den Baobab als den Elephanten des Pflan-
zenreichs bezeichnet. Bei Roferes steht einer von 26 Meter
Umfang. Wir wollen hier bemerken, daß die Flora der Re-
gionen des Blanen Nils einen vortrefflichen Beobachter und
Darsteller an Dr. Robert Hartmann gefunden hat. Wir
haben aus der Feder dieses Gelehrten früher einige Vegeta-
tionsskizzen aus Sennar im „Globus" mitgetheilt; hier wol-
len wir auf feilte „Natnrgeschichtlich-medicinischen
Skizzen der Nilländer" (Berlin 1865) verweisen, in
welcher er einen Abriß der Pflanzenwelt giebt (S. 160 ff.).
Wir haben Tremeaux' Beschreibung des Baobab vor
33
Aus Tremeam' Reisl
uns liegen, beachten sie aber weiter nicht, weil jene des
Grasen d'Escayrac (I^e desert et le Soudan, Paris
1853; deutsch: Leipzig 1855) viel besser ist. Während, sagt
d'Escayrac, die Dattelpalme für das Symbol der Oasen
gelten kann und als Hauptbaum der regeuloseu Gegenden
erscheint, gilt mir der Baobab für das wahre Sinnbild
des Sudan im Allgemeinen und insbesondere jener Zone,
in welcher Sommerregen fallen. Man muß diesen Gigan-
ten des tropischen Pflanzenwuchses gesehen haben, um sich
einen Begriff von ihm machen zu können: man glaubt zu
träumen, wenn man ihn erblickt. Er gehört zu den Mal-
vaceen und bildet das Geschlecht Adansonia (— die Araber
nennen ihn El Hamrah —). Bei den Deutschen heißt er
Affenbrotbaum. Adanson, der diese nach ihm benannte
Adansonia digitata zuerst beschrieben, maß am Senegal
einen Baum von 30 englischen Fuß Durchmesser, und schätzte
dessen Alter aus mindestens 5500 Jahre. Ich (d'Escayrac)
habe einen Baobab zu Melbes unweit von El Obeid in
Kordofan gemessen, von dem man mir viel sprach. Er hatte
15 Faden, jeden zn 5 Fuß 6 Zoll, im Umfange; dieser
mochte somit 82 Vz Fuß betragen; im Durchmesser hielt er
etwa 26 Fuß.
In einer Höhe von 20 bis 25 Fuß endet der Stamm;
dann laufen wagerecht drei, vier oder fünf ungeheure Aeste von
ihm aus, die sich gegen die Erde hinneigen und derselben bis
aus 10 Fuß sich nähern. Nun streben sie wieder empor und
senden ihrer ganzen Länge nach eine große Anzahl starker Ver-
zweigungen ans, die fast allesammt ihre Richtung nach oben
nehmen. Das Holz ist so zart und schwammig, daß schon
bei nicht sehr starkem Winde die Zweige in Bewegung ge-
rathen, und zwar viel stärker als jene der hundertjährigen
Eichen in unseren Wäldern. Die Rinde ist dünn und der
Stamm glatt. Die sehr entwickelten, der Oberfläche nahe
liegenden Wurzeln erstrecken sich bis in eine weite Entfer-
nnng und gewähren dem Reisenden schattige Sitzbänke. So-
bald das Individuum ein gewisses Wachsthum erreicht hat,
säugt der Gipfel des Stammes auf der Stelle, wo die gro-
ßen Aeste sich abzweigen, zu verderben an, er geht an, wird
von oben nach unten mehr oder weniger hohl. Aber die Rin-
dculage bleibt gesund und lebendig, schreitet in ihrer Entwicke-
lnng fort und dasselbe ist mit den Zweigen der Fall, welche
durch sie ununterbrochen aus den Wurzeln die zur Nahrung
erforderlichen Säfte erhalten. Der hohle Raum in der
Mitte des Stammes füllt sich während der Regenzeit mit
Wasser, das gegen die Sonnenstrahlen geschützt ist und sich
so gut hält, als wäre es iu einem verschlossenen Becken.
Der Baobab ist dann eine vegetabilische Cisterne,
die von den Nomaden oder den Bewohnern des nächsten
Dorfes benutzt wird; sie verkaufen das Wasser an die Rei-
senden, und derartige Wasserplätze find im Sudan keines-
wegs selten. Die Araber in Kordofan klettern anf den
Baum, füllen das Wasser aus demselben in lederne Eimer
und lassen diese von oben hinab. In Eongo bohrt man,
einem portugiesischen Berichte zufolge, deu Stamm an, läßt
so viel Wasser herauslaufen, als man ebeu uöthig hat, und
verstopft das Loch für die Röhre wieder. Die Portugiesen
nennen deshalb den Affenbrotbaum I m b o n d e i r o. Auf solche
Weise kann freilich der erste Beste, welcher zum Baume
kommt, sich Wasser verschaffen, und vielleicht ans diesem
Grunde wird iu Ostafrika das Anbohren unterlassen. Am
Senegal wohnen manchmal Leute in dem Baobab, oder stel-
len Fetischbilder hinein, halten darin Berathungen, und manch-
mal werden auch Leichen darin begraben. — Das finger-
förmige (daher digitata) Blatt hat Aehnlichkeit mit dem
unserer Roßkastanie und erscheint für den gewaltigen Baum
verhältnißmä'ßig klein. Der Baum trägt keine beträchtliche
; im östlichen Sudan. 259
Laubmenge. Die von einer grünen Hülle umgebene Frucht
ist länglich rund, mehr als einen Fuß lang und enthält
Kerne, die mit einem weißlichen Brei umgeben sind; zur
Zeit der Reise wird dieser hart und zerbrechlich. Die
Frucht hat einen scharfen Geschmack, ist adstringirend und
wird auch als Heilmittel verwandt; sie schmeckt zugleich
zuckerig und scharf und man kann sie zur Bereitung von
Limonade benutzen. —
Im Fasoglo und in den waldigen Niederungen Sennars
tritt die Dümpalme häufig auf. Diese Hyphaene the-
baica hat eiueu vielfach, zuweilen 14 bis 16 Mal getheil-
ten Stamm; bei Roferes bildet sie einen dichten Wald und
erstreckt sich weit bis Eentralafrika hinein, bis in die Gegend
des Aequators. Ein'weit schönerer Baum ist der schon
mehrfach erwähnteDelßb oder Dhuleb, der inAfrika vom
4. bis 13. Grad nördlicher Breite vorkommt. Der Name
dieser Palme ist Borassus Aethiopum; sie hat einen 40 bis
50 Fuß hohen Stamm und riesige Fächerblätter. Wir ver-
weisen iu Bezug anderer Charakterpslauzen auf Hartmann's
Werk und wollen hier nur des Sidr erwähnen. Diefer
Zizyphus Spina Christi, ein Strauch von unregelmäßigem
Wuchs, hat rnthenförmige Dornzweige, die für den Menschen
eine wahre Plage werden können. Es hält sehr schwer, einen
Dorn, der sich einmal in der Haut angesetzt hat, zu entfer-
nen, denn er haftet fest wie eine Harpune, und wenn man
nicht sehr vorsichtig beim Herausziehen ist, packen noch neue
Dornen. —
Am 12. März übernachtete Tremeanx mit seiner Kara-
wane im Dorf Hasasa, südlich von Roseres; das Wetter
war herrlich und man mochte nicht unter Zelten schlafen.
Am folgenden Tage wurden die ersten Berghöhen des Sn-
dan im Süden sichtbar. Der Weg führte ununterbrochen
durch Wald, iu welchem man nur bei deu Dörfern Lichtuu-
gen findet. Die Gegend ist eine leicht gewellte Ebene von
großer Ausdehnung.
In dieseui Walde ereignete sich ein Vorfall, der kenn-
zeichnend für das türkisch-ägyptische Wesen und Treiben ist.
Der Führer war unschlüssig, welche Richtung er einschlagen
solle; er überlegte eine Weile, welcher von den verschiedenen
Waldpfaden der Karawane wohl die wenigsten Schwierig-
leiten iu den Weg legen würde. Darüber ergrimmte der
türkische Oberst Änsinf; er fuhr den schwarzen Mann hart
au und dieser wurde darüber verlegen. Da gab ihm der
Türke ein Zeichen, sich auf die Erde zu legen. Zwei Sol-
daten rissen ihn nieder, der Oberst setzte ihm den rechten Fuß
auf den Nacken und ließ ihn auspeitschen. Das war nun
allerdings ein echt türkisches Mittel, den rechten Weg aus-
findig zu machen.
Die Reise anf dem Rücken eines Kameels in jenen dor-
nigen Wäldern ist unangenehm und beschwerlich. Alle Klei-
duugsstücke werden zu Lappen und Fetzen. Niemand denkt
daran, Wege zu bahnen, und doch ist man hier auf der Ver-
kehrsstraße zwischen den Provinzen Sennar und Fasoglo.
Sie ist eben nur eiu vielfach gekrümmter Pfad, der jeden
Baum und jeden Strauch umgeht, denn es wäre ja zn viel
verlangt, dergleichen hinwegzuräumen. Manchmal trifft
man auf tiefe Schluchten und ausgetrocknete Regenbetten
mit steilen Uferwänden; dann muß man anf- oder abwärts
ziehen, um für die Kameele eiue praktikable Stelle zu finden.
Uebrigens sind die Wälder im Fasoglo nicht so üppig, wie
die weiter oben beschriebenen, wenigstens an den Stellen,
welche von der Straße berührt werden. Diese zieht meistens
durch hohes, trockenes und zum Theil steiniges Gelände; den
eigentlichen Prachtwuchs findet man in den fetten Niederungen.
Nach dem obern Blauen Nil hin, im Sennar, und dann
noch mehr im Fafoglo treten einzelne Berge auf, gleichsam
33'
Aus Tremeaur' Reisen im östlichen Sudan.
261
als Vorposten der sudanesischen Gebirgskette; so im Westen
die Granitberge Muil und Sakadi; weiter nach Süden
hin der Gnle, Buk und Koknr; näher am Flusse der Ke-
rebin, Akadi, Lengasfan, Kilgu und die Tabygruppe.
Die meisten waren vor nur einem Menfchenalter noch von
Negern bewohnt, jetzt aber sind viele ganz verödet, weil die
ägyptische Regierung die Schwarzen überfiel, um sie in die
Sklaverei abzuführen. Schon 1821 wurden der Koknr und
der Akadi in Folge von Venrath unterworfen; die Dörfer
der Ebene konnten ohnehin den Feuerwaffen keinen Wider-
stand entgegensetzen, aber in vielen ließen sich selbst die
Frauen lieber tödten, als daß sie den Menschenräubern ge-
folgt wären.
In diesen endlosen Wäldern des Fasoglo begegnete (1849)
dem Reisenden eine Sklavenkarawane. Sie wurde vou
ägyptischen Reitern geführt und von diesen nebst einer Anzahl
von Fußsoldaten bewacht; jene ritten theils auf Kameelen,
theils auf Eseln. Den Schwarzen hatte man eine hölzerne
Gabel um den Hals gelegt und Manchen: auch die Hände
an derselben befestigt; an der Gabel befand sich ein Seil,
das vom Sattel des Reiters auslief, und so mußte der an
dasselbe gebundene Mensch mit dem Thiere Schritt halten.
Da wo der Psad eng war, ritzten und rissen ihn die Dornen
und das Blut rann an Armen und Beinen herab. So gin-
gen Menschen mit Menfchen um.
Jene Schwarzen waren kürzlich in Kery eingefangen wor-
den und follten nach Aegypten transportirt werden; sie hatten
also noch etwa 300 deutsche Meilen zurückzulegen! Die Gabel
wird ihnen erst abgenommen, wenn man sie in die offene
Wüste getrieben hat; dort haben sie zum Entfliehen keine
ows^.-'o T
Mißhandlung eines Schwarzen.
T/}Lklfl't
Gelegenheit mehr. Hinter dem Zuge, welcher von Soldaten
geführt und überwacht wurde, kam ein anderer, der aus Wei-
bern und Kindern bestand und von Dschellabs (Kaufleu-
teu) überwacht wurde. Diese Unglücklichen konnten sich freier
bewegen; manche saßen sogar aus Kameelen. Aber wie viele
oder wie wenige werden ihr Endziel erreicht haben? —
Aus Andringen der europäischen Mächte hat die ägyp-
tische Regierung den Sklavenraub und den Sklavenhandel
verbieten müssen; derselbe geht aber nach wie vor im Schwange,
obwohl er nicht mehr so großartige Dimensionen hat wie
früher. Wir wissen aus Samuel Baker's Schilderungen, wie
er noch vor ein paar Jahren am obern Weißen Nil betrieben
wurde; es ist eben schwer, in jenen Wildnissen eine strenge
Controle zu üben, und wenn sich anch die ägyptische Regie-
ruug zu einer solchen versteht, fo ist sie doch immer eiue halb
und halb widerwillige. Es wird lange dauern, ehe dem ab-
scheulichen Sklavenraube gesteuert werden kann.
Derselbe war nnd ist noch in ein förmliches System ge-
bracht. Tremeanx macht darüber viele sentimentale Redens-
arten, die überflüssig sind, wo die Barbarei selber fo laut
spricht. Wir lassen sie deshalb bei Seite nnd geben lieber einige
Notizen aus dem Werke des Grafen d'Escayrac, der als
Augenzeuge und gründlicher Kenner spricht.
Der Sklavenhandel der Muselmänner im östli-
chen Sudan hat zwei verschiedene Quellen: erstens die
Ghazwas oder große Jagden, welche von einer ganzen
Heeresabtheiluug veranstaltet werden; zweitens die Jagd im
Kleinen. Diefe wird von einzelnen Arabern betrieben, welche
im Lande der Schwarzen Weiber und Kinder rauben. Diese
Züge bringen allemal nur wenige Sklaven in den Handel,
Eine einfacf
nett, die Flinten knallten, und die Neger wurden eingeschüch-
tert. Falls sie Gegenwehr leisteten, wurde tnit dem Ba-
yonnet Sturm gelaufen. Zuweilen flüchteten sie in Höhlen,
in denen sie Borräthe von ^Lebensmitteln zu bergen pflegen,
und weigerten sich hartnäckig, ans Tageslicht zu kommen.
Dann ließ der ägyptische Offizier einen Sack mit feinge-
stoßenem rotheu Pfeffer (Scheteta) hineinwerfen und einige
Schliffe in denselben hineinfeuern. Das reichte hin, um die
von dem beißenden Pfeffer gequälten Menschen willfährig
zu machen. Nach einem so ruhmreichen Siege wurden die
Sklaven gezählt und in die Register eingeschrieben; ein ge-
schickte Arzt behandelte die Kranken und alle erhielten reich-
lich gute Speisen. Auch wurde ihnen einige Ruhe gegönnt,
damit sie sich erholen uud für die weite Reife stärken könn-
ten. Etliche Paare ließ man im Dorfe, damit Nachzucht
ic Moschee.
erfolge uud Stoff für spätere Ghazwas nicht mangele. Die
übrigen wurden in Gabeln gelegt; mit den Händen mußten
sie den Stiel halten, weil dieser ihnen sonst an die Knie schlug
und so war an Flucht nicht zu denken. Dann begann die
Reise, auf welcher die Karbatfche eiue große Rolle fpielte.
Nachts wurden alle Schwarzen zusammengebunden. Unter-
wegs unterlagen allemal viele deu Beschwerden der Reise
uud blieben als Leichen liegen." —
Am rechten Ufer des Blauen Flusses liegt Fa Meka,
dem auf der andern Seite sich erhebenden Berge Fasoglo
gegenüber. Von dort aus wollte Mehemed Ali die Land-
fchaft beherrschen und ließ zu diesem Zwecke Kasernen und
einen sogenannten Palast bauen, den aber Tremeaux als ein
unbedeutendes Gebäude schildert. Aber die Lage auf einer
Terrasse ist gut gewählt und die Aussicht aus Strom und
Aus Tremcanr' Reist
da sie aber tagtäglich und ans der ganzen sehr ausgedehnten
Strecke der Grenzlaude vorkommen, so liefern sie zusammen-
genommen gewiß alljährlich eben so viele Sklaven, wie die
großen Raubzüge. Es wäre unbillig, die mohammedanische
Religion für diese Verbrechen verantwortlich zumachen; jeder
Kenner des Islam weiß, daß sie vom Standpunkte desselben
verwerflich erscheinen, aber er ist leider nicht einflußreich ge-
nng, dieselben zu verhindern. Die Anstifter der Negerjag-
den kümmern sich gar nicht um das Gesetz. Es kommt vor,
daß sie auch mohammedanische Neger rauben, wenn die Jagd
auf Heiden eben nicht ergiebig genug ausfällt. Der viel-
gerühmte Mehemed Ali ließ Sklavenjagden im größten Stil
ausführen. Alljährlich rüstete er am obern Nil, in Sennar
und in Kordosan nach allen Regeln der Kriegskunst Ezpe-
: im östlichen Sudan. 263
ditionen aus, welche nach Verlauf einiger Monate zurückkehr-
ten und dann Taufende von Schwarzen vor sich hertrieben.
Allmälig wuchs die Zahl dieser Sklaven so massenhaft an,
daß ein beträchtlicher Theil unverkäuflich blieb. Aus diesen
überschüssigen Leuten bildete er Regimenter, die er aber schlecht
bekleidete uud eben so schlecht beköstigte. So geschah es, daß
sie in Menge von Krankheiten hinweggerafft wurden. Bei
solchen Ghazwas donnerte das Geschütz viel, tödtete aber nur
wenige Leute, denn die Waare mußte geschont werden, und
jede Kngel, welche traf, verringerte den Profit; die Haupt-
fache war ja, Meufcheu zu fangen.
„Der ägyptische Feldherr ließ die Berge, auf welchen
die Dörfer der Schwarzen liegen, umzingeln und nach und
nach immer enger einschließen. Dann donnerten die Kano-
264 Aus Tremeam' Reis«
Gebirge sehr gut. Eine Strecke weiter stroman liegt die
Grenze Abyssiniens.
-i-
-i-
Die Länder, welche man jetzt als den ägyptischen Sn-
dan bezeichnet, sind Kordosan, Sennar, Schendy und
Dongola, obwohl die beiden letzteren zu Nubieu gehören.
Die Eroberungszüge begannen von Seiten Mehmed Ali's im
Jahre 1820. Die heutigen Grenzen der ägyptischen
Herrschaft werden nach Westen hin von der Wüstenstrecke
gebildet, welche das unterworfene Kordosan von dem nnab-
hängigen Dar-Fur scheidet. Am linken User des Weißen Nil
reichen sie bis an die Gebirge des Landes Tagale (Takkele
oder Tegeli) und bis zu den Bakara-Stämmen. Zwischen
dem Weißen und dem Blauen Flusse läuft die Grenze da,
wo nach Süden hin die heidnischen Negerstämme beginnen;
diese vertheidigen sich, bis jetzt mit Erfolg, auf den Bergen
Dinka, Akaro und Taby gegen die Aegypter, welche früher
schon einmal weiter nach Süden hin vorgedrungen waren,
durch ihre Barbarei aber alles eingeborene Volk so sehr er-
bitterten, daß sie keine ruhige Stunde mehr hatten und eine
beträchtliche Strecke Landes aufgeben mußten. Aehnliches war
der Fall südlich vom zehnten Breitengrade, am Weißen Nil,
wo die Grenze der ägyptischen Herrschaft bis an denSobat-
flnß reichte. Dort war der Widerstand gegen die Men-
schenränber ein wahrhast verzweifelter; sie konnten im Lande
selbst keine Lebensmittel erhalten, und diefe mußten ihnen
alle auf dem Nile zugeführt werden. So räumten sie das
Land wieder und müssen sich seitdem mit vereinzelten Raz-
zias begnügen. Auf der Seite nach Abyssinien hin zieht die
Grenze in nordöstlicher Richtung bis an den Setit (Atbara),
auf dem rechten Ufer desselben geht sie dann nördlich am
Lande der Basen oder Kunama hin bis an den Gasch. Am
rechten User des letztern ist die Grenze ungewiß; die Aegyp-
ter machen zwar Anspruch auf die Länder der Barkas und
der Bogos; diese aber gehören ihnen nicht und sind so wenig
nnterworsen, wie weiter nach dem Meeresgestade hin die
Sohos, Habab und Beni Amr *).
Als die Aegypter in jenen Regionen festen Fuß gewou-
nen hatten, gründeten sie Chartnm in dem Winkel, welchen
die beiden großen Nilarme bei ihrem Znsammenflusse bilden,
und dort war auch der Sitz des Generalstatthalters. Die
Stadt hob sich, denn die Handelslage war günstig, und 1848
war die Zahl der Einwohner schon auf ungefähr 30,000
gestiegen. Der Gouverneur war ein Beamter von großem
Einfluß und die mißtrauische Politik des Vicekönigs Said
fand es angemessen, diese Centralgewalt zu beschneiden. Der
Sudan wurde administrativ derart eingerichtet, daß fortan
vier Gouverneure mit dem Titel Mndir die höchste Gewalt
in ihren respectiven Provinzen ausübten' und unmittelbar
von der Regierung in Kairo abhängig waren. Der Mndir
sürKordosan hat seinen Sitz inElObe'id, jener für Sen-
il ar in Chartnm, der für Takka in Kassala, der vierte
wohnt in Dongola. Die Unterbezirke werden von Kaschess,
Präfecten, verwaltet und mit diesen verkehren in allen amt-
lichen Beziehungen die Ortsbehörden.
Wir können auf das, was Tremeanx über die ethuo-
logischen Verhältnisse der von ihm durchwanderten Ge-
genden sagt, gar keinen Werth legen. Was er darüber äußert,
ist dürftig und ungenau („Le Tour du Monde", Nr. 351)
und sticht unvorteilhaft ab gegen die scharse Beobachtung
*) Eine vortreffliche Uebersicht giebt die Karte über die Nil-
lander, von Heinrich Kiepert, in dessen neuem Handatlas sie
Nr. 34 bildet. (Berlin bei Dietrich Reimer.) Wir begrüßen die
neue Auflage dieses meisterhaften Werkes mit aufrichtiger Freude und
werden gelegentlich mehr über dieselbe zu sagen haben.
im östlichen Sudall.
und klare Schilderung Robert Hartmann's, welcher die
Ethnographie der Nilregionen vortrefflich behandelt hat (S.209
bis 310). Er giebt die beste und vollständigste Znsammen-
stellnng, welche wir über diesen Gegenstand überhaupt besitzen.
Südlich von Assnan, dem nnbischen Nil entlang, wohnen
die Berabra (Singuta Berberi); Hantsarbe bronzebraun,
ins Chocoladen- und Zimmtbraun spielend, bis zu schwärz-
lichbraun; Nägel achatbraun; Haar fein, leichtgekränfelt,
nicht wollig, Bart schwach; ein wohlgebauter zierlicher Men-
scheuschlag mit sanften, intelligenten Zügen; Haut weich;
starke Ausdünstung. Sie sind seßhafte Ackerbauer und woh-
nen in viereckigen Häusern. Sind heitern Gemüths, mild,
gntmüthig, treu und ehrlich, religiös indifferent, alteUrfafsen
des Landes; nahmen früh das Christenthum an und bildeten
das Reich Dongola unter christlichen Königen, welche 1320
den Mohammedanern erlagen. Die Sprache hat, nach Brngsch,
verwandtschaftliche Beziehungen zum Altägyptischen. Diesen
Nnbiern reihen sich die Bewohner der westlich vom ägypti-
schen und nnbischen Nilthale gelegenen libyschen Wüste an,
die Temhu der alten Aegypter.
Eine große Völkerfamilie in Nordostasrika besteht aus
den hellfarbigen Stämmen, deren Kern das Land Bega
(der alten griechischen Inschriften von Axum), das El Bed-
schal) der Araber bildet. Dasselbe umfaßt hauptsächlich die
östlich vom Nil liegenden Gebiete der sogenannten arabischen
Wüste, vom 26. Grad nördlicher Breite an südwärts, so daß
es Bnthanah, Dar Schnknrieh, Taka und auch das Barka
begreift. Sie waren einst dem alten Reiche Meroö unter-
than, und im frühern Mittelalter ging aus ihnen der jako-
bitisch-christliche Staat Aloah hervor, dessen Hauptstadt
Sobah am rechten Ufer des Blauen Nil unweit von Char-
tum lag. Er wurde im fünfzehnten Jahrhundert von den
Mohammedanern bezwungen und später wurden die Fnngi
Herren desselben. DieBölker des Bedscha-Typns haben
schlanke Glieder, volle aber nicht negerartige Lippen, schlichtes,
wenig gekräuseltes Haar; Hautfarbe gelblichbraun, knpferroth
und bronzebraun überflogen, zuweilen dunkelbräunlich und in
absolutes Schwärzlichbraun übergehend. Haut weich, mit
starker Ausdünstung. Gesichtstypus regelmäßig, mit dem
Ausdrucke roher Verschmitztheit und oft wilder Tücke „mit
dem Charakter wahrer Galgenvögel". Theils seßhaft, theils
nomadisch; manche Stämme verzehren geröstete Heuschrecken.
Wir nennen einige Hauptstämme: Südlich von Dongola
die Schekieh; die Annahme, daß sie eingewanderte Araber
seien, ist irrig; ihre Sprache ist ein Mahhasi mit vielen ent-
lehnten arabischen und Bedschawiformen gemifcht. Am Nil,
nach Süden hin, schließen sich die Ar ab-Monasir und die
Robathat an, die eher Berbern als Bedschah zu sein schei-
nen; sie sprechen meist arabisch, seltener berberinisch; vermit-
teln gewissermaßen den ethnischen Uebergang von den Be-
rabra zu den Bedschah. Hautfarbe kupferröthlich, ins Le-
derbraune spielend.
Die echten Bedschah sinden ihre Hauptvertreter im
Volke der Bischarin, südwärts vom 23. Grad nördlicher
Breite. Wild und treulos, theils Ackerbauer, theils Noma-
den; alle sprechen neben einem verderbten Arabisch noch das
Bedhawieh, eine äthiopische Sprache, deren Beziehung zu
anderen, z. B. dem abysstuischen Geez, noch nicht genügend
erforscht worden ist. Der Großscheich wohnt unterm 22.
Grad nördlicher Breite am Sotorbagebirge. Hartmann
macht vierzehn Stämme der Bischarin namhaft. Auch die
Ab ab de sind ein Bedschahvolk, aber gntmüthig, treu und
zuverlässig. Ihr Scheich wohnt in Berber. Die Schu-
kurieh werden irrthümlich für Araber ausgegeben; sie glei-
cheu den Bischarin und nirgends in Ostafrika findet man so
viele wüste, wilde Physiognomien, wie bei ihnen und den
Karl Andree: Betr
Abu Rüf. Ihr Gebiet erstreckt sich bis zum Atbarah, etwa
17 Grad nördlicher Breite. Ihr Oberscheich wohnt gewöhn-
lich in Rnfa, am Ostufer des Blauen Nils. Zum Bed-
schahtypus gehören auch noch manche Nomadenstämme im
Sennar, namentlich die Abu Rüf oder Rufai; Hautfarbe
Hellbronzebraun, röthlichbraun überflogen; kecke Wildheit in
den Zügen. Sie sprechen ein mit Fnngi, Deuka, Bedschah,
Berberi und selbst Bertha-Wörtern vermischtes Arabisch. Die
westlich vom Weißen Nil umherziehenden Nomadenvölker der
Hassanieh, Kababisch (d.h. Schafhirten) und die an bei-
den Ufern, 11 bis 14 Grad nördlicher Breite, wohnenden
Bagara (d. h. Kuhhirten) Ubergehen wir hier. Sie alle
gehören zn den hellfarbigen Stämmen und bilden einen Ge-
gensatz zu den Völkern mit dunkler, schwärzlich er Haut-
färbe.
Hartmann bezeichnet diese alle als „Neger", „nreingebo-
rene Afrikaner, mit mehr oder minder dnnkelpigmentirter
Haut, mit im Allgemeinen dolichokephalern Schädel und
prognathern Gesichtstypus, als ihn jene oben angegebenen
Bewohner der Nilgebiete aufzuweisen pflegen." Aber diese
„nilo tischen Neger" zeigen keineswegs durchweg jene
charakteristischen Eigentümlichkeiten, welche den Aethiopen
Blnmenbach's auszeichnen. Wir finden unter jenen Men-
schen mit fast europäischen Zügen und dann alle Ueber-
gänge von ihnen zu solchen äquatorialen Schwarzen, welche
wir insgemein als eigentliche Träger des negerartigen Race-
typns betrachten. Die Neger der Nilgegenden schlie-
ßen sich durch Vermittelung mehrerer Stämme,
z. B. der Nobah, Fundj, Njam njam, Kredj, Ko-
las :c. physisch unmittelbar an Berbern und Bed-
schahs. Sprachlich gehören sie durchaus der großen Völ-
kerfamilie des cisäquatorialeu Afrika an, deren Grenzen nach
Süden noch nicht genau bestimmt sind.
Am zahlreichsten und ansgebreitetsten unter diesen Schwar-
zen siud die Fuugi oder Fundj. Ihr echter Typus kommt
schon ans altägyptischen Wandgemälden vor. Von ihnen
sind um 1530 die Bedschahvölker im Sennar bezwungen
worden, und auf den Trümmern des alten Meros und von
htungen über Merico. 265
dem oben erwähnten Aloah erhob sich das von Fungikouigeu
beherrschte Reich Sennar, welches 1822 von den Aegyp-
teru unterjocht wurde. Die gemeinen Fuugi vermischten sich
mit den bezwungenen Stämmen, während die Vornehmern
ihr Blut reiner erhielten. Das Stammland, Dar Berun,
zwischen dem 12. und 8. Grad nördlicher Breite, wurde zu
einer Art Militaircolonie gemacht. Der echte reine Typus tritt
vorzugsweise bei den Fundj-Berun hervor; sie sind kräftig
gebaute Leute, aber mit schwachen Waden; Nase leicht ge-
bogen oder gerade, stumpfspitzig, in den Flügeln breit; Lip-
peu fleischig aber nicht wulstig; Gesichtsausdruck mild, in-
telligent und nicht selten sehr angenehm. Haare starr uud
gekräuselt, aber nicht wollig, der gekräuselte Bart nur schwach;
die Hautsarbe wechselt vom dunkeln Gelblichbraun bis in
tiefes bläuliches Schwarz; am häufigsten findet man ein duuk-
les Schwärzlichbraun; die starkfaltigen Lippen sind bräun-
lichroth; Haut sammetweich, mit starker Ausdünstung. Leber
und Milz sind dunkel wie das Blut; das in den sehr stark ent-
wickelten Venen befindliche ist dick und sehr klebrig. Charak-
ter osseu, intelligent und gutmüthig; sie hängen an ihrem
Lande uud haben einen gewissen Nationalstolz; gegen Fremde
sind sie gastsrei und zuvorkommend, und überhaupt heitern
Temperamentes. Die Hamnegh, ein Zweigstamm derBe-
run, wohnen am Ostufer des Blauen Nils bis zur Grenze
des Fasoglo. In dieser letztern Landschaft findet man die
Bergbewohner (arabisch Dschebalawin); sie sind auch eiu
Fuugistamm und vermitteln den Uebergang zu den Berthat;
vielleicht sind sie ein gemischter Stamm. Die Berthat
haben die Berggegenden zwischen dein Abay und Tumat inne,
haben schon stumpfere Nasen und dickere Lippen, krauseres
Haar uud tiefschwärzere Farbe als die Fundj. —
Wir sind nicht der Ansicht Hartmann's, daß man die
Fundj als Neger bezeichnen und unter diese einreihen dürfe;
dazu fehlen ihnen viele charakteristische Merkmale. Die Na-
tur spielt in jenen Gegenden mit anthropologischen Ueber-
gängen und Uebergaugsformeu sowohl bei den braunen wie
bei den schwarzen Menschen, und solch eine Uebergangssorm
tritt auch bei den Fundj hervor. A.
etrachtungen über Mexico.
Von Karl Andree.
IV.
Santa Anna hatte bis 1355 eine Dictatnr ausgeübt;
er hegte die Absicht, den Verhältnissen eine Wendung zum
Monarchischen zu geben. Es war ihm gelungen, den größ-
ten Theil des Landes im Zaume zu halten, nur gegen den
früher schon erwähnten Gouverneur des Staates Guerrero,
den alten Indianer Alvarez, vermochte er nichts. Diesem
gelang es, Santa Anna zu stürzen. Er zog mit seinen
Horden, vor welchen Mexico zitterte, in die Hauptstadt ein.
Der Congreß übertrug dem braunen Halbwilden die höchste
Staatswürde, mit der Befuguiß, dieselbe seinerseits an einen
beliebigen Staatsmann abzutreten. Alvarez ernannte, wie
ich schon früher angedeutet, zum Provisorischen Präsidenten
seinen weißen Freund Comonfort. Dann berieth mau ein
Jahr lang über die Verfassung, welche wir charakterisirt ha-
ben. Die allerradicalsten Leute unter den Puros begriffen
endlich, daß man mit ihr platterdings nicht regieren könne,
Globus XI. Nr. 9.
und Comonfort wurde bis anf Weiteres zum Dictator er-
klärt. Man hatte also nach Verlauf von zwei Jahren wie-
der eine Dictatur.
Aber sofort brach eine Revolution aus und zwar ledig-
lich, um dieser Dictatur gegenüber eine andere Dictatur
einzuführen. Wer das Parteigetriebe in Mexico nicht ge-
naner verfolgt hat, dem wird dergleichen vollkommen sinnlos
erscheinen. Santa Anna war hauptsächlich durch die Radi-
calen gestürzt worden. Nun gehörte Comonfort nicht eigent-
lich zu denselben, sondern er war ein Mann von gemäßigten
Geswnungen, der gern ausgeglichen uud versöhnt hätte. Frei-
lich fehlten alle Elemente, welche eine solche Ausgleichung
gewollt hätten. Die Geistlichkeit namentlich und die Sant-
annisten rebellirten gegen ihn; er mußte also uothgedrungen
mit den Puros gemeinschaftliche Sache machen. Man con-
fiscirte Kirchengüter, „um der geistlichen Hydra den Kopf
34
266 Karl Andree: Bett
abzuschlagen." Aber Comonfort fühlte doch, daß die Puros
ihm nicht traneten, seine Lage war unhaltbar. Schon im
November 1857 wollte er abtreten und machte dem Führer
und Leiter der Radicalen Anträge zur Uebernahme der Die-
tatnr. Dieser Führer war kein anderer Mann, als der
Indianer Benito Juarez, welcher von da an bis heute
eine einflußreiche Nolle gespielt hat und als Hauptgegner des
Kaisers Maximilian dasteht.
Die Reactiouaire, d. h. die Anhänger der Geistlichkeit
und die Santannisten, verleiteten zwei Generäle, Payno
und Zuloaga, zum Eid- und Treubruch gegeu Comonfort.
Am 16. December 1857 rückte Zuloaga, in der einenHand
den Säbel, in der andern den „Plan von Tacubaya", in
dieHanptstadt ein. Seine Patriotenschaar bestand ans etwa
zweitausend barfüßigen Indianern. Er erklärte die Berfas-
suug für abgeschafft; in der Stadt läutete man mit den
Glocken, ließ am hellen Tage Raketen steigen, legte Sonn-
tagskleider an und jubelte, für — deu Dictator Comon-
fort, weil mau wähnte, derselbe sei mit Znloaga's Verfahren
einverstanden! Dieser machte bekannt, daß nach drei Mo-
naten von dem „Inhaber der öffentlichen Gewalt"
(der aber nicht namhaft gemacht wurde) ein Congreß aus-
geschrieben werden solle. Der Hintergedanke war für Santa
Anna.
Dieser „Plan", welcher zu Tacubaya eutworseu worden
war, täuschte anfangs die Pnros. Als sie dann ins Klare
über die Tragweite und Bedeutung desselben kamen, erhoben
sie sich. Zunächst erklärte sich der wichtige Staat Veracruz
für unabhängig, weil er mit der „Gott- und Freiheitsrepublik
der Pfaffen" teine Gemeinschaft haben wolle. Am Weih-
nachtstage stellte Doblado, Gouverneur von Gnanajuato,
jenem Plan einen andern Plan (d. h. politisches Programm)
entgegen, welchem vier andere Staaten sich anschlössen, nnd
schon im Januar stand das ganze Land in Feuer und Flam-
men. Jnarez war verhaftet worden, Comonfort sah sich be-
trogen. Nun trat auch er an die Spitze von ein paar Tau-
send Soldaten und griff in der Hauptstadt die Kasernen nnd
Klöster an, in denen Zuloaga's braune Banden lagen. In
ganz Mexico gab es keinerlei Art von Rechtsznstand, kein
Gesetz und keine Autorität. Der deutsche Kaufmann, dessen
ich schon im vorigen Änfsatz erwähnt habe, schrieb 1358:
„Diese Zustände siud bodenlos, aber doch nur ein
Abbild des ganzen Landes. So arg freilich, wie jetzt,
haben wir die Anarchie noch nicht gehabt, und doch weiß die
Welt, daß gerade Mexico in derselben das Menschenmögliche
zu leisten versteht. Nicht bloß jeder Staat hat seine
besondere Revolution gemacht, sein eigenes Pronnn-
ciamiento erlassen, sondern jede einzelne Stadt. Das
Ganze ist politisch und sittlich gleichsam in Staub aufgelöst."
Der Januar 1858 war für die Hauptstadt Mexico recht
eigentlich der Barricadenmonat einer dreiköpfigen
Revolution. Ein paar Tage blieb Alles ruhig, dann aber
brach der Sturm los. Juarez war nicht mehr in Haft
und verabredete mit seinen Pnros eine Erhebung gleicher-
maßen gegeu Zuloaga und gegen Comonfort. Das
Nämliche that Znloaga mit seinen Religionistas und
Santannistas gegen Jnarez und gegen Comonfort.
Pnros und Reactiouaire znmal riefen das „patriotischeVolk"
zu den Waffen. Unter diesem waren insbesondere die 20,000
und mehr Leperos, Aussätzige, zu verstehen, Indianer und
Mischlinge der schlimmsten Art, der niedrigste Pöbel der
Hauptstadt, an welchen stets die Parteien sich wenden, weil
diese Leperos schon mehr als einmal den Ausschlag in den
Revolutionen gegeben haben. Ein Theil ging zu den Pn-
ros, ein anderer machte gemeinschaftliche Sache mit den Re-
ligionisten und die Geistlichkeit vertheilte Geld.
chtungen über Mexico.
Also drei Männer und drei Parteien kämpften
gegen einander: Comonfort, Juarez und Zuloaga. Ueberall
wurden Barricaden der einen gegen die anderen aufgeworfen;
man führte in der Stadt einen Guerillakrieg, aber weder
von einem Angriffs- noch Vertheidignngsplane war eineSpnr
wahrzunehmen. Alle' drei Parteien erklärten das Stand-
recht nnd schössen ihre gefangenen Gegner todt. Selbst nach
Untergang der Sonne wurde aus deu Feusteru und von den
Dächern herab gefeuert. Diese Kämpfe dauerten ohne jede
Unterbrechung Tag und Nacht vom 5. bis zum 15. Januar.
Keine Partei war stark genug, die andere zu besiegen; sie
schlössen einen Waffenstillstand, welchen sie jedoch alle sofort
wieder brachen. Am 21. Januar endlich blieb Zuloaga
Sieger; Comonfort entfloh; Juarez zog sich nach Guana-
jnato zurück, nachdem er proclamirt hatte, daß ihm allein,
als dem Vorsitzenden des höchsten Gerichts, laut Bestimmung
der Constitution von 1857, das Anrecht auf die höchste
Würde zustehe und lediglich er und kein anderer gesetzlich
Präsident sei. Zuloaga seinerseits, welcher im Auftrage der
Geistlichkeit die Revolution gemacht, verkündete sofort, daß
alle Privilegien des Clerus wieder hergestellt wären.
Inmitten der Revolutionen nnd Gassenkämpse zeigte die
Bevölkerung der Hauptstadt gar feine Theilnahme für die
verschiedenen Parteien. Trotz des Kngelregens waren die
Kaffeehäuser geöffnet, die geschützten Ballone und die schat-
tigert Seiten der Straßen mit wohlgekleideten Leuten gefüllt,
die kein anderes Interesse zeigten, als das der Fnrcht oder
der Neugier.
Die unglückselige Scheinrepublik zersetzte sich immer mehr,
die Zahl der Räuber wuchs an, bewaffnete Banden durch-
zogeu Mexico von den Grenzen Guatemalas bis zu jeueu
von Texas; manche Strecken wurden verödet. Das ganze
Land war ein großer Kampfplatz; in wirrem Wechsel, gerade
wie anch heute, siegte bald die eine, bald die andere Partei,
eroberte Städte, äscherte einen Theil derselben ein, erpreßte
Zwangsauleiheu, ermordete Gefangene, manchmal iit ganzen
Hekatomben, metzelte aber vor allen Dingen die verhaßten
Ausländer nieder. Und ans dem grauenvollen Chaos tanchte
anch nicht ein einziger Mann auf, welcher dem zerrütteten
Lande als AnHaltepunkt anch nur für Hoffnungen hätte er-
scheinen können; kein Feldherr von Talent, kein Staats-
mann mit Schärfe des Blicks oder Energie des Charakters;
selbst die Besten, wenn der Ausdruck erlaubt ist, siud auch
heute lediglich Mittelgut; „Wetteifer kennt man nur in der
Unfähigkeit oder in der Niederträchtigkeit."
Ich sagte schon, daß beide Parteien gleich sehr verrottet
seien. Lasse man sich doch ja nicht dadurch täuschen, daß die
eine Partei das Banner der Kirche, die andere die Fahne
deS Liberalismus vor sich herträgt. Jener liegt nichts an
der Religion, die nur ein Aushängeschild für politische Herr-
schaft und Privilegien ist, und was kümmern sich die wirk-
licheu Pnros um die Freiheit? In vielen Gegenden spotten
die Vollblutindianer der einen wie der andern und bethätigen
ihren Eiser nur dadurch, daß sie überhaupt alle Weißeu nie-
derschlagen, deren sie habhaft werden können.
Das Land war schon damals wie heute getheilt. Wäh-
reud in den mittleren Staaten und in der Hauptstadt die
Religionistas sich behaupteten, waren die Provinzen an bei-
den Meeresküsten int Allgemeinen im Besitze der Liberalen,
aber Verrath und Ueberlaufen war da wie dort au der Ta-
gesorduuug.
Eigentlich wußte nur ein Mann recht, was er wollte,
der „Geyeral" Mejia, welcher auf Seiten der Clericalen
focht und eben jetzt für eine Hauptstütze des Kaisers gilt.
Was kümmerte diesen dunkelbraunen Indianer die Kirche?
Er war von ingrimmiger Wnth gegen Alles beseelt, was
Karl Andree: Betr
„etit weißes Fell" trug; er konnte sich auf seine indiani-
scheu Truppen verlassen und schoute nicht einmal Mischlinge,
welche tu seine Gewalt sielen. Sie wurden niedergemetzelt,
weil Tropfen europäischen Blntes in ihren Adern flössen!
Die Negierung hatte keine Mittel, um die Truppen zu bezah-
leu, die Geistlichkeit gab Geld mit vollen Händen und die
Soldaten gingen zu ihr schou deshalb Uber; ohnehin hatte
die radicale Verfassung von 1857 auch die Privilegien des
Militairs beseitigt. Kein Raub oder Mord wurde bestraft;
„General" Marquez, derselbe, welcher heute, gleich jenem
Mejia, für Maximilian im Felde steht, durfte eiue unter
dem Schutz und mit Gutheißen der clericaleu Regierung ab-
gesandte und durch Regieruugstruppeu beschützte Silbercon-
dncta wegnehmen. Zwar sein jetziger Genosse Miramon,
der nun das militairische Factotuui der Imperialisten ist,
eilte ihm bis Guadalajara uach, um den Raub ihm abzn-
nehmen, aber er that es, um einem Nebenbuhler, welcher
nach der ersten Stelle in der clericalen Partei strebte, nicht
eine Million Silberthaler zur Verfügung zu lassen.
Ich bin mit der Schilderung der revolutionären Wirren
noch lange nicht zu Ende. Znloaga behauptete sich fast zwölf
Monate laug an der Spitze während eines der wildesten
Jahre (1858), die Mexico jemals gehabt hat. Allein in
der Hauptstadt fanden während eines so kurzen Zeitraumes
nicht weniger als fünf Regierungswechsel statt; denn seit-
den: jener General mit seinen braunen und gelben Horden
eingezogen war und die Rettung der Republik verkündete,
blieb die Revolution an der Tagesordnung. Znloaga dachte
eine Zeitlang daran, im gemäßigten Sinne zn verfahren und
den Krater zu schließen; aber gegen ihn erhob sich der sana-
tische Mönch Mirauda, welcher ihn der Schwäche anklagte
und den Haß gegen alle Fremden mit wahrem Ingrimm
predigte. Der Pater ließ in Menge solche Leute einkerkern,
die ihm verdächtig erschienen; am ersten Weihnachtstage 1858
sind dann mehr als eintausend solcher „verdächtiger" Opfer
des Mönches freigelassen worden.
Zuloaga wurde von der Nemesis ereilt; er war Ver-
räther au Comoufort geworden, welchem er Freundschaft ge-
heuchelt; jetzt erklärte sich sein „Freund" Echeagaray ge-
gen ihn und proclamirte sich zum Präsidenten. Aber in
Mexico will Jedermann Präsident sein, und deshalb erhob
sich gegen Echeagaray dessen „Freund" General Nobles, so
daß Mexico binnen zwölf Monaten nicht weniger als fünf
Präsidenten zählte: Comonfort, Juarez, Zuloaga, Echeaga-
ray und Nobles. Doch das halbe Dutzend mußte voll wer-
den. Eine Junta, welche zusammengetreten war, um dem
Laude ein Ob.erhanpt zu geben, hatte nicht weniger als sie-
beu Caudidateu ins Auge gefaßt, aber General Miramon,
der von nun an in den Vordergrund tritt, machte die &era-
thungen überflüssig.
Die Dinge verliefen in höchst pikanter Weise und sind
kennzeichnend für Mexico, sobald man die Einzelnheiten ins
Auge faßt. Es war ein seltsames, durch einander gesloch-
tenes Netz von Ränken, Bübereien und Verrath, ein Gewirr,
daS anderswo in solcher Weise unmöglich wäre, aber in einem
so buntscheckigen, zerrütteten und durch und durch aufgewühl-
teu Lande weiter nichts Auffallendes hat. Denn wer hätte
da noch Sinn für Ehre und Ehrgefühl, Anstand, Rechtschaf-
fenheit und Pflicht?
Jener Echeagaray war eine Hauptstütze der Clericalen;
er hatte im Staate Veracruz einige Siege über die Radi-
ealen erfochten. Das war genug, ihn in seinen eigenen
Augen zum Herrscher zu qualificireu. Statt jene Vortheile
zn verfolgen, ließ er den Feinden freien Spielraum und zog
auf eigene Faust gegen die Hauptstadt. Unweit derselben
liegt die Ortschaft Ayutla (— nicht zu verwechseln mit der
chtuugeu über Merico. 267
gleichnamigen Stadt iu Guerrero, in welcher 1855 ein „Plan"
entworfen wurde, der zum Sturze Santa Anna's führte —).
Dort entwarf er am 20. December 1858 seinen „Plan",
für welchen seine braunen Banden sich aussprechen mußten.
Aber die Soldaten in der Hauptstadt erklärte» sich gegen
ihn; in ihren öffentlichen Berathungen sprachen sie es rund-
weg aus, daß das neue Prouuuciamiento ihnen keinen Pia-
ster einbringen werde; aber es sei möglich, daß Bortheile
Heraussprüngen, wenn General Nobles Präsident werde.
Dieser berief in aller Eile etwa anderthalb hundert Leute
zusammen, die als „Notable des Landes" bezeichnet wurden
und die oben erwähnte Junta bildeten. Aber Miramon,
über den ich weiter unten reden werde, hatte soeben den radi-
calen General Degollado aufs Haupt geschlagen. Als er
Knude von jenen Berathungen erhielt, sprengte er in aller
Eile mit einer verwegenen Reiterschaar nach Mexico und
sprach sich ohne Weiteres dahin aus, daß ihm die Präsident-
schast gebühre. Die beiden Nebenbuhler waren im Hand-
umdrehen zu einem überwundenen Standpunkte geworden.
Wer mit den Verhältnissen nicht näher bekannt ist, könnte
meinen, daß ich Menschen und Dinge in Mexico mit zu dun-
kelen Farben male. Aber die Thatsacheu reden laut genug.
Und wie schilderte jener Echeagaray in seinem „Plane von
Ayutla" die Zustände? Ich lasse ihn selber reden; ein Ver-
räther spricht, aber er ist Mexicauer und kennt sein Land.
„Unsere unglückliche Republik bietet der civili-
sirteu Welt seit 37 Jahren das klägliche Schau-
spiel schamloser Uusittlichkeit dar. Wir haben tyran-
nische Parteien, welche sich die Gewalt anmaßen; wir haben
unaufhörlichen Bürgerkrieg, in welchem kein Quartier mehr
gegeben wird. Ueberall im Lande fließen Blut und Thrä-
neu. Die Folgen dieses brudermörderischen Kampfes sind
leicht vorauszusehen; Leidenschaften, Haß und wilde Verzweif-
lung haben den höchsten Grad erreicht; Niemand ist duld-
sam, Jedermann ist ausschließlich. Die Parteien
wetteifern mit einander in Übertreibung derPriu-
cipien, und machen sich, nach Blnt dürstend, die
Willkürherrschaft streitig. Aber keine ist stark ge-
nug, die andere zu unterjochen; beide mühen sich in
gleicher Impotenz ab, und so ist nicht ein Schatten
von Aussicht vorhanden, daß eine so grauenvolle
und beklageuswerthe Anarchie, ein so scheußlicher
und niederträchtiger Wandalismus aufhören werde,
bis völlige Abmattuug und Ohnmacht eintritt, die
sich dann fremder Einmischung uud einem Protec-
torate zur Beute preisgegeben sieht. Das Volk sieht
sich völlig zu Grunde gerichtet und schreiet nach Rnhe und
Frieden; diese erscheinen aber unmöglich, so lauge die Par-
teieu so bleiben wie sie sind. Es ist unmöglich, eine neue
gute Regierung zn begründen, wenn dieselbe mit Hinrichtnn-
gen und Verbannungen beginnt und wenn die eine Hälfte
des mexicanischen Volkes die andere in den Kerker
sperren will."
Alles was hier Echeagaray sagt, ist schreckliche Wahrheit;
es liegt darin nicht die mindeste Uebertreibung, es ist ein Ge-
mälde der Wirklichkeit. Aber freilich war er nicht der Mann,
den Dingen eine Wendung zum Bessern zn geben. „Das
Volk," so heißt es im Plane von Ayutla weiter, „verabscheut
Zwang und Zügellosigkeit und verlaugt gemäßigte Freiheit.
Diese aber kann nicht anders gewonnen werden, als wenn
die rechtschaffenen Männer aller Parteien gemeinsam auf
denselben Zweck hinarbeiten. Vor einem Jahre verschwand
die gefährliche Regierung Comousort's, aber seitdem ist noch
gar nichts orgauisirt worden. Wir sahen in dieser ganzen
Zeit nur Brand und Mord; alle Städte wurden ansgeplün-
dert; unbedeutende Personen ohne alle Geltung haben sich an
34*
268 Karl Andree: Betr
die Spitze von Räuberschaaren gestellt und Alles zu Grunde
gerichtet. Der Staatsschatz war freilich allezeit erschöpft,
aber jetzt ist er geradezu bettelhaft; er kann die Bedürfnisse
der Verwaltung nicht befriedigen. Allerdings hat er dann
und wann zu Wucherzinsen kleine Summen aufgeborgt, da-
bei haben aber nur die Speculanten gewonnen. Der gesunde
Verstand des Volkes (!?) verdammt die stupiden Theorien
der einen wie der andern Partei. Einerseits verkennt man,
daß wir int neunzehnten Jahrhundert leben, andererseits trägt
man unserer Eigentümlichkeit und dem Charakter der Me-
xicaner keine Rechnung. Eine gemüßigte Partei muß ans
Ruder kommen; deshalb veröffentliche ich diesen Plan, für
dessen Durchführung ich auf die Entschlossenheit uud den
tapfern Mnth der unter meinem Befehle stehenden Truppen
und die Vaterlandsliebe aller verständigen Männer zählen
kann. Ich lade sie ein, zur Gründung einer solchen Regie-
rung mitzuwirken. Ich will dem Jammer ein Ende
machen, enthalte mich aber aller hochtönenden Versprechnn-
gen, denn man hat alle Erwartungen so oftmals ge-
täuscht gesehen, daß jeder Mexicaner vollkommen
im Recht ist, wenn er Alles in Zweifel zieht, sich
gar keiner Hoffnung hingiebt, sondern nur den
Thaten glaubt."
Wenn diese Worte ehrlich gemeint waren, so zeugten sie
wie von richtiger Auffassung der äußeren Verhältnisse, so
auch vom guten Willen, aber der Mann vergaß, daß das
„Volk" nnd die „rechtschaffenen Männer" fehlten. Er schloß
seinen „Plan" mit der Ankündigung, daß er in die Haupt-
stadt einrücken, eine Nationalversammlung einberufen nnd
bis zur Verkündigung der Verfassung an der Spitze der Re-
publik bleiben werde!
Als die Nachricht von Echeagaray's Erhebung nnd Plan
in der Hauptstadt bekannt wurde, schloß Zuloaga die Thüren
seines Palastes und die „Nation" erklärte, daß man ihn ab-
setzen müsse. Gutwillig wollte er uicht gehen, er ließ eine
pomphafte Ansprache an seine „tapferen und uuüberwind-
lichen Krieger" drucken. Leider konnten dieselben nicht lesen
und verstanden auch nur zum geringsten Theile Spanisch;
die Offiziere dienten als Dolmetscher. Allgemeiner Jubel
und Erklärung, daß Echeagaray's Plan von Ayutla hochver-
rätherifch sei. Aber am andern Tage kam die Nachricht,
daß die wichtige Stadt Pnebla de los Angeles sich für den-
selben erklärt habe und der „Hochverräther" gegen die Haupt-
stadt anrücke.
Die Geistlichkeit ließ nun ihr Werkzeug Zuloaga fallen;
sie veranlaßte dessen „Freund", den General Gnal, sich
gegen ihn zu „prouuuciren", und stellte diesem Verräther
eine Anzahl von Mönchen und Pfarrgeistlichen zur Verfü-
gung. Nobles wurde in der Acordadacaferne proclamirt;
er stieg zu Pferde uud führte seine Banden gegen die Cita-
delle, welche Zuloaga's Truppen noch inne hatten. Als er
blasen, trommeln und vor allen Dingen der Besatzung Geld
anbieten ließ, ergab sie sich, ließ ihren General und Präsi-
deuten Zuloaga im Stich und dieser, seines Lebens vor den
eigenen Leuten nicht mehr sicher, flüchtete in den Palast des
englischen Ministerresidenten, welcher ihm Schutz gewährte.
Inzwischen gab Nobles die vielen Hunderte von den Mön-
chen als verdächtig eingesperrten „Patrioten" frei. Dafür
erntete er den Haß der Geistlichkeit, die sofort unversöhnlich
gegen ihn auftrat. Er aber hob den Belagerungszustand
wieder auf und am Abend vor Weihnachten wurden Freuden-
feuer auf allen Plätzen abgebrannt.
Am Weihnachtsmorgen hieß es, Echeagaray sei in
Pnebla von seinen eigenen Soldaten ermordet worden; sie
hatten ihn aber nur einige Stunden lang eingesperrt und
dann wieder freigelassen. Sie pflogen inzwischen Raths;
chtnngen über Mexico.
ein Theil schlng vor, ihm ohne Weiteres Kugeln durch deu
Kopf zu jagen, ließ sich aber bereden, ihn nicht todtzuschießeu,
sondern lieber in aller Form als Präsidenten anzuerkennen.
Diese Anerkennung währte genau viernndzwanzig Stunden,
denn nach Verlauf derselben proclamirten sie den General
Nobles. Das waren die „patriotischen, achtbaren und recht-
schassenen Krieger", mit denen Echeagaray „dem Jammer
hatte ein Ende machen wollen". Sie verlangten, Nobles
solle Dictator werden, aber auch, daß General Miramon
an der höchsten Gewalt theilnehmen müsse. Gleich nachher
forderten noch fünf andere Generäle Theil an der höchsten
Gewalt. Die fchon erwähnte Junta hatte für dieselbe den
alten Ränkeschmied Santa Anna, den Sohn des erschösse-
nen Kaisers Jtnrbide und Miramon im Ange. Zuloaga,
Echeagaray uud Nobles wurden nicht mehr berücksichtigt.
Der „Plan" des Letztern war am 24. December von nicht
weniger als 42 Generälen unterzeichnet worden, und alle
hatten ihm Treue geschworen, aber schon vor dem Neujahrs-
tage hatten sich alle diese tapferen Biedermänner dem auf-
gehenden Sterne Miramon zugewandt.
Auch gegen diesen war von vornherein die Geistlichkeit
mißtrauisch; sie gab dem Indianer, General Mejia, Geld
mit vollen Händen, um seinerseits Truppen herbeizuführen
und jeden Versuch zur Herstellung einer versöhnlichen Mittel-
Partei niederzuschlagen.
In solcher Weise wirtschafteten die „(konservativen"
unter einander. Aber während diese Dinge sich in Mexico
nnd Puebla begaben, rückten die Nadicalen von Veracruz
aus, und die Pintos-Jndianer unter Alvarez von Guerrero,
also von Westen her, gegen die Hauptstadt an. Hier nahm
aber, trotz der drohenden Gefahr, die Geistlichkeit Partei, wie
schon gesagt, gegen Nobles, obwohl derselbe in einem öffent-
lichen Aufruf an die „patriotische Nation" alle Liberalen als
„Banditen" gebrandmarkt hatte. Aber — in Mexico darf
nichts auffallen —, trotzdem lud er diefe Liberalen ein, an
einer constitnirenden Junta Theil zu nehmen und sandte Com-
missaire ab, die in Veracruz, wo Juarez im Namen der radi-
calen Föderalisten die Gewalt ausübte, unterhandeln sollten.
Jndeß ein Bandenführer der Pnros hob diese „Friedensboten"
auf. Während die Conservativen sich unter einander ver-
folgten, hielten auch die Liberalen nur locker zusammen und
waren unter einander sehr uneinig. Die conservative Junta
richtete nichts aus. Sie bestand aus 150 Personen und ihre
Zusammensetzung ist charakteristisch; in ihr saßen 92 Geist-
liche und Obersten, 20 Generäle, 37 Advocaten und
— ein Kaufmann! Nebenher herrschte Hungersnot!).
Miramon, der auch jetzt so oft genannte, blieb oben
auf. Die Geistlichkeit konnte nicht umhin, sich mit ihm in
ein gewisses Einvernehmen zu setzen. Die napoleonische
Politik hatte sich diesen jungen, kecken Mann zum
Werkzeug ausersehen und gründete auf ihn ihre
Pläne. Er fand eine Stütze an dem damaligen französi-
scheu Ministerresidenten Herrn v. Gabriac, welcher den
Clerus für ihn zu stimmen suchte. Von da an gewannen
die französischen Pläne, welche hente in so schmachvoller Weise
gescheitert sind, eine festere Gestalt. Miramon wurde in
jeder Weise ausgezeichnet; die Pariser Blätter, ich erinnere
mich dessen sehr genau, mußten ihn für „den Löwen auf der
Hochebene Anahuac und für einen würdigen Sohn im Lande
Monteznmas" erklären. Er sollte behülflich sein, das latei-
nisch-amerikanische Programm durchzuführen.
Wer war dieser Miramon? Im Anfange der fünf-
ziger Jahre zählte man im Gebiete der „Republik" Mexico
neunzig uud etliche größere Räuberbanden, die klei-
neren ungerechnet. Diese gewannen eine politische Beden-
tuug, weil die Räuberhauptleute sich an die Parteiführer ver-
Ludwig Hollaender: Farmleben am Oranjeflnsse.
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mictheten. Junge, unternehmende Leute finden in Mexico
keiu leichteres Mittel zum Emporkömmen, als, wenn sie Rän-
ber werden. Sie bringen eine Schaar voll Gesindel zusam-
meu, welches sich als Guerilleros und Patrioten bezeichnet.
Während der ewigen Bürgerkriege hat das Handwerk viel
von der Anrüchigkeit verloren, nüt welcher wir in Europa
dasselbe betrachten; die Hauptlente scheu iu dem mexicanischen
Brigaudaccio einen Hebel, um iu irgend einer Partei, gleich-
viel welcher, politisch in die Höhe zu kommen. Nun war
Miramon ein junger Lieutenant, der unter den Fahnen Santa
Anua's diente. Nachdem dieser Dictator im Sommer 1855
aus Mexico entflohen war, ging Miramon unter die„Gne-
rilleros" und bekämpfte unter dem Bandenführer Osollos
die Liberalen; auf seiner Fahne stand: „Religion und
Privilegien!" Als Zuloaga seinen Plan von Tacnbaya
aufstellte, trieben diese beiden Bandenführer sich gerade in
den Gebirgen des Staates Mexico umher. Sie vermuthe-
ten, daß man in der Hauptstadt sie werde verwenden können,
zogen dorthin und entschieden mit ihrer Bande in den Stra-
ßen deu Kampf gegen Eomonfort. Osollos wurde zum Ober-
befehlshaber der couservativen Armee ernannt, Miramon
wurde sein Unterbefehlshaber und als jener starb, oberster
General. Er zeichnete sich besonders dadurch aus, daß er
namentlich in San Luis Potosi die Häuser der englischen
Kaufleute ausplünderte. Deö französischen Schutzes sicher,
kümmerte er sich nicht darum, daß der britische Miuisterresi-
deut Mathews protestirte, und was verschlug es ihm, daß
er im Londoner Parlament als gemeiner Straßenräuber ge-
brandmarkt wurde, der auch Zwangsanleihen erpresse, um zu
stehlen!
Inzwischen war Jnarez von der Regierung der Ver-
einigten Staaten als gesetzlicher Präsident anerkannt worden;
sie unterhielt nur mit ihm diplomatischen Verkehr. Ihr wa-
reu die wilden Wirren durchaus genehm; sie sah nicht ohne
Behagen, wie Mexico sich immer mehr zerfleischte und ab-
mattete; sie wollte zuwarten, bis eine reifende Frucht ihr in
den Schooß falle. Die Radicalen verlangten von ihr Geld,
um den Krieg mit mehr Nachdruck führen zu können, und sie
forderten dafür den Transit über die Landenge von Tehu-
autepec. Ich habe fchou im ersten Aufsatze über diese Ver-
Hältnisse gesprochen. Inzwischen schwankte in Mexico das
Kriegsglück hin und her. Jnarez machte „im Namen des
Vaterlandes" dem Gegenpräsidenten Miramon Borschläge
zur Ausgleichung; er wollte sogar der Geistlichkeit die alten
Privilegien zurückgeben. Aber der Clerus ließ sich auf nichts
ein, er wollte die Vernichtung seiner Gegner.
Doch genug. Es kam mir darauf au, nachzuweisen,
wie bodenlos zerrüttet die Zustände in Mexico sind, wie in
Folge der unheilvollen Blutvermischung, der ethnischen, sitt-
lichen und staatlichen Anarchie, des Mangels an Bildung
und Zucht iu den Geistern, der Feigheit und der Selbstsncht
das Land zu Grunde gerichtet wurde. Jenes „Flibnstier-
volk der Yankees", das sich rühmt, von angelsächsischer Ab-
kirnst zu sein, das auch zum Theil nicht glücklich gemischt, aber
wenn auch zügellos doch thatkrästig ist, — dieses Mnkeevolk
wird die Ernte einthun, welche ihm entgegenreift. Und es
ist der Kaiser der Franzosen gewesen, der ihm so trefflich mit
einer zugleich zaghaften und abenteuerlichen Politik in die
Hände gearbeitet hat, — einer Politik, welche von der Ge-
fchichtschreibuug die allerschürsste Beurtheilung erfahren muß.
Ich gehe auf die Wirren, welche nach Miramou's Erhe-
buug folgten, hier nicht weiter ein. Drei europäische Mächte:
Spailieu, England und Frankreich, intervenirten bewaffnet in
Mexico. Die beiden ersteren zogen sich rechtzeitig aus der
Schliuge uud erklärten, daß ihnen Genngthuuug geworden
sei; die dritte verwickelte sich und ließ nachher das von ihr
improvisirte Kaiserthum im Stiche. Ohnehin hatten die
Yankees gedroht. Die Folge der napoleonischen Einmischung
ist eine chaotische Anarchie, wie im Jahre 1858 und wie
1853. Darüber nur noch einige Worte, damit der Leser
sehe, daß in Mexico sich immer dasselbe wiederholt.
Präsident war Arista, derselbe, von welchem ich angeführt
habe, daß er im Congresse schon 1852 hervorgehoben, wie
traurig es sei, dem Leichenbegängnisse des Vaterlandes bei-
zuwohnen. Er wurde vom General Uraga gestürzt, recht-
mäßiger Nachfolger hätte aber Ceb allo s sein müssen. Die-
sen beseitigte derselbe Nobles, welcher 1858 wieder aus-
tauchte; er arbeitete mit dem Mönche Mir and a daran,
den verbannten Santa Anna, der aus St. Thomas den
Verlauf der Dinge abwartete, wieder zum Präsidenten zu er-
heben. Nachdem Nobles und der Mönch den Präsidenten
Ceballos beseitigt hatten, erhoben sie den General Lombar-
dini zur höchsten Würde, aber nur zum Schein; er wurde
sofort beseitigt, als Santa Anna erschien. Dieser hielt sich
bis in den August 1855, dann verjagten ihn die Radicalen,
welche auch bald wieder unterlagen.
Ich denke, daß die vorstehenden Schilderungen nnd That-
sacheu zeigen können, wie chaotisch die Zustände Mexicos
sind. Es ist ein Hexeusabbath, der seit nun einem halben
Jahrhundert seine Walpurgisorgien feierte, eiu geschlossener
circulus vitiosus. Wer wüßte Mittel uud Wege, um aus
demselben einen Ausgang zu finden?
I arm leben am Hranjeflusse.
Schilderungen alls dem Innern der südafrikanischen Capregion von Dr. Ludwig Hollaender.
II.
MitSouuenaufgaug beginnt das Leben auf der Farm.
Zugleich mit der Sonne erheben sich die Bewohner von ihren
Lagerstätten, die stets und besonders im Sommer von aller-
Hand Ungeziefer wimmeln. Aber weder Flöhe lioch Wanzen,
weder Ameisen noch Mosgnitos sind im Stande, den gesunden
Schlaf unserer Freunde zu beeinträchtigen. Da Mann und
Frau iu vollen Kleidern mit Ausilahuie der Schuhe sich zu
Bette legen, braucht man wenig Zeit zur Toilette. Schnell
sind die Schuhe angezogen und noch schneller hat der Mann
seinen Hut, die Frau ihre schwarze Kappe auf das ungekämmte
Haupt gesetzt. Eine ein Mal gefüllte Waschschüssel dieut
der gestimmten Bevölkerung, um eben damit Gesicht und
Hände naß zu machen, die dann mit einem Lappen, der von
Hand zn Hand gereicht wird, abgerieben werden. Der Luxus-
artikel Seife wird nur bei gewissen festlichen Gelegenheiten
gebraucht.
270 Ludwig Hollaender: F
Der ersten Tasse Kaffee folgt ein allgemeines Absingen
eines Psalms; die Mutter des Hauses leitet den Chorus,
und dann beim Manne eine Pfeife Taback, während die Frau,
nachdem sie die für das Frühstück bestimmten Fleischstücke
einer Kasferin zum Kochen übergeben hat, sich mit den zwi-
fchen die Beine geklemmten Kleidern an das am Fenster
stehende Tischchen setzt und in ihren beschaulichen Gedanken
und Betrachtungen sich ergeht. Ilm 9 Uhr folgt die Haupt-
mahlzeit. Da giebt es gekochtes Schasfleisch, Milch und
Brot. Mittags um 1 Uhr Kaffee, und nm 5 Uhr Thee.
Indessen sind kurz vor Sonnenuntergang die am Morgen
auf die Weide gesandten Schase zurückgekehrt. Jetzt beginnt
des Bauers wichtigstes und schwierigstes Geschäft, d. h. jetzt
stellt er sich vor den Eingang des Kraals itnb beginnt die
schnell hineinspringenden Schafe zu zähle», eine Arbeit, die
außerordentliche Uebuug erfordert und nicht so leicht ist, als
es Manchem beim ersten Anblick vorkommen dürfte. Zwi-
scheu 6 und 7 Uhr ist die letzte Mahlzeit. Da giebt es
wieder Schaffleisch, Milch und Brot mit zwei Psalmen und
einem zwanzig Minuten laug dauernden Gebet, das der Herr
des Hanfes höchst salbungsvoll und weinerlich-pathetisch, oft
mit eigeuthümlicheu Gesten extemporirt. Nachdem dies vor-
über, erscheint eine Hottentotin mit einer- Schüssel warmen
Wassers und beginnt der Frau vom Hause die Füße zu
waschen, wozu natürlich wieder keine Seife verwendet wird.
Die Schüssel wird dann, wie schon am Morgen, mit dem-
selben Wasser herumgereicht zur allgemeinen Fußwäsche für
die übrige Familie. Dann aber geht es schnell zn Bett.
Mit dem letzten Huhne schläft der letzte Bewohner des Farm-
Hauses, schläft auch der letzte Hund und Ruhe herrscht auf
beut ganzen Platze.
So geht es fort, Jahrein, Jahraus. Wenn die Kinder
13 Jahre alt werden, beginnt die schreckliche Zeit des Lesen-
und Schreibenlernens, die Zeit der herannahenden Consir-
mation, zu welcher die Kinder besondern Religionsunterricht
genießen. Zu diesem Zwecke muß ein gelehrter Schulmeister
(Meester) angeschafft werden und in der Regel kommt anch
um diese Zeit irgend ein Deserteur von einem englischen
Regiment», oder van der ehemaligen deutschen Legion, oder
irgend ein verkommener Commis voyagenr, oder ein von
einem holländischen Schiffe weggelaufener Kellner oder Ma-
trose seines Wegs daher, der die große Aufgabe, Lesen,
Schreiben und Religion innerhalb sechs Monaten zu lehren,
übernimmt. In neuerer Zeit siud jedoch für derartige
Posten besonders die deutschen Legionäre sehr beliebt ge-
worden, nicht weil sie gar zn taktfest in der Bibel sind, denn
das versteht sich ja von selbst, sondern weil sie meist einige
Uebung im Singen haben, und durch ihre größere Lebhaftig-
keit und ihr schlechtes Holländisch der Frau vom Hanse, die
anch hier wie überall stillschweigend das Scepter führt, besser
gefallen, als die ans Holland eingewanderten Jünglinge,
deren Phlegma ihnen unangenehm ist und deren Sprache sie
mit Mühe und Roth verstehen können. So ein „Meester"
hat natürlich keine Zeugnisse. Wegen Liebe zum Trunk oder
zur Faulheit ist er wahrscheinlich von seinem letzten Herrn
fortgeschickt worden; aber was thut's, der Mann kann gut
lesen, schön schreiben, singt gut, sieht sonst auch wie ein
anständiger (vatzoenliker) Mensch ans, denn so erscheint
dem Dopper — d. i. der Spottnaine der altorthodoxen
Boers — beim ersten Anblick jeder weiße Mann, zum Unter-
schied von den Schwarzen, die er nie anders als Schepsel,
Geschöpfe, nennt, und fo wird jener ohne weitere Umstände
angenommen und im Hause untergebracht.
Der „Meester" weiß aber auch noch andere Dinge, und
wenn er gar noch Etwas von Napoleon oder Friedrich dem
Großen, Namen, die auch bis in das entlegenste Bauernhaus
rmleben am Oranjeflnsse.
von Südafrika gedrungen, mittheilen kann, dann ist er ein
sehr beliebter und gelehrter Mann, und schon in den nächsten
Tagen erzählen sich die benachbarten Farmer staunend und
kopfschüttelnd, welch wunderbare Requisition der Nachbar
Abraham oder Jacobus gemacht habe. Und meist weiß sich
anch solch ein Schulmeister, den des Lebens wunderbare
Wechselfälle in der Regel sehr hart mitgenommen haben, der
vielleicht schon in Schleswig-Holstein gefochten, dann in
Australien oder Neu-Seelaud Gold' gegraben hat oder als
Matrose auf dem Walfischfang gewesen, in der zwar leichten,
aber doch sehr monotonen Arbeit seines neuen Berufes für
die kurze Zeit, für die er angenommen worden ist, zn be-
hanplen. Mitunter ist er des Herumstreichens müde, die
Tochter des Hauses findet an ihm Gefallen, und so heirathet
er, und seine Kinder sehen gerade so aus wie alle anderen
Boerkinder, wenn er auch selbst uoch im späten Alter stolz
auf feine eigene europäische Erziehung ist und in seiner
Kleidung, Haltung und Gedankenrichtnng immer noch etwas
assectirt, was mehr an europäische Sitte und Bildung er-
innert.
Sobald die Zeit der Consirmatiou glücklich vorüber, und
der Jüngling als Glied der wahren Kirche angenommen ist,
dann denkt er an die Heirath. Er ist allmälig unter Taback-
rauchen, Herumreiten rntd Bibellesen 19 Jahre alt geworden,
und besitzt ungefähr 300 Schafe, da er von seiner Gebnrt
an sosort mit Schafen beschenkt wird, die unter der Aufsicht
des Vaters oder des altern Bruders sich alljährlich ver-
mehren. Ferner hat er vier oder sechs Pferde und einige
Ochsen. Dies ist genug, um mit der gleichen Anzahl Vieh,
die ihm seine zukünftige Frau als Mitgift bringen wird, für
sich selbst das Leben zn beginnen. Aber der ersten Liebe
süßes Hoffen erregt in ihm kein wehmüthiges Gefühl. Er
muß sich eine Fran oft lange auf weiten und beschwerlichen
Wegen suchen. Er findet sie nicht ans einem Balle, anf
einem Picknick in freier Natur, nicht im Theater und nicht
bei freudigem Familienfeste; manche vergebliche Woche muß
er die benachbarten Höfe besuchen, che er ein ihm zusagendes
heiratsfähiges Mädchen gefunden hat. Diefe Mühe wird
ihm jedoch erleichtert, wenn er eine 15- bis 16jährige Eon-
sine unter seinen Verwandten zählt. In einem solchen Falle
ist die Heirath schon lange vorher zwischen ben Eltern ab-
gemacht; viele Farmer sind mit irgend einer Verwandten
verheirathet. Nichtsdestoweniger hat er auch dairn noch
gewisse für ihn fürchterliche Formalitäten dnrchznmachen.
Am Sonnabend Morgen muß der Hotteutot das beste
Pferd aus dem Felde holen, es bürsten und striegeln, damit es
so glänzend wie möglich aussehe. Daun wird es mit ganz
neuem Sattelzeng gezäumt; das Satteltuch ist voll bunter
Farbe, grün oder gelb, und ringsherum mit rothen oder weißen
Troddeln besetzt. Das Pferd selbst ist lange vorher gewöhnt,
allerhand Sprünge zu machen irnd stolz mit dem Kopfe zn
spielen, d. h. denselben von unten nach oben zu werfen.
Wenn Alles in Ordnung, schwingt sich der Jüngling im
besten Sonntagsanzuge, die Haare wohlgekämmt und parfü-
nlirt, zwar ohne Handschuhe aber doch mit glanzledernen
Stiefeln, die ganz neue Reitpeitsche in der rechten Hand, auf
dasselbe und fort geht es im rasenden Galop zum Besuch
der Auserkorenen. Glücklich, wenn an demselben Tage kein
anderer Jüngling dort seine Aufwartung gemacht hat, glück-
licher, wenn keiner noch nach ihm an demselben Tage dort
eintrifft. Äst dies der Fall, dann kommt es zu keiner Unter-
redung oder er muß „still und bewegt" den entsetzlichen Ver-
dacht unterdrücken, daß ihm der Andere zuvorgekommen sei
und die Schöue vor ihm um eiue Unterredung unter vier
Augen gebeten habe. Ist er jedoch allein, so raucht er still-
vergnügt seilt Pfeifchen und wartet ruhig ab, bis die Eltern
Ludwig Hollaender:
nachdem das Abendbrot und das allgemeine Fußwaschen
vorüber und das Abendgebet mit den obligaten Psalmen
beendet ist, sich ins Schlafzimmer zurückziehen. In demselben
Augenblick znpst er die Schöne, mit der er vorher nicht ein
einziges Wort gewechselt, ja die er kaum verstohlen von der
Seite anzublicken gewagt hatte, am Kleide und fragt sie, „ob
sie nicht mit ihm zusammen aufbleiben wolle". Das ist
Alles, was er spricht. Schweigend mit dem angezündeten
Pfeifchen fetzt er sich nieder, und schweigend sitzt sie neben
ihm. Allmälig, nachdem er lange bald auf seine Stiefel,
bald ihr ins Gesicht geblickt hat, und die einsame Talgkerze
bereits ziemlich heruntergebrannt ist, ohne auch nur ein ein-
ziges Mal geputzt worden zu seiu, wird er jedoch wärmer
und nachdem er in seine Gesichtszüge durch ein fragendes
Lächeln eine liebegrinsende Physiognomie hineingedreht, und
die unterdessen ausgerauchte Pfeife an feinem Fuße aus-
geklopft hat, rückt er seinen Stuhl dem der Angebeteten näher.
Endlich faßt er Muth, endlich faßt er ihr Kleid, faßt er ihre
Hand, und endlich spricht er und seinem Munde entströmen
die bedeutungsvollen Worte: „Wollen wir nicht unsere
Schafe zusammen weiden lassen?" Das ist genug,
um der Schönen die intensivste Rothe auf die Wangen zu
zaubern. Es find dies die Worte, auf die sie bereits den
ganzen Tag gelauert und die ihr die kundige Mutter viel-
leicht schou lange vorher vorgesprochen hat. Noch ein Mal
muß der Jüngling die große Frage wiederholen, und dann
erwiedert sie, wie aus einer Ohnmacht aufwachend, daß der
Neef (Neffe), die gewöhnlichste Anrede unter den jungen
Leuten, zuerst bei Bater oder Mutter anfragen müßte. Sie
haben Beide gesprochen, und ohne Händedruck, ohne Kuß
sucht jede Partei ihr Lager auf: das Mädchen im Zimmer
der Eltern, der Jüngling auf einer der im Vorzimmer
stehenden Bänke, auf die bereits vorher von der sorgsamen
Hausfrau ein Federbett und eine wollene Decke gelegt wor-
den war.
Der erste Schritt ist gethan. Vater hat am andern
Morgen nichts gegen die am vorigen Abend geschlossene Ver-
lobung einzuwenden. Den Sonntag über verbleibt der glück-
liche Bräutigam noch bei den Schwiegereltern, singt mit
ihnen noch die unausbleiblichen Psalmen, raucht mit seinem
Schwiegervater noch ein Pfeifchen, erzählt, wie trocken eS
auch wieder in diesem Jahre wäre, daß sein Papa wieder
den Rheumatismus und seine Mama Schmerzen im Magen
und im Kopfe hätte — die ewig wiederkehrenden und täglich
besprochenen Krankheiten der Bauern — und sieht sich gegen
Abend noch die Schafe seiner Zukünftigen an, die ja jetzt
gewissermaßen schou sein eigen sind. Aber zu einer Unter-
Haltung mit der Braut kommt es nicht mehr. Beide Theile
sind zufrieden und glücklich, — was hätten sie miteinander
noch zu besprechen! Am Montag Morgen nimmt er unter
Grüßen an die Eltern und „die ganze Familie" Abschied,
um in die nächste Stadt zu reiten und dort beim Geistlichen
wegen des Aufgebots und der Trauung und beim Notar
wegen seines Testamentes Rücksprache zu nehmen. Denn
das vergißt kein Ehemann und am Tage der Trauung muß
ebenso wie das Kirchenbuch auch das gegenseitige Testament
unterzeichnet werden.
Kein Mädchen bringt ihrem Manne mehr Kleider oder
Wäsche inö Hans, als sie am Leibe trägt; deshalb hat die
Mutter keine große Mühe, eine Ausstattung zusammen-
zustellen. Aber nichtsdestoweniger ist die Besorgung des
Hochzeitsstaates, d. h. der Kleidung, in dcr die Braut in der
Kirche zur Trauung erscheinen muß, keine geringe Arbeit.
Die schwierige Frage ist nicht die, woher man die zu der
feierlichen Handlung nöthigen seidenen Kleider, Hüte u. s. w.
kaufen, sondern, woher man sie am billigsten auf andere
xarmleben am Oranjeflnsse. 271
Weife sich verschaffen solle? Denn was sollte eine Farmers-
frau niit einem seidenen Kleide, Brautschleier u. s. w. nach
der Hochzeit anfangen? Und doch muß die Braut in Seide
gekleidet, fo will es die Sitte, vor den Traualtar treten.
Der überall erfinderische Geschäftsgeist, der besonders am
Cap der guten Hoffnung mitunter wunderbare Blüthen treibt,
Geschäftszweige- erfindet und Reclame versteht, die einen
'Daubitz oder Hoff tausendfach beschämen würde, hat auch
für solche Fälle Rath geschafft. Förmliche Hochzeitskleider
mit allem dazu nöthigen Zubehör werden für Hülfsbedürftige,
die darin in das süße Joch der Ehe treten wollen, von ge-
wissen Leuten in jeder Stadt zum Verleihen vorräthig gehal-
ten, die in der Regel nicht wenig Geschmack und geniale Auf-
faffuug der gegebenen Verhältnisse entwickeln müssen, um ein
solches Kleid der betreffenden Braut passend zu machen.
Natürlicher Weise sitzt die Taille nicht stets genau dem Kör-
per an, der mitunter zu lange Rock muß mit Stecknadeln
eingeschlagen werden, der Hut ist entweder zu groß oder zu
klein und hängt entweder nach vorn oder nach hinten über,
vielleicht ist die Mutter oder doch die älteste Schwester schou
in demselben Kleide, das man jeden Montag, dem Trannngs-
tage, schleppen sieht, getränt worden, der Schleier ist schou
längst vergilbt und dcr künstliche Myrthenkranz vielleicht gar
nicht mehr grün, aber was schadet das Alles! Daß die
Kleider Passen, ist vollständig Nebensache, aber Seide erfordert
die Mode und der Mode ist wenigstens insoweit genügt.
Die Dame, welche solche Kleider verleiht, meist eine frühere
Putzmacherin, ist jedoch noch in manchen anderen Beziehungen
eine sehr nützliche Person für die Braut. Bon ihr lernt sie,
wie sie ihr Taschentuch und die weißen Glacehandschuhe,
beides besitzt sie jetzt zum ersten Male in ihrem Leben, da
es für die Hochzeit gekauft werden muß und nicht verliehen
wird, in Händen halten müsse; von ihr erfährt sie, wie sie
ihren Arm in den ihres Bräutigams beim Kirchgang legen
solle, und von ihr wird sie unterrichtet, wie sie vor dem Geist-
lichen, wenn er die heiligen Ceremouieu verrichtet, zu stehen
oder zu knien habe, ohne daß sie das theure seidene Gewand
beschmutzt oder rninirt. Und wirklich sieht man während
der feierlichen Handlung es leicht der zitternden Braut an,
daß sie mehr an die seidenen Kleider als an die Trauung
selber denkt.
Aber nicht allein für die Braut, sondern auch für den
Bräutigam ist die Kleiderverleiherin eine höchst wichtige
Person. Auch seinen äußern Menschen muß sie elegant mit
Hut und Frack, die jedoch schon vor zehn Jahren in London
ihre Rolle ausgespielt haben, ansstasstren. Das ist in seinem
Falle noch nicht genug. Sie muß ihm vollständig nicht nur
die Anfangsgründe des guten Tones, sondern die ganze Eti-
kette im Benehmen seiner Braut gegenüber beibringen, eine
Arbeit, die bei den geringen Ansprüchen, welche gestellt wer-
den, nicht schwierig ist. Doch ist die Kleiderverleiherin nicht
allem mit allem Obigen beschäftigt, sondern sie übernimmt
auch, da die Eltern wegen unbedeutender Festlichkeiten wie
Hochzeiten nie in die Stadt kommen, zu gleicher Zeit Mutter-
und Vaterpflichten für den ziemlich guten Preis des Verlei-
hens, der für Braut und Bräutigam in der Regel 2 bis 3
Pfund Sterling (14 bis 20 Thaler) beträgt.
Nun ist das Brautpaar im Haufe der Dame und wo mög-
lich noch zusammen in demselben Zimmer hinlänglich costümirt.
Dann geht es von dort ans mit ziemlich schnellen Schritten
in die Kirche, deren Glocke längst alle die glücklich Erwar-
tenden und Hoffenden eingeladen hat. Meist befinden sich dort
bereits die anderen Brautpaare, die ebenfalls in einem andern
Hanse ausstaffirt worden sind. Alle messen sich mit erstaunten
Blicken, denn Alle sehen sich vielleicht zum ersten Male, die
Damen im Hut und die Herreu im schwarzen Frack mit
272 Ludwig Hollaender: £
weißen Glacehandschuhen. Aber es ist jetzt keine Zeit, lange
Betrachtungen anzustellen. Denn zur bestimmten Minute
tritt der Pastor herein. Das erste Gebet ist schnell beendet,
Allen zusammen wird das Hochzeitsformular vorgelesen, die
Ringe werden gewechselt und der ganze feierliche Actus ist in
ungefähr zwanzig Minuten beendigt. Doch da giebt es keine
Gratulationen; wie beschämt eilt jedes Paar dem Ausgange
der Kirche zu und Arm in Arm, das letzte Mal in ihrem
Leben, schreiten die Neuvermählten durch die Straße, äuge-
staunt von der schwarzen Bevölkerung und besonders allen
Hottentotinnen des Dorfes, die sich unterdessen versammelt
haben, um die prachtvollen Toiletten zum hundertsten Male
zu bewundern, dem Hause der Garderobiere zu. Schuell
sind die nngemüthlichen Kleider aus- und die gewöhnlichen
Werltagskleider angezogen und schnell ist das Geld dasür
entrichtet. Jetzt gilt's vor Allem, die schon bereit stehenden
acht Pferde an den Wagen zu schirmt; durch des Bräutigams
Beihülfe können die Hottentoten rasch das Werk vollenden,
und kaum eine halbe Stunde nach der Trauung ertönt vom
vordem Sitze des Wagens das weithin schallende Wort
„Treck" (Zieh), dann ein schriller Knall mit der 30 Fnß
langen Peitsche und im vollen Galop gehen die Pferde zum
Dorfe hinaus, der Heimath zu. Im Fond des Wagens,
auf einer Kiste oder auf einem Stuhle, sitzt die junge Frau,
vielleicht an einigen Bonbons, dem Hochzeitsgeschenk ihres jun-
gen Gatten, sich labend, während der glückliche Ehemann zu-
frieden seine Pfeife raucht und vom Vordersitze herab die
Pferde lenkt. Am Farmhause angekommen — das junge
Paar bleibt in der Regel die ersten drei bis vier Jahre bei
Vater oder Schwiegervater — geht es an den Hochzeits-
schmaus, und anstatt gekochten Schöpsenfleisches wird jetzt
gebratenes auf den Tisch gesetzt. Vorläufig ist nur eiu ein-
ziges Schlafzimmer vorhanden; deshalb wird den Nenver-
mahlten die erste Nacht in dem großen und sehr bequemen
Wagen ein Bett zurecht gemacht. Die nächste Nacht ist
jedoch Alles so, wie es früher gewesen, und Vater, Mutter,
Sohn und Schwiegertochter, große und kleine Kinder, Alle
schlafen zusammen in demselben Zimmer!
Die junge Frau bleibt wie früher, so lauge sie sich mit
ihrem Manne im Hause der Eltern aufhält, die gehorsame
Tochter und muß dieselben Leistungen verrichten, an die sie
vor der Hochzeit gewöhnt war, bis sie selbst Mutter wird
und dann andere Pflichten zu erfüllen hat. Hiermit beginnt
für sie die traurige Zeit; es endet ihre Jugend, die sie eigent-
lich niemals empfunden, viel weniger genossen hat, es beginnt
eine Zeit schwerer körperlicher Leiden und Drangsale, die nur
ein frühzeitiger Tod beendet. Wenige Fraueu ertragen die
Anstrenguugen schnell hinter einander folgender Wochenbetten
und alle die ungünstigen Verhältnisse der schlechtesten BeHand-
lnng und Verpflegung, die man sich denken kann uud denen
diese Armen während dieser Zeit aus Aberglauben uud Dumm-
heit ausgesetzt sind. Von allen Frauen werden wohl keine
leichter entbunden, als die südafrikanischen, aber wenige Frauen
haben gerade während dieser Zeit so viel Ungemach zu er-
leiden, als sie. Da eigentliche Hebammen weder am Orauje-
fluß und darüber hinaus, noch überhaupt irgendwo im Cap-
lande existiren und alte ungebildete Weiber, die von irgend
einer Hottentotin ihre Künste gelernt haben, deren Stelle ver-
rmleben am Oranjeflnsse.
treten und auch diese nur auf ihrem eigenen Hofe die nöthige
Hülfe leisten, so müssen die Frauen, welche der Niederkunft
entgegen sehen, in der Regel erst von ihrer eigenen Wohnnng
auf eine andere, manchmal entfernt liegende Farm gebracht
werden, wo solch eiue kundige Frau eine Entbindungsanstalt
unterhält. Vor dieser Fahrt sind zu Hause eine Menge
Biscuits zum Mitnehmen gebacken worden, denn Brot ver-
kauft die Hebamme nicht und aufbewahrt würde es ungenieß-
bar werden, und diese werden nebst verschiedenen anderen
nöthigen Gegenständen, Tassen, Tellers, Gabel und Löffel,
Betten uud Decken u. f. w. in den großen, 16 Fuß langen
und 5 Fnß breiten Ochfenwagen gepackt. Mit 16 vor-
gespannten Ochsen geht die Reise über Stock und Stein.
Alle 2 Stuudeu wird ausgespannt, die Thiere grasen ruhig,
während die Hottentoten Ochsenmist herbeiholen, ein Feuer
anzünden und eine Kaffirin den Kaffee, den unvermeidlichen
in ganz Südafrika, darüber kocht. Erreicht man die bewußte
Farm des Abends nicht, so wird, falls in der Nähe keine
verwandte oder bekannte Familie wohnt, im Freien campirt
und man gelangt am anderen Tage vergnügt bei der erfah-
renen Frau an.
Diese eigenthümliche Art des Reisens mit dem Ochsen-
wagen hat viel Angenehmes, wenn man sich erst an sie ge-
wohnt und eine gewisse Uebersicht aller derjenigen Artikel
erlangt hat, die man mitnehmen muß. Wer mit Kaffee,
Thee, Zucker, Bier, Wein n. s. w., mit Pulver, Blei und
einigen guten Gewehren sich wohl versorgt hat, dem ist eine
längere Reise mit dem Ochsenwagen weiter nichts als ein
fortwährendes Picknick, dessen Reize erst durch die längere
und öftere Wiederholung erhöht werden. Durch das laug-
same Vorwärtskommen hat man hinreichend Gelegenheit, die
wechselnde Scenerie genügend zu betrachten und einen für
immer bleibenden Eindruck des ganzen Landes in sich auf-
zunehmen. Jedes Rudel Antilopen, jeder schnell davon-
jagende Strauß, jedes stumpfsinnig grasende Gnu, jeder
merkwürdig gestaltete Berg und alle die wunderbaren Vögel
uud die iu prachtvollen Farben schillernden Blumen, die dem
Capland besonders eigeuthümlich sind, bringen Abwechselung
geuug in die Monotonie des ewig blauen Himmels, den kein
Wölkchen trübt nnd der ebenso langweilig werden kann, als
das öde Einerlei der ganzen Gegend. Und obgleich man
sicher ist, vielleicht auf der ganzen weiten Flüche uud auf deu
sie auf einige Meilen umgebenden Bergen vollständig allein
zu sein, so überkommt Einen doch nicht das Unbehagen einer
drückenden Einsamkeit, sondern man sühlt sich gewissermaßen
gehoben und mit durstiger Wollust athmet mau in verdop-
pelten Zügen die freie, frische, elastische Luft, die noch keiues
audereu Menschen Wange berührt hat. Hat man außerdem
noch, was man bei längereu Reisen stets thut, eiu Zelt mit-
genommen, dann wird dies jeden Abend am Halteplatz auf-
gespannt und wunderbar eigentümlich wird Einem zu Muthe,
wenn man in stiller Nacht ruhig neben den braunhäutigen
Leuten vor dem angemachten Düngerfeuer sitzt und mitunter
hinaufschaut zu den glänzend leuchtenden Sternen der süd-
lichen Hemisphäre, oder wenn der Mond strahlend herunter-
blinkt und die ganze Gegend mit seinem penetrirenden Lichte
magisch beleuchtet. Dieser Anblick allein entschädigt für alle
die Mühen und Beschwerden der südafrikanischen Reise vollauf.
Johann Jakob v. Tschudi's Reisen durch Südamerika.
273
Johann Jakob v. Tschudi's Keifen durch Südamerika.
Ouro Preto, Hauptstadt von Minas geracs. — Die Goldgruben. — Der Jtacolumi. — Camargos; die Mulatten. — Die Diamanten-
stadt Cerro. — Die Ro?as; Degeneration der Baumwolle und des Zuckerrohrs; unverständiger Ackerbau; der Kaffeebaum. — Die Stadt
Diamantina. — Geschichte des Diamantendistrictes. — Diamantenlager; Vorkommen und Methode der Gewinnung. — Bemerkungen über
Schwurgerichte und Wahlen in Brasilien. — Parteigeist.
Wir haben den ersten Band dieses gediegenen und inhalt-
reichen Werkes schon früher („Globus" X. S. 173 ff.) ein-
gehend besprochen; nun ist vor Kurzem der zweite Band
(Leipzig, Brockhaus) erschienen und auch über diesen haben
wir dasselbe günstige Urtheil zu sälleu. Er giebt eine ganz
vortreffliche Schilderung einer der wichtigsten Provinzen Bra-
siliens, Minas geraes, und der Urwälder am Mncnry.
Die Schilderung ist lebendig und frisch, der Blick des be-
rühmten Reisenden klar, seine Beobachtung scharf. Die Dar-
stellnng geht theilweise sehr ins Einzelne und wird sast mouo-
graphisch, aber sie ist immer belehrend. Minas ist nie zuvor
so umfassend beschrieben worden. Dort in dem Hauptdistricte
der berühmten brasilianischen Diamanten, hat sich ein
eigenthümliches Leben gestaltet, das von jenem in anderen
Provinzendes ausgedehnten Kaiserreichs vielfach abweicht und
dem Beobachter manches Interessante darbietet.
Der Band enthält fünf Capitel: Reise von Ouro Preto
nach Diamantina, — Diamantina, — Reise von dort nach
den Urwäldern des Mucury, — Aufenthalt in Philadelphia,
— Rückreise nach Rio de Janeiro.
Die Hauptstadt der Provinz, Ouro Preto, unter 20"
24' 6" südl. Breite und etwa 3760 Fuß über dem Meere,
recht inmitten der Goldgruben, in einer gesunden Gegend;
am 29. Jnni 1843 — man hat den Tag als eine Selten-
heit verzeichnet — ist Schnee in großen Flocken gefallen; im
Winter bedecken sich die stehenden Gewässer manchmal mit
einer dünnen Eiskruste. Der alte Glanz der Stadt, die
man auch als Villa rica bezeichnete, ist dahin; die Tage,
in denen „das schwarze Gold'■ ohne Mühe und in Massen
gefunden wurde, sind längst nicht mehr. Die Geschichte dieser
Goldgruben unterscheidet sich wesentlich von jener in Cali-
formen oder Australien. Im Jahre 1699 entdeckten Aben-
teurer aus der Provinz San Paulo au der Gebirgsstrecke
des Jtacolunii reiche Lager des edlen Metalles nud wäh-
reud sie dieselben ausbeuteten, wurde von ihnen gleichzeitig
eine Kirche gebaut. Eiue zweite ist bald uachher errichtet
worden. Gebetet wurde sehr viel, aber die Ansiedler waren
ein „böses Gesindel", Diebstahl, Raub und Mord an der
Tagesordnung, kein Gesetz galt und zwei Parteien führ-
ten einen wahren Vernichtungskrieg gegen einander, welcher
von den Jesuiten augefacht worden war. Erst im Jahre
1720 konnte die Regierung ihr Ansehen geltend machen; sie
löste das neue Gebiet vou San Paulo ab uud orgauisirte
dasselbe als Geueralcapitauerie Minas geraes, d. h. all-
gemeine Minen. Gegen Ende des Jahrhunderts, 1789,
wurde durch Verrath eine Verschwörung entdeckt, welche die
Unabhängigkeit des Laudes zum Zweck hatte. Man depor-
tirte manche Teilnehmer nach Angola in Westafrika, andere
wurden geviertelt. Um diese Zeit wurde auch die Gold-
ausbeute schwächer; die Stadt verarmte, der Verfall schieu
unaufhaltsam. Herr von Tschudi fand für 6- bis 9000
Seelen noch 15 Kirchen, aber die öffentliche Bibliothek war
bis zum Jahr 1853 im höchsten Grade vernachlässigt; der
öffentliche Unterricht liegt sehr danieder, so weit die höheren
Lehranstalten in Betracht kommen. Eine Art von botani-
schem Garten soll als Musterschule für den Anbau des
Thees dienen; man liefert aber nur geringe Quantitäten;
Globus XI. Nr. 9.
die Blätter werden schlecht getrocknet und haben kein kräftiges
Aroma.
Vou Ouro Preto aus erblickte Herr von Tfchndi den
berühmten Berg Jtacolumi mit dem nackten zerklüfteten
Gestein, das nur spärlich mit Pflanzenwuchs- bedeckt ist; der
Felsenkegel ist zugespitzt, seitlich stark geneigt und von sei-
ner Basis steht ein zweiter kleinerer, fast säulenförmiger
Felfeu in entgegengesetzter Richtung ab. Nach Spix und
Martins liegt die höchste Spitze 5368 französische Fuß, nach
von Eschwege 5720 englische Fuß über dem Meere. Der
Name ist indianisch und bedeutet: der Stein mit seinem
Sohne. Der deutsche Geolog Dr. Heusser hat 1859 den
Gipfel erstiegen.
Herr von Tschudi ritt von Onro Preto über Marianna
(5000 Einwohner) nach Camargos. „Mein Hauswirth,
von etwas mehr als gewöhnlicher Bildung für seinen Stand,
war mit Leib und Seele ein „Zerlumpter", ein Farrapo.
Mit diesem Namen bezeichnet die conservative oder Regie-
rnngspartei ihre liberalen Gegner, während diese von jenen
Casendos genannt werden, d. h. Hartschädel, Dickköpfe.
Er klagte über die hohen Stenern und das Protectionswesen."
In Camargos fand eine Hinrichtung statt, die kennzeichnend
ist. Der Mörder gehörte einer Familie lichter Mnlatten
an (parclos claros), die aus drei Brüdern und einer Schwe-
ster bestand. Einer der Brüder starb vor wenigen Jahren
am Galgen, aus deu zweiten wurde als Mörder gefahndet,
die Schwester hatte einem Kinde den Kopf an einem Steine
zerschellt und war zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe ver-
urtheilt; der, welcher eben hingerichtet werden sollte, hatte
einen jungen Mann aus den besseren Ständen verrätherisch
überfallen, ihn mit Riemen an einen Banm gebunden, ihm
dauu die Haut stückweise vom Körper geschunden und erst
uach unsäglichen Qualen das Messer in die Brust gestoßeu.
Wir wollen daran erinnern, was Herr von Tschudi („Glo-
bus" X. S. 174) über die Mulatten sagt: „Sie sind im
Allgemeinen äußerst sinnlich, leichtfertig, leichtsinnig, meist
arbeitsscheu, dem Spiel und Trunk ergeben, rachsüchtig, hin-
terlistig und verschlagen. Sie sind zu Allem zu gebrauchen
und liefern anf die Anklagebank, in die Gefängnisse und das
Zuchthaus das größte Coutiugent."
Die Diamantenstadt Cerro, welche einst Villa do Prin-
cipe hieß, hat jetzt nur etwa 3500 Einwohner; als der Dia-
mantengewinn beträchtlicher war, zählte sie das Doppelte.
Sie hat aber nicht weniger als sechs Kirchen. „Nicht etwa
christlicher Sinn, sondern die Hoffnung, durch Gründung
einer Kirche die besondere Gunst des Heiligen, dem sie ge-
weiht wurde, und durch diese heilige Vermittelnng einen rei-
chen Segen bei den Minenarbeiten zu erlangen, bewog so
viele Mineiros zur Erbauung von Gotteshäusern. Der
Minensegen blieb aber gewöhnlich aus, der Kirchenbau hin-
gegen verschlaug bedeutende Summen, welche zumeist die Kräfte
der Einzelnen oder ganzer Ortfchaften überstiegen. Daher so
viele Kirchen und unter diesen so manche unvollendete."
Die großen Landgüter werden in diesem Theile von Mi-
uas nicht, wie sonst in Brasilien, als Fazendas, sondern als
Rotzas bezeichnet und der Besitzer ist ein Rotzeiro; ander-
wärts bedeutet Rogci den kleinen Grundbesitz oder nur den
85
274 Johann Jakob v. Tschudi's
Theil einer Fazenda, der zuletzt dem Urwald abgewonnen und
in angebautes Feld verwandelt wurde. Man klagte Herrn
vonTfchndi, daß der Baum Wollenstrauch und das Zucker-
rohr auszuarten angefangen hätten, was auch in den Pro-
vinzen Bahia und Pernambuco der Fall sei. Die Regierung
ließ deshalb aus Mauritius und anderen Ländern Pflanzen
bringen, um durch sie das entartete Rohr wieder zu ersetzen.
Das wird aber nicht viel helfen. „Man will nun einmal
nicht zu der Einsicht kommen, daß diese sogenannte De-
generation nur die Folge eines irrationellenAcker-
bansystems und der dadurch bedingten Bodenerschö-
pfung ist. Beim Kaffeebaum wird diese Entartung wohl
nicht eintreten, weil derselbe große Bodenkraft verlangt und,
nach brasilianischer wirtschaftlicher Routine, einzig und allein
in frischgeschlagenem Urwalde seinen richtigen Platz sinkt.
Eine Pflanzung, die fo lauge gestanden hat, daß die Kaffee-
Pflanzungen erschöpft sind, wird verlassen; der Boden aber,
welcher einmal eine solche Pflanzung getragen hat, trägt nach
dem gegenwärtigen brasilianischen Wirthfchaftsfysteni keine
wieder. Der Kaffeebau geht Hand in Hand mit dem Ur-
barmachen des Urwaldes und entfernt sich mit diesem natur-
gemäß mehr nach dem Innern des Landes. Es wird eine Zeit
kommen und für manche Provinzen ist sie nicht sehr entfernt,
in der die jetzt reichen Kaffeedistricte nur noch den traurigen
Stempel trostloser Sterilität tragen und Kaffeeplantagen fast
ausschließlich weit von der KUste weg, tief im Innern wer-
den getroffen werden." Bisher haben Unverstand, Eigensinn
und Nachlässigkeit hartnäckig einen landwirtschaftlichen Be-
trieb festgehalten, welcher vou der Erfahrung uud von der
Wissenschaft gleichermaßen verdammt wird.
Sehr gründlich uud umfassend sind die Angaben des
Herrn vonTfchudi über den Diamant, dessenDistricte und
Gewinnung und über den Handel mit demselben. Er er-
staunte über das arglose Vertrauen, mit welchem die Dia-
mantenhäudler ihre Edelsteine aus der Hand geben. Einer
derfelben schickte dem Europäer, welchen er niemals gesehen
hatte, etwa eiu Viertelpfund (570 Karat) Diamanten, —
auf den bloßen Wunsch Tschndi's hin, daß er gern eine grö-
ßere Partie roher Steine untersuchen möchte. „Der Besitzer
derselben wußte von mir weiter nichts, als daß ich beimBa-
ron de Diamantina abgestiegen sei; das war ihm Garantie
genug, und er ließ mir sagen, daß ich die Steine nach Be-
lieben bis zum nächsten Tage behalten könne."
Diamantina liegt 139 Legoas von Rio de Janeiro
entfernt, in einer an Edelsteinen reichen Gegend. Das Da-
tum der Gründung ist nicht genau bekannt, fällt aber wahr-
scheinlich zwischen 1710 und 1720. Man fand beim Gold-
suchen im Kies des Rio Mauso uud im Rio dos Muriuhos
weiße glänzende Steinchen, welche einige Jahre hindurch als
Spielmarken benutzt wurden. Einige davon kamen durch Zu-
fall nach Lissabon, wo sie vom holländischen Consnl als Dia-
manten erkannt wurden. Schon 1730 erhielt der Gouverneur
der Minendistricte Anweisung, die Diamanten auf eine für
die Krone vortheilhafte Art auszubeuten. Es wurde eine
Abgabe auf jeden Sklaven gelegt, der Diamanten wusch, und
man erhöhete nach und nach dieselbe von 5 Milreis auf 230
Milreis. Alle Diamanten über 20 Karat Gewicht mußten
der Krone abgeliefert werden; kein freier Neger oder Mulatte
durfte sich im Bezirk der Comarca do Serro do Frio auf-
halten, Abends durfte keiue Branntweinschenke offen sein :c.
Man bestimmte ganz genau die Grenzen des Diamanten-
districtes, umstellte sie mit Wachtposten und übergab den Ober-
befehl einem Generalintendanten. Ohne dessen Erlaubniß
sollte Niemand das Gebiet betreten; nur in Tejnco, dem
Centrum des Districts, durften Diamanten verkauft werden.
Aus diesem „Kothdorfe", denn das bedeutet der Name im
Reisen durch Südamerika.
Indianischen, entstand dann allmälig die Stadt Diamantina.
Wegen jener hohen Abgabe wollte kein Privatmann mehr
nach Diamanten graben lassen; deshalb gab die Krone das
Unternehmen in Pacht; sie wurde aber von jedem Pächter
betrogen und bestohlen. Dann nahm sie 1771 denBergban
in eigene Regie und gab ungemein strenge Gesetze für den Di-
strict. Seitdem Brasilien unabhängig ist, hat natürlich das
königliche Privilegium der Diamantenwäscherei keine Geltung
mehr und nun kann Jeder nach Belieben Edelsteine suchen.
Dem Fiscus zahlt jeder Besitzer einer Diamantenwäscherei
(Servitzo) von der Braza (Klafter) des von ihm bearbeiteten
Territoriums nur 1 Reis, d. h. den tausendsten Theil von 22
Silbergroschen, au jährlicher Abgabe; vou den außer Landes
gehenden Diamanten erhebt die Regierung an Exportzoll nur
ein halbes Procent vom Werthe.
Die strengen portugiesischen Gesetze konnten begreiflicher-
weise den Schleichhandel mit Edelsteinen nicht verhüten, und
die Regie wurde entsetzlich betrogen. Ein Mann hatte, wie
er späterhin, als keine Gefahr mehr dabei war, felber erzählte,
einen Diamanten von mehr als 25 Karat in den Stiel sei-
ner Reitpeitsche eingeflochten. Ein anderer hatte in feinen
Kessel von Eisenblech einen doppelten Boden gemacht und in
einer sest eingestampften Schicht feinen Sandes für mehrere
hunderttausend Thaler Diamanten verborgen. Heute ver-
fällt iu Diamantina die Easa de Contadoria, in welcher sich
früher das königliche Diamantendepot befand; man hatte die
Ziegel von den Dächern genommen. Die Stadt zählt etwas
über 1000 Häuser; das Leben und Treiben ist heiter und
gastfrei, wie denn in allen südamerikanischen Bergwerks-
städten ein gewisser leichter Sinn unter der Bevölkerung vor-
herrscht. Die Läden siud mit allen Luxusmaaren eben so
wohl versehen, wie jene in Rio de Janeiro, und der Verbrauch
von englischem Bier, Champaguer, Weiu uud Liqueuren ist
bedeutend; sucias, lustige Gelage, siud häufig. Die Minei-
ros siud sehr höflich unter sich, und selten wird ein Neger
vor einem Reisenden vorübergehen, ohne sein Lonvado zu
sagen. Er grüßt mit halbausgestrecktem Arme, den Hand-
teller nach oben gekehrt, mit den Worten: „Gelobt sei nn-
sere Jungfrau und Jesus Christus."
In Diamantina lernte Herr von Tschndi einen sehr ge-
schickten Arzt kennen, den Dr. Mariano dos Santos. „Seine
Hautfarbe nähert sich sehr jenes des importirten afrikanischen
Negers, aber er ist ein feiner Beobachter und auch ein geist-
reicher und gebildeter Mann." Hier ist alfo eine der weni-
gen glücklichen Ausnahmen. Dr. dos Santos hob hervor,
daß in keinem auderu Theile der Provinz fo viele Herz-
krankheiten vorkommen. Hanptnrfache dieser ausfallenden
Erscheinung soll die eigenthümliche Beschaffenheit des Dia-
mantenhandels seiu. Die Diamanten sind großen Preis-
schwaukuugen unterworfen, und stets sind größere Capitalien
in Bewegung, der Händler ist also fortwährend in großer
Aufregung. Aber dasselbe ist ja auch mit den Geldleuten der
Fall, welche auf den europäischen Börsen spielen, und doch
hört man nicht, daß diese vorzugsweise von Herzkrankheiten
heimgesucht würden. ' Wir wollen nicht vergessen zu be-
merken, daß Herr von Tschudi in Diamantina noch einen
zweiten dunkeln Mulatten traf, der ein Mann von ansge-
zeichneten Kenntnissen ist. Dieser Dr. Lncindo Ferreira dos
Passos hatte eine höhere Lehranstalt begründet, die aber aus
Mangel an Theilnahme wieder einging. Die Stadt zählt
etwas mehr als 10,000 Einwohner, zumeist weiße und hell-
farbige; neben manchen reichen Leuten ist ein stark vertrete-
ner wohlhabender Mittelstand vorhanden; auch die Zahl der
Armen ist sehr gering, und fo lange die Diamantenausbeute
eine beträchtliche ist, wird sich das günstige Verhältniß des
Geldumlaufes so ziemlich gleichbleiben.
Johann Jakob v. Tschudi's
Wir können, des Raumes wegen, aus der sehr eingehen-
den Beschreibung der Diamanteulager nur einige Bemer-
kungen über das Vorkommen und die Gewinnung heraus-
heben. Der Ort, wo die Diamanten gewonnen werden, wird
als lavra (b. h. Grube, Steine, Bergwerk im Allgemei-
meinen, aber in Brasilien bedeutet das Wort ausschließlich
Gold- und Diamantenlager) oder servigo bezeichnet; das
letztere Wort gebraucht man nie für Goldlager, sondern nur
für Diamantengruben. Lavras dorio befinden sich in Fluß-
betten mit Wasser oder auch solchen, die jetzt trocken liegen,
oder an deu Userniederungen, taboleiras, der Flüsse. Mau
legt den Boden trocken und räumt zuerst das neue taube Ge-
schiebe, cascalho bravo, weg; unter diesem finden sich der-
schiedene Gesteinslager, die allemal aus mehr oder weniger
verwittertem Schiesergestein bestehen, und ans dem Diamant
führenden Gesteiu, dem cascalho virgem, lagern. Dieses
besteht größtenteils aus rundlichem oder flachem, Hlattge-
schlissenem Geschiebe, eigentlichen Rollsteinen. Die Arbeiten
sind schwierig und kostspielig; man benutzt zum Ausgraben
des cascalho virgem die trockene Jahreszeit. Die Neger
fassen das diamantführende Geschiebe in hölzerne Gesäße,
carombes, und tragen es auf dein Kopfe an einen bestimm-
ten Platz, wo es in Hausen geschlagen und während der Re-
genzeit gewaschen wird.
Fast in jeder Diamantenlavra findet man in größerer
oder geringerer Menge auch Gold und nicht selten anch
Platina. In den Flußgeschieben kommen die Diamanten
immer in Begleitung von Halbedelsteinen: Anatas, Cyanit,
Chrysolith, Jaspis, Chalcedou, Turmalin!c. vor; ferner von
Quarzkieselschiefer, Eisenglanz nnd Brauneisenstein; der letz-
tere ist fast sein unzertrennlicher Begleiter. Aus der gan-
zen Hochebene (chapada) von Diamantina nach S. Joaö
sind an unzähligen Stellen kleinere und größere Diamant-
lager gesunden worden, die früher reiche Ausbeute gaben;
jetzt werden die Arbeiten zumeist nur von Faise adores aus-
geführt, ärmeren Diamantensuchern, die mit geringen Kräften
das Geschäft betreiben. Sie führen zumeist ein armseliges Le-
ben und plagen sich schwer für eine geringe Ausbeute,
Für ein ungeübtes Auge ist es äußerst schwer, einen klei-
neu Diamanten aus der großen Menge vou glänzendem und
flimmerndem Quarz und den Schieferfragmenten herauszu-
finden; aber dem an diese Arbeit gewöhnten Auge des Ne-
gers entgeht auch uicht ein Edelstein von der Größe eines
Stecknadelkopfes. Die Schwarzen veruntreuen viel; sie wissen
mit großer Behendigkeit einen Diamanten in den Mund zu
werfen und unter der Zunge oder zwischen Zahnfleisch und
Lippen zu verstecken; oft verschlucken sie sogar die Steine und
suchen sie später aus den Excrementen wieder hervor. Als
Herr vou Tschudi die Lavra von S. Joao besuchte, waren
dort etwa 120 Neger beschäftigt, zumeist Miethssklaven. Für
einen solchen zahlt' der Unternehmer wöchentlich 4 Milreis,
zu je 22 Silbergroschen; er muß aber den Mann beköstigen
und im Krankheitsfalle ärztlich behandeln lassen. Die Ar-
beit in deu Servixos ist anstrengend, wird aber von den
Negern jeder andern vorgezogen, weil sie Gelegenheit haben,
beim Waschen und Umarbeiten Diamanten zu stehlen, und
an Sonn- und Festtagen für sich selber an Stellen, die kei-
nen Besitzer haben, Diamanten zu suchen; dabei wird manch-
mal ein recht lohnender Fund gemacht. „Der Erlös wird
gewöhnlich iu der Gestalt von Branntwein durch die Gurgel
gejagt; nur in den allerseltensten Fällen spart sich ein Sklav
Geld zusammen, um sich die Freiheit zu erkaufen. Harte
Züchtigungen kommen, wegen Diebstahls und Trunkenheit,
häufig vor; denn daß der Sklav auch während der Arbeits-
tage sich besäuft, kann nicht geduldet werden." In früheren
Zeiten erhielt jeder Neger, der einen Diamanten von I7xf2
Reisen durch Südamerika. * 275
Karat und darüber fand, die Freiheit; damals kostete freilich
ein Neger nur 150 bis 200 Milreis, heute aber 2000 und
darüber.
Unter den vielen Tausend Diamanten, welche Herr von
Tschudi untersuchte, entdeckte er nur ein einziges Mal einen
Zwilling aus zwei in der Richtung einer ihrer Achsen mit
einander verwachsenen Oetaedern. Zu den allergrößten Sel-
teuheiten, sagt er, mag ein schön krystallisirter Dia-
mant gehören, in dessen Kern sich ein Goldblättchen
befindet. „Dr. Mello Franco, der mir von diesem merkwür-
digen Steine sprach, behauptet, daß eiue Täuschung nicht
möglich sei, da in dem wasserklaren Steine das Gold so deut-
lich erkannt werde, als wenn es ganz frei vor dem Beschauer
liegen würde. Dieses eigentümliche Exemplar spricht sehr
gegen die Hypothese jener, die den Diamanten unmittelbar
aus Kohlenstoff oder Kohlensäure durch Hitze entstanden be-
trachten.^
Im Welthandel werden die Juwelen gewöhnlich nach
einem Eiuheitsgewichte verkauft, das man als Karat be-
zeichnet. Diese Benennung kommt von dem Worte Kuara,
einer afrikanischen Schlingpflanze, Erytlirine, die rothe, mit
einem schwarzen Punkte versehene Samenkörner hat; nach
diesen wiegt man in Afrika den Goldstaub, iu Ostindien die
Diamanten ab. In Diamantina dagegen nimmt man die
O it av a als Einheitsgewicht an; sie enthält 17]/.2 Karat oder
70 Gran und wird in 32 Vintelns oder in 4 Qnartas
eingeteilt; iu Bahia und in den Diamantenwäschen Sin-
cora rechnet man aber auch uach Kilates, d. h. Karaten.
Nach einer Aufstellung des Herrn von Eschwege hat die
Diamantenausbeute in den Jahren 1730 bis 1808 geliefert
2,983,691^3 Karat, im Mittlern Preise von 8000 Reis,
was einen Geldwerth von etwa 160,000,000 Francs ver-
tritt. Herr von Tschudi dagegen nimmt von 1730 bis 1822
wenigstens 5 Milliouen Karat an. Man hat ferner das
Gewicht aller im Kaiserreiche bis 1850 gefundenen Diaman-
ten aus 10,169,586 Karat oder etwa 44 Centner mit einem
annähernden Werthe von 450,000,000 Francs berechnet.
Es liegt aber in der Beschaffenheit der Sache felbst, daß von
einer annähernd genauen Angabe gar nicht die Rede sein
kann, Iu dem Jahre 1861/1862 wurden aus Brasilien
exportirt 10,294 Oitavas im Werthe von 4,241,248 Mil-
reis. Im Jahre 1830 soll sich die Ausbeute iu gauz Bra-
silieu auf 300,000 Karat, im folgenden Jahre nur anf
130,000 belaufe« haben, 1858 und in den nächsten Bor-
jähren auf etwa 90,000. Allgemein wurde über Ab-
nähme der Diamanten iu Folge der Erschöpfung
der Lager geklagt. Herr von Tfchndi meint indeß, daß
in der Provinz Goyaz, in den südwestlichen Theilen von Per-
nambnco und Bahia noch große Diamantenschätze verborgen
liegen. Merkwürdigerweise sind dergleichen bis jetzt in den
eigentlichen Diamantendistricten von Minas geraes nur
westlich von der großen Serra do Espinhazo gefnn-
den worden, und zwar in den Stromgebieten des Rio do
Jeguitiuhouha und des Rio do S. Francisco (im Rio Aba-
eets und Rio Jndiaiä). Darauf hat fchou Herr von Esch-
Wege vor 40 Jahren aufmerksam gemacht.
So viel von den Diamanten. Wir wollen heute Herrn
von Tfchndi auf seiner Wanderung von Diamantina nach
Philadelphia, an den Mucury und dessen Urwälder nicht be-
gleiten, gehen auch anf seine beherzigenswerthe Darstellung der
dortigen deutschen Ansiedelungen und ihrer Leidensgeschichte
nicht ein. Aber es ist angemessen, daß wir die Ansichten
eines so vorurteilsfreien Beobachters über manche Staats-
einrichtuugeu iu Brasilien nicht unbeachtet lassen. Schon
im ersten Bande war von ihm mit vollem Recht hervorgeho-
ben worden, daß „die unheilvolle, ties greisende Ra-
276 W. Radloff: Die T
ceumischung, welche über das ganze Land verbreitet ist
und vier Fünftel-der Bewohner umfaßt, der Bildung einer
gesunden Nationalität und eines Nationalcharakters entgegen-
tritt"; ein solcher existirt nicht.
Die Gesetzgeber des jungen Kaiserreiches wollten dasselbe
mit allen schönen Einrichtungen beschenken, welche die gebil-
detsten Nationen Europas genießen. Aber sie nahmen dabei
keine Rücksicht„anf die traurigen Elemente", auswelchen
daS Volk zum großen Theile zusammengestellt ist. Die Fol-
gen davon waren zahlreiche Näßgriffe und unter diesen war
einer der allerschlimmsten die Einführung vou Schwur-
gerichten. Fast nur Verbrecher, die keinen Einfluß durch
Freunde oder Gevattern auf die Geschworenen nehmen kön-
nen, werden vernrtheilt, und häufig wirkt Mitleid mit dem
Verbrecher bestimmend ans das Urtheil der Jury. Der ge-
meinste Verbrecher, welcher mit Ketten beladen ist, der ruch-
lose Mörder aus dem Gange nach dem Galgen wird bemit-
leidet, aber nicht das Opfer, welches seiner Grausamkeit ge-
fallen ist, und nicht dessen Hinterbliebenen. Ein Pferd, ein
Maulthier, das durch Krankheit oder einen Unfall rettnngs-
los verloren ist, wird mit Futter versehen oder auf einen
Grasplatz getrieben; der Europäer aber, welcher aus wahrem
Mitleid demselben eine Kugel durch den Kopf jagt, läuft
Gefahr, gefänglich eingezogen und hart bestraft zu werden.
Die Brasilianer sind iin Allgemeinen sehr sorglos. Im
Jahre 1853 wurde die 9 Legoas lange Straße zwischen Dia-
mantina und Cerro gebaut, kostete'85,-000 Francs und war
anfangs gut. Zur Unterhaltung bestimmte man jährlich für
je 3 Meilen 200 Milreis, also noch nicht 150 Thaler Un-
terhaltnngskosten! Mehr wollte der Provinziallandtag nicht
bewilligen, und schon 1858 fand Herr von Tschudi die Straße
verlassen und im erbärmlichsten Zustande. „Man weiß in
der That nicht, ist es geistige Beschränktheit, Blindheit, Leicht-
sinn oder bloß Parteileidenschaft, die in den Provinzialkam-
mern jede Rücksicht für das öffentliche Wohl unterdrückt und
durch widersinnige Beschlüsse dem Aerar die empfindlichsten
Wunden schlägt." In der Nähe von Conceicaö sah der
Reifende eiue Brücke, die zu einem Drittel eingestürzt war:
sie befand sich schon seit Jahren in diesem gänzlich unbrauch-
baren Zustande.
Die Parteien, Liberale und Couservative, halten sich
streng geschieden; sie verkehren nur mit einander, wenn das
unumgänglich nothwendig ist. Bei den Wahlen steigert sich
diese Abneigung zu leidenschaftlichem Hasse. „Es grenzt ans
Unglaubliche, mit welchem Aufwände von unredlichen Mit-
teln die Wahlen betrieben werden; kein Verfahren ist der
einen wie der andern Partei zu schlecht, zu verächtlich, um
nicht in Anwendung gebracht zu werden. Ueberrednng, direc-
ter Stimmenkauf, Bestechuug, Betrug, Lüge, Verleumdung,
cgnomaden des Altai.
Diebstahl, Gewalttätigkeiten, Todtschlag, Meuchelmord und
wie der ganze Apparat von Niederträchtigkeiten heißen mag,
sind willkommen, wenn sie nur den Zweck erreichen Helsen.
Die Ministerien üben den größten Einfluß auf die Wahlen;
die untergeordneten Beamten, nur zu folgsam den Winken
von oben, erlauben sich die schreiendsten Ungerechtigkeiten, die
gröbsten Überschreitungen ihrer Amtsgewalt; alle Beamten
und Behörden wirken mit Hintansetzung des Diensteides
und der Pflicht nur auf das einzige politische Parteiziel hin.
Recht und Gerechtigkeit, die im Innern des Landes auch
unter normalen Verhältnissen mit der allergrößten Willkür-
lichkeit gehandhabt werden, scheinen während der Wahlperiode
gänzlich verschwunden zu sein und die absoluteste Autokratie
ihre Stelle einzunehmen. Es ist ein tolles, trauriges Trei-
beu, einer der größten Krebsschäden, die sich aus Brasiliens
constitutiouellem Leben entwickelt haben, und die vollständigste
Untergrabung der Volksmoral, wenn überhaupt von einer
solchen die Rede sein kann. Selbst in Rio wiederholen sich
bei jeder Wahl Unordnungen nnd Willkürlichkeiten in scanda-
löser Weise, und nun gar in den Provinzen! Kein Wahl-
berechtigter kann und darf sich bei der fast fanatischen Jagd
nach Stimmen seiner Wählerpflicht entziehen, und auch der
ruhigste Mann läuft Gefahr, in solcher Zeit den tiefsten Haß
und vielfältige Verfolgungen aus sich zu ziehen. Mancher
Reiche läßt es sich Tausende kosten, um seiner Partei den
Sieg zu verschaffen ; die Begriffe von Ehre, Recht, Gefetz
verschwinden. Selbst die heißblütigen Spanier in den süd-
amerikanischen Republiken, die ebenfalls in erbitterter Par-
teistelluug die Wahlen durchkämpfen, wahren doch den An-
stand und setzen nicht den letzten Funken von Achtung bei
Seite. Brasilien steht in dieser Beziehuug fast einzig da,
höchstens können ihm die Unionsstaaten Nordamerikas die >
Palme streitig machen. Wer nach den Neuwahlen den Sitznn-
gen der Depntirtenkammer, in denen die Wahlen geprüft
werden, beiwohnt oder die Reden in den amtlichen Blättern
nachliest, begreift kaum, daß nicht die ganze Nation schamroth
wird über die Wahlvorgänge; es ist ein düsteres Bild. Daß
eine fortschreitende Civilisation in diesem Verhältniß eine gün-
stige Wendnng hervorbringen könne oder werde, ist kaum zu
erwarten, da in Brasilien das Politische nnd bürgerliche Le-
ben zu eng mit einander verschmolzen sind nnd die durch
jenes aufgestachelten, sich stets erneuernden Leidenschaften so
tief in dieses eingreifen, daß sie sich in steigendem Maße
durch Generationen fortsetzen. Nur politischer Reise und
bürgerlicher Tugend wäre es möglich, hierin einen gün-
stigen Umschwung zu bewirken. Werden aber jemals diese
beiden Factoren bei einem aus so traurigen Ra-
.cenelemeuteu zusammengesetzten Volke zu voller
Geltuug gelangen?^
Die Ierg nomaden des Ut'tai.
Von Dr. W. Nadloff zn Barnaul am Obi.
II.
Wir sind in die Jurte eingetreten und haben auf der
Filzdecke, welche man am Ehrenplatz für uns hingelegt, Platz
genommen. Unsere Begleiter sitzen mit untergeschlagenen
Beinen zu unserer Rechten, und der Wirth sitzt uns zur
Linken; uns gegenüber kauern die Frauen auf eiuem Knie.
Zuerst herrscht allgemeines Schweigen, denn sämmtliche An-
wesende sind damit beschäftigt, die Pfeifen aus den Stiefeln
heraus zu ziehen, sie zu stopfen und anzuzünden. Aber bald
beginnt ein allgemeines Ueberreichen der Pfeifen mit der ge-
wöhnlichen Begrüßungsformel: „nä tabysch bar" (was
W. Radloff: Die T
giebt's Schlechtes?), worauf die stehende Antwort: „tg.-
bysch-jogula" (nichts). Eine Weile hört man nichts als
diese Worte, denn ein Jeder ist damit beschäftigt, die Pfeife
des Andern auszurauchen und nen zu stopseu, selbst die
Frauen thuu dies, ja auch die Kinder; die Mutter steckt so-
gar dem Säugling die Pfeife in den Mund. Allgemeiner
als bei den Kalmücken ist wohl nirgends das Tabackranchen
verbreitet.
Jetzt wird dem Gaste Speise (Kumiß und Milch :c.)
gereicht, und zuletzt setzt man Milchbranntwein vor. Der
letztere erfrischt die ins Stocken gerathene Unterhaltung und
vernichtet die letzten Spuren von Ehrfurcht vor den hohen
Gästen. Ist der Branntweinvorrath ein auch noch so beden-
tender, so ruht doch die Gesellschaft nicht eher, als bis der
letzte Tropfen ausgetrunken wurde, ja man macht im Falle
des Mangels an diesem Getränke sofort Anstalt, einen neuen
Kessel Branntwein Uberzndestilliren. Zuletzt sinkt einer nach
dem andern auf der Stelle um, wo er sich gerade befindet,
und diejenigen, welche nicht abgefallen sind, machen durch
Geplauder einen schrecklichen Lärm. Nur die jungen Weiber
und Kinder bleiben nüchtern, denn Frauen, die keine er-
Wachsens Kinder haben, dürfen fich nicht betrinken.
Die Kalmücken find meist mittelgroß aber untersetzt nnd
breitschulterig; ihre Gesichtszüge tragen den mongolischen
Typus, etwas schief liegende Augen, breite Backenknochen,
nach hinten liegende Stirn und flache Nase. Ueber ihre Ge-
sichtsfarbe vermag man auf den ersten Blick nicht gut zu
urtheilen, da der immerwährende Rauch der Jurte die Haut
gelbbraun färbt und außerdem (da der Kalmück sich nur
selten wäscht) sich auf der Haut ein schwarzer Ueberzug bildet,
der nichts erkennen läßt. Die Gesichter sind häßlich, aber
es liegt in ihnen ein kindlich gutmüthiger Zng, der Jedem
Vertrauen einflößen muß.
Der Kalmück ist zu Fuß schwerfällig, seine lange dicke
Pelzkleidung und der schleppende Gang trägt nicht wenig
dazu bei; aber nicht wieder zu erkennen ist er, wenn er sein
Pferd besteigt; er scheint auf dem hochwandigen Sattel und
in die kurzen Steigbügel sich stemmend, wie verwachsen mit
seinem Pferde. Im schnellsten Galop sprengt er anf den
schrecklichsten Wegen dahin, die steilsten Felfeu erklimmt er zu
Pferde und reitet mit diefem die abschüssigsten Abhänge hin-
unter. Im gestreckten Galop uud bei den gefährlichsten
Wegen holt er seine Pfeife aus dem Stiefel hervor, schlägt
Feuer an nnd raucht ohne des Weges und der Gefahr zu
achten.
Das Leben der Kalmücken ist so einförmig wie ihre
Jurte und ihre Kleidung. Sie wohnen zwischen den mäch-
tigen Gebirgszügen ganz vereinzelt, zerstreut; das Flußgebiet,
das sie mit ihren Nachbarn bewohnen, bildet die Welt, in der
sie aufwachsen und bleiben. Mit seinen nächsten Nachbarn
fühlt der Kalmück sich eius, aber schou feixte Stammgenossen
an anderen Flüssen sind ihm Fremde, denn es ist in ihm
noch nicht das Bewußtsein einer Gemeinsamkeit mit ihnen
wach geworden. Ja er besitzt nicht einmal einen Na-
men für sein Volk, denn Kalmak oder Tatar ist von
den Nüssen ihm überkommen und er wendet diese Benen-
nnng nur an, um sich vom Russe» zu unterscheiden. Die
Benennung Altai Kischi (Altai-Mensch), die er zum
Unterschiede von den benachbarten Stämmen der Tuba :c.
gebraucht, ist auch nur eine Benennung nach dem Wohn-
platze. Gewöhnlich nennt er sich nach dem Flusse, au
dem er lebt: Tschui-Kischi (Tschuja-Mensch); Urusnl-
Kischi (Urnsul-Meusch) u. s. w., uud giebt dadurch am
deutlichsten zu erkennen, wie er sich nur mit seinen engsten
Nachbarn als ein gewisses Ganzes fühlt.
Da das Leben der Kalmücken nn wahren Sinne des
gnomaden des Altai. 277
Wortes ein Familienleben ist, so hat auch nur dasweib-
liche Geschlecht, die Triebfedern und das Erhalten des häus-
liehen Lebens, hier Pflichten und Beschäftigungen. Die
Frauen bereiten die Speisen, nähen die Kleidungsstücke für
die Familie und besorgen das Vieh, besonders die Kühe nnd
Schafe, die allabendlich von den Bergen ins Thal zur Jurte
zurückkehren, um gemolken zu werden. Die Männer brin-
gen den Tag mit Nichtsthuu in der eigenen Jurte oder bei
den Nachbarn zu; essen, trinken, rauchen und schla-
f en. Nur im Herbst hängen sie die Flinten um und streifen
mehrere Wochen auf Schneeschuhen in den Gebirgen umher,
um die für die Abgaben nöthigen Felle herbeizuschaffen. Im
Sommer besucht er seine Freunde und Bekannte und labt
sich an dem edlen Milchbranntwein. Man kann als gewiß
annehmen, daß während des Sommers fast die ganze männ-
liche Bevölkerung des Altai nur selten nüchtern wird.
Im Winter sitzt der Kalmück, wenn er nicht der Jagd nach-
geht, daheim in seiner Jurte, wärmt sich am Feuer, raucht
feilte Pfeife oder verschläft die Zeit. Er führt seiner Mei-
nung nach ein herrliches Leben. Von seinem Standpunkte
aus hat er recht, denn keine Sorge drückt ihn und kein
Wunsch nach irgend einer Veränderung steigt in ihm auf.
Hat er keine Kleidung oder keine Speife, so erhält er sie
vom reichern Nachbar, denn die fämmtlichen Bewohner der
Gegend bilden ja gleichsam eine Familie, und der Reiche ist
nur reich, um alle ihn umgebenden ärmeren Faulenzer mit-
zufütteru. Dies wird ihm auch nicht schwer, denn seine bes-
sere Lage ist nicht durch mühevolle Arbeit errungen, Nein!
er war nur glücklicher als der ärmere, seine Herden ver-
mehrten sich und blieben gesund, während Seuchen dem är-
mern Nachbar das letzte Vieh hinrafften. Diefer im höch-
sten Grade ausgebildete Communismns ist es aber, der die-
fem Volke jedes Streben nach Fortschritt unmöglich macht.
Nur da, wo die Nähe russischer Besitzungen einigen Ein-
flnß auf die benachbarten Kalmücken ausgeübt hat, wo der
Wunsch nach Besitz und das Streben nach Standesunter-
schied anfängt Wurzel zu schlagen, sieht man auch größere
Rührigkeit in das einförmige Leben der Bergbewohner ein-
dringen. Dort beginnen die Männer Handel zu treiben und
auch den Acker zu bebauen. Zwar dringen mit diesem Fort-
schritt auch viele Uebel ein; Leidenschaften nnd Laster wer-
den erregt, die der „wildeNaturmensch" nicht kannte; dies ist
indeß eine unabänderliche Folge der beginnenden Eivilisation
uud zugleich em Schritt zur Vervollkommnung, denn dadurch
scheidet sich das Gute vom Bösen und es eutsteht dadurch
eiu wahrhaftes Sittlichkeitsgefühl und ein gewisses Selbstbe-
wußtsein, das dem gauz im sogenannten Naturzustande leben-
den Volke abgeht.
Der Kalmück stiehlt nicht, weil er keine Bedürfnisse hat;
kennt weder Lng noch Trug, weil es in seinen Bergen nichts
zu verheimlichen giebt und er viel zu träge ist, sich zu ver-
stellen, doch kann man dies Nichtvorhandensein der beden-
tenden Laster mehr civilisirter Völker nicht als Sittlichkeit
bezeichnen, die dem Kalmücken beiwohne; es ist dies nicht
etwa das fest gewordene Bewußtsein des Guten in ihnen,
denn die leiseste Berührung mit anderen Elementen würde
die Ehrlichkeit uud Aufrichtigkeit dieses Volksstammes augeu-
blicklich in das Gegentheil verwandeln.
Allmälig beginnt dnrch russische Kanflente, die sich schon
an vielen Stellen im Altai niedergelassen haben, und durch
Ansiedler und Missionen, die europäische Eivilisation in die
Felsenthäler des Altai zu dringen, und nur au wenigen
Punkten haben sich die Ureinwohner noch im reinen „Natur-
zustande" erhalten. Dies letztere ist besonders in den Thä-
lern desTscholyschman undBaschkaus, denQuellflüf-
fen des Teletzker-Sees, der Fall, die rundum durch uu-
278
M
Radloff: Die Bergnomaden des Altai.
wirthsame Gegenden von den übrigen Theilen des Altai
getrennt sind. 'Hier herrscht vollständige Standesgleichheit
und ein ausgebildeter Communismns; aber mit Schrecken
möchten sich wohl die Commnnisten neuerer Zeit von ihrem
Ideale abwenden, wenn sie hier die Folgen der Gittergemein-
schast beobachten würden; es würde ihnen nicht anders er-
gehen, wie den deutschen Junkern, die so sehnlichst das Mit-
telalter herbeiwünschen, wenn sie doch die Genüsse einer Ci-
vilisation, die sie verabscheuen, entbehren sollten. Sicherlich
würde aber jeder Commnnismus zu derselben Unthätigkeit,
zu denselben Versumpfungen führen, wie wir ihn bei söge-
nannten Naturvölkern finden. Den Menschen zwingt nur
die Noth oder der Wunsch nach Eigenthum zum Arbeiten und
Fortschritt.
Nachdem ich in wenigen Zügen ein Bild des Lebens und
Treibens unserer altaischen Bergnomaden entworfen habe,
will ich schließlich ihrer religiösen Anschauungen und der
Verwaltung erwähnen.
Die innere Zufriedenheit und die durch diese hervorge-
brachte geistige Trägheit hält den Bergnomaden auch ab, sich
viel Kopfbrechens um religiöse Verhältnisse zumachen. Wenn
man es so eigentlich betrachtet, dann kümmert er sich, wie man
zu sagen Pflegt, herzlich wenig „um Gott und die ganze
Welt". Die Kalmücken bekennen sich zwar zum Schama-
uismus, ob aber dieser überhaupt den Namen Religion
beanspruchen kann, scheint mir sehr zweifelhaft. Die Prie-
ster des Schamanismus sind die Schamanen (Kam); sie
sind die Kaste der Eingeweihten, welche durch Zaubersor-
melu die Geister beschwören, und von ihnen dnrch darge-
brachte Opfer Glück und Gesundheit für die Opferbriuger
herbeiflehen. Die Gabe des Schamanisirens wird ihnen
angeblich dnrch die Gottheit selbst verliehen, aber, wie sie be-
hanpten, erweist Gott diese hohe Gnade nur den Kindern
eines Schamanen. Es hat jedoch den Anschein, als ob die
Schamanen selbst wenig an die Offenbarungen der Gottheit
glauben und meist nur von ihren Vätern erlernte, ihnen
selbst unverständliche Gebetformeln auswendig lernen, um
von den Leuten beschenkt zu werden,
Ueber ihre Gottheit haben sie selbst nur eine gauz un-
klare Vorstellung und nur wenige konnten mir von dieser
Rechenschaft geben. Ihrer Angabe nach giebt es bei ihnen
zwei Hauptgottheiten, eine gute, den Uelgün, von Manchen
Tttngiri-Kan (Himmelsfürst) oder Pajana genannt,
und eine böse Gottheit, Erlik, Kösmös oder Schaitan
genannt. Die Namen dieser Hauptgottheiten sind den Nach-
barvölkern entlehnt (Erlik ist von den Mongolen, Schaitan
von den mohammedanischen Türken zu ihnen gekommen).
Neben diesen Hauptgottheiten existiren viele Nebengottheiten,
die ebenfalls von Nachbarvölkern zu ihnen gekommen find.
Außerdem verehren sie noch die Berge und Flüsse als
Herren des sie ernährenden Landes, und die Seelen der
Vorfahren. Aber alle diese höheren Wesen sind ein dnnk-
les Chaos von Vorstellungen, die ins Ungewisse in einander
verschwimmen. Selbst die Principien der guten und bösen
Gottheit sind nicht streng von einander geschieden, denn Er-
lik erscheint bald als Vater der Menschen, bald als Ver-
nichter derselben.
Im Allgemeinen kümmert sich das Volk wenig um die
überirdischen Wesen und ihr ganzer Cnltns besteht darin,
daß man in jeder Jurte rechts am Bette eine den Göttern
geweihte Stelle hat, wo verschiedene Götzenbilder aufgehängt
sind. Auch vor der Jurtenthür ist zwifchen zwei Stangen
ein Strick mit bunten Lappen und Bändern zur Ehre der
Götter aufgehängt. Nie habe ich einen altaischen Kalmücken
beten sehen; er denkt genug gethau zu haben, wenn er die
Götterbilder in seiner Jurte aufgehängt hat. Erst wenn
Krankheit oder andere Leiden an ihn herantreten,
wendet er seine Aufmerksamkeit den Göttern zu; dann läßt
er den Schamanen kommen, der mitHülfe der Schamanen-
trommel die Geister beschwört nnd den Urheber des Miß-
geschicks zu erkennen sucht. Nachdem er diesen angeblich er-
sahren hat, beredet er sich mit seinen Geistern über die Ab-
hülfe des Uebels, welche durch Opfer von Pferden oder Scha-
fen bewerkstelligt wird. Entweder opsert man dem guten
Geiste, den man um seiue Hülfe aufleht, oder dem bösen,
um durch die Gabe sich loszukaufen. Dem Uelgän opfert
man weißes Vieh, dem Erlik fchwarzes. Das Fleisch
der Opserthiere wird von den versammelten Gästen, die der
Ceremonie beiwohnen, verzehrt, nnd nur die Haut mit den
Knochen des Kopfes und den unteren Extremitäten wird an
der Stange des Opfergerüstes aufgehängt.
In einigen Gegenden des Altai wird den Göttern von
jeder Speise ein Opfer dargebracht, indem man, ehe man
den Napf mit Speise an den Mund setzt, ein wenig davon
nach allen Seiten hinspritzt.
Noch einer Sitte dieses Volksstammes will ich Erwäh-
nnng thnn. Bei Bergpässen, die mit Gefahr zu paffiren
sind, und bei gefährlichen Flußübergängen sind Steinhau-
fen (Odo) errichtet, bei denen der Passirende dem Schntz-
geiste ein Opfer darbringt, indem er ein Steinchen, einen
Zweig oder einige Haarbüschel ans der Mähne seines Pser-
des auf den Steinhaufen wirft, An einigen Stellen wer-
den folche Opfer au einem Baume aufgehängt. Alle diese
religiösen Handlungen verrichtet der Kalmück, aber ohne
jegliche Andacht, ja selbst beim Beschwören der Geister durch
die Schamanen sieht man die Anwesenden rund um im Kreise
scherzend und plaudernd sitzen, als ob die Handlung sie gar
nicht berühre. Auch die Schamanen selbst scheinen die Sache
nicht sehr ernsthaft zu nehmen, denn fie sind für.kleine Ge-
schenke gern erbötig, jedem Reisenden ihre Künste mit der
Zaubertrommel vorzumachen.
Was die Beziehungen der altaischen Bergkalmücken zu
der russischen Regierung betrifft, so blieben sie, da sie durch
die Lage ihrer Wohnsitze von allen Nachbarn getrennt sind,
in ihren inneren Angelegenheiten fast ganz autonom gestellt.
Sie zerfallen in zwei Bezirke: erstens die eigentlichen
Kalmücken und zweitens die Dwojedaner. Die ersteren
sind schon seit einem Jahrhundert der russischen Krone unter-
worfen, die letzteren dagegen erst seit einigen Jahren russische
Unterthanen; bis dahin waren sie der chinesischen Krone un-
terthan und zahlten der russischen Regierung nur für das
Land, das sie bewohnten, eine Abgabe an Maralfellen, da
das Land zum russifch-chinesischen Grenzbezirk gehört; da-
her die Benennung „Doppeltzinspflichtige" (Dwoje-
clanzen).
Die Altai-Kalmücken zerfallen in sieben verschiedene Ab-
theilnngen (Tülschin) und die Dwojedaner in zwei. An
der Spitze jeder Abtheilung steht ein Saisan; diese Würde
ist in der Familie erblich, kann aber auch aus Wunsch des
Volks einem andern übertragen werden. Unter jedem Sai-
seilt stehen einige Temitschi, meist vier bis fünf, deren
Würde ebenfalls erblich ist, und unter jedem Temitschi stehen
mehrere Schülängü. Die Pflicht dieser Beamten ist, der
russischen Krone die Abgaben, welche in Fellen gezahlt wer-
den, einzusammeln, und in der Kreisstadt B iisk abzuliefern;
außerdem die Verbrecher, die vom „Kopfgericht" gerichtet
werden müssen, dem Misker Kreisgerichte zuzuführen und zu
überweisen. Im Lande selbst gehört es zu ihren Amtsge-
schäften, in ihrem Bezirk (Saisanschaft) Ruhe und Frieden
zu erhalten, und über Streitigkeiten und kleine Verbrechen
oder Vergehen in einer Verfammlnng der Temitschi zu richten.
Heinrich Ditz: T
Sollte das Urtheil des Saisans und der Temitschi dem Be-
theiligten nicht gerecht und billig erscheinen, so steht ihm die
Besngniß zn, an das Biisker Kreisgericht zu appelliren, und
der Fall lvird dann in einer großen Versammlung der Sai-
sane und vieler angesehenen Kalmücken, die unter Vorsitz
eines Beamten des Biisker Kreisgerichts alljährlich einmal
im Altai stattfindet, entschieden. Mit Ausnahme schwerer
Verbrechen, die nach den russischen Gesetzen in Biisk abge-
urtheilt werden, richten die Saisane nach ihren hergebrach-
ten Sitten; das russische Gericht darf sich nur dauu ein-
mischen, wenn ein Russe bei einer Streitigkeit betheiligt ist,
oder wenn die Kalmücken es selbst wünschen.
Die Saisane werden in ihrem Amte von der russischen
Regierung bestätigt, erhalten aber keine Abzeichen ihres Ran-
ges wie die chinesischen. Jene der Dwojedaner wurden früher
von der chinesischen Regierung ernannt und trugen chinesi-
sche Mützen mit den Knöpfen der Beamten, die ihnen anf
den chinesischen Greuzpikets übergeben wurden. Sie tragen
dergleichen uoch jetzt, obgleich sie sich vou den Chinesen
i magyarische Volk. 279
losgesagt haben. Ehrfurcht vor dem Saisan habe ich nur
bei den Dwojedanern bemerkt.
Was die Abstammung der altaischen Kalmücken betrifft,
fo sind sie znnl größten Theil Türken von den verschieden-
artigsten Stämmen, die während vieler Jahrhunderte den
Altai berührt haben; dies beweisen ihre Geschlechtsregister.
Ihre Sprache ist ein sehr rein türkischer Dialekt, in
deu aber viele mougolische Elemente durch den Laus der
Zeit und Geschichte sich eingemischt haben.
Russische Ansiedler dringen forwährend mehr und mehr
in den Altai ein, und das Häufchen der Kalmücken schmilzt
mit jedem Jahre mehr zusammen, da auch sie sich allmälig
mit den Eindringlingen vermischen. Die riesigen Felswände,
durch welche sie vou den gefährlichen Nachbarn getrennt sind,
werden diese nicht mehr lauge zurückhalten und die Berg-
kalmücken werden nach wenigen Jahrzehnten 31t den
untergegangenen Stämmen gehören, wie die zahl-
reichen Tatarenstämme, welche vor zwei Jahrhnn-
derten den Nordrand des Altai bewohnten.
Aas magyar
Von Dr. cam.
Als der Magyar seine heutigen Wohnsitze einnahm,
vertrieb er die slavischen Völker dort, wo er die Gegend sich
zusagend sand, auf der Ebeue nämlich, da, wo er wohl Herr
sein, aber nicht selbst wohnen wollte, im Gebirge, unterjochte
er sie.
Das hat nun wohl jedes einwandernde Volk ähnlich ge-
macht; jedoch bleibt der Unterschied, daß die übrigen Wander-
Völker sich in: Laufe der Zeit mit den alten Einwohnern ver-
mischten, die Magyaren aber noch heute, nach tausend nnd
mehr Jahren, sich scharf von den übrigen Einwohnern des
Landes unterscheiden. Nicht nur, daß sie ihre eigene Sprache,
ihre besondere Sitte und Lebensweise, ihren specisischen Volks-
charakter aufrecht erhalten haben, auch ihre sociale, ja selbst
ihre politische Stellung ist bis iu die neueste Zeit eine be-
sondere geblieben. Der Magyar war der Herr im Lande
nnd in der Gemeinde, nnd den übrigen Nationen blieb nur
das Dienen. Der Magyar leitet daraus ein historisches
Recht her, sich als die erste Nation und als die edelste des
Landes zu fühlen; der eiuzige „Schwab" ist es, den er sich
einigermaßen gleichstellt — während der „Deutsche" (in
Deutschland wohnhaft) von dem Unbefangenen für viel höher
gehalten wird — und dieser Schwab ist es anch einzig, wel-
cher in allen politischen Kämpfen auf Seite des Magyaren
steht, während die Slaven immer gegen beide Front
machen. Der Magyar, sagten wir, habe ein historisches
Recht, sich als die edelste Nation in Ungarn zu fühlen, und
wir können hinzufügen, daß er dieses Gefühl noch nie unter-
drückt hat, ja daß er es gegen die flavifche Bevölkerung in
einer oft nicht zu rechtfertigenden Weise äußert. Der Ma-
gyarismus wird seiner Zeit dem Slaventhnm viel gefähr-
licher werden, als das deutsche Element in Oesterreich es je
gewesen ist.
Im Alsöld fragte ich einmal meinen Kutscher, was das
sür Leute seien, welche uns mit einem Ziehkarren begegneten.
„Herr," sagte er, „das siud sehr arme Leute, wir Ungarn
*) Vergleiche „Globus" XI. S. 49 u. 75.
ische Golk ^).
Heinrich Ditz.
nennen sie Tot" (Slaven). Es waren slovakische Glas-
Händler. Ich begriff nicht sogleich, warum mein Kutscher
diese Leute fo arm nannte; denn allem Anscheine nach waren
sie reicher als er, der nach seiner eigenen Aussage nichts als
sich uud eiue zahlreiche Familie besaß. Erst nachher fiel es
mir ein, daß der Ungar ohne alles Vermögen sich für reicher,
jedenfalls für vornehmer halten mochte, als die Slovaken,
wenn sie auch etwas im Besitz hatten.
Wenn sich der Ungar eine edle Nation nennt, so hat er
nicht Unrecht. An Ritterlichkeit int äußern Auftreten steht
er gewiß keiner andern nach. Nobel in allen seinen Bewe-
gungen und Reden, sast nie gegen den guteu Ton verstoßend,
könnte der Ungar vielleicht eher ein Lehrmeister des Anstan-
des und des geselligen Benehmens sein, als die hohe Schule
zu Paris. Mau Muß aber erst die Ungarn selbst sehen und
sie selbst ihre geharnischte Sprache sprechen hören, ehe man
im gebildeten Westeuropa den asiatischen Ungarn als einen
Meister in der geselligen Bildung anerkennt.
Eben so wenig kann man dem Magyaren den innern
Adel bestreiten. Sein Edelmnth, sein Idealismus und seine
Opferwilligkeit, seine seltene Herzensgüte und was man mehr
will, man findet es bei demselben in einen: Grade vertreten,
der ihn vor den meisten europäischen Völkern vortheilhast
auszeichnet.
Der Ungar ist mit einem einzigen Wort ziemlich voll-
ständig charakterisirt. Er ist Student. Wir wollen im
Folgenden die Parallele durchführen.
Beim Ungar hat oft nicht der tiefe Verstand, sondern das
Herz die Oberhand. Er ist Poet, aber nicht mehr der steif-
ernste patriarchalische Nomade, sondern eher der unbesorgte,
immer gemüthsruhige Wirthschaster. Deshalb sagt ihm auch
die Landwirtschaft am meisten zu, seitdem er die reine Vieh-
wirthschast hat aufgeben müssen; denn hier bleibt die Ge-
müthlichkeit noch am längsten, und wenn der Landwirth im
Frühling für die Saat uud im Herbst für die Ernte gesorgt
hat, so ist es in Ungarn noch möglich, während der übrigen
Zeit alle Sorge dem lieben Herrgott anheim zu geben. Der
280 Heinrich Ditz: T
Landwirth sieht seine Ernte mehr als Mittel an, um zn le-
ben; bei ihm ist das Leben nicht das Mittel, welches den
Zweck hat zn ernten. So ist es aber nahezu bei der Jndu-
strie und den Gewerbenein Ringen ohne Rast und Ende,
um an: Ende des Jahres auf dem Gewinnconto ein Plus
zu erzielen, und das ist dem poetischen Ungar ein Graus.
Er liebt wie Jedermann den Gewinn, aber er verachtet den,
der hinter demselben jagt, und er würde mit sich selbst unzu-
frieden sehr, wenn er dem „unedlen" Gewinn zn Liebe zum
Gewerbe griffe. Das Gewerbe ziemt sich nicht für die „edle
Nation"; das überläßt man den Uebrigen. Der Ungar ist
Student: er ist das bemooste Haupt, dem die Sorge nicht
ziemt; zu sorgen braucht nur der Philister; der Student will
nur leben.
Auf der ersten n n g a r is ch e n GeWerbeausstellung zu Pesth,
1842, waren unter 80 Ausgezeichneten: 50 Deutsche, 9Sla-
ven, 13 größtenteils von Deutschen geleitete Fabriken und
nur 8 Magyaren. Es fehlt Ungarn überhaupt an den Vor-
bedingungen zum Gewerbe und Fabrikbetriebe, besonders auf
der Ebene: es mangelt an Wasser, an Kohlen und Banma-
terial, wie nicht weniger an gebildeten und billigen Arbeitern;
aber wo die Natur des Landes nicht hindert, da giebt der
Charakter des Ungarn den Gewerben und der Industrie deu
Rest.
Der Ungar lebt ganz für Ideale. Hat er sich ein sol-
ches gebildet, fo sucht er es um jeden Preis zur Durchfüh-
ruug zu bringen. Um das Wie kümmert er sich nicht. Er
steuert immer gerade auf das Ziel los und wenn es über
Felsen und Abgründe geht. Die Felsen sollen sich öffnen
und die Abgründe sich schließen, damit er das schöne Ziel
um so eher und leichter erreiche. Da sie dieses aber nicht
auf sein Geheiß thuu, so leidet er eben deshalb so häufig
Schiffbruch. Das Terrain zu studireu versteht er nicht und
er verschmäht es; die Verhältnisse kann er deshalb nicht be-
nutzen, wie der Realpolitiker, im Gegentheil stehen sie ihm
allenthalben im Wege*).
Ungarn hat nur einen großen Realpolitiker gehabt, Ste-
phan Szschenyi. Er war es, der das oft gehörte Wort
sprach: Ungarn ist noch nicht gewesen, es wird erst
sein. Was aber noch mehr ist, er that mehr als alle seine
Zeitgenossen zusammen, diese Prophezeiung in Erfüllung zu
bringen. Aber er that es nicht so, wie die Ungarn zn arbeiten
gewohnt find; er setzte sich nicht das Ideal und zog dann
eine gerade Linie, um den einzuschlagenden Weg zn bezeich-
nen, sondern er benutzte den Weg, wo er ihn geebnet fand, und
wenn derselbe auch uoch so große Krümmen hatte, und dabei
kam er jederzeit am sichersten und ehesten ans Ziel. Sze-
chenyi wollte die Nationalität und die Selbständigkeit Ungarns
kräftigen und heben. Was that er zu diesem Zwecke? Drang
er in die österreichische Regierung und erbat oder forderte er
Zugeständnisse von derselben? Nicht das. Er baute eine
schöne Brücke über die Douau, um Pesth und Ofen dadurch
zu einer großen Stadt zu verschmelzen, indem er die Ver-
bindnng zu jeder Jahreszeit sicherstellte, was vordem nicht
der Fall war. Er sorgte dafür, daß nach der großen Ueber-
schwemmung, welche vom 13. bis 18. März 1838 das alte
Pesth fast ganz zerstörte, aus dem Schutt eine schönere neue
Stadt wieder erstehe. Und Sz-zchenyi hat sich nicht geirrt,
wenn er damit die ungarische Nationalität und Selbständig-
keit zu kräftigen glaubte, indem er anf alle mögliche Weife
Pesth-Ofen zn einer großen und zu einer schönen und wohn-
lichen Stadt machte, durch den Bau einer Brücke und schöner
Häuser, durch Gründung einer nationalen Akademie und eines
*) In unseren Tagen haben aber doch die Magyaren den Beweis
geliefert, daß sie sich auch auf Realpolitik sehr gut verstehen. A.
3 magyarische Volk.
guten nationalen Theaters. Durch alles dieses zog er den
ungarischen Adel von Wien nach Pesth, und erst seit dieser
Zeit nahm der hohe Adel den gebührenden Antheil an den
Angelegenheiten des Vaterlandes, ein Adel, der sich vordem
darin gefiel, durch geistigen und leiblichen Absenteismus zu
glänzen, und der kaum einen höhern Wunsch hatte, als den,
der reichste und vornehmste Hofadel des österreichischen Kai-
serstaates zn sein. Erst Szschenyi hat in dem neuen Pesth
den Ungarn einen festen Mittelpunkt gegeben; das alte Pesth,
von dem ein alter Schriftsteller, Salomon Schweizer, sagt,
daß innerhalb der hohen Mauern „schlechte, niderträchtige
Gebaü und liderliche Haüßlein, auch sehr kothige und wüste
Gassen" seien, jenes alte Pesth hat nie die Centripetal-, son-
dern die Centrifugalkraft ausgeübt.
Sonderbar; durch eine Brücke und durch schöne Pa-
laste konnte man eine Nation kräftigen! Doch wir sind ab-
geschweift und knüpfen wieder an unsere Charakteristik an,
indem wir darauf hinweisen, daß diese Art nicht die Politik
des Ungarn ist, sondern die einzige große Ausnahme in der
Person Szvcheuyi's. Wie wir oben sagten, ist der Ungar
nicht Real-, sondern Jdealpolitiker.
Wie sich der Idealist nicht um die Mittel uud Wege be-
kümmert, wie er sein Ideal zur Wirksamkeit bringt, so ist
er auch unbekümmert um die Nebenresultate seines verwirk-
lichten Ideals. Wenn er für die Freiheit schwärmt, so ist
es ihm genng, daß die Freiheit eine schöne Idee ist; ob sie
zum Untergange oder zur Hebung des Volkes führt, danach
fragt er weniger. Der Jdealpolitiker ist Principienreiter.
Für eine nur siugirte Verletzung der Ehre setzt so der Stn-
dent im Duell sein Leben ein — nicht um die Ehre, sondern
um seine Idee zu retten. Gerade so tritt der Ungar für
seine Ideen auf: bei ihm ist das fiat justitia pereat mun-
dus kein verschrienes Wort. Ihn kümmert das Resultat
seines Strebens nicht, nur die Idee. Der Ungar verthei-
digte Jahrzehnte lang seine avitische Verfassung mit einem
Eifer und einer Hartnäckigkeit, die man anderwärts nicht be-
greifen konnte, denn die Verfassung war augenscheinlich für
unsere Zeit unbrauchbar geworden. Aber er vertheidigte sie
deshalb, weil sie rechtmäßig war und die gegenwärtigen Zu-
stände iu seinen Augen es nicht waren. Er verweigerte so
lange die Steuer, bis man ihn mit Gewalt zum Zahlen
zwang; aber nicht deshalb verweigerte er sie, weil er zu sehr
am Gelde hing oder weil er nicht zu den Bedürfnissen des
Staates beisteuern wollte, souderu deshalb, weil die Steuer-
gesetzgebung nicht aus verfassungsmäßigem Wege ins Leben
getreten war. Er trat für die Idee des Rechts in die Schran-
ken; wohin fein Arbeiten führte, daran dachte er nicht, und
wenn sie zum offenbaren Ruin des Staates geleitet hätte,
es verschlug bei ihm nichts; die Idee des Rechts mußte ge-
rettet sein, wenn auch das Recht uoch so knöchern und noch
so wenig lebensfähig war.
Die Freiheitsliebe des Studenten ist bekannt; aber nicht
weniger bekannt ist, wie sehr er seinen eigenen Willen auf-
heben, wie sehr er der Sklav Anderer fein kann. Als Mit-
glied einer Corporation giebt es keinen gehorsamern und be-
reitwilligern Unterthan gegenüber den Corporationsgesetzen.
Der Student ist hier eben nur Sklave jener Ideen, welche
die Corporation vertritt, er ist auch hier Idealist. Wie ganz
stimmt dazu das Bild des Ungarn! Ihm hat sich auf der
unbegrenzten freien Pußta die Freiheit in einem so verlocken-
den Bilde gezeigt, daß er auch in der Politik fein höchstes
Ideal in der Freiheit sieht, nnd er hat gezeigt, daß er für
dieselbe einzustehen wußte. Aber gerade wie der Student,
hat auch er einen Corpsgeist, dem zu Liebe er sich gern zum
Sklaven des Ganzen macht. Er erträgt es am ehesten, daß
man sich in seine innersten Angelegenheiten mischt, und er ist
Heinrich Ditz: T
willig; nur muß es einer Idee willen sein. Der eben seines
Freiheitssinnes willen so ungezogene und Polizeiwidrige Un-
gar gehorcht dann wie ein Kind. Er spricht nicht mehr
deutsch in seiner Familie wie sonst, weil die Nation beschlos-
sen hat, die ungarische Sprache zu Ehren zn bringen. Er-
wägt nicht, die ungarische Literatur gänzlich außer Acht zu
lassen, und wenn er sie auch nicht liest, so sucht er doch we-
nigstens zu kaufen, um die Literatur dadurch zu heben, denn
es ist Mode. Der Ungar spricht nicht seine Sprache, wie
sie ihn der Gebranch gelehrt, sondern wie die Akademie der
Wissenschaften sie ihm vorgeschrieben hat.
Wer es noch nicht weiß, dem sei es hier mitgetheilt, daß
die Akademie der Wissenschaften einige Hundert, vielleicht
einige Tausend neue Wörter gemacht hat, um sie an Stelle
abgedankter oder vielmehr abzudankender fremdländischer zu
setzen. Wenn bei uns Jemand auf deu Einfall käme, und
wären es auch alle Gelehrten zusammen, anstatt Apotheke
zu schreiben „Heilmittelniederlage", oder „Fernschreiber" an-
statt Telegraph, so würde man solche Einfälle im allergUn-
stigsten Falle belachen und bespotten; wahrscheinlicher aber
wäre es, daß Niemand Notiz davon nähme. In Ungarn
aber und nur in Ungarn ist es möglich gewesen, diese Vor-
schlüge zur Geltung zn bringen.
Der Ungar trügt seine Nationalkleidung, nicht, weil sie
ihm an und für sich behagt; denn er hatte sie ans freien
Stücken vollständig bei Seite gelegt. Sie scheint auch un-
serm Auge recht unbequem. Aber als es im Jahre 1861
plötzlich wieder hieß, daß wer Ungarns Wohl und Gedeihen
wolle, auch ungarische Tracht tragen solle, da wurde rasch
über Nacht das ganze Ungarn wieder in die enge Hose ge-
zwängt, in den alten ungarischen Rock geschnürt und in die
hohen Nationalstiefeln gesteckt. Der Modeconvent hatte be-
schlossen, daß alle Burschen in Farben undCerevis erscheinen
sollten, und sie erschienen darin. Und wer will schließlich
behaupten, daß es jenem Magyaren nicht Ernst war, als
er, scheinbar im Scherz, zum Schreiber dieser Zeilen sagte:
„Wir Ungarn essen den Rettig sehr gern; er ist auch Na-
tionalessen bei uns, weil er die ungarischen Farben trägt:
grün das Laub, weiß der Kops und roth die Wurzel?"
Wenn der Philister politisirt, so thut er es, um besser
zu verdauen und sich gnt zu unterhalten: er kannegießert.
Der Student dagegen betrachtet das Politisiren als einen
selbständigen Zweck; er lebt ja ganz in Politik und geht darin
auf, wenn er überhaupt einmal Politik treibt. Ich glaube,
es giebt auch unter den Völkern Philister- und Studenten-
Politiker; und dann gehört der Ungar zu den letzteren. Es
giebt kein Volk in Europa, welches mehr Politik treibt, als
das ungarische, leider verlegt es sich oft nur auf die „höhere"
Politik; für eiue gesunde Wirthschaftspolitik fehlt ihm
der Sinn. In Ungarn spricht man beständig von Staats-
angelegenheiten; das thut man mehr oder weniger anch an-
derwärts; allein es bleibt doch immer ein Unterschied gegen
Ungarn. Hier politisirt man um seine und seiner Rechte
Existenz, anderwärts häufig, um mit der Unterhaltung über
das Wetter einmal abzuwechseln. Wenn wir Politik ins
Gespräch bringen, so können wir ruhig dabei bleiben, und
wenn wir gute Speisen vor uns haben, so lassen wir uns
den Appetit nicht verderben, denn wir — ich meine nicht
den Politiker von Beruf, sondern das Volk — wir sprechen
quasi über eine fremde Angelegenheit. Der Ungar dagegen
wird gleich aufgeregt, sobald er in einen politischen Discnrs
hineingeräth, und so sehr er Gonrmand ist, in diesem Falle
vergißt er Alles; denn die Politik, die ihn beschäftigt, ist seine
eigene und Herzensangelegenheit, nicht eine fremde. Die
Nüance zwischen dem ungarischen und dein deutschen politi-
schen Discurse läßt sich uicht immer in Worten geben; aber
Globus XI. Nr. 9.
s magyarische Volk. 281
uns scheint der Hauptsächlichsteunterschied der zu sein: Erzählt
man dem Ungarn z. B. ein Politisches Ereigniß, so liest man
auf seinem Gesichte die Frage: Was sollen wir denn da
thnn? während der Deutsche etwa denkt: Was wird man
denn dabei wohl anfangen? Der betreffende Ungar ist eben
so unfähig, anf den Gang der Dinge einen Einfluß auszu-
üben, wie fem deutsches Gegenstück, aber er sühlt stärker den
natürlichen Beruf des Individuums, an: Leben desStaates
den regsten Antheil zu nehmen.
Man kann dem Ungarn nicht das Zengniß geben, daß
er ein unbefangener Politiker sei; vielmehr ist er im höch-
sten Grade schroff und einseitig. Dieses hängt eben mit sei-
nem Idealismus anfs Engste zusammen, der in den Tenden-
zen kein Maß, sondern nur das Extrem kennt. Eben weil
z. B. der Ungar die ungarische Nationalität als Idealist anf-
faßt, nur deshalb kann er so exclusiv nationalistisch sein, wie
es außerhalb Ungarns nur selten möglich ist. Kosmopoliten
sindet man in Ungarn wenige. Und es ist keine andere Auf-
fassnng für den Stockungarn möglich, als die, daß Ungarn
gerade mitten auf der Welt liege, daß vor den Magyaren
keine Zeit gewesen und d aß sie mit ihnen einst anch aufhören
werde. Es giebt sehr viele Ungarn, welche glauben, der civi-
lisirte Westen habe in der Geschichte nur den Zweck, für Un-
garn vorzuarbeiten. Wenn Ungarn einmal das Notwen-
dige von dieser Cultur in sich aufgenommen habe, so sei
auch die historische Bedeutung des Westens erloschen. Der
Student singt anstatt dessen das Lied: Wir sind die Könige
der Welt. —
Unsere Parallele zwischen Magyaren und Studenten paßt
noch weiter. Der Ungar ist durchaus Lebemann; ungeheure
Heiterkeit ist auch seiues Lebens Regel, und wenn ein deut-
scher emeritirter Student mit einem sechszigjährigen Ungarn
in Gemüthlichkeit zn rivalisiren hat, so kann ihm diese Eon-
cnrrenz schwer werden. Gute Tafel und volle Gelage füllen
keinen kleinen Theil vom Leben und Wirken des Ungarn ans.
Wenn Essen und Trinken, wenn das Amüsement und die
Pflege des Körpers das Leben wäre, so wäre der Spruch
vollständig wahr: Extra Hungariam lion est vita; si
est yita, non est ita. Leider kann man es nicht in Abrede
stellen, daß bei vielen Ungarn ein höherer Lebenszweck nicht
bekannt ist.
In einer Hinsicht jedoch müssen wir die Parallele in
eine Antithese umwandeln; und wir fühlen uns um so mehr
dazn bewogen, weil in Deutschland da und dort irrige An-
sichten in diesem Punkte herrschen. Schreiber dieser Zeilen
ist mit einer Borstellung von ungarischer Unreinlichkeit ins
Land gekommen, welche an die Grenze des Möglichen streifte.
Er verdankte aber diese Vorstellung nur vielen Büchern über
Ungarn und dem landläufigen Vorurtheil. Er ist aber nie
mehr enttäuscht worden, als gerade in dieser Beziehung. Wohl-
gemerkt ist hier nur von den eigentlichen Ungarn, den Ma-
gyareN, die Rede, und es soll hier keineswegs der Slovak,
Wallache und Serbe, am wenigsten der Schokaz das gleiche
Prädicat der Reinlichkeit erhalten. In Ungarn selbst kennt
man übrigens die Sauberkeit des Magyaren zur Genüge,
und wenn man keine ethnographische Karte zur Haud hat,
so kann man es der fast holländischen Reinlichkeit mit Be-
stimmtheit ansehen, daß dieses und jenes Dors ein magyari-
sches ist. Daß man im Wohnhanse des Ungarn so wenig
Schmutz uud so viel Nettigkeit sieht, wäre wohl dadurch zu
erklären, daß er all seinen Wirthschaftsschmutz auf der Tanya
lasse, wenn nicht die Tanya selbst eben so geputzt wäre, llxtb
das ist das beste Zeichen, wenn auch dort die Reinlichkeit
herrscht, wo ein fremdes Auge fast nie hinkommt.
Der Magyar trägt mit Vorliebe weiße Kleider. Das
ist entweder ein Zeichen von höchster Schmutzigkeit, wenn
36
282 Fortdauer der vulkanischen
nämlich die so leicht in die Augen springende Verunreinigung
nicht genirt, oder aber ein Zeichen von hoher Reinlichkeit,
wenn jede Beschmutzung gescheut und gleich wieder weg ge-
waschen wird. Beim Ungarn ist das letztere der Fall. Und
wie an seinem Kleide, so duldet er auch keinen Fleck an den
Wäudeu seines Hauses und seiner Zimmer. • Was wird man
von der Unreiulichkeit des Ungarn noch denken, wenn man
hört, daß er jede Woche oder wenigstens alle vierzehn Tage
seine Küche von Grund aus und das ganze Haus uach außeu
und innen an den beschmutzten Stellen weißt? Es ist frei-
lich wahr, daß der Ungar gern sein Kopfhaar mit Speck ein-
schmiert uud sein Hemd mit Fett; alleiu das ist nur in nn-
seren Begriffen unreinlich oder wenigstens unappetitlich; der
Ungar aber sieht es als ein Conserviruugsmittel gegeu das
Klima an. Warum sollte deuu der Speck im Kopfhaar
unreinlicher sein, als die Wichse im Schnurrbart? Uud diese
ist doch auch bei uns salonfähig. Daß wir übrigens so
ungünstige Begriffe von der Sauberkeit des Ungarn haben,
mag vou der Verwechslung des Ungarn mit demSlo-
v aken herrühren; denn diesen sehen wir in Deutschland hau-
siger, besonders als Händler mit Mausefallen; der Magyar
selbst geht nur selten aus seiner Heimath, und ihn in Deutsch-
laud zu sehen, haben wir selten oder nie Gelegenheit.
Auch die Ordnungsliebe und Präcision ist eine Seite des
ungarischen Volkscharakters, die ihn vom Studeuteu zu sei-
uem Vortheil unterscheidet. Es ist Regel der Gutsherren
in Ungarn, zu Arbeiten im Tagelohn vorzüglich die deutschen,
zu Accordarbeiten dagegen die ungarischen Arbeiter zu ver-
wenden. Denn der Deutsche ist fleißiger uud arbeitstüchti-
gcr, aber er übereilt die Arbeit gern; wogegen der Ungar
zwar langsamer, aber ängstlich sorgfältig uud pünktlicher als
Arbeiter ist. Der Ungar leidet bei Accordarbeiten meistens
Schaden, weil der Preis der Arbeit sür eine mittelmäßige
Leistung bemessen ist, wie man sie eben gewöhnlich von der-
gleichen Arbeiten erwartet, der Ungar aber die möglichste
Mühe anwendet, um die Leistung gut zu machen. —
Wir wollen aber die Parallele zwischen Ungarn und Stu-
deuten uicht bloß aus die Schattenseiten beschränken, sondern
wollen auch eine gute und angenehme Seite derselben zeigen.
Dem Studenten gehört die Zukunft; er ist demnächst dazu be-
rufen, in die Geschicke seines Vaterlandes bestimmend einzn-
greifen, von ihm hängt gar die Zukunft seines Vaterlandes
ab, wir meinen natürlich uicht vom Studenten als solchem,
Ausbrüche auf Santorin.
sondern als dein später» Beamten und Repräsentanten der
Bildung seines Landes. Und wir hoffen anch, daß sich das
oben angeführte Wort Szschenyis vollständig bewähren wird,
daß Ungarn nicht gewesen ist, sondern daß es erst sein wird,
und daß das jetzige Ungarn noch in seinem Jünglingsalter ist.
Die Liebe zu deu Kindern und Thiereu soll das Zeichen
eines kindlich guten Herzens sein. Ist dieses wahr, so hat
der Ungar gewiß das beste von der Welt. Seine Guther-
zigkeit sieht man bei dem Umgänge mit denThieren im höch-
sten Glänze; hier muß man ihn beobachten, um ihn lieb zu
gewinnen. Man darf lange mit einem ungarischen Kutscher
fahren, ohne je zu sehen, daß er die Peitsche zum Schlagen
anwendet; das Höchste, wozu sich der ungarische Kutscher ver-
steigt, ist, daß er blind mit derselben in die Lust schlägt.
Sonst muntert er seine Pferde durch seine Unterhaltung mit
denselben auf. Er spricht beständig mit ihnen, erzählt ihnen
anch mancherlei von dem, was zu einem guten Pferde gehöre,
das seinem Herrn Freude mache, von dem schönen Futter,
welches sie zu erwarten haben, er giebt ihnen schöne Namen,
und spickt seine Unterredung immer durch Benennungen wie
Freund, Tänbchen, Engel, und bittet dann sein Gespann, sich
dieser Namen nicht unwürdig zu macheu. Eiu ungarisches
Volkslied führt den zum Liebchen reitenden Bräutigam vor,
wie er fein Pferd zum Eilen anspornt. „Friß nicht das
Gras," sagt er, „das am Wege so üppig steht, und sause
nicht vom See, den der Mond so silberfarben scheinen macht;
denn das Gras ist giftig und das Wasser faul und stinkend.
Säume nicht hier in der Wüste, sondern eile zum Liebchen,
das für dich in der Krippe schweres Korn und fetten Trank
bereitet hat." Das ist Poesie, aber eine solche, die alltäglich
zur Wirklichkeit wird.
Selbst der Schweinehirt aus der Pußta erzählt seiner
Herde, daß es sein und ihr Freund sei, der sich jetzt gerade
der Herde nähert. Und das Schwein versteht seinen Hirten.
Wie er die Herde aufruft, den Wolf und den Dieb in Stücke
zu reißen, sobald sie sich der Herde nähern, und wie sie sich
dann ihres Auftrags nach Kräften entledigt, fo beruhigt sich
dieselbe augenblicklich, wenn sie, in dem Ankömmling den
Betyären (Dieb) vermnthend, sich in Schlachtreihe aufstellt,
um ihn in geschlossenen Reihen zu erwarten und ihn dann
in Stücke zu reißen. Das ist Sitte bei den Pußta-Schwei-
nen. Die Herde beruhigt sich, wenn sie das Wort ihres
Hirten hört, daß ein guter Freund sich nähere.
Fortdauer der vulkanischen Ausbrüche auf Santorin.
Seit länger als einem Jahre hat die vulkanische Thätig-
feit bei der Insel Santorin keine Unterbrechung erfahren.
In einem Schreiben vom 5. März 1867 meldet Herr
Fouqu6, welcher im Austrage der Pariser Akademie der
Wissenschaften die Erscheinungen beobachtet, daß die Ernp-
tionen noch so heftig sind als je zuvor; die Detonationen sind
ungemein stark und die Lava stießt ununterbrochen in fünf ver-
schiedenen Richtungen ins Meer, so daß der Raum, welchen sie
bedeckt, seit dem vorigen Jahre beträchtlich zugenommen hat.
Bevor wir den gegenwärtigen Stand der Dinge nach
Fouguö's Mittheilungen schildern, »vollen wir darauf hin-
weisen, daß, gleich nachdem die ersten Ausbrüche im vorigen
Jahre stattgefunden hatten, drei deutsche Geologen, die Herren
Alfons Stübel, K. von Fritfch und W.Reiß gemein-
schastlich eine Expedition nach der Insel unternahmen und
ihre Beobachtuugeu an Ort und Stelle bis gegen den Juni
hin fortsetzten. Als erste Frucht ihrer Forschungen liegt uns
eine Arbeit vor, die im Kreise der Fachgelehrten sicherlich die
eingehende Würdigung finden wird, welche sie verdient.
„Santorin, dieKaimeni-Jnfeln, dargestellt nach
Beobachtungen (von den drei eben genannten Gelehrten),
Heidelberg, Bassermann 1867." Wir wollen zunächst aus
die beigegebeueu Tafeln hinweisen, welche an Übersichtlichkeit
besonders gewinnen, da sie nach Reliefkarten, die an Ort und
Stelle, zur Erläuterung der geologischen Verhältnisse, aus-
genommen wurden, Photographirt sind. Dadurch wird der
möglichste Grad von Treue erreicht und die Anschaulichkeit ganz
ungemein gefördert. Zunächst finden wir, in Farbendruck,
eine Übersichtskarte der Inselgruppe von Santorin und der
Meerestiefen. Santorin umschließt gleichsam im Hufeisen zwei
Aus allen
Drittel einer Bncht; das übrige Drittel wird von der kleinen
Insel Therasia und der noch kleinern Insel Aspronisi gebildet.
Auf diese Weise siud drei Einfahrten zur Bucht vorhanden,
in welcher sich, bei den drei Eilanden Paläa-, Nea- und
Mikra-Kaimeni, der eigentliche Herd der vulkanischen Thä-
tigkeit befindet. Ein zweites Blatt giebt eine-Uebersichtskarte
der allmäligen Vergrößerung von Nea-Kaimeui, also der Mitt-
lern in dieser vulkanischen Gruppe; Mikra-Kaimeni liegt, nur
durch einen schmalen Sund getrennt, östlich von ihr und Palaa-
Kaimeni südwestlich. Von den vortrefflich ausgeführten Pho-
tographieen giebt die erste eine Verticalansicht dieser Inseln
und des Meeresbodens, nach Eintritt der Eruption von 1866,
uud zwar so wie die Gestaltung am 30. Mai war, während
das zweite Blatt jene vor Eintritt der Eruption und dann
auch den Stand der vulkanischen Neubildung in perspectiv^
schen Ansichten zeigt.
Den Tafeln ist ein erläuternder Text beigegeben, der sich
durch Klarheit und Bestimmtheit empfiehlt. Da es nicht
unseres Amts ist, auf das fpedell Fachwissenschaftliche einzu-
gehen, so können wir nur einiges Wenige herausheben. Die
halbmondförmige Insel Thera (Santorin), welche, wie eben
bemerkt, mit Therasia und Aspronisi ein Meerwasserbecken
von über 5 englischen Meilen Durchmesser einschließt und in
dessen Mitte die in geschichtlicher Zeit gebildeten Kaimeni-
Inseln gelegen sind, gleicht in ihrem innern Bau und hin-
sichtlich der Beziehung, in welcher sie zu den noch stattfinden-
den vulkanischen Reactionen steht, vollkommen den berühmte-
sten Vulkanen Europas und vielen des amerikanischen Eon-
tinentes. Das Verhältnis} von Thera zu den Kaimeni-Jn-
seln ist dasselbe, welches auch zwischen Somnia uud Vesuv,
zwischen der Serra aus Fogo und einem 9000 Fnß hohen
Aschenkegel besteht, und sich am Pik von Teneriffa und den
ihn einschließenden Canadashergen wiederfindet. (Diese Vnl-
kane hat Dr. Stübel an Ort und Stelle längere Zeit er-
forscht nnd genau beobachtet.) Die Theorie Leopolds v. Buch,
daß es sich bei Santorin um einen Erhebnngskrater
handle, wird von den Verfassern keineswegs getheilt. Wir
müssen für die Begründung dieser Ansicht aus das Werk selbst
verweisen. Doch mag folgende Stelle herausgehoben werden:
„Während am Vesuv die vulkanischen Kräfte den Vorhände-
nen Kraterschacht immer wieder benutzten und kein dem Ernp-
tionskegel au Größe vergleichbares Werk an die Seite stellte,
ist im Golfe von Santorin jedes zeitweilige Erwachen der
vulkanischen Thätigkeit durch ein besonderes Gebilde charak-
terisirt, das sich als solches, auch unter dem Wasser, bis herab
Erdtheilen. 283
zu einer gemeinschaftlichen Basis kennzeichnet. Diese Gebilde
entstehen durch langsames Hervorquellen großer Lavamassen,
welche ruhig au deu Ausbruchsstellen überquellen, die Uneben-
heiten des Meeresbodens erfüllen und sich allmälig als In-
seln über die Wasserfläche erheben. Dagegen zeichnen sich
die Eruptionen des Vesuv meist dadurch aus, daß die ergos-
seue, glühend flüssige Materie, indem sie von einem höher
oder tiefer gelegenen Pnnkte über die Abhänge des Kegel-
berges fließt, sich zu langen, schmalen Strömen ausdehnt.
Was auch die Ursache sei, — ob sie in der Beschaffenheit
des flüssigen Gesteins oder nur in dem Stadium und in der
Art und Weise der Eruption gesncht werden müsse, — höchst
bemerkenswert!) bleibt die Thatsache, daß kein durch Auf-
schüttuug entstandener Schlackenberg, wie er den thätigen
Vulkanen fast ohne Ausnahme eigen ist, bis jetzt im Golfe
von Santorin gebildet wurde." Nachdem die Verfasser ihre
Beobachtungen eingehend geschildert haben, sagen sie: „Wir
dürfen gewiß von der Erhebungshypothese, zu der immer
wieder zurückzugreifen so äußerst bequem gesunden wird, in
diesem Falle sowohl für die Inseln selbst als auch für den
zunächst gelegenen Meeresboden gänzlich absehen/' —
Fonqnä meint, daß die Eruption auf Santorin eine ganz
ungewöhnlich umfassende sei. Flammen stiegen (Anfang
März 1867) uur uoch von der Georgsinsel ans und zwar,
wenn Explosionen erfolgten, bis zu einer sehr beträchtlichen
Höhe. Die uach Süden, Osten uud Westen abfließende Lava
kommt aus dem Krater der Georgsinsel nnd nicht von der
Basis derselben, so daß der ganze vulkanische Kegel, der nur
108 Meter (also etwa 330 Fuß) hoch ist und auf der Süd-
feite sanft abfällt, ganz mit einem breiten Lavastrom über-
deckt ist, der sich aber in die oben erwähnten fünf Ströme
erst dann theilt, wenn er nahezu die Basis erreicht hat. Der
Krater war im August 1866 vermöge eines gewaltigen Aus-
bruches nahezu von Schlacken und Lava gereinigt worden;
gegenwärtig hat er wieder eine pilzförmig gestaltete Kappe
von dergleichen. Die Beweguug des Erdbodens ist nicht sehr
beträchtlich, doch ist der Quai von Nea-Kaimeni wieder um
etwa 1 Meter gesunken und die Südküste von Mikra-Kaimeni
liegt jetzt einen Fuß tiefer als früher. Dagegen hat der
Sund zwischen Paläa- und Nea-Kaimeni beträchtlich an Tiefe
verloren und an manchen Stellen ist nun der Meeresboden
bis zu 60 Faden (360 Fuß) höher geworden. Der nörd-
liehe Theil der Georgsinsel wird wohl sehr bald mit Mikra-
Kaimeni sich vereinigen, denn der Canal zwischen beiden ist
nur noch 3 Meter tief nnd 6 oder 7 Meter breit.
% it s allen
Die Nachricht von Livingstone's Ermordung bestätigt.
Nach Bombay kamen in der ersten Hälfte des März Berichte
aus Sansibar, aus denen sich ergiebt, daß die früher von uns
mitgetheilten Aussagen der „Johannaleute" nicht aus der Luft
gegriffen waren. Im December 1866 nämlich war der Araber
Musa, ein treuer Begleiter Livingstone's, nebst einigen anderen
• Mitgliedern der Expedition aus dem Innern an die Küste zurück-
gekommen. Seine Aussagen sind, den Bombayer Zeitungen zu-
folge, ganz bestimmt. Aus denselben geht hervor, daß Dr. Li-
vingstone in der Mitte des Septembers aus das westliche Ufer
des Nyassasees hinübergegangen und einige Tagereisen landein-
wärts vorgedrungen war. Er traf dort mit einer Horde wilder
Mafite zusammen, als er wie gewöhnlich den, übrigen Zuge
seiner Leute eine kleine Strecke weit voraus war nnd nur etwa
acht oder neun junge Leute zur unmittelbaren Begleitung hatte.
Die Wilden griffen ihn ohne Veranlassung seinerseits an uud
L r d t h e i l e n.
überraschten ihn gleichsam. Seine Leute gaben Feuer, aber noch
bevor der Pulverdampf sich gänzlich verzogen hatte, war Living-
stone durch einen Hieb mit einer Streitart zu Boden geschlagen
worden, und dann wurden auch seine Begleiter niedergehauen.
Musa war Augenzeuge des Vorgangs, er stand hinter
einem Baume und sah, wie der Doctor den Todesstreich erhielt.
Er kehrte sofort um, entfloh mit den übrigen Leuten der Erpe-
dition in den dichten Wald, gelangte dann an den See und kehrte
von dort mit einer Karawane an die Küste zurück. Als das tra-
gifche Ereigniß in Sansibar bekannt wurde, flaggten die Consu-
late und die Schiffe im Hafen, auch jene des Sultans, zum Zeichen
der Trauer am halben Mast. Livingstone selber hat eine Ahnung
gehabt, daß er von dieser Erpedition nicht zurückkommen werde.
Er sprach darüber mehrmals mit den Offizieren des englischen
Kriegsschiffes „Penguin"; diese waren die letzten Europäer, mit
welchen er zusammengetroffen ist.
36*
284 Aus allen
Wir wollen hier hinzufügen, daß der bekannte Geograph
DeSborough Cool°ey im „Athenäum" hervorhebt, daß Livingstone
in seinen Schilderungen sich mancher Jrrthümer schuldig gemacht
habe. Es sei z.B. höchst auffallend, daß er Zulus (AmazuluS),
deren Land an der Nordgrenze der Colonie Natal liege, an beiden
Seiten des Nyassasees gefunden haben wolle. Während er in seinem
Reisewerke hervorhebt, daß die Ufer der südlichen Gegenden am
See ungemein dicht bevölkert seien; er sagt, daß das Hochland am
nördlichen Theile desselben theilweise vou einem Zulustamm eingenom-
men worden sei, der erst vor ein paar Jahren dorthin gekommen
wäre. Er schreibt über dieses Volk: „Die Mazitu leben auf dem
Hochlande und sie sind ursprünglich aus dem Süden gekommen,
aus dem Binnenlande von Sofala und Jnhambane." Nun sinv
diese beiden Gegenden gut bevölkert und haben friedliche Zustände.
Wie läßt sich aber annehmen, daß eine Horde wilder Krieger
durch diese Gegenden und die Portugiesischen Besitzungen nach dem
stark bevölkerten See gekommen sei, ohne daß man etwas davon
gehört hätte? Wanderzüge wilder Völker kommen, in Folge von
Hungersnot!), in Afrika allerdings vor, aber dieselben werden
immer weit und breit bekannt. Livingstone's Meinung, daß die
Mazitus zu deu Zulus gehören, scheint sich ans die Gestalt und
Größe ihrer Schilde zu stützen; aber er selber war doch seiner
Sache nicht recht sicher; er sagt: „So groß war der Schrecken
vor diesem Schilde, daß wir manchmal zweifelten, ob diese Ma-
zutu hier wirklich Zulus seien; wir vermntheten, daß die Leut'e
im Lande sich diese Furcht zu Nutze machten, die Schilde annah-
men und dann behaupteten, Zulus zu sein." Als' er dann mit
Mazitus zusammentraf, konnte er aus ihren Zähnen (— die spitz
geseilt sind —) abnehmen, daß sie Landeseingeborene waren, welche
man den Zulus einverleibt habe. „Der Zweck ihrer Raubzüge
geht dahin, Weiber und Kinder einzusaugen, welche dann in den
Zulustamm ausgenommen werden." Er giebt also zu, daß die
Mazitus Landeseingeborene seien, „und was ihre Einverlei-
bung unter die Zulus anbelangt, so ist das nur eine Phrase,
welche, gleich jener von den Schrecken einflößenden Schilden, nur
das hartnäckige Festhalten an einer grundlosen vorgefaßten Ansicht
bezeugt. Wenn die Leute am See sich so leicht in Zulus ver-
wandeln können, so braucht man ja gar Feine Wanderung von
Süden her anzunehmen. Das Wort Ma situ ist gar kein Volks-
name und Livingstone selber nennt sie einmal Azitn. Die große
zingische Sprachsamilie hat örtliche Verschiedenheiten; Livingstone
aber nahm den corrumpirten Namen entweder von seinen Mako-
lolo-Begleitern oder von den portugiesischen Ereolen an, welche
letztere die Jnflerionen weglassen. Das Wort Mazitu bedeutet
Wälder; Wa Mazitu wären Leute in den Wäldern oder
Buschmänner, d. h. herumstreifende Banden, welche sich der
Autorität der Dorfältesten entzogen haben. Dergleichen Banditen
findet man in allen Theilen Afrikas. Aber ein Volk der Ma-
situs ist nicht vorhanden, und eben so wenig ist Grund zu der An-
nähme, daß Amazulus irgendwo nördlich von der Delagoabai woh-
nen. In seinem letzten Briefe aus Ngomano am Rofuma äußert
Livingstone selbst weitere Zweifel, indem er sagt, daß die Mazitu
vielleicht Zulus seien." (Weiteres in der folgenden Nummer.)
Der Afrikareisende Le Saint. Dieser kühne Infanterie-
lientenant will bekanntlich ein großartiges Wagniß unternehmen.
Er schiffte in der ersten Hälfte des März 1867 von.Suez nach
Suakin. Sein Reiseplan ist folgender. Zunächst begiebt er sich
von Suakin, dem bekannten Hafen am Rothen Meer, nach Char-
tum und von dort geht er den weißen Nil -hinauf und nimmt
die Reiseroute von Graut, Spcke und Baker. Die geographische
Gesellschaft in Paris, welche ihn unterstützt, hat ihn ersucht, diese
Region genau zu erforschen, namentlich aber, ob, was sehr wahr-
scheinlich ist, die wirklichen Nilquellen landeinwärts zurückliegen, als
Speke ic. annehmen. Le Saint will dann weiter „das große
Eentralplatean von Afrika" von Osten nach Westen durchwandern;
er gedenkt den Atlantischen Ocean bei der französischen Nieder-
lassung am Gabon zu erreichen. Die ganze Wanderung meint
er binnen zwei Jahren machen zn können , doch läßt sich darüber
natürlich gar nichts Genaues bestimmen. Niemand kann sich
verhehlen, daß er den größten Gefahren entgegen geht, um so
mehr, da er die Reise ganz allein macht. Wir' wollen hier
bemerken, daß unser Landsmann Adolf Bastian, der so viel
Erdtheilen.
von den fünf Erdtheilen gesehen hat, wie irgend ein lebender
Mensch und der auch Afrika kennt, einst mit dem Plane sich trug,
den Eontinent in der entgegengesetzten Richtung vom Gabon aus
nach der Ostküste zu durchwandern, und zwar gleichfalls ohne
Begleitung irgend eines Europäers; er hielt ein solches Unter-
nehmen für ausführbar. Hoffen wir, daß Le Saint's Kühnheit
zu einem glücklichen Ausgange führe.
Die Christen auf der Halbinsel Korea.
Wir haben über dieselbe nur unvollständige Nachrichten. Sie
liegt, so weit die eigentliche Halbinsel in Frage kommt, zwischen
dem 40. und 35. Breitengrade, hat etwa 4000 Quadratmeilen
und augeblich an 9 bis 10 Millionen Bewohner. Den Missio-
nairen war der Zugang von Seiten der Regierung verboten, sie
schlichen sich aber ein und bekehrten. Bis zum Jahr 1857 sollen
etwa 15,000 Koreaner zum Katholicismus bekehrt worden sein.
Ein Missionair (in den „Annales de la propagation de la
foi", Januar 1867) meint, man könne wohl jährlich 10,000 Pro-
selyten machen, wenn die „religiöse Freiheit" gestattet wäre. Man
verlangt diese, während man sie selber nicht gewährt! Im Jahre
1865 sind 907 Koreaner getauft worden. Ein anderer Missionair
bemerkt eben daselbst, daß 1862 die Regierung sich um die Mis-
sionaire und ihre Bekehrten scheinbar gar nicht bekümmert habe;
aber es scheint, als ob das Volk von ihnen nichts habe wissen wollen.
„In der schönen Provinz Tilung sang haben die Heiden sich ge-
gen uns verschworen und bei den Mandarinen den Antrag ge-
stellt, daß man uns ans dem Lande fortschaffen möge. Derartige
Schritte sind fast überall günstig ausgenommen worden, und nun
wissen unsere Christen nicht, wohin sie sich wenden sollen; sie
irren hülslos umher. In der Provinz Tieng kei, in welcher die
Hauptstadt (Han iang) liegt, sind die Trabanten ohne Befehl
von Seiten der Obrigkeit in sechs oder sieben Dörfer eingedrun-
gen, haben geplündert, gesengt, die Leute geprügelt und ins
Gefängniß geschleppt. In der Provinz Hoang hat practisirten
einige Frauen die christliche Religion, verheimlichten das aber
vor ihren Männern; dort haben wir nun auch 15 Männer
getauft. — In manchen Bezirken hat der Mandarin die Neu-
bekehrten fortgejagt und das heidnische Volk ihre Häuser demolirt.
Viele Edelleute sind unserer Religion günstig, ebenso manche
Beamte. In der Hauptstadt ist die Polizei sehr wachsam; auf
anderen Punkteil dagegen hat man es sich herausgenommen, den
christlichen Cultus öffentlich zu halten."
„Im Januar 1864 starb der König, der sein Volk sehr
geliebt hatte. Er hinterließ keine Nachkommen und so ging
die Regierungsgewalt auf die Königin Tfio über, Wittwe
eines frühern Königs. Sie adoptirte sofort einen zwölfjährigen
Knaben, Sohn eines Prinzen, und dieser erhielt die Zügel der
Regierung. Er ist der Religion und den Missionairen nicht feind-
lich gesinnt; er weiß, daß unserer acht Europäer im Lande sind.
Einige Russen baten brieflich, in Korea Handel treiben
zu dürfen. Da sagte der Prinz einem Mandarinen, er möge nur
dem Missiouair Berneur mittheilen, daß er unö religiöse Frei-
heit gewähren wolle, wenn ich machen könne, daß er diese Frem-
den los werde. Ich ließ ihm sagen, daß ich nicht zum Volke der
Russen gehöre und mich nicht zu ihrer Religion bekenne, ich ver-
möchte also nichts über diese Leute. Dazu bemerkte ich, daß ich
mehr als irgend Jemand die Gefahr beklage, von welcher das
Königreich von Seiten dieser Leute ausgesetzt sei, beim sie wür-
den über kurz oder lang auf koreanischem Gebiete sich festsetzen.
Es gebe kein Mittel, die Gefahr zu beschwören, da ja die Re-
gierung sich standhaft weigere, mit den europäischen Mächten in
Verbindung zn treten." Man sieht, daß der Missionair der Re-
gierung Besorgniß vor russischen Uebergriffen einflößen wollte.
„Die Frau des Prinz-Regenten hat einen Theil des Katechis-
mus auswendig gelernt und sagt an jedem Tage ein paar Gebete
her. Aber die Königin gehört zur Familie der Tscho, welche stets
dem Christenthum abgeneigt war und sich auch bei der Verfolgung
vom Jahr 1839 auszeichnete. Die Königin hat die Kim ent-
fernt, welche unter der vorigen Regierung allmächtig waren und
die Dinge gehen ließen wie sie wollten; das kam uns sehr zu
statten. Es gelangten statt derselben Männer ans Ruder, die uns
feindlich sind. Was sollen wir von einem solchen Durcheinander
feindlich und freundlich gesinnter Personen erwarten?"
Aus allen
„Es sind bei der Regierung Bittschriften eingelaufen, in
welchen verlangt wird, daß man die alten Landes gebrauche
in ihrer Reinheit wieder herstelle und die abendländische
Lehre mit der Wurzel ausrotte. Gleichzeitig ging das Gerücht,
es werde nun eine Verfolgung ausbrechen. Dadurch kam großer
Schrecken in die Mission, und viele Katechumenen, die noch schwach
im Glauben waren, sind vor der Gefahr zurückgescheucht. In
der Provinz Tilung sang haben 1864 die Christen viel zu leiden
gehabt; sie sind von Satelliten (— der Missionair meint damit
die Regierungötruppen —) .und Räubern schlecht behandelt wor-
den; man hat ihre Häuser geplündert und niedergebrannt. Das
Jahr 1365 ging in trügerischer Ruhe vorüber." Das nächste
Jahr war dann stürmisch.
Wir wollen diesen Missionairberichten, die natürlich einseitig
sind, hinzufügen, daß sich in Korea eine Erscheinung wiederholt,
die wir mehrfach dort finden, wo die abendländische ReligionS-
lehre verkündigt wird. Die Leute anderer Racen fassen dieselbe
eigenthümlich auf, und da ihnen Vieles an jener unverständlich
bleibt, so machen sie sich in ihrer Art ein Amalgam wunderlicher
Vorstellungen zurecht. So dieTaiping in China, auf Neuseeland
die Pa'i Marire oder Hau haus. Wir ersehen aus den Be-
richten der Missionaire, daß auch in Korea eine neue Seete
sich gebildet hat, jene der Tonghae, d. h. Lehre des Mor-
genlandes. Sie hat diese Benennung angenommen, um sich
von dem Christianismus zu unterscheiden, der als Söhac, Lehre
des Abendlandes, bezeichnet wird. Vermittelst der frcmdarti-
gen, von Außen zugebrachten, dem Geiste der mongolifch-koreani-
schen Race nicht adäquaten Dogmen, Begriffe und Vorstellungen
kommt Verwirrung in die Köpfe jener Leute. Sie nehmen von
dem Neuen das eine oder andere an und legen es sich in ihrer
Weise zurecht. In Korea hat die Regierung auch die Anhänger
der Tong hac verfolgen lassen und dabei nebenher mancheChristen
rauh behandelt.
Es wäre von Interesse zu erfahren, welches die Lehren der
neuen Secte sind; wir haben aber darüber noch nichts gelesen,
während wir die wunderlichen Vorstellungen derTaiping und der
Pcü Marire einigermaßen genau kennen. Es ist zu bemerken, daß
oftmals da, wo die christlichen Missionaire ihre Lehre verkündeten,
derartige Secten auftauchen und die Völker durch Rebellionen und
Verfolgungen beunruhigt wurden. Die Missionaire gehen den
Dingen nicht tiefer auf den Grund, sonst würden sie sich sagen
müssen, daß z. B. die Vertreibung der Christen auö dem öst-
lichen Tibet sich sehr einfach erklärt. Der Buddhismus ist an
sich nichts weniger als verfolgungssüchtig, er ist im Gegentheile
sehr duldsam. Das haben gerade in Tibet die katholischen Mis-
sionaire Hue und Gäbet erfahren. Aber man weiß in Tibet sehr
wohl, welche Folgen in China die Verkündigung der abendländi-
schen Lehre im Gefolge gehabt hat, und deshalb bietet man Alles
aus, um ein solches Geschenk von sich fern zu halten. Ohnehin
tritt hier eine Hierarchie der andern gegenüber, und wer da weiß,
was das bedeutet, wird sich das Verfahren der Tibetaner erklären
können. Uebrigens hat man Unrecht, über die „Heiden" zu kla-
gen, so lange z. B. in Spanien die dortige „christliche" Regie-
rung alle Christen ausschließt, welche nicht römisch sind. Es
scheint beinahe unbillig zu sein, von „Heiden" zu verlangen, was
man den „Christen" selber vorenthält.
Der Völkergeschmack auf der Pariser Ausstellung.
Das Folgende entnehmen wir einem Berichte der „Allgemeinen
Zeitung". — Interessant ist die Erscheinung des Völkergeschmacks,
wie solcher sich in der Einrichtung der Säle und Abtheilungen,
in Rahmen, Ornamenten, Farben und Stilweisen bekundet. Zu-
vörderst haben die Franzosen, welchen der allgemeine Anstrich
zugefallen war, alle Schattiningen ihrer Lieblingssarbe, roth,
erschöpft. Die Hauptmauern sind alle braunroth, die Geschichte
der Arbeit ist dunkelroth, die Säle der modernen Kunst sind gra-
natroth; die Installationen ihrer Industrie trompeten in allen
Tönen von Roth. Hier und da eine grüne Loge wirkt höchst wohl-
thuend, wie eine Oase in dem allgemeinen rothen Meer. Viel-
leicht aus nationaler Eifersucht^, jedenfalls mit feinerer eoloristi-
scher Wirkung, haben die Engländer vielfach zu grün gegriffen;
ihr Kunstsalon, den sie äußerst sorgsam behandelt haben, trägt
diese Farbe; der steinerne Boden ist mit Strohmatten belegt,
crdtheileu. 285
breite Divanö laden zur Beschauung ein, die unteren Gemälde
sind an die Wände festgeschraubt. Solidität, Vorsicht und
Comfort. Die französischen Salons, weitaus die größten und
bestgelegenen, strotzen von Kunstobjecten, in dichten Reihen über-
einander geschichtet. Sonst lassen die Etalagen der Franzosen in
Geschmack der Anordnung, in graziösem Schwung und kühnem
Wurf nichts zu wünschen übrig. Aber ihr traditioneller Vorrang
hierin wird bereits stark bestritten. Der Geschmack macht die
Runde um die Welt, und er lehnt sich glücklicherweise an die
Eigentümlichkeiten der Völker an. Es entwickeln sich sichtlich
nationale Stilweisen. Deutschland bleibt keineswegs zurück.
Die Großstaaten, sowie auch die „Secundären", treten in glück-
lichen Förrien und wohl gewählten Farben aus. Preußen z. B.
hat für seine Säle helle, glänzende, feinabgestufte Töne gewählt;
plastische Friese geben den Wänden Halt und Solidität; es tritt
auf wie in einer festen glänzenden Rüstung, auf der seine schwar-
zen Adler einen vornehmen, stolzen, sür den jetzigen Moment fast
drohenden Charakter entfalten. Oesterreich erscheint in sehr
ernsten, würdigen, nahezu melancholischen Farbenaccorden; durch-
gängig dunkelgelbe Wände mit schwarzem Laub, schwarzes Holz-
werk mit tiesrothen Fonds, goldenes Ornament — unbestritten
eine der schönsten und einheitlichsten Gefammtwirknngen im gan-
zen Palast erzielend. Bayern, Würtemberg, Baden, Hessen glän-
zen in einer dem preußischen Geschmack sich nähernden Heiterkeit.
Unter aller Würde sitzen die Südamerikaner da, in den Far-
ben und der Ornamentik eines Provinzialtheaters. Von großer
Pracht sind die Orientalen: Türken, Aegypter, Tuneseu; nur
darf man nicht glauben, daß diese schimmernden Einrahmungen
von den betreffenden Völkern selbst herrühren. Diese Formen,
Malereien, Vergoldungen, Embleme u. s. w. sind alle gegen
schweres Geld in Paris von den besten Künstlern geliefert, und
übertreffen an Geschmack weitaus die Stoffe, welchen sie zur Ein-
fassung zu dienen haben; sie lassen die Technik jener Völker in
einem durchaus erlogenen Glanz erscheinen. Nur Moldau und
Wallachei scheinen nach eigenen Heften und Mustern gearbeitet
zu haben, und sind deshalb von einer wahrhast komischen Ge-
schmacklosigkeit; alles erinnert an Kümmel, und man ist
geneigt wie jener Wiener zu fragen: „Haben's kein Türken
g'sehn?" Man betrachte nur die beiden schief gewickelten Thürme
auf dem Pont mit den vergoldeten Zwiebeln auf dem Kopf!
Rußland tritt in schwerer mongolischer Pracht aus; ein große--
rer Gegensatz eristirt im Palast nicht als der Kontrast zwischen
der russischen Fa§ade und der italienischen; sie stehen sich ge-
genüber diese Fronten zweier Racen, so verschieden an Blut,
Herkunst und culturgeschichtlichem Gange. Hier das uralte Asien
in seinen melancholischen, grotesk-majestätischen Formen; dort
eine glückliche Wiedergeburt der Renaissance, der graziösen Erb-
schast der Griechen und Römer und des Cinque-Cento! Fast alle
Radialwege im Palast bieten solche für die Vergleich ung des
Völkergeschmacks höchst fruchtbare Gegensätze. Großartig
sind die Fronten von Frankreich und England, die sich aus dem
Diametralwege gegenüberstehen, und in Entfaltung von Glanz
und Macht gewaltig zu ringen scheinen.
Die Eisenvahnen in Kleinasien. Das neue Verkehrs-
mittel ist -bekanntlich auch schon in die asiatische Türkei eingedrun-
gen. Die Bahn von Ephesus nach Aidin wurde am 22. Juli
1366 eröffnet, jene von Ephesus nach Smyrna im Herbst
1866. An sie schließt sich jene, welche von Smyrna aus in nord-
östlicher Richtung nach Manisa, dem alten Magnesia, führt,
sie ist 70 Kilometer lang und schon am 25. October 1865 er-
öffnet worden. Von Manisa läuft ein Schienenweg in der Ebene
des Hermus, 27 Kilometer, nach Kassaba am Fuße des Sipy-
lusgebirgeS hin. Eine Abzweigung, an der man gegenwärtig
baut, wird von Manisa über Sardes nach Akhissar gehen,
wo ausgiebige Steinkohlengrnben in Angriff genommen worden
sind. Die längste kleinasiatische Bahn aber wird von Kassaba
nach Alaschehr, Kula, Uschack (Teppichsabriken), Kara-
hissar (Opiumbereitung), Kutahieh, Brussa und Jsmid
und weiter am Marmorameer hin bis Seutari am Bosporus
gehen. Einem preußischen Consulatsberichte zufolge ist Kassaba
ein wichtiger Stapelort für die Producte der Thäler des Hermus
und des Koganus und unterhält lebhaften Verkehr mit Smyrna.
286 AuS allen
Die Stadt hat jed-zch im vorigen Jahre durch Cholera und Brand
viel gelitten; vor denselben hatte sie etwa 10,000 Einwohner in
2200 Häusern; von diesen gehörten ungefähr 350 Griechen, 80
Armeniern, 120Jnden und die übrigen den Türken. Magnesia
zählt 32,000 Einwohner; unter den 8000 Häusern kommen 2000
auf die Griechen, 300 ans die Armenier, 300 auf die Juden und
die übrigen auf die Osmanen, welchen auch der größte Theil des
Grundeigenthums in der Umgegend gehört. Man sieht, wie bunt
die Völkermischung ist und wie schon deshalb die Leute alle Nr-
sache haben, friedlich neben einander zu leben.
Wir wollen hinzufügen, daß auch in Transkaukasien eine
Bahn von Tislis in Georgien nach Poti am Schwarzen Meere
demnächst in Angriff genommen werden soll. Man hat zu An-
fang des Jahres 1867 mit den Vorarbeiten begonnen.
Der sibirisch-amerikanische Telegraph. Die russische
„Börsenzeitung" bringt einen Bericht über das Unternehmen.
Derselbe rührt vom Director der Arbeiten, Herrn Abasa, her.
Alle nothwendigen Untersuchungen zur Feststellung des We-
ges, auf welchem der Telegraph von der Mündung des Amur
bis zu der des Anadyr geführt werden soll, sind im verflösse-
nen Winter ausgeführt worden. Die Richtung dieses Weges ist
von Herrn Abasa unter Mitwirkung dreier amerikanischer In-
genieure festgesetzt worden und geht größtentheils durch Gegen-
den, welche zum ersten Male durchforscht worden sind.
Im Küstengebiet von Ostsibirien giebt es keine Wege. Fahr-
ten sind nur in gewissen Richtungen möglich und werden größ-
tentheils mit Hunden ausgeführt. Der Weg, auf welchem
einmal im Jahre die Post aus Ochotsk über Gifchiga
nach Kamtschatka befördert wird, erwies sich als untaug-
lieh zur Führung des Telegraphen. Es wurde daher ein etwas
von der Küste entfernt liegender Weg gewählt, welcher zwischen
der Hauptkette des Stanowoi- oder Jablonoigebirgeö und den
Küstenzweigen desselben liegt. Diese Linie hat den Vorzug, daß
sie die tiefen Einschnitte bedeutender Gebirgsketten vermeidet und
durch die Küstengebirgszüge vor den Nebeln bewahrt wird, welche
das Ochotskische Meer während ganzer neun Monate des Jahres
bedecken. Südlich von Ochotsk ist auch ein neuer Weg gewählt
worden, der in möglichst gerader Linie über Ajan durch die
Gegend am Flusse Ud nach Nikolajewsk am Amur führt.
Nördlich von Gifchiga wurde der Weg bis zum ehemaligen
Fort Anadyrsk, welchen die wenigen Bewohner von Gischiga be-
nutzen, die sich mit dem Tauschhandel mit den Eingeborenen
beschästigen, gleichfalls unbrauchbar gefunden, und eö wurde da-
her beschlossen, die Linie längs der Flüsse Allan, Pen-
schina und Main zu führen. Weiter wird sie anfangs längs
des südlichen, dann längs des nördlichen Users des Anadyr bis
zu dessen Mündung fortgehen, wo der unterseeische Telegraph beginnt.
Bei Organisation dieser Erpedition zu Ende des verflösse-
nen Jahres (1865) hielt die öffentliche Meinung nicht nur in
Rußland und Amerika, sondern auch in Petropawlowsk und Ni-
kolajewsk den Bau eines Telegraphen im Küstengebiet für un-
möglich. Viele waren überzeugt, daß die Erpedition entweder
gar nicht zurückkommen und in den ungangbaren Schluchten und
Schneeeinöden zn Grunde gehen, oder beim Anblick des ganzen
Schreckens dieser Gegenden bald das Unternehmen aufgeben werde.
Unter Anderm wies man auch auf den Widerstand hin, welchen
die wilden Bewohner der nordöstlichen Ecke Ostsibiriens der Er-
pedition entgegensetzen würden. Aber ungeachtet die Partie, welche
nach der Anadyrmündung geschickt wur.de, nur aus fünf Personen
bestand und vom October bis zum Februar in einer schnell er-
bauten Hütte zubrachte, haben die Tschuktschen, welche sich oft
in der Stärke von 500 Mann um sie versammelten, den Leuten
nicht nur keinen Schaden zugefügt, sondern sich in beständigem
freundschaftlichen Verkehr mit den Amerikanern befunden, welche
sie mit warmer Kleidung, Schuhwerk und frischem Rennthier-
fleisch versahen. Man suchte ihnen den Plan so gut wie möglich
zu erklären, aber dies gelang anfangs nur schwach; sie glaubten,
daß es sich um Aufführung eines Zaunes handle, und das gefiel
ihnen nicht, weil sie fürchteten, daß sie in ihren Nomadenzügen
von dein Eismeere nach dem rechten Ufer des Anadyr gehindert
werden könnten. Später begriffen sie die Sache besser, und Hr.
Abasa glaubt auf ihre Mithülfe rechnen zn können.
Erdtheileu.
Da die Vorarbeiten durch den Besuch des Anadyr im April
beendet waren, konnten die Arbeiten zum wirklichen Bau am
Main und Anadyr in bedeutenderem Maßstabe als an den an-
deren Punkten begonnen werden. Der Oberingenieur, der im
Juli in Petropawlowsk angekommen war, entsendete große Vor-
räthe von Materialien und einen Flußdampfer nach dein Anadyr,
und so gehen denn die Arbeiten im nördlichen Abschnitt dieser
Abtheilung gedeihlich vorwärts. (— Wir lesen soeben, daß die
Nordamerikaner den Telegraphenban aufgegeben haben, tveil ihnen
die Eoncurrenz mit dem atlantischen Kabel unmöglich erscheint.
Demnächst Näheres. —)
Handelsverhältnisse von Nikolajewsk am Amur.
Während der Schifffahrt von 1866 sind 25 ausländische Schiffe
angekommen, davon 14 mit Provisionen des Staates und 11 mit
Waaren; diese letzteren hatten einen Werth von 820,000 R., von
welchen 250,000 R. auf Wein und starke Getränke kamen.
Den Amur hinab wurden Waaren aus Rußland im Werthe von
100,000 R. herbeigeführt; aus Blagowjeschtschensk kamen Lebens-
mittel, Hornvieh, Pferde, Taback u. s. w. im Werthe von 59,000 N.
an. Nach nördlichen und südlichen Häfen wurden Waaren für
63,000 R. und den Amur hinauf solche sür 118,000 R. aus-
geführt. Der Werth der mit der Post versendeten Capitalien
steigt mit jedem Jahre. Während derselbe 1859 nur 171,355 R.
betrug, belies er sich für 1866 (bis zum October) aus 1,435,775 R.
Abgeordnete aus Türkistan in Moskau. Aus der neu
unterworfenen Provinz waren am zweiten Sonntage des März 17
Abgeordnete in der alten Hauptstadt der Czaren eingetroffen, um
dem neuen Herrscher an der Newa ihre Huldigung darzubringen.
Die „Moskauer Zeitung" schreibt: Diese Männer haben zwei
Monate auf ihre Reise verwenden müssen, weil sie beinahe auf
jeder Station durch Mangel an Pferden aufgehalten wurden und
in jeder Stadt die zurückgebliebenen Reisegefährten erwarten
mußten. Einer Mittheilung der „Moskauer Zeitung" entnehmen
wir über die neuen Landsleute folgende Einzetnheiten. Die De-
putation wird von dem Heeresältesten (Major) Ssjerow vom ura-
tischen Kosakenheere begleitet. Der Anblick Rußlands und der
Städte, durch welche die Deputirten gekommen, hat einen starken
Eindruck aus sie gemacht. Trotz der Ermüdung von der Reise
eilten sie, sich Moskau zu besehen. Sie staunten über die kolossale
Größe der Gebäude und die Bequemlichkeit der Wohnungen. Der
Besuch des Kremlpalastes machte einen so starken Eindruck auf sie,
daß sie ihrem Entzücken erst Luft machen konnten, als sie bereits
hinausgegangen waren. Alle Einzelnheiten der städtischen Orga-
nisation interessiren sie. Es ist ein schweigsames Volk und doch
gehen die Fragen ohne Ende. Die Kirgisen haben mehr ihren
Typus bewahrt als die Sarten; ersteren wächst kein Bart, wäh-
rend die Bucharen und Sarten große Bärte tragen. Sie tra-
gen orientalische Röcke von Halbseide in heller Farbe oder von
Sammet mit Pelz gefüttert. Das Hemd und die weiten Bein-
kleider bestehen aus farbigem Baumwollenstoff. Die rasirten
Köpfe sind mit der goldgestickten Kappe bedeckt. Diejenigen, welche
die Reise nach Mekka und Medina gemacht haben, tragen weiße
Turbane. Thee ist das Lieblingsgetränk der Bucharen; sie trin-
ken denselben beständig. Ihren Tisch bereiten ihre eigenen Köche,
welche dabei weder Reis noch Rosinen sparen. Sie rauchen stark
und bedienen sich der gewöhnlichen Pfeifen, weil ihr Kaljan un-
terwegs zerschlagen wurde. Zu Haufe nehmen sie auch Opium
und Haschisch; aber nicht alle und in sehr mäßiger Weise. Die
Bucharen sind thätige Handelsleute und nicht mit den schläfrigen,
für das Leben abgestorbenen Türken zu vergleichen, welche durch
künstliche Mittet ihre Phantasie zu entstammen suchen. Die Sar-
ten haben gewöhnlich zwei Frauen, aber nie mehr als vier; die
Kirgisen haben deren bis sieben. Beide Volksstämme zeichnen
sich durch eine strenge Erfüllung ihrer religiösen Pflichten aus.
Zu bestimmten Stunden, auch bei Sonnenuntergang, halten sie
ihre Gebete. Sind sie auf Reifen, so steigen sie vom Pferde
oder aus dem Schlitten und verrichten ihr Gebet. Dies thaten
sie sogar in den Waggons der Eisenbahn, wobei sie aufstanden
und beteten, sich sehr verwundernd, daß die Züge beim Sonnen-
Untergang nicht anhielten.
Aus allen
Erdtheilen.
287
Zwischen Suez und Bombay fahren vom Januar 18G6
an monatlich vier Dampfer der Peninsular and Oriental Company.
Einwanderung in Nordamerika. Von Europa aus fahrt
man unablässig fort, dem Lande der Yankees eine ungeheure
Menge von Menschenkraft und Capital in den Schooß zu Wersen,
und die ohnehin schon übermächtige und übermüthige „Union"
mit neuen, noch gesunden und noch nicht corrumpirten Elementen
zu beschenken. Spätere Zeiten werden sich wundern, daß die Mil-
lionen Europäer gerade nach jenem Lande strömen, während manche
andere Regionen zum Mindesten gleiche Vortheile bieten. Im
Jahre 186(5 sind nun, amerikanischen Blättern zufolge, in der
Union 286,496 Einwanderer angekommen. Zu diesem Contingent
lieferten: Großbritannien 107,308 Köpfe, Deutschland 86,675; die
nordamerikanischen Provinzen Englands 29,189; Norwegen 8175;
Frankreich (zumeist aus dem Elsaß und Lothringen, also aus
deutschredenden Gegenden) 4950; Schweden 4523; Schweiz 2704;
China 2278; Dänemark (zumeist Mormonen) 1769; Holland
1314; Belgien 1185; Italien 1028; Westindien 704; Spanien
528; Polen 391; die Azoren 348; Portugal 238; Südamerika
233; Rußland 152; Merico 118. In Bezug auf 32,539 war
die Nationalität noch nicht ermittelt worden.
Behandlung der Soldaten in der Armee der Ver-
einigten Staaten. Daß dieselbe in jener Republik weit bar-
barischer ist, als sie jemals in irgend einem andern Lande gewesen,
gehört zu den allbekannten Thatfachen. Folgenden Beitrag zur
Kennzeichnung der christlich-amerikanischen Civilisation finden wir
in einem Blatte, das durch Dick und Dünn mit der Partei der
Oligarchen und Monopolisten des Washingtoner Rumpfeongresses
geht. Wir meinen die „Neuyorker Abendzeitung". Sie schreibt
in ihrer Nummer vom 10. November Folgendes:
Es hat uus von jeher befremdet, daß es in der Bundes-
armee noch so viele Offiziere giebt, welche ihre Soldaten grausa-
men und barbarischen Strafen unterwerfen. Vor dem Kriege
war das Unwesen nicht so gar arg, es entwickelte sich aber wäh-
rend des Krieges bis zu einem Grade, vor dem sich das Gefühl
empört. Man sollte glauben, daß die während des Krieges ein-
gerissene Barbarei nunmehr im Frieden wieder verschwinden würde.
Dem aber scheint nicht so zu sein, denn ein vom 12. September
datirter Bericht von Fort Jefferfon auf Dry Tortugas
beklagt sich über die an Soldaten und Gefangenen auf Befehl
der Offiziere verübten Grausamkeiten. Ganz ohne Grund ist der
Bericht nicht, aus welcher Quelle er auch immer herstammen mag.
Wir haben das Treiben einer gewissen Classe Westpointer
Offiziere zu beobachte» Gelegenheit gehabt, und der Bericht stellt
nur in größeren Verhältnissen und etwas grelleren Farben dar,
was wir früher selbst gesehen haben. Der Berichterstatter er-
zählt, wie am 10. August die Gefangenen aus Dry Tortugas den
Dampfer „St. Mary" und die Brigantine „Rebecca Sheppard"
auszuladen hatten, daß dieselben von der gutmüthigeu Mannschaft
der Schiffe mit Branntwein traetirt worden waren, und daß fie
im Rausch sich lärmend und ungehörig betragen haben. Zwei
Soldaten und zwei Gefangene wurden deshalb au den Dau-
men aufgehängt. Es ist das eine schreckliche Strafe, und die-
jenigen, die sie zu erdulden habeu, werdeil oftmals ohnmächtig.
Der Gefangene James Duun schwebte auf folcheWeise
zwei Stunden lang in der Luft, man hatte Sorge ge-
tragen, daß seine Füße den Boden nicht berühren
konnten. Die Stricke zerrissen und er stürzte herunter, und
im Fallen schlug er den Hintertheil seines Kopfes so stark auf, daß
er besinnungslos liegen blieb. Der wie leblos und bluteud
daliegende Mann wurde sofort an seinen bereits ver-
wundeten Daumen abermals ausgehängt; man würde
ihn bis Sonnenuntergang haben hängen lassen, wenn nicht um
4 Uhr der Platzcommandant, Brigadegeneral Hill, vorübergegan-
gen wäre und den Befehl gegeben hätte, den Mann herabzuneh-
men. Um 9 Uhr Abends hatte sich Dunn wieder etwas erholt,
aber nun kam der die Jour habende Offizier, und auf seinem
Befehl wurde Dunn wieder ergriffen und beordert, eine 40pfün-
dige Kugel herumzutragen. Das war für den bereits höchst
geschwächten Zustand des Gefangenen zu viel, er konnte die Ku-
gel nicht mehr halten, aller seiner Bemühungen ungeachtet ent-
schlüpfte sie seinen Fingern. Jetzt hing man ihn zum drit-
ten Mal an den Daumeu auf und so ließ man ihn eine
volle Stunde in Todesqualen hängen. Als man ihn her-
abnahm, mußte er in das Hospital getragen, und in Folge der
über ihn verhängten grausamen Strafe ihm der rechte Daumen
und die linke Hand abgenommen werden. Capitain C. McConnell
war Offizier des Tages. Er und Sergeant Donnelly, beide dem
5. Bundes-Artillerie-Regiment angehörig, sind für die barbarische
That verantwortlich.
Der zur Compagnie des 6. Artillerie-Regiments gehörige
Soldat Johann-Friedenbach war auch einer von denen, die
sich betrunken hatten. Er wurde an den Handgelenken
aufgehängt, und als er flehentlich bat, daß man ihn doch her-
abnehmen möchte, sagte Sergeant Donnelly: „wenn Du Dein
verdammtes Maul nicht hältst, daun will ich es Dir mit einem
Bayonnett stopfen." Er wurde geknebelt, und der Sergeant
sagte, er habe den Soldaten geknebelt, weil er um
Barmherzigkeit gefleht habe. Bei der Operation hatte
ihm derSergeant denMund aufgeschlitzt und ihm eine
klaffende Wunde beigebracht.
John Brown, der wegen Desertion gefangen gehalten
wurde, hatte sich ein kleines Disciplinarvergehen zu Schulden
kommen lassen, und mußte eine eiserne 40psündige Kugel herum-
tragen. Er that es mehrere Stunden lang. Der Mann litt an
der Diarrhöe und war sehr schwach, er warf zuletzt die Kugel
weg uud wollte sie nicht mehr tragen. Die Sache wurde dem
General Hill gemeldet. Derselbe befahl, dem Widerspen-
stigen dieHände auf denRücken zu binden, ihn nach der
Werfte zu führen und in das Meer zu werfen. Major
Ritterhoufe führte den Befehl aus. Nachdem die Solda-
ten dem Gefangenen die Hände auf den Rücken gebunden hatten,
warfen sie ihn von der Werfte hinunter in das Wasser, und hiel-
ten ihn unter demselben zwei Minuten lang. Sie zogen ihn
dann heraus. Der Mann war halb erstickt und sprachlos; und
nun sollte er die Frage beantworten, ob er die Kugel wieder
tragen wolle. Als keine Antwort erfolgte, wurde er abermals
in die See geworfen. Als man ihn zum zweiten Mal her-
aufgezogen und dieselbe Frage gestellt hatte, konnte er bloß durch
ein Kopsnicken andeuten, daß er sich in alles ergebe.
Was man nur erfinde» kann, um Qualen zu erzeugen, wird
gegeu die Soldaten und Gefangenen in Anwendung gebracht.
Der Sergeant Murphy hieb dem Gefangenen Kelly mit
dem Degen den Finger ab, weil er seine Hand nicht an dem ge-
hörigen Platze hatte. Einen Mann fällte er mit dem Schlag
seiner Muskete zu Boden. Der 17jährige Gemeine Gosnie
mußte fortwährend mit einer Muskete auf der Schulter und sei-
nein mit Steinen angefüllten Tornister im Kreis herumniarschi-
reu; als er zusammenbrach, wurde er braun und blau geprügelt.
Außerdem wirst der Eorrespondent den Offizieren vor. daß sie
Unterschleif mit den Soldaten- und Gefangenen-Rationen treiben
und die armen Soldaten auf gewissenlose Weise bestehlen. Das
ist weder etwas Eigenthümliches noch etwas Neues. Das ist ein
altes Uebel, das allenthalben in der Armee der Vereinigten Staa-
ten in größerer oder geringerer Ausdehnung besteht, je nach dem
Charakter und dem Grad der Ehrenhaftigkeit der Offiziere. Dar-
über wäre noch sehr viel zu sagen. — „Wir leben in einem
freien Lande!"
Die Indianer in Florida. Sie halten seit etwa einem
halben Jahrhundert eine Anzahl Neger, die sich auch deu Roth-
häuten uuterordnen, als Sklaven. Seitdem die Unionsregierung
die Sklaverei in Abgang decretirt hat, verlangt sie auch die Frei-
gebung der Schwarzen von jenen Indianern. Diese aber erklä-
ren, daß die Gesetze, welche die weißen Leute sür sich geben, sie
nichts angingen, da man ohnehin ihnen die Rechte der Weißen
nicht zuerkenne; sie wollen ihre Neger behalten. Die Regierung
der Vereinigten Staaten würde einen schweren Kampf zu bestehen
haben, wenn sie die Indianer, obwohl diese keine 2000 Kopfe
zählen, mit Gewalt zur Nachgiebigkeit zwingen wollte. Das hat
vor 30 Jahren der berühmte Floridakrieg gezeigt, der von Seiten
der Weißen mit so großer Barbarei geführt wurde, viele Jahre
lang dauerte und mehr als 50 Millionen Dollars kostete. Dann
schaffte man die Mehrzahl der Seminolen und Mickaföckies aus
288 Aus allen
Florida über den Mississippi und nur ein Rest blieb auf der Halb-
insel zurück. Dieser haust in den Theilen Floridas, welche man
als die Everglades bezeichnet, eine weite Region, die überall
von 6 bis zu 10 Fuß unter Wasser steht und in welchen Ham-
mocks, mit Buschwerk und Gedern bewachsene Inseln, zerstreut
liegen. Auf diesen wohnen die Indianer, welche man nur schwer
wird erreichen können.
Vorgeschichtliche Menschenspureu und Alterthümer
in Obercanada. In der anthropologischen Gesellschaft zu Man-
chester legte Herr Plant eine Anzahl von „vorhistorischen Gegen-
ständen" vor, die ihm aus Perytown von Seiten des bekannten
Alterthumsforschers Wilson zugeschickt worden sind. Sie lagen
unter der Dammerde im Walde, der in Ackerland umgewandelt
wurde. Man findet solche Alterthümer nur im Frühjahr, wenn
der Schnee fortgegangen und der Boden aufgelockert ist; es sind
Scherben von Töpfen, Waffen ic. Sehr bemerkenswert!) erscheinen
die Fundstätten. Dieselben kommen vor auf der ebenen Fläche
alter Terrassen oder Uferlinien, die bis zu 600 Fuß über der
Meeresstäche liegen, und zwar rund um die großen eanadi-
schen Seen oder um das Hochland des St. Lorenzbeckeus. Sol-
cher Terrassen findet man drei über einander bis hinab zu der
gegenwärtigen Küstenlinie der «Seen. Die höchste ist auch die
älteste und sie gehört einer weit zurückliegenden Zeit an, in
welcher der Raum, den gegenwärtig die großen Süßwasserseen ein-
nehmen, eine g r o ß e M e e r e s b u ch t bildete, die vermittel st einer brei-
ten Straße mit dem Atlantischen Ocean in Verbindung stand.
Diese gewaltige Bucht war nicht bloß der Einwirkung des von
der Landseite her vordringenden Gletschereises ausgesetzt, son-
deru auch den Eisbergen, welche die Strömung aus Nordosten
herbeitrieb. Die höchste Terrasse ist also, wie aus allen hier in
Betracht kommenden Umständen hervorgeht, so zu sagen oceani-
schen Ursprungs; die Alterthümer, welche man in ihr findet, zeu-
gen dafür, daß die Lebensweise der auf ihr wohnenden Menschen
vollkommen ihren Umgebungen angemessen war. Sie sind Fi-
scher gewesen, welche vom Fleische der vielen Walfische, Walrosse,
Haifische und überhaupt vorzugsweise von Seethieren sich nähr-
ten, außerdem aber auch von Rennthieren und anderen arktischen
Geschöpfen. Seit jener weit zurückliegenden Zeit hat sich (wie
der Bericht annimmt) jene ganze Region an den heutigen Seen
von 600 bis 1000 Fuß über den Ocean erhoben und zwar sehr
allmälig und während eines langen Zeitraumes. Zweimal hat
bei dieser Erhebung eine Pause, eine Ruhezeit stattgefunden, die
hinreichend war, um die zwei unteren Terrassen zu bilden; jetzt
bildet sich nun an der Küstenlinie der Seen eine vierte. Die
Thongeschirre kommen in großer Menge vor und sind von der
rohesten Arbeit; außerdem findet man Pfeilspitzen aus Quarz,
Meißel und Aerte aus „black stone", scharfe zugespitzte Knochen-
splitter, Zähne, die als Bohrer dienten, Nadeln von Knochen und
Pfeifenköpfe mit sechs Zoll langen Stielen. Diese sind ganz
besonders bemerkenswerth; sie kommen nur allein in Nordamerika
vor. Wir haben hier wieder einen Beweis, daß die Menschen
bereits in den allerfrühesten Zeiten, in der Periode, welche un-
mittelbar auf die Gletscherzeit folgt, das Bedürsniß empfanden,
irgend eine narkotische Pflanze zu rauchen. So viel ist bis jetzt
über jene Alterthümer veröffentlicht worden; näher eingehende
Mittheilungen werden wohl nicht ausbleiben.
Vorgeschichtliche Bauwerke auf der Inselgruppe von
Santorin. Der Pariser Gelehrte Fouqus, welcher dort die vul-
kanischen Erscheinungen beobachtet, hat auch die uralten Bau-
werke auf der Insel Therasia untersucht. Sie sind, ihm zufolge,
viel älter als die Tuffablagerung über ihnen; es müssen also
hier Menschen gelebt haben, bevor die Bai von San-
torin sich bildete. Fouqus hat zwei ähnliche Gebäude aus
Santorin selbst, bei Akrotiri, aufgefunden. Auch sie unterscheiden
sich wesentlich von denen der griechischen Zeit, sind aus unbe-
hauenen Steinblöcken, verbunden mit Holzbalken aufgeführt, ohne
Mörtel und mit einem Ueberzug von gekneteter vulkanischer Asche
beworfen.
Erdtheilen.
Feuersteinwerkzeuge in einer Höhle bei Aix in der
Provence. Ein Herr Marion hat eine Höhle untersucht, welche
in der Nähe von Air in der sogenannten Colline des Pauvres
liegt und durch die Unregelmäßigkeit der Gesteinslagen gebildet
wird. Er fand in derselben eine große Menge von Feuerstein-
geräthen aller Art und ist zu der Ansicht gelangt, daß jene Höhle
während des Steinzeitalters eine Art von Stelldichein gewesen
sei, wo die Leute sich versammelten, um das von ihnen erlegte
Wild zu kochen. Darauf deuten sehr viele Stellen hin, an wel-
chen Feuer gebrannt hat.
Anpflanzung der Fieberrinde iu Australien. Einer
unserer deutschen Landsleute, Dr. Müller, ein um die Natur-
Wissenschaften vielfach verdienter Gelehrter, ist in Melbourne Di-
rector des botanischen Gartens und „governments naturalist";
ähnlich wie Ferdinand Appun, ein sehr gediegener und unter-
nehmender junger Naturforscher im Demerara. Dr. Müller hat
nun in der australischen Eolonie Victoria nicht nur den Anbau
des Ingwers und der Arrowroot versucht, sondern auch jenen der
Chinchona, peruanischen Fieberrinde, welche bekanntlich auch
nach Indien durch Clements Markham verpflanzt worden ist und
am Himalaya wie in den Nilgherries vortrefflich gedeiht. Mül-
ler's Versuche im Kleinen scheinen gelungen zu sein; die Eolo-
nialregierung wird die Gelder zur Anlage größerer Pflanzungen
im Berglande bewilligen.
Gold im französischen Guyana. Seit dieser Besitzung
von auswärts wieder einige Arbeitskräfte zugeführt worden sind,
hat sich der Anbau des Zuckerrohres und der Rumsabrikation
wieder etwas gehoben, dagegen will es mit der Viehzucht nicht
recht vorwärts. Das Golvgraben zieht viele Leute ins Innere,
und das edle Metall scheint über ganz Guyana verbreitet zu
sein. Man gräbt es an den Flüssen Aprouage, La Comtä und
Orapu, sodann auch mit günstigem Erfolge im Thale von Sina-
mary und am Oyapok. Von Aprouage sind 1866 schon 65,414
Grammes Gold nach Cayenne gekommen.
Gold in Canada. Einem Berichte zufolge, welchen die
„Newyork Tribüne" aus Belleville mittheilt, hätte Obercanada
nun fein „Klein Ealifornien" im Bezirke Madoc, Hastmgs
County, in der Nahe der Eisengruben von Marnora. Erfahrene
Goldgräber, die in Ealifornien und Nevada Erfahrungen gemacht
haben, verkündeten laut, daß sie noch nie Diggings gesehen hätten
wo Gold in solcher Menge vorhanden sei, wie in Madoc, und
zwar von einer Feinheit, die sich mit jener des australischen messen
könne. Die Ergiebigkeit neuer Fundstätten wird insgemein sehr
übertrieben und man wird abwarten müssen, wie es sich mit je-
nem Madoc verhält; gewiß ist, daß die Gegend reich ist an Quarz
Kupfer, Eisen, Blei, Marmor und Schiefer.
Steinkohlen in Chile. Das Land ist reich an Kohlen;
man bemüht sich, die Lager zu erschließen uud neue aufzusuchen.
Im Auftrage der Regierung hat Professor Larroque von der
Universität Santiago eine wissenschaftliche Reise nach den Süd-
Provinzen Arauco, Valdivia und Chiloe unternommen, wo jüngst
eine ganze Anzahl von Kohlenlagern entdeckt worden ist. Diese
sollen nun genauer untersucht werden.
Der Walsischfang wird jetzt theilweise nach einer neuen
Methode betrieben, die wesentlich dazu beitragen wird, die Zahl
dieser Riesenthiere noch mehr zu vermindern, als in Folge der
bisherigen Art des Fanges ohnehin schon der Fall gewesen ist.
Ein Chemiker Thiercetin liefert ein Gift, das aus Strychnin und
Curare, also aus zweien der heftigsten Gifte besteht, und das er
in Patronen einführt. Solch eine Patrone enthält eine Unze
Gift und der durch sie verwundete Walfisch muß unfehlbar rasch
sterben. _ Ein Walfischjäger hatte 1866 auf seinen Fangreisen
zehn Thiere angeschossen, alle starben 4 bis 18 Minuten nachdem
sie die Wunde erhalten hatten.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
% IN o Ii c r Ii A INazo n a s.
ii i.
Charakter des Lebens am obern Amazonas. — Wirkung der Berührungen zwischen Europäern und Indianern. — Hinwegsterben der
letzteren; Erlöschung der Stämme. — Der Rio Napo und die Orejones oder Langohrigen. — Die Mission Pebas und ihre Geschichte. —
Ein Erde fressendes Mädchen; Verbreitung der Geophagie. — Mythologie der Orejones. — Eine gefährliche Wanderung nach der Mission
San Jose. — Vergebliche Bemühungen, die Wilden zu bekehren. — Die Uahuas. — Ju Santa Maria. — Die weißen, blauen und
schwarzen Flüsse im Gebiete des Amazoiienstroms.
Wir hoffen, es werde unseren Lesern angenehm sein,
wenn wir die Schilderungen aus der Region des obern
Amazonas fortsetzen. Dieser „Niese der Ströme" ist wieder
auf die Tagesordnung gekommen, seitdem der Naturforscher
Agassiz ihn neuerdings erforscht und die brasilianische Re-
giernng ihn für den Schifffahrtsverkehr aller Völker eröffnet
erklärt hat. Ohne alle Frage wird frifches Leben in diefe
bisher vernachlässigten Regionen eindringen, und schon des-
halb erscheint es von Interesse, zu erfahren, wie die gegen-
wärtigen Zustände sind. Es ist dort Alles noch in den Uran-
fangen; man findet kaum erst einige Keime und Ausätze zu
einer Cultureutwickeluug, das ganze, an Naturerzeugnissen
überschwenglich reiche Land ist so zu sagen uoch uuaugebro-
cheu. Hier und da, allemal in weiter Entfernung von ein-
ander, liegen armselige Dörfer, die Zahl der Weißen und
der Mischlinge ist äußerst gering, auch ist keiner der Hun-
derte von Jndianerstämmen zahlreich. Alles ist vereinzelt,
zerklüftet, ohne Zusammenhang. Diese Ureingeborenen wer-
den schwerlich lange au- und ansdauern können, sobald die
Civilisation mit ihren guten und schlimmen Seiten in diese
Waldeinöden vordringt; es kann nicht fehlen, daß sich diesel-
ben Erscheinungen wiederholen, welche der Contact zwischen
den Europäern und den Wilden anderwärts hervorruft.
Wir haben neulich („Globus" XI, S. 214) nachgewie-
sen, wie derselbe auf die Indianer der Vaueouveriusel ge-
wirkt hat. Für eine ähnliche Erscheinung am Amazonen-
ströme wollen wir heute auf den trefflichen Naturforscher H.
W. Bates verweisen (The Naturalist on the river Ama-
zons, London 1864). Er verweilte längere Zeit in Ega,
das am rechten Stromufer unterhalb der Mündung des Rio
Teff« liegt. In jener Ortschaft besteht die Dienerschaft der
Bewohner aus indianischen Kindern, die von den Nebenflüs-
sen des großen Stromes, namentlich vom Japnra und J?a
(Jssa, d. h. dem Putmnayo) geholt werden. Man kauft sie
von den Häuptlingen, obwohl die brafilianifche Regierung
einen derartigen Handel verboten hat; die Behörden' dulden
ihn aber, weil es sonst rein unmöglich wäre, sich Dienstboten
zu verschaffen. Bates (S. 312) sah in Ega dergleichen von
nicht weniger als fechszehn verschiedenen Stämmen. So-
bald sie erwachsen sind, bekommen sie ihre Freiheit, bleiben
aber nicht am Orte, sondern ziehen das unstäte Leben der
Rnderknechte vor.
Der Naturforscher stellt folgende Betrachtungen an: „In
Ega findet unter diesen eingefangenen Kindern eine große
Sterblichkeit statt. Es ist ein bemerkenswertherUmstand,
daß die Indianer vom Japnra nlld anderen Nebenflüssen
Globus xi. Nr. 10.
des Solimoens (so heißt der Amazonas in seinem obern Laufe
bis zur Mündung des Rio Negro) allemal krank wer-
den, fobald sie auf dem Solimoens Herabkommen, während
dasselbe auch mit den Anwohnern des letztern stattfindet, so-
bald sie jene Nebenflüsse hinauffahren; sie bekommen int er-
mittirende Fieber, die sich verlieren, wenn sie wieder in
Ega zurück siltd. Die beiden Jndianerstämme bei Ega sind
die Juris und die Passes, aber beide sind schon fast
ausgestorben und es existiren von ihnen nur noch einige
wenige Familien an den Nebengewässern des Tesse und des
Jutahi. Die Hauptursache dieses Hinwegsterbens
scheint in einer Krankheit zu liegen, die allemal
unter ihnen erscheint, wenn ein Dorf von Leuten
besucht wird, die aus den civilisirten Niederlassnn-
gen kommen. Es stellt sich ein schleichendes Fieber
ein, mit allen Anzeichen einer gewöhnlichen Erkäl-
tuug (defluxo) und dann folgt Auszehrung. Die
Krankheit stellt sich auch dann ein, wenn jene, die
zum Besuche kamen, völlig gesund waren. Die
bloße Berührung mit civilisirten Menschen ist in
irgend einer mysteriösen Weise hinreichend, die
Krankheit hervorzurufen. Bei den Juris und Passes
hat sie allgemein den Tod zur Folge, und wenn ein Nachen
sich denl Dorfe nähert, ist die erste Frage der armen Jndia-
ner: Bringt Ihr Defluxo?"
Das Erlöschen der Steinum wird außerdem dadurch be-
fördert, daß die Wilden in der Amazonasregion immer nur
wenige Kiuder haben; vier sind für eine Familie schon eine
Seltenheit. Insgemein glaubt man (und das ist auch eine
von den irrigen Annahmen, welche durch die Anthropologie
zu beseitigen sind), daß die Bewohner heißer Gegenden das
heiße Klima überall gleich gnt vertragen. Dagegen sagt
Bates, der als Naturforscher länger als zehn Jahre scharf
beobachtete: „Wer eine geraume Zeit unter den Indianern
am obern Amazonas gelebt hat, findet leicht heraus, wie nach-
theilig die Hitze auf sie wirkt. Ohne Frage widerstehen
Europäer der hohen Temperatur besser als die Ureingebore-
nen. Ich meinerseits konnte Sonne und ungewöhnlich starke
Hitze mindestens so gut wie eiu Indianer ertragen, obwohl
ich als Nordländer für eiu heißes Klima nicht geschaffen bin.
Die Hant der Indianer fühlt sich stets heiß an und sie ha-
ben nur wenig Schweiß. Kein indianischer Bewohner von
Ega kann dazu vermocht werden, manche Tage ohne Unter-
brechung im Orte zu verweilen; er fühlt dort die Einwir-
knng der Hitze mehr als im Walde oder anf dem Flusse.
Sobald der Indianer irgend kann, sucht er den schattigen
37
Am obern Amazonas.
291
Wald auf. Bei schönem, trockenem Wetter ist er unruhig
und mißvergnügt, aber an kühlen Tagen, wenn der dicke
Regen auf und über seinen nackten Leib hinabströmt, wird
er heiter. Er ist Leberkrankheiten, Dysenterien und anderen
Krankheiten der heißen Klimate unterworfen, und sobald eine
Seuche ausbricht, leidet er mehr und unterliegt ihr schneller
als der Neger oder selbst der Weiße. Wie ganz anders ist
das Alles beim Neger, dem echten Kinde tropischer Klimate.
Mir hat sich allmälig mehr und mehr die Ueberzeuguug auf-
gedrängt, daß dieser Indianer hier in diesen heißen Gegenden
ein Fremdling oder ein Einwanderer sei, und daß sich seine
ganze Beschaffenheit dem Klima nicht hat anpassen wollen."
Durch diese Bemerkungen des englischen Naturforschers
erklären sich wohl auch manche Erscheinungen, welche Paul
Marcoy beobachtete. Wir haben diesen Reisenden, wie un-
sere Leser sich erinnern, zu Jquitos, zwischen Nauta und
der brasilianischen Grenze, verlassen und wollen ihn nun auf
einigen seiner folgenden Ausflüge begleiten. Die in jener
Ortschaft wohnenden Jqnitosindianer sind mit Omagnas, Co-
camas und Ticnnas gemischt. Doch leben einige Wegstunden
von dort, am Nanay und am Tigre, noch einige unvermischte
und ungetanste Leute des Stam-
mes, denen man Menschenfresse-
rei zum Vorwurfe macht. Des-
semmgeachtet stehen ihre christli-
chen Landsleute mit ihnen auf
recht gutem Fuße; beide Theile
besuchen sich und zechen mit ein-
ander. Der Heide ist sehr glück-
lich, wenn er gegen Sassaparille,
die in seinen Wäldern wächst,
Beinkleid und Hemd von Baum-
wolle eintauschen kann; diese
trägt er mit unverkennbarem
Stolz, aber nur fetten. Insge-
mein geht er durchaus unbeklei-
det, bestreicht seinen Körper mit
Rocou (Orleausroth) und bin-
det ein Stück Baumbast vor die
Stirn. Als Waffe führt er eine
Lanze, deren Spitze er vergiftet.
Die Hangmatten der Jquitos
sutd sehr hübsch uud macheu der
Geschicklichkeit der Frauen alle
Ehre. Den Stoff liefern die
Blätter der Chambirapalme, und das gauze Handwerks-
geräth besteht in vier spitzeu Dornen einer Mimose. Die
einzelnen Fäden werden verschieden gefärbt. Diese Hang-
matten sind weit und breit, bis nach Para hin, gesucht und
werden mit schwarzenKügelchen und Porzellanperlen be-
zahlt, welche in den Missionen statt des Geldes circnliren.
Aus diesen Perlen bereiten dann die Frauen einen kleinen
Schurz, etwa von der Größe eines Weinblattes, und dieser
bildet, außer einigem Schmuck, der aus Tukanfedern besteht,
ihre alleinige Bekleidung.
Sieben spanische Meilen unterhalb Jqnitos, gleichfalls
am linken Ufer, liegt die Ortschaft Pncallpa, d. h. rothe
Erde (von puca, roth, und ualpa, Boden, Erde); von den
Omaguas wird der Ort Tuyuca puetani genannt, was genau
dasselbe bedeutet. Dort Hausen Mayornnas, derenStamm-
genossen zum größern Theil am rechten Ufer wohnen, und
Orejones, deren Sitze eigentlich am Rio Napo sind. Von
den achtzehn Hütten, ans welchen der Ort besteht, haben sie
acht inne, die übrigen werden von Mayornnas bewohnt. Als
Marcoy sich dort befand, war man seit fünf Jahren mit dem
Bau einer Kirche beschäftigt, die doch nur aus einer großen
Ohr eines Orejon-Ccoto.
Hütte bestehen sollte. Zwei Leguas weiter abwärts mündet
der Rio Napo.
- Dieser Zufluß des Amazonas entspringt am Abhänge
des berühmten Bnlcans Cotopaxi in Ecuador und nimmt
viele beträchtliche Gewässer auf, z. B. den Azuela oder
Aguarico, deu Coca und den Curaray, welche allesammt
Gold führen.
An diesem Rio Napo glanbten die Spanier das berühmte
Goldland, El Dorado, finden zn können. Im Jahre 1539
fuhr der Spanier Francisco Orellana den Fluß hinab, um
die sabelhaste Stadt Manoa, das Dorado, dm Parime-See
und die vermeintlichen von Gold starrenden Königreiche Enim
und Paititi aufzusuchen. Einhundert Jahre später, 1637,
sollten die Grenzen zwifcheu den Besitzungen der Spanier
und Portugiesen bestimmt werden. Zu diesem Zwecke fuhr
der Portugiese Pedro Texeira den Napo hinauf, ging dann
nach Quito und bestimmte ans der Rückreise das rechte Ufer
des Aguarico als Grenze. Dagegen wollten die Spanier
das Gebiet Perus am Amazonenstrome bis nach Ega hinab
ausdehnen uud rissen die portugiesischen Grenzpfähle nieder.
Die Indianer am Rapo gehören zum Orejona-Volke,
das sich iu drei Stämme theilt:
die eigentlichen Orejones, die
Ccotos und die Auguteros.
Seit etwa einem halben Jahr-
hundert sind die ersteren als
Mansos, d. h. zahme Leute, in
die Dörfer am Amazonas ge-
kommen und tragen, wie es sich
für Christen gebührt, nun Hemd
und Hosen. Die Ccotos wohnen
nach dem Innern zu am rechten
Ufer des Napo, die Anguteros
ain linken. Die Leute behaup-
ten, daß jene beiden Stämme
Diobe, Mörder und Menschen-
fresser seien. Sie wagen sich,
so lange es Tag ist, nicht an
den Napo, weil sie sich vor den
Sass aparillehändlern fürchten,
welche diesen Barbaren sofort
Kugeln zuschicken. Aber bei
Nacht sind sie auf den Beinen
und wehe dem, welchen sie über-
raschen! Sie rennen ihm sofort
ihre Lanze in den Leib und fressen ihn nachher auf. Das
letztere wird wenigstens von den zahmen Indianern versichert.
Der Name Ccoto kommt daher, daß diese Indianer den Ruf
oder Schrei der Ccoto, d. h. des Brüllaffen, nachahmen,
um den Jäger tiefer in den Wald zu locken.
Alle drei Orejonastämme sind hoch und kräftig gewachsen;
das Gesicht erscheint beinahe viereckig, die kleinen Augen stehen
etwas schräg, die Nase ist an der Wurzel breit, der Mund
mit den etwas aufgeworfenen Lippen sehr groß. Das Haar
wird langherabhängend getragen; in den Nasenflügeln ist ein
Stück Palmenholz etwa von der Dicke eines Federkiels ange-
bracht, an dessen beiden Enden sie eine Muschel befestigen.
Am meisten fallen die Ohren anf, deren künstlich verlänger-
ter Lappen bis auf die Schulter herabhängt und einem un-
förmlichen Fleischklumpen gleicht. Die Ccotos und Angn-
teros durchbohren das Läppchen, vergrößern das Loch allmä-
lig und stecken Holzpflöcke von einer Cecropia hinein, die
manchmal eine kolossale Größe haben. Die Orejones ver-
längern die Ohren gleichfalls, befestigen aber keinen Schmuck
in denselben. Die beifolgenden Illustrationen sind von Mar-
coy an Ort und Stelle gezeichnet worden.
37*
292 Am obern
Bekannt ist, d.aß auch die ersten peruanischen Jnkas von
Manco Eapac bis Mayta Capac sich die Ohren verlänger-
ten. Dieser Brauch war ihnen ohye Zweifel von ihren
Vorfahren überkommen, von denen wir aber nichts wissen.
Nach dem vierten Inka ließen die Kaiser diesen Brauch für
ihre Person fallen, er ging dann über aus die Caracas
oder Kaziken, welche die Leibgarde der Sonnensöhne bildeten.
Daher der Beiname derOrejones oder Langohrigen, mit wel-
chem die spanischen Eroberer den peruanischen Adel belegten.
Die Ccotos und die Anguteros stehen in gutem Einver-
nehmen und besuchen einander; über den Napo fahren sie in
großen Flößen, welche sie aus dem porösen Holze der Ce-
cropia bereiten. Ihre Kahne verfertigen sie aus dem Stamme
der Tarapotepalme (Acrocomia); sie spalten denselben der
Länge nach, nehmen Mark und Fasern heraus und das Schiff
ist fertig. Ihre Waffen sind Kenle, Blasrohr und Lanze.
Unweit vom User des Napo liegt Bellavista, ein Wei-
ler, der aus fünf Hütten besteht. Dort traf Marcoy fünf
Ccotos, drei Männer und zwei Frauen, welche Hängmatten
gebracht hatten, um dafür Messer und Puyas, d.h. Harpunen
Missionsdorf PevaS
ist kennzeichnend für die Verhältnisse uud für die Nesultat-
losigkeit der Bemühungen, den Waldindianern Civilisation
beizubringen. Die Mission lag anfangs an der Mündung
des Rio Ambiacn, der einen aus dem Napo abfließenden
Canal bildet. Dort bestand fie 103 Jahre lang. Aber
1788 ermordeten die christlichen Indianer denVor-
st eh er der Mission, verließen das Dorf, welches
dann in Trümmer zerfiel, und streiften wieder in
den Wäldern umher.
Andere Mifsionaire brachten abermals einige Indianer
zusammen und bauten ein neues Dorf östlich von dem vori-
gen. Etliche jener Mörder vom Stamme der Pehuas sau-
den sich wieder ein; dazu kamen dann einige Catahuichi,
Orejones, Jahnas, Ticuuas und Iuris. Das neue Dorf
hatte einen Bestand von 23 Jahren; dann zogen alle Neu-
christen wieder in den düstern Wald, aber diesmal ohne einen
Missionair ermordet zn haben. Darauf kamen einige Zeit
nachher Franziskanermönche und gründeten das dritte Dorf
an der gegenwärtigen Stelle von Pevas. Sie schafften In-
dianer von verschiedenen Stämmen dorthin, Leute, die in an-
Amazonas.
zum Fange der Schildkröten, einzutauschen. „Ich konnte
mich in aller Muße an ihrer monströsen Häßlichkeit erfreuen;
der eine Mann hatte einen ungeheuer breiten Mund und
fein kolossaler Ohrlappen war ihm in irgend einem Gemenge
auseinander gerissen worden. Die Fleischzotteln bummelten
dem braunen Inhaber am Halse herum, wenn ihm das aber
lästig wurde, dann knüpfte er sie (wie die Abbildung zeigt)
zusammen und sie bildeten dann eine Art von Rosette."
Von der Mündung des Napo fuhr Marcoy stromab nach
der Miffion Pevas (oder Pebas), wo er Abends anlangte
nnd an die Klosterthür pochte. Ein Indianer öffnete. In
einem großen Gemache, das einer Höhle glich, saßen zwei
Männer im Hemd und mit rother Mütze, die auf ein Haar
catalonifchen Schleichhändlern glichen. Der Klostersaal war
ein großes Waarenmagazin, das mit allerlei Handelsartikeln
reichlich versehen war; jene beiden Männer stellten sich als
Laienbrüder vor.
Diese Mission ist 1685 von Jesuiten aus Quito bei den
Pehuas-Judiauern gegründet worden, welche in dieser
Gegend wohnten. Der Wechsel, welchen die Mission erfuhr,
Amazonenstrom.
deren Missionen schon für bekehrt galten. Die Pehuas
waren durch eine Seuche hinweggerafft worden;
die Catahuichis hatten fich weit weg am Juruaslusse Hütten
gebaut und wollten nicht wiederkommen. So fanden sich
nur Bastarde von Pehuas, Orejones, Iahuas und Ticnnas
ein. Nachdem die neue Mission ein halbes Jahrhundert alt
ist, zählt sie nun in 23 Hütten 45 Familien, zusammen 270
Köpfe.
Die Laienbrüder waren junge, sehr aufgeweckte Leute.
Ihr apostolisches Waarenmagazin strotzte von Sassaparille,
Lamantinöl, ^gesalzenen Fischen, Kattnn, Beilen, Messern
und allerlei ^tand. Auch Blasröhre und Töpse mit Pseil-
gist fehlten nicht. Der geistliche Vorsteher war in den Wäl-
dern zum Besuche bei den Jahnas, und die Laienbrüder hat-
ten so vollauf mit dem Handelsgeschäft zu thun, daß sie sich
um die geistliche Pflege ihrer braunen Herde nicht viel küm-
Merten.
Am folgenden Tage führten sie den Reisenden in eine
Hütte, in welcher eine interessante Erscheinung zu beobachten
war, ein Mädchen von etwa fünf Jahren, das eine leiden-
Am obern Amazonas.
293
schaftliche Geophagiu war. Das kleine Monstrum hatte
einen unwiderstehlichen Hang, Erde zn fressen, und zwar eine
Hand voll nach der andern. Man hatte ihr deshalb die
Hände auf dem Rückeu zusammengebunden. Die Laienbrü-
der hoben sie auf einen Tisch, auf welchen! sie, so wie unsere
Abbildung zeigt, mit untergeschlagenen Knien und fast nnbe-
weglich saß. Man mußte sie stets überwachen, denn sobald
man sie allein ließ, rutschte sie auf den Knien bis an den
Rand des Tisches, ließ sich hinabfallen und leckte dann die
Erde mit einer unbeschreiblichen Gier. Die Haut war gelb
und wie Pergament, die Arme und Beine waren völlig ab-
gemagert und der Bauch entsetzlich aufgetrieben. Das be-
danernswerthe Wesen, über welchem sich bald das Grab
schließen mußte, glich einem indischen Götzenbilde*).
Am rechten Ufer der Ambiacamündung liegt, einige Büch-
senschnß vom Amazonas entfernt, das Dorf Orejon. Es
besteht aus neun armseligen, runden Hütten. Alle Bewoh-
ner, bis auf eine aus vier Köpfen bestehende Familie, waren
in die Wälder gezogen, um Sassaparille zu sammeln. Jene
Familie verstand das Qnichua, welches durch die Missio-
uaire an manchen Punkten gleichsam uaturalisirt worden ist,
aber jene vier Leute wollten nur iu ihrer Stammessprache
antworten und benahmen sich überhaupt sehr lauernd und
mißtrauisch. DieOrejoues zählen bis zu vier. Nayhay 1;
nenacome* 2; feninichacome 3; ononocomere 4; für die
übrigen Zahlwörter haben sie Ausdrücke aus der Quichua-
spräche. Die Seele, so glauben sie, stirbt mit dem Men-
schen, erscheint aber nach einiger Zeit in der Gestalt des wei-
ßen Urnbngeiers (Yultur papa). Es giebt ein Wesen, wel-
ches die Dinge geschaffen hat, Omasoronga; ein anderes,
Jqneydema, welches dieselben erhält, und einen beseelenden
Geist, Pnynayama. Auch haben sie eine Sage von einer
großen Flnth; ihre Vorsahren hatten sich, als dieselbe herein-
brach, iu eiue große Kiste eingeschlossen und blieben mit die-
ser im Boden vergraben, bis das Wasser abgelaufen war.
Ob das eine ursprüngliche Vorstellung ist, oder ob derselben
die von den Missionairen erzählte Sage von der Arche Noäh
zu Grunde liegt, mag unentschieden bleiben. Sicher ist, daß
die Franziskaner trotz aller Bemühungen mit ihrem langjäh-
rigen Bekehrungswerke auch hier gescheitert sind. Einmal
Jpf
Ein Geophage in der Mission San Jos«.
haben diese wilden Orejones einen ehrwürdigen Pater todt-
geschlagen, ihn aufgefressen und aus seinen Beinknochen Flö-
ten verfertigt.
*) Das Erdefressen kommt auch an anderen Punkten der Ama-
zonasregion vor. Bates (The naturalist cm the river Amazons,
p. 314) beobachtete in Ega einen zwölfjährigen Geophagen. Der
Knabe hatte die dunkle Farbe eines Casuso (— wie der Mischling
von Indianer und Neger in Brasilien genannt wird, während man
ihn in den spanischen Republiken alsZambo bezeichnet—). Er war
am Japura von einem Handelsmanne gekauft worden und gehörte
einem völlig wilden Stamme an. Seine Gesichtsbildung war ziem-
lich regelmäßig und oval, aber sein glänzendes schwarzes Auge Hatte
einen durchaus mißtrauische» Ausdruck und glich dem eines wilden
Raubthieres. Hände und Füße waren klein und sehr hübsch geformt.
Er bekam das Wechselfieber, Leber und Milz waren ungemein stark
angeschwollen, und es hielt schwer, ihn zu curiren, da er einen
unbesiegbaren Hang hatte, Erde, Lehmsteine. Pech,
Wachs und ähnliche Substanzen zu verschlingen. „Diesen
abnormen Hang sindet man bei sehr vielen Kindern am Ama-
zonas, und zwar nicht allein bei Indianern, sondern auch bei Negern
und Weißen. Die Geophagie ist also nicht auf die von Humboldt ge-
schilderten Otomaken am Orinoco beschränkt und nicht auf Menschen
indianischer Abkunft allein. Ein Hauptgrund scheint in der magern Kost
zu liegen, die aus Fisch, wilden Beeren und Maniokmehl besteht."
VonPevas begab sich Marcoy landein nach der Mission
San Jos«. Die Wanderung war ungemein beschwerlich,
denn sie ging durch den dichten, pfadlosen Urwald, in wel-
chem vom Morgen bis zum Mittag nicht weniger als elf
Bäche zu durchwaten waren. Der Führer, ein Yahua-Ju-
dianer, hatte erklärt, der Weg sei nicht weit, und der Rei-
sende war so unvorsichtig gewesen, sich nicht genügend mit
Lebensmitteln zu versehen. Er war froh, daß er etwas Coca
kauen konnte, die von den Aahuas gebaut und Jpadn ge-
nannt wird. Gegen Sonnenuntergang hatte er fchon neun-
zehn Bäche durchwatet. Jetzt brach die Nacht herein, es
war sehr dunkel, und um den Führer nicht zu verlieren, band
dieser sich eine lange Liane um, deren anderes Ende Marcoy
hielt. Es war sehr unheimlich in jenem Urwalde, besonders
als die wilden Thiere angefangen hatten, sich bemerkbar zu
machen. Die Indianer machen sich daraus nichts, und wenn
man sie fragt, was ein eigeuthümliches Geräusch bedeute, das
man eben hört, antworten sie: „Es ist weiter nichts; der
Puma (der ungemähnte amerikanische Löwe) schnarcht."
Bedenklich war die Wanderung immerhin. Dann und
wann raschelte es im Gesträuch und gleich nachher plumpte
294
Am obern Amazonas.
eine schwere Masse in den Fluß, ein Kaiman, der sich ins
nasse Element begab. Der Geruch im Walde war betau-
bend und griff die Nerven an. Der Kaiman haucht einen
Dunst aus, der stark mit Moschus geschwängert ist; die
Bäume, welche zur Familie Cerdana gehören, verbreiten einen
scharfen Knoblauchsduft, und wer hungrig, mit leerem Ma-
gen auf einem nächtlichen Streiszuge begriffen ist, fühlt sich
doppelt unwohl.
Nun ging der Mond anf und bald nachher fand man
eine Art von Pfad, der zu einer Lichtung führte. Dort lageu
verkohltes Holz und einige unbehauene Bäume umher, und
man sah schwarze Maulwurfshügel, die aber ein Dutzend
Fuß hoch waren. „Hier sind die Wohnungen der Neubekehrten;
das ist die Mission San Jose." So sprach derHahuasührer,
als er an eine Hütte pochte. Von innen heraus wurde ge-
antwortet, die Thür ging auf und ein Mann in geistlichem
Gewände trat mit einem Licht heraus. Der Empsang mar
freundlich. Als Marcoy eingetreten war und sich setzen wollte,
verdüsterte sich sein Blick, die Ohren fingen zu brausen an,
die Knie wankten und er sank ohnmächtig und bewußtlos zu
Boden. Das lange Fasten und hie scharfen Gerüche im
Wälde waren also nicht ohne Folgen gewesen. Der biedere
Missionair hatte aber zur Sättigung oder Erquickung des
Reisenden weiter nichts in der Hütte, als einige Ananas,
welche der Reisende gierig verschlang. Dann schlief er ein,
als er aber am andern Morgen erwachte, hatte der gute Pa-
ter fchou ein Mahl bereitet, das aus einem gebratenen Hokko,
gebackenen Bananen und in der Afche gebackenem Maniok
bestand.
Der Missionair war ans Chachapoyas, dem Bischofssitz
' Richon
Orejoms - Indianer in der Quebrada de Ambiacu.
in der peruanischen Provinz Maynas, ein kleiner Mann,
nervös, mager, ohne Bart, mit vorstehenden Backenknochen
und einer Adlernase und schwarzblauem Haar. Der Qui-
chuatypus war uicht zu verkennen; auch redete er das Quichua
geläufig und rein. Er mochte zwischen 36 und 40 Jahre
alt sein, war gntmüthig, von sanftem aber ungleichem Tem-
perament, in seinen Ideen hartnäckig, und feine Intelligenz
reichte eben aus, nm die vulgaire Seite der Dinge aufzu-
fassen. Er war, gleich den meisten Geistlichen in Peru, äußerst
dürftig unterrichtet; das Leben im Walde gesiel ihm; er sang
seinem Schöpfer Loblieder und bemühte sich, feinen Neben-
menschen nützlich zu sein. Diese bestanden in einer kleinen
Herde Aahuas, die früher in der Mission Santa Maria ge-
wohnt hatten; sie lag etwa zwölf Meilen weiter landein, war
aber ausgegeben worden, weil man die Entfernung von der
Centralstation Pebas zu groß fand.
Eifrig waren die Neubekehrten anf keinen Fall, denn
binnen Jahresfrist hatten sie von der zukünftigen Kirche nur
die vier Wände und das ans Blättern bestehende Dach zu
Stande gebracht; Sakristei, Kloster, Häuser warteten noch
auf den Bau und die Jahnas wohnten bis auf Weiteres in
den oben erwähnten Maulwurfshügeln. Unser Bild zeigt,
wie es in einer derselben und wohl auch mehr oder weniger
in den übrigen aussah. Marcoy trat ein und sah eine Scene,
die ihn menschlich rührte. Ein Jahna von etwa 30 Jahren
wiegte sich in einer Hangmatte mit einer Sicherheit nnd Un-
gezwungenheit, wie man sie nur beim Indianer findet, der
auf solch einem schwebenden Lager zur Welt kommt, schläft
Am obern
und auch stirbt. Der Bater spielte mit seinem jüngsten
Kinde, einem für einen Indianer allerliebste!: Knaben, der
rund, voll und wohlgenährt war und laut lachte, wenn er
in die Höhe gehoben wurde. Unter der Hangmatte saß die
Mutter, eine recht hübsche, fast unbekleidete Frau; sie war
bekannt dafür, daß sie aus deu Fasern der Chambirapalme
sehr schöne Hangmatten verfertigte. Beide, Mann wie Weib,
waren prachtvoll gewachsen, und jener hätte zu einem Gla-
diator, diese zu einer Niobe Modell stehen können. Dem
guten Pater Rosas verursachte es eine ungemeine Freude,
daß der Europäer von diesen braunen Neuchristen eine Skizze
entwarf und obendrein versprach, dieselbe drucken zu lassen.
Er sprach: „Ich habe wohl gehört, daß man in der alten
Welt sich viel um die Generäle Bolivar und Santa Cruz
bekümmert hat, die doch nur Zambos waren und krauses
Amazonas. 295
. Haar hatten; weshalb sollte man sich nicht auch für meine
Pahnas iuteressiren, die doch reinblütige, nnvermischte In-
dianer sind."
Die Jahnas scheerat das Haar des fast kugelrunden Ko-
pfes sehr kurz, und dadurch gewinnt der Ausdruck ihres Ge-
sichts etwas Naives, das gegen den finstern Ausdruck der
Physiognomie, welchen man bei vielen anderen Stämmen
findet, sehr Vortheilhaft absticht; auch ist ihreHaüt heller als
bei allen übrigen Indianern, welche der Reisende bis dahin
gesehen hatte. Manche erinnern an das Gesicht einer ägypti-
schen Sphinx. Sie bemalen sich nicht schwarz mit Geui-
pahu, sondern reiben sich vom Kopfe bis zum Fuße mit
Achiote (d. h. Rocou, Orleansroth) ein. So sehen sie aus
wie gekochte Hummer und natürlich, von nnserm Standpunkt
aus, sehr originell.
SiK
Im Urwalde; von i)
Es lag dem Reifenden daran, die oberwähnte Mission
Santa Maria zu besuchen, in welcher nur uoch Abtrüu-
nige und Heiden hausten. Er wollte dort nachforschen, ob
cin aus den Karten nicht verzeichneter Fluß sich in den Pn-
tnmayo ergieße, welchen die Brasilianer als Ißa (Iffa),
nach einer fo genannten Affenart, bezeichnen. Der gute Pater-
Rosas begleitete ihn dorthin. Diesmal war er besser daran,
als auf der weiter oben geschilderten Wanderung. Vier In-
dianer bildeten den Vortrab, zwei andere waren mit Lebens-
Mitteln beladen und auch einige Diener fehlten nicht.
Jene dichten Urwälder machen auf das Geiuüth eines
Europäers einen eigentümlichen Eindruck. Anfangs wird
er aufgeweckt sein und eine sehr lebhafte Unterhaltung führen.
Aber nach und nach, wenn er weiter eindringt, empfindet er
bas nach San Jvse.
unwillkürlich und beinahe unbewußt die Einwirkungen, welche
die Waldöde mit ihrer Majestät auf ihn übt; er fühlt sich
überwältigt, in ihm wogt ein Gefühl zwischen Bewunderung
und Schrecken hin und her; er empfindet einen heiligen Schau-
der, und die Zunge wird ihm gleichsam gefesselt. Das gilt
aber nicht bloß vom Europäer; selbst der Indianer, welcher
doch von Jugend an mit dem Walde vertraut ist, verspürt
dm geheimuißvollen Einfluß.
Auch auf dieser Wanderung waren viele Waldbäche zu
passiren, obwohl mit weniger Beschwerde, denn die Indianer
trugen den Pater wie den Europäer auf den Schultern durch
das Wasser. Diese Flüsse werden von keinem Sonnenstrahle
berührt und sind sehr kalt, dabei aber von einer wunderbaren
Klarheit und Durchsichtigkeit.
296 Am obern
Die Reisenden ninßten im Walde übernachten. Der.
Pater ließ ein großes Stück Baumwollenzeug ausspannen,
das zum Schutze gegen den Thau dieute. Dann wurde ein
Feuer angezündet, theils zur Erwärmung, theils um die wil-
den Thiere abzuhalten, und dann hüllte sich Jeder in seine
Decke, um zu schlafen. Als Marcoy am andern Morgen
an den siebenundzwanzigsten Waldbach kam (von Pebas ans
gerechnet), 'fand er eine Lichtung und sah den blauen Him-
Niel und die Sonne wieder. Es war ihm zu Muthe, wie
einem Gefangenen, der freigelassen worden ist. Dieses Was-
ser war aber mehr als ein Waldbach, denn es hatte eine
Breite von etwa 200 Fnß und konnte nicht durchwatet wer-
den. Als man etwas über eine Stuude lang am Ufer hin-
gezogen war, kam man an eine sandige Stelle, auf welcher
einige Hütten standen. Das war die Mission Santa Maria.
Dieser Fluß mit schwarzem Wasser ist der Rio de los
Äjahuas, welcher sich etwa 12 Leguas von hier iu deu Pu-
tumayo ergießt. In der Mission fand man nur einige Greise,
Frauen und Kinder; alle anderen Bewohner waren schon
am Morgen ans die Jagd und den Fischfang gegangen. Es
Amazonas.
standen nur noch zwölf Hütten in bewohnbarem Zustande da;
die übrigen waren eingestürzt, selbst die Kirche war zu einem
Trümmerhaufen geworden, und auf der Stelle, welche einst
ein Altar eingenommen hatte, kräheten Hähne. In einem
so kläglichen Zustande befindet sich diese Mission Santa Ma-
ria, die vou den Jesuiten gegründet und dann von den Fran-
ziskanern weiter fortgeführt wurde.
Bekanntlich haben viele Zuflüsse des Amazonas söge-
nanntes schwarzes Wasser. Mau hat diese Erscheinung
aus sehr verschiedenen Gründen erklären wollen; das Wasser
fließe über Torflager oder durch Steinkohlen oder über An-
thracit, oder es nehme feine Farbe von den vielen Blättern
und überhaupt im Wasser sich zersetzenden vegetabilischen Stos-
fen an. Humboldt schrieb, daß die Mückenplage an den
schwarzen Gewässern nicht vorkomme und daß in diesen we-
der Fische noch Kaimans leben. Die von ihm beobachteten
Flüsse Atabapo, Temi, Tnamini und Gumma seien kaffee-
braun und im Schatten so schwarz wie Tinte, aber in Glas-
gesäßen hätten sie eine schöne goldgelbe Farbe. Marcoy sei-
nerseits bemerkt, daß er zwei schwarze Flüsse ersten Ranges
Mission San Jose.
genau beobachtet habe, deren jeder 1 Legna breit und 300
Leguas lang sei; sodann zwei vom zweiten, els vom dritten
Range, also snnszehn Flüsse und dazu uoch neun flußartige
Seen von 10 bis 12 Leguas im Umfange und außerdem
uoch 37 kleinere Seen; somit stehe ihm wohl ein Urtheil zu.
Auf die Ursachen der dunkeln Färbung geht er nicht ein; die
Temperatur hat er stets auf gleichem Höhestaude mit jenem
der weißen Flüsse gefunden, mit welchen sie sich vereinigen.
Was die Bodenbeschasfenheit anbelangt, so hat er weder Torf-
noch Steinkohlenlager an denselben bemerkt, und dieselbe sehr
wechselnd und mannigfaltig gefunden'; fo z. B. am Jutahy
und Jandiatabu feldspathaltigeu Porphyr, am Japura Kalk-
stein, Saudsteiu am Rio Negro, und in den Seen Sand-
ablagernngen, Oker, Mergel und thonigen Schlamm, welchen
man im Land als Tijnco bezeichnet.
Wenn man, so fährt der Reisende fort, das schwarze Was-
ser in ein durchsichtiges Gesäß thut, dann ist dasselbe nicht,
wie Humboldt behauptet, goldgelb, sondern so vollkommen
klar und sarblos, daß man es für reines Quellwasser halten
könnte; auch giebt es einen vortrefflichen Trunk ohne allen
Bei- oder Nachgeschmack. Sein geheimer Einfluß verscheucht
nicht bloß die Stechmücken, sondern auch alle anderen der-
artigen Insekten. Aber die Lamantins, Delphine uud Fische
mit Schuppen kommen sehr gern aus den weißen Gewässern
in diese schwarzen, klaren Flüsse, eben so giebt es in denselben
Kaimans in Menge, aber Schildkröten gehen allerdings nie
dorthin. Damit sind Humboldt's falsche Angaben berichtigt.
*
Ich will die Angaben Marcoy's durch das vervollstäudi-
geu, was Alfred R. Wallace über die verschiedene Farbe
der Gewässer im Gebiete des Amazonas fagt*). Er theilt
sie in Weiß-, Blau- und Schwarz-Wasserflüsse. DerHaupt-
ström gehört zu den weißen, d. h. er hat eine mattgelb-
liche Olivenfarbe. Diese hängt nicht völlig von ausge-
lösten erdigen Substanzen ab, sondern von irgend einem fär-
) A narrative of travels ou the Amazon and Rio Negro, with
an account of the native tribes etc. London 1853; im achten Ea-
pilel: the physical geography and geology of the Amazon Valley,
Am obem
benden Stoffe, denn in Seen und Jnlets, wo das Wasser
ungestört ist und wo sie alle in ihnen enthaltenen Sedimente
ablagern können, bewahren sie doch dieselbe Farbe. Der Ama-
zonas behält die Olifenfarbe aufwärts bis zur Mündung des
Ucayali; von da ab wird er blau oder durchsichtig und der
Ucayali hat weißes Wasser. — Die Verschiedenheit der Farbe
des Wassers zwischen den blauen und den weißen Flüssen
rührt offenbar von der Beschaffenheit des Landes her, durch
welches sie fließen. Eine felsige und sandige Gegend wird
stets klare Flüsse haben, und Alluvial- oder Thonboden gelbe
oder olivenfarbige. Ein Strom, der in einem felsigen Di-
strict entspringt, wird seine Farbe verändern, sobald er in
eine Alluvialregion kommt.
Der Jßa (Putumayo) und Japura haben ähnliches
Wasser wie der Amazonas. Der Nio Branco (weiße Fluß),
In einer Hütte der Da!
gen, haben blaues oder helles Wasser; so der Tocautlns,
Ringü und Tapajoz. Ich sah die ersten großen Schwarz-
Wasserflüsse zuerst oberhalb des Madeira; der größte unter
ihnen ist der Rio Negro. Er entspringt unter etwa 2°30'
nördl. Br., und dort ist sein Wasser viel dunkler als ün un-
tern Theile seines Laufes. Alle feine oberen Zuflüsse, nament-
lich die kleineren, sind sehr dunkel, und wenn sie über weißen
Sand fließen, geben sie demselben eine Goldfarbe; da wo das
Wasser tief ist, erscheint es geradezu tintenschwarz. Die klei-
nen Gewässer, welche in derselben Region entspringen und
dem Orinoco zufließen, sind gleichfalls dunkel; der Cas-
siqiare ist der erste, welcher dem Rio Negro etwas weißes
oder olivenfarbiges Wasser zuführt; weiter unten ist dasselbe
mit dem Cababuris, dem Marahivä. und einigen kleine-
Globus XI. Nr. 10.
Amazonas. 297
ein Zweig des Rio Negro vom Norden her, zeichnet sich durch
eiue eigentümliche Färbung aus. Die Indianer und die
Handelsleute hatten mir immer gesagt, er sei wirklich weiß,
viel mehr als der Amazonas. Als ich 1852 den Rio Negro
hinabfuhr, kam ich an seiner Mündung vorbei und fand das
Wasser milchfarbig mit Olivengelb gemischt. Es schien, als
ob Kreide aufgelöst worden fei, und ich zweifle nicht, daß an
seinen Ufern beträchtliche Lager reinen weißen Thones vor-
Händen sind, dergleichen in manchen Theilen des Amazonas
vorkommen. Der Madeira uudPnrus haben in der nas-
sen Jahreszeit auch weißes Wasser, weil dann ihre gewaltige
Strömung eine Masse Alluvialboden von den Usern abreißt.
In der trockenen Jahreszeit dagegen sind sie dunkel, trans?
parent olivenbräunlich.
Alle Flüsse, welche in den Gebirgen Brasiliens entsprin-
ren Flüssen der Fall, und weiterhin mündet dann der Rio
Bremco ein. Trotz alledem ist der Rio Negro an seiner
Mündung noch tintenschwarz.
Von Süden her empfängt der Amazonas gleichfalls einige
Flüffe mit schwarzem Wasser: den Coary, Tesso, Junta
und noch einige andere. Sie alle sind von der Moskitoplage
frei, weil man Mücken an den schwarzen Gewässern nur
selten findet.
Die Ursache der Farbe rührt, meiner Ueberzeuguug nach,
von der Auflösung von Blättern, Wurzeln und anderen sich
zersetzenden vegetabilischen Stoffen her. Die meisten dieser
Flüsse entspringen in Urwäldern und sind vielfach mit abge-
sallenen Blättern und todten Baumzweigen förmlich ange-
füllt. Dadurch bekommt das Wasser eine verschiedenartige
38
298 Ludwig Hollaender: Farmleben am Oranjeflusse.
Färbung. Wenn' nun mehrere solcher Bäche einen Fluß wenn sie durch weichen Alluvialthon fließen, durch welchen
bilden, haben sie begreiflicherweise eine tiefbraune Färbung, das Braun überwältigt wird; daraus würde sich wohl erklä-
ähnlich wie das Wasser in unseren Torsmooren, falls nicht ren, weshalb derselbe Fluß in verschiedenen Gegenden ver-
Umstände eintreten, welche modisidrend wirken, wie z. B. schiedenes Wasser hat. A»
Jarmteben am
Schilderungen aus dem Innern der südafrikanis
Abgesehen von allem Poetischen oder Romantischen, regt
Einen eine längere Reise im Ochsenwagen und der damit
Verbundeue Aufenthalt in freier Natur ganz merkwürdig an.
Nachdem man einige Tage unterwegs gewesen, bedarf man
keiner Gewürze, keiner Delieateffen, keiner pikanten Gerichte
mehr, um den Appetit anzuregen; mit Heißhunger verschlingt
man das trockenste Antilopenfleisch, und einige Tropfen Cognac
machen das schlechte Pfützenwasser zum schmackhaften Getränk.
Hat man sich am Tage trotz der entsetzlichen Hitze stets hin-
länglich Bewegung gemacht, ist Man mitunter einer leicht-
füßigen Antilope gefolgt oder hat man sich bemüht, einem
Strauß, deren es leider am Oranjeflusse jetzt nur noch sehr
wenige giebt, auf Schußweite nahezukommen, dann thut eine
solche Reise dasselbe, was bei uns eine Sommerbadekur,
wobei man noch den Vortheil hat, von den strengen Anfor-
dernngen einer Badetoilette nicht belästigt zu werden. Es
mag in der That erstaunenswerth klingen, wenn Livingstone
in seiner Reisebeschreibung erzählt, daß er mit Frau und
Kindern seine Reise bis an den See N'gami im Innern
Südafrikas gemacht hat; für den aber, der wochenlang auf
dem Ochsenwagen gereist ist, bietet eine solche Wanderung
durchaus nichts Stauuenswerthes und die Erinnerung daran
wiegt alle Hochgenüsse auf, die Einem das Reisen in civi-
lisirten Landestheilen bereitet hat.
Doch zurück zu unserer Bauerfrau. Bei der Hebamme
muß sie vielleicht noch einige Tage mit ihrem Manne im
Freien campiren; denn die Behausung besteht vielleicht nur
aus mehreren schlecht gegen Wind und Wetter geschützten,
mit Ungeziefer erfüllten Häuschen, deren jedes nur ein bis
zwei Zimmer enthält. In der Regel sind diefe Häuschen,
trotz vorheriger Bestellung, alle noch besetzt, und dies ist
immer noch das Beste. Denn dann wird neben dem Wagen
ein Zelt ausgeschlagen, und nichts ist gesunder, als der Auf-
enthalt in einem südafrikanischen Zelt. Kanin wird aber
eine solche Wohnung leer, so kehrt man sie höchstens ober-
flächlich aus und hinein in die sehr übel riechende Luft wird
ohne Weiteres die arme Frau gepackt. Die Fenster werden
niemals geöffnet.
Nachdem Alles glücklich vorüber ist, erhalten Mutter
und Kind Medicin, in der Regel Ricinusöl; und da von
diesem Tage an Mutter und Kind, wie nicht anders zu
erwarten, stets kränkeln, wird täglich eine ungeheure Menge
von allen Sorten Arzneien verordnet. Eine sogenannte
Hausapotheke fehlt auf keinem Hofe. Dieselbe enthält, nebst
einer Menge höchst drastischer Pnrgirmittel, sämmtliche Prä-
parate des Halleschen Waisenhauses, alle die wunderbaren
süßen und bitteren Tropfen und rothen, grauen und weißen
Pulver, die dort fabricirt werden. Man findet diese Mi-
schnngen da wo nur immer ein Boer sich ansässig gemacht
hat, bis weit hinein ins Innere, bis zum 22. oder 21. Grade
E> ranjeflusse.
n Capregion von Dr. Ludwig Hollaender.
südlicher Breite, — so viel aber steht sest, daß diese abscheu-
licheu Arzneien unter Kindern wie Erwachsenen großes Unheil
angerichtet haben. Aerzte würden staunen, wenn sie sähen,
wie viele Tropfen Opium Kindern „zur Beruhigung" in
diesen Mischungen gegeben werden, oder wie diese Menschen
die wirksamsten Arzneien zusammenmengen und womöglich
alle halbe Stunde davon gebrauchen. Besonders die Boer-
Weiber sind so sehr an den Gebrauch von allerhand Medicinen
gewöhnt, daß sie bei dem geringsten Unwohlsein zur Haus-
apotheke ihre Zuflucht nehmen, Aether jedoch und Opium
sowie ihre Schnnpstabacksdose stets in ihrer Tasche tragen.
Am sechsten oder siebenten Tage nach der Entbindung
wird die Frau in der obigen Weise nach Hanse gefahren und
Niemand kümmert sich darum, ob sie auch kräftig genug sei,
eine solche Reise zu ertragen. Da die afrikanischen Frauen
sich auch nicht der geringsten körperlichen Anstrengung unter-
ziehen, indem sie die größte Zeit des Tages am Tische sitzend
zubringen, und niemals oder höchst selten einen Spaziergang
machen, so sind sie außerordentlich verweichlicht und äußerst
empfindlich gegen die geringste Temperaturverändernug.
Dazu kommt, daß die orthodoxen Boers, die bereits oben
genannten „Doppers", niemals ein Bad nehmen. Bor dem
Gebrauch von Wasser jeglicher Temperatur haben sie eine
große Scheu. Selbst Kinder werden niemals gebadet, ja in
manchen Familien werden die neugeborueu Kinder nach
Hottentotenart einfach mit Fett oder Oel eingerieben, das
sich im Lause der Zeit von selbst an den Kleidern ab-
reiben muß.
Durch alle diese Dinge, die sitzende Lebensweise, Unrein-
lichkeit im Hause, das ewige Einerlei der Speisen, den voll-
ständigen Mangel jeder Hautpflege, ist es sehr leicht erklär-
lich, daß trotz des außerordentlich gesunden Klimas am Cap
der guten Hoffnung, trotz der ewig gleichmäßig trocknen Tem-
peratur im Sommer wie im Winter dennoch so viele Krank-
heiten, und besonders chronische, unter den Frauen vor-
kommen. Da die Männer trotz ihrer Faulheit doch sehr
viel in freier Luft sich bewegen, sehr viel zu Pserde sitzen
und doch meist täglich ein Mal zu ihren ziemlich entfernt
grasenden Schafherden hinreiten, so sind sie Krankheiten,
welche nicht gerade in Folge von Uebersüllnngen des Magens
entstehen, weniger unterworfen. Im Trinken sind sie äußerst
mäßig.
Aber ein Boerweib kränkelt immer und muß täglich
irgend eine Arznei gebrauchen. Wird sie jedoch einmal
ernstlich krank und bettlägerig, dann spielt eine neue Scene
in dem sonst ziemlich stillen Farmhause. Zuerst kommen die
nächsten Nachbarn auf einem zweirädrigen Wägelchen zum
Besuch, der einige Stunden dauert. Bei längerer Dauer
der Krankheit erscheinen dann auch die entfernter wohnenden
Verwandten zum „knixen" — so heißt der Kunstausdruck —
Ludwig Hollaender:
d. h. zum Besuch, und richten sich bald auf der Farm Haus-
lich ein, um entweder die Genesung oder den Tod abzu-
warten. In einem Lande, wo es keine Jahrmärkte, keine
Volksfeste, keine öffentlichen Lustbarkeiten giebt, wo jeder
Tanz verpönt ist und jeder fröhliche Gesang für Sünde gilt,
bleibt keine andere Erholung übrig als solche Besuchsreisen.
Zu welchem Zwecke diese unternommen werden, ob zum
Krankenbesuch oder bei sonst einer andern Gelegenheit, ist
gleichgültig. Hier ist man sicher, auch die entfernter woh-
nenden Verwandten zu treffen; man bewirthet sich mit dem
Besten, das eben vorhanden ist, erzählt sich alle Sterbefälle
uud Geburten, die in der Familie vorgekommen sind, und
fängt die Uuterhaltuug an einsilbig zu werden oder gar zu
stocken, dann giebt eine gemeinschaftliche Andachtsübnng, das
Absingen einiger Psalmen, das Gebet für den Patienten,
die gewünschte Beschäftigung. Vielleicht ist auch aus der
nächsten Stadt der Prädikant (Pastor) angekommen. Dann
wird schnell ein größerer Gottesdienst mit Predigt improvisirt
und Oper und Schauspiel wird keine Gesellschaft in Europa
so beschäftigen, anregen und erbauen, als eine in dem Bauern-
Hause gehaltene Predigt, die während des „Knixens" impro-
visirt wurde.
Da die Boers, wie schon früher bemerkt wurde, meist mit
ihren Verwandten sich verheirathen und stets viele Kinder
haben, und die Verwandten der ersten, zweiten und dritten
Frau auch noch als volle Verwandte gerechnet werden, so
kommt es, daß sich bei irgend welcher bedenklichen Krankheit
eine große Anzahl Leute auf einer Farm zusammenfinden.
Sie campiren des Nachts mit ihren Kindern (die keine Boer-
sran zu Hause läßt, wenn sie verreist) vor dem Hause und
schlafen in ihren eigenen Betten aus dem großen Ochsen-
wagen. Den Tag über sind sie jedoch allemal im Zimmer
des Kranken.
In diesem Zimmer wird großes Lever gehalten. Jeder
Händler, der zufällig kommt, um einige Hümmel gegen Lein-
wand oder sonstigen Kram einzuhandeln, der Reisende, den
sein Weg vorbeiführt, jeder wandernde Geselle oder desertirte
Matrose oder Soldat, Alle, welche in die Wohnung kommen,
um an der Gastfreundlichkeit des Hausherrn teilzunehmen,
d. h. zu fechten, — Jeder wird in das Krankenzimmer, das
den Tag über von Personen wimmelt und in dem niemals
die Fenster geöffnet werden, hineingeführt. Und so wie im
alten Rom und Griechenland kranke Personen auf der großen
Heerstraße ausgestellt wurden, damit die Vorübergehenden,
die einmal vielleicht an einer ähnlichen Krankheit gelitten
hatten und davon genesen waren, ihre Rathschläge ertheilen
konnten, ebenso wird hier jeder Fremde oder Bekannte sofort
aufgefordert, in das Krankenzimmer zu treten, um da seinen
Rath zu geben, der sofort gewissenhaft befolgt wird. Nach-
dem sämmtliche Flaschen aus ber Hausapotheke verbraucht,
nachdem bereits mehrere Töpfe einer Abkochung von Bock-
dünger (eine sehr gebräuchliche Arznei) ausgetrunken wurden,
auch mehrere Mal schon Hundeblut, vom Ohre eines alten
Hundes genommen, vergeblich angewendet worden, und wenn
auch bereits Dachsharn nichts geholfen hat und alle die ver-
schiedenen Umschläge von frisch gelegtem, noch warmem Kuh-
mist oder den Eingeweiden eines eben geschlachteten Ziegen-
bocks die Schmerzen nicht gelindert haben, gegen die sie in
so vielen Fällen früher erprobt gewesen, wenn auch schon
sämmtliche Quacksalber, die besonders in Südafrika glän-
zende Geschäfte machen, alle Menschenkunst für ohnmächtig
erklärt haben, dann erst wird der Arzt aus dem nächsten
Dorfe geholt.
Schwierig genug ist seine Stellung all dem entsetzlichen
Aberglauben und all dem unendlichen Wissen sämmtlicher
im Krankenzimmer versammelten Weiber gegenüber, und ganz
Emleben am Oranjeflusse. 299
andere als auf Universitäten erworbene Kenntnisse hat er
nöthig, um sich die Achtung zu verschaffen, welche er zur
Ausführung seiner Anordnungen bedarf. Der Boer hält
nur dann einen Arzt für vollständig in seiner Knnst bewan-
dert, wenn derselbe im Stande ist, sofort, nachdem er den
Patienten gesehen, eine Diagnose der Krankheit zu formuliren.
Nach des Boers Idee ist der gar kein rechter Arzt, der erst
den Patienten lange hin und her befragen und erst genau
untersuchen muß. Ja die richtige Dopperssrau reicht dem
Arzte einzig und allein ihren Arm, um den Puls sich sühlen
zu lassen, wenn sie die Zunge zeigt, dann muß sie bereits
großes Vertrauen gefaßt haben.
Unter all den verschiedenen chronischen Krankheiten, denen
die Boersranen unterworfen sind, spielt die „Benawdheit"
eine große Rolle. Damit werden alle die wunderbaren
Symptome bezeichnet, die eine vollständig ausgebildete Hysterie
zu erzeugen im Stande ist. Ueberhanpt wird wohl von
allen Worten der südafrikanisch-holländischen Sprache keines
so vielfach gebraucht als das Wort „benawd". „Benawd"
(— wir haben im Plattdeutschen das Wort benant gleich-
falls —) ist Alles, was unangenehm ist. Ein übelriechendes
Zimmer, in dem sich viele Menschen aufhalten, ein Kopf-
schmerz, ein übervoller Magen, Stiche in der Brust, Alles
wird „benawd" genannt. Das Wort „Benawdheit" be-
zeichnet jedoch ganz allein alle die verschiedenen Vapenrs und
hysterischen Affectionen. Für diese „Benawdheit" giebt es
aber ganz besondere Mittel und das „Abdrücken der Benawd-
heit" ist eine Kunst, welcher nicht wenig afrikanische Man
ner sich rühmen. Es ist dies ein vollständiges Kneten und
Reiben des ganzen Körpers mit der flachen Hand, das der
Frau, die mit den Vapenrs geplagt ist, oft um so angenehmer
zu sein scheint, je jünger und kräftiger der Mann ist, der
dies Kunststück auszuführen im Stande ist. Da aber nicht
allein Vapenrs nnd verwandte Zustände für Benawdheit ge-
halten werden, sondern da auch das Todesröcheln zu dieser
Krankheitskategorie gehört, so ist schon manche Boersrau in
ein besseres Jenseits hinübergeknetet worden.
Sobald Besserung eintritt, entfernen sich allmälig Ver-
wandte und Freunde. Wer stirbt, wird sofort, nachdem er
seine Augen geschlossen, vielleicht noch halbwarm, in weiße
Laken gehüllt, in einen Sarg gelegt und hinaus in einen
leeren Schuppen oder in ein altes Wagenhaus gebracht. Im
Hause selbst bleibt nie ein Todter bis zur Beerdigung liegen.
Wegen der weiten Entfernung der Einzelhöfe von den
Städten ist entweder stets ein Sarg vorrathig oder man hat
zurecht gemachte Bretter, um einen solchen rasch anfertigen
zu können. Wegen der sehr bedeutenden Hitze im Sommer,
32 bis 34° Reaumnr im Schatten, kommt es häufig vor,
daß Personen, die am Morgen gestorben sind, bereits am
Nachmittag begraben werden müssen. Darum setzt sich auch
sogleich, nachdem der Patient seinen letzten Athemzng gethan,
der Hausvater oder irgend ein anderes des Schreibens kun-
diges Familienglied nieder, um mit steifen Fingern so schnell
wie möglich eine Todesanzeige aufzusetzen, die dann dnrch
einige Hottentoten zu Pferde den nächsten Nachbarn zu-
gesendet wird. Diese halten es für ihre Pflicht, die Anzeige
sofort zu ihren Nächstwohnenden weiter zu befördern, und so
gelangt die Nachricht des Todesfalls in unbeschreiblich schneller
Zeit bis in weit entfernte Farmen, die auch stets am nächsten
Tage wenigstens einen ihrer Bewohner als Vertreter zum
Begräbniß entsenden. Im Zimmer wird ein Psalm ge-
snngen, ein Gebet von irgend einem Kirchenrath, der niemals
fehlt, verrichtet, und nun werden sämmtliche Anwesende, die
vorher aufgeschrieben worden sind, laut verlesen; damit ist
ihnen gewissermaßen der Platz angewiesen, den sie hinter der
Leiche einnehmen sollen. Dieselbe ist indessen von mehreren
38*
300
Ludwig Hollaender: Farmleben am Oranjeflusse.
Boers auf einen mit vier Ochsen bespannten Wagen gehoben
worden — „Treck" schreit auch hier der Wagenlenker wieder
und langsamen Schritts setzt sich der Zug, der nur von
Männern gebildet wird, zum nahen Begräbnißplatze in Be-
wegung. „Anhan" — „Anhalten" ertönt es bald darauf
wieder und ohne alle Ceranonien wird der Sarg der Erde
übergeben. Daun erhält Jeder, der bei der Bedienung des
Sargs behülslich gewesen, seine Bezahlung, meist eine halbe
Krone (25 Sgr.), und wohlgefällig steckt selbst der reichste
Boer dies Honorar in seine Tasche.
Im Hause ist indessen eine große Tafel anfgestellt worden.
Da für so viele Personen weder Messer noch Gabeln vor-
Händen sind, zieht der Boer ruhig das an seiner Seite ma-
trosenartig hängende Messer hervor und bedient sich dessen,
während seine Finger leicht die Dienste der Gabel vertreten.
Nachdem die Herren fertig sind, wird das übrig gebliebene
Schöpsenfleisch oder Rindfleisch, vielleicht hat man wegen der
vielen Menfchen eine Kuh geschlachtet, von den Damen ver-
tilgt, denn diese essen stets nur dauu, wenn die Herren selber
von der Mahlzeit aufgestanden sind. Und dieses ist der all-
gemeine Gebrauch in ganz Südafrika selbst bei den schon
etwas mehr civilifirten holländischen Bauern. Das eigent-
liche Regiment des Hauses führt zwar stets die Frau, sie hat
das letzte Veto iu allen Angelegenheiten, aber trotzdem werden
die weiblichen Glieder des Hauses den männlichen bei dem
Essen und ähnlichen Angelegenheiten stets den Vorrang lassen.
Nachdem Alle sich gesättigt haben, sucht Jeder nach all-
seitigen Begrüßungen uud Händedrücken seinen Weg nach
der Heimath auf. Nachbarn reiten oder fahren zusammen
und das ergiebigste Thema der Unterhaltung ist die zukünftige
Frau des Wittwers, wenn eine ähnliche Conversation nicht
bereits schon im Trauerhause im Beisein des Leidtragenden
stattgefunden hat, der während des entsetzlichen Heulens und
Wehklagens, das er ausstößt, immer noch Gelegenheit findet,
dem Gespräche der um ihn Herumstehenden zuzuhören.
Der schrecklichste Ort für den Europäer in Südafrika ist
der Platz, auf dem die Todten beerdigt werden. „Mit den
Todten soll man nicht leben" ist das gang und gäbe Wort
der orthodoxen Puritaner, und daraus erklärt sich wohl zum
Theil die entsetzliche Nichtachtung, in der die Grabstätten
gehalten werden. Meist einige hundert Schritt vom Farm-
Hause, auf einem für Menschen wenig zugänglichen Orte,
finden sich einige durch roh übereinander geworfene Steine
gebildete Haufen. Dies find die Zeichen, daß darunter ein
Mensch, ein naher Verwandter, eine geliebte Frau, eine
theure Mutter, ein gutes Kind begraben liegt. Keine Mauer
umgiebt die Stätte. Schweine, Hunde, Schafe und Ochfen
wälzen sich lustig zwischen den Steinhaufen herum. Keiu
Kreuz, kein Baum deutet au, wer dort gebettet ist. Niemand
denkt daran, das Grab eines Todten zu besuchen, niemals
wird das Kind den letzten Ruheort seiner Eltern betreten.
Wer todt ist, ist vollständig vergessen. Mit den Todten
soll man nicht leben.
Dies ist die fromme Entschuldigung für Alles, und dies
ist auch der Grund, warum der Boer bereits acht Tage nach
dem Tode feiner Frau in die Stadt hineinreitet, sich einen
neuen Sattel uud neues Pferdezeug kaust uud eilig hinaus-
galopirt auf irgend eine Farm, auf der ein Mädchen des
Freiers harrt. Sechs Wochen nach dem Begräbniß ist der
Boer wieder verheirathet, ist Alles wieder wie zuvor auf dem
alten Farmhause und der Gattin, der Mutter wird niemals
wieder gedacht. Schnell findet sich auch die junge Frau, so
wie in die alten Kleider der Verstorbenen, auch in allen den
anderen neuen Verhältnissen zurecht. Je älter des Boers
erste Frau geworden ist, um so jünger wird stets die Nach-
folgerin sein. Aeltere unverheirathete Mädchen existiren in
einem Lande nicht, wo es keine alten Junggesellen giebt und
wo so entsetzlich viel Weiber frühzeitig sterben, und eiue
Wittwe mit mehreren Kindern als Gattin heimzuführen in
fein Hans, das ohnedies damit gesegnet ist, paßt dem trauern-
den Wittwer durchaus nicht. Darüber macht er sich jedoch
nicht die geringsten Skrupel, eine Frau zu Heirathen, die
bedeutend jünger als seine ältesten Kinder ist; das kommt so
gewöhnlich vor, daß man sich gar nicht mehr wundert, bei
einem Besuch auf einem Hof eine ganz junge Person von
weit älteren Menschen als „Mutter" anreden zu hören.
Aber es ist nicht nur nicht sehr gewöhnlich, daß des Vaters
Frau bedeutend jünger als die Gattin des ältesten Sohnes
ist, sondern auch das kommt häufig vor, daß Vater und
Sohn mit Schwestern verheirathet find, von denen die jüngere
stets das Weib des Vaters ist.
Der südafrikanische Farmer gehört von Natur einem
außerordentlich kräftigen und gesunden Menschenschlag an.
Hohe und stämmige Gestalten, mit sonngebräuntem Gesicht,
von gerader Haltung, würden sie Jedem, der sich ihnen nä-
hert, sofort Achtung einflößen, wenn nicht fast jede einzelne
Physiognomie einen unangenehm-pfiffigen und zu gleicher
Zeit bigott-stupiden Charakter trüge. Die Frauen würden
vermöge ihrer Gesichtsbilduug und ihres blendend weißen
Teints zu den schönsten ihres Geschlechts gehören, wenn sie
nicht durch allzufrühes Heirathen ihre Gesundheit zu schnell
ruiuiren würden, und vermöge ihrer sitzenden und uuthätigen
Lebensweise nur darauf hinzielen wollten, um „recht moii
fett" — sehr schön fett — zu werden. DeuuWohlbeleibtheit
gilt dem Boer als Ausdruck der höchsten Schönheit. Für
seine Ochsen, Pferde und Schafe hat er nur eine Bezeich-
nnng, wenn er sie schmunzelnd seinen Besuchern zeigt. Er-
nennt sie dann „moii fett" und fragt seine Begleiter, ob ihr
Vieh auch so wäre. Ebenso hat seine Frau das höchste Ideal
der Vollkommenheit und Schönheit erreicht, wenn er auch
von ihr sagen kann, sie ist „moii fett". Und in der That
wird man solche Monstrositäten von Wohlbeleibtheit kaum
noch in einem andern Laude wiederfinden. Es ist etwas
ganz Gewöhnliches, dort Weiber anzutreffen, deren Oberarme
z.B. so dick sind, daß ihr Durchmesser 7 bis 9 Zoll beträgt.
Mehr anzuführen ist nicht nöthig, um auf die Entwicklung
des ganzen übrigen Körpers zu schließen. Die Milde des
Klimas, die animalische Nahrung und die wenig anstren-
gende häusliche Beschäftigung haben übrigens hier denselben
Einfluß aus europäische Damen, ja die zartesten jungen
Frauen, die in Europa dem Worte „spindeldürr" Ehre ge-
macht hätten, erhalten selbst nach verhältnißmäßig sehr knr-
zem Aufenthalte von zwei Jahren in Südafrika die schönsten
vollen und runden Coutoureu.
So also sind die südafrikanischen Boers und so ist das
gewöhnliche Leben und Treiben auf den Farmen am Oranje-
flnsse. Hier lebt der Boer zufrieden, unbekümmert um den
Lauf der Welt und unbeirrt durch weit hinaus schweifende
Gedanken. Weib und Kind, Kaffir und Hottentot sind ihm
unbedingt unterworfen und gehorchen ohne Widerrede seinen
Anordnungen und Befehlen. Eine 6000 Morgen große Farm
ist immer schon groß genug, um ihm das Bewußtsein eines
kleinen Herrn zu erhalten, und 2000 Schafe, 50 Ochsen
uud ebenso viel Pferde sind wohl hinreichend, ihn vollständig
unabhängig zu machen. Er ist mit dem Einen, das ihm
die Natur in reicher Fülle bietet, seinem Lebensunterhalt,
vollständig zufrieden, um das, was sie ihm entzieht, macht
er sich keine Sorge. Darin besteht gerade sein Glück, daß
er den Werth der Güter nicht kennt, die ihm fehlen. Die
einfachen Verhältnisse, in denen er auferzogen wird, das
monotone Leben, in dem sich sein Dasein bewegt, die we-
nigen Gedanken, die ihm der puritanische Katechismus seiner
Die Israeliten in Mekka, das altm
Religion darbieiet, dünken ihm das Höchste, Schönste und
Großartigste, das der Mensch besitzen kann. In fast bewußt-
loser Geistesruhe, ohne Thaten, ohne wohlthätiges Wirken
aus einen größern Menschenkreis jenseits des kleinen, den
seine Familie um ihn bildet, verlebt er seine einsamen Tage
und wird so das, was er ist. Man mag ihn bedauern,
aber man kann ihn nicht schelten. Denn der Charakter
seines Volkes ist ihm nicht durch sich selbst gegeben, sondern
die Natur des Landes, das er bewohnt, die socialen Verhält-
uisse, in denen er sich bewegt, die Beschäftigung oder Beschäf-
tiguugslosigkeit, zu der er von Geburt an angeleitet wurde,
die bedeutende Entfernung von aller europäischen Cultur haben
ihn notwendiger Weise also umgestalten müssen. Vielleicht
wüsche Heiligthum und der Islam. 301
ist er glücklicher als Millionen bessere und gebildete Men-
schen! Er bedauert den armseligen Europäer, der sich zurück-
sehnt in die gekünstelten, überverfeinerten Verhältnisse feines
Landes uud fragt, wenn ihm der Reisende aus fernen Welt-
theileu, der vielleicht zufällig feine Farm besucht, von all den
verschiedenen Verbesserungen in Ackerbau oder Viehzucht er-
zählt, vielleicht noch halb zweifelhaft über Alles, was er ge-
hört, ob es deuu ebenso schön in Europa wie in Südafrika
wäre, und ob es denn auch dort so schöne und sette Ochsen
und Schafe wie hier gäbe?
Ist es wahr, daß Einfalt glücklich macht, fo hat er sicher
das höchste Glück erreicht; jedenfalls hat er Alles, was er
dazu gebraucht: er ist zufrieden.
Die Israeliten in Mekka, das a lt ine
Die Simeoniten oder Jsmaeliten. — Der Jehovismus und die Schi
Abraham. — Stein- und Banmeultus. — Baalseultns, Stifts Hütte
tischen Volkes. — Baal-Saturn und Sabbath. — Die zehn Gebote,
Fest in Mekka. — Die Gorhnm. — Ursprung der Festg
Unter dem Titel: „Die Israeliten zu Mekka," hat
einer der ersten Orientalisten unserer Zeit, R. Dozy, Pro-
fessor der Geschichte und der morgenländischen Sprachen an der
Universität zu Leyden in Holland, eine grundgelehrte Schrift
herausgegeben. Dieselbe umsaßt den Zeitraum von David's
Zeit bis hinab ins fünfte Jahrhundert unserer Zeitrechnung;
sie ist „ein Beitrag zur alttestamentlichen Kritik und zur Er-
sorschuug des Ursprungs des Islams". Dozy steht
zu nicht geringem Theil aus dem Bodeu deutscher Gelehrsam-
feit, er ist aber außerdem ein durchaus selbständiger Forscher,
ein originaler Denker und ein freier Kopf. Sein Buch ent-
hält wichtige Beiträge zur historischen Völkerkunde und zur
Culturgeschichte, es wirft in merkwürdiger Weise Helles Licht
über manche dunkle Partien und sucht Annahmen zu beseiti-
gen, welche bisher in weiten Kreisen als richtig angenommen
wurden. Es wird angeniessen sein, die Ermittelungen eines
in der Wissenschaft fo hervorragenden Gelehrten anch unserem
Leserkreise mitzutheileu.
In Bezug auf das Heiligthum zu Mekka stellt sich,
Dozy zufolge, als Ergebniß heraus: 1) Dasselbe ist zur Zeit
David's von Israeliten ans dem Stamme Simeon gestiftet
worden. Diese Simeoniten sind die sogenannten Ismae-
liten, welche von den Arabern auch die ersten Gorhnm
genannt werden. 2) Das mekkanische Fest wurde von
diesen eingesetzt; die dabei stattfindenden Feierlichkeiten erklären
sich aus der israelitischen Geschichte; auch siud viele
Wörter, wodurch dieselben bezeichnet werden, hebräischen Ur-
sprnngs. 3) In der babylonischen Periode kamen Juden,
welche aus der babylonischen Gefangenschaft entronnen wa-
ren, nach Mekka, welcher Name ursprünglich keine Stadt
bezeichnete. Diese Juden sind die sogenannten zweiten
Gorhnm.
Die ethnographische Frage steht hier mit der religiösen
Frage in innigster Verbindung. Dozy wendet sich gegen die
insbesondere auch von Renan ausgesprochene Meinung, daß
die Eingötterei ein hervorstechender und kennzeichnender Zug
im Naturell der semitischen Völker sei. Diese Vorstellung
ist gar nicht haltbar; der Monotheismus, der reine Jeho-
vismus ist nicht, wie es der Pentatench (die sogenannten
fünf Bücher Moses') erscheinen lassen will und möchte, seit
kkanische Keiligthum und der Islam.
iftgelehrten. — Die Geschichten von den Erzvätern, namentlich von
und Bundeslade. — Der göttliche Fclsblock als Ursprung des israeli-
Moses und die eherne Schlange. — Das Heiligthum und das große
,rauche. — Jüdischer Einfluß auf die Stiftung des Islam.
Moses' Zeit die Religion der Israeliten gewesen. Dozy
geht, um seine Beweise zu führen, anf eine streng kritische
Untersuchung des Textes der hebräischeu Bücher ein; er hebt
hervor, daß der gelehrte Rabbiner Dr. Geiger in seinem
„herrlichen Werke": „Urschrift und Übersetzungen der Bibel
in ihrer Abhängigkeit von der innern Entwicklung des Ju-
denthnms", gezeigt habe, daß die Inden den alten Text
an manchen Stellen absichtlich geändert haben. Dafür
werden Schriftstellen angeführt, namentlich aus Jeremias,
der (VIII, 8) seinen Zeitgenossen zuruft: „Was sagt ihr:
wir sind weise, denn das Gesetz Jehova's ist bei uns? Für-
wahr, sehet, der trügerische Stift der Schriftgelehr-
ten hat es verfälscht." Derartiges ist auch später und
zwar bis gegen das zweite Jahrhundert mit den alten hebräi-
schen Büchern geschehen, und, nach Geiger, wußten die Schrift-
gelehrten recht gut, weshalb sie den alten Text in ihrem Sinne
änderten.
Man fragt, wann die sogenannten fünf Bücher Moses'
redigirt, d. h. aus älteren und neueren Bestandteilen zusam-
mengestellt worden seien? Nach Dozy erst nach dem baby-
tonischen Exil, und auch später siud uoch Zusätze Hinzuge-
kommen. Wir können, des Raumes wegen, nicht auf das
eingehen, was (S. 4) über die Redactiou bemerkt wird, welche
Esra mit dem, was vom „Gesetz" noch übrig wax, vorge-
nommen, und wie er niedergeschrieben, „was von Anbeginn,
der Welt geschehen ist". Auch der Kirchenvater Augustinus
weiß, daß Esra, ein Priester Jehova's, das Gesetz wieder
hergestellt habe, welches im Tempelarchiv vorhanden gewesen,
aber von den Chaldäern verbrannt worden war, und andere
Kirchenväter schreiben ihm eine Ueberarbeitung des ganzen
Alten Testamentes zu. Richtig ist, daß Männer der großen
Synagoge „nicht bloß die noch heute vorliegende Sammlung
der nationalen Schriften veranstalteten, sondern derselben
auch ihre eigeuthümliche Fassung und Anlage, ja
ihren ganzen Zuschnitt gaben." So sagt der jüdische
Gelehrte Dr. Popper in seinem 1862 erschienenen Werke:
„Der biblische Bericht über die Stiftshütte."
Esra stand bei den Juden im höchsten Ansehen, er war
für sie ein zweiter Moses geworden, mit welchem er im Tal-
mnd auch verglichen wird. Sie lassen ihren Gott auch zu
302 Die Israeliten in Mekka, das aliud
Esra aus einem Dornbusche reden; auch ist er vierzig Tage
abwesend, um das Gesetz zu empfangen, ähnlich wie Moses
bei seinem Jehova auf dem Siuai; beide Männer stießen in
der Ueberliefernng des Talmud gleichsam zusammen; Esra
wurde noch höher gestellt als Moses, zu Mohammed's Zeit
nannten ihn die Juden, wie wir aus dem Koran ersehen,
den Sohn Gottes. — Esra war Redactenr der alten Schris-
ten; das „Gesetz" war nicht verbrannt worden, denn Eze-
chiel hatte es in Babylonien und Esra mit seinen Helfern
hatte ohne Zweifel geschriebene Docnmente vor sich. Sie
fügten vieles Neue ein; sie wollten die Väter hinstellen als
ein Vorbild; aber die historische Wahrheit, z. B. jene vom
Götzendienst der Borfahren, paßte nicht in ihr System, und
ohnehin hatten sie ein ganz anderes Ziel tut Auge, als Er-
zählungen der geschehenen Dinge zu liefern; sie behandelten
die Geschichte eben so wie das Gesetz. So wurde die Ge-
schichte von Abraham und Jsaac erdacht, um zu zeigen, daß
es nicht mehr nöthig sei, die menschliche Erstgeburt zu opfern,
und das anstößige Gesetz, 2 Moses 13. 12, wurde modisi-
cirt dnrch den Znsatz: „Aber alle ersteMenfchengeburt unter
deinen Kindern sollst du lösen," während man bei Ezechiel
stehen ließ: „Du sollst Alles, was denMntterschooß öffnet,
für Jehova verbrennen." Zu Ezechiels Zeit, während des
babylonischen Exils, stand jene Clausel nicht im Gesetze. —
Auch die Einsetzung des großen Versöhnungstages, jim ha
kippurim, ist erst in oder nach dem Exil entstanden.
„Die Geschichten von Abraham, Sara, Hagar
und Jsmael sind nicht älter als die Zeit Esra's."
Nöldecke hat iu der Zeitschrift der deutschen morgen-
ländischen Gesellschaft ganz richtig gesagt: „Kein Volk
und kein großer Stamm hat seinen Stammvater
gekannt." Eben so richtig äußerte Redslob: „Die Hy-
pothese von der Entstehung der Völker durch directe Abstam-
muug von Nationalvätern ist gerade diejenige, welcher die Er-
fahrung, fo weit sie reicht, durchaus widerspricht."
Wir werden bald sehen, wie diese Ansicht sich zu Abra-
ham :c. verhält. Im Reiche Inda, dem südlichem Palä-
stina , wurde erst, 100 Jahre nach dem Falle des Reiches
Israel, unter Josua ein j e h o v ist i s ch e s Gesetzbuch eingeführt;
imnördlichernReiche, also in Israel, galt niemals ein
sogenanntes mosaisches Buch als Gesetzbuch. Keiner
der dort regierenden Könige bekannte sich zum reinen Jeho-
vismns, sondern alle begünstigten den jehov istischen Stier-
cultus und zuweilen auch die Verehrung Baal's und
Astarte's. Die jüdischen späteren Reformatoren stellten die
Sache anders dar und den reinen Monotheismus als urfprüng-
liche Religion der Israeliten hin. Sie stellten das Neue als
das sehr Alte hin, gleichviel ob mit oder ohne Absicht. Auch
Mohammed schlug in dieser Hinsicht denselben Weg ein; auch
er behauptete, der Monotheismus sei die ursprüngliche Reli-
gion jener Bundesgenossenschaft gewesen, welcher er ange-
hörte, und daß erst im dritten Jahrhundert nach Christus
der Götzendienst eingeführt worden sei. Aber „der Mono-
theismus ist das Ergebniß einer schon fortgeschrittenen Kennt-
niß der Natur und Welt, des entwickelten Denkens, des fei-
nern Religionsgefühls; der ungebildete Naturmensch erkennt
geheime Kräfte an, die ihm Gutes und Böses thun können,
und die er fürchten und verehren, denen er dienen muß. Aber
fein Geist ist zu beschränkt, als daß er sich zn der Borstel-
lnug eines einzigen, allmächtigen Gottes erheben könnte. Selbst
der Jehovismus konnte sich nur mit Mühe zu der Borstel-
lung eines Weltgottes emporschwingen, denn sehr lange ist
Jehova nichts weiter als der Stammgott Israels gewesen."
Die Forscher haben dnrch eine Menge von Beispielen er-
wiesen, daß die „Bücher der Chronik" von einem Leviten ver-
saßt worden seien, der um 30V oder 260 vor Christus schrieb
xinische Heiligthum ititd der Islam.
und die Quellen seiner Erzählung nach seinem Belieben be-
arbeitete; Vieles was ihm sonderbar oder anstößig erschien,
modisicirte oder veränderte er. Aus seinem Versahren läßt
sich ein Schluß darauf machen, wie die früheren jehovistischen
Ueberarbeiter wohl gehandelt haben mögen. Noch Jeremias
hat gesagt: „So viele Städte ihr habt, so viele Göt-
ter habt ihr!" (II, 28.) Aber die Ueberarbeiter der Qnel-
len gaben die dem Baal geweihete Stiftshütte für ein
Heiligthum Jehova's aus! Einige Mitarbeiter an der Ge-
nefis haben, im Widerspruche mit der bestimmten Tradition,
welche den Jehovadienst in Aegypten seinen Anfang nehmen
läßt, denselben als viel älter und als vor der Sündsluth schon
bestehend dargestellt.
„Die Wahrheit ist Folgendes: Als Cultusformen hat-
ten die alten Israeliten: 1) die Verehrung gewisser
Steine und Bäume; 2) den Baalcnltns; 3) den Je-
hovismns, welcher Jehova darstellt in der Gestalt
eines Stiers oder Bockes."
Der Stein- und Banmcnltns war die älteste Reli-
gion der semitischen Völker überhaupt. Er hat im Charakter
derselben so tiefe Wurzeln geschlagen, daß sie denselben auch
nach dem Uebergange zum Monotheismus nicht vergessen
können. Als Christen unterließen sie, trotz Päpsten und Kir-
chenversammlnngen, weder in Palästina noch in Karthago,
das Anbeten gewisser Bäume eben so wenig, als die, welche
dem Islam gewonnen wurden. Jene alte Cnltussorm hat
auch hente nicht aufgehört. (Die Tamariske in den Ruinen
von Babylon; der Oelbanm in Damaskus :c.) Bei den
Hebräern durften die heiligen Steine von keinem Meißel
berührt werden. Selbst das monotheistische Gesetz hat Ehr-
furcht vor solchen. „Wenn dn mir einen Altar von Steinen
bauen willst, sosollst du ihn nicht von behanenen Steinen
bauen; wenn du deinen Meißel darüber bewegt hast, so hast
du ihn entheiligt." Das Wort gur, Felsblock, war ein
Synonym zu LI, Gott.
Nach 5 Mose 32, 18 sind die Israeliten einem
göttlichen Felsblock entsprossen, und das ist in der
That die echte, alte Vorstellung vou der Entstehung desVol-
kes, die noch zur Zeit des Jeremias die allgemein herrschende
war; II, 27 spricht er von den Königen, Fürsten, Priestern
und Propheten Jsrael's: „die zu dem Baume sagen: dn
bist mein Vater, und zu dem Steine: du hast mich
erzeugt." So ist auch in der skandinavischen Mythologie
das erste Menschenpaar aus einem Eschen- und einem Erlen-
bäume geschaffen; die Mythe von Denkalion und Pyrrha
weist auf ein Hervorgehen aus Steinen hin. Bein: zweiten
Jefaias, alfo in der Zeit aus dem Ende des Exils, heißt es
Cap. 51, 1 uud 2 nach Luther's Uebersetzung:
„Schauet den Fels an, davon ihr gehauen seid, und des
Brunnen Gruft, daraus ihr gegraben seid. Schauet Abra-
ham an, eueru Vater, und Sara, von welcher ihr geboren
seid." Statt Fels sagt Dozy richtiger Felsblock (denn das
ist, wie schon angedeutet, die Bedeutung von gur), und statt
Brunnen: gehöhlte Grube. Die Worte sind nicht bildlich zu
nehmen.
„Abraham ist iu der That nicht der Name eines
Mannes (kein Hebräer hat diesen Namen im alten Testa-
mente), sondern der eines Gottes. Die ältere Form,
Abram, bedeutet hoher Vater, ein Titel, wie er einem
Gotte zukommt, und der auch der höchsten Gottheit zu By-
blos in Phönicien beigelegt wurde. Sarai kann nichts An-
deres als Grube oder Höhle bedeuten." — Die jüdischen
Legenden wissen auch noch, daß Abraham in einer Höhle ge-
wesen ist; sie erzählen, Nimrod habe in den Sternen gelesen,
daß die Geburt eines Menschen bevorstehe, der ihn und sei-
um Glauben besiegen würde; darum hätte er alle neugebo-
Die Israeliten in Mekka, das altm
reiten Knäblein tobten lassen. Jerach's Frau aber wäre in
eine Höhle geflüchtet und hätte dort den Abraham geboren,
der lange in dieser Höhle verborgen geblieben sei. Von den
Juden kam diese Ueberlieseruug auch zu den Arabern, und
man zeigt noch jetzt zu Orfa, dem alten Edefsa, welches
man mit dem Ur der Chaldäer identisicirt, die Höhle, in
welcher Abraham geboren sei.
Bei den älteren Propheten ist Abrain eben so wenig
eine Person; sie bezeichnen durch ihn, eben so wie durch Israel
und Jakob, das ganze israelitische Volk, wie denn auch
der Name Assur, der in einem andern Lande jener des „Va-
ters der Götter" war, das Volk bezeichnet, welches wir As-
syrer nennen. Ezechiel 33, 24 sagen die Israeliten, welche
im verwüsteten Judäa zurückgeblieben: „Abraham war
ein Einzelner und hatte das Land im Besitz, und wir sind
Viele, uns ist das Land in Besitz gegeben." Auch in dieser
Stelle ist er keine historische Person. Der Stein, der Fels-
block war einzeln im Lande, und doch ist daraus ein großes
Volk entsprungen. Der alten Vorstellung zufolge dachte
man ihn sich als einen beseelten Stein, denn dies war der
diesen Bätylen eigentümliche Name, AL&oi e[iipv%oi,
und gerade dieser Umstand erleichterte es später, Abraham
als Menschen hinzustellen*).
Wenn die Erzählungen über Abraham und Sara etwa
schon gegen Ende des babylonischen Exils bestanden, so hat-
ten sie doch für die Propheten noch keine Autorität. Die
Verfasser der Genesis, welche sonst auch Länder, Städte,
Ereignisse :c. als Namen historischer Personen darstellen, ge-
hören zu der zahlreichen Classe von Schriftstellern, welche
wir nach Enhemerns, dem bekannten Philosophen der cyreni-
schen Schule, Euhemeristen nennen, und die nach dem Ver-
falle der alten Religionen danach strebten, die alten Götter als
Menschen darzustellen, die früher wirklich gelebt und verdienst-
volle Thaten verrichtet hätten. Sobald man dem Jehova
*) Nachdem wir das Obige geschrieben, kam uns das ganz aus-
gezeichnete, grundgelehrte, scharf kritische und vortreffliche Buch von
Julius Braun in München, „Historische Landschaften"
(Stuttgart, Cotta 1867) in die Hände. In demselben werden „die
erlesensten Theile" der alten Historie landschaftlich illustrirt in Scene
gesetzt. Wir werden auf das auch geschmackvoll geschriebene Werk
zurückkommen, und wollen hier nur aus dem Abschnitt über Moses
eine Stelle hervorheben, in welcher, wie auch sonst noch häufig, die
Ansichten des deutschen Gelehrten mit jenen des holländischen Orien-
talisten zusammentreffen, obwohl beide ganz unabhängig von einander
dastehen. S. 13: „In Wahrheit ist Jehova ursprünglich kein an-
derer als der auch von den Babyloniern höchst verehrte Gott. Dort
heißt er El, wie bei den Hebräern, und Jao, wie gleichfalls bei
den Hebräern, denn der Name Jehova ist anerkanntermaßen nur aus
falscher Vocalsetzung entstanden und seine richtige Aussprache ist
Ja höh, Jao. Nach griechischer Ueberlieferung bei Diodor :c. hieß
der Hebräergott Jao und nicht umsonst erklärten schon die Alten den
babylonischen Jao und Sebaoth für eins mit dem hebräischen. Jener
babylonische Gott war ursprünglich ein Saturn, Gott der Urzeit.
Auch vom Gotte der Hebräer wußten die fremden Völker nicht anders
als daß er Saturn sei (Taeitus, Historien V. 2.). Der hebräische
Prophet Amos selber (V. 26) nennt den Gott, den die Hebräer in
der Wüste vor sich hertrugen, Chijun (Kevan), was tiner der ver-
breitetsten Satnrnnamen ist. Und wenn die Phöniker, dieses nächste
Nachbarvolk der Hebräer und dem gleichen babylonischen Cultnrkreis
angehörig, ihren Saturn auch Eljou und Israel nannten, so
sind dies Namen, die bei den Hebräern auch den Hebräergott be-
zeichneten. Diesem Hebräergott war der siebente Wochentag, der
Sabb ath, heilig; dies ist aber der Tag, der in der ganzen übrigen
Welt dem Saturn gehört/'
Auch Braun erklärt (in dem Abschnitt: Jerusalem S. 129)
gleick Dozy den Abraham für eine mythische Figur: „Abraham,
welcher Dank der biblischen Darstellung so rein menschlich und so
sehr menschlich vor uns da steht, ist in Wahrheit so durchdrungen
von Niederschlägen aus der Kronos- oder Saturnsage, daß eine hi-
storische Existenz, auch wenn sie vorhanden gewesen wäre, unter der
Last dieser Niederschläge zergangen ist." Für die Begründung dieser
Ansicht müssen wir ans das Bnch selbst verweisen. A.
Manische Heiligthum und der Islam. 303
eine ausschließliche und unbedingte Herrschaft zuschrieb, inußte
der Gott Abram ausgeschlossen^ werden. Man ersetzte den
Mythus, nach welchem die Israeliten einem Felsblock eut-
sprossen waren, durch eine andere Darstellung des Ursprungs
der Menschheit. Der Verfasser des Anfangs der Genesis
hat seine Erzählung anderen Völkern entlehnt, und außer-
dem sind seine Darstellungen erst sehr spät zu den Hebräern
gelangt.
Nachdem man zum Monotheismus übergegangen war,
fanden die Priester die Erinnerung an die Baum- und Stein-
Verehrung unangenehm; sie suchten zu mildern. Die heili-
gen Steine werden zu Denkmälern und Altären; das
letztere waren sie auch, denn auf den Steinen wurde geopfert,
obwohl nicht dem Jehova, sondern dem in dem Steine woh-
nenden Gotte. Dieser Cnltns ist nicht etwa ein grober Fe-
tischdienst gewesen. Die Steine und Bäume waren nur
Wohnort der Götter, von dem diese sich nach Belieben tren-
nen und in den sie wieder zurückkehren konnten, etwa wie der
Mensch wieder nach seiner Wohnung zurückkehrt. Daher
deuu auch der Name Beth-El, d. h. Hans Gottes bei
den Hebräern für solche heiligen Steine; bei den Grie-
chen Bätylos. Jakob sagt 1 Mose 28, 22: „Dieser
Stein, den ich als eine MaxZsba (das ist die gewöhnliche
Benennung für einen heiligen Stein) errichtet habe, soll ein
Hans Gottes sein." Im alten Testamente kommen heilige
Steine und Bänme in großer Menge vor, und Dozy (S. 28 ff.)
führt eine Anzahl derselben auf. Oft kommen Baum, Stein
und Brunnen zumal als heilig an derselben Stelle vor, z.B.
bei Berseba, und eine ähnliche Verbindung trifft man auch
in Arabien. Die Verehrung des heiligen Steins ist erst in
später Zeit untersagt worden. Noch Hosea betrachtet als
das größte Unglück, welches den Kindern Israels widerfahren
könne, „daß sie viele Tage dasitzen werden ohne König und
ohne Fürsten, ohne Opfer und ohne Mciggebas." Die letz-
teren halten damals etwa dieselbe Bedeutung, wie später bei
den Christen die Heiligenbilder; sie wurden von den Jeho-
visten geduldet uud erst viel später verboten.
Mit dem Namen Ha Baal, d. h. der Herr, im Gegen-
satze zu den Menschen, die seine Diener sind, bezeichnete man
in einem großen Theile Vorderasiens das höchste göttliche We-
seil, welches zugleich die Sonne und die Planeten Sa-
turn und Mars vorstellte, also, wie Movers urtheilt, die
erzeugende, erhaltende nnd zerstörende Kraft. Den
Karthagern und Phöniciern galt er als Saturn für die
höchste Gottheit, als El im höchsten Sinne des Wortes, dem
alle übrigen Elohim nnterthan waren. Auch bei deuJsrae-
liten in der Wüste, die nach Ezechiels Zeugnisse stets den
Götzen dienten, wurde Baal als höchster Gott angesehen.
Das Volk war nach ihm genannt, denn Israel war, wie
Sanchnniothon bezeugt, einer der Namen des Saturn, und das
tragbare Heiligthum, die Stiftshütte, war diefemBaal-
Saturn geweiht. Die Priestersagen möchten es scheinen
lassen, als sei die Stiftshütte ein Heiligthum Jehova's ge-
Wesen, aber Amos, einer der ältesten Propheten, der zwischen
811 und 784 v. Chr. schrieb, legt Jehova Folgendes in den
Mund: „Hast du mir Opfer uud Gaben dargebracht in
der Wüste vierzig Jahre lang, o Hans Israel? Du trügest
das Zelt deines Köuigs und Kijnn, dein Götzenbild, den
Stern deines Gottes, den du dir gemacht hattest." Ki-
jun ist der Planet Saturn, Baal; auch die Karthager hatten
für ihn ein tragbares Heiligthnm. Kijnn-Baal war alfo
während des ganzen Aufenthaltes in der Wüste die NaHo-
nalgottheit der Israeliten, ihr König im theokratischen
Sinne; ihm war die Stiftshütte geweiht nnd ein öffentlicher
Jehovadienst bestand nicht mehr.
DieBnndeslade, welchesonst gewöhnlich im Allerheilig-
304 Die Israeliten tu Mekka, das altm>
steil der Stiftshütte stand, befand sich zur Zeit David's zu Gir-
jath-Jearim in Inda; dieser Ort wurde auch Girjath-Baal
oder kurzweg Baal genannt. David ging nach Baal in
Juda, um von dort die Bundeslade zu holen. Dem Baal-
Saturn war auch der siebente Tag der Woche heilig, der
S abb ath. Bei den Aegyptern war der Saturnstag der erste
in der Woche. Von den Rabbinern ist Saturn bis in sehr
späte Zeiten herab Sabbethai genannt worden; noch 1492
hieß er bei den spanischen Juden „der Stern Israels".
Als der Iehovismns trinmphirt hatte, mochten begreif-
licherweise die Schriftgelehrten nicht mehr zugeben, daß der
Sabbath der dem Baal-Saturn geheiligte Tag gewesen sei;
deshalb brachten sie den Sabbath mit der Dienstbarkeit in
Aegypten in Verbindung; so 3 Mose 5, 15. „Aber bis zur
Zeit des Exils hatte man für deu Sabbath noch keine Pas-
sende Veranlassung ersonnen, indeß Esra fand eine solche,"
denn man darf unbesorgt annehmen, daß er es war, der die
persische Schöpfungsgeschichte verbunden mit der Persischen
Paradiesgeschichte in den Anfang der Genesis setzte. Denn wer
hatte bessere Gelegenheit, die persischen Sagen zu kennen als er,
der lange im persischen Reiche gelebt hatte und vom persischen
Könige nach Judäa gesandt war „mit dem Gesetze seines
Gottes, den er in Händen hatte." Nun wurden auch die
Stiftshütte und die Bnndeslade, welche ursprünglich dem
Baal gehörten, mit Iehova in Beziehung gebracht. Das
war auch nicht schwierig, denn man hatte, wie Movers nach-
weist, allmälig eine Anzahl Attribute und Symbole von Baal
auf Iehova übertragen. Die Schriftgelehrten verfuhren mit
Baal ebeu so wie mit deu Steiugötteru, denn auch diese wur-
den von ihnen mit Iehova, dem Gotte des Moses und An-
derer, identificirt, obgleich die Begriffe, von denen der Je-
hovadienst und der Steindienst ausgehen, weit aus einander
lagen.
DieGelehrteu sind einig darüber, daß wir die zehnGe-
böte in zwei verschiedenen Recensionen haben. Professor
Vatke weist in seiner „Biblischen Theologie" nach, daß das
zweite Gebot: „Du sollst dir weder ein geschnitztes Bild noch
ein Gleichniß machen" :c., unmöglich von Moses herrühren
könne, denn dieser handelte dem Gebote entschieden zuwider,
indem er eine eherne Schlange aufrichtete, und dieser „eher-
nen Schlange, die Moses gemacht hatte", haben die Jsrae-
liten geräuchert bis in eine Zeit, die schon gänzlich aus dem
Gebiete der Sage hinausgetreten ist; erst König Hiskia zer-
brach diese Schlange des Moses. Winer sagt in seinem
„Biblischen Realwörterbnche": „den spätem Rigorismus
eines bilderlosen Glanbens darf man noch nicht in der Wüste
bei den Israeliten suchen." Dozy nimmt an, daß auch
Moses selbst seinen Iehova in der Gestalt eines Stiers
(— Apis —) verehrt habe. Allerdings war dieser Cultus
im nördlichen Reiche stets der herrschende, auch unter den
Königen, welche unter dem Einflüsse der Propheten auf deu
Thron kamen, und in diesem Stiercnltus fand man nichts
Anstößiges. Mehrmals wird vom goldenen Stiere gesagt:
„Dies ist dein Gott, Israel, der dich aus dem Land Aegyp-
ten herausgeführt hat." Aber auch in der Gestalt eines
Bockes wurde er verehrt. Der Bock war bekanntlich die
Gottheit des mendesischen Bezirks in Aegypten, itnb mtch diese
Art des Jehovadienstes war ägyptischen Ursprungs; nur ver-
ehrte man dort nicht ein Bild, sondern einen lebendigen Bock.
Die Verehrung des Iehova als einer unsichtbaren Gott-
heit fällt erst in spätere Zeit nnd ist eine Folge der entwickel-
teren Ideen der Propheten*).
') Zu England haben die Anthropologen angefangen, von ihrem
Standpunkts aus die alten jüdischen Urkunden kritisch zu beleuchten.
So (S d tt). 11 l to H in den Memoirs read before the Anthropological
Society, 1866. Vol. II. p. 272 Sq. in einer Polemik über den Phal-
anische Heiligthnln lind der Islam.
Wenden wir uns nun nach Arabien. Wann und von
welchem Volk ist das Heiligthum in Mekka gebaut wor-
den und welchem Gotte war es ursprünglich gebaut und wes-
halb wurde der schwarze Stein verehrt? Welchen Ursprung
hatte das mekkanische Jahresfest, welches Mohammed bestehen
ließ?
Das Heiligthum bestand ursprünglich nur aus einem von
einer Mauer umringten Platze ohne Dach. Es wurde nur
von deu Stämmen verehrt, welche in den Umgebungen Mek-
kas wohnten. Dozy's Forschungen führen, wie schon oben
gesagt wurde, zu folgenden Ergebnissen:
1) Das mekkauischeHeiligthum ist zur Zeit Da-
vid's vonJsraeliteu gestiftet worden, und zwar von
dem Stamme Simeon. Diese Simeoniten sind die so-
genannten Jsmaeliten, welche von den Arabern auch die
ersten Gorhum genannt werden.
2) Das mekkanische Fest wurde von denselben eingesetzt;
die dabei stattfindenden Feierlichkeiten erklären sich ans der
israelitischen Geschichte. Viele Wörter, wodurch dieselben
bezeichnet werden, sind hebräischen Ursprungs.
3) In der babylonischen Periode kamen Juden, welche
aus der Gefangenschaft entronnen waren, nach Mekka. Die-
ser Name bedeutete ursprünglich keine Stadt. Diese Juden
sind die zweiten Gorhum der arabischen Schriftsteller.
Diese Sätze werden von Dozy mit ausgezeichnetem Scharf-
sinn und streng kritisch begründet. Gegen die Zeit des Kö-
nigs Saut hin verschwindet der Stamm Simeon ausPa-
lästiua; er war zum größten Theil ausgewandert in das
nordarabische Gebirge und zwar zur Zeit der Regierung
Saul's. Auch aus arabischen und anderen Quellen wissen
wir, daß Israeliten sich zn verschiedenen Zeiten in Arabien
niedergelassen haben.
So weit die Erinnerung reicht, findet sich in ganz Ära-
bien nur Ein Ort, welcher Herem oder Haram (d. h. das
der Gottheit Geweihete, welches ihr nie wieder genommen
werden dars) heißt, und dies ist das heilige mekkanische
Gebiet. Die Grenzen desselben waren mit Steinen oder
Säulen bezeichnet, welche kein Mensch überschreiten durfte,
der sich zu einer andern Religion bekannte. Die Stadt
Mekka, oder richtiger ausgesprochen Makka, ist erst im fünf-
ten Jahrhundert unserer Zeitrechnung erbaut worden. Der
Name ist uicht arabisch, sondern aus dem Hebräischen zn
erklären: Makka rabba, großes Schlachten, das große
Schlachtfeld, das zu Herem gemacht wurde, nachdem die Si-
meoniten dort einen großen Sieg gewonnen hatten.
Zu Mohammed's Zeit war in Mekka Hobal dieHanpt-
gottheit; sein Bild von Agat in Form eines Mannes wurde
aus Befehl des Propheten in Stücke zerschlagen. Er war
kein ursprünglich arabischer Gott, sondern soll im dritten
Jahrhundert nach Christus aus Syrien oder Mesopotamieli
nach Arabien gekommen seiu. Aber das ist Sage. Der Gott
ist Ha Baal, der simeonitische Baal, welcher von Anfang
an die Hauptgottheit im mekkanischen Tempel gewesen ist.
Bis ins zwölfte Jahrhundert unserer Zeitrechnung wissen
arabische Schriftsteller noch sehr wohl, daß das mekkani-
sche Heiligthum ursprünglich ein Tempel Satnrns
gewesen ist. Die Simeoniten verehrten Baal-Saturn;
denn als sie zu Saul's Zeiten Kanaan verließen, war Baal
lloch die Hauptgottheit der Israeliten. Mohammed wußte,
daß jenes Heiligthum vierzig Jahre früher als der Tempel
Salomonis erbaut worden war.
lusdienst. Ii: Betreff der Bnndeslade weist er hin auf Isis and. her
mystic ark or coffer. In it was carried the distinctive mark of
both sexes, the Lingam and Yoni of the modern Hindus. Aene
Polemik, auf welche wir hier nicht näher eingehen können, ist in-
teressant. A.
Die Israeliten in Mekka, das altui
Mekka führt sehr viele Namen, die wir hier nicht alle
herzählen wollen. Der arabische Theolog Nawwabi sagt:
Es giebt keine anderen Städte, die so viele Namen haben,
wie Mekka und Medina, weil diese beiden die edelsten der
Erde sind.
Der berühmte Brunnen Zemzem im mekkanischen Hei-
ligthnme hieß in alten Zeiten Ber fet)a; die Simeoniten
gaben dem heiligen Brunnen zu Mekka denselben Namen,
welchen der heilige Brunnen in ihrem Lande führte. Der
neuere Name rührt von dein Gesumm beim Gebet an dein
heiligen Brunnen her. Ehemals stand bei demselben auch
ein heiliger Baum, wie das auch bei jenem in Kanaan
der Fall war.
Hagar und Jsmael, sagt Dozy, sind eben sowenig
geschichtliche Personen wie Abraham und Sara. Der Name
Hagar ist eiue etymologische Mythe; ein Gleiches gilt von
Ketnra, dem Namen der Frau, mit welcher Abraham in
seinen alten Tagen sechs Söhne gezeugt haben soll. Denn
Ketnra bedeutet Weihrauch, und die Völker Arabiens,
die von ihr abstammen sollen, wohnten im Weihrauchlande
oder handelten wenigstens mit südarabischen Producteu. Ha-
gar bedeutetAusläuder; Garim oderGerim(in der Mehr-
zahl) hießen die Erzväter in Kanaan, denn das Land gehörte
ihnen nicht; so hießen auch die Israeliten in Aegypten, eben
so die Simeoniten, welche ja als Einwanderer kamen, in
Arabien. Gorhnm ist die arabische Form.
Die Simeoniten sind die Jsmaeliten; den Nachweis
führt Dozy S. 96 ff. Der Name ist fein ethnographischer
geblieben, sondern auch zu einem geographischen geworden,
mit dem die Völker Nordarabiens im Allgemeinen
bezeichnet wurden. Die Bedeutung erweiterte sich im Fort-
gange der Zeiten und bei seiner Anwendung werden keine
fest bestimmten Grenzen im Auge gehalten. Mit dem Na-
men Ha gerim ging es eben so.
Das große mekkanische Fest ist eine Nachahmung des
israelitischen Gilgal, welches eingesetzt war zum Andenken
an die Thaten der Israeliten während der Eroberung Ka-
naans. Der Ort lag zwischen Jericho und dem Jordan und
war lediglich ein runder Steinhaufen. Dieser war hei-
lig, dort hatte jeder der zwölf Stämme eine Steingott-
heil, gewissermaßen ein Heiligenbild aufgestellt, weil dort zu-
erst die Israeliten festen Fnß in Kanaan gewonnen hatten.
Den Verkündern des reinen Jehovismus war späterhin Gil-
gal „ein Stein des Anstoßes", weil sich Erinnerungen einer
ganz andern Religion an denselben knüpften, eben so die dor-
»tigen Fesilim, Götzenbilder, die man dann gern für ge-
wohnliche Steingruben ausgeben wollte.
Hadsch bedeutet im Arabischen Wallfahrt, Pilgerzug, im
Hebräischen aber Fest, und das letztere ist die ursprüngliche
Bedeutung. Beim Feste rufen die Pilger aus: „Labbeika
allahumme labeika." LahuMMe ist das hebräische Elo-
him, Gott. Die Uebersetzer geben jenen Pilgerruf lab-
beika mit den Worten wieder: „ich bin bereit dir zu ge-
horchen." Aus dem Arabischen ist er nicht zu erklären. Dozy
erörtert den Gegenstand und kommt zu folgendem Ergebnisse:
„Wenn man bei dem Feste rief: labbeka, elohim, lab-
beka! oder wenn man ausrief: hanäneka, elöbim, hanä-
neka, — beute Flamme, o Gott, deine Flamme! deine
Wolke, o Gott, deine Wolke!" — so rief man das Allerhei-
ligste an, das im Baal-Cultus bestand, so rief man Baal
selbst an, wie er sich unter den Symbolen der heiligen Flamme
und des heiligen Rauches vom Altar den Menschen offen-
barte. Beide Symbole sind dann späterhin anf Jehova über-
tragen worden.
Die Moslemin verstanden die Ausdrücke nicht, weil ihnen
das Hebräische uubekannt war. Die eigentliche Bedeutung
Globus XI. Nr. 10.
kanische Heiligthum und der Islam. 305
der alten Religion war seit Vertreibung der zweiten Gorhum
unter den arabischen Stämmen, die an ihrer Stelle anstra-
ten, allmälig in Vergessenheit gerathen. Auch die Gebräuche
beim Feste waren viel zu alt und zu echt israelitisch,
als daß die Mohammedaner ihren eigentlichen wahren Sinn
hätten ergründen können.
So ist, um nur Einiges hervorzuheben, der siebeuma-
lige Umgang um den Tempel eine alte israelitische Sitte,
die auch noch gegenwärtig bei einem jüdischen Feste zu Mekka
und aus der Küste Malabar beobachtet wird; man geht mit
dem Pentateuch siebenmal um die Synagoge und singt dabei
Psalm III. Am siebenten Tage des Laubhüttenfestes findet
anch bei den Juden in Europa ein siebenmaliger Umgang
um das Pult in der Synagoge statt und sie sagen dabei Gebete
her zc. Der mekkanische siebenmalige Umgang erinnerte ur-
sprünglich an die Einnahme Jerichos, und der Name, wel-
chen der Tag des Umgangs trägt, „Tag des Posaunenschalls",
ist sehr bezeichnend. Ueberhaupt wurden beim mekkanischen
Feste Scenen aus der Eroberung Kanaans vorgestellt. Da-
hin gehört namentlich auch das Steinewersen im Thale
Mina am zehnten Tage des Monats dreimal an verfchie-
denen Stellen. Grund und Bedeutung sind den Arabern
unbekannt, denn ohne Zweifel sind sie im Jrrthnm,
wenn sie glauben, daß die Steine nach dem Teufel
geworfen würden. Die alten Semiten kannten
keinen Teufel; der Teufel ist persischen Ursprungs.
In der Erzählung des Buches Josna findet man drei St ei-
niguugen, keine mehr oder weniger. Es ist überhaupt
merkwürdig, daß die mekkanische Feierlichkeit selbst in Bezug
auf Kleinigkeiten mit dem Buche Jofua übereinstimmt.
Die alten jüdischen Einwanderungen und Colonien haben
einen großen Einfluß auf Mohammed und die Stif-
tuug des Islam gehabt. Im sechsten Jahrhundert bestand
noch eine schwache Erinnerung an die alte Religion; man
nannte sie Diu Ibrahim, wußte aber uicht mehr, daß
dieser Ausdruck: Religion der Hebräer bedeute; man wußte
eben so wenig, worin die alte Religion bestanden habe. Nur
so viel stand noch fest, daß sie eine reinere gewesen als jene
der Koreischiten. Durch deu Einfluß dieser letzteren war die
Religion der Gorhum (welche außer dem höchsten Gotte Baal,
dem Jehova und dem Schwarzen Steht keine anderen Gott-
heiten gehabt zu haben scheinen) völlig entartet. Der Tem-
pel war in ein Pantheon verändert, wo jeder Stamm seine
Gottheit fand, fo daß es 360 derselben gab. Als dann spät
die Mekkaner auf eine höhere Stufe der Entwicklung gelang-
ten, strebten sie, die ältere, reinere, „Din Ibrahim", wieder
herzustellen. Darauf ging das Trachten der Vorläufer Mo-
hammed's hin; es war ihnen jedoch unmöglich zu ergründen,
worin die alte Lehre eigentlich bestand. Aber sie wurden doch
monotheistisch. Den Haupteinfluß auf die Gestaltung des
Mohammedanismus übte das Judenthum, der sogenannte
Mosaismus; ja, der Islam ist ganz und gar aus dem
Judenthum hervorgegangen. Bisher hielt man den
größten Theil der moslimischen Lehrsätze für israelitisch, alles
Uebrige dagegen für heidnisch, arabisch; aber anch das letz-
tere ist israelitischen Ursprungs. —
Das sind im Wesentlichen die Ansichten und Resultate
des berühmten Leydener Orientalisten. Manches ist schon vor
ihm von deutschen Kritikern und durch Forschungen ermittelt
worden, aber die Untersuchungen über die Erzählungen von
Abraham siud unseres Wissens nie zuvor so eingehend und
scharf augestellt worden. Ihm zufolge sind diese Erzählungen
nicht älter als die Mitte des fünften Jahrhunderts vor Chri-
stus. Somit siele der „Erzvater" weg, und wenn Abraham
ein Stein und keine Person war, so kann er auch nicht
Stammvater der Juden sein, so wenig wie Jsmael Stamm-
39
306
Aus dem nordamerikanischen Rumpfeongresse.
vater der Jsmaeliten. Die Geschichte des jüdischen Volkes
und seine Religion gewinnen also ganz neue Anfänge, Aus-
gcinge und Perspectiven.
Die Simeoniten oder Jsmaeliten, ersten Gorhnm, ver-
schwinden allmälig aus der Geschichte. Die zweiten Gorhum
wohnten noch mit ihnen zusammen; wahrscheinlich sind sie
nach und nach in denselben, sodann auch in arabischen Stäm-
men und jenen Juden, die in der römischen Zeit nach Ära-
bien kamen, aufgegangen und bildeten kein selbständiges Volk
mehr. A.
Uns dem nordamerikanische« Uumpfcongrejse.
Es gewährt ein peinliches Interesse, zu beobachten, wie
in dem großen transatlantischen Staatenbunde die Ueberlie-
fernngen aus den guten alten Tagen eine nach der andern
über Bord geworfen werden. Durch das allgemeine Stimm-
recht ist der politische Verfall und die Ausartung nicht etwa
aufgehalten worden. Das „Docmnent anf dem alten Stück
Schweins- oder Eselshaut, das weiter nichts ist als ein Ver-
trag mit der Hölle," — so ist die Bundesverfassung, welcher
einst! Georg Washington die Weihe gegeben, oftmals von den
Radicalen bezeichnet worden, — ist an allen Ecken und En-
den durchlöchert worden und in der That nur noch ein Fetzen.
Die Radicalen, welche seit sechs Jahren die Herrschaft aus-
üben und sehr uneigentlich ihre Partei als die „republikani-
sche" bezeichnen, haben so ziemlich reine Bahn gemacht und
ein Willkürregiment geführt, das in der Geschichte nicht viele
seines Gleichen hat. Dabei ist wohl zu beachten, daß diese
herrschende Partei eine Minderheit bildet. Lincoln hatte
mehr als eine Million Stimmen weniger als die drei
demokratischen Candidaten; weil aber die demokratische Partei
sich nicht über einen einzigen Bewerber verständigen konnte,
unterlag sie und hatte ihren Fehler ans das Bitterste zu be-
reuen.
Elf Staaten kämpften für ihre Unabhängigkeit vier Jahre
lang mit der größten Tapferkeit und Ausdauer; dann unter-
lagen sie der Uebermacht und den Soldtruppen des Nordens.
Die Radicalrepublikaner, deren Vorfahren sich einst der Thee-
stener wegen vom englischen Mutterlande getrennt und die als
ein unveräußerliches Recht verkündeten, daß jedes Gemein-
wesen sich unabhängig und seinen Interessen gemäß nach
eigenem Belieben constituiren dürfe, behandelten den Süden,
nachdem sie ihn besiegt hatten, als Rebellen, und sie halten
noch heute daran sest. Sie haben alle ihre früheren Pomp-
haften Verkündigungen: daß sie lediglich für Wiederherstel-
lnng der Union den Krieg geführt, Lügen gestraft; sie be-
handeln die „Rebellenstaaten" uiit einer raffinirten Härte
und ihr ganzes Thun und Streben ist darauf ge-
richtet, jene unterjochten Staaten längere Zeit vom
Eintritt in die Union zurückzuhalten.
An „Wiederherstellung der Union" liegt diesen Radical-
repnblikanern vorerst gar nichts. Sie wollen dieHerrschast
behalten, die einträglichen Stellen und Aemter; sie möch-
teu „an der Krippe" bleiben und außerdem an ihren politi-
schen Gegnern auch im Norden selbst, an der demokratischen,
verfassungstreuen Partei, den „Copperheads", ihr Müthchen
kühlen. Im Norden bilden diese Radicalen eine Mehrheit,
doch ist ein Umschlag in der öffentlichen Meinung auch dort
nicht zu verkennen, denn bei den Märzwahlen hat ein neu-
engländischer echter Mnleestaat, Connecticut, drei demokrati-
sche Kongreßmitglieder statt der bisherigen republikanischen
und obendrein noch einen Demokraten zum Gouverneur ge-
wählt. Nimmt man die Union im Ganzen, so ist die radi-
cale Partei auch jetzt um mindestens eine halbe M illion
Stimmen in der Minderheit, weil der ganze Süden, sobald
er nicht mehr als unterjochtes Land nach der Willkür des
nördlichen radicalen Rnmpscongresses behandelt würde, son-
dern sein Recht ausüben könnte, mit den nördlichen Demo-
kraten stimmt. Dann wäre es sofort vorbei mit der Herr-
fchaft der radicalen Partei.
Sie will aber ihren Sturz so lange und so weit hinaus-
schieben als möglich. Ihr liegt Alles daran, die „Rebellen-
staaten" nicht eher wieder in die Union zu lassen, als bis
die nächste Präsidentenwahl entschieden ist, und ihren
Sieg hält sie für gewiß, wenn der ganze Süden bis dahin sei-
nes Stimmrechts beraubt bleibt. Nun vergesse man nicht, daß
seit 1361 nur ein Rumpscongreß Alles entschieden hat; in
demselben bildete die radicale Partei der „Exterininatoren"
die Mehrheit, und auch nach Beendigung des Krieges ist die
demokratische Minderheit in demselben mit beispielloser Bru-
talität behandelt worden.
Dem Präsidenten Johnson geht es nicht besser. Der
Mann war gewissenhaft genug, sich daran zu erinnern, daß er-
den Eid auf die Verfassung geleistet habe, daß er der höchste
Staatsbeamte des ganzenLandes und nicht einer Partei
sei. Er trachtete dahin, eine Aussöhnung mit dem Süden
anzubahnen, er wollte uin so mehr eine anf annehmbaren
und ausgleichenden Bedingungen ruhende „Reconstruction",
weil ja die Sklaverei im Süden aufgehört hatte uud dieser
Stein des Anstoßes also beseitigt war. Er wollte den Frie-
den nicht bloß äußerlich, sondern auch in den Gemüthern
wieder herstellen, wollte nicht, daß dasselbe Land ewig in
zwei einander bis aufs Blut und Messer feindselige Hälften,
eine unterjochende und eine zu Boden getretene, zerfallen solle.
Er sprach aus, daß es Zeit sei, „der wilden, im Uebermaße
und mit Hintansetzung aller christlichen Pflichten und Ge-
fühle ausgeübten Rache" ein Ende zu machen.
Dafür wird er von den Radicalen, die in ihm nur ein
willenloses Werkzeug haben möchten, in einer maßlos Pöbel-
haften Art behandelt*nnd mißhandelt. Die wilden Auftritte
zur Jakobinerzeit in Paris tragen auch in ihren extremen
Auswüchsen und Ausschreitungen noch den Stempel des An-
ständigen und Edlen im Vergleiche zu dem wahrhaft niedri-
gen Skandal, welcher ununterbrochen im Rnmpfcongresse der
Nordstaaten vorfällt. Das ganze Treiben ist dermaßen wider-
wärtig, daß es selbst an so rohen Handwerkspolitikern anssal-
lend erscheinen kann.
Der im März 1867 geschlossene 39ste Congreß hat in
solchen Dingen das Mögliche geleistet, aber von dem 40sten,
welcher unmittelbar nach ihm sich versammelte, ist er beinahe
schon überflügelt worden, obwohl dieser letztere nur etwa eine
Woche beisammen war und sich dann vertagte.
Die Vorgänge in Nordamerika sind auch — völker-
psychologisch genommen — von Wichtigkeit, weil sie einen,
wie es scheint, unaufhaltsamen Zersetzuugsproceß in den Gei-
stern anzeigen. Der frühere amerikanische Geist ans
den guten Tagen der Union ist völlig aus den Ge-
müthern der buntscheckigen Massen gewichen, welche
Aus dem Nordamerika
in jenem Lande neben und durch einander leben. Die innere
Eohäsion ist ihm abhanden gekommen, der Sinn für Aus-
gleichung fehlt; das ganze staatliche Leben ist rottefaul ge-
worden und durch und durch iu einer abscheulichen Weise
corrumpirt *). Neben der allgemeinen Käuflichkeit feiert der
religiöse Fanatismus feine widerwärtigsten Orgien, der fin-
stere Sabbathpnritanismus macht sich breit, und daneben er-
schallen aus fämmtlichen Landestheilen laute Klagen Uber
die grauenhaft anwachsende Verwilderung und Entsittlichung.
Faßt man aber lediglich die materiellen Verhältnisse ins
Auge, dann sieht das Bild etwas weniger trübe aus, obwohl
der Pauperismus an Ausdehnung gewinnt, das Land höher
besteuert ist als irgend ein anderes in der Welt und die Schul-
deulast über 4000 Millionen Thaler beträgt.
Unsere deutschen Zeitungen widmen den nordamerikani-
schen Verhältnissen viel zn geringe Aufmerksamkeit, obwohl
dieselben ganz entschieden von Wichtigkeit sind. Seitdem die
Politik von Frankreich und England die günstige Gelegenheit
versäumte, dem „Riesen Jonathan" das Wachsthum schwerer
zu machen und seinem Uebermuth einige Schranken zu fetzen,
*) Wir wollen folgende Stelle aus einem Berichte des zur ra-
dicalen Partei gehörenden Neuyorker Correspondenten der „Allge-
meinen Zeitung" (Nummer vom 1. Mai) hierhersetzen.
Man hat es im Staate Nenyork, der in Betreff des politischen
Schematismus fast für die Hälfte aller übrigen Staaten maßgebend
ist, zwanzig Jahre lang mit der Anwendung des allgemeinen Wahl-
rechts auf alle Functionen des Staats- und Gcmeindclebens versucht,
uud das Ergebniß ist ein entsetzlich niederschlagendes. Es wäre ge-
wissenlose Unterschlagung der Wahrheit, wenn man leugnen oder
verschweigen wollte, daß die maßloseste, schamloseste und ekel-
Hasteste Korruption erflossen ist aus der Voraussetzung,
daß das „Volk", d. h. die Majorität aller volljährigen
Männer, denJnbegriff aller Weisheit undTngend bilde.
Kurz und deutlich gesagt: die aus dem allgemeinen Wahl-
recht hervorgegangenen Communalverwaltungen unserer großen Städte,
und nicht der größten allein, sind sittliche Cloaken. Die geistige
Beschränktheit und Sittenrohheit eines fortwährend aus den niedrig-
sten Bevölkerungsschichten Europas recrutirten Pöbels (— aber doch
auch aus den Yankees —) bildet den Fußschemel, auf welchem rohe,
aber verschmitzte Handwerkspolitiker an das Ruder der öffent-
lichen Verwaltung emporklimmen, und nicht bloß in die Verwal-
tung, sondern auch auf die Richterstühle und in die Hallen der
Gesetzgebung. Die schamlose Offenheit, womit in den
regierendenKreisen gegaunert und ge st ohlen wird, wirkt
alsdann demoralisirend auf das Volk zurück. Das sittliche
Gefühl stumpft sich ab; an die Stelle der moralischen Entrüstung
über die Korruption öffentlicher Beamten tritt zuerst die aus der
Gewöhnung entspringende Duldung, dann sogar eine gewisse nei-
dische Bewunderung der Schlauheit, welche der sittlichen
Verworfenheit zum Erfolg verhilft. In der Thatsache, daß die voll-
kommenste Rede- und Preßfreiheit es gestattet, die öffentlichen Gauner
bei diesem und noch viel härterem Namen zu nennen, findet man
hinlängliche Genugthuung für ihr Vorhandensein. Daß ein spitz-
bübischer Beamter, der so ungeschickt gewesen ist, sich ertappen zu
lassen, nicht zum zweiten Male gewählt wird, gilt als exemplarische
Strafe für Verbrechen, die von Rechtswegen ihren Urheber ins Zucht-
Haus bringen sollten. Dabei steigt unter gänzlicher Verwahrlosung
der öffentlichen Interessen die Steuerlast in sv erschreckendem Grad,
daß sie geradezu unerträglich sein würde, wenn nicht dem gigantischen
materiellen Wachsthum des Landes auch eine fast unglaubliche Stei-
gerung der Steuerkrast in den großen Handelsmetropolen entspräche-
Der ruhige, gewerbfleißige Bürger hier inNeuyork be-
trachtet die schweren Steuern, welche er alljährlich an
eine Rotte vonTagedieben zahlt, deren er keinen jemals
in sein Haus einladen würde, als eine Art Lösegeld an
den herrschenden Pöbel. In der Staatsgesetzgebung tritt die
Korruption wohl in anderer Form, doch nicht in geringerm Grade
auf. Da es eine Staatsverwaltung kaum dein Namen nach
giebt, und tausenderlei unbedeutende Kleinigkeiten, die in Deutschland
durch einfache Verfügung eines Landraths oder Kreisdireetors erledigt
werden, eines Specialgesetzes bedürfen, so kommen auch Tausende
von Fällen vor, wo ein Privatmann oder eine Corporation speciellen
Vortheil von einem Gesetz zu erwarten hat. Das aber muß be-
zahlt werden. Der Kauf und Verkauf von Stimmenge-
schieht mit einer Schamlosigkeit, die nur in dein Treiben ain fran-
zösischen Hos vor der Revolution ihres gleichen findet."
schell Rumpfcongresse. 307
hat dieser Riese sich mehr uud mehr drohend verhalten. Er
will nicht nur auf der ganzen westlichen Erdhalbe allein das
entscheidende Wort führen, fondern in den Welthändeln über-
Haupt als Großmacht ersten Ranges sich geltend machen. Er
vermittelt am La Plata und an der Küste des Stillen Welt-
meeres, Centralamerika horcht auf feine Gebote, Mexico wird
feine Beute werden und das britische Amerika ist durch ihn
ins Gedränge gebracht worden, nachdem er seinem beste»
Freund und Verbündeten, dem russischen Czar, mit dessen Re-
gierungsfystem die Radicalrepublikaner so innige Sympathie
bezeugen, seine Besitzungen in Amerika abgekauft hat. Es
wird der Tag kommen, an welchem Bruder Jonathan auch
in Europa fein Wort mitspricht und an der Themse wie an
der Seme wird man etwas davon zu erzählen haben.
Doch es ist unsere Absicht, wieder einige Bilder aus dem
Congresse zu zeichnen. Unsere Zeitungen übergehen derglei-
chen; ohnehin gehören die Corrrespondenten derselben zumeist
der radiealrepublikanischen Partei an und mehrere haben von
dieser besoldete Aemter erhalten. Daher kommt es, daß unser
deutsches Publicum vorzugsweise nur einseitige, im Interesse
jener Partei gefärbte Berichte zu lesen erhält und daß wich-
tige Dinge übergangen werden.
Die Londoner „Times" hat an ihrem Correspondenten
Mac Kay einen ausgezeichneten Berichterstatter und sie er-
hält auch aus anderen Federn werthvolle Mittheilungen,
welche allesammt den Vorzug haben, daß sie nicht im Jnter-
esse der einen oder andern Partei geschrieben werden und
Thatsachen mittheilen. Wir wollen dem Washingtoner Be-
richte der „Times" Einiges entlehnen; er ist datirt vom
15. März. —
Der 39ste Congreß hatte, so glaubte man, den Radica-
lismns so weit getrieben, wie dessen Anhänger nur wünschen
konnten; aber der 40ste Congreß hat ihn gleich von vorn-
herein weit überholt. Lente, die bisher allgemein als Radi-
cale vom äußersten Flügel betrachtet wurden, sehen sich von
ihren neueingetretenen stürmischen College» schon in den
Hintergrund gedrängt. Es hat etwas Ergötzliches, solche in
der Wolle gefärbte Radicale wie den Senator Wilson von
Massachusetts, oder Fessenden von Maine verdächtigt zu
hören, als hätten sie keinen radicalen Muth, sondern geheime
Hinneigung zn den Copperheads (— nördlichen Demokraten,
welchen man Sympathie mit dem Süden zuschreibt —).
Diese Leute wußten gar nicht, was sie aus solchen Angriffen
machen sollten; haben sie doch Jahre lang ultraradical genug
gewirthfchaftet und sind weit über die Grenzen des Sichern
und Angemessenen hinausgegangen! Nun kommen die Neu-
liuge ltitd sagen ihnen, daß sie abtreten könnten, denn das
Volk sei ihrer müde; sie seien weit hinter der Zeit und dem
Zeitgeiste zurückgeblieben und thäten besser, nach Hanse zu
gehen!
Was ich, so fährt der „Times"-Correfpondeut fort, wnh-
reud der zwei letzten Jahre an Radicalismus und radicalen
Auslassungen im Congresse erlebt habe, war Alles nur Kiu-
derspiel gegeu das, was der vierzigste Congreß bietet. Neben
diesen neueingetretenen Radicalen können die früheren für fo
feinst wie Lämmer gelten. Selbst der alte Thaddäus Ste-
veus aus Pennsylvanien (— der ärgste, brutale und erbar-
'mnngslose Erzfanatiker und bisher eine Art von Gewalthaber
im Repräsentantenhause —) sieht sich bereits „abgethan".
Nur Senator Suinner (— der fanatischste unter den neu-
engländifchen Aankees und ein Hauptunheilstifter fchou seit
einem Dutzend Jahren, der es sich zu einer Lebensaufgabe
gemacht hat, deu Süden zu schmähen und zn Boden zu'tre-
ten —■) hat noch einigermaßen Geltung. Er will ja noch
weiter gehen, als der Radicalismus schon gegangen ist. Der
vorige Congreß hat dem Süden das Militairregiernngs-
39*
308 Aus dem Nordamerika
gesetz zuerkannt, das ihm jede Spur einer freien Bewegung
nimmt. Dasselbe bestimmt, daß jeder, der „Rebell" gewesen
oder unter den Rebellen gedient habe, des Stimmrechtes für
alle Zeit verlustig sei (— also fast alle weißen Männer,
mit Ausnahme der aus dem Norden massenweis nach dem
Süden importirten Pankees —); daß dagegen alle Neger
das Stimmrecht haben, ferner daß die Schulden der Rebellen-
staaten auch von diesen selbst niemals anerkannt werden sol-
len. Dazu kam, daß Alles unter Controle von Generälen
der Nordtruppen gestellt werden sollte. Es gewann den
Anschein, als ob der Süden sich, nothgedrängt wie er ist,
anch diesen drakonischen Bedingungen fügen werde, um eud-
lich aus dem Provisorium herauszukommen.
Das Alles genügt aber jenem Sumner nicht; er verlaugt
„weitere fünf Punkte". Diese „Resolutionen" wurden zwar
vorerst nicht genehmigt, aber sie zeigen den Radicalismns in
seiner ganzen Nacktheit. Der Fanatiker verlangt: alle jetzt
im Süden vorhandenen Staatsregierungen sollen beseitigt
werden; es soll eine provisorische Regierung eingesetzt wer-
den und unter dieser sollen die Wahlen stattfinden; jene Re-
gierung foll nur aus Mitgliedern der republikanischen Partei
bestehen; fünftens: die freigelassenen Neger sollen eine Heim-
statte bekommen, jedes Familienhaupt muß ein Stück Land
erhalten.
Also Tyrauuei und Consiscation, beide ganz nnverschleiert.
„So zeigen wir den Rebellenstäaten, was wir zu thuu beab-
sichtigen; wir sagen ihnen, was sie in Zukunft zu erwarten
haben, wir warnen diese Rebellen und bedeuten sie, daß sie
an der Reconstrnction gar keinen Antheil haben sollen. Den
Freigelassenen haben Sie (der Congreß) das Stimmrecht zn-
erkannt; nun, so müssen Sie ihnen auch eine Heimstätte ge-
ben. Damit dürfen Sie nicht länger zaudern. Nehmen
Sie meine Resolutionen an, sie sind sehr einfach." Das
ist allerdings richtig.
Im Februar verpflichtete sich derselbe Senat feierlich, die
Südstaaten im Congreffe zuzulassen, wenn dieselben gewisse
Bedingungen erfüllen; Sumner wollte das nicht gelten las-
sen; man mußte ihn daran erinnern, daß Wortbruch Unehren-
hast sei. Zehn Senatoren stimmten trotzdem für Sumner,
und am andern Tage nahm Morton von Indiana die mit
27 Stimmen verworfenen Resolutionen wieder auf. „Wann
und gegen wen haben wir eine Verpflichtung übernommen?"
Im Repräsentantenhaus war beantragt worden, eine
Million Dollars für die von arger Hnngersnoth heimge-
suchten Gegenden im Süden zu bewilligen. Selbst ein ein-
gefleischter Radicaler, General Howard, der bekannte Chef
des Freedmens-Bnrean, wies nach, daß Leute an der Land-
straße Hungers sterben, schilderte die Roth als grenzenlos
und forderte für 56,900 Hungerleidende und was sonst noch
dazu käme vom Senat anderthalb Millionen. Der Senat
strich eine halbe Million, bewilligte aber doch etwas. Im
Repräsentantenhause dagegen fand der Antrag erbitterten
Widerstand. Der Berichterstatter der „Times" fagt Wort-
lich: „Ich fchäme mich, das niederzuschreiben. Als nach-
gewiesen wurde, daß Frauen, Kinder und Waisen nach Brot
schreien, wurde das mit Spott und Hohn aufgenommen, in
einer Weise, die selbst Wilden zur Unehre gereicht haben
würde. Ich hatte nie für möglich gehalten, daß in einem
christlichen Lande solche Reden gehalten werden könnten, der-
gleichen ich im Repräsentantenhaus gehört habe. General
Butler (— der berüchtigte Mann, der in Neworleans das
Ranbhandwerk trieb, und welchen viele amerikanische Zeituu-
gen nur als „beast Butler" bezeichnen; der brutalste und
roheste unter allen Radicalen und für die nächste Präsident-
fchaft in Aussicht genommen —) stellte das ironisch gemeinte
Amendement, daß man das für hungernde Rebellen gefor-
ischen Rumpfcougresse.
derte Geld an die Wittwen der Soldaten geben solle, die in
südlichen Gefängnissen gestorben seien. Ein neues Mitglied,
„General" — wer ist das jetzt nicht im Lande? — Logan,
forderte den Congreß auf, das Volk im Süden ver-
hungern zu lassen; nur dann erst sei die Rache des
Landes vollständig befriedigt. Und ein Herr Wil-
liams von Indiana rief: „Wenn es denn einmal nöthig
ist, so möge Gott der Allmächtige den Süden mit Menschen
bevölkern, die unsere Flagge lieben und die freien Institntio-
nen (!), deren Sinnbild sie ist." Also: die Südländer kön-
nen auf den Straßen verhungern und Aankees sollen ihren
Grund und Boden in Besitz nehmen. Wird das Volk so
gransame und abscheuliche Absichten billigen? Aber leider
muß ich sagen, daß im Norden vielfach das Mitgefühl für
den Süden völlig abgestorben ist. Könnte ich Ihnen nur
einen Begriff von der Art und Weise und von dem Tone
geben, in welchem diese Butler und Logan sprachen. Der
erstere ist ohnehin keine ansprechende Erscheinung und seine
Stimme so kratzend und kreischend, daß man manchmal nicht
versteht, was er sagt. Logan declamirt laut schreiend und
mit heftigen Geberden; es fchandert einen bei seinen Wor-
ten und vor seinem Benehmen."
„Andererseits muß ich gebührend hervorheben, daß doch
einige Radicale strengen Tadel über die Barbarei ihrer Col-
legen aussprachen. So B iug h am aus Ohio, dem vor Er-
regung und Entrüstung darüber die Thränen von den Wan-
gen herabliefen, und der iin Sinne der Menschlichkeit sprach.
Es war in einer solchen Versammlung ganz angemessen, dar-
auf hinzuweisen, daß wenigstens die unmündigen Kinder,
welche dem Hungertode nahe seien, keine Schuld trügen. Man
möge eine Million bewilligen. Die radicale Mehrheit bewil-
ligte aber an jenem Tage keinen Cent!" —
Einem Bericht aus Philadelphia zufolge waren, wie wir
aus den Blättern ersehen, 32,662 Weiße und 24,238 Neger
im allerhöchsten Grade hülflos und dem Hungertode Versal-
len, wenn nicht Rettung kam. Für die Neger wurden
625,000 Dollars bewilligt; der Congreß verstand sich denn
auch endlich dazu, den Rest der Million den Weißen zn gön-
nen. Die Legislatur von Maryland hat 100,000 Dollars
gegeben; Boston, Neuyork und Baltimore schicken anch Snm-
men. v>u den öffentlichen Versammlungen wurde hervorge-
hoben, daß die herrscheude Partei bisher die Weißen gar
nicht berücksichtigt und nur allein die Neger bedacht habe.
Ueberhanpt sind die Neger sehr bevorzugte Leute gewor-
den. In Tennessee, einem Staate, in welchem alle vorma-
ligen „Rebellen", also reichlich zwei Drittel der weißen Bevöl-
kernng, des Wahlrechts verlustig erklärt worden sind, und
wo ein Pfarrer, Brownlow, Gouverneur und Gewalthaber
ist, besteht die gesetzgebende Versammlung überwiegend aus
Radicalen. Diese haben allen Negern das Wahlrecht zu-
erkannt, und die Schwarzen besitzen nun Rechte, welche man
vielen Weißen verweigert. Jene werden nicht nach ihren poli-
tischen Antecedeutien gefragt, während jeder weiße Ex-Con-
söderirte als „Rebell" all und jeder Rechte sür verlustig
erklärt worden ist. Eine Zeitung in Memphis, der Haupt-
stadt von Tennessee, erläutert die Praxis dieser „repnblikani-
schen" Zwangsnkasen. In einem Geschäfte zu Memphis
find fechs Leute beschäftigt; von diesen hat ganz allein der
Hausknecht, der ein Neger ist, das Recht zu stimmen, ob-
wohl auch er eine Zeitlang in der consöderirten Armee gegen
die Aankees gefochten hat; er ist eben ein Privilegirter, weil
er eine schwarze Haut hat.
Wir wollen hier hinzufügen, daß die Abolitionsradicalen
mit einem großenTheile der südlichen „fchwarzenBrüder" in
hohem Grade unzufrieden sind. Sie gedachten dieselben als
blinde, leicht zu lenkende Werkzeuge gegen die südlichen „Ba-
Aus beut Nordamerika
rotte" zu benutzen; der Thran-, Stockfisch-, Petroleum- und
Kattuu-Lord der Yankeestaaten des Nordens glaubte den
„Cavalier" des Südens durch dessen ehemalige Sklaven
gründlich zu demüthigeu. Darin hat er sich verrechnet. Kla-
gen über „Stumpfsinn und die Undankbarkeit der Neger",
welche ihre nördlichen Wohlthäter nicht zu würdige» ver-
ständen, werden unter den Nadicalen immer allgemeiner;
auch ist derAerger groß darüber, daß die „Barone" nun die
„Situation acceptiren", d. h. sie sind freundlich mit denNe-
gern, die theilweise der Aufhetzung gegen ihre früheren Her-
ren fatt und müde sind und sich mit diesen vertragen. Selbst
der ultraradicale Neuyorker Correspondent der Augsburger
„Allgemeiueu Zeitung" (Nr. 103) hebt hervor: „Bei man-
chen Nadicalen werde dadurch das unbehagliche Gefühl er-
weckt, daß sie sich möglicherweise mit ihrem zuversichtlichen
Vertrauen auf die Stimmen der Neger garstig betrogen ha-
ben könnten." — So kann sich das Schwert, womit sie den
Süden zn Grunde richten wollten, gegen sie selber kehren,
und wir unsererseits würden darin nur ein Stück poetischer
Gerechtigkeit und einer durchaus verdienten Wiedervergeltnng
finden.
Jener ultraradicale Correspoudent spricht dann aus, eine
Zersetzung seiner Partei würde schon jetzt ganz unvermeidlich
sein, „wäre es nicht um des Haders mit dem Präsidenten
willen. Unter ihren Congreßmitgliedern finden vielfache Rei-
bnngen und Zerwürfnisse statt, die sich bis zu gehässigen Per-
söulichkeiteu zuspitzen." So wird diese Partei zerfallen, aber
leider erst, nachdem sie so großes Unheil über das Land ge-
bracht hat.
In Südcarolina sagen die Weißen den Negern: „Sucht
eure wahren Freunde unter euren südlichen Landsleuten,
nicht unter den Fremden (den Nordyankees). Ihr und wir
sind Söhne des Südens. Wir grollen euch nicht, daß ihr
das Stimmrecht bekommen habt; ihr selbst verlangtet es ja
nicht. Nun übt eS fortan so ans, wie es nnserm beiderseitigen
Interesse angemessen ist."
Die Nadicalen ärgern sich, daß die Neger so gescheidt sind,
mit ihren weißen Landslenten Hand in Hand zn gehen.
Es ist auch abscheulich, daß sie so viel gesuuden Menschenver-
stand entwickeln! So äußerte ein Neger in einer großen Ber-
sammlnng seiner schwarzen Brüder: „Der erste Gebrauch,
den wir von nnserm politischen Rechte machen, soll
darin bestehen, daß wir vom Congresse die Wieder-
einsetznng der Führer des Südens in den Congreß
verlangen. Denn wir achten und ehren die Män-
ner, welche ihre Ueberzeugungen mit dem Schwerte
verfochten haben; für die elenden Feiglinge aber,
die sich Unionisten nannten und uicht für die Sache des
Südens kämpfen mochten, hegen wir nur Verachtung
und fehen in ihnen nichts besseres als Verräther!" Wie
viel gescheidter war dieser Neger als die Nadicalen!
Noch mehr. Der schwarze Prediger Pickett erklärte sich
gegen das allgemeine unbedingte Stimmrecht, weil die Mehr-
zahl seiner Stammgenossen noch nicht Einsicht und Bildung
besitze, um zu ihrem eigenen und der Gesammtheit Nutzen
das Wahlrecht auszuüben. Da indeß der Congreß nun doch
einmal anders verfügt habe, so sollten die Neger wenigstens
die besten Männer des Landes, des Südens, wählen! —
Welche Lection giebt anch dieser verständige schwarze Mann
den weißen Fanatikern der Exterminatorenpartei! Und wie
drastisch ist die Thatsache, daß zu Newberu in Nordcarolina
die Neger allesammt Mann für Mann nnd einstimmig sich
gegen den von den Yankees aufgestellten radicalen Candida-
ten aussprachen und ihre Stimme dem „südlichen Candida-
ten" gaben. Sie bewiesen, daß sie anfangen zu erkennen,
wo ihre wahren Interessen liegen, und sie tragen mit dazu
ischeu Rnmpftongresse. 309
bei, die Specnlationen der nltraradicalen Politiker der Yankee-
staaten dem Bankerott entgegen zn treiben.
Doch wir kommen wieder auf den vierzigsten Congreß
zurück. Die Rolle, welche „General" Butler (der seines
Zeichens, wie drei Viertel aller „Generäle", Advocat ist) im
Repräsentantenhaus spielt, hat im Senat ein Herr Chand-
ler iuue, und er wetteifert mit jenem in Grobheit und ge-
meinster Pöbelhaftigkeit. Diefer Chaudler hat es besonders
auf England abgesehen und will diesem Gebiet abnehmen.
„Großbritannien hat sich um allen Respect in der civili-
sirten Welt gebracht und wir werden erleben, daß es auf
feinen Knien liegt und bei uns darum bettelt, daß wir ihm
nur Erlaubniß geben, uns unfern Schadenersatz, den wir
wegen des Dampsers „Alabama" in Anspruch nehmen, be-
zahlen zu dürfen."
An demselben Tage, im März, ging es im Repräsen-
tantcnhanse ergötzlich und kläglich genng her. Der Senat
hatte eine Resolution angenommen, welche den Nordamerika-
nischen Diplomaten im Auslande verbietet, Uniformen zu
tragen. Ein Redner hatte den Muth, die Bemerkung hin-
zuwerfen, daß seine Yankeelandsleute an europäischen Höfen
sich oftmals „wie Narren" ausnähmen. „Indem wir dahin
trachten, uns nicht lächerlich zu machen, machen wir uns
erst recht lächerlich." Andere Redner meinten, man solle
eine Uniform für die Diplomaten allerdings einführen. Da-
bei nahm ein Hauptradicaler, Namens Co Vöde, Gelegen-
heit, folgendes Amendement zn stellen:
„Diplomatische Agenten sollen keine andere Uniform tra-
gen als eine solche, die dem von dem Oberschneider der
Nation, welcher jetzt unsere Geschicke lenkt, entworfenen
Muster entspricht."
Diese bodenlose Gemeinheit wurde mit lautem Jubel be-
grüßt. Was hatten die Nadicalen nicht als „Freunde der
Freiheit und Gleichheit" für salbungsvolle Redensarten dar-
über gemacht, daß sie den vormaligen Holzhacker Lincoln
zum Präsidenten erwählt! Johnson, einst Schneider-
gesell, nnd dann gleich Lincoln Advocat, wurde zum Vice-
Präsidenten gewählt, weil er einst ein Schneidergesell gewe-
sen. Da er nun nicht zum blinden Werkzeuge der Radicalen
sich hergeben will, wird er tagtäglich mißhandelt. Pikant
ist aber, daß gerade jener Covode, ehe er Advocat wurde,
selber ein Handwerksbnrsch war, und daß nun ein sol-
cher den Präsidenten lächerlich machen will, weil derselbe in
seiner Jugend ein Handwerker gewesen. Senator Wilson,
ein Hqnptradicaler aus Massachusetts, war einst Schnster-
gesell, ein nicht geringer Theil der radicalen Congreßmit-
glieder gehört ursprünglich sehr niederen Gesellschaftskreisen
an, sehr viele waren Winkeladvocaten, ehe sie sich in Hand-
Werkspolitiker umwandelten, also ein einträgliches Metier auf
Laudesunkosten ergriffen. „Ihre Bilduug riecht nach Pech
und Leim," fagte einst ein deutsches Neuyorker Blatt.
Nach dem „witzigen" AmendementCovode's brachte man
ein anderes „witziges" Amendement ein, das eben so laut
bejubelt wurde von jenen republikanischen Vertretern der gro-
ßen transatlantischen „Republik". „Die amerikanischen Di-
plomaten follen einen dreieckigen Hut tragen mit dem ame-
rikanischen Adler daran, einen schwalbenschwänzigen Frack
(swallow tailed coat), und auf den Schwalbenschwänzen
sollen die Sterne und Streifen der Unionsflagge angebracht
werden; ferner butterfarbige Hosen, eng anliegende gelbe
Strümpfe mit Strumpfbändern ä la Franklin, und Weste
von Buckfkiu, die halb weiß, halb fchwarz sein muß."
Der Sprecher meinte, dieses Amendement sei doch nicht
völlig in der Ordnung. Dann erhob sich der Massachusetts-
yankee „General" Banks (— seines Zeichens auch Advocat
310 Siegfried Kapper:
und bekannt namentlich durch seine Gewaltherrschaft in Neu-
orleans und durch einen Kriegszug am Redriver, um Baum-
wolle zu rauben, wobei seine Truppen von den Nebellen ent-
setzlich zugerichtet wurden —). Er kennt seine Aaukees und
rief aus: „Der Tag wird kommen, da wir die Rolle ein-
nehmen werden, welche Karthago im Alterthnme gehabt
hat. Die Vereinigten Staaten werden nicht bloß in Be-
zug auf die Kleiduug eine amerikanische Politik
feststellen, sondern auch in Betreff internationaler Ange-
legenheiten nnd der continentalen Verhältnisse." Die Ver-
einigten Staaten sollen in der ganzen Welt den Ausschlag
geben. —
Das Haiduckenthum.
Es ist in der That betrübend, zu sehen, wie Jahr für
Jahr die Entartung, die Rohheit und die Corrnption immer
weitern Boden gewinnt. Als vor einigen Monaten der
weltberühmte Erzvater des Humbugs, Phineas Taylor Bar-
num, der große „Schausteller", welcher die japanische See-
jnngfer für Geld zeigte und als „Bärenführer der Jenny
Lind" das Land durchzog, als dieser Baruum als Congreß-
candidat austrat und Tausende von Stimmen erhielt, schrieb
ein deutsches Neuyorker Blatt: „Er wird unter der Schwe-
selbande in Washington der ehrlichste und beste sein."
Man sieht, in welchem Stile diese Lente in Nordamerika
mit einander umgehen. A.
Das K a i d
Von Siegf
Das blntrothe Banner des Propheten besaß, wie kaum
ein anderes Feldzeichen seit dem Adler Roms, die nicht zu
bestreitende Gewalt, Throne vor sich her niederzustürzen und
Völker unter das Joch der Bewältigung zn beugen. Die
große Heeresstraße, der es mit fatalistischem Vorwärtsdrange
folgte, war die größte nnd bedeutendste Wasserstraße Euro-
Pas, die Donau. Rechts und links neben ihr her stürmte
es bis an die Küsten der Adria und des Poutus und noch
weit über dieselben hinaus. Sie selbst hinauswärts drang
es bis nahe an das Herz Mitteleuropas vor. Es flatterte
vou der Königsburg des heiligen Stephan, ein entfetzenver-
breitendes Memento mori dem heiligen römischen Reiche
deutscher Nation, und bedrohte vou den Häfen des Mittel-
meeres aus den geflügelten Löwen des heiligen Markus. Die
Geschichte eines halben Jahrtausends ist voll von den unsäg-
lichen Anstrengungen, die es kostete, um ihm die Bergewalti-
gnng der westlichen Christenheit streitig zn machen. Was
es aber nicht besaß, das war die ungleich höhere Macht, in
den bewältigten Landen eine neue, dauernde Ordnung zu be-
gründen. Es trat die in der Geschichte der Menschheit viel-
leicht vereinzelt dastehende Erscheinung zn Tage, daß die Er-
oberer weder stark genug waren, die überwundenen Völker-
schaften in sich aufzunehmen, noch schwach genng, um, wie
dies so häufig vorgekommen, in ihnen aufzugehen. Nnd so
kam es denn, daß Sieger und Besiegte einige Jahrhunderte
lang neben einander bestehen blieben, aber in beständigem Ge-
gensatze, in beständiger Anfeindung, in beständiger Negation
Einer des Andern, und daß, da es ebensowenig wie in der
Natur in der Geschichte der Menschheit einen Stillstand giebt,
die sieghafte Reaction der Vergewaltigten gegen die Vergewal-
tiger nachgerade wieder an die Reihe kommen mußte, um die
letzteren unter die Macht der ersteren zu beugen.
Die Ursache dieser Erscheinung ist eine sehr einfache.
Auf dem Banner des Propheten standen die Worte „Feuer
und Schwert", nicht aber das Wort „Cultnr", wie z.B. auf
jenem der Römer. Dem Islam genügte es, so viel Boden
als möglich zu erobern, so viele Völker als möglich zu unter-
jochen. Die Erde ist ein Eigenthum Allahs und sie von
ihm zu Lehen zu besitzen ein Monopol der Gläubigen. Wer
Mitbesitzen wollte, der brauchte eben nur eiu Gläubiger zu
werden. Wer dies nicht werden wollte, der hatte es sich nur
selbst zuzuschreiben, wenn sein Loos Armnth, Rechtlosigkeit,
wohl auch Sklaverei blieb. Einen andern als diesen rohen,
höhnenden, materiellen Zwang verschmähte der stolze Islam
u ck e n t h u in.
ied Kapper»
anzuwenden, — eines höhern, mit geistigen und sittlichen
Hebeln wirkenden, war der Türke in der That wohl auch uusühig.
Da nun aber um des materiellen Besitzes willen wohl Ein-
zelne, nie aber die Massen zu Renegaten zu Werden pflegen,
so kam es wohl vor, daß, wie z. B. in Bosnien und in der
Herzegowina, einzelne reiche Geschlechter der Bedingung, die
allein in ihrem Besitze sie erhalten konnte, sich fügten, die
christlichen Völker der Balkanhalbinsel im Großen nndGan-
zeu aber es vorzogen, das Joch des Elendes auf sich zu neh-
men und ihr Schicksal einem unausbleiblichen Umschwünge
zum Bessern anheimzustellen. Die nothwendige und natür-
liche Folge hiervon war gleich mit dem Beginne der Türken-
Herrschaft in Europa die Organisation einer Opposition ge-
gen dieselbe, der es vorbehalten geblieben, später der Ans-
gangspnnkt der einzelnen Befreiungskämpfe zn werden, und
die bis auf den heutigen Tag au ihrer Mission festzuhalten
nicht aufgehört hat. Diese Opposition konnte in einem Reiche,
in welchem nicht Gesetz, sondern Willkür, im allerbesten Falle
die Usance herrschte, keine Politische sein. Sie konnte nur
als Correctiv der Willkür durch Selbsthülfe und Reprefsa-
lie, durch Anwendung von Gewalt gegen Gewalt sich ent-
falten. Sie ward in Albanien und Montenegro zum „Volk
in Waffen", uud nahm bei den Hellenen die Form des Kleph-
tenthnms, bei den Slaven die des Haiduckenthums an.
Das Wort „Haiduck" ist türkischen Ursprungs und be-
deutet so viel als ein die öffentliche Sicherheit im weitesten
Sinne gefährdendes Individuum, das deshalb in Bann ge-
than und für vogelfrei erklärt ist. Vom türkischen Stand-
Punkt aus ist dies allerdings ganz in der Ordnung, und es
giebt auch in türkischem Munde keinen ärgern Schimpfnamen,
als den eines Haiducken. Die Südslaven, Serben sowohl wie
Bulgaren, haben den Namen nun wohl acceptirt, ihm jedoch
eine durchaus entgegengesetzte Bedeutung beigelegt. Für sie
ist der Haiduck vielmehr der Beschützer und Hüter des Rech-
tes von öffentlicher Sicherheit, das den Christen unter tür-
kischer Herrschaft geblieben. Er ist eine geheiligte Person
und sein Name ist ein Ehrenname. Bezeichnend hierfür ist
es, daß auch in Ungarn, nachdem man hier die Türkenherr-
schast abgeschüttelt, der Name „Haiduck" in gewissem Sinne
für Organe der öffentlichen Sicherheit beibehalten wurde.
Ursprünglich gingen die Haiducken ans der christlichen
Bevölkerung der Städte sowohl wie der Dörfer als einzelne,
muthige Männer hervor, die, mit hochherziger Opferwillig-
keit verzichtend auf die Ruhe und das Behagen des häuslichen
Siegfried Kapper:
Herdes, entweder allem oder im Vereine mit mehreren Gleich-
gesinnten das Land durchstreiften, um als eine Art freiwillige
Polizei ihren Glaubens- und Stammesgenossen gegen die
gewaltthätigen Grundherren, ja sogar gegen die Paschas selbst
hülfreich beizuspringen, oder, wo es schon zn spät, ihnen we-
uigstens Rache und Genngthuuug zu verschaffen. Es war
das so zu sageu das goldene Zeitalter des Haiduckenthums.
Männer ans den angesehensten Familien verschmähten es
nicht, sich den Mühsalen desselben zu unterziehen, ihr ganzes
Leben uustät und flüchtig im Kampfe mit den türkischen Auto-
ritäten einer ganzen Provinz hinzubringen, und schließlich für
ein Dasein voll Entsagung und Gefahren mit dem Lohn eiues
lobpreisenden Liedes sich zn begnügen. Später recrutirte sich
das Haiduckenthum aus den durch die türkische Gewalttätigkeit
Verletzten selbst. Leute, denen Haus und Hof ausgeplündert
wurden, die Herden von den Weideplätzen fortgetrieben, die
Saaten auf den Feldern über Nacht abgemäht und fortge-
führt, deren Einem man sein Weib, dem Andern seine Braut,
dem Dritten die Schwester geraubt, oder die sonst wie, nament-
lich bei der Einhebung von Steuern und Zöllen, Erpressuu-
gen erfahren, thaten sich zusammen, um das Recht, das bei
dem türkischen Richter nicht zu sinden war, mit bewaffneter
Hand sich selber zu verschaffen. Die Folge davon war ihre
Proscription. Ähre Rückkehr zu den Geschäften des Friedens
war unmöglich. Sie wühlten daher den permanenten Kampf,
der Rächer seiner selbst erwuchs zum Rächer der Gesammt-
heit. Raub, wie überhaupt jede Handlung ans gemeinen,
selbstischen und niedrigen Motiven war dem Haiduckenthum
ursprünglich durchaus fremd. Er entwickelte sich erst allmä-
lig und in Folge des Rückganges der Cultnr, der Depravi-
ruug des Rechtsbewußtseins und der Nachahmung des von
türkischer Seite gegebenen Beispiels aus der Repressalie. Mit
ihm aber, namentlich nach dem siegreichen Ausgange der hel-
leuischeu und serbischen Befreiungskämpfe, an denen es so
hervorragenden Antheil gehabt, trat auch der Verfall des
Haiduckeuthums ein, gegen das in Griechenland und Serbien
als ein durchaus ausgeartetes, die neue gesellschaftliche Ord-
nung gefährdendes Unwesen die Strenge des Gesetzes nun
selbst gekehrt ist, und das in seiner ursprünglichen Form und
Bedeutung theilweise nur uoch iu der Herzegowina, in Bos-
uieu und in Bulgarien sich erhalten, wo es allerdings noch
Beruf und Zweck und daher auch einen Sinn hat.
Dem Haiduckenstande widmen fich hier zumeist mehr Leute
aus den ärmsten Volksclassen oder solche, die, sei es nun
durch politische Agitation oder sonst auf irgend welche Weise,
den türkischen Behörden gegenüber sich compromittirt haben,
und denen es daher unmöglich geworden, sich fortan in den
Städten oder Dörfern bleibend aufzuhalten. Wer nun den
Entschluß einmal gefaßt, die gefährliche Laufbahn eines Hai-
ducken, durch die er für zeitlebens aus den Kreisen des fried-
licheu Lebens scheidet und exlex wird, zu betreten, der, wenn
er irgend eiu Vermögen besitzt, trifft vor Allem seine Ver-
fügungeu über dasselbe. Er giebt es einem Freund in Aus-
bewahrung, setzt darüber seine letztwilligen Anordnungen fest,
oder verschenkt es wohl auch sogleich an Geschwister und
Bekannte. Nur einen Anzug, und zwar den allerbesten,
prunkvollsten, den er hat, feine Schmuckstücke von Gold und
Silber und seine Waffen behält er für sich, und so, aufs
Prächtigste angethan und aufs Beste bewaffnet, scheidet er
aus der Heimath. Seine Waffen bestehen in der Regel aus
einem langröhrigen, sogenannten arnautischen Gewehre, zwei
oder auch drei türkischen Pistolen, einem Handschar und einem
Messer, manchmal auch einem krummen Säbel. Wesent-
licher Theil seines Anzuges ist eine grobwollene Kotze, die
ihm als Mantel, Bettdecke und Zeltdach zugleich dient. Das
Haupt bedeckt er entweder mit einer Mütze aus Wolfssell
Das Haiduckenthmn. 311
in der Form eines gestutzten Kegels oder mit einem Fehs,
von dem eine lange blaue Quaste herabhängt. Den Fuß
umwindet er mit Stücken weißen Wolltuches, darüber mit
Riemen ein Bundschuh geschnallt wird. Nun kommt es
darauf an, ob der neue Haiducke Einfluß und Ansehen genug
besitzt, um selber eine Bande zu bilden, und in diesem Falle
entrollt er seine Fahne, sammelt um sich eine Schaar gleich-
entschlossener Genossen und bezieht mit ihnen ein Standquar-
tier im Gebirge. Andernfalls stößt er felbst zu einer bereits
bestehenden Truppe.
Die Organisation einer jeden Haidnckentrnppe ist eine
einfache, die Disciplin, welche in ihr herrscht, eine eben so ein-
fache, aber strenge. An ihrer Spitze steht der Haram-
bascha, gewöhnlich der Gründer der Truppe, oder nach des-
seu Tode derjenige, den die Haiduckeu aus ihrer Mitte selbst
als den Tapfersten, Verwegensten uud Gescheidtesteu au seine
Stelle berufen. Dem Harambafcha zur Seite als Unter-
befehliger steht der Barjektar oder Fahnenträger. Die
Fahne als Symbol der Vereinigung besteht aus einem rothen
Tuche ohne oder auch mit dem weißen Löwen oder Kreuze.
Auf sie wird dem Harambascha entweder ein- für allemal
oder bei besonders gewagten Unternehmungen auch von Fall
zu Fall Treue und Gehorsam geschworen. Was jedoch die
Disciplin von dem Haiduckeu außer diesen beiden Cardinal-
bedingnngen mit aller Strenge verlangt, ist gewissenhafteste
Rechtlichkeit und unverbrüchliche Sittenreinheit. Kein Hai-
dncke darf irgend etwas für sich allein unternehmen, einen
Bortheil sich allein zuwenden. Hab und Gut der Glaubens-
und Stammesgenossen soll ihm heilig sein. Gemeiner Dieb-
stahl, auch au Türken verübt, macht ihn ehrlos und hat seine
Ausschließung zur Folge. Eiu gegebenes Wort, beschworen
oder unbeschworen, ist ihm unverletzlich, uud er hält hieran
so streng, daß selbst der Türke nicht Anstand nimmt, sich ans
eiu verpfändetes Haiduckenwort zu verlassen. Vor Allem
aber unantastbar ist dem Haiduckeu die Ehre und Sicherheit
des Weibes. Er ist iu dieser Beziehung ihr wahrhafter Rit-
ter. Das Außerachtlasseu dieses Grundgebotes zieht unfehl-
bar den Tod des Schuldigen nach fich, wenn er es nicht vor-
zieht, sich ihn selber zu gebeu.
Die Haiducken haben ihren Aufenthalt in den Gebirgen,
in den unzugänglichen Tiefen uralter Wälder. Ein Koch-
keffel, ein Bratspieß, ein Krug uud eine Axt, um Holz zn
fällen, sind hier ihr einziges Hansgeräth. Ihr Obdach be-
steht aus einer Felsenhöhle oder ans einigen improvisirten
Hütten aus Baumrinden. Ihren Nahrungsbedarf beschaffen
sie sich selber durch die Jagd, uud was sie soust uoch beuöthi-
gen, bringen ihnen ihre vertrauten Freunde oft auf viele
Meilen weit aus deu Städten uud Dörfern zu. Denn ver-
traute Freunde und Mitwisser muß der Haiducke haben. Sie
sind sein Verlaß, und ohne sie kann er nicht bestehen. Deren
so viele als möglich und an so vielen Orten als nur thun-
lich zu besitzen, ist daher eine seiner vorzüglichsten Sorgen.
Ihre Aufgabe ist, mit ihm in ununterbrochenem Rapport zu
verbleiben, ihn von allen Vorgängen im Laude sogleich zu
berichten, ihm sowohl von allen Unbilden Kenntniß zu geben,
die irgendwo in näherer oder weiterer Ferne einem Christen
widerfahren, wie anch von sich darbietenden Gelegenheiten,
dafür Genugthuuug zu nehmen, sowie genau die Haltung der
türkischen Behörden zn beobachten und wenn er verfolgt würde,
ihn genau über Alles, was gegen ihn im Schilde geführt
würde, zu benachrichtigen. Im Falle der Roth muß dem
verfolgten Haiduckeu das Haus seines Vertrauten Tag und
Nacht als Zufluchtsstätte offen stehen. Bei ihm hinterlegt
auch der Haiducke, was von seinen Beuteantheilen ihm übrig
bleibt. Veruntreuung an einem solchen Depositum oder Ver-
rath eines solchen Vertrauten an einem Haiducken kommt
312 Siegfried Kapper:
kaum je vor. Es -schützt den Vertrauensgeber davor das all-
gemeine Einverstcindmß der Bevölkerung, der gemeinschaft-
liche Haß gegen die Türken, die althergebrachte Hochachtung,
in der der freiwillig aus der Gesellschaft Geschiedene, der
sein Haupt jeden Tag der feindlichen Kugel entgegenträgt,
bei Jung und Alt steht. Wer eines solchen Verrathes sich
vermäße, der hätte auch der furchtbarsten Rache sich zu ver-
sehen. Sein Haus über dem Kopfe würde ihm wie von
unsichtbarer Hand angezündet, wie von unsichtbarer Hand
ereilte ihn der Tod bei seinem ersten Gange über Feld. Als
Belohnung für seine schwere Verpflichtung und Verantwort-
lichkeit erhält er aber auch gewissenhaft seinen Antheil an der
den Türken abgenommenen Beute.
Den Tag verbringen die Haiducken gewöhnlich gemein-
schaftlich in ihren Waldquartieren. Da wird gejagt oder in
Klettern, Springen und im Schießen nach der Scheibe sich
geübt. Da werden die Waffen geputzt und Kugeln gegossen.
Da werden Pläne zu neuen Unternehmungen besprochen und
bereits vollführte Thateu in Liedern besungen. Denn es ge-
hört zum Metier, daß der Haiducke auch eiu gewandter Rhap-
sode sei. Der Ausführung der besprochenen Unternehmungen
ist die Nacht gewidmet. Wenn ein Handstreich einmal be-
schlössen und alles daraus Bezügliche durch Auskundschafter
sichergestellt ist, dann erfolgt in der Abenddämmerung der
Aufbruch, ganz in gehöriger Kriegsordnung, mit Vorhut
und Nachhut. Das Ziel der Unternehmung ist nicht selten
viele Tagereisen weit, und da selbstverständlich die größte Vor-
sicht geboten erscheint, so wird nicht nur auf den geheimsten
aber auch beschwerlichsten Gebirgs- und Waldwegen, sondern
auch nur bei Nacht marschirt. Die Haiducken schreiten trotz
alledem ungemein schnell vorwärts, und in einer Nacht sieben
bis acht Meilen zurückzulegen ist für sie eine Kleinigkeit.
Bei Tage wird gerastet, und das wo möglich irgendwo
auf einer minder leicht zugänglichen Anhöhe mit ringsum
freier Aussicht, um ja nach allen Seiten hin Herr des Ter-
rains und der Situation zu bleiben. Am Ziele angelangt,
wird der Handstreich entschlossen und mit Blitzesschnelle ge-
führt, und der Rückzug nnverweilt angetreten, doch nie in
der Richtung und nie nach demselben Orte zurück, woher man
gekommen. Erst in vollkommener Sicherheit wird die Beute
getheilt, das heißt, wenn etwas zum Theileu übrig bleibt;
denn das Erste, was geschieht, ist, daß dem Beraubten, Aus-
geplünderten, Beleidigten der ihm zukommende Ersatz sicher-
gestellt werde. Daun erst mag der Haiducke au sich selber
denken, und selbst von dem, was er nun bekommt, betheiligt
er noch großmüthig die stammesverwandten Blinden, Ge-
brestigen, Wittwen nnd Waisen.
Nur die Strenge des Winters vermag den Haiducken,
das Gebirge zu verlassen. Dann rollt der Barjektar die
Fahne ein, man scheidet auf Wiedersehen, und jeder Einzelne
für sich steigt auf gesonderten Wegen ins Flachland nieder,
um plötzlich in stiller Mitternacht an das Psörtlein eines
vertrauten Freundes zu klopseu. Da tritt er nun ein, ein
willkommener und wohlgeborgener Gast, nicht selten einen
gezähmten Bären, den Freund und Genossen seines monate-
langen Aufenthaltes im Exil der Wildniß, am Stricke mit sich
führend, um dem Gastsrennde den Winter über das Brot,
das er an seinem Herde mitgenießt, durch emsige Beihülse
in der Hauswirthschast, und an den Abenden, wenn die Wei-
ber und die Jungen lauschend um die Flamme lagern, durch
die Schilderung wilder Abenteuer uud durch den Vortrag von
Heldengesängen zu vergelten, deren er in die Hunderte weiß,
womit er, den Drang nach Thaten uud nach Freiheit in den
stillen Kreisen der Dörfer nährend, zugleich auch einen Theil
seiner politischen Mission erfüllt. Da kommen denn Einer
nach dem Andern all die unsterblichen, großen Heroen des
Das Haiduckenthum.
Haiduckenthums zur Sprache, die seit dem Uuglückstage von
Kossovo durch nachstrebenswürdige Thaten sich den Ruhm
als Märtyrer uud Vorkämpfer der rechtgläubigen Christen-
heit erworben, voran derErzhaidnck Marko Kraljewitsch,
der Königssohn, das leuchtende Vorbild unversöhnlichen Tür-
kenhasses und echt südslavischer Glaubens- und Hofsnungs-
stärke, — dann Ivo Crnojewitsch, der unvergleichliche
Held der Schwarzen Berge, dann Nikola Bajo Pivlja-
nin, der am Ende des sechzehnten und zu Anfang des sieben-
zehnten Jahrhunderts allen Paschas der Herzegowina und
Bosniens einen gar heilsamen Schrecken einflößte, mit seinem
gleichtapfern Freunde, dem Harambascha Limo, den Winter
über an der Meeresküste bei Perasto eine prächtige Knla be-
wohnte, von der heutigen Tages noch die Mauern zu schauen,
hinter denen einst gar große türkische Herren in seiner Ge-
fangenschast geschmachtet, den die katholischen Perastaner, un-
geachtet er ein strenger Altgläubiger war, seiner Verdienste
wegen zum Serdaren ernannt, und der schließlich am heiligen
Dreisaltigkeitstage 1712 in den Schwarzen Bergen im Kampfe
gegen die Türken den Heldentod gefunden, — dann Jlija
Smiljanin, der während der zweitenHälfte des sechzehnten
Jahrhunderts seine Knla unweit Eataro hatte, und in Ge-
meinschaft mit Mrkonitfch und Ivo vou Zengg den
Türken unsäglich zu schassen gab, — dann Stojan Janko-
lvits ch von Cataro, der vierzehn Jahre in Konstantinopel
gefangen gesessen, den die Venetianer dann zum Serdaren
über die Morlaken eingesetzt mit einem Gehalte von monat-
lich zwanzig Dncaten, dem sie eine goldene Medaille verehrt
und zwei Söhne znCapitainen ernannt, — dann aus neue-
rer Zeit der alte Novak mit seinen Söhnen Grnjo und
Radivaj, ein wahres Kleeblatt beispielloser Verwegenheit,
Mihat der Hirt, Jovan Wischnitsch, Rado von So-
kol, Lnka Golovran Bnjadin, und wie sie alle noch
heißen mögen bis auf die jüngsten Tage herauf. Und wenn
Einer oder der Andere im Dorfe bei wiederkehrenden! Früh-
ling, wenn der Gast seine Kotze wieder über den Rücken
wirft, dem Freunde dankbar die Hand drückt und in stiller
Mondnacht hinausschreitet über die Felder und den waldigen
Bergen entgegen, wo am heimlichen Sammelplatze die Fahne,
seiner gewärtig, bereits flattert, Eltern, Schwestern und Brü-
deru Lebtwohl sagt und mit ihm zieht, so mag das Niemand
Wunder nehmen.
Auch junge Mädchen vermögen zuweileu diesem Drauge
nicht zu widerstehen. Sie legen dann Männerkleider an, er-
greifen die Waffen und theilen, manchmal gekannt, manch-
mal auch uicht gekannt, mit ihren männlichen Genossen ge-
treulich Kampf und Ungemach, und manche von ihnen, wie
z. B. die heldenmüthige Syrma aus dem Dorfe Tresa-
natz iu Bulgarien, schwang sich durch vorleuchteude Tapfer-
keit sogar zur Harambaschenwürde empor. Von ihr wird
im Volke das Folgeude gesungen:
Ward dergleichen je vernommen,
Daß ein Mädchen siebzig sieben
Trotzigen Haiducken herrsche?
Dort auf jenen grünen Bergen,
In den Forsten dort geschah's so!
Also zu den siebzig sieben
Männern sprach alldort das Mädchen:
„Nicht bedarf es hier der Herbheit,
Nicht des Neides, nicht des Zornes!
Zieh' den Ring vom Finger Einer,
Häng' ihn dort an jene Buche,
Und der Neih' nach, Freunde, mögt Ihr
Alle nach dem Ringe schießen!
Wer den Ring schießt von der Buche,
Der fortan mag uns gebieten,
Ihm als Weib füg' ich mich selber!"
Siegfried Kapper:
Und sie schössen nach dem Ringe
Und den Ring traf auch nicht Einer!
Und das Mädchen drauf sprach weiter:
„Gebt das Rohr, daß ich nun schieße!"
Schoß — und von der Buche nieder
Fiel das Ringlein an den Rasen.
Weiter sprach darauf das Mägdlein:
„Nehmt nun einen Stein, und werfet!
Wer den bessern Wurf, denn ich, thut,
Gern als Weib will ich ihm dienen,
Und fortan sei er uns Führer!"
Und sie warfen All' der Reih' nach,
Einer besser als der Andre;
Doch den besten Wurf von Allen,
Volle zehn Schritt über Alle,
That das Mädchen. Und so blieb's denn,
Daß ein Mädchen siebzig sieben
Trotzigen Haiducken herrschte.
Der Schauplatz der Unternehmungen Syrma's waren
die Districte von Babintrop, Stogowo, Barburn und
Kartschin. Nach einer ruhmvollen Laufbahn verheirathete
sie sich an einen Bulgaren ausKruschewo, Namens Meak.
Dimitrije Miladiuov, einer der Sammler und Heraus-
geber der bulgarischen Volkslieder, der in türkischer Gefangen-
schast vor wenigen Iahren den Gifttod starb, kannte sie noch
als achtzigjährige Greisin. Sie wohnte in Prilipo, trug
immer noch Waffen, und eine kostbare Sammlung von tiir-
tischen Säbeln und Pistolen hing als Trophäe über ihrem
Lager.
Nicht immer aber nimmt der Lebenslauf des Haiduckeu
diesen gleichmäßigen, gewissermaßen idealen Verlauf. Viel-
mehr wird die Romantik feines Daseins oft in sehr empfind-
licher Weise getrübt. Die türkischen Behörden sehen sein
Thun und Lassen mit ganz anderen Augen au, als seine
Stammesgenossen, und schon seine Existenz allein, als ein
Funke unter der christlichen Bevölkerung, der jeden Augen-
blick der Anlaß zu einem hellen Brande werden kann, ist
ihnen ein Dorn im Auge. Dazu kommen die unter keinerlei
Umständen zu beschönigenden Verbrechen an Gut und Leben,
mit denen er sich schon aus der Natur seines Lebenswandels
und Berufes notwendigerweise belasten muß. Die Schaar
der Häscher ist daher auch jahraus jahrein hinter ihm her,
und er sieht sich in die Notwendigkeit versetzt, gar oft in
einer Gegend, in der er kaum erst sich eingewohnt nnd die
unerläßlichen Freunde erworben, schnell wieder seine Zelte
abzubrechen und ein sicheres Asyl in einer weit entfernten
andern zu suchen, wo ihn zwar kein Mensch kennt, wo es
ihm aber auch an Freunden, und daher nicht nur an dem
nöthigen Rückhalt, sondern auch an dem allernöthigsten Le-
bensbedarse fehlt. Das Elend, mit dem er dann zu kämpfen
hat, ist ein im höchsten Grade herbes. Er hat nur die Wahl
zwischen Betteln oder der Selbsterniedrigung zum gemeinen
Räuber. Und dieser Moment schwerster Prüfung ist es
dann, aus dem freilich nicht ein Jeder lauter hervorgeht. Der
Häscher im Rücken und die Verachtung seiner eigenen Ge-
nossen ist dann sein tragisches Loos. Die Bulgaren singen
ein tiefergreifendes Lied, iu welchem das furchtbare Geschick
eines so tiefen Hinabfinkens in düsteren Farben sich abspiegelt.
„Schaffe Lind'rung, liebe Mutter, meinen bösen Wunden!"
„„Lind'rung bring' ich, Sohn, mein lieber, Deinen bösen Wunden;
Das Haiduckenthum. 313
Aber sprich, mein Sohn, mein lieber, wo sie Dir geworden?""
„Wissen sollst Du's. liebe Mutter, Dir will ich's bekennen!
Da wir Bursche, liebe Mutter, unersahr'ne, waren,
Als Haiducken, liebe Mutter, durch die Lande streiften,
Sieh', da traf sich's, liebe Mutter, daß im Stara-Bergwald
Osterzeit uns, liebe Mutter, überkam, die heil'ge.
Niederstiegen, liebe Mutter, wir da in die Ebne,
Wandten still uns, liebe Mutter, nach dem Dörflein Ladov,
Und erbaten, liebe Mutter, in der Höfe jedem
Je zwei Brote, liebe Mutter, und ein rothes Et uns.
Gern uns gab man, liebe Mutter, die erbet'ne Gabe.
Doch mit einmal, liebe Mutter, — nur der Himmel weiß es,
Was ihm ward! — o liebe Mutter, braust wie wildes Feuer,
Braust empor, o liebe Mutter, uns'rer Schaar Gebieter:
„Wer wohl thut mir," liebe Mutter, „wer die Liebe," zürnt er,
„Einzuäschern," liebe Mutter, „dieses Nest mir heute?"
Keiner mocht' es, liebe Mutter, keiner der Genossen.
Ich allein nur, liebe Mutter, griff mit sünd'gen Händen
Nach dem Brandscheit, liebe Mutter, warf es in das Kirchlein.
Als im Kirchlein, liebe Mutter, nun die Jungfrau'» brannten,
Blaue Blitze, liebe Mutter, schlugen da hervor draus;
Als die Hausfrau'n, liebe Mutter, lichterloh drin lohten.
Tosend fuhr, o liebe Mutter, draus ein glüh'nder Sturmwind;
Als die Kindlein, liebe Mutter, Huben an zu lodern,
War's ein Jammern, liebe Mutter, wie von zarten Lämmlein.
Gott im Himmel, liebe Mutter, ging das Leid zu Herzen,
Schwere Tropfen, liebe Mutter, Thaues fandt' er nieder,
Zähmt' die Lohe, liebe Mutter, — und die weißen Jungfrau'n
Und die Hausfrau'n, liebe Mutter, und die zarten Kindlein,
Unversehrt, o liebe Mutter, sah hervor ich wandeln
Aus dem Kirchlein, liebe Mutter, aus dem unversehrten.
Aber mir, o liebe Mutter, blieben diese Wunden!"
Es giebt Haiducken, die nach mehreren Iahren Umher-
schweisens sich für einige Zeit oder auch für immer wieder
häuslich niederlassen, Feldbau, Viehzucht, wohl auch Handel
oder ein Gewerbe treiben. Es sind dies dann int Volke sehr
geschätzte Leute, ausgezeichnet durch körperliche und geistige
Gewandtheit, gesuchte Rathgeber, kluge Vertheidiger und'
werkthätige Unterstützer der Bedrückten. Sie bilden ein wich-
tiges Glied in der Kette der sich vorbereitenden Besreinngs-
kämpfe und sind die eifrigsten Förderer der politischen und
nationalen Propaganda.
Hat ein Haiducke das Unglück, den türkischen Behörden
in die Hände zu fallen, dann freilich ist sein Loos ein ent-
setzliches. Eine rasche Hinrichtung müßte eine Wohlthat für
ihn sein. Diese wird ihm aber kaum je zu Theil. Viel-
mehr ist ihm vorbehalten, in elenden Gefängnissen der Wucht
von Schmutz, Ungeziefer, mephitischen Ausdünstungen, Hun-
ger, Durst und in Folge dessen oft jahrelangem Siechthum
jämmerlich zu unterliegen, wenn nicht vielleicht ein mitleidi-
ger Pascha vorzieht, ihn lebendig an einen Pfahl nageln
und unter unsäglichen Qualen langsam daran den Geist auf-
geben zu lassen.
Wie lange das Haiduckenthum sich noch erhalten wird?
Jedenfalls so lange, als die Notwendigkeit dieses traurigen
Correctivs zu bestehen nicht aufgehört haben wird. Die Herr-
schast des Islam im christlichen Europa war vom Anbeginn
an eine Anomalie, die in ihrem Ansang schon den Keim ihres
unausbleiblichen Endes in sich trug, — nichts weiter als
eine störende Episode in der Entwickelnngsgeschichte unsers
Welttheils, die den gewaltigen Fortgang der letztern auf die
Länge nicht aufhalten kann noch wird.
Globus XI. Nr. 10.
40
314
Ernst Boll: Die Bedeutung der Landenge von Panama.
Ate Bedeutung der Landenge von Manama.
Von Dr. Ernst Voll.
Am 2. Juni 1866 wurde dem Weltverkehr abermals
eine neue wichtige Straße geöffnet. Bis dahin ist die regel-
mäßige Verbindung Englands und des übrigen Europa mit
der von Jahr zu Jahr an Wichtigkeit sich steigernden Colo-
nie Neuseeland durch eine an die über Suez nach Indien
führende Poststraße sich anschließende Dampfschifffahrtslinie
vermittelt. Der Zeitauswand betrug von 65 bis zu 70 Tagen.
Schon lange wünfchte man einen kürzern, geradern Weg über
den Atlantischen und Großen Ocean eröffnet zu sehen und ging
dann auch eifrig au das Werk. Die neue Route von Europa
über die Landenge von Panama nach Wellington ans Neu-
feeland wurde eröffnet. Ihr Anfangspunkt in England ist
Sonthampton, von wo jetzt am 2. jeden Monats ein
Dampfer abgeht; das Endziel wird in 48 bis 49 Tagen
erreicht. — Einige nähere Angaben über diese neue „Panama-
Linie" (welcher Sie schon im gegenwärtigen Bande des
„Globus" S. 11 erwähnt haben) mögen für die Lefer von
Interesse sein; ich entlehne dieselben zum Theil einer Num-
nter des „Wellington Jndependent", in welchem ein Reifen-
der, der die erste Fahrt auf dieser Linie mitgemacht hat, einen
Bericht erstattet.
Das Dampfschiff „Atrato" lichtete am 2. Juni zu
Sonthampton die Anker und legte trotz des contrairen
Windes die 3654 Seemeilen lange Strecke über den Atlan-
tischen Ocean nach der den Dänen gehörigen westindischen
Insel St. Thomas in 13 Tagen und 14 Stunden zurück,
machte also durchschnittlich in der Stunde etwas mehr als
11 Seemeilen. Diese erste Strecke des Weges ist die große
Heeresstraße für den Verkehr zwischen Europa, den westindi-
schen Inseln und dem centralen Amerika. Mau bemerkt dies
sogleich an der buntgemifchtenReifegefellfchaft, zu welcher die
verfchiedeusteu Länder Europas ihr Coutiugeut stellen. Des-
halb ist auf diesen Fahrzeugen die Einrichtung getroffen, daß
alle auf die Passagiere bezüglichen Vorschriften, Anordnun-
gen, Instructionen u. s. w. in drei Sprachen abgefaßt
sind, und zwar in denjenigen, welche für die auf diesem Wege
vorzugsweise verkehrenden Nationen am ineisten in Betracht
kommen, und das sind die spanische, englische und französische.
In dem schönen und geräumigen aber ungesunden Frei-
Hafen von St. Thomas trennen sich die Reifenden, indem
ihr bis dahin gemeinsamer Weg sich hier in vier Linien
theilt. Bei ihrer Ankunft liegen fchon vier Dampfer für sie
bereit, deren einer nach Barbados und Demerara, der
zweite nach Havana, der dritte nach Jamaica und der
vierte nach der Landenge von Panama seinen Conrs
nimmt. Obgleich dies letztere Schiff, der Schraubendampfer
„Tamar", welches unfern Reisenden weiter beförderte, von
dem „Atrato" 30 Passagiere und außer den Postsachen uoch
ein aus 700 Collis bestehendes Cargo von 200 Tonnen
an Gewicht zu übernehmen hatte, ging die Ueberladnng trotz
der glühenden Sonnenhitze doch so schnell von statten, daß
der „Tamar" seine Fahrt noch an demselben Tage beginnen
konnte, an welchem der „Atrato" angelangt war. In vier
Tagen und fünfzehn Stunden wurde die 1060 Seemeilen
lange Strecke bis Afp in wall — dem Anfangspunkte der
über die Landenge von Panama führenden Eisenbahn —
zurückgelegt.
Erst seit Herstellung dieser letztern spielt die Landenge
die ihr im Weltverkehr gebührende Rolle. Eine nähere Ver-
kehrsstraße zwischen dem Atlantischen und Großen Ocean,
als um das Cap Horn herum, hatte schon lange zu den leb-
haftesten Wünschen der handeltreibenden Bevölkerung auf der
nördlichen Halbkugel gehört. Außer auf die sogenannte Nord-
Westpassage, welche nach vielen mit den größten Opfern nn-
ternommenen Forschungen endlich zwar aufgefunden, als
Verkehrsstraße aber gänzlich unbrauchbar ist, hatte man das
Augenmerk besonders anf die Herstellung einer Verbindung
durch das centrale Amerika gerichtet. Dort bot sich an drei
Stellen, wo die Kette der Anden durch erhebliche Lücken nn-
terbrochen ist, die Möglichkeit dar, mehr oder weniger bequeme
Haudelswege anzulegen, nämlich über den Isthmus von Te-
hnantepec in Mexico, durch den Staat Nicaragua oder durch
die Landenge von Panama. — Die spärliche Bevölkerung
des centralen Amerika selbst aber war zu wenig bei diesem
Unternehmen interessirt, ihre Indolenz und anarchischen Zu-
stände machten es unmöglich, daß sie die Ausführung deffel-
ben hätte in die Hände nehmen können. Für den geringen
Handelsverkehr, dem es daran lag, die Landenge von Panama
zu durchkreuzen, gab es zwar einen Weg, aber — von wel-
cher Beschaffenheit! Man landete auf der atlantischen Seite
in Chagres, einem kleinen (ebenso wie das benachbarte
Porto Bello) seines mörderischen Klimas wegen ganz be-
sonders berüchtigten Orte, und fuhr dann mit den Waaren
in Pirognen (ans einem ausgehöhlten Baumstamme bestehen-
den Kähnen) den kleinen Chagresslnß aufwärts bis zu dem
etwa in der Mitte des Isthmus belegenen Dorfe Gorgona,
und lnd sie dann aus Maulthiere, um sie Uber die Höhen
nach Panama zu schaffen. „Dieser Weg (sagt Gustav Dörr,
welcher ihn im Jahre 1839 zurücklegte) — insofern man
einen bloß durch Tritte von Menschen und Thieren über
Berge, Thäler und durch Gewässer führenden Pfad so nennen
kann — ist in der Regenzeit, nämlich vom April bis Octo-
ber, sehr schlecht, während der übrigen Monate aber leidlich.
Die Kunst hat nur insofern nachgeholfen, als an einer Stelle
ein Felfeu auf eine ziemlich lange Strecke durchschnitten ist
(jedoch nur so schmal, daß zwei Maulthiere uicht an einan-
der vorbeikommen können) und daß an einer andern Stelle
Löcher in eine Felsmasse gehauen sind, die den Füßen der
Pferde uud Maulthiere als Stufen dienen, um sie vor dem
Ausgleiten, welches in Abgründe führen würde, zu bewahren."
Ein fo mangelhafter, für größere Waarentransporte und
schnelle Beförderung gänzlich ungeeigneter Handelsweg konnte
nicht länger geduldet werden, als im Jahre 1848 Califor-
nien mit seinen reichen Goldlagern den nordamerikanischen
Vereinigten Staaten zugefallen war, und überhaupt durch
den von Jahr zu Jahr sich steigernden Verkehr zwischen den
Küstenländern des Atlantischen Oceans und dem westlichen
Amerika, Polynesien und dem östlichen Asien das Bedürfniß
einer nähern und bequemem Handelsstraße dahin immer
dringender wurde. — Am zweckmäßigsten wäre nun wohl
die Herstellung eines schiffbaren Canales, aber ein sol-
cher gehört unter die schwer zu lösenden Probleme; man weiß
für ihn noch heute keine praktikable Linie. Eine Eisenbahn
war jedenfalls sicher und in kurzer Zeit herzustellen.
Drei unternehmende Männer ans den Vereinigten Staa-
ten, Stephens (rühmlich bekannt durch seine Forschungen
inCentralamerika), Aspinwall und Chauncey, entwarfen
den Plan, die Verbindung zwischen beiden Oceanen durch
Ernst Boll: Die Bedeutung
eine Eisenbahn über die Landenge von Panama zu
bewerkstelligen. Sie schlössen einen Contract mit der Re-
gierung von Nengranada, durch welchen ihnen das ausschließ-
liche Privilegium zur Anlegung einer solchen Bahn über diese
Landenge aus eine Reihe von Iahren ertheilt wurde, Die
Herstellungskosten der nun sogleich in Angriff genommenen
Bahn beliefen sich aus iy2 Millionen Pfund Sterling, der
Ban nahm sechs Jahre in Anspruch und weit über 5000
der dabei beschäftigten Arbeiter verloren in dem ungesunden
Klima ihr Leben!
Diese Bahn ist bis setzt die einzige in Amerika, welche
den Atlantischen mit dem Großen Ocean verbindet. Sie
geht von dem am erstem neu angelegten Hafenplatz in Afp in-
wall nach der Stadt Panama, ihr Scheitelpunkt liegt nur
254 Fuß über der Flnthmarke des Großen Oceans, und
ihre Länge beträgt nur 113A deutsche Meilen, für welche aber
ein Fahrpreis von 25 Dollars entrichtet wird. Die Erhal-
tnngskosten der Bahn sind aber auch ungeheuer und belaufen
sich jährlich anf etwa 500,000 Dollars. Beständig sind
3000 Arbeiter beschäftigt, die Zerstörungen, welche dieAtmo-
sphäre und die Jnsecten an derselben anrichten, auszubessern,
sowie die beständig aufsprossende üppige Vegetation zu ent-
fernen. — Jährlich benutzen ungefähr 30,000 bis 40,000
Reifende diese Bahn. Einer derselben (Dr. Scherzer aus
Wieu) sagt in Bezug aus dieselbe: „Die Fahrt über deu
Isthmus mitten durch primitive Wälder, die noch in ihrem
herrlichsten Urschmucke prangen, ist wohl eins der sinnen-
berauschendsten Schauspiele, welche das Auge eines Natur-
freundes zu genießen vermag. Ich habe in keinem Theile
der Erde eine üppigere, imposantere Vegetation gesehen, als
sie die Tropenwälder Centralamerikas, namentlich hier, dar-
bieteu. Um den Zauber noch zu erhöhen, durchstiegt man
den prachtvollsten Urwald in seiner ganzen Fülle und Ma-
jestät mit der Locomotive aus eisernem Schienenwege. Welch
wunderbarer Contrast! Das wilde Gewirre der Schling-
pflanzen und die grünen Wedel der Palmen reichen fast in
die Wagen hinein und erzählen dem Reisenden von den Herr-
lichkeiten der ihn umgebenden Tropennatur. Pflanzengestal-
ten der verschiedensten Art und von den kolossalsten Dimen-
sionen prangen in dem fremdartig bnnten Gewände eines
erborgten Laubschmuckes. Zwischen den einzelnen Waldbän-
men bauen Lianen ihr grünes zartes Gerüste, während man-
cher alte riesige Stamm mit dem Prachtkleid von tausend
schönen Sprößlingen, manche modernde Baumleiche mit blü-
henden Schmarotzerpflanze» geschmückt erscheint. So rasch
und üppig ist hier das Wachsthum der Vegetation, daß ein-
zelne Theile der Bahn zweimal im Jahre von den sie über-
wuchernden Pflanzen gereinigt werden müssen; ja, bliebe der
Schienenweg auch nur zwölf Monate unbenutzt und verlassen,
so würde kaum eine Spur mehr von demselben zu entdecken
und alles rings umher wieder, wie früher, dichte Waldwild-
uiß sein."
Das in sumpsiger Umgebung liegende Afpin wall ist
eine wahre Brutstätte für Fieber, Moskitos und andere
stechende Jnsecten, aber der von St. Thomas kommende Rei-
sende braucht sich dort nicht aufzuhalten, sondern bleibt auf
dem Schisse, bis der Eisenbahnzug zur Abfahrt bereit ist.
Auch unser Berichterstatter gebrauchte diese Vorsicht und
langte am 22. Juni wohlbehalten in der Stadt Panama
an. Letztere ist ein Ort von großem geschichtlichen Interesse,
denn sie war seit der Entdeckung Amerikas immer die Basis
für die spanischen Unternehmungen an der Küste des Großen
Oceans, mochten dieselben nach Norden oder nach Süden ge-
richtet sein. Von ihrem Hasen segelten z. B. Franz Pizarro
und Almagro aus, um Peru zu entdecken und zu erobern,
und hier war hernach auch wieder der Stapelplatz, wo die
; der Landenge von Panama. 315
peruanischen Silberbarren und andere werthvolle Producte
der reichen spanischen Colonien an der westlichen Küste Süd-
amerikas abgeliefert wurden, um sie über den Isthmus und
den Atlantischen Ocean dem Mutterlande zuzuführen. Die
alte im Jahre 1519 von Pedrarias gegründete Stadt, deren
Lage gleichfalls im höchsten Grade ungesund war,, existirt
aber nicht mehr, denn sie wurde im Jahre 1670 von dem
englischen Piraten Morgan zerstört. Der König von Spa-
nien gab darauf Befehl, die Stadt an einer andern gefuu-
dern und zur Verteidigung besser geeigneten Stelle wieder
aufzubauen, und so erstand das jetzige Panama etwa eine
halbe Meile von der Stelle entfernt, wo die alte Stadt ge-
legen hatte. Sie liegt auf einem von drei Seiten mit Wasser
umgebenen Felsen und war ursprünglich stark befestigt, aber
ihre Wälle und Mauern sind jetzt vom Zahne der Zeit und
den gegen sie anstürmenden Finthen des Meeres schon gar
sehr zernagt. Von der See ans gesehen gewährt die Stadt
mit ihren Kirchen und Klöstern einen ganz imposanten An-
blick. Ihrer ganzen Anlage nnd Banart nach trägt sie durch-
aus einen spanischen Charakter. Ihre Häuser siud massiv,
zum Theil aber von ärmlichem Ansehen, die Fenster meist
vergittert und ohne Glasscheiben; die kirchlichen Bauwerke
sind zwar groß uud solid, aber in dem schlechten Stile auf-
geführt, der den entarteten Geschmack des siebenzehnten Jahr-
Hunderts kennzeichnet. Spuren frühern Glanzes uud spätern
Verfalles treten in der Stadt überall zu Tage. Die Stra-
ßeu find eng und schmutzig, und früher erwies sich anch dies
neue Panama als ein in hohem Grade ungesunder Ort. In
letzterer Beziehung aber soll sich die Stadt in neuerer Zeit
so weit gebessert haben, daß die bunten Dosen mit China-
pillen, mit denen man sich dort sonst in Gesellschaften, wie
mit einer Prise Taback, aufzuwarten pflegte, jetzt außer Ge-
brauch gekommen sind. Man schreibt, und wohl mit Recht,
diese Besserung des Gesundheitszustandes der starken Con-
snmptiou von Eis zu, welches seit einigen Jahren in großen
Massen von Boston her eingeführt wird, und dessen Bei-
Mischung unter die Getränke sehr wesentlich zur Erhaltung
der Gesundheit beizutragen scheint. — Im Jahre 1849 ward
die Stadt zu einem Freihafen erklärt.
Leider ist die Küste so seicht, daß größere Fahrzeuge bei
der etwa zwölf Seemeilen von Panama entfernten Jnfel
Taboga vor Anker gehen müssen. Dort schiffte sich denn
auch unser Reisender am 24. Juni ans dem großenSchran-
beildampfer „Rakaia" ein, der von England aus um das
Cap Horn herum eine 11,315 Seemeilen lange Fahrt hier-
her gemacht hatte, um auf der letzten Station der neuen Ver-
kehrslinie, zwischen Panama und Wellington, den Dienst zu
verrichten. — Der Weg über den Großen Ocean führte nun
zunächst bei den unter dem Aeqnator belegenenGalapagos-
Inseln vorüber. „Von dort an (sagt unser Berichterstat-
ter) förderten der Humboldtstrom und der sanft wehende Pas-
sat nnsern Lauf, so daß wir die Hälfte des Weges binnen
zwölf und einem halben Tage zurücklegten. Während dieser
Zeit war die Witterung überaus angenehm, Zwar hielt
sich das Thermometer durchschnittlich auf 25,6° C., aber
man spürte dabei keine Hitze. Die Lust war so rein und
erfrischend, daß es eiu Vergnügen war, sie einznathmen; des
Nachts aber schienen in dieser transparenten Atmosphäre
die Dimensionen des Himmelsgewölbes sich zu erweitern und
die Sterne in stärkerm Glänze zu leuchten. — Einige woll-
ten diesen Theil der Reise eintönig und daher langweilig sin-
den, aber dies kann nur in so weit gelten, als jeder ununter-
brocheue ruhige Genuß zuletzt etwas Eintöniges erhält. Wir
wurden aber bald aus unserer genußreichen Rnhe wieder auf-
gerüttelt, und die zweite Hälfte unserer Fahrt ward stürmisch
genug. Am Abende des 8. Juli passirten wir die kleine In-
40*
316 Ernst Boll: Tie Bedeutui
sel P itcairn, da es aber finster war und die See hoch ging,
durften wir uns der Küste nicht nähern."
„Sobald wir diese Insel hinter uus hatten, bemerkten
wir, daß wir von der tropischen Zone und von der schönen
Witterung Abschied nahmen und in ein kälteres, stürmischeres
Gebiet gelangten. Das Meer war in Ausruhr, der Wind
blies kräftig und das durch starken Kohlenverbrauch leichter
gewordene Schiff begann stark zu rollen. Nachdem zwei hes-
tige Stürme ihre Kraft an uns erschöpft hatten, und wir
schon zu fürchten begannen, daß unsere Hoffnung auf eine
schnelle Uebersahrt getäuscht werden möchte, sprang wieder
ein günstiger Wind auf und wir kamen anscheinend so schnell
vorwärts, daß wir glaubten, wir würden den bisherigen Zeit-
Verlust wieder einbringen können. Aber das Log belehrte
uns bald, daß hier eine Täuschung vorlag, indem wir in
eine uns entgegenkommende Meeresströmung hinein gelangt
waren, welche die Kraft des unsere Fahrt begünstigenden
Windes wieder nentralisirte. Am 19. und 20. Juli hatten
wir noch einen dritten Sturm zu überstehen, welcher die bei-
den vorigen an Stärke und Dauer noch übertraf und unser
Schiff auf eine harte Probe setzte. Es bewährte sich aber
in derselben; am 21. klärte das Wetter sich wieder auf und
ein günstiger Wind führte uns nun schnell durch die Cooks-
straße in den ersehnten Hafen von Wellington."
„Der über den Großen Ocean zurückgelegte Weg betrug
6523 Seemeilen, die Zeit der Fahrt 28 Tage und derVer-
brauch au Steinkohlen 861 Tonnen. Von Panama bis
Pitcairn schwankte die Lufttemperatur zwischen 32,2 und
23,9<> C. (die mittlere Temperatur betrug 25,6°), die Mee-
restemperatur aber zwischen 27,2 und 22,2°; von Pitcairn
bis Wellington aber schwankte erstere nur zwischen 20,6 und
9,4° (mittlere Temperatur 14,4°), letztere aber zwischen 21,1
und 11,7°."
Die ganze Wegstrecke, die aus dieser ersten Probefahrt
zurückgelegt ward, beträgt demnach von
Southampton bis St. Thomas 3654 Seemeilen
St. Thomas bis Afpinwall 1060 „
Länge der Panamabahn 47 „
Panama bis Taboga 12 „
Taboga bis Wellington 6523 „
Summa 11,276 Seemeilen
— 2819 geogr. Meilen.
Die Fahrt dauerte vom 2, Juni bis 22. Juli, also 50
Tage, und sie kann in Zukunft durch eine auf der Strecke
von St. Thomas bis Aspiuwall leicht zu machende Zeiterspar-
niß von 22 Stunden, und durch genaueres Studium und
bessere Benutzung der günstigen Winde und Meeresströmmt-
gen auf dem Großen Ocean wahrscheinlich noch um etwa
vier Tage abgekürzt werden. — Diese neue Panamalinie ge-
währt also für den europäischen Verkehr mit Neuseeland eine
bedeutende Zeit- und Geldersparniß, denn auf der sogenann-
ten „Ueberlandpost" dauert die Reise circa 25 Tage länger
nnd kostet auch um ein Drittheil mehr. Segelschiffe, welche
von England aus um das Cap der guten Hoffnung herum
nach Wellington gehen und von dort um das Cap Horn
herum nach England kommen, brauchen zu ersterer Fahrt etwa
vier, zu letzterer etwas mehr als drei Mouate; wenigstens
liegen mir über zwei solcher Fahrten Berichte vor, nach wel-
cher erstere (einschließlich eines mehrtägigen Aufenthaltes bei
der Capstadt) 126 Tage, letztere aber 90 und einige Tage
dauerte. —
— Wir wollen hier nachstehenden Brief hinzufügen, wel-
chen die „AllgemeineZeitung" aus Panama vom 12.März
dieses Jahres bekommen hat; durch denselben werden die obi-
gen Bemerkungen vervollständigt.
der Landenge voll Panama.
„Die Weltverbindung des Isthmus von Panama mit-
telst des Dainpses hat mit der Eröffnung der neuen Dam-
pferlinien von England nach Australien und von Neuyork
nach China und zurück eine wichtige Ergänzung erhalten.
Der großartige Aufschwung des Transitverkehrs
dieser Landenge übertrifft jede Voraussicht, und hat
selbst die günstigsten Prophezeiungen von Nationalökonomen,
wie Michel Chevalier, und von Seemännern, wie Manry,
weit hinter sich gelassen. Nicht weniger als dreizehn
Dampferlinien münden gegenwärtig von beiden
Oceanen in die Häsen des Isthmus. Ganze Heeres-
züge von reisenden Geschäftsleuten und Auswanderern, fämmt-
lich den bemittelten Ständen angehörig — der arme Aus-
wanderer ist selbstverständlich der hohen Kosten wegen aus-
geschlossen —, werden jetzt über Panama nach allen Ländern
der Erde befördert. Von Waaren nimmt nur das Kostbarste
diesen Weg. Die zu Tag gehobenen Metallschätze von Ca-
lisornien, Oregon, Pern und Bolivia rollen ganz, die von
Australien bereits zum Theil über diese Landenge."
„AnWichtigkeit nehmen die Dampferlinien von Neu-
York nach Afpinwall und von Panama nach San
Francisco den ersten Rang ein. Letztere verspricht in nüch-
ster Zukunft an Bedeutung namhaft zu gewinnen, seitdem
nun auch der regelmäßige Dampferverkehr zwischen San Fran-
cisco und den Häsen von Japan und China im vollen Gang
ist. Ungeachtet der größern Entfernung der ostasiatifchen
Reiche von Europa in dieser Richtung werden doch Kanslente
von Southampton, Havre und Hamburg dieHäfen von Jedo,
Nagasaki nndSchanghai ans diesem Wege meist schneller,
jedenfalls aber sicherer und bequemer erreichen, als über
Suez."
„Sehr einträglich und für den Berkehr über alle Erwar-
tnngen günstig scheint die im vorigen Jahre neu eröffnete
Linie zwischen Panama, Neuseeland und Australien
sich zu gestalten. Die kolossalen Dampfer, welche monatlich
einmal in dieser Richtung das Stille Weltmeer durchfurchen,
treffen an ihren Bestimmungsorten mit einer stannenswür-
digen Regelmäßigkeit ein. Es sind in Bezug auf ruhige
See, milde Lufttemperatur und Comfort der Schiffe wahre
Lustfahrten und sehr selten durch das Intermezzo eines klei-
nen Sturmes ein wenig gestört. Die ankommenden Passa-
giere legten in unseren Zeitungen wiederholt ihre Aenßernn-
gen des Entzückens nieder über die schöne Fahrt, die bequeme
Einrichtung und gnte Tafel der Schiffe und die freundliche
Artigkeit ihrer Capitaiue. Die Preise sind vergleichsweise
nicht übertrieben hoch. Pafsagiertaxe erster Classe von Pa-
nama nach Sydney 300 Dollars!"
„Die Begleiter des Magalhaens wähnten bei ihrer Rück-
kehr: ein zweiter Versuch, die Erde zu umschiffen, werde, nach
der Erfahrung der Schwierigkeiten und der ausgestandenen
Mühseligkeiten, wohl kaum wieder gemacht werden. Heute
ist die Erdumschiffung fast zu einer Lustpartie geworden. Um
die Wunder aller fünf Welttheile und den Naturcharakter
ferner Zonen zu fchauen, dazu gehört jetzt weder mehr ein
großer Muth noch eine besondere Entsagungsfähigkeit. Da-
gegen ist ein wohlgefülltes Portemonnaie freilich eine nnab-
weisbare Notwendigkeit geworden. — Mit dem mächtigen
Aufschwung des Transitverkehrs steigt natürlich auch die
politische Wichtigkeit dieses Jsthmusstaates. Leider sehen
wir eine Katastrophe unaufhaltsam näher rücken, denn in
der Bevölkerung nimmt der Wnnfch einer Ausscheidung aus
dem Verbände der colnmbischen Republik (d. h. Neugranada)
immer stärker zu. Letztere hat aber um so weniger Lust, das
kostbare Passageland fahren zu lassen, je mehr dessen okono-
Mischer Werth steigt, und je mehr die Notwendigkeit eines
interoceanischen Schiffcanals näher rückt. In Bogota scheint
Aus allen Erdtheilen.
317
nian in dieser Beziehung zu einem festen Entschluß gekom-
meu zu sein. Präsident Mosquera hält dort die Zügel jetzt
in kräftiger Hand und wird jeden Unabhängigkeitsversuch der
Jsthmusbevölkeruug mit den Waffen unterdrücken. Die
Uus alten
Der Tod des Barons Karl von der Decken bestätigt.
Wir haben in mehreren Nummern der Erpedition erwähnt,
welche die Herren Richard Brenner und Theodor Kinzelbach
unternahmen, um über die Katastrophe, welche Herrn von der
Decken zu Berdera am Dschnb betras, völlig ins Klare zu kom-
men. Sie Beide hegten noch einige Hoffnung, daß derselbe nicht
ermordet worden sei. Nachdem sie im October 1366 in Aden
an Bord des englischen Dampfers „Highflyer" gegangen waren,
fuhren sie nach Brawa an der ostasrikanifchen Küste; Brenner
schiffte von dieser Insel auf das Festland hinüber, um seine Nach-
sorschungen zu beginnen; Kinzelbach begab sich nach Sansibar,
um sich Empfehlungsschreiben an den Somalisultan von Berdera
zu verschaffen, und bei diesem als Abgesandter des sansibarischen
Sultans Medschid aufzutreten.
Brenner kam über die Verhältnisse bald ins Klare. Nach-
dem er in Brawa bei dessen Scheich Rnfay seine Wohnung ge-
nommen, suchte er den Scheich Abdio auf, der Herrn von der
Decken auf der Dschuberpedition begleitet und ihn wahrscheinlich
auch verrathen hat. Abdio ging, als der Dampfer „Wels^ ober-
halb Berdera gestrandet war, mit dem Baron und Dr. Link nach
dieser Stadt, wo man Lebensmittel vom dortigen Sultan Hadschi
Ali ben Kero kaufen wollte. Abdio, ernstlich befragt, bekräftigte4
dann Herrn Brenner mit einein Eide, daß die beiden Europäer
allerdings ermordet worden feien, daß jedoch er, Abdio, daran
unschuldig sei. Brenner befragte dann auch einen Diener des
Barons, welcher diesen gleichfalls nach Berdera begleitet hatte.
Er sagte Folgendes aus: Als die Somalis Herrn von der Decken
gebunden hatten und ihn abführten, gab er diesem Diener den
Auftrag, er solle dem hamburgischen Consul Witt oder dem Sul-
tan von Sansibar mittheilen, daß Abdio das Unheil veranlaßt
habe. Dieser Diener war aber bisher noch nicht nach Sansibar
gekommen, um die Botschaft dort zu bestellen. Daraus erklärt
sich, daß Brenner nun erst, als er in Brawa war, Kunde von
derselben erhielt.
Abdio benahm sich wie ein Schuldbewußter und war sehr
unruhig. Brenner konnte nun kaum noch an dem Tode des Ba-
rons Zweifel hegen, und diese schwanden völlig, als er, nebst
mehreren Gegenständen, welche der Erpedition angehört hatten,
auch folgende Sachen kaufte: den mit Blut befleckten Rock
des Dr. Link, den Rock des Barons, an welchem keine
Blutspuren hasteten, und einen Revolver, welchen
Brenner selbst für Herrn von der Decken geladen, als
dieser das Lager beim „Weif" verließ, um nach Ber-
dera zu gehen. Diese Waffe, das ist Brenners Ueberzeugung,
könne erst nach dem Tode des Barons in andere Hände überge-
gangen sein.
Aus Antrieb des Reisenden fand eine Rathsversammlung der
Scheichs und Aeltesten von Brawa statt. In dieser setzte Brenner
auseinander, weshalb er gekommen fei; er bat darum, daß ein
Bote an den Sultan von Berdera gesandt werde; diesen möge
man ersuchen, daß er Alles, was aus das Schicksal der beiden
Europäer Bezug habe, umfassend mittheile, und daß er dann seine
Aussagen in der Moschee aus den Koran beschwöre.
Bei den Verhandlungen jener Rathsversamm'lung war das
Benehmen einiger Somalihäuptlinge sehr charakteristisch; sie zei-
gen, wie von ihnen die Dinge ausgefaßt und angesehen werden.
Einer derselben sagte Herrn Brenner:
„Habt ihr die Schisse gezählt, welche uns von den
Engländern verbrannt wurden, weil Sklaven auf
denselben waren, Sklaven, die uns rechtmäßig an-
hier lebenden Europäer wollen keine Aendernng,
weil sie die überwiegende Mestizen- und Mulat-
tenbevölkernng eines Selsgovernment ganz un-
sähig halten." —
Lrdtheilen.
gehörten? Der Baron (panam makuba) ist todt und
Alle sind todt, und es ist recht, daß sie todt sind."
„Wir gehen ja nicht in das Land der Weißen, warum
kommen sie zu uns? Pähl Ich lache dazu, wenn die Wei-
ßen sagen, sie wollen bloß unser Land besehen! Sie werden so
lange besehen und besehen, bis für uns nichts mehr übrig bleibt.
Fragt doch die Banianen (indischen Kaufleute) und Hindus,
die jetzt mit ihren Schiffen herüberkommen, was ans
ihrem Lande geworden ist? Der Capitano (d. h. Brenner)
hat manche von unseren Somalis getödtet und dafür sollen wir
ihm noch helfen?"
Jetzt, so schreibt Herr Brenner, stand meine Angelegenheit
bedenklich. Ich entgegnete: „Allerdings habe ich mein Leben ver-
theidigt, nachdem ich gesehen, wie meine Gefährten tückisch er-
mordet wurden. Wollt ihr etwa Rache an mir nehmen, weil ich
mein Leben vertheidigt habe? Ich bin in eurer Gewalt, aber
es wird euch keinen Vortheil bringen." Nun riefen viele Stim-
men: Amani, Amani! (d.h. Feinde) und erklärten, ich hätte
ganz recht gehandelt. Dann legte sich die Aufregung, die Eon-
ferenz nahm ihren Fortgang, und am Nachmittage wurde mir
das Ergebnis; der Berathung mitgetheilt. Dasselbe lautete: Bin-
nen zwei Tagen soll der von mir gewünschte Brief an den Sul-
tan von Berdera abgefertigt werden; morgen soll der Bote zu
mir kommen, um bei mir Instructionen einzuholen. Ueber mein
Gesuch, mich nach Genahneh vordringen zu lassen, könne man
erst entscheiden, nachdem die Antwort aus Berdera eingetroffen
sei. So war denn diese für mich so wichtige Eonferenz zu Ende
und ich versichere, daß jedem Europäer, welcher dieser Berathung
beigewohnt hätte, der Spott auf den Lippen erstorben wäre.
Wir verdanken diese Mittheilungen Herrn Dr. H. Lange
in Leipzig, der sie von Dr. Kersten in Altenburg erhalten hat.
Nach diesen Berichten darf man sich nicht mehr der Erwartung
hingeben, daß Herr von der Decken noch unter den Lebenden
weile. Er war ein muthiger und unternehmender Mann, aber
die Wahrheit erfordert es zu sagen, daß er es an Behutsamkeit
und Takt hat fehlen lassen. In Sansibar äußerte er sich mehr-
fach wegwerfend über die mohammedanische Religion; in Berdera,
wo die streng am Islam hängenden Somali den Taback verab-
scheuen, rauchte er in der Wohnung des Sultans und dieser
glaubte dadurch sein Haus verunreinigt. Als die Somali ihm
beim Einkaufe von Lebensmitteln Preise abforderten, welche ihm
zu hoch dünkten, sprach er von Dieben, und als der Sultan zu
ihm kam, um ihm zur Aussöhnung die Hand zu reichen, verwei-
gerte er die Annahme derselben. (Der Sultan von Berdera hat
die Ermordung des Barons brieflich eingestanden.)
Fernere Mittheilungen über Livingstone.
Bei der allgemeinen und wohlverdienten Theilnahme für Li-
vingstone's Schicksal wird es angemessen sein, daß wir die weite-
ren Mittheilungen, welche wir finden, zusammenstellen, obwohl
sie mehrfach nur Vermuthungen enthalten. Die „Bombay Ga-
zette" vom 28. März schreibt: „Als Livingstone im vorigen Jahre
unsere Stadt verließ, nahm er einen Havildar pnd elf Mann vom
Marinebataillon mit sich. Einer von diesen starb in Sansibar,
die übrigen gingen mit ihm ins Innere; vier von ihnen verloren
sich in den Wäldern. Außerdem hatte er zehn afrikanische junge
Burschen, die hier in der Nassick-Änstalt erzogen worden sind, und in
Sansibar nahm er noch zehn Schwarze in Dienst. So zog er
ab. Nachdem er etwa drei Monat unterwegs gewesen, wurden
die meisten Leute von: Marinebataillon, welche Gepäck und Vor-
318 Aus allen
räthe zu tragen hatten, krank; die Ochsen, welche er von Bombay
ans mitgenommen hatte, starben zumeist und die übrigen wurden
unbrauchbar. Livingstone beschloß, jene Leute zurückzuschicken, der
Havildar aber blieb bei ihm. Von jenen Leuten wurde daun
noch einer krank und mußte zurückgelassen werden; die vier übri-
gen langten in Sansibar an und drei derselben wurden nach Aden
geschickt, wo sie etwa zwei Monate blieben; von dort sind sie nach
Bombay zurückgebracht worden. Sie haben kein Wort über Li-
vingstone's Ermordung gesagt (— was ja auch nicht der Fall
sein konnte, da er am Leben war, als sie ihn verließen Der
im Innern zurückgebliebene Kranke gelangte später auch nach
Sansibar und ist vor einigen Tagen hier eingetroffen. Als er
in Sansibar war, kamen einige von den Schwarzen dorthin zu-
rück; diese erzählten ihm, Livingstone sei von den Wilden getödtet
worden, weil er in einer Richtung habe vordringen wollen, die
ihnen nicht genehm gewesen sei."
Die „Times os Jndia", gleichfalls vom 23. März, sagt, der
Araber Musa habe eiu Kästchen mitgebracht, das eine
Karte enthalte. Wenn dies die Karte der Seegegend ist, welche
Livingstone entworfen hat, bevor er Bombay verließ, dann darf
man wohl annehmen, daß er sich eher von jedem andern Gegen-
stände getrennt haben würde, als von dieser. Die Aussage dieses
Dieners hat nichts Unwahrscheinliches; wir können nicht anneh-
men, daß er sie erfunden habe, denn die Lüge würde ja doch bald
entdeckt worden sein. Bedenklich ist auch, daß volle sechs Monate
lang von Livingstone keine Nachrichten eingelaufen sind, und das
Alles zusammengenommen läßt allerdings das Schlimmste be-
fürchten.
Londoner Blättern vom 25. April zufolge hat Murchison
wieder einen Brief aus Sansibar (datirt 8. Februar) von Dr.
Kirk bekommen, demselben, durch welchen die Nachricht von Li-
vingstone's Tode zuerst nach Europa gelangte. Der Sultan von
Sansibar hatte am 7. Februar einen Bericht vom Gouverneur
zu Kilwa (Quiloa) erhalten. In diesem Hafen waren Handels-
leute aus dem Innern von jenseits des Nyassa-Sees her eiuge-'
troffen. Sie sagen, daß sie gegen Ende des Novembers, also zwei
Monate nach der angeblichen Ermordung, sich in Maksura be-
fuuden hätten; dieser Ort liege nur etwa 10 Mikes von der
Stelle, an welcher sich die Katastrophe ereignet haben soll; dort
wäre nichts davon bekannt gewesen, daß dem Dr. Livingstone ein
Unfall begegnet sei. Vielmehr hätte der Reisende seine Wände-
rung nach dem Lande der Babisa fortgesetzt, nachdem ihm an
der Westseite des Nyassa-Secs eine freundliche Aufnahme zu Theil
geworden sei.
Die Zeit allein kann uns darüber belehren, was in allen
diesen Aussagen wahr oder falsch ist. Von England aus wird
eine Expedition ausgerüstet werden, um Nachforschungen anzu-
stellen. An ihrer Spitze steht E-D. Doung, welcher den Dampfer
„Pioneer" befehligt, mit welchem Livingstone den Sambesi befuhr. Er
nimmt ein eisernes Boot mit; die Behörden der Capcolonie wer-
den ihn bis an die Mündung des Sambesi schaffen. Damit wird
er bis an die Katarakten des Schire fahren, an denselben das
Boot in Stücke zerlegen und diese von Negern bis dahin tragen
lassen, wo das Wasser wieder schiffbar ist. Dort setzt er das Fahr-
zeug wieder zusammen und schifft aus dem Schire in den Nyassa-
see bis an das nördliche Ende desselben, also bis in die Gegend,
wo das Unglück sich ereignet haben soll. Mehr als zwanzig
Männer erklärten sich bereit, als Freiwillige an der Erpedition
theilzunehmen.
Die dänischen Ansiedelungen in Grönland.
Ein amtliches Blatt in Kopenhagen, die „Departements Ti-
dende", giebt über die Verhältnisse derselben in den Jahren 1865
und 1866 einen langen Bericht. Man ersieht aus demselben,
daß der Norden von Grönland 1865 ganz ausnahmsweise trocken
und warm gewesen ist. Im Herbst war das Wetter bis in den
October hinein ruhig und mild; dann folgten, wie gewöhnlich,
heftige Stürme, die bis Weihnachten andauerten. Nachher trat
mit wieder ruhigerm Wetter und mit dem Eise strenge Kälte ein,
die Mitte Januars an der Discobai — 27° R. betrug. Von da
ab wieder milderes Wetter, das mit Stürmen aus Süd abwech-
selte, und hinterher wieder strenge Kälte. Ueberall viel Schnee
mit Ausnahme des Bezirks Upernavik. Die strenge Kälte hielt
Erdtheilen.
bis in den Juni an und der Sommer von 1866 war kalt, feucht
und nebelig. Im südlichen Grönland war die Herbsttemperatur
normal, der Wintcr dagegen strenger als gewöhnlich; Kälte in
Godhab —21° {R., in Holstenborg bis —27° R-; das Eis war
auch in den Binnenbuchten eonstanter als gewöhnlich.
In der Mitte des Mai 1866 trat zeitweilig eine mildere
Temperatur ein, doch war der ganze Sommer überall in Grön-
land ausnahmsweise kalt und nebelig; Regen ungewöhnlich häufig.
Der große Eisgang an der Ostküste war in der zweiten
Hälfte von 1865 und in der ersten des Jahres 1866 nicht sehr
< bedeutend,, aber vom 15. Mai an drückte er gegen die Küste zu
bis nach Fiskernäs und kam später bis Godhaab hinab; im Juni
und Juli war selbst sür Eskimokähne (Kayaks) alle Verbindung
mit Frederickshaab unterbrochen; im August entfernte sich das Eis
etwas von der Küste, häufte sich aber bald nachher dort wieder an.
Der Walfischfang ist nicht ungünstig ausgefallen. Im
District Hncenak wurden viele Narwale und sechs Wale gefangen;
die Einsammlung der Eiderdunen gab 1865 wegen des milden
Sommers sehr guten Ertrag, Die Fuchs- und Rennthier-
jagd war von geringem Belang. Seit einigen Jahren macht
sich in Nordgrönland eine Seuche unter den Hunden be-
merklich; die Untersuchungen sollen ergeben haben, daß es sich
dabei um Wasserscheu handle. Sie hat im ganzen District Uper-
navik großen Schaden angerichtet, denn der Hund ist bekanntlich
sür die Grönländer von großem Werthe. Die südlichen Districte
blieben bisher verschont.
In der Handelszeit vom 1.Juli 1865 bis zum 31. März
1366 lieferte der Norden 5300, der Süden 5900 Tonnen Thran,
auch Leberthran.
Der Gesundheitszustand war, eine Influenza während
des feuchten Sommers 1866 abgerechnet, nicht ungünstig, doch
im Süden besser als im Norden.
Die Bevölkerung betrug in Nordgrönland 1958 männliche
und 2020 weibliche Seelen, also total 3978; in SSsgrönland
2494 männliche, 3009 weibliche, total 5503; insgesammt also 4452
männliche, 5029 weibliche, Summa 9481 Köpfe. Der Ueberfchuß
der Geburten betrug 77 Köpfe.
In den nördlichen Niederlassungen sind Kayakschulen be-
gründet worden, in welchen den Kindern aus gemischtem Blut Un-
terricht im Rudern der bekannten grönländischen Fahrzeuge, der
Kayaks, gegeben wird. Die Fertigkeit im Handhaben dieser
Schiffe ist für ein solches Land von großer Wichtigkeit. Auch im
Schießen nach Vögeln wird Unterricht ertheilt. In Julianenhaab
wurde ein großes Wettschießen veranstaltet, an welchem sich 360
Grönländer betheiligten.
Im Hasen von Arsut liefen 23 Schiffe ein, welche für Pri-
vatrechnung ausgerüstet waren; sie luden Eryolith ein. Drei
nordamerikanische Walsischfahrer gingen im Eise verloren.
Zur Statistik der Vereinigten Staaten von Nordamerika.
Amtlichen Berichten zufolge betrug am 1. April 1867 die
Staatsschuld der Union, jene der einzelnen Staaten nicht
mitgerechnet, dieeolossaleSumme von 2,663,713,374Dollars
13 Cents; dayon waren Schulden, deren Zinsen mit Baargeld
bezahlt werden müssen, 1,499,381,571 D. 80 E.; solche, deren
Zinsen in Papiergeld bezahlt werden, 734,280,736 D. Fällige,
aber noch nicht bezahlte Schuld 12,82o,658 D. 32 C. Schulden,
die keine Zinsen tragen, 417,225,343 D. 18 C.
Die Vereinigten Staaten sind das am schwersten, am drü-
ckendsten besteuerte Land in der Welt, und das Besteuerungs-
system ist so schlecht wie in keinem andern Lande. Für das Jahr
1866 betrugen die Einnahmen von:
Zöllen......... 181,467,551 Dollars — Cents
Landverkäufen...... 935,226 „ 11 „
Innerer Besteuerung . . . 294,792,555 „ 96 „
Direeter Tare...... 2,007,361 „ 85 „
Verschiedenen Quellen. . . 44,874,695 „ 4 „
Total . . . 523,977,339 Dollars 96 Cents.
In den guten Tagen der Union nnd bevor die radiealrepu-
blikanische Partei zur verderblichen Herrschaft gelangte, sagen wir
vor zehn Jahren, also 1356, stellten sich die Einnahmen in fol-
gender Weise heraus:
Aus allen -Erdtheilen.
319
Von Zöllen.............64,022,863 Dollars
Innere und directe Taren, nicht vorhanden.
Landverkäufe............. 9,895,278 „
Verschiedenes...........- . 200 „ ^
* Total . . . 74,056,899 Dollars.
In jenem Jahre 1856 betrug die Gesammtschuld der Union
30,969,731 Dollars; sie war 1857 aus 29,060,386 Dollars her-
abgegangen.
In dem Finanzjahre vom 30. Juni 1860 bis dahin 1861
betrugen die Einnahmen von Zöllen 39,582,125 D. 64 E.;
die Gesammteinnahme stellte sich auf 86,835,900 Dollars.
Betrachten wir nun die Ausgaben. Sie stellten sich in
dein eben genannten Finanzjahre so:
Gesetzgebung, Executive, Justiz ic..... 6,156,199 D. 25 C.
Auswärtiges Departement....... 1,142,973 „ 41 „
Verschiedenes der verschiedenen Departements 15,888,030 „ 53 „
Inneres............... 3,760,022 „ 72 „
Krieg................ 22,981,150 „ 44 „
Seewesen . - -........... 12,428,577 „ 9 „
Finanzwesen . . ........... 22,221,881 „ 3 „
Gesammtanögaben. . .84,578,834 D. 47 E.
Für 1866 stellen sich folgende Ziffern heraus:
Inneres, Auswärtiges und Vermischtes . 45,534,393 D. 54 C.
Pensionen und Indianer...... 22,059,009 „ 2 „
Krieg.............. 84,595,137 „ 34 „
Marine ............. 33,083,216 „ 46 „
Zinsen für die Schulden ...... 137,815,458 „ 99 „
Eiesammtausgaben . . . 323,086,215 D. 35 E.
Mit dem lleberschuste wurden Zinsen bezahlt. Der Abgabendruck
wird um so schwerer empfunden, da Gewerbe, Handel und Schiffs-
bau zurückgehen. Der Ende Marz vertagte 40. Kongreß, in wel-
chem die eigentlichen Uankeestaaten und die mittleren Staaten
Alles nach Gutdünken entschieden, hat abermals die Zölle erhöht;
z. B. die Eingangsabgabe von Regen- und Sonnenschirmen aus
50 und wenn sie von Seide sind auf 60 Procent vom Werthe.
Trotzdem wird immer noch höherer „Schutz" verlangt.
Im Hafen von Neuyork liefen 1866 von überseeischen
Ländern 4062 Schiffe ein, doch steht dabei die Flagge der Ber-
einigten Staaten erst in zweiter Linie mit 1658 Schiffen gegen
2420, die unter englischer Flagge ankamen. In dritter Reihe
kommt Deutschland mit 205 Schiffen, davon 172 Bremer, 82
Hamburger, 69 Preußen, 38 Hannoveraner, 4 Oldenburger, 20
Mecklenburger, 5 Lübecker, 4 Holsteiner. In der Küstenschiffsahrt
sind 7228 Schiffe eingelaufen (454 weniger als im Vorjahre),
im Ganzen also 12,121 Fahrzeuge.
Die Schifffahrt der Nordamerikaner ist zurückgegan-
gen. Im Finanzjahre 1859/60 waren in der Fahrt mit fremden
Ländern 2,546,237 Tonnen beschäftigt, 1865/66 nur 1,492,924
Tonnen. Im Jahre 1853 war der Tonnengehalt der amerikani-
scheu Fahrzeuge 15Proceut stärker als jener der englischen Schiffe
dort, jetzt ist er um reichlich 33 Procent niedriger. Die Schiffs-
bauer leiden unter dem „Schutz" ungemein und verlangen nie-
drigere Eingangszölle, ohnehin ist, schon der Papierwirthschaft
wegen, der Arbeitslohn gegen 1861 um mehr als 75 Procent in
die Höhe gegangen, während die exorbitanten Eingangszölle das
Material um 60 Procent vertheuern. Mit jeder Erhöhung der
Eingangszölle sind auch die Arbeitslöhne gestiegen. Dazu kommt,
daß sehr viele Arbeiter nur 8 Stunden, gegen früher 12, arbei-
ten und sich trotzdem am Lohne nichts herabmindern lassen wol-
len. Sie werden in dieser „Acht-Stunden-Bewegung" von solchen
radicalrepublikanischen Handwerkspolitikern unterstützt, welche aus
die Stimmen der „Arbeiter" speculiren, um einträgliche Aemter
zu erhalten.
Im verflossenen Winter sind im Westen 2,425,254Schweine
geschlachtet, eingesalzen und verpackt worden. Das Durchschnitts-
gewicht beträgt für jedes 232% Pfund. — I« Louisiana sind,
weil die Neger so wenig oder theils auch gar nicht arbeiten, nur
36,767 Hogsheads Zucker geerntet worden, 1861 erntete man
142,379 Hogsheads. DieTabacksernte hat 330,501,500Pfund
ergeben, um 104 Millionen Pfund weniger als 1860 und ans
demselben Grunde.
Zur Statistik Ostindiens. Dem Parlament ist ein Blau-
buch vorgelegt worden, das folgende Angaben enthält.
Britisch-Indien hat einen Flächenraum von 955,238 eng-
tischen Quadratmiles; Bevölkerung 144,674,615 Seelen.
Die Staaten indischer Fürsten: 596,970 Quadratmiles
mit 47,90),199 Seelen.
Französische Besitzungen: 188 Quadratmiles, 203,887
Seelen.
Portugiesische Besitzungen: 1066 Quadratmiles,
313,262 Seelen.
Total: 1,553,282 Quadratmiles, 193,100,963 Seelen.
Eal cutta zählte 1866 im Januar 377,924 Seelen, also viel
weniger als man bisher annahm; Bombay im Februar 1864
schon 316,562; Madras 1863 427,771 Seelen.
Die Handelsentwickeluug ist während der letztverflosse-
neu Jahre in der That großartig gewesen. 1840/41 wurden auf
dem Seewege aus fremden Gegenden eingeführt für 8,415,940
Pf. St., 1860/61 schon für 23,493,716 Pf. St.. 1864/65 für
28,150,923 Pf. St, wozu noch für 21,363,852 Pf. St. an edlen
Metallen, zumeist Silber, kamen.
An Baumwollenwaaren wurden importirt 1849 für
2,222,089 Pf. St., aber 1865 für 11,035,885!
Die Ausfuhreu aus Britisch-Jndien sind von 13,455,584
Pf. St. im Jahre 1841 gestiegen auf 32,970,605 in 1861, und
auf 68,027,016 Pf. St. in 1865! Das war die Wirkung
des nordamerikanischen Krieges; während der Baumwollen-
erport 1860 nur 5,637,624 Pf. St. betrug, stieg er 1865 auf
37,513,637 Pf. St.
Die anderen Hauptausfuhrartikel 1865 waren: Opium
9.911,801 Ps. St., also für vierundfechszig Millionen
Thaler! Reis 5,573,537; Sämereien (Sesam ,c.) 1,912,433;
Indigo 1,860,141; Jute 1,307,844. Von den ErPorten gingen
sür beinahe 11 Millionen nach China, zumeist Opium, und Japan.
Die Schiffsahrtsbewegung der Häsen Britisch-Jndiens stellte
sich auf 10,911 Schiffe und 5,417,521 Tonnen europäischer Her-
kunft, andere fremden Schiffe 1755 mit 920,532 Tonnen; auf
einheimische Fahrzeuge kommen 40,227 Schiffe mit 1,582,864
Tonnen.
Es waren 1864/65 dem Verkehr übergeben 2747 Mikes
Eisenbahnen; sie beförderten 12,826,518 Fahrgäste.
Die 1421 Postämter beförderten 55,986,646Briefe. Die
Regierung unterstützte 17,117 Schulen und Lehranstalten; die-
selben zählten 425,898 Schüler.
Für Arbeiten zum öffentlichen Nutzen wurden 1865 ver-
ausgabt 4,473,263 Ps. St.
Die Länge der Telegraphen linie n, welche die Regierung
verwalten ließ, betrug 11,736 Miles.
Bruttoeinnahme 1840: 20,124,038 Pf.St., 1865 schon
45,652,879 Pf. St.
Ausgaben 1840: 22,228,011, in 1865: 46,450,990 Pf. St.
Schuld 1840: 34,484,997, in 1865: 98,477,555 Pf. St.
Truppenzahl 1840: 35,604 Europäer und 199,839 Ein-
geborene; 1865: 71,880 Europäer und 118,315 Eingeborene.
Ausdehnung der Herrschaft Frankreichs in Sene-
gambien. Im Laufe des Jahres 1866 haben die Franzosen ihre
Besitzungen abermals ausgedehnt, indem sie mit den Häuptlingen
am Rio Nuüez, Rio Pongo und Mellacoreh Verträge abschlössen,
welche ihnen das „Protectorat" über die Region am untern
Lause dieser drei Ströme giebt. Sie pflegen in den neuen Er-
werbungen sogleich einige Burgen zu bauen, und so haben sie
auch jetzt gleich bei Debokeh ein Fort errichtet. Dieser Platz
liegt an der Stelle, wo der Rio Nuriez schiffbar wird; von dort
aus trat 1827 Rens Eaills seine Reise nach Timbuktu an. Als
zu Anfang des laufenden Jahres der Gouverneur Piuet Laprade
(Nachfolger des ausgezeichneten Generals Faidherbe) Debokeh be-
suchte, waren dort gerade mehrere Karawanen aus dem Innern
eingetroffen. Für die Neger ist die Herrschaft der Franzosen schon
dadurch eine Wohlthat, daß mit derselben die blutigen Fehden
und Raubzüge zwischen den verschiedenen Häuptlingen ein Ende
nehmen und der Handelsverkehr ungestört bleibt. Einen wichti-
gen Gegenstand desselben bittet die Erdmandel, Arachis liypo-
gaea, aus welcher bekanntlich Oel gepreßt wird. Im Jahre 1865
320 Aus allen
sind allein vom Rio Nunez davon mehr als 5000 Tonnen, je zu
20 Centner, verschifft worden, zumeist nach Marseille. Im Mella-
cor eh liegt ein kleines Kriegsschiff zum Schutz der Kaufleute.
Dieser Strom mündet 170 Lieues südlich von Goree inmitten
eines weit verzweigten Geäders von Flüssen, die allesammt für
Schiffe von 300 bis 400 Tonnen Tragfähigkeit fahrbar sind.
Von demselben aus sind 1865 nicht weniger als 70 Seeschiffe
mit Erdmandeln nach Europa gegangen.
Philosoph und Menschenfresser. Die Pariser Zeitung
„Steele" hat eine Unterzeichnung eröffnet, um von dem Ertrage
derselben dem alten Voltaire ein Denkmal zu errichten. Sie
zeigt nun am 4. April an, daß zwei afrikanische Könige, Go-
neche von Ncu-Calabar und Georg Peppel von Bonny,
beide im Nigerdelta, je 50 Francs eingesandt haben. Da hat
man nun den handgreiflichen Beweis, welche Fortschritte die Ei-
vilisation unter den Negern in Afrika macht! Jene schwarzen
Herrscher bewundern den französischen Geist, sie sprechen ihre An-
erkennung vor dem größten philosophischen Genie des Jahrhun-
derts der Aufklärung aus und wollen zeigen, wie sehr sie einen
solchen Denker zu schätzen wissen.
Das klingt nun sehr pariserisch und sehr erhaben. Leider
finden wir in den Berichten der jüngsten westasrikanischen Post,
welche am 4. April Neu-Calabar und Bonny verließ, folgende
Notiz: „In Neu-Calabar lag der (Palmöl-) Handel ganz dar-
nieder, weil zwischen den Eckricke- uud den Neu-Calabarstämmen
Feindseligkeiten ausgebrochen waren. Am 19. Februar machten
die elfteren einen Angriff und nahmen sieben der letzteren gesan-
gen. Diese Neuealabaresen wurden dann von den
Eckrickes geschlachtet, geröstet und aufgegessen."
Wir können hinzufügen, daß die Eckrickes nur Wiedervergel-
tung übten. Wir haben früher im „Globus" erzählt, daß im
vorigen Jahre die Neuealabaresen, die Unterthanen des Philoso-
phischen Königs, einige Dutzend gefangene Feinde schlachteten und
unter großen Festlichkeiten verzehrten. Der philosophische König
betheiligte sich lebhast bei diesem Schmause. Daß in seiner Haupt-
stadt Menschenfleisch psundweis auf dem Markte verkauft wird,
kann man in Eonful Hutchinsons Werke „Ten years among
the Ethiopians" lesen. Wir verweisen auf die Mittheilnngen,
welche wir („Globus", Band II, S. 52 und ff.) darüber gegeben
haben. Wir wollen noch Folgendes beifügen: Der Capitain
des englischen Dampfers „Armenian" lag am 29. Januar 1862
in Bonny vor Anker, und die Mannschaft vernahm, daß ein gro-
ßeS Cannibalenfest gefeiert werden solle. Am 1. Februar kam ein
Schwann abscheulich wild aussehender Neger ans Ufer des Bonny-
fluffes. Diese Barbaren trugen fünf Menschenköpfe, zündeten ein
Feuer an und warfeil sie dann in den Kessel. Dann kamen an-
dere mit einem größern Kessel, in welchem Arme und Beine ge-
kocht wurden, während eine alte Negerin Menschenlebern in Stücke
zerschnitt.
Was den König Peppel von Bonny betrifft, so haben
die Engländer von ihm erreicht, daß in seinem Gebiete ohne seine,
des Königs, Genehmigung keine Menschen mehr geschlachtet oder
verzehrt werden sollen. Dieser schwarze Potentat war vor etwa
zehn Jahren ein wahrer Löwe unter den Kirchenfrommen in Lon-
don, wo er längere Zeit verweilte, nachdem seine Unterthanen
ihn verjagt hatten. Er ging gravitätisch, ein goldbeschlagenes
Gebetbuch unter dem Arm, in die Kirche, wohnte den philanthro-
pischen Versammlungen der Armen an Geist in der Ereterhalle
bei und man glaubte ihn gründlich bekehrt zu haben. Der Nig-
ger übertölpelte den John Bull und schnurrte eine erkleckliche
Summe Geldes zusammen. Dann ging er 1861 nach dem Ni-
gerdelta zurück und wurde durch englische Vermittlung wieder
König. Wir verweisen über ihn auf das, was wir Globus I,
S. 178 berichtet haben. Nun giebt der fromme Neger, der sich
in London fo orthodox geberdete, 50 Francs für den „Freigeist"
Voltaire! (— Wir geben in nächster Nummer Schilderungen aus
dem Nigerdelta, welche das hier Mitgetheilte näher erläutern. —)
Erdtheilen.
Chinesen und Jrländer in Californien. John CHi-
naman, so schreibt ein Berichterstatter aus San Francisco, hat in
Calisornien schwere Zeiten. Bis in die jüngste Zeit hinein ge-
währten die Staatsgesetze ihm praktisch genommen keinen Schutz,
und auch heute noch glaubt in einigen Counties der Uankee-Ca-
lisornier, wenn man einen Chinesen tobte, so wolle das etwa so
viel bedeuten, als ob man eine Katze todtschlage. Aber man hat
sich von amerikanischer Seite allmälig daran gewöhnt, sie zu dul-
den, und hier in San Francisco namentlich weiß man ihre Dienste
zu schätzen. Nun aber haben die Jrländer einen Krieg gegen
sie eröffnet und zetteln blutigen Unfug an. Kürzlich machte eine
irische Bande einen Angriff auf die Chinesen, welche im Dienste
der Pacific Mail Steamship Company arbeiten, trieb sie vom
Werste fort, verfolgte sie bis in ihre Wohnungen, warf sie hin-
aus, verbrannte die Häuser und vernichtete sogar alle Le-
bensmittel, welche in denselben befindlich waren. Ein Chinese
wurde erschlagen, alle wurden schwer mißhandelt. Wenn aber
die Söhne der Smaragdinsel diesen Unfug fortsetzen, dann ge-
schieht, was schon jetzt als rathsam angepriesen wird; es kann
nämlich nicht fehlen, daß man ein paar Mandel dieser irischen
Raufbolde summarisch strangulirt. In San Francisco versteht
sich, aus den Tagen der Vigilanzausschüsse her, Richter Lynch
darauf, was für solche Bursche geeignet ist. — Wir wollen be-
merken, daß auch in der australischen Colonie Queensland die
Jrländer gegen die Chinesen feindselig auftreten; dort hat aber
die Regierung sofort energische Maßregeln ergriffen.
Goldkager im Kaukasus. Die in der Allagirfchen Silber-
Bleimine zur Aufsuchung von Goldsandlagern entsendete Erpedi-
tion hat Untersuchungen im Bezirk Kabarda veranstaltet und
im Thale des Flüßchens Kus-Foraki-don, 5 Werst von dessen
Mündung in den Dur-Dur, und 2 Werst von dem Aul des
Herrn Turganow, der seinerseits 60 Werst von Wladikawkas ent-
fernt ist, Anzeichen von Gold gefunden, obgleich der Schürf nicht
einmal bis auf den eigentlichen Waschherd durchgeschlagen wor-
den war.
EinenordainerikanischeTemperanzrede. Senat rYates
in Illinois, der gern einen Schluck starken Getränkes zu sich
nahm, verstand sich jüngst dazu, das Gelübde der Enthaltsamkeit
abzulegen und ein Wassertemperanzler zu werden. Er
hielt über seine Bekehrung eine lange Rede und las auch einen
Brief vor, den „Miß Katie, eine kleine Lady, die hundert Pfuud
wiegt, schwarzes Haar und flammende schwarze Augen hat", an
ihn geschrieben. Käthchen erpectorirt sich wie folgt: „Wie herr-
lich, mein lieber Richard, ist dieser Morgen! Wie glänzend strah-
let die Sonne! Wie lieblich singen unsere Vögel, wie anmuthig
spielen die Kinder, wie glücklich ist mein Herz. Ich sehe das
Lächeln Gottes. Er hat meinem Gebet entsprochen. Ich bin
stolz darauf, daß das große Werk gelungen ist; Sie haben nun
einen Erfolg errungen, welchen Gott und die Engel segnen wer-
den. Das ist der strahlende Gipfel menschlicher Bestrebungen:
Sie haben sich selber bezwungen, und Alle, welche Ihnen mit
Liebe zugethan sind, werden Ihnen behülflich sein, daß Sie das
Gelübde halten. Ich liebe Dich, mein lieber Junge."
Der Erzecher und Senator begleitete Katies Brief mit
folgenden Auslassungen: „Liebe, du Sonne, Seele und Centrum
des moralischen Universums! Liebe, welche Engel mit Engeln
und den Menschen mit Gott verknüpft! Liebe, welche zwei lie-
bende Herzen in Eins verknüpft! O wie schön ist die Liebe!"
(Donnernder Beifall.) „Sie sind hier anwesend, um zu betrack-
ten die schneeweiße Flagge der Enthaltsamkeit, die hier entfaltet
ist über dem Kapitol unseres Landes, und die immer höher und
höher emporsteigt und sich gen Gott entrollt und ausbreitet, bis
sie das ganze Land bedeckt und bis es keine Säufer mehr giebt
und auch Keinen, der mäßig tränke und hinwegnähme die Blume
weiblicher Schönheit, und bis jeder Herdstein dieses Landes glühen
wird von Behaglichkeit, und Freude und Glückseligkeit und Froh-
sinn in grüner Frische hier wohnen werden." Die Versammlung
der Wassertrinker war entzückt von diesen Uankeephrasen.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Beiträge zur Funde von Japan.
in.
Der japanische Ackerbau. — Sorgfältige Waldcultur. — Charakter der Landschaften. — Der Kranich. — Strandbewohner und Fischerei. —
Aquarium. — Blumenpracht. — Der Reisbau und dessen Wichtigkeit. — Düugerbereituug. — Eigentümliche Bodencultur. — Zier- uud
Zwergpflanzen. — Nutzhölzer. — Der japanische Firnißbaum.
Als Capitain Rcinhold Werner, von der preußischen
Expedition nach Ostasien, die Küsten von Nippon verließ,
schrieb er: „Japan macht fast den Eindruck einer bezanber-
ten Schönen. — Bon allen
asiatischen Nationen ist keine
so befähigt, freisinnig regiert
zu werden, wie die japani-
sche. Die allgemeine Bil-
dnng des Volkes, sein fried-
liebender, ruhiger Charak-
ter, den keine Ausbrüche vou
Nohheit beflecken; das ihm
innewohnende noble Natio-
nalgefühl, welches jedoch von
Selbstüberschätzung srei ist
und Niemanden verletzt; das
seine Ehrgefühl und der
Drang nach Wissen, —
alles das sind Elemente, die
eine sichere Garantie gegen
jeden Mißbrauch der Frei-
heit des Individuums geben.
Ich habe die Japaner ach-
ten und lieben gelernt,
und das kann ich sonst kaum
von einer fremden Nation
sagen, wiewohl ich deren im
Lanse meines bewegten Le-
bens genug kennen gelernt
habe" *).
Wir haben schon in nn-
seren früheren Mittheilnn-
gen darauf hingewiesen, daß
die Urtheile aller Fremden
ohne Ausnahme, gleichviel
welcher Nation sie angeht)-
ren, über die Japaner sehr
günstig lauten und daß man
Respect vor denselben 'hat.
Auch in dem neuesten Werke
über Japan finden wir jene
gute Meinung vollkommen
bestätigt **). Der Verfasser
*) R. Werner, die preu-
ßiscke Expedition nach China,
Japan und Siam :e. Leipzig
1863 II, S. 175.
**) V y f j a r 6 n in Japan,
1857 — 1863. Bydragen tot
de kennis van bet japansche
Globus XI. Nr. 11.
Japanischer Bauer in Wiuterbekleidung.
desselben war als Marinearzt in Japan, und man muß ihm
bezeugen, daß er sich redlich bemüht hat, die Landesverhält-
nisse gründlich kennen zu lernen. Bemerkenswerth erscheint,
daß er sein Buch dem vor
Kurzem verstorbenen Tai-
kun widmete: „Sr. kaiser-
lichen Majestät Mina-
moto Jjemotsi, Fürst
von Kinsin, Dai Nip-
pon No Se JDaiSjoo-
guu", nndzwar thnt er es
aus Dankbarkeit für die be-
sonderen Beweise von Auf-
merksamkeit und Auszeich-
nuug, welche ihm in Japan
znTheil geworden sind. Be-
kanntlich verstehen viele Ja-
paner der höheren Stünde
das Holländische, und Herr
Pompe van Meerdervoort
giebt sich der Hoffnung hin,
daß man im Jnselreiche des
Sonnenansgangs seinen gn-
ten Rath nicht in den Wind
schlagen werde. Er habe die
Ehre gehabt, mit manchen
Daimios und kaiserlichenBe-
muten über staatliche und ge-
sellschastliche Einrichtungen
des Landes eingehende Er-
örterungen zu pslegen und
dabei kein Blatt vor den
Mnnd genommen. Er sei
ein warmer und aufrichtiger
Freund derJapauer uud hege
die Ueberzeugung, daß die
Regierung auf der Bahn
der Reformen kräftig fort-
schreiten müsse, wenn sie
sich von den abendländischen
Völkern unabhängig erhal-
ten wolle. Er ist ein gn-
ter Beobachter nnd hat als
Arzt Gelegenheit gehabt, mit
allen Intimitäten des japa-
Iveizerryk eil zyne bevolking.
Door J. L. C. Pompe van
M eerdervo ort. Leiden 1867.
Bis jetzt ist nur der erste Band
erschienen.
41
Beiträge zur Kunde von Japan.
nischen Lebens vertraut zu werden. Auch kamen viele junge
Medieiner zu ihm, denen er Vorträge über die Arzneiwissen-
schaft hielt, während er hingegen von ihnen, welche aus sehr
verschiedenen Provinzen gebürtig waren, über die Verhältnisse
im Innern des Landes manche werthvollen Mittheilungen
erhielt. Wir werden gelegentlich dieselben benutzen.
Heute geben wir eine Schilderung des japanischen
Ackerbaues, dessen Erzeuguisse, wie die Blätter melden, auch
auf der Pariser Ausstellung allgemeine Aufmerksamkeit er-
regen. Die japanischen Inseln sind gebirgig und bieten eine
unzählige Menge herrlicher Landschaftsbilder dar. Das Klima
ist der EntWickelung einer mannigfaltigen und ungemein üppigen
Vegetation durchaus günstig. Während die Küste des ostasia-
tischen Festlandes ein excessives Klima hat, werden Japans
Gestade im Sommer von frischen Seewinden gekühlt, im
Winter aber von den warmen Aequatorialströmungen des
Stillen Oeeans gleichsam geheizt. In Aeddo, das unter
35<>38' u. Br., ungefähr wie Malta, liegt, ist der Winter-
kurz und mild; es friert und schneiet im November, Decem-
ber und Januar wohl zuweilen, aber nie anhaltend; im Juli
und August soll die Hitze nur selten auf 27° R. im Schat-
ten steigen. Die südlichen und östlichen, dem Stillen Ocean
zugewendeten Landschaften, welche gegen Norden und Westen
durch hohe Bergketten geschützt sind, erfreuen sich des milde-
sten Klimas. Die atmosphärischen Niederschläge sind stark
und regelmäßig *).
Japan hat großen Reichthum an Steinkohlen und führt
seit einigen Jahren dergleichen nach China aus. Aber die
Landschaft auf der Insel Kinsiu.
ganze Lebensweise der Japaner bringt es mit sich, daß man
sich lieber des Brennholzes bedient; die Zimmer werden im
Winter durch Kohlenbecken geheizt. Die Waldcultur steht
in hoher Blüthe. Ueberall wo die Bodenverhältnisse dem
Ackerbau nicht günstig sind, hat man Bäume oder Sträucher
gepflanzt, „und diese Baumcultnr ist geradezu bewunderns-
würdig. Kein Fleckchen, auf welchem ein Baum Platz fiu-
den kann, bleibt unbebaut, und deshalb ist dieHolzprodnction
ganz erstaunlich. Man bedenke nur, daß alle Häuser vor-
zugsweise aus Holz bestehen; daß ununterbrochen Schisse in
großer Menge gezimmert werden, daß die Tausende von
Brücken und Tempel anch von Holz sind und daß viele
Schiffsladungen Holz nach China ausgeführt werden! Da
wo der Japaner einen Baum umhauet, pflanzt er
sofort einen andern au defsen Stelle. Die mit Bau-
men bepflanzte Fläche ist ohne allen Zweifel mindestens fünf-
mal größer als die, welche man mit Reis bestellt, und
sie wird schwerlich weniger als 1230 deutsche Quadratmeilen
betragen. Namentlich steht der Waldbau im Gebirge wahr-
hast glänzend da, und die Europäer können in dieser
Beziehung bei den Japanern ruhig in die Schule
gehen" **).
*) Die preußische Erpedition nach Ostasien, Band II,
S. 62 ff. Es macht uns Freude, hier unser früher ausgesprochenes
Urtheil zu wiederholen. Herr A Berg, Maler der Erpedition, hat
eine ganz vortreffliche Arbeit geliefert, die seinem Fleiß und seinem
verständigen Urtheil alle Ehre' macht. Auch ist die Darstellung ein-
fach und geschmackvoll. A.
) Pompe van Meerdervoort, p. 242: „Vooral de berg-
Tboschcultuur staat op een schillernd standpunt, en de Europeanen
kunnen dienaangaande gerust by de Japanners ter school gaan."
Beiträge zur K
Die Landschaften gewinnen an Mannigfaltigkeit und Ein-
druck, weil Meer, Berge und Ströme in sehr malerischer
Weise wirken. Auch hat der Japaner Sinn für ihre Schön-
heiten, und gewiß verdirbt er durch seine Bauwerke keine Ge-
gend. Unsere Abbildungen stellen einige Landschaften aus den
Berggegenden der Inseln Kinsin und Sikokf dar. Als Ge-
gensatz fügen wir die Darstellung einer Straße in Simons-
seki bei, und als Ergänzung geben wir eine fliegende
Brücke, dergleichen man über Abgründe spannt, die kein
Ueberbanen erlauben. Die japanischen Gebirgsbewohner be-
dienen sich dieses hoch über dem Abgrunde schwebenden
Brückenseiles mit kühner Gewandtheit und großer Sicherheit.
Gleich außerhalb der Ortschaften beginnt der Feldbau.
Unser holländischer Gewährsmann bestätigt, was anch An-
che von Japan. 323
dere gesagt haben, daß nämlich unsere rationellen Landwirthe
in Japan viele Fragen längst praktisch erledigt finden köm
nen, über welche man in Europa noch immer hin und her
theoretisirt. Auch ist der Fruchtwechsel dort uralt.
Aims Humbert schildert („Le Tour du Monde" Nr.
341) einen Ansflng, den er von Aokuhama aus zur Früh-
jahrszeit unternahm. Als er durch die Felder vom Strande
landeinwärts ritt, fiel ihm zunächst auf, daß der kosmopoli-
tische Sperling auch in Japan in Menge vorhanden ist;
dann sah er eine Menge von weißen Reihern, und bald auch
deu Krauich. Wenn dieser schöne Vogel allein hoch in den
Lüsten schwebt und sich von oben in majestätischem Flug auf
die Erde herabläßt, dann erscheint er gleichsam wie ein Bote
vom Himmel. Das Volk bringt ihn in Verbindung mit den
Dorf und Brücke <
Heiligen oder Halbgöttern, an welchen die Mythologie so
reich ist; es versetzt irgend ein Götterwesen auf den Rücken
des Tsuri, denn so heißt der Kranich, welcher noch den Bei-
namenHerr, sama, erhält. Man spricht von dem Tsuri-
sama, als ob es sich um ein übernatürliches Wesen handle.
Der Kranich ist, neben der Schildkröte, ein Symbol der
Langlebigkeit und des Glücks. Das Glück aber besteht, ihnen
zufolge, in Seelenfrieden und Heiterkeit des Geistes.
Am Strande herrscht ein buntes Treiben. Auf dem
Wasser schwimmen, von Handelsfahrzeugen abgesehen, Hun-
derte von Fischerbooten und große Schwärme von Seevögeln,
und zur Ebbezeit sind Frauen und Kinder emsig darüber
aus, Früchte des Meeres einzusammeln, nämlich eßbare Al-
gen, Austern, Muscheln und Krabben. Der Fischfang ist
: der Insel Kiusiu.
für das Land von der allergrößten Wichtigkeit, weil das Volk
nur selten Fleisch genießt, und die Kopfzahl beträgt über
30 Millionen Seelen. Daraus kann man abnehmen, wie-
viel dem Meere abgewonnen werden muß, damit eine solche
Menschenmenge gesättigt werde. Und trotzdem scheinen die
Gewässer unerschöpflich zu sein. Ueberall an den Küsten
liegen zahlreiche Fischerdörfer, die große Quantitäten frischer,
gedörrter und gesalzener Fische versenden. An getrockneten
Fischen liefert namentlich Jeso eine ungeheure Menge, und
der dortige Lachs ist berühmt. Auch die Flüsse geben rei-
chen Ertrag. Es mag hier erwähnt werden, daß man fast
in allen Häusern wohlhabender Leute ein Aquarium findet,
in welchem Fische gehalten werden; roth- oder silberschuppige,
Goldfische, transparente, kugelrunde, langschwänzige. Unser
41 *
Beiträge zur K
Bild zeigt ein solches Fischaquarium nach einer japanischen
Zeichnung.
Alle Strandbewohner benahmen sich gegen den Schwei-
zer Humbert sehr freundlich und zuvorkommend, die Kinder
brachten ihm schöne Muscheln und die Frauen zeigten ihm
gern alle die verschiedenen Seeungeheuer, welche sie in ihren
Körben angesammelt hatten. Diese Gntmüthigkeit und Herz-
lichkeit, sagt er, ist ein Zug, den man überhaupt beim Niedern
Volke in Japan findet. „Wenn ich in den Umgebungen
von Nagasaki oder Uokuhama umherstreifte, bin ich oftmals
von den Landleuten aufgefordert worden, in ihre Häuser zu
kommen. Sie zeigten mir die Blumen in ihren Gärten und
schnitten die schönsten ab, um mir einen Strauß zu schenken.
Allemal verweigerten sie mit Entschiedenheit, dafür Geld zu
nehmen, und ließen mich erst wieder fort, nachdem ich mit
ihnen Thee getrunken und Reiskuchen gegessen hatte."
Die Bai von Aeddo ist im Frühjahre ganz Prächtig. Wer
dort eine der vielen Anhöhen besteigt, hat nach dem Innern
hin eine ununterbrochene Reihenfolge von bewaldeten Hügeln
tde von Japan. 325
und bebaueten Thälern vor dem Auge; er sieht die sich hin-
durchschlängelnden Flüsse und aus der Ferne gleichen die
Buchten manchmal den Binnenseen. Die Dörfer sind halb
unter hohen Bäumen versteckt, da und dort liegen Landgüter
mit schattigen Parkanlagen.
Die Frühjahrslandschaft hat, im Hinblick auf die
ausgedehnten Reisfelder und die vielen immergrünen Bäume,
den Charakter einer gewissen Strenge, und dieser ist ihr
eigentümlich. Und doch wird man in keinem andern Lande
der Welt eine üppigere Blüthenpracht finden, eine anmuthen-
dere Frühlingsvegetation, die obendrein reich ist an vie-
len lieblichen Einzelnheiten. Von dem dunkeln Grün der
Fichten, Tannen, Cedern, Eypressen, Lorbeerbäume und im-
mergrünen Eichen nnd von dem lichtern Grün des Bambus
heben sich an den Zäunen, in den Gärten und in der Umgebung
der Dörfer unzählige farbenprächtige Blumen ab; — die weißen
Blüthen des wilden Maulbeerbaumes, Camellienbäume, die im
freien Felde die Höhe unserer Apfelbäume erreichen, fodann
unsere europäischen Obstbäume, die zumeist doppelte Blüthen
Schlvß cincs Daimio auf dcr Insel Sikvkf.
tragen und obendrein nicht selten derart, daß man an einem
und demselben Zweige rothe und weiße findet. Der Japaner
legt wenig Werth auf die Früchte derselben und pflegt die
Bäume vorzugsweise nur zu dem Zwecke, daß sie eine mög-
lichst üppige Blüthenpracht entfalten. Als Stützen für junge
Bäume benutzt man den Bambus, der sich sehr ansprechend
ausnimmt, wenn er in einzelnen Gruppen auftritt und eiue
Höhe von mehr als 30 Fuß erreicht. Die japanischen Zeich-
ner und Maler stellen mit Vorliebe die Bambusgebüsche dar;
sie geben die anmuthigen Linien nnd die harmonische Ge-
sammtwirkung wieder, und beleben das Bild, indem sie natur-
getreu die Bewohner solcher Gruppen hinzufügen, schlanke
Libellen, schöngefärbte Schmetterlinge, Eichhörnchen oder auch
den braunen Affen mit dem rothen Gesichte. An den We-
gen wachsen Veilchen, aber diese sind ohne Duft. Lerchen
und Nachtigallen sind selten. Der Mangel an wohlriechen-
den Blumen und der Umstand , daß die Sänger der Lüfte
fo spärlich auftreten, sind gewiß eine Hauptursache davon,
daß dieses reiche Pflanzen- und Thierleben minder stark auf
unsere Einbildungskraft wirkt. Wir empfinden dort nicht
die sauften und verschwimmenden Regungen im Gemüth,
wir werden nicht so träumerisch gestimmt, wie dann, wenn
wir beim Wiedererwachen der Natur uns an einer schö-
nen europäischen Landschaft erfreuen. Auch ist in Japan die
Landschaft allzu sehr cultivirt, namentlich in der Bucht von
Ueddo.
Wir sind im Monat April. An den Waldsäumen sind
weite Strecken mit Buchweizen bepflanzt, nnd dieser steht
schon in voller Bliithe. Etwas weiter abwärts liegen Aecker,
die mit Gerste oder Weizen besäet sind; diese Getreidearten
werden gegen Ende des Mai eingeerntet. Sie sind in Reihen
gesäet worden, etwa in der Art, wie man in Europa die Kar-
tosseln pflanzt, nnd zwischen den Reihen kommt schon eine
andere Frücht empor; es sind Bohnen, die höher wachsen,
sobald das Getreide geschnitten worden ist. Weiterhin sieht
man Flächen, schön grün wie.ein recht gutgehaltener Rasen;
dort steht Hirse, die im März gesäet wird nnd im Septem-
ber reift. Der Japaner genießt sie in größeren Quantitäten
326
Beiträge zur Kunde von Japan.
als den Weizen; er bereitet aus ihrem Mehle Kuchen oder
auch Brei. In der Nähe, ans einer kleinen Hochebene, treibt
ein Landmann sein Pferd, das er vor einen leichten Pflug
gespannt hat; er wird in das fruchtbare, gelockerte Erdreich
den Samen der Baumwolle pflanzen; im September oder
October ist der Strauch fchon drei Fuß hoch und die Kap-
feln werden reif fein. Hinter dem Landmann schreiten in
den vom Pfluge gezogenen Furchen allerlei Stelzenläufer,
Störche, auch wohl Kraniche her, für welche die Jnfectenlar-
ven ein leckeres Mahl sind.
Reis ist der Hauptgegenstand des Ackerbaues; er bildet
für mehr als 30 Millionen Menschen vorzugsweise das Nah-
ruugsmittel. Die japanische Regierung hat gewiß sehr wohl
daran gethan, daß sie in den Verträgen mit auswärtigen
Mächten ausdrücklich ausbe-
düngen hat, dieses uueutbehr-
liche Getreide dürfe nicht
ausgeführt werden. So-
bald der Export gestattet
würde, der namentlich nach
China, das stets Bedarf hat,
sehr stark wäre, könnte es
nicht fehlen, daß der Preis
auf eine für das Volk in
Japan drückende Höhe ginge
und Mißvergnügen entstün-
de. Wir finden in Pompe
van Meerdervoort (S.238)
eine Angabe, der gemäß ein
Neunundzwanzigstel der ge-
sammtenOberfläche mitReis
bebaut wird (1,390,000 ja-
panische Tsjo oder etwa 258
deutsche Quadratmeilen).
Unsere Illustrationen ver-
anschaulichen, nach japani-
schen Zeichnungen, das Ver-
fahren beim Reisbau. Die
Japaner haben Flächen- und
Hügelreis. Der letztere be-
darf keiner Bewässerung; er
wird unter den Sommer-
fruchten auf hochgelegenen
oder abschüssigen Feldern,
aber nur iu geringer Menge
gebaut. Der erstere wächst
in ebeueu Thalgründen oder
auf sorgfältig nivellirteu
Beckeu, welche sich stufen-
förmig an den unterenBerg-
hängen hinaufziehen, manch-
mal bis zu 600 Fuß über
der Meeresfläche. Die regelmäßige Bewässerung wird ans
Behältern bewirkt, welche an der höchsten Stelle der Thal-
ebene, oder anch auf dem Bergeshang, oft 600 bis 700 Fuß
hoch an platten, quellenreichen Plätzen liegen. Die Schleuse
des Behälters, deren Pegel genau den Verbrauch anzeigt,
steht gewöhnlich unter Aufsicht der Obrigkeit; sie wird uach
Bedarf geöffnet, um das Wasser auf das oberste Feld und
von da stufenweise durch eiue Reihe vou Schleusen auf die
tiefer gelegenen zu leiten. Man hat es, je nach dem Vor-
rath, in der Gewalt, mehrere Aecker zugleich oder einen nach
dem andern zn speisen. Wo die Bodenverhältnisse eine solche
Anlage nicht zulassen, wird die Bewässerung durch Schöpf-
räder bewirkt.
Im Winter liegen die Reisfelder zum großen Theile
Einc Straße in Simonoseki.
brach und nur an wenigen Orten wird eine zweimalige Ernte
gewonnen. Hier häuft man im Spätherbst die Erde in den
Feldern streifenweise zu 3 Fuß breiten Beeten auf, die in
querlaufenden Zeilen mit Frühgerste bestellt werden. Sie
erheben sich bald als üppige Rasenbänke aus der Reissaat
des überschwemmten Feldes und werden im Anfange des
Juni abgeerntet. Dann stürzt man den ganzen Acker um,
ebnet ihn, und das durch die Stoppeln gedüngte Land wird
von Neuem mit Reis bestellt; dieser bringt dann im Mai
die zweite Ernte.
Bei einmaliger Ernte beginnt die Bestellung im April;
die Felder werden meistens umgegraben, selten umgepflügt.
Der Boden ist durch die atmosphärischen Niederschläge und
künstliche Bewässerung tief durchweicht, oft gauz überschwemm!,
und die Arbeit sehr beschwer-
lich; beim Pflügen stecken
Thiere (meist Büffel) und
Menschen tief im Schlamm
und Wasser. Frauen und
Kinder schneiden unterdes;
auf Rainen und Abhängen
Gras und Kräuter, die in
grünem Zustande auf die
Aecker gebracht und mit dem
Schlammboden vermengt
werden; sie verfaulen in kur-
zer Zeit. Die Oberfläche
wird geebnet und fchon nach
vierzehn Tagen ist jede Spur
des grünen Düngers ver-
schwnnden.
Inzwischen hat man in
den Ecken der Felder kleine
Saatbeete angelegt, die sorg-
fältig umgegraben, gedüngt
und mit einem niedrigen
Damm umgeben werden-,
man kann sie, je nach Er-
forderniß, besonders über-
rieseln. Die Körner wer-
den in flüssigen Dünger ge-
taucht und sehr dicht gesäet.
Schon nach drei oder vier
Tagen sprießen die jungen
Pflanzen aus dem Boden
und wachsen bei der war-
men, feuchten Luft mit un-
glaublicher Schnelligkeit. Zu
Begiuu des Juni beginnt
bei Yeddo die Umpflanzung.
Der Arbeiter nimmt ein
Bündel Pflanzen unter den
linken Arm und zerstreut sie, den Bedarf genau abmessend,
auf das drei Zoll hoch mit Wasser bedeckte Feld; dort werden
sie vou Anderen reihenweise in den schlammigen Boden ge-
steckt. In den ersten Tagen des Juli ist man mit der Um-
Pflanzung fertig mtb die Aecker bedürfen nun keiner weitern
Pflege, außer daß man sie regelmäßig bewässert, den Bo-
den zuweilen auflockert und das Unkraut zwischen den Reihen
gätet. Gesäet wird Reis nur auf wenigen, ungünstig ge-
legenen Feldern, und er bringt dort, ün Vergleiche zu dem
gepflanzten, nur geringen Ertrag.
Im November wird geerntet. Gewöhnlich streift man
die Körner ab; anf einer einige Fuß hohen Holzwand ist
eine harkenartige Reihe dichtstehender Zinken befestigt. Der
Arbeiter nimmt ein Bündel Pflanzen und zieht sie durch die-
Beiträge zur K
sen Rechen; jenseits fallen die Körner nieder, diesseits das
Stroh. Dann müssen die Körner von den Hülsen befreit
werden, und das geschieht in großen, nach unten verjüngten
Holzmörsern, in welche umgekehrt kegelförmige, abgestumpfte
Holzhämmer, die von Menfchen oder Wasserkraft bewegt wer-
den, taktmäßig niederfallen. Zuletzt fchüttet man die Masse
in ein trichterförmiges Gesäß, vor welchem der Arbeiter einen
großen Fächer schwingt; der Luftzug verwehet die Spreu und
tbe von Japan. 327
die Körner fallen zu Boden. Dies ist die gewöhnliche Art
des Verfahrens; doch wird, wie eine unserer Abbildungen
zeigt, manchmal der Reis auf freiem Felde mit leichten Fle-
geln ausgedrofchen.
Die Ernte hat einen argen Feind an dem bekannten Reis-
Vogel. Dichte Schwärme desselben fallen aus die mit Nehren
schwer belasteten Stengel, schlagen die Körner heraus und
schreien entsetzlich. Für den Unbeteiligten gewährt das einen
Fliegende Brücke.
ganz hübschen Anblick, der Landmann sieht aber die Dinge
mit anderen Augen an. Er giebt sich die größte Mühe, die-
sen kleinen Räuber zu verscheuchen; er stellt Scheuchen auf,
er bringt Drehkreuze mit Windmühlenflügeln an und sonst
uoch mancherlei. Aber das Alles hilft nicht ausreichend.
Die Japaner wenden deshalb noch ein anderes wirksameres
Mittel an, das auf ein Haar jenem ähnlich ist, welches wir
neulich beschrieben, als wir die Landschaften am Blauen Nil
schilderten (S. 231). Er überspannt das Feld mit einem
Retze von dünnen Seilen, die gewöhnlich aus Stroh gedreht
sind, und diese helfen, vorausgesetzt, daß sie in steter Bewe-
gung gehalten werden. Dafür muß ein Knabe sorgen, der
auf einem überdachten Bambusgerüste sitzt und an dem Seile
zieht, vermittelst dessen das ganze Netz sich dann hin und
her bewegt.
Die Ackergeräthe sind äußerst einfach. Der Japaner ist
ungemein fleißig und der Arbeitslohn gering. Man bleibt
bei der alten Methode. Herr Berg bemerkt: „Der Ja-
328 Beiträge zur K
paner ist sehr begierig, in allen anderen Zweigen der ange-
wandten Naturwissenschaft von den Europäern zu lernen, aber
deren Landwirtschaft hält er kaum der Beachtung Werth.
Sie beruht freilich auf ganz anderen Grundlagen.
UnsereOekonomen würden in einem Lande, wo es keine
Weiden und in Folge dessen keinen Viehstand giebt, in
große Verlegenheit gerathen, und auch unsere landwirthschast-
lichen Maschinen hatten bei der starken Bevölkerung nnd bil-
ibe von Japan.
ligen Arbeit bisher für die Japaner keine Wichtigkeit. Jetzt,
da nach Erschließung des Reiches die Preise der Lebensmittel
und in Folge dessen anch jene der Arbeitskraft bedeutend ge-
stiegen sind, wird es fraglich, ob sie bei ihrem alten Systeme
bleiben können oder sich zur massenhaften Erzeugung derjeni-
gen Artikel werden verstehen müssen, die ihnen am besten
bezahlt werden, um dagegen von den Fremden diejenigen zu
kausen, welche sie so wohlseil im Lande nicht herstellen kön-
Reisbau i
nen. Die gesteigerten Preise der Lebensmittel fordern gebie-
terisch eine erhöhete Productionskraft des Landes, und es ist
fraglich, ob sie nicht zn den bei uns angewandten Mitteln
werden greifen müssen. Bis jetzt war die Bodencultur
der Japaner immer das Staunen und die Bewnn-
deruug aller europäischen Reisenden, und Sach-
verständige haben behauptet, daß wir viel von
ihnen lernen könnten. Der japanische Landmann
Japan.
nimmt jährlich aus dem Acker nur das, was er ihm
giebt. Dieses System scheint seit Jahrhunderten ohne Streit
und Neuerung ini ganzen Lande befolgt zu werden und er-
hielt feixte Ausbildung wohl schon in der frühen Blüthezeit
der japanischen Cnltur. — In welchem Verhältnisse sie aber
die constanten Erfolge ihrem System oder der Gunst des
Klimas und der Fülle der Arbeitskraft verdanken, würde sich
mit Sicherheit erst feststellen lassen, wenn man auch unsere
Reisbau in Japan.
Art der Bestellung dort praktisch versucht hätte. Allem An-
scheine uach leistet der japanische Landwirth mit kleinen
Mitteln Bedeutendes; Inventar ist kaum vorhanden; sein
ganzes Geräth, so viel wir bei Peddo sahen, besteht in
einer Haue, einer Zinkenhacke, einem kleinen Spaten und
einer Harke, die alle mit wunderbarer Geschicklichkeit ge-
handhabt werden. Wahrscheinlich verdankt man die großen
Erfolge hauptsächlich der Spatenwirthschaft und der starken
Parcelliruug der Grundstücke/' (Expedition nach Ostasien
II. 72.)
Für die Düngerbereitung kommt der geringe Viehstand
kaum in Betracht. Aber ein tiefes Verständniß für die
Wichtigkeit des Düngers durchdringt die höchsten wie die
niedrigsten Classen, nnd selbst in den entlegensten Winkeln
sieht man nie eine Verunreinigung, außer an den dazu be-
l stimmten Stellen. Der Dünger wird niemals in frischem
Beiträge zur K
Zustande verwandt, sondern erfährt eine sorgfältige, me-
thodische Bearbeitung. Man kennt seit uralter Zeit die Be-
reitung des Compostdüngers ans Stroh, Häcksel, Spreu,
Excrementen der Thiere, Abfällen von Gemüsen, Fischen
und Seethieren. Diese Stoffe werden mit Rasenerde ver-
mischt und darüber bauet man ein Strohdach. Dann
und wann befeuchtet mau sie und sticht sie um. Der
Compost dient, gleich der Asche, zur Düngung vor der Be-
lde von Japan. 329
stellung, der aus menschlichen Excrementen bestehende zur
Kopsdüngung *).
Die Japaner haben viele nützliche Gewächse des Aus-
landes eingeführt, manche derselben sind völlig einheimisch ge-
worden und theilweise sogar verwildert. Von etwa 500
bei ihnen cultivirten Gewächsen stammt etwa die Hälfte aus
der Fremde; zu diesen rechnet Herr von Siebold namentlich
Rübsamen, der ganz vorzüglich gedeiht, Färber-Polygonium,
Reiserntc in Japan.
Mohn, Saflor, Taback, Hanf, Sesam, Baumwolle, Apfel-
stiren, Granatäpfel, Pfirsichen, Aprikosen, Quitten und Bir-
nen. Sie haben außerdem Mandeln, Kirschen, Mispeln,
Cactnsfeigen, Kastanien, Wallnüsse, Weintrauben, Melonen
und Kürbisse. Auf die eigentliche Obstbaumzucht legt der
Japauer keinen Werth, nnd was ein feinschmeckender, aroma-
tischer Apfel ist, weiß er gar nicht; er genießt die Obstfrüchte,
wenn sie noch unreif sind; nur die Apfelsinen machen eine
Ausnahme. Die Bemühungen der Europäer, die Obstbaum-
zncht zu verbessern, sind bis jetzt ohne Erfolg gewesen.
Dagegen finden dieZierpslanzen eine sorgfältige Pflege,
und jeder Japaner ist ein Gartenliebhaber. „Tnintjes",
wie Pompe van Meerdervoort diese japanischen Gärten in
seiner niederländischen Sprache bezeichnet, findet man wo
möglich bei jedem Hause; sie werden mit der größten Sorg-
falt angelegt und unterhalten. Dabei läuft viel Spielerei
Ausdreschcn des Reises in Japan.
mit unter, welche nnserm Geschmacke nicht zusagen würde.
Sie schaffen Miniaturberge und ziehen Miniaturbäume, win-
zige Springquellen und Becken, Steingruppen, Felsenpartien
und Grotten. (— „Miniaturbergjes, vyvertjes, fon-
teintjes en beekjes, dwergboomtjes en plantjes, mode-
bloemen etc., maken deze tuintjes dikwerf tot wäre
wondertjes. Achter in heeft man meestal een tem-
peltje" etc. Man sieht, daß der Holländer bei Schilderung I
Globus XI. Nr. 11.
der japanischen Miuiaturschnörkeleien auch seinerseits die Di-
minutivsorm nicht verschmäht. —) Blumenausstellungen
*) Pompe van Meerdervoort hat (S. 236 ff.) den aller-
dings wichtigen Gegenstand mit niederländischer Genauigkeit und recht
con gusto beschrieben. Die Schilderung, die wir hochdeutsch nicht
wiedergeben wollen, macht in holländischer Sprache manchmal einen
erheiternden Eindruck. „De wyze van bemesting is curieus en
| zeer doelmatig (zweckmäßig). Reeds meer dan anderhalve eeuw
.42
330 Beiträge zur K
sind eiue sehr alte Einrichtung; sie finden gewöhnlich in einem
Tempel statt.
Die Vermuthung, welche Berg ausspricht, daß nämlich
gerade die Beschränkung des Raumes auf die Erzeugung von
Zwergpflanzen geführt habe, die sich bekauutlich zur raf-
finirteu Spielerei ausgebildet hat, ist vielleicht nicht ohne
Grund. Der Japaner leistet darin Dinge, die man sür uu-
möglich halten würde, wenn nicht der Augenschein die Wirk-
lichkeit lehrte. Meylan, dem wir eine werthvolle Geschichte
des Handels der Europäer mit Japan verdanken, fah 1826
eine Schachtel von einem Qnadratzoll Grundfläche und
drei Zoll Höhe; in derselben wuchsen und gediehen ein
Baumbusrohr, eine Tanne und ein Pflaumenbaum, letzterer
in voller Blüthe. Diese Curiosität sollte für 1200 holläu-
dische Gulden verkauft werden. Wie es scheint, erreicht man
die starke Verkrüppelnng vorzüglich wohl durch gehemmten
Umlauf der Säfte und Beschränkung, vielleicht auch Erkäl-
tnng der Wurzeln in flachen, porösen Töpfen, die von außen
stets feucht gehalten werden. Man wählt die kleinsten Sa-
men der kleinsten Exemplare, biegt und bindet den Stamm
im Zickzack, beseitigt jeden kräftigen Schuß uud fördert die
Entwickelung von Seitenästen, welche dann auch wieder kllust-
lich gedreht uud niedergehalten werden. Nach einiger Zeit
soll der Baum sich dem Zwang anbequemen, freiwillig in
den vorgeschriebenen Grenzen bleiben und seine Lebenskraft
auf die Erzeugung reichlicher Samen und Früchte wenden.
Als Zwergbäume zieht man vorzugsweise Thuja, Juniperus
uud andere Nadelhölzer; sodann Bambus, auch Kirsch- uud
Pflaumenbäume, und bei diesen ist es hauptsächlich auf die
Erzeugung vieler Blüthen abgesehen. Manche Zwergpflanzen
haben gestreifte oder gefleckte Blätter, und die Erzeugung
solcher Varietäten, auch bei natürlichem Wuchs, ist eine zweite
Liebhaberei der japanischen Gärtner. Die große Anzahl und
das feste Fortbestehen solcher Varietäten läßt auf ein hohes
Alter diefer Cultur schließen. Wir wollen die Notiz bei-
fügen, daß die Handelsgärten von 9)eddo ^nen größern Flä-
chenraum einnehmen, als die in irgend einer europäischen
(Jahrhunderten) gebruiken zy hiertoe byna uitsliiitend de men-
schelyke drekstoffen. Ii* elke woning bouwt men de latrines zoo-
danig, dat zy gemakkelyk vanbuiten'shuis te ledigen zyn. De
vergaarbakken (Sammelgefäße) zyn groote steenen potten (Ma-
tavanen), en deze woorden eens of meermalen 's maands des
nachts geledigt en hun in lioud gebracht na de naastbyzynde
akkers, aldaar verzameld in zeer groote matavanen en vermengt
met urine, plantaardige ontbindungsproducten, asch van verbrande
onreinheiden, en water, totdat de geheele massa eene leivige
vloeistof geworden is. Met deze vloeistof nu besproeit of liever
begiet men de akkers, in den beginne, kort na den zaaityd, da»
gelyks, later tweemal 'sweeks, eindelyk om de 8 of 10 dagen,
en zoodra het gewas zyn vollen wasdom bereikt heeft en alleen
noch behoeft to rypen, dan bemest men niet meer." Er schildert
dann, daß >er den Japanern den Rath gegeben habe, „den mestvloei-
stol in tonnen te doen, aan den achterbodem voorzien van gaten,
welke man willekeurig openen en sluiten kon, en dan, door
middel van deze tonnen, op gemakkelyke wyze met een paard, in
körten tyd het geheele veld rond te reyden en te besproeyen.
Ik heb zelf eene proef darmeede laten nemen, welke uitmuntend
voldeed, en de boeren vonden het zeer aardig, doch bleven hunne
oude wyze volgen." Dann stellt er folgende Reflexionen an: „Voor
de vorbygangers zyn deze mestbesproeyngen lioogst onaangenaam,
en daar de landeryen direct buiten de stad anfangen , sommigen
zelfs in de Steden liggen, zoo moet de ochtendwandelaar (Spa-
ziergänger) dikwerf ondervinden, dat men zyne reukorganen eene
minder aangename surprise bezorgt. Ook wäre et lioog noo-
dig, dat die mestpiitten op de landeryen, welke man mit oekono-
mie van terrein, meestal voor en gedeelte in de wandelpaden
heeft ingegraven, beter bedekt waren met stevige, goedsluitende
deksels. Gewoonlyk worden zy slechts met eene dünne laag
bladeren en boomschors bedekt, zoodat, indien men des avonds
daar moet passeren, men zeer groot gevaar loopt en minder wel-
rickend bad te gebruiken. Dergelyke ongelukken gebeuren nog
al eens."
tbe von Japan.
Hauptstadt, uud der bekannte Botaniker R. Fortune betont,
daß er in keinem andern Lande der Welt eine so ungeheure
Anzahl cultivirter Zierpflauzeu gesehen habe. Neben den
einheimischen findet man anch viele fremde, jetzt z. B. auch
Cactus, Aloe, Fuchsien und andere Südamerikaner.
Jedenfalls sind die Japaner beslissen gewesen, sich aus-
ländische Pflanzen zu verfchaffen, und unser niederländischer
Gewährsmann sagt, daß man in Europa wohl daran thnn
würde, ihrem Beispiele zu folgen. Ein Franzose äußerte:
„Weshalb lernen wir nicht von ihnen, da es doch so viel zn
lernen giebt? Auch wir könnten in Europa Papier verfer-
tigen voni Papierbaum, Wachs vom Wachsbaume und Fir-
uiß aus dem Firnißbaume. Bei uns liegen noch Millionen
Morgen Land unbenutzt, namentlich in Gebirgsgegenden,
uud gerade dort würden viele japanische Bäume vortrefflich
gedeihen und großen Nutzen bringen."
Unter den Nutzhölzern leisten vornehmlich gute Dienste:
Kiaki (Planera acuminata), sehr stark, gutes Bauholz und
auch für Möbeln geeignet; Hinoki (Retinispora obtusa),
sehr geeignet zum Schiffsbau nnd zu Schnitzereien; Kafi-
noki (Quercus, verschiedene Varietäten); diese japanische
Eiche wird sehr hoch, sehr stark, und besseres Eichenholz als
dieses japanische giebt es in der Welt nicht. Matsnnoki
(Pinns) in sehr vielen Varietäten; der am meisten verbreitete
Baum. Suginoki (Cryptomeria japonica), japanischer
Cederbaum, wird iu großer Menge cnltivirt und bildet einen
Schmuck der Landschaft. Nicht ganz so oft kommt vorKa-
janoki (Lsplialotaxna. ärupaosa), liefert ein hartes und
starkes Holz für den Schiffsbau; Jkouoki (Salisburia
adantifolia), das Holz nimmt gute Politur au und wird be-
sonders für Lackwaaren benutzt. Auch einige dunkelbraune
und fchwarze ebenholzartige Bäume find vorhanden. In der
„Villa Siebold" bei Lehden sind alle diese japanischen
Bäume angepflanzt worden und gedeihen vortrefflich.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Einbürgerung niau-
cher japanischer Gewächse in Europa sehr vortheilhast sein
würde. Pompe van Meerdervoort weist in dieser Beziehung
insbesondere aus den Firniß bäum (Rhus vernix) hin, den
Oruschi, welcher für die Japaner so wichtig ist, denn er
liefert ihnen ihren schönen Lackfirniß, den sie mit so großer
Sorgfalt herstellen. „Es kann in der That befremden, daß
das civilisirle Europa sich so träge zeigt, da es doch recht viel
Gutes und Nützliches von Japan her auf unfern Boden
verpflanzen könnte." Die Japaner vermischen den Firniß
mit verschiedenen mineralischen Färbestoffen. Der Baum
selbst wächst in jedem Boden, am liebsten aber da, wo derselbe
steinig ist; er verträgt auch recht gut eiue nicht übermäßige
Kälte. Er muß in Abständen von mindestens einer Klafter
gepflanzt werden, erreicht felten eine Höhe von mehr als 25
Fuß und man kann ihm in Japan fchon Firniß abgewinnen,
wenn er 6 bis 7 Jahr alt geworden ist. Das geschieht in
den Monaten Juni bis September, nachher muß er wieder
Ruhe haben. Man macht in den Stamm gegen Abend
halbkreisförmige Einschnitte in verschiedener Höhe und so,
daß zwischen diesen ein gewisser Zwischenraum bleibt. Der
Firniß wird in Röhren aufgefangen und darf dabei den Ein-
Wirkungen der Luft nicht ausgesetzt seiu; am folgenden Tage
sammelt man Alles ein und sorgt dafür, daß die Einschnitte
geschlossen werden. Der Firniß ist verschieden, je nach der
Zeit des Einschnittes, den Bodenverhältnissen nnd dem Alter
der Bäume. Die beste Art wird voll Juni bis zur Hälfte
des August gewonnen, und im Durchschnitt liefert jeder Baum
in der viermonatlichen Zeit 1 bis 17s niederländische Pfund,
der in Japan selbst mit 21/2 bis 4 Jtsebns — 2 Gulden
12 Cent, bis 3 Gulden 40 Cent, bezahlt wird. Der Baum
liefert etwa 13 Jahre lang Firniß. Dieser ist sehr giftig
Die Eisenbahnen in Europa. 331
und man muß sich wohl hüten, ihn mit der Haut in Ver- wird in Fässer gethan und fließt durch eiu grobes Leinwand-
bindung zu bringen; die japanischen Arbeiter bestreichen sich tuch ab. Was von selbst durchsickert, ist die beste Sorte;
der Vorsicht halber Gesicht und Hände mit einer ölartigen das Uebrige wird ausgepreßt und gicbt die geringeren Arten.
Fettigkeit, welche sie für ein Gegengift halten. Der Firniß A.
Aie Lisenvah
Bor uns liegt die zweite Ausgabe der Eisenbahn-,
Post- und Dampfschiffs-Karte voll Europa, von H.
Lange (Berlin, Verlag von Stille und van Muydeu
1867), eine saubere Arbeit, welche sich auch dadurch em-
psiehlt, daß sie nicht überladen ist, sondern, vollkommen aus-
reichend, nur giebt, was dem Zweck angemessen ist.
Der Blick auf diese schöne Karte, die auch praktisch als
sehr brauchbar erscheint, gewährt eine nicht geringe Befriedi-
gnng. Wir sehen aus derselben veranschaulicht, welch kolossa-
len Fortschritt im Verkehrswesen unser Erdtheil binnen einem
Menschenalter gemacht hat. Mit einer Energie, für welche
die vergangenen Jahrhunderte auch nicht entfernt ein Neben-
stück aufzuweisen haben, warf sich der Unternehmungsgeist
ans den Bau von Schienenwegen, Locomotiven und Dam-
pfern, um den Austausch der Waareu zu erleichtern und zu
beschleunigen, die Menschen verschiedener Länder und Erd-
theile einander nahe zn bringen, den Gewerbfleiß zu beleben,
den Handelsverkehr auszudehnen. Während ganze Flotten
schwimmender Paläste alle Oceane und nun auch auf zwie-
fachen Linien die große Südsee in ihrer ganzen Breite durch-
furchen, fehlen Eisenbahnen weder in Südamerika noch in
Indien oder Kleinasien; sie reichen von der Mündung des
Mississippi bis zu den canadischen Seen und binnen sechszig
Monaten wird man auf eisernen Schienen die ganze Strecke
von der Mündung des Hudson oder des Delaware bis nach
San Francisco an der goldenen Pforte in einer einzigen Woche
zurücklegen. Und wir sind immer noch in den Anfängen:
man drängt rastlos weiter und immer weiter, ein Schienen-
sträng fügt sich rasch an den andern. Mit dieser EntWickelung
geht die Ausdehnung der Telegraphen Hand in Hand; die
Mittheilung, schnell wie der Blitz, kennt keine Schranke
mehr und binnen Kurzem werden die geheimnißvolleu Drähte
um den ganzen Erdball gezogen feiu. Auch der tiefe Ocean
bildet kein Hiuderniß, ebenso wenig irgend ein Schneegebirge.
Man schlägt einen Tunnel durch den Mout Cenis und führt
den Telegraphen durch die mongolische Wüste wie über das
Jablouuoi- und Stannowoi-Ehrebet im eisigen Theile Sibi-
riens und bis an die Amur-Mündung.
Wenn solch eine ungeheure materielle Entwickelung
allein die Völker glücklich und zufrieden machen könnte, ge-
wiß, wir würden dann in einem goldenen Zeitalter leben.
Aber wir leben in einem andern. Zwar bleibt das Dichter-
wort wahr: „Eisen, du bist zahm geworden," aber desselben
Dichters Phautasie, daß dieses dunkle Metall sich endlich habe
versöhnen lassen, daß es nicht mehr dem Tode dienen wolle
und daß auf den spröden Schienen die Völker ein Hochzeits-
und Verbrüderungsfest begehen können, — diese Phantasie
wird ewig unerfüllt bleiben. Nie war über den ganzen Erd-
ball eine solche Verwirrung iu den Gemüthern' wie in un-
seren Tagen, nie stellten sich die Gegensätze schroffer heraus,
nie waren wirkliche oder vermeintliche Interessen in stärkerm
Widerspruch und Alles ist mehr oder weniger in Unruhe.
Streit und Krieg vom La Plata bis Japan, und nie zuvor
hat die Welt, nicht einmal in den Tagen der Imperatoren
eit in Lurop«.
des römischen Weltreiches oder in jenen des Dschingischan
und Tamerlau, eine so ungeheure Menge von Menschen nn-
ter den Waffen gesehen wie heute. Wir leben nicht bloß
im Zeitalter der'Schienenwege, sondern auch der Bayounette.
Europa namentlich, das sich so gern seiner christlichen Eivili-
sation rühmt, ist ein großes Heerlager und starrt von Waffen.
Durch Eisen wird zerstört, was durch Eisen geschaffen wurde.
Doch lassen wir diese Betrachtungen und halten wir uns
an die friedlichen Eroberungen, welche werthvoller sind als
alle anderen. Der Schreiber dieser Zeilen hat die ersten
Probefahrten auf der Taunusbahn und dann auf der Leipzig"-
Dresdner Bahn mitgemacht. Seitdem sind dreißig Jahre
verflossen. Wie naiv erscheint uns heute das bewundernde
Erstaunen, welches Alle ergriff, die mit dem Dampfroß in
geflügelter Eile durch das Blachfeld faufeten! Jetzt ist unser
deutsches Laud mit einem dichten Netz überspannt, dem all-
jährlich mehr und mehr Maschen hinzugefügt werden. Auf
dem europäischen Festlande haben wir heute Eisenbahnverbiu-
duug von Cadiz an den Säulen des Herkules bis nach Nischni
Nowgorod, und südöstlich von Moskau bis Kosloss in Ruß-
land. Wir fahren von Lissabon bis nach Groß-Wardein un-
weit der Grenze Siebenbürgens und bis nach Oravitza im
Banat; die Schienenstränge reichen ferner von Lecce uud
Otrauto, also von dort, wo Adria und Jonisches Meer sich
vereinigen, bis nach Jütland, durch Dänemark und weiter in
Schweden bis Upsala. Der Aermelcanal, die beiden Belle
uud der Sund bilden kein Hinderniß für den unmittelbaren
Verkehr, denn wo die Locomotive vor dem Ocean stillhält,
giebt sie Maaren nnd Fahrgäste an das Dampfschiff ab.
Ein Blick auf Herrn H. Lange's Karte zeigt, daß die
Kernregionen des europäischen Festlandes nebst den britischen
Inseln das dichteste Bahnnetz haben. Jenseit der Pyrenäen,
welche in ihrem äußersten Westen von der Bahn überschritten
werden, finden wir nur erst die großen Hauptstränge vollen-
det, doch sind die Küstenstädte des Nordens,, z. B. Santander,
Bilbao und San Sebastian, mit den wichtigsten Plätzen des
Innern und mit denen an der Süd- und Ostküste in Ber-
bindung und am mediterraueischen Gestade geht eine Bahn
von Gerona im Norden über Barcelona und Valencia nach
Alicante und, mit einem Umwege, bis Cartagena. Im Nor-
den und Osten sehen wir nur einige große Hauptadern; doch
werden auch dort die Schienen nach und nach bis an den
Ural nnd bis an das Kaspische Meer verlängert werden.
In Rußland ist im vergangenen Jahre die Bahn von
Dünaburg nach Witebsk eröffnet worden, sodann jene
von Warschan nach Brzesc Litewski (Terespol) am Bug.
Ferner hat man den Bau der von Moskau auslaufenden
Südbahn, die bis Tula vollendet war und von dort über
Orel nach Kursk weitergeführt wird, wesentlich gefördert;
fie soll weiter über Kiew und Berdilschess bis Balta ge-
führt werden, bis wohin die Odessaer Bahn landeinwärts
vollendet ist.
In der Türkei ist die Bahn von Rnstschuck iu Bul-
garien, am rechten Ufer der untern Donau, über Schumla
42*
332
Mohammedaner und Christen in der Türkei.
bis Warna am Schwarzen Meere vollendet und damit die
Fahrt nach Konstantinopel wesentlich abgekürzt.
In Skandinavien soll Stockholm in Schweden mit
der norwegischen Hauptstadt Christiania in Verbindung ge-
setzt werden. Die Bahn reicht, von Osten her, schon bis an
das Nordende des Wenern Sees; int vorigen Jahre wurde
der Theil von Laxa, wo die Bahn nach Gothenburg in süd-
westlicher Richtung abzweigt, gen Osten bis Christian-
Hamm und Carl st ad vollendet.
Holland ist eifrig darüber aus, sein Netz zu vervoll-
ständigen. Es hat nun auch die Linie vonMoerdyk nach
Breda und Venlo eröffnet und damit eine weitere Verbin-
düng mit den deutschen Bahnen gewonnen, während die Er-
ösfnnng der Bahn zwischen Eindhoven und Hasselt eine
solche mit Belgien herstellt. Das Netz dieses letztern Lan-
des, welches Ende 1865 schon 2285 Kilometer Bahnen hatte,
ist 1866 um 281 Kilometer erweitert worden. — Frank-
reich vergrößerte sein Netz um 738 Kilometer, vorzugsweise
int Süden-, Italien das seinige zumeist durch Erwerb der
Bahnen im Venetianischen um 1100 Kilometer. Der gan-
zen Ostküste entlang, von Lecee gen Norden bis Rimini,
hat die Bahn keine Lücke mehr; von Rimini läuft sie dann
landein nach Forli und Faenza, von wo ein Zweig gen
Osten nach R avenn a der Küste zugeht, während der Haupt-
sträng weiter nach Bologna geführt worden ist. Durch
Vollendung der Strecke Ancona-Foligno und Rom ist
nun Norditalien mit Neapel in Verbindung gebracht, ebenso
Florenz mit Rom durch Vollendung der Strecke von Em-
Poll bis Orte und Floreuz-Foligno. — In Spanien
wurden die Linien von Malaga und Cadiz mit der zwi-
scheu Madrid und Cordova vereinigt, also mit demCen-
tralnetze; mit diesem wurde auch der Nordhafen San tan-
der verbunden, da die Abtheilung von Barcena nach Rei-
nosa am Ebro und weiter bis Palencia vollendet wurde.
Die westspanische Bahn reicht bis Badajoz an der portn-
giesischen Grenze nnd hier schließt die portugiesische Bahn an
das spanische, somit auch an das europäische Netz an, also von
Lissabon bis Kosloss in Rußland. Vom Tejo bis zur Wolga
bei Nischni Nowgorod hat der Bahnstrang, welchen der Rei-
sende überfliegt, 6300 Kilometer, und die Strecke kann von
Loeomotiven, falls kein Hinderniß stattfindet, in 117 Sinn-
den zurückgelegt werden. Das Centralland der europäischen
Bahnen ist Deutschland, wo mehr und mehr Maschen dem
großen Hauptnetz eingefügt werden. A.
Mohammedaner und <
Das osmanische Gebiet in Europa soll in einzelne Theile
zerstückelt werden. Man speenlirt hin und her, wie Fleisch
und Haut des Bären zu vertheilen wären, noch bevor man
desselben Herr geworden. Die Türkei soll einzeln verspeist
werden, etwa wie eine Artischocke.
Das Alles ist freilich gar nicht neu, der Appetit längst
dagewesen, und am hungrigsten haben sich stets die sogenann-
ten Griechen gezeigt. Aus drei Punkten hat das Abreißen
längst begonnen, und thatsächlich sind die Moldo-Walla-
chei und Serbien unabhängig, obwohl sie dem Namen
nach unter der Oberlehnsherrlichkeit des Sultans stehen.
Griechenland seinerseits ist autonom, fühlt sich aber ein-
geschnürt und will sich mit den allerdings widersinnig von der
Diplomatie ihm gezogenen Grenzen nicht zufriedengeben. Es
bildet für die-Psorte einen unangenehmen, sehr lästigen Nach-
bar, der immer klässt, sehr oft seine Räuberbanden aus tür-
kischem Boden hantieren laßt und dann und wann Revoln-
tionen in Scene setzt, wie jetzt eben auf Kreta und in Thef-
falien.
Die buntscheckige, slawo -gräkisch- wallachisch -albanesische
Bevölkerung, welche sich als Hellenen bezeichnet und die man
insgemein Griechen nennt, kommt bei sich selber nicht beson-
ders vorwärts und Ministerwechsel nebst Brigandaccio und
gelegentlich etwas Aufruhr scheinen zu den hellenischen Be-
dürsnissen zu gehören. Von den ionischen Inseln hört man
Klagen über Klagen, daß es dort immer schlechter gehe, seit-
dem die Engländer ihre Oberhoheit aufgegeben. Die Grie-
chen wollen indeß auch ihrerseits kraft des Napoleonischen
Nationalitätsprineipes, das aber gerade in dem aus
sechs verschiedenen Nationalitäten zusammeneroberten Frank-
reich (Franzosen, Basken, Bretagner, Deutsche, Flamingen
und Italiener) gar keine Beachtung findet und lediglich als
ein politisches Paradepferd geritten wird, — die Griechen
wollen nun auch annectiren und verlangen zunächst Kreta,
Epirns und Thessalien.
Wie verhält es sich aber mit der Nationalität dieser
ljristen in der Türkei.
letztgenannten Provinzen? In dem Aussatz über „die Völ-
ker der europäischen Türkei" („Globus" XI, S. 210) sagt
der Verfasser, Herr A. Leist, daß in der Türkei keine ein-
'artige Bevölkerung vorhanden sei „mit Ausnahme der Do-
nansürstenthümer (was so ziemlich trifft) und Thessaliens."
Aber dagegen lassen sich gegründete Zweifel erheben.
Gerade jene Provinzen haben sehr verschiedene, neben und
durch einander wohnende Völkerbestandtheile: Alb an es en,
Türken, Griechen und Wallachen. Es ist ungemein schwie-
rig, selbst nur annähernd genau das gegenseitige Zahlender-
hültniß zn ermitteln, wir wissen aber, daß von Seiten der
Griechen die Ziffern zu Gunsten ihrer Nationalität immer
sehr hoch geschraubt werden. Die Türkei hat noch keine
statistische Behörde, welche berichtigen könnte. Von Athen
aus hat man die Angabe veröffentlicht, daß Epirns, also
die drei Provinzen Jannina, Delvino und Avlona, 357,360
Seelen haben; von diesen seien 200,000 christliche Griechen
und Albauesen, und 157,000 mohammedanische Alba-
nesen und Osmanen. Das griechische Element ist also
in der Minderheit, selbst nach jenen Angaben aus Athen.
In der Provinz Jannina leben etwa 100,000 Christen und
kaum 20,000 Mohammedaner; in jener von Delvino Hal-
ten beide Theile einander so ziemlich die Wage; in Avlona
kommen ans 87,500 Muselmänner nur 47,000 Christen.
Neber Thessalien lauten die Angaben sehr verschieden.
(„Times" vom 19. April.) Man schätzt die Bevölkerung,
welche int Süden des Olympos nnd der cambnnischen Berge
wohnt, auf etwa 400,000 Köpfe, von denen, griechischen Be-
hanptnngen zufolge, 323,000 Christen seien, während die
Türken 150,000 Mohammedaner und nur etwa 250,000
Christen rechnen. Wahrscheinlich finb beide Angaben unge-
nau. In Thessalien besteht eiu beträchtlicher Theil der Acker-
bauer aus Osmanen, die von solchen Türken abstammen,
welche einst den seldschnckischen Sultanen von Jeoninin unter-
than waren und durch den byzantinischen Kaiser Johann
Cantacnzenns hierher verpflanzt wurden. Von den Griechen
Mohammedaner und
werden diese Türken als Koni arid es bezeichnet. Sie waren
früher in der Umgegend von Tnrnowa sehr zahlreich und
hatten die ganze Ebene zwischen dem Ossa nnd dem Pelion
inns; seit Anfang des laufenden Jahrhunderts scheint ihre
Zahl beträchtlich abgenommen zu habeu.
Das Königreich Griechenland möchte von der Türkei etwa
523,000 Christen und 387,000 Mohammedaner, welche in
den von ihm als Beute zunächst ausersehenen Ländern durch-
einander Hausen, kurzer Hand im Namen der „hellenischen
Nationalität" einverleiben; dadurch würde die ohnehin bunt-
sprenkelige Nationalität von Hellas dann allerdings noch um
ein Erkleckliches bunter werden. Man darf sich aber die
Amputation des kranken Mannes nicht als eine leichte Ar-
beit vorstellen. Seit 1866 hat die Pforte auf das Begeh-
reu der Großmächte (deren ganzes Verfahren in der söge-
nannten orientalischen Frage neulich in der „Allgemeinen
Zeitung" mit vollem Recht als rathlos nnd kindisch gekenn-
zeichnet worden ist) den Christen eine Coneession über die
andere gemacht. Der Sultan genehmigte die Vereinigung
der Moldau und Wallachei zu einem rumänischen Fürsten-
thum, weil Rußland und Frankreich es wünschten. Er gab
allen Forderungen nach, welche das letztere in Bezug auf
Syrien stellte; er hat eben jetzt die türkischen Besatzungen
aus den Festungen Serbiens zurückgezogen, er hat selbst den
Montenegrinern ein Stück adriatischer Küste bewilligt. Aber
Kreta, Thessalien und Epirus abzutreten, das ist eine Zu-
mnthung, auf welche er nicht eingehen kann. Wenn die
Christen nicht unter einem muselmännischen Monarchen stehen
wollen, wie können sie dann verlangen, daß Mohammedaner
einem christlichen Monarchen gehorchen sollen?
Gewiß sind die Osmanen mit ihrem Mo H amm edanis-
mus für Europa eine Anomalie und ihreZeit wird in uuserm
Erdtheil über kurz oder laug abgelaufen sein. Aber was
sind denn diese „Christen" im Süden der Donan und des
Balkan? Welchen Anspruch können sie auf die Theiluahme
des gebildeten Europas erheben? Gar keinen. Durch deu
Namen „Christen" wird sich höchstens ein befangener Kopf
oder ein unwissender Phantast täuschen lassen. Die über-
wiegende Menge jener „Christen" bestand vor der türkischen
Herrschaft ans abergläubigen Halbbarbaren, und das sind sie
auch unter dem osmanischen Drucke vier Jahrhunderte hin-
durch geblieben. Durch diesen Druck wurden sie zusammen-
gehalten und verhindert, sich unter einander zu befehde»; so-
bald derselbe aufhört, werden sie über einander herfallen, die
Verwirrung wird allgemein werden und dann wird Czar
Moskofs kommen und seine Ernte einthnn. Dieser macht
Nationalität und Sprachverwandtschaft und gleichen Kirchen-
glauben in Hinblick auf die „slavischen Brüder" mit viel
größerm Rechte geltend, als die winzige Handvoll „Hellenen",
die bei allen anderen Völkern der Türkei, auch den christli-
chen, nichts weniger als beliebt sind. In Moskau und St.
Petersburg lacht man über ihre hochfliegenden Ansprüche,
nnd wenn man an der Newa Bälle zu Gunsten der Rebellen
auf Kreta giebt und in Moskau unter dem Geläute der
Kremlglocken für diese Rebellen öffentliche Gebete abhält,
dann weiß man dort sehr wohl, weshalb solche Demonstra-
tionen in -Scene gesetzt werden.
Sympathie soll das gebildete Europa für „Christen"
haben, welche, wie in Serbien und Rumänien täglich geschieht,
den jüdischen Menschen wie einen Hund behandeln, so arg,
wie es nnr je in Marokko der Fall gewesen ist? Sympa-
thie für „Christen", die nirgends ein rechtschaffenes Städte-
leben aus sich herauszuarbeiten verstanden? Es ist nicht
etwa Zufall, sondern liegt tief in der Racenanlage dieser
danubisch-balkanischen Völkerschaften begründet, daß' zwischen
Wien nnd Stambnl nie andere als ephemere Reiche entstan-
Christen in der Türkei. 333
den, und daß außer jenen beiden Gravitationspunkten kein
dritter sich bilden konnte. Es ist wahrhaftig wieder einmal
an der Zeit, des trefflichen und scharfblickenden Fallme-
rayer's „Fragmente aus dem Orient" ins Gedächtniß zu-
rückzurufen.
Soll der mit schmachvollem Undank belohnte, windige
und lustige Philhellenismus, der seiner Zeit als eine psychisch-
politische Seuche grassirte, wieder erweckt werden? Will
man etwa im neunzehnten Jahrhuudert im Namen des Chri-
stenthnms Krenzzüge, aus Begeisterung für „christliche"
Halbbarbaren, unternehmen und damit, sowie mit jeder „christ-
lichen Sympathie" für die nicht mohammedanischen Unter-
thanen des Sultans, den Bestrebungen Rußlands förderlich
werden? Wirerleben in unseren Tagen allerdings politischen
Unverstand nnd pseudophilanthropische Extravaganzen in Hülle
und Fülle diesseit wie jenseit des Atlantischen Oceans, aber
ein Kreuzzug für Bulgaren, Wallachen, Slawogräken, Alba-
nefen, Zinzareu und tutti quanti?
Die Hellenen haben in diesen Tagen die Dreistigkeit ge-
habt, das civilisirte Europa zu einem Kreuzzuge in ihrem
„christlichen" Interesse aufzufordern. Wozu der christliche
Name uicht alles mißbraucht wird! Sie erließeu eiu Maui-
fest an Europa, das ihnen helfen soll, ihr Königreich Grie-
chenland zu vergrößern. An der Spitze der Unterzeichner
stehen die Geistlichen der heiligen Synode, der Metropolit
von Athen und drei Bischöfe; dadurch sieht die Sache „christ-
lich" aus. Einen heroischen Anstrich soll sie weiter dadurch
gewinnen, daß dann die Namen von „Kämpfern aus dem
Unabhängigkeitskriege" folgen: Kolokotronis, Manromichalis,
Mianlis, Tombasis und dergleichen mehr. Das Manifest
hält dem jungen Königreich eine Lobrede. Kein anderes
Volk in Europa habe seit 30 Jahren solche Fortschritte ge-
macht als das hellenische. Die verfallenen Städte seien wie-
der aufgebaut, neue gegründet worden, die Seeleuzahl habe
sich verdreifacht, jedes Dors eiue Schule, jedes Kind könne
lesen; die Universitäten seien gedrängt voll von Studenten,
30,900 griechische Matrosen wären im europäischen Verkehr-
beschäftigt, die Häsen würden verbessert, nene Straßen ge-
baut, griechische Kaufmannsfirmen findet man in der ganzen
Welt. Der Ackerbau schreite fort und der griechische Gewerb-
fleiß könne in manchen Zweigen als Muster aufgestellt wer-
den. Das Land bestrebe sich, die Ordnung mit der bürger-
lichen, politischen und religiösen Freiheit zu versöhnen.
Das wäre schon viel des Eigenlobes, selbst wenn diese
hochtönenden Worte der Wirklichkeit entsprächen. Das ist
aber nicht der Fall *). Europa wird durch solche unwahren
Behauptungen schwerlich getäuscht werden. Die „Times"
(vom 20. April) liest jenen athenischen Aufschneidern insofern
den Text, als sie ihnen einige Wahrheiten znGemüthe führt,
die am Fnße der Akropolis schwerlich mit Beifall aufgenom-
men oder die Selbsterkenntnis} fördern werden. Die Grie-
chen, sagt sie, sind keck und unternehmend und dauern auch
unter ungünstigen Verhältnissen aus. Sie kommen unter
jeder Regierung vorwärts, und es möchte schwer zu entschei-
den sein, ob die Lente im griechischen Königreiche dnrch ihre
*) (Kbcn lese ich Auszüge aus dem Berichte des britischen Ge-
sandtschaftssecretairs in Athen, Herrn Ellis, an das Ministerium des
Auswärtigen in London. In denselben wird die Energie und Ge-
schicklichkeit des griechischen Kaufmanns gelobt, die gewaltig absteche
gegen die Gleichgültigkeit und den Mangel an Unternehmungsgeist
beim Landmann. „Gegen zwei Drittel des anbaufähigen
Bodens liegen unbenutzt. Noch wird der Pflug, wie er im
Alterthum war, auf dem Rücken des Maulthi.eres daher getra-
gen und kratzt im Ackerlande umher; das Getreide wird im Felde von
Ochs und Pferd ausgetreten. Der Mangel an Straßen und das
Ueberhandnehmcn des Vrigantenwesens verhindern die An-
läge fremden Capitals" :e. „Allgemeine Zeitung" vom 28. April.
334 Mohammedaner und (
Unabhängigkeit ititb ihre eigene Regierung oder trotz dersel- !
ben einen gewissen Grad materiellen Wohlstandes erreicht
haben. Es wird sich ferner schwer beweisen lassen, daß die
Griechen unter ihrem eigenen König in Athen besser daran
seien, als in Smyrna unter der Herrschaft des Sultans.
Es geht ihnen gleich den Juden einst in Polen, Ungarn :c.
darum nicht viel schlechter, weil sie dann und wann eine
kleine Verfolgung zu erleiden haben.
Die „Times" trifft vollkommen das Richtige, wenn sie
über die Griechen weiter sagt: „Die Befähigung eines Vol-
kes zur Selbstregierung hängt zum großen Theil von dessen
Geneigtheit ab, sich regieren zu lassen. Es giebt aber Racen,
namentlich solche mit südlichem Blute, welche eben so wenig
für die Freiheit wie für die Unfreiheit geeignet sind. Es
giebt Länder, iu welchen felbst der Schulunterricht kein Se-
gen und keine Wohlthat mehr ist, wenn nämlich in Lehr-
anstalten und auf Universitäten das Dichten und Trachten
nur dahin geht, die Bevölkerung der Städte auf Kosten des
platten Landes zn vermehren, die sogenannten liberalen Pro-
fesstonen zu überfüllen und die Jugend von nützlicheren Be-
rufen abzuhalten. In Griechenland sind, wie in Italien,
die Universitäten nur Pflanzstätten für Heranbildung von
Demagogen; Tausende von „Advocaten" werden jährlich ge-
gen die Gesellschaft losgelassen, hungrige Abenteurer, die
Feinde des Staates sind, im Fall er sie nicht mit Aemtern
versorgt. So kommt es, daß eine Art äußerlich anständig
erscheinenden Proletariats für einige südliche Länder eine stete
Gefahr bildet. Keine Revolution, so durchgreifend sie auch
sein möge, kann mehr als eine bestimmte Anzahl solcher In-
dividuen befriedigen. Wenn zehn einen Treffer ziehen, so
fallen doch ans einhundert Nieten, und diefe ruhen dann
nicht, bis das Rad sich umdreht und sie selber an die Reihe
kommen.
Niemand wird den Griechen darüber zürnen, daß sie ihre
Unabhängigkeit haben; was sie mit derselben anfangen, ist
ihre eigene Sache. Mögen sie nnserethalben den „Segen
ihrer Institutionen", wie diese nun eben sind, auch auf Kreta,
Thessalien, Epirns oder gar Konstantinopel ausdehnen.
Aber sie fordern Europa auf, die orientalische Frage zu ihren
Gunsten zu lösen, durch Gemetzel und Blnt soll, für sie,
das Kreuz den Halbmond vernichten, das ist ein unstatthaftes
Verlangen." —
Indem die „Times" hier auch Koustautiuopels er-
wähnt, will sie wohl auf den Umstand anspielen, daß die Hel-
lenen sich mit dem hochfahrenden Plane tragen, die Weltstadt
am Bosporus in die Hauptstadt eines neugriechischen
Kaiserthums umzuwandeln. Sie, die höchstens 3Millio-
nen zählen, möchten das byzantinische Reich wieder aufrichten;
die vierhundertjährige Regierung der Sultane in Stambnl
foll lediglich als eine geschichtliche Episode betrachtet, das grie-
chische Kreuz statt des Halbmondes auf der Sophienkirche
leuchten. Die hellenifche Selbstüberschätzung nimmt an, daß
die Griechen allein berufen feien, in dem südbalkanischen Völ-
kergewirr die herrschende oder, wie man sagt, die „leitende"
Nation zu sein.
Nicht bloß Czar Moskofs allein würde dagegen Protest
und zwar einen fehr handgreiflichen einlegen; auch die slavischen
Nationen und die Albauesen wollen von einer Hegemonie der
Hellenen nichts wissen. Sie haben gegen die letzteren und
namentlich gegen deren Geistliche eine große Abneigung. Diese
tritt am schärfsten bei den Bulgaren hervor, welche, fünf
Millionen Köpfe stark, also allein fast doppelt so zahlreich
wie die Griechen, das Land im Süden der untern Donau
von Widdiu bis nach Silistria hin in fast compacter Masse
bewohnen, in welche nur vereinzelte osmanische Bestandtheile
Christen in der Türkei.
! eingesprenkelt sind *). Diese Bulgaren wollen von einem
„griechischenJoche" platterdings gar nichts wissen; sie arbei-
ten mit Ingrimm und Zähigkeit daran, die griechische Geist-
. lichkeit aus ihrem Lande zn entfernen. Zu diesem Zweck
haben sie sich an ihre „russischen Brüder" gewandt, denen sie
ihre Noth klagen. Anch sie wünschen daneben eine Bethei-
lignng westeuropäischer Sympathien und haben mehrere dent-
sche Flugschriften veröffentlicht. Eine derselben (welche mir
1864 in Dresden von einem gelehrten Bulgaren eingehän-
digt wurde, mit welchem ich, da er geläufig unsere Sprache
redete, mich mehrfach über die Angelegenheiten seines Landes
unterhielt) führt den Titel: „Der Patriarch und der Papst
in Bezug auf die bulgarische Kirche" (Druck von Ernst Kühn
in Berlin). Sie hat den Bulgaren Th. Minkoff zum
Verfasser und erschien ursprünglich in der moskauischen Zei-
tung „Denj". Es wird angemessen sein, einige kennzeich-
nende Punkte hervorzuheben.
Minkoff sagt: „Die stolze Behauptung der Griechen
geht stets darauf hinaus, alle anderen Nationalitäten seien
nur Kinder der griechischen Kirche, Griechenland allein der
Vater, das Oberhaupt, welches von den übrigen unbedingten
Gehorsam verlangen könne. Gut; aber die Nationalitäten
haben auch ihren Stolz; wo bliebe der Vater, wenn die Kin-
der nicht wären? Ein Kanzelredner in Athen hatte sogar auch
Rußland als Sohn der Kirche bezeichnet, welcher dem
griechischen Vater, Griechenland, Gehorsam schulde.
Die griechischen Zeitungen schüren fort und fort auf leicht-
sinnige und schonungslose Weise die Flammen des Hasses,
welche ohnehin schon durch die egoistische Herrschsucht
der Griechen bei den übrigen Nationalitäten der orthodoxen
Kirche angefacht worden ist. Griechische Blätter beschönigen
die Schandthaten, welche der Fanatismus verübt. Am Tage
der zwölf Evangelisten (1863) wurde von griechi-
schen Matrosen zu Jbraila in der Wallachei ein
orthodoxer Geistlicher gesteinigt, weil er den Got-
tesdienst in der wallachischen Landessprache hielt.
Nachher plünderten sie noch die Kirche aus. Wir
Bulgaren werden mit den größten Schmähungen überhäuft,
weil wir einst den ersten Schritt gethan, die griechische
Sprache aus unserm Gottesdienste zn verbannen, und weil
die Wallachen in dieser Beziehung, angeblich, unserm Bei-
spiele gefolgt seien. Wir aber wollen doch weiter nichts, als
in den süßen Lauten der eigenen Sprache unseren Kindern
die heiligen Lehren der Religion einprägen, wir wollen, daß
uns die Gnade unseres Herrn Jesu Christi nicht mit uns
unverständlichen griechischen Phrasen verkündet werde. Wir
wollen, daß unsere Bischöfe einen festen Gehalt beziehen, wol-
len aber nicht, daß sie durch Erpressung mit roher PaN-
dnrengewalt Schätze sammeln. Sie sollen nicht niedrige
Creatureu sein, die durch seile Schmeicheleien an den Höfen
der Paschas oder durch Bestechungen zu ihrer Würde ge-
laugen. Nicht fortdauern soll die Wirtschaft, welche fremde
Elemente in unserm Lande treiben, Fremde, welche unsere
Nationalität hassen und unterdrücken und durch ihre Predig-
ten in fremder Zunge, das diefe nicht versteht, auf das Bit-
terste verhaßt sind. Und sind wir nicht häufig genug durch
die Erfahrung belehrt, wie wenig die Griechen es verstehen,
das Kirchenregiment im Interesse des Wohls der anderen
Nationalitäten zn führen?" —
Diese Auslassungen Minkoff's genügen vollauf, um die
*) Ich mache auf die vor einigen Wochen in Berlin bei Dietrich
Reimer erschienene „Völker- und Sprachenkarte von Oester-
reich und den unteren Donauländern" aufmerksam. Sie ist
eine vortreffliche Arbeit unseres großen Kartographen Heinrich Kie-
pert, und gewährt eine sehr deutliche Uebersicht der ethnograpbischen
Verhältnisse.
Girard beim König von
Abneigung der Bulgaren gegen die Hellenen darznthnn. Sie
ist aber nicht etwa neu, sondern reicht weit zurück; die Hab-
gier und das ganze Verfahren der griechischen Geistlichkeit,
welche man von Seiten des Patriarchen in Konstantinopel
den slavischen und wallachischen Christen aufdrängte, während
uian die Landeseinwohner von den geistlichen Würden aus-
schloß oder sie zwang, die Liturgie in griechischer Sprache zu
halten, — dieses Verfahren ist wesentlich schnld, daß der In-
grimm sich so ties eingefressen hat.
Es sieht also luftig genug aus mit den Ansprüchen, welche
von den „Hellenen" ans die Berechtigung zur Gründung
eines neubyzantinischen Griechenreichs erhoben wer-
den. Die „Nachkommen des Perikles und Plato", welche
die klassischen Namen Pappadopnlos, Katzimnlos :c.
führen, die leider zu des Aristophanes Zeiten noch nicht be-
kannt waren, verlangen die Sympathien von Westeuropa
und haben nicht einmal jene ihrer eigenen Glaubensgenossen
im Osten. Darüber hat der bekannte General Jochmus
(„Pascha Jochmus") schon vor zwanzig Jahren sehr zntres-
sende Mittheilungen gemacht. Er unternahm eine Wan-
derung durch deu Balkan, 1847, die ich im -Journal
of the geographica! society of London 1854, Vol. XXIV,
S. 64 ff. abgedruckt finde. Folgende Stellen, die ich her-
aushebe, sind bezeichnend.
„Alle verständigen Leute unter den Bulgaren nnd Jlly-
riern (Jochmus meint damit die südslavischen Völker) lachen
über den Plan, ein griechisches Reich in Konstantinopel zu
gründen. Von den muthigen und Handsesten slavischen Stäm-
men werden die Griechen als Tanschans bezeichnet, d. h.
Hasen; sie gelten mehr für Grammatiker als tapfere Krie-
ger, mau bezeichnet sie als Bäk als, Krämer, als Schneider,
Kaufleute und Küstenschiffer. Es muß als eine gewiß merk-
würdige Thatsache hervorgehoben werden, daß die Männer,
welche von 1821 bis 1829 für die Unabhängigkeit Grie-
chenlands kämpften, zumeist nicht etwa Moreoten oder andere
Gräkobyzantiner waren, sondern Leute, welche dem albanesischen
Stamme und anderen nördlich gelegenen Völkern angehörten.
Die Schisse der Griechen waren beinahe ausschließlich be-
encalabar im Nigerdelta. 335
mannt von Hydrioten, Spezzioten und Poreoten, die
allesammt vou albanesischer Abstammung waren nnd alba-
nesisch redeten. Die Reiterei unter Hadschi Christos bestand
aus Bulgaren, und was von der Infanterie gnt und brauch-
bar war, aus Snlioten albanefifchen und Rumelio-
ten slavischen Stammes." Jochmus bemerkt: dieSlaven
würden sich nie den Griechen unterwerfen, welche über die
ganze Türkei dünn zerstreut seieu und bei den übrigen Völ-
kern in keiner Achtung ständen. „Es ist eine aus völliger
Uukuude des Sachverhaltes entspringende grundfalsche An-
sicht, slavische Völker für „griechisch" zu halten, weil sie sich
zur griechischen Kirche bekennen."
Hoffentlich wird aus dem Krenzznge, welchen die modernen
Gräken „int Interesse der christlichen Civilisation und der
Glaubensfreiheit" iu Sceue gefetzt feheu möchten, nichts wer-
den. Ich meinerseits erkläre, daß ich für eine solche wider-
sinnige Barbarei auch nicht einen Funken abendländischer
Sympathie in mir fühle *). A.
*) In einem frühern Aufsatze „Globus"VIII, S. 161 ff. „Zur
Kunde von Bulgarien" sind die Verhältnisse dieses Landes ans-
führlich erörtert worden, und die Stellung der durchaus corrumpirten
hellenischen Geistlichen gegenüber dem Volke - Hat dort eine eingehende
Würdigung gefunden. Ueber „Altgriechen und moderne Hel-
lenen" vergleiche man „Globus"IX, S. 352, wo Auszüge aus dem
Londoner Blatte „Daily News" mitgetheilt wurden. Das Urtheil
fällt etwas scharf aus und lautet ganz anders als das, welches die
Verfasser der oben erwähnten Proklamation über ihr eigenes Volk
fällen. „Die heutigen Neuathener zeigen sich weder in Philosophie,
oder in Kunst, oder in den Staatswissenschaften als Landsleute des
Plato, Phidias oder Aristoteles. Wohl aber haben sie die Eitelkeit
und die turbulente Ruhelosigkeit, welche in der alten Republik die
besten Bürger verfolgte und sie mit Todesstrafe heimsuchte. Die
Nichtachtung peenniairer Verpflichtung, die Unlust, Schulden zu be-
zahlen, der Hang zu romantischem Straßenraube, der ihnen mehr
zusagt, als rechtschaffener Fleiß, welchen sie für schmutzig und nie-
drig halten, alle diese Dinge deuten auf weniger feines Blut als auf
das der alten Griechen, und bezeugen einen Hang zum Abenteuer-
lichen. Byron mochte von dem Volke, für welches er gekämpft hatte,
gar nichts mehr wissen. — Heute sehen wir eine bankerotte Regie-
rung, ein durch und durch demoralisirtes Volk, eine turbulente Stadt,
Athen, die alles Geld an sich zieht, und außerdem ein verödetes Land,
in welchem pittoreske Gentlemen ihr Unwesen treiben."
Hirard beim König von 1
Wir berichteten neulich, daß der „philosophische" König
von Neucalabar, um seine aufgeklärten Ansichten vor ganz
Europa zu docnmentiren, 25 Francs Beiträge zu einem Denk-
male für Voltaire nach Paris geschickt habe. Die Neger-
freunde waren sehr erbaut über einen solchen Fortschritt der
Civilisation.
Nun trifft es sich, daß wir deu Bericht eines Capitains
Girard vor uns liegen haben, der im Mai 1866 eine wif-
fenschaftliche Reise nach der Westküste von Afrika unternahm;
im November erreichte er die Nigermündungen. Was er
dort beobachtet, erzählt er in einem Briefe, der datirt ist:
„Am Bord des „Joseph Leon", vor dem Dorfe Neucalabar,
22. November 1866."
„Hier ist vor mir noch kein europäisches Fahrzeug gewe-
sen. (— Das ist wohl nicht richtig, da Palmölschiffe aller-
dings Neucalabar besucht haben. — J Ich habe weder Karten
noch Pläne, um mich in diesem Wassergewirr, das man als
Nigerdelta bezeichnet, zurecht zu finden. Ich'studire die
Hydrographie des Stromes. Wir befinden uns Alle treff-
lich wohl. Mein Schiffsvolk besteht aus folgenden Leuten:
eucalaliar im Aigerdelta.
Feba, mein Steuermann, ist ein Schwarzer aus Lussu; mein
Lieutenant Medan ist ein Farbiger aus Cayeune; Gonart,
der die Nigerfahrt mit Capitain Magnan gemacht hat; Bots,
schwarzer Matrose; Lamba Naye, ein mohammedanischer
Marabnt, der als Dolmetscher für die Sprachen dient, welche
weiter stromaufwärts geredet werden; Dembadiop und Jo-
seph Andre, schwarze Schiffsjungen vom Senegal; Dan
Krn, Eingeborener von Neucalabar, der als Dolmetscher für
die Sprachen dient, welche im Delta bis Bnffa hinauf ge-
sprachen werdeu. Dazu kommt Dick, Bruder des Prinzen
Will/der „König" von Neucalabar ist; jener dient mir als
Führer nnd Geißel; sein Bruder hat ihn mir überlassen, um
mir damit einen Beweis von Freundschaft zu geben und da-
mit ich wisse, daß ich in seinem Lande unbedingt auf Schutz
rechnen könne.
Die Bemannung ist zahlreich für ein Schiff, das nur
22 Tonnen Tragfähigkeit hat, und Alles ginge vortrefflich,
wenn nur die verwünschten Stechmücken nicht wären.
Das Dorf Neucalabar ist ein Gewirr von Hütten,
die aus unbehauenen Baumstämmen aufgeführt und mit Mat-
336 Glrard beim König von -
ten gedeckt sind, welche aus Palmfasern geflochten werden. Die !
Bewohner sind arm, denn das Land bringt nicht viel hervor;
sie scheinen eher sanft als gransam, aber trotzdem sind sie
Menschenfresser. Ehemals trieben sie Sklavenhandel
und lebten dadurch im Wohlstande; man sieht auch uoch alte
eiserne Kauouenlänfe in den Straßen umherliegen. Diese
Schwarzen leben zumeist in ihren Kähnen oder Pirognen,
von denen einige bis 45 Fuß Länge haben; sie tragen eiserne
Kanonenläufe; auch an Flinten mit Feuersteinen ist kein
Mangel.
Diese Calabareseu leben in steter Fehde mit ihren Nach-
baren, den Eriks-men (— den Eckricks —). Bei diesen
Kriegen ist es vor Allem darauf abgesehen, daß man einan-
der so viel Menschen als irgend möglich abnimmt, um die-
selben dann nach dem Innern hin als Sklaven zu
verkaufen. (— Außerdem wird ein Theil der Gefangenen
abgeschlachtet und gefressen. —) Die Häuptlinge verkaufen
Palmöl an die Engländer.
„König" Will hat mich sehr gut aufgenommen und ich
habe die Ehre, mit einem seiner Brüder, dem „Prinzen" Bob,
befreundet zu sein.
Vorgestern wohnte ich einem großen Kriegsrathe bei,
in welchem Seine Majestät den Vorsitz führte. Eine mit
vier Eckricks bemannte Pirogne war auf seinem Gebiete ge-
scheitert, und es sollte nun entschieden werden, was mit den
Gefangenen zu thun sei. Hat man sie aufgefressen? Ich
kann es nicht sagen; Prinz Bob wollte davon nichts wissen,
er behauptete, man habe sie in ihre Heimath abziehen lassen!
Die Nencalabaresen sind allesammt Bettler, und die vie-
len Besuche, welche ich an Bord erhielt und noch erhalte,
haben keinen andern Zweck, als Branntwein zu bekommen.
In ihrem Fetischdienste spielt Dschndschn (Joujou) eine
große Rolle. Er ist so eine Art von Götzenwesen. Sehr
viele Sachen sind Götzen: ein Tops, ein paar auf einander
gestellte Teller, eiue Jguame, verschiedene Vögel, ein Stock
mit einem Baumwollenlappen daran. Der sogenannte große
Tempel ist uicht viel geräumiger als die anderen Hütten;
ich sah in demselben europäische Lithographien, z.B. das La-
ger der englischen Freiwilligen bei Wimbledon im Jahre 1864
und einige zerrissene Seiten des „Pnnch", die es sich an der
Themse gewiß nicht hatten träumen lassen, daß sie am Niger
als ein Gott signriren würden. Die Schwarzen beteten
aber außerdem noch eine Schnupftabacksdose ans dem Schwarz-
walde an und einen Kessel, der von einem gestrandeten Schiffe
herrührte. Ich habe mehrere solcher Götter abgezeichnet.
(— Dies erinnert mich unwillkürlich an eine Stelle in
Lucian's dramatischer Posse „Jupiter Tragödus", in
welcher der geistreiche Spötter aus Samosata sich über die
chaotische Vermischung und Durcheinandermengung aller ver-
schiedenen nationalen Eulte im zweiten Jahrhundert nach
Christus recht lustig macht. Er witzelt über die von den
Völkern willkürlich geschaffenen Götter, die bald Menschen,
bald Elemente, bald Stiere, Krokodile, Zwiebeln, Affen,
Katzen, irdene Töpfe oder Schüsseln seien. Also wie
bei den Negern, obwohl das Fetischthum bei deu Alten
in den Tagen, da das Heidenthum verfiel uud sich auflöste,
doch eine ganz andere geistige Unterlage hatte, als bei den
Schwarzen in Afrika. Man würde irren, wenn in an an-
nähme, daß nicht anch im heutigen Europa eiu gewisses Fe-
tischthum im Schwange gehe. Man braucht nur in Nea-
pel :c. beobachtet zu haben. — A.) —
Gestern ging ich ans Land mit meinem künstlichen Ho-
rizont, um Beobachtungen zur Bestimmuug der Lage anzu-
stellen. Ich hatte dazu die Erlanbniß des Königs. Sehr
bald war ich von etwa 3000 Menschen beiderlei Geschlechts
Neucalabar in: Nigerdelta.
! umringt, die mir keine Ruhe ließen; ich kann also für die
Genauigkeit meiner Beobachtung, die, Jrrthnm vorbehalten,
4<>36' 15" Nord beträgt, nicht entstehen. Als mein Sex-
tant zum Vorschein kam, wurde die ganze Masse von einem
panischen Schrecken ergriffen und nahm Reißaus.
Der Köuig will nun stromauf nach Eboe, wo ein Nach-
folger für den verstorbenen Herrscher gewählt werden soll.
Er nimmt mindestens einhundert Pirognen mit, die mit ihrem
Aufputz einen wilden aber interessanten Anblick gewähren.
Es ist jetzt etwa 10 Uhr Morgens, die Flotte setzt sich in
Bewegung, alle Kähne rudern um mein Schiff herum, aber
lediglich um von mir Branntwein, Schiffsbrot und Speck zu
erbetteln. Ich habe ihnen unbarmherzig Alles abgeschlagen
und gesagt, meine Vorräthe seien nun erschöpft. Einige
gaben sich damit zufrieden, Andere schnitten Fratzen, aber
daraus mache ich mir nichts. Habe ich doch einen Fetisch,
vor dem sie heilige Scheu tragen, einen Mörser; der jagt
ihnen mehr Furcht eiu, als alle ihre Fetische zusammenge-
nommen." —
So weit Capitain Girard. Man sieht, daß für Auf-
kläruug im Sinne Voltaire's, trotz der Unterzeichnung von
25 Francs, doch immerhin in Neucalabar Einiges zu thun
übrig bleibt. —
Nachdem wir das Obige geschrieben, lasen wir einen amt-
lichen Bericht des Herrn C. Livingstone, der jetzt britischer
Consnl an der Bucht von Biasra ist, in welche der Niger
mündet. Er besuchte im Juli 1866 den König von
Okrika, um wo möglich den Menschenfresserkämpfen zwischen
diesem und dem Könige von Neucalabar ein Ende zu machen;
seine Bemühungen sind indeß ohne Erfolg gewesen. Er hatte
drei Häuptlinge aus Bouuy, also Unterthaueu des Königs
Peppel, bei sich. Das Hauptdorf Okrika liegt auf einer
Sandanhöhe, ist von prächtigen Bäumen umgeben und hat
nach dem Strome hin eine Stockade, die mit einigen Kano-
nen besetzt ist. Die drei „Prinzen" aus Bonny gingen ans
Land, der Engländer blieb auf seinem Schisse, bis jene den
König gesprochen hatten. Dann ließ er sich ans Ufer rudern.
„Der Gestank dort war über alle Begriffe abscheulich, es war
als ob alle faulen und unausstehlichen Gerüche sämmtlicher
Dörfer Afrikas dort concentrirl wären." Die versammelte
Menge wollte den Weißen nicht ins Dorf gehen lassen, weil
das gegen den Dschndschn verstoße, und er konnte nicht wei-
ter, obschon die Bonnyprinzen nach rechts und links viele
Leure zu Boden schlugen. Erst nachdem der König eine An-
zahl Trabanten geschickt hatte, wurde reine Bahn.
Seiner Majestät Residenzhütte empfing das Licht durch
die Thür; man brachte ein paar Stühle und dann kamen
mehrere Häuptlinge. Der König ging inzwischen m das
Dschndschnhans, um die Geister zu befragen. König Fibi a,
ein Mann von etwa 45 Jahren, sah ganz gutmüthig aus;
er schüttelte dem Fremden die Hand und setzte sich auf einen
fehr niedrigen Stuhl; die „Königin" legte ein Tischtuch auf
und reichteTombo, ungegohreueuPalmwein. An denWan-
den hing eine große Menge von Schädeln, und
viele andere bildeten eine Art von Dach über einem
Altar. Dem letztern gegenüber saß der Fetischpriester, des-
sen Sitz auch aus Menschenschädeln bestand. „Ein alter
Mann erzählte uns mit rechtem Gusto von den vielen Men-
schenftcischfefteix, an welchen er Theil genommen und gab ge-
nau die Körpertheile an, welche am besten munden." Der
Eousul fand die Leute ganz umgänglich; sie bestreichen sich
den schwarzen Körper mit gelber und blauer Farbe. Der
König bemerkte, daß in Bonny der Herrscher und die Hänpt-
linge allein über öffentliche Angelegenheiten entscheiden könn-
ten, in Okrika aber wolle das Volk bei allen Unterhandlun-
gen gegenwärtig sein. Diese wurden dann auch im Freien
Heinrich Ditz: T
gepflogen. Der Premierminister, der zugleich Staatsredner
ist, entwickelte, daß Okrika kein Palmöl, sondern nur Fische
habe, mit denen es Alles bezahle, was gekauft werde. Leute
aus Nencalabar kamen oft, um die Fische aus den Netzen zu
stehleu und die Kähne zu berauben.
Livingstone redete zum Frieden und man versprach, eine
Gesandtschaft nach Bonny zu schicken. Sein Bericht schließt
folgendermaßen: „Die Sitzung dauerte fünftehalb Stunden.
Nie zuvor habe ich in Afrika so kräftig gebauete Menschen
Z) i e u n g a r i
Von Dr. cam.
Die Nachkommen der alten Huuueu, für welche sich die
Magyaren ja so gern ausgeben, erfreuten sich schon über tau-
send Jahre ihrer heutigen Wohnsitze, ehe ihre angestammte
Sprache zu jener Geltung gelangte, die ihr als die Mutter-
spräche des herrschenden Stammes gebührte. Es scheint, daß
seit Einführung des Christenthums die magyarische Sprache
durch das Lateinische mehr als irgend eine andere verdrängt
wurde. Die lateinische Sprache blieb bis auf unser Jahr-
hundert nicht nur die offtcielle des Landes und der Gelehr-
ten, sondern auch als Umgangssprache diente sie in den hö-
Heren Gesellschaftskreisen. Nur unter dem gewöhnlichen Volke
herrschte das Magyarische ziemlich ausschließlich, etwa so wie
im zehnten Jahrhundert die deutsche Sprache bei uns. Es
war so eine eigentliche „Volkssprache" wie es ursprünglich die
deutsche war (thiuda, das Volk, lingua thiudisca, die Volks-
sprache), und gerade wie bei uns die Redensart „deutsch spre-
chen" so viel heißt, als für Jedermann verständlich sprechen,
so spricht auch der Ungar „magyarul", d. h. deutlich, offen
und klar, und bei ihm heißt verdeutliche» geradezu magyaräzni
und die Erklärung, die Glosse, magyarazat.
Der vornehme Ungar aber hat früher seine Sprache nie
geliebt und gehegt, sondern er sprach mit Vorliebe lateinisch
und deutsch. Uud wahrscheinlich wäre diese Sprache bald
des Hungertodes gestorben, wenn man nicht von Außen her
die Nation daran erinnert hätte, daß sie in ihrer Sprache
mehr als das Sprachidiom, daß sie zugleich die Nationalität
und ihre staatlichen Rechte in der Sprache zu verteidigen
habe. Joseph II. hat die ersten Magyaronen gemacht, indem
er diese Nation als solche unterdrücken wollte, die ersten Ma-
gyaronen wenigstens, von denen wir Notiz genommen haben.
Der Panflavismns gab Anlaß, daß die ungarische Akademie
geschaffen wurde, und brachte im Jahr 1839 die magyari-
sche Sprache auf ihren Thron als Landessprache. Und was
bis dahin noch nicht gelungen war, das hat das sogenannte
Bach'sche System vollendet; es hat die ungarische Sprache
zur ganz überwiegenden Herrschast gebracht, weil es sie
unterdrücken wollte. Noch ein solcher Sieg der Centra-
listen und die ungarische Sprache und Nationalität steht blü-
hender da als je. Ungarn gleicht einem Wallnußbaume;
man muß es schinden und schlagen, um die Blüthen für den
kommenden Frühling hervorzurufen.
Stephan Szechenyi gab den Anstoß zur Errichtung einer
ungarischen Akademie, welche hauptsächlich der uatio-
nalen Wissenschaft dienen sollte. Eine eigene Abtheilung
Globus XI. Nr. 11.
ungarische Sprache. 337
gesehen; ich mußte sie bewundern. Als sie so vor mir saßen
und ein Stückchen Holz zerkaneten, das ihnen zum Reinigen
der Zähne dient, und als sie mich so recht ansahen, fuhr mir
der Gedanke durch den Kopf: Denken diese Cannibalen wohl
jetzt daran, wie ein Stück gerösteten Consulfleisches munden
würde und ob ein Consnl gekocht oder kalt aufgeschnitten bes-
ser schmecken werde? Als ich abfuhr, beschenkte mich Seine
Majestät mit einer Masse gewaltig großer Aamswurzelu,
zwei Ziegen nnd einem Huhne."
sche Sprache.
Heinrich Ditz.
harte zum Zweck die Hebung und Reinigung der ungarischen
Sprache. Wir staunen, wenn wir hören, wie dieselbe da-
bei verfahren konnte. Sie konnte ganz eingebürgerte Wör-
ter absetzen, wenn ihr dieselben nicht bezeichnend genug schie-
ueu oder wenn sie einer fremden Sprache entlehnt waren.
Und an ihre Stelle setzte sie neue, rein magyarische Bezeich-
nungen, welche sie zu diesem Zwecke besonders erfinden mußte.
Sie gab von Zeit zu Zeit eiu Verzeichuiß der abgedankten
und der neu creirteu Wörter aus, welches sie Hobelei (gya-
lulat) nannte. Bei uns hat sich schon mehr als Einer
durch ungeschickten Reinigungseifer lächerlich gemacht, ja es
ist selten Jemand unangetastet durchgekommen, der es wagte,
ein fremdes Wort dnrch ein einheimisches zu ersetzen. Der-
gleichen hatte man in Ungarn nicht zu befürchten; dort wurde
man vielmehr geehrt, uud die Schriftsteller wetteiferten darin
die neuen Wörter am ehesten und meisten zu gebrauchen und
die alten am gründlichsten zu beseitigen. Früher hieß Ap o-
theke in der gewöhnlichen Sprache patica; das Wort wurde
profcribirt, weil es noch zu griechisch war und man setzte
gyögyszertar (Heilmittelniederlage) an dessen Stelle.
Jetzt ist das Wort so gebräuchlich, daß ich mich nicht er-
innere, das alte Wort auf irgend einem Schilde mehr ge-
lefen oder im Gespräche gehört zu haben.
Das ungarische Volk pflegte seiue Sprache, um in der-
selben seine Nationalität und seine Rechte, die so sehr gefähr-
det waren, zu vertheidigeu; daher die Eiumüthigkeit und
daher auch der seltene Erfolg, dem wir unsere Bewunderung
nicht versagen können.
Heute nimmt die magyarische Sprache eine ganz andere
Stellung ein als vor dreißig und mehr Jahren. Seit 1839
war sie bis 1848 officielle Landessprache und sie behauptet
diesen Platz wieder seit 1861, nachdem sie durch das „Bach-
sche System" dreizehn Jahre lang beeinträchtigt war. Sie
hat sich eine eigene Literatur geschaffen, da der Ungar nun
fast ausschließlich in seiner Sprache schreibt. Und wenn auf
ungarischer Seite manche Überschätzung dieser Literatur statt-
findet, so ist das nur die notwendige Reaction gegen die
völlige Mißachtung und Vernachlässigung, die man ihr von
anderer Seite angedeihen ließ. Während noch vor dreißig
Jahren in Pesth kaum eiu ungarisches Wort gehört worden
ist, hält sich heute das Uugarische mit dem Deutschen im
Gleichgewicht auf den Straßen und in den öffentlichen Lo-
calen, überwiegt dagegen entschieden in dem Familienkreise.
Die deutscheu Familien sogar schicken ihre Kinder in die un-
43
338 Heinrich Ditz: Die
gcirische Schule und halten ungarische Dienstboten, um ihre
Nachkommen zu makellosen Ungarn zu erziehen*). Die deut-
sche Sprache ist noch die Handelssprache, und da der Welt-
verkehr durch die Eisenbahnen und Dampfschifffahrt sich das
ganze Land mehr und mehr erschlossen hat, so hört man auch
jetzt auf dem reinsten ungarischen Dorfe wohl einen deutscheu
Discurs, und mancher Ungar der Ebene lernt jetzt Deutsch,
was er früher nicht uöthig hatte; allein der Unterschied ist
der, daß man früher die deutsche Sprache lernte, um die uu-
garische zu vernachlässigen, jetzt dagegen ist und bleibt sie
eine fremde Sprache, welche man unnöthiger Weise nicht
sprechen mag.
Indem wir im Folgenden die ungarische Sprache zum
Gegenstand einiger Bemerkungen machen, verwahren wir uns
zuvor aufs Ausdrücklichste gegen jeden wissenschaftlichen An-
sprnch. Wir geben das Folgende nur als Laie, nicht als
Linguist, aber wir glauben dennoch, daß wir Manchem eini-
ges Nene, vielleicht auch Interessante aus dieser eigentüm-
lichen asiatischen Sprache bieten dürften.
Diese ungarische Sprache gehört zu der siuuisch-ugrischeu
Spracheufamilie, aus welcher in Europa noch die Finnen,
die Tscheremissen und Tschuwaschen au der Wolga und, wenn
wir nicht irren, auch die Türken ihre Sprache haben. Sie
ist eine Agglntinationssprache und hängt anstatt unserer En-
düngen Affixa an den Wortstamm.
Bei uns Westeuropäern erfreuen sich die Sprachen der
östlichen Völker überhaupt keiner großen Beliebtheit^), und
die ungarische Sprache theilt dieses Loos vielleicht in noch
höherem Grade als die slavischen. Es ist wahr, die ungari-
sche Sprache ist sehr hart, die harten Buchstaben t, k und p
überwiegen zu sehr; sie ist auch sehr eintönig, wenigstens,
wenn man so sagen darf, für das Auge, indem ein einfaches
Wort entweder nur aus weichen oder nur aus harten Vo-
calen bestehen kann. Der Typus eines harten Wortes ist
ungefähr rakatakatak, der eines weichen etwa räkätäkätäk.
Weil egesz (heil, solidus) ein weiches Wort ist, fo heißt
Gesundheit egeszseg; dagegen bildet barat (Freund), barät-
sag, weil a ein harter Laut ist. Aus gleichem Grunde heißt
ungesund egeszsegtelen, freundlos aber baratsagtalan,
und wenn man sich einen rechten Ohrenschmerz bereiten will,
dann bilde man von diesen beiden Adjectiven den Accusativ
Pluralis im Superlativ, so erhält man die Wortmonstra:
legegesz-segtelenebbeket und legbarat-sägtalanabbakat!
Wer unser so weiches „Ewig lieb' ich dich" ius Ungari-
sche übersetzt und mit Schrecken als das Resultat seiner Mühe
findet, daß er zu wählen hat zwischen örökre szeretlek
(sprich: örökrä szärätläkh) und örökre szeretek tegedet
(szärätäkh tägädät), der möchte schier an der Möglichkeit,
wenigstens aber an der Poesie einer ungarischen Liebe ver-
zweifeln. Uud wenn man dann einen: echten Ungarn vor-
hält, daß dieses doch fürchterlich laute, uud wenn er uns dann
staunend erwidert: teremtette (tärämtättä), az egy alta-
laban nem ret tenetesen (näm rättänätäschän) hangzik,
„das lautet keineswegs fürchterlich," so hat er uns nicht nur
uicht zu seiner Ansicht bekehrt, sondern durch seine schmet-
ternde Antwort uns in der nnsrigen um Vieles bestärkt.
Und dennoch kann man mit Wärme uud Ueberzeuguug für
*) Wir achten die Magyaren sehr hoch, aber wir achten nicht jene
Zwitterlinge, die von Haus aus einer andern Nationalität angehören,
diese verleugnen, sich in Magyaronen travestiren und sogar den ehrli-
chen Namen ihrer Aeltern magyarisiren. A.
") Das erklärt sich sehr leicht. Die Magyaren sind ein an Zahl ge-
ringer Volksstamm, und da derselbe keine große Culturbewegung hatte
und sich lediglich receptiv verhielt, so lag gar kein Beweggrund vor,
sich (von einigen Gelehrten abgesehen) um eine Sprache zu kümmern,
die man im Magyarenlande selber zurücksetzte. A.
ngarische Sprache.
die ungarische Sprache in die Schranken treten, um ihre
große Schönheit zu vertheidigeu. Anhänger aber wird ein
solcher Vertheidiger nur unter Jenen sinden, welche uicht
bloß diese Sprache gelesen, sondern dieselbe auch häufig aus
dem Munde der Einheimischen haben sprechen hören. Nur
ein geborner Ungar versteht die richtige Accentnation und den
rechten Rhythmus zu geben und es ist kaum glanblich, wie
ganz anders dann die Wörter dem Ohre vorkommen, als sie
unserem Auge erschienen sind. Wie es bei den Finnen der
Fall sein soll, so spricht auch der Magyar seine Sprache um
eine Octav höher als wir; dadurch macht er sein Sprechen zn
einer Art recitativen Gesanges und wenn er dazu die scharfe
Acceutuatiou und den Rhythmus des Anapäst oder des Dac-
tylus hineinlegt, so hat sich all der Schrecken verloren, den
unser Auge iu der endlosen gleichtöuigen Silbenreihe sehen
wollte. Die scheinbare Monotonie ist zn einem gegliederten
Silbentanz geworden, zn einer türkischen Musik mit Tam-
bonrinbegleituug, mit der wir uns sehr bald befreunden.
Bei uns gilt die italienische Sprache allgemein für eine
schöne. Für das Auge nimmt sie sich mich in der That schön
ans; sie zeigt eine Fülle von Vocalen und eine schöne Ver-
theilnng ihrer Cousonanten. Hört man sie dagegen sprechen,
so verschwindet die Schönheit und für das Ohr bleibt nichts
als ein endloses Gezisch und das Gefühl, der Sprechende
müsse eine lahme Zunge haben. Wörter wie ceci e ciceri,
cicisbeo, tiraturacciuolo kennt man im Ungarischen nicht.
Der Italiener hat sie für das Auge schöu genug präparirt;
wollte man aber denselben Laut auf ungarische Weise schrei-
ben, so würde alle Welt Zeter schreien über die Sprache,
welche ein Wort wie csicsiszbeo in ihrem Schooße dulden
könne. Uud die Schlaffheit und Laxheit, mit der z. B. der
Italiener das sexaginta der Lateiner zu seinem sessanta,
das septem zu seinem sette, das octo zu seinem otto so
zn sagen hat umkommen lasse», ist jedenfalls widerlicher als
die Härten in der ungarischen Sprache, und wer diese Schlaff-
heit und Schwäche Weichheit taufen will, der sollte auch jene
Härte Kraft und kerngesunde Natur nennen.
Eine Sprache ist um so entwickelter, je mehr man iu:
Stande ist, darin seine Gedanken durch das Wort au sich, nicht
durch die Betonung zu geben. Das Letztere ist z.B. ganz und
gar bei den Thieren der Fall, welche ja nur einen oder wenige
Laute, aber davon hundert verschiedene Betonungen und Va-
riationen besitzen. Die Sprache der unentwickelten Völker soll
an diese Thiersprache erinnern. In der Cochinchinasprache
hat das Wort da! nicht weniger als dreinndzwanzig ver-
schiedene Bedeutungen, die man nur durch verschiedene Be-
tonung auseinanderhält. „Drei Damen geben dem Günst-
linge des Fürsten eine Ohrfeige" heißt in derselben Sprache:
ba bä bä ba! — Wenn auch die ungarische Sprache bei
weitem nicht an solcher Unbeholfenheit leidet, so finden wir
doch bald, daß sie jenen Sprachen näher steht, als die West-
europäischen. Wir fragen und antworten: Sind Sie ein
Ungar? — Jawohl. — Auf echt Ungarisch übersetzt erhal-
ten wir: Magyar? — Magyar. — Der Ton, nicht das
Wort muß hier reden. Es ist zwar auch möglich, ganz
Wort für Wort zu sagen wie im Deutschen, allein das wider-
strebt noch dem Geiste der Sprache, wenn auch nicht der
Grammatik.
Diejenigen Wörter, welche man am häufigsten gebraucht,
liegen unseren Gedanken am nächsten, und wir können sie
deshalb am leichtesten ergänzen. Eine Sprache, welche zu-
erst das Nöthigste zum Austausch der Gedanken bilden muß,
welche Worter schafft zur Bezeichnung solcher Begriffe, die
unseren Gedanken am fernsten liegen, und die deshalb nicht
durch eine Betonung und dergleichen können ersetzt werden,
eine solche auf niederer Ausbildungsstufe stehende Sprache
Wichtige geographische E
wird, so scheint es uns, für diejenigen Begriffe, welche immer
wiederkehren und deshalb unseren Gedanken nahe liegen, erst
später eigene Wörter ausbilden. Diejenigen Zeitwörter,
welche die gebräuchlichsten sind, stehen fast in den Gramma-
tiken aller Sprachen als unregelmäßige verzeichnet — ob
nicht vielleicht ebeu wegen ihres jüngern Taufscheins? —
Die ungarische Sprache ist aber noch nicht einmal so weit,
daß sie für alle diese Verbalbegriffe schon Zeitwörter, wenn
auch unregelmäßige, besäße. Das Zeitwort „Sein" freilich
hat sie, natürlich unregelmäßig, aber sie weiß es noch nicht
zn gebrauchen; im einfachen Satze steht es nur da, wo das
Prädicat iudecliuabel ist. Vielleicht könnte ein Philologe
über das antedilnvianische nincs, sincs n. s. w. (ist nicht,
ist auch nicht) noch manche sprachphilosophische These aus-
stelleu. Das Wort „Haben" fehlt dem Ungarn gänzlich;
Deckungen in Südamerika. 339
er muß es umschreiben und sagt: „Mir ist mein Haus",
d. h. ich habe ein Hans. Für „Lassen" und „Können"
hat er gleichfalls kein Wort, nur eine Silbe, die er an das
Hanptzeitwort vor die Endung fetzt. Z.B. Irok ich schreibe;
irtatok ich lasse schreiben; irhatok ich kann schreiben;
irhattatok ich kann schreiben lassen. Auch der Genitiv ist
dem Ungarischen unbekannt.
Der Ungar setzt ferner da den Plural nicht, wo man
ohnehin am Beiwort schon sehen kann, daß eine Mehrheit
gemeint ist; er sagt deshalb nicht: Viele Gänse, zehn Hän-
ser, sondern: Viel Gans, zehn Hans; denn die Wörter
„viel" und „zehn" überzeugen den Leser oder Hörer ohnehin
schon vou der Pluralität der Gänse und Häuser. Der Plu-
ral ist im Ungarischen noch ein thenrer Artikel, dessen man
sich nur bedieut, wenn es sein muß.
Wichtige geographische Lv
Die Leser des „Globus" werden sich wohl erinnern, daß
wir seit Jahren den Forschungsreisen in Südamerika fort-
während unsere Aufmerksamkeit zugewandt haben. Dort blei-
beu noch wichtige Probleme zu lösen; wir sind mit den
hydrographischen Verhältnissen einer Region, die sechs-
mal größer ist als Deutschland, in vieler Beziehung noch in:
Unklaren, namentlich über den obern Lans und die Quellen
sehr bedeutender Zuflüsse des Amazonenstroms. Insbesondere
war man bis in die jüngste Zeit nicht gewiß darüber, ob der
Madre de Dios oder Mano, wie die Iudiauer ihn neu-
nen, ein und derselbe Fluß mit dem Purus sei oder nicht.
Der erstere entsteht im östlichen Peru aus einer Anzahl
von Berggewässern, die dem Gebirgsknoten von Vilcaüota
entströmen, in den Thälern von Paucartambo, d. h. dem
Rasthause der Blumenwiese. Vom Gipfel der Cor-
dillere vou Acobamba sieht man, wie der Strom, einer uuge-
heuern Schlange vergleichbar, sich durch eine weitausgedehnte,
bewaldete Ebene windet. Mau meint, er sei jener Amaru
mayu, aus welchem die Krieger des Juka Uupauqui hinab-
fuhren, um die wilden Jndianerstämme in der jetzt bolivia-
nischen Landschaft Moxos zu unterwerfen.
Bildete er nun den obern Lauf des Purus? Darüber
wußte man sowohl in Peru wie in Bolivia und Brasilien
nichts. Dieser Fluß mündet in den Amazonas, nach B ates
unter etwa 61° w. L., zwischen 3 und 4° s.Br., mit vier Ar-
men *). Theils wußte, theils vermuthete man, daß er von
dort stromauf bis auf etwa 30 deutsche Meilen von der wich-
tigen peruanischen Stadt Cnzco schiffbar sei und keine Strom-
schnellen oder andere die Schifffahrt hemmenden Hindernisse
habe. Man meinte, er werde eben deshalb eine wichtige Fahr-
bahn werden, durch welche viele productenreiche Landschaften
des Innern in bequeme Verbindung mit dem Amazonenstrom,
also mit dem Atlantischen Ocean in Verbindung treten könu-
teu. Auch neuere Reisende, z.B. Markham**), waren fest
überzeugt, daß der Madre de Dios nach feiner Vereinigung
mit dem Hnambari den Purus bilden. „Madre de Dios,
Marcapata und Anambari sind die drei großen Quellen des
Purus und die Nebenflüsse desselben bewässern die Provinz
*) Nach der Map of the Amazons from its mouth to the
frontier ofPeru; in dem schon oft von uns angeführten und benutzten
Werke: The Naturalist on the river Amazons. London 1864.
**) Zwei Reisen in Peru, von Clements N. Markham;
deutsch, Leipzig 1865. S. 239 ff.
»eckungen in Südamerika,
Caravaya", die zum Theil aus kalten Hochebenen, zum
Theil aus bewaldeten Thälern am Ostabhange des Gebirges
besteht; sie liegt östlich von Cuzco.
~ Vor acht Jahren faßte ein junger Franzose, Ernst Gran-
didier, deu Plan, eine Expedition auf dem Madre de Dios
von da au, wo derselbe für Nachen schiffbar wird, zu unter-
nehmen; er glaubte auf demselben bis in den Purus gelangen
zu können und aus diesem bis in den Amazonenstrom. Als
er in der Nähe der Stadt Paucartambo alle nöthigen Vor-
kehrungen getroffen hatte und eben feine Fahrt beginnen
wollte, brachen unter seinen indianischen Begleitern die Blat-
tern aus, und die Expedition scheiterte. Ich habe diese Ex-
pedition und die geographischen Fragen, welche damit znsam-
menhängen, eingehend erörtert („Globus" VI, S. 198 ff.
1864).
Es scheint als ob Grandidier's Buch *) in Rio de Ja-
neiro beachtet worden sei. Von der brasilianischen Regie-
rung erhielt Martino da Silva Eoutinh o den Auftrag, den
Purus von der Mündung ans fo weit hinaus als irgend
möglich zu untersuchen; er fuhr 1863 mit einem Dampfer
denselben 238 portugiesische Meilen aufwärts und untersuchte
auch einen wichtigen Nebenfluß desselben, den Hinrna. Herr-
Karl von Koseritz, damals in Rio Grande und nun seit
einigen Jahren in Porto Alegre wohnhast, meldete mir das
Ergebniß von Coutinho's Fahrt in einem Schreiben vom
15. November, und durch diesen Brief kam auch die erste
Kunde von der Absicht der brasilianischen Regierung, den
Amazonas für alle Handelsflaggen zu öffnen, nach Europa.
(Siehe „Globus" V, S. 287.) Coutinho's Fahrt veran-
laßt dann den englischen Reisenden W. Chandleß, den
Purus bis zur Quelle zu erforschen.
Ich habe das Obige vorausgeschickt, um den Lesern das
Verständniß der nachstehenden Mittheilungen zu erleichtern;
immerhin wird es aber nöthig sein, irgend eine Karte von
Südamerika zur Hand zu nehmen.
Chandleß untersuchte auf einer zweiten Reise auch den
Aquiry, einen wichtigen Nebenfluß des Purus, und erhielt
als Anerkennung von Seiten der Geographischen Gesellschaft
in London die goldene Preismedaille. Eine der jüngsten
Versammluugeu dieses Vereins gehört zn den interessantesten,
*) Voyage dans l'Amerique du Sud, Perou et Bolivie. Par
E. Gran didier, Paris 1861.
43*
340 Wichtige geographische E
welche je von derselben gehalten worden sind. Zuerst gab
Chandleß im Zusammenhang eine ttebersicht seiner Forschun-
gen. Da wir bisher im „Globus" nur vereinzelte Mitthei-
luugen darüber zu bringen im Stande waren, so wird es
jetzt angemessen sein, den ganzen Zusammenhang zn schildern.
Die erste Erforschung fällt in die Jahre 1364 und 1865,
die zweite in 1865 und 1866; auf der letztern handelte es
sich besonders darum, den Aqniry zu erforschen. Von der
Mündung an ist der Pnrus etwa 50 Miles aufwärts ein
schöner, breiter Strom, theilweife so breit, daß er einen Wasser-
Horizont bildet. Dann aber beginnen die vielen Windungen,
welche ihn so ungemein lang machen. Man wußte früher
uichts von denselben und stellte irrige Vermuthungen aus;
so verlegte z. B. Graf Casteluau eiueu der Zuflüsse unter
12° füdl. Breite, also mehr als 8° vom Amazonas entfernt,
während sich durch Chandleß herausgestellt hat, daß diese
Mündung unter 7° 48', oder nur 4° vom Amazonas ent-
fernt liegt.
Am Pnrus findet man nur sehr wenige Wohnorte; ein
Brasilianer haust 250 Miles von der Mündung, uud hat dort
eine Pflanzung von Kantschukbäumen angelegt. Er klagte,
daß die Affen alle Samenkörner in unreifem Zustande ab-
fressen, sv daß er dergleichen nur mit Mühe erhalten konnte.
DieJndianerstümmesind, von unten nach oben, dieMuras,
welche spärlich und zerstreut auf einer Strecke von 250 bis
300 Miles wohnen; dann die Pnrn purus oder Pam-
marys, die allemal dicht am Ufer Hansen; sie sind nicht
kriegerisch. Das sind dagegen in hohem Grade die Hypn-
rinas, deren einzelne Stämme mit einander unaufhörlich
in Fehde liegen; sie haben eine Strecke von etwa 300 Miles
inne, die Krümmungen nicht mitgerechnet. Die am weitesten
stromabwärts wohnenden kommen dann und wann in Be-
rührnng mit weißen Menschen, die übrigen sind vollkommen
wild. Dann folgt eine Strecke von etwa 100 Miles, auf
welcher fast gar keine Menschen wohnen; nachher treten die
Manentenerys auf, die schon eine Art von Civilisation
haben; sie pflanzen Baumwolle, welche sie auch verspinnen und
weben; als sie mit dem weißen Manne zusammentrafen, zeigten
sie nicht, wie andere Indianer, Furcht vor demselben, sondern
kamen ihm halbwegs entgegen. Es scheint als ob sie über-
land mitSarayacu, der unseren Lesern wohlbekannten Mis-
sion am Ucayali, Verkehr unterhalten; sie hatten ihre eisernen
Gerätschaften von den Peruanern am Ucayali bekommen,
aber nicht direct, fondern durch Vermittlung anderer Stämme.
Chandleß erfuhr, daß zwischen dem Purus und dem Ucayali
ein Tragplatz sei, über welchen man einen Nachen binnen
zwei Tagen bringen könne; wenn man dann den Ucayali hin-
abschiffe, erreiche man nach zehn Tagen Sarayacn.
(— Diese Erzählung ist gewiß falsch. Wenn man auf
unsere Karten blickt, so wenig genau auch die Einzelnheiten
auf denselben sein mögen, so findet man doch sofort, daß ein
Tragplatz von zwei Tagereisen zwischen jenen beiden Flüssen,
die durch einen Raum von vier oder fünf und mehr Längen-
gradeu getrennt sind, ein Ding der Unmöglichkeit sei;
auch sinde ich in dem vor mir liegenden Bericht über die
Sitzung hinzugefügt.- Nr. Chandless was unable to ve-
rify the fact. —)
Oberhalb der Manentenerys, die nicht nackt waren, fon-
dern bekleidet gingen, findet man die Canamarys; zu die-
seu war nie zuvor ein Reisender vom Amazonenstrom her
gekommen. Sie benahmen sich ehrlich und freundlich, leben
auch mit ihren Nachbaren im Frieden. Dann wieder eine
weite unbewohnte Strecke bis in die Nähe der Quellgegend,
wo Chandleß Indianer fand, welche nie mit civilisirten Len-
ten in unmittelbarer oder auch nur mittelbarer Verbindung
gestanden hatten, kein Eisen kannten und nur Steingeräth-
Deckungen in Südamerika.
sch aften hatten, von denen der Reisende mehrere nach Europa
mitgebracht hat.
Der Purus fließt beinahe auf seiner ganzenLänge durch
eine Alluvialebene und hin und wieder zwischen Thonklippen,
dergleichen man auch am Amazonas sieht. Der Aqniry
seinerseits strömt durch das, was die Portugiesen als terra
firma bezeichnen, das aber auch, wie die Region am Ama-
zonas und Purus, dicht mit Wald bestanden ist. An diesem
Flusse fand der Reisende fossile Knochen; Agassiz, der sie
gesehen und untersucht hat, hält sie für Knochen vom Me-
sosanrus. Die Thiere am Aqniry waren sehr zahm, die
Wasserschweine (Capibaras) ungemein zahlreich; am Pnrus
kamen der grüne Ibis und der Fasanenreiher dem Fahrzeuge
bis auf ein paar Schritt nahe. Der Hokko tritt in ganzen
man kann wohl fageu Herden auf.
Am untern Laufe des Aquiry wohnen die Hypuriuas,
weiter aufwärts die Capetschenes, welche keine Nachen
haben, sondern Flöße aus Gras uud Binsen verfertigen. Die
ersten 300 Miles waren ohne alle Schwierigkeit zu befahren,
selbst bei niedrigem Wasserstande, und Chandleß glaubt, daß
Dampfer bis zum 11. Grad südlicher Breite gelangen kön-
nen. Diese Fahrbahn kann künftig einmal von Wichtigkeit
für die Peruanische Provinz Caravaya werden; der Aquiry
scheint geradeswegsvom Madre deDios herzukommen, „war
aber nicht so mächtig, daß man annehmen könnte, er sei jener
unnahbare Fluß". Oberhalb des 11. Grades südlicher Breite
macht er eine Biegung von Westen her und wird breiter
und seichter, so daß man nun den Nachen oftmals über Un-
tiefen ziehen mußte. Endlich war mit dem Fahrzeuge nicht
mehr weiter zu kommen, weil der Fluß durch ein wahres
Netzwerk von Baumstämmen völlig versperrt war. Chandleß
mußte sein größeres Fahrzeug zurücklassen, er fuhr aber auf
einer Montaria, d. h. einem kleinern Kahne, noch eine Strecke
weiter aufwärts und kehrte dann um, weil uoch trockene Iah-
reszeit und das Wasser zu seicht war.
Da wo unter 11 Grad südlicher Breite der Aquiry von
Osten her eine Biegnng nach Norden macht, ging Chandleß
landein in südlicher Richtung, um wo möglich irgend einen
Fluß zn erreichen, welcher dem Becken des Madre de Dios
angehört. Zunächst war auf einer Strecke von 4 Miles der
Wald noch derart, daß man in demselben leidlich fortkom-
men konnte, dann wurde er aber undurchdringlich und man
mußte mit dem Beil einen Pfad bahnen. Nach Verlauf einer
Woche kehrte der Reifende um, weil die Lebensmittel ihm
ausgingen. Etwa 4 oder 5 Miles vom Aquiry kam er über
eine Kette niedriger Anhöhen und jenseits derselben an eine
Reihenfolge kleiner Gewässer, die ihre Richtung nach Osten
nahmen. Chandleß schloß seinen Vortrag, nachdem er seine
Meinung dahin ausgesprochen hatte, daß der Madre de
Dios in den Beni falle etwa zwischen 11 und 111/2
Grad südlicher Breite.
An diese wichtigen Mitteilungen schloß sich ein anderer
eben so interessanter Bortrag, dessen Inhalt nicht minder be-
deutend war, nämlich das „Tagebuch einer Expedition
zur Erforschung der Flußläufe des Gavan und des
Ayapata in der Peruanischen Provinz Caravaya,
von Don Antonio Raymondi"*).
*) In meinem oben erwähnten Aufsatz über den Madre de Dios
und Purus („Globus" VI, S. 199) schrieb ich: „Es ist allerdings
bekannt, daß alle Karten über Peru sehr ungenau sind , und Herr
Richard von Dürrfeld aus Dresden, der eine Reihe von Jahren
dort lebte und im Mai 1864 zurückkam, hat mir in dieser Bezie-
hung merkwürdige Beispiele erzählt. Er ist aber der festen Ueber-
zeuguug, daß wir durch Raymondi's unablässige Bemü-
Hungen, die schon seit sieben Jahren ohne Unterbrechung fortgesetzt
worden sind, über viele bisher unsichere Punkte genaue
uud zuverlässige Angaben erhalten werden." Der Text
Wichtige geographische Ei
Die Reise fällt in das Jahr 1864. Es kam darauf an,
den Lauf beider Flüsse von ihrem Ursprung in derCordillere
bis zu ihrer Vereinigung mit dem An amb ar i zu erforschen.
Die Provinz Caravaya wird von N.N.W, nach S.S.O.
von der großen Kette der östlichen Cordillere durchzogen;
ein schmaler Streifen an der Ostgrenze besteht aus schnee-
bedeckten Bergen und Ketten und einem hohen Tafellande,
das nach Süden hin abdacht. Der übrige Theil der Pro-
vinz liegt ostwärts von den Andes und besteht aus einer Reihe
von Bergketten, zwischen welchen Flüsse lausen; diese Ketten
sind Abzweigungen der großen Hauptkette und verlaufen all-
mälig in die große Ebene des Amazonasgebietes. Sie
sind bewaldet und hier wächst die beste Sorte der Fieberrinde
(— Chiuchoua, welche auch Markham von dort holte, um
sie nach Ostindien zu verpflanzen —).
Man hatte bisher in Peru allgemein, angenommen, daß
sowohl die Flüsse der Provinz Caravaya wie jene, welche
weiter nach Nordwesten hin von den Andes von Cuzco kom-
men, als Quellwasser des Purus zu betrachten seien. Diese
Meinung war irrig; Chandleß hat, wie oben gezeigt wurde,
ermittelt, daß die Quellen des Purus und des Aqniry nicht
in derCordillere, sondern von dieser entfernt, in Wäldern liegen.
Raymondi's Mittheilungen ergeben nun auch ein wichtiges
Resultat: jene Flüsse, die aus Caravaya und aus
deuAudes vonCnzco kommen, strömen in denBeni,
einen der Hauptzuflüsse des Mamore, also in den
Madeira.
Diese Entdeckung Verdauken wir dem Don Fanstino
Maldonado (— ich habe desselben schon früher erwähnt,
„Globus" VI, S. 202; er hatte vorher denUcayali erforscht
und war Herrn Grandidier mit Rath und That behülflich —),
der aus Tarapoto gebürtig war. Am 5. Februar 1861
fuhr er in einem Nachen, nur von sieben Männern begleitet,
den Tono hinab, von der Stelle an, wo derselbe sich mit
dem Pina-pina vereinigt. Beide fließen, östlich von Cuzco,
durch die Wälder von Paucartambo uud bilden den Ma-
dre de Dios oder Amaru mayu. Dieser nun galt (wie
schon weiter oben bemerkt wurde) uach seiner Verbindung mit
dem Ariambari, der aus Caravaya kommt, für den Haupt-
arm des Purus. Maldonado fuhr den Madre de Dios hinab,
kam an der Einmünduug mancher Nebenflüsse vorüber, hielt
sich zumeist am rechten Ufer und erreichte dann eine Strom-
schnelle, an welcher er seinen Nachen ausbesserte. Bald nach-
her gelangte er dann in den Beni-Mamors nnd fand dort
die ganz wilden Caripnna-Jndianer. Am 18. schlug
das Canoe in einer Stromschnelle, dem sogenannten Höllen-
kessel (calderaö do infierno), um, und dabei ertrank Mal-
donado sammt dreien seiner Gefährten. Die vier Ueber-
lebenden fuhren den Mamors nnd weiter den gan-
zen Madeira hinab bis nach Borba und gelangten
dann in den Amazonenstrom. Von den brasilianischen
Behörden in Barra do Rio Negro (Manaos) erhielten sie
ein Documeut, welches bezeugte, daß sie auf dem Madeira
herabgekommen feien, und gingen dann nach ihrem Geburts-
orte Tarapoto zurück, der am Huallaga liegt; sie fuhren näm-
lich im Anfang 1862 den Ucayali aufwärts, gingen nach
Cuzco uud wiesen dort ihr Documeut vor. Maldonado
kannte die Namen der Flüsse nicht, ans welchen er in feinem
kleinen Nachen fuhr; wir wissen aber durch den nordameri-
kanischen Lieutenant Gibbon, daß der Beni der einzige große
Zufluß des Madeira auf derjenigen Strecke seines Laufes ist,
oben beweist, daß diese Ansicht sich bestätigt hat. Herr Raymondi
ist, wie ich jetzt von Herrn von Dürrfeld, der mit ihm befreundet
ist, erfahren, ein Italiener aus Mailand und Professor an der Uni-
versität Lima.
Deckungen in Südamerika. 341
wo man Caripnnas trifft. Raymondi folgert also, daß der
vereinigte Anambari - Madre de Dios in den Beni fließe
uud daß Maldonado von diesem aus in den Madeira gelangt
sei. Ohnehin stimmt der Bericht jener vier Männer über
die Mündung des Beni mit denen des Herrn Palacios
überein, welcher einige Jahre früher im Auftrage der bolivia-
uifchen Regierung einen Theil des Beni untersucht hatte.
Also: die aus den cnzceüischen Andes und aus Ca-
ravaya kommenden Flüsse sind die Quellgewässer
nicht des Purus, sondern des Beni.
Raymondi nun erforschte die beiden Flüsse von Caravaya,
welche am weitesten nach Westen liegen, den San Gavan
und den Ayapata, von ihren Quellen in den Andes bis zu
ihrer Vereinigung mit dem Auambari, sodann den Theil
des letztern, welcher zwischen den Mündungen jener beiden
Flüsse liegt.
Die Dörfer von Caravaya liegen da, wo die Waldregion
beginnt, in tiefen Schluchten, welche von Bächen durchströmt
werden, in 6000 bis 8000 Fuß Meereshöhe. Raymondi
besuchte die Dörfer Jtnata, Ayapata und Ollachea;
er fand das Klima recht angenehm aber manchmal nebelig.
In den Morgenstunden sind die höheren Gegenden von Ne?bel
frei, während weiter unterhalb die warmen Wälder mit einem
dichten Schleier überzogen sind, der, von oben herab gesehen,
einem Oceane gleicht. Dann werden die oberen Regionen
von der Sonne beschienen, werden warm, ein Luftstrom zieht
von den Wäldern nach aufwärts und treibt dichte Nebelmassen
vor sich her.
Nachdem Raymondi alle Quellflüsse des Ayapata und
San Gavan untersucht hatte, zog er in den Thälern von
Ollachea und San Gavan hinab. Der Rio San Gavan
strömt durch eine so enge Schlucht, daß an manchen Stellen
zwischen Fels nnd Wasser nicht einmal für einen Pfad Raum
ist. Zuletzt war die Schlucht nicht weiter zu passireu und
Raymondi mußte aus einem andern Wege über waldbedeckte
Berge zunl San Gavan zurückkehren. Die Landschaft ist
in der Gegend, wo die Wälder beginnen, ungemein majestä-
tisch und großartig. Das ungeheure grüne Panorama zeigt
an manchen Stellen die wie Silber schimmernden Flußläufe,
vorausgesetzt, daß der Nebel verschwunden ist. Der Wan-
derer stieg hinab in diese mit Nebel bedeckten Wälder bis
zum Landgute San Jose de Bellavista am San Gavan.
Dort befindet sich der äußerste Vorposten der Civilisation,
wo ein unternehmender Peruaner Zucker, Ananas, Kaffee,
Kakao uud Mais bauet; auch brennt er Zuckerbranntwein.
Das Gut liegt etwa in 2400 Fuß Meereshöhe, hart au der
Grenze der wilden Jndiauerstämme, welche man mit dem Ge-
sammtnamen Chunchos bezeichnet. (— Es giebt keinen
einzelnen Stamm, der so hieße; man findet aber die irrige
Bezeichnung in vielen Büchern, deshalb mache ich hier daraus
aufmerksam. —)
Am 7. September verließ Raymondi San Jose und ging,
auf vierzehn Tage mit Lebensmitteln versehen und von eini-
geu wenigen Indianern begleitet, in die zuvor von keinenr
weißen Manne betretenen Wälder. Die Wanderung war
ganz ungemein beschwerlich; man mußte mit Beilen und Hau-
Messern einen Pfad bahnen; an Seilen, die aus Lianen be-
standen, steile Felsen auf- und abklettern und konnte an mehr
als einem Tage kaum eine spanische Meile vorwärts kommen.
Aber Raymondi gelangte doch an den Hnambari da, wo
derselbe 200 Schritt breit war; er liegt dort, wo der San
Gavan in ihn mündet, 1570 Fuß über dem Meer. Aller
Wahrscheinlichkeit uach ist er eine kleine Strecke weiter unter-
halb bereits schiffbar, denn die Hügel werden niedriger nnd
fallen bald ganz in die Ebene ab. Zwischen jenem Punkt
und der Einmündung des Madre de Dioö beträgt das Ge-
342 Wichtige geographische Eni!
fäll weniger als 8 Fuß auf dieLegna. Naymondi verfolgte
dann den Lauf des Dnambari stromaufwärts bis dahin, wo
der Ayapata einmündet, eineStrecke von 12 geographischen
Meilen, ging dann diesen letztern aufwärts, fand in den dich-
ten Wäldern große Schwierigkeiten, mußte viele Gefließe
durchwaten, an gefährlichen Abgründen fich Bahn brechen
und litt während der letzten Tage förmlich Hunger. Aber
seine Mühe wurde durch die Ergebnisse reichlich belohnt. Ray-
moudi konnte den Lauf zweier wichtiger Zuflüsse des Anam-
bari und einen Theil dieses letztern selbst verzeichnen; er be-
stimmte die Lage mancher Dörfer in Caravaya genauer; er
ermittelte, daß der San Gavan und Ayapata direet in den
Anambari münden; daß sie beide einen unabhängigen Lauf
haben und auch nicht mit dem Marcapata in Verbindung
stehen. Er stellte aus jedem Lagerplatze meteorologische Beob-
achtuugeu au und giebt manche neue Berichte über die geo-
graphische Vertheilung der Pflanzen in Bezug auf die Er-
Hebung über dem Meere in einer botanisch so wichtigen Region.
An der Erörterung, welche nach dem Bortrage jener bei-
den Mittheilungen in der Londoner Geographischen Gesell-
schast stattfand, beteiligten sich Männer, die Südamerika ans
eigener Anschauung kannten, und sie gewann dadurch ein
spannendes Interesse. Um noch einmal aus Chandleß zu-
rückzukommen, so hat derselbe durchaus auf eigeue Kosten
weite Reisen gemacht. Er durchzog Nordamerika und ver-
weilte längere Zeit bei den Mormonen am Salzsee; wanderte
dann in Südamerika vom Paraguay bis zum Amazonas und
fuhr den Tapajoz abwärts. Dann verwandte er zwei Jahre
auf die Erforschung des Purus, den er 1800 Miles weit
hinaufgekommen ist.
Clements Markham gab eine Uebersicht der Entdeckun-
gen im Gebiete des Amazonas und hob hervor, daß, wissen-
schastlich genommen, der Purus bis 1864 so gut wie uube-
kauut gewesen sei. Er, Markham, habe früher den allgemei-
nen Jrrthnm über die Quellflüfse desselben getheilt (siehe
oben); jetzt wisse man das Richtige, daß nämlich weder der
Purus noch irgend einer seiner Zuflüsse aus deu Audes
kommen, sondern aus den Wäldern der großen Amazonas-
ebene. Nicht minder wichtig sei Maldonado's Entdeckung;
man habe in Cuzco, wo Markham längere Zeit verweilte,
den Tono für den Quellfluß des Purus gehalten. Als er
vor 13 Iahren in jener alten Hauptstadt der Jnkas sich auf-
gehalten, habe ein alter italienischer Missionair, Pater Bovo
de Revello, eine Schrift „über die glänzende Zukunft Cuz-
cos" veröffentlicht, in welcher er darzuthuu suchte, daß Cuzco
vermittelst der Schisssahrt aus dem Purus dem alten Europa
um ein paar Tausend Meilen näher gerückt werde, als die
neue Hauptstadt Lima. Es sei immerhin möglich, daß dieser
Traum sich verwirkliche, man werde aber wohl die Haupt-
Verkehrsbahn vermittelst des Madeira und Beni suchen Müs-
sen oder möglicherweise vermittelst des Aqniry, nicht des
Purus. (— Markham vergißt, daß der Madeira der vielen
Stromschnellen wegen in seinem Mittlern Lause der Schiff-
fahrt Hindernisse in den Weg legt, welche selbst von Indianer-
schiffen nur bei Hochwasser passirt werden können. —)
Ein vortrefflicher Amerikanolog, der Belgier Bollaert,
dessen archäologische Forschungen über Südamerika von gro-
ßem Belange sind, theilte mit, daß sein Freund Raymondi
clungen in Südamerika.
ihm geschrieben habe, er wolle in derselben Gegend seine For-
schuugeu fortsetzen. Bates, den unsere Leser kennen, gab
eine lebendige Schilderung der Waldregion des Amazonas.
Wir gehen darauf nicht näher ein, weil wir den Gegenstand
vor wenigen Monaten schon erörtert haben. Er fragte aber,
ganz richtig, wie der Madeira eine Fahrbahn bis nach Süd-
Peru bilden könne? Allerdings fei derselbe ein stattlicher,
gewaltiger Strom. Aber bevor er den Amazonas erreicht,
fließt er durch eine Hügelkette, welche die Westgrenze des bra-
Manischen Hochlandes bildet, und iu dieser ist die Schisssahrt
durch Stromschnellen unterbrochen; nur bei Hochwasser und
auch dann mit großer Mühe können Nachen dort aufwärts
gelangen. Alle anderen vom Süden her in den Amazonas
strömenden Gewässer haben einen zu kurzen Lauf, um Peru
zu erreichen; der längste von ihnen, der Ucayali, geht auch
nicht bis Caravaya hinauf.
R. Wallace, welcher vorzugsweise einige große, von
Norden her in den Amazonas mündenden Flüsse, z.B. den
Rio Negro, erforscht hat, wies darauf hin, daß zwischen
den nördlichen und den südlichen Zuflüssen einPa-
rallelismus vorhanden fei, namentlich zwischen dem
Purus und dem llanpes (— der von W.N.W, her iu
den Rio Negro fließt —) und welchen er hinaufgefahren sei.
Es stelle sich die merkwürdige Thatsache heraus, daß ein
weit ausgedehnter Landstrich, der im Norden wie
im Süden unmittelbar am Fuße der Audes liege,
uicht eiueu Tropfen Wassers von diesen Gebirgen
erhalte. Im Süden des Amazonas liege ein großer dreieckiger
Raum, der fast 10,000 deutsche Geviertmeilen einnehme, zwi-
schen dem Madeira und dem Ucayali, unmittelbar unterhalb
der Andes, und doch kommen jene Ströme nicht von oder aus
den letzteren. Genau so verhalte es sich auch im Norden des Ama-
zonas, wo der Iapura und die Flüsse östlich von demselben
in den großen Waldebenen endigen uud nicht bis an die An-
des hinaufreichen. Er sei den Uaupes weit genug hinauf-
gekommen, um diesen Umstand constatiren zu dürfen. Zwar
bis an die Quelle selber habe er uicht gelangen können, habe
aber eine Höhe bei einem Katarakt erstiegen und sich dort
überzeugt, daß der Uaupes weiter aufwärts sehr breit und
ein langsam fließendes, schwarzes Wasser sei; dort habe er
vernommen, daß er zehn Tagereisen aufwärts das gauze
Jahr hindurch so bleibe. Daraus könne man mit Sicher-
heit annehmen, daß er aus deu Gebirgeu kein Wasser erhalte.
Es würde interessant sein, genau zu erforschen, worin die
Ursache liegt, daß jene ungeheuer ausgedehnten Ebenen im
Norden wie im Süden des Riesenstromes nicht in Wasser-
Verbindung mit den Andes stehen; wahrscheinlich liegt der
Grund in der Bodengestaltung; es werden Bodenerhebungen
ani Fuße des Gebirges hinlaufen, welche aber von dem letz-
tern getrennt find; deshalb fließt das Wasser nach Norden
und nach Süden ab, bis es einen der großen Flüsse erreicht.
Chandleß bemerkte, daß er am Amazonas bis 1010, am
Purus bis 1088 Fuß über dem Meere gekommen sei; der
höchste Hügel erhob sich etwa 250 Fuß über den Spiegel
des Flusses. Er habe an diesem acht Jndianerstämme ge-
troffen und glaube, daß jeder derselben auch eiue Verschiedeue
Sprache rede. Kautschukbäume seien am Purus in sehr großer
Menge vorhanden. A.
Dr. Mehwald: Die Harings- und Brislingsfischerei an der Küste Norwegens.
343
Aie Lärings- und Irislingsfischerei an der Küsle Norwegens.
Von Dr. Mehwald.
I.
Daß der Malstrom oder Golfstrom im Norden
Europas der Segen und Erhalter Norwegens — theils un-
mittelbar, theils mittelbar — ist, habe ich zwar früher schon
anderweitig nachgewiesen, glaube aber durch specielle BeHand-
lnng des Themas in fronte diese Behauptung bis zur Evi-
deuz erweisen zu können. —
Die Saga, welche bis zum sechsten, nach Anderen bis
zum vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung oder noch wei-
ter, besser aber noch die nordische Geschichte, welche bis zum
achten Jahrhundert zurückreicht, besagt, daß Norwegen vom
Norden aus bevölkert wurde; daß sich die Bevölkerung längs
der Küsten ausbreitete und fast ausschließlich von Fischen
lebte. Nach allen Berichten waren Häriuge, Dorfche und
Lachst die drei Fischgeschlechter, von denen sich ein großer,
wo nicht der größte Theil aller Bewohner Norwegens Haupt-
sächlich nährte und — bis auf diesen Tag nährt.
In der neuern Zeit, wo auch das südliche Auslaud be-
gauu, „norwegisches Brot" zu genießen, d. h. wo die Fische
Handelsgegenstand wurden, erhob sich die Fischgattuug clu-
pea harengus, d. h. der Häriug, zum wichtigsten Fisch-
gefchlecht an den norwegischen Küsten, während früher Lachs
und Dorsch obenan standen.
Ueber den Häring, dessen Natur, Formeureichthum, Le-
beusweise und Fortpflanzung sind noch so viele Märchen
verbreitet, daß zu fürchten steht, es dürfte Manchem eine lieb-
gewordene Illusion zerstört werden, wenn hier das, was nor-
dische Naturforscher, Fischbeobachter uud verständige Fischer
über denselben Tatsächliches geschrieben und gelehrt haben,
mitgetheilt wird *).
Anf dem Festlande glaubt man ziemlich allgemein, der
Häring wohne im Eismeer um den Nordpol, ziehe im Früh-
liuge jeden Jahres an den grönländisch-amerikanischen Küsten
bis ius Atlantische Meer, laiche dort und gehe dann an den
europäischen Küsten wieder hinauf in feine alte Heimath.
An diesem Glauben ist aber kein glaubhaftes Wort; denn
fchon des Hörings Persönlichkeit macht diesen Glauben nn-
glaublich.
Wer große Reisen gemacht, weiß, daß zu großen Reisen
anch große Neisemittel gehören. Wenn nun auch der
Häring auf seinen vermeintlichen Weltreisen gerade nicht viel
übersetzte Wirthshansrechnnngen zu bezahlen haben würde,
so müßte er doch auf seiner Tour vom Pol zum Aequator
so verschiedene Hitze- und Kältegrade aushalten, daß immer
fchon ein sehr starker Körper und eine zähe Lebenskraft dazu
gehören würden, diese Hitze- und Kältewechsel zu ertragen.
Nun hat dieser kleine Fisch aber eine so geringe Lebenskraft,
daß er, fo wie man ihn aus dem Wasser zieht, sofort nner-
weckbar tobt ist, weil er sein Element auch nicht auf die kür-
zeste Zeit entbehren kann. Deshalb fagen auch die Eugläu-
der: „tobt wie ein Häring", wenn sie unser deutsches
Wort: „mansetodt" wiedergeben wollen.
Ferner hat er ein so weiches Fleisch, so feine Knochen,
*) Seit drei bis vier Jahren hat namentlich der Normann O. N.
Löberg, welchem ich die meisten Notizen für mein obiges Thema
verdanke, fleißig geforscht und sich Verdienste um die Hebung der
norwegischen Fischereien erworben.
fo zarten Körperbau uud so schwache Segelwerkzeuge, näm-
lich Flossen, daß es ihm schlechterdings unmöglich ist,
die ihm angedichteten Weltmeerreisen machen zu
können. Wollte er aber eigensinnig ins Eismeer gehen,
wo nur Uugeheuer leben können, so würde er zum Ketten-
Hunde in die Hütte kriechen (wie die deutsche Redensart sagt)
müssen; denn dort leben seine Todfeinde — die Wale (nor-
wegisch: Hvale) ■—• welche sein Geschlecht bald decimiren
würden; wohiugegen es den Walsischen unmöglich ist, auf
den unendlich tiefen Grund des Nordseebeckens zu tauchen,
weil die Lunge dieser Thiere dies nicht aushält.
Nein! Die Natur ist gütiger gegen den zarten Häring
gewesen und hat ihm uicht nur eiue jederzeit gut besetzte
Speisetafel gegeben, sondern ihm auch das Vergnügen ge-
macht, alle Jahre nach Znrücklegnng einer kleinen Spazier-
tour seiue Heimath wiedersehen zu können.
Wie nämlich Professor Münch's Karte von Norwegen
(zwei Blatt, für das südliche und nördliche Norwegen) deut-
lich zeigt, und Jeder, welcher, wie der Verfasser dieses mehr-
mals gethau, deu sogenannten Scheerhof umführt, feheu kann,
ist dieses Land mit einem Jnselwalde umgeben, welcher sich
außerhalb der sichtbare» Holme in unterseeischen Felspartien,
Bänken, Riffen und dergleichen fünf bis fünfzehn Meilen
weit außerhalb der festen Küsten ausbreitet, dann Plötz-
lich abfällt uud in bodenlose Tiefe verschwindet. Diese
Tiefe bildet in der Nordfee ein vollständiges
Becken, und in diesem Becken liegen den größten
Theil des Jahres dieHäriugsberge uud nähren sich
von den daselbst in Haufen lagernden Crnstaceen,
fern von Witterungschicauen, Walfischrachen, Wogenschlag
und Weltunruhe. Dieses Nordseebecken steht mit den zahl-
reichen Fjords (Föhrden) an der norwegischen Küste in tau-
seudfacher Verbindung. Wie nämlich aus den trocknen Ge-
birgen Norwegens zahllose Thäler, Schluchten und Rinnen
ins Meer hinabführen, fo setzt sich dieselbe Formation unter
der Meeresoberfläche bis zum Becken fort, und somit fehlt
es den Häringen nicht an Straßen von ihrer Heimath bis
nach Norwegen. Zu gleicher Zeit siud diese unterseeischen
Schluchten Speisecanäle für die Häringe, weil ihnen durch
dieselben die nahrhaften Niederschläge aus den vielen ins
Meer fallenden Strömen und Flüssen zugeführt werden. Die
Crnstaceen — die Hauptnahrung der Häringe — finden sich
aber deshalb in so großer Masse in dem gedachten Meer-
becken, weil die Ruhe und die Wärme (Golfstrom) auf dem
Seegrunde ihrer Lebensweise und Fortpflanzung vorzüglich
zufagt. Diese Ruhe und Wasserwärme dient auch den Hä-
ringen.
Später soll gezeigt werden, daß auch manche andere Fisch-
arten den Malstrom aus vielfachen Gründen fuchen und bei
der für das Laichgeschäft besonders günstigen Umgebung Nor-
wegens dieses Land zum fischreichsten auf der Erde machen,
selbst Neufundland und die Doggersbank nicht ausgenommen.
Die Naturgeschichte keunt an zwanzig Arten Hä-
ringe; doch gehören die im Norden Europas vorkommenden,
obschon sie sehr verschieden aussehen und auch verschiedene
Zeit- und Ortsnamen tragen, alle zu einer Art Clupea
harengus, und ihre verschiedenen Formen zeigen theils nur
344 Dr. Mehwald: Die Härings- und V
verschiedene Racen, wie wir dasselbe an den Pferden, Hnn-
den, Hühnern, Lachsen und vielen anderen Thieren ebenfalls
sehen; oder eine schlechte Lage ans dem Meeresgrunde, man-
gelnde Nahrung während der Ruhezeit, oder zu starke Pres-
sung beim Aus- und Niedersteigen.
Weuu nämlich die Laichzeit kommt ■— welche aber bei
verschiedenen Häringsformen verschieden ist —, dann erheben
sich die Häringsberge aus dem Meeresbecken und gehen
in unbeschreiblich dicken oder hohen Zügen oder Strömen
gegen das Land, und zwar merkwürdigerweise an den nor-
wegischen Küsten immer in dasjenige Fjord oder in diejenige
Bucht, wo sie zum Leben erweckt worden und jung gewesen
sind. Diese Erscheinung findet sich fast um die ganzen Nord-
seeränder, also im gemäßigten Klima und nicht im Eismeere.
Da Norwegen so glücklich ist, über zweitausend Meilen
sortlaufende Küstenränder zu haben — ungerechnet die fla-
chen Umgebungen der zahllosen Holme, Inseln, Felsen und
Untiefen —, so finden die Häringe, obfchon sie nur den süd-
lichen und westlichen Theil der Küste besuchen, hinlänglich
Räume, ihr Fortpflanzungsgeschäft ausführen, d. h. im flachen
Wasser milchen und laichen zu können. Dieses Geschäft ist
in der Regel von jedem Häringsindividnnm in zwei bis drei
Tagen abgemacht und nach dessen Beendigung kehrt der Hä-
ring wieder in sein Meeresbecken zurück, woher er gekommen.
Die Eier, von denen ein einziges Weibchen bis siebzigtausend
legt, entwickeln sich nach ganz kurzer Zeit, und dann ist das
Meer innerhalb der Scheeren dergestalt mit Häringsbrnt er-
füllt, daß es aussieht, wie schwimmender Triebsand im Flusse.
Die Iuugeu wachsen rasch, entfernen sich nach und nach von
den Küsten und verschwinden endlich im nahen Meeresbecken.
(Daß die Häringsjugend von den zahllosen Raubfischen fürch-
terlich decimirt wird, soll nur beiläufig bemerkt werden.) So-
bald die jungen Häringe fortpflanzungsfähig sind, kommen
sie zur bestimmten Zeit, um ihre Jugendheimath zu besuchen
und an denselben Orten dasselbe zu thun, was ihre Eltern
vor ihnen thaten.
Nun sollte man meinen, daß dieses Geschäft, da Ge-
schlecht ans Geschlecht folgt, auch ununterbrochen fortgehen
müsse, so lange Häringe im Nordseebecken seien. Dies war
aber bisher nicht der Fall; vielmehr kennt die norwegische
Fischereigeschichte theils Reihen von Jahren, theils einzelne
Jahre, wo entweder auf allen, oder auf einzelnen norwe-
gischen Fischereiplätzen kein Häring erschien. Das letzte
Mal geschah dies 1807, wo sich an der ganzen norwegischen
Küste kein Häring sehen ließ. Im nächsten Jahre 1803 er-
schien er dann wieder in denselben Massen uud an denselben
Plätzen wie früher.
Diese Erscheinung hat noch keine Erklärung gesunden;
denn derUmstand: daß im gedachten Jahre über eineMil-
lion Tonnen Häringe zu Thrau verbraucht und die
Ueberbleibsel als Unrath ins Meer geschüttet worden, kann
unmöglich diese Fische im Nordseebecken festgehalten haben.
Wahrscheinlicher dürfte es meiner Meinung nach sein, daß
vulcauische Veränderungen des Scheerengrundes die Häringe
zwang, ihr Laichgeschäft an einer andern Nordseeküste auszu-
führen. Daß aber im Untergrunde Norwegens noch immer
verborgene Gewalten rumoren , hat jüngst der Einsturz der
großartigsten und merkwürdigsten Felsenklippe Norwegens —
Horueleu auf Bremangerland — gezeigt. —
Vor dem fünfzehnten Jahrhundert verstand man die Hä-
ringe bloß zu räuchern oder in der Luft zu trocknen und dann
aufzubewahren; mithin war die Fischerei nur eine Nahrungs-
quelle für die Bewohner der langgestreckten, vielgezackten,
meist unfruchtbaren Küsten, aber keine Einnahmequelle für
das ganze Land. Erst 1416 erfand Wilhelm Benkelszoon
slingsfischerei an der Küste Norwegens.
zu Biervliet in Flandern das Einsalzen und Einpökeln und
von dieser Zeit an ist der Häring zum Hauptfisch aller See-
sischereieu geworden. Deshalb ließ Karl V. dem ersten Hä-
ringssalzer ein Denkmal errichten; die Welt aber verewigte
seinen Namen in den Worten Bykling, Benkling, Bücking
nnd Pökling. —
Merkwürdig ist's, daß die verschiedenen Racen der Hä-
ringe an den verschiedenen Küsten der Nordsee auch verschie-
dene Fortpflanzungszeiten haben, daher zu verschiedenen Zei-
ten auf die Milch- und Laichplätze kommen. In Norwegen
kommt der Vaarhild, d. h. Frühlingsfifch, von Mitte
Januar bis Mitte März jeden Jahres aus Land, und zwar
nur an die Süd- und Westküste von Lindesnäs bis zum
Borgebirge Stadt. Dagegen kommt der sogenannte Som-
merhäring von Stadt bis an die lappischen Küsten zum
Laichen. Der sogenannte Straalhäring — eine kleinere
Race — wird das ganze Jahr gesangen, weil er nicht in
die Meertiese geht, sondern ein Scheerensisch — wie man in
Norwegen sagt — ist.
Da sich der Fang zu einer der wichtigsten Beschäftig»»-
gen der Norweger aufgeschwungen hat, so darf es nicht wuu-
deru, wenn iin Beginn eines jeden Jahres Alles den Hä-
ringszügen und -Bergen mit Sehnsucht entgegensieht und so
zu sageu wochenlang aus der Lauer steht. Außer den die ganze
Küste verbindenden Telegraphen hat man in den weit ins
Land gehenden Fjorden besondere Häringstelegraphen,
durch welche die Fischer sogleich, wenn sich der Häring der
Fjordmünduug nähert, benachrichtigt werden. Denn man
kann die Häringsberge, wenn sie sich aus der Meerestiese
erheben, schon von Weitem gewahren, theils durch den Wi-
derschein in der Lust, theils durch die Wasserhaut über den
keilförmig schwimmenden Häringsbergen, theils durch die
wolkeuähulicheu Massen von Wasservögeln, welche über den
Zügen schweben, theils durch die Menge von Walen in der
Nähe der Küsten.
Wenn sich nämlich die Berge von Häringen, welche alle von
demselben Naturtriebe gedrängt werden, aus der Tiese erhe-
ben, so geschieht dies mit solcher Leidenschaftlichkeit, daß sich
die Fische gegenseitig die Bauchschuppen und die am Körper-
hängenden Schleimtheile nnd Unreinigkeiten abreiben, wo-
durch sich auf der Oberfläche des Meeres über den schwim-
Menden Bergen von Schuppen uud Schmutz eine weit ficht-
bare Wasserhaut — welche der Norweger Vandskorpe
nennt — bildet, und wodurch den spähenden Fischern die
Züge verrathen werden.
Andere Verräther sind, wie vorhin gesagt, die Seevögel
uud Walsische. Erstere begleiten die Züge in wölken-
großen Schaaren und schnappen Alles weg, was sich an
todten oder halbtodten Häringen auf der Oberfläche des Was-
sers zeigt; letztere erscheinen in Schaaren von Hunderten und
treiben die Fische, von denen sie zahllose verzehren, mit aller
Gewalt ans Land und in die Fjorde; es wirkt also Leiden-
schast und Furcht der Häringe zugleich auf ihre beschleunigte
Reise.
Was aber Raubsische, Wasservögel und alle Arten fisch-
ähnliche Sängethiere, wie Robben, Wale und dergleichen, nicht
vertilgen konnten, das fällt zuletzt in die Schlingen der Fi-
scher. Diese Schlingen haben eine bestimmte Weite, damit
die junge Brut durchschlüpfen kann, beim Aufziehen der Netze
dieselben nicht unnöthig fchwer macht und beim späternAus-
zählen hinderlich wird. Sämmtliche Netze sind dunkelgesärbt,
damit sie den Häring nicht durch weiße Farbe schrecken. Die-
ses Färben ist eine Art Gerben; denn die Netze werden mit
Erlen-, Birken- oder Fichtenrinde eben so behandelt, wie die
Thierhaut vom Gerber.
Eine Reise mit dem
Ein Boot mit vier bis fünf Mann Besatzung hat zwanzig
bis fünfundzwanzig Netze, jedes zu zehn bis zwölf Klaftern
Länge und hnndertuudfunfzig Maschen Tiefe. Diese Netze
werden Abends ausgefetzt und früh eingezogen, und gebeu in
der Regel pro Kahn fünfzehn bis zwanzig und mehr Tonnen
Häringe. Weun die Wale fehr zahlreich sind und die Hä-
ringe tüchtig in die Buchten und Fjorde treiben, wird auch
am Tage gefischt, deuu dann gehen die Häringe blindlings
ins Garn, weil sie die Wale über Alles fürchten.
Eine andere Fischerei geschieht mit Not oder Nut. Note
siud sehr starke Netze von hnndertuudfunfzig Klaftern Länge
und zwanzig Klaftern Tiefe. In der Regel hat jedes zur
Notfifcherei ausgerüstete Schiff eine Besatzung von dreißig
Manu; drei große Note und ein kleineres Auswurfsuot nebst
einer Masse Gerätschaften, und eine solche Ausrüstung kostet
bis 3000 deutsche Thaler.
Die Notsischer beobachten sehr aufmerksam, in welche
Buchten, Fjorde oder Sunde sich die Häringszüge begeben,
ziehen hinter den Zügen ihre Note quer vor und schließen
auf diefe Weife die Häringe wie durch einen Zaun ein. Nach-
dem die Note auf dem Grunde und wo es angeht, am Laude
gehörig befestigt sind, werden mit dem kleinem Auswurfsnot
immer Partien von dem eingezäunten Häringsberge abge-
schnitten, an das nächste Ufer gezogen und dort in Kähne
verladen. Jeder solcher Zug bringt etwa sechshundert bis
achthundert Tonnen Häringe und ist es nicht selten, daß
ein solcher durch Note eingeschlossene Häringsberg
bis dreißigtausend Tonnen Fische giebt. Jedoch
kommt es auch vor, daß in den Fischereimonaten Januar,
Februar und März furchtbare Nordstürme und Meeresströ-
mnngen entstehen und alle Netze, Garne und Note eines
oder mehrerer Fischereidistricte derart znsammeuwickelu, daß
viele Leute auf den verworrenen Garnen herumgehen können
ohne einzusinken. Natürlich ist's bei solchem Unglück mit der
Fischerei in dem betreffenden Districte vorbei. —
Während der Frühlingsfischerei sind eine Menge Schiffe
in Thätigkeit, um vou den Fischern den Fang zu kaufen, in
die Salzereien zu führen und dann weiter darüber zu ver-
fügen. Diesen Fischkäufern werden die Häringe zugezählt,
und zwar auf eine nur Norwegen eigene Weise. Es werden
Postwagen in Mexico. 345
nämlich immer hundertundzwanzig — das sogenannte
große Hundert — für hundert gezählt. Bei jedem Hnn-
dertundzwanzig werden zwei Häringe beiseite gelegt als Mark
für ein großes Hundert. Am Ende werden bloß die Mark-
häringe gezählt, um die ganze abgelieferte Summe leicht zu
berechnen. Diese Mark- oder Zahlhäriuge bekommt der Auf-
käuser nach alter Sitte geschenkt. —
In den letzten Jahren beschäftigte die norwegische Winter-
oder Frühlings-Häringsfischerei nach amtlicher Zählung acht-
hundert Auskäuferschiffe mit über dreitausend
Manu Besatzung; fünftausend Netz- und Noteboote
mit achtuudzwauzigtauseud Mauu Besatzung, und
über dreitausend Sälzer, Halsabschneider und
Böttcher — also unmittelbar auf den Fischereiplätzen über
viernnddreißigtansend Menschen. Dazu kommen noch über
sechstausend, welche als Handelsleute mit allerlei Bedürfnis-
sen an den langen Fischereiküsten erschienen. Und alle diese
Tauseude von Menschen, welche jeden Winter an den Fisch-
Plätzen zusammenströmen, sind sich (nach Löberg's Versiehe-
ruug) völlig selbst überlassen; ohne Polizei, ohne Beanfsich-
tignng, ja man kann fagen, ohne Gesetz; und dennoch geht
Alles in bester Ordnung, obschon sich die Interessen von
Tausenden kreuzen und die äußeren Verhältnisse nichts wem-
ger als angenehm sind. Denn auf den langgestreckten,' meist
unwirtlichen Küsten giebt es wenig oder keine Häuser, hoch-
steus hin und wieder eine Hütte, ein Zelt oder einen Bretter-
schuppen. Der arme Fischer ist daher genöthigt, meist durch-
näßt, wie er ist, in seinem nassen Boote zu liegen, oder auf
einem wüsten Holme in Sturm, Schuee und Regen die lange
Nacht hindurch spazieren zu gehen. Selbst aber wenn er in
der Nähe eine Hütte findet, wo er unter Dach kommen kann,
muß er wegen Ueberfüllnng stehend schlafen, wie alle feine
Leidensgefährten, vou deueu sich Jeder auf feines Vormanns
Schnlter stützt. Die Ausdünstung Aller verursacht einen
dicken Dampf, welcher sich an die Decke hängt und in gro-
ßen Tropfen herabfällt. Dabei bleibt es merkwürdig, daß
unter diesen traurigen Verhältnissen so Wenige während der
Fischzeit erkranken und trotz der oft schrecklichen Witterung
verhältnißmäßig nur wenige Menschen und Fahrzeuge ver-
loreu gehen. —
Line Keife mit dem Postwagen in Mexico.
Die nachfolgenden Schilderungen entnehmen wir einer Cor-
respondenz des „New York Herald"; sie ist datirt ans dem kai-
serlichen Hauptquartier in Oueretaro vom 19. Februar und
durchaus geeignet, Alles zu bestätigen, was wir in unseren „Be-
trachtungen über Merico" gesagt haben. —
Heute früh zog der Kaiser hier ein und bewerkstelligte seine
Vereinigung mit der Division des Generals Mejia. Am 13.
hatte er die Hauptstadt verlassen und einen kühnen Schritt ge-
wagt. Miramon's Soldaten waren auf dem Rückzüge auö Zaea-
tecas von Escobedo sast ganz vernichtet, und so blieben dem Kaiser
nur die Truppen, welche Marquez in der Hauptstadt hatte, sodann
6000 Mann unter Mejia und die fliegende Colonne des Generals
Mendez, etwa 1300 bis 2500 Mann. Der Kaiser brach mit
kaum 3000 Mann von Merico auf, zum größten Theil Leuten, die
mit Gewalt in den Dienst gepreßt waren; etwa 750 waren Reiter.
Die Generäle Marquez und Vidaurri begleiteten ihn. Die Straße
war von mehreren Banden der Liberalen umschwärmt, und der
Zug ging mehrmals durch Engpässe, welche eine Handvoll tapferer
Leute gegen eine ganze Armee hätten verteidigen können. Maximi-
lian wurde gleich, nachdem er Merico verlassen hatte, angegriffen.
Globus XI. Nr. 11.
In der Nacht vom 14. Februar verließ ich Merico, um der
kaiserlichen Armee zu folgen. Bei den Garitas, d. h. Wacht-
Häusern in der Stadt selbst, wurde der Postwagen drei Viertel-
stunden lang angehalten; wir wurden genau untersucht und mußten
die Pässe vorzeigen. Dann wurden einige Reiter vorausgeschickt,
um die Straße für uns klar zu machen, aber kaum eine Stunde
von Merico fuhren wir mitten in ein Lager der Liberalen hin-
ein. Im Dunkel der Nacht wurden wir^von einer Reiterabthei-
lung eingeschlossen. Der Führer musterte uns alle und wir konnten
weiter fahren. Gegen Tagesanbruch kamen wir wieder an ein
Lager der Liberalen. Dort hingen die abgeschnittenen Telegra-
phendrähte schlaff an den Stangen. Man ließ auch hier uns
ungehindert abfahren; wir trafen dann aber fast in jeder halben
Stunde Streifcorps der Liberalen. Die kleine Stadt Cuautlan
war in ihrer Gewalt, aber jenseits derselben standen wieder kai-
serliche Vorposten.
Ein Offizier in einer buntgestreiften Decke und mit mehr
Blei und Firlefanz behängt wie ein Kamantsche-Jndianer, hielt
uns an, fragte und gab dem Commandanten Rapporte. Eine
Stunde nachher hieß man uns langsam weiter fahren und wir
44
346 Eine Reise mit dem
kamen dann an den kaiserlichen Truppen vorbei, die in einer
seltsamen Weise marschirten. Zuerst sahen wir ein paar Schock
Häupter halbwilden Rindviehes, dann ein gut berittenes und gut
bewaffnetes Regiment Lanziers, die sehr malerisch aussahen, aber
mehr wie Picadores in einem Stiergesechte, denn als Soldaten
aus dem Marsche.. Nachher zwei Regimenter Fußvolk, die ihre
Schuhe auf dem Rücken hängen hatten und barsuß gingen; ferner
einige Frauen zu Pferde und sehr viele andere, die im kurzen
Trott liefen, natürlich alles Indianerinnen und mit einer großen
Schaar von Kindern. Endlich die Artillerie: ein 20psünder,
zwei 12pfünder, fünf Lpfünder und zwei Haubitzen. Jedes Ge-
schütz wurde von 6 bis 8 Ochsen gezogen, die sich in jedem Bach
und in jeder Pfütze eine Güte thaten, trotzdem die Treiber einen
wahren Hagel von Steinen aus sie regnen ließen. Dann wieder
Reiter und Fußvolk durch und hinter einander und ein Postwagen,
der vor einigen Tagen von Queretaro abgegangen war und nach
Merico wollte, weiterhin die Generäle Marquez und Miramvn
und der Kaiser in blauer Husarenuuisorm, einen großen Stroh-
Hut aus dein Kopse. Er ritt inmitten seiner Soldaten, welche er
durch Wort und Beispiel ermunterte. Die Truppen übernachteten
beim Dorfe San Francisco; sie durften nichts mit Gewalt fort--
nehmen und mußten Alles, was sie bekamen, prompt bezahlen;
das war ausdrücklicher Befehl Maximilians. Wir Passagiere
schliefen, so gut es eben angehen wollte, in unserm Postwagen,
bis Reveille geschlagen wurde.
Gegen Mittag wurde der Kaiser bei Copalulpam von etwa
500 Mann Reiterei unter General Coser angegriffen; er setzte
sich unerschrocken dem dichtesten Kugelregen aus und rief, als
seine Umgebung ihn bat, er möge sich schonen: „Nein; hier bin
ich Soldat und bleibe bei meinen Truppen." In dem unglücklichen
Postwagen aus Queretaro, welcher wider den Willen seiner Passa-
giere die Rückreise mitmachen mußte, vermutheten die Liberalen
den Kaiser und feuerten unablässig gegen denselben aus gezogenen
Gewehren, aber mit runden Kugeln; so kam es, daß sie nicht
gerade viel Unheil anrichteten. Marquez wollte die gefangenen
Liberalen auf dem Fleck erschießen lassen, aber der Kaiser verbot
es. Sie wurden jedoch, ohne daß Maximilian etwas davon erfuhr,
trotzdem abgethan. In dem Postwagen von Queretaro saßen zwei
Leute, die Pässe vom liberalen General ESeobedo bei sich hatten,
und der eine trug einen in Merico zahlbaren Wechsel bei sich,
der auf 7500 Dollars lautete. Marquez wollte beide erschießen,
weil er behauptete, sie seien Spione der Liberalen, aber auch hier
trat der Kaiser ins Mittel. Zwischen diesem und dem General
scheint kein gutes Einvernehmen zu herrschen, denn einer hält sich
vom andern so weit als möglich entfernt.
In San Juan del Rio veröffentlichte Maximilian eine Pro-
clamation, in welcher er alles mögliche Gute verspricht. Er hebt
die Tapferkeit und den Stolz hervor, die eines jeden Mericaners
angeborene Eigenschaften seien! Er ernennt den tapfern Ge-
neral Marquez zum Oberfeldherrn, den braven Miramon
zum Befehlshaber der zweiten Heeresabtheilung, den unerfchrocke-
nen Mejia zu jenem der dritten Division, und hebt hervor,
daß der patriotische General Bidaurri beim Organisiren der
Truppen sich bethätigen wolle. (— Was nicht Alles aus Räu-
berhauptleuten werden kann! —)
Die Postkutsche eilte dann dem Heere voraus und traf un-
terwegs die Truppen des liberalen Obersten Coser, welche den
eben erwähnten Angriff gegen den Kaiser gemacht hatten; weiter-
hin kamen sie mit den berüchtigten Guerilleros des Generals
Carvajal zusammen. Dieser hat seit etwa 15Jahren als Par-
teigänger eine Rolle gespielt. Er hat eine sehr dunkle Hautfarbe,
trug einen zerlumpten blauen Rock und Pantoffeln und fragte
den Postillon, ob derselbe „das Bewußte" von Mexico mitgebracht
habe. Darauf übergab ihm dieser ein Visir sür einen Zwölf-
pfünder. Wenn die Liberalen ihre vereinzelten Banden vereinigt
hätten, so konnten sie den kaiserlichen Truppen unbedingt den
Weg verlegen; aber es ist unmöglich, sie zu einem gemeinsamen
Zweck unter denselben Hut zu bringen. Jeder kleine Häuptling
will lieber in seiner eigenen kleinen Hölle herrschen, als in einem
allgemeinen Himmel dienen. Solch ein General führt ein träges
und doch ruheloses Leben, er sprengt aus seinem Gaule weit und
breit im Land umher und erpreßt im Namen der liberalen
Sache wo und was er kann. Solch ein Treiben sagt den Meri-
Postwagen in'Merico.
canern ganz vorzüglich zu- Hätten diese Gesellen keinen gemein-
schaftlichen Feind zu bekämpfen, so würden sie flugs gegen ein-
ander in Fehde liegen. Kein einziger von ihnen hat den aus-
richtigen Wunsch, daß das Land zur Ruhe gelange-
Nun kamen wir in die Nähe von Queretaro, voll der Hoff-
nung, daß das Herannahen der kaiserlichen Truppen die zahlreichen
Räuberbanden aus jener Gegend verscheucht haben werde. Als
wir aber auf der Höhe des Berges waren, von welchem man
einen Blick auf die Stadt hat, pfiffen die Kugeln um unfern
Wagen und fünf bis an die Zähne bewaffnete Strolche geboten
uns ein Halt. Solch ein mexikanischer Bandit hat nicht die
Spur von Romantik an oder in sich. Unsere liebenswürdigen
Guerilleros waren halb nackte, mit Lumpen und Strohhut be-
kleidete Kerle und natürlich barfuß; außer Flinte und Revolvern
führte jeder noch ein großes Messer. Sie umstellten den Wagen,
fluchten gotteslästerlich in der allerpöbelhastesten Weise, zogen
einen Passagier nach dem andern hervor uud begannen dann mit
Ausübung des patriotischen Handwerks, das heißt mit Plündern.
Aber sie waren dabei feig und ich sah wie sie zitterten; aber
Widerstand erschien nicht gerathen, weil Helfershelfer in der Nähe
waren. Wir hatten im Wagen vier Frauen, einige Kinder, einen
Spanier und einen alten Herrn; so war ich eigentlich der einzige
Mann in kräftigen: Alter und hatte es diesem Umstände zu ver-
Danken, daß der allerschnuitzigste und niederträchtigste der ganzen
Bande mich seiner besondern Aufmerksamkeit sür würdig hielt.
Er plünderte mich rein aus. Ich bat ihn, mir einen Schlüssel
zurückzugeben, der ja doch für ihn werthlos sei; als Antwort hielt
er mir einen sechsläufigen Revolver unter die Nase. Das war
natürlich sür mich vollauf genügend. Diese biederen Eavaliere
von der Heerstraße nahmen Alles, aber auch Alles. Als ich in
Queretaro einfuhr, bestand meine Garderobe in ein Paar Strüm-
pfen, Hose und Hemd auf dein Leibe; eine Blechbüchse mit Sar-
dinen und ein Stück Windsorseise hatte ich gerettet, denn der
Räuber, welcher sich dasselbe angesehen hatte, gab es mir zurück;
sür Seife ist bei diesen Gentlemen keine Nachfrage. Mir aber
war das Stück von Werth, weil ich vier Goldstücke in demselben
verborgen hatte, die mir nun sehr wohl zu statten kamen. Als
die Plünderung vorbei war, befahl man uns niederzuknien. Ich
entgegnete: Aniericano; no comprenclo; alle anderen knieten
nieder, ausgenommen der Spanier.
Durch uns erfuhr man in Queretaro, daß der Kaiser im
Anzüge sei. Das erregte bei der zahlreichen indianischen Bevöl-
kerung, welche dem Kaiser stets gewogen war, große Freude, und
der Empfang war in der That so glänzend, als er unter den ob-
waltenden Umständen sein konnte.
Soweit der amerikanische Korrespondent des „New F)ork He-
rald". Wir fügen folgenden Bericht hinzu, welchen die „Times"
von einem in Merico verweilenden Engländer erhalten hat. Nach-
dem derselbe den Abzug der Franzosen geschildert, sagt er, daß
Kaiser Maximilian 1366 die Generäle Marquez und Mira-
mon aus der Verbannung zurückberufen habe. Es war dem
englischen Ministerresidenten Scarlett also nicht mehr möglich, in
Mexico zu bleiben. (— Der Grund liegt darin, daß beide Ge-
neräle oftmals englische Unterthanen beraubt und Silbereonduetas
weggenommen haben, ohne daß sie dafür zur Verantwortung ge-
zogen worden wären. Sie waren amtlich von Seiten der engli-
schen Regierung als ganz gemeine Räuberhauptleute
charakterisirt worden; als sie nun Faetota des Kaisers wurden,
brach man den diplomatischen Verkehr mit diesem ab. —)
Im Januar 1867 verbot der Führer der Republikaner,
Juarez, allen Ausländern, Handel irgend welcherArt
in Merico zu treiben.
„In den ersten Tagen des Februars 1367 wurde der brasi-
lianische Consul, ein englischer Unterthan, der als kaiserlicher
Commissarius in Oaraca sungirte, ganz in der Nähe der Stadt
Merico von einer juaristischen Bande aufgehoben, sofort vor ein
sogenanntes Kriegsgericht gestellt und ehe zehn Minuten vergin-
gen todtgeschossen. Ich höre, daß auch der nordamerikanische
Consul in Mazatlan ermordet worden sei."
An vielen Stellen sind die Eisenbahnschienen aufgerissen, die
Brücken verbrannt worden. Aus einzelnen Strecken gehen Züge,
aber den Bahnbetrieb haben die Räuber in die Hand
genommen. Nicht selten plündern sie alle Reisenden völlig ans.
Die Bestechlichkeit tu den Vereinigten Staaten von Nordamerika.
347
Auch die gewöhnlichen Landstraßen sind in der Gewalt der Rä u-
ber, die häufig bis dicht vor die Thore der Stadt Mexico kom-
men. In der ersten Februarwoche drangen sie sogar in die Stadt
ein und plünderten, keine dreihundert Schritt vom kaiserlichen
Palast entfernt, den Postwagen aus.
Die kaiserliche Partei erhebt, wohin sie kommt, Zwangs-
an leihen. Der Compagnie der Real-del-Monte-Silbergruben
sind jüngst 179,000 Dollars abverlangt worden.
Abscheulich ist die Art und Weise, in welcher Soldaten
gepreßt werden; sie ist barbarisch und unnütz zugleich. Man
raubt die Leute ans offener Straße; man dringt in die (zumeist
europäischen Capitalisten gehörenden) Fabriken ein, schleppt die
Arbeiter fort und steckt sie in Uniformen. Natürlich laufen sie
bei der ersten günstigen Gelegenheit wieder sort. Am 9. Februar
wurden aus solche Weise in einer Baumwollenfabrik zu Puebla
etwa drittehalbhundert Leute zu Soldaten gepreßt.
Am 3. März 1867 waren fast alle wichtigen Punkte des
Landes für die Kaiserlichen verloren; all und jeder Handelsverkehr,
groß oder klein, lag völlig danieder, und was die Zukunft, welche
ohnehin schon so düster ist, bringen werde, kann Niemand sagen.
Jie Bestechlichkeit in den bereinigten Staaten von Nordamerika.
Die nordamerikanischen Blätter erheben bittere Klagen über
immer noch wachsende Vertheuerung aller zum Leben unent-
behrlichen Gegenstände. Die Papierwirthschaft, die bis ins Ab-
geschmackte und Exorbitante hinaufgeschraubten sogenannten Schutz-
zölle, der schwere Abgabendruck und die schamlose Corruption der
Handwerkspolitiker machen sich in der „großen Musterrepublik"
allzumal sehr empfindlich geltend. Es sind mehr als 1500 Mil-
lionen Dollars Papier im Umlaufe, das platterdings keinen innern
Werth hat, und alle Verhältnisse sind so geschraubt, daß die
Dinge endlich zum Bruche kommen müssen. Man besorgt einen
allgemeinen nationalen wie individuellen Bankerott und stellt Ver-
muthungen darüber an, wann die Katastrophe hereinbrechen werde.
Ein Neuyorker Bericht vom 9. April schreibt: „Ich weiß nicht,
wie Leute von beschränkten Mitteln es überhaupt ansangen, ihr
Leben zu bestreiten. Ein Einkommen, welches in England für
beträchtlich gelten würde, reicht hier zn nur sehr mäßigem Aus-
kommen hin. Ein kleines Haus in einer Nebengasse kann man
unter 30CO bis 5000 Dollars Jahresmiethe nicht haben. Einer
meiner Freunde verkaufte neulich sein Haus in der fünften Avenue
für 165,000 Dollars. Die Maison Doree am Union Square
wurde ohne Jnventarium für 300,000 Dollars verkauft. In den
Hotels wird für zwei Zimmer nach hinten hinaus und Kost für
jede Person täglich die Kleinigkeit von 10 Dollars berechnet.
Theuerung herrscht nicht allein in Neuyork, sondern mehr
oder weniger im ganzen Lande. Da suchen denn die Väter des
Staates, die Handwerkspolitiker, deren Zahl hoch in die Legionen
geht, zu machen, was gemacht werden kann. Und es wird viel
gemacht. Da ist der biedere Staat Wisconsin, „dessen Schimpf
und Schande bis in die letzten Nebelwolken des Firmamentes em-
porstinkt, ärger als Schwefel aus dem Höllenpfuhl." Dort stellte
sich 1859 die erfreuliche Thatsache heraus, daß sämmtliche Mit-
glieder der beiden Häuser, welche das Volk repräsentiren, und
obendrein der Gouverneur, von einer Eisenbahneompagnie sich
hatten bestechen lassen; es waren vier Deutsche, welche allein reine
Hände behalten hatten. Dic ganze Angelegenheit kam an den
Tag, dic beschworenen Nachweise und Doeumcnte wurden nebst
den Summen, welche jeder Einzelne bekommen hatte, vcröffent-
licht. Aber von gerichtlicher Verfolgung, Ploceß und Strafe war
keine Rede; man legte die Papiere zu den Acten und damit war
Alles abgethan.
Jetzt, vor wenigen Wochen, haben die Repräsentanten dessel-
ben Staates Wisconsin einen Beschluß gefaßt, der ganz im Sinn
und Geiste jener biederen Volksvertreter von 1859 ist. Der Volks-
Vertreter hat Portofreiheit und ist in derselben nicht beschränkt;
er bekommt so viele Postmarken als er verlangt. Nun haben die
Repräsentanten es angemessen und für sich ersprießlich gefunden,
daß ein jeder derselben sich während der Sitzungszeit wöchentlich
für 15 Dollars Freimarken verabfolgen lasse, die er natürlich
verkauft und solchergestalt in smartester Weise seine Einnahmen
steigert.
Der alte wildgrimmige Thaddäus Stephens, einer der
ärgsten Erterminatoren unter den Radiealrepublikanern im Eon-
greß, ist ein Pennsylvanier und ein sehr reicher Mann. Bei ihm
liegt der wilde Fanatismus durchaus im Temperamente, er ist bei
ihm nicht Maske wie bei manchen anderen Leuten seiner Partei;
auch hat er, als ein gemachter Mann, es gar nicht nöthig, sich
bestechen zu lassen. Neulich erklärte er, der seinen Staat grüud-
lich kennt, „daß die ganze pennsylvanische Legislatur
durch und durch bestechlich ist und derselbe Schandsleck
auf der legislativen Körperschaft jedes einzelnen Staa-
tes haftet. Die Leute kommen arm in die Gesetzgebung und
wenn sie dieselbe verlassen, dann sind sie reich. Die Bestechung
wird ganz offen und bei Hellem lichten Tage prakticirt und zwar von
Personen, die anerkanntermaßen ein Handwerk daraus machen,
die Bestechung zu besorgen. Sie stehen aber deshalb in der öffent-
lichen Achtung nicht etwa niedriger da."
Neulich sind auch einnial die skandalösen Vorgänge in der
Legislatur des Staates Neuyork, die inAlbany ihreSitzun-
gen hält, aufgedeckt worden. Dieselbe hat während ihrer dies-
jährigen Session alle Maßregeln, welche zum allgemeinen Wohl
und Nutzen hätten dienen können, ganz unbeachtet gelassen und
sich lediglich damit beschäftigt, Gesetze, welche gewissen Cmnpagnien
und Individuen Geld in die Tasche bringen, gutzuheißen. Da-
bei spielt eine geradezu colossale Bestechlichkeit eine große Nolle;
sie ist so offen und so unverschämt betrieben worden, daß selbst
in Nordamerika, wo man doch längst an die allerstärksten Dinge
gewöhnt ist, ein großes Aufsehen entstand. Die überwiegende
Menge dieser Volksvertreter besteht aus Radiealrepublikanern, die
in Bezug aus Corruption Alles weit hinter sich lassen, was die
demokratische Partei jemals in diesem Artikel geleistet hat. Sie
haben die Majorität und benutzen nun ihre Zeit. Die Minorität,
welcher ja keine Entscheidung zukommt, „rauft nicht mit von der
Krippe," sie kann also einer tugendhaften Entrüstung Worte ver-
leihen. Man könnte dieselbe auf Rechnung des Neides schreiben,
denn wer bei reichlichen Spenden leer anögeht, pflegt übler Laune
zu sein.
Die Sache selbst gewinnt aber ein ganz anderes Aussehen,
wenn die Anklagen innerhalb der Partei selbst erhoben und die
Nachweise für die Infamien von dem angesehensten Organe der-
selben geliefert werden. Wir meinen die „Newyork Tribüne"
(vom 19. und 29. März und vom 3. April). Sie schreibt:
„Während der letztverflossenen zwölfJahre gab es im Senate
nicht 10, in der Assembly (des Staates Neuyork) nicht 30 Man-
ner, die ihre Stimmen aus Princip und ohne Bestechung abge-
geben haben für die Genehmigung einer Eisenbahn oder für eine
Maßregel, welche Individuen Vortheil bringt. In allen Fäl-
len ohne Ausnahme, wann und wo eine derartige Maßregel
in Frage kam, sind viele Stimmen durch Baarzahlung, andere
durch Betheiligung an dem profitabel» Geschäfte bezahlt worden."
Dann werden Einzelnheiten nachgewiesen, mit den Namen der
Betreffenden und mit Documenten. Seit 1853 hat allein die
Newyork Central Eisenbahneompagnie für Bestechun-
gen an die Volksvertreter mehr als 500,000 Dollars
ver ausgab t. Im Jahre 1865 wünschte sie eine Maßregel durch-
gesetzt zu sehen, welche einem Ausschuß im Senate zur Begut-
achtung vorlag; dic Mitglieder dieses Comites sind namhaft ge-
macht. Diesen 5 Männern zahlte die Compagnie 20,000 Dollars
und versprach, weitere 5000 Dollars zu schenken, wenn die Maß-
reget definitiv genehmigt worden sei. Man sollte meinen, daß
5000 Dollars für den Mann eine ganz erkleckliche Summe be-
44*
348 Aus allen
tragen, aNein die fünf Senatoren waren damit noch lange nicht
zufrieden. Die Bill passirte endlich im Senate, aber bis dahin
kostete es noch viel Geld. Ein Senator, der aber nicht ein-
mal zu den einflußreichen Mitgliedern gehört, for-
derte25,000Dollars für feineStimme und — erhielt
dieselben, und zwar so, daß 10,000 Dollars im Vor-
aus bezahlt werden mußten. Jene Eisenbahncompagnie hat
1865 weit über 100,000 Dollars für Bestechungen ausgegeben.
Heber die Legislatur, welche gegenwärtig in Albany ihre Sitzun-
gen hält, heißt es in der „Tribüne": „Ihre Vorgänger sind we-
gen ihrer feilen Käuflichkeit und habsüchtigen Gier berüchtigt ge-
Wesen, aber diese Leute hier verkaufen ihre Stimmen
ganz öffentlich, sie verschachern dieselben ohne Hehl daraus zu
machen und rühmen sich obendrein, wenn sie eine hübsche Summe
herausgeschlagen haben." *
Keine einzige der also angeschuldigten und namentlich ange-
führten Personen hat auftreten können, um sich zu rechtfertigen
oder die „Tribüne" zur Verantwortlichkeit zu ziehen. Ein zwei-
Crdtheileu. -
tes Blatt der radicalrepnblikanifchen Partei, die „Newyork Times",
wiederholt die Anschuldigungen der „Tribüne". „Als Regel kann
man annehmen, daß während der letztverflossenen zehn Jahre ein
Fünftel der Mitglieder gewohnheitsmäßig die Stimmen verkauft
hat. Die Thatsache ist ganz notorisch, aber noch nie ist einer
von jenen Bestochenen zur Verantwortung gezogen und bestrast
worden. Was wir hier sagen, das wissen Hunderte, und wir un-
sererseits wissen aus Erfahrung, daß keine Bill, deren Genehmi-
gung einem Privatmanne oder einer Compagnie Vortheil bringt,
in Albany Passiren kann, außer wenn Mitglieder für ihre Stim-
men bezahlt werden."
„Bestechen und Bestochen werden gilt hier zu Lande
nicht für infam, man denkt darum nicht gerade schlechter von
den Leuten. Gesetzlich sollen im Staate Neuyork beide Theile mit
Gesängniß bestraft werden, deshalb gerade bleibt die Corruption
ungeahndet, denn wer will sie so bündig und gründlich nachwei-
sen, daß der Richter verurtheilen kann? Bestecher wie Besteche-
ner haben nicht Lust, ins Gesängniß zu wandern."
Aus allen
Die ethnographische Ausstellung in Moskau. Die Er-
öffnung der ethnographischen Ausstellung, mit welcher ein mehr
oder weniger improvisirter Slaveneongreß verbunden ist, wurde
am 5. Mai durch den Großfürsten Wladimir Alerandrowitsch feier-
lich eröffnet. Die Ausstellung besteht zum großen Theil aus höl-
zernen Figuren, mit den verschiedenen Nationalcostümen angethan.
Doch sind auch manche historische und unhistorische Kostbarkeiten
und Seltsamkeiten zusammengebracht. Der gedruckte Katalog
weist drei Abtheilungen nach. Die erste enthält die Figuren-
gruppen, welche die Bewohner Nußlands und die in den Nach-
barländern wohnhaften slavischen Stämme darstellen, und zwar
1) die nichtrussischen Stämme in 114 Figuren, und 2) die slavi-
fchen Stämme, unter welchen die Ostslaven auch mit 114, die
West- und Südslaven mit 63 Figuren vertreten sind. Die Zahl
sämmtlicher Figuren beläust sich daher auf 291. Die zweite Ab-
theilung ist die allgemeine ethnographische, welche 155 Eostüme
ohne Figuren, Gegenstände zum häuslichen Gebrauche, wie Werk-
zeuge, Geschirre, musikalische Instrumente :c., im Ganzen 564
Nummern, 69 Modelle von Baulichkeiten und 274 von Werk-
zeugen und Geräthen enthält. Alle diese Dinge sind an verschie-
denen Stellen des Ausstellungslocals bei den ihnen entsprechenden
Figuren aufgestellt. Hierher gehören auch die verschiedenen Samm-
lungen, wie Liedersammlungen, Zeichnungen, photographische Dar-
stellungen :c. Die dritte Hauptabtheilung endlich, welche die
anthropologische genannt werden kann, hat eine Reihe von
Schädeln und Gebeinen, eine Sammlung anatomischer Präparate,
Alterthümer aus den Kurganen (Grabhügeln) und eine Samm-
lung alter und steinerner Gerätschaften aufzuweisen. Zur un-
gefähren Charakteristik des Ganzen entnehmen wir der „Russi-
schen Zeitung" noch folgende Angaben: Auf dem ersten Plan
stehen die Figuren der einzelnen Stämme, welche die Ausstellung
in ihren vollständigen Nationalcostümen vorführt. Besonders sind
die Figuren gelungen, deren volkstümlicher Typus scharf hervor-
tretende Eigenthümlichkeiten darbietet, oder die mit irgend einer
Verrichtung beschäftigt sind. Höchst charakteristisch ist die Gruppe
der indischen Feueranbeter in der Umgegend von Baku, die übri-
gens nicht mehr vorhanden sind. Diese Gruppe, aus sieben halb-
nackten Figuren bestehend, und nach dem bekannten Gemälde des
Fürsten Gagarin von dem Akademiker Jwanoff und dem Künstler
Ljubimoff gebildet, hat etwas Wildgrandioses an sich. Ebenso gut
gelungen sind auch die anderen Stämme mit scharf ausgeprägten
typischen Eigenthümlichkeiten, so die Aleuten, die Samojeden, die
Tataren, die Baschkiren, in einer lebendigen Scene ihres sommer-
lichen Nomadenlebens dargestellt, die sibirischen Kirgisen mit ih-
ren Hundeschlitten, die Orenburger Kirgisen und die Kalmücken
neben ihren Filzhütten, und einige kaukasische Stämme, denen sich
noch ein paar Zigeunerfiguren beigesellen. Zu den Kleinrussen
Lrdtheilen.
gelangend, bemerkt man hier besonders einen Tschumak (Ochsen-
fuhrmann) des Gouvernements Woronefch, der durch seine typisch
treue Nachbildung die Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Dann kom-
men die Weißrussen und überhaupt die Bewohner der westlichen
und polnischen Gouvernements und endlich die außerhalb Ruß-
lauds wohnenden Slaven: Serben, Bulgaren, Montenegriner:c.
Die Großrussen werden in Typen aus fünfzehn verschiedenen
Gouvernements in drei Gruppen eingeführt, von denen die eine,
welche eine Jsba (Wohnstube) neben sich hat, die industrielle ge-
uannt werden kann, die zweite auf einem Bergesabhang eine
Jahrmarktsscene darstellt, in deren Vordergrund eine Wind-
mühle steht, während der Hintergrund durch ein als Decoration
gemaltes großrussisches Dorf geschlossen wird, die dritte endlich
den Ackerbau repräsentirt, und eine Jsba mit allem landwirth-
schaftlichen Zugehör aufzuweisen hat. Ein Correspondent der
„Zukunft" schreibt über die Ausstellung: „Art der Spitze der Ab-
theilung nichtrussischer Abstammung stehen die Polen. Die nächste
Gruppe besteht aus Großpoljanen. Dieser kräftige polnische Stainm
gehört nun zum großen Theil dem mit Riesenschritten germani-
sirenden preußischen Königthum, und zwar dem Grenzgebiet des
letztern an. An diese schließt sich die Gruppe der Masuren aus
der Umgegend von Warschau an. Den Blick sesselt besonders
eine junge, überaus liebliche weibliche Gestalt; sehr charakteristisch
und künstlerisch vollendet ist auch die neben ihr stehende Alte.
Siehe da endlich eine kleine Gruppe österreichischer Polen! Hin-
ter den Masuren stehen nämlich die Krakauer. Ihre Eostüme
sind im Allgemeinen recht hübsch, allein die Physiognomie steht
mit denselben nicht ganz in Harmonie. Einer großen Ausmerk-
samkeit erfreut sich hier die Gruppe der Kurpen aus der Umge-
gend von Ostrolenka, welche von gemischter Abstammung sind und
Bastschuhe tragen. Ein Mann dieser Gruppe erhob sich mittelst
eines sehr sinnreichen Mechanismus auf einen — Fichtenbaum."
(— Wir hoffen, Ausführlicheres über diese jedenfalls interessante
Ausstellung bringen zu können. —)
Die Hülfsquellen Rumäniens. Die nun vereinigten
Fürstentümer Moldau und Wallachei find von der Natur reich-
lich bedacht worden, aber der Bevölkerung mangelt die Begabung,
etwas aus ihnen zu machen'', und ein Bürger- und Bauernstand
in unserm Sinn ist nicht vorhanden, weil das Volk dazu keine
Anlage hat. Die wirtschaftlichen Verhältnisse sind noch völlig
primitiv. Trotzdein hat das Land 1366 für etwa 300 Millionen
Piaster (jeden zu etwa 23 Centimes Werth) ausgeführt und für
170 Millionen eingeführt. Es fehlt an Landstraßen, die Acker-
geräthe sind roh und unvollkommen, das Feld wird nachlässig
bestellt. Das Land führt gerade von denjenigen Artikeln ein,
die es selber bei sich im Ueberfluß hat, z. B. Ochsen, Büffel
Aus allen
und Schweine in der Wallachei und Getreide in der Moldau.
Es ist vortheilhaster, diese Sachen aus der Fremde einzuführen,
weil die Vorräthe im Lande selbst aus Mangel an Straßen nicht
vertheilt werden können. Gold ist vorhanden, z. B. im Bezirke
Vilcea; bei Argis oberhalb Oisti; an der Dimbowitza östlich
von Junapesti und an der Jalomitza zwischen Valeni und Bra-
nesti. Goldführende Flüsse sind der Oletzu und Lotru im Di-
stricte Vilcea; der Valea Casselor im District Muskel, und die
Volcana, ein Nebenfluß der Jalowitza. Auch in den Gebirgen
ist Gold; Kupfer findet man im Bezirke Mehedritzi in der kleinen
Wallachei, Eisen an vielen Punkten, z. B. bei Fokschani und Ko-
marnik an den Karpathen» und die Qualität ist ganz auSgezeich-
net. Dazu kommt der große Reichthum an Holz, Steinkohlen
und Braunkohlen, aber noch hat Niemand daran gedacht, densel-
ben auszubeuten. Die Salzwerke von Vilcea, Prahova und Bou-
zee liefern jährlich an 80 Millionen Pfund; sie sind Regierungs-
Monopol. Steinsalz ist überhaupt in Menge vorhanden. Als
man im Bezirk Argis beim Bau eines Hauses Quecksilber fand,
grub man nicht etwa nach, sondern bauete weiter und gab der
Sache keine Folge. Bei Prahova und Bouzee sind Petroleum-
quellen. Alles was Industrie heißt, befindet sich in den Händen
von Ausländern.
Die Juden in Serbien. Während die im Gebiete des
türkischen Sultans lebenden Christen die Sympathie ihrer Re-
ligionsgenosseu in Europa anrufen, fällt ihnen arge Intoleranz
gegen die Juden zur Last. Da, wo diese unter Mohammedanern
leben, werden sie gut behandelt, dagegen bitter verfolgt und schwer
gedrückt, wo sie unter Christen wohnen. Ein Bericht des engli-
schen Generalconsuls Longworth in Belgrad sagt, daß die ärgste
Intoleranz in Serbien herrsche; die englische Regierung ließ dem
Fürsten Michael eindringlich vorstellen, wie schmachvoll das Ver-
fahren sei, auch versprach er alles Gute, aber er kann nichts
ausrichten. Die Volksvertretung (Skuptschina), die Geistli-
ch en der griechischen Kirche, die haudelsneidischen serbischen Kauf-
teilte und das rohe Volk sind die Stützen der Barbarei. „Man
verweigert den Juden selbst die gewöhnlichsten bürgerlichen und
religiösen Rechte, legt ihnen alle denkbaren Hindernisse in den
Weg, gestattet ihnen nicht, von einem Orte nach einem andern
zu ziehen, und in Belgrad sind sie auf den schmutzigsten Stadt-
theil beschränkt. Der Serbe betrachtet den Juden kaum als ein
menschliches Wesen." Solchen Christen steht es allerdings nicht
eben wohl an, über türkischen Druck zu klagen.
Ans der russischen Provinz Tnrkestan bringen russische
Blätter folgende Nachrichten: In Betreff unserer politischen Be-
ziehungen zu den dem Gebiete Turkestan benachbarten Chanaten
wird vom Anfange des März aus Taschkend geschrieben, daß
in Buchara dem Anscheine nach Alles ruhig sei. Der Emir hat
sich nach seiner Rückkehr aus dem Feldzuge gegen den Chan von
Schere-Sebs in Buchara niedergelassen, er beabsichtigt aber,
nach Samarkand zu gehen, wo er, aus Furcht vor dem Nahen
der Russen, starke Befestigungen aufführen läßt. Man sagt auch,
daß er 14 Engländer ausgefordert habe, in feinen Dienst zu tre-
ten, mit deren Hülfe er seine Armee zu reformiren gedenke; übri-
genö höre man, daß das Volk nicht günstig für den Emir ge-
stimmt fei. Wie dem aber auch sei, der Emir unterhält keinen
schriftlichen Verkehr mit unseren Behörden in Taschkend. Mitt-
lerweile geht der Handel ruhig fort und fast täglich kommen bu-
charische Karawanen auf unser Gebiet. Im Januar und Februar
erschienen zwei Räuberbanden zwischen Tschinas und Tschar-Dar
und weiter hinauf, bei welchen sich der berüchtigte Sadyk beson-
ders auszeichnete. Zur Zügelung dieser Banden wurden die ge-
eigneten Maßregeln ergriffen, welche auch zu dem erwünschten
Resultat führten. — Mit Chokand haben unsere Beziehungen
einen so friedlichen Charakter angenommen, daß Chudo-jar-Chan
den General Manteuffel, welcher die Function eines Kriegsgou-
verneurs im Lande versieht, durch eine besondere Gesandtschaft zur
Ceremonie der Beschneidung seiner Kinder eingeladen hat. Auch
dort geht unser Handel gut; dem Beispiele des Kaufmanns Chlu-
dow sind andere Kaufleute gefolgt und haben Waaren nach
dem Chanat geschickt. Auf Bitten des Hrn. Chludow haben
unsere Behörden ein Schreiben an den Chef der Stadt Chokand
Echtheiten. 349
gerichtet, in welchem demselben für die Förderung des Handels
unserer Kaufleute unsere Geneigtheit ausgesprochen wird. Das
tägliche Ankommen von Karawanen mit Baumwolle
für unsere Kaufleute beweist, daß der russische Handel mit diesem
Chanat sich mehr und mehr entwickelt.
Die Kissilbaschen in Kurdistan. Wir entlehnen einem
Berichte des um die Erforschung der oberen Euphratgegenden sehr
verdienten britischen Consuls für Kurdistan, Taylor, die folgenden
Angaben. Die Kissilbaschen sind von der Pforte fast unabhängig,
zahlen Abgaben nur wenn sie wollen, verweigern Reeruten und
gehorchen nur eingeborenen Häuptlingen. Die männliche Bevöl-
kerung beträgt nicht unter 200,000 und sie können 25,000 Krie-
ger mit Luntenflinten aufstellen. Die Häuptlinge sind reich, die
Masse ist arm; sie muß an die Agas den fünften Theil der
Ernte und außerdem noch Butter, Schafe und Geld abgeben.
Ihre Religion ist ein Gemisch von uraltem Sabäismus (Gestirn-
dienst), Christenthum und Mohammedanismus; sie verehren
die Sonne, Steine und Bäume; manche ihrer Lehren sind
mit jenen der Karinathier und Assassinen verwandt, welche im
dritten Jahrhundert der mohammedanischen Zeitrechnung aus-
kamen. Ali nimmt in der Verehrung der Kissilbaschis die erste
Stelle ein, Jesus wird sehr hoch geachtet; man glaubt, daß er
gleich allen Propheten und heiligen Männern von Adam bis auf
Ali eine Jnearnation der Gottheit sei. Ali war die letzte, er
gilt ihnen als „das Wort, der Ungeschaffene, der vom Licht er-
zeugte, der Löwe Gottes, der Vollkommene, Gerechte, Wahre".
Man hat behauptet, daß sie bei ihren religiösen Versammlungen
unzüchtige Dinge trieben, das ist aber nicht wahr. Sie beten
in dunkelen Räumen; manchmal genießen sie geweihxtes Brot
und Wein; also eine Nachahmung des Abendmahles. Sie lesen
und schreiben ^icht; in geistlichen Dingen folgen sie religiösen
Häuptlingen, den Deydis und Seyidis, welche vorbeten und das
Lob Ali's und der zwölf JmamS singen. Während der letzten
Jahre haben die amerikanischen Missionaire von Charput aus
einige Bekehrungen unter ihnen gemacht, und Taylor meint, daß
die Bekehrten „vom wahren protestantischen Geiste durchdrungen"
seien; wir lassen das dahingestellt sein. Als Volk sind die Kissil-
baschen bei allen ihren Nachbaren mißliebig; man findet sie nicht
bloß in den unzugänglichen Gebirgen der obern Euphratgegend,
sondern auch bei Siwas in Kleinasien, in den Bergen bei Ma-
latia, Patu, bei Adiamon und bei Charput; die Mohammedaner
sind ihnen verhaßt. Taylor weift darauf hin, daß sie in einem
Kriege Rußlands gegen die Türkei der letztern sehr gefährlich wer-
den könnten. Wenn die Russen, sagt er, von Bayasid oder von
Müsch her angreifen und den Weg in dem fruchtbaren Thale des
Diyadiu, eines Quellflusses des Euphrat, nehmen, dann kommen sie
durch eine armenische Bevölkerung, die ihnen nicht feindlich ge-
sinnt ist, und es würde ihnen nicht schwer fallen, die Kissil-
baschis sich zu verbünden.
Die Dampfer auf dem Amazonenstrome bringen im-
mer mehr Leben in die Ufergegenden und bis weit ins Binnen-
land hinein. Im April hielten zu Rio de Janeiro die Antheil-
Haber der Compagnie ihre Jahresversammlung. Die Aetionaire
erhielten 6 Procent Dividende. Von den Einnahmen, 410,006
Mil-Reis (zu 22 Silbergroschen), kamen mehr als 111,000 M.-R.
auf die Einnahme von Fahrgästen und 298,000 M.-R. auf die
Frachten. Die Schiffe haben das ganze Jahr hindurch stets volle
Ladung gehabt, und der Waarenandrang war so groß, daß sie
nicht selten beträchtliche Quantitäten sür die nächste Fahrt zurück-
lassen mußten. Die Waarenbeweguug stellte sich auf 8,426,929
M.-R., wovon 3,991,931 M.-R. auf die Einfuhr und 4,434,697
M.-R- auf die Ausfuhr kommen. Der Verkehr mit Peru wächst
auf dem Amazonenstrome; die Compagnie vermittelte mit diesem
Lande eine Handelsbewegung von 1,237,000 M.-R. Den Ma-
deirasluß hinab kamen Güter im Werthe von 650,000 M.-R.:
Kautschuk, Cacao, Brasilnüsie, vegetabilische Oele und audere
Landeserzeugnisse, zum größten Theil aus Bolivia.
. Wir wollen hier beifügen, daß ein Dampfer den Toca ntins
hinabgefahren ist; er hatte Monate lang zwischen den Katarakten
festgelegen bis Hochwasser kam. — Die Bahia-Dampfer-
compagnie legt jetzt regelmäßig bei den Zwischenhäfen Est an-
350
Aus allen
Erdtheilen.
cia, Cspiritu Santo, San Christovao, Araeaja, Pe-
nedo und Maceio an.
Der Suezcanal. Der englische Direetor der Canaleom-
pagnie hat zu Anfang des Mai bekannt gemacht, daß Waaren
vom Port Said am Mittelmeer nach Suez am Rothen Meere
zur Beförderung angenommen werden. Der Tarif beträgt für
jede Tonne (20 Centner) 25 Francs, für Kohlen 21 Francs. Er
spricht die Erwartung aus, daß zu Anfang des Jahres 1870 der
Canal für größere Seeschiffe fahrbar sein werde.
Jerusalem als Handelsstadt. Sie zählt höchstens
18,000 Seelen, darunter 5000 Mohammedaner und 3000 Juden;
die übrigen sind Christen verschiedener Seeten. Industriezweige
sind Seifensiederei und die Verfertigung sogenannter Jerusalem-
waaren: Rosenkränze, Crucifire, Kreuze und dergleichen Dinge
mehr aus Olivenholz und Perlmutter. Am Todten Meere findet
man Schwefel, Naphtha und Steinsalz, aber man zieht keinen
Gewinn daraus; die Gegend ist zu unsicher. Der Ackerbau
ist völlig im Urzustände; man erntet Oel und Getreide; im
Kreise Nablus wächst auch eine geringe Sorte Baumwolle, die
zumeist nach Marseille geht. Manchmal richten die Heuschrecken
arge Verwüstungen an. Im September 1866 sind 156 Nord-
amerikaner ins „heilige Land" gekommen und haben sich in der
Nähe von Jaffa angesiedelt; diese religiösen Schwärmer haben
als praktische Uankees hölzerne Häuser und gute Ackergeräthe
mitgebracht. Aus fremden Ländern führt Jerusalem nur etwas
Baumwollen- und Wollenwaaren, Eisenwaaren, Glas und der-
gleichen mehr. Das Sandschakat, d. h. Provinzialdistriet, Jeru-
salem hat 200,000 Bewohner, wovon 160,000 Mohammedaner,
10,000 Juden und etwa 30,000 Christen sind. Nach dem Ha-
fenplatze Jaffa sührt auch heute noch keine Straße und die Be-
duinen machen das Land unsicher. Der Pascha hat die Teiche
Salomo's reinigen und die alte Wasserleitung wieder herstellen
lassen, und das ist eine große Wohlthat für die Stadt. Mit
Europa steht Jerusalem vermittelst der Telegraphen nach Beyrut
und Alerandria in Verbindung.
Volksmenge in den Städten Großbritanniens. Die
jüngste Zählung, von 1867, ergiebt für London 3,082,372 Seelen,
Edinbnrg, Stadt, 176,081; Dublin, Stadt und einige Vorstädte,
319,210; Liverpool 492,439; Manchester, Stadt, 362,823 und
Borough Salford 119,013; Glasgow 440,979; Borough Bir-
mingham 343,948; Borough Leedö 232,428; Borough Sheffield
222,199; Bristol 165,572; Newcastle am Tyne 124,960; Hüll
106,740.
Volksmenge in den Städten der preußischen Mon-
archie. Von den gegenwärtig vorhandenen 1212 Städten der
preußischen Monarchie haben nach der Zahlung von 1864 nur 4
Städte über 100,000 Einwohner, nämlich Berlin 632,749, Bres-
lau 163,919, Köln 122,162 und Königsberg 101,507 Einwohner.
Elf Städte haben zwischen 50- bis 100,000 Einwohner, nämlich:
Danzig 90,334, Hannover 79,649, Frankfurt a. M. 78,177, Stet-
tin 70,759, Magdeburg 70,145, Aachen 63,511, Elberfeld 62,088,
Barmen 59,544, Crefeld 53,421, Posen 53,383 und Altona 53,039
Einwohner. 100 Städte haben zwischen 10-bis 50,000 Einwoh-
ner, 123 zwischen 6- bis 10,000 Einwohner, 600 von 2-bis 7000
Einwohner und 374 unter 2000 Einwohner. Die Bevölkerung
des platten Landes ist stärker als die der Städte. Das Verhält-
niß der städtischen Bevölkerung znr ländlichen berechnet sich in
den alten Provinzen wie 100:238, in Hannover wie 100:285,
in Kurhessen wie 100:276, in Nassau wie 100:257, in Holstein
wie 100: 390 und in Lauenburg wie 100: 460. Nur das Ge-
biet Frankfurt a. M. hat eine überwiegend städtische Bevölkerung
aufzuweisen.
Die Volksmenge von Neusüdwales belief sich am 1.
Januar 1867 auf 431,414 Seelen.
In der Colonie Victoria, Australien, sind 1867 ange-
kommen 1686 männliche und 2508 weibliche Einwanderer,
die ganz oder theilweise von Seiten der Regierung Reiseunter-
stützung erhalten hatten. Auf eigene Kosten wanderten ein 3065
männliche und 1255 weibliche Seelen. — In der Nähe von
Hurdy Gurdy, 35 Miles von Cranbury entfernt, ist ein sehr er-
giebigcs Kohlenfeld in Angriff genommen worden.
Kuli- und Negereinwanderung in Westiudien und
Mauritius. Nach Aufhebung der Negersklaverei fehlten die
Arbeitskräfte und um dem völligen Ruin vorzubeugen mußte man
Arbeiter aus Asien holen. Dazu kamen noch Neger, welche man
den Sklavenschiffen abnahni; viele derselben wurden als „Lehr-
linge" nach Westindien gebracht und mußten dort eine Reihe von
Jahren unter sest bestimmten Bedingungen arbeiten. So wurde
dem Mangel einigermaßen abgeholfen. Ein Blaubuch bringt nun
Zahlen über diese aus Asien und Afrika hinübergebrachten Ar-
beiter. Die westindischen Colonien erhielten deren 191,076 in
den Jahren von 1843 bis 1866. Davon kamen 99,647 aus Ost-
indien, 27,968 aus Madeira, 16,349 aus China, 15,224 aus
Britisch-Westindien selbst, 14,474 aus St. Helena, 12,382 aus
Sierre Leone, 1320 von Rio de Janeiro, 1198 von den Cabo-
Verden, der Rest aus der Havana, von der afrikanischen Krn-
küste, den Azoren, Canada, Martinique, Guadeloupe je.
Die Zuckerinsel Mauritius im Indischen Ocean litt
anfangs am meisten, weil mit den freien Negern seit der Eman-
eipation platterdings nichts anzufangen war, auch ist seit jener
Zeit die Sterblichkeit unter denselben auffallend groß. Die Co-
lonisten wandten sich nach der ihnen zunächst liegenden Malabar-
küste und holten von dort fleißige Arbeiter, dann verschafften sie
sich dergleichen auch auö anderen Gegenden. Sie bekamen seit
1843 nicht weniger als 339,412 Arbeiter, davon 336,076 aus
Indien, 632 aus Aden, 843 aus China, 325 von der afrikani-
fchen Ostküste, 39 aus Madagaskar; das übrige waren Neger,
welche man den Sklavenschiffen abgenommen hatte. Zwischen
Mauritius und Indien ist die Arbciter-Ein- und Auswanderung
in ein regelrechtes System gekommen. Die Malabaren arbeiten
eine dnrch freien Contraet bestimmte Anzahl von Jahren; manche
erneuern denselben, andere gehen mit ihren Ersparnissen nach In-
dien zurück und schicken statt ihrer, zur Ausfüllung der Lücke,
Verwandte oder andere Leute aus ihrer Heimathgegend. Die An-
zahl der Arbeiter, welche in dieselbe zurückgingen, hat von 1843
bis 1866 die Zahl von 86,414 betragen.
Aus Jamaica sind seit 1344 nach Indien zurückgegangen : aus
Trinidad 3194, aus Britisch-Guyana 6341; jene ans der letzten
Colonie nahmen an erspartem Gelde nicht weniger als 91,973
Pf. St., also ungefähr 640,000 deutsche Thaler, mit heim; die
von Trinidad eine Summe von 53,861 Pf. St. Das hätten die
Neger verdienen können, wenn es ihnen genehm wäre, am Tage
acht Stunden zu arbeiten. Das hat ihnen aber nicht gepaßt und
statt ihrer sind fleißigere Leute wohlhabend geworden.
Ein Urtheil über Mexico. Harris, früher Gouverneur
des Staates Tennessee, der sich längere Zeit in Merico aufhielt,
schließt einen Bericht über dasselbe mit folgenden Worten: „Die
Bevölkerung mag ungefähr 8 Millionen Seelen betragen; wenn
7 Millionen davon ausgerottet und vertilgt werden, dann ist es
vielleicht möglich, daß die übrigbleibende Million unter sich Frie-
den hält."
Menschenspuren im alpinischen Diluvium sind jüngst
von einem Herrn Husson bei Villey St. Etienne, unweit Toul
in Lothringen, gefunden worden. Cr schreibt an die Pariser Aka-
demie , daß Arbeiter in einer Kiesgrube eiuen Schädel und meh-
rere Knochen gefunden hätten; aber erst nach Verlauf von einem
Monat erfuhr er etwas davon. Als er an Ort und Stelle un-
tersuchte, fand er nur noch das Bruchstück einer Tibia, aber in
einem solchen Zustande, daß er nicht mit Gewißheit sagen konnte,
ob sie ein Menschen- oder Thierknochen sei. Es kamen aber auch
Feuersteingeräthe zum Vorschein, und in der oberen Lage, die aus
nachalpinischem Diluvium besteht, fand er Spuren von Asche und
Bruchstücke von Töpfcrgefchirr.
Ein Denkmal auf Ferdinand Magellan's Grabe. Be-
kanntlich fuhr der kühne Seemann, nachdem er durch die Straße,
welche seinen Namen führt, gesegelt war, in nordwestlicher Rich-
Aus allen
tung und erreichte Zebu, eine der Philippinischen Inseln; dort
kam er in feindselige Berührung mit dem Häuptling der kleinen
Insel M acta n. Die Klugheit gebot, sich auf einen Kampf nicht
einzulassen, aber bei Magellan überwog die romantische Rauflust
jener Zeit. Er wählte aus seiner Mannschaft 50 der tapfersten
Leute, fuhr nach Maetan hinüber und mußte, um ans Land zu
gelangen, durch ein sumpfiges Mangrovegebüsch waten. Das
Wasser ging den Spaniern bis an die Hüfte. Noch bevor sie se-
sten Boden unter sich hatten, wurden sie aus einem Hinterhalte
von den Eingeborenen mit einem förmlichen Hagel von Steinen
überschüttet; Magellan wurde nebst sechs seiner Gefährten tödt-
lich getroffen. 91n der verhängnißvollen Stelle ließen die Au-
gustinermönche, welche die Erpedition begleiteten, ein Grab gra-
ben und pflanzten ein Kreuz auf dasselbe. Dieses ist dann von
Zeit zu Zeit erneuert worden. Im Jahre 1866 hat nun ein
spanischer Oberst auf den Philippinen, Manuel Creus, mit
einem hübschen steinernen Denkmale die Stätte bezeichnet, an
welcher seit 1521 die Gebeine des ersten Erdumfeglers ruheu.
Cine gleichartige Thermometerseale. Wir erhalten
von einem Abonnenten des „Globus" in Triest folgende Mitthei-
lung. „Da eben jetzt Kommissionen tagen, um einer Welt-Gold-
münze Eingang zu verschaffen und die Annahme eines allgemei-
nen gleichmäßigen Gewichtes u. s. w. durchzusetzen, so wäre es
auch an der Zeit, der Einbürgerung einer gleichartigen Mes-
suugsmethode für Wärme und Kälte und des Meridians die Aus-
merkfamkeit zuzuwenden. Jetzt gilt dem Engländer als Wärme-
m e fse r die Scala Fahrenheit's, dem Franzosen hauptsächlich jene
Reaumur's, dem Deutschen diese und Celsius, also drei verschic-
dene Methoden! Ebenso findet man auf den Landkarten und den
noch wichtigeren Seekarten den ersten Meridian — je nach den
Ländern, wo sie erscheinen — über Greenwich, Paris oder die
Insel Ferro gezogen, also ebenfalls drei verschiedene Methoden.
Da nun hinsichtlich der See karten die Engländer das Vorzüg-
lichste und am weitesten Verbreitete geleistet haben, so wäre der
allgemeinen Einführung des Meridians von Greenwich wohl der
Vorzug zu gönnen, sowie auch die Methode, nach Fahrenheit zu
rechnen, ebenfalls durch England in den meisten transoceanifchen
Ländern sich bereits Bahn gebrochen hat. Die größeren Handels-
marinen haben sich bereits durch Annahme der Marryat'schen
Flaggensignale eine Allen verständliche Universalmittheilungs-
Methode geschaffen, und obige Vorschläge dürften vielleicht leichter
ins Leben zu rufen sein als die Einführung einer Weltmünze
und eines allgemeinen Gewichtes. Ein Rheder."
Die Bildung des Korallen-Riffes von Florida, lieber
die Zeitdauer, welche zur Bildung desselben erforderlich gewesen ist,
haben vor Kurzem wissenschaftliche Erörterungen stattgefunden,
durch welche man zu folgendem Resultate kam: Wenn man den
lebenden Theil des Riffs betrachtet, d. h. denjenigen, in welchem
sämmtliche Polypen noch eristiren und die Ausdehnung der Bank
vergrößern, so findet man, daß dieser Theil des Riffs gleich ist
einem Zwanzigstel seiner Breite und daß seine Tiefe dreihundert
Faden oder Klafter beträgt, sowie daß es um etwa einen halben
Zoll jährlich wächst. Hiernach wären achthundertundvier-
und sechszig tau send Jahre zu seiner Bildung erforderlich ge-
wesen. Nimmt man aber an, daß diese Bank sich vom Borge-
birge Florida bis an die Tortugasbank erstreckt, so würde man
ihr eine Million Jahre zuschreiben müssen. Dies gilt aber nur
für den lebenden oder äußern Theil der Bank. Es wurde in-
dessen angenommen, daß sie gegen Alabama hin zweihundertund-
fünfzig Fuß, an der Südseite aber achtzehnhundert Fuß dick sei,
also eine mittlere Dicke von neunhundert Fuß habe und
daß mithin zu ihrer Bildung wenigstens eine Zeit von fünf
Millionen und vierhunderttausend J ahren erforderlich ge-
wesen ist.
Kohlengrusen in Belgien. Die Zahl derselben beträgt
288. Die Zahl hat sich seit 1856 nicht vergrößert, wohl aber
der Betrieb. In jenem Jahr förderte man für 40 und 1864 für
HO Millionen Francs Kohlen.
Aus den Regionen Pennsylvaniens, in welchen die Koh-
Erdtheilen. 351
lengruben bearbeitet werden, berichtet man, daß ganze Banden
von Rowdies dort großen Unfug anrichte» und den Arbeitern zur
Last fallen. In den ersten drei Monaten des laufenden Jahres
sind dort mehr als 60 Mordthaten durch diese Rowdies verübt
worden. Dann erst hat die Regierung des Staates bewaffnete
Patrouillen nach jenen Gegenden geschickt.
Californischer Weizen wird in großen Quantitäten ver-
schifft, namentlich auch nach Großbritannien. Am 10. Mai er-
hielt man aus San Francisco zu Cork in Irland die telegraphi-
sche Nachricht, daß am Tage vorher ein mit nicht weniger als
38,500 Sack Weizen dorthin und ein anderes mit 31,000 Sack
nach Liverpool in See gegangen sei. Auch Brasilien wird von
Ealifornien ans mit Mehl versorgt; ein mit 5700 Faß Mehl
befrachtetes Fahrzeug ging nach Rio de Janeiro.
Die Cumverland-Seuche in Australien. Mit diesem
Namen bezeichnet man eine Krankheit, welche unter den Schafen
eine entsetzliche Verwüstung anrichtet. Sie hat im Februar und
März dieses Jahres namentlich in der Gegend von Albury stark
gewüthet. Schweine, welche von dem Fleische der gefallenen
Thiere fressen, sterben bald nachher. Dem Anscheine nach ganz
gesunde Schafe beginnen plötzlich zu taumeln und stürzen nach
10 bis 20 Minuten todt zu Boden. Die Seuche griff im März
immer weiter um sich; sie ist auch in der Nähe von Wangaratta
ausgebrochen.
Ein Mohammedaner als englischer Rechtsanwalt.
Am 30. April wurde ein Mohammedaner, der zn London im
Middle Tempel studirt hatte, als Richter eingeschworen; er ist
der erste, welcher an der „englisli bar" zugelassen wurde, leistete
den Eid auf den Koran. Er heißt Bedreddin Tayabschi und
will in Bombay praktisiren.
Notizen aus Brasilien.
Die französischen und englischen Packetschiffe haben
im Jahre 1866 von Europa für Rio de Janeiro 2700 Passagiere
und für den La Plata 1500 Passagiere gebracht, und von Rio
de Janeiro nach Europa sind auf ihnen 2600 Passagiere gefah-
ren. Die La-Plata-Linie dieser Schiffe hat von Rio de Janeiro
nach Montevideo und Buenos Ayres 520, vom La Plata nach
Europa 1600 und vom La Plata nach Rio 500 Passagiere ge-
bracht. An Waaren haben diese Schiffe von Europa nach Rio
41,000 Colli, von Rio nach dem La Plata 2700 Colli, vom
La Plata nach Rio 66,000 und von Rio nach Europa 42,500
Colli befördert. Die Gefammtbewegung auf diesen zwei Linien
betrug also im Jahre 1866: 9420 Passagiere und 92,800 Colli.
Der Dienst geschah durch die Packetschiffe „Guienne", „Estrema-
dure" und „Navarre" von der französischen Compagnie des Mes-
sageries Imperiales, und durch die Schiffe „Oneida", „Douro"
und „Rhone" von der königlichen Gesellschaft der englischen Packet-
dampsschiffe auf den Linien von Bordeaux und Southampton und
durch das französische Packetschiff „Carmel" und das englische
„Arno", denselben Gesellschaften gehörig, auf der Linie von Rio
de Janeiro nach Montevideo und Buenos Ayres. Die nordame-
rikanifchen Packetschiffe „Habana", „North Amerika", „South
Amerika", „Morning Star" und „Guiding Star" haben nach Rio
de Janeiro 863 Passagiere und 8000 Colli gebracht und 250
Passagiere und 52,300 Colli von da mitgenommen. Die Liver-
pooler Dampfer haben von Europa nach Rio 353 Passagiere und
80,324 Colli, nach dem La Plata 180 Passagiere und 10,000
Colli, vom La Plata nach Rio 47 Passagiere und 3748 Colli
und von Rio nach Europa 618 Passagiere und 34,500 Colli
gebracht. Auf Segelschiffen hat die Gesellschaft Union des Char-
geurs von Havre nach Rio de Janeiro 205,124 Colli eingeführt
und von da nach Havre 188,960 Colli ausgeführt. Dieselbe Gc-
sellschast hat eine Linie von Marseille nach Rio de Janeiro ein-
gerichtet. Die Schiffe dieser Linie haben nach Rio einige Colo-
nisten und 36,509 Colli Waaren ein-, und von da 87,560 Colli
ausgeführt.
Mit einem Theile der nordamerikanischen Einwan-
352 Aus allen
derer ist man sehr unzufrieden; die, welche im Februar zu Jguape
in der Provinz San Paulo ankamen, verübten sofort schwere Un-
ordnungen. Im Januar kamen auf einem Dampfer 361 solcher
Leute zu Rio an. Die meisten waren irländische Nowdies von
der schlechtesten Art. In dem großen palastartigen Empfangs-
Hause, wo man sie unterbrachte, verübten sie argen Unfug, ruhige
Leute waren ihres Lebens nicht sicher; Wirthe, welche Bezah-
lung der Zeche verlangten, erhielten Revolverschüsse statt des
Geldes. Die zu Dona Francisca erscheinende „Colonialzeitung"
schreibt: „Bereits sieht man ein, daß ein Mißgriff gethan wor-
den ist, und die Stimmung schlägt merklich wieder um zu Gun-
sten der deutschen Einwanderung, welche sich für die klima-
tisch gemäßigten Theile Brasiliens als die tüchtigste bewährt hat.
Wenn m a n nur erst die Furcht vor d e m möglichen
Ueberwiegendwerden derselbe» loswerden könnte."
In der Provinz Rio Grande ist die oberste Leitung der Co-
lonieangelegenheitcn Herrn Karl v. Koseritz übertragen worden.
In bessere Hände hätte sie nicht gegeben werden können.
Die deutschen Ackerbauer in den Südprovinzen schrei-
ten fort. So macht Herr Gustav Labes in der Colonie Blu-
menau bekannt, daß seine Versuche mit Ricinusseidenraupen
ein sehr günstiges Ergebniß haben. Er erhielt im Oktober 1366
40 Schmetterlinge, welche alsbald reichlich Eier legten; die Rau-
Pen kamen nach 10 Tagen zum Borschein, die ersten am 22. Dc-
tober. Sie spannen Cocons in Monatsfrist, zuerst am 23. No-
vember, und als am 2. December die Cocons gezählt wurden,
ergab sich eine Summe von 1200. Die Raupe ernährt sich von
den Ricinusblättern; zu einer Zucht von 20,000 Cocons wird etwa
ein gut mit Ricinus bestellter Morgen Landes ausreichen; die
ganze Zeit der Zucht von einer Coconbildung bis zur andern wird
etwa zwei Monate betragen lind sich im Jahre 5 bis 6 Mal wie-
derholen lassen.
Bei Dona Franciöca hat man mit dem Anbau derSonnen-
blume ein außerordentlich günstiges Ergebniß erlangt, und die
Cultur der sogenannten Saubohne stellt sich als ungemein nütz-
lich und lohnend heraus. Auch die Schafzucht wird dort jetzt
betrieben.
Im Innern der Provinz Maranhon haben sich die In-
dianer fast sämmtlich erhoben. In Folge von Beleidigungen,
welche ein gewisser Fernando Bezerra den Indianern von Mearim
zugefügt hatte, schlössen verschiedene Jndianerstämme ein Bündniß,
„um," wie sie sich ausdrücken, „mit den Christen ein Ende
zu machen." Gegen 3000 streitbare Männer versammelten sich
in den Wäldern am obern Pindars und begannen nun, die näch-
sten Ortschaften zu überfallen. Der erste Ort, den sie angriffen,
war Jtarupaua, wo sie 13 Personen tödteten, die Häuser ver-
brannten, die Pflanzungen zerstörten und das Vieh wegtrieben.
Zum Glück hatten die meisten Bewohner Gelegenheit gefunden,
sich durch die Flucht zu retten. Am 9. November um 5 Uhr-
Morgens überfielen sie den Ort Sapucaia und erschlugen 51 Per-
sonen in den Betten. Die übrigen Bewohner sammt einigen da-
selbst befindlichen Soldaten leisteten Widerstand, aber bei der gro-
ßen Anzahl der Indianer war Alles umsonst. Die Indianer stürm-
ten das Quartier der Soldaten, wo sie 12 derselben tödteten und
Waffen und Munition erbeuteten, desgleichen bemächtigten sie sich
alles Handwerkszeuges, das zum Bau einer neuen Straße zwischen
Monyao und Santa Theresa vorhanden war, plünderten alle Lä-
den und tödteten noch aufs Grausamste weitere 61 Personen von
jedem Alter und Geschlecht. Nur drei Männer entkamen aus der
Ortschaft, von denen einer noch beim Uebersetzen des nahen Flus-
fes ertrank und nur zwei die Schreckensbotschaft nach Mon^ao
brachten. Von Sapucaia zogen die Indianer nach Burity pucu,
zündeten auch diesen Ort an und tödteten die wenigen Bewohner,
die sie noch antrafen. Die meisten hatten sich schon nach dem
Orte Montzao gerettet. Das Schicksal der Ortschaft Bocabatiua,
wo etwa hundert Personen wohnen und welcher Ort als Mittel-
Punkt der Straße zwischen Sapucaia und Santa Theresa einen
lebhaften Handel hat, ebenso das Schicksal der Ortschaft Curu-
zinho, wo etwa 60 Personen wohnen, ist noch unbekannt. Einige
Erdth eilen. -
Nachrichten lassen alle Bewohner erschlagen sein, andere jedoch
versichern, die Bewohner hätten sich zum größten Theile gerettet.
In großer Gefahr stehen die Ortschaften Caru oder Januaria,
S. Pedro, Villa Velha und Camacaoca, ja selbst die Städte
Montzao und Vianna sind nicht mehr sicher. Es fehlt an Waffen,
um die Bewohner gegen die wüthenden Indianer zu bewaffnen,
und wenn die Regierung nicht schleunigst Hülfe schickt, so wird
in Kurzem das ganze Municipium von Mon^ao von den Jndia-
nern verwüstet sein.
Auch iu der Provinz Amazonas haben die Indianer ange-
fangen sich zu regen. Eine kleine Militairabtheilung, welche sich
am Orte Curiuau befand, wurde von den Indianern des Flusses
Janapacy angegriffen, und es gelang ihr nur mit Mühe, sich zu
retten. Ebenso beabsichtigten die Indianer einen Ueberfall der
Ortschaft Moura, wo ein anderer Militairposten sich befindet, un-
terließen aber solchen, als sie merkten, daß die Bewohner bei Zei-
ten Kunde vou ihrer Annäherung empfangen hatten. (Späteren
Berichten zufolge haben die Indianer in Maranhon, nachdem sie
arge Verwüstungen angerichtet, sich wieder in die dichtesten Wälder
zurückgezogen.)
Wir finden in der „Colonie-Zeitung" folgende Curiosität, der
wir hier eine Stelle einräumen wollen. Schon öfter hörten wir,
daß es Katzen gebe, welche den Schlangen, selbst den giftigen, zu
Leibe gehen und denselben so geschickt den Garaus zu machen
wissen, daß sie selbst nur selten einen Biß wegbekommen. Kürz-
lich hatten wir das Vergnügen, einen solchen Kampf zu beobach-
ten. Die Katze saß ruhig unter der Hausthür, als plötzlich eine
drei bis vier Fuß lange sogenannte Mauseschlange auf das Haus
zukam, um in einen nahe befindlichen Wassergraben zu schlüpfen.
Die Mauseschlange ist ein ganz ungefährliches, ja sogar in glei-
cher Eigenschaft, wie die Katze, sehr nützliches Thier, welches die
brasilianischen Landbewohner gern in ihren Wohnungen dulden,
weil sie die Mäuse, Baratten und anderes Ungeziefer wegfängt.
Sie ist weit lebendiger und gewandter als die giftige Jararaea.
Sowie nun die Katze die Schlange erblickte, erhob sie sich, kratzte
mit ihren Krallen ein paarmal auf den Boden, wie um dieselben
zu schärfen, und vertrat der Schlange den Weg. Diese richtete
sich hoch auf und versuchte nach der Katze zu beißen, aber wäh-
rend sie dazu ausholte, erhielt sie von der Katze einen Schlag mit
der Pfote an den Kopf, so daß sie denselben rasch senkte. Dieses
Manöver wiederholte sich wohl sechs bis acht Mal, wobei die
Katze, allen Windungen der Schlange folgend, immer über die-
selbe herüber- und hinübersprang. Bei diesen Schlägen büßte die
Schlange ein Auge ein, was sie merklich muthlos machte und zu
einem Fluchtversuche nach dem Graben bewog. Aber die Katze
ließ den Feind so ruhig nicht abziehen. Sie trieb die Schlange
aus dem Graben wieder auf das freie Feld und das Spiel be-
gann von Neuem. Die Schlange war endlich so abgemattet, daß
sie stilllag. Diesen Moment benutzte die Katze und biß ihr zwei-
mal hintereinander rasch in das Rückgrat, was die Schlange zu
neuer Wuth anstachelte. Dabei schien aber die Katze ihren Feind
durchaus zu mißachten, denn während die Schlange Momente lang
stilllag und bloß den Schwanz wüthend bewegte, benutzte die Katze
denselben als Spielzeug. Endlich, nachdem der Kamps eine Vier-
telstunde gedauert hatte und die Schlange immer weniger Wider-
stand leistete, schien der Katze die Sache langweilig zu werden.
Sie reizte durch Häkeln nach dem Schwänze die Schlange.zt:
einem neuen Angriffe und als dieser erfolgte, packte sie mit Blitzes-
schnelle den Kopf der Schlange in der Mitte und biß ihn mit
aller Kraft durch. Die Schlange streckte sich und war todt. Ver-
gnüglich schnurrend nahm die Katze darauf ihren alten Platz ein,
ohne sich weiter um die Schlange zn bekümmern.
Der Marquis von Sparta. Die alten Lacedämonier in
den Tagen des Lykurgus oder des Agis haben sich von einem fol-
chen ebenso wenig etwas träumen lassen, wie davon, daß einst ein
Hyperboräer aus Thüle Beherrscher des Landes sein werde. Der
junge König Georg aber reist in Europa als „Marquis von
Sparta".
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vicweg iu Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Lagerplatz der Tekke - Turkomancn.
Unter den H u r K o m a n e n.
Verbreitung dcr Turkomancn. — Ein Kriegszug der Perser gegen die Tekke von Merw. — Schicksal der Gefangenen unter den Raub-
nomaden.— Racencharakter dcr Turkomancn. — Trachten und Zierrathen. — Das Leben im Zelte; Speisen; Tschelem-Wasserpseise. — Das
religiöse Fest Cauda yoti. — Horoskopstellen. — Hochzeitcn und Begräbnisse. — Herrn von Blocqucvillc's Erlösung aus der Gefangenschaft.
Durch Hermann Bambery, der in seinem ausgezeichneten,
ungemein iuhaltreicheu Reisewerke die turkomanischen Völker
ausfuhrlich schildertest die Aufmerksamkeit in erhöhetem Maße
auf diese Raubnomaden gelenkt worden. Sie haben von je
eine wichtige Rolle in Jnnerasien gespielt und sind stets eine
wahre Geißel für die Länder gewesen, in welchen eine seß-
hafte, Ackerbau treibende Bevölkerung wohnt. Die Russen
haben übrigens dem Korsareuwesen der Turkomanen aus
dem Kaspischen Meer ein Ende gemacht und außerdem ein-
zelne Stämme dazu vermocht, daß sie sich ihnen gegenüber
friedlich verhalten. Aber Persien hat immer noch viel von
ihnen zu erdulden und ist nie vor tleberfällen sicher. Die
Raubnomaden haben das Steppen- und Wüstengebiet inne
vom Kaspischen Meere gen Osten bis nach Chiwa und theil-
weise bis über den Oxns hinaus; südlich reichen sie bis an
die Grenzen Afghanistans und in dieser Richtung sind sie
insbesondere der persischen Provinz Chorassau in hohem Grade
gefährlich. Der Schah sieht sich oftmals nothgedrungen, Krieg
gegen sie zu führen; es ist jedoch sehr schwer, einem solchen
Feinde etwas anzuhaben, und nicht selten haben die Perser-
empfindliche Niederlagen erlitten; namentlich im Jahre 1860.
Damals betheiligte sich Herr H. de Blocqueville, ein fran-
"f!rcher Soldat, der auf gut Glück nach Teheran gekommen
Globus XI. Nr. 12.
war, an der Expedition, welche gegen den großen und mäch-
tigen Stamm der Tekke-Tnrkomanen ausgerüstet worden war.
Das persische Heer überschritt die Ostgrenze der Provinz
Chorassan, zog bis an den Mnrgab, an dessen linkem Ufer
die Nomaden ein verschanztes Lager hatten, und besetzte die
Stadt Marw oder Merw am 19. Juli. Sie ist von einer
dicken Mauer aus gebrannten Backsteinen und einem breiten
Graben umgeben, und innerhalb dieser Umfassung können
etwa 30,000 Zelte stehen. Ein Arm des Mnrgab fließt
hindurch; unterhalb der Stadt erhält er den Namen Karaiab.
Merw ist von Alexander dem Großen gegründet und von
deui syrischen König Antiochns Nicator vergrößert und ver-
schönert worden, aber vou dieser einst blühenden Stadt, welche
damals Antiochia genannt wurde, sind nur Trümmer übrig;
sie ist zu einen: großen Viehpark barbarischer Nomaden her-
abgewürdigt worden und besteht nur uoch aus einigen Hnn-
dert Häusern mit Schlammwänden.
Die Perser wurden aufs Haupt geschlagen; sehr viele,
und unter ihnen auch Herr vou Blocqueville, wurden gefan-
gen genommen. Diesem Umstände verdanken wir eine sehr
gute Schilderung der Lebensweise und der Sitten der Tekke,
unter denen er vierzehn Monate verweilen mußte („Le Tour
du Monde" Nr. 328 bis 330). Die Gefangenen wurden
45
354
Unter den Turkomanen.
derart gefesselt, daß man allemal drei derselben zusammen-
band, jeden an einem Fuße; je zwei waren mit Handfesseln an
einander gekettet und int Zelt an einem Pfahle befestigt. Der
Europäer lehnte sich gegen eine so unwürdige Behandlung
auf und vergriff sich an einem Turkomanen; aber man fiel
über ihu her, gab ihm eine empfindliche Züchtigung und kne-
belte ihn nur noch stärker.
Die Turkomanen führen die meisten Gefangenen nach
Chiwa oder Buchara, um sie dort als Sklaven zu verkaufen,
und sie thun es so rasch als
möglich, um die Unglückli-
chen nicht lange füttern zn
müssen. Andere, für die man
ein gutes Löfegeld zu bekom-
men hofft, werden zurückbe-
halten, und zu diefeu ge-
hörte auch Herr vou Bloc-
queville. Ich würde mich,
fagt er, über meine Los-
kaufsumme wohl bald mit
ihnen geeinigt haben, wenn
mir nicht die Perser einen
schlechten Streich gespielt
hätten. Um sich bei den
Turkomanen angenehm zu
machen, sagten sie: „Dieser
Europäer hat Geld! Ohne-
hin besteht zwischen ihm und
unserer Regierung ein Ver-
trag, dem zusolge er um je-
den Preis losgekauft werden
muß; ihr braucht euch also
uicht zu beeilen und könnt
abwarten." — Ich wandte
mich an mehrere persische
Offiziere und bat sie, mir
Geld zukommen zu lassen, ich
wolle ihnen dasselbe in Me-
sched wieder erstatten, aber
sie ließen sich auf nichts ein.
Bucharische Kaufleute woll-
ten mich ranzioniren und
angeblich uach Mesched brin-
gen; ich wußte aber, daß
sie mich nach Buchara zu
schleppen gedachten und dar-
ans wären mir nur neue
Ungelegenheiten erwachsen.
Die Turkomanen forderten
für mich denWerth von etwa
470 Francs, doppelt so viel
wie für einen gewöhnlichen
Soldaten. Schlimm war,
daß wir Gefangene entfetz-
lich schlecht beköstigt wurden.
Morgens und Abends er-
hielt ich ein Stück Brot und
ausnahmsweise wohl auch eiue Zwiebel. Den Turkomanen
gegenüber heuchelte ich vor rohem und auch vor getrocknetem
Fleisch einen großen Abschen, aber es war ein Festmahl für
mich, wenn ich dergleichen heimlich verschlingen konnte. Man
hatte mir nur sehr dürftige Bekleidung gelassen; ich schlies
aus der platten Erde, und das war nicht länger zu ertragen.
Ich ging also zu dein gleichfalls gefangenen persischen Artille-
riegeneral Abdul Ali Chan, der mir etwas Geld vorstreckte,
und so konnte ich mir Winterkleider verschaffen, z. B. mit Pelz
(Zinc Turkomanin.
gefütterte Filzstiefel, Beinkleider, einen Rock, einen weiten
Ueberwnrf von Schaffell und fogar zwei Hemden. Auch schl-
ich mir das Kopfhaar ab und war nun weniger von Unge-
ziefer geplagt; dazu gebrauchte ich die Vorsicht, Hosen und
Hemden dann und wann auszukochen, und nun konnte ich
mich so reinlich halten, wie es überhaupt unter diesen unsau-
beren Leuten möglich ist. Die Turkomanen begnügen sich, um
der lästigen Gesellschaft sich zn entledigen, damit, daß sie ihre
Kleider über das Feuer halten und das Ungeziefer verbrennen. —
Es ist schwer, den Ra-
cencharakter der Tnrko-
matten genau zu bestimmen.
Die verschiedenen Stämme
haben im Allgemeinen aller-
dings denselben Typus, aber
bei sehr vielen Individuen
treten doch sowohl in der
Schädelbilduug wie iu den
Gesichtszügen starke Abwei-
chnngen aus. Herr v. Bloc-
queville entwirft folgende
Schilderung. Der Körper
ist von Mittelgröße und gu-
ten Verhältnissen; keine be-
sonders starke Mnskelentwi-
ckelnng, aber doch kräftiger
Bau; Hautfarbe weiß; Ge-
ficht rund, Backenknochen
vorstehend, breite, starkkno-
chige Stirn, das engge-
schlitzte Auge mandelförmig,
klein, lebhaft, intelligent;
Nafe klein und aufwärts ge-
bogen, Lippen ziemlich dick;
spärlicher Schnauzbart, nur
wenig und dünnes Haar am
Kinn und aus den Wangen.
Die Ohren sind stark ent-
wickelt und stehen so weit ab,
daß man sie bemerkt, wenn
man einen Turkomanen im
Prosil betrachtet. — Man
sieht, hier sind manche mon-
golische Kennzeichen vor-
handen.
Die Tracht besteht aus
einem weiten Beinkleide, das
bis auf die Füße hinabfällt
und an den Knöcheln mit
einem Stück Zeug umwickelt
wird; einem Hemd ohne
Kragen, das auf der rech-
ten Seite bis zur Hüfte of-
feu ist und über der Hose
getragen wird; es fällt bis
auf die Hälfte des Schenkels
hinab. Darüber trägt man
mehrere weite Röcke, die vorn offen sind, mit einem Gürtel
von Wollen- oder Baumwollenzeug. Die Aermeln sind lang
und Weitnaus dem Kopfe sitzt einKäppchen nnd auf dasselbe
wird der Talback gestülpt, diese kegelförmige Mütze aus bu-
charifchem (uneigentlich astrachanisch genannten) Lammsfell
oder auch von ordinairem Schafsfell. Für gewöhnlich trägt
der Mann eine Art von Pantoffeln oder auch Sandalen
aus Kameel- oder Roßhaut; im Winter nnd wenn man
zn Pferde steigt, trägt Mann und Frau Stiefeln. Man
Unter den Turkomanen.
umwickelt den Fuß mit einer Art Flanell, dieser reicht bis
auf die Wade und wird um das untere Eude des Bein-
kleides gewunden; darüber zieht man einen Stiesel von dickem
aber sehr weichem Filz uud erst über diesen noch einen Stiefel
von russischem Leder, der bis über die Knie hinaufgeht; die
Nähte sind inwendig, der Absatz ist sehr hoch und mit Eisen
beschlagen. Messer und Feuerzeug hängt bei jedem Turko-
maueu am Gürtel.
Bei den Frauen tritt der Gesichtstypus schärfer hervor,
als bei deu Männern, die Backenknochen sind noch weiter
vorspringend, aber die Haut ist, trotz der großen Unsauber-
keit, sehr weiß; Haar sehr dick aber nur kurz; deshalb werden
lange Stränge von Ziegenhaaren hineingestochten und diese
verziert man mit Kngelchen von Silber oder Glas. Die
Frau trägt ein Beinkleid, das am Knöchel ganz eng ist, wei-
tes, lang herabhängendes Hemd oder vielmehr eine Art Rock,
auf welchem vor derBrnst allerlei platte Silberstücke befestigt
sind. An beiden Schläfen hängt ein Haarstrang bis unter
das Kinn herab; das übrige Haar wird in zwei Theile ge-
scheitelt und fällt, das Ziegenhaar mitgerechnet, bis auf die
Hüsten hinab. Den Kopf bedeckt eine runde Kappe und über
derselben trägt man einen lang herabhängenden Schleier von
Seide oder Baumwolle. Dazu kommt eine Art von Turban
oder Stirnband, etwa drei Finger breit, und auch hier sehlt
Silberschmuck nicht. Ein Zipfel des Schleiers wird unter
dem Kinn hinweggezogen und an der einen Seite des Kopfes
vermittelst einer Spange befestigt; zuweilen rückt man ihn,
wie es auch die Armenierinnen thnn, bis an den Mund
hinauf.
Die Ohrringe sind von massivem Silber und allemal
dreieckig; sie haben manchmal Arabesken von Gold und einen
Karneolstein; von der breiten Seite des Dreiecks hängen
kleine Ketten herab, an welchen ein kleines, rautenförmiges
Silberplättchen befestigt ist; vermittelst eines silbernen Hakens
hängt man diesen Schmuck ins Ohr, und derselbe wird dann
obenauf dem Kopfe derart angehakt, daß er den Ohren gleich-
sam als Stütze dieut; dasselbe könnte sonst kaum die schwere
Last tragen. Die meist ovalen Armbänder sind zwei bis drei
Finger breit, und an der einen Seite offen, fo daß man mit
genauer Noth die Hand hindurch zwängen kann. Auch für
Ohrgehänge. 2. Armbänder. 3. Halsbänder. 4. Fingerring.
das Halsband gilt eine von Alters her überkommene Form,
welche indessen je nach dem Werthe verschieden ist. Eine
biegsame Platte mit einem Scharnier wird um den Hals
gelegt, an derselben hängt eine rautenförmige Platte von der
Größe einer Hand; sie ist mit Karneolen verziert, und an
ihr hängen wieder kleine Ketten, deren jede unten ein Sil-
berplättchen hat. An einem ledernen, abermals mit Silber
verzierten Gehänge, ist ein Kästchen angebracht, gleichfalls
von dreieckiger Gestalt und ausgezackt; die Spitze des Dreiecks
hängt allemal nach unten. In diesem Gehäuse werden die
Talismane aufbewahrt, und diese bestehen zumeist in Koran-
sprächen. Zu alle dem kommt dann- noch eine runde, aus-
gezackte Platte, welche bis auf den Oberleib hinabhängt und
einer Sonne gleicht. Unsere Abbildungen zeigen, wie die
Schmucksachen der Turkomaninnen beschaffen sind; wenn
ein Dutzend derselben neben einander her geht, etwa um
Wasser zu holen, dann hört man ein Geklimper und Ge-
klapper, als ob eine Maulthierkarawane daher zöge. Bei
den Kleidern sind die Farben roth, gelb und amaranth vor-
herrschend. Manche Frauen gehen höchst unsauber und ge-
radezn zerlumpt; sie sind ganz arm, haben vielleicht keinen
Sack Mehl im Zelte, aber um Alles in der Welt würden
sie sich nicht von ihrem Schmucke trennen; sie legen ihn selbst
am Abend nicht ab; er muß selbst beim Schlafen an ihnen
hängen. Die Männer verschmähen jeden Putz, nur junge
Stutzer tragen wohl eine Spange mit einem Karneol und
befestigen mit derselben ihr Hemde vor der Brust. DenKin-
dern wird das Haupthaar abgeschoren; man läßt auf dem
Kopfe nur zwei Zotteln an den Seiten uud eine dritte oben
aus dem Wirbel; hinter den Ohren bleibt wohl auch ein
Zöpfchen stehen, das geflochten wird. Auch deu Mädchen
scheert man das Haar ab und läßt wie bei den Knaben Zot-
teln stehen, die aber mit seidenen oder wollenen Bändern
durchflochten sind und auf den Rücken herabfallen. So gehen
sie, bis sie etwa siebenzehn Jahre alt sind. —
Aus der oben mitgetheilten Schilderung des Racentypns
geht schon hervor, daß die Turkomanen von sehr gemischtem
Blute siud. Sie haben Frauen von allen Nachbarvölkern
geraubt und mit denselben Kinder gezeugt; auch haben sich
Afghanen, Perser:c. in ihrer Mitte niedergelassen; aber es
hat sich doch ein Gepräge derart herausgebildet, daß man
einen Turkomanen auf den ersten Blick erkennt.
45*
356
Unter den Turkomanen.
Herr de Blocqueville rechnet aus dieTekkes etwa 30,000
Zelte, deren jedes einer Familie zur Wohnung dient; manch-
mal haben mehrere unverheiratete Männer ein Zelt inne.
Die Stamme führen fast immer Krieg oder Fehde und des-
halb kann die Volksmenge nicht beträchtlich anwachsen.
Die Ach als an der Grenze von Chorassan sind eben so
zahlreich; sie und die Tedschen, an dem gleichnamigen Flusse,
sind Stammverwandte der Tekkes. Da sie weit aus ein-
ander wohnen, so können sie ihre Kriegs- und Raubzüge
nicht gemeinschaftlich unternehmen, sie borgen aber zu solchem
3bis. Halsband. 5. Cylinder mit einem Talisman. 6. Turban. 7. Tressen.
8. Laute.
Zweck einander dann und wann ein paar Hundert Reiter.
Die Tekke von Merw sind in 24 Stämme getheilt, deren
jedem ein bestimmtes Gebiet zugewiesen ist. Nur bei großer
Gefahr vereinigen sie allesammt ihre Krieger in einem gro-
ßen Ringe. Jeder Stamm ernennt seinen Kedkuda, den
Häuptling, der auch wohl als Weißbart, Rische-sesid, be-
zeichnet wird. Aus Chans, Leute aus alteu, angesehenen
Familien, wird nur Rücksicht genommen, wenn sie die für
einen Häuptling erforderlichen Eigenschaften besitzen. Ein
Kedkuda muß ein intelligenter, sehr tapferer Mann sein, der
v. Kopfputz einer Matrone. 10. Sonne von Silber. 11. Frauenhemd.
12. Kopfputz eines jungen Mädchens. 13. Knabenmütze.
seine Proben abgelegt hat. In wichtigen Füllen halten die
Weißbärte der verschiedenen Stämme eine Rathsversamm-
lnng; dabei wird über Krieg verhandelt, über die Bertheilnng
des Wassers zum Berieseln der Aecker, über Deiche und Ca-
näle, überhaupt alle Angelegenheiten von öffentlichem Nutzen'.
Gesellschaftlich sind alle Turkomanen einander gleichgestellt,
nnd sie leben unter sich auf sehr cordialem Fuß und im besten
Einvernehmen. Der Schäfer ist so gut wie der Häuptling
und der Diener wird als Mitglied der Familie betrachtet.
Auch die Wohnungen der Armen wie der Reichen glei-
Unter den Turkomanen.
357
chen einander, nur daß jene der letzteren besser gehalten sind.
Die Ausrichtung eiues neuen Zeltes geschieht unter Festlich-
leiten. Man ersucht Nachbars und Freunde, sich an einem
bestimmten Tage zur Ausrichtung des Gitterwerkes einznsin-
den. Sobald dasselbe steht, aber noch nicht mit Filz gedeckt
ist, schafft man den Hausrath hinein, insbesondere Teppiche,
Säcke voll Lebensmittel und einige Stücke Seiden- und Baum-
wollenzeug, die mit Federn geschmückt werden. Dann treten
die Freunde ein und machen ihre Bemerkungen; nachher sol-
gen Ringkämpfe, Wettrennen znPserde und Wettschießen im
Galop nach irgend einem Ziele. Nachher kommt der Schmaus;
man hat Hümmel geschlachtet, trägt Reis ans, trinkt Thee,
In einem Turkomancnzeltc.
raucht Taback und hört den Musikanten zu, welche der Wirth
bestellt hat.
Der Mann sitzt gewöhnlich neben der Feuerstelle, welche
sich hinten im Zelte, dem Eingänge gerade gegenüber, besin-
bet; die Frau sitzt rechts vom Eingange; Männer, die zum
Besuche kommen, gehen aus die liuke Seite. Ein fester Trag-
ballen oder Quergurt giebt dem Filzdache Festigkeit gegen
den Sturm; aber manchmal ist dieser so heftig, daß man die
Filzplatten abnehmen muß. Das Vieh hält sich im Winter
wie im Sommer in der Nähe des Zeltes ans; in der kalten
Jahreszeit findet es in tiefen Gräben Schutz gegen den Wind.
Die Nahrung ist einfach: Morgens trockenes Brot mit
358
Unter den Turkomanen.
Zwiebel oder auch ein dünner Brei. Gewöhnlich hält man
bei jedem Zelt einen Schöps oder eine Ziege, um bei fest-
lichen Gelegenheiten etwas zum Schmausen zu haben. Man
löst die Knochen aus dem Fleische, das in Stücke zerschnit-
ten und gesalzen wird; doch etwas trocknet man, damit
es Hochgeschmack bekomme, welchen die Turkomanen sehr
lieben; das Uebrige packt man in den Wanst und nimmt
nach Bedarf heraus, wenn man Suppe lochen will. Die
Kin?er bekommen die Eingeweide, rösten dieselben leicht über
einem Feuer und saugen Tage lang an den kaum gereinig-
ten Gedärmen herum. Suppe, Schuruch, ist ein Lieb-
lingsessen; sobald die Nachbarinnen den Brodem riechen,
finden sie sich unter einem beliebigen Vorwand ein. Dann
nimmt eine nach der andern den Holzlöffel, rührt damit im
Kessel herum und leckt ihn ab. Nachher nimmt die Haus-
frau das Fett, welches sich am Rande festgesetzt hat, und
Stücken Fleisch mit der Hand weg und bietet dasselbe den
Gevatterinnen, wenn der Ausdruck Paßt, zum Lecken dar;
dabei vergißt sie sich selber keineswegs. Nachher thut sie
wieder Wasser, Salz, rothen Pfeffer und Kürbis hinzu. Die
fertige Suppe wird in große Näpfe gegossen und dann brockt
man Brot hinein. Vor dem Essen wäscht man die Hände,
zur Reinigung derselben wären aber ganz andere Dinge nöthig
als Wasser allem.
Das Mahl beginnt; der Hausherr fpricht fem Beom
Allah, im Namen Gottes; die Männer essen allein, eben so
Frauen und Kinder. Erst fifcht man mit dem Löffel etwas
Brühe heraus und bringt das Uebrige mit den Fingern zum
Muude. Von Unterhaltung ist keine Rede; man fpeist sehr
rafch, leckt sich nachher die Finger ab, und was von Fett
noch an denselben haftet, wird im Gesicht herumgestrichen,
damit die Haut recht glänzend werde; man streicht dann auch
Fett auf die Stiefel, und an diesen kann man allemal ab-
nehmen, ob der Tnrkomane Fleisch gegessen hat oder nicht.
Nachdem das Alles abgethan ist, spricht der Hausvater ein:
Beom Allah, alrahmau alrahim, Allah ekbehr, und dann
streichen alle Gäste mit der flachen Hand über den untern
Theil des Gesichtes und den Bart. Als ich ein Zelt sür
mich bekommen hatte, sagt Herr de Blocqueville, und mir
eine Oellampe herrichtete, kamen meine Nachbaren und tauch-
Turkomanische Mühle.
ten ihre Finger in dieselbe, oder sie ließen an der Flamme
ein Stück Schasstalg zergehen, damit rieben sie sich und ihren
Kindern das Gesicht eiu.
Nach der Mahlzeit wird geraucht und zwar aus dem
Tschelem, einer Wasserpfeife, welche mit der persischen Nar-
gile Ähnlichkeit hat; nur hat sie statt des gläsernen Behäl-
ters ein dergleichen von Holz in der Form eiues Kürbisses,
und manchmal muß der letztere selber aushelfen. Da wo
das Rohr fein follte, befinden sich zwei Löcher neben einan-
der; aus das erstere legt man die Lippen und zieht den Ta-
backsrauch au sich, das zweite hält man mit einem Finger
zu, deu mau aufhebt, sobald es darauf ankommt, eine dop-
pelte Menge Rauch einzuschärfen. • Der Tnrkomane nimmt
drei oder vier Züge so hastig als nur angeht und athmet
den Rauch so tief als möglich ein; während er ihn dann
aus dem Munde bläst, reicht er die Pfeife feinem Nachbar.
Nun starrt er mit den Augen und bückt sich nach vorn über.
Der Taback kommt aus Buchara und ist sehr stark; das
Blatt wird zwischen den Händen zerrieben und dann einge-
stopft.
Thee wird nach der Mahlzeit und auch zu anderen Ta-
gesstunden genossen, stets ohne Zucker. Man hat den söge-
nannten Ziegelthee, der zu Backsteinen geformt aus China
kommt, und grünen, parfümirten Perlthee; dieser ist sehr
stark und wer ihn in sehr großer Menge genießt, bekommt in
reiferen Jahren das Zittern. Den Schuupftaback versetzt
man mit Sesamöl.
Der Tnrkomane hat auch Bohnen, die er mit Mehl,
rothem Pfeffer, Salz und saurer Milch kocht; Reis gilt für
einen Leckerbissen, besonders wenn er mit Fleisch, Sesamöl
und gelben Rüben zubereitet wurde. Melonen und Kürbisse
sind eine alltägliche Speise; aber auch Schöpsenhaut wird
gegessen. Man läßt sie frisch einige Zeit liegen, damit sie
starken Geruch bekomme; dann geht die Wolle leicht ab, man
schneidet die Haut in lauge Streifen, röstet sie auf dem Feuer,
aber nur leicht, damit sie das Fett nicht verliere, und zerkauet
sie, allerdings uicht ohne Mühe! Kameelsmilch läßt man
in Schläuchen oder Krügen gähren; sie wird dann hellbläu-
lich, scharf wie Eitroue, schmeckt und riecht aber unangenehm.
Ein anderes gegohrenes Getränk haben die Turkomanen nicht.
360 Unter den
Zum Lobe muß man ihnen nachsagen, daß sie die Frauen
mit viel mehr Rücksicht behandeln, als bei anderen Moham-
medanern der Fall ist. Aber diese Frauen verrichten auch
schwere Arbeit'; namentlich ist das Mahlen des Getreides,
das jeden Tag geschieht, sehr anstrengend. Sie spinnen
Seide, Wolle und Baumwolle, verfertigen und nahen den
Filz, schlagen das Zelt auf und ab, holen Wasser, färben
die Zeugstoffe und bereiten Teppiche. Ihr Webstuhl ist uu-
gemein einfach. Jeder Stamm hat sein besonderes Zeug-
muster, das sich von Mutter auf Tochter vererbt. Der Manu
bestellt das Feld und besorgt die Ernte, wartet die Thiere ab
und macht Raubzüge, um Beute heimzubringen; er verfertigt
wollene Seile, hält das Geschirr für Kameele und Pferde
in Ordnung, spielt auf der Laute, singt, thnt sich in Thee
eine Güte und raucht Taback.
Die Kinder werden im Alter von zehn bis zwölf Jahren
zur Arbeit angehalten, bis dahin lernen sie lesen und schrei-
ben. Der Mollah, Schulmeister, erhält Geschenke in Natu-
ralieu, z. B. Korn und Zwiebeln, und etwas Geld; er giebt
sich alle Mühe, schreibt jedem die Aufgabe auf eine Tafel
TuAomanen.
und die Mutter hört dem Kinde zu Hause die Lection ab.
Blocqneville lobt an den Tnrkomanen ihren Eifer, sich zu
unterrichten und Bücher zn lesen.
Als sunnitische Mohammedaner befolgen sie allerdings
die religiösen Vorschriften, sind aber nicht gerade fanatisch
und treiben auch nicht fo viel Ostentation mit äußeren Bräu-
che», wie manche anderen mnselmännischen Völker. Sie
nehmen z, B. keinen Anstand, mit Inden zu essen und Ta-
back zu rauchen. Anfangs versprachen die Zeltbesitzer, bei
welchen der Europäer wohnte, ihm große Vortheile, wenn er
sich zum Islam bekehren und im Lande eine Frau nehmen
wolle; sie erwähnten aber der Sache nicht mehr, als er ihnen
entgegnete: „Was würdet ihr von einem Muselmanne den-
km, der seine Religion gegen eine andere vertauscht?" Die
Talismane werden von anerkannt frommen Mollahs geschrie-
ben; er wählt dazu Sprüche aus dem Koran. Diefe legt
man zwischen zwei silberne Plättchen nnd nähet sie in ein
dreieckiges Stück Leder, welches dann auf der Kopfbedeckung,
auf dem Hemd oder an irgend einem andern Kleidungsstücke
befestigt wird. Manche Kinder sind mit solchen Amuleten
Ein turkomanischer
gleichsam bedeckt nnd tragen obendrein noch in Silber gefaßte
Vogelkrallen; diese helfen gegen den bösen Blick. Pferde,
Kameele und Schafe haben Anmiete am Hälfe hängen und
in jedem Zelte sind mehrere derselben angebracht.
Alljährlich wird ein großes religiöses Fest gefeiert, das
Cauda yoti, d. h. Gottes Weg. Mau will dabei Allah
ehren nnd die Gunst des Himmels auf sich lenken, damit
Menschen nnd Vieh vor Krankheit bewahrt bleiben und Alles,
was der Turkomaue unternimmt, gelinge, namentlich die
Raubzüge. Diese gelten ja für verdienstliche Werke, weil sie
gegen „Ungläubige" unternommen werden. Bei reichen Fa-
Milien geht es am Tage des Canda yoti hoch her; man stellt
so viele Kessel als möglich in einer langen Reihe auf und
kocht in denselben Fleisch; die Frauen backen Kuchen nnd
Pasteten, rings um das Zelt herum sind Teppiche ansge-
breitet und der Wirth giebt sich alle Mühe, seine Gaste zn
befriedigen. Auf jedem einzelnen Teppiche sitzen vier bis sechs
Männer, und diese Gesellschaft bekommt einen befondern
Kessel; bevor der Schmaus beginnt, spricht der älteste unter
den Teppichgenossen eine Art Gebet und erfleht vom Himmel
Brautzug.
Segen für die, welche das Cauda yoti veranstaltet haben.
Nachdem die Gäste sich gesättigt haben, bestreichen sie Gesicht,
Hände nnd Stiefel niit dem Fette und stehen dann anf, um
einer andern Teppichpartie Platz zu machen.
Die Turkomaueu sind habsüchtig und namentlich auf gol-
dene oder silberne Sachen erpicht. Was sie von dergleichen
nur sehen, das wird gierig angeschaut und man berührt da-
mit das Auge. Die Frauen haben eine wahre Leidenschaft,
alles Mögliche zu betasten. Eine Neuvermählte sieht z. B.
ein hübsches Kind; sie berührt dasselbe sofort mit beiden Hän-
den und bestreicht sich dann den Körper, weil sie überzeugt
ist, daß jene Berührung einen sehr heilsamen Einfluß auf sie
haben werde.
Das Horofkopstellen geht allgemein im Schwange.
Der Turkomane setzt sich vor einen kleinen Sandhaufen,
streift die Rockärmeln bis über den Elbogen auf, reibt sich die
Arme mit <£>and und streicht sich mit beiden Händen Stirn,
Gesicht und Brust. Daun greift er in den Haufen, gestal-
tet denfelben so, daß er einen Kreis bildet, der oben stach ist,
und macht in den Sand so viele Streifen als das Alphabet
Unter den Tnrkomancn.
301
Buchstaben hat. Nachher reicht er einem andern Manne
drei Strohhalme und ersucht ihn, dieselben ganz nach Belie-
ben in die Streifen zu legen; sobald das geschehen ist, fängt
er zu zcihleu an und je nachdem die Halme von dem oder
jenem Buchstaben mehr oder weniger entfernt sind, findet er
für das, was er unternehmen will, eine gute oder eine böse
Vorbedeutung.
Im Allgemeinen befleißigt sich der Turkomane einer
würdevollen Handlung, aber manchmal benimmt er sich doch
heiter, sorglos und sogar enthusiastisch; dann vergißt er auch
seine Habgier und Raubsucht und kann freigebig seiu. Tapfer
und intelligent ist er ohnehin; aber auch ein arger Dieb.
Alles stiehlt; das Kind bestiehlt seine Mutter, die Frau den
Mann, die Schwester den Bruder; aber nur in der Familie
selber wird gestohlen. Wer im Zelte eines Andern etwas
nehmen wollte, wäre gleichsam vogelsrei und für alle Zeit
entehrt. Zwistigleiten werden vor die Aeltesten oder den
Kadi gebracht und von diesen entschieden. Ein Handelsge-
schüft kann wohl ein Paar Monate sich hinschleppen, bevor
ein Abschluß erfolgt; nachdem das geschehe:- ist, werden
alle Bedingungen ehrlich gehalten, auch wenn das Geschäft
sich als nachtheilig ausweist. Gegen Feinde uud Gefangene
befleißigt man sich freilich eines so rechtschaffenen Benehmens
nicht; im Uebrigen legen sie jedoch Werth darauf, daß Wort
gehalten werde.
Jeder hat große Anhänglichkeit an feinen Stamm und
bringt für die Interessen desselben jegliches Opfer. Selten
kommt Streit oder Zank vor, und selbst bei heftigen Reden
und Gegenreden beleidigt man einander nicht mit Scheltwor-
ten oder Schimpfreden. Sobald Fremde im Zelte sind, zieht
die Frau den Zipfel ihres Schleiers über das Kinn uud
spricht nur mit leiser Stimme, denn es verstößt keineswegs
gegen den Anstand, sich mit den Gästen zu unterhalten. Sie
kann ganz allein von einem Stamme zun: andern gehen und
wird nicht die geringste Unbilde erfahren. Wer auf Besuch
kommt, hebt den Vorhang der Zeltthür auf, bückt sich beim
Eintreten, bleibt dann stehen, erhebt sich, blickt ein paar Se-
cnnden in die Höhe, damit die Frauen Zeit haben, den
Schleier über das Kinn zu ziehen, und sagt dann seine Be-
grüßung. Daraus kommen Fragen und Antworten über das
Turkomanisches Btgräbniß.
Wohlbefinden der Familie, über Angelegenheiten des eigenen
oder eines andern Stammes und die Frau bringt Brot,
Wasser, saure Milch oder eine Melone, aber der Brauch will,
daß davon nur sehr wenig genossen wird.
Die Mädchen werden nicht vor dem sechszehnten oder
siebzehnten Jahre verheirathet; bis zu diesem Alter werden
sie bei der Arbeit nicht angestrengt, damit sie frisch bleiben.
Ein Bewerber kann das Gesicht einer Schönen in aller Muße
betrachten, denn diese Nomadinnen verschleiern ja dasselbe
nicht. Eine Freundin oder Verwandte übernimmt das Kauf-
geschäst, der Mollah fetzt den Contract auf uud bestimmt zur
Hochzeit einen Tag von guter Vorbedeutung. An diesem ist
das Zelt sehr sauber und mit Teppichen, Säcken, Seiden-
zeug, Federn uud dergleichen mehr aufgeputzt. Gewöhnlich
erscheint der Bräutigam um die Mittagszeit; wer aber arm
ist, holt die Braut am Abend uud ladet keine Gäste ein.
' Mutter, Schwestern, Verwandte und Freundinnen der
Braut, alle mit so viel Silbersachen als möglich ausgeputzt,
sind beisammen. Sie legen auf drei oder vier Kameele Sei-
denzeng und Teppiche, bedecken damit Hals und Kopf der
Globus xi. Nr. 12.
Thiere und setzen sich dann in den Sattel. So geht der
Zug nach dem Zelt, in welchem sich die Braut befindet.
Die Männer bilden zwei Gruppen; eine geht hinter den
Frauen her, die andere ist beritten und bewaffnet wie zu
einem Kriegszuge uud trabt voran; in der Nähe des Zeltes
reitet man in voller Carriere und feuert die Gewehre ab.
Im Zelt ist dann viel des Hin- und Herredens; die Ange-
hörigen der Braut stellen sich, als wollten sie dieselbe nicht
hergeben, und auch sie sträubt sich scheinbar. Doch läßt sie
sich gern rauben; vor der Thür stehen jene Männer, welche
zu Fuß kamen, legen sie auf einen Teppich, den sie an allen
Zipfeln halten und lausen in aller Eile zu den Kameelen.
Diese Flucht wird von den Reitern gedeckt gegen die Ange-
hörigen der Braut, welche hinter den Teppichträgern her-
eilen und Erdschollen nach ihnen werfen. Es versteht sich
von selbst, daß die Kameele erreicht werden und dann hört
die scheinbare Verfolgung auf; die Braut kommt zum Vor-
schein uud einige Frauen hängen ihr einen Schleier über den
Kopf; sie darf jetzt nur Augen und Nase sehen lassen, schrei-
tet dem Zuge voran, verzieht aber keine Miene. Wenn sie
46
362 Jung-Rußland u
an einem Zelte vorbeikommt oder Leuten begegnet, wird der
Schleier entfernt, damit man ihr Gesicht sehen könne. Vor-
dem Hochzeitszelte geht es dann laut her, die versammelte
Menge schreiet -Lebehoch und die Kinder bekommen Pasteten.
Inzwischen ist die Braut ins Zelt gebracht worden, wo sie
sich im Hintergrunde setzen muß und zwar so, daß sie der
Thür den Rucken zukehrt. Sie empfängt Besuche und nimmt
Glückwünsche entgegen, aber nur vou Frauen; die Männer
müssen draußen bleiben bis der Schmaus beginnt. Volle
zwei Wochen lang muß die Braut im Zelt bleiben; dann
wird sie von den Verwandten des Bräutigams in ihr elter-
liches Zelt zurückgeführt und bleibt dort ein Jahr, oder auch
wohl achtzehn Monate lang und wird dann und wann heim-
lich von ihrem Manne besucht. Die Aeltern sind für ihre
Aufführung in dieser ganzen Zeit verantwortlich; nach Ab-
lauf derselben wird sie auf einem geschmückten Kameel zu
ihrem Manne geführt, bei welchem sie fortan bleibt. Bei
ärmeren Leuten werden weniger Umstände gemacht. Der
Tnrkomane kann mehrere Frauen Heirathen und er soll eigent-
lich für jede derselben ein besonderes Zelt haben; doch woh-
uen manchmal zwei in demselben Zelt und dann sehlt es
nicht an Scenen der Eifersucht. Neugeborene Kinder legt
man in eine mit weichem Sande gefüllte Hängematte; die
Geburt eiues Knaben wird dadurch augezeigt, daß man einen
weißen Lappen an die Thür des Zeltes hängt.
Der Todte wird auf einen Teppich gelegt und bleibt eine
Weile im Zelte; die Frauen der Familie sitzen um ihn her-
um und müssen in Zwischenräumen seufzen, namentlich wenn
Trauerbesuch kommt. Dann ist es auch ihre Obliegenheit,
alle guten Eigenschaften des Verstorbenen aufzuzählen; er fei
ein guter Ehemann, Vater, Bruder und Sohn gewesen; dann
folgt Geheul und Geschluchze, das von den draußen sitzenden
Männern mit tiefen Seufzern beantwortet wird. Dabei
starren sie mit den Augen ans einen Pnnkt am Boden und
bedecken nachher das Gesicht mit beiden Armen oder mit dem
Rockschöße. Nachdem sie so wohl zwölfmal geseuszt haben,
wird die gewöhuliche Physiognomie wieder angenommen, Thee
getrunken und Taback geraucht.
Am zweiten oder dritten Tage legt man den Todten auf
eine Tragbahre in einen Teppich. Zum Grabe wird er nur
von Männern getragen und auch nur von solchen begleitet.
Die nächsten Anverwandten gehen voraus und wehklagen nn-
ablässig. Nach dem Begräbnisse pflanzt man da, wo der
Kopf liegt, eine Stange in die Erde und befestigt bunte Lap-
Pen daran; manchmal wird, wie unsere Abbildung zeigt, das
Grab mit einer niedrigen Erdmauer umfriedigt.--
*
* *
Herr de Blocqueville war, wie schon früher bemerkt, vier-
zehn Monate lang als Gefangener bei den Turkomanen. Im
' der Nihilismus.
Mai 1861 bezogen alle Tekkestämme ihre gewöhnlichen Lager-
Plätze; der Europäer befand sich damals unter dem Stamme
der Khungnrs. Wir können uns lebhaft vorstellen, wie sehr
er den Tag herbeisehnte, an welchem die Loskaufssumme ein-
treffen werde; er hatte sich brieflich nach Mefched, der Haupt-
stadt der Persischen Proviuz Chorassan, gewandt, aber Woche
nach Woche verlief, ohne daß er Antwort erhielt. Den Turko-
meutert selbst war es, bei dieser langen Verzögerung nicht ganz
gehener; der Aga, bei welchem Blocqueville war, sagte eines
Tages seinem Bruder: „Wenn dieser Europäer stirbt, dann
bekommen wir gar nichts, wir müssen uns beeilen, ihn los-
zuwerdeu." Sie machten ihm den Vorschlag, seiueu Die-
uer, der zugleich Dolmetscher war, als Unterhändler nach
Mesched zu senden, und als er eben dorthin unterwegs war,
kam ein geheimer Agent von Blocqueville's europäischen Frenn-
den, um den Loskauf zu vermitteln, er mußte jedoch unver-
richtete Dinge abziehen. Nun mischten sich einige persische
Kaufleute als Unterhändler ein, wollten aber einen großen
Schnitt für sich machen und verbreiteten übertriebene Ge-
rüchte von der großen Bedeutuug des Gefangenen, welchen
der Schah um jeden Preis, sei derselbe auch uoch so hoch,
loskaufen müsse. Die Turkomanen schroben nun bei der
persischen Regierung ihre Forderungen ins Unverschämte hin-
ans. Unter solchen Umständen konnte die Sache sich ins
Unendliche verschleppen und der Gefangene dachte an Flucht.
Aber er war Tag und Nacht unter Aufsicht, alle Pferde in
der Nähe der Zelte waren angekettet und ans die Beihülfe
eines Turkomanen durfte er nicht hoffen. Gegen Voraus-
bezahltmg hätte sich wohl einer finden lassen, der Beihülfe
zu leisten geneigt war, er würde aber sicherlich den Mann
verrathen oder ihn unterwegs todtgeschossen und beraubt
haben. Ein Kaufmann aus Buchara erbot sich, ihm die
Flucht möglich zu machen; er kaufte auch ein gutes Pferd
und trnt Neumond sollte das Wagniß ausgeführt werden.
Aber war auf diesen Bucharen Verlaß? Lag es nicht etwa
in seiner Absicht, den Flüchtling nach Buchara zu schaffen
und seinerseits von dort aus eiu hohes Lösegeld für den Un-
gläubigen zu verlangen? Indessen blieb keine andere Wahl
und die Vorkehrungen wurden mit der größten Umsicht ge-
troffen.
Da traf, etwa acht Tage vor Neumond, eine geheime
Botschaft vom persischen General Inffuf Chan ein, der selber
Gefangener war, aber in einem andern Stamme. Die Pro-
vinzialregiernng von Chorassan hatte ihn beauftragt, Bloc-
queville's Angelegenheit zu Ende zu bringen und den Los-
kauf zu besorgen. Nach langem Hin- und Herverhandeln
gelangte die Sache zum Schluß und die Turkomanen bekamen
1867 Tomaus teugue, d. h. nach europäischem Gelde 87,524
Francs, und obendrein mußten die Perser noch fünf gefan-
gene Turkomanen freilassen!
Jung-Auszland itt
Der Gähruugsproceß, in welchem sich die Russen besin-
den, weist eigenthümliche Erscheinungen auf und geistige For-
men, die eine ganz besondere Färbung haben. Die Eni-
Wickelung nimmt eben in dem Czarenreiche, das von Geogra-
phen manchmal als ein „Steppentheil neben Europa" be-
zeichnet worden ist, einen andern Verlauf, als in den germa-
nischeu und romanischen Ländern. Die Großrussen, „Mos-
kowiter", wurden bis zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts
i der Nihilismus.
von der übrigen Welt als Halbasiaten betrachtet. Durch
Peter den Großen wurden sie in das politische Getriebe des
Abendlandes hineingerissen, und seitdem erhielten sie auch
viele Einrichtungen des absolutistischen Polizei- und Beamten-
staates, der seit Ludwig dem Vierzehnten eine wahre Eiter-
beule für die Völker gewesen ist und dnrch welchen so manche
Revolutionen hervorgerufen worden sind. Czar Peter brach
mit dem allrussischen Staate und verpflanzte in denselben
Iung-Nußland u
das Rang-, Titel- und Beamtenwesen, das seitdem den arg-
sten Krebsschaden fUr Rußland bildet und eine Corrnption ins
Leben gerufen hat, die nur in den Vereinigten Staaten Nord-
amerikas ihr Nebenstück findet; durch dasselbe wurde das
ganze öffentliche Leben vergiftet. Schon im Anfange des
siebenzehnten Jahrhunderts war die Leibeigenschaft den Bauern
aufgezwungen worden. Diese ist gefallen; auch der Polizei-
und Beamtenstaat kann sich aus die Dauer nicht so halten,
wie er gewordeu ist; darüber herrscht auch feilte Meinungs-
verschiedenheit mehr.
Die Russen sind ein sehr begabtes Volk und in den höhe-
ren Classen herrscht große geistige Regsamkeit, die aber oft-
mals die Merkmale des Ungeregelten trägt. Die leichte fran-
zösische Literatur wirkt ans die Leute von moskowitischer Race
nicht günstig ein, und die abendländische (Zivilisation gewinnt
in Rußland vielfach einen ganz besondern Zuschnitt. Wäh-
rend ein Theil der gebildeten Classen sich an das Solide hält
und namentlich unter den Gelehrten manche ernste und ge-
diegene Männer gefunden werden, geht ein anderer Theil
aus Raud und Band. Ezar Nikolaus mit seinem straff-
despotischen System und seiner eisernen Ruthe hatte gewähnt
auch die Geister bannen und niederhalten zu können. Er srl-
ber jedoch mußte es noch mit ansehen, daß sein Werk in Trüm-
wer siel. Der Despotismus im Staate hat wesentlich dazu
beigetragen, die Anarchie in den Geistern hervorzurufen; jener
war unsittlich und widersinnig; es konnte nicht fehlen, daß
alle guten Köpfe sich gegen denselben auflehnten. Diese Ans-
bäumung gegen den von außen und von oben her drückenden
Zwang geschah in einer Weise, die für das Racenelement
von Wichtigkeit ist. Ein nicht geringer Theil der Jugend,
welche wie auf einer raschen Locomotive in die Bewegung
hineinrannte, wirft alles Alte über Bord, will Tabula rasa
machen und aus ihr dann ein Gebäude aufführen, zu welchem
sie einen lustigen Phantasieplan entworfen hat. In Groß-
rußland, wo im Volk eine so große Einförmigkeit herrscht,
daß dasselbe nicht einmal Mundarten der Sprache hat, wo
die Stände nicht gegliedert sind, wo ein Bürgerstand in nn-
serm abendländischen Sinne sehlt, wo selbst die Bodengestal-
tnng und die Landschaft so geringe Abwechselungen gewähren
— iu diesem Großrußland mit einer aus slavischeu und
finnischen Elementen gemischten Nation ist der Nihilismus
aufgekommen. Alles was ist, muß sort; es ist alt, lächer-
lich, taugt nichts. Für die Völkerpsychologie ist diese Krank-
heitssorm von Interesse. Tnrgenieff, der beste Belletrist
Rußlands, hat in einem seiner Romane (mir fällt der Titel
eben nicht bei) zwei junge moskowitische Nihilisten vortrefflich
geschildert und sie in einen ergötzlichen Gegensatz zu einem
alten Edelmanne von Schrot und Korn gebracht.
Karakosow, welcher gegen Kaiser Alexander einen Mord-
ansall unternahm, gehörte zu den Nihilisten. Ueber diese
hat ein talentvoller Schriftsteller, Schedo-Ferroti, ein Werk
veröffentlicht, ans welchem wir in der „Deutschen St. Pe-
tcrsbnrger Zeitung" Auszüge finden. Da dieselbe wohl
außerhalb Rußlands nur wenigen Lesern des „Globus" zu
Gesichte kommt und die Sache selbst für die Völkerkunde von
Belang ist, so wird es in der Ordnung sein, daß wir dem
Petersburger Blatt Einiges entlehnen.
*
„Was den charakteristischen Zug des Nihilisten bildet,"
sagt Herr Schedo-Ferroti, „ist die bis zur äußersten Grenze
getriebene Zufriedenheit mit sich selbst, eine Zufrieden-
heit, welche bis zu einem Gefühle der Selbstbewunderung geht,
das seinerseits wieder mit dem Erstaunen über die eigene In-
telligenz gemischt ist. Da er sich allen gegenwärtigen nnd
früheren Denkern überlegen glanbt, verwirft er mit Verach-
) der Nihilismus. 363
tnng die Wahrheiten, welche ihre Forschungen der Menschheit
erworben haben, und läßt nur die Theorieu, welche er sich
selbst geschmiedet hat, als unabänderlich und ewig wahr zu.
Da er nur Vertrauen in sein eigenes Urtheil setzt, welches
er für untrüglich hält, weigert er sich, irgend eine Autorität
in irgelld einer Angelegenheit anzuerkennen, und endigt damit.
Alles, was die Gesellschaft, in welcher er lebt, als die Grund-
läge der gesellschaftlichen Ordnung achtet: die Religion, die
Familie, die bestehende Regierung, als eben so viele Joche
anzusehen, die feine Würde beleidigen."
Haben wir Alle nicht Menschen genug gesehen, die cnt-
weder bereits zu diesem vollständig entwickelten Stadium des
Nihilismus gelangt oder doch auf dem besten Wege dazu
waren? Und müssen wir nicht gestehen, daß die Keime
dazu in der sehr überwiegenden Mehrheit unserer
jugendlichen Zeitgenossen liegen?
Die ersten Keime des Nihilismus glaubt Herr Scheda-
Ferroti in der zweiten Hälfte der Regierung des Kaisers
Nikolaus in der russischen Gesellschaft entdeckt zu haben,
lvo er sich in einer noch ziemlich harmlos auftretenden Fron-
derie aussprach. Die erste Verbindung unter den noch zer-
streuten Nihilisten bildete die bald darauf auftauchende Hand-
schriftliche Literatur, bis deun endlich Herr Alexander Hertzen
mit seiner „Glocke" die Fahne wurde, um welche sich das
ganze Heer der Malcontenten sammelte. Aber bald siel auch
dieser Götze. Die Einen erwachten , als sie sahen, welches
Unheil diese Richtung erzeugte, und ihr Gefühl erstarkte an
dem allgemein erwachenden Nationalbewußtsein, welches bei
Gelegenheit des polnischen Aufstandes zu Tage trat; die
Andern verließen Herrn Hertzen als einen leeren
Theoretiker und Phrasendrescher und proclamirten
die rettende Thcit als das Schiboleth ihrer Partei.
DieS waren die enragirten Nihilisten, aus deren Mitte in
letzter Conseqnenz Karakosow hervorging. Diese echten
Nihilisten umhüllen sich anch mit patriotischen Ge-
fühlen nnd tragen dieselben in dem Hasse gegen
alles Fremde, namentlich gegen die Deutschen zur
Schau; sie wollen aber zuvor reine Tafel machen, um dann
das Land auf ihre Weise durch Verwirklichung ihrer com-
mnnistischen Utopien zu beglücken.
Die Ursachen für die Entwickelung der eigentümlich
wilden Art des Nihilismus in Rußland findet Herr
Schedo-Ferroti in der zurückgebliebenen Civilifation,
unter welcher er nicht sowohl die eigentlich wissenschaftliche,
als vielmehr die gemüthliche Bildung, die Entwickelung des
Charakters versteht. Die Civilisationsstuse eines Volkes
glaubt Schedo-Ferroti an dem Ideal zu erkennen, welches
sich die verschiedenen Gesellschastsclassen vorgesteckt haben.
Das Ideal der Jugend der höheren Classen, vorzugsweise
des Adels, iu Rußland ist aber in Folge der geschichtlichen
Entwickelung und der dadurch bedingten Erziehungsmethode:
„dem Staate dienen, um emporzukommen"; das der
Bürger: „sich bereichern, um emporzukommen"; das
des Volkes endlich: „gewinnen, um zu verschweu-
den". Diese Sätze werden durch eine Schilderung motivirt,
die eine so gründliche Kenntniß aller Gesellschastsclassen er-
kennen läßt, daß wir kein anderes Werk kennen, welches
einen so tiefen Einblick in die inneren Lebensverhältnisse des
russischen Volkes gestattete. Sie zeigt mit unerbittlicher Eon-
sequeuz auf die wunden Stellen im gesellschaftlichen Leben,
auf die Ursachen der Demoralisation hin, die wir ja noch in
letzter Zeit in den traurigsten Symptomen haben zu Tage
treten sehen. Wen hat nicht die Criminalgeschichte der letz-
ten Zeit mit Trauer und Schrecken erfüllt? Ein Geheim-
rath Gajewski, der mit dem Staatsrathe Jakowlew zusam-
men 75,000 R. stiehlt; ein Professor Neofitow, welcher die
364 Jung-Rußland 11
Jnterimsscheine der Prämienanleihe fälscht; der Oberstlien-
tenant Beklemischew und die Adelsmarschälle Ssouzew und
Gawrilow, welche sich elender Subjecte bedienen, um falsche
Serien anfertigen zu lassen; der Stndent Dauilow, welcher
zwei Personen mordet, um zu rauben; der Ehrenbürger Ma-
surin, welcher wegen armseliger 3000 N. einen Mord be-
geht; der Wirkliche Staatsrath Werderewski, wel-
cher 11/2 Millionen PudSalz stiehlt — alles das sind
Erscheinungen, die deutlich genug verrathen, daß, wenn nicht
für die geistige Bildung, so doch für die des Herzens und
Charakters noch unendlich viel geschehen muß. Der Mangel
dieser Bildung ist es eben, welcher den echten Patriotismus,
der sich freudig der Thätigkeit für das allgemeine Beste weiht,
nicht aufkommen läßt, und der durch falsche Theorien irre-
geleiteten Jugend, welche diese Schäden in der Gesellschaft
sieht, die Idee in den Kopf setzt, daß sie berufen sei, sie zu
heilen.
Wir selbst aber tragen einen großen Theil der Schuld.
Wer hat denn unter uns den Mnth, mit Heine zu sageu:
„Ich t.inz' nicht mit, ich räuchre nicht den Klötzen,
Die außen goldig sind, inwendig Sand;
Ich schlag' nicht ein, reicht mir ein Bub' die Hand."
Wer begiebt sich deuu nicht zu dem lncullischen Diner,
zu de:n glänzenden Balle, welche uns ein Mensch giebt, von
dem wir wissen, daß er einen Gehalt von nur einigen hun-
dert Rubeln hat und doch wie ein Krösus lebt? Schließen
wir solche Menschen ans unseren Gesellschaften, aus unseren
Clnbs aus? Erhebt sich die öffentliche Meinung gegen sie?
Niemals! Und wenn ein Einzelner es wagt, so wird
er als ein Dennnciant, als ein gefährlicher und schlechter
Mensch betrachtet; er wird aus der Gesellschaft ansgeschlos-
sen, nicht derjenige, der seine Finger in den Cassen
des Staates oder in dem Gute seiner Nebenmen-
scheu hat.
Ja, sicher und gewiß! Herr Schedo-Ferroti hat Recht,
wenn er eine höhere Charakterbildung, eine bessere Erziehung
der Kiuder in ihren ersten Lebensjahren als eine unerläßliche
Bedingung für die Besserung der socialen Zustände hinstellt.
Kehren wir jedoch zu seinem Werke zurück.
Da Herr Schedo-Ferroti mit Recht überzeugt ist, daß
die einmal unter der Herrschaft des Nihilismus steheudeu
Geister nicht mehr zu retten sind, daß es also nur darauf
ankommt, der weitern Ausbreitung des Nebels besonders ans
die bis jetzt noch verschont gebliebenen unteren Volksschichten
zu steuern, wendet er hierans seine ganze Aufmerksamkeit,
und er kommt in letzter Analyse ans folgende vier Ursachen
zurück, welche die Krankheitsstoffe in Rußland erzeugt haben,
deren Symptom der Nihilismus ist:
1) Die Notwendigkeit für den Adel, in den
Staatsdienst zu treten, um einen Rang zu erhalteu,
wenn er nicht nach §. 38 des Reglements über die Adels-
wählen die Stimmberechtigung in den Adelsversammlungen
verlieren will. Hierdurch wird die Erziehung der Jngeud
außerhalb der Familie bedingt uud das Ideal „Dienen,
um emporzukommen" erzeugt.
2) Die unaufhörliche Versuchung, welchen die vorzllg-
lichsten Mitglieder des Bürgerstandes ausgesetzt sind, die-
sen Stand, dessen Stärke und Zierde sie sein würden, zu
verlassen und in den Adel zu gelangen, wozu der
d der Nihilismus.
„Tschin" (die Rangstufe, welche vom Staatsdienst abhängt)
ihnen die beste Gelegenheit bietet. Da hierzu allernächst der
Reichthum verhilft, so bildet sich eben das Ideal des Bür-
gerstandes ans: „Sich bereichern, um emporzukommen."
3) Die falsche Richtung, welche eine irrationelle
Erziehung und eine oberflächliche Bildung den
Frauen der oberen Clafsen gegeben haben, und die
eben nur darauf berechnet ist, daß sie in Gesellschaften glän-
zen, nicht aber darauf, daß sie die Zierde des Lebeus am
häuslichen Herde und gute Leiterinnen der Erziehung ihrer
Kinder in den ersten Jugendjahren werden können.
4) Der gänzliche Mangel irgend welcher Bildung bei
den Frauen der untersten Volkselassen, wodurch diese eben
eine so niedrige Stellung dem Manne gegenüber einnehmen
und jeden Einfluß auf denselben verlieren. Der Mann des
Volkes, durch sein Gewerbe und den Verkehr mit Meuschen
mehr gebildet, findet in seiner Frau kein ihm ebenbürtiges
Wesen, welches ihm ivgcxib welche Besriediguug in seiner
Hütte gewähren könnte. Er besucht daher die Schenke, und
um da groß thun zu können, folgt er eben seinem Ideal
„Gewinnen, um zu verschwenden." So entwickelt sich aber
das Laster der Trunksucht in einem noch nie dagewesenen
Grade.
Welches sind nun die Mittel, diese Ursachen zu beseiti-
gen? Es sind einfach folgende:
1) Aufhebung der Verpflichtung des Adels zum Dienst.
2) Abschaffung des „Tschin", durch welchen die besten
Kräfte dem Tiersetat entrückt werden, der verhältnißmäßig
mehr gesunde Elemente in sich schließt, als der Adel.
3) Schutz der häuslichen Erziehung, besonders derjenigen
der jungen Mädchen aus den höheren Ständen, durch Be-
schränkung der Jnstitutserziehung, die eben nur auf Erzie-
lung einer sogenannten glänzenden Bildung gerichtet ist,
ohne wesentlich die häuslichen Tugenden zu entwickeln und
so deu civilisatorischeu Einfluß, welchen sonst die Frauen
üben, zu erhöhen.
4) Hebung des Volksunterrichts, besonders für die Töch-
ter des Volkes. Hier wird vor allen Dingen die Notwen-
digkeit hervorgehoben, gute Volkslehrer zu bilden uud diese
so zu stellen, daß sie ihre Lage jeder andern, auf die sie ihrer
Bildung nach Anspruch machen könnten, vorziehen, dann
aber auch der herrliche, praktische Vorschlag gemacht, die Kräfte
der Frauen aus deu mittleren Stünden für den Volksunter-
richt auszubeuten und einen Laienorden von Volkslehrerinnen
zu stiften, der eine dem Zweck entsprechende Organisation er-
hielte, und durch welchen namentlich für die Erziehung des
weiblichen Geschlechts der untern Volksclassen gesorgt wer-
den könnte.
Eine auf derartiger Organisation beruhende Gesellschaft,
meint Herr Schedo-Ferroti, wird jedem Umsichgreifen des
Nihilismus den kräftigsten Damm entgegensetzen, wie denn
auch in den Ostseeprovinzen, wo die häusliche Erziehung
länger dauert uud derartig beschaffen ist, daß sie das Kind
schon die Heiligkeit der Familienbande kennen lehrt und ihm
Achtung vor einer Autorität einflößt, bis jetzt noch keine
Spur von Nihilismus vorgekommen ist. (— Der germa-
nische Charakter läßt den Nihilismus nicht auskommen, wel-
cher ja Product einer oberflächlichen Scheincivilisation ist,
die einen Gegensatz zu jeder Gründlichkeit und Vertiefung
bildet. —)
Dr. Mchwald: Die Härings- und Brislingsstscherei cut der Küste Norwegens.
3L5
Die Mrings- und Irislingsfischerei an der Lüste Norwegens.
Von Dr. Mehwald.
II.
Die ersten Züge jedes Winters enthalten die größten
und fettesten Heiringe. Deshalb rudern die Fischer oft bis
fünfzehn Meilen in die See hinaus den Fischen entgegen,
harren im Unwetter viele Tage und Nächte, verrichten die
schwerste Arbeit fast ohne Nahrung und müssen am Ende
all ihr Thun für vergeblich erachten, wenn entweder keine
Häringe in ihre Stell- und Treibnetze gingen, oder diese
Fische nicht besser waren, als sie dieselben an den Küsten mit
weniger Mühe hätte fangen können.
Da die Häringe sämmtlich mit Milch oder Nogeu ans
Land kommen, so ist es klar, warum sie nicht im Innern fett
sein können, denn alle Nahrung ist der Milch refp. dem No-
gen zugegangen. Wenn sie aber gemilcht und gelaicht haben,
bekommen sie ein schwindsüchtiges Ansehen. Kurze Zeit
darauf nehmen sie wieder zu und werden dann am fettesten
und schmackhaftesten, wenn sie zurück in die Tiefe gehen.
Man kann also an: Häringe in der Tonne sehen, ob er auf
der Reise zur Laichstätte, oder während der Milch- und Laich-
Verrichtung, oder aus seiner Reise uach dem Nordseebecken
gesangen wurde.
Die Behaudluugsweife nach dem Fange ist auf allen
Fischplätzen dieselbe. Es sind nämlich an den Fischereiküsten
eine Menge Salzereien, d. h. lange hölzerne Schuppen er-
baut, worin eine Masse Franenzinnuer, welche aus dem hal-
bot Lande zusammenströmen, um einen Winter-Verdienst zu
suchen, das Halsabschneiden, das Ausnehmen und das Ein-
salzen besorgen. In der Regel arbeiten immer drei Frauen-
zimmer zusammen und bringen durchschnittlich täglich bis
dreißig Tonnen Häringe ins Salz und Faß. Bon dem aus
Italien geholten Salze legt die Salzerin zuerst auf den Bo-
den der Tonne eine Lage; darauf wird eine Lage Fifche ge-
legt und dies alternirend so fort, bis die Tonne voll ist.
Obenauf werden noch ein paar Lager Fische über die Tonnen-
kante herausgelegt und dann wird die Tonne beiseite gesetzt.
Nach einigen Tagen ist der Fisch ins Salz gekrochen (wie
der Normann sagt, was aber umgekehrt richtiger sein dürfte),
dabei hat sich die Tonne gefackt, d. h. der Fisch hat sich ge-
senkt, worauf die „Dixelmänner" die Tonnen „höhen",
d. h. übervoll machen, zuschlagen und zur Abschiffnng nach
den Küstenstädten beiseite rollen. Die Häringshändler in
den Städten „höhm^ die Tonnen nochmals, bevor sie die-
selben ins Ausland senden, müssen sich aber oft, wenn der
Fisch sehr „schwindet", gefallen lassen, daß man ans den
ausländischen Handelsplätzen die Tonnen auf ihre Kosten
nochmals „höhet", d.h. voll macht, woher beimHäringshan-
del die Ausdrücke: Hamburger, Stettiner, Königs-
berger, Breslaner:c. Höhung kommen. — Es ist nicht
gleichgültig, ob die Häringe beim Einsalzen in der Tonne
ans die Seite oder aus den Rücken gelegt werden. Letztere
Methode ist die bei Weitem beste. —
Oft kommt es vor, daß in abgelegenen Buchten, wo län-
gere Zeit nur schwacher Fang war, weuig oder keine Auf-
käuferschiffe erscheinen, Plötzlich HäriugszUge deu Segen in
die Fischergarue strömen, wie z. B. vor einigen Jahren bei
Skudesnäs, wo uach langjährigem schwachen Fange binnen
drei Tagen über hunderttausend Tonnen Häringe
ans Land gezogen wurden. In solchen Fällen haben die
Fischer weder Tonnen, noch Zeit, noch helfende Arme geuug,
ihren Segen auf die oben angegebene Weife behandeln zu
köuueu. Sie wenden daher die sogenannte Ruudsalzuug
an, d. h. die Häringe werden nuausgeuommeu iu große»
Bottichen, oder in mit Brettern ausgeschlageneu Erdvertie-
sungen, oder in Felscisternen, oder Silen eiugesalzen und erst
später, wenn Tonnen herbeigeschafft sind, auf die oben be-
fchriebene Weise behandelt.
Außer der Methode, deu Häriug iu Salzlauge zu cou-
servireu und zu versenden, trocknet man denselben auch an
der Luft, oder räuchert ihn und genießt denselben im Lande
selbst häufig frisch. Unter verschiedener Behandlung nehmen
die Häringe verschiedene Namen an. Haben sie Rogen und
Milch, so heißen sie Voll häringe, ohne dieselben Hohl-
häringe. Sehr fette Häringe werden am Rücken und Bauche
aufgeschnitten, auf Hölzer gespannt und geräuchert und heißen
dann Speckbücklinge. In schwacher Salzlange gährende
Häringe heißen Sanerhäringe; lufttrockene heißen Stock-
häringe. Das Häringsränchern geschieht mit sogenannter
Ruudsalzuug, d. h. man bestreut unausgeuommene Häringe
entweder leicht mit Salz, oder legt sie kurze Zeit (d. i. einen
bis zwei Tage) in mäßig starke Salzlange, stößt ihnen dann
eine Holzspließe durch den Hals, und wenn die Spließe mit
Häriugeu vollgereihet ist, kommt sie in die Räucherhütte.
Eine solche Hütte saßt in der Regel zwölftausend Häringe
oder Bücklinge. Norwegen hat großen Ueberfluß des besten
Rauchmaterials — Wachholder —, weshalb die norwegischen
Pöklinge viel besser riechen und schmecken, als diejenigen aus
anderen Ländern, wo man genöthigt ist, mit Seetang, Kiefer-
nadeln und dergleichen Unrath zu räuchern. Fast sämmt-
liche Häringe gehen durch die Hände der Bergenser nach
allen Ländern um die Ostsee, um das Schwarze Meer, nach
Madeira n. s. w.; nach England aber nur „rundsalzene"
zur Räucherung. Wie groß die Menge Häringe ist, welche
in Norwegen bei der sogenannten Frühlingsfischerei jedes
Jahr oder durchschnittlich gefangen wird, läßt sich nicht an-
geben, da das Fischen eine freie Beschäftigung ist, um welche
man sich von obrigkeitswegen nicht kümmert. Doch dürfte
nach den Ausfuhrregistern und der Schätzung des inländi-
schen Verbrauchs für Menschen und Vieh die Annahme, daß
durchschnittlich eine Million Tonneu Winter-, oder wie der
Norman» sagt, Frühlingshäringe jedes Jahr gefangen wer-
den, wohl richtig sein. —
Wenige Monate nach beendeter Frühlingshäringsfifcherei,
nämlich vom Juli bis September, kommt der Sommerhäring
nördlich vou deu Küsteu, welche der Winter- oder Frühlings-
häring besuchte, ans Land, um fein Fortpflanzungsgeschäft
zu verrichten. Obschon dieser Fisch kleiner und fetter ist,
auch später laicht, als der Winterfisch, so gehört er dennoch
zu derselben Häriugsgattuug und zeigt nur eine kleinere Race.
Im Handel ist der Sommerhäring sehr beliebt und wird die
Tonne vou 4 bis 10 Speciesthaler bezahlt. Es geht von
diesem Häringe nicht nur sehr viel durch das Drontheimsjord
nach Jemteland und weiter, sondern auch nach Holland, Frank-
reich und Italien; namentlich aber nehmen Bremen, Ham-
bürg, Stettin und andere deutsche Städte ihren großen Be-
darf am liebsten von der Sommerfischerci. — Im Klein-
366 Dr. Mehwald: Die Härings- amb B
Handel in Deutschland heißen diese kleinen norwegischen Som-
merhäringe mit den kleinen Köpfen in der Negel „hollän-
dische" Häringe, weil Holland viele kauft und dann nach
Deutschland sendet. Umgekehrt heißen in den östlichen Ost-
seeländern, wo man die Häringe nach der Elle kauft, die
alten großen Häringe „preußische" Häringe. —
Es ist eigentümlich, daß die Race der sogenannten
Sommerhäringe die norwegischen Scheeren bis hinaus nach
Lappland bewohnt, in Größe, Fettigkeit und Menge je nach
den verschiedenen Fjorden wechselt, das Eismeer meidet und
bis in den Spätherbst die Fjorde bevölkert und für die Fischer
interessant macht.
Da die Häringe, namentlich die Sommerhäringe, wegen
ihrer angeborenen Schüchternheit nur in der Nacht gesan-
gen werden können, so ist der Fang des Sommerhärings in
den nördlichen Regionen, wo im Sommer die Nacht fehlt,
ein schwieriger und kann entweder nur mit sogenannten Treib-
netzen oder mit Stellnetzen bei wolkenbedecktem düstern Hini-
Ittel ausgeführt werden. Anch ist das Abfahren der gefan-
genen Häringe und das Einsalzen derselben beim sommer-
lichen Sonnenbrande schwierig. Räuchern kann man bei der
Hitze gar nicht.
Theils aus diesen Gründen, theils weil in jenen Nord-
regionen Norwegens die Bevölkerung ziemlich dünn ist, kön-
nen nicht so viele Sommerhäringe gesangen werden, als
Frühlingshäringe. Nach ziemlich sicheren Quellen ist die
jährliche Ausbeute zwischen dreihundert- bis vierhunderttau-
send Tonnen.
Da sich von diesen kleinen Häringen sehr viele, nament-
lich „gelte", d. h. unfruchtbare, den ganzen Winter in den
norwegischen Scheeren umhertreiben, fo werden sie für die
Dorschfischer gefangen und von diesen zu Ködern für die
Dorsche und andere große Fische benutzt. —
Außer deu beiden Häringsracen — Frühlings - und
Sommerhäringe — Clupea harengus — giebt es an den
Küsten Norwegens anch eine zweite Häriugsspecies —
Clupea sprattus. Dieses kleine Fischchen heißt bei Leb-
zeiten Spratte, Sprotte, Breitling, Brisling, und
als Handelsartikel nennt man es Ansjos, Anschios, Ancho-
vis, Anschiovis.
Der Brisling besucht die norwegischen Küsten von der
schwedischen Grenze bis Nomsdalen hinauf und zwar vom
Frühlinge bis zum Spätherbst. Meist geht er in die Fjorde,
welche sehr tief ins Land hineinreichen, sucht sich in den Aus-
läufern dieser Fjorde die slachsten Stellen, um dort zu laichen,
und ist daher, da er in großen Zügen streicht, sehr leicht dnrch
Note mit sehr engen Maschen zu fangen. Doch muß der
Fifcher im Sommer, ebenso wie bei denl Sommerhäringe,
genau Acht geben, ob der Brisling voll Aat, d. h. Krebse
ist. Von den vielen im Meere lebenden Krebsarten sind
einige seine und weiche von den Sommerhäringen und Bris-
lingen so geliebt, daß sich diese Fische übermäßig voll fressen.
Werden nuu die frischgefangenen Fifche sogleich aus deu
Netzen genommen und zubereitet, so gehen die im Leibe be-
sindlichen Krebse in Gährnng über, die Fische platzen nnd
sind verdorben. Daher lassen die Fischer sowohl die Som-
merhäriuge wie dieBrislinge, wenn diese krebsvoll sind, drei-
tnal viernndzwanzig Stunden in den Netzen stehen, damit
sie sich erst ausleeren. Dann werden sie herausgenommen
und mit Salz in Tonnen gerührt oder als Ansjos zubereitet.
Letzteres geschieht meist im Herbst, weil in dieser Jahreszeit
der Brisling sehr sett ist, während er inr Frühjahr sehr
mager ans Land kommt, wie alle Fische während des Laichens.
Da der Brisling dem jungen Häringe täuschend ähnlich
ist, so muß der Fischer beim Einlegen der Fische in die
„Dimke", d. h. Füßchen von Birke, Buche oder Eiche, oder
islingsfifcherei an der Küste Norwegens.
in die Blechkasten, jedem Fische erst den Bauch entlang strei-
chen. Der Brisling hat nämlich einen scharfen, schneidenden
Bauch, der junge Höring nicht. Da der Höring nicht als
Ansjos zubereitet werden kann, so kommt aus dieses Bauch-
streichen viel an.
Die Zubereitung der Ansjos ist sehr einfach. Erst Müs-
seu die Brisliuge in einer Lange von englischem Salze zwölf
Stunden liegen; darauf legt man sie auf den Rücken und
tüchtig zusammengepreßt in eine starke Lange von Lünebur-
ger Salz mit Pfeffer, englischem Gewürz, Nelken, Muskat-
nuß, spanischem Hopfen, Havauazncker, geschnittenem Laube
von sauren Kirschen und Lorbeeren in die Dunks, oder besser
Blechkasten; dann einige ganze Kirsch- nnd Lorbeerblätter
oben darauf und die Ausjos sind fertig.
Da bei der Ausjosbereitung viel Sauerkirsch - und Lor-
beerlaub nöthig, so bilden diese beiden Laubsorten Handels-
artikel mit Italien und anderen Ländern.
Bor der Versendung der Anchovis müssen sie erst vier-
zehn Tage und länger gepflegt werden durch Umwenden der
langendichten Dunks, oder verlötheten Blechkasten, immer
über den andern Tag, so daß alle Ansjos von der mit oben-
genannten Gewürzen gemischten Lange vollständig dnrch-
ziehen. —
Außer der oben angegebenen Masse von Häringen be-
zeugt die Großartigkeit dieser Fischerei auch Alles, was mit
derselben in Verbindung steht. Dazu gehören erstlich die
vielen Schiffe, welche die Fische theils von den Fischplätzen
nach, den Salzereien und theils nach den Küstenstädten be-
sorgen. Dann aber ist das Fischfrachtgeschäft von Norwegen
nach den überseeischen Ländern für die norwegische Handels-
flotte sehr profitabel. Außerdem gehören zu den Tausenden
von Fischernetzen aller Art auch ungeheure Massen von Hanf-
garn, Tauwerk, Anker aller Formen und Größen, Kork zum
Schwimmendhalten der Netze, Bleigewichte und allerlei kleinere
Notwendigkeiten. Zur Bereitung der Fische gehört viel
Salz, Räuchermittel und Gewürz, für die Fassung und Auf-
bewahruug sind viele Tonnen, Dunks und Blechkasten nöthig.
Diese Tonnen bilden einen bedeutenden Handelsartikel. Denn
Norwegen hat bloß Kiefer-, Fichten- und Birkenholz für
Häringstonnen und Haselnußreifen nur für einen Theil die-
ser Tonnen; dagegen muß es die buchenen Faßdauben fowie
die Weidenreifen sämmtlich kaufen. Erstere holte es sich
bisher ans Schweden und Dänemark, letztere aus Holland.
Jede Häringstonne hat zwölf Reifen, welche aber dünn und
kurz find. Es läßt sich also ermessen, welche ungeheure Mas-
sen kurzer Weidenstöckchen alljährlich für eine Million Tonnen
in Norwegen eingeführt werden müssen. Da die besten Rei-
sen von der Bandweide (Salix viminalis) und der Sahl-
weide (Salix caprea) kommen, beide Weidenarten aber im
Gebirge wie im Flachlande, im Trocknen wie im Feuchten
gleich gnt wachsen und durch Schnittlinie außerordentlich
leicht und ins Unendliche vermehrt werden können, so dürften
sich die Besitzer der großen Sumpfflüchen — der besten
Pflanzplätze für obige Weidenarten— an der Inster, Weich-
sel, dem Bug, Narew, der Albing, Netze, Warthe, Oder,
Spree und Havel, der untern Elbe u. s. w. eine große Ein-
nähme und den Norwegern billigere Weidenstäbchen schaffen
können, wenn sie ihre bisher fast werthlosen Sumpfflächen
mit vorgedachten Weiden bepflanzten nnd im drei- bis vier-
jährigen Umtriebe ausnutzten. Gegenwärtig führt man in
Norwegen aus Holland jährlich zehn bis fünfzehn Millionen
Weidenstäbchen ein, welche an allen vorgenannten schiffbaren
Flüssen fchon im dritten Jahre schnittrecht wachsen, und also
bei drei- oder vierjährigem Umtriebe eine Bodenrente gewäh-
ren würden, wie sie kein anderes ländliches Erzengniß ge-
währt; denn das Bund zu 25 Stück solcher Weidenstäbchen
Die Auswanderung der
kostet jetzt schon über 20 Schilling. Die Holländer holen
demnach jährlich bloß fürWeidenstäbchen aus Nor-
wegen hundertundzwanzig- bis hundertundvierzig-
tausend Thaler.
Viel belangreicher noch ist das Faßdaubengeschäft. Man
hat Häringstonnen von kiesernen, sichtenen, buchenen und
birkenen Danben. In Tonnen von den letzten beiden Holz-
arten halten sich die Häringe und schmecken aus densel-
ben am besten. Da Norwegen nur Birken, Kiefern und
Fichten zu Dauben liefern kann, so muß es die Buchendan-
ben einführen. Könnte es diese billiger als bisher erhalten,
so würde wahrscheinlich die halbe Welt bald bessere Häringe
ans Buchenfässern haben. In Schlesien, Böhmen, West-
phalen könnte ein bedeutender Handel mit 30 Zoll langen
buchenen Danben nach Norwegen erblühen, wenn man den
Ueberflnß der einen Gegend gegen den Mangel der andern
ausgleichen wollte. Besonders aber könnte Ungarn aus seinen
zur Zeit fast werthlosen Urwäldern von seinen prächtigen
schiffbaren Strömen eine bedeutende Rente ziehen, wenn es
aus feinen herrlichen Buchenwäldern Faßdauben für die nor-
wegifchen Häringe schneiden wollte. Denn Norwegen
asken nach Südamerika. 367
kaufte bis jetzt jährlich für etwa zweihuudertuud-
fuufzigtaufend Thaler Buchendauben, würde aber
das Doppelte und Dreifache kaufen, wenn es dieselben so
billig wie Kiefer- und Fichtendauben haben könnte. —
In Norwegen sind die Preise der Häringe sehr verschie-
den. So bezahlte man 1846 dem Fischer für eine Tonne
Häringe ohne Gefäß drei Silbergroschen. Dagegen zahlte
man voriges Jahr vier Speciesthaler incl. Gefäß für die
Tonne. Der Grund zu dieser Steigerung der Häriugspreise
lag in der Rinderpest in England und der Trichinenfurcht in
Deutschland, denn diese beiden Länder bedurften plötzlich un-
endlich viel Häringe. Der gewöhnliche Häringspreis war bisher
ein und einen halben bis zwei Speciesthaler (= 3 preuß.
Thaler) für die Tonne incl. Gefäß. Die Tonne soll vier-
hundertundachtzig große oder fünfhundert und darüber kleine
Häringe enthalten. —
Das ganze Häringsgeschäft trägt nach einem Durchschnitt
der letzten Jahre dein Lande Norwegen im Jahre fünf bis
sechs Millionen Thaler ein: gewiß nicht nur ein großartiges,
sondern auch ein sehr lncratives Geschäft für eine Einwohner-
zahl vou kaum zwei Millionen!
Die Auswanderung der Basken nach Südamerika.
Wir haben seit einiger Zeit mehrfach darauf hingewiesen,
daß manche Völkerstämme durch die Berührung mit der abend-
ländischen Eivilisation hinwegsterben. Der Proceß der Aus-
rottung nimmt je nach Umständen einen raschern oder lang-
samern Verlauf; er wird befchleuuigt durch Kriege, Krank-
heiten, Genuß geistiger Getränke und neue Ernähruugs- und
Lebensweise. So in Amerika und der SUdsee. Wir können
aitch bei einigen sibirischen Jagdnomaden ein allmäliges Ver-
schwinden beobachten, ohne daß die eben genannten Agentien
sich besonders nachweisen ließen; ein Stamm wellt ab wie
eine Pflanze, er hat die Kraft der Regeneration aus sich sel-
ber heraus verloren.
Auch in Europa sehen wir, wie Völkerstämme nach und
nach ausgehen und ihren Kreislauf, wenn der Ausdruck pas-
send ist, vollenden. So siud die Kelten fast in ganz Europa
von Romanen und Germanen gleichsam ausgeschlürft wor-
den, und wir finden sie heute nur noch im äußersten Westen,
in der Bretague und auf deu britischen Inseln; in Corn-
Wallis hat ihre Sprache der englischen weichen müssen; in
Wales, Irland und Schottland wird sie gleichfalls im Fort-
gauge der Zeit zu Ende gehen, und in der Bretagne ge-
winnt das Französische mehr und mehr die Oberhand. Der
Vorgang ist genau wie einst bei den slavischen Stämmen
int nördlichen und östlichen Deutschland. Die letzte Frau,
welche am linken Ufer der Elbe im Lüncbnrgischen noch
Wendisch verstand, schloß ihre Augen, wenn ich nicht irre, im
Jahre 1745.
Auch die Basken in den Pyrenäen und zu beiden Seiten
dieses Hochgebirges siud im Abzüge. Vielleicht bleiben ihnen
noch einige hundert Jahre vergönnt, am Ende aber kann es
nicht fehlen, daß sie demselben Schicksal erliegen, wie die
eben genannten Völker. Sie sind ein schöner, körperkräftiger
Stamm, geistig wohl begabt und fleißig dazu. Ihre Zahl
wird eine halbe Million Seelen nicht übersteigen, und theil-
weise sind sie mit ihren Nachbaren, den romauisirten Kelten,
vielfach gemischt. Diese Aufsaugung nimmt allmälig ihren
sichern Fortgang, durch welchen die Zahl der eigentlichen Bas-
ken sich vermindert. Beschleunigt wird außerdem die Ver-
Minderung durch die Auswanderung. Die Basken verlassen
ihre grünen Thäler und bewaldeten Berge, um in den Ebenen
der La-Plata-Region eine neue Heimath zu suchen. Dort
leben ihrer schon etwa 50,000, und alle Jahre kommt Nach-
schub. Die Lücke in der Pyrenäengegend wird dadurch aus-
gefüllt, daß Spanier, Bearner und Franzosen einrücken.
Manche Basken kommen zur Winterzeit in das Unterland
hinab, um hier allerlei Erwerb zu suchen, und in den großen
Städten vermischen sich dann diese Nachkommen der alten
Iberer mit den Gascognern Aquitaniens. Sic arbeiten z. B.
in Bordeaux zu Tausenden am Hafen und als Lastträger,
viele sind Handwerker oder in den Handelshäusern beschäf-
tigt; die Mädchen finden als Dienstboten ein Unterkommen,
leider treiben manche auch ein unsittliches Gewerbe.
Der Baske liebt seine Heimath, aber klebt nicht eng an
der Scholle. Er ist anch ein tüchtiger Seemann und im Mit-
telalter hat er weit eher als andere Völker den Walfischfang
regelrecht betrieben. Während die große Masse der franzö-
sischen Bauern ohne Unternehmungsgeist ist, an ihrem Acker
klebt uud sich nicht über See wagt, hat der Baske einen Hang
in die Weite und gern entzieht er sich der drückenden Eon-
scription. Als Soldat ist er ausgezeichnet durch seine Kör-
Perstärke, Mäßigkeit, anständiges Betragen und Mnth; aber
er ist innerlich zu frei und unabhängig, um dem Soldaten-
Handwerk, bei welchem ja Alles reglementirt wird, Geschmack
abzugewinnen. Es widersteht dem Nachkommen der freien
Iberer, die besteu Jahre seines Lebens im Kasernendienste zu
verlieren, nnd die straffe Centralifation des französischen Prä-
fectenstaates und die bis ins Kindische ausgedehnte Bureau-
kratie behagen ihm eben so wenig. Er kann ja keinen halben
Morgen Ackerland verkaufen, ohne dazu von Paris aus dem
Ministerium die Genehmigung zu erhalten. Ehemals bil-
deten die Ortschaften der Basken eine Art von Bund und
sie konnten ihreGemeindeangelegenheiten nachBedürsniß nnd
Belieben ordnen; sie besaßen die Selbstverwaltung in vollem
Umfange. Unter dem Drucke des centralifirteu Gendarmen-
3G8 Die Auswanderung der
und Polizeistaates und bei der Präfectenwirthschaft, welche
jede freie Beweglichkeit hemmt, fühlen die Basken sich unbe-
haglich. Jene in Spanien haben sich dagegen bis auf den
heutigen Tag ihre alten Gerechtsame, ihre „Fneros" (bas-
lisch Fors) gerettet', und sie liefern zu der Auswanderung
einen verhältuißmäßig geringen Beitrag.
Im Jahre 1865 sind aus den beiden Hafenplätzen Bor-
deaux und Bayonne 59 Schiffe mit 2609 Auswanderern,
die fast alle Basken oder Bearuer waren, nach Bnenos-Ayres
gegangen. Sie finden eine gute Aufnahme, man hat dort, wo
es so sehr an Arbeitskräften mangelt, diese fleißigen Leute recht
gern. Sie finden auch iu Montevideo und in den Ortschaf-
ten ani Uruguay und Parana Arbeitgeber; sie beschäftigen
sich im Schiffsdienste, bei der Gärtnerei und vorzugsweise in
den Saladeros, den großen Schlächtereien, in welchen das znr
Ausfuhr bestimmte Rindfleisch eingesalzen wird; oder sie ver-
fertigen Backsteine, dienen auf den Viehgehöften und machen
sich überhaupt vielfach nützlich. Ihre Arbeitsamkeit, ihr
friedliches Benehmen, ihr anstelliges Wesen und ihre Recht-
schafsenheit tragen dazu bei, daß sie gut vorwärts kommen.
Zum Betriebe des Ackerbaues hat sich bislaug nur eine ge-
ringe Zahl herbeigelassen. An den politischen Wirren bethei-
ligen sie sich nicht und sie bleiben deshalb von Seiten der
argentinischen Parteien unbehelligt.
In dem neuen Lande richtet der Baske seinen Sinn vor-
zugsweise auf den Gelderwerb, weil er den Lieblingswunsch
hegt, iu reiferen Jahren als gemachter Mann in seinem
Heimathsorte leben zn können. Doch wird derselbe nnr We-
nigen erfüllt; diese sogenannten Amerikaner verleben dann
ihre alten Tage in ruhiger Behaglichkeit, die Mehrzahl der
Ausgewanderten bleibt aber ani La Plata.
Im Durchschnitt ziehen jährlich zwischen 2000 bis 3000
Basken über See. Sie können drüben ihre Sprache und
ihre Eigenthümlichkeiten nicht festhalten, sie gehen nach mtd
nach in den argentinischen Spaniern auf, deren Sprache sie
annehmen müssen, denn wer verstände am La Plata das
ohnehin so schwer zn erlernende Escuara? Aber sie halten
brüderlich zusammen und bedienen sich unter einander dieser
ihrer Sprache; sie vergessen weder ihr uraltes volkstümliches
Ballspiel noch die alten Gesänge des Vaterlandes; diese hört
man ans den argentinischen Pampas wie in den Thälern der
Pyrenäen. Durch jeden Nachschub aus dem alten Lande
werden die nationalen Erinnerungen wieder wachgerufen und
neuaufgefrischt, aber die Basken sind doch nur eine geringe,
ohnehin über ein weit ausgedehntes Land zerstreut lebende
Minderheit und das entscheidet.
Diese Auswanderer sind sast ohne Ausnahme junge, kräs-
tige Leute, gleichsam der Kern der Nation. Während und
weil diese Männer in die Fremde gehen, müssen die Mäd-
chen ledig bleiben; sie suchen dann ihren Erwerb im Unter-
lande, wie schon gesagt, zumeist in Bordeaux. So kommt
es, daß in den baskischen Gegenden die Zahl der Ehen und
Geburten abnimmt. In manchen Dörfern findet man kaum
noch junge Leute, und es ist nachgewiesen, daß iu: Verlaufe
der dreißig Jahre, feit welchen die Auswanderung stattfindet,
mindestens der vierte Theil aller kräftigen jungen Männer
das Land verlassen hat; einzelne Ortschaften sind in Folge
davon geradezu verödet. Unter solchen Umständen muß die
Zahl der Menschen, welche das Baskische (Escuara) als ihre
Muttersprache reden, sich stark verringern. Dasselbe zerfällt
ohnehin in fünf verschiedene Dialekte, die mancherlei Abwei-
chendes haben, und kann dem Andrängen und Eindringen
des Französischen und Spanischen auf die Dauer nicht wider-
stehen. E. Reclus iu einem Aufsatz über die Basken („Re-
Zasken nach Südamerika.
vne des deux Mondes", März 1867, S. 334) erwähnt,
daß noch 600,000 Escuarier, d.h. Basken, das Idiom ihrer
Vorfahren reden; so nehme man allgemein an, doch sei die
Ziffer gewiß viel zu hoch gegriffen. Am 31.December 1854
zählten die beiden Provinzen Guipuscoa und Viscaya, wo
man, die Städte ausgenommen, in denen das Spanische vor-
herrscht, noch vorzugsweise oder ausschließlich Baskisch redet,
347,470 Seelen. In Navarra und Alava, zusammen mit
411,820 Seeleu, reden drei Viertheile Spanisch. Im fran-
zösischen Baskenlande kann man höchstens 120,000 rechnen,
welche sich für gewöhnlich der baskischen Sprache bedienen.
Nach der Zählung von 1866 würde die fämmtliche baskisch-
französische Bevölkerung 123,810 Köpse betragen; davon
muß man aber die Nichtbasken abrechnen, welche in den
Städten St. Palais, Mauleon, St. Jean de Luz, Hendaye :c.
ansässig sind. Von 1861 bis 1866 hat die Volksmenge
im Departement der Niederpyrenäen sich um 1808 Köpfe
vermindert.
Also die Basken sind im Abzüge; in den nächsten Jahr-
Hunderten werden sie nicht mehr aus Erden sein. Sie sind
ein edler, achtbarer Volksstamm, und ihre Geschichte bietet
manche erfreuliche Seite dar. Vor allen Dingen liebten
und vertheidigten sie ihre Unabhängigkeit. Selbst der mäch-
tigen Römer wußten sie sich in so weit zu erwehren, daß sie
ihre persönliche Freiheit retteten, und auch im Mittelalter
hat bei ihnen die Leibeigenschaft nicht aufzukommen vermocht,
während sie ringsum eingeführt wurde. Die Geknechteten
sahen in jedem Basken einen Edelmann, und das war auch
jeder Baske gerade so wohl wie der Baron am spanischen
oder französischen Hofe, denn er hing von keinem Gebieter
ab und jeder Versuch eines Eingriffs in seine Rechte wurde
sofort abgewiesen. Allerdings bildeten diese escuarisch reden-
den Escualdunac keinen großen Staat und erkannten einen
Oberherrn an, der mächtiger war als sie, aber er mußte ihre
von ihm beschworenen Rechte und Freiheiten unangetastet
lassen. Sie waren Gebieter im eigenen Hause und mischten
sich nicht in die Händel ihrer Nachbaren. Wenn der König
von Frankreich oder von Castilien sie zum Kriegszug auf-
forderte, dann prüften sie erst, ob er für eine gerechte Sache
kämpfen wolle, und wenn das nicht der Fall war, stellten
sie keinen einzigen Mann. In Zeiten, da ganz Europa
gleichsam ein einziges großes Schlachtfeld war, lebten sie in
Ruhe und Frieden. Alljährlich bekräftigten die Gemeinden
auf beiden Seiten der Pyrenäen durch einen Eidschwur ihre
gegenseitige Freundschaft, und die Abgeordneten dieser Ge-
meinden legten jeder einen symbolischen Stein auf einen pyra-
midenförmigen Haufen, der auf einer grünen Matte im Ge-
birge von den Vorfahren aufgeworfen worden war. Die
vielen kleinen Republiken bildeten eine Eidgenossenschaft; jede
einzelne iu diesem Bunde verpflichtete sich, „Gut und Leben
zu opfern, um das gemeinsame Vaterland bei Recht und Ge-
rechtigkeit zu erhalten." Jrurak bat, d. h. drei machen
Eins, war Wahlspruch der vascongadischen Provinzen.
Die Volksversammlungen wurden im Freien unter alten
Eichen abgehalten und jeder Familienvater gab seine Stimme
ab; selbst Frauen hatten dieses Recht. Jeder Baske war
in seinem Hanse unverletzlich; wenn er vor Gericht geladen
war, erschien er mit dem Beret (Barett, baskische Mütze)
ans dem Kopf und den Stock in der Hand unter der alten
Eiche von Gnernica, und hier stand der Escuarier seinen
Richtern und Anklägern Rede und Antwort. Der Bauin
ist noch vorhanden, doch hält die Junta der baskischen Pro-
vinzen ihre Versammlungen in einem Rathhause, das unweit
von der berühmten Eiche sich erhebt.
Heinrich Ditz: Die ungarische Sprache.
369
Die u n g di i
Von Dr. cam.
Wenn wir davon ausgehen, was uns wohl auch der un-
befangene Ungar zugestehen wird, daß die magyarische Sprache
auf einer tiefern Stufe steht als die europäischen, so erklärt
sich auch eiue andere Erscheinung. Je niederer Thier oder
Pslauze, desto mehr gleichen sich die einzelnen Theile, desto
unempfindlicher ist aber auch Thier und Pflanze gegen Ver-
stümmelnng, desto eher erträgt es neue Bildungen von außen
her. Den Wurm kann man in Stücke zertheilen, ohne das
Leben des Thieres zu gefährden, und ebenso kann man ihn
beliebig wieder zusammensetzen. Die höheren Thiere dagegen
ertragen nicht einmal die geringste Verletzung der edleren
Eingeweide. Die ungarische Sprache gleicht mehr den nie-
deren Thieren; man findet weniger Verschiedenheit zwischen
Stamm und Endung, zwischen Rumpf und Extremitäten;
die Wortbildung redneirt sich zu bloßer Agglutination coor-
diuirter Silben, Silben, welche man leicht von einander
trennen und ohne Mühe wieder aneinander schweißen kann.
Daher erklärt sich die große Bildungsfähigkeit der ungari-
schen Sprache. Daß die Bestrebungen der ungarischen Aka-
demie, deren wir oben gedachten, von solchem Erfolge gekrönt
sind, hat nicht allein im ungarischen Patriotismus seinen
Grund, sondern auch vorzüglich in der Gednldigkeit der un-
garischen Sprache, die alle diese Operationen ohne Murren an
sich geschehen ließ. Was die ungarische Akademie that, das
hatte schon von jeher jeder Privatmann gethan; auch dieser
bildete und bildet neue Wörter ohne Anstoß, wenn ihm die
alten nicht mehr behagen, und schafft sich neue Regeln, wenn
sie ihm bequemer als die alten zu sein scheinen *).
Aus dieser leichten Bildungsfähigkeit läßt es sich nun
auch erklären, warum die ungarische Sprache so ungeheuer
rein und klar ist. Wer ohne Mühe sich ein einheimisches
Wort bilden kann, warum soll der in Fremdwörtern reden,
und warum soll er iu Räthselu sprechen, wenn es ihm ge-
lingt, Wörter in Umlauf zu bringen, die eine bessere An-
schauung gewähren als die alten? Obschon die ungarische
Literatur vom Auslande abhängiger ist, als irgend eine an-
dere, hat sich doch keine so sehr der Fremdwörter erwehrt.
Alle Welt bedient sich des cosmopolitischen „Telegraphen",
der Ungar allein begnügt sich mit seinem nationalen „Fern-
schreiber" (tavir). Durch einen solchen Fernschreiber wer-
den natürlich auch keine Depeschen, sondern nur ebeuso na-
tionale „Eiler" (sürgöny) befördert. Aller Orten lehrt
man „Chemie"; der Ungar allein ist so Prosaisch, von einer
„Mischwiffenschaft" (vegytan) zu sprechen. —
Mit der Klarheit und Anschaulichkeit der Ausdrücke ist es
gerade wie unt ihrer Reinheit. In unserer Sprache belehrt
*) Folgendes Beispiel diene zur Erhärtung des Gesagten. Im
Ungarischen bildet man das Futurum entweder mit einem Hülfs-
zeitworte (fog) oder durch die Silbe and resp. end. Nun heißt es
bei Remelc, Sprachlehre, S. Iii: Diese (letztere) Art des Futu-
rums ist lange noch nicht sv im Gebrauche, als sie es vermöge ihrer
Bequemlichkeit verdiente. Denn da durch Anhängung von and und
end eine neue Wurzel entsteht, so können wir durch Anhängung
der übrigen Endungen sämmtliche Zeiten und Arten iu zukünftiger
Form ausdrücken, z. B. ker-ek ich bitte; ich soll (jetzt) bitten kerjek;
ich soll (in Zukunft) bitten kerendjek; ich bäte (jetzt) kernek ; ich
bäte (hinfür) kerendnek ?e. jc. Bloß weil es die Bequemlichkeit
lohnt, kann also ein Grammatiker neue Conjugationen machen.
Globus XI. Nr. 12.
s ch e Sprache.
Heinrich Ditz.
uns das Wort selten über den Gegenstand, welchen es bezeich-
net. Was kann sich z. B. ein Kind darunter denken, wenn
es zum ersten Male von „Gletschern" und „Lawinen" liest?
Gar nichts und Alles. Das ist im Ungarischen ganz an-
ders; die uugarische Sprache ueuut den Gletscher Schneefels
(liöszikla) uud die Lawine Schneerutsch (hoomlas). Der
Ungar kennt kein Echo, wohl aber einen Wiederhall (viszhang),
keinen Recruten, sondern anstatt dessen Nenlinge (ujoncz);
das alles ist doch viel anschaulicher als bei uns. Und wie
malerisch und anschaulich ist nicht das ungarische „Him-
nielskrieg" (egi haborü) gegenüber unserm Gewitter, und
menny clörges (Himmelsgepolter) selbst im Vergleich
zu unserm Donner!
Wir brechen hier mit unseren Bemerkungen über die for-
malen Eigentümlichkeiten ab, um in Kürze noch einiges
über den Inhalt zu fagen.
Die magyarische Sprache dieute ursprünglich einem No-
madenvolke, einem Hirtenvolke, welches die patriarchalische
Verfassung stark ausgebildet hatte. Dieses sieht man auch
in der Sprache deutlich wieder; gerade für die Begriffe der
Familienbeziehungen und der Viehzucht hat sie einen siannens-
werthen Reichthum von Bezeichnungen.
Wir unterscheiden in der Familie bloß zwischen Bruder,
Schwester, Schwager, Vater, Großvater u. s. w.; für uns
genügt das, und deshalb reichen auch diese Wörter vollstäu-
dig hin für uns. Das ist aber nicht der Fall bei patriar-
chalischen Verhältnissen. Dort will man anch wissen, ob
Bruder oder Schwester in der Familie höher oder niederer
stehen als der Sprechende, ob sie jünger oder älter sind;
dort ist es ein Unterschied, ob der Schwager dnrch eine Aus-
Heirath aus der Familie oder durch eine Hineinheirath in
dieselbe zum Schwager geworden ist, ob er der Mann meiner
(altern oder jüngern) Schwester, oder der (ältere oder jüngere)
Bruder meiner Frau ist; und dort kommt viel darauf au,
ob der Großvater der Vater meines Vaters oder der meiner
Mutter, ob der Urgroßvater der Vater meines Großvaters
väterlicher oder mütterlicher Seite, oder der Vater meiner
Großmutter väterlicher oder mütterlicher Seite war u. s. w.
Für alle diese Unterscheidungen hatte der alte Magyar eigene
Wörter uothwendig, uud unser heutiger Ungar hat dieses
Erbtheil seiner Urväter recht getreu bewahrt, obschon er nicht
mehr recht das Bedürfniß nach einer so ausführlichen Elassi-
ficatiou der Familie fühlt. Er unterscheidet noch heute streng
zwischen seinem jüngern Bruder (öese) und dem altern
(bätya), den er sogar in einigen Gegenden noch mit „Sie"
und mit „Herr Bruder" (batyam uram) anzureden pflegt.
Nene ist die ältere und 1mg die jüngere Schwester, süv der
Schwager, wenn er älterer Bruder der Gattin ist n. s. w.
Bei patriarchalischen Verhältnissen ist der Familienvater
oder der Stammesälteste voller Herr über die Kinder oder
Stammesuntergebenen; er bestimmt deshalb auch den Mann
für die Tochter oder giebt sie ihm hin. Deshalb ist in der
ungarischen Sprache ein Mädchen „zu vergeben" und „ver-
käuflich" (eladö), wenn wir es heirathsfähig nennen. Der
Vater verheirathet die Tochter, indem er sie „zu einem Manne
giebt" (ferjliez ad) und die folgsame Tochter hat zum Hei-
47
370 Heinrich Ditz: Die
rathen nichts weiter zu thnn, als daß sie „zum Manne geht"
(ferjhkz inegy) und anders bezeichnet auch die Sprache
ihren Schritt nicht. Der Mann dagegen ist heirathsfähig,
wenn er ein „Hans gründen" kann (hazas ulandö); bei
ihm ist die Heirath nichts Geringeres, als die Gründung
eines eigenen Hauses, einer Familie, deren patriarchalisches
Haupt er wird; ein verheirateter Mann ist ein „behauster"
(hazas) uud der Ehestand ist das „häusliche (Familien-)
Leben" (hazas elet).
Das Haus hat der Ungar aus der asiatischen Steppe
nicht gekannt, und auch in Ungarn mag er anfangs nnter
Zelten gelebt haben, bis er von den Deutschen das Haus
kennen lernte. Wir schließen das nicht schon daraus, daß
der Ungar sein häz (spr. Haas) nnserm Hans entnommen
hat, sondern daß auch alle jene Bestandtheile des Hauses,
welche sich am Zelte nicht vorfinden und welche der Ungar
zum ersteu Male am Hause kennen lernte, mit deutschen
Wörtern benannt sind. Dach, Fenster und Thür hatte auch
das Zelt des Magyaren; aber Stuben waren nicht darin;
die Wand war vou Schilfrohr, aber nicht von Ziegel, und
Schindel konnte man am kegelförmigen Zelte ebenfalls nicht
gut verwertheu. Schindel, Ziegel und Stube lernte der
Ungar erst mit dem Hause kennen, und weil er das Haus
von den Deutschen erhielt, hat er auch diese vou uns bekom-
men und daher erklären sich in der puristischen ungarischen
Sprache die rein deutschen Wörter zsindel (spr. sjindäl),
tegla, szoba. Selbst der Stall scheint deutscheu Ursprungs
für den Ungarn zu sein; der istallö hat den altmagyarischen
61 ganz verdrängt, wahrscheinlich weil dieser 61 nicht ein
Stall nach unseren Begriffen, sondern etwa nur eine Hürde
oder eiu bedachter Raum war.
Es ist in der That auffällig, wie das den: alten Ma-
gyaren so fremde Haus fast uoch tiefere Wurzel int Leben
und Weben nnsers Ungarn geschlagen hat, als bei uns. Das
Haus ist ganz identisch mit der Familie geworden; die Fa-
milie geht eben so wenig über das Hans hinaus, wie das
Haus über die Familie. Wir bauen leider so oft das Hans
für die Straße; jedenfalls muß die schönere Seite der Straße
zugewandt sein. Wenn dabei auch die Familie mehr mit
der Straße als mit sich selbst verkehrt, so ist das nur natür-
lich. Der Ungar dagegen baut das Hans nur für die Fa-
milie. Er muß freilich auch au die Straße bauen, allein
nicht für die Straße. Das Haus des Ungarn ist sehr lang
und sehr schmal; es hat nur eiue Zimmerbreite und die
schmale Seite mit einem, höchstens zwei Fensterchen, die er
noch dazn inimer mit Läden verschlossen hat, ist der Straße
zugekehrt. Die lauge Seite geht tief iu den geräumigen
Hos und bildet zugleich dessen Grenzwand gegen eine Seite,
wie auf der gegenüberliegenden Seite die stets fensterlose
Rückwand des Nachbarhauses. Alle Fenster gehen somit ans
den Hofraum, der vou der Straße durch eine hohe Mauer
abgeschlossen ist. Der Zugaug zum Hofe ist durch das enge
Thor in dieser Mauer; zum Hause ist aber kein Zugang
direct von der Straße, sondern nur über den Hof. Bor dem
Hause längs der Langseite zieht sich eine sehr zierlich ansge-
malte Vorhalle hin. Hier prangen das Wappen des uuga-
rischeu Reiches uud die Initialen des glücklichen Ehepaares
aus einem natürlichen oder gemalten Rebengewinde hervor.
Nach der Straße hin ist die Wand einfach geweißt, nach dem
Hofe hin aber anfs Reichlichste verziert; denn um das Ver-
weilen in dem Familienkreise angenehm zu macheu, um die
Familie zu heben, darum ziert der Ungar fein Haus, nicht
aber, um für die Straße zu glänzen. — In das Innere
des Hauses gelaugt man durch die Küche und in das schöne I
ungarische Sprache.
oder Fremdenzimmer erst dann, wenn man die Bekanntschaft
mit dem halben Hause gemacht hat; denn gewöhnlich liegt
dieses Zimmer hinter den Wohn- und Schlafstuben der Fa-
milie. So muß sich auch der Fremde sogleich als Glied
der Familie rechnen, da ihn sein WirtH ja gleich ganz im
Innersten derselben beherbergt und nicht wie in Deutschland
ans einem Eckchen, wo er wenig geuirt und wo man auch
vom Gaste vorausfetzen muß, daß er möglichst die Beruh-
rung mit der Familie zu vermeiden wünsche. — Doch wir
sind von nnserm Thema abgewichen.
Die Hirtensprache erfreut sich einer gleichen Ansbil-
dnng im Ungarischen, wie wir sie bei den Familienbeziehnn-
gen gefunden haben. Wir wollen diefes aber nur eben an-
deuten, ohne es weiter auszuführen. Anstatt dessen jedoch
geben wir hier einer Vermuthnng Ausdruck, die vielleicht
geprüft zu werden verdient. Wenn wir unsere Hirten-
spräche durchgehe»:, so finden wir, daß wir bei jeder Speeles
das Genus hinzusetzen; wir sageu Schweiueherde, Kuh-
Herde, Schweinehirt, Kuhhirt. Das ist vielleicht ein
Beweis, daß uns die Hirtenausdrücke noch nicht ganz gelän-
sig sind. Es scheint, daß sich die Hirtenvölker directer ans-
drücken. Der Schweizer sagt z. B. Senner, Küher n. s. w.,
das Genus bezeichnet er nicht mehr. Ebenso auch der Uu-
gar; auch er läßt das Geuus iu der Hirteusprache aus; er
sagt nicht Schweine- und Kuhherde, sondern direct —
etwa Küherei — konda, gulya. — In einer andern Be-
ziehnng verhalten sich beide Sprachen umgekehrt; wir sagen
mit Vorliebe: Eiche, Birke, der Ungar dagegen: Eichenbaum
(tölgyfa), Birkenbaum (nyirfa) n. s. w.; wir sind eben
bessere Forstleute.
Handwerker uud Laudwirth war der alte Magyar gar
nicht, als er in die Ebene von Pannonien kam. Den ersten
Handwerker scheint er im deutschen Meister gefeheu zu ha-
ben; er hat nicht nur sein mester von unserem Meister, son-
dern er nennt den Handwerker auch mester ember (Meister-
Mann). Die Bezeichnungen für Gegenstände des Ackerbaues
sind den Slaven entlehnt, z. B. ganaj (slavisch gnoj), der
Dünger, szalma (slavisch slama), das Stroh, kasza (kosa),
die Sense. Der Gartenbau dagegen ist von den Deutschen
und Italienern erlernt, wie folgende Wörter darthnn werden:
kaposzta, salata, repa, retek, repeze, murok (Möhre),
len (Lein), mustar (Senf), zeller (Sellerie). — —
Wer die ungarische Sprache, sagten wir oben, ans dem
Munde eines Ungarn hat sprechen hören, der muß sie schön
sindeu. Wir erwähnten dabei des einzig schönen Rhythmus
und der weichen melodischen Sprechweise des Ungarn. Wir
glauben aber, daß noch andere Gründe den Fremden so sehr
für diese Sprache einnehmen, uud das sind Gründe, die we-
niger in der Sprache liegen als in dem weichen, gemüth-
reichen Volke, das sie zu uns gesprochen hat. So viel Ueber-
schwenglichkeit, so viel Verschwendung von Liebenswürdigkeit
mib so viel Herzinnigkeit im Ausdruck kann nur der Ab-
kömmling eines weichen Hirtenvolkes haben. Wenn du gleich
als Fremdling in sein Haus trittst, so sagt er dir, daß seine
Freude so groß sei, daß nur ein Gott sie ihm bereiten konnte;
unser einfaches Willkommen lautet bei ihm: Gott hat dich
geschickt (Az isten liozta), uud wenn du in Allem siehst,
daß dieses nicht ein unwahres Compliment ist, sondern aus
dem Herzen kommt, und wenn du nur Worte der Herzlichkeit
und Freundschaft aus so liebenswürdigem Munde vernimmst,
wie wolltest du da nicht die Sprache um des Sprechenden
und des Gesprochenen willen liebgewinnen, und wie wolltest
du da aufmerken, ob nicht hier und da ein unschönes Wort
sich einschleichen werde! —
Die geographische Verbreitung der Nahrnngspslanzen.
371
Die geographische "Verbreitung der Uahrungspsianzen.
Manche Völkerstämme verhalten sich auch heute uoch in
Bezug aus Nahrungsmittel aus dem Pflanzenreiche genau
so, wie es bei deu Menschen der frühesten Urzeiten der Fall
gewesen sein muß. Der schwarze Australier hat keine Ahnung
von Ackerbau, er genießt wilde Wurzeln und den Samen
einer wilden Frucht; die Bewohner der Andamauischeu In-
seln haben nur eiue grobe wildwachsende Bohne und die Frucht
des Mangrove; den Eskimos und den Fenerländeru würde
ohnehin die Bodenbeschaffenheit uud das Klima ihrer Gegend
den Anbau unmöglich machen. Die Nomadenstämme Nord-
arabieus genießen Sauibh uud Mesaa; die erstere reift, nach
Palgrave, im Juli; dauu ist Alt und Jung eifrig darüber
aus, den Samen zu ernten. In Nordamerika finden wir
von den canadischen Seen im Norden bis in die südlichen
Staaten hinein deu sogenannten Sumpfreis (Zizania aqua-
tica), der nur wild wächst uud welcher für dieJagdnomaden^
die kein Getreide bauen, von Werth ist; da wo die Jndia-
ner Mais pflanzten, wurde er weniger beachtet. In Süd-
asrika genießen Buschmänner, Hotteutoteu uud auch die Bet-
schuauas das Mark eines wilden Kürbis, des Netra, der etwa
so groß ist wie eine Kokosnuß; Liviugstoue hat diese Frucht
ausführlich beschrieben. Im ostafrikanischen Sudan bildeu
die Früchte der Dumpalme (Hypbaene thebaica) ein Haupt-
nahrungsmittel der Schwarzen, und neben denselben die Sa-
menköruer einer Art Nymphäa, welche getrocknet, aufgefpei-
chert und dann je nach Bedarf zerstampft und als Brei ge-
nosseu wird. Aus den Südseeinseln sanden die Entdecker
schon cultivirte Pslauzen, z. B. Aani, Taro (Oalaäiunr esc-u-
Isutuiu) und Batate, daneben Bananen, Kokospalmen und
Brotfruchtbaum, aber weder Getreide noch Hülsenfrüchte.
Ueber den Anbau der Getreidearten: Weizen, Gerste,
Roggen, Haser, Reis, Mais, Hirse und Buchweizen, brauchen
wir nicht viel zu sagen und beschränken uns auf einige No-
tizeu. Weizen und Gerste haben eiue viel weitere geogra-
phische Verbreitung als Roggeu und Hafer; diese letzteren sind
zumeist auf Nordeuropa und theilweise Nordamerika beschränkt,
die elfteren dagegen werden überall iu der gemäßigten Zone
uud auch in den subtropischen Gegenden gebaut, von Spanien
bis Japan. Sie sind bekanntlich auch nach Amerika und
Australien verpflanzt worden. Reis ist dasHanPtnahrnngs-
mittel für etwa 400 Millionen Asiaten von Persien bis
China und Japan; der Mais ist specisisch amerikanisch uud
war vor Columbus der alten Welt eben so unbekannt, wie
der Taback uud die Ananas. Diese nützliche Getreideart wurde
ungemein rasch über den Erdball verbreitet und er gedeiht
in Europa bis über deu 52. Grad nördlicher Breite hinaus.
Der Mais ist bis China und Japan gedrungen, nach dem
hinterindischen Archipelagus und den Philippinen, ja bis tief
ins Innere Afrikas, in Gegenden, wohin noch kein weißer
Mensch gekommen war. Speke und Graut fanden ihn in
der Region des Nyanza-Sees; in Spanien und Italien war
er fchou 50 Jahre nach der Entdeckung Amerikas ganz all-
gemein. Er ist recht eigentlich kosmopolitisch, da er sich sehr
verschiedenen Klimaten und Bodenarten anbequemt uud iu
sehr dankbarer Weise den Anbau lohnt.
Wir sind nicht im Stande, irgend eine unserer Getreide-
arten in wildem Zustande nachzuweisen, denn der sogenannte
wilde Reis in Indien kann eben sowohl als uur verwildert
angesehen werden; anch können wir für keine einzige mit
Bestimmtheit dieUrheimath angeben. Sie alle sind offenbar
in sehr hohem Alterthnme schon cultivirt worden. Weizen-
und Gerstenähren fand man in den ältesten ägyptischen Grä-
bern und sie sind genau dieselben wie die, welche heute im Nil-
lande geerntet werden. Sie sind ganz gewiß den Aegyptern
lange vor Erbauung der ersten Pyramiden bekannt gewesen
und reichen über die Anfänge der Geschichte hinaus; für
China, Japan, Persien und Indien haben wir zwar in die-
ser Hinsicht keinen so sprechenden Beweis wie für Aegypten,
wir können aber annehmen, daß in jenen Ländern dasselbe
Verhältnis^ stattgefunden habe. Ein Gleiches wird für den
Reis im tropischen Asien anzunehmen seiu und für den Mais
in Amerika.
Die Hirsearten werden vorzugsweise im Süden des 40.
Breitengrades angebaut und reichen bis zum Äquator. Die
meisten gehören zu deu Geschlechtern Panicum und Sorghum,
aber allein in Indien werden nicht weniger als 25 Hirse-
arten cultivirt, und die Hirse ist für manche Asiaten das
tägliche Brot. Auch für sie können wir weder Anfänge
noch Urheimath angeben; jetzt reichen sie von Deutschland
bis Japan. Manche kommen unbestreitbar in wildem Zu-
stände vor.
Eiue Menge Arten von Hülsenfrüchten sind in der alten
Welt seit unvordenklicher Zeit gebaut worden; sie gehören
zu den Geschlechtern Yicia, Faba, Pisum, Ervum, La-
thyrus, Orobus, Pliaseolus, Dolichos etc.; wir bezeichnen
sie als Erbsen, Bohnen, Wicken, Linsen :c. In jenen asia-
tischen Ländern, wo vorzugsweise Reis genossen wird, der
wenig Kleber enthält, und wo man wenig Fleisch ißt, ersetzen
die Hülsenfrüchte diesen Mangel. Für einige Arten, die
jetzt angebaut werden, läßt sich der wilde Ursprung nachwei-
sen, für andere anch die ursprüngliche Heimath in Asrika,
Asien und Amerika. In Australien und Neuseeland fehlten
Hülsenfrüchte eben sowohl wie Getreidearten; jetzt gedeihen sie
dort vortrefflich.
Als Ersatz für das Mehl der Getreidearten dient jenes
der Kartoffel, des Aam (Dioscorea), der Batate, der Brot-
srucht, der Banane und der Sagopalme; sodann das der
Mandioca und der Arrowroot. Unsere gemeine Kartoffel
stammt aus deu gemäßigten Klimaten Amerikas; man findet
sie in manchen Gegenden wild, dann werden die Frnchtknol-
len aber nicht größer als Haselnüsse. In Europa ist sie
zuerst 1586 und zwar in Irland angebaut worden; aber es
vergingen zweihundert Jahre, bevor man ihre große Beden-
tung würdigen lernte. Noch Friedrich der Große mußte die
Bauern in Pommern gleichsam zwingen, Kartoffeln zu bauen.
In Asien sindet man sie nur bei den Ansiedelungen der Euro-
päer, und auch dort erst seit Anfang unseres Jahrhunderts.
Ihre langsame Verbreitung steht in schroffem Gegensatze zu
jener des Mais, welcher sich, wie schon bemerkt, die ganze
Welt so rasch eroberte.
Aams finden wir nur iu tropischen uud subtropische»
Ländern; sie gehören ursprünglich Asien und Amerika an und
kommen auch noch wild vor. Die Kuolle dieser Kriechpflanze
wird von 10 bis zu 30 Pfund schwer und enthält ein Mehl,'*
das allerdings nahrhaft, aber trocken und unschmackhaft
ist; der Nam steht in dieser Beziehung weit hinter der ge-
wohnlichen und auch hinter der süßen Kartoffel zurück. Diese
letztere, die Batate (CouvoIvuIus batatas, Ipomaea bata-
tas aber auch Batatas edulis) hat ihre Heimath in den tro-
pischen Gegenden Amerikas und Asiens, ist aber in Amerika
372 Die geographische Verbrei
kein Gegenstand des Anbaues gewesen; zuerst erwähnt ihrer
Pigafetta iu der Beschreibung der Erdumsegelung Magel-
lan's. In den Äquatorialgegenden wird die Frucht sehr
groß, auf Java z. B. bis zu zehn und mehr Pfnnd schwer.
Sie wird dort in Menge genossen, doch bildet der Reis das
Hauptnahrungsmittel.
Ocimum, Arum, Caladium, Maranta, Tana nnd Ja-
tropba geben eßbare Wurzeln, welche in vielen Gegenden
als Ersatz für das Getreidemehl dienen; wir bezeichnen sie
inl gemeinen Leben als Arrowroot, Tapioca, Salep :c., nnd
sie gehören alle den tropischen oder doch den warmen Kli-
maten an. Einige Arten sind in rohem Zustande giftig,
aber selbst die wilden Stämme, z. B. in Südamerika, hatten
herausgesunden, daß man sie durch Anwendung der Hitze in
gesnnde Nahrung umwandeln könne, so z. B. den Manioc,
der in Südamerika vielfach genossen und in Brasilien geradezu
als Farinha, Mehl, bezeichnet wird. — Taro (Caladium
esculentum) bildete die Hauptfrucht der Südfeeinfülaner,
welche ja kein Getreide kannten, wie der Manioc jene der
wilden Völker Südamerikas, deren sehr viele den Mais nicht
hatten. Der Brotfruchtbaum (Artocarpus incisa) gehört
den tropischen Inseln der Südsee an nnd war für die Be-
wohner derselben von großer Wichtigkeit. Man hat ihn 1792
nach Westindien verpflanzt, er ist aber dort von keiner Be-
dentnng geworden; im hinterindischen Archipelagns kommt
er wild vor, und man hatte keine Veranlassung, ihn zu cul-
tivireu, weil andere Brotfrüchte in Menge vorhanden waren.
— Die Banane bildet für manche Völker Südamerikas,
z. B. im Gebiete des Amazonenstroms, die Brotfrucht, uicht
aber in Asien; Humboldt's Behauptung, daß die Banane in
allen tropischen Ländern dieselbe Stelle einnehme, welche in
den gemäßigten und in den subtropischen Gegenden die Ge-
treidearten einnehmen, ist entschieden unrichtig.
Sago oder richtiger Sagu ist das Mark einiger Palmen
im hinterindischen Archipelagns und aus deu Philippinen.
Den meisten Ertrag giebt der Sagus Rumpbii, der auch
als Metroxylon Sagus bezeichnet wird. Die Sagopalmen
haben die Eigentümlichkeit, daß sie sich sowohl durch Samen
wie durch Seitenschößlinge fortpflanzen; sie gedeihen nur in
sumpfigem Boden so weit die Seeluft reicht, dürfen aber
nicht der Einwirkung des Seewaffers ausgesetzt werden. Eiue
Anpflanzung, die ohnehin wenig Arbeit erfordert, dauert ohne
weitere Pflege unablässig fort, und der Baum erhält seine
Reife, wenn er fünfzehn Jahre alt ist. Der Stamm ist
eigentlich nur ein Gehäufe für eiue ungeheure Mafse von
Mark; diese wird von Fasern gereinigt, dann getrocknet und
dasselbe ersetzt bei allen Bewohnern des hinterindischen Archi-
pelagns östlich von Celebes bis und mit Neuguinea das Ge-
treide. Auch auf Sumatra, Borneo und selbst auf Min-
danao, der westlichsten unter den Philippinischen Inseln, wird
Sago als Brot genossen, aber nur von sehr armen Leu-
ten, denn hier werden anch Cerealien gebaut.
Die Linguistik wirft nicht selten Licht aus die Heimath
und auf die Wanderung cultivirter Pflanzen. Die Getreide-
arten haben in jeder Sprachfamilie ihre besonderen Benen-
nungen, und so weit sich ans den Ergebnissen der Sprach-
Wissenschaft folgern läßt, kann man schließen, daß die Cultur
der Cerealien auf vielen, weit von einander entfernten Punk-
ten unabhängig begann. Fremde Namen führen sie nur in
wenigen Fällen, und da wo sie exotisch sind. So ist Wei-
zen ein allgemeiner Name für dieses Getreide bei den ger-
manischen Völkern. Im Irischen und im Walisischen, also
zwei verschiedenen Sprachen, finden wir, in der ersten: Sprache
cruineachd, itt der zweiten gwenith für Weizen. Das
Wort trigo im Spanischen und Portugiesischen ist aus dem
lateinischen triticum verderbt, und das froment der Fran-
zi g der Nahruugspflanzen.
zoseu wie das italienische frumento stammen vom lateini-
schen frumentum, Getreide, her. Im Baskischen, das sprach-
lich ganz für sich allein steht, kommen zwei Benennungen für
Weizen vor: garia und ocaya. Daraus läßt sich mit Ge-
wißheit der Schluß ziehen, daß die alten Iberer, diese Vor-
fahren der Basken, den Weizen nicht von einem andern Volke
bekommen haben, fondern ihn im höchstenAlterthume baneten;
eben so den Haser und die Gerste, denn auch für diese haben
sie eigene Benennungen in ihrer Sprache. Nicht aber für
den Roggen, den sie cecalea, nach dem lateinischen secale,
nennen; nicht für Reis, avozza, und eben so wenig für
Mais, maiza, und Bohnen, baba, von fava. Diese letzteren
Pflanzen sind also erst niit den Römern, der Mais nach der
Entdeckung Amerikas zu deu Basken gekommen. — Im
Sanskrit heißt der Weizen godlmm, im Persischen gan-
dum; hier ist in beiden Ländern dieselbe arische Wnrzel; das
Hindi hat dafür gehun, das Tamil gudumai; das Tamil
ist auf Südindien beschränkt, wo der Weizen nur in einigen
hochliegenden Gegenden fortkommt, nicht im heißen Tieflande;
deshalb der entlehnte Name. Dagegen haben die Türken in
ihrem baglidoi eine einheimische Bezeichnung, eben so sind
im Arabischen die beiden Bezeichnungen banta und bar nicht
entlehnt; beide Völker haben also in ihrer Heimath den Wei-
zen ursprünglich gehabt. In Java, einer Aequatorialgegeud,
gedeiht der Weizen nur erst 5000 Fuß über der Meeres-
fläche; man bezeichnet ihn dort theils als trigo,. portugiesisch,
theils mit dem persischen gandum. Für Gerste haben die
Franzosen orge, die Italiener orzo, beides verderbt aus dem
lateinischen hordeum; das Gätische hat corna, das Walisi-
sche haidd; für Hafer hat das elftere corc, das letztere ceirc;
Roggen Heißt in dem einen wie in dem andern seagl, nach
dem lateinischen secale; demnach ist derselbe erst durch die
Römer nach den britischen Inseln gekommen; das Baskische
dagegen hat dafür das einheimische garagarra. — Im Sans-
krit Heißt die Gerste yava, im Hindi jau, im Persischen jo,
also im Wesentlichen dieselbe Bezeichnung; die Tamilen haben
dafür schali, was wohl im Allgemeinen Getreide bedeutet;
Arabisch schaer, Türkisch arpa, zwei eingeborene Bezeich-
nungen.
Reis war den Griechen und Römern unbekannt, wenig-
stens baueten sie ihn nicht und er hat in ihren Sprachen
keine originale Bezeichnung; es scheint auch, daß die alten
Perser ihn nicht kannten, sonst würden wohl die Griechen,
welche mit jenen in lebhaftem Verkehr standen, ihn wohl be-
schrieben haben. Im Sanskrit führt er die allgemeine Be-
zeichnnng dbanya, im Hindi dhan, im Tamil Heißt er, wie
die Gerste, schali. In den einsilbigen Sprachen östlich von
Bengalen bis China hat er verschiedene Namen: im Pegua-
nischen da, im Siamesischen kao, im Kambodschanischen
ang ka, im Annanitischen lua. Im malayischen Archipe-
lagns und auf den Philippinen dagegen ist die allgemeine
Bezeichnung überall dieselbe, obwohl dort die verschiedenen
Sprachen in Worten, Bau und Klang vielfach weit von ein-
ander abweichen; sie lautet padi im Malayischen, und mit
verschiedener nationaler Aussprache: pari, pali, pasi und
vari. Nur allein die altjavanische heilige Sprache, das
Kawi, welches viele Sanskritwörter aufgenommen, macht
eine Ausnahme; in ihr heißt der Reis dana; die Perser be-
zeichnen ihn mit der Tamilbenennung scbali. Man folgert
daraus, daß er ursprünglich zu ihnen vom südlichen Indien
aus gekommen sei; zwischen den Häfen des letztern nnd jenen
des persischen Meerbusens hat von Alters her ein lebhafter
Seeverkehr stattgefunden. Im Arabischen heißt der Reis
arus; davon haben die Spanier ihr arroz. — Diese Ge-
trctbeart weist eine viel größere Menge von Varietäten auf,
als irgend eine andere; manche wachsen nur in nassem, an-
Die geographische Verbreil
berc nur in trocknen: Boden; einige werden schon nach drei,
andere erst nach sechs Monaten reis. Die Hindus haben
allein in den nordwestlichen Provinzen nicht weniger als 66
Benennungen für die verschiedenen Arten von Neis, und in
Bengalen hat man eine noch größere Anzahl; das Reiskorn
selber hat eine besondere Bezeichnung, wenn es noch in der
Hülse befindlich ist, eine andere, nachdem es enthülst ist, eine
andere, nachdem es gekocht wurde, und ganz dasselbe findet
in der malayischen Sprache statt. Eiue solche ins Einzelne
gehende Nomenclatnr deutet aus ein sehr hohes Alter des An-
banes hin.
Der Mais ist, wie schon gesagt, ursprünglich amerika-
nisch. In einigen Sprachen der alten Welt führt er einhei-
mische Bezeichnungen, so: bbutta im Hindi, jagung in den
meisten Sprachen des indischen Archipelagns, und katsalva
anf Madagaskar; wahrscheinlich sind diese Bezeichnungen von
solchen Pflanzen entlehnt worden, welche eine Art vonAehn-
lichkeit mit dem Mais haben. So wissen wir, daß er im
südlichen Indien nach der Hirseart benannt wird, welche man
dort vorzugsweise anbaut, nämlich cliolu oder ragi (Cyno-
surus corocanus); die Türken nennen ihn boghdai misr,
d. h. ägyptischer Weizen; in Deutschland heißt er türkischer
Weizen oder Wälschkorn, woraus hervorgeht, daß er aus dem
südlichen Europa hierher gebracht worden ist.
Wir geben einige Bemerkungen über die mehlhaltigen
Knollenpslanzen. Vom Jam (Dioscorea) kennt man etwa
ein Dntzend Arten und manche Varietäten; alle kommen in
tropischen und subtropischen Gegenden von Asien, Afrika und
Amerika vor. Spamer und Portugiesen bezeichnen die Frucht
als inhame, davou das französische igname, und bei den
Engländern, die gern abkürzen, yam. Die spanische Be-
nennung stammt wahrscheinlich ans irgend einer amerikani-
schen Sprache. Im Hindi bezeichnet man eßbare Wurzel-
knollen überhaupt als alu; so heißt im Sanskrit eine Art von
Armn, welche angebaut wurde; die Arier kannten in ihrer
außertropischen Urheimath die Fam nicht. Die nördlichen
Inder setzen vor die allgemeine Bezeichnung alu das Prä-
fixum phul, d. h. Blume, oder rath, ein Wagen; dagegen
haben die Tamilen die eingeborene Bezeichnung kalangku.
— Die Malaien haben für alle eßbaren Wurzelknollen das
Wort ubi, das nach Westen hin anch auf Madagaskar vor-
kommt und in der Südsee sowohl bei schwarzen wie bei brau-
nen Stämmen.
Die Batate, süße Kartoffel, ist nicht etwa speeififch-ame-
rikanifch; man fand sie zur Zeit der Entdeckung auf man-
chen Inseln der Südsee, welche niemals mit den Bewohnern
Amerikas in Verbindung waren; auch ist hier der Name ein-
heimisch: kumava, humaea, gumala und abgekürzt mala.
Die Pflanze ist nach dem indischen Archipelagns wahrschein-
lich durch die Spanier oder Portugiesen gekommen; sie heißt
z. B. aus den Molukken: ubi kastela, d. h. castilianische
Knollenfrucht; die Javaner haben das ubi, die allgemeine
Bezeichnung für Wurzelknollen, fallen lassen, den Zischlaut
hinausgeworfen und nennen die Pflanze einfach catela; neben-
bei sagen fie auch wohl batata. Es scheint, als ob dieSpa-
nier die Pflanze von den Philippinen hergebracht haben, denn
in den beiden Hauptsprachen auf denselben heißt sie im Ta-
galischen gabi und im Bisaya kamoti. In Spanien be-
zeichnet man die süße Kartoffel als batata cli Malaga und
die gewöhnliche Kartoffel als patata; die Engländer sagen
potato. In Amerika hat diese Knollenfrucht viele einheimische
Bezeichnungen. In Frankreich und Deutschland heißt sie
Erdapfel; in Hiudustan, wo sie für die dortigen Europäer
gebaut wird, bataiti alu, d. h. europäische Kuolle; ebeu so
bei den Malayen ubi yuropa, bei den Javanesen kantang
holancla, holländische Knolle.
>lg der Nahrungspflanzen. 373
Der Brotfruchtbaum, Artocarpus incisa, führt in den
verschiedenen Sprachen des hinterindischen Archipelagns die
Benennungen: sukum, kluwi, kulor uud tambul; diese
kommen allesannnt auf deu tropischen Inseln der Südsee
nicht vor, und daraus darf man den Schlnß ziehen, daß die-
selben ihren Brotbaum nicht von den Malayen erhalten ha-
ben (während das mit Mm, Kokospalme und Zuckerrohr der
Fall geweseu ist); er gehört jenem Eilande selbständig an
und kommt in fünf Varietäten vor; das deutet aus sehr lange
Enltnr. Die Frucht heißt im Tonga ms und marnai; aus
Tahiti vavo uud anf Hawaii ulu.
Der Einfluß dieser Nahrungsmittel auf die gefellfchaft-
lichen Verhältnisse und deren Entwicklung ist sehr verschie-
den. I. Crawfurd stellt darüber folgende Betrachtungen an
(?lant8 in reksrenes to Ethnology; Transactions of the
ethnological society, Y. 178 ff. 1867). Die Eerealien
sind bei weitem am werthvollsten, sie liefern im kleinsten Bo-
lninen die größte Menge Nahrungsstoff; ihr Anban erfor-
dert mehr Mühe und Arbeit als jener der meisten anderen
Brotstoffe; wer Getreide bauet muß fleißig sein. Völker,
die keinen Getreidebau haben, bleiben allemal auf
einer niedrigen Civilisationsstnse. Die Denkmäler
in Aegypten, Griechenland, Assyrien, Nordindien und Nord-
china sind von Völkern errichtet worden, welche Weizen
baneten; jene im südlichen Indien, in Hinterindien, Java,
Sumatra und Südchiua von solchen, die Reis pflauzeu,
jene in Mexico, Centralamerika und Peru vou denen, welche
Mais enltivirten.
Kein Volk, das fich vonBanmfrüchten nnd Wnr-
zelknollen ernährt, hat eine Buchstabenschrift er-
fuuden oder dauerhafte Bauwerke aufgeführt. Bei
den Malayen, deren Brot der Reis ist, bedeutet der Aus-
druck „Wurzelesser" so viel wie Wilder. Als die Europäer
zuerst nach den Gewürzinseln kamen, aßen die Bewohner
derselben nur Palmenmark, nämlich Sago; sie kannten keine
Buchstaben und hatten nicht einmal den allerrohesten Kalen-
der; sie erhielten Eisen und Kleidungsstücke von Fremden,
welche von ihnen Gewürze holten. Ohne diesen Verkehr
wären sie völlig Wilde geblieben. Unter solchen Menschen,
die sich ausschließlich oder vorzugsweise auf den Genuß von
Früchten und Knollen angewiesen sehen, haben es die Poly-
nesier, d. h. die braunen Eingeborenen ans den Südseeinseln,
am. weitesten gebracht in gesellschaftlicher Entwickelnng; aber
sie hatten doch nicht einmal eine Ahnung von Töpfergeschirr
oder von Webstoffen; zur Bekleidung behalfen sie sich mit
dem, was der Papiermanlbeerbanm ihnen lieferte.
Der Anbau der Kartoffel erfordert Fleiß; der Acker muß
bestellt werden; das Beides ist weder bei der Banane noch
bei der Sagopalme der Fall. Die erstere giebt schon nach
zehn Monaten eine Ernte, wird dnrch Schößlinge sortge-
pflanzt und erfordert so gut wie gar keine Aufsicht. Die
Sagopalme gedeiht im Sumpfe, wo nichts Anderes wächst;
ihr Ertrag stellt sich, nach Logan's Ermittelungen, dem
Weizen gegenüber wie 163 zu 1; gegen jenen der Kar-
tosfel auf demselben Räume wie 53 zu 1; jener der Ba-
nane gegenüber dem Weizen wie 135 zu 1 und gegenüber
der Kartoffel wie 44 zu 1. Doch entspricht der in Banane
und Sagopalme enthaltene Nahrnngsstoff nicht dieser Quau-
tität; man muß in Anschlag bringen, daß sie sehr viel Wasser
enthalten und verhältnismäßig nicht viel Kleber. Manche
spanische Ansiedler in Amerika haben in ihrer Gegend die
Banane ausgerottet, um der Trägheit der Indianer und
Mischlinge, welche sich vou derselben ernährten, zu steuern.
„Die Banane macht Faullenzer." Die Sagoesser ziehen
ihrer gewöhnlichen Nahrnng Reis, 9)m»s nnd Bataten vor
und sind froh, wenn sie dergleichen haben können. Wurzel-
374 Das russische Amerika.
knollen und Früchte haben dem Getreide gegenüber den Nach- Gleiche gilt von den tropischen Wurzeln. Die Getreidearten
theil, daß sie sich nur eine gewisse Zeit lang halten und haben vor allen anderen Nahrungspflanzen entschieden den
brauchbar bleiben, die Kartoffel z. B. nur ein Jahr, und das Vorzug.
Aas rltffif
Der Kaiser von Rußland hat seine Besitzungen in Nord-
Westamerika für 7,200,000 Dollars an die Vereinigten Staa-
ten verkauft. Sie haben einen Flächeninhalt von mehr als
20,000 Quadratmeilen und kaum 50,000 Einwohner. Ein
Blick auf die Karte zeigt die Weltlage und die Gestaltung
dieser Negiou, welche sich namentlich durch die Masse von
kleinen Inseln kennzeichnet. Es ist eine Region der Nebel,
der Kälte und der Stürme, aber für die Jagd auf Pelzthiere
und Fifchfaug klassischer Bodeu. Man bezeichnet sie, zu-
gleich ans das Walroß nnd auf Rußland anspielend, wohl
auch als Walrnssia und verschreiet sie als eine armselige
Gegend. In Nordamerika sucht man nun, um den Ankauf
zu rechtfertigen und den Yankees annehmbar zu machen, die
guten Seiten und die Vortheile des Landes hervorzuheben,
verfällt aber auch dabei iu manche Uebertreibnngen. Uns
sind die nachstehenden Bemerkungen zugekommen, in denen
wir einige Ueberschwenglichkeiten gemildert haben. Wir be-
merken, daß Adolf Erman in seiner Reise um die Welt
sehr gute Mittheilungen über Russisch-Amerika gebracht hat,
auch findet man viele werthvolle Notizen in seinem „Archiv",
das eine wahre Fundgrube wichtiger Nachrichten ist.
F. W. Irrig ist die Darstellung mancher Zeitungsberichte,
welche das Land einzig und allein als eine traurige Einöde
von Gletschern und Eisbergen schildern, als den Ausenthalt
von Bären und Walrossen, und nur geeignet zum Leben für
Eskimos und Menschen, welche sich von Thran zu ernähren
vermögen. Es sei uns daher gestattet, die Ergebuisse der
neuesten Entdeckungen in Russisch-Amerika hier zu verösseut-
licheu.
Ein wesentlicher Factor für die EntWickelung eines Lan-
des sind schiffbare Flüsse, und an diesen leidet das gp)ße
Territorium keinen Mangel. Der erste Fluß vou Bedeu-
tung, welcher in Russisch-Amerika etwa unter dem 56. Grad
nördlicher Länge sich in das Meer ergießt, ist der Stikin
oder St. Francis. Erst in neuester Zeit ist derselbe auf
Veranlassung der russisch-amerikanischen Telegraphencom-
pagnie bis zu den Cascaden näher erforscht worden, wo er
durch jene Gebirgskette sich einzwängt, welche Britisch-Ame-
rika von Rnssisch-Amerika trennt. Der Stikin ist dort 50
Miles weit für Dampfboote fchiffbar befunden worden, wäh-
rend er nach Paffirnng der Cascaden wieder in einer großen
Strecke bis an die Rocky Mouutaius schiffbar ist. Er lie-
fert eine starke Ausbeute au Fischen; das Land, welches er
durchfließt, fcheiut eiueu großen Reichthum an Widpret zu
haben. Von noch größerer Wichtigkeit find die unermeßlichen
Waldungen und ergiebigen Goldgruben, aus welchen große
Schätze zu Tage kommen; ja nach dem Berichte des ameri-
kanischen Consnls Collins dürften jene Goldgruben mit
der Zeit hinsichtlich der Qualität und Quantität denjenigen
von Californien gleichgestellt werden. (— Das behauptet
man stets von allen Gegenden, wo neue Goldfunde vor-
kommen. —)
Die Bewohner leben beinahe ausschließlich vou der Jagd.
Der Küste entlang findet man noch einige kleinere Flüsse
e Amerika.
nnd verschiedene Gebirgspässe, welche nach den britischen Be-
sitznngen führen. Die Leute an der Küste treiben Handel
mit den im Innern nördlich und östlich wohnenden Stäm-
men. Ein anderer Strom von einiger Bedeutung ist der
Ätna- oder Kupferfluß, welcher unterm 60. Grad nördlicher
Breite und 142. Grad westlicher Länge iu das Meer mün-
det. Er vermittelt den Zugang in das Innere des Landes,
da er mit den Gewässern des Anton innerhalb des Territo-
rinms einenSee bildet, somit eine fast ununterbrochene Schiff-
fahrt von der Küste des Stillen Meeres mittelst des Aukon
und Kwitschpack bis in die Nähe der Behringsstraße ermög-
licht. In Folge dessen wird ein großer Theil des Südwestens
dem Verkehr erschlossen.
Jenseits der Halbinsel Aliaska sinden wir wieder einen
bedeutenden Strom, welcher sich in die Bai von Bristol er-
gießt. Ein anderer Fluß von Wichtigkeit ist der Knskokwim,
welcher eine Verbindung mit dem Innern des Landes her-
stellt. Hier treibt die russisch-amerikanische Compagnie einen
bedeutenden Handel nnd hat verschiedene Handelsstationen
errichtet.
Der größte, wichtigste und der König aller Ströme West-
lich der Rocky Mountains und nördlich bis zum 49. Brei-
tengrad ist der Kwitschpack, welcher zwischen dem 64. und
65. Grad nördlicher Breite in verschiedenen Armen gegen
die Behringsstraße hin mündet. Er hat auf einer weiten
Strecke einen Lauf von Osten nach Westen, wendet fich dann
4 Grad nach Norden und nimmt den Porcnpiue oder Rat-
tenfluß von Osten und den Hukou von Südosten her auf.
Die Vereinigung beider Flüsse bildet einen Strom, welcher
in einer Strecke von 1000 englischen Meilen für Dampf-
boote bis zur See fchiffbar ist. Vor einer, zu der (— auf
amerikanischer Seite nun aufgegebenen —) Herstellung des
russisch-amerikanischen Telegraphen in jener Gegend unter-
nommenen Expedition ist der Kwitschpack seinem ganzen Laufe
nach noch nicht verfolgt worden, so daß dieser das Verdienst
zuzuschreiben ist, die Thatsache festgestellt zu haben, daß der
Kwitschpack als der größte Fluß an der Nordwestküste des
ganzen Continents zu betrachten ist.
Major Kennicott, Befehlshaber der erwähnten Expedition,
welcher am Kwitschpack im vorigen Jahre starb, hatte einige
Jahre vorher einen Winter im Fort 2)ukou zugebracht. Der-
selbe giebt eine sehr günstige Schilderung über die Lage des
Landes und dessen große Wichtigkeit sür den Handel der Hnd-
sonsbaicompagnie. Au den Ufern des obern Quitschpack
und dem Ankon entlang ist Holz in Menge vorhanden. Auch
sind die Wälder jener Gegenden eben so reich an Wildpret,
als die Flüsse und Seen des Landes an Fischen, insbesondere
Lachsen, von welchen die Eingeborenen sich und ihre Hunde
während des Winters ernähren. Die Leute werdeu als gut-
müthig, rechtschaffen und unternehmend (!!) geschildert, und
treiben gern Handel. Es unterliegt keinem Zweifel, so sagt
der Bericht, daß die Schifffahrt auf dem Kwitschpack bett
Handel und das Vermögen des Landes in wenigen Jahren
um das Hundertfache vermehren, dem Unternehmungsgeist
eine neue, uoch unbekannte Welt eröffnen wird. Pelze, welche
Dr. S. Rüge: Geographische
dort in fabelhaften Quantitäten vorkommen, bilden einen
höchst bedeutenden Handelsartikel. Während gegenwärtig
der Trausport derselben bis nach St. Francisco 1 Dollar
das Pfund beträgt, würde eine Schifffahrtsverbindnng die
Fracht auf höchstens 19 Cents bringen.
Aus dem Vorstehenden erhellt, daß die Hülfsguelleu von
Russisch-Amerika mit seinen Inseln sehr werthvoll, ja groß-
artig genannt werden dürfen. Im Süden findet man Gold
und am Kupferfluffe ist die Ausbeute an Kupfer fehr bedeu-
teud. Die Fischereien an der Küste und auf deu Inseln
werden dereinst einen Aufschwung nehmen, daß Städte ent-
stehen und die entferntesten Länder mit ausgezeichneten Stock-
fifchen versorgt werden können. Bauholz ist iuUeberfluß vor-
Händen, und bald werden Sägemühlen den Holzhandel zn
einer Quelle des Wohlstaudes machen durch Export uach
Asien und den südlicheren Inseln. Auch der Schiffsbau kann
gedeihen, wo das Holz so reichlich und so billig zu haben ist.
Der Feldbau ist keineswegs so unbedeutend, als Manche viel-
leicht glauben. Weizens??), Gerste und Hafer gedeihen noch
unterm 60. Grade, in den Gürten, welche die russischen An-
siedelungen zieren, werden alle zum häuslichen Gebrauche er-
Vorstellungen im Mittelalter. 375
forderlichen Gemüse gepflanzt. Was das Klima betrifft, so
darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Küste des Stillen
Oceans viel wärmer, als diejenige des Atlantischen Welt-
meeres unter gleichen Breitegraden ist. Die isothermale
Linie von Sitka (Nen-Archangel) ist gleich der von Neusund-
laud oder St. Petersburg.
Schließlich wollen wir noch eines Artikels erwähnen, wel-
cher ein lncratives Geschäft liefern kann, wir meinen das Eis.
Auf den Inseln giebt es viele größere Seen, deren Eisgehalt
geradezu unerschöpflich genannt werden kann; während der
Handel dieses Artikels bisher sehr lässig betrieben ward, ist es
nicht unschwer vorauszusehen, daß durch nordamerikanische Be-
triebsamkeit dieser Exportartikel von Wichtigkeit werden kann.
(— Daß bei Sitka Weizen gedeihe, haben wir ander-
wärts noch nicht gelesen. Diese Niederlassung hat im Jahre
höchstens 66 heitere Tage und eine mittlere Jahrestemperatur
von 5,9° R. Wie schon gesagt, es lag im Interesse der
Telegraphencompagnie und seit dem Ankauf auch in jenem
der nordamerikanischen Regierung, die „wunderbaren Hülfs-
quellen" zu übertreiben. Die Ströme sind aber 5 Monate
mit Eis bedeckt. —)
geographische Iorslell
Von Dr. S
Das Alterthum hatte eine große Erbschaft hinterlassen in
Bezug ans die Erkenntniß der Erde und ihrer Stellung zum
Weltall, und es fragte sich nun, als dies Zeitalter sich zum
Untergange neigte wie ein glänzendes Gestirn, wer seine
Ideen in der rechten Weise weiter fördern werde.
Schon die Pythagoräer hatten den Lehrsatz aufgestellt,
die Erde sei eine Kugel und nicht eine okeanos-umflossene
Scheibe. Wer vou den Philosophen jener Schule zuerst, ob
Pythagoras selbst oder ein Schüler, den Gedanken aussprach,
wissen wir nicht. Alle großen Denker unter den Hellenen
nahmen seit der Blüthezeit athenischer Machtentfaltung die
pythagoreische Anschauung an; am längsten sträubten sich
die Epikuräer, sie klebten am hartnäckigsten an den naiven
Homerischen Ideen. Eratosthenes, Hipparchos und Poseidonios
bestimmten sogar schon annähernd den Umfang der Erde; und
wenn sie sich dabei auch um 600 Meilen verrechneten, —
wen darf ein solcher Jrrthum bei dem ersten derartigen Ver-
snche groß Wunder nehmen? Der Kern der Auffassung war
richtig, es fehlten nur die Mittel einer genauen Ausführung.
So war man über das Verhältniß der Zonen und deren
Eintheilnng durchaus nicht mehr im Zweifel und die Theo-
rien über die Tageslänge, die Ursachen der größern Wärme
in den tropischen Gebieten und Entstehung der Jahreszeiten
in den gemäßigten Klimaten waren vollkommen richtig und
fußten auf die Kugelgestalt der Erde; nur das kosmische Ber-
hältniß der Erde zur Sonne wurde nicht erkannt oder aner-
kannt. Denn Alle, von Plato und Eratosthenes bis aus
Ptolemäus, hielten daran sest, daß die Erde den Mittelpunkt
der Welt bilde, um den sich Sonne, Mond und alle Gestirne
drehten. Nur Aristarch von Samos und der Chaldäer Se-
leukos wagten es, der Erde ihre richtige Stellung im Gefolge
der Sonne anzuweisen. Aber ihre Stimme blieb völlig un-
beachtet oder wurde höchstens als Cnriosum notirt.
Wie sah es aber mit der Erkenntniß der Erdoberfläche
ngen im Mittelalter.
chus Rüge.
aus? Ein Geograph des Alterthums mußte auch zugleich
Reisender sein. Das zeigten Herodot nnd Demokrit vor allen.
Zunächst lag es natürlich den Griechen ob, — denn die Rö-
mer sind, wie in den meisten Künsten und Wissenschaften, die
Schüler der Griechen gewesen und geblieben, — die Ränder
und Länder des Mittelmeeres zu erforschen; dort lag ihre
Macht, dort die Wiege der abendländischen Cnltnr. West-
wärts hemmte jenseits der Säulen des Herkules die uuer-
meßliche Meeresweite jeden Versuch; man schlich an den Kü-
sten nördlich bis zum eisumstarrten Thüle, südlich bis zum
Saume der afrikanischen Wüste, aber westwärts ins Meer
wagte sich Niemand, trotzdem doch Aristoteles und Seneka
besonders darauf hingewiesen hatten, es sei die Meinung der
Gelehrten, man müsse in wenig Tagen zu Schiffe über den
Ocean nach Indien gelangen. Von Versuchen in dieser Rich-
tnng wird nichts erzählt. Die atlantischen Küsten lagen im
trüben Nebel unheimlicher Schisfersagen. So blieb also nur
der Osten. Und hier, wo die zusammenhängenden Landmassen
eher zu Entdeckungsreisen aufmunterten, gelangten die Grie-
chen bis nach Hinterindien, die Römer unter Marc Aurel
vielleicht bis China. Aber jenseits des bengalischen Meeres
verschwimmt die Kenntniß und das große mittelasiatische Hoch-
land sammt der arktischen Tiefebene blieb ebenso unbekannt
wie die ganze Ostküste des Coutinents.
Die bedeutendste Erweiterung der Erdkunde verdankt das
Alterthum jedenfalls deu Griechen; aber im Westen und
Norden Europas haben auch die Römer selbständige Beob-
achtuugeu gemacht. Auch dürfen wir nicht vergessen, daß
die ersten europäischen Arbeiten ans dem Felde der Statistik,
daß Jtinerarien und Specialtopographien ans dem römischen
Weltreich hervorgegangen sind. Die Reiseberichte von He-
rodot's Zeiten bis auf Arrian, den Jndienfahrer, sind gesucht
und geachtet gewesen und noch jetzt znmTheil erhalten. Die
Berichte der Seefahrer, die Küstenfahrten wurden sorgfältig
376 Dr. S. Rüge: Geographische
zusammengetragen zu sogenannten TtsQinlovg und gaben
dem jungen Seemann Anleitung für seine Fahrt in nnbe-
kannte Meere, au fremden Gestaden. Alle neuen Forschnn-
gen wurden sofort nach Verdienst gewürdigt.
Aber man ging'noch weiter. Nicht allein, daß man das
Weltsystem zu ergründen suchte, anch die Erde wurde auf
Karten und Globen dargestellt und man befliß sich, durch
Protection von gewissen Breitengraden oder Klimaten und
nach Angabe von Mittagslinien, deren Messungen natürlich
eine größere Ungenanigkeit verriethen, die Länder und Städte
auf einem verständlichen, möglichst getreuen Kartenbilde dar-
zustellen. Wir erkennen das vor Allem tu dem großen Werke
des Ptolemttus. Ja man ahnte sogar schon die engen Bezie-
Hungen zwischen physischer Geographie und Geschichte. Die-
seir Ideen suchte Strabo Ausdruck zu geben.
Mögen auch in Bezug auf die kosmischen Systeme oder
aus die Glaubwürdigkeit des aus fernen Landen Berichteten
hier und da verschiedene Ansichten geherrscht haben und Mei-
nungen verfochten sein, immerhin zeigt die Erdkunde des
classischen Alterthums eine srische, gesunde Entfaltung; die
Wissenschast treibt wie ein kräftiger Baum Ast an Ast und
durchdringt mit weitverbreiteten Wurzeln die Mutter Erde,
ihre Allernährerin. —
*
* *
Ganz auders das europäische Mittelalter. DieWis-
seuschast stagnirt, der Lebenssaft des Baumes versiecht, die
Blätter fallen, die Zweige verdorren. — Wir stehen an
einem weiten, öden Snmpfe, der auf der einen Seite von
dem dichten Walde des Alterthums umsäumt ist und auf der
andern Seite allmälig in das frisch aufschießende junge Ge-
büsch der neuen Zeit übergeht. Wie aber der tobte Sumpf
in der Landschaft nichts Schönes hat und das Auge nicht
anzieht ohue seine lebensvollen Umgebungen, so ist auch die
Geographie des europäischen Mittelalters an sich etwas Un-
erquickliches. Wie man im Sumpfe über abgestorbene mor-
sche Stämme stolpert und sich mühsam weiter arbeitet, so —
um das Wort uoch einmal zu gebrauchen — stolpert man
über die Folianten der Kirchenväter und Kirchenschriftsteller,
in denen die geographischen Anschauungen spärlich vertreten
sind. Aber überall derselbe morsche Boden; nirgends ein
frisches Wachsthum, ein gesunder Keim bis ins 13. und 14.
Jahrhundert.
Der Bruch mit dem Alterthum ist tief und gewaltsam. Die
alleinige Schuld tragen die Vertreter des christlichen Dogma,
die sich mit ihrer Verachtung aller Weltweisheit unter dem
Schutze der veränderten Staatsgewalt brüsten. Das Negi-
ren und Bekämpfen des heidnischen Glaubens zog den Kampf
gegen das antike Wissen nach sich. Paulus streitet eben so
sehr gegen die griechischen Philosophen wie gegen die griechi-
schen Priester. Und die Philosophen sind ja vorzugsweise die
Pfleger der Erdkunde gewesen. Die Ideale des Griechen-
thums lagen nicht üu Jenseits, wie bei dein Christenthum;
der Hellene war heimisch auf der Erde und verehrte und er-
forschte seine Heimat, „seinen mütterlichen Grund". Der
Christ dagegen meint, daß er auf der Erde keine bleibende
Stätte habe, er betrachtet sich als Fremdling, als Pilger; er
fühlt sich also, wenn er das sehnende Auge uach dem Himmel
richtet, auf Erden nicht daheim. Was nützt es ihm, zu wif-
sen, wie lang und breit sein irdischer Wohuplatz ist? Es ist
ihm gleichgültig oder verhaßt, wenn die alten Berichte nicht
mit seiner Norm, dem Bibelworte, übereinstimmen. „Ich
möchte doch wissen," ruft Lactantins in heiligen! Eifer aus,
indem er mit beredten Worten gegen die falsche Weisheit
streitet, „was für eine Seligkeit mir vorbehalten ist, wenn
ich weiß,. wo der Nil entspringt, oder wenn ich lerne, was
Vorstellungen im Mittelalter.
die Physiker von Sonne, Mond und Sternen faseln." Nicht
einmal die Kugelgestalt der Erde ließ man aus theologischen
Gründen bestehen. Es wäre mir ein Leichtes, sagt der ge-
nannte nikomedische Nhetor, diese Thorheiten der heidnischen
Philosophen aufzudecken, wenn ich nicht was Besseres zu
thun hätte.
Die Topographie von Himmel und Hölle ist ihnen inter-
essanter als China nnd Aethiopien. Und wie die Karto-
graphen des Mittelalters nicht vergessen, gemeiniglich im ser-
nen Osten (der allemal den obern Theil des Kartenblattes
einnimmt und nicht wie bei unseren Karten sich auf der rech-
teu Seite befindet) das Paradies in Asien zu zeichnen unb
mit einem Dornenwalle zu umgeben, so beschreiben uns
manche Kosmographeu auch die Lage der Hölle mit der Ge-
nanigkeit eines Feldgeometers. Der Kampf beider Weltan-
schauungen beginnt frühzeitig; eö ist, als ob wir Mann unl
Mann aus beiden Parteien abwechselnd ans das Wahlfeld
treten sähen.
Gegen den Stoiker Cleomodes, der um 200 n. Chr.
gelebt haben mag und der in überaus klarer Fassung die
kosmischen Verhältnisse der Erde entwickelt, tritt in leiden-
schaftlicher Erregtheit Lactantins anf, der Cicero seiner
Zeit. Er erzog den ältesten Sohn des Kaisers Konstantin,
dem die Nachwelt den unverdienten Beinamen des Großen
gegeben. Er fertigte die Beweise seines Gegners mit schlag-
fertigen Phrasen ab. Er hält es für Zeitverfchweuduug, sich
uiit Himmelsbewegungen oder der Gestalt und Größe der
Erde überhaupt abzugeben. Er giebt zwar zu, daß manche
Beobachtungen aus dem Bereiche der mathematischen und
physikalischen Geographie für den „Hausbedarf" vou Nutzen
seien; aber nach dem Wie? und Warum? zu fragen, sei
lächerlich. Darüber könne man doch eigentlich nur im Scherz
disputireu. Oder die heidnischen Philosophen suchten, wenn
sie es auch besser wüßten, eine absurde Ansicht zu vertheidi-
geu, bloß um sich in Spitzfindigkeiten zu üben oder den Geist-
reichen zu spielen.
Gegenüber einem solchen Fanatismus verstummte die
Philosophie mehr und mehr. Im Sturme der Völkerwande-
ruug, durch den das römische Weltreich zerrissen wurde, so daß
es sich wieder in seine beiden Bestandtheile, in eine griechi-
sche und römische Welt, auslöste, wurde die besonnene For-
schung gänzlich geknickt. Nur ein Römer bricht noch eine
Lanze für die Wahrheit der griechischen Kosmographie. Es
war Macrobms, der etwa ums Jahr 400 lebte. Aber
er thut es, man möchte fast sagen, schüchtern, ängstlich. Der
Kreis der Hörer hat sich sehr gelichtet. Der Staatsreligion
gegenüber wird die Stellung immer gefährlicher. Die be-
redte Schlagfertigkeit des Lactautius, der selbst da zu siegen
meint, wo er vollständig ins Blaue schlägt, die Sicherheit,
die ihm sein Glaube giebt, fehlt dem Macrobius durchaus.
Auffallend behutsam erscheint er, wo es sich um Lehren han-
delt, die wie die Lehren von der Kugelgestalt der Erde und
den Antipoden von den Christen angegriffen und verdammt
wurden.
Er war der letzte Vertreter der alten Wissenschaft. Wie
abenteuerlich erscheint sein Gegner, der ägyptische Mönch
Kosinas im Anfange des sechsten Jahrhunderts! Lactan-
tius hatte nur nebenbei seine Ansichten über Erdkunde aus-
gesprochen; Kosmas will aber in bewußter Orthodoxie den
„Fabeleien" der alten Philosophen und Geographen ein Ende
machen. Er sühlt sich vou Gott berufen, die erste orthodoxe
Kosmographie zu schreiben. Die jüdische Stiftshütte ist ihm
das Abbild des Weltgebäudes. Die oblonge Erdfläche ist
von vier rechtwinkligen Seitenwänden abgeschlossen und hat
oben ein gewölbtes Himmelsdach. Es ist ein verzeihlicher
Jrrthum, wenn Strabo den Homer zum Urbilde eines Geo-
Dr. S. Nuge: Geographische
graphen machen will, aber wenn Kosmas, durch Buchstaben-
glauben verführt, die farbigen Bilder hebräischer Poesie von
Moses bis auf die jüngsten Propheten und Psalmisten als
Sparren und Gebälk verwendet zum Aufbau seines orthodoxen
Himmelsgewölbes, so ist anch hier vom Erhabenen zum Lächer-
lichen nur ein Schritt.
Die Errungenschaften eines geistvollen Jahrtausends wur-
den als absurd, als gottlos vernichtet. Die „heiteren San-
len" des griechischen Tempels unserer Wissenschaft lagen zer-
trümmert am Boden, bis nach mehr als 800 Jahren ein neues
Geschlecht den aufgehäuften Schutt mühsam hinwegzuräumen
begann. Die Leuchte der griechischen Weisheit erlosch im
Abendlande gänzlich. Nur des Lateinischen blieb man kun-
dig, es war ja die Sprache der römischen Kirche. Es fand
sich in den geographischen Werken doch manches Wissens-
werthe und man eignete sich von den lateinischen Heiden an,
was paßte. Aber Urtheil und kritisches Verfahren suchen
wir bei solchen Schriften umsonst. Ja, was noch seltsamer
'klingt, auf deu spärlich beigegebeueu Karten fließen zuweilen
gar Raum und Zeit in einander. Eine Vorstellung von Län-
derraumen oder gar verschiedenen Gestaltungen dieser Räume
existirt in den schlimmsten Füllen gar nicht. Völker, Staa-
ten und Städte des frühesten Alterthums sigurireu auf den
Blättern mit Zinnen und Thürmen und vergitterten Thoren,
als ob sie gestern erst restaurirt wären. Da erheben sich
Troja und Ninive und Karthago in alter Pracht. Und was
Plinins, Solinns oder Mela berichtet von Städten und
Reichen ihrer Tage, geht unverändert in die Sammlungen
der Geographen des Mittelalters über vom sechsten bis vier-
zehnten Jahrhundert; nur mit dem Unterschiede, daß der
eine sich mehr an Mela, der andere an Plinins und Soli-
uns hält.
Dabei seiern alle alten Thiersagen eine neue Auferstehung.
Die Kosmographien und Geographien trugen häufig den
Namen mirabilia mundi (Weltwunder). Das paßte zu
deu Thierungeheuern und veruustalteten Menschengeschlechtern.
Man beschrieb und malte in die Karten bis ins sechszehnte
Jahrhundert hinein die Pygmäen, Hundsköpfe, Ohneköpfe,
Cyklopen, Troglodyten, Schlangenfresser, die kopflosen Prust-
mänler des Pomponhts Mela, Menschen mit Pferdefüßen,
Greifen und sogar Antipoden ohne Finger. Da finden wir
Amazonen abgebildet iu voller Uniform; da erhebt sich das
Labyrinth auf Kreta; da ragen die Säulen des Herkules,
der Thurm zn Babel; da hängt die Arche Noah amArarat;
da thront der Priester Johannes in Aethiopien oder Hoch-
ästen. Und das alles iu dem Rahmen eines quadratischen,
oblongen oder ovalen Erdbildes.
Man sollte meinen, daß neuere Reiseberichte diesen abge-
standenenWust hätten abräumen müssen. Aber dem ist nicht
so. Es sind allerdings manche Reisen unternommen und be-
schrieben worden, aber sie haben zur EntWickelung der Erdkunde
sehr wenig beigetragen, weil sie von den Gelehrten vor dem
vierzehnten Jahrhundert meistens ignorirt wurden. Niemand
außer Adam von Bremen erwähnt die Fahrten der Nor-
mannen und ihre Entdeckung des nordamerikanischen Festlan-
des, und doch sind noch im fünfzehnten Jahrhundert von Rom
aus Bischöfe nach Grönland ordinirt, doch stand Bergen bis
1484 mit diesem Lande in Verbindung. Desgleichen hat
es kein Kartograph des vierzehnten Jahrhunderts für nöthig
gehalten, die Angaben Marco Polo's, dieses größten aller
Landreisenden des Mittelalters, zur Verbesserung der Karte
von Asien zu verwerthen. Und wie bedeutend hätten die
Berichte der Normannen und des Venetianers den Blick er-
weitern und die Erdkunde fördern können!
Nach alledem giebt es also keiue organische Gliederung
Globus XI. Nr. 12.
Vorstellungen im Mittelalter. 377
uud Gruppiruug, uicht cht Nacheinander wissenschaftlicher
EntWickelung, sondern nur ein Nebeneinander verschiedener
willkürlicher Theorien und vom fünften ins zehnte Jahrhun-
dert überspringender oder vom Alterthum gar ins dreizehnte
Jahrhundert übergehender nenhervorgesnchter Systeme nud
Phantasien. Die Kosmographen ließen sich fast eher nach
ihrer Abhängigkeit von diesem oder jenem Autor des Alter-
thums classificiren, als nach verschiedenen Zweigen der Erd-
kuude.
Der erste Schritt zum Bessern, namentlich in der Karto-
graphie, ging von dem praktischen Bedürfniß aus. Die See-
sahrer des Mittelmeeres, Italiener und Spanier, zeichneten
seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts Seekarten, die
man, da sie mit Hülse der Bussole entworfen waren, Com-
paßkarten genannt hat. Um die Zeit des zweiten Krenz-
znges, etwa 1150, mag die Magnetnadel durch die Haud
der Araber zu den romanischen Völkern gekommen sein und
fand bald ausgedehnte Verwendung. Die ersten mit ihrer
Hülfe entworfenen Karten sind wohl nicht mehr vorhanden.
Dagegen verräth die Weltkarte des Marino Sanndo aus
dem Anfange des vierzehnten Jahrhunderts und noch mehr
die Catalauische Karte von 1375 einen gewaltigen Aus-
schwung. Das Becken des Mittelmeeres ist mit überraschen-
der Wahrheit gezeichnet. Das Bild ist getreuer als es spä-
tereu Zeichnern bis ins siebenzehnte Jahrhundert gelungen
ist. Dieser seltsame Rückschritt in der neuen Zeit war aber
nothwendig, denn es galt, auf das sicherste Fundament, auf
die Astronomie, zurückzugehen, und dieses konnte nur an der
Hand des Ptolemäns geschehen, der bis zum siebenzehnten
Jahrhundert als unangefochtene Autorität, auch in seinen
Fehlern, galt. Doch das gehört schon der Geschichte der neuen
Zeit an, die in der Erdkunde bereits mit dem Ausgauge des
vierzehnten Jahrhunderts anhebt. Dort ragt als beachtens-
werther Grenzstein das wunderbare Werk der Catalanischen
Compaßkarte hervor. Wie an der Landesmarke zweier Reiche
ein und derselbe Stein wohl zuweilen das Wappen beider
Nachbarländer zeigt, so begegnen sich bei dieser Karte die mittel-
alterlichen und die neuen Anschauungen. Nämlich so: Wäh-
rend das Kartenbild selbst durchweg auf die neuen nautischen
Messungen fußt, giebt die sie als Erklärung begleitende, kurz-
gefaßte Kosmographie das reine Mittelalter, oder besser ge-
sagt, einen Auszug aus römischen Autoren zum Besten. Hier
scheiden sich also die Wege mit den: Anbruch eines neuen
Tages. —
*
* *
Wenn dnrch solche Betrachtungen der Werth des Stn-
diums der mittelalterlichen Erdkunde zu sinken scheint, so ist
doch wohl zu beachten, daß aus dem rechten Verständniß der
damaligen Welt- und Erdanschauungen allein, daß ans den
Vorstellungen, welche die Menschen von dem Schauplatz ihrer
Thateu besaßen, sich manches geschichtliche Moment beson-
ders der Wander- und Kriegszüge erst recht erkennen läßt.
Dieser Zusammenhang der Geschichte und Geographie im
Mittelalter ist von unseren Historikern noch viel zu wenig
gewürdigt, oft gar nicht berührt. Der Monographien, die
sich damit beschäftigen, sind wenige. Wir finden hier eine
ebenso große Lücke, wie in Bezug auf die Entdeckungsgeschichte
der neuern Zeit. Wie viele Quadratmeilen neuen Landes er-
forscht, wie viele Meilen Weges von den Reisenden zurück-
gelegt sind: alles das ist leicht geordnet und eingereiht; aber
welchen Einfluß diese Entdeckungen und Bereicherungen des
Wissens namentlich auf die Mitwelt geübt, welche Bedeutung
die Reifen für das ganze Völkerleben gehabt haben, mit einem
Worte, die culturhistorische Seite der Entdecknngsge-
schichte ist noch ein gänzlich unbebautes Feld.
48
378 Aberglauben in Bezug auf Hasen, Gänse und Hühner.
Und hier bietet das Mittelalter die leichtesten und ein- den Unternehmungen Heinrich des Seefahrers anbricht, sich
sachsten Probleme. Bon dieser Seite gewinnt auch der Sumpf in ihm spiegelt und ihn so zu sagen zu einem Stimmungs-
sein Leben, wenn der Wiederschein des neuen Tages, der mit bilde mittelalterlicher Cultnr verklärt.
Aberglauben in Iezug auf
Darüber hat ein Engländer, Herr I. Thrupp, allerlei
geschichtliche Angaben zusammengestellt; wir wollen ihm einige
derselben entlehnen. Zunächst hebt er eine Bemerkung Cü-
sar's hervor, dergemäß die alten Briten Gänse, Hasen und
Hühner züchteten, während es doch für ein Verbrechen gegol-
ten habe, das Fleisch dieser Thiere zu essen. Mit der „Züch-
tung" des Hasen wird es aber wohl gute Wege gehabt ha-
ben; Lampe ist und bleibt ein Wildling, der sich nicht so civi-
listreit läßt, wie sein Stammverwandter, dasKauincheu, das
aber auch sofort ius Weite läuft, sobald es Gelegenheit findet.
Die Abneigung, das Fleisch jener Thiere zu genießen, war
aber nicht bloß aus Britannien beschränkt; doch hat sie in
Südeuropa und bei den Angelsachsen sich eher verloren, als
bei den Briten keltischen Stammes.
Man fand an allen drei Thieren etwas Geheimnißvolles
und mancherlei Aberglaube haftete sich au dieselben. Die
Gans wurde für sehr langlebig gehalten; man meinte, sie
könne wohl 80 Jahre alt werden; man kannte die Schärfe
ihres Gehörs und Geruches; die Alten erzählen, daß sich
keine Maus rühren könne, ohne daß sie es höre. Als der
heilige Martin sich in der Einsamkeit verborgen hatte, um
nicht Bischof von Tours zu werdeu (nolo episcopari), ver-
rieth ihn eine Gans. Zur Belohnung dafür wird sie bis
aus den heutigen Tag am St. Martinstage verspeist; die
wenigsten Lente aber, welche die Martinsgans verzehren,
wissen, woher der Brauch stammt. Seitdem in England
der Zahluugstag der Herbstabgaben auf Michaelis verlegt
wurde, schlachtete man die Gans am 29. September und
nicht mehr im November; das europäische Festland ist aber
dem alten Brauche treu geblieben.
Dem Volksglauben zufolge versteht sich die Gans vor-
trefflich anf die Sterndeutern und kann auch das Wetter
vorhersagen. Bei den Aegyptern war sie [bei; Isis heilig;
bei ihnen galten aber bekanntlich so viele Vierfüßer nnd Vö-
gel für heilig, daß man das Fleisch mancher derselben essen
mußte, wenn man sich überhaupt nicht auf bloße Pflanzenkost
beschränken wollte. Bei den Römern, das weiß alle Welt,
war die Gans das Sinnbild der Wachsamkeit; man hielt sie
in jedem Dorfe, in jedem Hause, und sie erfetzte gleichfam
den Haushund (Unicus anser erat minimae custodia
villae, sagt Ovid), uud der Sage zufolge hat sie ja das Ca-
pitolinm gerettet. Man pflegte sie im Tempel des Janns;
erst in Cäsar's Tagen wurde sie allgemein gegessen, uud in
der Jmperatorenzeit durfte sie beim Schmause nicht fehlen.
Bon den Normannen wurde sie verschmäht. Als im
achten Jahrhundert einige Mönche beim heiligen Cuthbert
zum Besuche waren, trat schlechtes Wetter ein und sie konn-
ten des Sturmes wegen nicht in See gehen. Da sprach der
heilige Mann: „Wenn ihr die Gans, welche hier hängt,
gekocht und verzehrt habt, dann besteigt euer Schiff uud ihr
werdet mit Gottes Hülfe heimkehren." Die normannischen
Mönche wollten aber die Gans nicht anrühren nnd stachen
ins Meer, doch ein Orkan trieb sie zurück. Da rief St. Cuth-
bert.- „Wie könnt ihr euch über den Sturm wundern, da ihr
die Gans nicht gegessen habt? Dort hängt ja noch die
Käsen, Hanse und Kühner.
Gans! Werft sie in den Kessel, kocht und eßt sie, dann wird
die See ruhig werden." Das geschah, und als die Gans
im Kessel siedete, beruhigten sich flugs Wind und Wellen.
Die Gans wurde lange als nur halbgezähmt betrachtet
und es giebt strenge Gesetze über ihr Verhalten. In Wales
konnte man gesetzlich manche Thiere, welche aus fremdem
Grund nnd Boden betroffen wurden, mit einer Geldbuße ein-
lösen, aber die Gans sollte todtgeschlagen werden und ihr
Besitzer war für das, was sie that, nicht verantwortlich. Sie
galt für dumm und unverständig. Doch der Wohlgeschmack
hat den Aberglauben besiegt; im kaiserlichen Rom wurden
die Gänse mit Feigen gemästet und man erzielte große Le-
bern, und die Leberpasteten wurden mit Wein und Milch
zubereitet. (Pinguibus et ficis pasturn jecur anseris.)
Die keltischen Gallier und die Franken trieben die Gänse-
zncht ius Große und fanden in Italien einen vortheilhaften
Absatz; in Nordeuropa hatte man an vielen Punkten große
Gänsehürden (Anseriurn), wo viele Tausende angesammelt
und dann über die Alpen getrieben wurden. Unter Ludwig
dem Frommen mnßte von jedem Anserinm eine Abgabe an
die Krone gegeben werden.
Der Hase galt den Juden für unrein. „DerHase wie-
derkäuet auch (— was nicht wahr ist —), aber er spaltet
die Klaueu nicht, darum ist er auch unrein," sagt 3. Bnch
Mose, 11, Vers 6; und dasselbe Verbot wird, auch auf Ka-
ninchen uud Kameel ausgedehnt, Moses Y, 14, 7 wieder
eingeschärft, und auch Mohammed gab dasselbe. Uebrigeus
that man in Syrien nnd Arabien wohl daran, den Genuß
des Hasenfleisches zu verbieten; es taugt in diesen heißen
Ländern nichts, so wenig wie bei uns im Sommer, und ist
dann ungesund. Bei den Völkern Nordenropas galt der
Hase für nicht recht geheuer, er stand ja mit Zauberern und
Hexen in enger Beziehung; diese konnten seine Gestalt an-
nehmen. Seine Unruhe und sein ewiges Umherstreisen hat-
ten einen übernatürlichen Grund; man glaubte, daß er nie-
mals schlafe, wahrscheinlich weil er mit offenen Augen schläft.
Die Waliser glaubten, der Hase sei in einigen Monaten
weiblichen, in anderen dagegen männlichen Geschlechts, und
die Engländer meinten, auch nach der normannischen Erobe-
rung, er sei ein Zwitter. Sie zogen wohl diesen Schluß,
weil man den Hasen gewöhnlich allein sieht und weil er im
hohen Norden gegen den Winter hin ein weißes Kleid be-
kommt. Er galt schon in frühen Zeiten für ein Thier von
böser Vorbedeutung. Ein Arbeiter, welcher an sein Tage-
werk gehen wollte, kehrte um, sobald ein Hase ihm über den
Weg lief. Als Cyrns gegen Armenien zog, lief ihm ein
Hase über den Weg, nnd der König würde den Rückzug an-
getreten haben, wenn nicht ein schwebender Adler das böse
Omen in ein gutes Vorzeichen verwandelt hätte.
In Wales galten Hase, Fuchs und Rehbock für „Ungc-
ziefer". Aber in England ist der Hase doch schon in den
Zeiten der Römer, doch vielleicht nur von diesen, genossen
worden; man fand in alten Gräbern auch Hasenknochen. Die
Angelsachsen machten nach dem siebenten Jahrhundert Jagd
auf ihn; Alcuin schalt seine Zöglinge, daß sie ihm nachgelan-
Das neue Gesetz für die
fen seien; sie hätten lieber ihre Aufgaben lernen oder ihre
Gebete hersagen sollen. Im südlichen England hat die Hasen-
jagd schwerlich vor dem elften Jahrhundert begonnen. Be-
merkenswerth ist, daß trotz des mosaischen Verbotes die Geist-
lichkeit den Genuß des Hasenfleisches befürwortete; dasselbe
sei gut gegen die Dysenterie. Dabei war aber wohl mehr
die Rücksicht auf das Hasenfell maßgebend, aus dessen Haar
man künstlichen Biber und einen nachgemachten Hermelin
verfertigte, und beide wurden von den Geistlichen getragen.
Falkenjagd ans Hasen hatten die Angelsachsen kurz vor der
normannischen Eroberung. An Lampes Zähmung dachte
man nicht; aber er erhielt sich, während der Wols ausge-
rottet, Füchse uud Ottern stark vermindert wurden.
Der Hahn, „der frühe Vogel", sollte nicht gegessen wer-
den. Er stammt vielleicht irgendwo aus dem centralen Asien
her und stand in Persien in hohem Ansehen. Von dort ist er
wohl nach Griechenland und dann weiter ins übrige Europa
gekommen. Neberall heftet sich Aberglauben an ihn; in Per-
fielt wurde er zu Weissagungen verwandt, wie später bei den
luwanderuug in Brasilien. 379
Helleueu und den Römern. Ein Hahn sagte dem Themisto-
kles vorher, daß er Sieger über Terxes sein werde; er be-
stimmte den Romnlns bei der Wahl des Platzes, wo die Stadt
gegründet werden solle, und der weise Nnma Pompilins er-
hielt von ihm Inspirationen. J:n Mittelalter glaubte mau,
er fresse Menschenfleisch und Menschenblut; sobald er alt
werde, lege er Eier, aus welchen dann, wenn eine Kröte sie
ausbrüte, der Basilisk hervorkomme. Die Geistlichkeit besei-
tigte den Wahn in Betreff des Menschenblutes; mau mußte
in der Fastenzeit viele Eier haben und Kapannenfleisch war
ohnehin nicht zn verachten. Theodor von Canterbury erklärte,
daß man den Hahn essen dürfe, auch wenn er Menschen-
blnt getrunken habe; man müsse ihn aber zuvor mit Weih-
Wasser besprengen. Andere Geistliche meinten, man müsse
ihn vor dem Schlachten drei Monate unter strenger Aufsicht
halten. Im siebenten Jahrhundert genoß man schon allge-
mein Hühnerfleisch. Der Leibeigene brachte seinem Herrn
einen Hahn, und auch bei uns in Deutschland ist der Zi u s-
Hahn uoch sprichwörtlich.
Aas neue Hefetz für die Einwanderung in Brasilien.
Nach vielen Mißgriffen, welche in Bezug auf das Einwan-
derungswesen von Seiten der brasilianischen Regierung geschehen
sind und welchen dann bittere Täuschungen folgten, fängt man
jetzt an, in eine richtige Bahn einzulenken. Das Ende der Ne-
gersklaverei wird kommen, die sreien Schwarzen arbeiten im be-
sien Falle doch nur unregelmäßig und nicht zur Halste so viel
wie ein freier weißer Mann. In den Provinzen nördlich von
Rio Janeiro kann, jedoch dieser keine Feldarbeit verrichten, das
Klima verbietet sie ihm. Es ist aber sür Brasilien eine Lebens-
srage, seine weiße Bevölkerung, die ohnehin den Farbigen gegen-
über in einer starken Minderheit sich befindet (— etwa 1 Weißer
auf 7 Dunkelfarbige —so viel als möglich zu verstärken. In
den tropischen Gegenden wird wohl das bisherige Berhältniß blei-
ben; dagegen unterliegt es kaum einem Zweifel, daß die Süd-
Provinzen Santa Catharina, Rio Grande und Parana, theilweise
auch San Paulo, in sehr überwiegender Menge eine weiße Be-
völkerung haben werden. Ihr Klima ist ganz vortrefflich und
der Boden ungemein fruchtbar; sie haben den großen Vorzug,
daß sie theils vom Atlantischen Oeeane bespült werden und durch
ihre schiffbaren Ströme ihre Landesproducte nach den Hafenplätzen
bringen können, theils dem Stromgebiete des La Plata angehören.
In ihnen liegt offenbar eine große Zukunft. Die dort gegründe-
ten deutschen Kolonien, über welche wir im „Globus" manche
Nachrichten gegeben haben, sind in gutem Gedeihen und sie wür-
den schon einen stärkern Aufschwung gewonnen haben, wenn mehrere
Jahre hintereinander auch nur der fünfte Theil der deutschen Ein-
Wanderung sich nach Südbrasilien hingelenkt hätte. Aber Bra-
silien hat in Europa einen schlimmen Ruf, von welchem theil-
weise die verfehlten Maßregeln ver Regierung und die Gewissen-
losigkeit von Agenten die Hauptschuld tragen. Die bekannten
Parceriaverträge wurden mit Recht von der öffentlichen Meinung
Europas auf das Strengste verurtheilt. Man schüttete aber das
Kind mit dem Bade aus und lief, sehr oft in eigennütziger Ab-
sicht und aus Privatrache, Sturm gegen alles Brasilianische. Das
war sehr unverständig; man hätte unterscheiden und individuali-
siren sollen, dann wäre man nicht ungerecht geworden. Augen-
schein und Thatsachen lehren, daß die freien Ansiedelungen in
jenen Südprovinzen vortrefflich vorwärts kommen, daß in den
deutschen Colonien keine Sklavenarbeit geduldet wird und keine
Sklaven gehalten werden, und daß dort das deutsche Wesen sich in
seiner nationalen Eigenthümlichkeit erhält. Die beiden Kernpro-
vinzen für diese deutsche Ansiedelung sind Rio Grande und Santa
Catharina, und ihr fehlt zum raschern Gedeihen nichts als star-
ker Zuzug aus dem Mutterlande.
Es scheint, als ob die Zeit gekommen sei, da sie auf einen
solchen werde rechnen können. Die Regierung hat ein verstau-
diges Verfahren eingeschlagen und am 19. Januar 18G7 ein Gesetz
für die Bewohner der Staats colonien gegeben, welches den
Einwanderern große Vortheile bietet; nämlich: —. Beförderung
und Beköstigung vom Tage der Ankunft im Seehafen bis zur
Ankunft auf der Colonie; — Verkauf eines Ansiedelungsplatzes
auf Credit, mit einer Ro^a, d. h. Landgutes, von 1000 Quadrat-
bragaS uud einem fertigen Hause; — Lieferung aller zum Land-
bau und zum Waldbau erforderlichen Werkzeuge und Sämereien;
— ein Geldgeschenk von 20 Milreis (je zn 22 Silbergroschen)
für die ersten Einrichtungen; — Garantie, daß im Rothfall die
Eingewanderten während der ersten sechs Monate bei öffentlichen
Arbeiten in Taglohn beschäftigt werden sollen. — Der Preis
für die Ländereien, sowie der Betrag aller oben namhaft gemach-
ten, in Vorschuß gegebenen Auslagen, müssen, mit Ausnahme
jenes Geldgeschenkes, binnen fünf Jahren zurückgezahlt werden;
doch beginnt dieser fünfjährige Zeitraum erst, nachdem der Colo-
nist schon zwei Jahre lang sein Landgut inne gehabt hat.
Diese zunächst für die Staatseolonien angeordneten Bestim-
mungen sind, wie wir aus der „Deutschen Zeitung" von Porto
Alegre vom 27. März ersehen, auch auf die Provinz San Pedro do
Rio Grande do Snl ausgedehnt worden und die Regierung
hat einen Deutschen, der das Vertrauen seiner Landsleute ge-
nießt, zum Chef der Eolonieverwaltnng ernannt. Dieser Mann,
Hr. Karl von Koseritz aus Dessau, ist seit etwa fünfzehn Iah-
ren in Brasilien; er war als Advoeat, als Redaetenr des ge
nannten Blattes und als amtlicher Dolmetscher thätig und findet
nun ein ergiebiges Feld für eine ersprießliche Wirksamkeit. Er
sagt: „Dieser Beschluß des Ministeriums ist von einer außer-
ordentlichen Tragweite sür die Eolonifation dieser Provinz; nicht
nur sind die durch daö neue Gesetz festgestellten Bestimmungen
sehr groß und werden notwendiger Weise einen stärkern Strom von
Auswanderern hierherleiten, sondern unsere Kolonisation tritt auch
dadurch in eine neue Phase, daß die von nun an hierherkommen-
den Ansiedler es nicht mehr mit der Provinzialregierung, sondern
mit der Centralregierung zu thun haben. Da nämlich diese letz-
tere in dieser Provinz keine eigenen Colonien besitzt, hat der Mi-
nister befohlen, die für Rechnung derselben hier ankommenden
Kolonisten in den Provinzialeolonien, jedoch aus Rechnung der
Centralregierung, unterzubringen. Die Provinzialregierung ver-
kauft mithin nur uoch die Ländereien, alles llebrige geht auf
Rechnung der Centralregierung; da ein solches Berhältniß zu
vielen Verwickelungen führen würde und jedenfalls nicht lange
380 Pommersche
dauern kann, so ist vorauszusehen, daß dieCentralregierung in kur-
zer Zeit die Colonien gänzlich übernehmen wird. Das liegt auch im
Plane der maßgebenden Personen." — „Diesmal scheint es der
Regierung Ernst zn sein. Hält sie nur zehn Jahr an dem Gesetze
sest, dann können glänzende Resultate nicht ausbleiben, denn kein
anderes Land bietet größere Vortheile. Der Einwanderer hat freie
Wahl unter den Colonieplätzcn, die alle vermessen sind und aufge-
hauen, er findet fertige Seitenpicaden (Schneusen, Durchschläge im
Walde), so daß über die Grenzen :c- kein Zweifel obwalten kann.
Der Ansiedler kann sich als Mitglied des Verwaltungsrathes, wel-
chem der Director zur Seite steht, betheiligen. Ein fleißiger
Mann muß unter so günstigen Bedingungen schnell vorwärts
kommen. Sind doch die Tausende früherer Einwanderer, die
nichts bekamen als ihr Stück Urwald und sich im Uebrigen Alles
selber anschaffen mußten, alle vorwärts gekommen und mit der
Zeit wohlhabende Leute geworden, — wie viel mehr also Eolo-
Pfingstfeier.
nisten, die bei der Ankunft so Vieles schon vorbereitet finden. —
Land und Klima sind vorzüglich, die Ergiebigkeit des Bodens
kann nicht besser sein; Angebot und Nachfrage entwickeln sich in
einem durchaus günstigen Verhältniß; die volkswirtschaftliche Lage
des Landes (nicht des Staates) bessert sich täglich; die Gesetz-
gebung ist freisinnig. Endlich ist einmal etwas Vernünftiges
in Bezug auf Colonifation geschehen; möge es nur dauernd und
folgerichtig durchgeführt werden." —
Das Gesetz ist mit dem 26. März 1867 für die Provinz
Rio Grande in Wirksamkeit getreten. Die Einwanderung wird
ohne Zweifel beträchtlich werden, wenn die brasilianische Regie-
rung nur den Ehrgeiz und das Pflichtgefühl hat, ihr Wort zu
halten und den verständigen Plan nicht wieder fallen zn lassen.
An und für sich kann es keine günstigere Gegend zur Niederlas-
sung für Deutsche geben als dieses von der Natur so sehr begün-
stigte Südbrasilien.
'I o m m e r s ch e
Das Taub
Die Austheilung des heiligen Geistes wird in Stettin und
einem etwa fünfmeiligen Umkreise noch alljährlich in absonderlich
handgreiflicher Weise dargestellt durch das sogenannte „Tauben-
abwersen". Während bei den in ganz Deutschland üblichen Vogel-
schießen der Vogel gewöhnlich sich als Adler präsentirt, nimmt
er hier die mehr oder weniger kenntliche, immer aber ausdrück-
lich so bezeichnete Gestalt einer Taube an, welche auf eine Stange
gesteckt wird, und jeder Theilnehmer an dem Vergnügen bemüht
sich, mit einem Knittel, dem „Taubenknüppel", sich eine möglichst
große Portion heiligen Geist herabzuwerfen. Kindern, die kaum
laufen und einen Miniaturknittel heben können, wird solch eine höl-
zerne Taube auf einen Stock gesteckt, auf den sie sast hinausrei-
chen, und die noch Kleineren nimmt Vater oder Mutter auf den
Arm und führt ihnen die Hand, damit dem gestammelten: „Ich
auch! ich auch!" Genüge geschehe. Die Knechte eines Dorfes be-
schassen auf gemeinschaftliche Kosten eine „Taube" von der Größe
eines Condors; sie kommt auf eine Stange, deren Spitze nur dem
Schuß erreichbar scheint, aber Knittel, stärker als Wagenrungen,
von den kräftigen Armen geschleudert, erreichen sie doch uud zer-
kümmern sie, ja mancher Wurf geht noch über das Ziel hinaus,
während mancher freilich auch, mit Spott und Gelächter beglei-
tet, nur die Stange trifft oder nebenaus vorbeifliegt. Keine Schul-
elasse, ob Knaben oder Mädchen, die nicht, den Lehrer an der
Spitze, an einem freundlichen Tage um Pfingsten mit ihrer Taube
hinauszöge; kein Besitzer eines öffentlichen Gartens, der nicht
wenigstens einmal, am zweiten, am dritten Festtage oder am
Sonntage danach „Taubenabwerfen für Damen", freilich nicht
der höchsten Stände, ankündigte.
Die Tauben, mit Ausnahme der für die kleinsten Kinder be-
stimmten, haben nun aber die Jnsignien des Reichsadlers und,
wunderlich damit eombinirt, gewisse herkömmlich feststehende Attri-
bute angenommen: in der rechten „Klaue" (so trotz der Taube
genannt) das Scepter, unten mit einem „Teller", oben mit dem
schwarzen Adler; in der linken den Reichsapfel, auf demselben
eine — Windmühle; auf dem Kopf die Krone, welche einen —
„Fahnenschwenker" trägt; im Schnabel steckt quer nach einer
Seite die „Reichsfeder", an seiner Spitze herunter hängt, meist in
einem Ringe, noch einmal eine kleine weiße Taube, naturgetreuer
als die große nachgebildet. Der große Vogel ist grau, schwarz und
weiß gefleckt, die Schmuckstücke sind grell bunt mit Leimfarben bemalt.
Die „mancherlei Gaben" des heiligen Geistes finden hier eine
sehr materielle Auslegung, welche bei den Knaben zugleich wie
eine Art Vorherverkündigung des künftigen Standes iin Scherz
angesehen wird. Wer den Rumpf, das letzte, sehr massive Stück,
herunterholt, ist König; die Krone auf dem Kopf bezeichnet den
Kronprinzen, während „Kringel" von der Krone des Seepters
nur aus einen — Bäcker deuten. Wer das Scepter selbst er-
pfingstfeier.
nabwerfen.
langt, der hat Aussicht — Papst zu werden, in der seit Jahr-
Hunderten durchweg protestantischen Gegend gewiß seltsam genug
und an sich ein Zeugniß sür das Alter dieses Kampsspiels. Der
Schnabel macht zum „Weinschmecker", der Teller unten am Seep-
ter zum „Tellerlecker" (beides vielleicht die Hofämter des Schen-
ken und des Truchseß andeutend), eine Klaue zum „Stieselputzer"
und der Schwanz gar deutet auf eine Beschäftigung, die kein offi-
eielles Hosanit ist. Der Gewinn des Reichsapfels giebt das Recht
auf den Titel „Vieeköuig", was nicht so selbstverständlich sein
dürfte, wie daß die Windmühle zum Müller, die Feder zum Schrei-
ber oder „Kanzler" macht.
In den Schulen wird zum Taubenabwerfen eine gleichmä-
ßige Kopfsteuer erhoben, selbstverständlich nur von den Theilneh-
mern, aber es kommt selten vor, daß nicht alle Schüler Theil-
nehmer sind; in der Armenschule, dem Waisenhause ic., wo die
Theilnehmer außer Stande sind, Beiträge zu leisten, wird den-
noch dafür gesorgt, daß ihnen dies Vergnügen, nächst Weihnach-
ten das ersehnteste Fest des ganzen Jahres, nicht fehle. Mit der
Beschaffung der Taube ist aber erst das Wenigste gethan, es
müssen auch Preise für die besten Stücke angeschafft werden, im
Interesse der allgemeinen Zufriedenheit gewöhnlich so zahlreich,
daß Jeder etwas bekommt, der anch nur ein Kringelchen aufzei-
gen kann. Nur die „Stangenreiter" freilich, die nichts getroffen,
gehen leer aus und müssen bei dem feierlichen Krönungszuge des
Königs die Stange tragen; ihr Antheil an dem gemeinsamen
einfachen Mahle aber wird ihnen durch ihr Ungeschick nicht ver-
kürzt. Will man ihnen glauben, so hätten sie eigentlich immer
das Meiste verdient, sie haben dies und jenes Stück so kräftig
getroffen, daß es schon ganz lose saß, der Nachfolger hat nur
ganz leise darangeworsen, da fiel es, und der hat nun die Ehre
davon. Wo Mütter oder Schwestern zugegen sind, waö wohl
stets der Fall ist, da werden dem Könige und den höchsten Würden-
trägern Kränze um Brust und Mütze gewunden, und bei den
Kleinen müssen außerdem noch seidene Bänder und Orden von
Goldpapier sein. Kränze und seidene Bänder giebt es auch sür
die jungen Bursche auf dem Lande, dafür sorgen die Mädchen,
welche bei dem Feste nicht unbetheiligt sind, denn wenn die Taube
herunter ist, geht es zum Tanz, den der König niit seiner Kö-
nigin eröffnet. Wie stolz ist Christine, wenn ihr Johann sie zur
Königin machen kann, während Reginens Michel nur „Stewel-
Putzer" oder gar „Stangenrider" ist, und wie befeuert die Ge-
genwart der Mädchen alle Bursche, Kraft und Geschicklichkeit
sehen zu lassen! Gewöhnlich hat auch der König außer der Ehre
noch freie Zeche für sich und seine Königin.
Unglücksfälle bei diesem Vergnügen sind selten, weil meist
auf strenge Ordnung gehalten wird, da sonst ein Kops so gut
wie der andere in Gefahr wäre. Die Reihenfolge des Werfens
Aus allen
wird vorher durch Loosen bestimmt und nur in dieser Folge darf
nach Aufruf geworfen werden, was stets von demselben Punkt
aus und nach derselben, von Zuschauern freigehaltenen Richtung
geschieht. Erst wenn Alle geworfen haben, suchen Alle zugleich
aus den Ruf: „Knüppel holen!" die oft weit genug hinausge-
schleuderten Wurfgeschosse wieder.
Den Ursprung dieser ganzen Pfingstfeier verlegt man in die
Zeit der Einführung des Christenthums und schreibt die Erfin-
dung der heidnisch gebliebenen oder zwangsweise äußerlich bekehr-
ten Bevölkerung zu, welche zum Hohn den christlichen heiligen
Geist mit Knütteln zertrümmerte. Nach anderer Meinung ist es
eine ganz naive, aber christlich gemeinte Versinnlichung der Aus-
theilung von mancherlei Gaben durch den einen heiligen Geist.
Vielleicht aber ist beides zu vereinigen: das erste gewesen, das
andere geworden; auch wäre ja das keineswegs ohne Beispiel,
Erdtheilen. 381
daß die Priester einem heidnischen Gebrauch, den sie nicht zu ver-
bannen wagten oder vermochten, christliche Symbolik unterschoben.
Hier wäre der Fall insofern besonders interessant, als es sich nicht
bloß um einen dem Christenthum fremden, alten Gebrauch,
sondern um einen geradezu gegen das Christenthum gerichteten
neuen gehandelt haben würde. Die Adlerzuthaten zu der Taube
sind wohl zweifellos auf Rechnung der deutschen Einwanderer zu
setzen. Die aber, welche den alten Brauch üben, fragen aller-
dings meist nicht viel danach, wie alt er sei und wie zu erklären;
darin sind sie einig, daß sie ihn nicht aufgeben möchten, er sei
nun heidnischen oder christlichen Ursprungs. Und doch ist auch
diesem Versprechen nicht zu trauen: vielfach weicht schon das
Taubenabwerfen dem für vornehmer gehaltenen Vogelschießen, z. B.
bei den Stettiner Handwerkern und Fabrikarbeitern.
Friedrich Hasenow.
Uns allen
Die Franzosen in Californien. Von Karl Rühl ist
neulich zu Neuyork, im Verlage von E. Steiger, ein ganz vor-
treffliches Werk über Californien erschienen, das wir in der nach-
sten Zeit eingehend besprechen werden. Aus der Charakteristik
der verschiedenen Volkstümlichkeiten, welche sich in jenem Lande
am Stillen Weltmeer zusammengefunden haben, wollen wir heute
Einiges über die Franzosen hervorheben.
Sie haben nur in seltenen Fällen die Absicht, sich naturali-
siren zu lassen und bilden ein zähes Element, das sich schwer mit
einem andern vereinigen läßt. Je weiter ein Franzose sich von
seiner Heimath entfernt, desto mehr bleibt er Franzose; mit dem
Studium der Verhältnisse anderer Nationen, unter denen er lebt,
besaßt er sich gewöhnlich nicht, denn es giebt für ihn ja nur
eine „große Nation", die seinige. Er hält es für unnöthig,
Sprachen zu erlernen, sondern erwartet, daß Jedermann sranzö-
sisch mit ihm rede! Nun legen aber die Amerikaner ihrerseits
eine ähnliche Hartnäckigkeit an den Tag. Im Auslande verlieren
die Franzosen viel von der Liebenswürdigkeit, welche manche von
ihnen in der Heimath zeigen. Als Kaufleute haben sich in Cali-
sornien die Franzosen nie auf eine Stufe erhoben, welche sich mit
der eommereiellen Stellung der Deutschen messen könnte. Auf-
fallend ist, daß es gerade Franzosen sind, welche sich mit einem
Berufe befassen, dem außer ihnen nur noch die Neger nach-
gehen, nämlich mit dem Stiefelputzen. Von den Deutschen wird
dieses glänzende Geschäft als herabwürdigend betrachtet. Als einer
von ihnen in Roth und aus Verzweiflung zur Wichsbürste seine
Zuflucht genommen hatte, währte es kaum zwei Stunden, bis
seine deutschen Nachbarn sich ins Mittel legten, ihn zwangen,
vom Wichsen abzulassen und ihm eine andere Beschäftigung nach-
wiesen. — In Bezug auf die Kochkunst leisten auch in Califor-
nien die Franzosen ganz Ausgezeichnetes. Vom Sauerkraut bis
zum feinsten Gemüse, vom Hochwilde bis zum Kaninchen, von
den Vögeln in der Luft bis zu den Schildkröten, Fröschen und
Fischen im Wasser machen sie Alles mundgerecht. Sie haben ein
unbestrittenes Verdienst um die essende Menschheit nicht bloß we-
gen der seinen Küche, sondern auch wegen der billigen Preise.
Unter den Franzosen CalifornienS giebt es zwei politische
Parteien, welche miteinander ununterbrochen im Kriege leben:
die napoleonische und die radieal-demokratische. Der Franzose ist
kein Republikaner, sondern seinem innersten Wesen nach Monar-
chist. Er liebt den Pomp und überhaupt Alles, was augenblick-
lieh besticht, sei es eine Revolution, eine Parade oder eine Schlacht.
Deshalb sind in seiner Geschichte freie Staatseinrichtungen mit
Knechtschaft in stetem Wechsel begriffen. Ludwig Napoleon ist
für sie der rechte Mann; er knechtet sie in ihrer Unselbständigkeit
und richtet sie anf, indem er durch Überraschungen im Innern
und durch diplomatische und kriegerische Erfolge nach außen ihrem
Nationalstolze schmeichelt. Und so oft Frankreich mit anderen
Nationen in Conflict geräth, werden auch die Monarchenfresser
in Californien wieder ganz nur Franzosen und sind vor Enthu-
L r d t h e i l e n.
siaömus außer sich. Die Franzosen scheinen in politischen Dingen
an einer Art von chronischer Blindheit zu leiden. So erhaben
ihr Enthusiasmus bei manchen geschichtlichen Momenten erscheint,
so schlägt er doch gar zu leicht um und glüht zu verschiedenen
Zeiten für ganz verschiedene Prineipien. Wenn daher am 24. Fe-
bruar 1866 eine Gesellschaft angesehener Franzosen in San Fran-
eisco wieder den Jahrestag der Revolution von 1848 gefeiert hat,
so giebt das keinen Maßstab zur Beurtheilung der politischen Ge-
sinnung ab. Franzosen und Republikaner sind zwei Begriffe, die
nur ausnahmsweise etwas mit einander gemein haben.
Die Zahl der Europäer in Algerien ist auch heute uoch
sehr gering; sie betrug zu Ende des Jahres 1366 nur 217,990
Köpfe. Das Land ist seit nun beinahe 40 Jahren im Besitze
der Franzosen, hat ganz ungeheure Opfer an Geld und Blut er-
fordert und die Herrschaft beruht auf militairischer Gewalt. Al-
gerien kann nicht als eine Colonie bezeichnet werden, denn es
ist lediglich eine Besitzung, etwa wie Ostindien. Während die
Zahl der eingeborenen Leute, also Menschen berberischen Stammes
(Kabaylen), Mauren, Araber und Juden sich auf etwa dritthalb
Millionen belauft, beträgt die Zahl der Franzosen nur
122,119 Seelen, also nach 37jährigem Besitze weniger Köpfe wie
aus Deutschland in jedem Jahre durchschnittlich auswandern; und
von jenen 122,119 kamen mehr als 30,000 aus den deutschen
Provinzen Elsaß und Lothringen. Algerien ist 43 Stunden Reise-
zeit von der französischen Südküste entfernt und trotzdem sind nur
wenige französische Bauern nach Afrika hinübergegangen. Die
Europäer wohnen zumeist in den Städten und deren Umgebung,
und viele derselben halten sich nur zeitweilig im Lande aus; nach-
dem sie etwas Geld erworben haben, gehen sie in ihr Heimath-
land zurück. Das gilt z. B. von vielen Spaniern, deren Zahl
sich auf 58,510 Köpfe beläuft; von den Italienern 17,653
und den Maltesern 10,627. Die Zahl der Deutschen stellt sich
anf 5436 Köpfe; 4643 gehören verschiedenen anderen Nationali-
täten an.
Aus dem asiatischen Rußland. In der geographischen
Gesellschaft zu St. Petersburg wurde eine Arbeit des General-
stabsosfiziers Babkosf über den Dsai-sang-See verlesen; der-
selbe kann jetzt als ein russisches Wasser betrachtet werden. Der
Denkschrift sind drei Karten beigegeben; eine derselben giebt einen
Ueberblick über die Verkeilung der verschiedenen kirgisischen
Nomadenftämme in der östlichen Steppe. — Dr. Bret-
schneider, Arzt bei der russischen Gesandtschaft in Peking, hat
eine Karte eingesandt, aus welcher die fünf großen Karawa-
nenstraßen in der Mongolei verzeichnet sind. Die sibirische
Abtheilung der Gesellschaft wird zwei Erpeditionen ausrüsten.
Eine derselben soll den Cretinismus beobachten, welcher na-,
mentlich an der Lena und an einem Zuflüsse derselben, der Ki-
renga, vorkommt; dort treten viele Kröpfe auf. Die andere soll
382 Aus allen
ethnographische Studien über einige Stämme der Burjaten an
der Grenze der Mongolei anstellen. — Die kaukasische Ab-
theilung hat eine Arbeit über Mingrelien eingeliefert; Ulsky
gab Mittheilungen über das japanische, das ochotskische und das
Behringsmeer. Hilkowski hat 1866 den Sungarifluß erforscht.
Die Dampfschifffahrt im Gebiete des Amazonen-
stromes gewinnt an Ausdehnung. Im April fuhren drei perua-
nische Dampfer in die Mündung des Ucayali hinein, diesen auf-
wärts bis zum Pachitea und aus diesem den Pozozu hinauf
bis zur Ortschaft Mairo, eine Strecke von 1227 Miles oder
3500 Miles von der Mündung des Amazonas. Damit ist die
Möglichkeit einer directen Handelsverbindung von Para am Atlan-
tischen Ocean bis ins Innere von Peru festgestellt. Hier in der
Waldwildniß waren die indianischen Kannibalenstämme sehr un-
ruhig, konnten aber gegen die Feuerwaffen nichts ausrichten.
In Santarem sind im Anfange des Mai mehrere beladene
Boote aus Diamantino in der Provinz Matto grosso, in
der Zeitfrist von 23 Tagen, auf demRioPreto, demJuruena,
dem Arinos und Tapajoz mitLandesproducten angelangt. Der
Blick auf eine Karte kann zeigen, daß dieser neueröffnete Handels-
weg nicht ohne Bedeutung ist.
Australiens Postverbindung mit Europa ist eine drei-
fache. Auf einer Postconferenz der verschiedenen Colonien wurde
beschlossen, daß die drei Postlinien: über Suez, über Panama
und durch die Torresstraße beibehalten werden sollen. Die
Colonien vergüten der königlichen Postverwaltung jährlich 200,000
Pf. St. Davon zahlen Victoria, Neusüdwales und Neuseeland
jede den vierten Theil, Queensland ein Siebentel, Südaustralien
ein Zwölftel und Tasmanien (Vandiemensland) ein Fünfzigste!.
Die Bedrückung der Christen im osmanifchen Reiche.
Sie wird allemal aufs Tapet gebracht, sobald es im Jnter-
esse der russischen Politik liegt, die „orientalische Frage" in
den Vordergrund zu schieben und auf eine „Lösung" derselben
hinzudrängen. Dann wird insgemein den Türken viel Böses nach-
gesagt und es unterliegt auch keinem Zweifel, daß arge Dinge
geschehen, die sich nicht entschuldigen lassen. Die Türken sind,
von unserm europäischen Standpunkte der Civilisation aus be-
trachtet, im Zustande der Halbbarbarei, aber die christlichen Völ-
ker im osmanischen Reiche sind es nicht minder. Die Reisenden
sind einstimmig darüber, daß sie viel lieber mit den Türken ver-
kehren als mit den Christen, namentlich mit den Griechen.
Auf Antrieb von Athen und St. Petersburg her ist seit etwa
einem Jahre, als es darauf ankam, den Aufstand auf Kreta in
Scene zu setzen, sehr viel von den Leiden der Christen die Rede
gewesen und die Klagen fanden in der gefammten europäischen
Presse einen Wiederhall. Der Kundige wußte von vornherein,
wie viel und wie wenig davon zu halten war und daß plan-
mäßige Uebertreibungen nicht fehlten. Unter diesen Umständen
hat die englische Regierung einen praktischen Weg eingeschlagen,
um einen richtigen Einblick in die Dinge zu gewinnen und der
öffentlichen Meinung Material für ein unbefangenes Urtheil zu
liefern. Sie forderte von ihren Confuln im osmanifchen Reiche
eingehende Berichte über die Lage der Christen; diese Aktenstücke,
26 an der Zahl, sind dem Parlamente vorgelegt worden und wir
wollen Einiges aus denselben hervorheben.
In Kleinasien und an den Grenzen gegen Rußland und
Persien, wo die mohammedanische Bevölkerung die weit überwie-
gende Mehrzahl bildet, läßt sich die gesetzlich ausgesprochene Gleich-
berechtigung der Christen nicht durchführen; dort herrscht noch
großer Fanatismus; von diesem zeugen die Mordauftritte zu
Aleppo 1853 und zu Damaskus 1860. Dagegen stehen in den
großen Handelsstädten an der Küste, wo viele Christen leben und
europäische Confuln eine Art von Aufsicht üben, die Dinge leid-
lich genug. Generalconful Rogers betont, daß die Lage der Chri-
sten gegen früher ganz ungemein besser geworden sei. Die Be-
richte aus Tunis lauten entschieden günstig; dort ist die Gleich-
berechtigung vollkommen durchgeführt worden. Im Allgemeinen
wird hervorgehoben, daß unter dem allerdings schlechten Regie-
rungsfysteme der Pforte die Mohammedaner gerade so viel zu
Erdtheilen.
leiden haben, wie die Christen auch. Das Gerichtswesen ist „ent-
fetzlich schlecht", das Recht wird gekauft und verkauft. Gesetzlich
sollen die Christen auch gegen Mohammedaner Zeugniß ablegen
dürfen, aber daran verhindert man sie vielfach und es bleibt ih-
nen dann nichts übrig, als ein paar Türken als Zeugen zu kau-
fen, die auch immer zu haben sind. Die Habsucht der türkischen
Oberbeamten ist nicht weniger eine Thatsache als die Geldgier
der griechischen Bischöfe. In religiöser Beziehung, so schreibt
Consul Skene, übt die Regierung Toleranz in einem Grade,
dergleichen man in den europäischen Ländern nicht kennt (— man
denke nur an Spanien und den Kirchenstaat —) und wenn Je-
mand feines Glaubens wegen Belästigung erfährt, dann sind
allemal die christlichen Kirchen Schuld daran, und der
Haß, welchen sie gegen einander hegen, bildet einen beklagens-
werthen Contrast gegenüber der Unparteilichkeit der türkischen
Behörden. — Dieser Ausspruch des Consuls Skene wird von
anderen Berichten vielfach bestätigt.
Die Christen sind vom Soldatendienste frei, sobald sie eine
geringe Steuer zahlen; von dieser ist der Mohammedaner aller-
dings befreit, aber er muß dienen, und die Christen betrachten
jenen Loskauf als eines ihrer Privilegien, welches sie vor dem
Türken voraushaben. Die Beschwerden der Christen sind ins
Absurde übertrieben worden und dabei spielen politische Hinter-
gedanken eine Hauptrolle.
Die Klagen über das Räuberwesen in einigen Theilen der
Türkei sind begründet, aber die Griechen, bei welchen bekanntlich
das Klephthenwesen zu einer Art von Landeseinrichtung gewor-
den ist, sind die letzten, welche ein Recht haben, den Türken einen
Vorwurf zu machen. Und man denke nur an Italien!
Die Tschorbadschis, d. h. die Oberhäupter der christlichen
Gemeinden, und die christlichen Bischöfe, machen sehr häufig ge-
meinschastliche Sache mit türkischen Beamten, gemeinschaftliche
Speeulationen sowohl in Bulgarien wie in Armenien. Gewöhn-
lich bekommt, wo es sich um Bestechungen handelt, der christliche
Aelteste zwei Drittel und der türkische Beamte nur ein Drittel.
Consul Wilkinson in Salonichi hebt scharf hervor, daß die Grie-
chen in den Städten käufliche Erzintriganten seien; wenn man
sie an der Verwaltung der Provinz betheiligen wolle, dann wür-
den sie wahrscheinlich wohl ihre Privatinteressen sehr in Acht neh-
men, aber ihre anderen christlichen Glaubensgenossen würden
sicherlich keinen Vortheil dabei haben.
Der „Geist der Unduldsamkeit und Verfolgungssucht der nicht
muselmännischen Bevölkerungen gegen einander" spielt in den Be-
richten eine große Rolle. Consul Blunt in Adrianopel schreibt,
daß in seinem Bezirke die verschiedenen christlichen Secten einander
mit giftigem Hasse verfolgen; die Griechen insbesondere sehen mit
Verachtung auf Armenier, Unirte, armenische Protestanten und
Juden herab, und geben sich alle Mühe, denselben die bürger-
lichen Rechte zu verkümmern, wo möglich sie derselben zu be-
rauben. Und Generalconful Rodgers in Beyrut sagt: „Einige
Ausnahmen abgerechnet, bedrücken die Christen einander weit
mehr als sie von den Mohammedanern bedrückt werden. — Die
armenischen Priester haben in Smyrna eine Protestantenverfol-
gung ins Werk gesetzt. In Brussa plündert der griechische Bi-
schof auf eine schmachvolle Weise seinen Sprengel; er erzwingt,
der Gebühren wegen, Verheirathungen, ja selbst Scheidungen."
Diese englischen Confularberichte geben uns einen ganz an-
dern Einblick in den wahren Stand der Dinge als jene, welche
darauf berechnet find, die öffentliche Meinung in Europa zu ver-
wirren und die „Lösung der orientalischen Frage anzubahnen".
Der Oberpriester der abyssinischen Kirche. Das Ober-
Haupt dieser Kirche führt bekanntlich den Titel Abuna, Vater;
er ist Erzbischos und erhält seine Weihen vom Patriarchen zu
Alerandria. Seine geistliche Gewalt ist groß und beruht auf
Satzungen, die aus dem dreizehnten Jahrhundert stammen. Beim
Amtsantritt des Abuna muß die abyfsinifche Regierung dem Pa-
triarchen ein Geschenk von 7000 Kronenthalern einhändigen. Wil-
Helm Lejean erzählt in seiner abyssinischen Reise, daß die stolze
Prinzessin über den gegenwärtigen Abuna Salama geäußert
habe: „Dieser Sklav, den wir aus unserem Beutel bezahlt
haben, benimmt sich sehr hochmüthig." Das kam dem Priester
zu Ohren und er sagte: „Allerdings bin ich ein Sklav, aber
Aus allen
einer, der viel Werth ist. Hat man doch 7000 Thaler für mich
gezahlt! Mit der Prinzessin Menene verhält es sich freilich
anders. Man könnte sie auf dem Markte zu Wochne ausstellen
und bekäme nicht zehn Thaler für sie." Aus jenem Markte wer-
den sehr schlechte Maulesel feilgeboten.
Salama (Frumentius ist sein Bischofsname) ist jetzt etwa
fünfzig Jahre alt. Dem Negus Theodoros gegenüber hat er
eine eigenthümliche Stellung; Beide beobachten einander, legen
sich gegenseitig Hindernisse in den Weg, hassen und fürchten ein-
ander, stellen sich aber, als ob sie Freunde seien. Sehr oft macht
Theodoros gar keine Umstände mit dem Seelenhirten, er sperrt
ihn in eine Festung und legt ihn in Eisen. Dann müssen ihn
Leute vom Hofgesinde anf den Knien Speise reichen und ihm den
Fuß küssen.
Salama gilt für einen Freund der Engländer. Als er sich
früher in Kairo der Studien halber aufhielt, besuchte er die pro-
testantische Schule des deutschen Missionairs Lieder, der im Aus-
trage der anglikanischen MissionSgesellschast arbeitete. Krapf
bezeichnete ihn seiner Zeit als einen begabten jungen Priester,
Von welchem die evangelische Propaganda einmal große Dienste
zu erwarten habe. Es war das eine der gewöhnlichen Täuschun-
gen, welchen die Missionaire so oft unterliegen. Wir wissen na-
mentlich auch durch Apel, dessen Verkehr mit dem Abuna wir
vor etwa einem Jahre im „Globus" schilderten, daß Salama ein
sehr grimmiger Feind der „protestantischen Ketzer" geworden ist.
Die englische Regierung beging einen Fehler, als sie die Für-
spräche Salama's nachsuchte, um von Theodoros die Freilassung
des Consuls Cameron und der übrigen europäischen Gefangenen
auszuwirken. Der Abuna übt auf den NeguS nicht den aller-
geringsten Einfluß. Als jener einmal auf das Aeußerste gebracht
worden war, drohete er dem Kaiser mit dem Bann, aber Theodor
ließ eine Hütte aus trockenen Zweigen bauen und erklärte, daß
er den Erzbischof in derselben verbrennen lassen werde. Er war
viel zu fromm, den Gesalbten des Herrn in blutiger Weise zu
tobten; er sollte den Feuertod sterben. Dazu hatte der Priester
keine Lust und hob den Bann wieder aus.
Bald nachdem Theodoros zur Macht gelangt war, fand sich
David, Patriarch von Alerandria, im Auftrage des ägyptischen
Vicekönigs in Abyssinien ein und benahm sich dort sehr hochfahrend
und gleichsam als Herr und Gebieter. Theodoros seinerseits be-
gegnete dem Patriarchen mit Spott und Hohn und dieser schleu-
derte ihm dafür mündlich den Bann ins Gesicht. Theodor blieb
dabei scheinbar ganz ruhig, zog aber ein geladenes Pistol aus dem
Gürtel, schlug auf den Patriarchen an und sprach ganz sanft:
„Bester Vater, gieb mir doch Deinen Segen!"
Patriarch David fiel auf die Knie, stand dann wieder auf
und gab den Segen mit zitternden Händen.
Ein Urtheil aus Nordamerika über die Mormonen.
Den wunderlichen „Heiligen des jüngsten Tages", deren wir oft-
mals erwähnt haben, ist so viel Böses und auch Unwahres nach-
gesagt worden, daß es von Interesse ist, auch einmal ein anderes
Urtheil zu hören. Ein Nenyorker Berichterstatter der „Allge-
meinen Zeitung" schreibt:
„Ein von den Mormonen an den Eongreß gerichtetes Ge-
such, das vor einigen Jahren erlassene Strafgesetz gegen die Viel-
weiberei zu widerrufen, hat den Ausschuß, an welchen es verwie-
sen war, in Harnisch gebracht und zu einem Berichte veranlaßt,
welcher ein Einschreiten des Bundes gegen jene Ausartung des
Familienlebens als nothwendig bezeichnet. Doch ist zu bemerken,
daß im Publieum keine Geneigtheit zu solchem Einschreiten be-
steht. Nur in den jungen Staaten und Territorien, welche Utah
umgeben, „toben die Heiden in ihrem Zorn," weil es sie nach
den fetten Weiden gelüstet, in welche die Mormonen durch unsäg-
liche, übermenschliche Mühe und Arbeit eine öde GebirgSwildniß
verwandelt haben. Dort, unter den halbwilden „Pionniren",
„Squatters", „Trappers" und Goldwäschern, die von einem ge-
ordneten Familienleben nur sehr unklare Begriffe haben, und ohne
alles Bedenken sich so viele Sqnaws (d. h. indianische Frauen)
halten, als sie füttern können, dort sind es wahrlich nicht sittliche
Einwände gegen die Vielweiberei, welche dem Haß gegen die Mor-
monen zu Grunde liegen, sondern es sind Neid und Gier nach
Aneignung der werthvollen Früchte einer absolut ohne
Erbtheilen. 383
Beispiel dastehenden Kulturarbeit, welche den Widerwil-
len gegen die Vielweiberei zum Fanatismus zu steigern und einen
Kreuzzug ins Werk zu setzen suchen. Viele Vorurtheile, welche
man früher gegen die Mormonen hegte, sind in den letzten Iah-
ren abgeschwächt worden. Daß in sast allen größeren Städten
des Ostens die verzweifeltsten Versuche gemacht werden müssen,
um das immer riesiger anwachsende Uebel der Prostitution und
der Trunksucht in Schranken zu weisen, während in Utah beide
Laster fast abfolut unbekannt sind, regt denn doch, auch bei fol-
chen, die das „tu quoque" nicht für ein sehr beweiskräftiges
Argument halten, ernste Bedenken gegen den Beruf der christli-
chen Bevölkerungsmehrheit zur gewaltsamen Unterdrückung einer
Secte an, welche zwar dem Familienleben eine unmoderne Ge-
stalt giebt, dagegen auch jede Störung und Entweihung desselben
aufs Wirksamste verhindert. Gegen Thatsachen ist schwer auskom-
men, und Thatfache ist, daß der Mormonenstaat das
bestgeordnete, von allen Lastern der modernen „Civi-
lifation" freieste, friedlichste, fleißigste und betrieb-
famste Gemeinwesen ist, welches es in den Vereinig-
ten Staaten giebt. Daß die Religion der Mormonen den
meisten Menschen als eine unsinnige erscheint, ist wohl wahr,
allein damit hat Niemand etwas zu thun. Geht es doch anderen
Religionen nicht besser. Nathans tausend und aber tausend Jahre
sind noch lange nicht um. Und im vollen Ernst, es giebt hier-
zuland noch viel verrücktere Religionen als die mormonische, ohne
daß ihren Gläubigen irgend ein Mensch nur das geringste Hin-
derniß in den Weg zu legen suchte. Nach jener intensiven Hin-
gebung des Individuums an die Dogmen einer positiven Religion,
nach jener seelischen Vertiefung in die Mysterien des Glaubens,
jener beschaulichen Verzückung und den gebeimnißvollen Schauern
eines ahnungsreichen Dämmerlebens der Seele, das man in Deutsch-
land vorzugsweise Religiosität nennt, wird man hier in den Ver-
einigten Staaten vergeblich suchen. Da ist alles klarer, scharfer
Realismus — kaum Verständniß, geschweige denn Sinn für die
Empfindungen und Anschauungen, welche bei dem Deutschen, auch
wenn er zur jüngsthegelfchen Schule gehört, die Betrachtung der
vom religiösen Drange einer frühern Zeit geschaffenen Wunder-
bauten erweckt — Gleichgültigkeit gegen das Dogma, aufrichtige
Anerkennung und Werthschätzung nur desjenigen Elements an der
Religion, welches allen Religionen gemeinsam ist, des ethischen,
rein menschlichen. Man könnte sich sast versucht fühlen zu sagen:
die herrschende Religion der Vereinigten Staaten sei — der Deis-
mus, ausgeschmückt durch mannigfache Sectenbezeichnnngen. Neu-
lich kam es zu Cincinnati vor, daß als der Prediger einer Eon-
gregationalistengemeinde, Hr. Vickers, eine Reife zu machen hatte,
er für die Dauer seiner Abwesenheit den — Rabbiner einer be-
nachbarten Judengcmeinde als seinen Substituten bestellte. Warum
nicht? Die Gemeinde war ganz zufrieden damit und erbaute sich
an der Predigt des Rabbiners ganz ebenso wie an der des Hrn.
Vickers. War er doch ebensowohl ein „wahrer Christ". Denn
tatsächlich versteht der Amerikaner unter einem „trug Christian"
nicht mehr und nicht weniger als einen sittlich guten Menschen.
Komisch ist nur der Ernst, womit er gleichwohl seine Religion
des sittlichen Menschenthums für specisisches Christenthum hält
und sich in demselben Athem gegen alles Unchristenthum ver-
wahrt, indem er voll inniger Andacht den Worten eines Rabbi-
ners, eines Mormonenpriesters oder eines Ulema lauscht."
Der Suezeanal. Die Stadt Suez erhielt früher ihren
Bedarf an süßem Wasser auf der Eisenbahn oder zur See von
den Mosesbrunnen her. Für einen Platz, der ein „Welthafen"
werden soll, war das ungenügend und man grub deshalb den
Süßwassercanal, welcher vom Nil aus bis ans Rothe Meer führt.
Er wurde vor etwa drei Jahren vollendet und es liegt dem Vice-
könig ob, ihn in gutem Stande zu erhalten. Seitdem Suez fü-
ßes Wasser hat, vergrößert sich die Stadt; man hat sogar einige
kleine Gärten angelegt, weil nun die Möglichkeit der Bewässe-
rung gegeben ist. Es fragt sich aber, ob dieser Süßwassercanal
auf die Dauer auch süß bleiben werde. Der Boden ist sandig
und durch und durch mit Salztheilen geschwängert. Diese Salz-
haltigkeit des Bodens auf der ganzen Landenge ist für dieselbe
charakteristisch. Als man diesen Canal gegraben hatte und das
Stromwasjcr aus dem Nil in denselben laufen ließ, wurde es
384 Aus alle
bald nachher salzig; das ist auch heute überall, wo es stagnirt,
der Fall und es ist darum nicht zu trinken. Deshalb muß
man dafür sorgen, daß ununterbrochen ein Stromzug stattfinde,
weil sonst das Wasser unbrauchbar wird. Im März leitete man
dasselbe aus dem süßen Eanal vermittelst eines Zweigcanals in
eine Abtheilung des großen maritimen Canals, um durch das
Einströmen die Baggerarbeiten zu fördern, aber dieses süße Wasser
war schon am folgenden Tage durchaus salzig geworden.
Uns Nencasedonien. Die Einwanderung dorthin aus
Europa ist gleich Null, und die Eingeborenen sind zur Arbeit
platterdings nicht zu verwenden. Die französische Regierung läßt
deshalb seit einiger Zeit Insulaner von den Neuen Hebriden
holen, welche dann auf eine gewisse Zeit gegen festen Lohn bei
den weißen Kolonisten in Dienste treten. Sie werden beim Feld-
bau, beim Fangen der Holothurien (Tripang) und beim Aus-
pressen des Kokosöls verwandt. Die Colonialverwaltung wacht
darüber, daß sie nach abgelaufenem Termine wieder in ihre Hei-
math zurückgebracht werden.
Erd- und Seeveven in der Südsee. Der Missionair
Georg Turner, der seit etwa einem Vierteljahrhundert auf dem
Archipelagus der Navigatoren (Samoa-Jnseln) verweilt,
beobachtete dort vom September 1866 an mehrere Monate hin-
durch sehr interessante vulcanische Erscheinungen. Er befand sich
auf der Mauna-Gruppe, zu welcher die Eilande To hu und
Olo singa gehören; sein Bericht ist vom 29. November datirt.
— Am 7. September verspürten die Eingeborenen der beiden ge-
nannten Inseln ein Erdbeben, das sich etwa viermal in jeder
Stunde wiederholte. In der Nacht des 9. fanden nicht weniger
als 39 Oseillationen Statt. Die Inseln sind vulcanischer Natur,
aber seit Menschengedenken hatten die Eingeborenen keinen Erd-
stoß erlebt. Am 12. September Nachmittags begann, etwa ändert-
halb Miles von Olo singa und vierthalb Miles von To hu, eine
auffallende Bewegung im Meere, welche den ganzen Tag über
und auch am andern Morgen fortdauerte; bei dieser Eruption,
welche sich am 15. wiederholte und bei welcher in jeder Stunde
etwa 50 einzelne Ausbrüche stattfanden, schlug das Meer hohe
Wellen, als ob es über unterseeische Felsen hinwegbrande. Drei
Tage hintereinander folgten sich die Erplosionen ohne Unterbre-
chung; aus dem Oeeane stiegen dicke Säulen von Schlamm und
vuleanischen Stoffen bis zu 2000 Fuß empor; Staub- und
Rauchwolken verfinsterten die Luft und man konnte von der einen
Insel aus die andere nicht erblicken. Sehr oft wurden Bruch-
stücke von Felsen, die mit glänzender Lava bedeckt waren, in die
Lust geschleudert, aber Flammen wurden gar nicht, einzelne Fun-
ken nur ein paar Mal bemerkt. Das Meer war in einem sort
in heftiger Bewegung und auf einer Strecke von etwa zwei deut-
scheu Meilen wie mit einem phosphorartigen Glanz überzogen.
Eine große Menge von Fischen wurde ans Land geworfen, dar-
unter solche von 6 bis 12 Fuß Länge, von welchen die Insulaner
nie zuvor etwas gesehen hatten. Nach drei Tagen ließen die
Ausbrüche an Heftigkeit nach; am 11. November beobachtete man
nur 3 bis 4 in 12 Stunden und die vuleanischen Massen wur-
den nur etwa 20 bis 30 Fuß emporgeschleudert. Die Stelle die-
ses Seebebens liegt nach Dumont d'Urville's Karte auf 171° 52'
westl. Länge von Paris und 14» 9' füdl. Breite in der Straße,
welche die beiden genannten Inseln von einander trennt.
Vorhersagen von Erdveben. Ein Herr Anquetil, der
aus Birma, wo er mehrere Jahre lang verweilte, jüngst nach
Europa zurückgekehrt ist, bemerkt im Pariser „Monitenr" Fol-
gendes. Alompra, Gründer des birmanischen Reiches (um 1740),
verdankt seine Erhebung auf den Thron dem Umstände, daß er
ein Erdbeben vorher verkündigte; nebenher war er allerdings
auch ein tüchtiger Krieger. In dem Kampfe gegen die Peguaner
war von diesen ein Buddhistenkloster geplündert worden. Alompra
brachte den Mönchen Lebensmittel. Als er von ihnen Abschied
genommen, hörte er ein Geräusch, kehrte sofort um und sagte
dem Tsaya, d. h. Snperior, er möge fammt allen Mönchen gleich
Erdtheilen.
das Kloster verlassen, denn es werde ein Erdbeben kommen.
Bald nachher war das auch der Fall und Alles sank in Trüm-
mer. Bon da an hieß es, Alompra stehe in unmittelbarer Ver-
bindung mit der Gottheit, und als er sich erhob, um das Joch der
Peguaner abzuschütteln, leistete ihm sofort die ganze Priesterschast
Beistand und Vorschub. Als nun Anquetil in der gegenwärtigen
Hauptstadt des Reiches', Mandelay, sich befand, hatte er Gläser
auf einige Bretter gestellt; sobald er ein Geklingel vernahm,
ging er aus dem Hause und fast allemal verspürte man bald
nachher einen Erdstoß. Einst hörte er bei solcher Gelegenheit
einen eigenthümlichen Ton; sein Spaniolhund sprang mit den
Füßen an die Wand und sah in einen Winkel, in dem sich ein
Loch befand. Anquetil suchte nach und faild eine Eidechse, die er
tödtete. Dann dachte er nicht weiter an die Sache. Als er
aber jenen Ton häufiger vernahm und zwar allemal vor einem
Erdbeben, folgerte er, daß jene „singende Eidechse" das Heran-
nahen eines solchen verspüre und dasselbe durch das Geschrei an-
kündige. Diese Vermuthung wurde von den Eingeborenen be-
stätigt. Er meint, daß jenes Thier in Algerien und Westindien
recht wohl eingewöhnt werden könne, ähnlich wie der Gecko aus
Ceylon aus Sieilien, Eorsica, in Spanien und in der Provence
sich aeelimatisirt habe. Die birmanische Eidechse ist ihm zufolge
eine Varietät des Gecko.
Die Dürre in Australien. Sie ist eine wahre Landplage
und legt in vielen Theilen des Continentes der Besiedelung große
Hindernisse in den Weg. Oft hält sie so lange an, daß viele
Gegenden im Innern den nnwirthlichsten Theilen der Sahara
gleichen, aber sobald Regen fällt, gewinnt Alles urplötzlich einen
andern Anblick. Eine in derColonie Queensland erscheinende
Zeitschrift, der „Dalby Herald", bemerkt Folgendes: „Wer die
wunderbare Raschheit des Pflanzenwuchses in tropischen Gegen-
den nicht aus eigener Beobachtung kennt, wird den Wechsel, wel-
chen die Vegetation zwischen Dalby und La Eondamine binnen
einigen Wochen durchgemacht hat, kaum begreifen können. Im
November war Alles eine öde Wüstenei ohne jegliches Grün oder
Wasser; die Userränder der Teiche waren mit gefallenen Ochsen,
Kühen und Pferden bedeckt; Alles war verschmachtet und die Luft
so glühheiß, daß auch eine geringe Körperbewegung schon An-
strengung kostete. Man mußte sich mit dem Schlammwasser eini-
ger Pfützen behelfen und alles Vieh, das nicht gefallen war, bot
mit seiner äußersten Abmagerung einen jammervollen Anblick.
So war es vor einem Monat und heute ist Alles anders. Der
Boden strotzt allerwärts vom üppigsten Grün, Sträucher und
Gräser sind aus diesem glühheißen Boden wie durch Zauberschlag
emporgewachsen, die Bäche sind mit Wasser gefüllt und theilweise
aus den Ufern getreten; die Luft ist geradezu balsamisch, Alles
ist Freude, Hoffnung und Heiterkeit, denn — ,eö hat geregnet!"
Aber die Dürre kehrt periodisch wieder und behaglich kann doch ein
europäischer Mensch in einem solchen Klima sich unmöglich fühlen.
Die Krystallgruven in der brasilianischen Provinz
Goyaz gehören zu den ergiebigsten auf Erden. Die besten
Steine findet man in der Serra de Crystaeö im Municipium von
Santa Lucia; hier ist das Hauptlager, etwa 65 Miles von der
gleichnamigen Ortschaft und 200 Miles von der Stadt Goyaz
entfernt. Dort liegen Krystalle sogar auf der Erdoberfläche; in
15 Fuß Tiefe hat man dergleichen von 64 Pfund Schwere ge-
funden. Sie kommen in sehr verschiedener Färbnng vor: weiß,
purpurfarbig, gelb, milchweiß, goldfarbig, grünlich und manchmal
findet man auch schwarze. Vor ungefähr 30 Jahren wurden diese
Gruben von etwa 200 Leuten bearbeitet, welche in zwei Jahren
an 7000 Tons Kriistalle zu Tage förderten. Als dann in Rio
die Nachfrage schwächer wurde, ließen die Arbeiten nach, bis vor
einigen Jahren der Betrieb wieder aufgenommen wurde. Die
Engländer bezahlen jetzt dort die Arroba (32 Pfund) mit 6 bis
8 deutschen Thalern und machen dann in Europa ein gutes Ge-
fchäft. Bei dem Mangel an guten Wegen muß die Waare auf
dem Rücken von Maulthieren befördert werden und bleibt viele
Wochen lang unterwegs.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
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