,
,
Globus.
Illujkrirte
Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde
mit
besonderer DermKsrchtrHung der Anthropologie und Gtjrnologre.
* > f
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern
herausgegeben von
Karl Andree.
Vierzehnter Band.
H ii 9 «?»
Hraunsrluveig»
Druck und Verlag von Friedrich V i e w e g und Sohn.
1 8 6 8.
Inhaltsverzeichnis
Eisenbahnen im Königreich Sachsen. 233.
Handel zwischen den Hansestädten und Groß-
britannien. 316.
So sprechen die Schwaben. 254.
Erinnerung an Wodan in Mecklenburg.
383.
Schwurringe in Mecklenburg. 333.
Die Bernsteingewinnung an der preußischen
Küste, von Dr. Mehwald. 105.
Reisebilder aus der romanischen Schweiz,
von B. Endrulat. 76. 149.
Cretinismus in der Schweiz. 320.
Die österreichische Staatsschuld. 232.
Die Geistlichkeit in Belgien. 256.
Zur Statistik Großbritanniens. 62.
<L u r o p a.
Zahl der Armen in England. 96.
Die Nitualisten in England. 237.
Aberglauben auf den Orkneys. 287.
Pfahlbauten in Schottland. 127.
Die Kentshöhle in Devonshire. 159.
Die Landes im südwestlichen Frankreich.
373.
Aberglaube in Frankreich. 351.
Volksmenge in Frankreich. 96.
Die Hülfsquellen Spaniens und die Capi-
talien des Auslandes. 286.
Geächtete Menschenclassen in Spanien. 299.
Die wilden Menschen im Hurdesthale in
Spanien, von Chevalier de Vincenti.
329.
Zur Charakteristik Siebenbürgens. 61.
Die Walachen. 318.
An der Wolga. 289.
Die Stadt Kasan. 295.
Mohammedanische Literatur in Rußland.
254.
Die Eisenbahnen in Rußland. 378.
Deutsche Einwanderung in Rußland, von
Rob. Klaußnitzer. 378.
Die deutschen Colonisten an der Wolga.
297.
Tschechencolonien in Rußland. 30.
Im Norden des Kaukasus. 97. 129.
Die Secten der Richtbeter in Rußland. 350.
Die Secten der Schelaputen. 380.
Die Colonisirung von Palästina. 379.
Einblicke in den osmanischen Orient; Schil-
derungen aus Bagdad am Tigris. 53.
79. 106. 180. 279. 342.
Die Verwaltung Britisch - Indiens , von
Emil Schlagintweit. 331. 375.
Fortschritt in Ostindien. 285.
Zur Statistik des britischen Indien. 31.
Schonung der Wälder in Indien. 157.
Erhaltung alter Bauwerke in Indien. 256.
Baumwollenausfuhr. 283.
Dolmenbau bei den Khasias. 157.
Die Engländer auf Ceylon. 158.
Asien.
Die Wirren in Afghanistan. 262.
Am Hofe des Königs Mongkut zu Bangkok
in Siam. Von Robert Schomburgk.
24. 55.
Sladen's Expedition auf dem Jrawaddy.
125. 316.
Die französische Mekong-Expedition. 125.
Missionärwirren in China. 337.
Die katholischen Missionen in China. 64.
Co op er's Ueberlandreise von Hankeu nach
dem bengalischen Meerbusen. 125.
Die österreichische Expedition nach Ostasien.
249.
Aus dem Volksleben der Japaner. 321.
359.
Max Wichura über Japan. 29.
Die ostasiatische Auswanderung, von Karl
Andree. 87.
Neue Einteilung des Kosackengebietes in
Sibirien. 379.
Goldindustrie in Sibirien. 379.
Goldlager am Amur. 379.
Die Ruinen von Dschamkend amJaxartes.
127.
Ein Gesandter aus Kaschgar in St. Peters-
bürg. 379.
Das nächtliche Leben während des Ramadan
in Aegypten, von Gustav Kachel. 213.
Die Hochebene von Barka und die Ruinen
von Cyrene. 191.
Mage's Reise vom Senegal bis an den
obern Niger. I. 33. 65.
Mage's Aufenthalt in Segu am Niger.
225. 257.
Afrika.
Dorf- und Stadtleben in den nordöstlichen
Districten des Caplandes, von Ludwig
Hollaender. 21. 47. 33. III.
Der Racenkampf im nordwestlichen Theile
der Capregion (Natrta und Herero), von
Theoph. Hahn. 203. 245. 279.
Deutsche Missionen in Südwestafrika. 123.
Vom Cap der Guten Hoffnung. 126.
Ein Schneefall in Südafrika. 125.
Die Engläuder in Abyssinien. 30.
Ein Bericht des Dr. Blanc über Abyssi-
nien. 148.
Gerhard Rohlfs in Abyfsinien. 304.
Die christlichen Wunderbauten in Lalibala,
von Gerhard Rohlfs. 364.
Der Suezcanal. 32. 346.
VI
Whymper's Forschungen in Grönland. 190.
Ueberlandweg durch Britisch-Nordamerika.
156.
Eisenbahnen in Nordamerika. 31.
Fortschritte der Pacific-Bahn. 287.
Union-Pacific-Bahn. 190.
Eisenbahnfahrt über die Sierra Nevada. 89.
Goldgräber und Indianer. 194.
Der Krieg mit den Prairie-Jndianern. 161.
Aus Denver City in Colorado. 27.
Das neue Territorium Wyoming. 126.
Das Todte Meer in Californien; der Owens-
See. 349.
Das Posemitethal in Californien. 156.
Quecksilberfund in Californien. 156.
Die Zukunft von San Francisco. 223.
Die Mormonen. 288.
Der alte Mormonentempel zu Nauvoo in
Illinois. 96.
Volksmenge von Chicago in Illinois. 95.
Das Aufblühen von Chicago. 91.
Aus den Urwäldern am Obern See, von
Hermann Credner. 234.
Amerika.
Der Welthandel Neuyorks. 380.
Das Neuyorker Postamt. 62.
Verbrecherstatiftik. 192.
Mordthaten in Neuyork. 255.
Afyl für Trunkenbolde in Neuyork. 383.
Hankee-Humbug. 224.
Amerikanische Kinder. 381.
Die öffentlichen Schulen in den Vereinigten
Staaten. 154.
Verschwendung im Staatshaushalte. 160.
Schuldsumme der Union. 352.
Arbeitercongresse. 223.
Die Auswanderung nach Nordamerika. 288.
Einwanderung in Nordamerika. 192.
Die Deutschen in den Vereinigten Staaten.
123.
Aus Nucatan. 256.
Eine Revolution in Costa Rica. 381.
Eisenbahnprojeet in Costa Rica. 32.
Volksmenge in Guatemala. 96.
Britifch-Westindien und Guyana. 31.
Aus dem Leben der Neger in Britisch-Guyana,
von Ferdinand Appun. 301.
Mittheilungen über Venezuela, von Franz
Engel. Geographisch - ethnographische
Uebersicht. 114. Cultur Verhältnisse. 145.
164.
Der Weg von La Guayra nach Caracas.
334.
Anton Göring's Wanderung von Puerto
Cabello nach dem See von Valencia. 281.
Alfons Stübel in den Llanos von Vene-
zuela am Rio Meta. 348.
Die neue Revolution in Venezuela. 348.
Alfons Stübel's Reise in Neugranada.
218.
Project einer Canalverbindung zwischen dem
Amazonenstrom und dem La Plata. 155.
Zur Statistik Brasiliens. 128. 160.
Die deutschen Ansiedelungen in der Pro-
vinz Rio Grande do sul. 252.
Die Lingua geral in Brasilien. 382.
Finanzen der argentinischen Republik. 95.
Fray Bentos in Uruguay und Liebig's
Fleischextract. 96. 250.
Aus Chile und Peru. 160. 320.
Australien und die Südsee.
Die Fidschi-Jnseln. 30. 220.
Absterben der Sandwichs-Insulaner. 191.
Ein Prophet auf Hawaii. 384.
Vernichtungskrieg gegen die Eingeborenen
auf Neuseeland. 285.
Der australische Tropenwald, von Hermann
Beckler. 311.
Sklaverei in Queensland. 63.
Vertilgung der Eingeborenen inQueensland.
284.
Neusüdwales: Zuckerplantagen 128. Kupfer
192.
Eisenbahn über die blauen Berge. 126.
Victoria: Die Goldfelder 318. Volksmenge
und Eisenbahnen. 96.
Südaustralien: Ungewöhnliche Witterungs-
Verhältnisse. 126. Kobaltgruben. 126.
Quecksilber. 223. Diamanten. 223. 320.
Schulden der australischen Kolonien. 63.
Die Chinesen. 158.
Zur Mission in Australien. 284.
Eingewöhnung ausländischer Thiere. 92.
Ein Lynchgericht, von Richard Oberlän-
der. 210. 241.
Weltverkehr.
Eisenbahnen in Nordamerika. 31.
Bahn über die Sierra Nevada. 89.
Union-Pacific-Bahn. 189.
Eine zweite Eisenbahn durch Nordamerika
zum Stillen Weltmeere. 381.
Fortschritt im Bau der Pacific-Bahn. 286.
Kohlen an der Pacific-Bahn. 384.
Der Ueberlandweg durch Britisch-Amerika.
156.
Jnteroceanische Bahn durch Honduras. 96.
Die Bahn nach Arequipa in Peru. 320.
Die Eisenbahnen in Rußland. 379.
Die Bahn von Poti nach Tiflis. 375.
Eisenbahnen in Indien. 285.
Postbesörderung zwischen Europa und Au-
stralien. 188.
Die französische Compagnie der transatlan-
tischen Dampfer. 286.
Projectirte Canalverbindung zwischen dem
Amazonenstrom und dem La Plata. 96.
Der Suezcanal. 32. 346.
Handel zwischen den Hansestädten und Groß-
britannien. 317.
Rußlands Handel mit Asien. 317.
Der Welthandel von Neuyork. 380.
Baumwollenausfuhr Indiens. 288.
Korallenfischerei im Mittelländischen Meere.
62.
Die Kulieinwanderung auf den Maskare-
nen. 121.
Die Veränderung in der gegenseitigen Stel-
lung der Menschenraeen und die wirth-
schastlichen Verhältnisse, vonKarl A n d r e e.
17.
Einwirkung des Racencharakters auf dieRe-
ligionen und deren Umwandelung, von
Karl Andree. 236.
Zur Kennzeichnung der Civilisation im christ-
lichen Europa, von Karl Andree. 58.
Die Secten im Islam, von Julius Braun.
268. 309. 371.
Geächtete Menschenclassen in Spanien: die
Chuetas und Vaqueros de Alzado. 299.
Jur Völkerkunde.
Die wilden Menschen im Hurdesthale, Spa-
nien, von Chevalier de Vineenti. 320.
Bundesbrüderschaft bei den Südslaven. 191.
Die Bewohner der französischen Landes.
373.
Ein Urtheil über die Walachen. 318.
Deutsche Colonien an der Wolga. 297.
Die Kalmücken und ihre Lebensweise. 98.
Tschuwaschen an der Wolga. 291.
Russische Bärenjäger an der Wolga. 293.
Noyagische Tataren in der kaspisch-persi-
schen Steppe. 99.
Kosacken in Nordkaukasien. 101.
Die Osseten und ihre Dörfer. 136.
Die Kabardiner. 132.
Zigeuner am Kaukasus. 131.
Die Engländer aus Ceylon. 158.
Aus dem Volksleben der Japaner. 321.
354.
Racenkampf zwischen Nama und Herero in
der Capregion, von Theophilus Hahn.
202 sf.
Die Prairie-Jndianer Nordamerikas. 161.
194.
Die Dakotahs (Sioux). 199.
Die Dakotahsprache, von Rudolf Rost. 273.
VII
Blutrache bei den Winnebagos. 158.
Die Chinesen im Territorium Idaho, von
Theodor Kirchhoff. 208.
Die Chinesen in Kalifornien. 192. 284.
Die Neger in Britisch-Guyana, von Ferdi-
nand Appun. 301.
Charakter der Mischlinge in Venezuela. 116.
Vernichtungskrieg gegen die eingeborenen
Neuseeländer. 283.
Vertilgung der Eingeborenen in Queens-
land. 284.
Die Chinesen in Australien. 157.
Ad. Bastian über die Bedeutung der Erd-
künde. 243.
Die Secten der Nichtbeter in Rußland. 350.
Die Secte der Schelaputen in Kleinrußland.
380.
Vermischte Mittheilungen.
Whymper's Forschungen in Grönland.
190.
Hall's Expedition in den Polargegen-
den. 221.
Die Polarexpeditionen der Schwe-
den nach Spitzbergen. 347.
Das neuentdeckte Wrangells-Land.
Eine arktische Controverse von Sophus
Rüge. 12.
Die neuesten Ansichten über die Höhe der Erd-
atmosphäre und über den Himmelsäther,
von H. Birnbaum. 266. 306. 339. 360.
Weshalb ist die Gesammtwürme der Erd-
oberfläche in Sonnennähe kleiner als in
Sonnenferne? Von Heinrich Birn-
bäum. 14.
Die Meeresströmungen. Von Hermann
Klein. 143. 171.
Bernsteingewinnung an der preußischen
Küste, von Dr. Mehwald. 105.
Wirkung der Erdbeben auf das Leben der
Völker. 275.
Die Erdbeben in Südamerika im August
1868. 216.
Die Wellingtonia gigantea. 157.
Arekanuß und Betelblatt als Reizmittel in
Siam, von Robert Schomburgk. 120.
Zur Naturgeschichte der Trappen in der
Walachei, von Dr. Hausmann. 314.
Ein (angeblicher) Marsupialfisch bei Neu-
seeland. 63.
Die naturforschende Gesellschaft Vargasia
in Caracas. 62.
Woher der Name Feiner? 31.
Bedeutung des Wortes Dschengel (Jungle).
128.
'Zankees und Chinesen im Gegensatze. 64.
Eine (fabricirte) Knownothingrede. 319.
Altrussische Charakterzüge. 140. 173.
Zur Charakteristik des russischen Beamten-
Wesens. 352.
Aberglaube auf den Orkaden. 287.
Aberglaube in Frankreich. 351.
Kretinismus in der Schweiz. 320.
Das Ballspiel in Rom. Von Hugo Schu-
chard. 73.
Biographie Robert Schomburgk's. 151.
König Midas im mongolischen Gewände,
von Georg von der Gabelentz. 248.
Thierräthsel bei den Battas auf Sumatra.
32.
Zwei Thierfabeln aus dem Kaukasus, von
Adolf Bastian. 61.
Eid- und Schwurringe bei den arischen Völ-
kern, von L. Lindenschmit. 176.
Schwurringe in Mecklenburg. 383.
Dolmenbau bei den Khasias in Indien.
127.
Pfahlbauten in Schottland. 127.
Die Kentshöhle in Devonshire. 159.
Alte Funde bei Wohlau in Schlesien. 128.
Bronce und Eisen in gleichzeitigem Gebrauch
in China und Japan. 159.
Alte Menschenspuren in Mittelitalien. 287.
Alterthümer des Menschengeschlechts in Nord-
amerika. 253.
Fossilien in Südaustralien. 287.
Erinnerung an Wodan in Mecklenburg. 383.
Ruinen von Dfchankend am Jaxartes. 127.
Neue Landkarten. 350.
Georg Schweinfurth. 29.
Dondard de Lagree 1*. 93.
Sladen. 125. 316.
Cooper. 125.
Max Wichura f. 29.
Robert Schomburgk. 151.
Gerhard Rohlfs. 304.
Le Saint f. 93.
Livingstone. 94. 287.
Dr. Blanc. 148.
Alfons Stübel. 218. 348.
Anton Goering. 281.
Richard Burton. 287.
Hall. 221.
Whymper. 190.
Illustrationen.
Europa.
Ein Nogayer. 97.
Der Nogayer Ale Ale. 97.
Ein Kalmücke. 98.
Ein alter Kalmücke. 98.
Ein Kosack vom Terek. 99.
Wettrennen der Kosacken. 100.
Kosacken beim Brettspiel. 100.
Kosacken schießen nach der Scheibe. 101.
Kosackenschildwache am Terek. 102.
Späherthurm bei einem Kosackenposten. 102.
Griechische Bettler. 103.
Eine russische Telega. 104.
Anblick der Centralgruppe des Kaukasus.
129.
Ein Waffenschmied aus Daghestan. 130.
Zigeuner aus Mosdok. 131.
Zigeunerinnen und Zigeuner. 132.
Ein Kabardiner. 133.
Ein Kabardiner. 134.
Ein Tatar von Piätigorsk. 135.
Kabardiner. 136.
Kabardiner zu Pferde. 136.
Bauer aus der Kabarda. 136.
Waffen der kaukasischen Bergvölker. 137.
Lesghinka, Tanz der kaukasischen Bergbe-
wohner. 138.
Ein Dorf der Osseten, im Winter. 139.
Das Innere einer Wohnung im Kaukasus.
139.
Eine russische Schänke. 290.
Russisches Dorf. 291.
Am alten Stadtgraben in Kasan. 292.
Jsadschi an der Wolga. 293.
Ein Fichtenwald an der Wolga. 294.
Ein russischer Knüppeldamm. 295.
Tschuwaschen von der Wolga. 296.
Ein russisches Bauerkind. 297.
Asien.
Eid- und Schwurringe bei den arischen
Völkern. 177. 178.
Japan. Nippon-Bassi. 322.
Verkäufer von Strohschuhen. 323.
Ein Medusenverkäuser. 323.
Eine Samenhandlung. 324.
Muschelhändler. 325.
Angeklagte im Gefängnisse. 326.
Verhör eines Angeklagten. 326.
Tortur eines Angeklagten. 326.
Die Prügelexecution. 327.
Ein Vatermörder wird zur Kreuzigung ge-
führt. 327.
Eine Hinrichtung mit dem Schwerte. 327.
Eine Bürgerfamilie beim Mittagsessen. 354.
Typus eines Bürgers in Veddo. 356.
Ein berühmter Arzt geht auf Kranken-
besuch. 357.
Eine Buchhandlung in Heddo. 358.
Afrika.
Die Maka-Gnian-Berge am Senegal. 1.
St. Louis, Hauptstadt Senegambiens, Nord-
seite. 2.
Porträts von Schwarzen aus Mage's Be-
gleitung. 3.
Latir Sene, Laptot aus Goräe. 4.
Fort Richard Toll am Senegal. 5.
Fort Bakel am Senegal. 6.
Engschlucht beim Dorfe Natiaga. 7.
Der Katarakt von Guina am Senegal. 8.
Der Affenberg am obern Senegal. 9.
Fort Dagana am Senegal. 10.
Der Mungo-Park-Berg in Bambuk. 10.
Schwarzer Barde in einem Malinkedorf
am Bakhoy. 11.
Ein General des Hadsch Omar in Kun-
dian. 34.
Tanz der Malinkes in Makaddiambugu. 35.
Berge am Bafing, unweit von Firia. 36.
Dorf Niantanso. 37.
Der Berg bei Kita. 38.
Malinkesklaven als Lastträger in Kaarta. 39.
VIII
Der Baobab bei Kurundingkoto. 40.
Tierno Usman, Marabut in Gemukura
(Kaarta). 42.
Dandagura, Häuptling von Farabugu. 43.
Palast des Hadsch Omar in Diangirte. 65.
Kopfputz und Nasenring der Soninkemäd-
chen. 66.
Ein Khasfonkemädchen aus Medina. 67.
riodilis. 68.
Ein Dubabelbaum bei Morubugu. 69.
Palast der Tochter des letzten Königs von
Aamina. 70.
Fahrzeug auf dem Niger. 71.
Ein Soninkemädchen. 72.
Gesichtstypus und Kopfschmuck der Bam-
baras in $amtna. 73.
Samba Ndiaye, Oberingenieur Ahmadu's.
225.
Eingang zu Ahmadu's Palast in Segu. 226.
Ahmadu, König von Segü. 227.
König Ahmadu in einer Rathsversamm-
lung. 228.
Mage's Wohnung in Segu. 229.
Samba Farba, einflußreicher Griot in Segu.
230.
Ein Blick auf Segu von einer Dachterrasse
aus. 231.
Frauen stampfen Hirse. 232.
Haus des Griot Sukutu in Segu. 257.
Junge Fulbemädchen aus der Umgegend
von Segu. 258.
Frauen aus Massina. 259.
Ein Talibe in kriegerischer Rüstung. 260.
Ein Bambara - Soldat Mari's wird zur
Hinrichtung geführt. 261.
Ahmadu's Armee setzt über den Niger. 262.
Das Gemeindehaus der Somonos in Segu.
263.
Ein Talibeknabe geht in in die Schule der
Marabuts. 264.
Grundriß der St.-Georg's-Kirche. 365.
Emanuels-Kirche, Monolith. 366.
Die Marien-Kirche. 367.
Die Aba-Libanos-Kirche. 363.
Amerika.
Häuptlinge der Santes und Ponkahs. 161.
Häuptlinge der Schayennes. 162.
Der „Gefleckte Wolf", ein Schayenne-Häupt-
ling. 163.
Die sieben großen Häuptlinge der Schayen-
nes und Arapahoes im Jahre 1363.
164.
Zelthütten der Sioux. 166.
Verbrennung eines weißen Gefangenen. 167.
Longs Peak, in den Felsengebirgen, Colo-
rado-Territorinm. 193.
Wagenzug auf den Prairien. 194.
Felsbildungen am Monument Creek in Co-
lorado. 195.
Ein Siouxhäuptliug. 196.
Der „Wolf", Häuptling der Hutahs. 197.
Die Grubenortschaft Georgetown in Colo-
rado. 198.
Robert Schomburgk. 151.
Erste r A rtikel.
Plan tcr Reise. — Ausrüstung. — Die Mitglieder der Erpedition. — Instructionen. — Hadsch Omar und dessen Reich am oberu
Niger. — Fahrt auf dem Strome nach Bakel und Medine. — Der Strom zwischen Fein und Guina. — Die verwirrten Zustände in
Khasso, Logo und Natiaga. — Fieberanfall. — Beschwerlichkeiten der Reise durch eine menschenleere Einöde. — Der Wasserfall von
Guina und die dreißig Stromriegel. — Charakter der Landschaft. — Der Affenberg. — Flnßpferde. — Bafulabe und der Bakhoy. —
Der Mungo-Park-Berg. — Ein schwarzer Barde.
Die Reise, welche Capitän Mage im Jahre 1863 von
St. Louis an der Mündung des Senegal nach dem westli-
chen Sudau unternahm, gehört zu den wichtigsten unserer
Zeit. Sie giebt uns nähere Kunde über Gegenden, die bis-
her nur theilweise oder überhaupt noch nicht erforscht worden
waren, und gewährt uns einen Einblick in die merkwürdigen
Völkerbewegnngen, durch welche jener Theil Afrikas,
südlich von der großen Wüste, eine völlige Umgestaltung er-
fahren hat. Wir sehen den Kamps, welchen fanatische Be-
kenner des Mohammedanismus gegen das alte und urwüchsige
Heidenthnm der Schwarzen führen, und wie nach grimmigen
Verheerungen uud Verwüstungen, von denen eine mehr als
hundert Meilen ausgedehnte Strecke heimgesucht wurde, am
oberu Niger neue Staaten oder vielmehr Herrschaften
entstehen, wie das westliche Fnlbereich Massina von einem
Glaubensstreiter über den Hausen geworfen wird, der in der
linken Hand den Koran hält und mit der rechten bald das
Schwert, bald die Brandfackel schwingt. Er selber, der Ton-
conleur Hadsch Omar, scheidet von hinnen, nachdem er
Globus XIV. Nr. 1. (Juli 1868.)
auch Timbuktu bedrohet hat, und drei seiner Söhne folgen
ihm in der Herrschaft. Aufmerksame Leser des „Globus"
erinnern sich, daß wir alle diese Vorgänge ausführlich erzählt
haben. Hier soll, des Verständnisses halber, nur erwähnt
werden, daß der Hadsch Omar zuerst den Versuch wagte, sich
am obern Senegal ein Reich znsammenznerobern. Die
Ausführung eines solchen Planes durften die Franzosen um
keinen Preis gestatten, weil ihnen alsdann der Handelsweg
vom Senegal nach dem Niger versperrt worden wäre; auch
hätten sie an einem solchen Reich einen sehr lästigen Nachbar
gehabt. Deshalb führten sie Krieg gegen den Hadsch und
vertrieben ihn vom Senegal. Was ihm hier mißlungen
war, führte er dann am obern Niger durch; dort wurde er
Gebieter und dort war er den Franzosen nicht mehr gefähr-
lich. Gleich diesen mußte auch ihm daran liegen, den Han-
delsverkehr zwischen den beiderseitigen Gebieten zu befördern,
denn aus einem solchen konnten ihm Vortheile erwachsen, und
deshalb war ein freundschaftlicher Verkehr zwischen den ehe-
maligen Feinden möglich.
Die Maka-Gnian-Berge am Senegal.
Mage's Reise voin Senegal bis an den obern Niger.
2 Mage's Reise vom Seneg
Ueber die Zustände am obern Niger gelangte nur
dann und wann einige Kunde nach St. Louis, und die Nach-
richten lauteten widersprechend; es handelte sich also zunächst
darum, über die Dinge ins Klare zu kommen. Schiffslieute-
nant Mage, der schon früher eine Wanderung nach Tagaut
gemacht und Jahre lang am Senegal und an der Küste ge-
lebt hatte, erbot sich, die beschwerliche und gefährliche Reise
nach dem obern Niger zu wagen. Er hat seine Aufgabe
trefflich gelöst und steht würdig neben seinem Vorgänger-
Mungo Park, an dessen Darstellungsweise manche seiner
Schilderungen erinnern. Mage hat seinen Bericht theils in
der amtlichen „Revue maritime et colouiale", theils in „Le
Tour du Monde" veröffentlicht. Für die Völkerkunde ins-
besondere enthält derselbe viel Neues und Wichtiges, und der
Werth der Mittheilungen wird erhöht durch die vortrefflichen
Illustrationen, durch welche sie an Anschaulichkeit wesentlich
bis an den obern Niger.
gewinnen. Wir werden das Wichtigste aus Mage's Dar-
stellung herausheben und zunächst die Reise vom Senegal
bis zum Niger erzählen; eine zweite Abtheilung, welche wir
nach Verlauf einiger Monate folgen lassen, schildert die Zu-
stände in der Region des obern Niger.
-i-
Die Franzosen hatten in Senegambien an dem Obersten
Faid herbe einen ungemein tüchtigen Gouverneur. Dieser
ausgezeichnete Mann faßte namentlich die Handelsverhält-
nisse ins Auge. Es war feine Absicht, den Verkehr aus dem
iunern Sudan, welcher zum großen Theil durch die drittehalb-
hundert Meilen breite Sahara nach Norden geht, von dieser
Richtung nach dem Senegal hin abzulenken. Es kam ihm
zunächst darauf an, eine Reihe von Handelsstationen
zwischen Medine am Senegal und Bamaku am Niger her-
>st. Collis, Hauptstadt
zustellen. Im Februar 1863 erbot sich Mage, die zwischen
beiden Punkten liegende Region näher zu erforschen. Er ver-
ließ Bordeaux am 25. Juni. Dr. Quintin, Marine-
chirurgus, schloß sich ihm an. „Am 12. Juli landeten wir
in St. Louis und ich ging sofort ans Werk, um die erfor-
derlichen Vorbereitungen zu treffen. Ich hatte fchon fünf
Jahre am Senegal gedient und kannte so ziemlich alle Küsten-
punkte. Nenn Monate lang hatte ich im Innern, zu Mak-
hana am obern Senegal, mittewegs zwischen Bakel und Me-
bitte, unter den Schwarzen verlebt; auch meine Reise nach
der Oase Tagant zu den Duaisch-Mauren hatte beigetragen,
mich leidlich zu acelimatisireu. Ich kannte den Charakter
der Mauren wie der Schwarzen und wußte, wie man mit
ihnen umgehen muß. Ich las noch einmal die Werke von
Rasfenel, Caills, Mungo Park und Barth und studirte alle
vorhandenen Karten. So fand ich, daß man fast gar nichts
felbst über solche Gegenden wußte, welche unseren Besitzungen
zunächst liegen. Für die Strecke oberhalb Medine hatten
Zenegambiens, Nordseite.
wir einige Kunde durch Pascal, der aber nicht weit über
die Wasserfälle von Gnina hinausgekommen war."
Einige Tage vor Mage's Abreise von St. Louis starb
ein Bambara-Neger, welcher die Wanderung hatte mitmachen
wollen. Die Leute sagten: „Schon jetzt einer gestor-
ben?" Mehrere Europäer erboten sich zur Mitreise, Mage
zog es indessen klüglich vor, nur schwarze Männer mitzu-
nehmen, theils Scharfschützen, theils Läptots, d. h. Leute,
welche als Matrosen dienen. Sie wußten alle mit den Was-
fen umzugehen, waren an Gehorsam und Arbeit gewöhnt
und konnten, da sie verschiedenen Völkern der Senegal- und
Obern-Niger-Region angehörten, auch als Dolmetscher nütz-
lich werden.
Mage entwirft ein Bild von seinen Begleitern, die er
auch Photographiren ließ. Bakary Güsye, der ihn früher
auf der Wanderung nach Tagant begleitet hatte, war als
Auffeher auf einem Dampfschiff angestellt; als er von dem
Reifeplan hörte, stell'te er sich sofort ein und erbot sich, für
Mage's Reise vom Senegal bis an den obern Niger.
30 Francs monatlich zu dienen. Er war ein Wolof oder
Yoloff aus Guet N'dar, dem Dorfe, welches in der Nähe
von St. Louis auf einer fandigen Landzunge liegt, hatte
schon zehn Dienstjahre und sich auch einige Zeit in Frankreich
aufgehalten. Er war nur halb und halb Muselmann, sprach
Französisch, Yoloff und Toucouleur; überhaupt ein erprobter
Menfch, mit welchem sich etwas anfangen ließ. Sein Auf-
trag war zunächst, andere geeignete Leute in Vorschlag zu
bringen. Zuerst stellte er seinen Freund Bubakary Gnian
vor, einen Toucouleur. So bezeichnet man die Bewohner
der Landschaft Futa, welche Beimischung von Blut aus den
Adern der Penhls (Fnlbe) haben; sie sind intelligenter als
die eigentlichen Neger, kriegerisch, fanatifche Mohammedaner
und bildeten die Kerntruppen des Hadfch Omar. Bnbakary
Gnian war Bootsmann und trat unter denselben Bedingun-
gen in Dienst, wie sein Freund. Er verstand Französisch,
Toucouleur und Soninke. Die nachfolgenden Leute waren
schon früher im Dienste Mage's gewesen, z. B. Dethiä
N'diaye, ein ©er er; er war ein Leckermaul, sprach Frau-
zösisch, Yoloff und Penhl; dannLatir
Sene, dessen Porträt wir geben, ein
Yoloff aus Dakar, in Goree als Lecker-
maul bekannt, aber auch als recht-
schaffeuer Mensch. Samba Yoro
hatte als Führer eines Stromschiffes
gedient; er war ein Peuhl aus Bondn
und in seiner Jugend drei Jahre in
Frankreich gewesen; intelligent, nn-
ermüdlich bei der Arbeit, tapfer; er
spricht gnt Französisch, war unter-
wegs Hauptdolmetscher. Dann Ali nn
Penda, früher Sklav in Futa, von
wo er nach St. Louis geflüchtet war;
ein vortrefflicher Menfch nnd, obwohl
eifriger Mohammedaner, doch den
Weißen aufrichtig zugethan. Er hatte
sich vor Kurzem verheirathet; unter-
wegs ist er gestorben. Wir übergehen
einige andere Begleiter und nennen
nur noch Mamboye, einen Yoloff
aus Cayor, Sergeanten bei den
Scharfschützen; er war in seiner Ju-
geud von den Trarzas- Mauren ge-
raubt worden, hatte bei ihnen Ära-
bisch gelernt und war ein gnter Soldat.
Das Gefolge des Reisenden bestand
nur aus zehn schwarzen Männern.
Mage hatte einen leichten, vierruderigen Nachen zimmern
lassen; vermittelst desselben wollte er den Senegal oberhalb
Medine besahren, womöglich auch den obern Niger. Das
Boot konnte auf ein Wagengestell und dieses in den Nachen
gesetzt werden, fo daß der Transport weder zu Lande noch zu
Waffer Schwierigkeit hatte. Im Uebrigen war die Aus-
rüstuug dürftig genug. Die franzöfifche Regierung bewilligte
nur 5000 Francs, und von dieser armseligen Summe sollte
Alles bestritten werden. Zwei Maulthiere bekam Mage leih-
weise, ein drittes mußte er kaufen, ebenso zwei erbärmliche
Pferde aus Cayor; das eine kostete 36 und das andere 60
Francs. Der Gouverneur glaubte sich nicht ermächtigt, ihm
dergleichen zur Verfügung zu stellen, weil man am Senegal
der Meinung ist, daß alle Pferde von arabischer Race am
obern Strome dem Klima erliegen. Für den Ankauf mau-
rischer Pferde, die von 500 bis 800 Francs kosten, reichten
Mage's Mittel nicht aus. Für alles noch verfügbare Geld
kaufte er verschiedene Maaren ein, die im Verkehr mit den
Schwarzen ihm bessere Dienste leisten konnten als baare
Latir Sene, Laptot aus Goree.
Münze. Hinterher wurde ihm vom Marineminister noch
ein Credit vou 4000 Francs eröffnet; davon erfuhr er aber
erst etwas, als er sich schon über 100 Meilen weit im In-
nern befand, inBafnlabe, der Ortfchaft, wo der Bafing und
der Bakhoy sich vereinigen. Es war die Absicht des Gon-
Verneurs, von diefem Punkte ans drei Zwifchenstationen zu
errichten, nach Bamaku hin, wo der Niger schiffbar wird.
In der Reiseinstrnction heißt es: „Sie werden versuchen,
die gerade Linie inne zu halten. Auf dieser führt der Weg
zunächst durch das Land der Djawaras; sie sind Serra-
kollets und bewohnen eine Provinz von Kaarta, und dann
durch Fula-Dugu, eine dem Beherrscher von Segn tribnt-
Pflichtige Provinz. Diese Richtung schlug auch Mungo Park
aus feiner zweiten Reife ein, aber während der letztverflossenen
Jahre haben die Karawanen, welche von Bakel am Senegal
nach dem obern Niger ziehen, einen andern Weg genommen,
nämlich nach Norden hin gegen Diangnnte zu, oder nach
Süden hin, am Faleme aufwärts und dann durch Dfchial-
lonkadu. Aber beide Wege sind länger als die gerade Linie.
— —• Vermittelst der Stationen,
welche Niederlagsplätze für den Ver-
kehr und Schutzstätten für die Kara-
wanen fein würden, hätten wir eine
sichere Straße nach dem obern Niger
und damit auch die Aussicht, den
Handel, welchen Marokko nach dem
Sudan in Händen hat, in unser Ge-
biet zu lenken." Der Gouverneur
entwickelt diese Ansicht näherund sagt
weiter: „Ich schicke Sie deshalb an
den Hadsch Omar, der nun Gebieter
eines großen Reiches im centralen
Sudan ist. Er war in der jüngsten
Zeit Gebieter von Kaarta, Segn,
Baknna, Fula-Dugu, Masina; Tim-
buktu war ihm tributpflichtig und zwi-
scheu dieser Stadt und Futa Dschiallon
beherrscht er den Lauf des Niger. Man
behauptet jetzt, daß er gestorben sei,
während Andere wissen wollen, er
sei mächtig und gewaltig in Masina.
Wenn er nicht mehr lebt, so wenden
Sie sich in meinem Namen an sei-
nen Nachfolger, oder falls das Reich
zerstückelt wäre, an die Gebieter der
Landschaften, welche Sie berühren.
Ueber den Erfolg Ihrer Sendung
können Sie mir entweder in Person oder brieflich Auskunft
geben, oder auch, falls die Möglichkeit vorliegt, den Niger
bis zu seiner Mündung hinabfahren, oder endlich durch die
Wüste nach Algier, Tripolis oder Marokko gehen. Auf
Ihrer frühern Wanderung durch Tagaut haben Sie Be-
weife von Umsicht und Muth gegeben nnd Erfahrungen ge-
sammelt."
Schon zwei Monate vor Mage's Abreise hatte der Ge-
neral Faidherbe zwei schwarze Eilboten aus dem Wege durch
Kaarta nach Segn geschickt mit einer Depesche an den Hadsch
Omar, „den Fürsten der Gläubigen, Sultan des centralen
Sudan". Es heißt in derselben: „Dieses Schreiben soll
Dir ankündigen, daß ich gleich nach der Regenzeit einen mei-
ner Offiziere an Dich abfertigen werde, was Du ja früher
gewünfcht hast. Derselbe ist eiu ausgezeichneter Mann, be-
sitzt mein volles Vertrauen und wird mit Dir über Ange-
legenheiten verhandeln, die uns interessiren. Namentlich wird
er Dir wichtige Vorschläge in Betreff des Handelsverkehrs
machen; durch einen folchen würden Dir beträchtliche Ein-
Mage's Reise vom Seneg
fünfte zufallen" ic. Dieser Brief ist batirt: St. Louis,
30. Juli 1863.
Am 12. October des genannten Jahres bestieg Mage
die Kanonierschaluppe „Conleuvriue". Er besuchte die der-
schiedenen Posten am linken Ufer des Senegal, namentlich
Richard Toll, Dagana, Podor und mehrere andere, war
aber schon am 19. bei dem wichtigen Fort Bakel, das er
am 26. verließ, nachdem Gouverneur Faidherbe ihm dort
mündlich noch einige weitere Instructionen gegeben hatte.
Mage kaufte uoch ein Pferd, das zwar 248 Francs kostete,
aber trotzdem nicht viel Werth war. Auch schaffte er zwölf
Esel au und belud sie mit 800 Rationen für seine Schwar-
zen, einem Centner Pulver, 600 Patronen, wissenschaftlichen
Instrumenten, Arzneien und verschiedenen Maaren. Von die-
fen schickte er einen beträchtlichen Theil zu Wasser nach Me-
dine, das er am 30. October erreichte.
Von nun an begannen die Beschwerlichkeiten der Reise.
bis an den obern Niger. 5
Man mußte viele Neben- und Zuflüsse des Senegal über-
schreiten; es war ein Glück, daß Mage das oben erwähnte
tragbare Boot bei sich hatte. Aber es fehlte nicht viel, so
wäre es mit der ganzen Reife gleich anfangs zu Ende ge-
weseu. Bei Kotere, einem Dorf in Kamera, war der
Weg versperrt. Vor der Ernte pflegen nämlich die Bauern
ihre Lug aus, d. h. Gartenfelder, gegen Eindringen des Viehes
dadurch zu schützen, daß sie alle Zugänge durch aufgehäuftes
Dornenreifig unwegsam machen. „Meine Leute wollten sich
nun einen Weg bahnen uud warfen dabei eine alte Frau,
die das nicht leiden wollte, unsanft zu Boden. Sie schrie
laut, das ganze Dorf gerieth in Aufruhr, und die Männer,
welche mit Knütteln herbeieilten, nahmen meinen Leuteu die
Gewehre weg. Es war weder mir noch dem Dorfschulzen
möglich, Ordnung zu schaffen. Ich selber wurde mit einem
Dolchstiche bedroht und mehrmals niedergeworfen. Unter
diesen Umständen mußte ich alle meine Kaltblütigkeit auf-
Fort Richard T
bieten, und insbesondere meinen Leuten anbefehlen, nicht zu
feueru. Die Bauern aber — es wärmt Serracollets von
der Soninkerace — luden ihre Gewehre und ich mußte das
Schlimmste befürchten. Da wurde ich zum Glück von Eini-
gen erkannt, die 1859 und 1860 auf der „Couleuvriue",
die ich damals befehligte, gedient hatten. Sie schlössen sich
mir und dem Schulzen an und drängten die hitzigen jungen
Männer zurück, während der treue Bakary Gneye meine Leute
um sich fchaarte. Wir fingen unsere Thiere ein, welche sich
in dem Garten gütlich thun wollten, und ich ging dann mit
Dr. Quiutiu und einem Dolmetscher ins Dorf, um die er-
forderliche Aufklärung zu gebe«. Man stellte mir auch ohue
Widerrede die Flinten zurück, und es war im Grunde weiter
lein Schaden angerichtet, als daß mir das Glas meines
Chronometers zerbrochen war. Ich konnte ihn von nnn an
bloß als Secundeuzeiger benutzen."
In Medine beschaffte Mage noch allerlei Vorräthe und
erforschte dann den Senegal oberhalb der Katarakten von
ll am Senegal.
Feln. Das Boot wurde auf dem Wagengestell um die Waf-
ferfälle herumgefahren. Der Senegal ist aus der Strecke
zwischen den Katarakten von Felu und jenen von Guina im
Jahre 1859 vom Marinelieutenant Pascal erforscht wor-
deu. (— Ueber diese Reise enthält der „Globus" I, S.
17 ff. einen Bericht und zugleich eine Illustration der Was-
sersälle von Felu. —) Vor Pascal, der damals uach Bam-
buk ging, war Broffard de Corbigny 1858 während der
Regenzeit zu Lande bis Bagn-Kho, Mage selber 1860 gleich-
falls zu Lande, aber in der trockenen Jahreszeit, bis nach Guina
gekommen. Jetzt konnte er fünf Tage auf die Erforschung
der verschiedenen Fälle, Stromschnellen und Felsenleisten ver-
wenden und eine genaue Karte des Stromlaufes zwischen Guina
nnd Mediue entwerfen. Von dem letztgenannten Punkte aus,
wohin Mage zurückgekehrt war, erfolgte der definitive Auf-
bruch am 25. November 1863.
Man hat nanientlich zu Anfang einer solchen Landreise
die allergrößte Roth mit den Schwarzen, weil sie keinen Be-
G Mage's Reise vom Seneg
griff von Ordnung haben und nicht thnn, was man ihnen
fagt, oder doch die Befehle schlecht und nachlässig ausführen.
Gewöhnlich fallen unterwegs Ladungen von den Eseln her-
unter und man muß die ganze Karawane halten lassen; dar-
über geht dann manche Stunde verloren. Nach und nach
macht es sich erträglicher, die Thiere werden weniger miß-
handelt und manchmal geht tagelang hinter einander Alles
gut. Ohne übermenschliche Geduld und unerschütterliche Ruhe
kann man gar nichts anfangen, und in das Gezänk und die
gelegentlichen Prügeleien muß mau sich um keinen Preis ein-
mischen. „In der ersten Zeit war es mir unmöglich, mei-
nen Gleichmuth zu bewahren und ich verspürte die Folgen."
„Als ich," sagt Mage, „Medine (den am weitesten land-
einwärts vorgeschobenen Posten am Senegal) verließ, hatte
Sambala, König von Khasso, eine kleine Armee ausge-
schickt, es wurde aber geheim gehalten, wohin dieselbe gehen
sollte. Das ist so Brauch bei den Schwarzen. Ich wünschte
bis an den obern Niger.
jedoch darüber ins Klare zu kommen und wandte mich an
Diugu Sambala, einen Vetter des Königs, der ansangs
von nichts wissen wollte, mir aber am Ende doch mittheilte,
daß es sich um einen Zug gegen Dentilia handle. Frei-
lich konnte ich nicht wissen, ob er mir die Wahrheit gesagt
hatte, aber ich glaubte ihm und traf demgemäß meine Maß-
regeln. Sambala hatte nach Medine alle Häuptlinge rufen
lassen, die ihm als seine Verbündeten Hülfstruppen stellen
sollten. Unter diesen befanden sich Altiney Sega, Haupt-
liug von Natiaga, und Nyamodo, Häuptling von Logo.
Beide Landschaften sind Provinzen von Khasso, ihre Einwoh-
ner Khassonkes, und Sambala führte den Titel König von
Khasso, obwohl ihm nicht alle Provinzen gehorchten. Die
französische Regierung sah in ihm eiueu Verbündeten und
gab sich deshalb alle Mühe, seine Autorität zu verstärken;
er hat sich aber dafür keineswegs erkenntlich bewiesen. Die
Dinge standen nun so, daß Nyamodo von Logo wohl Sam-
Fort Bakel
bala's Vasall war, aber keinen Tribut zahlte und sein N esi-
denzdorf Sabufire möglichst stark befestigte, um uöthigen-
falls Widerstand leisten zu können. Altiney Sega seinerseits
hatte sich dem Hadsch Omar, als derselbe weit und breit das
Land verheerte, klüglich unterworfen, mit ihm gemeinschast-
liche Sache gemacht und den damaligen Häuptling von Na-
tiaga, Semuuu, vertrieben. Er folgte dem Propheten bis an
den obern Niger, nach Segu, verließ ihn aber dort. Er be-
griff, daß die Franzosen Herren am Senegal seien und des-
wegen bat er den Commandanten zu Medine, sich im Dorfe
Natiaga niederlassen zu dürfen. Nachher bauete er in einer
Schlucht, die als ein wahres Thermopylä betrachtet werden
kann, das Torf Tinke. Als er in Medine, auf Sambala's
Ruf, sich eingefunden hatte, bat er mich, ihn in Natiaga zn
besuchen, und der Gouverneur ließ ihu mit Auszeichnung be-
handeln, weil er annahm, daß dieser Häuptling meinen
Zwecken förderlich sein könnte. Ich hielt ihn für einen ge-
Hennen Agenten des Hadsch Omar und besuchte ihn in Na-
ti Senegal.
tiaga. Er hatte sich krank melden lassen, um mich nicht zu
empfangen, ich drang aber mit Gewalt iu feilte Hütte und
er mußte mich anhören. In nachdrücklicher Weise gab ich
ihm den Rath, mit seinen Nachbaren in Frieden und Ein-
tracht zu leben und die in Ruinen liegenden Dörfer wieder
aufzubauen, namentlich Usalla, das eine herrliche Lage am
Flusse hat. Natürlich versprach er, damit gleich am nächsten
Morgen den Anfang zu machen. Als ich aber einen Führer
nach Bafnlabe verlangte, erklärte er, kein Mensch wisse den
Weg dorthin, weil derselbe seit fast zehn Jahren verödet sei;
trotzdem schickte er am andern Tage einen seiner Khassonkes.
Ich schenkte ihm nämlich beim Abschied eine mit Goldfäden
besetzte Sammetkappe und diese hatte ihn für den Augenblick
günstig gestimmt. Die Schwarzen sind eitel über alle Be-
griffe."
„An jenem Abende bestieg ich mehrere Anhöhen; von
einer derselben hatte ich eine herrliche Aussicht. Bis nach
Dingira hin überblickte ich die Krümmungen des Stromes,
Mage's Reise vom Seueg
und die Wasserfälle und Stromschnellen schimmerten im Sil-
berglanze, während die Berge von Natiaga einen majestäti-
schen Anblick gewährten. Unter mir war unser Lagerplatz;
zur Rechten lagen die majestätischen Berge von Mala-
Gnian; das Ganze hatte etwas Feenhaftes. Der Boden
ist unglaublich fruchtbar, Wasser in Fülle vorhanden, und in
den Flüssen wimmelt es von Fischen. Auch fehlt es weder
an Gold noch an Eisen; die Stromschnellen bieten Wasser-
kraft in beliebiger Menge dar. Aber die Menschen wissen
mit allen diesen Schätzen nichts anzufangen, sie haben nicht
einmal angemessene Kleidung; die Frauen gehen halbnackt,
die Wohnungen sind armselig, die Hansgeräthschaften und
Ackerwerkzeuge dürftig, und mit dem Schmieden und dem
Weben ist es kläglich bestellt. Und doch find diese Leute, wie
überhaupt alle Stämme am Senegal, seit zweihundert Iah-
ren in mehr oder weniger Berührung mit den Europäern
gewesen; aber was sie an Kraft und Einsicht etwa besitzen, das
bis an den obern Niger. 7
wenden sie zum Bösen an, zu Krieg und Raubzügen, wäh-
rend sie keinerlei Fortschritt sich angeeignet haben. Erdman-
deln sind hier in Fülle vorhanden. Für 4 Ellen blauen
Baumwollenzenges, sogenannter Gninee, die einen Geldwerth
von etwa 18 Silbergroschen hatten, bekam ich einen Centner
Erdmandeln, welcher in St. Louis mit 10 bis 12 Francs
bezahlt wird."
Von Medine bis nach Mansola geht der Weg an dem
durch keine Hindernisse versperrten Flusse hin bis Ding ira;
oberhalb dieses Punktes folgt dann eine Stromschnelle und eine
Felsenleiste nach der andern. Mage mußte sich durch hohes
Gras und Gestrüpp und über Felsen Bahn brechen; flüch-
tige Antilopen und Perlhühner kamen häufig in Sicht. Auf
jedem Baume saßen Papageyen, die eine wahre Plage für
die Felder sind; aus jedem Felsen bellte oder grimassirte ein
grauer Asse oder ein Pavian. Hier hatte Mage einen hef-
tigen Fieberanfall; während die Hitze erdrückend war, schüt-
Engschlucht beim
telte ihn der Frost, plagte ihn ein nicht zu stillender Durst;
er sank betäubt dreimal vom Pferde. „Wer kein Senegal-
fieber gehabt hat, kann auch uicht ermessen, was ich damals
litt; und in einem solchen Zustande niußte ich durch den
Bagukhofluß reiten, der damals gerade zu Passiren war. Am
andern Ufer ruhete ich aus und das Fieber ließ nach. Abends
schlug ich mein Lager ein paar hundert Schritte oberhalb der
Katarakte von Gnina auf und ließ am andern Tage
mein Boot aus Bangannra auf dem Wagengestell herbei-
schaffen. Bald schwamm es dann auf einer Strecke, wo
man nie vorher ein europäisches Fahrzeug gesehen hatte und
wo auch wohl schwerlich sobald wieder ein solches schwimmen
wird. Es ging so weit Alles ganz leidlich, bis auf meine
Gesundheit; aber ich war des Fiebers wegen nicht ängstlich,
uahm Abführmittel, und der dritte Anfall war bereits schwach;
das l.uinin hatte sich als Heilmittel bewährt. Ich war
übrigens noch sehr schwach und bedurfte der Ruhe. Die
Rasttage benutzte ich, um die Flnßkarte zu entwerfen, Briefe
Dorfe Natiaga.
zu schreiben und die Lage von Gnina zu bestimmen. Ich
fand 14 Grad 0 Minuten 45 Secnnden nördlicher Breite
und nach Schätzung 13" 30' 14" westlicher Länge von Paris."
Einige Offiziere, welche die Expedition von Medine aus
bis zu den Wasserfällen begleitet hatten, machten mit Dr.
Quintin eine Untersuchungsfahrt stroman, während Mage
zurückblieb, um sich einigermaßen zu erholen. Sie kamen
über drei kleine Stromschnellen hinweg, gelangten aber etwas
weiter hin an einen wahren Katarakt und mußten umkehren.
Das war an derselben Stelle, wo 1859 Pascal gleichfalls
nicht weiter kommen konnte; damals stand dort das nun zer-
störte Dorf Fukara. Mage aber war entschlossen, um
jeden Preis den Stromlauf des Senegal bis Bafnlabe hin-
auf zu erforschen, obwohl er jetzt ohne Führer war und die
vor ihm liegende Gegend nicht kannte. Waren überhaupt
Wohnplätze vorhanden, und wenn es dergleichen gab, welchem
Stamme gehörten die Leute au, und welcher Aufnahme hat-
ten die beiden Europäer sich zu gewärtigen?
Der Katarakt von
potamen, deren dumpfes Schnaufen wir die ganze Nacht
hindurch vernahmen. Diefe gewaltigen Monstra waren dort
wohl nie znvor beunruhigt worden, sie beherrschten das Was-
ser; jetzt aber waren sie grimmig, weil wir lernt schrien, mit
den Rudern schlugen und einige auch durch Schüsse verwun-
deten. Wir rasteten gewöhnlich auf feinem Sand an solchen
Stelleu, wo die Flußpferde Nachts ans Land auf die Weide
zu gehen Pflegen; dort fanden auch unsere Thiere gutes Fnt-
ter. Kam nun ein Hippopotamns an einen solchen Platz,
so sah es dort unser Lagerfeuer, grunzte, tauchte unter und
kam wieder mit dem Kopfe zum Vorschein und schnanste.
Aus der Ferne hörten wir das Geschrei der Hyäne und das
Brüllen des Löwen. Ruhiger Schlaf war nicht möglich und
ich machte mir gerade bei Nacht große Sorgen. Meine
Schwarzen hatten bis jetzt noch keine eigentlichen Beschwer-
lichkeiten und Entbehrungen erfahren; aber fortan wurde das
ganze Leben ein anderes, ich mußte ihnen nothwendig schwere
Arbeiten auferlegen, und jetzt schon war viel Hader und Streit
uina am Senegal.
unter ihnen. Mit Freuden bemerkte ich jedoch, daß Dr. Qnin-
tin mit großer Ruhe und Umsicht zu Werke ging. Er schlief,
gleich mir, mit dem Revolver in der Hand."
Der Reisende schildert dann die in der That ungeheuren
Beschwerden und Schwierigkeiten des weitern Vordringens
ans und an dem Strome, und wie eine Felsenleiste, eine
Stromschnelle der andern folgte. Die Leute fpraugeu ins
Wasser, um das Boot hinüberzuziehen, und benahmen sich
dabei vortrefflich. Sie begriffen, wie viel für ihre eigene
Sicherheit darauf ankam, daß jeder Befehl genau ausgeführt
wurde, denn eine falsche Bewegung konnte verhängnißvoll
werden. Manchmal mußte man das Boot ausladen und zu
Lande um solche Stellen herumschaffen, die gar nicht zu Pas-
streu waren. „Der Senegal hatte in jener Gegend eine
Breite von 450 bis 600 Fuß, uud die Berge traten jetzt
näher an den Strom hinan. Ganz auffallend war eine An-
höhe , welche in einer Menge von Terrassen bis ins Wasser
reichte. Sowohl das schwarze uud röthliche Gestein, wie jeder
8 Mage's Reise vom Seneo
„Am 1. December 1863 verließ ich den Wasserfall
von Guina, und von nun an lag eine unbekannte
Einöde vor mir. Von Bangannra an bis eine Tagereise
überBafnlabe hinaus war das Land menschenleer; das wußte
ich. Dr. Quintin und ich waren nun auf uns allein ange-
wiesen, denn mit unseren Schwarzen konnte begreiflicherweise
ein Ideenaustausch oder vertraulicher Verkehr nicht stattfin-
den. Ich lud einen Theil meiner Lebensmittel ins Boot,
namentlich ausgezeichnete Melonen, welche die Neger von
Tamba Cumba Fara mir gegen etwas Pulver verkauft hat-
ten. Während Dr. Quintin mit Samba Äjoro und fünf
anderen Schwarzen und mit unseren Thieren sich am Lande
einen Weg bahnte, versuchte ich auf dem Wasser bis an den
oben erwähnten Fall zu gelangen. Die Karawane bestand
jetzt ans uns beiden Europäern, 10 Arbeitern, 2 Manlthie-
ren, 3 Pferden, 14 Eseln und 5 Ochsen, von denen einer
beladen war. Vier Mann handhabten das Boot, es lag
bis an den obern Niger.
also den übrigen sechs Leuten ob, alle diese Thiere zu führen
uud zu besorgen: Gewöhnlich banden wir Maulthiere und
Pferde so zusammen, daß eins hinter dem andern ging; ein
Mann trieb die Ochsen und die Esel wurden von den noch
übrigen geleitet. Nun ging es manchmal durch ausgetrock-
uete Flußbetten und nicht selten fiel von dem einen oder an-
dern Thiere eine Ladung herab, namentlich wenn wir uns
in solch einem „Marigot" befanden. Zumeist hatten wir
uns einen Weg durch zehn bis zwölf Fuß hohes Gras zu
bahnen oder durch Dickichte stacheliger Mimosen, in welchen
Kleider und Haut zerfetzt wurden. Man wird begreifen,
daß wir unter solchen Umstünden nur langsam vorwärts
kamen. Oftmals lagen auch Schluchten vor uns und wir
mußten dann umkehren, um einen andern Weg zu suchen."
„Am 1. December hatten wir bei unserm Lagerplatz am
linken Ufer des Senegal mächtige Feuer angezündet, um die
wilden Thiere fern zu halten, insbesondere auch die Hippo-
Mage's Reise vom Seneg
Baum war mit Affen buchstäblich und in solcher Menge
bedeckt, daß diese Thiere einander förmlich drängten. War
das ein Brüllen und Springen, als wir ihnen nahe kamen!
Es liegt nicht die mindeste Übertreibung darin, wenn ich be-
Haupte, daß auf jenem Terrassenberge, dem Hauptquartiere
der Affen, mindestens 6000 Kynokephalen beisammen waren!
Hinter jener Anhöhe mußten wir durch einen Marigot, der
große Schwierigkeiten darbot. Abends steckten wir das Gras
m Brand, um andern Tages einen freien Weg vor uns zu
haben. Aber die Ochsen hatten sich verlaufen, und wir muß-
ten sie nun in dem zwölf Fuß hohen Gras aufsuchen; das
Boot war auch noch nicht da und meine Sorge war groß.
Da hörte ich gegen sieben Uhr Abends aus der Ferne den
Gesang der Laptots und bald nachher waren sie bei uns.
Unterwegs war das Boot vou Hippopotameu buchstäblich
umzingelt gewesen; man konnte sie mit den Rudern schlagen
und mußte sich manchmal ihrer durch Flintenschüsse erwehren.
bis an den obern Niger. 9
Ich bin sehr oft von ihnen verfolgt worden, aber einen eigent-
lichen Angriff haben sie nie gemacht. Am 4. December, nach
einer kalten und sehr feuchten Nacht, war der Weg ganz ent-
fetzlich; die Pfade, welche einst zu den längst in Ruinen lie-
genden Dörfern führten, waren mit Dorngestrüpp überwach-
fen, gegen welches wir durch Feuer nur wenig ausrichten
konnten. In der Nähe des Affenberges, um welchen wir
herum mußten, bemerkte ich in einem Marigot ganz frische
Spuren vou einem Löwen; als ich der Anhöhe näher kam,
erhoben die Affen ein unbeschreibliches Gebell und Geheul.
Das ärgerte mich, ich war in Folge der ungeheuren Anstren-
gnngen gereizt und übler Laune nnd feuerte in eine Gruppe
hinein. Ein Affe fiel; im Nu stürzten sich andere über ihn
her, trugen ihn fort und die übrigen verschwanden. Der
Berg war verödet."
„Weiter aufwärts hatten wir ein eigenthümliches Schau-
spiel. Eine Schaar von Flußpferden ging in seichtem Wasser.
Der Affenberg a
Als wir näher kamen, stürzten sich die alten in tiefes Wasser;
einem jungen, das seiner Mutter folgen wollte, schoß ich drei
Kugeln in den Kopf. Trotzdem kam es der Alten nahe,
war aber bald erschöpft, wurde vom Strome getrieben und
fiel den Katarakt hinab. Ich werde diesen Vorfall nie ver-
gefsen; die Mutter erhob sich mit dem halben Leib über das
Wasser, schoß hinter dem Jungen her und stürzte ihm in den
Abgrund nach. In dieser Hingebung einer Mutter lag fo
viel Rührendes und Ergreifendes, daß ich mich tief bewegt
fühlte. Das war auch bei meinen Laptots der Fall, sie
machten sich aber trotzdem gleich ans Werk, um die beiden
Hippopotamen aufzusuchen und dann vom Fleische derselben
ein leckeres Mahl zu bereiten; ihre Mühe war übrigens ver-
geblich. Ich meinerseits habe am Senegal niemals von sol-
chem Fleische gekostet, aber am Cazamance aß ich einmal
davon. Es schmeckte wie Rindfleisch, die Faser ist jedoch
gröber. Es giebt eine nahrhafte Speise ab; das Fett kann
ich nicht loben, weil der Geschmack etwas ranzig ist."
Globus XIV. Nr. l. (Juli 1868.)
obern Senegal.
„Oberhalb jenes Katarakts fand das Boot auf einer
Strecke von etwa sechs Lieues keiu Hiuderuiß. Der Strom
war zwischen steilen Ufermauern zusammengedrängt; aus
allen Spalten drang Wasser hervor, das da und dort kleine
Cascaden bildete. An den trockenen Stellen bemerkte ich
wilde Tauben, grau mit rothen Augen, in geradezu nnge-
Hemer Menge; auch viele Wasserhühner und große graue
Ratten sahen wir. Am 6. und 7. December mußten wir
unter ungemeinen Anstrengungen eine Anzahl von Strom-
schnellen überwinden, welche ich als Stromriegel (Barra-
ges) von Malambele bezeichnen will, nach einem Dorfe,
welches hier einst gestanden hat. Am 7. schrieb ich in mein
Tagebuch: Wir haben große Beschwerlichkeiten. Ein Kro-
kodil hat den Versuch gemacht, einen Ochsen an der Tränke
zu erschnappen. Seit Gnina haben wir kein Krokodil ge-
sehen; sollten wir hier ein Anzeichen haben, daß die Hinder-
nisse im Strome vorüber und daß wir endlich in die Nähe
von Bafulabe gekommen sind? — Diese Hoffnung wurde
2
10
Mage's Reise vom Senegal bis an den obern Niger.
nicht bestätigt; wir hatten noch drei Felsenleisten zn über-
winden."
„Endlich, am 9. December, als ich mit dem Boote die
letzte Barrage überwunden hatte, sah ich, daß der Strom
sich in zwei Arme theilte. Da war also die Vereinigung
des Bakhoy mit dem Basing, dem andern Arme des
Senegal, und hier war die Stätte von Bafulabe! Ich
legte an und ging aus einem Hippopotamnspsade etwas land-
ein, um mir die "Gegend zu betrachten. Es war aber die
höchste Zeit, daß wir diesen Punkt erreichten, denn die Dinge
standen nicht gut und die Schwarzen bedurften sehr der Er-
muthigung. Es war eine große Reizbarkeit in sie gekernt-
men; namentlich konnten Samba Aoro, mein Flußcapitän,
und Bakary Gneye, mein Vertrauensmann, sich nicht mit
einander vertragen, und ich mußte einschreiten, damit sie nicht
handgemein wurden. Ein anderer tüchtiger Mann, Namens
Barra, war in ein Stromloch gefallen und hatte sich an einem
scharfen Steine das Bein schwer verwundet. Mein Sergeant
Mamboye, der namentlich bei den Arbeiten am Laude treff-
liche Dienste leistete, hatte Fieberanfälle, und unter den Uebri-
Fort Dagi
gen war auch kein einziger, dessen Füße nicht durch dasDor-
nengestrüpp gelitten hätten."
„Am 10. December stand ich am Senegal, unweit der
Mündung des Bakhoy. Das Boot kam näher, ich ging auf
dasselbe zn, gelangte aber in ein wahres Labyrinth von Dor-
nen, in welchem ich Stücke von Rock, Hosen nnd Haut preis-
geben mußte. Als ich mich endlich mit Mühe und unter
Schmerzen hindurchgearbeitet hatte, verlor ich mich fast in hohem
Grase. Dort hätte ich gern aus zwei prächtige Antilopen
Feuer gegeben, dämpfte aber sofort meine Waidmannslust,
i am Senegal.
weil ich in unmittelbarer Nähe einen Löwen brüllen hörte.
Mein Maulthier riß mit mir aus, ich kam aber doch an die
Stelle, wo das Boot lag; eine halbe Stunde später fanden
sich auch Dr. Quintin und Barra ein, und wir hatten schon
Gestrüpp und Gras niedergehauen, um freien Platz für eine
Lagerstätte zu gewinnen, als auch die übrige Mannschaft an-
langte. Am folgenden Tage rasteten wir, trockneten Fleisch
in der Sonne und brachten das Gepäck wieder in Ordnung.
In der Umgegend deuteten allerlei Spuren au, daß sich dort
Leute umhertrieben; deshalb mußten wir aus unserer Hut
kjRl
Der Mungo-Park-Berg in Bambuk.
sein, nnd ich ließ um das Lager Dorum in solcher Weise
aufhäufen, daß wir int Nothsalle geschützt waren und jedem
Angreifer erfolgreichen Widerstand leisten konnten."
„Ich schickte am 12. December Wa und Sidi aus, um zu
erkunde», ob etwa in der Umgegend ein Dors sei. Der letztge-
nannte war ein Khafsonke, also in seinem Vaterlande, und
konnte mit den Einwohnern reden. Er hatte den Auftrag, ihnen
recht nachdrücklich zu Gemüthe zu führen, daß ich in durch-
aus friedlicher Absicht käme, das Land kennen lernen und wo
möglich Handel treiben wolle; übrigens seien wir alle so wohl
bewaffnet, daß wir jeden Angriff zurückschlagen könnten."
„Während nun meine beiden Sendboten nach einem Dorfe
suchten, ruhete ich iu Basulabe aus, uicht ohne ein Gefühl
von Befriedigung. Wir hatten eine bisher unbekannte Strom-
nnd Landstrecke erforscht, etwa 40 Limes, und nicht weniger
als 30 Stromschnellen und Katarakten, theils zu Lande, theils
zu Wasser, glücklich, obwohl mit vielen Anstrengungen über-
wunden."
„Nach den von mir eingezogenen Erkundigungen mußte
der directe Weg von Bafnlabe zum Niger am Bakhoy auf-
wärts gehen. Dieser ergießt sein weißes Wasser (ba —
Wasser; khoy — weiß) in den klaren Bafing (fing —
Mage's Reise vom Seneg
blau oder schwarz, dunkel); daher die Bezeichnung Bafu-
labe, d. h. die beiden Flüsse."
Mage fuhr in seinem Boote bis Makadngn, einem
Weiler aus einer Insel im Bakhoy; ein größeres Dorf, das
Kalo heißt, liegt gegenüber aus dem linken Ufer. Nun war
er in der Landschaft Bambuk. In der bisher dnrchwan-
derten Landschaft Khasso wohnten Peuhls mit Malinkes ge-
bis an dm obern Niger. 11
mischt; und so verhält es sich auch in Natiaga und Logo.
Jetzt war er unter reinen Malinkes. Pascal, der 1859
bei ihnen gewesen war, fand keine Ursache, sie zu loben, eben-
sowenig etwa dreißig Jahre früher Major Gray. Mage
wurde seinerseits vom Dorfhäuptlinge Diadieh recht gut
ausgenommen und nach Landesbrauch beim Schmied ein-
quartiert. Den Vater dieses Häuptlings hat Mungo Park
Schwarzer Barde in einem Malinkedorf am Bakhoy.
besucht, als er von Walibe kam. Man zeigte dem Reisen-
den eine Anhöhe, welche der Schotte bestiegen hatte. Auch
Mage erklomm diesen Berg, der gleich allen übrigen jener
Gegend sehr steile Abfälle hat; auf dem Gipfel liegt eine
wohlbewachsene Hochebene, und man konnte von dort sehr
gut den Bakhoy verfolgen, der aus Südsüdost kommt und
dann zwischen zwei nicht eben hohen Hügelketten verschwindet.
In den Dörfern der Malinke pflegt Abends der Griot,
der Barde der Neger, zu fpielen und zu singen, und Mage
hatte oft Gelegenheit, einen folchen Troubadour zu hören,
z. B. in Niantanfo. Der Mann war höchlich erstaunt, als
er fich porträtirt fah. Unser Bild zeigt, daß es sich hier um
eine wahre Charakterfigur handelt.
2*
12
Sophus Rüge: Das neuentdeckte Wrangells-Land.
Das neuentdeckte
Eine arktische Controverse.
Bekanntlich gelangte im vorigen Winter nach Europa die
Kunde, es sei nördlich von Sibirien die gebirgige Küste
eines neuen Landes im Eismeere gesehen worden. Die
in San Francisco erscheinende „Alta California", das
„Nantical Magazine", der „Moniteur umversel" und an-
bere Zeitschriften brachten den Bericht des Entdeckers, des
nordamerikanischen Walfischsängers Capitän Long.
Bon derBeringstraße kommend sah er unter 70°46' N.
und 178°30' O. v. Gr. am 14. August 1867 zuerst die
Küste und näherte sich ihr bis auf 18 englische Meilen, ohne
des Eises wegen landen zu können. Er fuhr 100 euglische
Meileu ostwärts am Lande hin bis etwa 178° W. v. Gr.,
fand Halbweges einen Berg, dessen Höhe er auf 2480 Fuß
schätzt, und konnte vom Schiffe aus einen grünlichen Gestade-
streifen erkennen, welcher mit Gewißheit auf dichten Pflanzen-
wuchs schließen ließ. „Ich habe dieses Land Wrangells-
Land genannt," sagt Capitän Long, „als geeigneten Tribut
für das Andenken eines Mannes, welcher ... das Offen-
fein des Polarmeeres schon vor 45 Jahren bewiesen hat. . . .
Die erste Kenntniß von diesem Lande wurde der civilisirten
Welt von dem russischen Marine-Lieutenant Ferd. Wrangell."
Gegen den Namen Wrangells-Land hat nun Dr.Peter-
mann Einsprache erhoben (Mittheilungen 1868, S. 5);
er meint, Long habe merkwürdiger Weise und jedenfalls in
voller Unwissenheit der Sachlage das Land mit einem Namen
getauft, der wohl der unpassendste nnd nnmotivirteste
sein dürfte; er scheine keine Ahnung davon gehabt zu haben,
daß gerade Wrangell alles gethan habe, um die Existenz
jenes Laudes zu bestreiten und in Zweifel zu stellen. Viel
zweckmäßiger würde das Land den Namen von Andrejew,
Kellet n. A. tragen.
Allein diefer Ansicht Petermann's ist nun wieder der
russische Akademiker K. v. Baer entgegengetreten. Derselbe
hat zur Verteidigung Wrangell's eine kleine Schrift ver-
ösfentlicht („Das neuentdeckte Wrangells-Land. Von
Dr. K. v. Baer. Dorpat 1868"), aus deren Inhalte wir
im Folgenden den kurzen Verlauf der Beweisführung mit-
theilen wollen. Es handelt sich also in der Streitfrage vor
Allem darum, ob dem Andrejew eher als dem noch leben-
den Admiral Wrangell die Ehre gebühre, Pathenstelle bei
dem neuentdeckten Lande zu vertreten.
Wir wenden uns zuerst zu dem Bericht des ältern Rei-
senden, des Kosaken Andrejew. Derselbe unternahm im
Auftrage der russischen Regierung 1763 eine Schlittenfahrt
nach der Gruppe der Bäreninseln nördlich von der Mün-
dnng der Kolyma. Nachdem er die vier ersten Inseln dieser
Gruppe umfahren hatte, besuchte er auch die fünfte, welche
nach seiner Augabe 140 Werst im Umkreise und 50 Werst
Durchmesser hat. Die Entfernung dieser letzten Insel, der
Vier-Pseiler-Jnsel, vom Vorgebirge Krestowoi schätzt
Andrejew aus 550 Werst. Und in Bezug aus die Richtig-
keit seiner Angaben schließt er dann sein Journal mit den
Worten.- „Was meine Angaben betrifft, so sind sie richtig,
und es kann darin nur vielleicht ein unbedeutender Fehler
von einigen Wersten stattfinden." Ungeachtet dieser beschei-
denen Versicherung hat Audrejew sich doch bei seiner Auf-
nähme um 440 Werst geirrt. Kein Wunder, daß
Wrangell überall, wo er Andrejew's Angaben prüfen konnte,
Wrangells-Land.
Von Dr. Sophus Rüge.
dieselben ganz übermäßig unzuverlässig fand. So beträgt
nach Wrangell's Aufnahme die Entfernung der Vier-Pfeiler-
Insel von dem Vorgebirge Krestowoi nicht 550, sondern
nur 110 Werst und der Umfang derselben Insel nicht 140
Werst, sondern nur 19 Werst.
Demnach ist es klar, daß auf die Berichte dieses Kosaken-
Sergeanten nicht viel zu geben ist. Auch weuu derselbe von
einem fern im Eismeere gelegenen Lande, das er von der
Vier-Pfeiler-Jnfel aus gefeheu haben will, berichtet, wird
man ihm mit gerechtem Mißtrauen entgegenkommen. Denn
dieses Land soll eben nach Dr. Petermann's Ansicht
das von Long entdeckte Gebiet sein. Andrejew's Worte
sind aber so dunkel, daß man in der That nicht mit Be-
stimmtheit sagen kann, was er gesehen hat, ob Land oder
offenes Meer. K. v. Baer giebt uns eine wörtliche Ueber-
tragung dieses kosakisch-russischen Berichtes. Auf einem
Berge der Vier-Pfeiler-Jnsel stehend, das Gesicht nach Sü-
den gewendet, sah Andrejew etwas Blaues oder Schwarzes.
Seine Worte lauten: Aber nach links, nach der östli-
chen Seite, kaum beinahe siehst Du Blaues, blau
scheint, oder zu nennen irgend ein Schwarzes." Daß
dieses blaue oder schwarze Etwas aber nicht Long's Ent-
decknng gewesen sein kann, erhellt einfach aus der Entfernung
der Vier-Pfeiler-Jnfel von dem westlichen Ende des Wrangell-
Landes, eine Entfernung, die mehr als 90 Meilen beträgt.
Zu einer Aussichtsweite von 6 Graden gehört aber ohne
Berücksichtigung der Strahlenbrechung eine Höhe von fast
5 Meilen. Dadurch fällt also die Möglichkeit, von der
östlichen Bären-Insel aus das Wrangells-Land zusehen, hin-
weg, selbst wenn man die überraschende Klarheit weiter Fer-
nen am Eismeere nicht leugnet. Wir fügen zur Erläute-
ruug deffeu eine Stelle aus Hedeuström's Reise (Erman's
Archiv XXIV, 144) bei. „Im Frühjahr," sagt dieser Ent-
decker Neu - Sibiriens, „sind im Allgemeinen alle Gegen-
stände über dem Meere außerordentlich weit sichtbar. Der
Berg Muksunowka, der noch nicht einmal 3500 englische
Fuß hoch ist, ist aus 250 Werst und mehr sichtbar. Aber
zu der Zeit, wo der Schnee schon anfängt etwas zu thauen,
find von dem sibirischen Festlande in einer Entfernung von
450 Werst die Holzberge auf Neu-Sibirien zu erkennen,
welche doch nur 210 euglische Fuß Höhe haben. Welchen
Ursachen soll man dieses zuschreiben? Einer das gewöhn-
liche Maß übertreffenden Brechung der Lichtstrahlen, oder
einer gegen den Pol anomal zunehmenden Abplattung der
Erdoberfläche?" —
Mag man sich die Aussicht noch so klar denken, sicherlich
hat doch Andrejew nicht gewußt, was das ferne blauschwarze
Etwas sei; und wir würden Dr. Petermann entschieden Un-
recht thuu, wenn wir annehmen wollten, seine Vermuthuug
oder sein Glaube an ein Andrejew'sches Polarland fuße ledig-
lich auf dieser trüben Aussicht. Er betont vielmehr eine
zweite Reise desselben aus dem Jahre 1764, aus welcher
der Kosaken-Sergeant zu Schlitten das ferne Land aufge-
sucht habe. Allein ungefähr 20 Werst, ehe er dasselbe er-
reichte, stieß er auf frische Spuren einer zahlreichen Völker-
schast (— soll wohl heißen: vieler Menschen —), die, wie
es schien, mit Renthieren dorthin gefahren war, und da er
nur wenige Begleiter hatte, so wagte er es nicht, weiterzu-
gehen, sondern kehrte nach der Kolyma zurück. „Und diese
Sophus Rüge: Das nei
Entdeckung — meint Dr. Petermann — habe wohl das größte
Aufsehen gemacht."
Dieses Aufsehen muß doch nicht so groß gewesen sein,
wie Dr. Petermann es sich denkt, „denn in Rußland hat diese
zweite Reise von Andrejew so wenig Aufsehen gemacht, daß
die Admiralität in St. Petersburg, welche ausdrücklichen
Befehl von der damals regierenden Kaiserin Catharina II.
hatte, dem Capitän-Lieutenant Billings außer den noth-
wendigen Instrumenten auch die Karten und Nachrichten
aller Vorgänger in diesen nordischen Gegenden mitzugeben,
von dieser angeblichen zweiten Reise Andrejew's nichts wußte,
sondern ihrer nur in einer nachträglichen Instruction erwäh-
nen konnte, ohne daß man jemals erfahren, wie sie zu dieser
Nachricht gekommen sein mag, ob vielleicht durch bloßes Ge-
rücht. Auch iu Jrkutsk muß keine Nachricht von dieser zwei-
ten Reise Andrejew's sich vorgefunden haben. Ja, Pallas,
der noch im letzten Bande der „Neuen nordischen Beiträge
1796" Sagen über Länder nördlich vom Tschuktscheulande
mittheilt, der überhaupt an diesen hochnordischen Unterneh-
mungen besondern Antheil nahm, hat des Andrejew gar nicht
erwähnt" (K. v. Baer, das nenentdeckte Wrangells-Land,
S. 24). Nehmen wir nun dazu, daßWraugell iu seinem
Reisewerke (deutsche Ausgabe Bd. II, S. 273) ausdrücklich
betont: „In der angegebenen Richtung (wo Andrejew das
blauschwarze Etwas gesehen) haben wir das Meer auf 250
Werst weit befahren und untersucht, ohne irgend etwas einem
Lande Aehnliches zu entdecken," so können wir der Ansicht
K. v. Baer's nur beipflichten, daß es ein besonderes Ver-
dienst Wrangell's sei, das Märchenhafte der Andrejew'fchen
Entdeckung nachgewiesen zu haben. „Daß Andrejew von der
Vier-Pseiler-Jnsel bis an das von Long entdeckte Land mit
Hunden gefahren und, ohne neues Futter einzunehmen, nach
Nischne Kolymsk zurückgekehrt sei, halte ich für ganz uumög-
lich. Um weite Fahrten mit Hunden zu machen, muß man
zahlreiche Schlitten mit Proviant mitnehmen, wodurch solche
Fahrten sehr kostbar werden. Aus diesem Grunde ist es
höchst unwahrscheinlich, daß Andrejew eine solche Fahrt mit
eigenen Mitteln unternehmen kouute. Es ist auch nicht
glaublich, daß er von der Regierung zn einer neuen Fahrt
beaustragt worden war, denn in diesem Falle wäre es doch
gar zu albern gewesen, 20 Werft vor dem Lande umzukehren.
Auch würde dann wohl ein Ansrüstungsdocument anfgefnn-
den feiu, nach welchem man vergeblich gesucht hat. Warum
überhaupt umkehren, da hier herum nirgends Menschenfresser
oder zwecklose Todtschläger sich finden? Im -ganzen Hoch-
norden freut mau sich, wenn man auf Spuren von Men-
fchen trifft; man gewinnt dadurch an Sicherheit gegen das
Umkommen durch Hunger und Kälte. — Ich halte die
Andrejew'sche Entdeckung ganz einfach — für Schwindel,
dieses Wort nicht im medicinischen Sinne genommen, son-
dern in dem Sinne, in welchem es jetzt häufig von den Zeit-
blättern gebraucht wird, als Versuch zum Gewinn ohne Ver-
dienst. Die Sibiriaken leiden an dieser Krankheit, besonders
aber die Kosaken." (K. v. Baer a. a. O. S. 10 u. 14.)
Daß Wrangell darum auf seiner Karte Andrejew's
Land nicht angedeutet hat und diese Unterlassung aus-
drücklich betont (S. 268), werden wir nur als Folge
wohlbegründeter Kritik anzuerkennen haben; aber damit ist
von ihm noch nicht geleugnet, daß nicht weiter östlich im Eis-
meere Land sein könne. Wrangell hat nicht die Existenz
eines Polarlandes oder einer großen Insel im Eismeer nörd-
lich von Ostsibirien bestritten, sondern nur nachgewiesen, daß
das in Andrejew's Berichten angedeutete Land nordöstlich
atdeckte Wrangells-Land. 13
von der Kolymamünduug bis zum 72°N. und 170°D.Gr,
nicht existire. Ob er an das Vorhandensein eines Polar-
landes weiter östlich glaube, darüber belehrt uns zunächst
seine Karte, die etwa unter 177° O. v. Gr. unter nnbe-
stimmten Umrissen Berge im Meere bezeichnet mit der In-
schrift: „Berge bei heiterm Sommerwetter vom Cap Jakan
sichtbar." Auch sagt er (Bd. II, 274) ausdrücklich: „Ich
will keineswegs behaupten, es könne in jener Region des Eis-
meeres kein bisher nnentdecktes Land sich befinden. Im
Gegentheil scheint es mir sogar wahrscheinlich, daß
im Norden vom Cap Jakan irgend ein noch nnbe-
kanntes Land liegen kann, welches aber in gar keiner
Verbindung mit der sogenannten Andrejew'fchen Entdeckung
steht." —
Dr. Petermann erklärt nnn zwar, er habe sich nie ver-
sncht gefühlt, Wraugell's Ansicht (über Andrejew's Entdeckun-
gen) zu theilen, sondern habe seit einigen zwanzig Jahren
auf seinen Karten jenes Polarland zu verzeichne« und zu
vertreten für das Richtigere erachtet; allein trotzdem finden
wir auf der citirteu Karte 5 (Mittheilungen 1865) das
hypothetische Polarland dem Cap Jakan gegenüber einge-
tragen, da, wo wir es auch bei Wrangell fanden.
Darin liegt doch, bildlich, kartographisch ausgedrückt, eine
Übereinstimmung mit Wrangell's Angaben; also
dürfte dem russischen Admiral wohl auch mehr als dem
Kosaken-Sergeanten die Ehre gebühren, das von Long ent-
deckte Land mit seinem Namen belegt zu sehen. Deshalb
meint K.v.Baer, „kann es doch nur ein Scherz sein, wenn
Dr. Petermann mit Cursivschrift hervorhebt, daß die Position
des Long'schen Wrangell-Landes ganz genan, haarscharf, wie
mit dein feinsten Zirkel abgemessen, mit dem Lande znsam-
mentrifft, wie wir es ans der citirten Karte von 1865 ver-
zeichnet haben; denn er weiß ja wohl, daß die Spitze seines
Landes oder Archipels ans Wrangell's Angaben beruht.
Wenn die Fortsetzung von Petermann's Land bis Grönland
bestätigt wird, dann wäre der vollste Grund zur Glorisica-
tion, iu welche Jedermann einstinnnen wird. Aber wir ver-
stehen ja wohl, daß Alles nur geschieht, um der arktischen
Expedition die Sporen in die Seite zu setzen, und wir möch-
ten nur, es wäre geschehen, ohne die begründeten Rechte An-
derer in Abrede zn stellen, die sonst Herr Petermann so gern
und kräftig anerkennt."
„Ein übler Umstand ist es aber, daß die vorläufigen
Nachrichten über Loug's Entdeckung nicht uubeden-
tend von einander abweichen." Nach dem „Moniteur"
liegt die Küste des neuen Landes unter 73° 30' N.; nach
dem „Nantical Magazine" unter 79°46' bis 48' N. —
Auffällig ist uns auch gewesen, daß Dr. Petermann,
während er (Mittheilungen 1868, 5) einerseits die Behaup-
tung ausspricht, das vou Long entdeckte Land falle haar-
fcharf wie mit dem feinsten Zirkel gemessen mit dem Lande
zusammen, wie er es 1865 deutlich verzeichnet habe, ander-
seits in der jüngst pnblicirten Karte (Mittheilungen 1868,
Heft VI) von jener „genauen" Zeichnung wesentlich wie-
der abweicht; wir vermnthen, nach den Angaben des „Nan-
tical Magazines". Allein dadurch rückt der Südrand des
nenen Landes unter die Breite von 70° N., dem Cap Jakan
gegenüber, in die Gegend, wo Wrangell's Berg-
umrisse liegen.
Hoffen wir, daß Dr. Petermann in dieser veränderten
Zeichnung zugleich die Anerkennung der Verdienste Wrangell's
und der zn Recht bestehenden Benennung Wrangells-Land
ausspricht.
14
Warum ist die Gesammtwärme der Erdoberfläche in Sonnennähe kleiner als in Sonnenferne?
Warum ist die Gesammtwärme der Erdoberfläche in Sonnennähe kleiner
als in Sonnenferne?
Von Dr. Heinrich Birnbaum.
Vor fünfzig, fechszig Jahren war man noch fest der An-
ficht, daß die Sonne selbst ein an sich dunkler und kalter
Himmelskörper fei, welcher die Eigenschaft besitze, durch Vi-
brationen des Aethers Lichtstrahlen zu entwickeln und damit
zugleich den in allen Körpern ruhenden Wärmestoff zur Be-
wegung und Wahrnehmung zu bringen. Damals beantwor-
tete sich die ausgestellte Frage unmittelbar aus der Hypo-
thefe fchou von felbst. Denn je ferner von der Sonne, je
länger der Lichtweg durch Aether uud Lust, um so größer
mußte hiernach die Wärmewirkung ausfallen. Von einer fo
handgreiflichen Erklärungsgrundlage, welche vorzugsweise in
den Erfahrungen der Bergreifenden und Luftfchiffer ihren
wahrscheinlichen ersten Halt gewonnen hatte, sind wir längst
wieder befreit. Man denkt überhaupt nicht mehr daran, die
Wärme für eiuen Stoff zu nehmen, uud findet es nichts
weniger als verständlich, von einem bald ruhenden kalten,
bald bewegten warmen Wärmestosse zu reden. „Es ist
eine genugsam festgestellte Thatsache," sagt I. R.
Mayer, der geniale Begründer unserer neuesten Wärme-
theorie, „daß die Sonne keiu kaltes, phosphoresci-
rendes, sondern einsehrintensiv-erwärmendesLicht
ausstrahlt, und solche erwärmenden Strahlen von
einem kalten Körper herleiten zu wollen wider-
spricht eben so sehrderVernunst als der Erfahrung."
Durch eiue fo veränderte wissenschaftliche Grundlage wurde
uuu aber die Beantwortung unserer Frage viel schwieriger,
und ganz besonders deswegen, weil der natürliche Gedanken-
gang gerade eine entgegengesetzte Wirkung erwarten läßt, so
daß die Erdoberfläche in Sonnennähe stärker erwärmt sein
müßte als in Sonnenferne. Um so erfreulicher und dank-
barer blickt man daher jetzt aus das glücklich zu Stande ge-
brachte große Werk einer vollkommen befriedigenden Erklärung.
Es gehört zu deu schönsten Glanzpunkten der Fortschritte uu-
serer Wissenschaften. Wir wollen versuchen, dasselbe allge-
meinfaßlich zur Darstellung zu bringen.
Der Wechsel der Temperatur auf Erden ist uueud-
lich groß und steht genau im Verhältnisse der veranlassenden
Ursache, wobei die beständig sich ändernde Lage der Erde uud
ihre Entfernung von der Sonne, wodurch Zonen, Tags-
und Jahreszeiten gebildet werden, die wichtigste erste Grund-
läge abgeben. Aber dennoch herrscht in dieser großen Man-
nichsaltigkeit ein ununterbrochenes Streben zur Ausglei-
chuug und Feststellung einer constanten Gesammttemperatur
der ganzen Erdoberfläche. Und ebenso muß auch die dem
Erdinneru zugeschriebene Eigenwärme schon lange einen un-
veränderlich festen Grad angenommen haben; denn nach
astronomischen Gründen muß die Summe der ganzen Erd-
wärme fchon seit Jahrtausenden zu einer stationären Größe
geworden sein. Laplaee, der scharfsinnige, große Himmels-
forscher, widmete diesem Gegenstande seine ganze Aufmerk-
samkeit, und kam 1320 zu dem berühmten Resultate seiner
meisterhasten Forschung, daß die Dauer des Mittlern Erden-
tages seit zweitausend Jahren nicht um y30o einer Se-
cunde kleiner geworden sei, folglich könne auch die Erde feit-
dem nicht kälter geworden sein, weil sonst ihr Durchmesser
habe abnehmen und die Geschwindigkeit ihrer Tagesbewegung
zunehmen müssen.
Man hat sich bemüht, aus den schon seit längerer Zeit
angelegten meteorologischen Beobachtungstabelleu ein allen
Anforderungen gewissenhaft entsprechendes genaues Resultat
herauszufinden, und danach hat sich ergeben, daß die Ge-
sammttemperatnr an der Oberfläche der Erde im Januar
9,9 Grad R., im Juli 13,5 Grad R. ausmacht; folglich
bliebe für die Sonnenferne ein Ueberfchuß von 3,ß Grad R.
höherer Temperatur, und die durchschnittliche Jahreswärme
der Erde wäre 11,7 Grad R.
Damit wird nun dnrch forgfältig eingesammelte Erfah-
rung die Hauptgrundlage unseres Themas als eine nicht zu
bezweifelnde Thatsache bestätigt. Auch sind die dabei thätig
gewesenen Gewährsmänner, Alexander von Humboldt,
Franz Arago, Kämtz, Dove imd Andere, von so aner-
kannten: Rufe, daß man den Gedanken an die Möglichkeit
eines Jrrthums nicht Raum geben kann. Dieselbe sehr
schwierige Untersuchung ergab aber auch noch ein anderes Re-
sultat, welches zu dem vorhergehenden nicht bloß ein inter-
essantes Seitenstück bildete, sondern auch zugleich zum Finger-
zeig für das Ausfinden der Ursache gedient hat, Man sand
nämlich als mittlere Jahrestemperatur der Nordhälfte
unserer Erde 12,4 Grad R., und die mittlere Jahrestempe-
ratur der Südhälfte derselben nur 10,g Grad R., woraus
zugleich das Mittel sür die Gesammttemperatur der ganzen
Erde gerade wie vorher 11,7 Grad R. gefunden wird. Kon-
nen wir nun auch nicht in Abrede stellen, daß diese auf Be-
obachtung gestützte Abwägung in späteren Jahren noch einige
Aenderung erfahren werde, fo geht doch so viel mit Gewiß-
heit daraus hervor, daß die Gesammttemperatur der
Erde eiue coustaute sei, aber innerhalb gewisser
Grenzen, uud zwar in Sonnenferne gerade um fo
viel größer, als kleiner in Sonnennähe.
Nähmen wir gar keine Rücksicht auf den Stoff und die
Form der Oberfläche unferes Planeten, so solgte die Ver-
schiedenheit der Wärme auf Erden rein aus der Stellung
gegen den wärmeerregenden Körper, die Sonne, oder, was anf
dasselbe hinausläuft, gegen die Richtung der Erdbahnsebene,
also ohne Weiteres aus der nördlichen oder südlichen Breite
der Erdoberfläche. Wissen wir nuu auch, daß die Wirklichkeit
fehr wesentlich von dieser ideellen Anschauung abweicht, so Hilst
sie uns doch sehr als Grundlage des Vergleichens, und hat be-
sonders sür unfern speciellen Zweck das Gute, ein empsehlens-
werthes Vorbild zum Aufsuchen der Wahrheit zu sein. Blei-
ben wir also einstweilen bei der Voraussetzung. Während
des Winters der nördlichen Halbkugel ist die Erde der Sonne
am nächsten, es müßte daher die Winterkälte im Norden ge-
mildert, dagegen die Sommerwärme gesteigert werden, fo daß
also aus einem solchen milden Winter und heißen Sommer
ein Ueberschuß an Jahreswärme hervorginge. Und im
Sommer der nördlichen Halbkugel, wo die Erde der Sonne am
fernsten ist, müßte daher ein gemäßigter Sommer des Nor-
dens einem fehr kalten Winter im Süden gegenüberstehen, so
daß also aus einem strengen Winter und kühlen Sommer ein
Mangel an Jahreswärme sich ergäbe. Stände nun anch dabei
der Möglichkeit einer jährlichen Ausgleichung nichts entgegen,
so führte diese Betrachtung doch zu einem Resultate, welches
mit der Wirklichkeit gar nicht in Einklang zu bringen wäre.
Warum ist die Gesammtwürme der Erdoberflää
Dieser offenbare Widerspruch ist eine unmittelbare Folge
der fehlerhaften Voraussetzung. Wir dürfen die große Ver-
schiedenheit in Stoff und Form der Oberfläche unserer Erde
nicht außer Acht lassen, wir müssen zunächst als Hauptsache ins
Auge fassen, daß in der Nord Hälfte eben so stark das Fest-
land vorherrscht, wie in der Südhälfte das Wasser. Das
Klima der Nordhälfte muß also sehr überwiegend ein con-
tinentales sein, während die Südhälfte ganz vorzugsweise
ein Seeklima besitzen muß. Dove hat das Verdienst, dies
Resultat aus gründlichen meteorologischen Untersuchungen zu-
erst aufgefunden und klar ausgesprochen zu haben. Es liegt
darin der Schlüssel zurAusklärung einer großen Reihe von
geographischen Wetterphänomenen, ganz vorzugsweise aber
auch der für die Lösung unserer Aufgabe. Schon in Jahre
1845, als Dove feine wichtige Entdeckung der Akademie zu
Berlin mitgetheilt hatte, deutete er auf die hohe Bedeutung
derselben für die geographische Wetterkunde und für die Physik
der Erde überhaupt hin. Doch vergingen volle zwei Jahre,
ehe man die Sache so scharf ins Auge faßte, als sie es ver-
diente. Dann wies Sabine in einem Berichte an die„Bri-
tische Association" mit Nachdruck darauf hin. Derselbe
sprach 1847 die eben so denkwürdigen als wahren Worte
aus, in denen die Thatsache als „the most novel at
least, if not the most important of the results"
bezeichnet wurde. Damit begann erst eigentlich die Beach-
tung derDove'schen Entdeckung; doch dauerte es wieder fast
zwanzig Jahre, ehe sie voll zur Geltung kam und bevor ihr
Werth ganz erkannt wurde. Die sich Bahn brechende neue
Theorie der Mechanik der Wärme zog sie allmälig mehr
und mehr an die Oeffentlichkeit und zeigte entschieden auf
Dove's Entdeckung hin, wie aus einen ehrenvollen Glanz-
Punkt des Fortschritts der neuen Wissenschaft.
Daß die Südhälfte der Erde durchschnittlich eine tiefere
Temperatur besitze als der Norden ist eine schon lange fest-
gestellte Thatsache; man hat auch uicht unterlassen, die Ur-
sachen dafür aufzusuchen, begnügte sich aber zuletzt nur mit
der Ansicht, daß die Aequatorialströmung überall die Tendenz
an den Tag lege, nach Norden hin abzuzweigen, wodurch
eiue verhältuißmäßig höhere Temperatur in den Gewässern
und in der Lust herübergebracht werde. Läßt fich auch gegen
die Nichtigkeit dieser Ansicht nichts einwenden, so hat sich
doch herausgestellt, daß dies uicht der alleinige Grund sein
kann, da er zu schwach ist, das ganze Ergebniß befriedigend
zu erklären. Man ging auch zum Theil in den Folgerun-
geu zu weit, so daß man zur Zeit Cook's und Forster's
die Ansicht hatte, es sei das ganze südliche Polarmeer eine
ewig starre, unzugängliche Eismasse. So erzählt I. R.
Forster: „Die Gebirge der Insel Nen-Georgia sind
mitten im Sommer mit Schnee beladen, der sich bis an
den Meeresstrand herab erstreckt. Nur auf Landspitzen, wo
die Sonne noch einigermaßen wirken kann, schmilzt endlich
jene Winterdecke und läßt den schwarzen Felsen völlig ent-
blößt zurück. Wir fanden an unserm Landungsplätze nur
zwei Pflanzenarten: nämlich das Hakenkraut und eine Art
Knäuelgrases." Eine solche Beschreibung des Klimas
für 551/o Grad südlicher Breite erweckt Grausen. „Die West-
liche Küste des Feuerlandes," sagt Forster, „ist ein nack-
tes und ödes Felsengebirge mit schneebedeckten Gipfeln. Ju
einem großen Hafen desselben, nordwärts vom Cap Horn,
wo wir einige Tage zubrachten, sand man nirgends eine Spur
>-es Pflanzenreiches, ausgenommen auf etlichen flachen, felsi-
gen Holmen, die mit einem sumpfigen, moosartigen Rasen
bedeckt waren, und in den niedrigsten Thälern oder Bergklüf-
ten cm kleines Gesträuch, darunter nur selten ein Baum
war.
Man muß annehmen, daß Forster in eine sehr nngün-
? in Sonnennähe kleiner als in Sonnenferne? 15
stige Gegend dieses Landes gekommen sei, denn sein Reise-
geführte Cook hat an anderen Orten jener Gegend sogar
einen Reichthum an Pflanzen und selbst Wälder ange-
trossen. Und in der St.Franciscus-Bay (55°54' südl.
B. und 67°30' westl. L.) konnte Weddell Bäume zu Bret-
teru sägen. I. Banks war in der St. Bincents-Bay
neben der Straße le Maire (550 südl. B.) noch glücklicher;
denn in Zeit von vier Stunden fand er fchon mehr als 190
neue Pflanzen, Birken von 30 bis 40 Fuß Höhe und 2 bis
3 Fuß unterer Stammdicke, und eben fo auch vortreffliche
Buchen. Byron fand am Hunger Hafen in der Magel-
lans-Straße (53°44' füdl. B.) die schönsten Bäume, die
er je gesehen hatte, so daß er überzeugt war, daß man aus
dieser Gegend die ganze britische Marine mit den besten Ma-
steu der Welt versehen könne; einige Bäume waren sehr hoch
und hatten mehr als 8 Fuß im Durchmesser; in den Wäl-
dern stieß er sogar aus Papageyen. Nach Froriep's No-
tizen (XXVIII, 296) kommen auf Staaten-Insel, dieser
Südspitze Amerikas, Berge von 2000 Fuß Höhe vor, welche
bis auf den Gipfel mit Bäumen bewachsen sind, so daß man
selbst im Mai, wo doch der südliche Herbst schon seine Herr-
schast führt, die Vegetation am Cap Horn noch in voller
Kraft und Schnee nur als seltene Ausnahme angetroffen
habe. Doch wie ungleich diese Berichte und Erfahrungen
fiud, erkennt man aus den Mittheilungen von Banks und
So land er auf Cook's erster Reise um die Welt. Auf
einer kleinen Excursion in einer dieser Inseln (54° 45' südl.
B.) war am 16. Januar, also im höchsten Sommer der
dortigen Gegend, eine so empfindliche Kälte mit Schneegestö-
ber verbunden, daß die Gesellschaft Gefahr lief umzukommen.
Wenn einige das südliche Polarmeer für gar nicht befahrbar
ansahen, so hatte schon Weddell durch die That bewiesen,
daß er noch über 74° südl. B. hinaus das Meer frei von
Eis und befahrbar gefunden habe; und dies bestätigen auch
neuere Reisende.
Die südliche Erdhälfte ist also im Ganzen genommen
kälter als die nördliche, aber dennoch erreichen die extremen
Kältepnnkte doch nicht die Tiefe wie im Norden, und eben-
sowenig erreichen die extremen Wärmepuukte im Süden die-
selbe Höhe wie im Norden; es leuchtet klar hervor, daß hier-
bei das Dove'sche Berhältuiß vom See- und Festlands-
klima vorherrscht. Wir wollen diese Punkte etwas näher
ins Ange fassen.
Bringt man zu einein Pfunde Wasser von 15° Wärme
ein Pfund Sand von 25° Wärme und rührt das Gemenge
gehörig durch, so steigert sich hier die Wärme nur bis 17°.
Also haben die 8° Wärme des Sandes nur 2° Wärme
des Wassers bewirken können. Stellt man den Versuch um-
gekehrt als Rückprobe au, so daß man zu einem Pfund Wasser
von 25° ein Psuud Saud von 15° thut, so nimmt das ganze
Gemenge eine Temperatur von 23" an, woraus also wieder
folgt, daß 2° Wasserwärme ausreichten, den Sand um 8°
zu erhöhen. Hiernach besitzt also jeder Grad Was-
serwärme eine viermal so große erwärmende Kraft
als ein Grad Sandwärme. Ständen also Wasser und
Sand bei übrigens gleichen Umständen unter demselben erwär-
Menden Einflüsse, so würde dadurch das Wasser in derselben
Zeit nur ein Viertel so hoch erwärmt sein als der Sand.
Und auch umgekehrt, ständen Wasser und Saud bei übrigens
gleichen Umständen unter demselben Wärme verzehrenden Ein-
flusse, so müßte in derselben Zeit das Wasser nur ein Viertel
so viel Wärmegrade verloren haben als der Saud. Dies
ist eine Wahrnehmung, ein Gesetz, welches die Physiker mit
Wärmecapacität oder specisischer Wärme bezeichnen.
Daß dabei eigentlich alle uns bekannten Stoffe in Unter-
suchuug kommen müssen, und die Genauigkeit noch viel feiner,
16 Warum ist die Gesammtwärme der Erdoberflö
als hier angedeutet, durchgeführt werden kann, bedarf wohl
kaum der Erwähnung, übrigens reicht für unsere Zwecke das
gegebene Beispiel vollkommen aus. Wir dürfen für den Sand
nur den Continent und für das Wasser nur das Meer setzen,
so haben wir in der Entwicklung ihrer Beziehung zur Son-
nenwärme schon den wichtigsten ersten Factor zur Bildung
des Festlands- nud des Seeklimas.
Thnt man in den einen von zwei ganz gleichen Blech-
cylindern ein Pfund zerkleintes Eis von Null Grad Rean-
mur und in den andern eben so viel Wasser von dersel-
ben Temperatur, versenkt in beide Inhalte ein paar ganz
harmonisch gehende Thermometer, und stellt dann beide Ge-
säße in einen auf dem Feuer stehenden mit siedendem Was-
ser angefüllten offenen Kessel, wodurch also beide Cyliuder-
gefäße derselben constanten Wärmequelle ausgesetzt siud, so
sieht man, daß das Thermometer im eiskalten Wasser fast
augenblicklich zu steigen anfängt, während das im Eife ganz
unverwandt aus 0° stehen bleibt. Das erstere sieht man
nach und nach auf 10, 20, 30, 40, 50, 60 Grad empor-
steigen, während das andere ganz unverändert auf 0" stehen
bleibt; alle zngefiihrte Wärme bewirkt auf den Inhalt des
Eisgefäßes gar nichts weiter als den Act des Schmelzens.
Aber sowie dieser vollendet ist, welches bei dem Thermometer
im andern Gesäße mit 631/2°9t. angedeutet wird, sieht man
wie das hier befindliche Thermometer auch zu steigeu anfängt,
und es dauert dann nicht lange mehr, bis beide einen ganz
übereinstimmenden Stand von 78 bis 79° R. erreichen.
Darüber können sie nicht hinaus; denn mit Hülfe des sie-
denden Wassers in einem offenen Gefäße kann man in einem
hineingestellten Gefäße nie wieder Wasser zum Sieden brin-
gen. Das Eis von 0° R. braucht also 63 V20 R-, um sei-
nen festen Aggregatzustand in einen tropfbar-flüffigen um-
zuwandeln.
Nach der Theorie der alten Wärmelehre sagte man, daß
diese 63V20 R- unwahrnehmbar versteckt oder latent wür-
den. Unserer heutigen Theorie znfolge wird die zum Schmel-
zen verbrauchte Wärme dazu benutzt, den Atomen des
Eises die erforderlichen Spannkräfte für den tropf-
bar-flüssigen Aggregatzustand zu verleihen. Offen-
bar muß diefe Wärme wieder frei werden, fobald die Spann-
kräfte nicht mehr nöthig sind und das Wasser wieder zu Eis
erstarrt. Damit haben wir nun einen zweiten wichtigen
Factor kennen gelernt, welcher besonders in hohen Breiten-
graden einen Unterschied im See- und Festlandsklima
bewirken kann, deun bei dem Acte des Gesrierens wird der
darüber befindlichen Luft Wärme abgegeben, während der
des Schmelzens auf derselben Seite eben so viel Wärme
verzehrt.
In einem verschlossenen Gefäße nimmt bekanntlich das
abgesperrte Wasser einen den Siedepunkt weit übersteigenden
Wärmegrad an. So sand schon 1762 Black, daß das
Wasser im luftdicht verschlossenen Papinianischen Topfe
einst eine Wärme von 205° C. besaß. Als er diesen ^.opf
öffnete, verwandelte sich ein Fünftel des Wassers augenblick-
lich in Dampf von 100° C. Temperatur, während das zu-
rückbleibende Wasser in lebhaft wallendes Sieden überging,
aber ebenfalls nur 100° C. zeigte. Der übrige große Vor-
rath von abgesperrter Wärme mußte also von den Dämpfen
verschluckt fein, alle fünfTheile des Inhalts hatten 105°C.
Wärme verloren, und diese hatten sich in dem einen Theile
concentrirt zu 5 mal 105 oder 525° C. Diese Wärme war
also im alten Sinne bei der Dampfbildung latent gewor-
den, oder wurde nach der neuesten Ansicht dazu verwendet,
den Wasseratomen die erforderliche Spannkraft zu
ihrer Dampfexistenz zu verleihen. Das Wasser hat
alfo zu jeder höhern Aggregatstufe einen höhern Grad vou
e in Sonnennähe kleiner als in Sonnenferne?
Eigenwärme nöthig, den es natürlich wieder freigiebt, fobald
es wieder in eine tiefere Stufe zurücksinkt. Wir wollen hier
nur bemerken, daß man nach allmälig verbesserten Apparaten
und sorgsältigeren Messungen den Grad der latenten Dampf-
wärnV 537,z° C. oder 429,g° R. gefunden hat. Damit
haben wir nun aber auch den dritten wichtigen Factor zur
Bildung des Seeklimas kennen gelernt. Denn das Wasser
des Meeres ist ganz ununterbrochen dem Verdampsnngspro-
cesse unterworfen, wodurch eine große Menge von Sonnen-
wärme unwahrnehmbar dem Dampfe der Luft zugeführt wird,
bis sie bei der fpüteru Regenbildnng sich wieder frei macht,
wovon aber der festen Erdrinde wenig oder gar nichts zu
Theil wird.
Der vierte Factor liegt unverkennbar in dem günsti-
gern Reflex für Licht und Wärme an der Oberfläche
des Waffers im Vergleich zu ebeu diesem Proceß an der
Oberfläche der festen Erdrinde.
Der Charakter des Continentalklimas ist übrigens viel
eher dem Wechsel unterworfen als der des Seeklimas, weil
dabei außer der geographischen Breitenlage auch uoch die
Rücksicht auf Tief-, Stufen- und Hochland, auf Wald-,
Acker- und Wüstenboden nnd aus mancherlei andere Ver-
Hältnisse zu nehmen ist, die bei dem Seeklima entweder gar
nicht vorkommen oder doch in einem sehr untergeordneten
Grade auftreten. Wie verschieden indeß das Continental-
klima auch auftreten mag, fo ist es doch jedenfalls immer
extremer als unter übrigens gleichen Umständen das See-
klima. Wir beziehen uns in dieser Hinsicht auf eine meister-
hafte Schilderung, welche John Tyndall in seiner neuen
Mechanik der Wärme *) davon gegeben hat.
„Hierbei," sagt er, „müssen wir des großen Einflusses
gedenken, welchen der Ocean zur Milderung der Extreme des
Klimas ausüben muß. Die Sommerhitze wird im Welt-
meere aufgespeichert und während des Winters langsam ab-
gegeben. Dies ist theilweise der Grund, warum Temperatur-
extreme in einem Jnselklima nicht vorkommen. Der Sommer
kann auf einer Insel niemals die brennende Hitze des con-
tinentalen Sommers erreichen; hingegen ist aber auch der
Winter auf einer Insel niemals so streng als der des Con-
tinents. An mehreren Orten des letztern wachsen Früchte,
welche bei nnserm englischen Sommer nicht reif werden;
allein in denselben Gegenden ist unser Immergrün nnbe-
kannt, weil es den dortigen Winter nicht überstehen kann.
Im Allgemeinen ist der Winter in Irland wie der der Lom-
bardei. Im nordöstlichen Irland unter gleicher Breite mit
Königsberg bringen es die Winter nur selten zu Eis, daher
gedeihet hier die Myrthe im Freien ebenso vortrefflich wie
in Portugal. Die geringe Wärme des Sommers ist da-
gegen hier auch uicht im Stande, Weintrauben, Mandeln
und Wallnüsse zur Reife zu bringen." In Astrachan,
welches mit dem Nordcap gleiche Winterkälte, aber eine
viel überwiegendere Sommerwärme hat, werden die schönsten
Obstsorten und herrlichsten Trauben gezogen, woran am
Nordcap uie zu denken ist, weil hier die höchste Sommer-
wärme kaum 5° erreicht, während sie in Astrachan zu 13
bis 20° steigen kann. Man darf übrigens nur einen Blick
auf eine mit Jahresifothermen versehene nördliche Polarkarte
werfen, um sogleich überzeugt zu sein, wie der thermische
Einfluß des Meeres die Extreme der Continente zu mildern
strebt.
Wir glauben nun gehörig vorbereitet zu sein, an die Lö-
sung unserer Aufgabe heranzutreten. Der Einfluß der Mee-
*) „Die Wärme betracktet als eine Art der Bewegung von John
Tvndall." Autorisirte deutsche Ausgabe. Herausgegeben durch H.
Helmholtz und Wiedemann. Braunschweig, Druck und Ver-
lag von Friedrich Vieweg und Sohn. 1867.
Karl Andree: Die Veränderung in der g
resnähe ist nach den mitgetheilten Erfahrungen und den ihnen
zu Grnnde liegenden Ursachen ein abstumpfender für die
Extreme der Sommerwärme und Winterkälte, während der
Einfluß der Continente gerade für das Auftreten der Extreme
günstig ist. Aus der Nordhälfte unserer Erde waltet im
Vergleich zur Südhälfte das feste Land sehr bedeutend vor;
auf der Südhälfte herrscht also das mildernde Seeklima
vor, während auf der Nordhälfte das extreme Continen-
talklima die Oberherrschaft besitzt. Denken wir uns die
Erde bei ihrem Jahresumlauf in der Nähe der Sonne, wo
der Norden Winter und der Süden Sommer hat, so
muß wegen Sonnennähe der Winter ein milder sein, aber
ebenso muß auch der Sommer ein milder sein, weil seine
extreme Hitze durch das vorherrschende Seeklima abgestumpft
wird. In dieser ersten Erdlage haben wir also die Summe
von einem milden Winter und einem milden Sommer,
folglich eine milde durchschnittliche Erdwärme. — Gehen
wir zu der entgegengesetzten Lage der Erde, zu ihrer Sonnen-
ferne, so fällt auf die Nordhälfte der Sommer und auf die
Südhälfte der Winter; dort herrscht das Eontinentalklima,
hier das Seeklima vor, also ist der Sommer entschieden heiß,
der Winter aber mild. In dieser zweiten Erdenlage haben
wir also die Summe von einem heißen Sommer und einem
milden Winter, folglich eine die Milde etwas überragende
Durchschnittswärme der ganzen Erde.
Damit haben wir hoffentlich einen für jeden Gebildeten
leicht faßlichen und auch befriedigenden Beweis geliefert,
daß die Gesammtwärme der Erdoberfläche in
Sonnennähe kleiner sein muß als in Son-
nenferne.
Den Fachmännern der Wissenschaft, an deren Spitze
Dove steht, war eine so allgemein gehaltene Untersuchung
jenseitigen Stellung der Menschenracen 2c. 17
des wichtigen Gegenstandes noch nicht ausreichend; sie muß-
ten sehr speeiell in ein scharfes Abwägen und Berücksichtigen
aller mitwirkenden Umstände eingehen, aber das Ergebniß
dieser mühsamen Forschung führt zuletzt doch auch zu der-
selben Entscheidung.
Schließlich wollen wir noch einen scheinbaren Einwurf
zu beseitigen suchen. Es ist nämlich von der gesteigerten
Kraft der Sonnenwärme durch Näherstehen der Erde nur
bei dem Nordwinter die Rede gewesen, und man könnte daher
Bedenken tragen, das Ganze für richtig zu halten, weil dies
nicht auch auf den Südsommer angewandt wurde, uud weil
von der verminderten Kraft der Sonnenwärme durch das
Fernstehen der Erde überall gar nicht die Rede gewesen ist.
Darauf dient zur Antwort, daß der Unterschied der Kraft
der Sonnenwärme zwischen Sonnennähe nnd Sonnenferne
überhaupt eiu verschwindend kleiner sei, von dem man
höchstens nur bei dem eontinentalen Winter des Nor-
dens etwas Notiz nehmen konnte. Dies haben wir gethan;
aber es liegt auf der Hand, daß, wenn wir dies auch unter-
lassen hätten, das Endresultat nur noch günstiger für die
Behauptung ausgefallen wäre. Der Sonnendurchmesser er-
scheint uns in Sonnennähe 32'34,ß" und in Sonnenferne
31'30,/', woraus denn als kleinste Entfernung von der
Sonne 20,300,000 geogr. Meilen und als größte Entfer-
nuug 21,030,000 geogr. Meilen gefunden ist. Da nun
aber die Kraft der Wärme, gerade wie die des Lichtes, sich
umgekehrt wie die Quadratzahlen der Entfernung verhält,
so müßte sie sich in Erdnähe zu Erdferne wie 441 : 400
verhalten. Dies Verhältniß wird indeß noch bedeutend da-
durch verkleinert, daß die Erde in Sonnennähe kürzer ver-
weilt als in Sonnenferne, und es bleibt dann ein kaum noch
zu berücksichtigender Unterschied zwischen beiden.
Die Veränderung in der gegenseitigen Stellung der Menschenracen und
die wirthschaftlichen Verhältnisse.
Von Karl Andree.
Die Stellung, welche bisher die verschiedenen großen
Menschengrnppen gegen einander eingenommen, erfährt in
unseren Tagen eine durchgreifende Veränderung. Diese ist
von ganz ungeheurer Bedeutung; sie erscheint so gewaltig,
inhaltschwer und folgenreich, wie kaum eine andere in der
Geschichte, und sie wird namentlich aus die Umwandelnng
in den wirthschaftlichen Verhältnissen mächtig ein-
wirken. Die ganze Tragweite einer solchen, alle Lebensver-
Hältnisse berührenden Umgestaltung können wir noch nicht
ermessen, wohl aber ist schon jetzt mit Sicherheit zu erkennen,
daß sie eiu durchaus neues Gepräge haben werden.
Wie viele althergebrachte, allgemein geglaubte und für
richtig erachtete Ansichten und Vorstellungen haben sich schon
jetzt als unhaltbar erwiesen! Die Tage, in welchen man die
Dinge vorzugsweise uach dem Maßstabe der jüdischen Bücher,
oder der alten classischen Literatur, oder vom Standpunkt eines
einzigen religiösen Bekenntnisses zu benrtheilen ein Recht hatte,
sind für alle unbefangenen und gebildeten Geister entschieden
vorüber. Die Welt ist weiter geworden, die Menschen der
verschiedenen Erdtheile sind einander näher gerückt; es giebt
ferner keine isolirten Gegenden und der Verkehr ist kosmopo-
litisch. Wir haben seit dreihundert Jahren unermeßlich viel
Globus XIV. Nr. 1. (Juli 1838.)
Neues gelernt und an Einsicht uach allen Richtungen hin
gewonnen. Vor Allem aber eröffnete die Forschung in den
Naturwissenschaften ganz neue Horizonte, und stellte That-
sachen fest, vou welchen man ehemals keine Ahnung hatte.
Man saßt den Menschen heute ganz anders aus als vormals.
Die Anthropologie ist eine Wissenschaft, welche zu Ergebnissen
geführt hat, mit denen dje theologischen Dogmen nicht zu
vereinigen sind. Die „Welt" ist nun älter als sechs- bis
siebentausend Jahre und als „Adam und Eva".
Es erscheint als eine der vielen Aufgaben dieser Wissen-
schast, die Erscheinungen im Leben der Menschen und Völker
nnbesangen zu würdigen, und diese Pflicht liegt ihr um so
mehr ob, weil gerade auf diesem Gebiete noch so viele Wahn-
Vorstellungen gang nnd gebe sind, die theils in religiösen
Dogmen wurzeln, theils aus einer, wie man meint, philan-
thropischen oder „Humanitären" Quelle entspringen. Weder
die einen noch die anderen haben der Wissenschaft und den
Thatsachen gegenüber eine Berechtigung. Aber die Formeln,
in welche man diese Wahnvorstellungen gefaßt hat, sind be-
quem und geläufig; sie Hörensich gut an, es scheint fast, als
ob sich bei ihnen auch etwas denken lasse. Etwas denken,
j allerdings, aber nicht das Wahre und nicht das, was richtig ist.
3
18 Karl Andree: Die Veränderung in der c
Diese Wahnvorstellungen werden nnd müssen schwinden,
und es wird nichts helfen, daß Viele so zäh an ihnen fest-
halten. Nicht bloß die starren Anhänger kirchlicher Dogmen
können lernen, wenn sie anders wollen, sondern vor allen
Dingen werden namentlich auch die „Freisinnigen" in vielen
Anschauungen eine völlige Frontveränderung zu machen haben,
denn manche Sätze der Philanthropen sind den Thatsachen
gegenüber schon längst bankbrüchig geworden.
Erscheint, als ob die Bewegung, welche ans allen gei-
stigen Gebieten so mächtig zn Tage tritt, ebensowohl eine
völlig durchgreifende, eine radical umgestaltende sein werde,
wie jene, durch welche die wirtschaftlichen Verhältnisse ein
ganz neues Gepräge schon jetzt gewonnen haben. Dieses
kennzeichnet sich sofort, wenn wir uns an einige Erscheinuu-
gen erinnern, welche seit dem Jahre 1830 hervortraten. Da-
inals fingen die neuen Transportmittel kaum erst zu wirken
an. Seitdem ist die Dampsschissfahrt kosmopolitisch gewor-
den und wir haben die Eisenbahnen. Der Telegraph um-
spannt fast den Erdball. Früher verlassene Handelswege haben
ihre Bedeutung zurückerhalten, während neue Bahnen eröffnet
worden sind; die Südsee ist erwacht; durch den Ertrag der
Goldgruben im westlichen Nordamerika, Australien und Neu-
seelaud sind dem Welthandel neue Antriebe gegeben worden;
durch die vermehrten Zahlmittel ist es möglich geworden, die
großartigen Werke herzustellen, gegen welche die hochgeprie-
senen der alten Römer sich doch nur winzig ausnehmen. Eine
friedliche Völkerwanderung findet ununterbrochen statt; die
Waarenerzengnng und der Waarenverbrauch nehmen in reißen-
der Progression zu, der Austausch wächst. Als Factoren im
großen Verkehr sind Amerika, Australien und die ostasiati-
schen Länder in die erste Reihe getreten. Die Russen sind
von der Newa bis an den turkestauischeu Serasfchan, vom
Baltischen Meere bis nach Samarkand und Buchara Herren,
während die Engländer als Gebieter des Landes vom Cap
Komoriu und vom Jrawaddy bis zur Grenze von Afghani-
stau dastehen. Innerasien und Südasien sind, gleich Vor-
derasien, in den Bereich europäischen Einflusses gezogen wor-
den und können sich desselben nicht mehr erwehren. Der
träumerische Orient ist für immer in seiner alten Ruhe ge-
stört worden. Er erfährt an sich, daß der Satz von activen
und von passiven Menschenracen auf Thatsachen beruht.
Auch China und Japan sind eröffnet worden, und der
Handelsverkehr Europas mit diesen Ländern stellt sich schon
jetzt auf mehr als 600 Millionen Thaler im Jahre. Selbst
diese Reiche, welche sich so lange ablehnend gegen die Außen-
Welt verhielten, konnten in diesem Zeitalter der Missionen
und der Baumwolle dem großen Verhängniß nicht entrinnen.
Das ist, wir werden weiter unten sagen weshalb, ein Glück
für die Menschheit im Großen und Ganzen.
Die wichtigsten Stapelprodncte des Welthandels sind kos-
mopolitisch geworden; man hat die Erzeugnisse der verschie-
denen Zonen aus der einen Er'dhülste nach der andern ver-
pflanzt: Zucker, Kaffee, Taback, Gewürze, Baumwollenarten:c.
In den Tagen des Colonialwefens waren die Producte in
der Äquatorialgegend und au den Wendekreisen zumeist Er-
zeugnisse der Sklavenarbeit, und in Brasilien und auf Euba
sind sie das auch heute noch. Man brachte aber Neger nur
nach jenen Gegenden, wo der eingeborene Indianer zur Arbeit
platterdings unfähig ist, wo die Natur ihm dieselbe versagt
hat und wo man auch durch Zwang mit ihm nichts ansrich-
tete. Da man trotzdem es mit dem letztern versuchte, ging
er zu Grunde, verschwand er von der Erde, wie ans den
karaibischen Inseln und im östlichen Brasilien. Ueberall dort
aber, wo der eingeborene amerikanische Mensch von Haus
aus die Fähigkeit zum Arbeiten in sich trug und trägt, hielt
er sich und der Neger war dort überflüssig, z. B. in vielen
jenseitigen Stellung der Menschenracen zc.
Theilen von Mexico und Peru und überall, wo das Klima
den weißen Menschen das Arbeiten im Freien erlaubte.
Ohne Sklavenarbeit war kein Anbau in den Colonien
möglich, namentlich nicht in den fruchtbarsten, heiß-feuchten
Gegenden der Tropenländer. Durch Sklavenarbeit ist der
Aufschwung der Gewerbe, des Seehandels und des Wohl-
standes in Europa während dreier Jahrhunderte bedingt wor-
den. Der in Afrika für die Welt, für die Menschheit uud
für sich selbst unnütze Neger leistete als Zwangsarbeiter der
Cultur und der Civilisation erhebliche Dienste; er stand als
brauchbares Mitglied der menschlichen Gesellschaft da. Schlimm
genug uud schimpflich in hohem Grade für feine weißen,
christlichen Gebieter, daß sie ihn vielfach wie ein Vieh be-
handelten und daß das Sklavereiverhältniß fo abscheulich und
barbarisch sich gestaltete. Nicht minder infam war die Art
uud Weise, in welcher der Sklavenhandel nnd die Negerver-
schiffung über See betrieben wurde; die Greuel der foge-
nannten Mittelpaffage zwischen Westafrika und Amerika
schrien zum Himmel.
Aber an der Sklaverei als solcher nahm man bis vor
etwa einhundert Jahren kaum einen Anstoß; nur die Quäker
eiferten gegen dieselbe; im Uebrigen fand man ein Verhält-
niß in der Ordnung, das fo alt ist, wie die menschliche Ge-
sellschaft. Als 1763 Carsten Niebuhr auf einem Schiffe
der christlichen Malteserritter das Mittelmeer befuhr, waren
die Ruderer mohammedanische Sklaven.
Nichts ist begreiflicher, als daß endlich die edleren Ge-
fühle in der Brust wohlmeinender Menschen Uberwallten und
daß ein Kreuzzug gegen den Sklavenhandel eröffnet wurde.
Die Philanthropen kamen auf. Wie segensreich namentlich
auch für den Neger hätten sie wirken können, wenn sie neben
ihren preiswürdigen Wallungen auch dem gesunden Men-
schenverstande das ihm gebührende Recht zuerkannt Hütten!
Aber man schüttete das Kind mit dem Bade ans, statt zu
reformiren, den Neger in seinem innersten Wesen zu begrei-
seu, ihn, den ewig Unmündigen, unter wohlwollende Obhut
und Vormundschaft zu stellen, und ihm ein seinem Naturell
angemessenes, menschenwürdiges Dasein zn schassen, ihn zu
einem nützlichen Mitglieds der Gesellschaft zu machen, —
statt dessen richteten sie den Neger zu Grunde. Der Aboli-
tionismus hat seine verderbliche Arbeit zur größern Hälfte
gethan; sie wird bald ganz vollendet sein und der Neger ist
dann geliefert.
Mancher wird ein Kreuz schlagen, wenn er dieses liest;
er wird Abscheu vor solchen Ansichten hegen, und Abscheu
auch vor denen, welche sie aussprechen. Wer aber in der
Cnltnranthropologie bewandert ist, wird die Richtigkeit dieses
aus Thatsachen und Geschichte beruhenden Ausspruches willig
zugeben *).
*) Ich schrieb 1 8 56 in der Cotta'schen Vierteljahrsschrift eine
Abhandlung über die Umwandelungen im Weltverkehr der
Neuzeit (Nr. LXXIll, S. 210 bis 256), und nahm in derselben
auch Bezug auf eine Versammlung von Glasgower Kaufleuten. welche
über die „depressed condition of our Westindia Colonies" Bera-
tung pflog; ich hob hervor, „daß Niemand, gegenüber einer unter
dem Scheine der Philanthropie irregeleiteten öffentlichen Meinung,
den Muth hatte, das letzte Wort zu sagen und zu erklären: Die
Emancipation (in der Art wie sie übereilt wurde, ohne jegliche Sorge
für den ehemaligen Sklaven) war nicht bloß eine durchaus fehlerhafte
Maßregel, nicht bloß eine Ungerechtigkeit gegen Pflanzer und Sklaven-
besitz«, sondern ganz eminent eineUngerechtigkeit gegen die
Neger selb st/welche man dadurch in Barbarei zurückwarf. Die
Maßregel war heillos, weil sie Allen Schaden und Keinem irgend
welchen Nutzen brachte, weder dem Staate, noch den Weißen und am
allerwenigsten den Schwarzen." Ein Geistlicher, welcher die Ver-
Hältnisse auf Jamaica aus eigener Anschauung erläuterte, sprach (am
22. September 1852): „Viele Pflanzungen sind verlassen worden;
keine Straße, kein Weg wird ausgebessert; sie sind ungangbar; keine
Einnahme ist zu erheben. Die Geistlichen und Lehrer ziehen sich
Karl Andree: Die Veränderung in der
Wir wollen versuchen, vom anthropologischen Standpunkt
aus eine Erläuterung zn geben.
So weit und so lange wir die verschiedenen Gruppen des
Menschengeschlechtes kennen, finden wir bei denselben con-
stante Eigenartigkeiten, besondere Racenanlagen
und durchaus verschiedene Begabungen. Diese machen
frjf) geltend in Bezug auf Alles, was wir unter dem Namen
Zivilisation oder Gesittung überhaupt verstehen, in geistigen
Auffassungen, in Religion, im Staatswesen, im ganzen Cha-
rakter. Die verschiedenen Racen sind nicht unbedingt kosmo-
Politisch, sondern ihre Verbreitung und Bewurzelnng wird
durch geographische und klimatologische Umstände bedingt. Der
Eskimo kann kein Aeguatorialmensch werden, der Neger vom
Senegal oder der Waldindianer vom Amazonenstrom kein
Polarmensch. Jede große Gruppe ist für besondere Regionen
von der Natur selber augelegt. Die Natur hat die sogenannte
Menschheit hierarchisch angelegt, nicht demokratisch und,
um diesen Ausdruck zu gebrauchen, nicht egalitär. Der
ganze Verlauf der Geschichte spricht dafür, uud nicht minder
die Anthropologie wie die Völkerkunde. Das Gleichheits-
princip hält absolut nicht Stich gegenüber der Abstufung der
Racen; es gehört zu den Wahnvorstellungen, die keine andere
Unterlage haben als die hohle Luft; es ist auch nicht im min-
desten „liberal", sondern einfach absurd*).
Der Neger ist iutellectuell geringer begabt, als der
weiße Mensch oder der Ostasiat. Er hat auch stets anderen
Racen gedient und niemals andere beherrscht oder irgend
welchen Cultureinsluß gehabt. Er kann arbeiten, wenn er
durch Zwang dazu angehalten wird. Das hat mau vou deu
Zeiten der Pharaonen bis anf den heutigen Tag begriffen;
man hat ihn, hier unter milderen, dort unter strengeren For-
men, dienen und arbeiten lassen, und so geschieht es anch von
Seinesgleichen in seiner eigenen afrikanischen Heimath, wo
von Uranbeginn Alles auf Sklaverei, namentlich auch auf
jene des Weibes, gestellt war, noch ist und auch wohl künftig
sein wird. Dieser Neger war bis zur Zeit der Entdeckung
Amerikas Sklav nur iu einzelnen Theilen der Alten Welt.
Vor dreihundert Jahren verpflanzte man ihn nach der West-
lichen Erdhalbe und machte ihn zum Arbeiter in den Colo-
itien. Durch den Sklavenhandel über See wurde er zunächst
in den tropischen Ländern kosmopolitisch; dort sollte und
mußte er arbeiten, und wurde iudirect von großer Bedeutung
für die EntWickelung des Culturlebens. Ohne seine Arbeit
hätte es sich uicht verlohnt, auch nur das Fahrgeld für ihn
zu bezahlen; er arbeitet aber nicht, wann und wo er nicht
muß. Beim Bau tropischer Erzeugnisse handelt es sich um
regelmäßige Arbeit, aus die sicher und rechtzeitig zn rech-
nen ist, und diese ist vom Neger nicht ohne Zwang zu erlan-
gen. Die Abolitionisten haben ihn nun zu einem freien
Nichtarbeiter gemacht, und eben dadurch richten sie ihn zu
Grunde, namentlich auch moralisch. Er verwildert; der
Rückschlag zur afrikanischen Barbarei ist in den heißen Län-
dern in vollem Gange; in gemäßigten Klimaten kann der
zurück; die Obiah- und Mtyall-Männer sFetischpriester) legen den
Negern das Joch afrikanischen Aberglaubens auf, und wenn nicht
eine gütige Vorsehung sich ius Mittel legt, so werden alle Missions-
arbeiten und Antisklavereibemühungen ganz unfehlbar keinen andern
Ausgang nehmen, als Verwüstung und Barbarei." — Nun denke
™an an den jüngsten Aufstand auf Jamaica und wie die Philan-
w fi!U ^en Gouverneur Eyre, dem die Weißen Rettung vor dem
^ » bade verdankten, mißhandelt haben. Es war brav von Thomas
a r 111 c< in dieser Angelegenheit den Phantasten ihren Standpunkt
klar zu machen.
) We li\e in an analytical and disintegrative age, whose
vocation lt iS, to destroy the shams and unveracities bequeathed
to us by an effete past. J. W. Jackson , Antliropological Review
XXI, p. IdO.
gegenseitigen Stellung der Menschenracen:c. 19
Neger die Concnrrenz mit den weißen Arbeitern niemals be-
stehen; er ist uud bleibt ein Proletarier.
Aber tropische Prodncte will die Welt haben und weil
nun einmal der freie Neger nicht oder doch nicht so arbeitet,
wie Nachfrage und Bedarf es erfordern, so sieht man sich nach
besseren Kräften um. Glücklicherweise sind dergleichen
vorhanden. „Freie" Arbeit (— die weißen Fabriksklaven
gelten ja für „freie" Arbeiter bei den Philanthropen —)
kann nur durch Menschen beschafft werden, die arbeitslustig
siud. Das ist der Neger nicht uud ist er nie gewesen. Müßig-
gänger sind unnütz auf Erden. Die Sklaverei ist in den
Colonien abgeschafft oder wird es doch bald überall sein und
dadurch ist auch dem Neger sein Urtheil gesprochen, die „Frei-
heit" richtet ihn zu Grunde. Auf der Zuckerinsel Mauritius
ist er längst vom indischen Malabaren völlig überflügelt wor-
den; seine Zahl hat sich binnen dreißig Jahren um ein Vier-
theil vermindert und heute leben dort etwa 40,000 faule
Neger neben 160,000 indischen Knlis, welche gern und wil-
lig arbeiten und erwerben.
Mit der ersten Sklavenladnng, die aus Afrika nach
Amerika kam, begann eine Revolution in der gegenseitigen
Stellung der Racen und zugleich eiue völlige Umwandelnng
in den wirthschaftlichen Verhältnissen. Für Amerika ist diese
Zuthat schwarzer Elemente geradezu verhäuguißvoll geworden.
Aber das erste Kulischiff, welches aus einem chinesischen
Hasen ostasiatische Arbeiter nach der neuen Welt brachte,
eröffnete nicht minder eine neue Aera. Es war gleich
den Schneeflocken, welche der Lawine vorausgehen, und diese
ostasiatische Lawine wird den schwarzen Menschen überschüt-
ten oder verdrängen, auf jeden Fall seine Dienste entbehrlich
machen.
Es trifft sich, daß gerade in der Zeit, da der Abolitionis-
mus*seiue radicale Aufgabe nahezu vollendet hat, das lange
verschlossene Asien eröffnet wurde. Die ersten Agi-
tationen der Negerbefreier in Nordamerika und die Verkün-
dignng der Emaucipation im britischen Westindien fallen so
ziemlich in dieselben Jahre, in welchen England seine gott-
losen Opiumkriege gegen China begann uud die Eröffnung
einiger Seehäfen im Blumenreiche der Mitte erzwang. Je
mehr die Abolitionisten in der Neuen Welt Boden gewannen
und ihrem Ziele näher rückten, um so mehr wurde im fernen
Osten der europäische Einfluß vorwaltend. Den gegenwär-
tigen Stand der Dinge im Jnselreiche des Sonnenaufgangs
habe ich neulich geschildert („Globus" XIII, S. 247. 270);
Japan ist nun ein- für allemal in die großen Wellenschläge
des Verkehrs hineingezogen worden und fügt sich; noch mehr,
es begreift die neuen Verhältnisse.
Aber dasselbe ist auch mit China der Fall, und wir haben
in unserer Zeitschrift die einzelnen Momente, welche dafür
kennzeichnend erscheinen, häufig erörtert oder doch berührt.
Am entschiedensten tritt der Bruch mit dem altchinesischen
Systeme dadurch zu Tage, daß der Kaiser die übrigen Mon-
archen nun ausdrücklich als gleichberechtigt anerkennt. Ich
möchte sagen, er habe den Knopf vom alten Pagodenthnrme
genommen, als er an die Spitze der Gesandtschaft, welche
Nordamerika und die europäischen Höfe besucht, um mit die-
sen diplomatischen Verkehr anf allgemein völkerrechtlichen
Grundlagen anzuknüpfen, — als er an die Spitze derselben
einen weißen, abendländischen Mann, den Nordamerikaner
Anson Burlingame, stellte.
Von nun an werden die 300 Millionen ostasia-
tischer Menschen so zu sagen erst flüssig. Die Schran-
ken, durch welche sie innerhalb ihres allerdings weit ausge-
dehnten, aber vou der Außenwelt abgeschlossenen Reiches
zumeist aus sich allem angewiesen waren, siud gefalle».
Vou nun an können sie ungehindert über dieselben hinaus-
3*
20 Karl Andree: Die Veränderung in der
strömen in die weite Welt; der ostasiatische Mensch wird
kosmopolitisch nnd er ist in eminentem Sinn eine Arbeits-
kraft.
Ich erinnere mich, daß schon vor zehn oder fünfzehn Iah-
rcn Karl Neumann die Chinesen als das tüchtigste Volk
zum Colouisireu in heißen Gegenden bezeichnet hat. Der
Ausspruch ist richtig. Der Chinese ist in Hinterindien
und im ostasiatischen Archipelagus zugleich Ackerbauer, Hand-
werker, Bergmann und Schiffer. Gewerbe und Verkehr sind
in Annam wie in Siam und theilweise auch in Birma in
seinen Händen, und auch die niederländischen Besitzungen
verdanken ihm einen nicht geringen Theil ihrer wirthschast-
lichen Regsamkeit. Er hat überall Erfolg, einmal weil
er flüssig arbeitet, dann aber auch, und darauf lege ich be-
souderes Gewicht, weil er ein cooperativ er Mensch ist und
weiß, was das Zusammenlegen der Arbeitskräfte, das ge-
meinsame Wirken auf ein und dasselbe Ziel hin, bedeutet.
Das gerade mangelt dem Mala Yen, welcher dazu keine
Raeenanlage hat, und daraus erklären sich die Erfolge der
Chinesen in allen Gegenden, in denen Malayen wohnen.
Diese Regionen Hinterindiens und des Archipel«-
gus sind als die erste Etappe der großen chinesischen Aus-
Wanderung zu betrachten.
Aber die Fluthwelle drängt längst immer weiter und wei-
ter. Sie ist mit kleinen Schlägen bis Peru, Brasilien,
Guyana, Demerara und nach den Antillen gedrungen,
mit stärkerer Kraft schon nach Australien und Calisor-
nien. Das Alles sind erst Anfänge; die Kulis, welche
man an vereinzelte Punkte Amerikas geschafft hat, können
nur als Vorläufer betrachtet werden; in unseren Tagen aber
steht der große Auszug bevor, durch welchen die Arbeits-
Verhältnisse, namentlich auch die Arbeitslöhne und die Preise
der Colonialwaaren, eine tiefgreifende Veränderung erfahren
müssen. Die Abolitionisteu werden sich bald überzeugen, wie
ihr „schwarzer Bruder, Mensch und Mitbürger" von dem
weizengelben Menschen überflügelt ist; dieser hat ganz ande-
res Schrot und Korn in sich.
Diese Umwandlung wird keine plötzliche sein, sie kann
nur langsam vor sich gehen, muß aber tief in alle Lebens-
Verhältnisse eingreifen. Zunächst wird man den Chinesen
verlangen und haben müssen in jenen Ländern, wo die Zwangs-
arbeit der Neger aufgehört hat. Verständige Colonialver-
waltungen begreifen das, z.B. die niederländische in Guyana.
Sie hat die Sklaven bedingt freigegeben; sie bahnte für die
ersten zehn Jahre Uebergänge an; aber in der festen, auf
alter Erfahrung beruhenden Ueberzeugung, daß nach dem Ein-
treten völliger Emancipation ans Negerarbeit platterdings
nicht mehr zu rechnen sei nnd ein Ersatz dafür geschafft wer-
den müsse, hat sie zunächst eine Million Gulden ausgewor-
fen, um die Einführung chinesischer Kulis zu ermöglichen.
In den englisch-westindischen Colonien hat man sich zu ähu-
lichen Mitteln entschließen müssen. Auch sie finden in der
Arbeit dieser Ostasiaten die Abwendung des Ruins, und das
ausgedehnte Kaiserreich Brasilien, in welchem die Aufhebung
der Negersklaverei vorbereitet wird, kann demselben nur ent-
gehen, wenn es den Chinesen eine Heimath bietet.
China reicht vom zwanzigsten bis zum vierzigsten Grade
nördlicher Breite, von den Tropen bis dorthin, wo die Flüsse
zwei bis drei Monate hindurch mit einer Eisdecke belegt sind.
Es hat eine große Mannichfaltigkeit des Klimas, fein Volk
gedeiht auch uud bewurzelt sich iu der Aeguatorialregion des
indischen Archipelagus, und Chinesen allein werden fähig
sein, die fruchtbaren Gegenden am Amazonenstrome, die jetzt
nahezu verödet sind, nutzbar für die Welt zu machen. Die
Vortheile des Anbaues in diefen nun der Schifffahrt aller
Flaggen eröffneten Gebieten des größten Stromes der Welt
gegenseitigen Stellung der Menschenracen :c.
liegen so klar aus der Hand nnd sind so lockend, daß man
gern zu den; einzigen Auswege greifen wird, der allein er-
fprießlich sein kann. Je nach der Heimath des Chinesen
kann man ihn in der heißen Zone oder im Erdgürtel mit
gemäßigtem Klima als Handwerker oder Anbauer verwenden,
und schon darin liegt ein Vortheil gegenüber dem Neger.
Der Chinese ist zur Auswanderung geneigt, und wo er
sich in Verhältnissen befindet, die ihm zufagen, bleibt er
dauernd im Lande wie in Hinterindien und im Archipelagus.
In Australien nnd Californien hat er sich allerdings nicht
bewurzelt und er verfährt dort, wie unfere europäischen Kauf-
leute in den heißen Ländern; sobald er eine gewisse Summe
erworben hat, kehrt er in sein Vaterland zurück. Er trifft
dort mit einer überlegenen Anzahl von weißen Menschen zu-
sammen, denen er als ein Geschöpf von anderer Raee fremd-
artig gegenübersteht. Hier muß er in zweite Linie zurücktre-
ten; der Kankasier ist dem mongolischen Menschen überlegen,
wie dieser dem Neger, und dieser hat unter der Raeenanti-
pathie zu leiden.
Ganz anders gestalten sich die Verhältnisse des Ostasia-
ten überall, wo er Raeen begegnet, denen gegenüber er eine
ethnische Ueberlegenheit in sich trägt, — gegenüber den Ne-
gern, den Indianern und den Mischlingen. Denn er
gehört einem uralten Culturvolk an, dessen ganze Civili-
sation zwar einen andern Zuschnitt hat als unsere europäi-
sche und in der uns Manches seltsam erscheint. Aber ein
Culturvolk sind die Chinesen, und in der Scala intellee-
tneller Begabung stehen sie gleich hinter den Europäern.
Man denke sich Millionen dieser Ostasiaten nach Amerika
versetzt, nicht in die Gegenden, wo der weiße Mensch Feld-
arbeiten verrichten kann, denn dort wären sie überflüssig,
sondern in die Länder, wo der Waldindianer als Jagdnomade
umherstreift, wo der freie Neger nicht arbeitet, wo ein für
alle besseren Zwecke unbrauchbares Gewimmel von Mifch-
lingen wohnt und die Zahl der weißen Leute verhältnißmä-
ßig gering ist. Das ganze tropische Amerika wird durch jene
Menschen eine völlige Umwandelung erfahren, weil sie arbei-
ten, methodisch und andauernd arbeiten. Ich will noch wei-
ter gehen; selbst manche Theile Afrikas werden für die Welt
erst nutzbar werden, wenn statt der Neger und der für den
Ackerbau ungeeigneten Kaffern chinesische Ansiedler den Bo-
den in Angriff nehmen.
Wir sehen in unseren Tagen eine gewaltige ethnische
Krisis; diese ist durch die Racenüberlegenheit der weißen
Menschen hervorgebracht worden. Durch den Einfluß der
Europäer und die Berührung mit ihrer Civilisation werden
manche Völker vom Erdboden so völlig vertilgt, daß nicht
eine Spur von ihnen übrig bleibt (viele Indianer in Nord-
amerika :e.). Andere leisten jenen Einflüssen einigen Wider-
stand, sie ringen, um eine jetzt landläufig gewordene Floskel
anzuwenden, in dem Kampf um das Dasein, aber es wohnt
ihnen nicht genug Zähigkeit inne, um denselben bestehen zu
können; sie versinken in Agonien nnd verenden allmälig (Süd-
seeinsulaner). Wieder audere dienen zum Experimente für
vermeintlich philanthropische Bestrebungen; man bekehrt an
ihnen herum und wirft sie völlig aus dem innern Gleich-
gewichte, weil man ihnen zumuthet und aufdringt, was sie
geistig nicht begreisen und packen können (Madagaskar). Aber-
mals andere werden von der christlichen Civilisation durch
Kriege langsam ausgerottet (in Nordamerika, Neuseeland).
An noch anderen macht man waghalsige Versuche, welche
durch unheilvoll wirkende Abstractionen eingegeben wurden,
man hat den Halbbaren freigegeben und losgelassen; und wir
haben in den südamerikanischen Republiken und Westindien
die Beweise dafür, wie das wirkt und wie culturfeindlich das
L. Hollaender: Dorf- und Städteleben in
ist. Selbst die Indianer haben durch Vermischung mit me-
lanischem Blute gelitten, das ja überall corrumpireud wirkt.
Sie alle, diese Wald- oder Steppenindianer, Südseemenschen,
Madegassen, Kaffern, Neger uud Mischlinge, sind für höhere
Zwecke unbrauchbar. Der Gaug der Ereignisse schreitet über
sie hinweg und tritt sie mit eisernem Fuße nieder.
Aber dadurch entstanden Lücken. 9hm trifft es sich, daß
gerade in einer solchen Zeit eine lebenskräftige Race ein-
springen kann, um dieselben auszufüllen. Die Ostasiaten
sind vollkommen befähigt, der Welt, der Cultureutwickelung
große Dienste zu leisteu, natürlich so weit ihre ethnischen
Anlagen das gestatten. Es hat lange gedauert, bevor wir
activeu europäischen Menschen uns die weite Welt zum Schau-
Platz unserer Betriebsamkeit und Thätigkeit erkoren uud erober-
ten; uoch vor 400 Jahren kannten wir keinen Seeweg nach
Ostindien, kein Amerika, keine Südsee. Dann aber begann
den nordöstlichen Districten des Caplandes. 21
der Drang nach außen und heute empfinden alle Meere und
alle Erdtheile nnfere Macht und uusern Einslnß.
Jetzt ist die Reihe, kosmopolitisch zu werden, auch an
jene 300 Millionen weizengelber Ostasiaten gekommen.
Bisher waren ihre Kräfte vielfach gebunden und anf einen
bestimmten Raum beschränkt; nun werden sie losgelassen und
ziehen über See, um überall, wohin sie kommen, zu arbeite».
Es liegt im Wesen der Dinge, daß sie in anderen Ländern
und in steter BerüHrmrg mit anders gearteten Völkern Man-
ches von ihrem specifischen Chinesenthum ablegen werden und
müssen; sie treten dann allmälig in eine neue Phase der Ci-
vilisatiou. Wie diese sich gestalten werde, vermag heute Nie-
mand zn sagen, aber so viel ist gewiß, daß die Welt nur ge-
Winnen kann, wenn der chinesische Exodus großartige Aus-
dehuuug gewinnt und der Ostasiat in der neuen Welt den
Afrikaner überflügelt hat.
Dorf- und Städteleben in den nordöstlichen Districten des Caplandes.
Von Dr. L. Hollaender.
I.
Noch ein Mal will ich dich betrachten, ehe ich von dir
scheide. Man lebt nicht sieben Jahre in dem elendesten
Städtchen Südafrikas, ohne daß die Trennung schwer das
Herz bedrängt. Du ewig brauner Berg, der stets beim ersten
Blick durchs Fenster meinen Augen sich gezeigt, und ihr an-
deren kleinen Hügel ringsherum, von denen herab ich die
Stadt wachsen und größer werden sah, noch ein Mal will
ich euch besteigen uud die vor mir liegenden Häuser uud Stra-
ßeu betrachten, um das ganze Bild fest meinem Gedächtniß
einzuprägen, damit ich es immer vor mir haben kann in der
alten Heimath, in Europa.
Wie ruhig liegst du vor mir, du niedliches Dörfchen mit
weiß angestrichenen, reinlichen Häusern, erglänzend in der
Sonne heißen Strahlen, mit flachen Dächern nnd grünen
Jalousien an den Fenstern, die Schatten und Kühle im In-
nern des Zimmers verbreiten. Ich sehe viereckige, regelmä-
ßig ausgelegte Plätze und Straßen dazwischen, hier und da
mächtig entwickelte beiden oder kräftige australische Gummi-
bäume, deren stämmiger Wnchs die Mühe kaum verräth, die
die erste zarte Pslauze dem sorgsamen Hansbewohner berei-
tet hat.
Zu meiner Rechten, mehr nach Westen hin, schlängelt sich
in breitem Bett ein kleiner Fluß mit vorspringenden Steinen,
dicht bedeckt mit Leinen aller Art zum Trocknen, und andern-
selben vereinzelte Kassirsranen emsig die nasse Wäsche auf
einem großen ebenen Steine zur Reinigung ausklopfend.
Deutlich treten mehrere große Hänser unter allen übrigen
hervor. Mehr nach Westen hin, an dem einen Ende des
Dorfes, entdecke ich ein plumpes, kreuzförmiges Gebäude mit
Stroh gedeckt — die alte holländische resormirte Kirche —,
und unter mir, fast dicht zn meinen Füßen, ein schennenarti-
mit Eisen bedachtes Haus, — die neue holländische Kirche
Altgläubigen, die aus der Gemeinschaft ihrer Brüder
und Schwestern ausgeschieden, weil sie nur die Psalmen
David s und keilte anderen Gesänge in ihrem Gottesdienste
dulden wollten.
Änl andern Ende des Städtchens, mehr nach Nordosten
hin, sehe ich ciue kleine zierliche Capelle, die englische Kirche,
nnd ganz in der Mitte, eiue Seite des großen, viereckigen
Platzes vollständig ausfüllend, ein großes Schulgebäude mit
der öffentlichen Bibliothek. Die katholische Capelle mit einem
Kreuz am Giebel, das wesleyanifche Bethaus, das Gerichts-
haus, die zwei Bankgebäude, zwar auch sichtbar, aber wenig
in die Augen fallend, vollenden die Anzahl der öffentlichen
Gebäude, während im Hintergründe ein stiller Platz bemerk-
bar wird, der, mit einer Mauer umgeben, in seinem Innern
von wenigen neuen, weißen Grabsteinen bedeckt ist — der
stillste Theil in dieser stillen Scenerie.
Hier und da entdecke ich noch ein zweistöckiges Haus, vor
dessen Thür als der bemerkbarste Punkt eine große Woll-
wage oder ein zweiräderiges Wägelchen erscheint. Aber dann
nichts als kleine Häuschen mit flachen, weißen Dächern, ge-
radlinigen, menschenleeren und verödeten Straßen, und über
das ganze Bild ein tiefblauer, von keiner Wolke getrübter
Horizont, keine Bewegung in der Luft uud erdrückende Son-
nenhitze überall.
Das ist das Städtchen.
Es liegt in einer ziemlich dreieckigen Ebene, von allen
Seiten von bald kleineren, bald größeren Hügeln umgeben.
Gerade mir gegenüber ist ein ziemlich hoher Berg, an seiner
südwestlichen Seite begrenzt dnrch ein enges Thal, hier Kloos
oder Kluft genannt, das sich wohl eine deutsche Meile lang,
bald sich verengernd, bald sich wieder erweiternd, hinzieht.
Mitten drin schlängelt sich der oben erwähnte Fluß mit ein-
zelnen Weidenbäumen, Rhododendronbüschen und allerhand
Lianen an seinen Ufern, der eigentümlichen Scenerie des
Thals einen wunderbaren Reiz verleihend, dessen ziemlich
hohe Berge bald starr und kahl und dichter in die Höhe ragen
oder auch vou einer Menge von Agavestauden, Cacteen und
allerhand sachlichen Büschen dicht bedeckt sind.
In der öden, dürren Zeit des Sommers bleibt dieses
Thal meistens grün. Des Flüßchens Wasser trocknet so
schnell nicht aus, wie gewöhnlich die meisten Flüsse^in Süd-
asrika, nnd außerdem ist das Thal au manchen Stellen zu
eng, als daß der Sonne versengende Strahlen überall hin-
dringen könnten. Aber dafür sind auch die dasselbe eiuschlie-
22 L. Hollaender: Dorf- und Städteleben i
ßenden Berge der Lieblingsaufenthalt einer unzähligen Menge
von ziemlich großen Affen, jener lustigen Perfonen des Thier-
reichs, die mit ihren possirlichen Sprüngen jede menschliche
Gaukelei verlachen uud mit Ausnahme kleiner Diebereien in
den Gärten der benachbarten Farmen ziemlich harmlos sind,
aber furchtbar und entsetzlich werden, wenn sie einmal von
einem unvorsichtigen Jäger angegriffen sind. Das Gebrüll
des Löwen, das Geheul des Schakals uud das rauschende Droh-
nen des Straußes sind Kiudergejammer gegen das tosende,
schrillende, heulende, wutschnaubende Geschrei einer ganzen
Affenmeute, und verloren ist der unglückliche Schütze, den
nicht ein schnellfüßiges Pferd eiligst aus dem Bereiche dieser
Bestien bringt, die wie auf ein Comniando sich mit Steinen,
losgerissenen Baumstämmen zc., die sie aus den Jäger wer-
fen, bewaffnet haben.
Entlang dem Abhänge dieser Berge führt eine gut ange-
legte Straße vom Städtcheu zn den nächsten Farmen, und
unbegreiflich wird es dem Europäer, wenn er die Spuren
der alten Straße erblickt, wie ehemals, unter diesem Stein-
gerölle, in diesen Löchern und über den vorspringenden Fels-
blöcken ein Wagen fortgezogen werden konnte.
Zur linken Seite mehr nach Südost starren andere Berge
in die Höhe, die ich par excellence die Doppersdorper Berge
nennen will, denn um es mit einem Male zn sagen, das
Städtchen, das ich beschrieben, ist Dopperdorp, wenige
Meilen vom Oranjeslusse gelegen, das im Jahre 1848
noch aus einer elenden Strohhütte bestanden, deren Bewoh-
ner auf dem ihnen von der Regierung angewiesenen Boden
verhungern zu müssen glaubten, während er heute bereits
mehrere Hundert gut gemauerter Häuser zählt uud jene oben
beschriebenen öffentlichen Gebäude enthält.
Auf einem kleinern Hügel mir gegenüber sind drei kleine
viereckige, weiße Gebäude, sast ähnlich den Grabmälern von
Propheten, wie sie Lamartine beschreibt, in Wirklichkeit
jedoch drei Pulvermagazine darstellend, die den drei größten
Handlungshäusern des Ortes angehöre«, während zu meiner
Rechten, nach Westen hin, kleine Hügel sich befinden, die sich
gen Süden zu größeren Bergen und Gebirgen ausdehnen,
die man die Bamboaberge nennt und welche die dritte Terrasse
von den dreien, aus denen die östlichen Provinzen des Cap-
landes bestehen, bilden.
Alle diese Erhebungen wie auch die Thäler, die von ihnen
eingeschlossen werden, sehen gewöhnlich braun oder grau aus,
sind theilweise bedeckt von dünnem Grase oder dornigen Ge-
büschen, so daß in der That unser Städtchen sowie die nahe
liegenden Farmen und Bauernhöfe mit ihren deutlich sicht-
baren grünen Weidenbäumen wie Oasen in der Wüste er-
scheinen. Das Bett des Flüßchens ist zwar breit, enthält
jedoch während des Sommers außer in dem oben beschriebe-
nen Thale nur sehr wenig Wasser. Aber zu bedauern ist
der Stadtbewohner, der nach einem drei- bis vierstündigen
Regen von dieser Seite her ins Dörfchen oder Städtchen
kommen muß.
Da es nur sehr wenig Brücken in Südafrika giebt, ja
dieselben sich kaum auf den großen Transportstraßen finden,
und Flüsse selbst nach dem geringsten Regen ungeheuer an-
schwellen und mit so entsetzlicher Wucht dahiuströmen, daß
selbst schwimmende Pferde nicht gegen die Macht der brau-
senden Wogen ankämpfen können, so hat schon mancher gute
Ehemann, der nach langer Reise oder nach einem tagelan-
gen Ritt in glühender Sonnenhitze seinen häuslichen Comfort
dringend ersehnte, sich bescheiden müssen, auch diese letzte
Nacht im Angesicht der ersten Häuser des Dorfes und im
Angesicht der rauchenden Schornsteine hungrig und fröstelnd
im Freien zu campiren.
Die erste Zeit, die man in so einem südafrikanischen
den nordöstlichen Districten des Caplandes.
Städtchen zubringt, wird man eigenthümlich überrascht von
dem fast orientalischen Anstrich, von der eigenartigen, be-
schaulichen Weise des dortigen Lebens, und nicht selten wird
man an alle die südlichen Märchen längst verklnngener Ju-
geudzeit gemahnt. Am Morgen und Abend kommen schwarz-
und braunhäutige Rebekka's zur Pumpe auf den Marktplatz,
um Wasser zu schöpfen, die Kannen, Krüge oder Eimer auf
dem Kopfe balancirend. Ein einziger Rock umkleidet ihre
wohlgeruudeten Hüften, während eine große wollene Decke,
die ehemals weiß gewesen, jetzt aber durch den Gebranch
bereits eine vollständig unbestimmte Farbe angenommen
hat, so malerisch als möglich um den Unterleib drapirt ist,
so daß man bei der geringsten Bewegung der Arme die vol-
len Schultern sowohl als die anschwellende Brust erblicken
kann.
Denn auf nichts ist das Kaffirweib — denn diese muß
die schwereren Hausdienste verrichten — stolzer, als auf ihren
wohlgerundeten Busen, den sie auch vielleicht noch koketter
als unsere weißen Damen bei jeder Gelegenheit zur Schau
zu tragen versteht.
Wir befinden uns im Hochsommer, im Anfang Januar.
Da es gerade Mittag ist, so herrscht im Städtchen die größte
Ruhe. Kein Mensch, kein Thier, kein Wägelchen bewegt
sich auf den schattenlosen Straßen und Plätzen, die Sonne
versendet ihre glühendsten Strahlen, und in der ganzen At-
mosphäre herrscht eine so tiefe, tonlose Ruhe, als ob alles Le-
ben in der Natur erstorben wäre. Alle Jalousien sind vor
den Fenstern geschlossen uud in den kühlen Zimmern ruhen
behaglich Mann, Frau und Kind, die Vorbereitungen zum
Mittagsmahl zu erwarten, das indessen die Kassirsranen unter
Summen und Schwatzen Herrichten und das in der Regel
zwischen 3 und 4 Uhr eingenommen wird. Denn bei 26 bis
28° R. im Schatten erstirbt wohl jegliche Lust zur Arbeit,
und genug Zeit dazu giebt der kühlere Morgen in einem
Lande, wo man zur Erwerbung des Lebensunterhaltes nur
geringer Arbeit bedarf. Ist das Mittagbrot vorüber, das
meist aus Hammelfleisch, etwas Gemüse nebst englischem Biere
oder Sherrywein — der gewöhnliche Cap - Landwein ist zu
stark fnselhaltig — besteht, dann fängt es an sich im Städt-
chen zu regen. Die Pferde werden aus dem Stalle oder
aus dem Felde von der Weide, wo sie frei umherlaufen, ge-
holt, an den Wagen geschirrt oder gesattelt und nach allen
Richtungen hin strömen Reiter und Wagen, um die letzte
kühle Lnst kurz vor Sonnenuntergang zu genießen.
Mit der Dämmerung finden sich Alle wieder zu Hause
ein und ein einfacher Thee beschließt die Mahlzeit und die
Arbeit des Tages. Im Winter versammelt ein gemüthliches,
hell aufloderndes Feuer die Familie nebst etwaigen Besuchern
am Herde. Vielleicht wird dann auch musicirt, vorgelesen :c.,
aber nach 10 Uhr ist Alles bereits im Bett, während zur
Sommerzeit des Mondes wunderbar klares Licht hänsig noch
lange nach Mitternacht fröhliche Gruppen an der Veranda
irgend eines Hauses beleuchtet.
Aber dieses ruhige, beschauliche und einförmige Leben wird
öfters in der Woche und im Jahre durch gewisse mehr auf-
regende Ereignifse unterbrochen. Zu diesen gehören vor Al-
lem zuerst die ein Mal alle acht Tage aus den westlichen
und südlichen Provinzen anlangende Post, und das Eintreffen
der Bewohner des Districts, d. h. der Boers am Sonnabend,
um den sonntäglichen Gottesdienst zu besuchen.
Da wird es auf einmal lebendig in unserm stillen Städt-
chen, und Straßen, in denen man die ganze Woche über
weder Menfch noch Vieh erblickt, bevölkern sich plötzlich in
einer Weise, die der Uneingeweihte zuvor für unmöglich ge-
halten hätte. In jedem füdafrikanischen Dörfchen oder Städt-
chen — beide Bezeichnungen sind für das ganze Capland
L. Hollaender: Dorf- und Städteleben i
gleichbedeutend, da man eigentlich nur die Hauptorte des
Landes, wie die Capstadt, Grahamsstadt und King-Williams-
stadt, als Städte anerkennt— bestehen mehrere Straßen voll-
ständig aus den den Farmern angehörigen Häusern. Meist
befinden sich diese Straßen ganz in der Nähe der Kirche, da-
mit der fromme Boer und die noch frömmere Ehefrau nur
ja nicht weit zu gehen nöthig haben.
Natürlicherweise bleiben diese Häuser, in denen sich auch
ein bestimmtes Mobiliar, wie eine Bettstelle und einige Stühle
und Tische befinden, und vou deueu manche sogar, je nach
dem Reichthum des Besitzers, aufs Glänzendste ausgestattet
siud mit Spiegeln, Sophas, Teppichen, kurz mit allem mög-
lichen euglischeu Comfort, stets geschlossen und werden nur
für kurze Zeiträume während der Anwesenheit der Farmer
im Dorfe geöffnet und gelüftet.
Von Sonnabend Nachmittag an erscheint nun eiu Wa-
gen nach dem andern und jeder gezogen von 6 bis 8 Pfer-
den oder 18 bis 20 großen langhornigen und stämmigen
Achsen. Bald ist es der schon so oft beschriebene lange,
schwere afrikanische Zeltwagen, gegen 18 Fuß lang und 5
Fuß breit, ohne Federn, ohne Sitze :c., in welchem die ganze
Familie einfach auf den von Hanfe mitgenommenen Betten
und Kissen mehr malerisch als bequem sich hinstreckt, wobei
dem Ochsenlenker allein vorn eine Kiste als Sitz dient, bald
ist es ein ans starken Federn ruhender Pferdewagen, der
bereits im Innern luxuriöse Sitze für 8 bis 10 Personen
enthält, oder es ist ein moderner zweirädriger Gig, von
vier munteren Pferden gezogen, in dem sich ein junges Ehe-
paar mit zwei Kindern und einem Kaffirmädchen befindet.
Sobald nun der Wagen das bestinmite Haus erreicht
hat, d. h. alle darin sitzenden Menschenkinder, schwarze so-
wohl als weiße — der Bauer reist uie ohne Dienerschaft —
trotz der lebensgefährlichen Straßen und Flüsse, glücklich
und wohlbehalten vor dem Hause angelaugt sind, wirft pater
familias seine lange Bambuspeitsche auf die Seite, springt
herunter vom Wagen und öffnet majestätisch die Thür seines
Hauses. In unglaublicher Schnelle machen die Hottentoten
ein Feuer auf dem Herde, sofort werden die mitgebrachten
Betten und Matratzen an den möglichst unpassendsten Plätzen
oder Winkeln auf dem ungedielten Fußboden ausgebreitet,
Kaffee wird gekocht, kleine Stückchen gerösteten Weißbrotes,
ähnlich unseren Biscnits, werden aus Kisten und Kasten
hervorgelangt und zn dem indessen fertig gewordenen Kaffee
wohlbehaglich verzehrt.
Die Töchter setzen sich in einfachen, aber mehr zweck-
mäßigen als geschmackvollen Kleidern entlang der Wand des
Frontzimmers, dessen Thür, direct zur Straße führt, zur
Mutter, die bereits mit dem zwischen beiden Beinen einge-
klemmten Kleide am Kaffeekessel sitzt, den sie durch darunter
liegende glühende Holzkohlckwarm zu halten sucht, während
die Söhne hinausstrolchen, um nach den Pferden oder Ochsen
zu sehen oder um ihre etwaigen Bekauuteu aufzusuchen. Die
Kinder und Enkelkinder, denen bereits zur Feier der Ankunft
mehrere Blechbüchsen mit Consect geholt worden sind, lagern
sich auf dem Hofe oder auf der Straße zu den schwarzen
Spielgenossen und wälzen sich dort herum oder prügeln oder
beschmutzen sich noch mehr als gewöhnlich.
Ist der Wagen hinter das Häuschen in den Hof hinein-
gefahren und sind Pferde und Ochsen zur Stadt hiuaus zum
Hasser und zur Weide getrieben, denn weder Sommer noch
nter erhalten diese Futter, sondern müssen sich ihre Nah-
nmg auf dem freien Felde suchen, dann stellen die ersten
.verwandten und Bekannten sich ein, es wird allen eine Tasse
lvässengen Kaffees kredenzt und nach den gewöhnlichen Be-
grüßungsformeln uud Nachfragen über die gegenseitige Ge-
den nordöstlichen Districten des Caplandes. 23
fnndheit kommt schnell das Gespräch auf den Zustand der
Weiden, auf die Schafe, auf die übermäßige Dürre und
Trockenheit, die regelmäßig vorherrscht, und das Thema der
Unterhaltung ist erschöpft.
Nach und nachfüllen sich auch die verschiedenen Geschäfts-
locale, in denen Alles zu erhandeln ist, was der äußere so-
wohl als der innere Mensch bedarf. Hier giebt es Alles,
von der Stecknadel bis zum Beile, vom Tafchentnche bis
zum fertigen seidenen Kleide, von dem Briefbogen an bis zur
15 Pfund schweren, messingbeschlagenen holländischen Bibel
aus dem Jahre 1650, Wein nnd Cognac, Hüte und hollän-
dischen Käse, Messer uud Gabeln, Tinte und Champagner,
Kaffee, Lichter, kurz alles, was sich die kühnste Phantasie
kaum träumen ließe und was selbst der cnltivirteste Mensch
kaum entbehren könnte. Diese Geschästslocale, die zufolge
ihrer Reichhaltigkeit auch eine sehr bedeutende räumliche Aus-
dehnnng haben, sind gewissermaßen die öffentlichen Versamm-
lnngsplätze der Farmer, und wenn auch die Männer den
Einkauf meist den Frauen überlassen, so finden sie sich doch
auch dort bald uach ihrer Ankunft im Dorfe ein. Natürlich
freut sich der Kaufmann, obgleich die Männer ihm nur den
Platz für die Käuferinneu verstellen, über die Ehre des Be-
snches, man schüttelt sich zur Begrüßung gegenseitig die
Hände, ohne natürlich je den Hut abzunehmen, und bald
haben sich die Herren zu verschiedenen Gruppen constitnirt.
Nach und nach erscheinen auch langsamen Schrittes die ehr-
baren, nieist sünf Ellen im Umkreise messenden Ehefrauen mit
ihren erwachsenen und unerwachsenen Kindern und wo mög-
lich mit einem Sängling an der Brust, uud nun beginnt die
große Arbeit des Einkaufens, wobei bei der großen Menge
der Käufer und dem Mangel jeglicher Auswahl die Damen
zufrieden sind, eben nur den Stoff oder den Gegenstand zu
erlangen, der ihnen gerade vorgezeigt wird. Natürlich wird
jede Frau mit „Tante" und jedes Mädchen mit „Nichte"
angeredet, während dem Verkäufer, wenn er bejahrt, das
Prädicat „Ohm", wenn jung, die Anrede „Neffe" znertheilt
wird.
Hier und da hat sich auch eine Gruppe der Boers auf
der Straße selbst an irgend eine beliebige Ecke aufgepflanzt,
die die neueste Politik oder die neueste» Nachrichten aus Eu-
ropa bespricht,— neue Wagen kommen im sausenden Galopp
durch die Straßen gefahren, während andere Familien be-
reits den Pfarrer besucht oder den Doctor consnltirt oder mit
einem Agenten eines streitigen Rechtspunktes wegen conserirt
haben.
So beginnt der Tag allmälig sich zn neigen, bis kurz
vor Sonnenuntergang eine von der Kirche her ertönende ge-
sprnngene Glocke sämmtliche Kaufläden:c. entleert und die
Gläubigen in der kreuzförmigen, weißgetünchten reformirten
Kirche zur Abeudandacht versammelt.
Am andern Morgen, am Sonntag, würde man unser
Dörfchen für eine ziemlich bevölkerte, größere Stadt halten,
wollte man von den vielen Leuten, die sich um diese Zeit im
Prachtauzuge in feierlichen Familiengruppen zur Kirche be-
geben, einen Schluß ziehen. Denn auf eimual hat sich die
ganze Sceuerie des sonst so öden und leblosen Städtchens
geändert uud sieht man jetzt von den mitunter ziemlich ba-
rocken altmodischen Trachten und Figuren ab, die .langsamen
Schrittes, die mächtige Bibel in der Hand, dahinschreiten,
fo vergißt man vollständig im Innern Südafrikas zu sein,
sondern glaubt sich in irgend eine kleine Stadt Hollands oder
Deutschlands versetzt. Dagegen erscheint die Ruhe, in der
gegen 10 Uhr, wenn Alles andächtig in der Kirche versam-
melt ist, die ganze Stadt befindet, um fo trostloser und mo-
uotouer, denn Sonnabend Abend ist das letzte Pferd, der
letzte Wagen in der Stadt angelangt und nichts, keine Musik
24 Robert Schomburgk: Ain Hofe des
irgend eines Privathauses, kein Geräusch auf der Straße
stört die sabbathliche Stille des heiligen Tages.
Nach Beendigung des Gottesdienstes nm 1 Uhr, wenn
die Sonne senkrecht ihre heißesten Strahlen auf die Erde
sendet und die ganze Atmosphäre, von keinem Lüftchen be-
wegt, in glühendster Hitze erzittert, da beginnt das Mittags-
brot und unmenschliche Portionen kalten Schöpsenfleisches mit
trockenem Brot oder kaltem Reis werden von unseren Helden
verzehrt. Nach dem Essen schläft die ganze Bevölkerung in
al fresco Manier auf den auf der Erde ausgebreiteten Bet-
ten den Schlaf des Gerechten, bis am Nachmittag wiederum
die zersprungene, topsmäßig tönende Glocke die Frommen zur
Andacht ladet.
Der Abend endlich schließt mit einer Predigt für die
schwarze Bevölkerung, die meist irgend ein verkommener
Schulmeister aus Hollaud abhält, der vielleicht bis zu einem
Missionär, von dem noch später die Rede sein wird, sich
aufgeschwungen hat. An dieser Andacht nimmt jedoch kein
Boer Theil. Er weiß sehr wohl, daß der Kassir nur des
Gesanges wegen die Kirche besucht und er selber hat sich ja
bereits mit seinem Gotte inmitten seiner weißen Freunde —
denn zur großen Kirche hat kaum der Schwarze Zutritt —
abgefunden.
Sobald die ersten Sterne des prachtvoll geschmückten Fir-
mamentes sichtbar werden und die große hellleuchtende Figur
des weitausgestreckten südlichen Kreuzes sich zeigt, liegt Far-
mer, Weib, Kind und das getreue Hausgesinde — Hund,
Königs Mongkut zu Bangkok in Siam.
Kafsir und Hottentot — im tiefsten Schlafe; letztere freilich,
um sich zwischeu 12 und 1 Uhr des Nachts wieder zu sröh-
licheu bacchantischen Tänzen in freier Natur in der ihnen
angeborenen braunen natürlichen Tracht zu versammeln.
Und entsetzlich genng sticht das nächtliche wüste Treiben
da draußen hinter den letzten Hänsern des Städtchens ab
von der puritanischen Sonntagsfeier des Farmers. Die Töne,
die da erschallen, haben nichts gemein mit den Lobgesängen
und Hallelujahs christlicher Heiligen, und die wilden Sprünge
und sensuellen Verrenkungen der nackten Horde ähneln wohl
kaum dem fröhlichen Tanze David's vor der Bundeslade,
— des einzigen Tanzes, den der gläubige Boer wohl noch
gelten lassen dürfte.
Montag Morgen, oft schon mit dem ersten Hahnenschrei,
ist der Farmer mit seiner Familie und mit seinem Wagen
verschwunden, die Thür seines Hanses ist verschlossen und
die Lüden vor den Fenstern sind wieder umgeschlagen oder her-
untergelassen. Hier und da findet sich noch ein verspäteter
Ueberrest. Einige haben noch verschiedene Einkäufe zu be-
sorgen, andere haben noch beim Agenten Geschäfte oder müs-
sen noch Arzneien für die nächsten vier Wochen vom Doctor
holen — aber Mittag ist Alles vorüber, und das ganze Ge-
wühl der letzten beiden Tage ist ebenso plötzlich verschwunden,
als es begonnen hat. Der Kaufmann hat seinen Prosit ge-
macht und der Farmer seine leiblichen wie religiösen Bedürf-
nisse befriedigt.
Am Hofe des Königs Mongkut zu Bangkok in Siam.
Von Robert Schomburgk*).
I.
Todtenfeier zu Ehren einer Königin.
Von eigentümlichen siamesischen Ceremonien giebt
Schomburgk uns eine Schilderung bei Gelegenheit einer
Todtenseier, der Verbrennung der Ueberreste der
Königin. Ein Tempel war nahe dem Palaste des Königs
ans einem freien Platze errichtet. Denselben umgaben eine
Menge von Logen, die des Königs durch prächtige Vorhäuge
ausgezeichnet. Die Ueberreste der Verstorbenen, in einer reich
geschmückten metallenen Urne verwahrt, standen ans einem
von Säulen getragenen Katafalk von herrlicher Mofaikarbeit.
Die Verbrennung fand am 18. April (Charfreitag) statt.
Der König und die Prinzen waren, in Nachahmung enro-
päischer Sitte, schwarz gekleidet, während sonst Weiß die Trauer-
färbe der Siamesen ist. Ein Sohn der Verstorbenen, ein
fünfjähriger Knabe, weinte, als ob fein kleines Herz brechen
wollte, die sämmtlichen anderen Kinder verhielten sich fast
gleichgültig. Nachdem die religiösen Ceremonien abgehalten
worden waren, zündete der König eigenhändig das feine San-
delholz und die audereu wohlriechenden, mit Harz getränkten
Hölzer an, welche die Urne umgaben. Das Metall wurde
rothglühend und die Ueberreste verglimmten zu Asche. Diese
wurde darauf in einem prächtigen Mausoleum beigesetzt.
Als Schombnrgk anlangte, um dem letzten feierlichen Acte
') Aus dessen hinterlassenen Briefen.
beizuwohnen, wurde er sogleich in die königliche Loge geführt.
Mongkut, im Kreife feiner Kinder nach morgenländischer
Sitte mit untergeschlagenen Beinen aus dem Boden sitzend,
empfing ihn fehr hnldreich, erkundigte sich nach den Erfolgen
seiner letzten Reife und überreichte ihm ein Andenken seiner
verblichenen Gemahlin, ein sehr hübsch gearbeitetes Blumen-
körbcheu und ein kostbares Glaskästchen, welches auf seinem
aus Spiegelglas bestehenden Bötzen sehr kunstreich verfertigte
Blumen und Schmetterlinge, dazwischen eineSanimlnng der
verschiedensten Goldmünzen enthielt.
Bei einbrechender Nacht fanden herrliche Feuerwerke statt,
gegen welche Alles verschwindet, was man in Europa der-
artiges sieht.
Nachdem diese Feier vorüber, verließ der König die Loge
und die eingeladenen Gäste fanden ein Mahl — auch für
europäische Gaumen einladendes Mahl — in den Sälen,
welche in der Nähe der Verbrennungsstätte errichtet worden
waren, und in welchen der Kalasam (Premierminister) und
der Prinz Krom Slnang, der jüngere Bruder des Königs,
offene Tafel hielten.
Die Zahl der versammelten Zuschauer belief sich auf
15,000 bis 16,000. Die Gouverneure der verschiedenen
Provinzen waren sämmtlich gegenwärtig, und die mit der
Feier verknüpften Unkosten sollen enorme gewesen sein. Die
Robert Schomburgk: Am Hofe des
Verbrennung bildete übrigens nur den Schluß der Todten-
feter, welche Monate lang vorbereitet ward *).
Wenn ein Bekenner Buddha's seinen Tod nahe fühlt,
wünschen seine Angehörigen ihm den Empfang seiner Seele
in der unsichtbaren Welt so würdig als möglich zu bereiten,
und sie glauben dies zu erreichen, wenn sie die Gedanken des
Sterbenden fest aus Buddha zu richten suchen. Sie wieder-
holen deshalb den Namen des Gottes, den sie am häusigsten
P'ra Strahang anrufen, 8 bis 10 Mal in der Minute, und
fahren damit fort, bis der Körper ihres Freundes kalt und
steif ist. Daun brechen alle Glieder der Familie, die Skla-
ven in und außer dem Hause mitgerechnet, in lautes Wei-
ueu und Klagen ans. In der Sterbestunde der Königin
betrachtete der Gemahl es als feilt Vorrecht, der Scheidenden,
so lange seine Kräfte es zuließen, ununterbrochen den Namen
Buddha's zuzurufen, und als sie vollendet hatte, hielt' er es
nicht unter seiner Würde, vor allem Volk bitterliche Thränen
zu vergießen.
Wenn eine Person von hohem Nange aus dem Leben ge-
schieden ist, so besucht der König das Trauerhaus und badet
den Körper eigenhändig mit Wasser, nach ihm thnn dasselbe
andere Prinzen, der Reihenfolge ihres Ranges nach. Darauf
wird der Todte mit sauberen Beinkleidern und knapp anschlie-
ßender Jacke bekleidet und fest in ein Sterbetuch gewickelt.
So wird derselbe in sitzender Stellung in eine kupferne
Urne gebracht und diese in eine zweite vom feinsten Golde
eingeschlossen. Die innere Urne hat eine eiserne Vergitte-
rnng im Boden, die andere hat an dem vorstehenden Rande
der Außenseite einen Hahn, durch welchen die flüssigen Theile
des in Auslösung begriffenen Körpers abgelassen werden, bis
derselbe trocken geworden ist.
Unter Trauermusik von Tronipeten und Pseisen wird die
Urne auf eine erhabene, in drei Abstufungen bis zu 5 Fuß
aufsteigende Plattsorm gesetzt. Alle Jusiguieu der königlichen
Würde, welche der Prinz bei Lebzeiten trug, werden ihm zu
Füßen gelegt, so die goldenen Teller, ans welchen er gewohnt
war die Kleider gebracht zu sehen, welche er anlegen wollte,
seine goldene Betelbüchse, sein Cigarrenbehälter, sein goldener
Spucknapf, sein Schreibzeug :c. Die Trauermusik wechselt
ab mit den Klageliedern der Trauerweiber, welche die Ver-
dieuste des Verstorbenen besingen. Dies geschieht mehrere
Stunden lang Morgens, Mittags und Abends. Die Zwi-
schenpausen werden ausgefüllt durch geistliche Vorträge und
Gesänge in der Pali-Sprache, wobei vier Buddhisteupriester
mit einander abwechseln.
Dieser Dienst dauert Tag und Nacht sechs bis acht, bei
einem Könige zwöls Monate lang.
Während dieser Zeit beeilt man sich, die P'ramöne zu
errichten, das ist das glänzende Gebäude, unter welchem der
Todte einige Zeit auf einem mit Silber, Gold und Diaman-
ten geschmückten Thron ausgestellt wird, um dann den Flam-
men übergeben zu werden. Je nach dem Ansehen des Ver-
blichenen ist Größe und Kostbarkeit des Gebäudes verschieden.
Zur Anfertigung desselben — zum Leichenbegängniß eines
Königs darf man nicht etwa die bei früheren Gelegenheiten
verwendeten Hölzer benutzen — werden königliche Befehle an
alle Gouverneure der vier nördlichsten Provinzen gesendet,
wo starkes Bauholz im Uebersluß sich befindet, um die vier
großen Pfähle für die Mittelpseiler der P'ramtzne herbeizu-
schaffen. Diese müssen 200 bis 250 Fuß hoch sein und
wenigstens 12 Fuß im Umfange haben. Zwölf kleinere
' Mittheilungen, welche einen interessanten Einblick in die
^"urverhältnisse Siams gewähren, sind zum Theil den Schomburgk'-
schen -önefen und Aufzeichnungen, zum Theil dem in englischer
Sprache rn Bangkok 1863 herausgegebenen siamesischen Kalender ent-
lehnt.
Globus XIV. Nr. l. (Juli 1868.)
Königs Mongkut zu Bangkok in Siam. 25
werden von den Gouverneuren der anderen Provinzen ver-
langt. Der Trausport dieser Hölzer ist sehr schwierig und
wird meistens durch Elephanten und Büffel bewerkstelligt;
so weit es geht, benutzt man auch die Flüsse zum Flößen.
Die Pyramide wird in Pagodenform gebaut, der obere Theil
ist achtseitig und wird mit bemaltem Papier bedeckt, was ein
wundervolles Ansehen giebt, aber die Betrachtung in der Nähe
nicht wohl verträgt. Von jeder der vier Ecken der Pyramide
dehnt sich ein Seitenflügel von dem Hauptpfeiler 40 Fuß
lang aus. Diese Gebäude haben ebenfalls Pagodenform und
sind hübsch verziert, ebenso die Hallen, von welchen sie die
Grenze bilden. Zwischen jedem dieser Eckpfeiler ist ein präch-
tiger Säulengang.
Rings um die Pyramide in einem Umfange von einem
Acre Land wird eine Verzännnng von Bambus gemacht, in
deren Jnnerm sich die vielen reich und phantastisch verzierten
Logen befinden, von welchen schon einmal geredet wurde; die
des Königs mit scharlachrothem Tuche bedeckt und mit goldenen
Draperien ausgeschmückt. Hier und da sind ans dem Fußboden,
der aus einer merkwürdigen Arbeit von Bambus und Schie-
ser besteht, eine Menge eigentümlicher siamesischer Standar-
ten aufgestellt; unter diesen der königliche Sonnenschirm
ans neun Stockwerken bestehend, an einem gemeinschaftlichen
Stabe zusammenhängend, die einzelnen Abteilungen je zwei
und zwei einige Zoll breit von einander geschieden. Diese
Abtheilungen werden aussteigend kleiner, die oberste hat nicht
mehr als 1 Fuß im Durchmesser, die unterste 4 Fuß und
mehr. — Es giebt ferner verschiedene vergoldete und bemalte
Standarten, einige mit einer Maschinerie versehen, welche
kleine Papiersignren in immerwährender Bewegung erhält.
Diese stellen Engel, Teufel oder auch leidende Seelen in der
Hölle dar; hier und da sieht man auch in einer Nische rohe
landschaftliche Scenerien der niederen Serien der bnddhisti-
schen himmlischen Welt, sowie auch die fürstlichen Wohnnn-
gen daselbst zu schaueu sind mit schönen Lustgärten und Tei-
chen uud Darbietung der verschiedensten sinnlichen Genüsse,
die, wie eine heiße Einbildungskraft sich ausmalt, der Him-
mel seinen Bewohnern gewährt.
An der Außenseite der Bambuswälle befinden sich ver-
schiedene Gebäude zum Gebrauch der Prinzen, Regierungs-
beamten und Anderer, welche nicht hinreichenden Raum im
Innern fanden. Hier giebt es Spielhäuser, Theater, Ca-
rousscls, Maskeraden, sich drehende Figuren an hoch gehobe-
nen Stäben, ferner athletische Vorstellungen, Scheingefechte,
Ringkämpfe :c. Außerdem sind außerhalb der P'ramßue-
psorteu große Etablissements angelegt, in welchen Jedermann
vom Höchsten bis zum Geringsten zu jeder Tageszeit nnent-
geltlich Erfrischungen dargeboten werden, eine große Aus-
wähl in der That schmackhafter Gerichte und Früchte.
In der Mitte des Ganzen, gerade unter der höchsten
Spitze der großen Halle befindet sich die P'ramöne, deren
Gipfel zur Aufnahme der mit den königlichen Ueberresten an-
gefüllten goldenen Urne bestimmt ist. Dieselbe ist herrlich
mit Gold, Diamanten und anderen kostbaren Steinen deco-
rirt und überwölbt von einem reichen, vergoldeten Traghim-
mel. Dicht unter diesem hängen in der Form von Arm-
lenchtern die zartesten weißen Blumen. Der Boden dieser
Pyramide ist unbeschreiblich glänzend und geschmackvoll deco-
rirt; die prächtigsten Sachen in Porcellan, Glas, Alabaster;
silberne und goldene künstliche Blumen uud Früchte, unter-
mischt mit wirklichen Früchten; Bilder von Vögeln und an-
deren Thieren, Kindern, Engeln :c.
Zur Erleuchtuug der Halle stnd riesige 'Armleuchter in
den vier Ecken aufgehängt, von zahllosen anderen Lichtern
an den übrigen Theilen der Pyramide unterstützt.
Wenn der Zeilpunkt gekommen ist, an welchem die könig-
4
26 Robert Schomburgk: Am Hofe des
lichen Ueberreste nach der P'ramsne geführt werden sollen,
versammeln sich alle Prinzen, Edellente und hohen Beamten
des Königreichs mit Tagesanbruch in dem königlichen Palaste.
Die goldene Urne, mit Diamanten bedeckt, wird auf einen
hohen goldenen Wagen, eine Art Dschaggernath, gesetzt und
von Pferden gezogen, aber von Hunderten von Menschen
unterstützt. Diesem Zuge folgt ein Wagen mit den angefe-
hensten Hohenpriestern des Reichs, auf hohen Polstern sitzend
und während der ganzen Fahrt ans den heiligen Büchern
lesend. Der zweite Wagen ist von einigen der geliebtesten
Kinder der oder des Verstorbenen eingenommen. Ein meh-
rere Zoll breites, an der Urne befestigtes Silberband um-
schließt den Wagen der königlichen Kinder und reicht bis zu
den Sitzen der Hohenpriester; sie deutet eine mystische Ver-
bindnng zwischen dem Verblichenen, seinen Kindern und dem
heiligen Buche an.
Auf dem folgenden Wagen liegen die an den Enden ver-
goldeten Hölzer, welche zur Verbrennung bestimmt sind. Auf
anderen, aber kleineren Wagen von Holz, welche paarweise
dem Leichenconduct folgen, befinden sich Figuren von Ele-
phanten, Rhinocerossen, Löwen, Tigern und fabelhaften Thie-
ren aller Art, welche man unmöglich beschreiben kann. Die-
selben sind von Bambusweiden gemacht, mit Papier überzo-
gen und bemalt, wie solches der überreizten Phantasie der
Buddhisten entspricht. Jede dieser Thierfiguren hat auf ihrem
Rücken ein großes Behältuiß, das mit Priestergewändern und
anderen Geschenken angefüllt ist. Hunderte von weißgeklei-
deten Menschen — Engel vorstellend —, mit weißen 8 bis
10 Zoll hohen Turbanen in Pagodenform, umgeben den Zug,
jedesmal vier zu jeder Seite. Sie tragen in Glas nachge-
bildete Lotosblumen in den Händen. Die Proceffion wird
von den melancholischen Klängen der Muscheln, Trompeten
und Pfeifen begleitet. Erst wenn die Urne auf dem Gipfel
der P'rabencha- oder P'ramöne-Pyramide aufgesetzt worden ist,
verstummt die Musik, die Silberbänder werden abgelöst; die
Hohenpriester und mehr als einhundert andere Geistliche
versammeln sich in der Mitte, und nachdem sie eine sitzende
Stellung eingenommen, tragen sie eine Betrachtung über die
Kürze und Unsicherheit des menschlichen Lebens vor, wobei
sie die Blicke stets niedergeschlagen halten. Nach etwa zehn
Minuten räumen sie ihre Plätze einer zweiten Reihenfolge
von Priestern ein, und so geht es fort, bis Tausende von
Geistlichen ihren Tribut an Gebeten und Segenssprüchen
dargebracht haben.
Sämmtliche Unterthanen — Mann und Weib, Alt und
Jung, Vornehm und Gering — schneiden beim Leichenbe-
gängniß ihres Königs, als Zeichen ihrer Trauer und Ach-
tnng für den Verstorbenen, ihr Haar gänzlich ab.
Die Priester, welche jetzt noch Tage und Wochen lang
den Trauerdienst versehen, werden von dem neuen Könige
reichlich mit Geschenken bedacht, die alle aus seiner Privat-
casse fließen. Diese Gaben bestehen in gelben Gewändern,
Bettstellen mit Mosqnitonetzen, Matratzen, Kissen, Hand-
tüchern, Betelbüchsen, Cigarrenhaltern, Reiskesseln und an-
derm Geräth, Lampen, Leuchtern, kleinen Booten:c. Auch
unter das Volk werden von Seiten des Königs zahlreiche
Geschenke ausgetheilt: Silber- und Goldmünzen, auch gol-
dene Ringe, in grüne Blätter zu kleinen Bällen eingewickelt,
werden unter die Menge geworfen, und Jeder, den des Kö-
nigs Gnade ausersehen, das fliegende Geschenk zu empsan-
gen — gleichviel ob er Prinz, Minister oder ein schlichter
Mann — muß, wenn der Preis unglücklicherweise zu Bo-
den fiel, auf allen Vieren herankriechen, ihn zu haschen, was
in der Menge jedes Mal große Belustigung erweckt. Außer-
dem befinden sich an den vier Außenseiten des Begräbniß-
Platzes riesig große künstliche Bäume, Xkixx» p'ru'ck ge-
Königs Mongkut zu Bangkok in Siam.
uaunt, mit Gold- und Silbermünzen behängt, im Werthe
von 100 Ficals an jedem (eine sehr hohe Summe). Vier
Männer sind beschäftigt diese herrlichen Früchte zu psiücken
und unter das Volk zu streuen.
Diese geldtragenden Bäume sollen die vier Bäume sym-
bolisiren, welche in jeder der vier Ecken derjenigen Stadt ge-
fnnden werden sollen, wo der neue Buddha geboren werden
wird, und welche nicht nur Geld tragen werden, sondern über-
Haupt Alles, was der Mensch ans Erden braucht: Plan-
tanen, Orangen, Betelnuß, Taback, Kleider, Gold, Dia-
manten u. f. w.
Auch eine fliegende Lotterie ist bei solchen Gelegenheiten
gebräuchlich. Der König wirst eigenhändig die Loose unter
das Volk, welche auf größere und kleinere goldene oder sil-
berne Geschenke lauten.
Jeden Abend wird die Pyramide innen und außen mit
Wachslichtern und Kokosnußöl prächtig erleuchtet. Außen
auf dem Platze finden Transparente und Schattenspiele statt,
Scenen aus siamesischen, chinesischen und malayischen Dra-
men hintereinem weißenMousselinvorhange abgespielt, durch
bengalisches Feuer erleuchtet. Um 8 Uhr beginnen die Feuer-
werke, gewöhnlich von dem Könige selbst angezündet.
Ihr hört zuerst das Knattern von Raketen, Ihr sehet
Rauch und gleich darauf Feuerschlangen blitzschnell an klei-
nen Bambusbäumen hinauslaufen. Plötzlich steht ein Dutzend
schlanker Bäume in vollem Feuer da, ein glänzendes Licht
um sich her verbreitend. Kaum siud diese verlöscht, so ent-
zündet ein neuer Blitzstrahl andere Sträucher, an denen in
wenigen Minuten Hunderte von Feuerrosen, Dahlien, Olean-
der und anderen Blumen in allen nur denkbaren Formen
und Farben erblühen, unaufhörlich die Farben wechselnd, bis
sie plötzlich in Dunkelheit dahinwelken. In raschester Folge
steigen an verschiedenen Orten gleichzeitig Hunderte von Ra-
keten und Feuerrädern auf, dazwischen hört man ein erschreck-
liches Brüllen, wie das Gestöhn und Gestampfe einer wilden
Herde. „Bellende Elephanten" wird dieses Kunststück ge-
nannt. Der Siamese liebt, wie alle Morgenländer, grelle
Contraste. So löst sich denn auch bald dieses disharmoui-
sche Gewirr in ein liebliches Summen, Zwitschern, Zirpen
zahlloser Vogelstimmen auf, und buntfarbige Feuervögel
hüpfen und stiegen in allen Richtungen um Euch her, einige
steigen hoch auf in die Lüfte und zerplatzen mit leichtem Knall.
Hier und da drehen sich auf der Spitze einer kleinen'Stange
Kreifel, welche Puppenfiguren darstellen, andere, welche im
schnellen Wirbel Feuerregen auswerfen. Eine großartigere
Ueberrafchung bieten im nenen Scenenwechfel die feuerspeien-
den Vnlcane, wohl 50 an der Zahl, welche mit großem Ge-
räusch kräftige Strahlen von rothglühendem Eisen, Schwefel
und Lava versenden. Es fehlt an Raum, die vielen Varie-
tüten dieser Feuerwerke aufzuzählen. Jeden Abend giebt es
deren neue. All diese Spiele dauern bis gegen Mitternacht,
wo der König sich in seine Wohnung zurückzieht. Die schau-
lustige Menge zerstreut sich, mit Ausnahme der wachehaben-
den Priester, welche auch während der Nacht ihre Gebete
fortsetzen.
Endlich wird die Urne ihrer goldenen Verhüllung ent-
kleidet und auf einen tiefern Standort am Fuße der Pyra-
mide gebracht. Alle Kostbarkeiten, welche die P'ramöne
schmücken, werden mit wunderbarer Schnelligkeit entfernt und
darauf die wohlriechenden Hölzer in Kreuzform auf die Platt-
form gelegt, kostbare Gewürze und Specereien darüber ge-
streut. Eine Mine, mit Schießpulver gefüllt, führt von
einem bestimmten Theile der Halle ans bis zu dem Sitze des
Königs und steht mit dem Scheiterhaufen in Verbindung.
Der König zündet mit elektrischem Feuer die Lunte zu
Aus Denver G
feinen Füßen an. Plötzlich bricht inmitten der Hölzer eine
Flamme aus. Der Rangfolge nach legen nun scimmtliche
Prinzen und Prinzessinnen, Hofbeamte uud Edelleute breu-
nende Wachskerzen aus die Hölzer, ihre letzte dem Verstor-
denen erwiesene Liebesgabe.
Um die P'ramsne und die übrigen Baulichkeiten vor
Feuergefahr zu behüten, sind verschiedene kräftige Männer mit
Wasserschläuchen zur Hand, andere sind mit eisernen Schü-
rern bewaffnet, das Feuer, wo es uöthig, auzufacheu. Wäh-
reud des Anzüudens erheben die Trauerweiber ihr Klagege-
schrei, begleitet von den schrillen Tönen der Trauermusik.
Der Verbreuuuugsact selbst dauert nicht länger als hoch-
steus eine Stunde, das Feuer wird ausgelöscht, ehe die Kno-
cheu vollständig zu Asche verglüht sind, der Rest dieser Kuo-
chenkohle wird sorgfältig gesammelt und in einer kleinen
goldenen Urne verwahrt, welche am nächsten Morgen, nach-
dem die P'ramsne wieder in vollem Glänze hergestellt wor-
den, aus den Gipfel derselben aufgestellt wird, um noch drei
Tage zur Schau zu stehen, und endlich wird sie in feierlicher
Procession — ähnlich wie die zuerst geschilderte — au einem
heiligen Orte innerhalb des königlichen Palastes beigesetzt.
Die beim Verbrennen des Körpers verstreuete Asche aber
wird in klarem, weißem Monsselin gesammelt, aus einen gol-
denen Teller gelegt und in Procession zu Schiffe gebracht,
darauf etwa eine Meile unterhalb des Flusses dem Wasser
übergeben.
Die Unbemittelten, welche nicht die Kosten einer eigenen
P'ramsne zur Leichenverbrennung der Ihrigen anwenden kön-
nen, benutzen eine der allgemeinen Pyramiden, welche inVer-
bindnng mit den größeren Tempeln stehen. Die Feierlich-
leiten dauern nur wenige Tage und bestehen meistens in Ab-
0 in Colorado. -1
singen von Gebeten und Anstheilnng von Geschenken an die
Priester.
Der ungebildete Theil des Volkes glaubt, daß die vielen
der Priesterschaft und durch diese Buddha selbst erwiesenen
Ehren sowohl der Seele des Verstorbenen als auch demjeni-
gen zu Gute kommen, welcher die Leichenfeier veranstaltet; der
intelligentere Theil der Siamesen leugnet, daß irgend welche
Gntthat dem über die Grenzen dieser Welt geschiedenen, d. h.
in einer der sechszehn großen Höllen oder ihrem Zubehör
weileudeu Geiste zukommen könne. Wenn aber der Geist
ein schwatzendes Gespenst, ein xrat«, oder yak, oder raska
wird (böse Geister, welche unter den Menschen herumschwär-
meu und vorzugsweise die überlebenden Verwandten beuu-
ruhigen), so glauben auch sie, daß den armen Seelen große
Vortheile dnrch ein feierliches Leichenbegänguiß zu Theil werden;
ihre Leiden werden gemildert uud die Zeit ihrer Verbannung wird
abgekürzt werden. Die Bekenner der neuen Schule Bnddha's
indessen suchen das Motiv dieses kostspieligen Gottesdienstes
nur in der durch altes Herkommen geheiligten Gewohnheit uud
dem Wunsche, bei dem Heimgange der Angehörigen nicht für
kalt oder knauserig gehalten zu werdeu.
Ein allgemeiner Gebrauch ist es ferner, diejenigen, welche
an den Pocken, an Cholera, im Kindbett, durch Mord, Selbst-
mord, im Gefecht oder durch irgend einen Unglücksfall um-
gekommen sind, für einen bis zwei Monate zu begraben, dann
wieder auszugraben und nun erst zu verbrennen. Der Aber-
glaube sagt, wenn dies anders geschähe, würden die abgeschie-
denen Geister kommen, ihre Freuude zu plagen und Veran-
lassung zu eiuem unnatürlichen Tode derselben geben.
Die Leichen hingerichteter Verbrecher werden an einem
ablegenen Orte den Ranbthieren preisgegeben.
Aus Denver City in Colorado.
Denver City liegt auf der großen Straße nach dem wei-
ten Westen auf einein Punkte, wo die rollenden Prärien aufhören
und wo die Felsengebirge beginnen. Die Stadt wird jedenfalls
bedeutend werden; die große Westbahn bringt ihr einen fchwung-
haften Verkehr, Gold strömt von weit und breit herbei und an
unternehmenden Menschen ist kein Mangel.
Es sieht in den neuen „Minenstädten" bekanntlich wild ge-
nug aus. Ansangs strömt eine Menge gefährlichen Gesindels
dort zusammen und das Menschenleben ist keinen Pfifferling
Werth. So war es auch in Kalifornien, bis die Vigilanzaus-
schlisse die Gerechtigkeitspflege in die Hand nahmen und zunächst
ein halbes Hundert unzweiselhaster Charaktere an eben so viele
Galgen oder Bäume hingen, und denen, die noch nicht sür den
Strick reif schienen, den Lauspaß gaben. Das Uebermaß des
Unsngs veranlaßt ein nachdrückliches Einschreiten, und gewöhn-
lich treten dann Männer aus, deren Umsicht und Willenskraft
dem Gemeinwesen zugute kommt. Sie schassen reine Bahn. So
geschieht es auch in Colorado.
Der Engländer Hepworth Dixon hat im vorigen Jahre
ein Werk herausgegeben, das von Anfang bis zu Ende von
spannendem Interesse ist; es führt den Titel: „Das neue
Amerika." Es enthalt vortreffliche Mittheilungen über die ganze
weite Region vom Missouri bis zur Stadt am großen Salzsee;
über das Prärieleben, die Indianer, die Mormonen, welche wir
hier von einer neuen Seite kennen lernen; und dann auch über
die seltsamen religiösen und kirchlichen Verhältnisse in den öst-
lichen Staaten, namentlich über die Shakers, über die Bibel-
communisten, die Leute der freien Liebe und dergleichen Abspu-
rigkeiten mehr. Für einen Engländer ist Dixon innerlich fo frei
und unbesangen wie nur möglich; er ist ein Denker, hat ein
klares Urtheil und schreibt anziehend. Das Buch ist uns erst
jetzt zu Händen gekommen und wir wollen Einiges aus dein
Abschnitt über Denver hervorheben. Dixon war vor etwa drei
Jahren dort. Die Stadt, sagt er, hat etwa viertausend Ein-
wohner und zehn oder zwölf „ausgelegte" Straßen, zwei Gast-
höfe, eine Bank, ein Theater, ein halbes Dutzend Capellen, un-
gefähr fünfzig Spielhöllen und reichlich einhundert Grogfchenken.
Wenn man in diesen schmutzigen, heißen Straßen geht, glaubt
man sich in eine Teufelsstadt versetzt. Jedes fünfte Haus ist
eine Schenke, ein Schnapsladen, ein Lagerbiersalon; jedes zehnte
Haus eine Spielhölle oder Bordell, was in der Regel zusammen-
fällt. In diefen fürchterlichen Höhlen gilt das Leben des Men-
schen nicht mehr als das eines Hundes. Vor ein paar Jahren,
als es noch nicht so gut in Denver stand wie jetzt, wurden die
rechtschaffenen Leute sehr oft durch Schüsse aus dem Schlafe ge-
weckt, und nicht selten fand man dann einen todten Menschen,
der aus dem Fenster auf die Straße geworfen worden war.
Von Nachforschung und Untersuchung war keine Rede. Die
ordentlichen Leute sagten: ein Schurke weniger, und der, welcher
ihn abgethan hat, liegt vielleicht in den nächsten Tagen auch
schon im Straßenschlamme.
Ein Pennsylvanier, Wilhelm Gilpin, den man als den Grün-
der von Colorado bezeichnet, nahm dann ein Einsehen. Ein
Vigilanzausschuß trat zusammen und Scheriff Wilson griff rück-
sichtslos ein. Auch war es von gutem Einflüsse, daß achtbare
Frauen nach Denver kanien. Aber die Vigilanzmänner dürfen
4*
28
Aus Denver City
in Colorado.
doch mit Revolver und Strick nicht sparsam sein. Wer die Mit-
glieder sind, weiß man natürlich nicht, aber gewiß ist, daß alle
achtbaren Leute zu denselben gehören und daß sie zahlreiche ge-
Heime Agenten haben, welche dieser Vehme alle erwünschte Aus-
kunst geben. Ein Mann ist verschwunden, man sieht ihn nicht
mehr in der Stadt. Man fragt nicht weiter danach, geschieht
es aber dennoch," so wird der Gefragte mit den Achseln zucken
und kurz die Redensart hinwerfen: „Ist wohl in die Lust ge-
gangen." Das heißt, er hangt an einem Pappelbaume. Der
geheime Ausschuß hält seine Sitzungen bei Nacht. Es trifft sich
wohl, daß man am Morgen, wenn man die Hausthür ausschließt,
an einem Baume in der Hauptstraße einen Menschen hängen
sieht; gewöhnlich wird er indeß noch vor Tagesanbruch abge-
schnitten und außerhalb der Stadt beigescharrt wie eine verendete
Katze. Die Begräbnißstelle wird geheimgehalten und dadurch
allen Weiterungen vorgebeugt.
Von dem oben erwähnten Scheriff Robert Wilson weiß
Dixon pikante Dinge zu erzählen. Der Mann ist auch Frie-
densrichter und Auctionator und wird iin gemeinen Leben nur
als Bob bezeichnet. Er soll in jungen Jahren ein Spieler und
noch etwas Schlimmeres gewesen sein; jetzt ist er ein Vierziger,
von kräftigem, gedrungenem Körperbau und mit einem Kopse
wie der olympische Zeus. Die Geschichten, welche nian auf den
Prärien von seinen waghalsigen Thaten erzählt, machen das
Blut erstarren. Eines Tages erzählte er mir, wie er drei Pferde-
diebe eingesangen habe.
Den modischen Anschauungen in Denver zusolge gilt der
Mord für ein verhältnißmäßig leichtes Vergehen; vor ein paar
Jahren noch war dieses Verbrechen buchstäblich an der Tages-
ordnung. In irgend einer Spielhölle kam es zu Zank und Streit,
sofort wurden die Revolver gezogen, und wer dabei nicht fo flink
war wie der andere, nun, der wurde sofort eine Leiche. Jeder-
mann hütete sich wohlweislich, sich um eine solche Kleinigkeit
weiter zu bekümmern; es gab ja nun einen Halunken weniger
in der Stadt. Was gilt hier das Menschenleben? Und wer
möchte die Rache einer Horde bösartigster Teufel dadurch auf
sich lenken, daß er fragte, wer einen Mann erschossen habe und
weshalb?
Ich sprach mit der Frau eines ehemaligen Mayors der Stadt.
Als sie vor ungefähr fünf Jahren nach Denver kam, lagen etwa
sechszig Leichen neben einander auf dem Kirchhofe; von diesem
Schock Menschen war auch nicht ein einziger natürlichen Todes
gestorben. Wenn in den Straßen Zank entstand, dachte Nie-
mand daran, sich in den Streit zu mischen. Eines Abends, sagt
Dixon, saß ich in meinem Zinimer und schrieb; unter meinem
Fenster siel ein Pistolenschuß, und als ich hinausblickte, sah ich,
daß ein Mann sich an der Erde wand. Seine Kameraden schlepp-
ten ihn sort, Niemand dachte daran, den Thäter zu verfolgen.
Meiner Wohnung gegenüber ist ein Brunnen; an diesem standen
gegen Abend zwei Soldaten und tranken Wasser. Ein Eng-
länder, der auf dem Balcon des „Planters House" stand, hörte,
wie der eine Soldat dem andern sagte: „Guck mal, da ist
ein Schuhflicker; brenne ihm eins aus den Pelz." Sofort legte
der andere Soldat sein Gewehr an und feuerte, und der arme
Schuster konnte von Glück sagen, daß die Kugel nicht ihn selber,
sondern nur seine Wand traf. Den beiden Soldaten geschah
nichts, und als ich meine Verwunderung aussprach, daß die Of-
fiziere unthätig blieben, verwunderte man sich sehr über meine
Verwunderung!
Wenn ein Halunke nicht wenigstens ein halbes Dutzend
Mordthaten verübt und ein- sür allemal „den Mord sich in den
Kops gesetzt" hat, geschieht ihm so leicht nichts auf den „Ebenen".
Bei Central City lebte ein Kerl, der den Mord als Handwerk
trieb und mehr als ein halbes Dutzend Leute erschossen hatte;
man ließ ihn aber ungeschoren, bis er dann endlich einmal aus
frischer That ertappt wurde. Als er nun gefangen war und
mit seines Gleichen Grog trank, wars er die Bemerkung hin,
daß er jetzt keine Lust mehr habe, Blut zu vergießen. Ein An-
derer begegnete eines Tages, als er nach Central City hineinritt,
einem Bekannten und lud ihn zum Trinken ein. Dieser wollte
sich aber nicht gern in solcher Gesellschaft sehen lassen, und gab
eine ablehnende Antwort. Sofort zog jener auf offener Straße,
am hellen Tage ein Pistol und rief: „Barmherziger Gott, kann
ich denn gar nicht einmal zur Stadt kommen, ohne daß ich Einen
abthun muß?" Und bei diesen Worten schoß er den Andern
aus dem Flecke todt. Das war aber sein Letzter; man packte
ihn und hing ihn sosort an einen Pappelbaum.
Mord gilt für ein kleines, Pferdediebstahl dagegen sür das
größte Verbrechen, das allemal mit dem Tode bestraft wird.
In Denver waren eines schönen Tages fünf Pferde verschwun-
den und man meldete die Sache bei Wilson an. Der Verdacht
des Scherisss fiel sogleich aus drei Raufbolde aus den Minen
(mining rowdies), Brownlee, Smith und Carter, die erst seit
Kurzem in der Stadt sich aushielten. Nachforschungen in allen
Schenken und schlechten Häusern ergaben, daß sie jetzt nicht mehr
da seien, und nun wußte Wilson, was er zu thun hatte. Er
ließ sein Pserd satteln, steckte Revolver und Bowiemesser zu sich
und trabte wohlgemuth auf dem Wege hin, der zum Platteflusse
sührt. Dieser war im Frühjahr hoch angeschwollen; trotzdem
ritt Wilson hindurch; seine Wasfen hielt er mit einem Arme
über dem Kopfe, ritt dann den ganzen Tag und die ganze Nacht
und immer weiter, bis er etwa 150 Miles von Denver und 5
Miles von der nächsten Menschenwohnung die Diebe aus einer
Wiese einholte. Carter und Smith, beide beritten, führten jeder
ein Pferd, Brownlee ritt auf dem fünften Pferde hinterher. Es
war ganz früh am Morgen uud Wilson ließ sich mit Brownlee,
der ihn sür einen heimkehrenden Goldgräber Hielt, in ein Ge-
spräch ein. Bis gegen Mittag ritt er, scheinbar ganz harmlos,
mit den drei Gesellen, weil er hoffte, daß ihm unterwegs Leute
begegnen würden, die ihm bei Verhaftung behülflich sein könn-
ten. Als aber Niemand sich blicken ließ, beschloß er, das ge-
fährliche Unternehmen auf eigene Faust zu wagen; er änderte
plötzlich den Ton und sprach:
„Meine Herren, wir sind nun weit genug geritten; jetzt
müssen wir umkehren." — „Zum Teusel, wer sind Sie denn?"
rief Brownlee und griff zum Gewehr.
„Ich bin Bob Wilson," sagte der Scheriff ganz gelassen,
„und kam, um Euch nach Denver zurückzuholen. Man sagt,
Ihr hättet dort Pserde gestohlen. Gebt mir Eure Waffen; Recht
soll Euch werden."
„Zum Teusel mit Dir!" schrie Brownlee und wollte seinen
Revolver abdrücken, aber in demselben Augenblicke suhr ihm
eine Kugel ins Gehirn uud er sank fluchend zu Boden. Die
beiden Anderen dreheten sich um und wollten nun ihrerseits
Feuer geben, aber in der Verwirrung ließ Smith sein Pistol
fallen und in demselben Augenblicke lag/auch Carter am Boden.
Smith war vom Pferde gesprungen, um sein Pistol zu holen;
jetzt aber verlegte er sich aufs Bitten.
„Hierher! Jetzt komm und halte mein Pferd; sobald Du
ein Glied rührst, feuere ich. Daß ich nicht fehle, hast Du ge-
sehen."
Der Dieb zitterte und stotterte: „Ja, Sir, Euer Schuß ist
sicher."
„Nun paß aus, was ich sage. Ich bringe Dich und diese
Pserde nach Denver. Hast Du sie gestohlen, um so schlimmer
für Dich; wenn nicht, fo wird Dir kein Haar gekrümmt; Recht
foll Dir werden."
Wilson nahm dann die Revolver der drei Diebe an sich.
Als er Herrn Dixon den Vorsall erzählte, sprach er: „Ich war
ansangs ungewiß, ob ich nicht die Schüsse herausziehen sollte,
doch ließ ich sie in den Läusen." Er band sie alle drei in ein
Tuch, lud seine eigene Waffe wieder und sührte nun seinen
Mann zum nächsten Ranch (GeHöst, Meierei). Dort wohnte ein
mit einer Engländerin verheiratheter Franzose, dem sich Wilson
zu erkennen gab und der ihm gern behülflich war. Smith wurde
an einen Psahl gebunden und in seiner Gegenwart erhielt die
Frau gemessene Weisung, ihn sofort niederzuschießen, wenn er-
den Versuch zu fliehen mache. Dann ritten Wilson und der
Franzose zurück, scharrten die beiden Diebe in die Erde und
nahmen die Pferde, welche mit gebundenen Beinen auf der Weide
Aus allen Erdth eilen. 29
zurückgeblieben waren, mit sich. Unterdeß hatte Smith der einziges Wort sage. Dann sprach er kein Wort mehr. Wilson
Frau goldene Berge versprochen, sie sagte ihm aber, daß sie ihm brachte ihn nach Denver und dort hing man ihn an den Pappel-
„eine Kugel in den Mund jagen" werde, salls er noch ein bäum.
Aus allen
Georg Schweinfurth hat im Juli seine dritte Reise nach
Nordostafrika angetreten, nachdem er zuvor einige Zeit in Dres-
den verweilt hatte. Der in jeder Beziehung trefflich vorbereitete
Naturforscher schifft von Suez nach Kosseir und geht von dort
durch die Wüste nach Berber am Nil. In Chartum gedenkt er
nicht länger zu bleiben als für die Zwecke seiner Reise nothig;
er will sobald als möglich den weißen Nil auswärts fahren,
um in das Land der vielbesprochenen Nyam Nyam zu gelangen.
Dort gedenkt er zunächst ein ganzes Jahr in der Nähe der
Wasserscheide zu verweilen und von feinem Standort aus die
Umgegend so weit als irgend thunlich zu erforschen, namentlich
in Bezug auf die geographischen und die botanischen Verhält-
nisse. Gerade in jener Gegend, die erst jetzt ansängt bekannt zu
werden, sind manche wichtige Probleme zu lösen. Von dorther
bekommt der Nil sehr bedeutende Zuflüsse und wer weiß, ob
nicht in jener Richtung nach Südwesten hin die eigentlichen Quell-
gewässer des großen Stromes liegen? Auch in ethnographischer
Beziehung bietet jene Region ein hohes Interesse dar. Während
Dr. Schweinfurth's speciell fachwissenschaftlichen Arbeiten über
die geographischen Verhältnisse und die Pflanzenwelt für Fach-
zeitungen bestimmt sind, werden wir unsererseits in der Lage
sein, den Lesern des „Globus" Schilderungen über die Völker-
künde aus der Feder des Reisenden mitzutheilen und wir wer-
den dann ohne Zweisel vieles Neue erfahren. Doch sind vor
der Mitte des Jahres 1869 keine Briese aus dem Lande der
Nyam Nyam von ihm zu erwarten. Wir hoffen, daß unserm
bereits an Erfahrung reichen Freunde ein günstigeres Schicksal
beschieden sei als dem französischen Reisenden Le Saint. Wir
lesen soeben, da wir unsere Nummer in die Presse geben, daß
der Tod ihn ereilt habe. Speciellere Nachrichten haben wir dar-
über noch nicht gefunden. — Gerhard Rohlfs ist in der
ersten Juliwoche wieder in Bremen eingetroffen.
Ein Ncisctagebuch aus vier Welttheilen. Der Ver-
fasser, Max Wichura, war „botanisches Mitglied der preußi-
schen Expedition nach Ostasien". Er schildert in den Briefen,
welche er an Mitglieder seiner Familie schrieb, die Erlebnisse in
den von ihm besuchten Gegenden sehr lebendig und manchmal
recht interessant, namentlich die Physiognomie des Pslanzenwuch-
ses. Das Buch (Breslau, Verlag von Morgenstern 1868) führt
uns dabei die täglichen Ereignisse vor, welche auf allen derglei-
chen Reisen bekommen; aber es wäre wohl zweckmäßig gewesen,
in einem auch für das große Lesepublicum bestimmten Werke
viele lediglich persönliche Bemerkungen fortzulassen. Was für
die Familie von großen: Interesse sein kann, ist es darum noch
nicht für Andere. .Wir betonen das, weil in der neuern Zeit
diefe Art und Weise, in sogenannte Reisebeschreibungen eine
Menge ganz irrelevanter persönlicher Dinge einzumischen, viel
zu sehr in den Vordergrund tritt. Dem verstorbenen Wichura
selber, der ein sehr tüchtiger Mann und trefflicher Beobachter
war, soll übrigens damit kein Vor>rwrs gemacht werden.
Mit Vorliebe schildert er Japan; wir finden also auch bei
ihm den Satz bestätigt, daß das Jnselreich des Sonnenaufgangs
alle Europäer durch seine Eigenthümlichkeiten fesselt. Wir wol-
len eine Stelle mittheilen,
»Meine Gedanken sind immer noch in Japan und ich denke,
lUlch der Glanzpunkt unserer Reiseerinnerungen bleiben.
Alles so gänzlich anders, wie bei uns, und doch diese Ordnung
des ^taat»organismus bis in die kleinsten Glieder hinein. Tie
5 rdtheiIen.
Natur wunderlieblich gemischt aus tropischen und nordischen Ve-
getationsformen. Das Volk hochcivilisirt. Selbst der
gemeine Mann, der Lastträger, von einer Höflichkeit,
Urbanität und Politur des Betragens, daß manche
unserer Gebildeten daran lernen könnten. In allen
mechanischen Dingen eine Geschicklichkeit und Accuratesse ohne
Gleichen. Dabei in den besseren Köpfen der regste Eifer, sich
mit den europäischen Wissenschaften bekannt zu machen, und dem
entgegen wieder die fremdenfeindliche Politik der Regierung und
der in einzelnen meuchelmörderischen Attentaten sich kundgebende
Haß gegen die Europäer. Man wird nicht müde ein Gemälde
zu betrachten, wo Licht und Schatten und Gegensätze aller Art
in so interessanter und eigenthümlicher Art mit einander ge-
mischt sind, wie in Japan. Auch ist ein Blick auf dieses Volk
gerade in diesem Augenblicke besonders interessant. Noch steht
das ganze Staatsgebäude in seiner althergebrachten wohlbegrün-
deten Form. Noch sind die Daünios mächtig und die Kaiser
bloße Schatten. Noch wird man an das Lehnswesen unsers
Mittelalters erinnert, wenn man die schwertbewaffneten, mit
Wappen und Abzeichen wunderlich versehenen Offiziere der Für-
sten in langen Schaaren ernst und feierlich durch die Straßen
von Heddo zieben sieht. Noch giebt es einen geistlichen Kaiser
in Miako, der in seinem Schlosse geboren wird und stirbt, ohne
es je verlassen zu haben, während der weltliche Kaiser aus seiner
dreifach ummauerten Eitadelle doch wenigstens einigemal im
Jahre ausgehen darf, freilich nur, nachdem der übrigen Bevöl-
kerung von Mddo anbefohlen, zu Hause zu bleiben, damit sein
Auge durch den Anblick der Niedriggeborenen nicht verletzt werde.
Aber schon beginnt die Morgenröthe einer neuen Zeit zu tagen.
In der Berührung niit den Fremden kann das auf strengste Ab-
geschlossenheit gegründete politische System Japans sich nicht hal-
ten. Die Gährung hat, wie mir scheint, begonnen, und sie wird
unaufhaltsam fortschreiten, bis aus dem alten Most ein neuer
Wein sich abgeklärt haben wird. Viel Schönes, viel liebens-
würdige Eigenschaften des Volkscharakters werden dabei zu Grunde
gehen. Man wird an die jetzigen Zeiten zurückdenken, wie man
sich der romantischen Zustände unserer europäischen Staaten im
Mittelalter, namentlich der alten Clanverfassung von Schottland
erinnert, halb bedauernd, daß sie untergegangen, halb erfreut,
daß man ihrer Barbarei entwachsen ist. Aber als Kind der
modernen, Alles nivellirenden Civilisation noch in solche völlig
lebendig gebliebene Vorznstände unserer eignen Geschichte hinein-
zublickcn, zumal wenn sie wie in Japan das fabelhafte Eolorit
des Orients an sich tragen, das bleibt ewig interessant uud un-
vergeßlich uud regt zu immer neuen Betrachtungen an. Japan
bildet sowohl zwischen v. Richthofen und mir als in meiner
aus dem Eapitän, Pieschel und mir bestehenden Tischgesellschaft
das tägliche Thema der Unterhaltung, und immer vereinigen
wir uns schließlich zu dem Resultat, daß es ein wunderbar
interessantes Land ist, desgleichen jetzt auf Erden
nicht mehr gefunden wird. Viel ist darüber schon geschrie-
ben worden und noch mehr wird in Zukunft geschrieben wer-
den. Aber ich glaube, die Physiognomie eines Volkes läßt sich
durch Worte so wenig deutlich machen, wie die eines menschlichen
Gesichts. Man muß es selbst sehen, um seine individuell inter-
essanten Züge in sich aufzunehmen, und darum halte ich es für ein
Glück, daß es mir vergönnt war, fünf Monate in Japan zu ver
weilen, seine reizende Flora zu studiren und nebenher einen Blick aus
die Bevölkerung und deren wunderbare Institutionen zuwerfen."
30 Aus allen
Amerika und die Fidschi-Jnseln. Man meldet von den
Fidschi-Inseln wie folgt:
Vor mehreren Jahren desertirten von einem hier anlegenden
amerikanischen Schisse drei Matrosen, die später von den Insu-
lanern aufgegriffen, erschlagen und verzehrt wurden. Als dieses
Verbrechen der amerikanischen Regierung zu Ohren kam, ver-
langte dieselbe Genugthuung. Es kam zu einem Vergleich, dahin
lautend, daß sich der König oder Häuptling zur Leistung einer
gewissen Summe in Waarenwerthe verstand, deren erste Raten-
zahlung auch wirklich erfolgte, während die später fälligen aus-
blieben. Der König hat nun einen neuen Vertrag mit Amerika
abgeschlossen, dessen Instrument in einem mächtigen bunt gesärb-
ten Zahn eines Walfisches besteht, an dessen beiden Enden ein
sehr festgedrehtes Seil aus Gras befestigt ist, das zunächst als
Handhabe dient, dann aber insbesondere das Bindende des Ver-
träges veranschaulichen soll. Das Ganze, sehr sorgfältig in
Baumrinde verpackt, wurde dem amerikanischen Präsidenten Uber-
sandt und der Ueberbringer war beaustragt zu erklären, daß der
König, nachdem er die Ratenzahlung nicht innegehalten, zur
Sicherstellung seine Inseln an Amerika auf drei Jahre verpfände,
wogegen diefes wieder sich verpflichten folle, ihn gegen etwaige
Usurpation in Schutz zu nehmen und zu vertheidigen.
Es scheint dieses ein Vorgehen Amerikas gegen Frankreich
anzudeuten, das sich immer mehr in der Südsee ausbreitet und
noch im letzten Jahre sich wieder das Protectorat über einige
Inseln angeeignet, zu denen auch Oparo gehört, wo die Pa-
nama, New Zealand and Australian Royal Mail Company Mitte
vorigen Jahres eine Kohlenstation angelegt hat. (— Den neue-
sten Berichten aus der SUdsee zufolge machen die Nordameri-
kaner Miene, die Fidschi-Jnseln dauernd zu besetzen. Aus Ber-
thold Seemann's Werke wissen wir, daß England, welchem sie
angeboten wurden, eine Occupation ablehnte. —) —g—
Die Engländer in Abyssinien. Aus einem uns freund-
lich mitgetheilten Schreiben können wir folgende charakteristische
Züge mittheilen.
„König Theodor wollte, als die Engländer noch nicht bis
halbwegs Magdala waren, die sogenannten Gefangenen schon
freigeben. Seine europäische Umgebung, namentlich der Missio-
när Waldmaier, Herr Zander und der Franzose Bartel,
riethen ihm jedoch ab und erklärten, er müsse jetzt eine Schlacht
annehmen; das sei nun Ehrensache für ihn. Als viele Abyssi-
nier bei dem Treffen im Berfchlothale geblieben waren, hielt der
König großen Kriegsrath, der nur aus Eingeborenen bestand,
und diese verlangten, er solle die Gefangenen hinrichten lassen;
das werde vom abyssinischen Gesetze der Blutrache erfordert.
Auch dem widersetzte sich Theodor. Nach der Erstürmung der
Feste, deren unterer Theil durch Verrath der Besatzung den
Engländern übergeben wurde, hatte er dann Niemand mehr,
der für ihn kämpfen wollte. Er wurde in der Kirche von
Magdala begraben."
„Ein schottisches Regiment plünderte dort zuerst,
erbrach auch die Gräber, warf die Leiche des Abuna
Salama aus ihrer Gruft und beraubte diefe ihrer
Kostbarkeiten, namentlich der zwei goldenen Kreuze.
Später wurden diefe auf Befehl des Commandanten wieder an
Ort und Stelle gebracht, die Gruft aber nicht geschlossen und
sie verbrannten, als die Strohhütten Magdalas von den Eng-
ländern in Brand gesteckt wurden. Zander undSchimper sind
in Abyssinien geblieben. Die Zustände sind schlimmer als je,
da kein gemeinsames Oberhaupt mehr da ist."
„Der sogenannte Vicekönig Kasai, der seines Zeichens ein
Straßenräuber und Verwandter des srühern Statthalters von
Tigre ist, hat die Engländer mit viel Taet behandelt, d. h. mit
moralischen Fußtritten. Der Wagschum Gobodze ließ sich weder
auf Einladungen noch Befehle Napier's im Lager sehen, und
eben so wenig haben das die kleineren Fürsten gethan. Ein
kleiner Theil der englischen Armee bleibt in Zula zurück, wohl
um dort die vollständige Auflösung aller Bande der Ordnung
abzuwarten."
Erdtheilen.
Die Chinesen in Californien. Die nachstehenden Mit-
theilungen, welche der Pariser „Moniteur" neulich aus San
Francisco erhielt, wollen wir unseren Lesern, im Hinblick auf
den Aufsatz über die „Veränderung in der gegenseitigen Stellung
der Menschenracen" nicht vorenthalten.
„Es wäre ungerecht, die sehr wesentlichen Dienste zu
verkennen, welche die in Californien einwandernden Chinesen
leisten. Sehr arbeitsam, mäßig und solgsam haben sie
die Eisenbahnarbeiten, zu denen sie verwandt worden waren, mit
einer ungehosften Schnelligkeit vollendet, welche europäische Ar-
beiter nicht entwickelt haben würden. Die meisten dieser Chine-
sen werden von chinesischen Gesellschaften, die in San Francisco
ihre Vertreter haben, angeworben. Die Verträge sind gewöhn-
lich fünf Jahre bindend. Nach Ablauf dieser Frist hat der Chi-
nese in der Regel durch seine Thätigkeit und seine Sparsamkeit
sich ein kleines Capital, etwa 100 Dollars, erworben; er wird
frei und wird vertragsmäßig in die Heimath , die er nie ver-
gißt, wieder zurückgeschafft. Dort kauft er sich ein Schiff und
eine Frau und betreibt bis an sein Lebensende irgend ein Ge-
werbe. Bei seinen Landsleuten steht er aber, als weitgereifter
und welterfahrener Mann, in besonderer Achtung. Diese be-
scheidenen chinesischen Auswanderer tragen vielleicht mehr als die
Regierungen zur Verbreitung der Civilisationsideen in dem himm-
lischen Reiche bei. So lange die Chinesen in Californien wei-
len, leben sie unter sich und besuchen sowohl für Geschäft wie
für Vergnügen ihre eigenen Versammlungsplätze. Selten kom-
men sie, außer der Arbeitszeit, mit den Weißen in Berührung,
und richten sich pünktlich nach den Vorschriften ihrer Religion
und ihrer heimathlichen Gesetze. Sie gehorchen einer von ihnen
gewühlten Behörde und wenden sich so selten wie möglich an
die amerikanischen Gerichtshöfe. Die Bemühungen der Polizei
können sie selbst nicht hindern, unter einander Gerechtigkeit zu
üben. So wurde kürzlich eine junge Chinesin, die einen ihrer
Landsleute bestohlen hatte, des Nachts aufgegriffen, geknebelt,
insgeheim vor ein chinesisches Gericht gestellt und dann lebendig
begraben. Jeder der Anwesenden trat auf dem Grabe herum,
um jede Spur dieses gerichtlichen Mordes zu verwischen. Erst
später erhielt die Polizei durch einige unvorsichtige Aenßerungen
Kunde von der That. Es gelang aber nicht unter den 60,000
Chinesen, die in Californien leben, die Schuldigen ausfindig zu
machen. Uebrigens macht sich doch mit der Zeit eine
gewisse Annäherung der Chinesen an die „Weißen"
bemerklich. Es haben in neuester Zeit sogar verschiedene dieser
Einwanderer vor den amerikanischen Gerichten Prozesse gegen die
chinesischen Gesellschaften wegen Nichterfüllung gewisser Bedin-
gungen ihrer Contracte geführt und sie waren durch die schnelle
Justiz befriedigt. Einige wenige haben sich sogar fest angekauft
und gedenken Californien nicht mehr zu verlassen. Im Allge-
meinen ist aber der Drang zur Heimkehr so stark bei diesen
Leuten, daß sie sich in ihren Contracten für den Fall ihres Ver-
sterbens in Californien die Zurückschassung ihrer .Leiche nach
China ausbedingen."
Tschechencolonien in Rußland. Bei der Sympathie,
welche von den Führern der Böhmacken für alles Moskowitische
zur Schau getragen wird und in Anbetracht der panslaviftifchen
Bestrebungen einer großen russischen Partei kann folgende Nach-
richt nicht Wunder nehmen; sie steht in der russischen „St. Pe-
tersburger Zeitung":
„Der Moskauer landwirtschaftliche Verein hat beschlossen,
eine Colonisirung durch Tschechen anzubahnen und für diesen
Zweck ein besonderes Comite gebildet. Die Gesellschaft glaubt,
daß bei den zu Tage getretenen Sympathien der flavischen
Stämme für Rußland die Einrichtung von fünf bis sechs tschechi-
schen Kolonien in guten Gegenden hinreichen werde, um die
Übersiedelung in größerm Maßstabe in Gang zu bringen. Es
sind hierbei folgende Grundsätze aufgestellt worden: 1) Das
Land wird den Einwanderern als volles Eigenthum überlassen
und die Zahlung dafür auf mehrere Jahre repartirt. 2) DaS
zur Ansiedelung bestimmte Terrain muß vorher von den Be-
Aus allen Erdtheilen.
31
vollmächtigten der zur Auswanderung Entschlossenen besehen wer-
den, um allen Mißverständnissen vorzubeugen. 3) Da die An-
siedler die Reise auf eigene Kosten zu machen haben, darf das
für sie bestimmte Land nicht weit vom Meere, von schiffbaren
Flüssen und Eisenbahnen entfernt liegen und muß von guter
Beschaffenheit sein. 4) Die Einwanderer dürsen keine Proletarier
sein, sondern müssen ein kleines Capital (mindestens 200 Rubel
per Familie) besitzen, um den Besitzern eine gewisse Garantie zu
bieten."
Britisch Westindien und Guyana. Diese Inseln neh-
men insgefammt ein Areal von 12,583 englischen Quadratmeilen
ein, mit einer Bevölkerung von 933,434 Seelen, d. i. 451,523
männlich und 481,956 weiblich. Davon fallen wieder 441,255
anfJamaica, 152,727 auf Barbadoes, 36,412 auf Antigua und
35,487 auf die Bahamas. Die Bruttoeinnahme im Jahre 1865
ergab 863,794 Pf. St., wobei Jamaica mit 295,398 und Tri-
nidad mit 220,794 Pf. St. interessirt sind; während die Aus-
gabe sich auf 874,173 Pf. St. belief. In den Jahren 1860 bis
Ende 1865 stand die Colonialschuld am höchsten im Jahre 1864
und zwar mit 1,176,564 Pf. St. Der Tonnengehalt der im
Jahre 1365 ein- und ausgelaufenen Schiffe betrug 1,449,096
Tonnen und davon kommen 1,149,962 T. auf britische Schiffe.
Der Totalimport war am höchsten im Jahre 1864, wo er sich
auf über 9 Mill. Pf. St. steigerte, während er im Jahre 1865
auf 5 Mill. Pf. St. herabsank. Der Export im Jahre 1864 war
sehr nahe 8% Mill. Pf. St. und beanspruchen davon die Bahamas
41/3 Mill. und Trinidad 1 Mill. Pf. St. Die hauptfächlichsten
Importartikel bilden Brot, Butter, getrocknete Fische und Mehl.
Der Werth des im Jahre 1865 exportirten Rums betrug in
Jamaica 162,751 Pf. St., in Barbadoes 2038 Pf. St. und in
Trinidad 9806 Pf. St.
Das Areal de? britischen Guyanas beträgt 76,000 eng-
tische Quadratmeilen, mit einer Bevölkerung von 143,026 Seelen.
Der Import im Jahre 1865 ergab den Werth von 1,359,212
Pf. St., oder ungefähr 150,000 Pf. St. weniger als im Jahre
1364. Jmportirt werden hauptsächlich Butter, Mehl, getrocknete
Fische, Reis und Spirituosen. Der Export erreichte sein Maxi-
mum im Jahre 1865, wo 14,565 Puncheons Syrup, 37,406
Puncheons Rum und 86,262 Oxhost Zucker verschifft wurden
und ergab die Höhe von 2,089,639 Pf. St. Die Einnahme der
Eolome betrug im Jahre 1865 309,372 Pf. St. und die Aus-
gäbe, mit Einschluß von eingelösten Bonds, 390,894 Pf. St. Die
ein- und ausgelaufenen Schiffe hatten einen Tonnengehalt von
329,131 Tonnen. —g —
Zur Statistik des britischen Indiens. Der Handel
und der Fortschritt der britischen Besitzungen in Indien, deren
Areal 956,436 englische Quadratmeilen beträgt und deren Be-
völkerung sich nach deni Census von 1861 auf 143,271,210 See-
len belief, stellt sich in nachfolgenden vergleichenden Jtems aus
den Jahren 1352 und 1865 sehr eclatant dar:
Jahr 1852. Jahr 186 5.
Pf. St. Pf. St.
fast 23 Millionen über 45% Millionen
27
„ 75V2 „
17
21%
Dazu mögen noch folgende Einzelnheiten aus dem Jahre
1365 erwähnt werden.
^ Die im Jahre 1865 ein- und ausgelaufenen Schiffe, mit
Ausschluß der Küstenfahrer, hatten einen Gehalt von 4,268,666
Tonnen und davon kamen wieder 3,228,234 auf britische und
1,040,382 auf fremde Schiffe.
Die hauptsächlichsten Importartikel bildeten, abgesehen von
2 repräsentircn resp. 5 und 21 Mill. Pf> St. den Werth
011 ™ c, . taücn und rcsp. 10 und 23 Mill- Pf- St. den Import
aus Großbntannien.
Brutto - Einnahme
Brutto - Ausgabe
Öffentliche Schuld
Import......
Export ......
46
nahe 98y2
49%
nahe 69y2
Baargeld und Species, Baumwolle, Twist und Garn, Kupfer,
Salz und Weine.
Von den wesentlichsten Erportartikeln lieferten im Jahre
1865 Rohbaumwolle die Höhe von 371/3 Mill. Pf. St., Opium
sehr nahe 10 Mill. Pf. St., Reis 5y2 Mill., Sämereien fast
2 Mill. und Wolle und Rohseide jeder Artikel über eine Million
Psund Sterling. Der Export an Opium während der letzten
13 Jahre erreichte quantitativ sein Maximum in 1865, aber sei-
nen höchsten Werth in 1863. Der Wollexport hat stetig zuge-
nommen, im Jahre 1852 wurden 7,057,161 Pfd. verschifft, wo-
gegen im Jahre 1365 das Quantum von 23,432,689 Pfd.
Eine Vorlage, die auf Antrag des Lord W. Hay dem briti-
fchen Parlamente Mitte des vorigen Jahres 1867 gemacht wurde,
giebt die Höhe des Areals, der Einwohner und der Polizei der
drei bedeutendsten Städte Indiens folgendermaßen an:
Name. Areal. Ein- wohner. Po- lizei. Macht 1 Policeman auf
E alcut t a.
1. Die eigentl. Stadt • etwas über
7 engl.lH-M. 377,924 1643 230 Einw.
2. Die Vorstädte . . 29 engl.IH-M. 233,325 1026 232% „
Madras...... 27 engl.IH-M. 460,000 834 551 % „
Bombay...... 21 engl.m-M. 316,562 1500 5441/3 „
Eisenbahnen in Nordamerika. Die Länge sämmtlicher
Eisenbahnen in den Vereinigten Staaten Nordamerikas am
31. Deeember 1867 ergab 54,325 Miles und waren davon
38,005 dem Verkehr übergeben und 16,320 noch im Bau be-
griffen. Die Totalkosten, die Einrichtung mit eingerechnet, be-
trugen 1,654,050,399 Dollars. Unter den einzelnen Staaten
steht Pennfylvanien mit 4192 Miles Eisenbahnen an der Spitze,
dann folgen Ohio mit 3397, Illinois mit 3224, Neuyork mit
3182 und Indiana mit 2306 Meilen.
Woher der Name Fenier? Zu Helsingfors in Finn-
land erfchien ein Werk, welches den Titel führt: „Tiedot
Suomen suvun muinai sundesta", d. h. Kunden auS
der finnischen Vorzeit; Verfasser ist der Geschichtsforscher Hrjo
Koskinen. Er weist nach, daß die weltstürmenden Hunnen
für uns die erste historische Nation sind, welche man ganz un-
bedenklich für Uralfinnen erklären darf. Adolf Erman hat in
seinem „Archiv für wissenschaftliche Kunde von Rußland" eine
eingehende Besprechung jenes Buches (XXIV, S. 341 ff.) und
wir finden in derselben Folgendes:
„Die Aestyer des Tacitus waren nicht Vorfahren der heu-
tigen Eesten (Ehsten), fondern ein litthauifches Volk, später
unter dem Namen Preußen bekannt. Jenen Namen, der nichts
anderes als Ostländer bedeutet, hatten sie augenscheinlich von
Germanen bekommen, und nachher ging er auf die Wirolai-
set über, auf finnische Menschen, nämlich die heutzutage soge-
nannten Ehsten, als diese den Germanen bekannt wurden.
Wenn man aber die Aestyer des Tacitus dem finnischen Stamme
absprechen muß, so gehören die Fenni um so sicherer dahin.
Dieses von ihm zu den rohesten Wilden gerechnete Volk darf
man nicht als dasjenige betrachten, welches die Gesänge Kais-
vala hervorgebracht, aber es war ohne Zweifel stammverwandt
mit jenem und mit den Suomalaiset (Finnen) unserer Tage.
Der Name Fenni, bei Ptolemäus Finnoi, ist eigentlich kel-
tischen Ursprungs und von Kelten zu Germanen überge-
gangen."
„Neueren Forschungen zufolge heißt in den alten Sagen der
Jrländer Jena ein Urvolk, welches, denselben Sagen zufolge,
32
Aus allen Erdth eilen.
aus Afrika und Spanien gekommen wäre. Dieses scheint dann
mit den später angelangten Kelten sich vermischt zu haben, so
daß die Bevölkerung von ganz Irland mit jenem Namen belegt
wurde. Eigentlich ist Fena Mehrzahl des Wortes Feon, wel-
ches röthlich-blond und schön bedeutet, und der Stammherr
der Jrländer sührt auch den Namen Feon Mac Cumhail
/Feon des Cumhail Sohn), welcher gleich ist dem Feon Gall
oder Finn Gall (Fingal) der schottischen Hochländer. Ein
sagenhafter Stammbaum macht ihn zum Enkel des Bask (Ensk)',
das Wort Bask ist aber selber altirisch und gleichbedeutend mit
Feon. Die Sage scheint dahin zu zielen, daß jene alten Fena
und das Volk Eusk (die Basken) gleiches Stammes gewesen.
Die Benennung „rothblonde" erinnert an das rothe Haar und
die blauen Augen, welche oft als Merkmale des finnischen Stam-
mes betrachtet werden; auch die helläugigen Tschuden der
russischen Sage reihen sich hier an."
Thierräthsel bei den Battas auf Sumatra. Wir
haben mehrsach Thiersabeln und Märchen wilder oder halbwil-
der Völker mitgetheilt; so jüngst solche, welche bei den Herero
in Südweftafrika vorkommen. Jüngst erhielten wir.dm „Kur-
zen Abriß einer Battafchen Formenlehre im Toba-
Dialekte", welcher zu Barmen im dortigen Missionshause ge-
druckt worden ist. Die Arbeit ist nach einem holländischen Dic-
täte des Herrn H. N. van der Tuuk durch August Schreiber
verdeutscht worden. Wir finden in demselben sieben Räthsel, von
denen wir die drei nachstehenden mittheilen wollen.
Rathe, rathe! — Was denn?
Wie kam es, daß ein Bodat-Asse eine Gurke kriegte,
die an einem Felsabhange wuchs? sprach der Räthselerzähler.
Das ging so zu: der Bodat sand eine große Heuschrecke.
„Gieb dich gesangen, Heuschrecke, damit ich dich auffresse!" —
„Warum willst du mich gefangen nehmen, Affe, was habe ich
dir zu leide gethan?"— Sollte ich dich nicht gefangen nehmen?
Du hast Flügel und kannst also die Gurke fressen, die dort aus
dem Abhänge ist. Wohlan, willst du die für mich holen zum
Fressen, dann will ich dich nicht ausfressen." — „Die will ich
schon kriegen." Darauf flog die Heuschrecke nach dem Abhänge
und biß den Stiel der Gurke durch, die Gurke fiel herunter und'
wurde dann von dem Bodat aufgefressen. „Sieh da, so kam
es, daß ein Bodat eine Gurke zu sressen kriegte, die am Fels-
abhänge wuchs," sprach der Auflöser.
Rathe, rathe! — Was denn?
Wie kam es, daß ein Gumpok-Käser einen Bär zu
fressen kriegte?
Das ging so zu: der Gumpok kroch an einem Felsabhange.
Da begegnete ihm ein Bär. „Gieb dich gefangen, Gumpok, da-
mit ich dich auffresse!" — „Warum willst du mich gefangen
nehmen, was habe ich dir zu leide gethan?" — „Du hast mir
gerade nichts zu leide gethan, aber ich bin hungerig, und darum
will ich dich fressen." — „Steht es so, Großvater, dann mußt
du mich nur ausfressen. Aber laß uns erst noch eine Wette
machen: wir wollen uns diesen Abhang hinunterrollen. Wenn
du unten ankommst, dann friß mich nur auf, kommst du nicht
hin, dann darsst du mich auch nicht fressen." — „Soll das gel-
ten, dann roll du dich nur zuerst hinunter," sprach der Bär.
Der Gumpok rollte sich hinunter. „Ich bin schon da, Groß-
Vater!" rief er. „Roll dich nun auch selbst, Großvater." Da
schickte sich der Bär an und rollte weiter und weiter bis an den
Rand des Flusses, er stieß aber so seinen Kopf an einen Stein,
daß er starb. Da rief der Gumpok all seine Kameraden zu-
sammen, und sie fraßen den Bär auf. „So kam es, daß ein
Gumpok einen Bär zu fressen kriegte," sprach der Auflöser.
Rathe, rathe! — Was denn?
Wie kam es, daß eine Libelle einen Hirschbock zu
fressen kriegte?
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für t
Druck und Verlag von Friedrich Vi
Das ging so zu: Eine Libelle kam an den Rand eines Ba-
tatenseldes und sah, wie ein Hirschbock furchtsam um den Rand
des Feldes herumschnüffelte, er wollte gern an die Kartoffeln,
fürchtete aber die Leute, die Kartoffeln holten. Da fand er die
Libelle, die sich auf eine Fußangel gesetzt hatte. „Gieb dich ge-
sangen, Libelle, dn sollst meine Speise sein, um meinen hun-
gerigen Bauch zu kuriren; denn mein Bauch thut mir sehr weh,
weil nichts darin ist, und ich kann nicht an die Kartoffeln kom-
men, ich fürchte die Kartoffelholer." So sprach er. „So? Groß-
Vater! Was hast du lieber zu fressen, wenig oder viel? Wenn
du mich auch auffrißt, da sollst du wahrlich nicht satt von wer-
den. Aber, was ich sagen wollte, willst du eine Wette mit mir
eingehen, so will ich machen, daß du Kartoffeln genug zu essen
kriegst. Willst du nicht, dann mußt du hungerig bleiben, denn
zu essen bekommst du dann nichts," sprach die Libelle. „Was
hast du denn für eine Wette vor, sag', laß mich einmal hören!"
sagte der Hirsch. „Wohlan, wenn du dich hier obenauf meinen
Sitzplatz stellen kannst, dann will ich bei dem Manne dort sür
dich um Kartoffeln zu freffen bitten, und dann sollst du mich
hernach auch aussressen. Kannst du aber nicht hierherkommen,
dann darfst du mich nicht auffressen." — „Soll das unsere Wette
sein? Recht so." Daraus sprang der Hirsch gegen die Spitze der
Fußangel, so daß dieselbe ihm in die Brust drang und er starb.
Die Libelle aber rief daraus ihre Kameraden zusammen und sie
machten ein Mahl von dem Hirsch. So kam es, daß eine Libelle
einen Hirsch zu sressen kriegte.
q- * #
— Herr v. Lesseps läßt die Angabe verbreiten, daß der
Suez-Canal unfehlbar im Jahre 1869 fertig sein werde; er
könne dann der großen Schifffahrt und dem großen Weltverkehr
eröffnet werden. Auf die Versprechungen des Hrn. v. Lesseps
darf man aber nicht vertrauen; seine erste Zusage lautete, daß
die Eröffnung Anno 1361 stattfinden solle. Die Kostenanschläge
sind, wie sich voraussehen ließ, um mehr als die Hälfte über-
schritten worden, und eben jetzt, in der Mitte des Jahres 1868,
fehlen wieder 75,000,000 Francs. Nichts bürgt dasür, daß auch
diese Summe ausreiche; Actionäre sinden sich nicht, und man will
nun das Geld vermittelst einer Prämienlotterie aufzubringen fuchen.
— Die Eisenbahn vom Hafenplatz Jslay an der perua-
nischen Küste, landein nach Arequipa, wird eine Länge von
etwa 25 deutschen Meilen haben und soll vom Engländer Meigs
sür 12 Millionen Dollars hergestellt werden. Der Plan war schon
1360 entworfen. Arequipa liegt 7250 Fuß über dem Meere. Man
will späterhin zu gelegener Zeit den Schienenweg bis Puno bauen.
— In Costa rica hatte eine nordamerikanische Gesellschaft
Eoncession zum Bau einer Eisenbahn von Limon am Atlan-
tischen Ocean bis Punta Arenas an der Südsee erhalten.
Sie erfüllte aber ihre Verpflichtung nicht und so ist der Ver-
trag hinsällig geworden. Die Regierung von Costa rica hatte
ihrerseits vollkommen pflichtgetreu gehandelt und dem Unter-
nehmen allen Vorschub geleistet. — In England hat man neuer-
dings den Plan einer Hondurasbahn wieder ausgenommen.
— Die „Weiberfrage" macht in der That Fortschritte.
Selbst in Lissabon erscheint jetzt ein Blatt: „Die Frauen-
stimme", an welcher nur weibliche Federn beschäftigt sind;
Hauptredacteur ist Francisca D'Assis Martinez Wood, eine Por-
tugiesin, die sich mit einem Engländer verheirathete und die
Frauenemancipation eifrig befürwortet.
— Burridge, ein füdauftralischer Kolonist, ist im Besitze
einer Sammlung sehr ausgezeichneter Perlen, die zum Theil
so groß wie Erbsen sind; ihre Farbe ist verwaschen weiß und
die Form kugelig. Er will dieselben in einer gewissen Art
Fisch an der 'Südküste entdeckt haben, den er aber nicht weiter
specisiciren will, es sei denn, daß man ihm das Geheimniß mit
1000 Pf. St. abkaufe.
ie Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
cweg und Sohn in Vraunschweig.
Mage's Reise vom Senegal bis an den obern Niger.
Zweiter Artikel.
Aufenthalt in Bafnlabe. — Ein Gesandter des Häuptlings von Knndian. — Diango und dessen Gefolge; Kriegsmusik. — Aufenthalt
in Kundian; die Festung; Cafernen der Kriegersklaven. — Habsucht und Bettelei. — Der obere Senegal ist nicht schiffbar. — Medina
Gongu. — Die Negcrdörfer und ihre Unbequemlichkeiten. — Eine verödete Gegend. — Der Berg bei Firia. — Vaobabbäume. —
Niantanfo.— Am Vakhoy.— Die Landschaft Kita. — Ein maurischer Marabut und dessen Tochter. — Die Ortschaft Makandiambugu.—
In Kaarta. — Schwarze Kaufleute und deren Sklaven. — Das Dorf Kurundingkoto. — Ein Albino-Neger. — In Gettala. — Kopfputz
der Frauen. — Wandernde Kaufleute; Steinsalz aus der Sahara. — In Gemukura. — Der Häuptling Tierno Usman. — Daudagura
von Farabugu. — Allerlei Verdrießlichkeiten. — Ankunft zu Diangirte in. Diangnnte.
Wir haben den Reisenden bis dorthin begleitet, wo der
Bafing nnd der Bakhoy nach ihrem Znsammenflusse den
Senegal bilden, nach Bafnlabe. Dort verweilte er zwanzig
Tage, zeichnete Pläne nnd suchte nach Baumaterial, das er
auch in Menge fand, Kalk allein ausgenommen. Es han-
delte sich, wie schon früher bemerkt wurde, darum, zu gelege-
ner Zeit an diesem Punkte einen Handels Posten zu er-
richten.
Die Kunde von der Anwesenheit einiger Europäer hatte
sich bald weit umher verbreitet, und deshalb konnte es nicht
befremden, daß eines schönen Tages Gesandte erschienen,
welche im Auftrage Diango's kamen. Dieser war Häupt-
ling vou Kundian und dem Hadsch Omar nnterthan; er-
ließ sagen, daß die Fremden sofort das Land räumen muß-
ten, wenn sie nicht gekommen seien, den Hadsch zu besuchen.
Mage bemerkt, daß ihm das gerade gelegen gekommen sei;
er hatte nun mit den Tonconlenrs zu thnn nnd mußte
über das Schicksal seiner Reise ins Klare kommen. Nun
erfuhr er auch, daß Kundian in landesüblicher Weife stark
befestigt fei und eine zahlreiche Besatzung habe, vermittelst
welcher die vom Hadsch bezwungenen Malinkeländer in Un-
terwerfnng gehalten und unbarmherzig ausgeplündert wurden.
Der dort commaudirende General oder Häuptling Diango
war ein Sklav des Hadfch und ließ eine freundliche Auf-
nähme versprechen durch seinen Gesandten, der sich, wie un-
fere Illustration zeigt, ganz martialisch ausnahm. Dieser
Tall (d. h. Mann von einem Toucouleurstamme der kriege-
rischeu Torodos, zu welcher der Hadsch selber gehörte) war
schlank gewachsen, starkknochig und in seinen Gesichtszügen
lag etwas Wildes und Grausames. Nachdem er früher zu
Podor am nntern Senegal Diener bei einem Kaufmanne
gewesen, war er jetzt General in Kundian. Seine Beglei-
tung bestand aus dreißig Mann Fußvolk und sechs Reitern,
^e recht gute Pferde hatten.
Mnge erklärte, daß er mit ihm nach Kundian gehen, bis
auf Weiteres aber fein Gepäck zurücklassen wolle; zunächst
komme es ihm darauf au, von Diango zu erfahren, in wel-
cher Richtung die Weiterreife zu erfolgeu habe. Trotz aller
Hindernisse, die der Bafing darbot, fuhr er dann mit seinem
Boote bis Waliha, einem Malinkedorfe, wo er im Gebüfche
Globns XIV. Nr. 2. (Juli 1868.)
sein Lager ausschlug und dann mit Dr. Quintin und zwei
Leuten sich nach Kundian aufmachte. Der Pfad läuft zu-
meist in einer kleinen Entfernung vom Flusse, manchmal aber
auch dicht an demselben hin; man trifft nur an zwei Stellen
auf Hindernisse, weil man über einige tiefe Marigots (Ne-
bengewässer, Hinterwasser) muß; der eine liegt bei Koria,
der andere, unweit von Kundian, ist der Galamagi, und
in dessen Nähe liegt das Dorf Kabada. Hier verabschie-
bete sich General Tall, um in Kuudian bei Diango die An-
kunst der Europäer zu melden, nnd führte diese in das Dorf
Bngara.
Dort erschien bald nachher Diango an der Spitze von
drei Compagnien Fußvolk und mit etwa hundert Reitern,
die ohne Ordnung nmhergalopirten, während die Infanterie
nach dem Tone der Tabala (Negertrommel) einherschritt.
Diese besteht aus einer großen hölzernen Halbkugel, die mit
Ochsenhaut überzogen wird; den Trommelstock bildet ein bieg-
samer Stiel mit einer dicken Kantschnkkngel; ans einen Schlag
folgen nach einer kleinen Pause zwei andere Schläge und das
ist die Regimentsmnsik. Diango hatte einen rothen Burnus
übergeworfen und trug einen schwarzen Turban; sein Pserd
wurde am Kopfe von vier Sklaven geführt; vier andere hiel-
ten den Schweif. In feinem Gefolge befanden sich viele
Marabnts nnd Talib es; die letzteren sind Schüler und Zög-
liuge der Marabuts und vom Hadfch Omar zu Soldaten
gemacht worden, obwohl es fönst bei den Mohammedanern
als Regel gilt, daß weder Marabuts noch Talibes Waffen
tragen und Krieg führen dürfen.
Der Empfang war ganz freundlich, aber es ließ sich doch
ein gewisses Mißtrauen nicht verkennen. Dieses wurde in-
deß erklärlich, als Mage erfuhr, daß der früher erwähnte
Sambala, der sogenannte König von Medine, ein Dorf
geplündert habe. Er wnßte, daß Mage auf der Reife war,
hatte sogar dessen Leuten prophezeiet, keiner von ihnen werde
lebendig auch nur bis Bafnlabe kommen, und er hatte das
Dorf vielleicht nur in der Absicht geplündert, um den Euro-
päeru Verlegenheit zu bereiten. Er sah es nur höchst un-
gern, daß die Franzosen mit dem Hadsch, der einen Theil
seiner Angehörigen ermordet hatte und mit dem er srüher
selbst Krieg geführt, in Verbindung treten wollten. Eine
5
34 Magb's Reise vom Senec
solche mußte zur unmittelbaren Folge haben, daß die zwischen
dem Gebiete der Franzosen und jenem des Hadsch Omar
liegenden Gebiete insofern abhängig wurden, als deren Haupt-
linge ferner keine Raubzüge, Razzias, unternehmen durften,
und diese bildeten doch eine Hauptquelle ihrer Einkünfte!
Mage war so klug gewesen, dem General Tall zu zeigen,
welche Vorrathe und Geschenke er bei sich führte, war über-
Haupt ganz offen gegen ihn gewesen und das hatte guten
Eindruck gemacht. So nahm denn auch Diaugo keinen An-
stand, die Europäer nach Kundian zu geleiten.
bis an den obern Niger.
Dort verweilte Mage drei Tage, ließ sein Gepäck und
seine Leute nachkommen und wanderte dann weiter. Diango
sollte ihm verabredetermaßen einen Führer bis Segu mit-
geben, das man auf einem directen und keineswegs beschwer-
lichen Wege iu etwa vierzehn Tagen erreichen könne. Nach
Mage's Beobachtungen liegt Knndian unter 13° 8' 57" nörd-
licher Breite; die Länge ist nach Schätzung 12° 58' 22" westlich
von Paris; die Ortschaft besteht aus einer Festung und einem
Dorfe, theilweise mit Häusern aus Mauerwerk; auch diese
sind mit Stroh gedeckt. Die Festung, ein regelmäßiges Viereck
Ein General des Hat
mit Seiten von je 160 Meter, wird von 16Thürmen flan-
kirt; nur zwei derselben haben Pforten, aber eine davon wird
niemals geöffnet; die Mauer ist 8 bis 9 Meter hoch, besteht
aus Mauerwerk und Piss nnd wird in jedem Jahre ansge-
bessert. Man ließ die Europäer nicht in die Festung, sie
erfuhren aber, daß sich innerhalb derselben eine Wohnung des
Hadsch Omar befand, und daß in derselben eine seiner Frauen
hause. Auch die Caserueu der Sofas, d. h. solcher Skla-
ven, welche Kriegsdienste thun, lagen innerhalb der Mauern,
eben so die Wohnungen für eine Anzahl von Talibes. Die
ganze Lage ist derart, daß auch regelmäßige Truppen einen
! Omar i.l jtundian.
schwierigen Angriff haben würden. Die Umgegend ist gold-
reich, Getreide wächst in Menge, aber der Viehstand war
völlig zu Grunde gerichtet worden. Unter diesen Umständen
konnte ein Ochse, welchen Mage bekam, für ein splendides Ge-
schenk gelten. Diango war ein Malinke und die Hab- und
Raubsucht, welche seiner Race eigentümlich ist, trat bei jeder
Gelegenheit hervor. Mit dem Geschenke, das Mage ihm
anbot, war er nicht zufrieden; dieser aber erklärte, daß er
Alles, was ihm begegne, dem Hadfch Omar erzählen wolle,
und NUN wurde Diango überaus zahm; er bettelte um Salz,
um blaue Guiuees und dergleichen. Ueberhanpt war der
Berge am Basing,
Den Eingang bildet eine enge Pforte; um hindurchzukommen,
muß man abladen, die Sachen bis zn der bestimmten Woh-
nung tragen, die oft weit entfernt liegt und durchgängig nichts
weniger als angenehm oder bequem ist, wohl aber schmutzig,
heiß, dumpf, ungesund und obendrein hat man noch viel vom
Ranch auszustehen. Viel wohler befindet man sich unter
einem Käsebaume (bentenier), und ein solcher befindet fich
bei fast jedem Dorfe. Vermittelst seiner gigantischen Wur-
zeln bildet er gewissermaßen Verschlüge, welche für das klei-
nere Gepäck als Magazine dienten; ein Mann legte sich als
Wächter vor dieselben, zündete ein Feuer an nnd dann war
Alles vor Dieben sicher.
Uebrigens befanden sich die Reisenden von Knndian ab
in einem Lande, wo eine Autorität vorhanden war und Ge-
horsam erzwang; sie setzten also getrost ihren Weg gen Osten
sort. Aber die ganze Gegend war verödet; überall fanden
sie Trümmer und nicht selten auch Schädel, die in der Sonne
unweit von Firia.
bleichten. Vielleicht ist von je hundert Nienschen, welche vor
1858 dort wohnten, nur einer übrig geblieben; der Rest
erlag dem Gemetzel, der Hnngersnoth und manchen anderen
Leiden, welche eine Folge der Sorglosigkeit dieser schwarzen
Menschen sind. Dagegen waren Antilopen in großer Menge
vorhanden. Die Reisenden wanderten in einer Reihe hinter-
einander durch das zwölf Fuß hohe Gras, und ihr amtlicher
Führer Famhara war der letzte im Zuge. Das Thal
des Basing, welches nun sehr eng erschien, wurde verlassen
und der Weg ging nach Gangaran hinein, wo mehrMen-
schen wohnen, Malinkes, deren Kleidung durchgängig von
gelber Farbe ist. Diese gewinnen sie ans den Wurzeln und
Blättern eines Baumes, den sie Rhat nennen und der auch
gelbes Holz hat; aus der Asche des letztern waschen sie eine
Beize, vermittelst welcher die blaue Farbe des Indigo haltbar
wird. Insgemein findet man bei den Malinkedörfern
Banmwollenfelder; fo einst anch bei Firia. „Abends hat-
36 Mage's Reise vom Seneo
Aufenthalt in Kundian nicht angenehm; männliche und Weib-
liche Griots machten Musik und tanzten; der eine Häupt-
liug bettelte um eine Hose, der andere um etwas Anderes,
der Doetor wurde von Kranken bestürmt und die ewige An-
strengung machte ihn krank. Mage hatte ein kaltes Bad ge-
nommen und bekam in Folge desselben ein Fieber.
Am 9. Januar geleitete Diango die Reisenden eine Strecke
weit und Mage erhielt beim Abschiede von ihm einen gol-
denen Ring im Werthe vou etwa 36 Francs. Dagegen
gab er ein mit Seide gesticktes Sammetkäppchen und war
froh, endlich diese Bettlergesellschaft verlassen zu können.
Diango hatte ihn versichert, daß er den Hadsch in Segn an-
treffen werde, und er glaubte fchon die größten Schwierig-
keiten hinter sich zu haben.
Von Kundian aus ging der Weg nach Norden, wieder
an den Basing, welcher spät Nachmittags gegenüber Med in a
Gongn, d. h. Insel Medina, erreicht wurde; auf derselben
bis an den obern Niger.
lag das gleichnamige Dorf. Unterhalb des Eilandes war
ein Wasserfall, oberhalb eine querüberlaufende Felsenleiste.
Damit war die Bestätigung gegeben, daß der Senegal in sei-
nem ganzen obern Lause nicht schiffbar ist uud daß Mage
wohl daran gethan hatte, sein Boot in Waliba zurückzulassen.
Man mußte über den Fluß setzen, und das war eine be-
schwerliche Sache, weil die beiden großen Nachen, welche als
Fährboote dienten, mit höchst armseligen Rudern versehen
waren. An manchen derselben befindet sich nicht einmal eine
Kalebasse, sondern nur ein hohler Kürbis! Indessen befand
sich Mage Abends sieben Uhr aus dem andern Ufer, wo er
sein Lager im Freien ausschlug. Er war, nach den unerträg-
lichen Belästigungen in Kundian, fest entschlossen, nie wieder
in einem Dorfe zu übernachten, nnd dabei gewann er auch
an Zeit. Denn gleichviel, ob die Dörfer aus Stroh- oder
Erdhütten bestehen, ob sie befestigt oder mit Dornreisig und
Pfahlwerk umgeben sind, — der Plan ist immer derselbe.
Mage's Reise vom Seneg
ten wir einen feenhaften Anblick. Der ganze Berg war hell
beleuchtet von mehreren Hundert Fackeln. Nun sahen wir
auch das oben aus der Höhe liegende Dorf, von welchem
Leute herabkamen, um uns ein Abendessen zu bringen. Das-
selbe bestand aus etwa dreißig Kalebassen voll Fleisch, für
uns in zwei Hühnern und iu Eiern; Negerkorn zum Pferde-
futter wurde gleichfalls verabreicht. Sodann verabredeten
wir, daß die Dorfbewohner am andern Tage beim Trans-
Port des Gepäckes über die Berge behülflich fein sollten. Ich
begriff nicht, wie überhaupt diese steilen Höhen paffirt wer-
den könnten, und in der That mußte Alles vou Menschen
hinaufgetragen werden; die Thiere zog man hinterher. Oben
befanden wir uns dann anf einer Hochebene, auf welcher
mehrere Bergreihen zusammenstießen. Nun wurde mir die
Bodengestaltung klar; — wir hatten hier das Thal des
Senegal verlassen."
„Noch an demselben Tage wurde Niantanso erreicht,
bis an den obern Niger. 37
ein einigermaßen befestigtes Dorf, zu welchem wir durch
eiue euge Schlucht gelangten, und wo wir uns unter hohen
Baobabs lagerten. Diese Bäume sind eine wahre Wohl-
that für die Schwarzen. Ihre Frucht, das sogenannte Affen-
brot, ist sehr adstringirend, uud das Mehl derselben, wenn
mit Milch genossen, ein wirksames Mittel gegen die Dysen-
terie; ich habe das an mir selber erfahren; obendrein ist ein
solches Getränk sehr erfrischend. In knapper Zeit bereitet
nian auch einen Brei aus dem Mehl; aus den getrockneten
und zerpulverten Blättern besteht das Lallo, ein ganz fei-
ner grüner Staub, welchen die ^oloffs allemal in ihren Kus-
kus (Mais- oder Hirsebrei) mengen, wie die Bambaras in
ihren Lack Lallo. Aus der Rinde gewinnt man einen
zähen Faden, aus welchem Stricke gedreht werden; diese sind
aber nicht besonders dauerhaft. — Unser Führer veranlaßt?,
daß uus bei Niantanso eine Hütte gebaut wurde, und zwar
ans Sekos, d. h. aus groben Strohmatten. Auch wurde
Torf 9«
die Lagerstelle sorgfältig gereinigt und man brachte uns fri-
fches, klares Wasser in einem großen irdenen Gesäße."
„Nachdem wir uns ein wenig ausgeruht hatten, kamen
mehrere Häuptlinge aus den umliegenden Dörfern und jeder
brachte einige Lebensmittel. Auch die Häuptlinge von Dia-
fife und Bambandinian stellten sich ein; der von Firia
schickte drei Hühner, auch bekam ich etwas Reis uud kaufte
noch allerlei Lebensmittel für mein Gefolge. Für zwei Hand-
voll Salz gab man mir ein Huhn und etwa fechs Pfund
Reis für fünf Schuß Pulver. Dann bestieg ich eine An-
hohe; von dort gewahrte ich in östlicher Richtung eine Kette
von Bergen, welche wir am nächsten Tage Passiren mußten.
Sie sind, wie überhaupt der Boden in Bambnk, sehr eisen-
haltig, und die Bewohner schmelzen anch Eisen. Das Me-
tau hat dort uur geringen Werth; ich gab für ein großes
Messer einen „Kopf" Taback im Werthe von etwa 4 Groschen."
n n andern Morgen kamen wir über einige niedrige
Hügel nnd durch zwei Marigots und dann auf einen höhern
ntanp.
Berg von etwa 550 Fuß. Die Kette, welche ich hier über-
schritt, war die beträchtlichste auf der ganzen Reife; sie ist
die Scheidelinie zwischen dem Basing und dessen
Neb engewässern. Auf der andern Seite lagen dann be-
bauete Ebenen vor uns, und während der nächsten Tage
kamen wir durch Gegeudeu, in denen eine gewisse Art von
Wohlstand nicht zu verkennen war. Abends lagerten wir
beim Dorfe Makhana, und dort erhielt ich zuerst Kunde
von deu Wirren, welche das Reich des Hadfch Omar zerrüt-
teten nnd die von fo nachtheiligem Einflüsse für den Zweck
unserer Reise waren. In jener Zeit legten wir aber der
Sache noch keine besondere Wichtigkeit bei; es handelte sich vor-
erst nur um einen Aufstand in der Provinz Beledugu, wo die
Krieger des Sultans Ahmadn einige Dörfer^ ausgeplündert
hatten. In der Gegeud, wo ich mich eben befand, erschienen
die Leute sehr gedrückt, und die Gaben, welche sie mir brach-
ten, waren nicht etwa freiwillige, sondern ein Tribut, welchen
die Krieger des Hadsch Omar erheben, wohin sie kommen."
38 Mage's Reise vom Seneg
Am 15. Januar 1864 kam Mage an den Bakhoy.
Sein Wasser brach sich mit Heftigkeit an einer Felsenbank,
die eine natürliche Furth bildete. Der Uebergang war be-
schwerlich und es ging dabei ein Sack mit Salz verloren.
Der Reisende dachte an Mungo Park, welcher den Fluß
einige Stunden weiter abwärts beim Dorse Gamfärage
Uberschritt und der die Beschwerden einer solchen Passage sehr
lebhaft geschildert hat.
Das getrocknete Fleisch war verzehrt und Mage mußte
einen seiner Ochsen schlachten, aber heimlich im Gebüsche.
Denn auch in jener Gegend gab es kein Hornvieh mehr; die
Bewohner hatten nur Wildpret. Im Dorfe würden der
Häuptling, die Schmiede, die Griots und noch andere Fleisch
von dem Ochsen erbettelt haben. Der Lagerplatz am Bakhoy
befand sich unter 13 07' Nord. Leider wurde gerade dort
die Zwietracht unter Mage's Schwarzen immer größer und
es ereigneten sich manche unangenehme Auftritte. Auch der
bis an den obern Niger.
Führer erkrankte. Der nächste Lagerplatz war in Kuru-
koto, dem ersten Dorf in Kita, einer kleinen Landschaft,
die nach dem gleichnamigen Berge bezeichnet wird. Sie ge-
hört zur Provinz Fuladugu, in welcher sich jetzt die Rei-
senden befanden. In Kita wohnen Malinkes; der Hauptort
heißt Makandiambugu, und sechszehn Dörfer liegen, zu-
meist nach Osten hin, um den Berg herum, der sich als ver-
einzelte Granitmasse erhebt. Man kann das obere Plateau
ohne Beschwerde erreichen; aus demselben steigen einige An-
höhen bis zu etwa 250 Meter über der Ebene empor. Beim
Herabsteigen fand Mage einige natürliche Cisternen, die mit
Wasser gefüllt waren, und dann auch Terrassen, ans welchen
das Feld bebaut war. In Kriegszeiten flüchten sich die Leute
auf den Berg, der eine natürliche Festung bildet.
Ein neun Tage langer Aufenthalt an diesem Berge war
sehr lästig, aber nicht zu vermeiden, weil der Führer an einer
Lungenentzündung darniederlag. Gerade dem Einflüsse die-
Der Berg
ses Führers verdankte Mage die gute Aufnahme. Ju Se-
m eh, einem Dorfe am Kita, traf er einen fast schwarzen mau-
rischen Marabut, der aus der OaseWallata (in der süd-
lichen Sahara) stammte und ihn mit Zuvorkommenheit über-
häufte. Seiue Tochter, ein großes, schönes Mädchen von
etwa siebenzehn Jahren, ging absolut unbekleidet, denn einen
drei Finger breiten Streifen von Baumwolle kann man doch
eben so wenig als Kleidung bezeichnen, wie einen Gürtel
von Glasperlen. „Als ich dem Marabut einige Bemerknn-
gen darüber machte, entgegnete er, das sei bei ihm zn Lande
so der Brauch und altes Herkommen. Und in der That er-
innerte ich mich, daß ich die Tochter Bakar's, des Königs der
Dnaisch-Manren, in ähnlicher Evakleidung gesehen hatte;
nur war sie noch mehr Eva als die Tochter des Marabut
und eben so wenig wie diese verlegen. Eine dritte maurische
Schönheit sah ich auch in sehr natürwüchsigem Zustande, und
diese war für mich eine interessante Erscheinung; sie wurde
. bei Kita.
nämlich von ihrer maurischen Familie im Zelte auf Mast
gehalten, und die Fütterung hatte so gut angeschlagen, daß
ihr die Fettwülste am ganzen Leibe herumhingen. Sie
wird deshalb für den Liebhaber ein thenres Stück Fleisch
gewesen sein."
Die Kitabauern bestellen ihre Felder mit Baumwolle,
Melonen und Kürbis; Negerhirse, Erdmandeln und Reis
werden mehr nach Norden hin gebaut. Auch findet man süße
Kartoffeln, eiu bitteres Gemüse, das Diakhatu heißt, und
die Baumbutter (Kante; die Shea Tutu Mungo Park's;
Eaille's Es). Schwarze Seife (Kata) wird aus Asche und
Erdmandelöl bereitet. Die Bevölkerung von Kita besteht aus
Malinkes; aber aus Fuladugu sind manche Penhls herüber-
gekommen, nicht solche, die das Malinke reden und dann von
den Malinkes schwer zn unterscheiden sind, sondern Dia-
wandus-Peuhls, welche hier, wie anderwärts, auf Kosten
der Malinkes leben. Diese beschäftigen sich gern mit We-
Mage's Reise vom Seneg,
berei. In der Nähe der Brunnen werden die Felder mit
Taback bepflanzt.
Endlich konnte der Reisende weiter ziehen; er hatte Le-
bensmittel genug bis zum Niger, der, wie man ihm sagte,
in gerader Linie nur noch acht Tagereisen entfernt sei. Seine
Instruction wies ihn an, über Bangassi zn gehen, wo einst
Mungo Park drei Tage bei Serennmmo, dem Könige von
Fnladugu, sich aufgehalten hatte. Aber von Baugassi waren
nur Trümmer übrig; in Fuladugu trieben sich Banditen
umher; im Uebrigen war das Land fast menschenleer und
verödet, und es mußte deshalb eine andere Richtung einge-
schlagen werden, nach Murgula hin, einer Festung des
Hadsch Omar im Lande Birgo, und vou dort aus uach
Kulikoro oder Nyamina. Aber am 27. Januar erfuhr
Mage, daß iu Beledugu und bei den Mandingos Aufstände
ausgebrochen seien. Deshalb kam es darauf an, zu versuchen,
ob er über Diangunte an den Niger gelangen könne. Er
bis an den obern Niger. 39
bemerkt, daß Makandiambugn in Kita (13° 1'56"N.
11°44'34" W.) seiner Lage wegen ein wichtiger Platz sei
uud von Bedeutung werden müsse, sobald einmal Ruhe in
diesen Gegenden herrsche. Die Luft ist nicht ungesund, der
Boden fruchtbar und die Karawanen, welche mit Salz und
Vieh von Nioro nach Bure gehen, würden dort Rast hal-
teu, wie überhaupt alle Handelsleute, die deu Verkehr zwi-
scheu Niger uud Senegal vermitteln.
Jenseits Kita war das Land wieder verödet. Der zweite
Bakhoy, welcher sich in den früher erwähnten Bakhoy er-
gießt (oberhalb Fangalla im Malinkedistricte Feleba), mußte
passirt werden. Unterwegs begegnete man nur zwei kleinen
Karawanen; die eine hatte Salz nach Bure geladen und
wollte von dort Gold zurückbringen; die andere führte Ochsen,
um dagegen Sklaven einzutauschen. Da, wo der zweite
Bakhoy überschritten wurde, nimmt derselbe von Osten her
einen Fluß auf, den Ba Ule, 13°40'55" Nord. Nun
Malinkesklaven als
war Mage in Kaarta, denn zwischen dieser Landschaft und
Fuladugu macht der Bakhoy die Grenze.
Unterwegs machte der Reisende Bekanntschaft mit einigen
Diutas, die nun auch als Führer dienten; sie waren Serra-
kollets oder Soninkes aus Kaarta. Der eine hatte vor
etwa fünf Jahren seine Heimath Guemukur als armer
Mensch verlassen und kam jetzt als wohlhabender Mann zu-
rück. Zwar seine Kleidung sah elend aus, aber er hatte nun
eine Frau, ein Kind und fünf Sklaven. Der Lebenslauf
dieses Serrakollethäudlers war folgender gewesen. Erst brachte
er Salz nach Bure uud tauschte Gold eiu. Dann ging er
über Timbo, Hauptstadt von Futadschallon, nach Sierra
™°nC' ^auctc dort Erdmandeln, sammelte dadurch einiges
vermögen und kaufte eine Sklavin; als diese ihm ein Kind
gebar, wurde sie seine freie Frau. Er prügelte seine Skla-
ven sehr; Mage dagegen ließ die Unglücklichen, welche an
den Füßen litten, auf den Eseln reiten, die jetzt nicht mehr
astträger in Kaarta.
mit Lebensmitteln bepackt waren. Er begegnete auch einem
Toucouleur vom Senegal, der einen ungeheuer» Turban trug
uud einen gewaltigen Säbel in kupferner Scheide schleppte.
Er war von Alibu, dem dritten Sohne des Hadsch Omar,
beauftragt, von Dingiray in Fntadfchallon aus (das Alibu
beherrschte) nach Segu an Sultan Ahmadn, zweiten Sohn
des Hadsch, einige Packen Seide, Burnus uud andere Ge-
genstände als Geschenke zu überbringen. Er hatte seine Skla-
ven iu der Weise aneinander gekettet, wie unsere Illustration
zeigt; sie waren Malinkes von der Dschallonka-Race. Manch-
mal mußten sie auch die Gewehre ihres Gebieters tragen;
ihre Kleidung bestand in armseligen Fetzen.
„Ich war nun in Kaarta. Diese ausgedehnte ^and-
schaft wird begrenzt: im Norden von der Sahara, im Osten
von Bakhuuu, im Weste« von Diafunn und Diombokho; im
Süden und Südwesten vom Bakhoy, von Fuladugu und
Diangunte. Bor mir ist Kaarta nur von zwei Europäern
40 Mage's Reise vom Senec
besucht worden; von Mungo Park 1796, als Daise Koro
Massassi König war, und 1845, als Kandia herrschte, von
Rafsenel. Ans den Berichten dieser Reisenden geht her-
vor, daß Kaarta als Staat schwach da stand. Mit seinen
schwarzen Nachbaren konnte es wohl fertig werden, da es
aber in ununterbrochener Fehde mit Segu lag und stets von
inneren Zerrüttungen heimgesucht wurde, vermochte es einer
gut organisirten Streitmacht, jener des Hadsch Omar, keinen
erfolgreichen Widerstand zu leisten und wurde abhängig; es
ist aber dort Alles zerklüftet."
„Am 1. Februar 1864 lag endlich das Bergland hinter
mir und ich war in der Ebene. In dem Dorfe Knrun-
dingkoto, das ganz reinlich aussah, waren die Leute eifrig
mit Zeugweben beschäftigt. Ein Marabut erschien als Be-
amter des Hadsch Omar, erklärte, es sei seine Pflicht, mich
zu empfangen, mir eine Wohnung anzuweisen, und schenkte
mir dann einen jungen Ziegenbock; ferner erhielten wir einige
bis an den obern Niger.
Hühner, etwas Reis, Milch und auch ein wenig Heu. Das
Dorf liegt in der Ebene, wird aber von Felshöhen überragt,
in deren Riffen und Spalten viele Bäume wuchsen. Be-
sonders stattlich nahm sich ein riesiger Baobab ans. Ich
fragte im Scherze meinen Führer Famhara, ob wir ihn nicht
zur Zielscheibe unserer Kugeln nehmen sollten? Er hatte
nämlich mehrmals behauptet, daß die Schwarzen viel besser
treffen könnten als die Weißen, und so viel ist richtig, daß
sie mit ihren armseligen Gewehren, welche sie von den Euro-
päern erhalten, und mit ihrem schlechten Pulver das Mög-
liche leisten. Famhara ging aus meinen Vorschlag ein und
sprach lachend : Schieße Du nur zuerst! — Ich nahm Mam-
boyes Flinte, überzeugte mich, daß nur eine Patrone in der-
selben war (die Schwarzen glauben, daß eigentlich zwei der-
selben zu einem richtigen Schuß erforderlich feien), zielte und
traf den Baum; ja, die Kugel hatte eine große Frucht von
denselben herabgeschlagen. Nun staunten die Leute und die-
Kurundmgkoto.
„Der Weg ging weiter über Gettala. Die Leute dort
erklärten, daß sie unter der Herrschaft des Hadsch zufrieden
seien, weil Mansie nun nicht mehr ausplündere; man arbeite,
weil er es so befohlen habe. Der Häuptling hieß Uoi'o und
war ein Bambara-Kagorota oder Kagoronke, oder einfach
gefagt ein Kagoro, und hatte drei Söhne; einer derselben
brachte mir einen Ziegenbock und 25 frische Eier. Meine
Leute bekamen Abends Kalebassen voll Nurukuti, d. h. ein
Allerlei, und auch Futter für die Thiere wurde geliefert.
Ueberhaupt war die Aufnahme freundlich, und Alt und Jung
kamen neugierig herbei, um uns zu besehen. Ich machte hier
die Bemerkung, daß alle Leute sowohl das Bambara wie
das Soninke sprachen. Das erklärt sich aus der Vermi-
schung dieser beiden Stämme, welche die Bevölkerung nicht
bloß in Kaarta, sondern auch in Segu und bis nach den
Konggebirgen hin bilden. In der ganzen ausgedehnten Re-
gion wohnen Leute dieser Stämme in allen Dörfern, theils
getrennt, theils neben einander und vermischt; theils reden sie
Der Baobab bei
ser Treffer stellte mich sehr hoch in der Meinung der Schwar-
zen. Diesen Baobab habe ich gezeichnet. Ich will noch be-
merken, daß ich in diesem Dorfe einen Albino-Neger sah.
Er war ein Knabe von etwa sieben Jahren und gesund; sein
Haar war weiß, das Auge nicht roth, die Hautfarbe ein sehr
helles Mattgelb; er bot aber einen widerwärtigen Anblick
dar, weil die scharf ausgeprägte Negerphysiognomie in Ver-
bindnng mit der kränklichen Hautfarbe einen unangenehmen
Eindruck machte. Dieser wurde noch verstärkt durch die furcht-
same, gedrückte Miene und die frühzeitigen Falten im Ge-
ficht; auch fühlte sich seine Haut sehr grobkörnig an. Ich
habe späterhin manche Albinos gesehen, theils ganz weiße,
theils schwarz und weiß gefleckte, und auch bei ihnen dieselbe
Bemerkung über Haut und Gesichtszüge gemacht." (— Albi-
nos sind unter den Negern keineswegs selten; Richard Burton
giebt darüber in seinen verschiedenen Werken über Afrika viele
Nachweife. Bei manchen schwarzen Negerpotentaten dürfen
dergleichen Negerkakerlaken im Hofstaate nicht fehlen. —)
Mage's Reise vom Senegi
die eine Sprache, theils die andere, oder beide neben einan-
der. Zwischen ihnen eingesprengt sind dann noch die Peuhls,
Fulde."
„Weiterhin, in Maren«, bemerkte ich zum ersten Male
einen anders gestalteten Kopspntz als den, welchen ich bei den
Malinkes von Kundian ab gesehen hatte. Seit der Hadsch
Omar Gebieter ist, müssen die Männer das Haupthaar schee-
ren. Die Frauen flechten das Haar in sehr viele kleine Zöpfe,
was zwar recht hübsch aussieht, aber doch der Reinlichkeit
Eintrag thut. Beim Flechten tränkt man das Haar mit
Honig und ranziger Butter; hinterher bestreut man sie mit
fein gepulverter Holzkohle. Nun denke der Leser sich selber,
was daraus wird durch Hitze, Schweiß und Staub, und ohne-
hin wird der Kopfputz nur alle vierzehn Tage erneuert.
Manche schwärze Schöne hat zwei bis drei Tage nöthig, um
ihn regelrecht und nach der Mode herzustellen."
„Unterwegs begegnete mir eine Gesellschaft von D inla s,
die aus Nioro mit einer Ladung Steinsalz kamen. Dieses '
sogenannte Salz von Tischit kommt bekanntlich aus der
Sebcha vou Jdschil in der westlichen Sahara, welche Bin-
cent 1860 aus seiner Reise nach Adrar besticht hat. Die
Tifchits sind keine Nomaden, sondern seßhafte Mauren; sie
holen das Salz, vertreiben dasselbe weit und breit im Sudan,
und verhandeln es dort an andere Dinlas (Kaufleute), zu-
meist an Serrakottels oder Soninkes, welche es ihrerseits
weiter vertreiben. Die Salz st eine haben die Gestalt von
Ziegelsteinen, sind 40 Centimeter breit, 60 laug und haben
eine Dicke von etwa 15 Centimeter. Jene Dinlas hatten
in Nioro von meiner Reise gehört, wollten aber nicht glau-
ben, daß ich nach Segn gehen werde; die Schwarzen halten
es ja für eine Sache der Unmöglichkeit, daß ein Europäer
aus deu Hülfsguelleu des Landes feinen Unterhalt finden
könne. Jetzt machten sie mir viele Complimente; das ganze
Land liebe mich, weil ich zum Hadsch Omar gehen wolle; es
würde sehr ersprießlich sein, wenn ich mich mit ihm verstän-
dige; sie möchten gern mit den Weißen Handel trei-
ben und von ihnen Waaren kaufen, aber bis jetzt ver-
hindere man sie daran. Mir war es natürlich sehr ange-
nehm, solche Gesinnungen zn hören."
„Weiterhin begegneten uns zwei Herden von Ochsen,
stattliche Thiere, welche nach Bure getrieben wurden, um dort
gegen Gold und Sklaven vertauscht zu werden. Die Straße
dorthin mußte also sicher sein. — Beim Dorfe Bambara
Muntau sah ich, zum ersten Male feit Fuladugu, wieder
einen Wald, und zwar von Palmen; sie waren zu hoch, als
daß wir ihre Früchte hätten bekommen können; von den Ein-
geborenen werden dieselben nicht gepflückt, fondern gesammelt,
nachdem sie abgefallen sind und dann gekocht; sie sehen dann
safrangelb ans und haben einen ungemein durchdringenden
Terpentingeruch."
„Ich war mit meinem Führer Famhara vorausgegan-
gen nach dem Dorfe Namabngu, wo wir im Palaverhaus
einkehrten (demBentaug; Caille schreibtBauacoro). So-
fort erschien der Häuptling, ein hochbetagter Greis, der schon
kindisch war und unverständliche Worte sprach; er fächelte sich
mit einem Ochfenschwanze Kühlung zu. Bei einem andern
Dorfe, Turumpo, weideten Ochsen und Ziegen, und dort
erhielt ich viel Milch. Das war mir in hohem Grade an-
genehm, denn Milch ist auf der Reife die gesundeste
Nahrung, und diefer verdanke ich es ohne Zweifel, daß ich
ln Afrika nicht zn Grunde gegangen bin. Die Frauen brach-
ten Butter, um Glasperlen einzutauschen. Diese Damen,
vom Peuhl-Diawandusgeblüt, waren recht hübsch, sehr kokett,
sahen aber doch etwas wild aus. Dort bemerkte ich auch
zu meiner nicht geringen Verwunderung die grauen Papa-
gehen (I'sittacus erithacus), welche am Senegal nicht vor-
Globus XIV. Nr. 2. (Juli 1368.)
bis an den obern Niger. 4k
kommen, während sie auf der ganzen Küstenstrecke von Gabon
nach Norden hin bis Sierra Leone und selbst bis zum Rio
Geba ganz allgemein sind."
„Dann gelangte ich nach Gemnknra, d. h. Nen-Gemu,
zum Unterschied von dem Gemn, wo zu Mungo Park's Zeit
der König wohnte. Man hatte mir unterwegs gesagt, daß
von dort an die Reise ferner keine Schwierigkeiten biete und
Lebensmittel in großer Menge vorhanden seien. Es machte
auf mich einen angenehmen Eindruck, daß ich nun endlich
Häuser aus gestampfter Erde sah; sie hatten flache Dächer
und einige sogar eine Art von Obergeschoß. Bislang war
mir dergleichen in den Ländern der Schwarzen noch nicht
vorgekommen. Das nahm sich aus der Ferne recht gut aus,
als ich jedoch näher kam, fand ich die Mauer im Verfall;
in den Baumwollen- und Tabacksfeldern und neben den Brun-
neu standen viele Strohhütten. Aber ich war doch nun in
einer größern Ortschaft und hoffte bei einem Tonconlenr,
Tierno Usman, welcher hier den Hadsch vertrat, gnte Auf-
nähme zu finden. Zunächst suchte ich lange nach einem
säubern Platz, um dort mein Lager aufzuschlagen; aber weit
und breit war Alles entsetzlich unrein. Als ich endlich nn-
ter einem Baume campiren wollte, wurde mir angekündigt,
daß zwei mit Strohnlatten bedeckte Hütten für mich herge-
richtet worden seien. Dieselben lagen etwa 600 Schritt
nördlich vom Dorfe und ich begab mich dorthin."
„Gleich nachher begrüßte mich Tierno Usman. Er trug
einen gewaltigen Turban, hielt in der Hand einen Rosen-
kränz mit großen Kugeln und murmelte Gebete, während
zwei Talibes (Marabutzögliuge) neben ihm hergingen, gleich-
sam um ihn zu stützen. Das ganze BeHaben dieses noch
keineswegs bejahrte» Mannes machte auf mich von vorn-
herein einen fehr unangenehmen Eindruck. Er nahm ohne
Weiteres in der Hütte Platz und ließ sich von feinen Beglei-
lern Rücfcit und Beine kneten. Meinem Dolmetscher Samba
Aoro imponirte diese Unverschämtheit sehr und er sagte zu
mir: Das ist ein großer Marabnt! Es kam aber noch bes-
fer. Usman ließ sich zu der Bemerkung herab, er sähe wohl,
daß es mir an nichts fehle, ich hätte ja allerlei Vorräthe in
Hülle und Fülle, und was dergleichen Redensarten mehr
waren. — Die Diulas verließen uns hier, und Famhara
rieth mir, einen Führer zu verlangen, der uns nach Dian-
guute geleiten folle. Alles wurde mir versprochen, aber am
Abend hatte man mir nicht einmal eine Matte zurechtgelegt;
ich bekam für mich und den Doctor nur nach mehrmaligem
Verlangen ein Huhn und etwas Reis; meinen Leuten gab
man nichts; ich mußte unsere eigenen Vorräthe angreifen,
und für das Vieh erhielt ich etwas Hirse auch nur erst, uach-
dem ich sie dringend gefordert hatte."
„Am Morgen war ich nach einer ziemlich schlaflosen Nacht
in gereizter Stimmung; seit einiger Zeit fühlte ich mich ohne-
hin stark angegriffen und abgemattet. Um 7 Uhr stellte sich
Tierno Usman ein, um mit mir zu palaveru, benahm sich
aber uoch scheinheiliger als am Tage zuvor. Er sagte mir,
ich müsse nach Nioro gehen zum großen Häuptling Mu-
stafa, der mir behülflich fein werde, Segu zu erreichen; der
Weg über Diangnnte sei zu beschwerlich und unsicher; ich
würde ohnehin höchstens vier Tage Zeit verlieren. Ich ließ
ihn wohl eine halbe Stunde lang reden, obwohl es mir schwer
wurde, ruhig zu bleiben. Dann aber sagte ich ihm mit Ent-
schiedenheit, daß ich in Nioro nichts zu suchen hätte und nicht
gekommen sei, um Mustafa zu besuchen, fondern den Hadsch
Omar in Segn. Einen Weg hätte ich schon versperrt ge-
fuuden; wolle man mir auch einen zweiten verlegen, so würde
ich nicht etwa einen dritten wählen, sondern ohne Weiteres
nach St. Louis zurückgehen. Wenn man mir keinen Führer
nach Diangnnte gebe, so würde ich beim Hadsch Klage füh-
6
42
Mage's Reise vom Senegal bis an den obern Niger.
reit, und der werde wissen, wer die Verantwortlichkeit zu tra-
gen hätte."
„Trotzdem gab Usman lange nicht nach; als er mich aber
unerschütterlich sand, rückte er mit einem andern Vorschlag
heraus. Ich möchte doch, so sprach er, nach Farabugu ge-
Heu; dort wohne ein Sofa des Hadfch, und dieser Sosa
(— die Sosas sind Sklaven, welche Kriegsdienste thun;
eigentlich Leute, welche die Pferde ihres Herrn zu besorgen
und den letztern auf den Feldzügen zu begleiten haben —)
habe einen seiner Leute hergeschickt, um mich zu begrüßen.
Nun wurde dieser Manu vorgeführt, mir aber riß alle Ge-
duld und ich erklärte kurz und bündig, daß ich entweder nach
Diangnnte oder nach St. Louis zurückgehen würde. Endlich
zog Usman andere Saiten auf; er habe mir feine Vorschläge
ja nur deshalb gemacht, um mir angenehm zusein; ich könne
ja thun, was mir gut scheine, und kein Mensch dürfe dagegen
etwas einwenden. Damit hatte diefes Palaver ein Ende."
„Gleich nachher erschien eine andere wichtige Figur, Dan-
dagura, Häuptling von Farabugu. Der große Mann trug
um den rothen Fes einen gewaltigen Turban, und bildete
in seiner Art eine stattliche Erscheinung, als er von seinem
hohen maurischen Rosse herabgestiegen war. Sein Gefolge
bestand aus etwa zwanzig Reitern. Er trug weite Haufsa-
Beinkleider, Stiefel, deren Nähte gestickt waren, und einen
weiten mit Seide benäheten Ueberwurf. Er hatte seineu
Griot, seinen Schmied und mehrere Talibes mitgebracht, und
die ganze Gesellschaft nahm, ohne mich weiter zu fragen, fo-
fort in meiner Hütte Platz, die nur klein war. Die Men-
schen waren dicht an einander gedrängt, die Hitze war ganz
fürchterlich und der Häuptling nahm feinen Turban ab.
Die widerwärtige Ausdünstung dieser Neger (— parfum
d'Afrique —) machte mich förmlich elend und steigerte meine
ohnehin üble Laune."
„Dandagnra fagte, ich müßte hier warten, bis er eine
Tierno Usman, Marabu: in Gemukura (Kaarta).
Armee gesammelt habe, um mir mit derselben das Geleit
zu geben, denn die Wege seien unsicher! — Meine Antwort
lautete kurz und bestimmt: Morgen reife ich nach Dian-
gunte oder nach St. Louis! — Vielleicht gedachte er mich
einzuschüchtern, als er betonte, daß er ein Sofa des Hadfch
Omar sei und das Commando führe. Er fetze kein Ver-
trauen in mich, bis er die an seinen Gebieter gerichteten Briefe
gesehen habe. Diese zeigte ich ihm sosort; als er sie aber
össnen wollte, fuhr ich ihn zornig an und rief: das müsse er
bleiben lassen. Meine Haltung machte Eindruck auf ihn;
bei den Schwarzen behält gewöhnlich Recht, wer am laute-
sten und meisten schreit. Jetzt schlug auch er, ähnlich wie
Usman, einen ganz andern Ton an; man wolle mir ja keine
Vorschriften machen; er seinerseits bitte mich, einige Tage
in Farabugu bei ihm zu verweilen nnd dergleichen mehr.
Ich erinnerte mich aber an meine Erlebnisse in Kundian
und wußte, daß es sich nur um Erpressung von Geschenken
handle."
„Es war in der Hütte nicht mehr auszuhalten und ich
befahl deshalb Famhara, die Leute hinauszuschaffen. Aber
Dandagura erklärte, daß er bleiben werde; er sei ja ge-
kommen, um mir seinen Besuch zu machen. Dabei streckte
er sich auf der Matte lang aus! Ich hatte mir vorgeuom-
men, äußerlich ruhig zu bleiben und nichts zu compromitti-
ren; deshalb warf ich ihn nicht hinaus, sondern sagte nur,
daß ich schreiben wolle; wenn er mir nichts mehr mitzuthei-
len habe, möge er mir meine Matte geben und mich in Ruhe
lassen. Das Alles rührte ihn nicht im Mindesten. Nun
trat ich hinaus, um in heißem Sonnenschein auf und ab zu
gehen und sagte ihm, da ich nicht mehr Herr in meiner Hütte
sei, so überließe ich sie ihm. Dann sah ich mir seine Pferde
an, unter deuen einige fehr schöne waren. Für eins dersel-
ben wurden mir 40 Stück Guiuees, d. h. blaues Baum-
wollenzeug, abgefordert, diese stellten sich auf einen Geldwerth
von 900 Francs. Gern hätte ich dem Doctor ein befferes
Pferd verschafft, aber eine fo große Summe durfte ich nicht
Mcige's Reise vom Senecz
aufwenden. Inzwischen war Dandagnra immer noch in
meiner Hütte. Als ich ihm endlich sagen ließ, daß ich beim
Hadsch über sein Benehmen Klage führen wolle, kam er her-
aus und äußerte, die Hütte sei nun frei. Ich ließ ihn stehen
und ging hinein."
„Sehr wohl verstand und begriff ich die Anschläge dieser
Gauner. Sie hatten ein Complot gemacht, um mir Ge-
schenke abzupressen. Der eine hatte mir gesagt.- Ich verlange
nichts von Dir, ich brauche keine Geschenke; giebst Du mir
bis an den obern Niger. 43
welche, so will ich sie nehmen, fordere Dir aber keine ab. —
Zch biß nicht an den Köder. Dandagnra ließ mich um eine
rothe Kappe ersuchen. Unter anderen Umständen hätte ich
sie ihm gegeben, denn ich weiß wohl, welchen Eindruck ein
solches Geschenk macht; aber jetzt war ich ärgerlich, schlug
sein Begehren rundweg ab uud hatte das Vergnügen, ihn
mit leeren Händen abziehen zu lassen. Am Abend hatte ich
indeß einen neuen Auftritt mit Tierno Usman, welchem ich
derbe Dinge sagte. Mit zahmer Unterthänigkeit bettelte er
Dandagura, Häup
um eine rothe Kappe, Pulver, Papier und Flintensteine. Die
beiden ersten gab ich ihm, Papier und Steine aber nicht;
dabei verlaugte ich dringend nach dem mir versprochenen Füh-
rer. Als dieser cmt nächsten Morgen nicht da war, ließ ich
auspacken, denn ich war entschlossen, um jeden Preis und aus
jede Gefahr hin abzureisen. Als Usman erschien, ließ ich
ihn hart au; dann ging er fort, um, wie er sagte, mir einen
Fuhrer zu holen. Aber gegen acht Uhr war er noch nicht
wieder da. Ich gab nun einem Manne einen Feuerstein,
?g von Farabugu.
damit er mir den rechten Weg zeige, und brach aus. Eine
Viertelstunde später brachte dann Famhara den Führer und
obendrein noch einen Marabut!"
So befand sich denn Mage endlich auf dem Wege nach
Diangnnte. Am 7. Februar war sein letzter Ochse so ab-
gemattet, daß er nicht mehr aufstehen konnte. Er gab ihn
den Negern im Dorfe Madiga, die ihn sofort abschlachteten
und verzehrten. An einigen Marigots hielten sich weiße
Stelzenläufer in ungeheurer Menge auf; ebenso an einem
6*
44
Die sogenannte „Republik" Paraguay.
See bei Tinkara, dessen Bewohner mit getrockneten Fischen
handeln. Am Morgen wurde der Reisende durch Löwen-
gebrüll geweckt; bald nachher brachten einige Mauren Giras-
fenfchwäuze zum Verkauf.
Nach viertehalb Stunden wurde Diaugirte erreicht;
deun diesen Namen hat das ehemals Diangnnte geheißene
Dors ans Befehl des Hadsch Omar erhalten. Dort erschien
zu Roß der Häuptling Tiern o B ub akar Sirey, mit einem
Gefolge von Talibes. Unter diesen waren einige, die etwas
Französisch sprachen; Frau und Tochter des einen befanden
sich eben damals in St. Lonis. Der Dolmetscher Famhara
erzählte alle Reiseerlebnisse seit Knndian; der Häuptling hieß
den Reisenden willkommen und versprach, Alles für ihn zu
thuu. Dann wiederholte er das, was Famhara in Toucou-
leur gesprochen hatte, dem Häuptlinge der Kagoros in der
Bambarasprache, und dieser hielt dann eine Anrede an seine
eigenen Leute. Die Bambaras schlugen sosort einige Hütten
für die Europäer auf. Sie haben dabei weiter nichts zu
thuu, als Pfähle in den Boden zu stecken nnd Strohmatten
über dieselben zu legen. Aber sie arbeiteten höchst nnordent-
lich, schrien und zankten sich ohne Aufhören; Niemand führte
die Aufsicht; der eine riß ein, was der andere gemacht hatte.
„Da sah ich so recht greifbar ein Bild des Lebens und Trei-
bens der Neger vor mir: Unordnung unter allen mög-
licheu Gestalten!"
„Ich kaufte einen fetten Hammel für zehn Ellen Guinee
und zwei Flafchen Butter für fechs Ellen. Der Häuptling
schickte Hühner und Reis, kam gegen Abend selbst wieder,
brachte ein Rind und gab mir auch einen großen Sack voll
Hirse für mein Vieh. Meine Leute erhielten ein reichliches
Nachtessen, ich bekam noch Milch und wir lebten im Ueber-
flnß; auch am andern Tage gab man uns zu effeu und zu
trinken vollauf."
Diangnnte war früher stets eine kleine unabhängige
Landschaft, galt aber als Provinz von Segn und zahlte dort-
hin Tribut. Man kann sie von Ost nach West in zwei
Tagereisen durchwandern und von Norden nach Süden braucht
man nicht so viel Zeit. Sie wird begrenzt im Südwesten von
Kaarta, im Nordosten von Bakhuuu, im Osten von Segn,
im Südosten von Beledngu, das auch an Segu Tribut zahlt,
und im Süden von Fnladngu. Die einzige größere Ort-
schast ist Diangirte. Dort wohnen 540Talibes mit ihren
Familien, und sie bilden die Besatzung der Stadt, wenn die-
ser Name erlaubt ist. Die Bambaras, also die früheren
Besitzer des Landes, wohnen außerhalb der Mauern in
Strohhütten. Auf den Feldern bauet man Reis, Hirse,
Mais, Erdmandeln, Baumwolle, Indigo, Bohnen, Paradies-
äpfel, Zwiebel und etwas Tankoro oder Tanaka, d. h.
Taback.
Die sogenannte „Republik" Paraguay.
Schon ins vierte Jahr dauert der Krieg, welchen das
kleine Paraguay gegen drei Nachbarstaaten zu führen hat.
Es besteht denselben mit einer merkwürdigen Ausdauer und
mit einer solchen Zähigkeit, daß jetzt, seit dem Maimonat,
sogar Tansende von Frauen zu Kriegsdiensten herangezogen
werden. Der Kampf wird mit einer beispiellosen Erbitte-
rung geführt; offenbar will der Präsident Lopez seine Sache
ausfechten bis zum letzten Mann.
Es verlohnt sich, einen Blick auf diese Wirren am La-
Plata-Strom zu werfen, und unsere Leser zu orieutireu. Die
meisten Berichte in den europäischen Zeitungen sind nnzuver-
lässig, weil im Sinne der einen oder andern Partei absicht-
lich gefärbt. Jeder Dampfer bringt, zunächst durch den Tele-
graphen von Lissabon her, widersprechende Nachrichten, theils
im Interesse Paraguays, theils iu jenem der drei Verbün-
beten. Dazu kommt, daß in Deutschland einige Pnblicisten
auch fremdartige Dinge hereinziehen, z. B. daß Brasilien noch
Negersklaven habe und sich in schwerer Finanzbedrängniß be-
sinde. Beides ist richtig, gilt aber in der Sache selber auch
von Paraguay, obwohl dieses dem Namen nach keine Skla-
verei mehr hat.
Wir wollen uns bei der nachstehenden Erörterung ledig-
lich an Thatsachen halten.
Paraguay ist gleichsam ein südamerikanisches Mesopo-
tamien zwischen dem Paraguaystrom und dem Parana. Seine
Nachbaren sind im Norden und Osten Brasilien, im Westen
das Gran Chaco, welches theils zu Bolivia, theils zu Argen-
tinien gehört; im Süden und Südosten die argentinische Pro-
vinz Corrientes und die Missiones. Der Flächenraum wird
ungefähr 4000 Geviertmeilen betragen, und auf diesem woh-
nen zwischen 800,000 bis 1,200,000 Menschen, die zu sie-
beu Achteln Indianer sind und zu der großen Völkergruppe
der Guarauis gehören.
Nach der Losreißung von Spanien, seit dem Jahre 1811,
spielte in Paraguay der vielbesprochene Doctor Francia eine
große Rolle. Nur allein sein Wille galt und war Gesetz.
Er war klug genug, sein Land und Volk vor den Revolutio-
nen und inneren Kriegen zu bewahren, von welchen die mei-
sten übrigen Republiken Südamerikas bis ans den heutigen
Tag heimgesucht werden. Diese waren einer Schlachtbank
vergleichbar; in Paraguay herrschte die Ruhe eines Kirch-
hoses. Der Staat wurde als Republik bezeichnet, aber
Francia war ein so unumschränkter Autokrat, wie nur jemals
ein Snltan es gewesen ist. Nach seinem Tode, 1841, ver-
erbte die Dictatur aus seinen Verwandten Lopez und spater-
hin ging sie auf dessen Sohn über.
Francia konnte sein System der Abschließnng aufrecht
erhalten, seine Nachfolger vermochten es nicht länger. Sie
traten in Berührung mit dem Auslande und mußten über
die freie Schifffahrt auf den Strömen Verträge schließen.
Der jüngere Lopez zog viele Ausländer herbei; er war Jahre
lang in Europa gewesen und hatte den Ehrgeiz, das kleine
Paraguay groß und mächtig zu machen. Vor allen Dingen
traf er seit Jahren und von langer Hand her große Kriegs-
rüstungen.
In Südamerika haben fast alle Nachbaren Grenzstreitig-
feiten mit einander. Alle diese Staaten sind äußerst dünn
bevölkert, Hunderte und Tansende von Geviertmeilen nnbe-
baut und unbewohnt, und doch liegen sie sast alle in Hader
mit einander über diesen oder jenen Grenzstreisen. Auch Pa-
raguay will mehr Gebiet haben. Im Norden nimmt es den
Raum zwischen dem Rio Apa (22° südl. Br.) bis hinaus
zum Rio Braueo (21« südl. Br.) in Anspruch; derselbe
hat aber stets zu den ehemals Portugiesischen Besitzungen ge-
hört. Im Südosten erhebt es Ansprüche auf eine weite
Strecke argentinifchen Gebietes auf dem linken Ufer des
Die sogenannte „9
Parana von Candelaria an aufwärts bis zur Mün-
dung des Rio grande de Curitiba*). Aber diese Au-
sprüche sind weder von Argentinien noch von Brasilien an-
erkannt worden.
Auf welche Weise wurde Paraguay in den verhäugniß-
vollen Kamps verwickelt? Lopez hatte, wie gesagt, seit lan-
gcr Zeit gerüstet; er häufte, wie die Folge lehrte, Kriegs-
Material iu so ungeheurer Menge auf, daß er noch jetzt, ob-
wohl der Kampf schon ins vierte Jahr dauert, keiueu Mangel
daran verspürt, während doch Bezugsquellen von außen her ihm
versperrt sind. Dagegen waren die Argentiner und die Bra-
silianer keineswegs gerüstet, und hatten große Anstrengungen
zu machen, als der Krieg sie überraschte.
In dem arg zerrütteten Staat Uruguay war vor vier
Jahren die Partei der Blancos am Ruder. Iu jenem Staate
wohnten etwa 40,000 brasilianische Unterthanen, welche sich
bei ihrer Regierung über schwere Bedrückungen von Seiten
des Präsidenten Berro beklagten. Ans die Vorstellungen des
brasilianischen Cabinets erfolgte keine Antwort; man ver-
brannte das Ultimatum auf öffentlichem Markte und schleifte
die brasilianische Flagge im Straßenkoth umher. Brasilien
machte gemeinschaftliche Sache mit dem vertriebenen Präsi-
denten Flores, dem Haupte der Coloradopartei, ließ Truppen
einrücken und durch seiue Flotte einige Häfen bombardiren.
Die durch eine Revolution zur Macht gelangte Blancopartei
unterlag und Flores, der anch feinerfeits Revolutionär in
landesüblicher Weise war, kam wieder aus Ruder.
Brasilien hatte es offenbar nicht anf Ländererwerb abge-
sehen, sondern wollte, herausgefordert und beschimpft wie es
war, Genngthuung nehmen. Es vertrieb die ihm feindliche
Regierung, fetzte seinen Verbündeten ein und hat auch den
europäischen Mächten gegenüber erklärt, die Integrität Uru-
guays solle unangetastet bleiben. Das ist auch bis jetzt der
Fall gewesen.
Nun mischte sich Lopez ein. Der Paraguaystrom ist in
Folge von Schisfsahrts- nnö Handelsverträgen ein freies
Wafser und bildet eine fahrbare Straße zur brasilianischen
Provinz Matto grosso. Von Rio aus war dorthin ein neuer
Gouverneur unterwegs; als er auf dem kleinen brasilianischen
Dampfer „Marques de Olinda" den Strom hinauffuhr,
ließ Lopez das Schiff und dessen Ladung, die zum Theil aus
Baargeld bestand, wegnehmen und machte den Gouverueur
sammt dem Schiffsvolke zu Gefangenen. Lopez beging eine
Handlung, welche gegen alles Völkerrecht verstößt; er hatte
keine Kriegserklärung erlassen. Brasilien nahm dann be-
greislicherweife den Fehdehandschuh auf.
Lopez verübte noch einen zweiten Bruch gegen das Völ-
kerrecht. Die La-Plata-Staaten waren bei dem Kriege un-
betheiligt, vollkommen neutral. Trotzdem und gleichfalls ohne
Kriegserklärung verletzte er argentinisches Gebiet, indem seine
Truppen in dasselbe einrückten, um die brasilianische West-
grenze zu bedrohen. Sie trieben Viehherden fort und nahmen
argentinische Staatsangehörige als Gefangene mit sich. So
entstand begreiflicherweise eine Tripelallianz der von ihm her-
ausgeforderten Staaten, und es ist ungerechtfertigt, weuu mau
auf diese die Verantwortlichkeit schieben will.
Betrachten wir nun die inneren Verhältnisse Para-
guays und sehen wir zu, wie es sich mit der „republika-
nischen" Verfassung desselben verhalt.
Francia war „El Supremo", der Höchste; sein Wille
galt und er hatte sich wenig um Förmlichkeiten zu bekümmern.
' finde, daß auf der „Mapa de la republica del Paraguay,
torrnada por el coronel Alfredo M. de Graty1' von 1866 diese
bciben Gebiete zu Paraguay gerechnet werden. Herr v. Graty gilt
für einen sehr eifrigen Beförderer der Interessen des Diktators Lopez.
A.
publik" Paraguay. 45
Sein Nachfolger, Lopez der Erste, fand es angemessen, die
Dictatur vermittelst einer Constitution, die er selber ent-
worfen hatte, zu legalisiren. Das Statut vom 13. März
1844 gewährte ihm Alles, was er wünschen konnte, aber
Paraguay war nun eine — „Republik".
Jeues Staatsgrundgesetz ist ein interessantes Acten-
stück. Im ersten Capitel wird die Theilung der Gewalten
ausgesprochen und festgestellt, aber im siebenten heißt es:
„Der Präsident übt außerordentliche Machtbefuguiß aus
im Fall einer Invasion oder bei inneren Unruhen und über-
Haupt wenn es nöthig erscheint, die Ordnung und die
öffentliche Ruhe aufrecht zu erhalten." Er allein hat auch
das Recht zu entscheiden, wann und ob er die Ordnung für
bedroht hält; sein Wille giebt stets den Ausschlag, er ist
tatsächlich Dictator.
Jeues erste Capitel erkennt dem Congreß ausschließlich
das Recht zu, Gesetze zu geben; in der Wirklichkeit übt aber
dasselbe nur allein der Präsident. Denn der Congreß soll
sich immer nur nach fünf Jahren versammeln; in
der Zwischenzeit verfügt der Präsident Alles, was er für
nothwendig erachtet, und die Abgeordneten haben hinterher
die Maßregeln gutzuheißen.
Wie ist der Cougreß zusammengesetzt? Der erste Ar-
tikel des zweiten Capitels verfügt, daß die Wahlmethode den
früheren Gesetzen, welche Francia gegeben hatte, gemäß sei.
Factisch werden in Folge dessen die Abgeordneten vom Prä-
sidenten oder dessen Agenten ernannt. Dieser ernennt anch
den Präsidenten des Congresses, und es ist mehrfach vorge-
kommen, daß er selber den Vorsitz gesührt hat.
Der Congreß hat das Budget festzustellen; aber anch die-
ses Recht ist illusorisch, da er allemal nur nach Ablauf von
fünf Jahren zusammentritt und inzwischen der Präsident ver-
möge seiner Machtbesugniß thun kann, was ihm beliebt. Man
findet das auch dermaßen in der Ordnung, daß während der
Session von 1867 ein Abgeordneter unter allgemeiner Zu-
stimmuug erklärte, daß des Landes Glück und Wohlfahrt mit
dem Wohle des Präsidenten einerlei sei.
Die Sitzungen sollen öffentlich sein, aber das Leibbatail-
lon des Präsidenten hält Ehrenwache, und Niemand darf,
„aus Respect vor den Depntirten", dem Congreßgebände sich
nähern; er muß vier Cuadras, etwa 600 Schritte, von dem-
selben entfernt bleiben.
Jede Congreßfefsion darf nnrfünf Tage dauern.
Die Versammlung hat innerhalb dieser Zeitfrist die Verord-
nnngen, Maßregeln :c. der verflossenen fünf Jahre zu prü-
fen uud gutzuheißen, das Budget festzustellen und neue
Gesetzvorschläge zu erörtern; — alles in fünf Tagen! Ver-
suche zu einer übrigens auch nur schwachen Opposition sind
zweimal vorgekommen, 1842 und dann 1862. Der Eon-
greß von 1856 hatte Lopez dem Ersten die Ermächtigung
ertheilt, in einem geheimen Testamente (pliego reservatio)
„den Vicepräsidenten der Republik" zu bezeichnen. Das
Ganze war im Voraus abgekartet und der Congreß gab seine
Genehmigung ohue Weiteres einstimmig. Ein Abgeordneter
äußerte indeß gegen einen seiner Nachbaren: dazu hätte man
nicht uöthig gehabt, ihn aus weiter Ferne her einzuberufen.
Das hörte Lopez, der zugegen war; er spraug auf und schrie:
„Wer ist der freche Kerl? Hinaus mit Dir, Du Vieh!"
Jener Deputirte reiste denn anch sofort aus Afnncion ab. Es
giebt iu Paruguay kein Beispiel, daß ein Vorschlag des Prä-
sidenten vom Congreß anders als einstimmig angenommen
worden wäre.
Mit der richterlichen Gewalt verhält es sich ganz so
wie mit der gesetzgebenden. Der Präsident ist Special- (pri-
vative)) Richter über alle Angelegenheiten, welche das Sta-
tnto reservirt hat. Ueber politische Vergehen uud Verbrechen
46 Die sogenannte „9
haben die ordentlichen Gerichte keine Zuständigkeit, sondern
die Entscheidung ist der vollziehenden Gewalt anheimgegeben,
und der Präsident entscheidet Uber Leben und Tod. Rechen-
schast hat er nicht zu geben. Es ist übrigens ein einziges
Mal vorgekommen, daß ein politischer Proceß vor die ordent-
lichen Gerichte gebracht wurde, aber das geschah aus offen-
liegenden Ursachen. Einer der Angeschuldigten war ein Eng-
länder, und Lopez wußte sehr wohl, daß er sich Unannehm-
lichkeiten zugezogen hätte, falls er auch diesen Ausländer in
summarischer Weise behandelte.
Die Verfassung bestimmt (Capitel 4, Artikel 2), daß der
Präsident ein Bürger del fuero comun, d. h. im Lande
geboren, fein solle, nicht unter 33 Jahr alt, von anerkannter
Geistesfähigkeit und Rechtschaffenheit, von Patriotismus und
guter Ausführung, und daß er auch einen Besitz von 8000
Piastern haben müsse. Er soll vom Eongresse bezeichnet
werden; die Verfassung enthält die Titel, welche er führt, und
bezeichnet ihn als El Snpremo, den Höchsten, welchem alle
Bürger Gehorsam schuldig seien. Sie müssen ihm einen
Eid leisten, wenn er sein Amt antritt; er ernennt seine Mi-
nister und bestimmt deren Befugnisse; er befehligt die Armee
und stellt nach Belieben fest, wie stark dieselbe sein solle; er
ernennt und entfernt nach seinem Belieben alle Offiziere und
bürgerlichen Beamten, denn auch die Militärgrade bekleidet
der Inhaber lediglich vermittelst der „pura comision".
Die Bürger haben das Recht, dem Supremo Bittschris-
ten einzureichen; man weiß aber nicht, ob das jemals ge-
fchehen ist. Der Präsident schwört bei Gott, Jesus und den
heiligen Evangelien, alles Mögliche für die Wohlfahrt der
Republik zu thun. Die Glocken der Kathedrale in Asnncion
verkünden es jedesmal dem Volke, wenn der Supremo seinen
Palast verläßt. Früher geschah das auch, wenn der Bischof
zur Kirche ging; Lopez befahl aber, daß das nicht ferner der
Fall sein dürfe; er erachtete diesen Brauch unverträglich mit
der höchsten Würde des Oberhauptes der Republik. Am
Geburtstage des Supremo wird das Volk befehligt, vor dem
Palaste Tänze aufzuführen. Das thuu die Indianer recht
gern. Und es liegt keine große Übertreibung darin, wenn
Jemand gesagt hat: „Paraguay ist kein Staat, sondern
ein Jndianerstamm, und Lopez ist kein Präsident,
sondern ein Kazike." Von einem republikanischen Staate
kann keine Rede sein, wenn der Präsident eine Gewalt aus-
übt, wie nur irgend ein Autokrat. Auch ist, man kann sagen,
die Dynastie erblich; Francia war 29, Lopez der Erste 22
Jahre Herrscher, und der Letztere ernannte seinen Sohn, der
jetzt regiert, zum Nachfolger. Der Präsident besitzt vermöge
der Verfassung der „Republik" uneingeschränkte Macht. —
Seit nun einem halben Jahrhundert hat die Dictatur
keinen Widerstand erfahren. Paraguay kennt keine inneren
Unruhen und Parteikämpfe und bildet in dieser Beziehung
den schärfsten Gegensatz zu Uruguay und Argentinien, zu
Peru und Bolivia, zu Venezuela uud Neugranada, zn Ecna-
dor und Mexico, wo ein Pronnnciamiento und ein Aufstand
dem andern folgt. Hier wildes anarchisches Treiben, dort
autokratischer Zwang; Maßhalten nirgends.
Paraguay ist überwiegend einJndianerland und
die allgemeine Umgangssprache ist das Gnarani; schwerlich
verstehen hunderttausend Paraguayenser das Spanische. Die
einzige Zeitung im Lande ist der „Semanario", ein amt-
liches Wochenblatt. Das ganze Regierungssystem und dessen
Durchführung wäre in einem andern Lande Südamerikas
nicht möglich; in Paraguay jedoch entspricht dasselbe den An-
schauungen fast der Gesammtheit des Volkes, die ja, wie be-
publik" Paraguay.
merkt, aus Guarani-Jndianern besteht. Diese haben
zwei Jahrhunderte lang unter der Zucht der Jesuiten ge-
standen, welche in jenem Mesopotamien die Gebieter waren.
Unter allen Missionären sind sie die einzigen, welche in ge-
wisser Beziehung ein anthropologisches Verständniß hatten;
sie nahmen den Indianer als einen geistig Unmündigen, sie
leiteten und überwachten ihn, sie handelten als Vormünder
und erzielten in ihrer Art große Erfolge. Das Beste in
ihrer Methode aber entlehnten sie den Maximen, welche die
peruanischen Jnkas gegenüber den von ihnen nnterwor-
fenen Völkern befolgt haben. Daß die Jefniten ihre „Er-
ziehnng und Leitung" der Indianer in besserer, wenn man
will mehr menschenwürdiger Weise hätten betreiben können,
soll natürlich nicht in Abrede gestellt werden; hier kommt es nur
daraus an, zu betonen, daß sie dem Doctor Francia und den
beiden Dictatoren Lopez das dermalige Regieruugs- oder viel-
mehr Beherrschungssystem möglich gemacht haben. Dasselbe
ist nur eine Fortsetzung der Maximen des Jesuitenordens
und das Volk, wie gesagt, offenbar mit diefer Eontinuität
einverstanden; das System entspricht ihm und seinen An-
schauungen. Es ist damit zufrieden, fönst ließen sich die Aus-
dauer, der Muth, die Tapferkeit und der Ingrimm nicht er-
klären, mit welchen diefe braunen Menfchen einen Krieg
führen, der ihr Land zu Grunde richtet und ihnen die größten
Beschwerden und Entbehrungen auferlegt. Die Zucht aus
der Schule der Jesuiten, aus den Tagen der Herrschaft der
weißen Patres, wirkt noch bis auf diesen Tag. Der Gehör-
sam, der ganz blinde Gehorsam ist noch heute in nngeschwäch-
tem Maße vorhanden. Bei den Jesuiten war jeder Gnarani
Soldat; er ist es auch unter der Dictatur und gehört ent-
weder zum stehenden Heere, zur Nationalmiliz oder zu der
sogeuauuteu Hülfsgarde, einer Art von Landsturm. Die Os-
fiziere erhalten geringen Sold, die Mannschaft bekommt Klei-
der uud Nahrung. Das Ganze entspricht der Lebensweise
der Indianer, bei denen jeder Mann auch Krieger ist. Sie
sind tapser und streitlustig; abergläubisch, von langer Hand
her gegen alles Ausländische fanatisirt; von der Außenwelt
abgeschlossen, wie sie stets waren, und im Allgemeinen ohne
Unterricht, wissen sie nichts von den Verhältnissen fremder
Staaten. Auch religiös hat man sie fanatisirt. Auf den
verschiedenen Schlachtfeldern fand man tobte Gnaranis, die
ein Amnlet am Halse trugen, ein kleines Säckchen; in dem-
selben steckte ein vom Priester geschriebener Absolutionszettel,
welcher dem Soldaten die Versicherung gab, daß er in Pa-
raguay wiedergeboren werden solle, falls er auf dem Schlacht-
felde falle.
Aus folchem Gehorsam erklärt sich auch das Monopol-
system, welches Francia und die Dictatoren in der „Repn-
blik" dnrchsühren konnten. Die Leute — man kann kaum
von einem Volk in staatlicher Hinsicht reden — arbeiten für
sie; sie legen die Waffen auf Geheiß nieder und ackern dann;
sie holen aus den Aerbales den Paragnaythee, der auch ein
Monopolartikel ist, oder arbeiten auf den Werften oder in
den Zeughäusern der Regierung. Dem Namen nach sind
diese Guaranis freie Republikaner, in der Wirklichkeit Zwangs-
arbeite. Daß von religiöser Freiheit in Paraguay keine
Rede ist, versteht sich von selbst. El Supremo verfügt und
gebietet; der Clerns übt großen Einfluß, der ihm nicht ver-
kümmert wird, fo lange auch er dem Supremo nicht hinder-
lich entgegentritt: die Guaranis gehorchen, arbeiten auf Be-
fehl und führen Krieg.
Das ist die „Republik" Paraguay. A.
L. Hollaender: Dorf- und Stadteleben in den nordwestlichen Districten des Caplandes.
47
Dorf- und Städteleben in den nordwestlichen Districten des Caplandes.
Von Dr. L. Hollaender.
II.
Das zweite große Ereigniß im Städtchen, das jedoch
allwöchentlich einmal wiederkehrt, während die großen Kir-
chenversammlnngen nur alle vier bis sechs Wochen stattsin-
den, ist die Ankunft der Post. Dieselbe bringt allmonat-
lich Briefe und Zeitungen aus Europa und alle acht Tage
die neuesten Nachrichten aus dem Caplande. Kaum können
wir uns in unseren civilisirten Verhältnissen und geordneten
Zuständen das Gefühl vergegenwärtigen, das der empfindet,
der nur ein Mal im Monat Nachrichten von den Seinen er-
halten kann, aber wohl denken kann man sich die Aufregung,
welche die Ankunft der Post in dem sonst geräuschlosen Leben
eines südafrikanischen Städtchens hervorbringen muß.
Schou früh am Morgen, zwischen 5 und 6 Uhr, — die Post
ist erst um 6 Uhr fällig, — finden sich bereits vereinzelte Per-
sonen vor dem Hause des Agenten, der zugleich Postsecretär
ist, eiu, um von dort aus den Berg zu beobachten, welchen
herunter das zweiräderige Wägelchen, das die so lange ersehn-
ten geschäftlichen, politischen und socialen Neuigkeiten birgt,
herunterkommen muß. Mit jeder halben Stunde mehren
sich die Menschen, und ist die Zeit vorüber, in welcher der
Wagen hätte angekommen sein müssen, dann beginnen die
Vermuthungen über den Grund der Verzögerung, deren es
leider allwöchentlich sehr viele giebt. Ein Mal hat ein ent-
setzlicher Sturzregen alle Flüsse überschwemmt und Wagen
und Pferde mit fortgerissen, oder die Post überhaupt nicht
durchgelassen, das andere Mal ist ein Rad gebrochen, oder
das Geschirr entzweigegangen, oder endlich, es hat sich der
Kutscher, ein Branntwein liebender Hottentot, dieses Mal
starker denn je betrunken n. s. w.
Je länger die Post ausbleibt, desto mehr vergrößert sich
die Aufregung, und wenn anch der eingeborene weiße Afri-
kaner dadurch aus seiner phlegmatischen Ruhe sich nicht her-
ausreißen läßt, um so ausgeregter werden sämmtliche Euro-
püer, Engländer sowohl wie Deutsche, die auch in der Regel
znsolge der größern Ausdehnung ihrer geschäftlichen Bezie-
Hungen durch die Verzögerung am meisten betroffen werden.
Da erscheint plötzlich auf der Spitze des Berges eine
kleine Staubwolke, gleich darauf ein Wägelchen mit zwei
Pferden bespannt, das sofort als die Postkarre von allen Ken-
nern mit und ohne Fernglas erkannt wird. Immer stärker
wird der Staub, im Fluge rollt das Wägelchen den steilen
Berg hinunter, viel zu schnell für die längst halb tobt gehetz-
ten Pferde, die kaum noch Kraft genug befitzen, dem Wagen
voranzueilen, und schaumbespritzt nnd von Staub vollstän-
dig überzogen langt endlich das Gespann vor dem Posthause
an — zur Freude der gesammten Schwarzen und der sehr
zahlreichen Hundebevölkerung, die sich indessen ebenfalls an-
gesammelt hat.
Schnell ist der Hottentot, nachdem er ans einem Ochsen-
Horn mühsam einige Töne hervorgezaubert, von seinem Sitze
heruntergesprungen, noch schneller sind zwei Passagiere, die
vielleicht seit zwei Tagen und drei Nächten ununterbrochen
ans der Karre gesessen und seit dieser Zeit nicht mehr ge-
schlafen haben, ihm gefolgt. Eiligst werden die Briefsäcke
lus Haus getragen, und nnn kommt die unbeschreiblich nn-
sägliche halbe stunde, in der die Brieffchaften und Journale
geordnet werden.
Allmälig haben sich aber auch alle Personen, die nur
irgendwie Briefe erwarten, hier zusammengefunden. Nicht
verschmäht es der reiche, behäbig seinen Backenbart streichelnde
Kansherr, der vielleicht 2000 Ballen Wolle jährlich nach
Europa sendet, sich mit seinem jüngsten Eommis, der nur
einige Zeilen von seiner Mutter erwartet, um diese Zeit zu
kürzen, freimüthig zu unterhalten, — der Landrath, die höchste
Person des Ortes, fragt jovial den ersten beliebigen Maurer-
gesellen, dessen er ansichtig wird, How clo you clo, — nnd
der Doctor sogar, der sonst so gern erzählt, daß ihm die Zeit
fehle, alle feine Patienten zu besuchen, wagt es, sich eine
halbe Stunde lang im aufregendsten Nichtsthun sehen zn
lassen. Alle nur erdenklichen Nüancirnngen einer erwar-
tuugsvolleu Physiognomie sind auf den verschiedenen Gesich-
tern ausgeprägt, und wenn auch einzelne Herren durch manche
schlechte Späße die Zeit sich zu verkürzen suchen — in jedem,
selbst in dem anscheinend ruhigsten Gesichte zeigt sich die
höchste Erregung, bis der kleine Schieber am Fenster des
Postbüreaus in die Höhe gezogen wird und die Briefe zur
Vertheilung kommen. Ob auch der Einzelne mitunter ganze
Packete von Briefschaften erhält, hochtrinmphirend trägt der
Reichste und Höchstgestellteste selber seinen Schatz nach Hause.
Wüßten es alle die Verwandten in der Heimath, wie
dem Ausgewanderten, der fern von ihnen allein dasteht in
der großen, weiten Welt, auch die geringste Notiz über Un-
bekanntes nnd selbst auch Bekanntes wehmüthig das Herz
durchzuckt, und wie jegliche Nachricht aus dem Heimathlande,
die dem Absender auch noch so unbedeutend erscheint, in der
Ferne so ganz eigentümliche Gefühle, Erinnerungen und
Anklänge wachruft, sie würden für ihre Verwandten und Be-
kannten nicht fo spärlich im Briefschreiben sein. Und wer
erst selbst die Empfindung dessen durchgekostet oder das Ge-
ficht dessen gesehen hat, der oft Monate lang, jedesmal nach
Ankunft der Post, ohne auch nur eine Zeile, eine Zeitung
oder sonst irgend ein Lebenszeichen erhalten zu haben, lang-
fam sich aus dem Kreise der Frohbeglückten fortschleichen
muß — der weiß allein die Seligkeit dessen zu würdigen,
dem wieder eine Nachricht aus der süßen Heimath zugekommen.
Es giebt aber auch noch andere Ereignisse, welche die
Eintönigkeit des Lebens in unserm Städtchen unterbrechen.
Zn diesen gehört vor Allem die jeden Donnerstag vor offenen
Thüren stattfindende Gerichtssitzung, die von dem Land-
rath, der zugleich oberster uud einziger Richter ist, abgehalten
wird. Und wenn auch hier weniger gelehrte, juridische Re-
densarten fallen, und wenn auch das Lorxus juris uud das
Landrecht nicht allen Aussprüchen zu Grunde gelegt werden, so
kann man doch im Allgemeinen annehmen, daß trotz alledem
und alledem Niemandem ein Unrecht geschieht. Freilich han-
delt es hier sich meistentheils um geringe Schuldforderungen
bis zu 20 Pf. St. (134 Thlr.), Beleidigungen gewöhnlicher
Art, wie um einige Pserdepeitschenhiebe — ein Gentleman
gebraucht nie seine Hand zum Schlagen —, kleine Spitz-
bübereien nnd andere Kleinigkeiten. .
Das Contingent der kleinen Spitzbuben stellen jedoch
meist nur Kaffirn und Hottentoten, die sich auch sonst noch
am Donnerstag einfinden, wenn sie Beschwerden gegen ihren
Herrn vorzubringen haben, d.h. wenn sie nicht eindring-
48 L. Hollaender: Dorf- und Städteleben in
lich genug gehauen worden sind für ihre Faulheit, Lieder-
lichkeit und Niederträchtigkeit. Denn bekannt ist die That-
fache in ganz Südafrika, daß der Schwarze nur dann sich
nicht über etwaige Strafen feines Herrn beklagt, wenn er
feine Prügel so recht ordentlich gespürt hat. Nur über eine
kleine Dosis "wird er murren und sich darob beim Landrath
beklagen, der natürlich dann den Herrn, so will es das Ge-
setz, in eine Geldstrafe verurtheilen muß, so sehr er auch den
unwissenden Europäer in seinem Innern bedauert, daß er
noch fo wenig die Sitten des Landes kennen gelernt hat.
Zur Classe der Trunkenbolde :c., die auch an diefem Ge-
richtstage abgeurtheilt werden, gehören meist jene vagabon-
direnden weißen Maurer und Zimmerleute, die sich aus den
defertirten oder entlassenen englischen Soldaten recrutiren —
jene Halbschwarzen, die besonders am Souutag fleißig in
die Kirche gehen und dort am lautesten singen oder schreien,
und jene Kafsirn, die es in der Bekleidung bereits zu einem
weißen Vatermörder und einem schwarzen Frack nebst fchwar-
zem Cylinder gebracht haben, im Uebrigen aber in der zwar
ungefchmückten aber wohl mit Fett eingeriebenen braunen
Haut, wie sie ihnen der liebe Gott gegeben, stolz einher-
schreiten.
Würdevoll sitzt der Landrath anf erhöhtem Stuhl iu einer
Art von Katheder, und unter ihm irgend ein Schreiber, der
das Protocoll führt, während die Agenten, die hier auch als
Advocaten fuugiren, sich gegen gute Bezahlung bemühen, für
ihre Clienten in fchwarzer oder weißer Haut fo viel wie mög-
lich zu sprechen, bis endlich die ganze Angelegenheit zur Zu-
friedeuheit beider oder wenigstens einer Partei entschieden wird.
Oftmals wirkt es aber doch höchst komifch, wenn der Land-
rath, was auch schon in manchen Orten vorgekommen ist, ein
vollständig entwickelter Säufer ist, der jede Nacht von Be-
kannten oder Unbekannten nach Hanse geschleppt wird, irgend
ein Individuum, wegen Scandals in der Trunkenheit ver-
übt, verurtheilen und dazu eine höchst moralische Strafpre-
digt halten muß. Aber im Allgemeinen ist die Jurisdiction
dieser Landräthe oder Magistrate, wie sie genannt werden,
ohne Tadel. Meist sind es tüchtige Männer, die von unten
auf im Büreau gearbeitet uud sich dabei eine gewisse Sach-
kenntniß und Routine angeeignet haben. Die lateinische oder
gar die griechische Sprache hat sie nie gequält, vielleicht ha-
ben sie sich höchstens das Wort corpus delicti gemerkt, das
sie stets citiren, um sich bei noch unwissenderen Leuten in
Nespect zu setzen, aber sie haben sich ihren Kopf frei gehal-
ten von allem gelehrten Wust uud sprechen nur nach ihrem
gesunden Menschenverstände Recht, was wohl den einfachen
südafrikanifchen Verhältnissen auch am angemessensten ist.
Wo es sich um Mord und Todtschlag, um bedeutendere
Diebstähle oder um größere Summen Geldes handelt, da
freilich ändert sich die Scene. Zwei Mal im Jahre wird
dann zu diefem Zwecke eine trotz des mündlichen Verfahrens
mehrere Tage lang dauernde Schwurgerichtssitzung an-
beraumt, zu der uuter großen Kosten und großen Beschwer-
den mit ungeheurem Pomp einer der vier Oberrichter vom
Obertribunal (supreme court) aus der Capstadt im Städt-
chen anlangt. Diese Richter sind jedoch keineswegs mit den
gewöhnlichen Magistratspersonen oder Landräthen zu verglei-
chen. Es sind dies Männer, die dem obersten Gerichtshofe
jedes europäischen Staates Ehre machen würden, Männer,
die auf einer außerordentlich hohen Stufe von Bildung und
Gelehrsamkeit stehen und die erst im höhern Alter, nachdem
sie Jahre lang in England oder im Caplande als Advocaten
plaidirt und sich so auf diese Weise ausgezeichnet haben, zu
den Nichterstelleu berufen werden. Und hier muß ich befon-
ders eines solchen Richters erwähnen, des Herrn Water-
meier, der, vor kurzer Zeit in England verstorben, sich be-
den nordwestlichen Dist'ricten des Caplandes.
sonders um die Einführung deutscher Literatur am Cap-
laude verdient gemacht hat. Seine Uebersetznngen der Heine'-
schen Lieder ins Englische gehören zu den besten derartigen
Arbeiten. Leider jedoch sind sie niemals über das Capland,
woselbst sie nur von Wenigen gelesen werden, und wo noch
viel weniger Personen Interesse daran sinden, hinaus ge-
kommen.
Mit dem Oberrichter kommen außerdem noch einige wirk-
liche Advocaten aus der Capstadt an, denn nur solche dürfen
vor einem Schwurgericht plaidiren.
Die feierliche Einholung eines solchen Oberrichters mit
bessert Gefolge bildet natürlich auch wieder ein Hanptereigniß
für das Städtchen und eiu Hauptvergnügen für die männ-
liche Bevölkerung. Sobald der Quartiermacher angekommen
ist und die Zeit der Ankunft des hohen Herrn von ungefähr
sich ermessen läßt, da wird es von Neuem lebendig im Orte.
Alle nur erdenklichen Wagen und Pferde werden heransge-
holt, fämmtliche Gewehre geladen, und befindet sich eine Lieb-
Haber-Trompeter-Compagnie, wovon noch später die Rede
sein wird, im Städtchen, so wird diese sofort requirirt, und
mit lautem Hörnerschall, mit Gewehrschüssen und sonstigem
Scandal wird der alte Herr, der den Scandal und den Staub,
den die Gesellschaft aufwirbelt, zu allen Henkern wünfcht,
empfangen und im Triumph in das Städtchen escortirt.
Verirrt sich zufälligerweise ein Gouverneur oder, wie es
im Jahre 1859 der Fall war, gar ein englischer Prinz (Prinz
Alfred) in fo ein Städtchen, dann wird dieselbe Eeremonie
wiederholt, nur daß, um größern Scandal hervorzubringen,
die gesammte Boerbevölkerung des Districtes requirirt wird
und die verschiedenen Honoratioren des Städtchens in schwar-
zem Frack nnd weißen Glaceehandschuhen sich vereinigen, um
dem Gouverneur eine Loyalitätsadresse vorzulesen.
Ani Morgen nach der Ankunft des Oberrichters, Punkt
9 Uhr, begiuut gewöhnlich die Schwurgerichtssitzung und
zwar zuerst mit den Criminalfällen, von denen in der Re-
gel mehrere, besonders in den Grenzdistricten, vorliegen. Aber
so viel Fälle von Mord und Todtfchlag während eines acht-
jährigen Aufenthaltes in unferm Districte vorgefallen — ge-
hängt ist noch kein Mörder worden. Der Oranjesluß ist zu
nahe von hier und über denselben hinaus hat das englische
Gebiet und somit auch heute noch die Eivilisation trotz Re-
publik und Volksparlament ein Ende.
Ja, diese ehrenwerthe Republik, die man auf der Karte
als Orauje-Republik angezeichnet findet, führt bereits feit
dem Jahre 1865 mit den benachbarten Bafuto-Kaffirn Krieg,
— wie es scheint, einzig und allein aus dem Grunde, damit
die ehreuwerthen Republikaner ihre Schulden an die engli-
schen (Kolonisten in der Capcolonie nicht zu bezahlen brauchen.
Man hat dort, nach dem Grundsatze „iutsr arma silent
leges", sämmtliches Gerichtsverfahren eingestellt nnd wird
den Krieg wohl so lange hinführen, bis endlich die englische
Regierung, die läugst froh ist, diefe Republik im Jahre 1848
freigegeben zu haben, gedrängt durch die Kaufleute ihres Lan-
des, Einspruch erheben, und was bereits vorgeschlagen ist,
das ganze Basnto-Land an die Provinz oder Colonie von
Natal annectiren wird.
Die anderen Fälle, die der Oberrichter zu beurtheileu
hat, und zwar ohne daß Geschworene hierbei zugezogen wer-
den, bestehen meist in höheren Schnldforderuugen, die in letz-
ter Zeit sich um so mehr gehänft haben, als innerhalb der
letzten Jahre in allen diesen Städtchen mehrere Bankinstitute
errichtet worden sind und fo Geld zu allerhand gewagten
Speculatioueu, die ohne dieses niemals unternommen worden
wären, flüssig geworden ist.
Ferner bemerkenswerth ist das Erscheinen unserer Zei-
tnng, die meist in den kleineren Städtchen allwöchentlich
Bernhard Endrulat: Reisebil!
ein Mal ins Haus gesendet wird. Ja, ein Städtchen ohne
eigene Zeitung gehört in den nordöstlichen Districten fast zu
den Ausnahmen. In den größeren Plätzen an der See und
im Süden, wie in der Capstadt, Port-Elisabeth oder in Gra-
hamstadt, der Hauptstadt der östlichen Provinzen, existiren
mehrere große Zeitungen, theils in englischer, theils in hol-
ländischer Sprache, die wöchentlich drei- bis viermal erscheinen.
Meistens sind anch diese Zeitungen, besonders die der
vorhin genannten größeren Plätze, sehr gut redigirt, wohin-
gegen die der kleineren Städtchen manche nach europäischen
Begriffen nicht gerade sehr schätzenswerthe Eigenschaften be-
sitzen. Daß sie alle in großem Format, wie etwa in dem
der „Krenzzeituug" erscheinen, daß sie alle hochtönende Na-
men wie „Dopperdorp Times", „Dunderberg Moniteur",
„Stinkplaatz Herald" :c. führen, das versteht sich eigentlich
von selbst, aber das ist auch Alles, worin sie den besseren
Zeitungen gleichen. Die entsetzlichsten Klatschgeschichten und
die gemeinsten Verdächtigungen finden sich nur allzu häufig
darin, und zwar scheint es oft nur eine Geldfrage zu sein,
bis zu welchem Grade ein anständiger Mensch verlästert wer-
den soll. So ein Redacteur hat natürlich dabei durchaus
uichts zu verlieren. Die angegriffene Partei kann ihn höch-
stens vor dem Civilrichter verklagen und schließlich — die
enormen Kosten des ganzen Prozesses selber tragen. Denn
obgleich der Redacteur stets auch Besitzer der Zeitung und
Drucker und Setzer in eigner Person ist, so sind seine Ein-
fünfte im Verhältniß zu seinen Ausgaben doch meistens nur
gering, und er freut sich, da man ihn an seinem Geldbeutel
doch nicht schädigen kann, schließlich noch verklagt zu werden,
denn ans diese Weise wird er leichten Kaufes zum Märtyrer
r aus der romanischen Schweiz. 49
für „die Freiheit der Presse". Billiger ist es schon, dem
Redacteur einen neuen Artikel zu bezahlen und sich auf diese
Weise wieder zu einem refpectabeln, anständigen Manne um-
schreiben zu lassen.
Eine solche Zeitung bringt in der Regel einen ziemlich
gut geschriebenen Leitartikel über commuuale, sociale oder
politische Angelegenheiten des Caplandes, die neuesten Nach-
richten aus den beiden Republiken jenseits des Oranjeflufses,
etwaige interessante Gerichtsverhandlungen :c. Aber die
Hauptsache bilden und bleiben die in großer Schrift gcdrnck-
ten Annoncen, die um fo unnöthiger find, als die liebe Zei-
tnng meist über das Städtchen hinaus keine Abonnenten hat
und derartige Nachrichten sich dort durch gedruckte Zettel
leichter und billiger verbreiten ließen. Aber der Herr Re-
dactenr geht selbst von Woche zu Woche herum, sich die An-
noncen einzusammeln und wehe dem Manne, der lange Zeit
hindurch nichts mehr aunonciren ließ. Zuerst erscheint eine
kleine hingeworfene Notiz über eine nächstens zu erörternde
Schandthat auf irgend einem socialen, commnnalen oder Po-
litischen Gebiete; Hilst diese nichts, dann solgt ein langer
Leitartikel über irgend eine Nachlässigkeit, die sich der betres-
sende Herr in seinem öffentlichen Charakter als Stadtverord-
neter oder als Friedensrichter?c. — denn fast jeder Ein-
wohner hat einen öffentlichen Charakter — zu Schulden
kommen ließ. Glücklicherweise sind diese Verhältnisse nicht
in allen Orten dieselben. Manche der Redacteure, nnd dies
ist auch in Dopperdorp der Fall, sind höchst achtnngswerthe,
ehrbare Männer, die sich bereits einiges Vermögen erwor-
ben und derartige Kunstgriffe überhaupt uicht mehr nöthig
haben.
Reisebilder aus der romanischen Schweiz.
Vou Dr. Bernhard Endrulat.
III.
Eine Besteigung des Piz Languard. — Bergamaskische Schäfer. — Verfolgung der Singvögel durch die Italiener. — Die Flora
am Piz languard. — Anblick der Berninagruppe. — Rundblick vom Piz Languard aus.
Wir haben uns in den früheren Schilderungen schon auf
Plätzen bewegt, die weiter von Pontresina entfernt liegen,
als derjenige Punkt, dessen eigentümliche Schönheit Vorzugs-
weise dazu beigetragen hat, daß das Dörfchen in den letzten
zehn Jahren ein häufiger aufgesuchtes Ziel der Schweizer-
reisenden geworden ist. Wir meinen den Piz Languard,
jene vom Bernina durch das Pontresiner Thal geschiedene
Bergspitze, welche wenigstens einen Einblick und zwar einen
überaus herrlichen, in die Geheininisse dieses Altvaters der
rhätischen Gebirge gestattet, während der Zutritt zu ihnen den
Sterblichen bis auf wenige glückliche Ausnahmen hartnäckig
verschlossen ist.
Der Piz Languard — „Fernsicht" bedeutet der Name —
fiegt östlich von Pontresina und zwar unweit dieses Ortes,
ist aber von ihm aus, Vorliegeuder Höhen halber, nicht zu
erblicken. Erst im Jahre 1852 haben einzelne Reisende
unter Führung des früher erwähnten Johann Colani ihn
zu ersteigen unternommen. Ihre begeisterte Schilderung von
dem oben genossenen Schauspiel hat Nachfolger angelockt,
welche wiederum den Ruhm des neuentdeckten Ansfichtspnnk-
tes weiter verbreiteten, und so hat die Zahl der Besucher
Globus XIV. Nr. 2. (Juli 1868.)
von Jahr zu Jahr zugenommen. Schon 1857 erreichte sie
die Höhe von 200 Personen, eine Zahl, welche von jedem
folgenden Jahre um ein Beträchtliches übertroffen worden ist.
Eine Besteigung des Piz Langnard vereinigt, ganz abge-
sehen von der Aussicht, die er darbietet, mannichfache Vorzüge
vor denen anderer berühmter nnd viel besuchter Berghöhen
in sich. Vor Allem ist sie unter gewöhnlichen Umständen
und bei Beobachtung der gebührenden Vorsicht gänzlich ge-
fahrlos, während die glückliche Ausführung des Unternehmens
Einem deunoch das behagliche Bewußtsein einflößt, man habe
etwas nicht gerade Geringfügiges und Alltägliches gethan.
Denn man hat nach etwa vierstündigem, bisweilen anstren-
gendem Steigen und Klettern, wozu Vollbesitz körperlicher
Kraft, einige Geübtheit namentlich in Handhabung des Berg-
stocks und jedenfalls Schwindelfreiheit erforderlich sind, eine
Höhe von 10,340 Fuß rheinländischen Maßes erreicht, ist
also dem Riesenhanpte des benachbarten Bernina, dessen Höhe
auf 12,830 Fuß angegeben wird, bis auf etwa drittehalb-
tausend Fuß nahe gekommen.
Der Aufgang zum Piz Languard befindet sich beim obern
Dorfe und führt an der vorhin erwähnten alten Kirche und
7
50 Bernhard Endrulat: Reisebilde^
der Thurmruine vorüber ntit wenigen Schritten in einen
dichten, kühlen Wald von Lärchen und Arven, in welchem
man auf ziemlich steilem Fußwege wohl eine Stuude lang
emporzusteigen hat.
Beim Austritt aus den: Walde nimmt uns die weitaus-
gedehnte grüne Matte der Lauguard-Alp auf, die wir, wie
viele andere im obern Engadin, von einer eigentümlichen
Bewohnerschaft besetzt und bewirtschaftet finden. Ii: der
großen, schwarzen, von unendlichem Schmutze starrenden Hütte
vor uns hausen bergamasker Schäfer, deren Herden die
Alpe abweiden. Seit uralten Zeiten verpachten die grau-
büudtner Gemeinden diejenigen Alpen, welche sie nicht für
das eigene Vieh gebrauchen, an ihre italienischen Nachbaren
in den Thttlern von Brescia und Bergamo, die sie von Mitte
Juni bis Ende August mit ihren Schafherden in Befchlag
nehmen. Man rechnet, daß 30,000 bis 40,000 solcher
fremden Schafe jährlich die Gastsreuudschaft der rhätifchen
Berge benutzen. Hirten und Herden sind von eigenthüm-
lichem Schlage. Die Hirten, größtentheils aus dem Seriana-
und Brembaua-Thale der Provinz Bergamo stammend, sind
meistens große, stolze Gestalten mit oft schönen, markirten,
wettergebräunten Gesichtern, wilden Bärten und langen,
schwarzen, au der Seite in Locken herabfallenden Haaren.
Ein fpitzer, brauner Calabreserhut uud ein kuustloser, brauu-
oder weißwollener Mantel, den sie malerisch um die Schulter
zu werfen wissen, sind die eigenthümlichsten Stücke ihrer dürf-
tigen Kleidung. Italienische Leidenschaftlichkeit und Berwo-
genheit mögen ihnen nicht abzusprechen sein, doch gelten sie
im Engadin für durchaus harmlos, friedfertig uud ehrlich.
Ohne dies wäre es auch einem einzelnen Reisenden oder Na-
tnrforfcher kaum zu rathen, manche Nebenthäler, wie das
Val da fain, Val Muragl u. s. w., in denen sie die einzigen
menschlichen Wesen sind, die man in stundenweiter Runde
antrifft, zu besuchen. Thatfächlich ist die ungemeine Einfach-
heit uud Genügsamkeit dieser Bergamasken; Polenta Mor-
gens, Polenta Mittags nnd Polenta Abends, das ist ihr
ganzer Speisezettel. Polenta ist ein bekanntlich aus Mais-
mehl und Wasser gekochter dicker Brei, dessen einzige Würze
in einem Stück Käse besteht. Man kann es bei solcher Ein-
fachheit der regelmäßigen Nahrung den armen Leuten kaum
verdenken, daß sie sich einmal zur Abwechslung uach einem
Braten sehnen, und da ihnen größere Geschöpfe unerfchwing-
lich sind, den kleinen und kleinsten Vögeln zu diesem Zwecke
nachstellen, wiewohl es audererseits beklagenswerth ist, daß
diese Lust nach Leckerbissen vielleicht Hunderttausenden von
Singvögeln jährlich das Leben kostet. Es ist traurige
Thatsache, daß in den Lärchen- nnd Arvenwäldern
des Engadins nur selteu eiu Vogellaut zu hören
ist. Die befiederten Sänger, welche ihnen zustrebten, sind
auf ihrem Durchzuge durch Italien weggefangen worden,
wo man sich bekanntlich ebenfalls kein Gewissen daraus macht,
dieSiugvögel allerArt zu braten, oder wenn ja einige
glücklich über das Gebirge herübergeschlüpft sind, so fallen
sie noch hier in die Schlingen, welche die bergamasker Schä-
fer ihnen aufs Emsigste stellen.
Die Schafe aus Bergamo stellen nicht gerade eine edle
und schöne Race dar. Es sind große, plumpe, hochbeinige
nnd langohrige Thiere mit langer aber grober Wolle. Wenn
sie in der ersten Hälfte des Juni aus ihren Winterquartieren
auf die graubüudtuer Weiden herüberrücken, entwickeln sie
eine enorme Gefräßigkeit, und man hat berechnet, daß der
Schaden, den die Thiere durch Wegfressen des jungen Baum-
Wuchses, durch Ausreißen der Wurzeln auf den Alpentriften,
Heruntertreten des Erdreichs ze. anrichten, bedeutender ist,
als der Zinsertrag, den sie den Verpächtern einbringen.
Der Anblick, den eine Karawane von bergamasker Schä-
aus der romanischen Schweiz.
fern, eine Völkerwanderung im Kleinen, auf ihrem Her- oder
Hinzuge gewährt, ist fo buut-abeuteuerlich und interessant,
wie ein Maler ihn sich nur wünschen kann. Die romanti-
schen Hirtengestalten, steinalte Greise von höchst Patriarch«-
lifchem Aussehen unter ihnen, die Schafherde, bei Wohlhaben-
den mit einigen Kühen und Ziegen untermischt, die mit den
Habseligkeiten, Lagerutensilien, Küchengerüth :c. der Schäfer
bepackten Esel mit Reitern, deren lange Beine auf beiden
Seilen fast den Boden berühren, zum Schluß große Wacht-
Hunde, das Alles zieht in der Gebirgseinsamkeit an uns wie
eine Traumerscheinung oder wie ein verkörpertes Märchen
vorüber.
Da uns die Betrachtung der Alpenhütte mit ihren fremd-
artigen Bewohnern, von denen wir noch eine Familie häß-
licher schwarzer Schweine zu erwähnen haben, doch fchon
eine Zeitlang von Verfolgung nnsers Weges abgehalten hat,
so mögen wir noch einige Augenblicke mehr daran wenden,
um mit aller Vorsicht an den Rand des Felsens in der Nähe
der Hütte vorzutreten, der sich hier schwindelndsteil in eine
Thalschlucht hinabsenkt, in welcher das Langnardwasser zwi-
schen Felsblöcken hindurch schäumend und tosend seinen Weg
sucht. Vou hier aus sieht man auch zuerst im Hintergrunde
des engen Thals, in allerdings noch beträchtlicher Entfernung,
die Spitze des Languard.
Gerade auf sie zu führt nun der Pfad an zerrissenen,
wildzerspaltenen Syenitfelsen hin, auf denen noch einige ver-
krüppelte Arven, deren ganzes Leben ein fortwährendes Ab-
sterben ist, Fuß gefaßt haben; in den Rissen und Spalten,
aus deu Vorsprüngen dieser Felsen findet der Botaniker reiche
Ausbeute. Au einer nur mit ziemlicher Gefahr zu erklet-
terudeu Stelle wächst hier auch das viel gesuchte, viel geprie-
feue „Edelweiß" (Gnaphalium Leontopodium Scop.). Al-
penrosen und Edelweiß! — wem, der jemals mit einigem
Sinn für ihre charakteristischen Erscheinungen auch im Klei-
nen in den Alpen weilte, stehen nicht bei Nennung dieser
Namen die Wunder des Hochgebirges frisch nnd voll vor
Augen ? Das ist der Vorzug, den die oft verspotteten Sannn-
ler der kleinen Naturgegenstände genießen, daß ihnen ein ein-
ziges bezeichnendes Pslänzchen, verblichen und vertrocknet, eine
ganze Gegend lebendiger wieder ins Gedachtniß zurückruft,
als es vielleicht dickleibige Tagebücher bei Anderen zu thun
vermögen.
Nachdem wir auf unferm Weiterwege eine reiche, kräftig
sprudelnde Quelle des köstlichsten Wassers, aus der man auch
ohne den Antrieb des Durstes trinkt, nur um die edle Got-
tesgabe nicht ganz ungenützt dem Abgrunde zueilen zu lassen,
überschritten haben, können wir, den eigentlichen Pfad ver-
lassend, uns links die Höhe hinaufwenden. Die ganze, mit
Schutt uud Geröll bedeckte, hier und da von einem Schnee-
felde unterbrochene Halde ist gangbar; nnfer Weg wird auf
diefe Weise kürzer, wenn auch ein wenig beschwerlicher. Die
Umgebung beginnt an die Oede des Albula-Passes zu er-
innern. Auch die pfeifenden Mnrmelthiere sind da. Eine
alte Angabe ist es, daß Gemfenherden, welche in der Nähe
dieser Thiere grasen, von ihrem warnenden Signale Notiz
nehmen. Leider kann man auch auf den einsamen Abhängen
des Piz Languard darüber keine Beobachtungen anstellen,
denn die Gemse, welche einst hier nicht selten anzutreffen
war, ist auch vou hier verschwunden. In nicht gar langer
Zeit, fürchten wir, wird auch sie in diesen Gebirgen gleich
dem rhätischen Steinbock, der nur noch auf dem Wappen-
schilde des Cantons Graubündten erhalten ist, zu den aus-
gestorbenen Thieren gehören.
Haben wir endlich die Schutthalde erstiegen, so sind wir
am Fuße des Langnardkegels angelangt. Es beginnt der
dritte, angreifendste Theil der Ersteigung.
Bernhard Endrulat: Reisebilder
Man kann sich keine bessere Vorstellung von dcr Beschaf-
fenheit des aus Granit und Schieser bestehenden Berges machen,
als wenn man sich denkt, eine ungeheure Felsmasse sei durch
eine Pulverexplosion zerrissen worden und in sich zusammen-
gestürzt. Von einem ordentlichen Pfade kann unter solchen
Umständen keine Rede sein; ein Hinaufreiten auf Eselu oder
Maulthiereu ist eine absolute Unmöglichkeit. Es gilt, von
Kante zn Kante, von Block zu Block, oft mit Zuhülsenahme
der Hände, elnporznsteigen. Manchmal bewegt sich so ein
Zwischen seinen Kameraden mit nur einem Ende eingeklemm-
ter Granitblock unter dem Gewicht unseres Körpers, und der
Gedauke, mit ihm in die Tiefe hiuabznkolleru, ist nicht gerade
die augeuehuiste Zugabe zu den Mühen und den Genüssen
der Ersteigung. Die mit Hacke und Brechstange bewaffnete
menschliche Hand könnte allerdings au dem Wege mehr nach-
helfen und bessern, als sie gethau, iudeß hat auch diese Ur-
sprünglichkeit ihren Reiz, und daß die Sache nicht gar zu
schlimm ist, sieht man daraus, daß bereits eine große Anzahl
von Damen, jüngeren sowohl wie älteren, den Piz Lauguard
glücklich bestiegen hat.
Auf dein Kegel finden wir, wo sich zwischen den Blöcken
hinreichende Erde gelagert hat, eine interessante Welt von Mi-
niaturpflanzen. Die Arten von Ranunculus, Anclrosace
und Gentiana, die uns durch ihren Zunamen glacialis an
ihre Vertrautheit mit der Eisregion erinnern, erscheinen bis
zur Spitze hinauf. Ferner sammelt man: Arenaria bi-
flora L., Potentilla frigida Yill., Senecio carniolicus
Wild, und andere. Den lieblichsten Anblick aber gewähren
die ost handgroßen Nasen von Eritrichium nanum Scln-ad.,
dem nächsten Verwandten der Familie des Vergißmeinnicht.
Aus beut feinen, dichten und lichten Grün blicken uns die
himmelblauen Blüthen hier in der steinernen Wildniß so treu-
herzig und vertraut an, wie geliebte blaue Menschenaugen.
Die letzten Schritte oder Sprünge, die Absätze der immer
schmaler werdenden Pyramide hinauf wird man nicht ohne
gesteigerte Aufregung zurücklegen können, und nicht, ohne
aufs Tiefste ergriffen, ja erschüttert zn sein, wird man zum
ersten Male auf dem Gipfel des Berges stehen. Denn über-
aus herrlich und großartig ist Alles, worauf unser Blick fällt,
und es bedarf einiger Zeit, ehe wir uns so weit gesammelt
haben, daß wir ruhig und bewußt die Einzelmusterung zu
beginnen vermögen.
Die Bergkuppe, auf der wir uns befinden, ist kein brei-
ter Rücken, sondern eine wirkliche Spitze. Zwanzig, höchstens
dreißig Personen, auf ihr stehend, sitzend, lagernd, füllen den
vorhandenen Raum vollständig aus. Wir kommen uns vor,
wie auf einer einsamen himmelhohen Warte, — unabsehbare,
schauerliche, mit Schnee und Eis bekleidete Abgründe ringsum.
Der erste Forscherblick eines jeden Ersteigers des Piz
Langnard gilt gewiß der Bernina-Gruppe, von deren Groß-
artigkeit bei geheimnißvoller Verschlossenheit wir unten im
Thale so viel gehört haben. Da liegt ste vor uns, eine rie-
sige Silbermasse mit blitzenden, blendenden Hörnern und
Spitzen von reinstem Krystall, so nah, so überschaulich, daß
uiau meinen möchte, die ausgestreckte Hand könne sie ergrei-
sen! Wie ein hochragender Herrscher im Kreise seiner Va-
fallen thront der Piz Bernina inmitten zahlreicher anderer
Riesenhiiupter. Gerade im Süden von uns erheben sich
Munt Pers (= mont perdu), Piz d'Arlas, Piz Cambrena
und vor Alle» Piz Palü, dieser letztere eine Eispyramide von
1 -,300 Fuß Höhe. Etwas weiter im Hintergrunde nmge-
ben ihn links und rechts Piz Verona, Piz Zoppo, Crasta
giizza (der spitzx Grat) und andere Firste, Grate und Schei-
id von fast gleicher Höhe. Rechts vom Piz Bernina ragen
Morterasch und Tschierva (Hirschkuh), Roseg und la Sella
(Sattel) empor, in weiterer Entfernung Piz Tremoggia,
us der romanischen Schweiz. 51
il Chapütschiu (das Käppchen), Piz Güz, Piz Lat, Monte
dell' Oro und zahlreiche andere Höhen. Zu unseren Füßen
liegen Piz Cchalchagn und Rosatsch uud weiterhin Corratsch
(der große Rabe). Zwischen allen diesen eisstarrenden Zacken
breitet sich das unabsehbare Meer ihrer Gletscher, deren weiße
Ausläufer sich nach allen Richtungen hin erstrecken, ans.
Erheben wir uusern Blick aus der Nähe zu dem uns
einschließenden äußersten Horizonte, so gewahren wir uns iu-
mitten eines Panoramas von Felsspitzen, wie es reichhalti-
ger kein Punkt der Erde darzubieten im Staude fein dürfte.
Man behauptet, daß mau bei klarem Wetter vom Piz Lan-
guard aus über eintausend benannte Bergspitzen sehen könne,
und daß diese Behauptung keine übertriebene ist, wird das
Panorama beweisen, dessen Zeichnung vor vielen Jahren be-
reits in Angriff genommen worden, uud dessen Vollendung,
weuu sie nicht schon erfolgt ist, jedenfalls bald zu gewärtigen
fein wird. Von wichtigeren Berggruppen und Berghäuptern
find sehr klar die Umrisse der Berner Alpen mit ihren Höch-
sten Spitzen: Finsteraarhorn, Schreckhorn, Mönch uud Jung-
frau zu sehen; aus der Urschweiz tauchen Titlis, Tödi und
Glärnifch ans, drüberhin die CHurfirsten am Wallensee und
aus Appenzell der Sentis. Rechts davon schließen sich vor-
arlberger Höhen und die tiroler Berge an, unter letzteren na-
mentlich prächtig die Oetzthaler Ferner, dann die Wildspitz,
das Hochjoch, der Etschstock, das Wormser oder Stilsfer Joch.
Gerade im Osten, unfern uud sehr deutlich, steigt die impo-
saute, schneebedeckte Gruppe des Ortler als eine dreispitzige
Krone auf.
Beobachter, welche deu Horizont von hier aus mit Fern-
röhren durchforscht haben, wollen deu Monte Rosa deutlich
erkannt haben; den Montblanc aufzufinden, ist jedoch auch
dem eifrigsten Suchen bis jetzt nicht gelungen uud wird viel-
leicht auch uie gelingen, weil er wahrscheinlich schon unter
dem Horizont liegt. Die gerade Entfernung des Montblanc
vom Piz Languard beträgt nämlich weit über dreißig deutsche
Meilen, ebeuso die des Groß-Glockuer, der gleichfalls verge-
Kens gesucht wird.
Man wird es uns glauben, daß man viele Stunden, ver-
funken in schweigende Betrachtung dieser unendlich mannich-
faltigen uud imposanten Gebirgs- und Gletscherwelt znbrin-
gen kann. Das Bedürfniß nach Mittheilung ist ein gerin-
ges; selbst große Gefellschaften weilen hier oben lautlos, wie
iu andächtigem Schweigen. Das Gedonner einer drüben im
Bernina stürzenden Lawine stört die feierliche Stille nicht,
denn der gewaltige Laut paßt harmonisch in die gewaltige
Umgebung hinein.
Jmposaut wirkt auch die Farbenmonotonie, welche rund um
uusern Standpunkt herum herrscht. Rechnet man die kry-
stallgrüne Oberfläche einiger kleiner Gletscherseen dicht unter
dem Piz Langnard, die den größten Theil des Jahres hin-
durch zugefroren sind, nicht, so wird das Grau der Felseu,
das Weiß der Gletscher uud Schueefelder iu der ganzen Runde
nur an einer einzigen Stelle durch das Grün einer freund-
lichen Oafe unterbrochen. Das ist gerade gegen Westen, wo
man einen Theil des Innthals mit den von Wiesen und
Wald umkränzten Ortschaften Cresta, St. Moritz und Eam-
pfsr sanunt den dazwischenliegenden Seen, dem Statzer-
und St. Moritzer-See, erblickt. Diefe Dörflein sind auch
die einzigen Niederlassungen der Menschen, welche man vom
Langnard aus gewahrt, man müßte denn noch die Alphütte
im Val Prünas nördlich, dicht unter uns, hinzufügen wollen.
Daß Sonnenauf- und Untergänge, vom Langnard aus
gesehen, zu deu entzückendsten Schauspielen der Gebirgswelt
gehören müssen, läßt sich leicht annehmen. Vielleicht gewährt
eine nicht weit unter der Spitze des Kegels zu errichtende
Hütte, in der ein Heulager zu übernachten gestattet, in Bälde
52 Häusliches Leben der Moham
die Möglichkeit, sich dieser Naturgenüsse ohne allzn große
Strapazen und Entbehrungen zu erfreuen.
Der Rückwege vom Piz Languard stehen uns zwei zu
Gebote; der eine ist derselbe Weg, der uns empor geführt hat.
Aus ihm langen wir in etwa zwei Stunden wieder unten im
Thale an. Der zweite Weg geht vom Fuße des Trümmer-
kegels in südöstlicher Richtung über den Languard-Gletscher,
an dem fest zugefrorenen See unterhalb einer Kalkwand, die
den Namen la Pifcha führt, vorbei ins Val da fain (Heu-
thal) hinab. Dieses Thal, eine reiche, botanische Fundgrube,
mündet bei der Alp da Pontresina in die uns schon bekannte
Bernina-Straße, die uns dann in unser Standquartier zu-
rückbringt. Aufwärts führt das Val da fain unterhalb des
links emporragenden Piz della Stretta in das Livigno-Thal,
das bereits zn Italien gehört. Der eben erwähnte Rückweg
ist reich an Schönheiten, aber wegen der starken Zerklüftungen
des verhältnißmäßig nur kleinen Languard-Gletschers, die
oft mit frischgefallenem Schnee trügerisch überdeckt sind,
nicht ohne Lebensgefahr und jedenfalls nicht ohne Führer zu
wählen.
Seine förmliche Einweihung als Wallfahrts- und Aus-
fichtspuukt hat der Piz Languard am I.August 1856 mit einer
gewissen Feierlichkeit erhalten. An jenem Tage brachte eine
Anzahl von Einwohnern Pontresinas und Anderen eine eiserne
Haner zu Bagdad am Tigris.
Fahne, mit dem graubüudtner und dem schweizer Wappen
geziert, auf seine Spitze und pflanzte sie dort auf; eine
Orientirungstafel, an deren Pfosten in blecherner Büchse ein
Fremdenbuch ausbewahrt wird, kam als spätere Ausstattung
hinzu. _
Wir können unsere Schilderung des herrlichen Berges,
der Perle des graubündtner Gebirges, nicht besser schließen,
als mit der Ausühruug der kleinen Festrede, welche bei jener
Gelegenheit der Commandant Ladner von Jgis bei Chur,
ein Sommereinwohner von Pontresina, der sich um die ganze
Angelegenheit sehr verdient gemacht hatte, hielt. Er sprach
aus dieser Tribüne, wohl der eigenthümlichsten, auf der je
ein festliches Wort erklungen, etwa also:
„Dir, würdiger Greis, Piz Languard, bringen wir, Kin-
der des 19. Jahrhunderts, heut' einen zierlichen Bannerschmuck
dar. Empfange ihn als Auszeichnung vor deinen Brüdern,
als Belohnung für die großartige Aussicht, welche du ge-
währst. Trage ihn stolz und frei Jahrhunderte hindurch,
ein Symbol der unvergänglichen rhätifchen Freiheit. Nimm
jeden Besucher freundlich auf und entlaß ihn gefund und be-
geistert, damit er all das Herrliche, was er auf dieser Stelle
gesehen, weiter verkündigen möge. Dir und allen denen,
die dich heute grüßen und noch grüßen und ehren werden,
ein weithin schallendes Hoch!"
Häusliches Leben der Mohammedaner zu Bagdad am Tigris *).
i.
Behandlung der Kinder; Festlichkeiten nach der Geburt. — Mannbarerklärung, — Leben und Treiben der jungen Männer.
Der junge Türke alsTschapkyn, d. h. Taugenichts, und wie man ihn züchtigt.— Wie mit der Erziehung der Mädchen steht.
Nikiah; Berkauf der Töchter durch die Eltern. — Zeitweilige Ehen; Scheidungen; Polygamie.
Das häusliche Leben in Bagdad ist besonders im Som-
mer entsetzlich monoton und widerstrebt unseren Begriffen von
„ein Mensch zu sein". Bon öffentlichen Unterhaltungen ist
vollends gar keine Rede und innerhalb seiner vier Mauern
spielt der Bagdader die Hauptrollen des tragikomischen Schau-
spiels unseres Daseins. Die Geburt, die Hochzeit und der
Tod sind, wie überall, die hervorragenden Momente des Lebens,
denen man durch Ceremonien den größten Ausdruck zu geben
trachtet. Am einfachsten kommt der Mensch auf die Welt,
d. h. nur insofern darunter die Formalitäten, welche sich an
dies Ereiguiß knüpfen, verstanden werden. Die Hebamme
ist dabei die wichtigste Person, die sich ihre Mühe unendlich
höher houorireu läßt, als es bei uus zu Lande gesetzlich ge-
stattet ist. Kaum begrüßt der kleine Weltbürger die Erde,
so ist das erste, woran man denkt, die Sorge, ihn vor dem
Einfluß der Dämone, derDschin und der Gerüche zu schützen,
weshalb man an das Tuch, das man um seinen Kops schlingt,
einige Amulete in der Gestalt von Steinen, Kapseln mit
Koranversen n. s. w. befestigt. Unerläßlich ist ein Stück von
der Nabelschnur, welches das Kind, mindestens so lange es
saugt, beibehält. Es ist erstauueuswerth, mit welchen Zan-
bermassen ängstliche Mütter oft die Häupter ihrer Kleinen
beladen. Auf die Wöchnerin selbst nimmt man in Bagdad
*) Vom Verfasser der „Einblicke in den osmanischen
Orient", deren unsere Leser sich erinnern werden. Die Schilderung
beruht aus langjähriger Beobachtung, die unser Landsmann an Ort
und Stelle gemacht hat.
nicht viel Rücksicht, weil vielleicht ihr Zustand dort, Dank
der Unbekanntschast mit unseren Hysterie erzeugenden Corsets,
selten gefährlich ist. Die glückliche Mutter geht gewöhnlich
am dritten Tage schon wieder an ihre- häuslichen Geschäfte.
Eine Mnfikbande — Lärmmacher, die von Harmonie und
Noten keine Ahnung haben — hat ihre Späher in der gan-
zen Stadt vertheilt, und kaum wittert sie irgendwo eine Nie-
derkunst, so stürmt sie förmlich das Haus, dringt in den Hof
ein und beginnt nun, kraft der Sitte, ein gräßliches Concert
auf urwüchsigen Instrumenten, unter denen die große Pauke
stets eine hervorragende Rolle spielt. Nach einem angemes-
senen Geschenke ziehen sich diese Specnlanten zurück und machen
nun den Bettelleuten und Gratulanten Platz. Die Hebamme
erhält von Wohlhabenden meist ein Honorar von 50 bis 100
Gulden, begnügt sich aber damit keineswegs, sondern erhebt
jedesmal einen Tribut, wenn das Kind zu zahnen, zu gehen
und zu sprechen ansängt. In den Krankheiten, denen es
unterworfen ist, wird nur sie consultirt und verordnet ge-
wöhnlich ein aus bitteren und adstringireuden Ingredienzien
zusammengesetztes Universalpulver. Bei reichen Leuten wird
die Hebamme für die kleinsten Dienste mit Geschenken über-
häuft, und ihr Gewerbe ist, wenn sie Ruf hat, ein sehr ein-
trägliches, so daß sie bald ein Vermögen sammelt. Ein Arzt
dagegen, wenn er auch noch so geschickt wäre und von seiner
Praxis allein leben wollte, könnte froh sein, wenn er, als
ihr Famulus von ihr protegirt, Gelegenheit hätte, das trockne
Brot zu verdienen. Und warum sollte man auch nicht die
Profefsionisten, welche den Menschen in die Welt Helsen, bes-
Häusliches Leben der Mohamr
ser honoriren als diejenigen, welche ihn mit ihren Droguen
hinauskUnsteln!
Das Kind wird die ersten sechs Wochen hindurch, die
Arme am Leibe, fest eingewickelt und macht so sein erstes
irdisches Mürtyrthum durch; seine Wiege schwebt zwischen
zwei zweibeinigen Pfosten an einem beweglichen Verbinduugs-
holze ziemlich nahe Uber dem Boden. Am Tage im Sommer
und ans der Reise bereitet ihm die Mutter gern eine Hänge-
matte aus zwei parallelen Stricken, um die lose ein Tuch
geschlagen wird. Um die Stricke aus einander zu halten
und gleichzeitig das Tuch, wenn das Kind darin ruht, fest-
zuklemmen, dienen zwei Hölzer an den Enden. Fängt das
Kind zu laufen an, so befestigt man an seinen Fußgelenken
silberne Spangen mit Schellen, welche nicht nur als Schmuck
dienen, sondern auch Nachricht geben, wo sich das kleine hülss-
bedürftige Wesen nach einem unbewachten Augenblicke besin-
det. Werden die Sprößlinge größer, dann erhalten sie Spiel-
zeug, doch niemals Puppen. Das verstößt gegen den Koran.
Eine Bagdader Frau erblickt überdies iu jeder Puppe eiu Ge-
spenst, das sich unversehens beleben und ihrem Kinde Scha-
den zufügen könnte. Nichtsdestoweniger folgen die Mädchen,
so gut wie bei uns, der Stimme der Natur und warten statt
der Puppen Kissen und Klötze. — Die Spiele der Knaben
sind sehr oft mit denen der unseren identisch nnd wiederholen
sich in gewissen Jahreszeiten. Der kleine Araber spielt mit
dem Balle, schlägt den Reifen, dreht den Kreisel und läßt
den Drachen steigen. Das letztere ist gegen das Ende des
Sommers sehr beliebt, und eine Hauptsreude besteht darin,
Nachts eine Papierlaterne an der Schnur aufsteigen zu las-
sen, so daß man glaubt, es stände ein neues Gestirn am
Himmel.
Eine wichtige Zeit für den jungen Mufelmauu ist die
Beschneidung, welche indeß sehr wenig von den unter den
Türken maßgebenden Gebräuchen verschieden ist. Festlichkeit
herrscht mehrere Tage vorher in dem Hause der Eltern, und
die Reichen halten sogar während dieser Zeit freie Küche nnd
fetiren, wer immer kommen will, Reich und Arm, mit den
Nationalgerichten.- dem Pilau und dem Dolma (mit Reis,
gehacktem Hammelfleisch nnd Zwiebeln gestillte Gurken). Da
bewegt sich die Bettlerin neben der von Edelsteinen uud Schöu-
heit strahlenden Dame und ißt und schlürft Süßigkeiten nach
Herzenslust; die Männer unterdessen vergnügen sich in dem
Selamlik an einem substantiellen Sijafet (Gastmahl), wo-
nach es dann zu einigen Gläschen zu viel des berauschenden
Dattelarräks kommt. Der junge Gläubige, der gewöhnlich
zu der ganzen Herrlichkeit ein halb dummes, halb ängstliches
Gesicht macht, wird von seiner Mutter und ihren Verwand-
ten und Zofen mit Schmeicheleien und Leckerbissen überhäuft,
von den Männern und seinem Chodscha (Lehrer) dagegen zu
dem Ehrgeiz aufgeregt, muthig in die Reihe der Moslim
zu treten. Naht endlich die verhängnißvolle Stunde, so wird
zuerst, wie das bei allen feierlichen häuslichen Gelegenheiten
Sitte ist, ein öffentlicher Umzug durch die Stadt gehalten.
Gewöhnlich statten Wohlhabende mehrere arme Knaben, welche
an der Ceremonie theilnehmen, mit neuen Anzügen aus; der
Sohn des Hanfes aber starrt, wie das prächtige Paradepferd,
auf dem er, von einem Reitknecht am Zügel langsam ge-
l^hrt, sitzt, von Gold und Geschmeide. Hinter dem vornehm-
sten, der Stellung seines Vaters nach, reihen sich die übrigen;
unmittelbar vor dem Zuge schreiten gewöhnlich mit dumm
gravitätischer!, aristokratische Faulheit zur Schau tragenden
Plenen die schwarzen Euuucheu in reicher Tracht; ganz an
der spitze marschirt eine Musikbande, worunter immer ein
paar lärmmachende Paukenschläger und Querpfeifer zu ver-
stehen sind; hinten folgen die Verwandten und dann, mit
Ausnahme der Reitknechte, welche bei den Pferden bleiben,
?daner zu Bagdad am Tigris. 53
die übrigen disponiblen Diener. In dieser Weise bewegt
sich die Processi»» durch alle Hauptstraße» der Stadt, gefolgt
vou einem schreienden Schwarme bewundernder Gassenjungen.
Endlich erscheint der blutige Moment selbst und die jnngen
Opfer werden dann meist in dem Vorhof der Moschee von
einem mit den betreffenden chirurgischen Kenntnissen ausge-
rüsteten Jmam mittelst eines scharfen Rafirmessers in die
Gemeinschaft der Rechtgläubigen aufgenommen. Dann ist
für den hoffnungsvollen Dulder natürlich Tanz und Spiel
vorbei, aber unl so wilder amüsiren sich feine erwachsenen
Freunde und Verwandten. Zuweilen läuft die fromme Pro-
cedur, wenn sie namentlich bei Erwachsenen vorgenommen
wird, übel ab, nnd der Eine oder Andere muß seinen Glau-
beu mit dem Leben bezahlen. Auch die Mädchen in Bagdad
unterliegen einer Circnmcision.
Für den Knaben beginnt nach der Operation ein neues
Dasein; er geht aus den zarten Händen der Weiber in die
rauheren seines Geschlechtes über. Aus dem Harem wird
er verbannt. Um ein Geschäft zu lernen und daheim nicht
lästig zu fallen, giebt ihn der Vater zu einem Meister in die
Lehre. Bei ihm pflückt er, wie ich oft Zeuge gewesen, eben-
sowenig Rosen, wie der Schusterjunge des liebeu Deutschlands
im Dienst des Herrn Knieriem und Gattin. So der Ära-
ber und der Christ. Der junge Türke lernt nichts und be-
stimmt sich, wenn er kriegerische Jnstincte an sich wahrnimmt,
zmnHeiter (irregulären Landreiter) oder wird im entgegen-
gesetzten Fall Tabackshäudler oder Gewürzkrämer. Daß der
Jude nur schachere, wäre eine ungerechte Behauptung, denn
er treibt, wie schon früher erwähnt, einige nicht mit großen
körperlichen Anstrengungen verbundene Handwerke. Der
Wohlhabende, der auf Weisheit speculirt, setzt seine Koran-
studieu unter der Anleitung eines unwissenden Chodschas fort
oder bewirbt sich um eine Staatsanstellung, die ihm auch
durch den Einfluß seiner Eltern, ohne alle Kenntnisse, zu Theil
wird. Die Jahre, ehe er Manns genug ist, fein für ihn auf-
gewärmtes Amt anzutreten, verbringt er im süßen Nichts-
thun mit Spielen auf deu Gasseu, wobei er dem: sehr bald
in ruchlose Flegeleieu verfällt, welche selbst unserer lieben
Jugend nicht so leicht in den Sinn kommen. Endlich schließt
er sich gar an die Domestiken an, zu denen er aus Furcht
vor Entehrung der Sklavinnen seines Vaters verwiesen wird,
und läßt sich von diesem niedrigen Gesindel zum vollkom-
menen Tschapkyn erziehen. Tsch apkyn bedeutet im Türkischen
einen Taugenichts int engern Sinne, der müßig geht, sich zeit-
weilig betrinkt und alle erdenklichen Lüderlichkeiten und dann
auch Verbrechen begeht. Von diesen Tschapkyns wimmelt es
in allen türkischen Städten; sie zeichnen sich vor unseren juu-
gen Tagedieben durch eine noch viel brutalere Sinnlichkeit
aus. Bagdad ist namentlich eine sehr entsittlichte Stadt und
ihre türkische Bevölkerung nimmt in Trunksucht und unnatür-
Itcher Lust unstreitig die erste Stelle ein. Kleinigkeiten hei-
ßen öffentliche Rohheiten, auf die in jedem geordneten Staate
die härtesten Strafen stehen. In der Familie geht es nicht
besser: die Frau und Schwester sind Wesen niederer Ord-
nnng, und ein Vater klatscht Beisall und ruft „Aferin! Afe-
riit!", wenn sein dreizehnjähriger Sohn die eigene Mutter
prügelt. „Hat ein Weib auch Verstand?" ist ein beliebtes
auch unter der orientalischen Jugend gäng und gäbes Sprich-
wort. Keiu Wunder, daß eine derartige, nicht nur vernach-
lässigte, sondern unnatürliche und bestialische Erziehung einen
Kern von teuflischen Fanatikern heranbildet, an denen alle
Eivilisationsversuche scheitern müssen und welche stets zu Mord-
scenen, wie sie in Damaskus sich ereignet, aufgelegt sind.
Aus dem Stande der Tschapkyn sind fast sämmtliche
höheren türkischen Beamten hervorgegangen und recrutireu
sich beständig daraus. Der eigentliche Araber ist nüchtern,
54 Häusliches Leben der Moham
fleißig und intelligent, und uur durch die unaufhörliche tür-
tische Bedrückung so heruntergekommen, wie man ihn in den
Städten und auf den Dörfern, wo die tnranischen Zwangs-
Herren gebieten,, antrifft. Unter den unabhängigen Stäm-
men hat sich noch, abgesehen von den barbarischen Natur-
instincten, die alte Sitteneinfalt erhalten. Während unter
den Moslim der Tschapkyn gefürchtet und bewundert dasteht
und auf den ersten Sprossen der Leiter zum Großvezier oder
zuweilen auch zum Galgen paradirt, suchen die Christen Bag-
dads seinem für sie unfruchtbaren Aufkommen in ihrer Mitte
entgegenzutreten, Das Verfahren zur Ausrottung des Un-
krautes ist summarisch. Ist es erwiesen, daß ein Tange-
nichts von Sohn seine Familie anhaltend durch Trunk und
lüderlichen Umgang entehrt, haben alle Ermahnungen der
Eltern und des Geistlichen nichts gefruchtet und das Uebel
greift sichtbar um sich, so versammeln sich die Verwandten
des Unverbesserlichen und constituiren sich in geheimer Sitzung
zum Tribunal. Der noch arglose junge Sünder wird vor-
geführt und der Vater oder Onkel bringt ihm dauu die Reihe
seiner Fehltritte nnd Uuthaten in das Gedächtniß und schließt
endlich mit der Bemerkung, daß nunmehr der Moment der
Ahndung hereingebrochen sei. Dann werfen sich die Execn-
toreu über den Tschapkyn, der oft über zwanzig Jahre alt
ist, her, binden ihn nnd bläuen ihn dann mit Stöcken un-
nachsichtlich so lange durch, bis er um Guade und Erbarmen
schreit und Nene und einen bessern Lebenswandel gelobt.
Die Erziehung des Mädchens beschränkt sich ans den ele-
mentaren Schulunterricht, der bei den fähigeren Köpfen hin-
reicht, einen Begriff von Lesen, Schreiben und Rechnen zu
erwecken. Nur die wenigsten indeß machen sich wirklich mit
den Geheimnissen des Alphabets vertraut. Und was würde
ihnen das nützen? Den Werth des Weibes schätzt man neben
der Ausstattung weit mehr nach dem Gewicht, als nach den
geistigen Fähigkeiten uud den Kenntnissen. Dazu kommt
noch, daß die Reife des weiblichen Geschlechts in jenen Kli-
maten oft erstaunlich früh, ja manchmal fchon mit dem neun-
ten Jahre eintritt, dann aber hört selbstverständlich die Ge-
lehrsamkeit auf. Die junge Bibi wird nunmehr ausschließ-
lich von ihrer würdigen Mutter zu einer Zierde des Harems
erzogen. Es wäre fehr uuauständig und thöricht, wollte sie
sich in die häuslichen Angelegenheiten mischen und ihrer Er-
zeugeriu hülfreiche Hand leisten. Sie könnte sich darüber
die zarte Haut der Finger verderben oder wäre gar im Stande,
an Gewicht abzunehmen. Um eine möglichst große Zunahme
des letztern zu erzielen, wird sie von ihren Verwandten er-
mahnt und angehalten, die schwellenden Kissen der Ottoma-
nen nur im äußersten Nothsall zu verlassen, dagegen dringt
man ihr recht viel Pillas und Süßigkeiten auf uud erhält sie
bei guter Laune, indem man ihr in Aussicht stellt, ein reicher
alter Rechtgläubiger werde geruhen, sie mit seinem Antrag
zu beehren. Sind glücklicherweise ihre Eltern wohlhabend
genug, um uicht mit den Reizen der Töchter glücklich zu spe-
culireu, so blüht ihr schon ein angenehmeres Loos und sie
braucht sich nicht für den Hochzeitsmarkt ausfüttern zu lassen.
Die ärmeren Leute verkaufen meist unter dem euphemistischen
Namen des „Nikiah" ihre Töchter und erwarten die Kun-
den. Alte Weiber machen es sich zur Aufgabe, für reiche
Wüstlinge nach schönen Mädchen spürend in den Häusern
umzugehen. Haben sie für ihren Gönner ein Prachtexemplar
gefunden, so wird der Handel unter dem sehr nichtigen Vor-
edaner zu Bagdad am Tigris.
wände einer Heirath eingeleitet. Der brave Mann, der ge-
gen ein Doncenr von einigen tausend Piastern die gesetzliche
Verbindung mit der dreizehnjährigen Schönheit wünscht, war
vielleicht schon der glücklich Geschiedene von zwanzig Gemah-
linnen und besitzt nebst einigen Sklavinnen noch drei andere
legitime Fractionen seines Ichs.
Die Religion erleichtert die Trennung der Ehe so unge-
mein, daß es nur der Erklärung des Mannes vor dem Kadi
und die Entrichtung des vorher festgefetzten Entschädignngs-
geldes bedarf, um die ihm überdrüssig gewordene Frau ihrem
Schicksale zu überlassen. Die Schia sind darin noch leicht-
fertiger als die Sunniten. Ein Bekenner Aali's verheirathet
sich sehr häufig nur contractlich für eine gewisse vorher fest-
gesetzte Zeit; ja, ehrsame Wittwen, die das dringende Be-
dürfniß fühlen, dnrch eine Pilgerfahrt nach Mekka oder Ker-
bela ihrer gepreßten Seele Luft zu machen, gehen, um Scan-
dal zu vermeiden und in der Bedienung nicht gehindert zu
sein, mit einem beliebigen gemietheteu Führer nur für die
Dauer der Reise ein Ehebündniß ein, welches indeß fehr häufig
nicht einmal praktisch zum Vollzuge kommt. In den öffent-
lichen Häusern Persiens gar ist der ehrbare Unternehmer des
Geschäftes gemeinlich ein Jmam (Priester), welcher seine
Kunden am Abend mit den Damen ihrer Wahl ganz nach
dem Ritus traut und contractlich die Entschädigungssumme
festsetzt; am folgenden Morgen sodann trägt der Gatte weniger
Stunden anf Ehescheidung an, und die Verbindung wird nun
wieder gesetzlich nach Zahlung der bedingten Caution von dem
Jmam gelöst.
Daß unter solchen Umständen die allgemeine Sittlichkeit
nicht gehoben wird, sondern vielmehr eine ungeheuere Demo-
ralisation immer mehr Platz greift, ist sehr erklärlich und
damit auch der Zustand unheilbaren Verfalls, an dem die
Türkei und Persien leiden. Die Polygamie, wenn sie gewisse
Grenzen nicht überschreitet und in Anbetracht der klimatischen
Verhältnisse sich aus drei Weiber beschränkt, ist an sich keine
so durchaus verdammenswerthe Institution, doch nur falls
ihre Absicht erreicht wird: die Debauche aus der Familie zu
eutferueu uud deu vielen heirathssähigen schönen Mädchen,
welche, wie ja in Europa, so oft sitzen bleiben müssen, Ge-
legenheit zu bieten, dem Beruf, deu die Natur in sie gelegt, zu
folgen. Diese Gründe wiegen um so schwerer in der Wagschale
der Vernunft, als die sinnlichen Orientalinnen sich nicht mit
Theeklatschen, Versedrechseln, Romanschreiben, Clavierklim-
pern und Betkränzchen ästhetisch über den Mangel eines Gatten
und der Lust Mutter zu werden trösten können noch wollen.
Willigen sie nun gar selbst ein, in schwesterlicher Berträg-
lichkeit mit den anderen beiden Frauen zu leben, so kann man
weder ihnen noch ihrem Manne, vom muselmännischen Stand-
pnnkt aus, einen Vorwurf machen. Die Maitreffen, welche
die christlichen reichen Leute neben ihren Familien ansznhalten
Pflegen, sind jedenfalls noch viel unsittlicher, Allein das Demo-
ralisirende bei der Sache ist eben die höchst niedrige BeHand-
lnng, welcher diese Weiber von Seiten ihres Mannes aus-
gesetzt bleiben, wenn ihnen nicht die Geburt eines Sohnes
Rechte auf seiue Achtung erwirbt. Die Mutter allein wird
durch das Gesetz um ihres Kindes willen geschützt und hat
wenigstens Alimentationsrechte. Eine Unfruchtbare steht bei
den Orientalen in keinem größern Ansehen, als eine öffent-
liche Dirne und wird selbst von ihren Mitgenossinnen ge-
ringschätzig behandelt.
Robert Schomburgk: Am Hofe des Königs Mongkut zu Bangkok in Siam.
55
Am Hose des Königs Mongkut zu Bangkok in Siam.
Von Robert Schomburgk.
II.
Die Cerenionie des Haarabschneidens bei einer Prinzessin. — Hochzeitsfeierlichkeitett.
Ein anderes Mal war Schomburgk Zeuge der Feierlich-
fett, welche die Haarabschneidung einer jungen Prinzessin be-
gleitete, womit uach siamesischer Sitte die Einführung der
jungen Dame in die Gesellschaft stattfindet. Der eigentliche
Name dieserCeremonie ist Kone-Chook. Ihre Entstehung
wird folgendermaßen erzählt: Ein Bramme hatte einen
kleinen todkranken Sohn; die Aerzte erklärten, daß er nach
sieben Tagen ein Raub der Mks (bösen Geister) sein würde.
In seiner Angst befragte der arme Vater einen berühmten
Buddhistenpriester um seinen Rath. Derselbe verordnete
verschiedene geistliche Uebungen, welche in dem Krankenzimmer
Tag und Nacht vorgenommen werden sollten, dabei sollte
man dein Kinde das Haar, welches seit seiner Geburt uoch
nicht abgeschuitteu worden, vollständig abscheeren. Die Vor-
schristen wurden pünktlich befolgt, das Kind genas — nnd
die als heilsam gepriesene Cur wurde fortan bei gefährlichen
Krankheiten der Kinder überall angewandt. Später ließ
Ulan vorsichtshalber bei allen Kindern einen Haarbüschel auf
dem Scheitel bis zu ihrem 9., It., 13., 15. oder 17. Jahre
stehen, kürzere oder längere Zeit, je nach ihrer körperlichen
Steife, und verband mit der dann erfolgenden Haarabschnei-
duug eine religiöse Ceremonie, durch welche die bösen Geister
mehr nnd mehr die Macht über die Kinder verlieren sollen.
Alle Siamesen, denn auch die Pegnaner uud die Cambod-
jauer, legen sehr großes Gewicht auf Erhaltung uud rechtzei-
tige Abschneidung der Scheitellocke, sie fürchten, daß ihre
Kinder sonst dem Wahnsinn versallen müßten. Die An-
Hänger der neuen buddhistischen Schule, deren Protector der
jetzige König ist, gestatten die Sache nur als einen durch das
Alter geheiligten Gebrauch und benutzen diese Gelegenheit,
ihren Kindern ein Fest zu veranstalten und sie mit reichen
Geschenken zu erfreuen. — Die Kinder tragen bis zn diesem
Zeitpunkte das auf einem Fleck von etwa Thalergröße ge-
schonte Scheitelhaar glatt und nett aufgerollt und von einer
goldenen Nadel gehalten, es gilt für sehr schön, wenn der
Scheitelknoten annähernd Pagodenform bildet. Der übrige
Theil des Kopfes wird vorzugsweise bei deu besseren Classen
kurz geschoren und sehr reinlich gehalten.
Das Fest der Haarabschneidung der kleinen elfjährigen
Prinzessin Somawatz, Schombnrgk's besonderin Liebling,
wurde sehr großartig gefeiert. Nachdem zwei Tage lang die
üblichen Andachtsübungen Seitens der Priesterschaft stattge-
sundeu, welche vorher mit Festmahlzeiten und reichen Ge-
schenken bedacht worden, fand am Morgen des dritten Tages
in Gegenwart aller Prinzen, Edelleute uud hohen Beamten
die Ceremonie der Haarabschneidung in dem Salon des Kö-
'"gs statt, wobei der König selbst dem Haarabschneider die
richte, während Muschelbläser, Trompeter, Pseiser
und Frömmler eiue wahrhaft betäubende Musik machten.
es Kindes Kopf wurde vollständig bis auf die Augenbrauen
geschoren. Daraus wurde ein Tragsessel für die kleine Prin-
zesstn gebracht, welchen sie in reich verziertem Anzüge ein-
nahm. Amazonen und Mädchen des Harems stellten sich
zu beiden Seiten des Thrones der kleinen Hoheit aus und
ein ehrwürdiger Bonze badete ihr Haupt mit heiligem Was-
ser. Darauf abermalige Speisung der Priester. Nach dem
Zurückziehen derselben allgemeines Festmahl, wobei kleine
Teller mit den verschiedensten Speisen auf deu Fußboden zu
Füßen der in verschiedenen Gruppen auf Polstern und Tep-
pichen sich lagernden Gesellschaft gestellt wurden.
Nach Beendigung des Mahles wurden zwei große Stan-
darten gebracht — Baifee genannt —, deren Einrichtung
dem früher erwähnten königlichen Regenschirm ähnlich ist. Sie
sind ungefähr fünf Fuß hoch uud haben fünf Abtheilungen.
Der Stiel ist in einem Fußgestell vou Weidenholz befestigt,
leicht und tragbar. Die verschiedenen Fächer der Baisve siud
von Pisangblättern gemacht, mit Silber- und Goldpapier
ausgeschmückt. Jede Abtheilung ist u?it einem tief ansge-
zackten Rande umgeben und hat einen flachen Bodeneinsatz
wie eiue gewöhnliche Zinnpfanne. Auf dieseu Einsätzen be-
finden sich nun: gekochter Reis (k'ow-k'wan genannt), eine
Menge kleiner Kuchen, wohlriechendes Oel, duftende Blumen,
junge Kokosnüsse und Pisangfrüchte. Andere Geschenke mau-
cherlei Art werden gebracht und rund herumgelegt, das Ganze
krönt ein herrliches Blumeubouqnet. Zwischen diese zwei
Standarten wnrde nun das königliche Kind mit seinem Thron-
sessel gesetzt. Darauf bildete sich eiue Processiou, woran der
ganze Hof Theil nahm. Die Garde der Amazonen in neuen
Uniformen, einige scharlach, andere dunkelblau, eröffneten den
Zug; diesen solgte eine Anzahl junger Mädchen, Töchter-
siamesischer Edelleute, und junge Damen aus dem Harem
des Königs mit ihren Kammerfrauen, dann kamen Töchter
der Vornehmen aus deu Provinzen von Laos uud aus Cam-
bodja, und etwa 400 bis 500 Siamesinneu (gerade nicht
alle deill jugendlichen Alter angehörend) beschlossen den Zug.
Drei goldene Armleuchter mit dicken brennenden Wachskerzen
gingen bei der Procession von Hand zu Hand und wurden
vor der Prinzessin geschwenkt, damit der Rauch ihr Augesicht
träfe, was den Einfluß der ihr gespendeten Segenswünsche
erhöhen sollte. Bei dieser Gelegenheit, wo es sich um ein
Königskind handelte, fanden neun Umgehungen um die
Standarten statt, für andere Kinder läßt man es mit fünf
Rundgängen genug sein.
Die Feier schloß mit Einsegnung der Prinzessin durch einen
alten Brammen; derselbe nahm ein wenig von dem Reis
der mit etwas Kokosmilch angefeuchteten Baisse und schob
es dem Kinde in den Mund; dann tauchte er seinen Finger
in das Oel, berührte die wohlriechenden Blumen und bestrich
damit den Fuß der Prinzessin an drei Stellen. Anderen
Kindern wird das heilige Oel ans die Stirn gestrichen, aber
das Haupt des Königskiudes ist für solche Berührung zu
heilig. Ein gelehrter Buddhistenpriester sprach zum Schluß
den Segen. Bei einem Knaben wird sein k'wan, das ist
der Geist der Tapferkeit und des Mnthes, angerufen, in sei-
ner Brust Wohnung zn machen, damit er ein Maim werde,
der ohne Furcht durch diese Welt des Kampfes und der An-
sechtullg schreite.
Nach Beendigung der Feier wurden Geschenke in Gold
56
Robert Schomburgk: Am Hofe des Königs Mongkut zu Bangkok in Sinm.
und Silber zu den Füßen der Prinzessin niedergelegt. Jedes
Familienglied des königlichen Hauses, jeder Edelmann, jeder
Beamte bis zu dem niedrigsten Grade dars es nicht unter-
lassen, seine Ehrerbietung in solcher Weise zu bezeigen. Die
bei solcher Gelegenheit dargebrachten Gaben erreichen Beträge
von 20 bis 640 Picals, je nach dem Ansehen und der Wohl-
habenheit des Gebers. Der jetzige König hat beschlossen, die
bei der Haarabschneiduug seiner Kinder besonders für die
entfernt wohnenden Beamten außerordentlich bedeutenden Un-
kosten ihnen in anderer Weise zurückzuerstatten. Er hat
verordnet, daß ihm jedes Mal eine genaue Rechnung ihrer
Auslagen eingereicht werde, welche bei Auszahlung des Ge-
Haltes mit berichtigt werden sollen.
Von den Hochzeitsfeierlichkeiten der Siamesen lie-
gen uns charakteristische Schilderungen vor. Wenn ein Jüng-
ling dieses Landes zur Ehe schreiten will, so wird zuerst eine
mas-su, d. i. ein ältliches Frauenzimmer, welches von den
Eltern der Erwählten gekannt uud wohlgeachtet ist, als Frei-
werberin abgesandt. Wenn diese den Weg eröffnet und er-
fahren, daß keine unübersteigliche Hindernisse der beabsichtig-
ten Verbindung im Wege stehen, so wird eine Versammlung
der männlichen und weiblichen Verwandtschaft des jungen
Mannes in das Elternhaus gebeten und mit diesen die Sache
nach allen Seiten erwogen. Erfolgt ihre Zustimmung, so
wird nach Befragung astrologischer Zeichen ein Tag ansge-
wählt, an welchem die Aeltesten der Familie die Eltern der
Brant besuchen. Sie werden höflich empfangen, mit Betel-
nuß, Seriblatt, Kalk und Taback auf Präsentirtellern von
Tomback oder Gold bewirthet, und darauf wird in folgender
Weife die Verhandlung eröffnet:
„Herr und Frau N. haben geglaubt, daß heute ein gün-
stiger Tag für das Geschäft fein würde, welches wir vor-
haben. Sie haben uns beauftragt, mit Euch in Betreff ihres
Sohnes zu berathen, welcher noch keine Frau hat. Sie wüu-
scheu, daß er eine Familie gründe und haben ihn deshalb
gefragt: kennst Du eine Person, welche Du gern zum Weibe
haben möchtest, und welcher Du Dich in Krankheit anver-
trauen möchtest und Deine Leichenfeierlichkeiten nach dem Tode ?
Der junge Manu hat geantwortet, daß er Eure Tochter im
Auge habe als eine folche, der er sich glücklich schätzen würde
sich anzuvertrauen in Krankheit und im Tode. Seine El-
tern haben uns darauf beauftragt, Euch, die hochverehrten
Eltern diefes jungen Mädchens, zu besuchen und Euch zu
bitten, Worte des Segens zu sprechen. Was hast Du, Va-
ter, und was hast Du, Mutter, zu sagen über diesen Gegen-
stand?" Die Eltern antworten: „Wir lieben unsere Toch-
ter sehr, und der Sohn der sehr geehrten Eltern, von welchen
Ihr kommt, ist ebenfalls ein fehr geliebtes Kind. Ein altes
Sprüchwort fagt: Gehe langsam und Du wirst Dein Ziel
sicher erreichen, und eine verlängerte Bemühung wird eben-
falls guten Erfolg haben. Darum wollen wir erst Rath
halten mit unseren Verwandten zur rechten und zur linken
Hand und hören, was sie auf Euren Vorschlag sagen, und
dann wollen wir unsere Antwort geben." Nach einiger Zeit
erkundigt sich die Gesandtschaft, ob die Verwandten der Braut
der Verbindung geneigt feien? Wenn die Eltern den An-
trag für günstig halten, fo lautet ihre Antwort: „Wir haben
mit unseren Aeltesten Rath gehalten und finden sie einig in
der Meinung, daß, wenn der junge Mann aufrichtig fühlt,
er könne unserer Tochter seine Person in Krankheit und im
Tode anvertrauen, dieses Vertrauen gepflegt werden folle,
daß es möge wachsen und blühen. Aber wie steht es mit
dem Alter beider Theile? Siud ihre Geburtsjahre und Ge-
bnrtstage in den Wochen und in den Monaten, welche zu
einander passen?" (Diese Frage bezieht sich aus den Aber-
glauben, daß Personen, in gewissen Jahren geboren, nnmög-
lich mit einander leben können *). Unverträglich sind z. B.
das Jahr der Ratte und das Jahr des Hundes, — das Jahr
der Kuh und das des Tigers, — oder des Hahns und Huu-
des, — oder des Hundes und Affen, — jedes dieser Paare
wird als unvereinbar angesehen. Wenn also ein Ehemann
in dem einen dieser Jahre geboren wäre und die Frau in
dem andern, so würden sie naturgemäß mit einander streiten,
einander beißen oder gar verzehren! Nachdem die Eltern,
um solches Unheil zu verhüten, die Geburtstage und Ge-
bnrtsjahre beider Theile erkundet, begeben sie sich zu einem
Weissager und erfragen, ob die betreffenden Jahrgänge der
jungen Leute ihnen gestatten werden, glücklich mit einander
zu leben? Fällt die Antwort bejahend aus, so gilt es, bei
der nächsten Verhandlung die Mitgift des Brautpaars zu
bestimmen. Iiis P'oon bezeichnet die Geldsumme, welche
von den Eltern zur Errichtung eines Geschäfts, the Sin-
sawt diejenige, welche zum Bau eines Wohnhauses für das
junge Paar bewilligt wird. Die Eltern der Braut erklären:
„Wir sind keineswegs so wohlhabend, daß wir einen sehr
großen Betrag zu diesem Zwecke verwenden könnten; aber
erlaubt uns zu fragen, wie viel werden die Eltern des jnn-
gen Mannes ihrem Sohne zur Aussteuer geben?" Die
Aeltesten antworten: „Was dies betrifft, so wird es ganz-
lich Euch überlassen zu sagen, was Ihr angemessen findet."
Darauf Jene: „So schlagen wir vor, daß sie zum Bau
einer Wohnung die Summe von 80 Picals und zur Anlage
des Geschäfts 800 Picals bewilligen. Das Haus wird von
Holz gemacht, mit drei Räumen uuter einem Dache. Und
dazu müssen sie sich verpflichten, Betel und Kuchen und 100
Präfentirteller zur Hochzeit zu geben. Werden sie willig zu
diesem Allen sein?" Die Aeltesten erwiedern: „Wir ver-
abschieden uns, um diesen Vorschlag den Eltern des jungen
Mannes zu überbringen und ihre Meinung zu erfahren. Aber
wir bitten Euch, uns zu erlauben, nach der Mitgift der
määch'im (der Braut) zu fragen?" — „Wenn die verehr-
*) Die Siamesen haben zwei Cyclen, einen innerhalb des andern.
Der größere umfaßt 12 Jahre, der kleinere 10. Der Name des er-
sten ist Pee, des zweiten Sok. Jedes Jahr hat seinen besondern
Namen.
Die 12 Jahre des ersten Cyclns heißen:
1. Pee Ch'ööät Jahr der Ratte.
2. Pee Ch'älöö — „ der Kuh.
3. Pee K'än — „ des Tigers.
4. Pee T'aw „ des Kaninchens.
5 Pee Märang = „ des großen Drachen.
6. Pee Mäsing = „ des kleinen Drachen.
7. Pee Mämeeä „ des Pferdes.
8. Pee Mämaa — „ der Ziege.
9. Pee Wäwk — „ des Affen.
10. Pee Räka — „ des Hahnes.
11. Pee Chaw — „ des Hundes.
12. Pee Köön — „ des Schweines.
Die Jahre des zweiten Cyclns beißen:
Ekä sok = 1. Jahr des Cyclns.
T'o sok = 2. » „ „
Treeni sok 3. „ „ „
Chättäwa sok — 4. „ „ „
Benga sok = 5. 6. ,, „
Ch'äw sok „ „ „
Sapp'ä sok = 7. „ „ „
Htt'ä sok := 8. >, ,, ,,
Nöpp'ä sok 9. « „ ,,
Sämratt'i sok 10. „ „ „
Indem sie ihre Jahreszahl schreiben, fügen sie den Namen eines
jeden Cyclus hinzu, z. B. (Januar 1864) heißt 1225 Pee Köön
Bens;ä sok.
Die heilige Aera der Siamesen wird von dem Todesjahre Buddha's
an gerechnet. Das sind 2407 Jahre im Vollmond des Mai (1864).
Diese Aera Vnddha's heißt P'ööt'ä Säkkärät.
Ihre bürgerliche Aera «kleine Aera — Chöölä Säkkärat) wird von
der Thronbesteigung eines ihrer mächtigsten Könige, Prä
an gerechnet — 1224 (der 20. März 1863).
Robert Schomburgk: Am Hofe des
lichen Eltern des jungen Mannes thnn wollen, wie wir vor-
geschlagen, so wollen wir unserer Tochter 800 Picals niit-
geben, dazu 2 bis 3 Sklaven."
Wenn alle diese Bedingungen zugestanden worden, wird
die Betelschüssel bereitet, genannt Betel der Unterhaltung,
durch welche feierliche Einladung dem Bräutigam Gelegen-
heit zur freieru Unterhaltung mit seiner Braut zugestanden
wird. Dabei bezeigt er den Eltern seine Ehrerbietung, in-
dem er vor ihnen niederkniet, beide Hände vor dem Angesicht
und das Haupt tief auf den Boden niedergebeugt.
Von dieser Zeit an ist der Bräutigam beschäftigt, in Ge-
meinschaft mit dem Schwiegervater Bauholz zu dem beab-
sichtigten Hause aufzusuchen. Gewöhnlich wird das Haus
des jungen Paares neben der Werkstätte des Vaters der Braut
errichtet. Nach Vollendung des Baues werden die Wahr-
fager um den glücklichsten Tag befragt, an welchem die Hoch-
zeit stattfinden kann. Hierauf erfolgen Einladungen an Ver-
wandte und Nachbaren, die Einrichtung des neuen Hauses
vervollständigen zu helfen. Eine Musikbande voran begiebt
sich die Procession zn Lande oder zu Wasser mit den Ans-
stattnngsgegenständen, den Hochzeitsknchen, den Betelnnßtel-
lern und zwei weißen Anzügen als Geschenke für die Eltern
der Braut vor die Wohnung derselben, wo in Gegenwart
der Versammlung die besprochene Aussteuer und die Sklaven
der Braut übergeben werden. Man begiebt sich nun in das
neue Haus, die Geschenke werden hier ausgestellt, das Geld
— die Mitgift von Seiten beider Elternpaare — wird zu-
sammengethan und von den Aeltesten gezählt; dann wird
dasselbe mit süß duftendem Oel und wohlriechenden Blumen
bestreut, oben darauf wird ein kleiner Kuchen gelegt, die Se-
genswünsche für Braut und Bräutigam symbolisirend, auf
daß ihr Reis, ihr Oel, ihre Parfümerien immer zunehmen
mögen.
Ein Festmahl vereinigt noch für eine Stunde die Gesell-
schast, dann zieht man sich zurück, um erst in der Abendkühle
wieder zusammenzutreffen. Eine Anzahl von 5 bis 6 Prie-
stern kommen nun, die religiösen Dienste zu verrichten. Kurz
vorher ist der Bräutigam in Gesellschaft seiner jungen Freunde
in das neue Haus zurückgekehrt, wo die Braut einen schön
geputzten Knaben mit einem Teller voll Betelnuß an ihn
absendet, ihn und seine Begleiter einzuladen, sich in der Hoch-
zeitshalle niederzulassen. Sie selbst begiebt sich etwas später
— von einer Schaar prächtig gekleideter Jungfrauen be-
gleitet — ebenfalls dahin. Aber sie und ihre Freundinnen
sind fürs Erste noch durch einen Vorhang, welcher die Halle
theilt, von der männlichen Gesellschaft geschieden. Wenn die
religiösen Gesänge und Gebete beendet sind, wird der Vor-
hang gelüstet und Braut und Bräutigam werden auf erhöhte
Sitze geführt, das heilige Wasser zu empfangen, womit das
älteste Haupt der Familie ihre Köpfe besprengt. Darauf
vertauscht die Braut das geuäßte Obergewand mit einem
trocknen, noch kostbarem Kleide, während der Bräutigam
ebenfalls einen andern schönen Anzug anlegt, Pä häwi-haw
genannt, der ihm, ein Geschenk seiner Braut, durch einen ge-
schmückten Knaben ans einem silbernen Teller dargereicht
wird. In einem andern Zimmer beten unterdessen die Prie-
ster für das Wohl des jungen Paars. Daraus werden die
Geistlichen mit Thee, Betelnuß und Zuckerkand bewirthet und
>"it gelben Gewändern und anderen werthvollen Gegenstän-
den beschenkt. Erst nachdem die Priester sich entfernt, ladet
die Familie der Braut die Gäste zu einem festlichen Zusam-
mensein ein, das aber nicht über eine Stunde dauert; dann
kehren Alle in ihre verschiedeneu Wohnungen zurück. Auch die
Braut bleibt bei ihren Eltern, der Bräutigam allem verweilt
über Nacht in dem neuen Hause, läßt jedoch in der Hoch-
zeitshalle eine Musikbande oft bis spät in die Nacht hinein
Globus XIV. Nr. 2. (Juli 1868.)
Königs Mongkut zu Bangkok in Siam. 57
muntere Weisen aufspielen, und der Braut wird eine Sere-
uade gebracht.
Im Laufe des auderu Morgens versammeln sich die Gäste
von Neuem und wetteifern mit einander, den Priestern mit
Leckerbissen aufzuwarten; wenn dieses vorüber, nehmen sie
selbst die Festmahlzeit ein. Am Abend wird zum Schluß
der Feierlichkeiten dem jungen Paare das Hochzeitsbett be-
reitet, und dies gilt als eine große Ehre für die damit Be-
auftragten. Es wird das achtbarste, glücklichste, hübscheste
Ehepaar hierzu aus der Verwandtschaft ausgewählt, welches
reich mit Kindern gesegnet und der Braut besonders befrenn-
det ist. Um 9 Uhr wird die Braut von den Aeltesten der
Familie feierlich ihrem Bräutigam zugeführt. Die Verwand-
ten geben dem jungen Paare noch eine Stunde lang die besten
Rathschläge und Ermahnungen und ziehen sich dann nnter
Segenswünschen für das Gedeihen des neuen Hausstandes
zurück. Nach zwei bis drei Tagen macht das junge Paar
feierliche Besuche bei den beiderseitigen Eltern; die Braut
führt eiueMeuge kleiner Geschenke, Kuchen, Blninenbouqnets :c.,
mit sich, welche sie an die verschiedenen Glieder der Familie
vertheilt. Sie kniet bei ihrem Eintritt vor den Schwieger-
eltern nieder, worauf diese ihr werthvolle Geschenke an In-
welen oder Geld überreichen. Bei den Eltern der Braut
bezeigt der junge Mann kniend seine Verehrung und empfängt
ebenfalls Geschenke an Silber oder Gold.
Erst nach der Geburt des ersten Kindes wird die Aus-
steuer, welche die Eltern der Braut so lange in Verwahrung
genommen, der jungen Mutter ausgehändigt. Bis zn dieser
Zeit hat das junge Paar auf Kosten der Branteltern gelebt,
nun erst stehen sie aus eigenen Füßen. Dieses Familien-
ereigniß wird von Verwandten und Freunden durch Dar-
briuguug reicher Geschenke für das Kiud festlich begangen.
Was die königlichen Hochzeitsfeierlichkeiten betrifft, so ist
wenig davon im Volke bekannt. Die Ceremonie wird in
der Stille des königlichen Palastes vollzogen. Nach altem
Herkommen gereicht es den siamesischen Königen zur höchsten
Ehre, eine recht große Anzahl von Frauen zu halten. Der
jetzige König hat es gewagt, diese herkömmliche Gewohnheit
zu beschränken, wie er schon viele andere segensreiche Resor-
men unternommen. Während sein Bruder, der zweite Kö-
nig, nicht weniger als 120 Weiber (zur Hülste Laos, zur
Hälfte Siamesinnen) hält, hat er ihrer nicht mehr als 30.
Die Frauen des Königs führen den Namen Nang-ham,
verbalisch: verbotene Frau — das bedeutet eine Frau, wel-
cher verboten ist, aus dem Palast zn gehen. — In früheren
Zeiten wurden dieselben in sehr strenger Aufsicht gehalten,
unter dem jetzigen Könige genießen sie größere Freiheiten,
doch verlassen sie den Palast nur selten und nicht ohne be-
sondere Erlaubniß.
Die Könige werben nicht in der Weise des Volks um
ihre Frauen, das würde eine Gleichberechtigung voraussetzen,
welche die königliche Würde nicht zuläßt. Hat der König
ein Mädchen gesehen, welches ihm gefällt, oder ist ihm mit-
getheilt worden, daß in dieser oder jener Familie ein schönes
Mädchen sich befinde, so sendet er eine Botschaft an die El-
tern, die Tochter zur Naug-Ham zu fordern, ein Antrag, wel-
cher von denselben als hohe Ehre angesehen wird. Bei der
Thronbesteigung eines Königs bieten die hochgestelltesten Edel-
leute ihm ihre Töchter oder Nichten als Nang^Hams an, wo-
her es kommt, daß der königliche Harem oft mehr als 1000
Frauen gezählt hat.
Diese Frauen bringen ihre Zeit jedoch nicht etwa mit
müßigen Tändeleien hin; im Gegentheil hat jede ihre be-
stimmte Aufgabe. Einige sind als Herrinnen über andere
gesetzt. Den älteren Frauen ist als ein besonderes Ehren-
amt die Erziehung der jungen Edelsräulein übergeben, welche
8
58 Zur Kennzeichnung der Cw
schon als Kinder in den Palast gebracht wurden, um für
ihre künftige Stellung vorbereitet zu werden. Die heiligste
Pflicht der Matronen ist es, über die Keuschheit und Sittig-
feit dieser jungen Mädchen zn wachen.
Früher wurden fämmtliche im Palast erzogenen Kinder
zu königlichen Nang-Hams erwählt; der jetzige König giebt
nur wenigen diesen Vorzug, die übrigen stellen Ehrendamen
des Hofes vor und steht es ihnen frei, zu jeder Zeit sich vom
Hofe zurückzuziehen. Eine von der Stellung der Nang-hams
abweichende nimmt natürlich die Königin-Gemahlin ein.
Zuweilen haben die siamesischen Könige zwei Königinnen
zu gleicher Zeit; in solchem Falle ist die eine der andern im
Range übergeordnet und heißt Königin zur rechten Hand,
jene andere ist Königin zur linken Hand.
Zu den größten Seltenheiten gehört es, daß die Töchter
auswärtiger Könige zu Gemahlinnen der siamesischen Könige
gewählt werden. In den Annalen des königlichen Hauses
finden sich nur zwei solcher Fälle verzeichnet und diese fan-
den schon vor mehreren hundert Jahren statt.
Auch wird eine ebenbürtige Verbindung mit einer Prin-
zessin des königlichen Hauses zu vermeiden gesucht, da von
solcher Seite leicht ein Anspruch auf Mitregentschaft erhoben
sation im christlichen Europa.
werden könnte, eine Gefahr, der sich das absolute Königthum
uicht gern aussetzt. Immerhin aber ist es eine Prinzessin
von einer der angesehensten siamesischen Fürstenfamilien, wel-
cher die Ehre einer Königin-Gemahlin zu Theil wird. Doch
muß die junge Fürstin sich einer Probezeit unterziehen, ehe
ihre Erhöhung stattfiudeu kann. Der Kröuungsact besteht
vorzugsweise in der Taufe mit heiligem Wasser, von den
Priestern durch einen Ausguß von Blättern bestimmter
Bäume und Sträucher zubereitet, welches sehr stärkend und
heilsam für deu menschlichen Körper sein soll. Dieses Was-
ser heißt Nam maug k'au. Nachdem zwei Tage in religiö-
sen Uebuugeu, unterbrochen von Festmahlzeiten der Braminen
und Buddhisteupriester, zugebracht worden und nachdem letz-
tere reiche Geschenke erhalten haben, wird die Prinzessin am
Nachmittag des dritten Tages auf einen Thron geführt, durch
dessen Baldachin von weißem Mousselin das Wasser sie be-
sprengt. Während dieser Ceremonie sprechen die Priester
ihre Gebete, und Muschelbläser, Trompeter und Pfeifer thun
ihr Bestes. Mit dem Wechseln des nassen Gewandes, wel-
ches die Prinzessin mit einem reich mit Gold, Perlen uud
Diamanten besetzten Kleide vertauscht, ist ihre Inauguration
als Königin von Siam vollzogen.
Zur Kennzeichnung der Civilisation im christlichen Europa.
Das Königreich Italien hat 355,000 Mann Sol-
daten, so daß einer auf 68 Köpfe der Bevölkerung kommt;
es hebt jährlich 51,000 Necruten aus. Seine Staatsein-
nahmen betragen 317,000,000 österreichische Gulden; seine
Ausgaben 405,700,000; sein Soldatenbudget erfordert in
Friedenszeit 54 Millionen.
Das Kaiserthum Rußland hält 1,238,000 Soldaten
auf deu Kriegsstand, oder einen von 65 Köpfen; es hebt
jährlich 112,000 Recrnten aus oder einen von 600 Seelen;
seine Einnahmen betragen 654,480,000 Gulden; die Ans-
gaben fignriren in den Finanztabellen mit derselben Ziffer;
seit 1862 ist die Einnahme von 466 auf 654 Millionen
hinaufgeschraubt worden; das Heer kostet 188,890,000 Gul-
den oder 40 Procent von allen Staatseinnahmen. Diese
Ziffern giebt die „Oesterreichische Militärische Zeitschrift".
Schade, daß wir nicht daneben auch die Ausgaben fin-
den, welche für Schulen uud überhaupt den Volksunter-
richt verausgabt werden; dann auch Mittheilungen darüber,
wie viel Vermögen, Einkünfte und Besoldungen der katholi-
schen Geistlichkeit in Italien, des griechisch-orthodoreu Clerus
in Rußland betragen. Daß da wie dort die Schulen schmach-
voll vernachlässigt worden sind, liegt offen zu Tage; die Ver-
wahrlofung ist der Art, daß ein deutscher Mensch sich davon
keine Vorstellung machen kann. Wir leiden zwar auch am
Soldatenwesen in übertriebener Weise; der norddeutsche Bund
stellt in Kriegszeiten 928,500 Mann auf, Bayern 118,600,
Baden 43,600, Würtemberg 45,600; und das reicht zur
Verteidigung unseres Landes vollkommen aus. Wir haben
aber neben den Casernen doch Schulen überall uud spüren
den Segen. Aber Rußland!
''Die „Deutsche St. Petersburger Zeitung", ein vortreff-
lich redigirtes Blatt, welches dem Deutschthum nichts ver-
giebt und sich gleichzeitig für die moralische und iutellectuelle
Hebung des russischen Volkes lebhaft interessirt, bringt fol-
gende sehr charakteristische Schilderungen:
„Diebstahl, Raub, Straßenraub, von Einzelnen und
ganzen Bauden mit unerhörter Frechheit, vollständigster Ver-
höhnung der nahen Behörden und empörender Grausamkeit
verübt — das sind die Neuigkeiten, welche uns vorzugsweise
aus den inneren Gouvernements nicht nur von Privatblät-
tern, sondern auch von ossiciellen Organen gemeldet werden.
Hier haben Diebe eine Kirche geplündert, dort wird unter
einer Straße ein unterirdischer Gang nach dem Rentamte
geführt; diese Stadt „leidet durch Diebe und Gauner" und
hat sogar Morde zu beklageu; eine andere wird sammt ihrer
Umgegend von Ränbern in solchem Schrecken gehalten, daß
die Einwohner mit Anbruch der Dunkelheit nicht mehr auf
die Straße zu gehen wagen und der Polizeimeister des Ortes
selbst sie zur Vorsicht auffordert; hier wird in einer Entfer-
nuug von acht Werst von der Gouvernemeutsstadt die Post
beraubt und der Conducteur uud der Postillon ermordet;
dort entdeckt mau Falschmünzer u. s. w. u. s. w. Kaufleute,
Dorfälteste, Branntweinverkäufer in Schenken, greise Beam-
tenwittwen, Priester, Gutsbesitzer — Alle werden Opfer
frecher Bösewichter. Man mordet die Mutter und zugleich
den au ihrer Brust liegenden Säugling. Weder Geschlecht
noch Alter, weder Armuth noch Krankheit — nichts hält
das Verbrechen aus: vollständigste Nivelliruug!"
So schildert eine russische Zeitung, die „Wjest", den
moralischen Zustand des Volkes. Sie begnügt sich übrigens
nicht mit dieser erschütternden Schilderung, sondern bringt
aus den statistischen Annalen den durch unwiderlegbare Zah-
len gelieferten Beweis herbei, daß die Verbrechen seit
1860 in steter Zunahme begriffen sind. Nach offi-
ciellen Angaben betrug die Zahl der wegen Verbrechen cri-
minaliter belangten Personen im Jahre 1860 321,612,
1861 356,542, 1862 370,756 und 1863 467,519.
Diese Zahlen sind an und für sich deutlich und bedürfen
keines Commentars. Daß die Criminalstatistik für- die Zeit
nach 1863 nicht günstigere Nachrichten aufzuweisen haben
wird, ersehen wir aus der seitdem in stetem Wachsen begris-
fetten Zahl der Todesstrafen.
Zur Kennzeichnung der
Wir sind trotzdem weit davon entfernt, das Volk darob
anzuklagen, finden vielmehr die ans den obigen Zahlen sich
ergebenden Verhältnisse vollkommen natürlich. Mit der
Einführung eines mildern und humanern Strafverfahrens,
mit welcher die Aufhebung der Branntweinpacht
und die furchtbare EntWickelung des Lasters der
Trunksucht zusammenfiel, mußte sich die Gegenwirkung
gegen die Zeit einstellen, in welcher das Volk unter Ruthe
und Peitsche stand. Die Anklage wegeu Zunahme der Ver-
brechen trifft also weniger die Gegenwart als die Vergangen-
heit. Wir haben daher auch nicht zu klagen, sondern zu
sühnen.
Soll aber das heilige Werk, welches mit Aufhebung der
Leibeigenschaft und Abschaffung der jedes menschliche Gesühl
verletzenden Körperstrafen begann, feinen Abschluß erhalten,
so muß den durch Beseitigung des materiellen Zwanges ent-
fesselten Leidenschaften ein wirksameres Gegengewicht entgegen-
gesetzt werden, als die Einführung der Todesstrafe es sein
könnte.
Dieses Gegengewicht ist einzig und allein eine erhöhte
Bildung des Volkes.
Wie es mit dieser Bildung augenblicklich beschaffen ist,
ersehen wir aus dem Berichte, welchen der „Russische Jnva-
lide" vor einiger Zeit über die vorjährige Recrutenaushebung
veröffentlicht hat. Unter den 92,104 wirklich ange-
nommenenNecrnten des Reichs (also mitAusschluß
Polens) waren nur 7851 des Lesens kundig. Rech-
nen wir davon die 181 aus den privilegirten Ständen als
Stellvertreter eingetretenen Personen, 864 Juden und die
2170 Lutherauer, die wohl alle leseu können, ab, so blei-
ben nur 4636 des Lesens kundige Individuen, d. h.
5 Procent der ganzen Masse übrig. Erwägt man
nun, daß die zur Einstellung in den Dienst gelangte Alters-
classe bereits unter dem Einflüsse der neuen Zeit gestanden
hat, also auch durch deren Anforderungen gewonnen haben
wird, so muß sich das Verhältniß für die Gesammtmasse,
besonders wenn man noch das weibliche Geschlecht hinzurech-
net, viel uugüustigcr gestalten; man kann mit gutem
Grunde annehmen, daß kaum mehr als 3 Proceut
des Lesens kundige Individuell im Volke qnzutref-
feu fein lverden.
Dürfen wir uns bei einem solchen Mangel au Erzie-
Huna wundern, wenn die Habl der Verbrecher mit jedem
Jahre wächst?
Man könnte nns einwenden, daß Bildung noch keine
Erziehung sei. Zugegeben, geistige Bildung wäre noch keine
moralische, wie steht es dann aber mit dieser letztern? Das
hat uns Herr Pogodiu in seiner Rede in der Moskauer
Gouvernements-Landversammlung vom 8. Januar verratheu,
indem er erklärt, daß, obgleich Karamsin schon vor 70 Iah-
reu behauptet, es gehöre ein Manu vou hohem Genie dazu,
um einen Bolkskatechismus zu schreiben, dieser Katechismus
bis jetzt noch nicht da sei und das Volk noch keine andere
religiöse Erziehung erhalte, als die, welche die ein- i
zigen Worte „Herr, erbarme dich meiner!" gewähr-
ten, da es von dem ganzen übrigen Gottesdienst
nichts verstehe. So ist es in der That!
Das Volk selbst fühlt diesen Mangel sehr tief und macht
unerhörte Anstrengungen, um ihm abzuhelfen. Wo sich ihm
nur eine Gelegenheit darbietet, eilt es herbei, um etwas zu
lehnen. So berichtete vor Kurzem die Ssamarasche „Epar-
chlalzeitnug", daß die Sonntagsschule, welche der Geistliche
u\ ^ Festung Ssarotscha (Kreis Busuluk) eröffnet, am er-
stell Sonntage 45, am zweiten 100 Lernbegierige, darunter
40 Erwachsene, besticht haben, und daß das ziemlich gerän-
mige ^ocal der Souutagsschule im Dorfe Nowyjekostytschi
Civilisation im christlichen Europa. 59
(Kreis Ssamara) nicht die Menge derjenigen habe fassen
können, welche die Lebensgeschichte der Heiligen und die Er-
klärung der Evangelien anzuhören wünschten.
Jeden Augenblick lesen wir, daß die Bauern dieser oder
jener Gemeinde beschlossen haben, ihre sauer erlvorbenen Ein-
nahmen zil besteuern und Schulen zu gründen, aber sie sin-
den eben nur wegen Untanglichkeit entlassene Subjecte, sort-
gejagte Schreiber und verabschiedete Soldaten, die als Leh-
rer verwendet werden können, und diese Personen wirken
natürlich nicht gerade heilsam auf die Erziehung der Ju-
geud ein.
Noch ganz vor Kurzem theilte die „Wolhymsche Gouv.-
Ztg." mit, daß die Bauern in Südwest-Rußland den leb-
haftesten Wunsch hegten, ihren Kindern Unterricht ertheilen
zu lassen, und daß sie die Ausgabe dafür nicht scheuen wür-
den, wenn sie nur geeignete Lehrer fänden. Dergleichen
Nachrichten lausen aber in Menge aus allen Theilen des
Landes ein.
Eine Wendling zuin Bessern erkennen wir darin, daß
die Provinzial-Jnstitutionen sich der Sache der Volksbildung
anzuuehmen beginnen und auch einflußreiche Orgaue der
russischen Presse endlich sich dazu bequemen, dieser hochwich-
tigen Angelegenheit eine ernstere Aufmerksamkeit zu schenken."
So viel über Rußland, wo das Heer nahe an 200 Mil-
lionen Gulden kostet, das aber kein Seminarium zur Bil-
duug vou Volksschulmeisteru aufzuweisen hat.
Und nun Italien. Wir stellen aus öffentlichen Blät-
tern über die moralischen Zustände in einzelnen Gegenden sol-
gende Angaben zusammen. Das neue Königreich hat bis jetzt,
Mitte 1868, ein Deficit von 820 Millionen Lire angehäuft
und für 1869 kommt ein solches von 162 Millionen hinzu;
dann ist die Milliarde voll: bei hohem Steuerdruck, Die
Zahl der Verbrechen nimmt in schreckenerregender Weise zu.
Amtlichen Ausweisen zufolge befaudeu sich unter den in dem
einen Monat April von der Gendarmerie verhafteten Ver-
brechen! nicht weniger als zweihnndertnennundfie-
beuzig Mörder, 729 waren verhaftet, weil sie andere Leute
verwundet hatten, 297 waren Räuber, 21 Brandstifter,
die übrigen Diebe. Wohlgemerkt, das Alles binnen 30 Ta-
gen. In Bologna wird eine Falschmünzerbande entdeckt, an
deren Spitze ein Graf steht und deren Agenten Polizeiinspec-
toren sind. Die Vorgänge erinnern an die Räuber- und
Banditenromane, dergleichen wir in den Leihbibliotheken sin-
den. Die Polizei sucht lange vergeblich nach dem reichen
Grafen Mattei, der mehrere Landhäuser besitzt; auf seiner
Villa Folignono läßt er den Bauern vorreden, die Polizei-
beamten seien verkleidete Brigauten. Die Männer der össent-
lichen Ordnung werden dann vou den Bauer» belagert und
der Graf, welcher 150,000 Lire im „Geschäft" angelegt
hatte, damit die Falschmünzerei in großem Stile betrieben
werden könne, entschlüpfte.
Die Romagna stand früher unter Herrschaft des Pap-
stes; sie war noch ärger verwahrlost als die übrigen Provin-
zen des Kirchenstaates, der sich den Ruf des allerfchlechtesteu
in Europa erworben hat. In der Deputirteukamuicr zu
Florenz gab der Abgeordnete Finzi Erläuterungen. Der
Mangel einer öffentlichen Gerechtigkeit habe dort zur Selbst-
hülfe getrieben. Zahlreiche Gesellschaften seien entstanden
zum Zwecke der Ausübung einer Privatjustiz, die leicht in
Privatrache ausarten mußte. Die politischen Vereine, welche in
den übrigen Theilen Italiens sich rein erhalten hätten von
Blutschuld, dienten in der Romagna oft genug zu verbreche-
rischen Zwecken. So habe sich die Bevölkerung daran ge-
wöhnt, die Privatjustiz mehr zu achten und zu fürchten als
die öffentlichen Gerichte-, und der allgemeine Schrecken dauere
8*
60 Aus allen
auch jetzt fort, trotz der veränderten Regierung, vornehmlich
durch den Einfluß einer frevelhaften Presse, welche nicht auf-
höre, das Ansehen der Institutionen und der Personen zn
untergraben. 'Der Minister des Innern bestätigte durch
ausführliche statistische Nachweise diese Behauptungen. In
der Provinz Ravenna, welche etwa 200,000 Einwohner
zählt, sind in den neun Monaten vom September 1867 bis
zum letzten Mai dieses Jahres nicht weniger denn 64 Tod-
tungen, 237 Fälle von Straßenraub, 110 Raufhändel mit
Körperverletzung, 481 Diebstähle und sonstige Eigenthums-
Verletzungen, 5 Brandstiftungen und 11 Widersetzungen ge-
gen die bewaffnete Macht verübt worden. Trotz dieser haar-
sträubenden Zahl der Verbrechen meinte der Minister nur einige
Missethäter dafür verantwortlich machen zu können uud zu
Erdtheilen.'
deren Verfolgung keine Ausuahmsgewalteu zu bedürfen. Al-
lein mit dieser ziemlich harmlosen Auffassung standen mehrere
der eignen Mitteilungen des Ministers im Widerspruch. Er
las Bruchstücke aus einem Berichte des ermordeten Staats-
anwalts Cappa vor, woraus erhellt, daß die so häufigen
Blutthateu in der Romagua uicht das Werk einzelner In-
dividnen, sondern einer weitverbreitetenGenossenschast
von Verbrechern sind. Einige der einen politischen Cha-
rakter zur Schau tragenden Geheimbünde sind nichts anderes
als solche Verbrecherbanden, welche den von der Justiz Ver-
folgten Verstecke gewähren, die Deserteure unterstützen, Wech-
sel ziehen ans Personen, die ihnen nichts schulden, aber aus
Angst bezahlen u. s. w. Im Jahre 1866 kamen in Italien
9037 Fälle von gewaltsamen Todesarten vor.
Aus allen
Ein Attentat gegen koreanische Königsknochen, verübt
unter norddeutscher Buudesffagge.
Es handelt sich dabei um eine wunderliche Geschichte, die
wir in der zu Hongkong erscheinenden „Overland China Mail"
vom 12. Juni ausführlich erzählt finden. Das Wesentliche ist
Folgendes.
Der König von Korea, jener langen ostasiatischen Halb-
insel, welche vom russischen und chinesischen Gebiete begrenzt
wird, verbietet den europäischen Missionären bei Todesstrafe den
Eingang in sein Reich. Diese Landesgesetze sind den Sendboten
wohl bekannt und sie wissen, was ihnen in Folge einer Ueber-
tretung derselben bevorsteht. Trotzdem haben sich manche ein-
geschlichen und sind dafür nach den Gesetzen bestrast worden.
Die napoleonische Politik nahm davon Anlaß, wie immer unter
dem Vorwande und im Namen der „Civilisation", ein Geschwa-
der auszurüsten, das aber nicht viel ausrichtete. Es schoß eine
Stadt in Brand, schleppte allerlei koreanische Habe aus die
Schiffe und zog dann wieder ab. Diese Vorgänge sind seiner
Zeit im „Globus" ausführlich erzählt worden.
Man treibt in unseren Tagen das Flibustierhandwerk im
Großen und bezeichnet es dann als „Krieg", oder man unter-
nimmt Buccanierzüge im Kleinen und sucht dabei möglichst viel
für sich herauszuschlagen. Daß aber ein französischer Pater
auf eigene Faust einen höchst abenteuerlichen Raubzug unternimmt,
um mit Hülfe eines biedern Hamburger Handelsmannes
mosaischer Abkunft und eines in der Wolle gefärbten Yankees
Königsknochen aus dem Grabe zu stehlen, — das ist
sicherlich noch nie dagewesen. Es giebt wirklich Neues unter
der Sonne.
Der französische Priester, dessen Namen wir in der „China
Mail" nicht erwähnt finden, heckte einen schlauen Plan aus, um
von der koreanischen Regierung die Zulassung der Verkündiger
des Evangeliums 'zu erzwingen und nebenher noch Schadenersatz
für die Verfolgung der Missionäre zn erhalten. Unter Umstän-
den hätte sich also ein gutes Geschäft machen lassen. Nun war
der Großvater des jetzt regierenden Königs von Korea ein beim
Volke ungemein beliebter Herrscher; nach seinem Tode ist er wie
ein Heiliger verehrt worden und seit lange schon glauben die
Leute, die Sicherheit des Reiches hänge davon ab, daß die Ge-
beine des Vielgeliebten, welche unter einem Grabhügel ruhen,
nicht angetastet werden. Diese Gebeine wollte der Pater stehlen
und sie den Koreanern nur herausgeben, wenn sie sich zur Er-
füllung der von ihm gestellten Bedingungen verpflichten würden.
Der fromme Priester war in Schanghai mit einem „Gentle-
man of the american persuasion", dem 5)nnfee Jenkins,
Erdtheilen.
bekannt geworden und wußte diesem jenen Anschlag recht plau-
sibel zu machen. Jenkins sah großen Profit im Hintergrunde,
trieb Geld auf und mietheteden deutschen Dampfer „China"
für 4000 Dollars monatlich. Die deutschen Kaufleute, welchen
derselbe gehört, wollten ihn nicht ohne Weiteres auf einer „Jagd
nach wilden Gänsen" riskiren und verlangten eine Bürgschaft
von 100,000 Dollars, die auch wirklich gestellt wurde.
Als die Sache so weit in Ordnung war, mietheten der Pa-
ter und der Yankee zweihundert chinesische Arbeiter, deren jeder
monatlich 9 Taels (zu etwa 7 Schilling engl.) Arbeitslohn be-
kommen sollte. Es war die Aufgabe dieser weizengelben Söhne
des Blumenreiches, den hohen Erdhügel abzutragen, unter wel-
chem die Königsknochen liegen. Man stachelte den Eiser dieser
Kulis dadurch an, daß man ihnen die Schütze, welche sich bei
dem Monarchengerippe befänden, als Beute in Aussicht stellte.
Herr Oppert aus Hamburg schloß sich der „Expedition" an,
und die „China" ging unter norddeutscher Bundesflagge,
Schwarz, Weiß und Roth, in See nach Korea.
Die drei „Resurrectionisten" kamen sammt ihren Kulis rich-
tig an Ort und Stelle, und das „Diggen" nach Königsknochen
und Schätzen wurde mit Eifer betrieben, bis sich Hunger ein-
stellte. Man hatte gemeint, in Korea Lebensmittel in Menge
zu finden, aber die Koreaner wollten weder dem Pater, dem
Yankee und dem Hebräer, diesen würdigen Vertretern abendlän-
discher Civilisation, noch den bezopften Chinesen auch nur ein
Korn Getreide verkaufen. Hunger thut weh, Noth kennt kein
Gebot, und nun raubte die Erpedition Getreide und Vieh. Die
ungebildeten Koreaner nahmen das übel, griffen zu ihren Flin-
ten, schössen eine Anzahl Chinesen todt und jagten die ganze
Expedition an die Küste; mit Ach und Krach erreichte sie den
Dampfer und fuhr unter Schwarz Weiß Roth nach Schanghai
zurück.
Die Welt würde von dieser interessanten Königsknochen-
expedition schwerlich etwas gehört haben, wenn Herr Oppert
den Chinesen den versprochenen Lohn richtig ausgezahlt oder
ihre seiner Meinung nach übertriebenen Ansprüche befriedigt
hätte. Als er das nicht that, zogen sie vor feine Wohnung und
belagerten ihn zwei Tage und zwei Nächte lang; dann nahm
die Polizei ein Einsehen und vermittelte ein Uebereinkommen,
mit welchem die Kulis zufrieden waren. Vom Pater und vom
Yankee hat man vorerst weiter nichts gehört.
Das ist die Geschichte. Sie liefert wieder einen Beweis, in
wie rücksichtslos brutaler Weise nicht selten die Leute aus dein
Abendlande in Ostasien verfahren. Die „China Mail" fragt,
weshalb der nordamerikanische Gesandte sich unthätig verhalten
habe? Jener Jenkins sei doch der Mann, welchen er der chine-
Aus allen
Erdtheilen.
61
fischen Regierung dringend empfohlen habe, damit er die Koh-
lengruben in der Provinz Kiangfu in Betrieb nehme. Was
den Vertreter Norddeutschlands, Herrn von Tettenborn, be-
treffe, fo fei es dessen Pflicht, doch ein Einfehen zu nehmen in
Betreff eines Flibustierzuges fo feltfamer Art, welcher unter
norddeutscher Flagge stattgefunden habe. Und in Betreff des
Paters, welcher die ganze Sache angezettelt habe, verstehe es
sich doch wohl von selber, daß zunächst feine geistlichen Vorgesetz-
ten ihn zur Verantwortung zu ziehen hätten.
Zwei Thierfabeln aus dem Kaukasus.
Mitgetheilt von Adolf Bastian.
1. Eine Fabel der Tschetschenzen. Ein Tiger, ein
Wolf und ein Fuchs gingen miteinander auf die Jagd. Sie
erlegten einen Hirfch, eine wilde Ziege und einen Hafen. „Wir
müssen diese Beute theilen," sagte der Tiger und übertrug dies
Geschäft dem Fuchse. Der Fuchs erwiderte: „Dir, o Tiger, als
dem Aeltesten, gehört, aller Gerechtigkeit nach, der Hirsch; die
Ziege gehört, aller Gerechtigkeit nach, für dich, o Wolf, und
dies kleine Häschen nehme ich für mich, von rechtswegen."
„Ha!" schrie der Tiger, „theilst du so? Ich sehe, dein Ver-
stand ist nur beschränkt und deine Einsicht bedarf der Erleuch-
tung." Mit den Worten sprang er auf ihn zu und zerriß ihn.
Dann befahl er dem Wolf, die Theilung vorzunehmen. Diefer
verneigte sich und fprach folgendermaßen: „Dir, o Mächtigster
der Herrscher, gebührt der Hirsch. Willige ein, ihn zu verzeh-
ren und möge er dem fürstlichen Magen ein Balsam sein, daß
seine Gesundheit sich erfrifche und lange dauere das Leben des
Herrn. Auch die Ziege, Allergnädigster, gehört dir, sie paßt
für dein Abendessen. Ach, und möchtest du morgen zum Im-
biß den Hasen deiner würdig finden, möchtest du ihn huldvoll
verzehren und ihm die Gunst gewähren, dein Frühstück bilden
zu dürfen." „Einsichtsvoll hast du getheilt, o Wolf!" rief der
Tiger. „Ei, sag' mir doch, o Wolf, woher kam dir solche
Fülle der Weisheit und des Verstandes." Der Wolf, auf den
zerrissenen Fuchs zeigend, sagte: „Deine Pfoten haben mir Kopf-
klugheit gegeben."
Diese Fabel findet sich, wie im indo-europäifchen Fabelfchatz
in vielfachen Versionen, so auch in Afrika.
2. Eine Fabel der Jmmerethier. Ein Mann fand
eine Schlange unter einem Felsblock liegen, der auf sie herab-
gefallen war und sie zu erdrücken drohte. Mit vieler Mühe
wälzte er den Stein hinweg, als die befreite Schlange züngelnd
auf ihn zufpraug. „Halt!" rief er aus. „ist das meine Beloh-
nung V „So ist meine Natur," entgegnete die Schlange. Der
Mann schlug vor, sich an einen Richter zu wenden und beide
begaben sich zum Löwen, ihm den Fall zur Entscheidung vor-
legend. „Wie kannst du auf Dankbarkeit hoffen?" fagte der
Löwe zum Menschen, nachdem derselbe seine Klage vorgebracht
hatte. Man kam indeß überein, einen zweiten Richter zu be-
fragen, und die Wahl fiel auf den Fuchs, der am Wege ange-
troffen wurde. Nachdem dieser die Auseinandersetzung angehört
hatte, meinte er, daß die Lage der Schlange unter einem Fels-
stein ihm fast unmöglich erscheine. Es würde nöthig sein, daß
er sich selbst vorher durch den Augenschein überzeuge, wie es
sich damit verhalten habe, weil er sonst sich nicht besugt fühlen
könne, ein Urtheil zu füllen, pm ihn rafch zu überzeugen, legte
sich die Schlange an die frühere Stelle mit übergewälztem Fels-
stein, und der Fuchs rieth dann dem Menfchen, sich fchleunigst
aus dem Staube zu machen und den Prozeß fallen zu lassen. —
Eine identifche Fabel, in der der Tiger die Stelle der
Schlange einnimmt, habe ich aus dem siamesischen Nonthuk-
Pakaranam in der Zeitschrift „Orient und Occident" Jahrgang III,
Oi'ft IV, S. 486 veröffentlicht.
Aus Siebenbürgen. Unsere Landsleute in Siebenbür-
jjen, die Sachsen, sind in wissenschaftlicher Beziehung von jeher
nm lnhrigstcn gewesen, die Geschichte und Natur ihres Landes
zu «forschen und durch die Pflege dieser Studien in der Cultur-
Verbindung mit dem westlichen Europa, fpeciell mit Deutfchland,
zu bleiben. Sie zeigen sich darin, trotz ihrer Minderzahl im
Verhältniß zur Gesammtbevölkeruug des Landes, als die eigent-
lichen Kulturträger. Das ist um so mehr zu wkirdigen, als sie,
vom großen Mutterlande völlig getrennt, wie ein vorgeschobener
Posten germanischer Gesittung dastehen. Nicht bloß das „Archiv
des Vereins für fiebenbürgische Landeskunde", sondern
auch die Gymnasialprogramme, welche uns vorliegen, geben
dafür ein rühmliches Zeugniß. Der achte Band des „Archivs"
(Heft 1) enthält außer der Reise Georg Schulter's nach Indien in
den Jahren 1696 bis 1699, auf die wir gelegentlich zurückkommen
werden, und außer der sortgesetzten Sammlung siebenbürgi-
scher Rechtsalterthümer einen trefflichen Aufsatz von I.
Hintz über die topographisch-socialen Verhältnisse in
Siebenbürgen, in welchem er die wissenschaftliche Methode
Riehl's, wie sie in dessen „Naturgeschichte des Volkes" gegeben
ist, zum Muster nimmt und aus seine Heimath anwendet. Wir
entnehmen diesem Aussatze Folgendes:
„Siebenbürgen trägt in seiner Mitte, in seiner gebirgi-
gen Umschließung eine bunte Abwechselung von Berg und Thal
und von kleinen Gewässern, dann bei den reichen Naturschätzen,
welche eine vielerlei abgeschlossene Selbstbefriedigung gewahren,
den Charakter mannichsaltigster innerlicher Besonderung an sich.
Siebenbürgen ist, zunächst unter großen Flachländern ringsum,
ein Gebirgsland, ein hochgelegenes Gebirgsland, ein Waldland
— „Transsilvania". Gelurg und Wald sind die Bewahrer
naturwüchsiger Volkssitten. Das Gestein der Gebirge macht y5
des Landes unproductiv; von den bleibenden % sind beinahe %
Waldboden. Viel Gebirge, viel Wald — viel rohe Natur im
Volke! Das sind feine Schattenfeiten, aber auch feine Lichtseiten.
Kunst, Gewerbe und Handel steigen nicht gern in die Ge-
birge; sie ziehen mehr den Flüssen und Ebenen nach. Aber
was die große See sür das Küstenvolk bedeutet, indem sie es
in seiner Naturfrische erhält, das thut für ein Binnenvolk der
Wald und die Wildniß. Leider thun sie es bei uns im Ueber-
maß. In unseren vielen Gebirgen herrscht die altgewohnte Wald-
und Weidewirthschaft. Wald und Weide sind bei uns von gro-
ßer foeialer Bedeutung. Sie erhalten das Volk urwüchsig, fröh-
lieh und unternehmend, aber sie sind leider auch die Mutter un-
seres Perderhnisses in den herrschenden Viehdiebereien, Wald-
Plünderungen und an Brandlegungen im Lande. Gebirge,
Wald und Weide sesfeln die größte Anzahl der Romänen und
des magyarifchen Zweiges der Szekler, und ifoliren sie wesentlich
von den Bewohnern der Thäler uud des Flachlandes. Walln-
chen und Szekler im Gebirge steigen nur im Sommer ins Land
herab, ewig dieselben in ihren Sitten und in all ihrem Wesen.
Der andere Theil dieser Volksgenossen bebaut die engen Niede-
rungen und trifft hier mit den ausschließlich dem Flachlande
angehörigen Ansiedelungen der Deutschen und Magyaren zu-
sammen. Die aus den Ebenen Ungarns kommenden Magyaren
und unsere Sachsen, die gewiß auch aus keinem Gebirgslande
eingewandert sind, nahmen die Thalebenen Siebenbürgens ein.
Die kleineren Thäler, dann Wald und Gebirge hielten die Wal-
lachen und Szekler fest. Daher sind die Ortschaften im Flach-
lande Siebenbürgens hauptsächlich sächsischen und magyarischen
Ursprungs; die Namen der Flachgebiete, der Felder und Flüsse
sind ungarische und deutsche. Dagegen haben die Gebirge und
Gebirgsthäler hier wallachische, dort szeklerische Namen, und die
Ortschaften daselbst sind die uralten Anlagen der Wallachen und
Szekler.
Doch, ob im Gebirge oder im Thal und vom Waldbauer
angefangen bis zum Kornbauern und Städter, leben die Sie-
benbürger fast von Ort zu Ort ein social eigentümliches Leben,
gesondert in ihren Einrichtungen, in Tracht und ^itte und Er-
werb, so mannichfaltig, wie es die Bodengestalt ihres Landes ist.
Der Mangel an schiffbaren Flüssen machte das Leben von jeher
im Einzelnen und im Ganzen klein und local. Das Land, wel-
ches vom großen Weltverkehr abseiten gelegen ist und einer gro-
ßen Wasserstraße entbehrt, mußte dem natürlichen und socialen
Particularismus verfallen. Wir sehen eine bunte Welt zusam-
62 Aus allen
menwohnender Volksstämme vor uns, räumlich gemischt und
dennoch social unvermischt; denn jeder hält an seinen blut-
verwandten, localen, gewerblichen, häuslichen, kirchlichen Eigen-
thümlichkeiten. '• So viel Gegensätze im Volksleben und so un-
vermittelt finden sich auf einem Räume von 1000 Quadrat-
Meilen wohl nirgends in der Welt. In Siebenbürgen giebt es
dreierlei Land: Ungarland, Szeklerland und Sachsenland. Die
zahlreichen Romänen in den drei Ländern des Landes sind vor
Kurzem mit jenen in die rechtliche Gleichheit eingetreten, aber
die sociale Ungleichheit unter diesen Nationalitäten ist geblieben.
In diesem Nationalitätengewirr grinst hinter jeder Bergesgruppe
hervor der Nationalitätenhader und der Haß, die Eiser-
süchteleien selbst der Städte und der Dörfer, die an demselben
Bache liegen. Die zahlreichen Gemarkungsstreitigkeiten
(die H at ter tpro cesfe) sind ein siebenbürgisch es Unicum.
Von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt ist man ein „Frem-
der", ein „Hergelaufener", wenn man nicht dort geboren ward.
Das ist bei allen Nationalitäten dasselbe. Siebenbürgen ist in
seinen Sitten und Gesetzen, in Gewerben und im Anbau des
Landes die Heimath des Mittelalters geblieben, nachdem dieses
goldene Zeitalter des Particularismus, der Zerrissenheit, des
örtlichen Glückseligkeitsdünkels im übrigen Europa schon längst
verschwunden ist. Das Beharren, das zähe Festhalten an ver-
alteten Zuständen überwiegt. Die Bewegung sehlt, weil es an
einem geistig und ökonomisch gehobenen gewerblichen Mittelstande
fehlt. Wenn die Bewegung in diesem Lande zuweilen eintrat,
so trat sie stoßweise, wie ein Gewitter, ein. Siebenbürgen
stellt sich vorläufig als ein Land im Zustande der höchsten socia-
len und ethnographischen Decentralisation dar. Das Land hat
es bis heute zu keiner bleibenden Hauptstadt bringen können. —
Wir sind in einer socialen Umgestaltung begriffen. Mögen wir
vor schroffen Uebergängen bewahrt werden. Sie thun nicht gut.
Auch die leichter befahrenen Berge und Thäler bleiben Berg
und Thal. Das sociale Ausgleichen der Schroffheiten darf nicht
in ein übertriebenes Nivelliren ausarten."
Die „Vargasia" zu Caracas. So lautet der Titel des
Bülletins, welches die naturwissenschaftliche Gesellschaft in der
Hauptstadt Venezuelas herausgiebt. Wir ersehen aus den drei
ersten Nummern, welche der Herausgeber uns zugesandt hat, daß
die Freunde der Wissenschast selbst während der unaufhörlichen
bürgerlichen Unruhen und Kriege in jenem Lande sich nicht irre-
machen lassen und ihre Sitzungen halten, als ob tiefer Frieden
wäre. Man ist freilich dort zu Land an Zuckungen und Un-
ruhen gewöhnt; sie sind gleichsam der normale Zustand. Die
Benennung „Vargasia" führt die Zeitfchrift nach dem verdienst-
vollen venezuelanischen Naturforscher Vargas, der einst Rector
der Hochschule zu Caracas war und dessen Leben und Werke im
Bülletin beschrieben werden. Präsident der Gesellschaft und, wie
es fcheint, recht eigentlich die Seele derselben ist ein Deutscher,
Hr. Adolf Ernst, welcher auch den Antrieb zur Bildung der
Gesellschaft gegeben hat; einer der Secretäre ist Herr G. v. Lö-
wensels. Die in den uns vorliegenden Nummern stehenden Mit-
theilungen sind zumeist botanischer Art und sür die Fachmänner-
gewiß von Interesse. Anton Goering hat einen Vortrag über
seine Wanderungen in Eumana gehalten; Ernst einen solchen über
die Säugethiere in Venezuela. In Bezug auf physikalische Geo-
graphie ist eine fleißige Arbeit von Aristides Rojas über die
Erdbeben auf den Antillen in den Jahren 1867 auf 1863 be-
achtenswerth. _
Die Korallenfischerei im Mittelländischen Meere.
Sie wird vorzugsweise von Italienern betrieben und giebt von
Jahr zu Jahr größern Ertrag. Die Fischer bringen ihre Aus-
beute zumeist nach Genua, Livorno und Neapel. Die Schiffe
zerfallen in zwei Clafsen; die der ersten sind Lugger von 10 bis
12 Tonnen und mit 12 bis 14 Köpfen bemannt. Man rüstet
sie zu Torre del Greco aus und sie arbeiten in den Monaten
Februar und März. Die Schiffe der zweiten Elafse sind noch
kleiner, denn sie haben nur 3 bis 6 Tonnen Tragfähigkeit und
Erdth eilen.
diese fahren unter französischer Flagge, obwohl das Schiffsvolk
aus Italienern besteht, gewöhnlich 5 bis 6 Köpfe. Sie fischen
das ganze Jahr hindurch. Jene ersteren besuchen die Küste von
Asrika und Sardinien, halten sich in einer Entfernung vom
Lande von 15, 20 und bis zu 30 Miglien und fahren nur in
einen Hafen, wenn das unbedingt nöthig ist, und die Mann-
schast ist abwechselnd Tag und Nacht thätig und nährt sich lediglich
von Schiffsbrot und Maccaroni. Von der zweiten Classe waren
1367 nur 27 in Thätigkeit, während aus den mehr als 100 Fahr-
zeugen der ersten Classe die Bemannung mehr als 1200 Köpfe
betrug. Der Preis der Korallen ist verschieden und wechselt;
man zahlt sür das Kilo im Durchschnitt 75 Francs; 1867 fiel
der Preis auf 60, in manchen Jahren ist er aber auch schon
aus 100 Francs gestiegen.
Das Neuyorker Postamt. Dem Bericht des Comites
für Postangelegenheiten im Kongresse entnimmt das „Newyorker
Journal" folgende Notizen:
Abgesandt werden in Nenyork täglich durchschnittlich 250,000
Briefe. Im Jahre 1867 wurden von den Briefträgern 19,263,786
Briefe und Zeitungen ausgetragen. Es kamen in demselben Jahre
8,918,153 aus dem Auslande an. Von den 12,288,134 Dollars
32 Ct., die für Postmarken und Postcouverts in den Vereinig-
ten Staaten im Jahre 1867 eingenommen wurden, kommen aus
Neuyork 1,812,911 Dollars 23' Ct. Als im Jahre 1864 die
Postverwaltung anfing, sich mit der Uebermittelung von Geld-
betrügen zu befassen, .betrug die Anzahl der ausgestellten Geld-
scheine im ersten Monat (December 1864) 1116 (Gesammtbetrag
der empfangenen Gelder 20,814 Dollars 17 Ct.). Wie bedeu-
tend der Postverkehr zugenommen hat, kann man daraus er-
fehen, daß, während im. Jahre 1853 nur 238 Angestellte im
Postamte waren, deren jetzt 565 sind. Jeder Angestellte hat
durchschnittlich 30 Quadratfuß Platz, manche nur 10 Quadrat-
fuß. — Nach dem Berichte des Arztes des Neuyorker Postamtes,
des Dr. W. G. Gilletti, gehen dem Postdienst durch Krankheiten
der Angestellten monatlich 150, jährlich also 1800 Arbeitstage
verloren. Es sind meistens Krankheiten der Lungen, rheumati-
sche Beschwerden und Fieber, von denen die Postbeamten befallen
werden. Der Gesundheitszustand der Beamten würde natürlich
bedeutend besser sein, wenn sie nicht in einem so elenden Holz-
schuppen arbeiten müßten.
Wir wollen hier einige Notizen über das Londoner Post-
amt beifügen, dessen Einrichtung für musterhaft gilt. Die 1152
Briefträger desselben beförderten 1863 mehr als 76 Millionen
Briefe und werden 1863 wohl an 90 Millionen zu befördern
haben, täglich also etwa 280,000, wöchentlich 1,730,000. Jeder
erhält 25 Schilling (8 Thlr. 10 Groschen); die Ausgabe des
Postamtes beträgt 120,000, der Reinertrag ungefähr 300,000
Pf. St., also reichlich zwei Millionen Thaler.
Statistisches über Großbritannien. Den Veröffentli-
chungen des britischen Handelsamtes zufolge betrug zu Ende des
Jahres 1867 die Einwohnerzahl des Vereinigten König-
reichs 30,157,473 oder 211,415 Seelen mehr als die letzte Volks-
zahlung ergeben hatte. England und Wales waren nämlich von
21,210^020 Einwohner auf 21,429,508 gestiegen, und Schottland
von 3,153,413 aus 3,170,769. Dagegen hat Irlands Bevölke-
rung in den letzten 15 Jahren, in denen die Englands und
Schottlands gleichmäßig zunahm, beständig abgenommen, und
seine Einwohnerzahl 5,557,196 war am Ende vorigen Jahres wie-
der um 5429 kleiner als bei der letzten Zählung. Andererseits ist
jedoch zu bemerken, daß auch die Abnahme sich bei Irland jähr-
lich verringert. Im Vereinigten Königreich kommt aus 30 Köpfe
ein Armer, und nicht weniger denn 1,034,823 Personen genie-
ßen öffentliche Unterstützungen im Betrage von jährlich 8,564,605
Pf. St. Was die Erziehung betrifft, so ist in Großbritan-
nien allein (für Irland fehlen leider die bezüglichen Ausweise)
die Durchschnittszahl der Kinder, welche Elementarschulen
besuchen, von 461,445 in 1854 aus nicht weniger als 1,147,463
in 1867 gestiegen, während die jährlichen Zuschüsse aus Staats-
Aus allen
Erdtheilen.
«8
Mitteln zum Volksunterricht in demselben Zeiträume nur von
.>26,436 Pf. St. auf 682,201 Pf. St. erhöht wurden. Die
Lebensmittel haben sich in England zwar — wie überall —
vertheuert, so Weizen von 53 Sh. 3 P. pr. Quarter in 1853
auf 64 Sh. 5 P., Gerste von 33 Sh. 2 P. auf 40 Sh. und
Hafer von 21 Sh. auf 26 Sh.; aber auf der andern Seite hat
auch der Handel so zugenommen, daß bei theureren Lebens-
Mitteln der Gewinn ungefähr ein gleicher bleibt. Der Import-
Werth ist von 97,184,726 Pf. St. in 1854 auf 181,183,971
Pf. St. gestiegen. Diese Zahlen liefern ein für die Prosperität
des Landes günstiges Ergebniß. Dasselbe wird bestätigt durch
die Ausweise der Sparcassen, deren Depositen 12,138,095
Pf. St. betrugen, gegen 7,400,141 Pf. St. in 1854 — ein Zei-
chen , daß namentlich in den mittleren Classen der Wohlstand
während der letzten 14 Jahre bedeutend zugenommen hat. —
Hält man dagegen das Einkommen der Regierung, unter
welcher diese Vortheile erzielt wurden, so ergiebt sich, daß dasselbe
von 57.535,215 Pf. St. in 1853 zwar auf 72,334,062 Pf. St.
in 1857 stieg, von dort an aber beträchtlich abnahm; für das
Fiscaljahr 1. April 1867 bis 31. März 1868 betrugen die Staats-
einnahmen 69,600,218 Pf. St. Seit 1857 hat sich auch die
Steuerlast, pro Kopf gerechnet, in Folge der verbesserten Steuer-
systeme vermindert; während vor 11 Jahren 2 Pf. St. 14 Sh.
2 P. per Kopf erhoben wurden, beträgt die Durchschnittssumme
der directen und indirecten Steuern jetzt nur noch 2 Pf. St.
7 Sh. 3 P. für jeden Einzelnen. Von den Quellen dieser Ein-
nahmen'haben die Erträgnisse der Zölle, 22,650,000 Pf. St.,
nur um 512,945 gegen 1853 zugenommen, wo der Exportwerth
nur die Hälfte betrug. Die Erträgnisse der Stempelgebühren,
Accise und directen Steuern dagegen haben bedeutend zugenom-
men, und der Gewinn der Post, jetzt 4,630,000 Pf. St., hat
sich geradezu verdoppelt.
Schulden der australischen Colonien im Jahre 18G6.
Die öffentliche Schuld der Eolonie Südaustralien belief sich am
1. Juli 1867, wo ein neues Finanzjahr begann, auf 684,000
Pf. St. Dazu müssen noch gerechnet werden die vom letzten
Parlamente bewilligten und nunmehr auch zur Ausgabe gekom-
menen Bonds zur Bestreitung der Kosten für angefangene Eisen-
bahnen und andere Bauten, wodurch sich die Schuld auf 1,251,000
Pf. St. erhöht. Außerdem gab das Parlament im November
vorigen Jahres seine Zustimmung zu einer neuen Anleihe für
noch andere Eisenbahnen, wodurch sich jetzt die öffentliche Schuld
auf zwei Millionen Pfund Sterling stellt oder reichlich 11 Pf. St.
pro Kopf der Bevölkerung, wenn diese auf 180,000 Seelen an-
gesetzt wird.
Es möge nun eine Zusammenstellung der Schulden sämmt-
licher Kolonien Australiens, mit Ausnahme von Westaustralien,
folgen und ist dazu das Datum des 30. Juni 1866 gewählt, da
die' Nachrichten über die Finanzverhältnisse des letzten Jahres
(30. Juni 1867) noch nicht vollständig vorliegen.
D a t u m Oeffent- Bevöl- Macht
N a in e. und liche kerung. Pro
I a h r. Schuld. Kopf.
£ £ sh. P.
Südaustralien . . 30. Juni 1867 1,251,000 175,000 7 3
Südaustralien . . 30. Juni 1866 751,000 165,934 4 10 6
Victoria . . 30. Juni 1866 8,733,445 632,998 13 16 —
Neusüdwales. . . 30. Juni 1866 5,638,530 421,000 13 8
Queensland 30. Juni 1866 3,021,186 95,100 31 15
Tasmanien 30. Juni 1866 553,230 97,368 5 13 7
£
Sklaverei in einer britischen Eolonie. Einwohner von
Brisbane, der Hauptstadt der australischen Eolonie Queensland,
erklären in einem Memorial, welches sie kürzlich an die Königin
von England gerichtet, daß in ihrer Eolonie etwas der Sklave-
rei sehr Aehnliches bestehe. Es ist die alte Geschichte von der
Immigration, — unter diesem milden und unschuldigen Worte
verbirgt sich oftmals ein abfcheuliches Unrecht und eine Schande.
Die Squatters und Farmers von Queensland geben vor, daß es
an Arbeitern bei ihnen fehle, was aber in Wahrheit nichts anderes
bedeutet, als daß sie sich weigern, Löhne zu zahlen wie sie den
Eolonialverhältnifsen eben angemessen sind. Um nun diesen fin-
girten Arbeitermangel zu beseitigen, hielten sie es für das Vor-
theilhafteste, sich Eingeborene von den Südseeinseln zu verschaf-
fen, die ja ihre Arbeiten so gut wie umsonst besorgen könnten.
So wurden zuerst im Jahre 1863 Insulaner von den Neu-
Hebriden importirt; nach und nach nahm dieses Geschäft sehr
bedeutende Dimensionen an und Polynesier wurden zu Hunder-
ten nach Queensland transportirt. Dieser Handel ist ein reines
Privatunternehmen, über das die Regierung auch nicht die ge-
ringste Eontrole übernommen hat. Die Wilden werden von
Speculanten gekaust oder, wie sie es natürlich nennen, gemiethet
und dann wieder an die, welche billige Arbeiter gebrauchen, um
6 bis 10 Pf. St. pro Kopf verschachert. Die armen Menschen
werden aus ihrer Heimath verlockt, indem die Schiffer ihnen
hohen Lohn und freie Rückkehr in ihre Heimath nach Verlauf
eines Jahres versprechen, beides wird ihnen aber nicht gehalten
und sie können von Glück sagen, wenn etliche von ihnen nach
drei oder vier Jahren wirklich zurückgebracht werden. Ja, es
wird mit Bestimmtheit behauptet, daß nicht wenige dieser Poly-
nesier gewaltsam von der Schiffsmannschaft fortgeschleppt wur-
den, so daß sie kaum um etwas besser sind als Sklaven.
Sehr ernste Folgen haben sich bereits aus diesem Versuche,
einen derartigen Sklavenhandel in der Südsee zu betreiben, ein-
gestellt und mehrere Engländer wurden unlängst von den Ein-
geborenen der Neu-Hebriden erschlagen, indem letztere erklärten,
daß sie sich an dem Raube ihrer Landsleute nach Queensland
und den Fidfchi-Jnfeln (dem Hauptsitze der Methodisten-
Mission, die hier Baumwollenplantagen u. s. w. angelegt hat!)
rächen wollten. Aber darf man sich da wundern? Civilisirte
Völker schicken ihre Flotten und Soldaten aus, um eine Unbill,
welche ihren Landeskindern widerfahren, zu ahnden, und die Wil-
den machen es eben so, nur in ihrer Weise. Dabei kann man
sich leider überzeugt halten, daß, wo immer es zu Collisionen
zwischen den Europäern und den Wilden kommt, in den mei-
sten Fällen die elfteren mit ihrer übervortheilenden Habsucht die
Schuld tragen.
Und wenn nun in dieser Angelegenheit ein Memorial an
die Königin gerichtet wurde, so glaube man nur ja nicht, daß
dieses aus Sympathie für die betrogenen Insulaner hervorge-
gangen, — es ist wieder das reine Selbstinteresse der weißen
Arbeiter, denen auf solche Weise Arbeit und Verdienst entgeht,
welches die Bittschrift, eingekleidet sreilich in Humanitätsfloskeln,
veranlaßt hat. Die ganze Sache legt ein trauriges Zeugniß
über die Qeenslander Regierung ab, welche solchem Menschen-
Handel längst hätte entgegentreten sollen. Wenn man aber weiß,
daß es in Australien meist die Herren Squatters und großen
Farmer sind, welche im Parlament und in der Regierung das
Ruder führen und die gern vor der Zeit ihren Säckel füllen
möchten, so ist damit die Lösung gegeben. —g.—
Ein an der Küste von Neuseeland gefangener, den
Zoologen bisher völlig unbekannter Marsupial-Fisch.
Eine den Zoologen bisher unbekannte Species aus der amphibi-
schen Thierwelt wurde im December vorigen Jahres von Neu-
seeland nach Melbourne (Australien) gebracht und erregt dort
in öffentlichen Ausstellungen die allgemeinste Aufmerksamkeit und
Bewunderung. Das Thier hat eine merkwürdige Structur, und
die Besonderheiten haben eben den Besitzer veranlaßt, demselben
den wie es scheint sehr passenden Namen Sea-Kangaroo, See-
Känguruh, zu geben.
Der Fischer Hansen befand sich im Juli vorigen Jahres
mit seinem Boote nahe am Meeresufer zwischen Donohoes und
G4 Aus allen
Makanui an der Westküste von Neuseeland, als er ein am Strande
stehendes wunderbares Geschöpf bemerkte. Der gute Mann er-
innerte sich, daß in England „any monster rnakes a man"
und machte daher einen herzhaften Angriff aus den Fremdling.
Er schlug mit dem Ruder seines Bootes das Thier nieder und
ergriff es dann beim Schwänze — denn es hatte einen Schwanz
ähnlich dem des Känguruh, nur nicht ganz so dick. Aber der
Schlag hatte nicht kräftig genug gewirkt, das Thier machte eine
rasche Wendung und packte mit seinem furchtbaren Gebisse, wel-
ches dem der Haie sehr gleicht und aus mehreren dichten Reihen
äußerst scharser, sägenartiger Zähne besteht, seinen Angreiser beim
Beine und verursachte ihm drei sehr garstige Wunden. Dieser
gab indeß nicht nach, sondern wiederholte seine wuchtigen Schläge
so lange bis er sich der Beute vergewissert hatte.
Das Thier hat einen weiten runden Bauch; an jeder Seite
große dicke Floßfedern; ein dem Haie gleichkommendes Maul
mit oben erwähntem Gebisse; eine lang vorgestreckte knorpelige
Schnauze und einen ausgeprägt fischartigen Geruch, — also so-
weit entschieden Fisch. Dann aber hat es wieder Beine ganz
wie ein Känguruh, nämlich hinten ein größeres und in der Front
bloß ein rudimentäres Paar. Und diese Aehnlichkeit wird noch
durch die ihm eigene hüpsende Bewegung erhöht, sowie durch
den langen Schwanz, welcher dem Thiere im Wasser höchst wahr-
scheinlich als Ruder und zum Balanciren dient, und endlich noch
durch den Umstand, daß es zu der Familie der Marsupialia ge-
hört. Es besitzt sowohl Kiemen zum Gebrauche im Wasser, als
auch andere Athmungswerkzeuge, welche seinem Aufenthalte in
der freien Luft dienen, — und in dieser Beziehung ist es wieder
Amphibie, mit förmlich entschiedener Hinneigung zu den Carni-
voren. Wenn aufrecht stehend beträgt seine Höhe 2% Fuß,
seine Länge dagegen, vom Ende der Schnauze bis zur Schwanz-
spitze, mißt 5 Fuß.
Der Besitzer hat das Fell dieses See-Känguruhs Präpariren
und gut ausstopfen lassen und macht damit jetzt eine Rundreise
in die australischen Kolonien, beabsichtigt aber auch England zu
besuchen und dann seinen Fang bei den dortigen Museen bestens
zu verwerthen. Den Professoren der Zoologie an der Univer-
sität Melbourne hat dieses sonderbare Thier viel zu schassen ge-
macht; sie wissen nicht recht es unterzubringen. —g.—
Missionen der Katholiken in China. Dieselben sind
jetzt über das ganze Blumenreich der Mitte verbreitet und zäh-
len 24 Stationen, unter 19 Bischöfen und 5 apostolischen Prä-
fecten verschiedener Nationen, Italiener, Franzosen, Spanier und
Belgier. Jeder Bischof hat nicht weniger als vier Mifsionäre
unter sich; bei einigen beläuft sich die Zahl derselben bis auf 20,
und je nach Anzahl derselben ist jede Mission in eben so viele
Bezirke getheilt. Die Anzahl der Christen in den einzelnen
Missionen ist sehr ungleich; während sie bei einzelnen nur etwa
2000 betrügt, steigt sie in einigen bis zu 70,000. Bei jeder
Mission befindet sich eine Art von Gymnasium, in welchem auch
in Latein, Philosophie und Theologie Unterricht ertheilt wird;
dazu kommen Elementarschulen und Waisenanstalten. Die be-
deutendste höhere Lehranstalt ist jene von Sikawi, in der
Nähe von Schanghai; sie wird von deutschen und italienischen
Priestern geleitet, welche den etwa 300 Zöglingen Unterricht
auch in verschiedenen Handwerken, im Zeichnen, Malen und der
chinesischen Literatur ertheilen, letzteres mit solchem Erfolge, daß
fchon mehrere Zöglinge in Peking die Prüfungen trefflich be-
standen und dort höhere Grade erhalten haben. Mit manchen
Missionen sind Druckereien verbunden; jene in Schanghai hat
fchon fünf Auflagen der chinesischen Übersetzung des Neuen
Testamentes geliefert, sodann mehrere theologische und mathema-
tische Werke. Die Bibelübersetzungen sind mit einem Kommen-
tar versehen, um den Chinesen den wahren Sinn schwieriger
Stellen zu erläutern. Auch ein Wörterbuch in lateinischer und
chinesischer Mandarinensprache ist dort gedruckt worden. Chine-
Erdtheilen.
sische Landkarten hat die Mission in Neapel und Leipzig drucken
lassen. — Die Barmherzigen Schwestern haben acht An-
stalten; in Canton steht ein Findelhaus und ein Waisenhaus
unter ihrer Leitung; ein Gleiches ist in Hongkong der Fall, wo
sie auch Schule halten. — Die 24 Missionsbezirke sind folgende:
Kuang tung mit Kuan fu; Hongkong mit den umliegenden In-
seln und einigen Strecken des Festlandes; Wnnan; Tibet; Kne'i-
tscheu; das östliche, dann das westliche und das südliche Sze
tschuen; Honan; Hupe; Schanst; Kiang wan; Ost-, Nord- und
Süd-Pe tschi li; Kiang; Kiang si; Schen si; Schantung; Fo
kien; Korea; die Mandschurei; die Mongolei.
* * *
— Unter den Romanschreibern und Novellisten in Ja-
pan ist Herr Kioyte Bäk in der beliebteste. Eine seiner Er-
Zählungen süllt nicht weniger als 106 Bände, ist aber auch in
der kurzen Zeit von — 38 Jahren vollendet worden.
— Yankee und Chinese im Gegensatze. Die chinesi-
sche Gesandtschast, welche unter der Führung Anson Burlingame's
im Juni Washington besuchte, verweilte auch in Baltimore. „Der
Bahnzug mußte dort eine Zeitlang warten und sosort drängte
sich eine neugierige Menge heran, um die sremden Wunderthiere
anzugaffen. Einige Loasers aus dem Hausen schrien in die Wa-
gen hinein, fragten, wie es dem Johnny Chi oder dem Billy
Sun gehe; kurz, sie belästigten die himmlischen Söhne auf echt
amerikanische pöbelhaste Weise. Schließlich reichte einer dieser
Bummler eine Karte zur Wagenthür hinein und forderte einen
Chinesen auf, ihm ein Autograph zu geben. Der englisch
redende Dolmetscher Teh nahm die Karte und schrieb die lako-
nischen Worte: Learn politeness, d. h. lernt anständiges
Betragen, und wars dann die Karte unter die Menge. Ein
Polizist hob die Karte auf, las laut vor, was der Chinese ge-
schrieben hatte und nach einem verlegenen Lächeln zerstreute sich
die pöbelhafte Bande." So fchreibt das „Deutsche Newyorker
Journal" vom 27. Juni. — Dasselbe Blatt erzählt außerdem
Folgendes: Die Mandarinen und ihre Suite sind übrigens sonst
sehr empfindlich und fühlen es sehr unangenehm, wenn man den
Respect gegen sie aus den Augen läßt. So sah einer der eng-
lisch sprechenden Dolmetscher, die bekanntlich Mandarinen sünften
Ranges sind, vorgestern dem Billardspiel in dem Billardsalon des
Fisth Avenue-Hotels zu. Als einer der Spieler gerade einen guten
Stoß gemacht hatte, schlug er dem Chinesen vertraulich auf die
Schulter und sagte: „Johnny, das war ein prächtiger Stoß,
nicht wahr?" Mit den Zeichen der höchsten Entrüstung trat der
Angeredete zwei Schritte zurück und antwortete dem ungehobelten
Gesellen in fließendem Englisch: „Mein Herr, mein Name ist
weder Johnny noch John, auch geziemt es sich für gebildete
Leute nicht, Fremden ohne Weiteres aus den Rücken zu schlagen
und sie in einer so unceremoniellen und familiären Weise anzn-
reden. Ich habe, ebenso wie jeder Gentleman in Amerika, das
Recht, zu fordern, daß man mich respectire; sollte Ihnen dies
nicht einleuchten, so wenden Sie sich gefälligst an Herrn Bur-
lingame, von dessen Gesandtschast ein Mitglied zu sein ich die
Ehre habe." Sprach's und ging erhobenen Hauptes von dannen.
Der „Gentleman" mit dem Billardqueue wurde in Folge dieser
trefflichen Abfertigung von den Anwesenden tüchtig ausgelacht
und zog wie ein begossener Pudel ab. — Die Namen einiger
der Diener der Chinesen klingen höchst merkwürdig; sie sind sehr
lang, wie überhaupt in China sich der Name eines Mannes, je
höher er auf der Standesleiter steigt, immer mehr verkürzt;
während die beiden Mandarinen zweiten Ranges die einfachen
Namen Sun und Chi führen, finden sich unter den Dienern
Namen wie folgende: Choou-chi-tiam, Shaou-chen-peau, Lene-
she-ee, Lion-Hea-Heuan, Hung-pung-joo, Hwet-lian-foi, Chang-
hoo-fang und Chang-hug-won. Die chinesischen Diener zeichnen
sich übrigens durch ausgezeichnete Reinlichkeit, Nüchternheit und
Wohlerzogenheit aus.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Mage's Reise vom Senegal bis an den obern Niger.
Palast des Hadsch
maurischen Stil. Sehr gern hätte Magesich diesen Palast
im Innern betrachtet, man verweigerte thm zeuoch Emlaß
wie man denn überhaupt die Frauen vor thm zu ververgen
suchte. Er hatte dem Ortsvorsteher einige Bogen Papier
geschenkt und dafür war der Mann so dankbar, daß derselbe
ihn in sein Haus einlud. Als jedoch Mage m den ^os-
Globus XIV. Nr. 3. (August 1868.)
Omar in Diangirte.
räum trat, in welchem sich einige Weiber befanden, liefen
diese sofort weg. Im Allgemeinen sind sie bei den musel-
männischen Völkern Senegambiens nicht so scheu und zurück-
haltend; erst Hadfch Omar hat die Neuerung bei den Ton-
couleurs eingeführt, daß sie sich vor fremden Männern nicht
blicken lassen sollen.
9
In Diangirte. — Der Tata des Hadsch Omar. — Charakter der Gegend. — Die Diulas und Serracollets. — Massassis aus
Kaarta. — Zudringlichkeit der Mauren. — Die Speise Lack Lallo. — Der große Marabut von Tumbula. — Marconnah
und die Palmyrapalmen. — Zug der Karawane. — Der Dubabelbaum. — Anblick des Nigers bei 'Aarnina. — Der Häuptling
Serinte. — Fahrt auf dem Strome nach Segu.
Wir haben den Reisenden in der Stadt Diangirte, in
der Landschaft Dianguute, verlassen und wollen ihn nun
auf seiner Wanderung bis Aamina und Segu am Niger be-
gleiten.
Als das bemerkenswertheste Gebäude in jener Stadt schil-
dert er den Tata, d. h. den Palast des Hadsch Omar, von
welchem wir eine Abbildung geben. Derselbe ist, gleich allen
übrigen Wohnungen der Stadt, aus gestampftem Lehm auf-
geführt, hat aber zwei Thürme, die recht gut unterhalten
waren; als eine Art von Schmuckwerk dienen Zinnen im
66 Mage's Reise vom Seneg
Die Abreise war auf den 10. Februar bestimmt. Der
Häuptling Tierno Bubakar, dessen schon früher erwähnt
worden ist, .versprach einige Führer; er ließ dem Europäer
insgeheim sagen, daß derselbe, falls er ihm ein Geschenk
machen wolle, dazu die Nacht benutzen möge; dann brauche
er mit keinem Andern zu theilen und könne sicher sein, daß
man es ihm nicht stehle. Wahrscheinlich hatte er sich auf
etwas Erkleckliches gefaßt gemacht. Mage blieb aber auch
hier seinem Borsatze getreu, nur wenig zu geben, und schickte
ihm bloß eine mit Gold gestickte Kappe, etwas Papier und
Pulver. Der Ortsvorsteher kam noch einmal und bat um
noch einige Bogen Papier. Er trug jetzt einen alten, sehr
werthvollen Säbel mit schön damascirter Klinge, einem sehr
fein ciselirten Handgriff und den Knaus bildete das Haupt
eines römischen Kaisers.
Am 10. Februar konnte Mage seine Wanderung nach dem
Niger antreten. „Wir Alle/' sagt er, „hatten uns aus-
geruht, waren guten Muthes und zogen munter gen Osten.
Die Führer ließen, wie gewöhnlich, längere Zeit auf sich
warten; als sie endlich erschienen, sprengte auch Bubakar
hoch zu Roß heran und gab uns das Geleit. Auf seinen
bis an den obern Niger.
Befehl schlössen sich uns drei Talibes an und einer davon
hatte einen Brief an den Sultan Ahmadu. Auch die Leute
von Diugiray mit ihren zerlumpten Sklaven und zwei Mäu-
ner von Gemuknra verstärkten unfern Zug, der nun zahl-
reich genug war, um Feinde abwehren zu können. Beim
Abschiede gab mir der alte Bubakar seinen Segen, indem er
ein wenig in seine Hand spie und sich dann mit diefer über
das Gesicht fuhr.
Gegen Mittag kamen wir durch einen Wald, dessen
Bäume mit Heuschrecken buchstäblich bedeckt waren; sie hat-
ten alle Blätter abgefressen und waren nun darüber aus,
selbst die Rinde zu verzehren. Diese Thiere richten auf den
Feldern Ungeheuern Schaden an; durch ihren Flug und ihre
unablässigen Bewegungen verursachen sie ein Geräusch, das
jenem eines Hagelwetters gleicht. Etwas später kam ich an
einen Marigot, der jetzt trocken lag, aber sein Bett war auf-
fallend tief. Von einem alten Mauren erfuhr ich, daß diefer
Wasserlauf in der Regenzeit durch Beledugu ziehe und sich
mit dem Niger vereinige. Aller Wahrscheinlichkeit zu-
folge war es also der berühmte Ba Ule, von dem ich schon
so viel gehört hatte; als ein eigentlicher Fluß konnte jedoch
Kopfputz und
derselbe nicht bezeichnet werden; ich habe späterhin ermittelt,
daß er, als großer Marigot von Beledugu, der Ortschaft
Diua gegenüber sich mit dem Niger vereinigt.
Bei Kalabala, einem von Bambaras bewohnten Dorfe,
standen nengebanete Strohhütten neben den Ruinen der alten
Häuser; auch hier war, wie überall weit uud breit, während
der Eroberung durch den Hadsch und dessen Tonconleurs
Alles niedergebrannt worden. Die früheren Wohnungen be-
standen, wie jene in Diangirte, aus gestampfter Erde. Gegen
Abend wurde ich beim Dorfe Fabugu angenehm überrascht,
als ich eine Rindviehherde erblickte, die aus ein paar hundert
Häuptern bestand. Die Hirten waren uuvermischte Peuhls
(Fulbe); sie hatten Adlernase, weiches, zu Zöpfen geflochtenes
Haar und dünne Lippen. Uebrigens verlebten wir eine
schlimme Nacht, trotzdem wir eine recht gastliche Aufnahme
gesunden hatten. Unser Brot ging ans die Neige, von Kaffee
und Zucker war schon längst keine Rede mehr. Ich finde
in meinem Tagebuche Folgendes— „Schlaflose Nacht; bin
fast krank; habe gestern wenig gegessen. Wenn ich nur ein
Stück Brot hätte!" Ja, ein Stück Brot, weiter nichts.
Und wie oft habe ich mich auch später danach gesehnt! Wer
der Soninkemädchen.
ruhig daheim sitzt, hat keinen Begriff, wie niederschlagend
dergleichen Entbehrungen einwirken.
Die folgenden Tage waren gleichfalls sehr beschwerlich.
Wir überschritten nun die Grenze von Segn und dasGe-
lände wurde, je weiter wir kamen, mehr und mehr hügelig.
Die Ebenen von Kaarta und Diangnnte lagen hinter uns;
jetzt war das Land besser mit Bäumen bestanden und die
Eintönigkeit wurde durch Gründe und Thalschlnchten unter-'
brochen; dann und wann stieg auch ein Felsen empor. Bei
den Dörfern sah man überall mit Taback bestellte Felder,
ich kümmerte niich aber wenig um die Gegend, weil ich nur
einen einzigen Gedanken hatte: — immer weiter, fortkom-
men, den Niger erreichen, ehe die Kräfte versagen!
Ans der Gegend, in welcher ich mich befand, stammen
viele der Hausirer, welche weit und breit das westliche Afrika
durchziehen und unter der Bezeichnung Dinlas bekannt sind.
Das Wort gehört der Souiukesprache an. Die Dinlas sind
für die Vertheilung der Waaren und überhaupt für den Han-
delsverkehr von einer Bedeutung, die man nicht unterschätzen
darf. Allen Leuten, die mir gastlich begegneten, gab ich ein
Geschenk, etwas Pulver zum Beispiel oder sonst eine Kleinig-
Mage's Reise vom Senegal bis an den obern Niger.
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keit, denn viel konnte ich ja nicht geben; dazu reichten meine
Mittel nicht aus und außerdem hatte ich alle Ursache, meine
ohnehin geringen Vorräthe so viel als möglich aufzusparen.
Außerdem phautasirte ich damals noch von dem Plaue, als
ein Nachfolger Mungo Park's, mich auf dem Niger eiuzu-
schiffen und denselben wo möglich bis zur Mündung hinab-
zufahren. Deshalb mußte ich meine Vorräthe so viel als
irgend möglich schonen und darum trieb es mich mit aller
Macht vorwärts. So kam ich uach Tiefugula, einem
großen Tatadorfe, d. h. die Häuser desselben bestanden aus
Lehm, während das daneben liegende Dorf ein Gupuilli
war, also nur Strohhütten hatte. Etwas entfernt, nach
Nordosten hin, stand auch ein Dorf der Penhls an entern
Bergabhange; die Hütten desselben waren, wie gewöhnlich
bei den Fulde, von erbärmlichem Aussehen, aber neben den-
selben sah man Rindvieh und Pferde.
In jenem Tatadorfe bestand die Mehrzahl der Bewohner
aus Soninkes; die übrigen waren Fnlbe und Mauren; letz-
tere befanden sich übrigens nur
auf der Durchreise und verkauf-
teu hier Salz. Die erstercn re-
deten das Soninke und waren
Serracollets von reinemGe-
blüte; trotzdem haben sie das
Stammeszeichen, gleichsam das
Wappenschild der Bambaras
angenommen, indem sie sich von
derSchlüse bis zum Kinn hin-
ab drei tiefe Einschnitte über die
Wange ziehen, um Narben her-
vorzubringen; außerdem tra-
gen sie in dem durchlöcherten
Nasenknorpel einen Ring von
Gold, Kupfer oder auch von
Wachs. Das sieht ganz ab-
scheulich aus, man glaubt aber
damit großen Staat zu machen.
Dieser barbarische Brauch, wel-
chein sich auch die Soninkes
anbequemt haben, herrscht übri-
gens im centralen Sudan über-
all vom sogenannten Kongge-
birge bis nach Timbuktn, vom
Adamaua bis an das Strom-
gebiet des Senegal; in diesem
letztern selbst kommt er glückli-
cherweise nicht vor.
Die Leute von Tiefugula verkaufte» mir gegen einige
Glasperlen ganz vortreffliche Zwiebeln, Paradiesäpfel, Milch
und Butter, was Alles ich mir eben gut schmecken ließ, als
der Besuch eines Massassis aus Gemeue angemeldet wurde.
Ich erfuhr, daß alle Maffaffis im Lande Kaarta, welche dem
Schwerte des Hadsch Omar entronnen oder nicht uachKhafso
oder Bambut geflüchtet waren, sich in dem etwa drei Stunden
entfernten Dorfe Gemene aushalten mußten; man hatte fie
dort internirt. Zwei hübsche schwarze Männer, bei denen
der Massassistypus trefflich ausgeprägt war (er ist der hüb-
scheste unter den Bambaravölkern), traten herein und benäh-
'uen sich ausfallender Gewandtheit. Ihr Stamm ver-
^(anft seine physischen Vorzüge wahrscheinlich den zahlreichen
"Mngen mit den Fulde. Jene Männer trugen schwarze
'u-^omas, das heißt ein Kleid von feinem Stoffe, der
im ^ande selbst bereitet und mit dem dunkelsten Indigo ge-
färbt wird; um den Kopf war ein Tamba, Turban, ge-
nuckelt; cer pnlverbentel hing, wie es auch bei den Mauren
Brauch iH, an rothseidenen Schnüren; jeder hatte einen Sä-
Ein Khassonkemädchen aus Medina.
bel umgehängt und ein Doppelgewehr in der Hand. Ich
wiederhole, daß diese hübschen Leute durch ihr sehr anständi-
ges Benehmen überraschten; sie schrien nicht, sondern spra-
chen in angemessenem Toue und fuhren nicht, was sonst
bei den Bambaras üblich ist, mit den Armen in der Luft
umher. Ihr Vater, fo sagten sie mir, hätte erfahren, daß
zwei weiße Männer angekommen seien; er schicke sie, um
mich zu begrüßen nnd mir seine Beihülfe bei der Weiterreise
anzubieten. Beledngn befinde sich im Aufstaude; seiue be-
waffueten Krieger ständen beim Dorfe Tninbnla, dnrch wel-
ches ich Passiren müsse. Ich möchte nur zu ihm kommen;
bei ihm würde ich ganz sicher sein; er würde mir ein bewaff-
netes Geleit geben; feine Familie habe stets freundschaftliche
Gesinnungen gegen die Weißen gehegt und bei ihr habe (der
französische Reisende) Raffenel die beste Aufnahme gefunden.
Eiue solche solle auch uns zu Theil werden. Wer aber
Raffenel's Reisebericht gelesen hat, wird sich erinnern, daß
in demselben nichts Verlockendes erzählt worden ist. Des-
halb gab ich eine ablehnende
Antwort und bemerkte, ich sei
auf der Reife uach Segu be-
griffen, wo ich den Hadsch Omar
besuchen wolle. Ich stände nn-
ter der Leitung seiner Talibes
und würde die einmal be-
stimmte Züchtung nicht verlas-
sen. Als jene Männer sortge-
gangen waren, brachte mir der
Dorfschulze als sehr willkom-
menes Geschenk einen prächti-
gen granen Ochsen, den ich so-
fort abschlachten ließ. Dann
gab ich, wie es bei den Malinke
und den Bambaras Brauch ist,
dem Manne, welcher mir das
Thier geschenkt, ein Vordervier-
tel nebst einem Rippenstücke.
Sie ziehen das Vorderbein dem
Hinterviertel vor; ich aber ließ
einen Theil des Fleisches trock-
nen und beschenkte den wackern
Schnlzen mit etwa 30 Ellen
Banlnwollenzeng, worüber er
höchlich entzückt war.
Am 15. Februar fiel in
der Nacht das Thermometer auf
9°E. Morgens wurde ich in
unangenehmer Weife durch zudringlichen Besuch von
Mauren und Maurinnen belästigt. Unweit vom Dorfe
hatten Leute vom Stamme der Laklalls eiu Lager aufge-
schlagen. Sie benahmen sich, wie es Brauch bei den Mauren
ist, unverschämt uud bettelhaft. Die Schwarzen haben vor
ihnen Furcht und einen instinetiven Respect; sie erkennen die
Überlegenheit dieser Hellern Raee an. Jene, mit denen ich zu
thuu hatte, waren von ziemlich reinem arabischen Typus und
einige konnten für recht hübsch gelten. Auch unter den Frauen,
die schmutzige und abgerissene Gewänder von Gninee trugen,
sah ich ein paar recht hübsche Geschöpfe; man hatte aber schon
angefangen sie zu mästen, und sie hatten schon so viel Fett
angesetzt, daß ihr Wuchs unförmlich erschien. In Tiefugula
hätte ich mich erholen und wieder etwas kräftigen können,
denn an Nahrungsmitteln war gar kein Mangel; aber ich
konnte nicht zu Ruhe kommen, weil ein großer Andrang von
Besuchern war, und vor allen Dingen ärgerte ich mich über
die Mauren. Ich kannte dieses Gesindel schon von meiner
Reise nach Tagant her und auch hier in Tiefugula waren
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Mage's Reise vom Senegal bis an den obern Niger.
sie, was sie überall sind, — Diebe! Seit drei Monaten
befand ich mich in den Negerländern und bis dahin war mir
noch nichts gestohlen worden. Während ich nun hier die Breite
bestimmte (140 22'46" N.) und das Gepäck aufladen ließ,
weil wir Abends in Medina fein wollten, fehlte ein Bayonnet.
Als ich den Schulzen davon in Kunde setzen ließ, kam er
und sprach: Das haben die Mauren gethan; paffe wohl
ans Deine Sachen, sonst nehmen sie Dir Alles weg!
Bon den Mauren war nichts wieder zu bekommen und
so reisten wir ab. Man führte mich
zuerst nach Norden bis S eb i n d i n k il e,
einem kleinen Dorfe, das in der nn-
mittelbaren Nähe der großen Bambara-
ortfchaft Gige liegt; dann bogen wir
nach Südost ab und erreichten nach
fünftehalb Stunden M e d in a, ein ziem-
lich großes Soninkedorf. Famhara
begrüßte den Ortsvorsteher, der mir
sagen ließ, es seien hier viele Diebe
und ich möchte mein Gepäck ja recht
sorgfältig bewachen. Jene Diebe seien
so gewandte Burschen, daß sie sogar
einigen durchziehenden Mauren eine
Flinte und einen Stein Salz gestohlen
hätten. Hier traf das alte Sprüch-
wort zu: Auf einen Schelmen ändert-
halbe! Ich meinerseits stellte eine
Schildwacht auf, welche das liebe Pu-
blicum zurückweisen sollte; das war
aber eine schwere Aufgabe. Der Abend
brach herein und man hatte mir noch
nichts zu essen geschickt; den Leuten da-
gegen brachte man, dem bei denBam-
baras üblichen Brauche gemäß, Lack
Lallo, das heißt ein Mehl aus ge-
kochter Hirse; man bereitet daraus
einen dicken Teig, in welchen Aloo
oder Lallo geknetet wird, nämlich ge-
trocknetes Fleisch oder Fisch. Lallo be-
deutet eigentlich das getrocknete und zu
Pulver gestampfte Blatt des Baobab-
banms. Abends schickten die Penhls
etwas Milch für Famhara, der mir
davon abgab; weiter bekam ich in die-
sem Dorfe nichts, wohl aber vernahm
ich eine schlimme Kunde. Es hicß,
Ahmadu, König von Segn, habe die
Stadt Sansandig in Asche gelegt.
Theilweise wurde dieses Gerücht wider-
legt, aber ich konnte aus demselben
wenigstens so viel abnehmen, daß in
Segu nicht Alles in Ordnung war
und Sansandig, eine der wichtigsten
Städte, als ein Herd des Aufstandes
gegen den Sohn des Hadfch Omar be-
trachtet wurde. Ich bemühete mich, der
Sache näher auf die Spur zu kommen,
bemerkte aber bald, daß man mich planmäßig in die Irre
zu führen suchte, und deshalb war es mir nicht möglich, die
Wahrheit zu erfahren.
Mir blieb, gleichviel wie die Dinge am obern Niger
standen, keine andere Wahl, als vorwärts zu gehen, und so
trat ich am 16. Februar Abends meine Wanderung nach
Tnmbula an. Man findet diesen Ort auf keiner Karte,
aber meine senegambischen Begleiter hatten den Namen oft-
mals gehört. Daß ist auch erklärlich, weil das Dorf von
Palmyra nobilis
Soninkes bewohnt ist, von denen manche in den französischen
und englischen Handelscomptoiren gewesen waren. So hatte
mich schon in Kundian ein Serracollet-Diula erkannt, der
sich früher eine Zeit lang am Cazamance aufhielt, wo ich
den dort auf Station liegenden „Griff ort" befehligte.
Commandant von Tnmbula war ein großer Marabut
Namens Badara Tunkara; Hadfch Omar hatte ihn ein-
gesetzt und er war demselben sehr ergeben. Der hochbejahrte
Mann erschien mit einem Gefolge, das ihm die größte Hoch-
achtung bezeigte. Als Oberkleid trug
er einen schwarzen, mit Gold gestickten
Burnus, eine rothe Kappe und einen
weißen, eng anliegenden Turban. So-
fort fiel mir fein hübsches Gesicht aus,
eben fo seine merkwürdige Ähnlichkeit
mitAmat N'diaye An, dem Tamsir,
d. h. Oberhaupt der Religion, in Saint
Louis. Der große Marabut nahm uns
freundlich auf; er habe sich, fo fagte
er, lange in Sierra Leone aufgehalten;
er kenne und liebe die Weißen. Seine
Freundlichkeit bewies er auch dadurch,
daß er mir einen jungen Ochsen zum
Frühstück schickte. Gern hätte er mich
längere Zeit in seinem Dorfe behal-
ten, wollte von mir Baumwollenzeug
kaufen und bot mir dafür eine hüb-
scheTamba sembe, d.h. dunkelblaue
Schärpe. Ich ließ mich aber nicht
aushalten, weil ich an jenem Tage
noch nach Marconnah wollte, machte
dem alten Marabut ein Geschenk und
zog weiter. Der Doctor war iuzwi-
scheu von Kranken förmlich belagert
worden, hatte sich aber nur mit dem
Bruder des Häuptlings beschäftigen kön-
nen, der an einer Augenkrankheit litt.
Der Staub war so entsetzlich, daß es
ein Wunder ist, wenn Jemand nicht
an den Augen leidet; ich setzte meine
Reisebrille auf, mußte sie aber bald
wieder abnehmen, weil sie sofort mit
feinem Staub überzogen worden war;
wir aßen uud tranken Staub in und
bei Tumbula. Dasselbe ist gegenwärtig
Hauptort der kleinen und sehr srucht-
baren ProvinzLamba lake; sie wird
von Soninkes bewohnt, die arbeitsam
sind und sich im Wohlstande befinden.
In diesem Lande und in Fadugu, wo-
hin ich demnächst kommen sollte, wer-
den die sehr gesuchten schwarzen Lomas
nnd Tamba sambes verfertigt.
Marconnah liegt nur etwa drei
Stunden entfernt und der Weg führt
durch ein Hügelland mit hübscher Vege-
tation. Dort traten schon einzelne
Ronierpalmen (— Palmyra nobilis —) auf, und unweit vom
Dorfe erhebt sich ein Felsplateau, das erste, welches ich seit
langer Zeit gesehen. Das Dorf ist groß und hat eine Tata.
Dort sowohl wie bei Tikura überraschte mich der ausgedehnte
Anbau des Tabacks, und die Felder waren sehr gut gehalten.
Taback ist hier ein sehr wichtiger Handelsartikel uud wird in
Menge nach den Märkten am Djioliba, d. h. dem Niger,
ausgeführt. Man hat verschiedene Sorten, es mangelte mir
jedoch an Zeit, eine nähere Prüfung anzustellen. Wir reisten
Mage's Reise vom Seneg
so rasch, daß ich an den Rastplätzen genug damit zu thun hatte,
Notizen niederzuschreiben, die Route zu verzeichnen und mit
den Leuten zu palabern. Jede andere Arbeit war unmöglich,
ich fühlte mich ohnehin überbürdet und mußte uicht selten
alle meine Willenskraft aufbieten, um nur das Allernoth-
wendigste zu beschaffen. Famhara hatte einen Bruder in
diesem Dorfe und dieser kam mit dem Dorffchulzen; sie baten
mich, einen Tag in Marconnah zu bleiben. Darauf ließ ich
mich nicht ein, zum großen Verdrusse Famhara's, dein ich es
übrigens nicht verargen konnte, daß er gern bei den Seinigen
sich ein wenig ausruhen wollte. Man schickte mir zwei Zie-
gen, und da ich nun Fleisch in Menge hatte, so gab ich dem
Schulzen die beiden Vorderviertel von dem Ochsen, welchen
man mir in Tnmbula geschenkt.
Als ich am nächsten Morgen nach Soso aufbrach, ließ
Famhara sich nicht blicken; ich reiste ohne ihn ab mit einem
Führer, den ich im Dorfe nahm, und kam bald in einen
bis an den obern Niger. 69
prächtigen Wald von Palmyrapalmen. Um acht Uhr war
ich bei den Ruinen von Moniokuru, kam dann nach Uo-
rome und Uacha oder Uacharu, das in einer prächtigen
Ebene liegt. Hier standen überall Palmyrapalmen mit noch
unreifen Fruchtbüscheln. Unter ihrem Schatten lagerte ich;
manche Bäume hatten bis zu den ersten Zweigen eine Höhe
von mehr als 90 Fuß. Samba Aoro kletterte an einem
der kleinsten Bäume hinauf und fing an, die Frucht abzu-
schneiden, aber sofort thaten die Bauern Einsprache. Das
war um so mehr zu bedauern, da die Früchte noch nicht reif
waren; denn nun war ihre Milch, welche späterhin eine Man-
del bildet, noch frisch und flüssig, schmeckte vortrefflich und
war eben so süß wie die Kokosmilch. Famhara hatte sich
inzwischen eingefunden und kostete diese Milch; er hatte der-
gleichen aber früher ebensowenig gekannt wie jene Bauern.
Jetzt schalt er diese aus, führte ihnen zu Gemüthe, daß der
gütige Gott diese Bäume den Menschen gegeben habe, daß
Ein Dubabelbar
sie, die Bauern, die Palmen nicht gepflanzt und folglich gar
kein Recht Hütten, Anderen den Genuß der Früchte zu ver-
wehren. Wir setzten unsere Absicht durch und hieben etwa
hundert Palmen nieder. Als nun die Bauern von der Herr-
lichen Milch kosteten, waren sie ganz mit uns einverstanden
und machten sich nun auch ihrerseits ans Werk, um Bäume
niederzuschlagen. Sie werden noch lange an uns denken;
denn bislang hatten sie keine Ahnung davon, welch
eine herrliche Nahrung ihnen diese Milch gewäh-
ren könne. Von Jahrhundert zu Jahrhundert lebten sie
inmitten dieser Palmbäume, ohne zu ahnen, welchen Schatz
sie an denselben haben; sie warteten, bis die reife Frucht abfiel.
Diese aber ist sehr faserig und schmeckt stark nach Terpentin.
^ In jener Gegend leben viele Peuhls; sie werden hier als
Fnlars bezeichnet und haben schlanken Wuchs; ihre Gesichts-
züge beweisen klar, daß sie viel Blut von den Bambaras und
Soninkes in sich haben, sie unterscheiden sich aber von diesen
dadurch, daß sie sich frme Narben ins Gesicht schneiden.
bei Morubugu.
Am folgenden Tage hatten wir bedeckten Himmel und
kamen nur langsam fort; unsere abgemagerten Gäule waren
kaum im Stande uns zu tragen, Esel und Manlthiere wa-
ren in kläglichem Zustande. Aber wir befanden uns wenig-
stens auf offenem Wege und brauchten uns nicht durch Dor-
uengestrüpp Bahn zu brechen. Die Gegend bot mit ihren
hohen Palmen einen anmnthigen Anblick dar, und unterwegs
trafen wir mit zwei Karawanen zusammen; sie brachten
Baumwollenzeuge auf den Markt nach Mmina. Das Land
wird von Soninkes und Bambaras bewohnt, aber die Sprache
der letzteren ist vorwaltend.
Wir näherten uns nun dem Niger und unsere Karawane
wurde immer ansehnlicher, weil sich unterwegs viele einzelne
Partien anschlössen. Aber wann sollte ich den Fluß erblicken?
In Tnmbula sagte mau mir, er sei nur noch drei Tage-
reisen entfernt und jetzt, in Masoso, hieß es auch noch, daß
wir ihn in drei Tagen erreichen könnten. Am 19. erreichte
ich Morubugu, 13°50'38" N. Man erzählte, daß ein
70
Mage's Reise vom Senegal bis an den obern Niger.
Trupp Diulas (Souinkehändler) von den Rebellen in Bele-
dugn überfallen worden sei; diese zögen im Lande umher,
trieben Raub, hätten junge Mädchen entführt und erlaubten
den Landleuten nicht, ihre Erdmandeln (Arachis) einzuernten.
Das lautete bedenklich, aber ich mußte vorwärts, obwohl ich
nicht im Mindesten geneigt war, einen Kampf zu bestehen.
Unsere Thiers waren, wie gesagt, in kläglichem Zustande,
und ohnehin war meine Mission eine friedliche. Deshalb
wollte ich mich ohne Noth in keine Händel einlassen.
Ich kam in ein großes Dorf, das wieder einmal den Na-
men Medina führte; viel davon lag in Trümmern, und
die neue Tata nahm nicht einmal die Hälfte der frühern
Ortschaft ein. Hier sah ich zum ersten Mal bei den Schwar-
zen regelmäßig verfertigte Lehmsteine. Sie werden
von den Soniukes zum Aufführen der Hauswände verwandt;
als Mörtel dient ein Gemisch von kleingehacktem Stroh, fet-
tigem Thon, Pferdeurin uud allerlei Unrath von Thiereu.
Diese Masse läßt man etwa einen Monat lang gähren; dann
gilt sie für brauchbar. Während der Doctor und ich die
Lehmsteinfabrikation betrachteten, trällerte ich eine Arie aus
irgend einer Oper. Als ein Schwarzer uns singen hörte,
stand er ganz verdutzt da, und als wir darüber in ein Helles
Gelächter ausbrachen, kannte sein Erstaunen keine Grenzen.
Die Leute fragten sich, ob wir weißen Männer etwa Griots
seien, denn diese schwarzen Barden sind die alleinigen Mn-
siker in diesen Ländern. Man schmeichelt ihnen, hält sie
aber in geringer Achtung; sie gelten für eine Art von Pos-
senreißer, über die man lacht und denen man kleine Gaben
reicht. Aber weiße Männer als singende Griots! Das
war neu dort zu Lande.
Unsere Karawane bestand nun aus mindestens ändert-
halb hundert Manu, uud über eiue solche Anzahl erschraken
die Bewohner des Dorfes Puta dermaßen, daß sie sich in
ihren Häusern verschlosseu. Wir unsererseits hätten aber,
Palast der Tvchter des letzten Königs von ^amina.
abgemndet wie wir waren, mit unseren elenden Thieren und
dem vielen Gepäck, einem Dutzend gut bewaffneter, entfchlof-
sener Männer keinen erfolgreichen Widerstand leisten können.
Indessen war es in jener Gegend nicht geheuer und ich be-
reitete mich auf Alles vor; auch hatten wir Späher voraus-
geschickt, die auskundschaften sollten, ob etwa die Rebellen
von Beledugu iu der Nähe seien. Bald hörte ich ein lautes
Geschrei; man brachte einen Mann und zwei Frauen als
Gefangene ein, angeblich rebellische Bambaras. Man band
ihnen sofort die Arme zusammen, nahm ihnen jedes Klei-
dnngsstück ab und gab ihnen erst später einige Fetzen zurück.
Zwei andere waren glücklich entkommen. Bon diesem an
sich unbedeutenden Vorfalle wurde viel Aufhebens gemacht,
und von Bakel ans schrieb man nach St. Louis, ich sei über-
fallen worden, habe jedoch die Räuber zurückgeschlagen und
zwei derselben in Segu an den Sohn des Hadsch Omar ab-
geliefert." —
Wir wollen aus den ferneren, etwas eintönigen Schilde-
rungen das Folgende herausheben. Mage kam nach Ba-
namba, einem von Soninkes bewohnten Dorf; es war das
größte, welches er bisher gesehen. Der Häuptling war eben
ausgezogen, um Tribut für feinen Gebieter Ahmadn zu er-
hebeu, kam aber bald nachher zurück. Die Schwarzen dräng-
ten sich dicht an den weißen Mann hinan und wurden ihm
sehr lästig; er wurde sie erst los, als er sie mit Wasser be-
goß, „welches die Schwarzen wie Katzen fürchten". Das
Dorf hat breite, krumme Straßen; die Häuser sind ebenerdig
und haben Thüren, durch welche man aufrecht gehen kann,
— die ersten dieser Art, welche Mage im Lande gesehen.
Einige kleine Plätze sind von Bäumen beschattet; dort wird
Markt gehalten. Unter einem Butterbaume (Kernte, Schea
oder C<z, wie die Bambaras ihn nennen) wurden Kuchen aus
Hirsemehl und Butter gebacken; sie werdenMomis genannt
und schmecken ranzig. Eine Art von Napf diente als Back-
ofen.
Jenseit des Bambaradorses Sikolo fällt das Gelände
Mage's Reise vom Seneg
schroff ab; Mage befand sich nun auf einem etwa 40 Fuß
tiefer liegenden Plateau und eine Stunde später auf einer
andern, viel niedrigem Stufe. Als er in Morubugu an-
kam, war er völlig erschöpft. Neben diefem Dorfe stand ein
ganz prächtiger Dubabelbaum (eine Ficus); er ist immer
grün und sein Gezweig bildet ein schattiges Laubdach, das
aus etwa fünfzig lebendigen Säulen ruhet. Dort rastete
der Reisende eine Weile; vor ihm lag eine platte Ebene.
Nach drei Uhr Nachmittags kamen einige Palmen in Sicht,
bald nachher einige Mauern.
So wurde endlich Aamina erreicht, die zweitwichtigste
Handelsstadt int Königreiche Segu und um vier Uhr stand
Mage am Ufer des Niger.
Vor der Stadt lag eine ungeheure Sandbank; auf einer
Menge von Pfählen waren Netze zum Trocknen aufgehängt,
und am andern Ufer zog sich gleichfalls eine weite Sandbank
hin. Mungo Park's Schilderungcu zufolge erwartete er
bis an den obern Niger. 71
einen breiten, imposanten Strom zu sehen, doch vor ihm lag
nur ein Fluß von etwa 600 Meter Breite zwischen flachen
Ufern. Aber bei Hochwasser hat der Niger bei Uamina ge-
wiß mehr als 2000 Meter Breite.
Ein Zweck der gefahrvollen Reise war erreicht. „Mit
sehr schwachen Mitteln war mir gelungen, was seit Mungo
Park so manche Andere vergeblich erstrebt hatten. Ich stand
nun an dem großen Strome, ohne einen einzigen Mann ver-
loren und meine Borräthe beträchtlich erschöpft zu haben.
Werde ich, das war meine Frage an mich selbst, nun auch
in Bezug auf den übrigen Theil meiner Sendung glücklich
sein? Luftschlösser! Bolle siebenundzwanzig Monate mußte
ich widerwillig au demselben Strome verbleiben, nach dessen
Anblick ich mich so lebhaft gesehnt hatte."
Mage ritt um die Stadt herum, an den kleinen Häusern
hin, welche dem Flusse entlang stehen; zu diesem führen Hin-
terthüren hinaus. Ein unregelmäßiger Userdamm, auf wel-
Fahrzeug auf
cheu alle möglichen Unreinigkeiten geschüttet werden, bildet
eine Art von Schutz gegen das Hochwasser. „In die Stadt
gelangten wir über einen kleinen Platz, wo ein Schmied unter
einem Schuppen arbeitete; dieser bestand aus vier Stangen,
über die man ein paar Matten gelegt hatte. Wir mußten
bald nachher in einem Wiukel halteu, vor der Thür eines
Hauses, das mir wie eine Moschee vorkam, weil es mit einer
Art von Arabesken verziert war, welche entfernt an mann-
schcn Stil erinnerten. Ich erfuhr fpäter, daß in diesem
Hause eine Tochter des letzten Königs Ali von Aamiua ge-
gewohnt hatte; dieser war der Sohn jenes Königs Mansong,
0er zu Mungo Park's Zeiten herrschte. Wir entlasteten nn-
scre Thicre, ich ließ das Gepäck in einem Winkel aufstauen
und warf mich vollständig erschöpft nieder. Dr. Quintin
that ein Gleiches. So lagen wir wohl eine halbe Stunde
da, während die Menge immer mehr anwuchs. Die schwar-
zen i.eute wollten einmal weiße Menschen sehen, und die
Mauren ihrerseits benahmen sich am unverschämtesten.
dem Niger.
Unsere Lage war fast unerträglich geworden, als Fam-
hara mit einem alten Schwarzen erschien, der uns Luft zu
machen versuchte. Er rief: Asigi, Asigi! (setzt Euch) und
das that auch die Menge, es strömten aber unablässig andere
herzu. Dieser Alte war ein Soninke und erbot sich, uns
eine Wohuung zu besorgen. Zunächst führte er uns in das
Hans, welches vormals die Königstochter innegehabt hatte,
fand es aber nicht passend, weil die Decken eingefallen und
die freien Räume als Aborte benutzt worden waren. Er
führte mich dann in feine eigene Wohnung, und fo war ich
denn endlich wieder unter Dach und Fach bei dem alten Se-
rinte, meinem gefälligen Wirthe. Aus dem Wege dorthin
folgte uns in den Straßen eine große Menschenmenge, die
nur dadurch einigermaßen zurückgehalten wurde, daß Famhara
links und rechts in sie hineinpeitschte, wobei zu meinem Ge-
nüge auch aus die hochmüthigen Mauren mancher Schlag siel.
Diese, welche in jedem Schwarzen nur einen verworfenen
Sklaven fehen, erfuhren nun ihrerseits eine Demüthignng.
72
Mage's Reise vom Senegal bis an den obern Niger.
Vor der Thür von Serinte's Hause saß eine alte Höke-
rin, welche geröstete Erdmandeln und Bohnen, Mehlkugeln,
die mit Honig, Pfeffer und anderen Gewürzen versetzt sind,
hier feilbot; sie hatte anch die fchon früher erwähnten Mo-
mis oder Hirsekuchen mit Karitebutter. Neben der Hökerin
arbeitete eine wichtige Person, nämlich der Schuster des Haus-
wirthes. Er war des letztern Vertrauensmann, Freund und
Lederarbeiter. In seiner letztern Eigenschaft gehört er einer
verachteten Kaste an, gleich den Griots, und auch das ärmste
Frauenzimmer einer andern Classe würde sich nicht dazu ver-
stehen, einen solchen Lederarbeiter zu Heirathen.
Durch einen sinsteru Gang kam man in zwei innere Höfe;
dort wohnten die Sklaven, deren mehrere im Hause selbst
geboren waren und deshalb als Mitglieder der Familie be-
trachtet wurden; auf einer andern Seite und dort abgeschlos-
sen lagen die Frauengemächer. Uns wurde ein besonderer
Hofraum angewiesen, ans welchen vier oder fünf beinahe
mannshohe Thüren hinausführten; die Gemächer waren aber
so klein, daß man kaum ein
Bett darin hätte stellen können.
Wir richteten uns ein so gut es
eben ging, und unser Wirth
versprach, die neugierige Menge
nach Kräften fern zu halten.
Das war jedoch eine sehr schwie-
rigeAufgabe. So kamen z.B.
maurische Karawanenkausleute
aus Tischit und Tuat, durch
welche Serinte sich hatte ein-
schüchtern lassen, und belästig-
ten mich mit allerhand Fragen.
Anfangs war ich höflich und
sagte ihnen, daß ich Ruhe uö-
thig habe. Als das keinen Ein-
druck auf sie machte, legte ich
mich auf meine Matte hin nnd
der Maure aus Tuat forderte
mich dann auf, mohammedani-
sche Gebete herzusagen. Nun
riß mir alle Geduld und ich
gab ihm eine Antwort, die zu
derb ist, als daß ich sie hier
wiederholen könnte. Darüber
sreueten sich meine Leute, ob-
wohl sie zumeist Muselmänner
waren, doch sehr, denn auch
ihnen sind die Mauren uuaus-
stehlich. Der Tuater, welchem ich dann die Thür vor der
Nase zuschlug, kam nicht wieder, und den anderen Mauren
goß ich Wasser ins Gesicht und auf die Kleider. Das hat
ihnen mißfallen und nun blieben auch sie fort." —
Wir haben schon im vorigen Jahre eine Schilderung des
Lebens und Treibens in dieser ehemals wichtigen Handels-
stadt gegeben (—„Auf dem Marktplatz inUamina am
Niger; vonCapitän Mage"; „Globus" XII, S. 89—)
und damals hervorgehoben, daß die Bevölkerung derselben aus
friedlichen Soninkes bestehe, welche weder den Truppen des
Hadfch Omar noch jenen seines Sohnes Ahmadn Widerstand
leisteten. Nun gaben sich die heidnischen Bambaras, welche
gegen den Mohammedaner nnd Toueouleur Ahmadn, ihren
Bezwinger, in Aufstand waren, alle Mühe, sich Gammas zu
bemächtigen, um ihrem Feinde die Straße nach Nioro zu
verlegen, weil er von dort einen bedeutenden Theil seiner
Vorräthe bezog. Drei Viertheile von Uamina fand Mage
in Trümmer und unbewohnt, die Felder der Umgegend lagen
wüst.
Ein Soninkemädchen
Serinte führte feinen europäischen Gast in den Bilur
oder Boleru, ein großes Versammlungshaus, das uube-
wohnt ist, in welchem sich aber Leute einfinden, welche sich
mit einander in kühlem Schatten unterhalten wollen. Es
ist ein sogenanntes Palaverhaus, in welchem dann und wann
auch Nachts Leute ein Unterkommen suchen; sie schlafen ans
der platten Erde. Dort traf Mage zusammen mit Sim-
bara Sakko, einem alten Soninke; er war Häuptling oder
Vorstand des großen Clans der Sakkos. Am andern Mor-
gen ging er mit Serinte zu Bakary Kaue, dem Gilde-
Vorsteher der Bootsleute, welche alsSomouos, d.h. Fischer,
bezeichnet werden. Im Hause derselben sah er eine große
Menge von Fischereigeräthen aller Art, welche im Lande
selbst verfertigt werden; doch hatten auch europäische Angel-
haken bis dorthin ihren Weg gefunden. Die Seile und Lei-
nen werden aus einer Art von Hanf gemacht, der im Bam-
bara N'da n'du genannt wird; bei den 2)olofS heißt er
Bissabbnki oder wilder Bissab; er wächst in Menge an
den Flußufern und liefert eine
graue, fehr starke und daner-
hafte Fafer, welche vom Wasser
nicht angegriffen wird, wäh-
rend die aus der Baobabriude
verfertigen Seile bald faulen.
Bakary Kaue zeigte dem
weißen Manne seine Frauen,
die allerdings nicht hübsch wa-
reu, und war so freundlich, nicht
nur ihm eine Pirogue zur Ver-
fügung zu stellen, sondern ihn
zu begleiten. Solch ein Niger-
fahrzeng ist etwa 30 Fuß
lang nnd nicht über 4 Fuß breit.
Die Pirogue, in welcher sich
Mage befand, war aus zwei
halben Kähnen znsammenge-
setzt; zum Kalfatern hatte man
Gras, Hanfwerg und fetten
Thon genommen. Manchmal
nagelt man an Stellen, wo
Löcher oder Risse sich zeigen,
auf der Außenseite Bretter auf;
die eisernen Nägel, welche man
dazu verwendet, werden im
Lande selber verfertigt. Unsere
Abbildung zeigt, von wie pri-
mitiver Art ein solches Fahrzeug
erscheint und wie schwerfällig und unbeholfen es ist. Welch
ein Abstand zwischen einem solchen Negerkahn und den präch-
tigen Schiffen der Südseeinsulaner! Mage fand das Wasser
des Niger viel kälter als das im Senegal, und den Strom
selbst, der allerdings damals seinen niedrigsten Wasserstand
hatte, bei Aamina kaum 2 Meter tief. Es fuhren, weil gerade
Markttag war, viele Kähne hinüber und herüber. Die Frauen
waren alle wenigstens mit einem Lendenschurze bekleidet; jene
der Bambaras und der Fnlbe gehen gewöhnlich barhaupt;
manche tragen Ringe anch am Nasenknorpel und um die
Arme. Die Bambaramänner tragen eine weiße oder gelbe
Baumwollenmütze von eigentümlicher Form. Dieselbe hat,
wie unsere Abbildung zeigt, zwei aufwärtsstehende Zipfel und
bildet eine Art von Sack, in welchem man allerlei Dinge
verwahrt, namentlich die beliebten Kolo- oder Gnrunüsse.
Am andern Tage packte Mage allerlei von seinen Sieben-
sachen aus, um damit Handel zu treiben. Brasilische Gra-
nate und runde Korallen stachen insbesondere den Maurin-
nen ins Auge und der Bernstein zog Käuferinnen aller Clas-
Das Balls
feit an; nicht minder gefielen die Niaye oder feinen Glas-
perlen aller Farben. Die Einnahme des weißen Mannes
betrug nicht weniger als 54,000 Kaurimuscheln, welche auch
in Uamina ein Hanptzahlmittel bildeu. Aus dem Markte
fand er viel Salz aus der westlichen Sahara, englische Klei-
derstosfe und sowohl Ranch- als Schnnpstaback.
Man begreift sehr wohl, daß Mage ungeduldig war, das
nächste Ziel seiner Reise, die Stadt Segu, zu erreichen, denn
^l in Rom. 73
dort befand sich Sultan Ahmadu. Durch den eben von dort
zurückgekehrten Bürgermeister von 2)antiita wurde der Euro-
päer im Namen dieses Herrschers begrüßt. Mit Mühe und
Noth verschaffte er sich einige Piroguen, vou denen die eine
an nicht weniger als neun Stellen leck war, richtete sich noth-
dürftig ein und fuhr stromab. Die Reger wissen mit dem
Segeln nicht umzugehen, sie schieben den Kahn mit Stangen
fort und benutzen dann und wann Handruder. Bei niedri-
Gesichtstypus und Kopfschm
gem Wasserstande hat der Niger in jener Gegend einzelne
Stellen, welche selber für kleine Dampfer nicht zu Passiren
wären; Kähue jedoch können zu jeder Jahreszeit die ganze
Strecke von Mamanabngn bis Timbnktu befahren.
Die Stromfahrt war von keinem besondern Interesse.
Mage kam an den Ortschaften Tamani, Mignon und
auch an Say vorüber, das einst von Mungo Park besucht
worden war; weiter abwärts lag das große Dorf Sama,
der Bambaras in Hamina.
welches aus drei verschiedenen Abtheilungen besteht, in deren
jeder eiue verschiedene Völkerschaft wohnt: Bambaras, So-
ninkes und Somonos.
So erreichte er Segn. Hier verlassen wir für jetzt den
Reisenden; seine interessanten Erlebnisse am obern Niger
und sein mehrjähriger Aufenthalt beim Sultan Ahmadu
sollen später einmal geschildert werden.
Das Ballsp
Festkämpfe, Wettspiele waren einstens die höchste Freude
der Römer; der lauteste Ruf der, welcher die Circeuses be-
gehrte. Dies Erbstück aus Roms glänzender Zeit bewahrte sich,
nachdem schon lange alle anderen entschwunden waren, und
wach blieb zum Mindesten immer die Erinnerung daran, die
Sehnsucht danach. Als dann anderswo die ritterliche Boll-
kiaft sich in Turnieren austobte, waren zu Rom Riugkämpse
und Wettrennen im Schwange (am Monte Testaccio und
ans Piazza Navoua) uud zu Lebzeiten des Tribuns verblu-
teten im Kolosseum 18 adelige Jünglinge, von Stierhörnern
durchbohrt. Ja, «och in diesem Jahrhundert fanden nicht
ungefährliche Giostren, Stiergefechte, im Mausoleum des
Globus XIV. Nr. 3. (August 1868.)
iel in Rom.
Augustus statt. Uud jetzt? Im Stadium des Domitian hörst
Du vielleicht ein lebhaftes Zungengefecht zwischen einer Frut-
tarola uud einer Käuferin, siehst am flaviauifcheu Amphi-
theater zerlumpte römische Brut ihr unschuldiges Marron-
cino spielen, uud im Circus Maximus gar ruhen vom Härte-
steu Kampfe, von all dem Elend und der Verachtung, die
ihnen in der heiligen Stadt beschicken sind, die Kinder Israels
aus. Aber doch hat Rom noch eine Arena; es bekämpfen
sich alltäglich die Blauen und die Rothen, wie vor Jahr-
Hunderten die Blauen und die Grünen, und einen glückli-
chen Schlag des Cestus lohnt lauter Beifall. Nur giebt
es dabei keine Todte noch Verwundete; unter Pins des
10
74 Das Ballsp
Neunten „milder" Regierung wird kein unnöthiges Blut
vergossen.
Die Arena, welche ich meine, ist das Sferisterio an den
Quattro sontane, zum Palast Barberini gehörig, welches
vom Fürsten Francesco Barberini 1814 erbaut und von
seinem Sohne Enrico in diesem Jahre erneuert worden ist.
Hier findet jetzt wiederum, nach zwanzigjähriger Unterbre-
chuug, während dreier Monate, jeden Tag die beiden Stnn-
den vor Avemaria, das Ballspiel (giuoco del pallone) statt,
ein altrömisches Spiel, welches sich auch in Spanien und
Südfrankreich erhalten hat. Der länglich viereckige, ganz
ebene Raum von bedeutender Ausdehnung (trotzdem hält ihn
die allgemeine Ansicht noch für zu kurz) ist auf der einen
Langseite von einer hohen mit Luftlöchern versehenen Mauer, .
die sich nach den Enden zu ziemlich absenkt, auf allen übri-
gen Seiten von den Zuschauerplätzen eingeschlossen. An
derjenigen Kurzseite, von welcher der Ball geworfen wird
(parte della battuta), erhebt sich eine durch Bedeckung und
Netzwand vollständig geschützte Gallerie (loggia). Gleicher-
maßen versichert ist die gegenüber (parte della ribattuta)
liegende doppelte, leicht ausgebogene Logenreihe (palchi). Die
Hälfte der darunter befindlichen Sitze sowie diejenigen an
der Langfeite — theils in der Arena selbst, theils dahinter
aus hohen Steinstufen (gradinata), theils endlich auf der
Plattform (loggiato), wo auch ein Cafe errichtet ist — sind
gar nicht oder durch Netze nur ungenügend gedeckt, da der
Ball immer von oben Zugang hat.
Dieser Ball, pallone, von den alten Römern follis ge-
nannt, besitzt einen Durchmesser von ungefähr einem Deci-
meter und besteht aus einer Schweinsblase, worüber zunächst
eine Hülle von Sämischleder gespannt ist und schließlich acht
Stücke von Sohlleder in Gestalt von Kugeldreiecken sorgsam
zusammengenäht sind. Die Luft wird durch eine enge Oesf-
nung hineingepumpt; innen an dieser befindet sich ein leder-
nes Kläppchen, welches bei größerer Verdichtung der Luft stär-
kern Widerstand leistet und hermetisch schließt. Dieser gegen
eine Libbra schwere Ball ist hart und elastisch zu gleicher
Zeit und springt von der Erde bis zu einer Höhe von sechs
Meter zurück.
Die Gesellschaft, welche gegenwärtig ihre Vorstellungen
giebt (meist Romagnolen), ist aus 12 giuocatori, 2 man-
datori (auch mandarini), 2 pallonari und 1 cacciarolo
oder chiamatore zusammengesetzt.
Die Giuocatori, Ballspieler, die jedesmal in der Zahl
von 4 oder 6 oder 8 auftreten, sind möglichst leicht bekleidet,
mit einem weißen Camisol, weißen Kniehosen und Strüm-
psen, und in Schuhen. Als Kennzeichen der Partei tragen
die Einen einen rothen, die Anderen einen hellblauen Schurz.
Die rechte Hand und ein Theil des Unterarms ist mit dem
Bracciale bewaffnet. Der Ball würde nämlich nicht mit
der Pritsche und noch weniger mit der bloßen Hand zu regie-
reu sein; auch der Ledercestus, den die Alten beim Ballspiel
anwandten, war nicht ganz praktisch und ungefährlich. Und
fo ist denn schon seit undenklichen Zeiten der Bracciale im
Gebrauch, der den Ball mit größter Sicherheit und Stärke
schleudert. Dieses Werkzeug ist ein Stück hartes Holz, 61/2
Libbra schwer, mit cylinderförmiger Aushöhlung, in welche
die Faust leicht, doch ohne vielen leeren Raum zu lassen, ge-
steckt werden kann. Ein innen angebrachtes rundes Quer-
holz dient als Griff. Die Außenseite ist mit großen Zähnen
oder stumpfen Pyramiden befetzt, welche kreuz-, nicht fchach-
förmig vertheilt sind, und die das Ausgleiten des Balles
verhindern sollen.
Der Mandatore in einem ganz weißen Polichinellanzng
hat die Aufgabe, den Ball in einem flachen Bogen dem von
einem geneigten Laufbrette (trappolino) auf ihn zueilenden
?l in Rom.
Battitore zum Schlag zu werfen. So heißt nämlich der-
jenige von der jedesmaligen Partei der Battuta, welcher den
Ball zu Beginn des Spieles oder, nachdem derselbe außer
Cours gekonimen ist, auswirft, während fämmtliche anderen
Spieler ihn nur zurückwerfen (rimandare).
Die Pallonari füllen beständig in einer Ecke der Arena
die Bälle mit Lust; denn diese entweicht natürlich nach und
nach durch die wiederholten Schläge, wodurch der Ball an
Elasticität verliert.
Der Cacciarolo, Kampfwart, steht in der Mitte der Lang-
seite vor den Zuschauern an einem Pfahle, den ein am Bo-
den hinlaufender, die Arena in gleiche Hälften theilender
Marmorstreif mit der gegenüber an der Mauer gemalten
Meta, iu deren Knopf die barberinifche Biene erscheint, ver-
bindet. An Pfahl und Meta befinden sich Vorrichtungen
zur Befestigung eines Strickes, wovon nachher. Der Cac-
ciarolo alfo trägt Mütze und Blonfe von blauer Farbe, doch
dunkelblauer, sonst wäre eine gewisse Parteilichkeit angedeutet.
Er hält in der Hand ein blan- und rothgetheiltes Holzschild,
auf welchem er durch das Einstecken von drei Metallstiften
in Löcher einestheils die Zahl der von der einen oder der
andern Partei gewonnenen Spiele (denn es wird immer so-
fort abgezogen), anderntheils das Berhältniß beider Parteien
während eines Spieles bezeichnet. In zweifelhaften Fällen
bezieht er sich auf einen hinter ihm sitzenden Depntirten; solche
wohnen allen öffentlichen Spielen bei.
Jeden Nachmittag wird nach einer kurzen Vorübung oder
Plänkelei (palleggio), die jedoch selten ohne Interesse ist,
eine Reihe von regelmäßigen Spielen gespielt. In Bezug
auf den Platz, da die Battuta weit mehr Chancen bietet,
vertheilen sich dieselben gleich unter beide Parteien und zwar
wird nach je zwei Spielen gewechselt; nur von den beiden
letzten, den sogenannten Ehrenspielen (all' onore), kommt
eins aus die Blauen, eins auf die Rothen. Sie pflegen da-
bei an einander vorüberzuschreiten, ohne sich anzureden, ja
ohne sich anzusehen, um den Anschein eines Einverständnisses
zu meiden, von welchem dann der Ausgang im Publicum
geschlossener Wetten abhängig sein würde. Auch die Spieler
selbst fordern sich zuweilen zu einer Art von Wette heraus,
deren Gewinn oder Verlust den günstigen oder ungünstigen
Erfolg der Partei verdoppelt. Es ist oft vorgekommen, daß
ein Einzelner feine Partei, besonders wenn er deren Haupt-
stütze ist, aus diesem oder jenem Grunde (welcher jedoch im-
mer ein klingender gewesen sein wird) zu Schaden gebracht
hat; unter den vielen Hunderten in römischer Mundart ab-
gefaßten Sonetten von Ginfeppe Gioachino Belli begegnen
wir auch einem, das einen solchen ränkevollen Ballspieler
schildert. Beim ersten Auftreten in der Battuta oder Ri-
battuta macht jede Partei dem Publicum ihr Complimeut
und zwar der Battitore, indem er einen leichten Anlauf nimmt,
wie um den Ball zu schleudern, ihn aber nur schwach berührt
und sich dann verbeugt.
Das Spiel geht nicht in der Mitte der Arena vor sich,
sondern auf der Seite der Mauer. Gewöhnlich spielen drei
gegen drei, in zwei sehr spitzwinkeligen Dreiecken grnppirt,
da je Einer (il terzo) den beiden Anderen ziemlich weit vor-
ansteht, die er, wenn er den Ball nicht selbst zurückschlägt,
durch Zurufe aufmerksam macht und anfeuert. Bei der ein-
fachen Spielweise (passa-e-ripassa) ist nur die Weite und
die Richtung des Wurfs bestimmt. Der Ball muß den
Querstrich in der Mitte der Arena Passiren, ohne vorher den
Boden berührt zu haben, und darf nicht nach rechts oder links
abgehen, d. h. weder jenseits der Mauer noch jenseits der die
Zuschauer schützenden Netzwand oder eines mit ihr in der
Entfernung von etwa 472 Decimeter parallel laufenden
Marmorstreifs niederfallen. Das bloße Anschlagen des Bal-
Das Ballspiel in Rom.
75
lcs an die Mauer ist nicht verpönt. Der Ball kann ent-
weder, ehe er zur Erde gekommen ist (posta), oder nach ein
maligem Absprung (di sbalzo) zurückgeworfen werden. Zu
weilen wird durch einen ausgespannten Strick die dritte
Raumbedingung, die einer gewissen Höhe, hinzugefügt (giuo-
care col cordino). An diesem Strick ist ein Netzbehang
mit vier Glöckchen befestigt, damit der unmittelbar darunter-
gehende von dem unmittelbar darübergehenden Balle leichter
unterschieden werde. Letztere Methode, bei welcher man ge-
wöhnlich zu Vieren spielt, hat einen großen Vorzug, nämlich
den, daß sie die kurzen und flachen Würfe ausschließt, welche,
unschön und roh, doch ebenso schwierig zu Pariren sind, wie
die Floretstöße eines Naturalisten. Der in jeder Hinsicht
beste Wurf dagegen ist die Votata: der Ball trifft die an
einer der beiden KurzseiteK befindlichen Zuschauerräume oder
fliegt über sie hiuweg. In diesem Falle ist es den Gegnern
durchaus unmöglich, den Ball zurückzusenden. Denn es gilt
als Fehler (maniamento) nicht bloß der fehlerhafte Wurf
(fallo), sondern auch die verschuldete oder unverschuldete Nicht-
erwiderung eines guteu Wurfs. Ein Fehler macht den Geg-
nern einen Point und jedes Spiel besteht aus vier Points.
Die beiden ersten Points werden als 15 gezählt (daher heißt
der Point überhaupt quindici), die beiden letzten als 10,
so daß wer zuerst 50 erreicht, gewinnt. Indessen wenn beide
Parteien auf 40 stehen würden, werden auf jeder Seite 10
abgerechnet, so daß der Sieg wenigstens durch einen Vorsprung
von 2 Points errungen wird. Zur Verdeutlichung geben
wir das Beispiel einer Partie. Der Cacciarolo ruft und
notirt zugleich:
i torchini 15!
15 pari!
i torchini 30, i rossi 15!
40, „ 15!
40, „ 30!
alle due pari!
i torchini 30, i rossi 40!
Eh 50!! 4 giuochi i rossi (welche vorher 3 hatten)
e si passa (man wechselt die Plätze)! Matsch (marcio)
ist es, wenn die Einen auf 50 gelangen, ohne daß den An-
deren ein Point angerechnet worden ist.
Das Spiel scheint der Beschreibung nach einförmig zu
sein und diesen Eindruck macht es in Wirklichkeit auf die
meisten Fremden. Die Römer hingegen, und zwar Herren
und Damen, Soldaten und Geistliche, die Jugend, der das
Spiel noch neu ist, uicht minder als die Aelteren, besuchen
das Sseristerio mit großem Andrang und ich gestehe, daß
ich ihren Geschmack theile. Denn so einfach die Bedingun-
gen des Spieles sind, so erfordert dasselbe doch eine beden-
tende Gewandtheit und Kraftanstrengung und erhält durch
lebendigen Fortgang stets in Spannung. Ans den verschie-
denartigen Stellungen dieser kräftigen Gestalten, die mich
vielfach an kämpfende Gladiatoren erinnern, wird auch der
Künstler Manches schöpfen können. Bald sehen wir den
Spieler sich niederkauern oder gestreckt hinwerfen oder glatt
an die Mauer drücken, um dem heransausenden Balle aus-
zuweicheu; dann wieder mit gebogenen Knien und vorge-
streckten! Oberkörper herzustürzen, um den zu kurz oder in
schräger Richtung geworfenen Ball noch aufzufangen; oder
in ruhiger würdiger Haltung ihn erwarten und mit weit
ausgeholtem Schlage zurückzuschaudern. Bene! Bravo! und
Händeklatschen ertönen bei einem besonders schönen, d. h.
hohen und weiten Wurfe oder bei einem schwierigen Rück-
schlag, aber hauptsächlich, wenn der Ball längere Zeit in
regelrechter Weise hin- und herfliegt. Denn nur in der
Minderzahl der Fälle legt er den Weg mehr als vier Mal
zurück; zwölf Mal z. B. ist schon eine große Seltenheit. Mit
Mißfallsbezeignngen ist man weit sparsamer, was nicht so-
wohl aus Gutmütigkeit oder Wohlerzogenheit, als aus einer
gewissen Unsicherheit des Urtheils herrühren mag. Eine sehr
häufige Veranlassung zu allgemeiner Heiterkeit bietet das
Niederfallen des Balles unter die Zuschauer. Mau springt
und beugt sich dann zur Seite, als ob eine Bombe einschlüge,
und da am meisten die Chlinder, welche der Römer bombe
nennt, ausgesetzt sind, so könnte man mit einem Wortspiele
von dem Aufeinanderplatzen der Bomben reden. Jetzt zer-
schmettert der Ball, welcher hart wie Holz ist, nur die dünne
Lehne eines Stuhles oder versetzt einen schlummernden Hund
in tödtlicheu Schrecke»; jetzt richtet er unter den Limonaden,
Syrupeu und Moree eines hernmwaudeluden Burschen die
heilloseste Verwirrung an oder befördert den kleinen buckligen
Zigararo — der unermüdlich sein: „Hier ist der Cigarren-
Händler! wir haben forti! scelti! wer will?" schreit— rasch
einige Schritte vorwärts. Ost wird das Geschoß erst durch
den unberechenbaren Rückprall gefährlich und nimmt Diesem,
der verliebt uach einer Loge hinaufblickt, von hinten die Kopf-
bedeckung ab oder läßt sich Jenem, der sich mit schadenfrohem
Lächeln umsieht, wuchtvoll aus die Nase nieder, die er von
da ab immer und immer wieder verdrießlich befühlt. So
durchaus scherzhaft ist jedoch die Sache nicht; in früheren
Zeiten hat man Manchen halbtodt hinausgetragen, ja, ein
niit Kraft allerdings ans größter Nähe gegen die Brust eines
Ochsen geschleuderter Ball soll im Stande sein, diesen wirk-
lich zu tödteu. Noch vor Kurzem erhielt ein Speckhändler
eine solche Quetschung, daß ihm 36 Blutegel gesetzt wurden.
Der Ballspieler wird gut bezahlt (man sagt mir, 45 und
50 Scudi monatlich, sowie Benefiz; die Stunde Arbeit also
über V/i Thaler). Aber auch an Ehre mangelt es ihm
nicht. Die Namen der Tüchtigen sind in Aller Munde und
ihr Andenken erhält sich lange; so waren einst, vor vierte-
halb Jahrzehnten, Gentiloni und Tuzzuloucino berühmt.
Jetzt ist der Liebling des Pnblicnms ein gewisser Agostinelli,
der aber kaum anders als mit dem Kosenamen Bnnbo, d. i.
Knabchen — denn er ist jung, hübsch und leicht — bezeich-
net wird. Bimbo soll als Zeichen öffentlicher Anerkennung
eine Binde empfangen. Einige der Gesellschaft besitzen schon
solche, die sie in anderen Städten erhalten haben. Früher
wurde in Rom das Ballspiel auch von Liebhabern geübt, so
unter Anderen gerade in nnserm Sseristerio von Seiner Hei-
ligkeit, da er — heitere Zeit! — noch bei der Nobelgarde
diente. Was Wunders, daß dieses Spiel zu dichterischen
Ergüssen begeistert hat? In der Bibliothek der S. Maria
sopra Minerva entdeckte ich eine zn Zeiten Cosmo's II. oder
des III. verfaßte lateinische Elegie mit mythologischem Zier-
rath: Ludus follis, und Gabriello Chiabrera richtete an
Cintio Veuauzio da Cagli, den Sieger im Florentiner Ball-
spiel des Sommers 1619, schwülstige Verse:
Und in der Glnth des Tages
Den Flug der großen Bälle zu regieren,
Und rings die lnst'gen Pfade mit dem Echo
Der Schläge zu erfüllen,
Wie Jupiter zuweilen Blitze schleudernd
Die Fischer beben läßt nnd Eichen spaltet.
Rom. Hugo Schuchardt.
10 *
76
Bernhard Endrulat: Reisebilder aus der romanischen Schweiz.
Reisebilder aus der romanischen Schweiz.
Von Dr. Bernhard Endrulat.
iv.
Der Palü-Gletscher. — Das Puschlavthal. — In Poschiavo. — Der Badeort Le Prese.
Die Lage des Thals von Pontresina ist der Art, daß
man in ihm aus zwei Seiten: ganz nahe im Osten und un-
fern im Süden, von italienischem Grund und Boden um-
schlössen wird. Wie sehr aber widerspricht in ihm Alles den
verklärten Vorstellungen, den sonnigen Phantasiebildern, die
der Name Italien in uns erzeugt! Alles, was wir noch
gesehen haben, trägt den strengen, wilden, großartigen Aus-
druck des Nordens an sich, und Italien — so lau und blau,
so sonnig und wonnig! Und doch! So himmelweit diese
Gegensätze aus einander zn liegen scheinen, wenige Stunden
genügen, uns aus dem einen in die Mitte des andern zu
versetzen. Eben standen wir noch, wo im ewigen Eise auch
der letzte, leiseste Pnlsschlag der Natur erstarb, und nun um-
fängt uns das reichste Leben, wie es schon vor der Schwelle
jenes feligen Gartens, den wir Italien nennen, dem nordi-
schen Wanderer voll und üppig entgegenblüht.
Wer aus dem Eugadiu und seinen Nebenthälern nach
Italien will, der hat die Wahl zwischen zwei gleich schönen,
gleich reizerfüllten Straßen. Die erstere führt im Innthal
aufwärts an St. Moritz, Campför, Silvaplana, Sils-Maria
und anderen Ortschaften vorüber wie in das Nichts hinein
in die menschenlose, pflanzenleere Oede um den Maloja-Paß.
Ienseit desselben erwacht allmälig beides: Pflanzen- und
Menschenleben, wieder. Wir kommen nach Casaccia, wo die
wilde Schönheit der Gegend ihren Höhepunkt erreicht. In
Vicosoprano hält die Post Mittagsrast und hier hören wir
noch einmal Deutsch sprechen, und zwar recht deutsches Deutsch,
denn die Wirthin ist eine Münchenerin. In rasender Eile
geht es von' hier bergab; die Straße bricht durch ein schwar-
zes Felsenthor, der Wagen hält in Castasegno; Kastanien
und Maulbeerbäume, Mais und Wein umgeben uns — wir
sind in Italien! Morgens um 8 Uhr verließen wir das
Herz der Gletscherwelt und Nachmittags wandeln wir schon
in den südlich-lauen Lüften, die in den Gärten auf den Berg-
hängen bei Chiavenna um Wein, Lorbeer und Oleander kofen.
Noch leichter aber macht es uns der andere Weg, einen
Athemzug in italienischer Luft zu thuu, ja, wir brauchen auf
ihm nicht einmal die politische Grenze Italiens zu überschrei-
teu: noch auf Schweizer Grund und Boden können wir uns
mitten in Italien fühlen.
Dem freundlichen Leser ist die Bernina-Straße, die von
Samaden aus zunächst Pontresina berührt, fchon bis zu den
beiden Seen, dem schwarzen und dem weißen, ja bis zur
Paßhöhe mit ihren Gallerien bekannt. Wir verlassen sie
auf unserer jetzigen Wanderung, von Pontresina kommend,
noch vor dem ersten der beiden Seen, um einen sich rechts
abzweigenden Weg zu nehmen. Nicht etwa um größerer
Bequemlichkeit willen. Denn die „alte" Straße, die wir
einschlagen, ein bloßer Saumpfad, verhält sich zu der neuen,
wie das holprigste Pflaster der abgelegensten Kleinstadt zu
den Trottoirs einer Residenzhauptstraße. Es giebt weite
Strecken auf ihr, die eine wilde Mosaik von großen und klei-
uen Granitblöcken darstellen, wo man zu dem Glauben ver-
führt werden kann, man klettere wieder auf dem Trümmer-
kegel des Piz Languard umher. „Reichsstraße" ist ein noch
bisweilen gebrauchter Name für diese Krone aller halsbre-
chendeu Gebirgswege. Hängt dieser Name, wie wohl nicht
anders möglich, mit uuserm alten deutschen Reiche zusammen,
so haben vielleicht auf dieser Straße unsere alten Kaiser ihre
Römerzüge znm Theil unternommen, und wenn dies der
Fall gewesen, dann begreifen wir, daß ein solcher Zug als
eine unendliche Mühseligkeit geschildert werden konnte. Für
alles beschwerliche, nur langsam fördernde Steigen und Klet-
tern aber entschädigt der Weg durch die höchst auzieheudeu
Aussichten, zn denen er uns hinleitet.
Zunächst führt er uns an dem Cambrena-Gletfcher eut-
lang, jener Eismasse, welche den Lago bianco speist. Hier
wird er von zahlreichen Gletscherbächen übersluthet. Einige
von ihnen, bescheidene Gerinne, lassen sich leicht überspringen.
Bei anderen kommt man nicht so leichten Kaufs davon. Hier
gilt's, auf großen Steinen, die man selbst erst in die rau-
schenden, jach dahinschießenden eiskalten Wellen trägt oder
wälzt, einen künstlichen Balancirübergang zu bewerkstelligen.
' Für einen Einzelnen möchte das eine allzu beschwerliche, we-
uigsteus allzu zeitraubende Arbeit sein; da ich mich aber auf
meiner damaligen Wanderung in Gesellschaft dreier anderer
Touristen befand, so ging sie leidlich flink und vor allen
Dingen höchst vergnüglich von Statten. Ihren Höhepunkt
erreichte unsere fröhliche Stimmung jedes Mal, wenn sich
nach einem zur Noth gelungenen Sprunge, nach einem nicht
ohne bedenkliches Schwanken ausgeführten Uebergange zeigte,
daß auf dem verlassenen Ufer ein Reisetäschchen, ein Alpen-
stock oder ein anderer unentbehrlicher Ausrüstungsgegenstand
zurückgeblieben war, um desseutwilleu seiu Eigentümer den
nicht ungefährlichen Weg noch einmal hinüber und wieder
herüber, natürlich unter Aeußeruugeu freundschaftlicher, Harm-
lofer Schadenfreude der Uebrigeu, zurücklegen mußte.
Unsere heitere Laune machte aber einem tiefen Ergriffen-
fein Platz, unsere scherzhaften Zornausbrüche über den heil-
losen Weg verstummten, als wir nach längerer Wanderung,
um einen Felsenvorsprung biegend, plötzlich vor einem lange
erwarteten, aber nun alle unsere Vorstellungen weit über-
treffenden Bilde standen. Unser Weg hatte uns auf einen
Punkt gebracht, auf dem wir dem Pal ü-Gl et scher uns gerade
gegenüber befanden, ihm, so zu sagen, voll ins Gesicht sehen
konnten. Zu unseren Füßen lag ein tiefer Thalkessel, der
Boden mit grüner Alpenmatte bedeckt, auf der einige zer-
streute Hütten standen, und durch die sich ein bläulich-silber-
uer Faden, der Abfluß des Gletfcherwaffers, schlängelte. Jen-
seits aber steigt der Gletscher empor, so daß wir ihn von
seinem Fuße an bis zum Firn überschauen können. Und
welche gigantische, mannichfach gestaltete Masse ist das! Ge-
gen diesen Anblick treten Roseg, Morteratsch und Cambrena
besiegt in den Hintergrund. Es giebt nur ein Bild, ein
schon oft gebrauchtes, um demjenigen, der dies großartige
Schauspiel nicht mit eigenen, entzückten Augen genossen hat,
eine annähernde Vorstellung von ihm zu geben. Denke man
sich einen Wasserfall, aber einen so riesigen, himmelhoch her-
Bernhard Endrulat: Reisebili
abstürzenden, daß gegen ihn Niagara- und vollends Rheinfall
wie Kinderspielzeug erscheinen, einen Wasserfall, der uns in
verschiedenen Absätzen viele Millionen Quadratfuß Ober-
fläche entgegenhält, und denke man sich nun, dieser ganze,
unübersehbare Schwall sei mitten im Strudeln, Schäumen
und Emporspritzen plötzlich auf ein allmächtiges Zauberwort
in starres Eis verwandelt worden, dann wird man eine ent-
sprechende Idee von der Großartigkeit des Palü-Gletschers
haben.
Der Palü-Gletscher ist der reinste nnd blankste von
allen Bernina-Gletschern. Alle anderen sind auf ihrem
Rücken mit grauen Haufen und Streifen herabgestürzten Ge-
rölls, deu sogenannten Moränen, bedeckt; auf seiner abfchüs-
sigen Oberfläche kann sich dergleichen nicht halten. Größere
Steine namentlich, die von den gleich zwei Ufern ihn ein-
schließenden Felswänden auf den Gletscher hinabstürzen, sau-
sen auf ihm mit Dampfesschnelligkeit abwärts und vermehren
die am Fuße des Eisstromes iin Thalkessel bereits hoch auf-
gethürmte Schuttmauer.
Das Farbenspiel, das die Oberfläche des Gletschers bei
günstiger Beleuchtung darbietet, ist ein nicht mit Worten
wiederzugebendes; vielleicht versagt auch der Pinsel des ge-
wandtesten Malers hier seine Dienste. Funkelnde Rubinen,
blendendes Silber im Sonnenglanze, tiefstes Ultramarin im
Schatten und dazwischen alle Nüancen aller Farben — wes-
sen Palette wäre so reich, um ein getreues Abbild dieser
Staunen und Entzücken erregenden Erscheinung geben zu
können?
Nur mit Mühe, nur indem wir uns energisch vorstellten,
daß wir noch weit vom eigentlichen Ziele unserer Wanderung
seien, konnten wir uns von dem wunderbaren Schauspiele
trennen.
Abwärts führt nun der Weg ans dem Reiche der vege-
tationslofen Trümmerwelt in freundlichere Bezirke, in denen
wenigstens Lärche und Arve wieder gedeihen. Zunächst ka-
men wir bei zwei Ortschaften, Cavaglia und Cavagliola, vor-
über, Ortschaften von einer Bauart, wie wir sie iu der gau-
zen Gegend noch nicht gesehen hatten. Es waren Haufen
von Blockhäusern, die mit Absicht aus einen möglichst kleinen
Raum zusammengedrängt schienen. Und in der That war
bei der Erbauung dieser Orte die Rücksicht auf Bequemlich-
keit oder gar Schönheit nicht maßgebend gewesen. Trotzdem
man nämlich bis hierher schon beträchtlich wieder bergab ge-
stiegen ist, trotzdem man über eine üppige Wiesenmatte schrei-
tet, ist die Höhe hier doch noch eine so beträchtliche, die Rauh-
heit des Klimas eine so empfindliche, daß Menschen nur
währeud der wenigen Sommerwochen hier zu Hausen vermö-
gen. Die Bevölkerung von Cavaglia und Cavagliola, übri-
gens nur wenige Familien, zieht daher int Herbst mit Sack
nnd Pack tiefer ins Thal hinab, und ihre leer stehenden Block-
Häuser, die sich durch ihr Naheaneinanderstehen gegenseitig
vor den Unbilden der Winterwitterung schützen, deckt dann
tiefer Schnee. Zwischen beiden Orten vereinigt sich das
Wasser vom Piz Palü mit dem Abfluß des Lago bianco zu
einem Flüßchen, das den Namen Cavagliasco führt. Es
fällt nach kurzem Laufe in den Poschiavino, einen raufchen-
den, reißenden Bergstrom, der am Bernina-Paß entspringt,
den See von Poschiavo durchströmt und dann in die Adda
niündet.
( Di» Gegend um Cavaglia ist berüchtigt wegen eigen-
thümlicher, von Jahr zu Jahr jedoch immer seltener werden-
der Bewohner. Nach den ernstgemeinten Aussagen glaub-
würdiger Leute giebt es hier herum noch Bären. Die See-
Nene ist ganz atta-trollisch; wir machten uns denn auch auf
eiu romantisches Zusammentreffen mit den ungefügen Be-
r aus der romanischen Schweiz. 77
wohnern dieser Gebirgseinsamkeit, die wir bei unserer Anzahl
und unserer Ausrüstung mit kräftigen Alpenstöcken :c. nicht
glaubten fürchten zu müssen, gefaßt, aber vergeblich. Auch
nicht die geringste Spur von ihnen war zu erblicken.
An eiuem prächtigen Wasserfalle des Cavagliasco, an dem
unser Pfad dicht vorüberführt, läßt sich die Gewalt des Was-
sers selbst dem härtesten Gestein gegenüber in überraschender
Weise wahrnehmen. Das wilde Gletscherwasser hat sich hier
einen trichterförmigen Kessel ausgehöhlt, dessen Wände so
glatt wie polirter Marmor gewaschen sind.
Dieser Wasserfall ist das letzte grausig schöne Bild, das
uns entgegentritt, gewissermaßen der letzte Ausdruck der wild-
gewaltigen nordischen Natur; mit jedem Schritte weiter spricht
unsere Umgebung uns milder, südlicher au. Uuser Weg führt
uns in bevölkerte« Gegenden; zahlreiche Wohnungen, Mit-
teldinge zwischen Sennhütten und ordentlichen ländlichen Hän-
fern, stehen zur Seite der Straße, und nicht selten begegnet
uns einer ihrer Insassen, sein beladenes, starkes Saumroß
vor sich hertreibend. Die Anstrengungen, welche diese armen
Thiere machen müssen, um auf dem abschüssigen Wege, aus
seineu großen, unregelmäßigen, äußerst glatten Felsplatten
festen Fuß fassen zu können, sind im höchsten Grade Mitleid
erregend. Wir sahen die Tag für Tag zu so hartem Loose
vernrtheilten Geschöpfe oft, nachdem sie kaum zwanzig Schritte
weit emporgeklommen waren, schnaufend und an allen Glie-
dern zitternd stillstehen, rnn Kräfte und Äthan zu neuem,
mühseligem Sichabarbeiten zu sammeln. Auch der abwärts
steigende Wanderer spürt jetzt erst die ganze Tücke des Pfa-
des. Er führt so steil an der Bergwand zum Thale hinab,
daß die größte Vorsicht und das Aufgebot aller Kräfte nöthig
sind, um nicht bei jedem Schritte auszugleiten oder zusani-
menzubrechen. Die Notwendigkeit, im Hinabsteigen fast
ausschließlich auf die eigenen Füße achten zu müssen, ver-
kümmert den Genuß, deu wir sonst hier in so reichem Maße
haben würden. Denn vor uns hat sich inzwischen ein ent-
zückend-schönes Bild entrollt.
Wir sehen in das breite, von Leben und Anbau blühende
Thal von Poschiavo oder Pnschlav hinab. Eine Menge
größerer, freundlicher Ortschaften bedeckt seinen Grund nnd
zahllose einzelne Niederlassungen erscheinen wie gesäet auf
allen Abhängen der Thalwände, die im saftigsten Grün der
Wiesen und des Waldes prangen. Die Namen der Orte
zeigen uns au, daß wir iu ein anderes Land getreten sind,
mag es politisch immerhin noch zu dem schweizerischen Grau-
büudteu gehören. Da sind keine romanischen, geschweige gar
deutsche Anklänge mehr; Namen wie San Carlo, Santa
Maria, Angelocnstode, Annunziata n. s. w. bekunden die nn-
bestrittene Herrschaft des Italienischen.
Den Mittelpunkt all der zahlreichen Ortschaften bildet
Poschiavo, das alte Postclavium, ein Flecken von 3000
Einwohnern, dessen specisisch italienischen Charakter man erst
recht erkennt, wenn man die südlicher liegenden, anch politisch
zu Italien gehörenden Städte und Flecken von ähnlicher Lage,
wie z. B. Chiaveuna, sieht, mit denen es auffallende Aehn-
lichkeit hat. Der Gegensatz des Puschlav gegen das Enga-
din besteht anch in der Religion; in Poschiavo giebt es eine
katholische Probstei und eiu Nonnenkloster, und die Mehrzahl
seiner Einwohner gehört der katholischen Kirche an. Wie
es aber in gemischten Districten häufig der Fall, haftet auch
hier der Katholicismus überwiegend in den ärmeren und nn-
wissenden Classen der Bevölkerung, die Wohlhabenden und
Gebildeten dagegen sind zum größten Theil Reformirte.
Versetzt Poschiavo unsere Phantasie durch den Totalein-
druck, den es macht, schon vollständig nach Italien, so ist es
doch nicht der Punkt, aus den unsere Wanderung abzielt, an
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78
Bernhard Endrulat: Reisebilder aus der romanischen Schweiz.
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dem wir uns durch das Athmeu italienischer Luft erquicken
wollten. Um zu ihm zu^gelangen, bedarf es noch einer ein-
stündigen Wanderung. Der um so viel südlicher liegende
Lago di Poschiavo und der an der Nordwestspitze desselben
befindliche Badeort Le Prese sind es, denen wir unsern Be-
such zugedacht haben.
Wie lieblich und einladend aber auch der blau-grüue Al-
Pensee zu uns heraufschimmert, wie freundlich, ruhig und be-
haglich sich's allem Anschein nach auch an seinen Ufern leben
läßt, nach den eben durchgemachten Strapazen auf des wei-
laud heiligen römischen Reiches Saumpfade hat der Gedanke,
noch eine Stunde weiter pilgern zu müssen, wenig Lockendes.
Aber siehe da! das Glück will uns wohl. Auf dem Markt-
platze von Poschiavo hält die eben vom Bernina herabge-
kommene Post. Sie ist freilich vollständig besetzt, aber uu-
sere Nachfrage, ob ein Beiwagen bis Le Prese gegeben werde,
wird bejaht. Der kurze Ausenthalt in Poschiavo gestattete
uns, ein Stück Volksleben und Bolkssitte zu bemerken. Der
Marktplatz scheint Conversationssaal, Börse, Rathszimmer
und sonst noch alles Mögliche zu sein, wenigstens war er
dicht von plaudernden, geschäftig thuenden Gruppen erfüllt.
Einem großen Theil der Einwohner scheint die Ankunft der
Post das Hauptereigniß des Tages zu sein, denn sie nmstan-
den die Postwagen mit dem Ausdrucke größter Theiluahme
und Neugierde. Die Reisenden wurden mit südlicher Un-
genirtheit gemustert, und die gemachten Beobachtungen im
Vertrauen daraus, daß der Fremde das Patois des Pnschlav
doch nicht verstehe, frank und frei ausgesprochen. In der
Tracht der hier versammelten Poschiaviner gab sich gleichfalls
ein südliches Element zu erkennen. Die Jacken, das durch-
gängige Kleidungsstück der Männer, statt von schlichtem Tuch
vielfach von braunem oder schwarzem Sammet mit blanken
Knöpfen, die Halstücher und Hutbänder von greller Farbe,
meistens blau oder roth, verrietheu deutlich die südliche Nei-
gnng zu buntem, ausfallendem Putz.
Unsere Fahrt nach Le Prese ging rasch und glücklich von
Statten. Zu beiden Seiten des Weges erregten einige lange
nicht gesehene Gegenstände unsere ganz eigene Aufmerksam-
feit: Getreide, Obstbäume, Taback und Wein, vor Allem
aber die erste und hauptsächlichste Verkündigerin des Ueber-
gangs nach Italien: die Kastanie.
Bei den Badegebäuden von Le Prese angekommen, konn-
ten wir nicht umhin, die Eleganz und Großartigkeit des Eta-
blissements, das ein vielbesuchter Versammlungsort der Haute-
vol6e der benachbarten lombardischen Städte ist, zu bewundern.
Mehr aber noch fesselte uns die Lieblichkeit der Natur. Wir
machten auch an uns die alte Erfahrung: Wildheit, Groß-
artigkeit, Bizarrerie in der Natur kann uns freilich überwäl-
tigen, zu ehrfurchtsvollem Staunen, zu einer mit Furcht ge-
mischten Bewunderung hinreißen, aber unsere besten, echt
menschlichen Seiten werden doch nur von ihrer Freundlichkeit
und Milde angesprochen. Und was das Dasein im Norden
und im Süden unseres Erdtheils betrifft, fo sagten wir uns,
als wir am sonndurchwärmten Ufer des lächelnden Sees
saßen und der fchrecklichen, wunderbaren Schönheiten des
Bernina gedachten, der das Thal nordwärts hinter uns ab-
fchloß, während vor uns verheißungsvolle Bläue wie ein zar-
ter Schleier über den Schönheiten Italiens ruhte: „3m
Norden lebt man mittelst Abstractiou, weil man will und
muß; wahrhast mit Genuß, um des Lebens selbst willen lebt
man doch nur im Süden!"
Dieselbe Anerkennung, welche wir so rückhaltlos unserer
neuen Umgebung zollten, ward uns im Bade-Etablissement
zu Le Prese wenigstens von der menschlichen Staffage der-
selben anfänglich nicht zu Theil. Wirth, Kellner, Badegäste
schienen uns wie eine Dissonanz in der harmonischen Idylle
des zierlichen Badelebens zu betrachten. Freilich mochten
wir uns sonderbar genug ausgenommen haben, als wir, stau-
big, erhitzt, sonnverbrannt, das reizende Blumenparterre vor
den Badehäuseru durchschritten, und unser für den Bernina
und den Reichssaumpfad eingerichtetes Costüm stach eigen
gegen die rauschenden Seidenkleider der Mailänder Damen,
Proben und Muster der schweren, kostbaren Stoffe, mit denen
daheim ihre Ehemänner handeln, ab. So ward uns denn
auf unsere Frage nach Zimmern zunächst eine nicht gerade
abschlägliche, aber ganz entschieden vorbehältliche Antwort zu
Theil, und in dem Speisesaale, in welchem noch die letzten
Gänge des Diners zu den Klängen Verdi'scher und Doni-
zetti'scher Musik aufgetragen wurden, erhielten wir Plätze in
entfernter Ecke. Doch giebt es glücklicherweife Mittel, eine
solche Sprödigkeit der Aufnahme Seitens des Wirthshans-
Personals, an der auch in deutschen Bädern „kofferlose Pas-
santeu", wie der technische Ausdruck lautet, zu leiden haben,
schnell zu besiegen. Man schiebe den gebrachten Wein, mag
er noch so trinkbar sein, nach vorsichtigem Kosten mit der
Miene höchster Unbefriedignng zurück und bestelle eine theurere
Sorte; man mache eine Notiz in seinem Tafchenbnche, theils
um den Glauben zu erregen, man sei Mitarbeiter an einem
schwarzen Buch der Gasthöfe, theils um einige Bankbillets
zum Vorschein kommen zn lassen u. s. w., und man wird
bald sehen, welche erfreuliche Veränderung diefe geringen Künste
bewirken. Uns wenigstens ging es so. Als wir nach Tisch
unsere Frage nach Unterkommen wiederholten, wurden uns
in einem Neubau Zimmer von trefflicher Ausstattung und
mit reizender Aussicht überwiesen, und überhaupt ließ man
es an keiner Zuvorkommenheit mehr gegen uns fehlen. Was
aber zur Hebung unserer Stellung inmitten der Badegesell-
schast beitrug, das war die Bekanntschaft einer hier weilen-
den hochgeachteten Familie aus Bergamo, die wir zu machen
das Vergnügen hatten. Im Verkehr mit derselben verbrach-
ten wir einen Theil des Abends im Gesellschaftsfaale des
Badehaufes, wo conversirt, musicirt, ab und zu auch getanzt
wurde. Unser hochalpines Aeußere schien selbst auf den Par-
quets diefes eleganten Salons nicht mehr befremdend zu wir-
keu, ja fast kam es uns so vor, als ob sich uns, die wir
den übelbernsenen Saumpsad, ohne das Genick zu brechen,
herabgeklettert, die wir den Bären bei Cavaglia glücklich ent-
gangen waren, eine Art teilnehmender Aufmerksamkeit zu-
wende.
Unser Weilen in dem anmuthigeu Le Prese hätte sich je-
denfalls über einige Tage ausgedehnt, wir hätten einen oder
den andern Ausflug von hier aus unternommen, eine Gondel-
fahrt über den krystalleueu See gemacht u. s. w., wenn nicht
die Gunst des Himmels sich über Nacht von uns abgewendet
hätte. Sein noch gestern so herrliches, echt italienisches Blau
war am andern Morgen einem dichten, trüben Grau gewi-
cheu; Nebel quollen um die Berge , strichen tief ins Thal
hinunter, und ein gleichmäßiger, weitverbreiteter Regen goß
herab. Witterungskundige gaben uns die Versicherung, daß
an eine Besserung des Wetters in den nächsten Tagen nicht
zu denken sei, und den Rath, getrost nach Hans, d. h. nach
Pontresina, zurückzukehren. Wir folgten ihm mit Bedauern.
Die bequeme, sichere eidgenössische Post lieferte uns über den
Bernina-Paß, wo wir, ausgestiegen, in tiefem Schnee zu
waten hatten, in etwa acht Stunden nach nnserm Ausqauas-
punkte zurück.
Hier brachte das mehrere Tage anhaltende Regenwetter-
unter den Gästen der „Krone" und des Enderlin'schen „Wei-
ßen Kreuzes" große Umwälzungen hervor. Alles rüstete
sich zum Aufbruch nach Gegenden, in denen besseres Wetter
vermuthet wurde. Meine Begleiter auf dem letzten Aus-
fluge zogen ins Unter-Engadin hinab gen Tirol; ich selbst
Häusliches Leben der Mohammedaner zu Bagdad am Tigris. 79
flüchtete in entgegengesetzter Richtung über den oben erwähn- stehenden Blättern nur ein geringer Theil flüchtig berührt
ten Maloja-Paß ins ewig heitere Italien. werden konnte, begleitete mich, und noch heute gehört sie mit
Die Erinnerung aber an die reichen Schönheiten des zu den besten Schätzen, die ich mir je auf Reisen erworben
Engadins und seiner Nachbarschaft, von denen in den vor- habe.
Häusliches Leben der
Verlobung. — Die Braut und ihr Spiegel.
Die Verlobung, Nikiah, ist bei der Ehe die gesetzliche
Hauptsache. Der Freier darf natürlich das Objeet seiner
Wünsche niemals von Angesicht zu Augesicht schauen, doch
hat er das Recht, wenn ihm die Anpreisungen der Zwischen-
träger verdächtig vorkommen, von der dicht verschleierten Dame
die Entblößung des Busens und eines Beines bis auf den hal-
ben Oberschenkel zu erbitten. Aus diesen zur Schau gestellten
Reizen schließt er dann aus den Rest. Hat er sich endlich ent-
schlössen, das ein- und mehrfache Joch der Ehe auf seinen
Nacken zu laden, so stellt er förmlich dem Vater oder sonstigen
Verwandten der Schönen seinen Antrag, welcher alsdann einen
Imam benachrichtigt, der seinerseits nach Lust und Muße
den Tag der Verlobung feststellt. Zu dem Ende begeben sich
der Freier, feine Freunde und die des Vaters in das Haus
der Braut, wo in dem Selamlik eine Collation für sie bereit
steht. Der Imam, der Vater und zwei Zeugen nehmen dar-
auf in einem Gemache Platz, welches unmittelbar an die Thür
stößt, die in den unnahbaren Harem führt. Hinter derselben
steht die Braut, einen Spiegel in der Hand haltend, in wel-
chen sie beständig schauen muß. Nun fragt der Priester, ob
sie gesonnen sei, dem genannten Omar :c. als erste, zweite,
dritte oder vierte Frau anzugehören. Aus Austandsrücksich-
ten muß die Frage öfters wiederholt werden. Endlich lispelt
sie „ja", und nunmehr theilt der Imam dem Freier das
glückliche Resultat seiner Sendung mit. Demnächst wird der
Nikiah-Contract aufgesetzt, wonach die Ehe rechtskräftig zur
Anerkennung gelangt. In demselben ist immer auch die mehr
oder minder bedeutende Summe festgesetzt, welche der Mann,
im Fall er seine Frau loswerden will, an dieselbe als Ent-
schädigung bei der Scheidung auszuzahlen hat. Sie ihrer-
seits besitzt gar keine Rechte, alle Gegenseitigkeit fällt weg,
und nur in dem Falle, daß der Gatte zu mehrjähriger
Zwangsarbeit verurtheilt werden würde, oder ihr in ge-
wisser Hinsicht unstatthafte Zumuthungeu machte, darf sie
hoffen, von den Gerichten aus den Banden der Ehe erlöst
zu werden. Nach der Untersiegelnng — im Orient unter-
schreibt man gewöhnlich nicht — des Contractes durch den
Imam, den Vater, den Bräutigam und die Zeugen giebt
sich die männliche Gesellschaft den Genüssen der Tafel hin.
Meist wird nur Arrak getrunken und dazu werden Süßigkeiten,
Pickles und sauere Sachen gereicht. Mit dieser Ceremonie hat
das Gesetz das Seinige gethan und die beiden Neuverlobten
gehören einander an. Der Bräutigam gewinnt dadurch das
Recht, seine Zukünftige entschleiert zu erblicken und mit ihr
zu reden. Nun sieht er zum ersten Mal ihr Gesicht!
Die eigentliche Hochzeit jedoch steht nicht immer unmittel-
bar mit der Verlobung in Verbindung, sondern wird in einer
zu Bagdad am Tigris.
— Hochzeitsfeierlichkeiten. — Haussklaven.
beliebigen Zeit, die sich selbst auf Jahre erstrecken kann, je
nach deu Umständen, mit mehr oder minderem Gepränge ge-
feiert. Sie gehört zu den Sitten und Gebräuchen und hat
nichts mehr mit der Kirche zu schaffen. Ist sie endlich an-
beraumt, dann werden dazu so großartige Anstalten getroffen,
als es die Mittel des Bräutigams erlauben. Der dabei
stattfindende Aufwand ist häufig die einzige Ursache, weshalb
die Hochzeit unwillkommen hinausgeschoben wird. Jeder-
mann, der sich irgendwie nm die Familien bekümmert, ist ein
willkommener Gast und braucht keine Einladungskarte abzn-
warten. Ost werden Hunderte, die sich immer ablösen, eine
ganze Woche lang festlich bewirthet, und die meisten derselben
zeichnen sich gerade nicht durch ein mäßiges und discretes Be-
nehmen aus.
Am Tage vor der eigentlichen Hochzeit bringt eine Schaar-
Frauen das im Orient als Schönheitsmittel so beliebte Henna,
zierlich in ein Körbchen gelegt, aus dem Hause des Bräuti-
gams in das der Braut, welche sich mit demselben die Finger-
und Zehennägel, wie die inneren Handflächen und die Fuß-
sohlen rothbraun färbt.
Dergleichen officiöse Gänge, welche sich namentlich bei
den Christen sehr oft und auch in der Nacht wiederholen und
einen Liebesaustausch verschiedener geringfügiger Gegenstände,
die aus den Ehestand Bezug haben, vorstellen, sind meist im-
mer von jenen Musikbaudeu begleitet, welche mit Hülse der
großen Pauke für Europäer höchst barbarisch klingende Wei-
seit unermüdlich abspielen. Die kurzen Erholungspausen der
Lärmmacher werden von den Weibern benutzt, um ein äußerst
gellendes, schnell mit der Zunge ausgestoßeues „Lalelalelale"
ertönen zu lassen. Dieser antike Ruf drückt den Zustand
freudiger Erregtheit bei den Arabern ans; auch die Männer
bedienen sich desselben im Gefecht. Aus deu Kämpfen mit
den Sarazenen und den Mohren in Spanien war er bereits
den mittelalterlichen Christen bekannt.
Ist der Tag der Hochzeit endlich angebrochen, so wird
die festlich geschmückte, aber mit dem Tscherschaf unförmlich
verhüllte Braut von ihren jauchzenden Freundinnen und Die-
nerinnen zu Fuß mit Musikbegleitung durch alle Hauptstraßen
der Stadt uud endlich in das Hans ihres Mannes geführt. Ehe
sie in den Hof eintritt, muß sie in einen Spiegel und dann in
ein Gefäß mit Wasser blicken. Dies geschieht, weil man sich
einbildet, sie könne darin als reine Jungfrau ihr Schicksal
erblicken. Dann nimmt sie der Mann bei der Hand und
geleitet sie in seinen Harem, vorher aber schnallt ihr der Hoch-
zeitsgevatter einen reich gestickten Gürtel mit silbernem oder
goldenem Schloß um. In dem Frauengemache wirft die
junge Gattin ihre Vermummung ab. Er küßt sie auf den
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Häusliches Leben der Mohammedaner zu Bagdad am Tigris.
Mund, heißt sie willkommen und verläßt sie sogleich, um
den männlichen Gästen draußen die üblichen Honneurs zu
machen. Esset und trinket, Freunde, und seid guter Dinge!
ruft er ihnen zu, und nun schwelgen die Anwesenden in den
Genüssen, die sich ihnen in der Gestalt von Pilass, gebra-
tenen Lämmern und Hühnern, Backwerken, Consecten, Sor-
beten und Liqneuren in verschwenderischer Fülle darbieten.
Diener und Sklaven lassen es an nichts fehlen und die
Musik sorgt für die Betäubung der Ohren. Unterdessen
empfängt die junge Dame des Hauses ihre Bekannten, läßt
sich bewundern, glücklich preisen und eine kinderreiche Zu-
kunst vorhersagen. Dann überläßt sich auch die weibliche
schöne Welt den Freuden des Schmauses; natürlich abge-
schlossen von den Männern. Nur durch die Gitter blitzen
muthwillig ihre schwarzen, mandelförmigen Augeu, ertönt ihr
unterdrücktes Kichern oder silberhelles Lachen; zuweilen auch
stimmen sie im Chor eiueu erotischen Gesang an, welcher
dann zeitweilig dem wüsten Lärm im Hose ein Ende macht.
Am Abend verlassen die Gäste das Haus und das Liebespaar
besteigt auf der Terrasse des Hauses im Sommer, oder im
Winter in einer Kammer das prächtig mit goldgestickten Tü-
chern und Decken verzierte Ehebett.
Die folgenden Tage dauert die Bewirthung noch fort.
Man kann sich vorstellen, daß mit derselben sehr empfindliche
Ausgaben für den jungen Ehemann verknüpft sind. Musel-
manen haben mich versichert, daß diese durch den Gebrauch
allein geheiligten Unkosten das größte Hinderniß der Ehe-
schließungen seien. Die Christen, welche sich in ihren Hoch-
zeitssitten wenig von den Mohammedanern unterscheiden —
mit Ausnahme der kirchlichen Trauung und der Monoga-
mie —, haben noch die Eigentümlichkeit, daß nach vollzoge-
ner kirchlicher Ceremonie und dem Hochzeitsfest die Braut-
leute erst nach drei Tagen einander angehören dürfen. Tag
und Nacht anwesende Verwandte und Bekannte beider Ge-
schlechter, welche fortwährend auf Unkosten des Bräutigams
in dessen Hause zechen, verhindern sorgfältig jede intimere
Annäherung der Verbundenen.
Im Orient verheirathet man sich so jung als möglich.
Ehemänner von sechszehn und Gattinnen von zehn Jahren
gehören keineswegs zu den Seltenheiten. Ein zärtlich besorg-
ter Vater sucht sich, wenn er Geld hat, so bald als möglich
eine Schwiegertochter aus, wahrscheinlich in der löblichen Ab-
sicht, seinen mannbaren Sprößling von den Ausschweifungen
fern zu halten, an welchen es nirgends in der Welt fehlt.
Es liegt gar nicht in dem Begriff der Orientalen, daß mit
der Ehe auch ein selbständiger Hausstand begründet werden
müsse. Die Schwiegertochter ist die Adoptivtochter des Hau-
ses und lebt mit ihrem Manne und dessen Eltern ganz in
dem abhängigen Verhältniß eines Kindes unter einem Dach.
Warum auch nicht? Ebenso nehmen Familien, welche nur
mit Töchtern gesegnet sind, häufig einen oder mehrere Schwie-
gersöhne in ihr Hans auf.
Neben seinen legitimen Gattinnen dars sich der Moham-
medaner noch eine unbeschränkte Anzahl Kebsfrauen zulegen.
Dieselben sind gewöhnlich abyssinische Sklavinnen. Viele
Bagdader, welchen die Ehe zu umständlich und kostspielig er-
scheint, leben mit dergleichen Frauenzimmern im Concubinat.
Daher kommt es auch, daß unter der Bagdader Bevölkerung
die überwiegend größere Zahl aus Mischlingen besteht. Die
reine nnvermischte semitische Race, die echten Abkömmlinge
Jsmaels, sind nicht mehr in Irak anzutreffen. Nur ein
Beduinenstamm in der Nähe von Mossul, der jedoch jetzt von
den gefürchteten Schammar abhängig ist, rühmt sich einer
unverfälschten Abstammung und hält mit aristokratischem
Stolz au der Reinheit des Blutes fest.
Eine eigentümliche Institution des Orients, eben so alt
als die Geschichte, ist die Sklaverei. Den Ansichten des
modernen Europäers liegt dieselbe eben so fern als die Po-
lygamie. Er kennt sie nur vom Hörensagen und sein con-
stitntioneller Verstand sträubt sich mächtig gegen die Idee,
daß einem Menschen das Recht zustehen könne, seinen Näch-
sten auf den Markt zu bringen und zu verkaufen. Das sind
theoretische mit dem Ideal der Menschlichkeit eng zusammen-
hängende Anschauungsweisen, welche jedoch, wenn man nicht
nach dem Namen, sondern nach der Natur der Sache urtheilt,
in der Praxis illusorisch bleiben. Bulbul oder Machbub
oder wie sonst die ehrliche schwarze Haut heißen mag, ist
dazu gesetzlich eben so berechtigt, wie der Fabrikarbeiter. Sein
Herr muß ihn auf seinen Antrag verkaufen. Nie wird der
Neger zur Feldarbeit oder zu schweren Verrichtungen ver-
wendet. Seine Thätigkeit beschränkt sich lediglich auf die Be-
dienung feines Herrn, von dem er dafür gar oft, nament-
lich wenn er als Eunuch feine Hausehre bewacht, wie jeder
andere Diener bezahlt wird.
Die philanthropischen Herren Quäker in England sollten
sich zuvörderst an ihre eigene Nase fassen, ehe sie sich in
fremde ihnen unbekannte Angelegenheiten mischten. Ich hatte
Gelegenheit, vor neunzehn Jahren das britische Guyana zu
bereisen und dort einige Züge der freien Auswanderung aus
Ostindien für die westindische Plantagenwirthschast zu beob-
achten. Die armen Kulis wurden im Osten von Speculauteu
den Semindars und Mandarinen ganz eben so abgeschachert
wie die Neger den Congohäuptlingen. Da aber bei der
Ueberfüllnng die schwarze und gelbe Waare ungleich billiger
kommt als in Afrika, glaubt man darauf bei der Ueberfchif-
fuug auch weniger Rücksicht nehmen zu dürfen. Man sperrt
die unglücklichen Geschöpfe durch einander, so viel hinein-
gehen, in das Zwischendeck, und bearbeitet sie dann allmor-
gendlich, als einzige Sanitätsmaßregel, mit der Feuerspritze,
futtert sie ausschließlich mit Reis und überläßt sie sonst ganz
ihren Jnstincten. Die Hälfte und darüber stirbt gewöhnlich
auf der Ueberfahrt und wird ius Meer geworfen; doch ein
überlebendes Drittheil wirft fchou dem Speculanten einen
erklecklichen Gewinn ab, zumal auch der Reishandel mit dem
Geschäfte immer verbunden ist. Nach ihrer Ankunft werden
dann die freien Auswanderer an die Plantagenbesitzer, durch
welche sie käuflich bezogen wurden, vertheilt und in die Zucker-
Pflanzungen abgeführt. Damals mußten sich die armen
Kerle verpflichten, während des ungeheuren Zeitraumes von
vierzehn Jahren gegen einen Lohn von zwei Pence (zwanzig
Psennig) unter dem Zwang der Colonialregiernng hart zu
arbeiten. (Seitdem haben diese schlimmen Zustände sich zum
Bessern geändert.)
Wenn man bedenkt, daß dort kein Arbeiter unter einem
Dollar Taglohn zu finden ist, daß die Lebensmittel sehr hoch
im Preise stehen, daß der schwächliche Hindu, ausgehungert
und vom Heimweh befallen, wie er ist, den Frohnarbeiten in
den marschigen Niederungen unmöglich fünf Jahre wider-
stehen kann, wird man errathen, was es eigentlich mit der
sogenannten freien Auswanderung für eine Bewandtniß hat.
Zwar soll das Parlament die Contractzeit aus sieben Jahre
herabgesetzt haben, allein auch diese Periode genügt vollkom-
men, jeden Hindu dort durch Hunger, Fieber und Zwangs-
arbeit umzubringen.
Derselbe durch die Wilberforce'fchen Anstrengungen befreite
kräftige Guineaneger läßt sich nur selten gegen den höchsten
Lohn bewegen, Hand ans Werk zu legen, und dann dauert
er nicht aus. Am liebsten siedelt er sich am Rande eines
Baches an, aus dem er, in seiner Hangmatte sich schaukelnd,
Fische fängt, während er sein Weib correctionell anhält, in
einem daneben gelegenen Stückchen Gartenland einige Aams
Die neue Revoll
oder süße Kartoffeln zu ziehen. Er singt und faullenzt den
lieben langen Tag, läßt sich durch die Witterung kleiden und
durch feine schwarzen Hälften ernähren. Dieser farbige Gentle-
man, wie er sich nennt, hat bei aller Indolenz indeß durch-
aus nichts dawider, gegen Rum und gute Bezahlung die oft-
indischen Nigger, wie er sie verächtlich bezeichnet, mit Stock
und Peitsche zur Arbeit anzutreiben. Mit satanischer Wol-
on in Venezuela. 81
lnst prügelt er, was ihm unter die Faust kommt, uud macht
nur bei den reizenderen des zarten Geschlechts unter gewissen
Bedingungen eine galante Ausnahme. Auch die Südstaa-
teu Nordamerikas werden bald zu dem Auskunstsmittel der
freien Einwanderung greifen und deu Philanthropen bewei-
sen, daß der wahre Fortschritt sich durch keine Machtsprüche
erzwingen läßt.
Die neue Revolution in Venezuela.
Seit Monaten lasen wir in den nordamerikanischen Blät-
tern Berichte über den Fortgang der neuesten Revolution in
Venezuela. Sie ist die zwanzigste oder dreißigste seit vierzig
Jahren und auf keiueu Fall die letzte. Wir theileu weiter
unten den Brief eines unserer Correspondenten, datirt Cara-
cas vom 30. Juli, mit, der einen Einblick in die zerrütteten
Verhältnisse giebt. Es wird aber angemessen sein, wenn wir
unsere Leser durch einige einleitende Bemerkungen orientiren.
In der nächsten Nummer des „Globus" werden wir
aus der Feder eines Reisenden, der fünf Jahre in jenem süd-
amerikanischen Lande gelebt und beobachtet hat, eine nähere
Schilderung Venezuelas und feiner, Einwohner mittheilen;
hier kommt es nns nur darauf au, eiue kurze Erläuterung
zu geben und zu zeigeu, wie zerrüttet die Verhältnisse auch
in dieser Republik sind, deren Bewohner ein buntscheckiges
Mischlingsgesindel bilden.
Daß ein Präsident den andern fortjagt, ist die Regel,
und daß jeder derselben sich die Dictatur anmaßt, nicht min-
der. Vor zwanzig Jahren gelangte ausnahmsweise einmal ein
wirklich rechtschaffener Mann, der General Pa öz, zur Regie-
ruug, dann kam aber die Familie Monagas ans Ruder
und übte volle zehn Jahre lang eine Dictatnr ans. Zwei
Brüder dieser Familie beuteten das Land für sich nnbarm-
herzig ans; sie hielten sich oben durch Begünstigung des rohe-
sten Negerelementes, welchem sie schmeichelten und dem sie
Gunst zuwandten. Verrätherei ist in fast allen jenen Re-
publiken au der Tagesordnung. Ein Hauptwerkzeug der
Monagas war ein General Castro, der seine Wohlthäter
um 30,000 Dollars verkaufte, Verschwörungen anzettelte
und 1858 Sieger blieb. Nun erkaufte er seinerseits die
Neger.
Monagas wurde in Folge der Einmischung der anslän-
discheu Diplomatie, welche sich seiner annahm, nicht ermordet,
sondern durfte mit feinem Raube abziehen. Er ging ins
Auslaud und besaß Mittel genug, um durch seinen schwarzen
Anhang, welcher sich nun wieder von ihm bezahlen ließ, Un-
ruhen anzustiften. In sieben Monaten nach dem Sturze des
Monagas fanden in den Provinzen Earabobo und Coro uicht
weniger als drei Revolutionen statt. Man hatte im Som-
mer 1859 deu Krieg zwischen verschiedenen Kasten
und Hautfarben, der iu der Hafenstadt La Gnayra und
deren Umgegend am wildesten wüthete.
Ich habe früher einmal an einem andern 5?rte die Zn-
stände Venezuelas, namentlich in Bezug auf die ethuologi-
scheu Verhältnisse, geschildert, und will eine Stelle hervor-
heben, die sich auf »in von Seiten eines deutschen Kausmau-
nes an mich gerichtetes Schreibe» stützt (Juli 1859): „Die
Zahl dei Weißen ist gering; die Mehrzahl der Bevölkerung
besteht aus Zambos und Mestizen, Negern und Mulatten.
Globu« XIV. Nr. 3. (August 1868.)
Auf dem platten Lande leben zumeist Schwarze, welche sich
in der Mitte des Juni erhoben, allen Weißen den Tod
schworen und bei Nacht und Nebel in die Stadt drangen.
Was in ihre Gewalt siel, wurde abgeschlachtet; mehrere Weiße
sind buchstäblich in Stücke zerschnitten worden. Mit großer
Mühe wurden die Schwarzen wieder verdrängt, aber der
Schrecken in unserer Stadt hat sich nicht gemindert. Viele
Leute sind an Bord der im Hafen liegenden Schiffe geflüchtet
und von Seiten Castro's haben wir für die nächste Zeit keine
Hülfe zu erwarten. Einige Negerbanden sind mit ihrem
Raube wieder in die Wälder gezogen; an ihrer Spitze steht
ein Neger aus St. Domingo."
Castro wurde bald allgemein verhaßt; das „Volk" ver-
langte den frühern, durch die Monagas gestürzten Präsiden-
ten P a öz zurück. Er kam, sah sich die Verhältnisse an und
verließ das Land wieder. Er erließ eine Abschiedsadresse an
die Venezuelaner, in welcher er beklagt, daß er bei ihnen
nichts ausrichten könne. „Politische Leidenschaften nnd Par-
teihaß siud bei Euch mächtiger als die Stimme der Vernunft,
und ich sehe nur Unheil und Jammer, ohne daß ich
Abhülfe wüßte. Mitbürger! hört auf meine Stimme.
Vernichtet Euch nicht gegenseitig, verwüstet nicht unser
herrliches Land. Wenn doch endlich die blutigen Umwäl-
Zungen, welche eine Schande für das spanische Amerika sind,
aufhören wollten, um der Ruhe und dem Frieden Platz zn
machen!"
Eiu Ehrenmann wie Paez war zu gut für solche Leute.
Er sagte ihnen zum Schlüsse: „Da man meinen Namen
für verderbliche Pläne mißbraucht, so will ich lieber von Euch
scheiden und noch einmal ins Ausland geheu." Mau hat
ihn dann später noch einmal gerufen, aber auch dann hat er
seinem Lande den Rücken gekehrt, weil er die Verhältnisse
„hoffnungslos und rettungslos" fand.
Ich komme nun zu einem andern Punkte, der von erheb-
lichem Interesse ist und nebenbei eine für alle Unbetheiligten
komische Seite darbietet.
Zu Ende des Jahres 1858 hatte die biedere Republik
Venezuela schon mehr als 48,000,000 Dollars Schulden,
von denen 26,000,000 aus die auswärtige Schuld entfielen.
Bereits unter den Monagas wurden die Zinsen nicht mehr
gezahlt. Castro hatte den Sitz der Regierung von Caracas
nach Valencia verlegt und dorthin eine verfassunggebende Ver-
sammlung einberufen. Als die Staatsschulden zur Sprache
kamen, erklärte der Finanzminister: „vom Bezahlen könne
keine Rede sein, Geld habe man nicht, la nacion no puede
cumplir sus compromisos, zu Deutsch: die Nation kann
ihre Verpflichtungen nicht erfüllen." Damit war also
der Bankerott ausgesprochen.
Paöz war noch einmal zurückgerufen worden und gekonl-
11
82 Die neue Revolutio
men. Aber der alte Patriot war gebrochen, hoch bei Jahren
und ihm mangelte nun die frühere Energie. Die oligarchi-
sche oder couservative Partei, die zumeist aus Weißen besteht,
hatte sich in vier einander befehdende Brnchtheile zersplittert
und schwächte sich dadurch gegenüber der föderalistischen Par-
tei. Sie hatte aufaugs einen regelmäßigen Präsidenten,
Tovar, erwählt. Diesem gab der Vieepräsident Pedro
Gual einen Tritt, und war dann seinerseits etliche Monate
Präsident. Die Herrlichkeit nahm ein Ende, als es eines
schönen Tages dem Obersten Echeznria einfiel, die ganze
Regierung, Präsidenten, Minister :c., gefangen zu nehmen
und einzusperren und die Dictatnr des Generals Paöz zu
proclamiren. Der bejahrte Manu ließ sich verleiten, dieselbe
anzunehmen, der eigentliche Gewalthaber war aber Pedro
Rojas, welchen Paöz zu seinem Substituten ernannte.
Seitdem haben Rebellionen und Revolutionen auch nicht
eiuen Monat lang geruht; Paöz und Rojas wurden durch
den General Falcon gestürzt, der nun eben jetzt, im Juli
1868, von Monagas und dessen Anhange verjagt wor-
den ist.
Es war wohl im Jahre 1821, als Cauuing im engli-
schen Parlamente eine schöne Phrase zum Besten gab: „Po-
litische und religiöse Freiheit für die ganze Welt!" Er hatte
dabei vorzugsweise die Colonien im Auge, welche damals
den Unabhängigkeitskampf gegen Spanien eröffneten. Für
die meisten südamerikanischen Republiken ist die Phrase ge-
blieben, was sie war, aber dem vertrauensseligen John Bull
kostet sie schweres Geld und namentlich Venezuela steht hoch
an der Kreide. Die Gläubiger schickten vor einiger Zeit
den vormaligen Gesandtschaftsattachs in Persien, Herrn
Eastwick, dorthin, um wo möglich Geld einzutreiben. Er
hat allerdings nichts bekommen, wohl aber ein interessantes
Buch über seine Erlebnisse veröffentlicht („Athenäum", Nr.»
2121, 20. Juni). Die englischen Capitalisten hatten dem
Substitut Rojas 1 Million geborgt. Als Falcon ihn stürzte,
war davon kein Heller mehr da. Also waudte auch er sich
uach London; sein Freund, General Guzman Blanco, ging
dorthin „mit einem Bogen Papier, einem Staatssiegel, mit
dem Charakter eines Diplomaten und mit dem Versprechen,
daß die Ehre, der gute Glaube und die Hülfsquellen der Re-
publik Venezuela verpfändet würden." Die Generalcredit-
compagnie war so einfältig, ihm anderthalb Millionen
zu borgen. Als Deckung sollten die Exportzölle der Häfen
La Guayra, Puerto Cabello, Maracaibo und Ciudad Boli-
var dieuen. Aber weder die jetzige» uoch die früheren Glau-
biger haben Geld bekommen und in Venezuela sind alle Cas-
sen leer, während der Biedermann Falcon seinem uudauk-
baren Vaterlande den Rücken gekehrt hat und auf Curaxao
seine Renten verzehrt. Monagas hat nichts zu zahlen und
die englischen Gläubiger mögen sich halten an wen sie wollen.
Es gehört in Venezuela nicht zu den Gewohnheiten, daß man
Verpflichtungen erfüllt. A.
*
* *
Caracas, 20. Juli 1868.
Revolutionen und Bürgerkriege sind für einen Vene-
zuelaner ebenso gewöhnliche Erscheinungen wie es nur die jähr-
lichen Nilschwellen für den Aegypter oder die Messen für einen
leipziger sein können. Die Ursache dieser fortwährenden poli-
tischen Zuckungen des Landes ist viel klarer als die Ursache un-
serer seismischen Erschütterungen.
Es ist heute nicht meine Absicht, auf die geschichtliche Ent-
Wickelung (richtiger Verwickelung) der hiesigen politischen Par-
teien einzugehen. Ein Punkt muß aber zu näherm Verständniß
angedeutet werden. In allen Ländern, wo Mischlings-
racen wohnen, in denen afrikanisches Blut fließt,
in Venezuela.
herrscht ein souveräner Abscheu gegen alle Arbeit.
Der ordinäre Mann legt sich hin und schläft oder bringt seine
Zeit im Wirthshause zu; der seine, sogenannte gebildete Mann
beginnt den Tag mit sorgfältiger Toilette, dreht kunstgerecht sein
Eigarrillo und schlendert dann durch die Straßen, setzt sich auf
die Ladentische befreundeter Kaufleute, oder occupirt mit einem
halben Dutzend gleichwerthiger Kumpane eine Straßenecke, voll-
ständig gleichgültig darüber, ob diese Stellung die Vorüber-
gehenden incommodirt oder nicht. Arbeit, redliche Arbeit?
Cuaudo? (Eine hier beliebte Ausdrucksweise für: Ich denke
nicht daran!)
Der Mensch lebt aber weder vom Spazierengehen noch vom
Tabackraucheu. Es muß also ein Mittel gefunden werden, um
Geld zu bekommen, so leicht wie möglich. Die Sache ist leicht:
Man wird Beamter. Hat die Familie irgendwelchen Einfluß
bei den herrschenden Göttern des Tages, so ist die Anstellung
unschwer erreicht. Nach Befähigung und sonstigen trivialen Er-
sordernissen wird nicht gefragt, und der „Empleado" ist fertig.
Diese Aemterjägerei und Anstellungssucht ist einer in der Legion
von Krebsschäden unserer gesellschaftlichen Zustände. Sie ist ein
Ferment für Revolutionen, in denen man seine Gönner
und Freunde zu Macht und Einkünften bringen will, um dann
durch ihren Einfluß mit einem guten Amte beglückt zu werden.
Dazu kommt noch ein zweiter Punkt. Unserer öffent-
lichen Verwaltung fehlt alle moralische Basis. Alle
Beamten vom Präsidenten bis zumPortier sind mehr
oder weniger erhaben über die vulgäre Idee der Red-
lichkeit. Wenn sich einmal ausnahmsweise ein rechtlicher Mann
zur Annahme eines Amtes verleiten läßt, so wird er entweder
bald seinen Herren Eollegen gleich, oder er muß den Platz räumen.
Diese letzteren Zustände hatten ihren schauerlichen Gipsel-
Punkt unter der Administration des Präsidenten Falcon er-
reicht. Die Regierung gab sich nicht einmal die Mühe, auch
nur scheinbar einen Nachweis über die Verwaltung der Staats-
einnahmen abzulegen; die Tribunale waren nichts weniger als
die Pflegestätten der Gerechtigkeit; die durch die Verfassung ge-
währten Garantien waren leere Worte; der Eongreß wurde ge-
gen alles Recht aufgelöst und das ganze Land in eine Menge
militärischer Heerlager zerrissen.
Alle diese Punkte hängen consequeut miteinander zusammen.
Wo militärisches Regiment (wir nennen es Caudillaje) herrscht,
wird viel Geld verbraucht und Gewalt geht vor Recht.
Das Land ertrug diese Zustände viel zu lange. Doch seit
August vorigen Jahres brachen hier und da Revolutionen aus,
denen es aber an einem durchdachte!: Plane und gemeinsamer
Handlung sehlte. Sie wurden zum Theil mit den Massen, zum
Theil aus friedliche Weise beendet. Das Feuer brannte indeß
fort und im April dieses Jahres nahm das Ganze eine solidere
Haltung an. Die Gegner Falcon's, die man jetzt die Blauen
(azules) nennt im Gegensatz zu den Gelben (amarillos), dran-
gen sogar am 5. Mai siegreich bis in die Nähe von Caracas vor
und wenige Tage daraus fand in noch größerer Nähe, auf dem
sogenannten Calvario, ein ziemlich heftiges Gefecht statt.
Schon früher hatte Falcon Caracas verlassen, da es sei-
nem eben nicht heldenmüthigen Geiste keineswegs gesichert er-
schien, sich in der Nähe eines Kriegsschauplatzes aufzuhalten.
Ueberdies riefen ihn die Interessen seines während der Präsident-
schaft erworbenen colossalen Vermögens nach Coro, seiner sandi-
gen Heimath. An seiner Stelle blieb General Bruzual.
Den guten Anfängen jener Campagne wurde durch den
Vertrag von Antimano (ein Ort, der eine Meile westlich von
Caracas liegt) ein diplomatisches Ende gemacht. Der bisherige
Führer der Revolution, General Miguel Antonio Rojas, wurde
mit einem Male regierungsfreundlich und ließ seine Wasfenge-
fährten schimpflich im Stich. Die Revolution schien verloren,
so glaubte wenigstens die Regierung.
Doch um diese Zeit erhob sich im Staate Barcelona der
alte achtzigjährige General Jose Tadeo Monagas, ein ehe-
maliger Dictator Venezuelas und einst Kämpe aus dem Unab-
L. Hollaender: Dorf- und Städteleben i
häugigkeitskriege gegen Spanien. Seine Annäherung gegen Ca-
racas schien anfänglich unsicher, da er ungemein langsam und
Zögernd in seinen Bewegungen war. Doch er kam endlich, und
nun blieb den Bruzualisten nur die Wahl zwischen einem fried-
lichen Arrangement oder einem harten Kampfe. Die Bedingun-
gen des erster« wurden von ihnen zurückgewiesen; die Sache
war somit entschieden. Außerhalb Caracas die Revolutions-
armee, innerhalb die Regierungspartei. Diese letztere ließ alle
Zugänge zum Centrum der Stadt befestigen, und ein Straßen-
kämpf war unvermeidlich.
Am 22. Juni griff General Colina van der Regierungs-
Partei die Avantgarde des Monagas an, wurde aber ganz be-
siegt und in die Stadt geworfen. In dieser dauerte nun das
Feuer mit wenig Unterbrechung bis Donnerstag, den 25., Mor-
gens 3 Uhr, wo die Stadt in den Händen der Revolutionspartei,
der Blauen, war. Bruzual, der sogenannte soldado sin
mieclo (Soldat ohne Furcht), war mit seinen hervorragendsten
Gefährten in der Dunkelheit der Nacht entwischt, der Verrath
hatte ihm den Weg nach Laguayra erleichtert, wo er sich nach
Puerto Cabello einschiffte.
Der Sieg der Blauen war ein Glück für Caracas; denn es
liegen die unzweideutigsten Beweise vor, daß die Gelben ihrer
Soldateska eine solenne Geuugthuung nach dem Siege in der
Plünderung der Stadt versprochen hatten! Die Einzelhei-
den nordöstlichen Districten des Caplandes. 83
ten des Kampfes können den deutschen Leser nicht fo sehr inter-
essiren und darum mögen sie hier übergangen werden. Man
rechnet 300 Todte und gegen 800 Verwundete.
Monagas ernannte eine provisorische Regierung, bestehend
aus „respectabelen" Männern, die sich seitdem durch Acte der
Mäßigung und Gerechtigkeit viele Freunde erworben haben.
Bruzual ist in Puerto Cabello und will dort „bis auf den
letzten Blutstropfen" fechten. Die armen Bewohner jenes Ha-
fens haben schon viel gelitten, und wer weiß, was noch geschieht.
Der Sieg der neuen Regierung ist indeß eine ausgemachte Sache.
Expräsident Falcon sitzt inzwischen auf der holländischen Insel
Curagao und ist wüthend, daß feine Generäle so schlechte Geschäfte
gemacht.
Im October beginnen die Präsidentschaftswahlen. Bis
jetzt sind die Meinungen noch nicht fixirt. Einige nennen den
General Guzman Blanco als wahrscheinlich siegreichen Can-
didaten; Andere (und die Besten) hoffen auf den Sieg des Herrn
Dalla Costa, gegenwärtigem Präsidenten von Guayana. Mo-
nagas scheint keine Neigung zu haben, die Präsidentschaft für
sich zu erhalten.
Jedenfalls brauchen wir viele Friedensjahre, um unsere zer-
rüttete Agricultur und unsern gebrochenen Handel neu zu ent-
wickeln. Die venezuelanische Staatsschuld beträgt 75,000,000
Thaler, was etwa 70 Thaler per Kopf giebt!
Dorf- und Städteleben in den nordöstlichen Districten des Caplandes.
Bon Dr. L. Hollaender.
III.
Die öffentliche Bibliothek. — Kein Zusammenleben der Familien; die Frauen und ihre Erziehung. — Die Deutschen. — Der
holländische Afrikaner. — Missionäre und erfolglose Nüchternheitsapostel. — Schlechter Charakter der Mischlinge. — Der Kaffir;
die Frau des trägen Mannes Lastthier. — Die Hottentoten. — Schulen; die Pest des Clavierspielens; Concerte.
Doch nun zu den Anstalten in unserm Städtchen, die
das Nützliche mit dem Angenehmen, die Belehrung mit dem
Vergnügen, den Ernst mit der Heiterkeit verbinden. Unter
diesen ragt vor Allem die öffentliche Bibliothek hervor.
Ziemlich inmitten des Dorfes gelegen und dicht an das die
eine Seite des großen Marktplatzes ausfüllende Schulhaus
grenzend, und den ganzen Tag bis spät in den Abend hin-
ein geöffnet, ist sie jedem der lesebedürftigen Einwohner für
einen geringen jährlichen Eintrittspreis zugänglich. Drei
Seiten des ziemlich großen Zimmers sind von Schränken be-
deckt, die mit der besten Literatur Englands gefüllt sind. Aber
neben Bulwer, Scott, Thackeray und Macaulay fiuden sich
auch Uebersetzuugen von Schiller, Goethe, Lamartine, Victor
Hugo und G. Freitag. Am besten ist jedoch die Reiselitera-
tur über Afrika und fpeciell über Südafrika vertreten und
fehlt davon fast kein gediegenes Werk. Es ist dies um so
natürlicher, als man im eigenen Lande Forschungen über
dasselbe und Entdeckungen in demselben nui fo bereitwilliger
aufnimmt und als jeder Afrikaner die feste Ueberzeugnng hegt,
daß noch unzählige uuentdeckte Schätze in seinem Lande zn
heben seien. Außerdem ist es ja auch höchst interessant zu
sehen, wie man selber in den Augen Anderer erscheint, und
meist auch bringen ja die verschiedenen Neisebeschreibungen
über Südafrika flüchtige Notizen über die verschiedenen Ein-
wohner solcher kleinen Städte.
Aus dem Boden des Zimmers liegt eiu netter Teppich
und auf dem langen Tische inmitten des Zimmers fämmt-
liche oder die besseren Zeitungen, die am Caplande erscheinen,
wie nicht minder mehrere englische Journale, wie die „Sa-
turday-Review", „Pnuch", die „englische illustrirte Zei-
tuug", „The Cornhill Magazine" :c. Mitunter verirrt sich
auch eiu „Kladderadatsch", eiue Nummer des „Globus", die
„Garteulaube" oder die „Leipziger Illustrirte" dahin, wenn
irgend ein Deutscher einmal eine Sendung aus der Heimath
erhalten hat.
Eiue solche Bibliothek findet sich in fast jedem Städtchen
im Innern des Landes, — eine Errungenschaft, die um so
höher anzuschlagen ist, als es dem Einzelneu, selbst wenn
ihm noch so viele Mittel zu Gebote stehen sollten, sehr schwer
wird, sich für ihn passende Werke kommen zn lassen. Aus
dieser Bibliothek kann sich jeder Abonnent ein bis zwei Bü-
cher mit nach Hause nehmen, nur muß er zuvor seinen Na-
men in ein auf dem Tische liegendes Berzeichuiß eintragen.
Zur Ehre der Bewohner von Doppersdorp fei es gesagt,
es sind deren nicht Wenige, die sich dieses Privilegium zu
Nutze machen.
Diese Bibliothek ist aber nicht allein Lesezimmer, sie ist
auch ein Clubzimmer in ihrer eigenen Weise. Man geht
dahin, trifft Bekannte, Fremde, die auf der Durchreife be-
griffen sind und sich die Sehenswürdigkeiten des Ortes an-
II *
84 L. Hollaender: Dorf- und Städteleben
sehen :c. Man tauscht gegenseitig die neuesten Nachrichten
aus den Zeitungen aus, hört neuen Stadtklatsch, erzählt sich
die modernsten Scaudalosa von irgend einem guten Freunde
und wird selbst wieder belästert, sobald man sich nur einige
Schritte weit entfernt hat.
Ein sogenanntes Kneipenleben im deutschen Sinne existirt
wie in ganz England auch natürlich in den englischen Colo-
nien nicht. Das Bier, das in Südafrika getrunken wird,
ist meist aus England oder aus Hamburg in Flaschen im-
portirt, und so sehr auch im Geheimen Cognac mit Wasser,
um den Durst zu löschen, verbraucht wird, — der englische
Gentleman, und das sind sie alle in diesen kleinen Städtchen,
sowie jede Frau eine Lady ist, schämt sich, öffentlich im Hotel
nach deutscher Weise trinkend sich sehen zu lassen, während
der Deutsche sehr bald die englischen Sitten im Auslande
sich aneignet. Im Hotel verkehren daher nur solche junge
Männer, die erst kurze Zeit im Städtchen anwesend und
noch nicht hinlänglich bekannt sind, oder solche, die sich bereits
vollständig dem Trünke ergeben haben. Es vertritt daher
die Bibliothek gewissermaßen die deutsche Bierstube, und so-
wie in der letztern sich um eine bestimmte Zeit eine gewisse
Anzahl Leute einfinden, ebenso ist auch die Bibliothek zu ge-
wissen Stunden besonders besucht.
Dazu kommt ferner der Umstand, daß ein Zusammen-
leben von einzelnen Familien, wie etwa in Deutschland, in
ganz Südafrika nicht existirt. Dadurch, daß jede Familie
ein einzelnes, meist alleinstehendes Häuschen bewohnt, ist sie
von den anderen ziemlich abgeschlossen, und wenn auch die
Herren öfter geschäftliche Berührungspunkte finden, wenn
auch im Winter mitunter von irgend einem reichen Kauf-
Herrn eine große Gesellschaft zu einem solennen Souper ver-
sammelt wird, so wird dadurch zwischen den einzelnen Frauen
immer noch kein gegenseitiger, mehr als höflicher Umgang
bedingt. Denn die aus Europa eingewanderten Damen wer-
den stets von den eingeborenen Frauen scheel angesehen wer-
den. Letztere sind zwar von Hanse aus sehr begabt, verstän-
dig und sogar scharfsinnig , und wissen auch in gewöhnlicher
Unterhaltung durch eine angeborene natürliche Grazie ihren
Mangel an Geistes- oder Herzensbildung zu verdecken, aber
sie werden es doch den europäischen Damen, die meist nicht
so schön als sie selber sind, nie verzeihen, daß sie, wenn ich
so sagen dars, mehr Weltton und einen gewissen Chic be-
sitzen, den die Afrikanerin nur durch eine europäische Erzie-
hung niemals erlangen kann. Dazu kommt, daß letztere,
die kein Interesse daran hat, jemals ihr Mutterland zu ver-
lassen, alle ihre Ersparnisse auf Putz verwendet, während die
Europäerin, die stets die Heimath im Auge behält, einfacher
im Auftreteu, einfacher in ihren Kleidern, kurz, einfacher in
allen ihren Bedürfnissen ist.
Zufolge dessen bilden sich in jedem südafrikanischen Städt-
chen vor Allem zuerst zwei hervorragende Cliquen aus, die
wir eine europäische und eine afrikanische nennen können.
Erftere theilt sich wieder nach den vorherrschenden Nationa-
litäten in eine englische und eine deutsche. Aber ebensowe-
nig als die in den Colonien lebenden Engländer in allen
Fällen die besten Vertreter ihrer eigenen Nation sind, eben-
sowenig ist dies bei den Deutschen der Fall. Das haben sie
wohl beide gemein, daß sie beide tüchtige, ernste Arbeiter sind
und daß sie beide nur iu ernster, reger Arbeit ihre höchste
Befriedigung, ihr einziges Glück finden. Und daher kommt
es wohl auch, daß so viele Europäer, die nach langjährigem
Schassen uud Arbeiten in Südafrika sich freuten, in Europa
von ihren Ersparnissen leben zu können, schnell wieder das
alte, trockene, dürre, herz- und phantasielose Land wieder auf-
suchen, weil ihueu, die an Arbeit gewöhnt sind, in Enropa
die Befriedigung einer ernsten uud heilbringenden Thätigkeit
in den nordöstlichen Districten des Caplandes.
fehlt, oder sie sich eine solche, den heimischen Verhältnissen
lange entfremdet, nicht schnell genug im Vaterlande schassen
können.
Im Uebrigen ist die englische Clique außerordentlich sromm,
und trotz der verschiedenen Sectirer, die sich im Mutterlande
stark bekämpfen würden, außerordentlich tolerant. Hoch-
kirchler, Methodisten, Quäker, alle besuchen sie oft zusammen
eine Kirche uud empfangen von einem und demselben Geist-
lichen das Abendmahl. Am Sonntage ist bei ihnen jede
andere als geistliche Lectüre verpönt, im Hause dürfen nur
geistliche Melodien auf dem Piano gespielt werden und wehe
dem, der vielleicht an diesem Tage einen Ausflug ins Freie
machen wollte, denn es steht geschrieben, „Du sollst den Sab-
bath heiligen" :c.
Im Empfangzimmer liegen schön eingebundene Bücher
auf dem Tische, die nie gelesen werden, ja, ein Herr, der auf
einer Anction ein fchön eingebundenes aber ganz unnützes
Buch erstand, antwortete mir auf meine Frage, was er denn
mit diesem Schund anfangen wolle: „Well, it will do for
the drawing room" (fürs Empfangzimmer ist es gnt ge-
nng). Auf den Fußböden fämmtlicher Zimmer befinden sich
Teppiche, selbst wenn die Sommerhitze 26" R. im Schatten
ist. Cognac mit Wasser bildet bei ihnen das Hanptgetränk,
und leider giebt es unter ihnen Viele, die dem Trünke sehr .
ergeben sind, wie überhaupt das übermäßige Trinken die
größte Pest fämmtlicher außereuropäischen Colonien ist. An
manchen Orten sind felbst die Frauen nicht frei davon, und
jenseits des Oränjefluffes, nicht weit davon, existirt ein Städt-
chen in der Oranjerepnblik, wo es zu den Alltäglichkeiten ge-
hört, Nachmittags die Honoratiorenfrauen etwas angesäuselt
vorzufinden.
In dieser Beziehung sind die Deutschen schon mäßiger.
Bier ist ihr Lieblingsgetränk, und hat einmal irgend ein
deutsches Handlungshaus gutes, echtes baierisches Bier im-
portirt, dann herrscht große Freude, ja vielleicht eine kleine
Kneiperei im Stamme Juda's und Jsrael's, zu dem merk-
würdigerweise in manchen kleinen südafrikanischen Städtchen
sämmtliche Deutsche geschlagen werden.
Obgleich sie aus allen deutschen Gauen dort zusammen-
gewürfelt sind, so haben sie doch Alle nur eine Politik — die
sogenannte national-liberale, und Bismarck ist das eine Wort,
der eine Gedanke, um den sich ihre gegenwärtigen uud zu-
künftigen Träume gruppiren. Sie haben es Alle leider aufs
Herbste empfunden, was es heißt, nur ein Mecklenburger,
Nassauer oder eilt Hesse zu sein, und fern von der Heimath
genießen sie nun die Vortheile einer geeinigten großen deut-
scheu Macht, während sie von der kleinlichen Polizeilichen
Willkürherrschaft, vou den Beschränkungen im Handel und
Wandel und von allen den sonstigen deutschen „Vorzügen",
Gewerbegesetzgebung :c., nicht berührt werden.
Im Uebrigen bewahren die Deutschen ihre sonstigen Eigen-
thümlichkeiten. Alle verlernen ihr Deutsch so schnell wie
möglich. Sie sind meist mäßig im Essen und Trinken, sind
arbeitsam und sparsam und jeder rühmt, nachdem er die
Kleinlichkeiten anderer deutscher Regierungen und Länder
verspottet hat, schließlich immer noch sein besonderes Land
und seiueu besondern Fürsten. Ob Kurhesse, ob Mecklen-
burger oder Preuße, — jeder schwärmt besonders von seiner
eigenen Hauptstadt und deren besonderen Vorzügen. Deutsche
Zeitungen sind besonders bei ihnen beliebt, und obgleich sie
jede Nnmmer stets unbefriedigt bei Seite legen, da man sich
nach längerm Aufenthalt ini Auslande unter ganz anderen
Verhältnissen und Interessen nicht mehr in den Fragen der
Heimath so leicht zurechtfindet, so werden sie doch jedes neue
deutsche Zeitungsblatt gern von Neuem wieder durchlesen.
L. Hollaender: Dorf- und Städteleben i
Die afrikanische oder besser gesagt die holländische
Clique, da die meisten eingeborenen Afrikaner in den nord-
östlichen Districten bis jetzt noch von holländischen Einwoh-
nern abstammen, ist die am wenigsten geschäftlich rührige.
Was die Meisten zn ihrem Lebensunterhalt gebrauchen, ge-
Winnen sie durch leichte Arbeit — und darüber hinaus geht
meist ihr Ehrgeiz nicht. Ihre Kinder, die gewöhnlich eine
noch geringere Bildung erhalten, als sie selber besitzen, ver-
kommen geistig mehr und mehr, bis sie schließlich sich mit
einer Boerstochter verheirathen und selber zu einem süd-
afrikanischen Viehzüchter oder Boer herabsinken.
Da sie alle gewandt holländisch sprechen und schreiben,
auch viel Talent zur Dialektik haben, so werden sie meistens
Agenten, deren Geschäfte in der That vielfach sind. Ein
solcher Agent ist Nechtsconsnlent, zieht Schnldsorderuugen
ein, nimmt notarielle Verträge auf, besorgt Feuer- uud Le-
beusversicherungeu, arbeitet Testamente ans, schreibt dem
Boer seine geschäftlichen Briefe oder verdolmetscht sie dem-
selben, falls sie in englischer Sprache geschrieben sind, besorgt
dem Farmer Geld auf Hypotheken, kurz man sieht, daß das
Gebiet kein so unbedeutendes ist, und daß einem tüchtigen
Manne ein großer Gelderwerb offen steht. Ferner sind die
meisten Landmesser von holländischer, d. h. afrikanischer Her-
kunst, und auch für diese ist gerade iu Südafrika eiu großes
Feld der Thätigkeit eröffnet, da die Farmen fortwährend die
Herren wechseln, sie auch häufig getheilt werden und in jedem
Districte außerdem noch sehr viele uicht verkaufte uud daher
uicht vermessene Regierungsländereieu sich befinden. Als
Agenten und Landmesser haben die eingeborenen Afrikaner
sich stets sehr gut bewährt, wenn es auch scheint, als ob sie
in geschäftlicher—Beziehung den Europäern nachstehen. Denn
beim Gefchästsmanue kommt es in Südafrika meist auf aus-
dauernde Energie uud auf große Sparsamkeit an, und daran
scheint in der That der eingeborene holländische Afri-
kaner Mangel zu leiden.
An Geistesgaben, scharfem Auffassungsvermögen :c., sehlt
es ihm durchaus nicht, ja ich glaube sogar, daß in dieser Be-
ziehuug die von weißen Eltern in Südafrika geborenen Kin-
der europäischen Kindern überlegen sind, aber es sehlt ihnen
nachträglich die Beständigkeit und die Ausdauer. Daß die
iu Europa erzogenen und ausgebildeten Afrikaner, die also
eine strenge Schule durchmachen müssen, in ihren besonderen
Fächern sehr Tüchtiges leisten können, das beweisen die vie-
len in England, Deutschland oder Holland gebildeten sehr
tüchtigen afrikanischen Pastoren, Advocaten, Nichter, Aerzte :c
Aber außer dieser weißen Bevölkerung giebt es iu uuserm
Dörfchen oder Städtchen noch eine sehr gemischte schwarze.
Hier haben wir zuerst die Bastarde, d. h. Halbschwarze,
Kinder von Hottentoten- oder Kassirmüttern und weißen Vä-
tern, und die verschiedenen Mischungen aus oben genann-
ter Kreuzung. Diese sind meist bereits Christen, besuchen
regelmäßig den sonntäglichen Gottesdienst irgend eines Mis-
sionärs, der sich in jedem Städtchen, sobald es sich nur
irgendwie zu entwickeln anfängt, einfindet, und unterscheiden
sich meist von den Hottentoten und Kaffirn dadurch, daß sie
bereits europäische Kleider tragen, und sich nicht an einen
weißen Herrn für Tagelohn vermiethen. Im lU'brigeu sind
dies meist, mit wenigen Ausnahmen, die nichtsnutzigsten
Charaktere von Südafrika. Von ihren beiderseitigen
Eltern haben sie eben nur die häßlichsten Eigenschaften
jeder Nace angenommen. Sie sind faul, übermüthig, ge-
fräßig und dem Trunk ergeben, wenn sie auch desSouutags
in ihrer kleinen Kirche, in deren pestilentialischer Stickluft
wenig weiße Menschen es länger als fünf Minuten aushalten
können, so fromm, so demüthig und so gottessürchtig als mög-
lich erscheinen. Sie selber tragen meist wie ihre Weiber
den nordöstlichen Districten des Caplandes. 85
schwarze Kleider, während letztere noch schwarze Tücher um
ihre wollhaarigen Kopse winden.
Die Missionäre, die das Seelenheil dieser Bastarde
besorgen, muß man jedoch durchaus uicht mit jenen wirklich
achtbaren Männern verwechseln, die sich im Innern des
Kasfirlandes aufhalten, oder mit jenen englischen und dent-
schen Missionären, die irgend einer Missionsgesellschaft an-
gehören und die ihre Station auf einer vereinzelten Farm
aufgeschlagen haben. Die Missionäre dieser Halbschwarzen
in den Städtchen recrutireu sich meist aus solchen Leuten,
die iu Holland bereits iu allen möglichen Stellungen Fiasco
gemacht haben nnd es jetzt mit der Frömmigkeit und Heilig-
keit versuchen. Mitunter freilich giebt es auch unter ihnen
von wirklichem religiösen Gefühl beseelte Männer und Leute,
die mit den besten Absichten ihren neuen Lebenslauf beginnen,
aber meistens schon nach mehreren Jahren machen Manche
auch in dieser Stellung wieder Fiasco, nachdem sie durch die
verschiedenartigsten Speculationeu, die gerade nicht in ihr
Bereich gehören, eine Menge Leute betrogen und sich selbst
um keinen Pfennig reicher gemacht haben.
Es sind aber solche Charaktere die ganz unausbleiblichen
Erzeugnisse eines jungen Landes und der übertriebenen reli-
giösenHeuchelei, wie Mansie eben nur in einer englischen
Colouie finden kann.
Die Kaffirn und Hottentoten bilden die Dienerschaft
des Städtchens. Sie wohnen jedoch nicht im Orte selber,
sondern haben ihre Hütten stets jenseits desselben, aus irgend
einer Erhöhung, die durch ein Flüßcheu vom Städtchen ge-
trennt ist, und kommen je nachdem im Sommer oder Winter
um 6 oder 7 Uhr Morgens zur Arbeit uud entfernen sich
stets mit Sonnenuntergang ohne Rücksicht daraus, ob man
ihrer Arbeit noch bedarf oder nicht. Wird einmal durch be-
sondere Umstände, Krankheitsfälle :c., seine Thätigkeit mehr
als gewöhnlich in Anspruch genommen, so verschwindet in
der Regel der Kaffir, ohne daß die Herrschaft etwas dagegen
thnn kann. Der Kaffir, uud besonders derjenige, der sich
bereits eine Frau erkauft hat, vermiethet sich jedoch nicht
mehr selber, sondern feine Ehehälfte, die dann auch
meist mit zwei Kindern, das eine ans den Rücken gebunden
nnd das andere ihr zur Seite, ihre Arbeit verrichtet, die
iu den gewöhnlichen schwereren häuslichen Dienstleistungen
besteht. Während der Arbeit nimmt sie selten ihre ekelhaft
schmutzige Holzpseise aus dem Munde, es sei denn, um einer
andern Kafsirsrau, die vielleicht mitarbeitet, einen Zug aus
derselben anzubieten. Der glückliche Besitzer einer solchen
Frau liegt indessen an seiner Hütte auf dem Bauche, läßt
sich die Sonne auf den Rücken scheinen und kommt dann
gegen Nachmittag laugsam und gemächlich, um sich sein Es-
sen zu holen, das der Miethsherr auch für ihn liefern muß!
Sind die ersten Sterne am Himmel, haben sich sämmt-
liche Kaffirn in ihren Quartieren versammelt und ist die letzte
Mahlzeit vorüber, dann beginnen die früher erwähnten tollen
Tänze in freier Natur, wo Nacktheit mit Nacktheit in wüsten
Sprüngen wetteifert, bis entweder unter den verschiedenen
Tänzern ein Streit ausbricht, der zu Keuleu(Kirie)schlägen
führt, oder bis Alles todtmüde spät des Nachts in Schlas
versinkt.
Natürlich sind auch die in den Dörfern und Städtchen
sich aufhaltenden Kaffirn nicht mehr die reinen „Naturkin-
der" ihres Landes. Durch den längern Aufenthalt unter
den Weißen sind sie auch bereits von gewisser Cultur beleckt.
Ihre wirklich oft poetischen Namen, die von irgend einem
Ereigniß, das bei der Geburt stattgefunden hat, hergeleitet
sind, wie Likeleli (Thräneu), Monaheng (auf dem Felde
geboren), Ineha (Hund), Lepoko (Streit), gefallen ihnen
längst nicht mehr und sie haben sie mit deu ihnen besser klin-
' '
86 L. Hollaender: Dorf- und Städteleben i
genden englischen vertauscht. Und so kommt es denn, daß
fast sämmtliche Kaffirn im Städtchen folgende Namen haben
wie Sixpence (Sechspfennig), Tlireepence (Dreipfennig),
April, Kameel, Bob, stupid (dummer Kerl), Gorilla, Rep-
til, Januar, Zündholz, Schnupftaback:c. Das Einzige,
worin sie sich im Englischen und Holländischen gut ausdrücken
lernen, sind Schwüre und Flüche, und was sie dem Weißen
zuerst ablauschen, besteht in der Vertilgung ungeheurer Quan-
titäten von Alkohol.
Die Hottentoten besorgen meist nur die Pferde und
werden für Dienste, die schon mehr Geschicklichkeit, aber we-
niger Kraftanstrengung erfordern, benutzt. Sie bauen sich
keine Hütten nach Kaffirweise, sondern irgend ein vorsprin-
gender Stein oder ein über mehrere Stäbe gespannter Woll-
sack dient ihnen als Lagerstelle. Sie sind fast noch verkom-
mener als die Hottentoten auf den benachbarten Farmen *),
da sie im Städtchen mehr Gelegenheit zu Ausschweifungen
haben. Siud sie wegen fortwährender Trunkenheit von ihren
Herren entlassen, so beginnen sie zu stehlen, und werden dann
vom Magistrat ins Gefängniß gesteckt, wo sie auf Regie-
rungskosten viel besser verpflegt werden, als sie es jemals, fo
lange sie noch arbeiteten, gewohnt waren, wie denn überhaupt
das Gefängniß das höchste Paradies des Kaffirs
oder Hottentoten ist. Denn dort braucht er nichts zu
arbeiten, wird gut verpflegt, kann den Tag über mit sei-
nen Gefährten plaudern, und was will so ein Schwarzer
mehr? Die Entziehung der persönlichen Freiheit
ist nur eine Strase für den civilisirten Weißen und
niemals für den Schwarzen. Aber die Exeter-Hall-
Philanthropie wird dies niemals zugebe», und sollten sämmt-
liche Colonien Englands darüber zu Grunde gehen.
Das Gefängniß des Städtchens ist stets das schönste
und am besten gebaute Haus in den nordöstlichen Districten
des Caplandes, und dasselbe würde jedem europäischen Orte
zur Zierde gereichen. Sie sind erst in den letzten Jahren
mit ungeheuren Kosten von der Regierung errichtet worden,
sind meist im Viereck gebaut und haben die Fenster alle nach
dem innern Hof, wo die schwarzen Gefangenen, d. h. solche,
die nicht zn harter Arbeit an der Landstraße vernrtheilt sind,
was übrigens meist nur bei Criminalverbrechen vorkommt,
sich den Tag über ergehen können. Die Räumlichkeiten wer-
den stets sehr sauber gehalten und die Kost ist, für deutsche
Verhältnisse, eine vorzügliche, wie z. B. täglich Fleischbrühe
mit Fleisch und Reis, und ein Stück kräftigen Brotes, so
daß der Physicus, der täglich das Gefängniß besuchen muß,
wenig oder gar keine Gelegenheit findet, seine ärztliche Kunst
auszuüben,
Diese so gemischte Bevölkerung betrachtend, ist es leicht
ersichtlich, daß in einem südafrikanischen Städtchen für Ge-
lehrte jedes Faches, er sei Geolog, Ethnograph, Zoolog oder
Philolog, ein weites Feld zur Beobachtung und zum Stu-
dium vorhanden ist. Die Sprachen, die man am meisten
hört, sind die englische, die holländische, die freilich stark durch
verschiedene Beimengung corrnmpirt ist, die deutsche und meh-
rereIdiome derBetschuauasprache, wie Lessuto, Tam-
bukie, Fiugol :c. Für das Studium der Raceu und
ihrer verschiedenartigen Mischung giebt es kaum eine Schranke.
Denn unter der dunkelhäutigen Bevölkerung finden sich alle
Nüancirnngen. Vom intensiven Dunkelbraun bis zu einer
Abstufung, die bereits an die reine durchsichtige Farbe der
von Europäern iu Afrika geboreneu Kinder erinnert, sind
alle Zwischenstufen deutlich vorhanden.
Ändere geringere Umstünde, die mit der Bevölkerung uud
*) Siehe „Farmlcben am £)vanjofIuf|c", „Glvbus" Vd. XI.
den nordöstlichen Districten des Caplandes.
Gesellschaft des Städtchens in Verbindung stehen, müssen
auch erwähnt werden. Vor Allem zuerst fällt die große
Anzahl der Junggesellen in jedem dieser Orte auf, —
eine Thatsache, die sich freilich fchou lange vor der gegen-
wärtigen Zeitrechnung in jeder neuen Ansiedelung bemerkbar
gemacht hat. Da die Bevölkerung dieser Plätze meist aus
Europa oder aus den westlichen Provinzen des Caplandes,
wo bereits schon civilisirtere Verhältnisse existiren, sich ergänzt
und eben meist nur junge Leute auswandern, die in den neuen
Ansiedelungen leichter festen Fuß zu fassen glauben, so ist die
große Anzahl der Junggesellen schon an und für sich erklär-
lich. Noch erklärlicher aber wird der Mangel an jungen
Damen, wenn man bedenkt, daß der eingeborene Afrikaner
sehr jnng heirathet und die Farmer selten ein hohes Alter
erreichen, ohne 2 bis 3 Frauen begraben zu haben.
Eine gebildete Familie mit erwachsenen Töchtern verirrt
sich wohl selten oder nie in die entlegenen östlichen Provin-
zen des Caplandes, und selbst wenn dies erst der Fall wäre,
so würde es doch noch lange dauern, bis das Wort „Ball-
mutter" in den nordöstlichen Districten wenigstens zu Ehren
käme. Außerdem ziehen es junge Männer aus Europa vor,
Damen aus ihrer Heimath zn heirathen. Die Afrikanerin,
die dnrch Familienbande an das Capland gekettet ist und sich
dort wohl und glücklich fühlt, würde sich schwer oder nie ent-
schließen, für immer in Europa fern von den Ihrigen zu
wohnen, und da fast jeder junge Mann das Capland, we-
nigstens die nordöstliche Provinz, trotz des herrlichsten Kli-
mas der Welt, trotz des leichten Erwerbes und trotz des freien
und ungezwungenen Lebens, immer nur als einen freiwilligen
Verbannungsort ansieht, den er, sobald er nur einiges Ver-
mögen erworben, wieder zu verlassen gedenkt, so ist er in
Bezng auf eine Heirath am Caplande um fo vorsichtiger.
Je läuger jedoch so ein Städtchen besteht und je mehr
es sich durch verschiedene Bedingungen vergrößert, um so
schneller und um so plötzlicher verändern sich oft obige Zu-
stände. Vielleicht siud indessen einige nnverheirathete Herren
nach Europa gereist und haben von da sich eine Frau geholt,
die wiederum eine Schwester mitgebracht hat, — andere junge
Männer, welche die Hoffnung aufgegeben haben, sich schnell
ein Vermögen zu erwerben, um dafür lieber jeglichen Com-
fort des füdafrikanifchen Lebens einzutauschen, haben auf einer
Geschäftsreise nach der Küste eine nette englische Farmer-
tochter kennen gelernt, und diese als Frau heimgeführt, und
so kommt es denn, daß vielleicht der Ort, der noch vor we-
nigen Jahren als das Dorado aller jungen, unverheirathe-
tcn Mädchen galt, heute bereits uur verheirathete, ehrsame,
kirchenbesuchende, sromme Ehepaare zählt.
Mit der Zeit stellt sich auch das Bedürsuiß nach einer
Schule heraus, nnd da in Südafrika die vollste Gewerbe-
und Lehrfreiheit ihre schönsten Blüthen und Früchte treibt,
so taucht schnell aus dem allgemeinen Chaos ein Schulmei-
sterlein hervor. Irgend ein bankerotter Kaufmann, der durch-
aus keinen Credit mehr erlangen kann, — oder irgend ein
lendenlahmer, desertirter Matrose, der des Herumtreibens
überdrüssig, — irgend ein Buchdruckerlehrling oder ein Quack-
salber, der Jahre lang als Doctor Wunderknren verrichtet,
bis schließlich weder Wunder noch Knren einschlagen, kommt
schnell der allgemeinen Noth zn Hülfe und die ersten Anfänge
zur künftigen Hochschule sind gemacht. ^ Der Matrose oder
der Buchdruckerlehrliug ueuuen sich jetzt Professor der Recht-
schreibeknnst, der Buchführung, der Musik, der Gymnastik
oder irgend einer ähnlichen Wissenschaft, für die im bezopften
Europa noch lange kein Lehrstuhl errichtet ist, uud die El-
tern wissen wenigstens ihre Kinder während einiger Stnn-
den des Tages beschäftigt. Da die Zöglinge mit der Zeit
jedoch keine Fortschritte machen, die Bevölkerung sich indessen
Die ostasiatische
aitd) vermehrt, so vereinigen sich schließlich die einflußreichsten
Männer des Städtchens und des Districts und man beruft
einen ordentlichen Lehrer aus Schottland. Denn da die eng-
tische Sprache auch unter den ehemals holländischen Bauern
sich mehr und mehr einbürgert und die aus Holland eiuge-
wanderten Schulmeister bisher wenig reüssirt haben, außer-
dem aber noch in manchen Gegenden Schottlands, wie Aber-
deen zc>, der strengste Calvinismus, der dem südafrikanischen
entspricht, ausrecht erhalten wird, so sind die aus Schottland
berufenen Herren in der That die passendsten und besten
Lehrer.
Auf diese Weise sind denn auch in den letzten Iahren
fast in allen nordöstlichen Städtchen des Caplandes sehr tüch-
tige Schulen entstanden, die meist von schottischen Gelehrten
geleitet werden, in welchen Knaben nnd Mädchen eine ordeut-
liche Vorbildung je für ihren verschiedenartigen Beruf erlan-
gen können. In manchen Städten wirken 3 bis 4 solcher
Lehrer. In den meisten jedoch ist nur ein „Professor" thä-
tig, und Doppersdors kann sich rühmen, was den Stand seiner
Schule betrifft, jeder andern Stadt in Südafrika ebenbürtig
oder gar voraus zu fein.
Für diese Schulen wurden denn auch in den letzten Iah-
ren überall den dortigen Verhältnissen angemessene ziemlich
große Schnlgebände errichtet, die, wenn sie anch nur zwei
Zimmer, eiu ziemlich umfangreiches für die Knaben und ein
anderes kleineres für die Mädchen, enthalten, doch den Bedürf-
nissen genügen. Das größere Schulzimmer wird zuweilen für
verschiedene Versammlungen, Vorlesungen :c. benutzt, denen
geflissentlich jeder Einwohner beiwohnt.
Meist handelt es sich hierbei jedoch nicht um eine wissen-
schaftliche populäre Vorlesung — obgleich auch solche mit-
unter gehalten werden —, sondern um irgend welche eigen-
thümliche Expectorationen eines sogenannten Mäßigkeits-
Predigers, der in der Regel alles Ernstes nachzuweisen
sucht, daß Spirituosen, sogar ganz mäßig geuosseu, schädlich
sind, und daß ebenso auch das Rauchen abzuschaffen sei, weil
dadurch größerer Durst erzeugt wird. Diese Reden sind stets
in eigener Weise, weuu auch uicht verfaßt, fo doch vorgetra-
gen, und stets finden sich auch Leute, die, durch eilte solche
Predigt aufs Aeußcrste aufgeregt, den leichtfertigen aber frei-
willigen Schwur thnn, niemals mehr einen Tropfen alkohol-
haltiger Getränke zu genießen. Meist jedoch schon nach eini-
gen Wochen lassen sie sich wieder von diesem Schwur ent-
binden und verfallen um so ärger dem früher gefröhnten
Laster.
In diesen Mäßigkeits- oder besser Enthaltsamkeitsreden
wird in der Regel ans sämmtliche Aerzte mit allen möglichen
Waffen des Schimpfes, der Schmähung und Verdächtigung
losgezogen, da sie Spirituosen zur Anfertigung mancher Arz-
neien benutzen und außerdem in den meisten Fällen Wein :c.
empfehlen, und besonders wird viel von frommen Methodisten-
Predigern erzählt, die, ohne je Wein genossen zu haben, ein
hohes Alter erreichten. Je mehr Anekdoten so ein Redner
Auswanderung. 87
erzählt, je weniger Logik er entwickelt, und je mehr Phrasen
er macht, um so mehr ergreift und packt er feine Zuhörer.
Gutes haben diese Enthaltsamkeitsapostel jedoch noch
nie in Südafrika gestiftet. Kein Mensch kann ohne eine
gewisse zeitweilige Aufregung oder Anregung unter so mono-
tonen Verhältnissen, wie denen des Caplaudes, lauge existireu,
ohne sich einen solchen Reiz zu verschaffen. Bon dem Bil-
dnngsgrade jedes Meuscheu wird es jedoch abhängen, worin
diese Ausregung bestehen wird, und ist erst ein Mensch in
Südafrika so weit gesunken, daß er sich dem Trunk ergeben
hat, fo wird ihn nichts mehr daraus erretten. So lauge
man anstatt der durch Branntwein erzeugten Aufregung eine
andere setzen kann, so lauge der Mäßigkeitsprediger im Orte
bleibt uud es versteht, die Phantasie nnd das Gesühl seiner
Getreuen durch markige Anreden und verschiedenartige Be-
schästignngen rege zu erhalten, so lange wird vielleicht der
Säufer seinen Schwur halten. Hört dies jedoch auf, oder
tritt, wie das so häusig mit solchen an berauschende Getränke
gewöhnten Menschen geschieht, große Abgeschlagenheit, Mat-
tigkeit und Mutlosigkeit ein, so wird er um so gieriger nach
dem alten Reizmittel greifen und um fo fchueller dem De-
lirium tremens und dem Tode zueilen. Und stets kommen
auch kurze Zeit nach der Abreise eines solchen Mäßigkeits-
Predigers die meisten Fälle von Sänferwahnsinn zum Aus-
bruch.
In diesem Schulgebäude werden aber auch zuweilen aller-
Hand Concerte abgehalten. -Irgend ein ausgedienter Spiel-
mann eines englischen Regiments hat sich in unser Städtchen
verirrt, hat vielleicht eine Cantine — d. h. eine Brannt-
weinkneipe für Hottentoten, Kafsirn und vagabondirende eng-
lische Deserteure — errichtet und bemüht sich nun, für feine
Mußestunden Schüler für sein besonderes Instrument, meist
das Cornet ä piston, zu gewinnen. Solcher Trompeten-
liebhaber giebt es aber stets in solch einem Städtchen, und so
producirt sich deuu uach kurzer Zeit bereits — in Afrika
lernt man Alles sehr schnell — ein Quartett oder Sextett
vou Blaseiustrumeuteu, während ein junger Deutscher, der
in der Heimath verschiedene Polkas, Walzer und Märsche
geläufig ans dem Piano spielen gelernt hat, mit denselben
das Programm des Abends noch weiter ausfüllt.
Natürlich giebt es in Doppersdorf in jedem Hause ein
Piano, und wollte man von der Anzahl dieser musikalischen
Möbel auf die musikalische Befähiguug der Afrikaner schlie-
ßen, so müßte man jenem deutscheu Kaufmann von feinem
Standpunkte aus beipflichten, der da sagte: „Sehen Sie, es
heißt, die Deutschen sind ein musikalisches Volk. Ich sage
Ihnen, die Capläuder sind es viel mehr, denn Sie finden
hier in jedem Haufe ein Picrnino." Meistens genügt eine
fade, gemüthlose, amerikanische Negermelodie, oder irgend ein
altes, ehrbares deutsches Lied, wie „Du, Du liegst mir im
Herzen" oder „Ich klag's Euch Ihr Blumen" dem wenig
verdorbenen Geschmack unserer Freuude.
Die ostasiatische
_ Wir wiesen neulich darauf hin, daß allem Anschein zu-
folge die Auswanderung aus Ostasien demnächst einen groß-
artigert Aufschwung nehmen werde. Jetzt lesen wir soeben
in der „Newyork Tribüne" (vom 15. Juli) eine Correfpon-
Auswanderung.
denz aus Yokohama vom 2. Iuui, daß nun auch Ja-
pan feine Auswanderer in alle Welt ziehen läßt.
Welch ein Gegensatz im Vergleiche zu dem frühern Systeme,
dem zufolge jeder Japaner, welcher außer Laudes ging, der
88 Die ostasiatische
Todesstrafe verfallen war, und wo selbst schiffbrüchige Schis-
ser und Fischer, welche von Ausländern gerettet und in ihre
Heimath zurückgebracht worden waren, hingerichtet wurden!
Japan hat Ueberfluß au tüchtigen Arbeitskräften, wäh-
rend die Inseln der Südsee an solchen Mangel leiden. We-
der die schwarzen noch die braunen Polynesier sind für eine
anhaltende, regelmäßige Thätigkeit geschaffen und können
weder mit den Europäern noch mit den Asiaten einen Ver-
gleich aushalten. Das zeigt sich namentlich auf der Ha-
waii-GrupPe, den Sandwichs-Jnseln. Diese eignen
sich vortrefflich zum Anbau sowohl des Kaffes wie iusbefou-
dere auch des Zuckerrohrs, und jener des letztern kann
von großer Bedeutung werden, fobald die erforderlichen Ar-
beitskräfte iu genügender Menge zn beschaffen sind. Die
Regierung der Sandwichs-Jnseln saßte den sehr verständigen
Entschluß, sich dieselben aus Japan zu holen; sie schickte
deshalb einen Bevollmächtigten Namens Watermann nach
Aokohama, um mit Arbeitern Verträge abzuschließen. Dieser
Agent setzte sich mit den japanischen Behörden ins Einver-
nehmen und scheint die Sache richtig angegriffen zu haben.
In den letzten Tagen des Maimonats nahm in Hoko-
hama das amerikanische Schiff „Scioto" mehrere hundert
Japaner an Bord; dasselbe wurde von den japanischen Be-
Hörden besichtigt; die Ausrüstung ließ nichts zu wünschen
übrig. Ein japanischer Negiernngscommissür macht die Fahrt
nach Hawaii mit, um an Ort und Stelle sich zu überzeugen,
daß alle Punkte des Vertrags redlich erfüllt werden. Dafür
ist ohnehin von Seiten Japans die hawaiische Regierung
speciell verantwortlich gemacht worden. Auswanderung und
Arbeit finden unter folgenden Bedingungen statt: Der ja-
panische Kuli hat freie Ueberfahrt; er bekommt monatlich
4 Dollars baar, Nahrung, Kleidung nnd in Krankheitsfällen
unentgeltlich ärztlichen Beistand und Arzeneien. Man zahlt
ihm 10 Dollars in Vorschuß; der Aufseher erhält 5 Dvl-
lars monatlich. Der Vertrag ist auf drei Jahre abgefchlos-
sen worden.
Wahrscheinlich gelingt der Versuch und in diesem Falle
wird er bedeutende Folgen haben. Man denke sich die schö-
nen und fruchtbaren Südseeinseln von Japanern angebaut,
von fleißigen, arbeitsamen Leuten! Sie werden eine Fülle
intertropischer Erzeugnisse liefern und den Handels- und
Schifffahrtsverkehr beleben. An die Stelle der Polynesier,
welche vorzugsweise passive Menschen sind und ohnehin nach
nnd nach verschwinden, treten kräftige Asiaten und jene
Eilande werden durch sie in Culturstätteu umgewandelt. Und
wenn einmal die japanische Auswanderung einen großen
Maßstab gewinnt, dann ist mit Sicherheit anzunehmen, daß
sie sich nicht auf die Juselu der Südsee allein beschränken,
sondern auch auf Amerika erstrecken werde. Das Schiff
„Scioto" ist der Vorbote einer großen Bewegung.
Mächtig wächst auch jetzt schon die chinesische Aus-
Wanderung an, und für diese eröffnet sich soeben ein neuer,
weiter Horizont. Der pacisische Dampfer „ Chinawelcher
am 26. Juni zu San Francisco einlief, brachte aus deu
Häfen des Blumenreiches der Mitte außer etwa 100 Fahr-
gästeu in der Cajüte nicht weniger als 96 5 Chinesen im
Zwischendeck, — ein ganzes Bataillon. Wir finden diese
Angabe im „NewYork Herald" vom 8. Juli. Das Blatt
knüpft an diese Thatsache allerlei Betrachtungen, welche den
Beweis liefern, daß man jetzt auch in Nordamerika die Dinge
von dem Standpunkte aus zu betrachten anfängt, den wir
seither im „Globus" eingenommen haben. Man ahnt dort
wenigstens, daß dieser ostasiatische Exodus zn einer eth-
nischen und wirtschaftlichen Umwandelung füh-
ren muß.
Jenes massenhafte Einströmen ist, wieder „Herald" ganz
Auswanderung.
richtig hervorhebt, ein charakteristisches Zeichen der Zeit; er
meint, daß die Einwanderung aus China gleiche Dimensionen
annehmen werde, wie jene aus Europa. „Sobald die große
pacisische Eisenbahn vollendet ist und die Zahl der Dampfer
sich mehr und mehr steigert, wird die überschüssige Bevölke-
rung aus China wie aus Japan einen Abzug nach Calisor-
nien und anderen Staaten der Südsee suchen und finden.
Gegenwärtig sind an der großen Westbahn mehr als 25,000
Chinesen als Arbeiter beschäftigt. Die „Himmlischen" kamen
bislang vorzugsweise nur als Tagarbeiter und kleine Han-
delslente, aber ihre Zahl beträgt jetzt mehr als 50,000. Bald
werden ganze Schwärme geschickter nnd gewandter Menschen
eintreffen und aus amerikanischem Boden als tüchtige Ackers-
lente oder Handwerker thätig sein. Sie werden hier Seide
und Porzellan, lackirte Waaren, Elfenbein- und Perlmutter-
schnitzereien, Glocken, Papier, Farben und Möbel verfertigen
und ihre ganze Industrie zu uns verpflanzen. Vielleicht
kommen auch Männer der Wissenschaft und lehren die Phi-
lofophie des Confucius; bei ihnen mögen dann die juugen
Männer in die Schule gehen, welche sich zum Missionswerk
in China vorbereiten. Die gewöhnlichen Handarbeiter wer-
den für das materielle Gedeihen der Staaten an der West-
küste von großem Nutzen sein. Noch ein Moment ist nicht
zu übersehen. Die Chinesen und Chinesinnen werden gute
Hausdiener abgeben, weniger anspruchsvoll sein, wie die
Weißen ans Europa und Nordamerika im Norden und we-
niger unverschämt als die Neger." —
Ich habe früher darauf hingewiesen, daß die Sendung des
Nordamerikaners Ausou Burliugame, der als Gesandter
Chinas nach Washington und nach Europa geht, von großer
Wichtigkeit für die ueue Weltstellung Chinas werden könne.
Jetzt melden nordamerikanische Blätter, daß er mit der dor-
tigen Regierung einen Vertrag abgeschlossen habe. Sie mel-
den ferner, daß C. D. Poston. Beamter imAckerbanbürean
zn Washington, mit den darauf bezüglichen Depeschen an den
Kaiser von China abgegangen sei. Dieser Mann ist zugleich
Bevollmächtigter einer Compagnie, welcher in Niedercali-
formen und in Sonora von der mexicanischen Regierung
eine große Strecke Landes bewilligt worden ist. Diese soll
massenhaft durch Chinesen besiedelt werden, und es
ist Postou's Aufgabe, tüchtige Kulis dorthin zn fchaffen. So
kommt das Rad ins Rollen.
Bemerkenswerth erscheint die Art und Weise, in welcher
Bmlingame von seiner Mission spricht. Er äußerte in einer
Rede, die er zn Nenyork hielt, daß China in eine durchaus
ueue Aera getreten sei und daß man dort die Notwendigkeit
begreife, in der neu eröffneten Bahn fortznwandeln. Die
abendländische Civilisatiou müsse als Pfropfreis den Baum
der uralten chinesischen Civilisation verjüngen. Auf allen
Seiten empfinde China den materiellen und geistigen Druck
von außen, es verspüre die Einwirkungen einer neuen Zeit.
Aber die Regierung wünsche, daß die Mächte, mit denen sie
Verträge geschlossen habe, diese letzteren in großmüthiger und
„christlicher" Weise auslegen möchten; daß von ihnen die
Integrität des Gebietes geschont und die Neutralität beob-
achtet werde. Im Uebrigen sei sie zu weitgehenden Zuge-
ständnissen bereit. —
Nun ist es Thatsache, daß Nordamerika bei allen chine-
sischen Wirren sehr versöhnlich und verständig aufgetreten ist.
Es erhebt sich aber andererseits die wichtige Frage: Welche
Stellung soll in bürgerlicher und' politischer Be-
ziehuug den Chinesen in der Union eingeräumt
werden?
Wir stoßen hier wieder auf die verhängnißvolle Racen-
frage, die sich außerhalb Europas überall in den Vorder-
grnnd drängt. Der Oftasiat ist ein unendlich höher begab-
Aus all«
ter Mensch als der Neger, der sich niemals auch nur eine
niedrige (Zivilisation hat schassen können. Ein hiruverbrann-
ter Radikalismus, der nicht einmal vom ABC der Anthro-
Pologie eine Ahnung hat, erzwang für den Afrikaner in den
südlichen Staaten die politische Gleichberechtigung, welche die
nördlichen Staaten, obwohl in diesen nur ein äußerst gerin-
ger Bruchtheil von Negermenschen lebt, denselben wohlweis-
lich versagen. Die Chinesen uud Japaner aber haben, ab-
stract genommen, sicherlich eben so viel Anspruch auf politi-
sche Gleichstellung wie die Schwarzen. Aber man will ihnen
dieselbe in Calisornien nicht zugestehen; man hat überall
Nacenabneigung gegen die Chinesen. Ich constatire heute
nur die Thatsache.- der Congreß hat kein Recht, dem Staate
Calisornien darüber Vorschriften zu machen. Welche Stel-
lung werden nun die Chinesen, wenn sie zn Hunderttansen-
den in den pacifischen Staaten angesiedelt sind, neben uud
gegenüber den Weißen einnehmen? Wir sehen hier Keime
zu neuen Verwirrungen. In Australien herrscht gegen diese
Asiaten eine nicht geringere Abneigung. Amerika seinerseits
kann ihnen den Eingang nicht verwehren, weil das gegen die
Grnndprincipien seines Staatswesens verstoßen würde, und
weil es seinerseits in China große Privilegien genießt.
Als ich das Vorstehende geschrieben hatte, kam mir die
Nummer des „Newyork Herald" vom 15. Juli zu, welche
die Grundzüge des zwischen der Washingtoner Regierung und
Anson Burlingame vereinbarten Vertrages enthält. Dem-
gemäß sollen alle Häfen Chinas dem Handelsverkehr der
Vereinigten Staaten frei und offen stehen; all und jede Be-
schränkung hört dort auf. Amerikanische Bürger können sich
in jeder beliebigen Stadt aushalten und dort Haudel treiben;
sie erhalten Schutz für Eigenthum und Person. Alle
Ströme werden ihrer Schifffahrt eröffnet. So
können sie nach Belieben im Lande reisen, fast das ganze
Reich steht ihnen offen, in den Hafenplätzen können sie sich
bewegen, als ob sie in Hamburg oder Liverpool sich befänden;
sie können sich mit den Prodncenten überall, wo es auch fei,
m directe Verbindung setzen. Die amerikanische Regierung
ihrerseits gewährt den Chinesen einige Handelsvortheile an
ihrer pacifischen Küste; „sie garantirt den Chinesen in Anie-
rika Schutz für ihre Rechte, welche sie den Unterthanen einer
gleichgestellten Macht schuldig ist; sie stellt Naturalisa-
tion in Aussicht und verspricht der chinesischen Regierung
Beistand, im Fall andere Mächte unstatthafte Privilegien
r Erdtheilen. 89
durch die gewöhnlichen Mittel der Einschüchterung erzwingen
wollen/' —
Durch diese Beziehungen zwischen Nordamerika und China
gewinnt die pacifische Küste eine Bedeutung, die sich im Fort-
gange der Zeit immer mehr steigern muß. Und im Hin-
blicke darauf erscheint auch Alaska, das vormals russische
Nordwestamerika, von größerm Belang, als dieses verspottete
„Walrnssia" an uud für sich haben mag. Die Peters-
burger Mouopolcompagnie wußte aus diesem Gebiete nichts
zu machen und weiter nichts als Pelzwerk zu holen; durch
die Amerikaner kommt aber frisches Leben in jene Einöden
und es soll demnächst in dieser Zeitschrift der Nachweis ge-
führt werden, daß dort allerdings etwas mehr zu holen ist
als Otterfelle.
Es ist für uns nicht ohne Interesse, zu sehen, welche Be-
trachtungen jenes Neuyorker Blatt an den Vertrag anknüpft;
in Manchem stimmen sie mit dem überein, was wir früher
hervorhoben, und in Manchem übertreiben sie, z. B. wenn
gesagt wird, daß der Vertrag wichtigere Folgen haben werde
als einst die Entdeckung Amerikas. Weiter heißt es: „Der
Vertrag wird die größte gesellschaftliche und commercielle
Revolution herbeiführen, welche unser Zeitalter erlebt hat.
Er schließt gleichsam die Entdeckung eines neuen Continentes
in sich, welche der Arbeit, dem Handel, dem allseitigen thä-
tigen Verkehr eröffnet wird. Und es handelt sich dabei nicht
etwa um eine Wildniß, die von rohen Stämmen bewohnt
wird, sondern um ein Land mit der ältesten Civilisation, die
wir überhaupt kennen; das die ältesten Gesetze und die älteste
Philosophie aufweisen kann. Jenes Land hat eine Regie-
rung, die in staunenerregender Weise bis in die kleinsten Ein-
zelnheiten hinein raffinirt ist; eine Regierung, welche unter-
allen anderen einzig insofern dasteht, daß sie nicht ein verrot-
tetes Priesterthum zur Unterlage hat. Das Land zählt viele
Hunderte großer Städte; von den Hunderten von Millionen
fleißiger, betriebsamer Leute können wir noch Vieles lernen." —
„China wirft nun Überlieferungen bei Seite, welche
vier Jahrtausende lang gegolten und geherrscht haben; es
verzichtet endgültig auf die frühere Absperrung und will seine
Stellung unter den Großmächten der Erde einnehmen. Das
älteste Volk der Welt sucht eine Stütze bei dem allerjüngsten.
Unser noch so dünn bevölkerter Erdtheil Amerika wird das
Aufnahmebecken für Millionen Leute aus dem übervölkerten
Ostasien bilden, und solch ein massenhafter Abzug wird sich
vielleicht als ein Heilmittel gegen die chronisch wiederkehren-
den Rebellionen im Blumenreiche der Mitte erweisen."
Aus allen Erdtheilen.
Ueber die Sierra Nevada.
^rste Fahrt mit dem Dampfwagen über die Sierra Nevada.
In Gesellschaft mehrerer Freunde verließ ich San Fran-
cisco am Mittwoch, den 17. Juni, mit dem schönen Dampfer
^öofemite", um einer der Ersten zu sein, welche das „Land wo
Silber wächst" in einer Tour mit dem Dampfroß erreichen.
Die Reise bis Sacramento bot nichts Besonderes dar, doch war
uns der Himmel günstig und blickte freundlich und klar auf
uns herab. Gegen Morgen erreichten wir wohlbehalten Sacra-
mento, und da der Zug' erst um 6l/2 Uhr abgehen sollte, so
hatten wir hinreichende Zeit, um einen angenehmen Spaziergang
sowohl in den Straßen von Sacramento selbst wie in dessen
Globus XIV. Nr. 3. (August 1868.)
Umgebung zu machen. Der Morgen war klar und warm, die
leisen Luftzüge balsamisch schön, beladen mit den Wohlgerllchen
der Taufende von Blumen, welche in den hübsch eingerichteten
Gärten, die sich überall den Blicken darboten, in voller Bliithe
standen. Hier sahen wir wundervolle Oleander, unbefchützt, in
offenen Gärten, baumartig emporgewachsen, überdeckt mit schar-
l'achenen Blüthen. Rosen von jeder Farbe, gelb, weiß und jeder
Zchattirung von roth bis zun: tiefsten Carmin, wanden sich an
den Häusern empor und bildeten in buntem Farbenspiel zuwei-
len eine Blüthündecke in Front derselben. Die ganze Umgebung
unserer Hauptstadt in ihrer Blüthenzeit, mit der darüber aus-
gebreiteten wonnigen Ruhe, machte einen Eindruck, als wenn
man sich in einem halbtropifchen Alima befände, und unwillkür-
12
90 Aus allen
lich horchte man auf, ob man nicht den Klang einer Mandoline
hören würde. Wie wunderschön sind viele dieser reizenden Wohn-
Häuser gelegen, welches Glück müssen sie in sich schließen, wenn
ihre Bewohner Freunde der Natur und gute Menschen sind.
Doch fort mit allen Phantasien, die schrille Pfeife der Lo-
comotive ertönt und ladet zur Fahrt in und über die Gebirge
ein. Der Zug bewegte sich langsam zur Stadt hinaus, vor-
bei an den großartigen Arbeitswerkstätten der „Central Pa-
cific Railroad Compagnie" der nördlichen Grenze der Stadt ent-
lang, und über die lange Brücke des Aiyerican-Flusses. Pfei-
fend flieht der Dampf aus der Maschine und schneller und schnel-
ler drehen sich die Räder; bald haben wir die schattigen Bäume
der Flußregion hinter uns und jagen dahin auf der sonnigen
Ebene, den auslaufenden Hügeln der mächtigen Sierra Nevada
entgegen. Die Häupter der Berge sind noch von einem bläu-
lichen, halb durchsichtigen Nebel umgeben, aus denen die Schnee-
kappen, von den Strahlen der höhersteigenden Sonne berührt,
wie Diamanten hervorblitzen und in allen Farben fpielen. °An
unseren Seiten haben wir offenes Feld, ohne Baum und Ge-
sträuch, den westlichen Prärien gleich; zuweilen, gleich einer Oase
in der Wüste, eine kurze Landstrecke mit Bäumen, Feldern und
laufendem Wasser; doch der Boden ist arm, das Getreide dürf-
tig und magere Thiere weiden auf den mageren Wiesen.
An der Verbindungslinie mit Marysville, 18 Meilen
von Sacramento, verließ uns ein großer Theil unserer Mit-
Passagiere, denen wir ein Lebewohl zuwinkten und in immer
schnellerm Laufe weiter jagten, vorbei an dem großen Stein-
bruch von Rocklin, der in seiner Ausdehnung unerschöpflich
erscheint und noch Stoff für Taufende von Prachtgebäuden un-
serer aufsteigenden Städte in sich schließt.'
Endlich laufen wir in die langgestreckte Hügelreihe hinein,
und in der rasenden Schnelle, mit welcher wir dieselbe erklim-
men, scheinen die Gebirge vor unseren Blicken zu versinken. Die
Maschine ächzt und wirft den Dampf in kurzen, scharfen Stößen
aus, wir fühlen es, indem wir uns auf unseren Sitzen zurück-
legen, daß wir emporklimmen und das Dampfroß alle Sehnen
anspannen muß, um die Last fortzuschleppen, doch fort geht es,
ohne Rast und Aufenthalt, immer in gleich schnellem Tempo. Hinter
uns liegen bereits Newcastle, Auburn, Clipper Gap und
New England Mills; wir haben bereits eine Höhe von 2448
Fuß erreicht und fahren in Colfax, 54 Meilen von Sacra-
mento gelegen, ein. Colfax gehört zu den aufsteigenden Städten,
welche Auspruch darauf machen, mit der Zeit nicht Metropole,
doch Herrscherinnen ihres Districtes zu werden; Personenwagen
nach Graß Valley, Nevada und anderen reichen Minen-
Plätzen gehen zu regelmäßigen Zeiten von hier ab. Nach Auf-
enthalt von wenigen Minuten setzte sich der Zug wieder in Be-
wegnng.
Gleich nachdem wir Colfax hinter uns haben, pafsiren wir
eine hohe Bank, welche um Cap Horn «herumläuft und ner-
vösen Passagieren das Blut etwas langsamer laufen macht.
Man sieht, daß sie sich unwillkürlich krampfhaft an ihren Sitzen
anklammern, und mit besorgten Mienen hin und wieder einen
scheuen Blick in den Abgrund werfen; doch unbesorgt rast das
Dampfroß weiter, .einer Abzweigung des American-Flnfses ent-
lang, der sich wie ein gelbes Band, tief, tief, Hunderte von Fuß
tief unten durch die Felsen zieht. Acht Meilen von Colfax paf-
siren wir den Minenort „Secret Town" und blicken von hier-
aus, von einer Höhe von 2935 Fuß, in das Thal zurück.
Immer höher und höher führt uns die Locomotive, neue
Bergkuppen zeigen sich und verschwinden unseren Blicken durch
die Windungen des Weges, über allen erhaben ragen jedoch im-
mer die schneeigen Häupter der Gebirgsriesen.
Die warme, milde Atmosphäre des Thales ist uns nach
und nach verschwunden, und eine rauhere, doch erfrischende Luft
umgiebt uns.
Siebenundsechszig Meilen von Sacramento entfernt blicken
wir auf den einstmaligen reichen Minenplatz „Dutch Flat"
herab, dessen Blüthezeit jetzt jedoch zu den Vergangenheiten ge-
hört; zwei Meilen weiter erreichen wir „Alta" auf einer Höhe
von 3625 Fuß über dem Meeresspiegel, ungefähr in der Höhe
der höchsten Spitze von Mount Diablo.
Die Bergfeiten hier sind mit prachtvollen Tannenbäumen
bedeckt, welche an Stärke und Größe zunehmen, je höher wir
den Berg erklimmen. Der Strom, den wir von hier aus tief
unter uns dahinfließen sehen, erscheint uns wie ein dünner gelber
Faden, der sich in der Unendlichkeit verliert. Wir fahren jetzt
an der Seite des Berges entlang, dicht über uns die Schnee-
lager, an der Seite den Abgrund, hin und wieder durch dach-
artige starke Bauten gegen Lawinenstürze gesichert. Nachdem
wir die Station „Shady Run" hinter uns haben, passiren
wir, 75 Meilen von Sacramento und 4500 Fuß über dem Mee-
resspiegel erhaben, den ersten Tunnel von 500 Fuß Länge.
Der Weg, den wir jetzt zu Passiren haben, gewährt einen an-
dern Anblick wie bisher; Felszacken stehen hervor und Schnee-
felder umgeben uns.
Immer höher hinauf führt uns die Locomotive; die schönen
stolzen Tannenbäume verschwinden, und nur Bäume und Ge-
sträuch niederer Gattung sind hin und wieder sichtbar. Die
grauen Granitfelsen, welche wie Wächter auf dem Wege hervor-
ragen, werden zahlreicher und gewaltiger, und wir blicken auf
die kahlen Häupter der umliegenden Berge. Wir sind im Her-
zen oder vielmehr nahe dem Schädel der Sierra, eine trostlose
Oede umgiebt uns.
Bei „Emigrant Gap", 84 Meilen von Sacramento, tra-
fen wir den Zug an, welcher nach dort ging, und hatten nun
freie Bahn vor uns. Ein anderer Tunnel, 300 Fuß in Länge,
wurde passirt, ebenso Crystal Lake und wir erreichen Cisco,
den frühern Terminus der Bahn.
Wir sind jetzt 5900 Fuß über dem Meeresfpiegel und stei-
gen noch immer himmelan, immer vorwärts auf einer Bahn,
die zuweilen ganze Strecken entlang durch soliden Felsen gehauen
ist, durch ungeheure Schneefelder, welche auf beiden Seiten der
Bahn Wälle bilden. Noch vor wenigen Stunden in den rei-
zenden Thälern des Sacramento-Districtes, von Fruchtgärten
umgeben, befinden wir uns jetzt Plötzlich in der Schnee- und
Eisregion. Die Ströme, welche sich an den Felswänden her-
unterstürzen, find vom Schneewasser kalt wie Eis, überall sieht
man das kalte, starre Gewand des Winters.
Endlich erreichen wir das „Summit Valley", 102 Mei-
len von Sacramento unv 6300 Fuß über dem Meeresspiegel ge-
legen, in welchem wir, noch immer aufsteigend, dem höchsten
Höhepunkt der Bahn in wildern Laufe zueilen. Die Schnee-
wälle zu beiden Seiten thürmen sich zu Bergen auf, und erfor-
dern immer eine starke Arbeitermannschaft, um sie in ihren
Schranken und die Bahn frei zu halten. Noch zwei Meilen, wir
Passiren den großen Tunnel, 1659Fuß lang, und haben den
Höhepunkt der Bahn, 7043 Fuß über dem Meeres-
spiegel, erreicht. Die Luft hier ist zwar kalt und feucht, übt
jedoch fast keine unangenehme Wirkung auf den Reifenden aus.
Die Bahn war hier durch einen Schneefturz verschüttet, und
wir mußten bis gegen 4 Uhr geduldig warten, bis dieselbe von
den Arbeitern wieder passirbar gemacht worden.
Der scharfe Ton der Locomotive, unserer kräftigen „Anti-
lope", rief die Umherirrenden zusammen und langsam und vor-
sichtig bewegte sich der Zug weiter. Die Schneewälle auf beiden
Seiten waren so dicht an der Bahn, daß zwischen denselben und
den Waggons auch nicht ein Zoll Zwischenraum war. Noch
sechs Tunnels von 100 bis 863 Fuß Länge hatten wir zu
Passiren, als uns der Conducteur zurief, daß wir den Höhepunkt
überschritten hätten. Schneller bewegte sich jetzt der Zug dem
„Truckee Valley " entgegen. Die Hemmschuhe sind fest an die
Räder geschraubt, die Dampfkraft ist vermindert, und doch rollt
der Zug mit Sturmesgewalt die Berghöhen hinab, hinunter in
das gewaltige „Nevada-Becken". Donner Lake mit seinen
klaren Fluthen liegt tief unter uns und fcheint freundlich aufzu-
blicken ; umgeben von Hügeln, dicht mit Tannenholz bewachsen,
unberührt von dem geringsten Lufthauch, erscheinen seine Fluthen
so tiefblau, wie der Himmel über uns. Ein herrliches Bild, wie
Aus allen Erdtheilen.
91
es ein Landschaftsmaler nur wünschen kann. Der Weg windet
sich um die steilen Bergseiten, welche zuweilen fast senkrecht hin-
absallen und Donner Lake sast umgeben, herum, und führt uns
langsam hinab bis zum Ausfluß des Sees,° wir sind in 9% Mi-
nuten 783 Fuß hinabgestiegen.
Jetzt fahren wir wieder sausend dahin auf einem der schön-
sten Wege des Continents, in dem romantischen „Truckee-
Thale"; von allen Seiten stürzen sich die Bergströme herab
und bilden, indem sie über die Felswände dahinspringen, Kata-
rakte, welche dnrch die Strahlen der Sonne wie von Millionen
Diamanten durchwoben glänzen. Die Bäume stehen hier in der
vollsten Pracht, groß, stark und niächtig, und überall hört man
das Krachen der niederstürzenden Stämme, welche der Axt züm
Opfer gefallen sind, um zum weitern Bau der Bahn zu dienen.
Unter den zahlreichen Arbeitern, welche hier mit Holzfällen be-
schäftigt sind, findet man Männer aller Nationen, doch ist das
himmlische Reich am stärksten vertreten, wohin man blickt, er-
scheint der chinesische Zopf. Am Wasser entlang sind fast
zahllose Sägemühlen, welche alle in fortwährender Beschäftigung
sind, uni das Bauholz für die Bahn herzurichten.
Bei der Annäherung des Zuges, des ersten, der von
den Bergen herunter kam, liefen die Arbeiter auf den
Berghohen zusammen und grüßten uns mit donnerndem Hur-
rahruf und jubelndem Schwingen der Hüte. Wohl war es des
Jubelrufes Werth, denn die Schranke war gefallen, die
den Osten vom Westen schied, der größte Heerweg der
Welt für Handel und Civilisation eröffnet.
Wieder ertönt der schrille Ton der Locomotive, wir sind in
„Truckee Station", 119 Meilen von Sacramento, und noch
inimer 5860 Fuß über dem Meeresspiegel. Je mehr wir das
Thal entlang fahren, je mehr öffnet und erweitert sich dasselbe;
die schönen Bäume werden seltener und der einförmige „Sage
Brush" zeigt sich, so weit das Auge reicht. Hin und wieder
sieht man kleine Strecken angebautes Land, doch das Getreide
auf demselben kaum einige Zoll hoch, während auf der westlichen
Seite der Sierra dasselbe bereits gereift und größtenteils ge-
erntet ist. Auf der einen Seite der Sierra das herrliche Som-
merwetter, Getreide und reife Früchte im Ueberfluß; auf den
Höhen Winter, Eis und Schnee, und hier das erste Aufblühen
des Frühlings. Nachdem wir noch durch zwei Tunnels gefah-
ren und mehrere Ströme passirt haben, kommen wir an das
offene, baumlose Land von Nevada, umgeben von den
schneebedeckten Washoe-Bergen, und haben das Land mit
seinen fast fabelhaften Silberreichthümern vor uns liegen.
M Gerade als die letzten Sonnenstrahlen über die Gebirge
blitzten, ertönte zum letzten Male die Pfeife der Locomotive;
wir waren in Reno, 154Meilen von Sacramento. Die ganze
Bevölkerung des wie ein Pilz aus dem Boden aufgeschossenen
Städtchens war versammelt, um uns am Bahnhofe zu empfan-
gen, und der Donner ihrer Böllerschüsse und der kaum enden-
wollende Hurrahruf tönte laut und lange in den Bergen wieder.
Der erste Passagierzug hatte seine Reise über die „Sierra"
glücklich beendet.
(Aus dem deutschen „California Demokrat" vom
30. Juni.)
Das Aufblühen der Stadt Chicago in Illinois.
Die „Jllinois-Staatszeitung" enthält folgende Schilderung:
„Chicago ist nicht nur ein Wunder der amerikanischen
Städte, sondern das Wunder aller Städte überhaupt. Vor 38
Jahren ein Militärposten an der äußersten Grenze der Civili-
sation, und jetzt eine Stadt, deren Bevölkerung bald 300,000
erreicht haben wird. W a b a s h - A v e n u e, welche zwei Meilen lang
mit Nicholsonpflaster (Holz) bedeckt ist, hal auf beiden Seiten
Wohnungen, die in den besten Theilen von Philadelphia, Neu-
tyork oder Washington nur wenige ihres Gleichen finden. Dem
fremden, welcher diese prachtvolle Straße betrachtet, imponirt
namentlich die klassische Eleganz und die Mannichfaltigkeit der
Baustile. Nichts ist hier von der Eintönigkeit, die das Auge in
Philadelphias Straßen ermüdet. Jedes Haus und jeder Block
scheint von seinem Nachbar verschieden, und doch löst sich Alles
in einer höhern Harmonie aus. Die mannichsaltigen Farben
des Baumaterials, das Abwechseln des Joliet-Marmors und der
Kontrast desselben mit dem dunklern Sandstein, mit dem freund-
lich hellen Milwaukee-Backftein, sind von ungemein angenehmer
Wirkung für das Auge. Die älteren aus Holz aufgeführten
Wohnhäuser, wahre Muster von Geschmack in ihrer Art, machen
immer rascher den prächtigen und aristokratischen Steingebäuden
Platz und in wenigen Jahren wird dieser ganze herrliche Bou-
levard durch ununterbrochene Reihen von Palästen laufen. Im
Sommer blühen hier überall Blumen, die in den Einfassungen
neben dem Trottoir stehenden Bäume sind mit Grün bekleidet,
und die ganze Avenue erscheint wie eine einzige Laube, unter
welcher Fahrende und Fußgänger Abendpromenaden und Fahr-
ten genießen, die den Reisenden an die Scenen des Boulogner
Hölzchens bei Paris oder des Hyde Park in London erinnern.
Michigan-Avenue, vortrefflich zwei Meilen lang gepflastert,
kommt, was Pracht und Schönheit betrifft, gleich nach Wabash-
Avenue. Sie liegt unmittelbar am schönen Michigansee, dessen
weite Fläche im Frühjahr und Sommer unzählige Segel beleben.
Chicago ist reich an Kirchen, die in allen Baustilen aufge-
führt sind und in denen sich, wie in den Wohnungen der Privat-
leute, ein Geschmack und ein Verständniß der Architektur kund-
giebt, wie man sie sonst nirgendwo auf diesem Continente findet.
Vom Presbyterianer bis zum Katholiken, vom Methodisten bis
zum Universalisten, überall derselbe Ehrgeiz, den andern zu über-
treffen. Eine vor 15 Jahren gebaute Kirche (Ecke von Wabash-
Avenue und Washingtonstraße) fällt durch ihr geflecktes Aus-
sehen in die Augen, sie erinnert an die Jahrhunderte alten Dome
der alten Welt. Das Baumaterial ist ein sogenannter Petro-
leumstein, dessen Seiten durch das zur Sommerzeit austretende
Oel in ein eigenthümlich antikes Muster verwandelt werden.
Der Joliet-Marmor wird erst seit einigen Jahren angewandt,
und die Mannichfaltigkeit und die Pracht der daraus erbauten
öffentlichen und Privatgebäude ist erstaunlich.
20,000 Kinder werden auf öffentliche Kosten unterrichtet
und die Schulgebäude gehören zu den schönsten Zierden der Stadt.
Es giebt ihrer 22. Und doch halten sie mit der Zunahme der
Bevölkerung nicht Schritt. Im letzten Jahre wurde eine halbe
Million für neue Schulhäuser ausgegeben und doch reichen sie
für den Bedarf nicht mehr hin. 78 Züge verlassen und kom-
men täglich nach Chicago. Der Bahnhof der Illinois Central
erinnerte mich an die berühmte Station von Charing Croß in
London. Ganz aus Granit gebaut, das königliche Dach wie
ein ungeheurer Ballon vorspringend, unter ihm ein wahres Netz
von Geleisen, auf denen lange Waggonreihen ihre Bestimmung
erwarten, fei es zum mexicanischen Golf oder zu den Felsen-
gebirgen, nach dem Osten oder dem Norden, überwältigte es
mich und ich fühlte, daß diefe Bewohner des Westens Ursache
haben, auf ihre Eigenthümlichkeiten stolz zu sein, welche sie in
den Stand setzen, in dieser weiten Ferne die schönste Binnen-
der Welt zu erbauen.
Chicago ist in so vielen Sachen allen anderen Städten voraus,
daß es schwer ist, sie einzeln aufzuzahlen. Der neue und gelungene
Versuch, das Trinkwasser durch einen unter dem Michigansee
herlausenden Tunnel zu beziehen, setzt den Fremden in Erstau-
nen. Beinahe drei Jahre erforderte der Bau des Tunnels, der
vom Ufer des Sees zwei Meilen weit hinaus sich erstreckt. Er
ist jetzt gegen 14 Monate im Gebrauch und stets in Ordnung
erfunden. Auf der Crib, die am Seeende des Tunnels über der
Einfahrt in denselben sich befindet, wird ein Leuchtapparat unter-
halten, und man erwartet, daß der Congreß einen permanenten
Leuchtthurm dort anlegt. Außer diesem befindet sich ein zwei-
ter Leuchtthurm am Ende des Nord-Piers. Ein anderes großes
Problem ist die Reinigung und Reinhaltung des Chicagoflusses.
Man versucht es durch Vertiefung und Erweiterung des Illinois-
und Michigan-Canals zu lösen. Die Abzugscanäle der Stadt
laufen in den Fluß und derselbe wird in Folge davon mitunter
sehr anstößig für Nasen und Gesundheit. Der erwähnte Canal
12*
92 . Aus allen
verbindet Chicago mit den: Jllinoisfluß und sein höchster Punkt
liegt nur 8 Fuß über dem Niveau des Michigan-Sees. Wenn
man daher den Canal in einer Länge von 26 Meilen zu 8 bis
10 Fuß vertieft, so wird das Wasser des Sees südwärts in den
Jllinoissluß und den mexikanischen Gols fließen und dorthin die
Abfälle Chicagos mitnehmen. Die zugleich geplante Erweite-
rung des Canals bezweckt, denselben für größere Schiffe benutzbar
zu machen. Das Werk wird der Stadt 2^/2 Millionen kosten.
Seit mehr als zwei Jahren wird mit Unterbrechungen gearbei-
tet, man erwartet die Vollendung innerhalb dreier Jahre.
Eine andere wichtige und interessante Arbeit ist der Wa-
shingtonstraßen-Tunnel. Der Zweck desselben ist, dem Brücken-
schrecken abzuhelfen, d. h. dem Zeitverlust, der für Fuhrwerke
und Fußgänger durch das Warten vor den zum Durchlassen der
Schiffe geöffneten Brücken entsteht. Der Tunnel, der bald viele
Nachfolger haben wird, wird ganz massiv aufgeführt und fo
tief unter dem Boden des Flusses, daß er die Schifffahrt nicht
im Geringsten beeinträchtigt. Die Länge des Tunnels beträgt
über 1000 Fuß, er wird einen Wagenweg von 25 Fuß Breite
und einen Seitenweg von 10 Fuß Breite für Fußgänger ent-
halten. Der Wagenweg bildet eine auf je 20 Fuß einen Fuß
aufsteigende fchiefe Ebene, unter dem Fluß felbst ist er beinahe
wagerecht.
Der ungewöhnliche Preis der Grundstücke in und um Chi-
cago ist einer der stärksten Beweise für den dauernden Charakter
des Chicago-Aufschwungs. Personen, die Grundstücke zu 50
Dollars per Acker kauften, schlagen jetzt 50 Dollars für den Fuß
heraus. Es giebt viele' Läden und nicht wenig Wohnhäuser,
deren Miethe 10,000 bis 15,000 Dollars das Jahr beträgt.
Eine halbwegs feine Wohnung ist unter 1200 Dollars das Jahr
kaum zu haben. Die Illinois- Centralbahn hat der Stadt 2
Millionen für ein verhältnißmäßig kleines Grundstück geboten,
um darauf noch einen Bahnhof und Werkstätten zu errichten.
Die Michigan-Avenue-Bewohner haben die Annahme des An-
gebots bis jetzt verhindert. Alles geschieht in Chicago im groß-
artigsten Stil. So auch die Anlage von öffentlichen Parken,
Boulevards, für welche der Stadtrath Hunderttausende bewilli-
gen wird.
Beim Anblick diefes wahrhaft erstaunlichen Gemäldes konnte
ich nicht umhin, den im öffentlichen wie im Privatleben sich
kundgebenden Geist Chicagos, wie überhaupt des Westens, mit
dem des ruhigen, zufriedenen, deni Fortschritt nicht huldigenden
Philadelphias zu constatiren. Diefe massiven Waarenlagerhäuser,
diese palastähnlichen Wohnsitze, diese breiten schönen Straßen,
glatt wie ein Paradeplatz; diese prächtigen Kirchen, diese Börse,
auf welcher 250!) Personen Getreide und Producte aller Art
mit einer Geschicklichkeit kaufen und verkaufen, die man sonst
nur in den stürmischen Geldmittelpunkten Neuyorks gewohnt ist
— was sind diese Dinge anders als Kundgebungen einer Ener-
gie und eines Muthes, mit dem wir in Washington vollständig
unbekannt sind! Eine bloße Anregung genügt in Chicago, um
einen Plan zur Förderung der Wissenschaft, der Fabrikation oder
des GefchäftS zu verwirklichen, und der Unternehmende sieht in
den meisten Fällen feine Hoffnungen sich erfüllen.
Die Eingewöhnung ausländischer Thiere in Australien.
Der gegenseitige Austausch von Pflanzen und Thieren nimmt
zwischen den verschiedenen Erdtheilen ununterbrochen seinen Fort-
gang; die einen wie die anderen werden kosmopolitisch. Man
denke nur an Taback, Kartoffeln, Mais, an unsere Getreide-
arten, an Rindvieh und Pferd, Schaf und Ziege ic., welche nun
über alle Welt verbreitet sind, so weit die klimatischen Verhält-
nisse es gestatten. Es ist ein Segen, daß gerade so viele Nah-
rungspflanzen und die meisten für das wirthfchaftliche Leben
wichtigsten Thiere einen hohen Grad von Biegsamkeit in sich
haben und eine kosmopolitische Verpflanzung ertragen. Dadurch
hat in vielen Regionen die Flora wie die Fauna ein ganz neues
Gepräge gewonnen.
In unseren Tagen betreibt man die Eingewöhnung von
Erdtheilen.
fremden Thieren wissenschaftlich, mit Methode und sorgfältiger
Berechnung. Unsere zoologischen Gärten und die verschiedenen
„Acclimatisationsvereine" liefern dafür den Beweis. Unter den
letzteren zeichnet sich jener zu Melbourne in der australischen
Provinz Victoria durch eine unermüdliche Thätigkeit aus und
er hat schöne Ersolge auszuweisen. Wir sinden darüber in dem
zu Melbourne erscheinenden „Argus" (vom 23. Mai) einen um-
fassenden Bericht, welchem wir die nachfolgenden Angaben ent-
lehnen.
Australien hat an und für sich eine arme Fauna, jene der
Beutelthiere, und aus den einheimischen Vögeln ist wenig Nutzen
zu ziehen. Nuu wird, in Folge der Arbeiten jener Gesellschaft, das
Thierleben ein anderes; es wird mannichsaltiger und* erfährt eine
Umwandelung. In manchen Gegenden verschwindet das stark ver-
folgte Känguruh, aber an seine Stelle treten verschiedene Arten
von Hirschen, z. B. Damwild, Axis, Schweinehirsch (Cervus
porcinus) und der Samburhirsch. Von Damhirschen schwärmen
in der Provinz Victoria, von welcher hier überhaupt allein die
Rede ist, drei Rudel im Freien umher, jeder von 80 bis 100
Stück; vom Axis gedeiht ein Rudel von mehr als 50 am Flusse
Wimmera; Schweinshirsche und Samburs werden nun in den
entlegeneren und schwach bevölkerten Gegenden der Provinz gar
nicht selten gesehen. Am Werribee besitzt ein Herr Ehirnside
ein sehr starkes Rudel unseres Rothhirsches. Die Acclimatisations-
gesellschast züchtet jetzt in ihren Gärten mit Erfolg noch andere
Hirscharten, um dieselben gelegentlich ins Freie zu verpflanzen,
z. B. den Barra Singha, den Puddysield und die Varietäten,
welche auf Formofa, Java, Luzon („Manilahirsch") und in Ja-
pan vorkommen. Auf Tasmanien ist der Damhirsch ganz vor-
trefflich gediehen. Die Gesellschaft würde gern Antilopen ein-
führen und es unterliegt keinem Zweifel, daß dieselben in Au-
stralien ein durchaus zusagendes Klima fänden. Aber zwischen
Melbourne und Südafrika findet so gut wie gar kein directer
Schifffahrtsverkehr statt. Man hat vom Vorgebirge der guten
Hoffnung allerdings Antilopen für Melbourne verschifft; aber
die Fahrzeuge nahmen den Weg über Mauritius uud die mei-
sten Antilopen starben. Auch der Transport aus Indien ist
schwierig, weil selten direct. Aus Ceylon dagegen hat die Ge-
sellschaft manche viersüßige Thiere und Vögel erhalten, welche
ganz nach Wunsch gedeihen.
Die Kameele sind für manche Gegenden Australiens von
großem Werthe, für Victoria dagegen überflüssig, weil hier das
Pserd vollkommen ausreicht. Bekanntlich wurde eine Kameel-
Herde aus Asien eingeführt, um bei verschiedenen Ersorschungs-
reisen (z. B. jener Landsboroughs) verwandt zu werden. Die
Thiere haben sich als sehr nützlich erwiesen, find fast immer in
Bewegung gewesen und halten sich gut. Auf die Züchtung hat
man jedoch unter den obwaltenden Umständen nicht die erfor-
derliche Sorgfalt verwenden können. Gegenwärtig (Monat Mai)
sind sie alle in Queensland und jüngst von der Reise zurückge-
kommen, welche man zur Aufsuchung der Spuren Leichhardt's
unternahm; wahrscheinlich bleiben sie dort im Besitze der Eolo-
nialregierung.
Die Versuche mit der Eingewöhnung des Alpaca und des
Vicuna sind mißglückt. „Es ist Grund zu der Annahme vor-
Händen, daß die Herde, welche Hr. Ledger nach Neusüdwales
brachte, von nicht besonders guter Beschaffenheit war (not of
a high caste). Dieser Umstand und daß das Klima zu feucht
und nicht kalt genug war, hat es bewirkt, daß fast die ganze
Herde zu Grunde gegangen ist. Die von Herrn Duffield ein-
geführte Alpacaherde wurde von den Aufsehern so unzweck-
mäßig behandelt, daß nach wenigen Monaten kein Stück mehr
von derselben vorhanden war, die Leute, welche sich bei der Spe-
culation betheiligten, haben nun die Sache ganz fallen lassen*)."
') Als von der Einführung des Alpacas in Australien vor einigen
Jahren so großes Ausheben gemacht und ein Gedeihen dieser Thiere in
jenem Erdtheile mit großer Zuversicht behauptet wurde, erlanbt/ich mir
sowohl im „Globus" wie im Dresdner Verein für Erdkunde eine durch-
aus abweichende Ansicht auszusprechen, die nun ihre Bestätigung gc-
Aus allen Erdtheilen.
93
Ein unternehmender Kolonist, Mac Cullogh von Mary-
borongh, Hai 50 Kaschmirziegen eingeführt. Die Herde war
von der besten Beschaffenheit, aber das Klima hat jedes gün-
stige Resultat verhindert. Dagegen lieferte die Angoraziege,
von welcher die Gesellschaft 100 Stück kommen ließ, die besten
Ergebnisse. Diese Ziegen kommen vortrefflich fort und vermeh-
ren sich so sehr, daß die Gesellschaft jetzt etwa 150 Mutterziegen
besitzt und eine Anzahl von Böcken vertheilt hat, um Kreuzun-
gen mit der gewöhnlichen Ziege zu veranstalten. Die Angora-
ziege wird sicherlich für die Colonie von großer Bedeutung werden.
Auch der biedere Lampe gedeiht ganz bewundernswürdig;
daß eine Häsin drei Junge wirft, ist gar nichts Seltenes; nie
wirft sie weniger als zwei, und in der Umgegend von Melbourne
verlohnt es sich der Mühe, die Hasen zu beobachten. Aus Mel-
bourne sind nun auch schon nach Tasmanien und Neuseeland
Hasen verschifft worden, und sie werden sich dort sicherlich eben
so gut und leicht eingewöhnen als in Australien. Der „Ka-
ninch enverein" läßt seine Thiere nicht ins Freie, weil sie dem
Ackerbauer Schaden zufügen würden. Aber das wilde Kaninchen
hat sich in Barwood Park sehr vermehrt, eben so das silbergraue
auf der Arundelfarm. Kaninchenfleisch wird täglich in den Stra-
ßen von Melbourne feilgeboten.
Als man in Australien vernahm, daß der Strauß am
Vorgebirge der Guten Hoffnung (— durch einen Deutschen, Hrn.
v. Maltzahn, wie früher im „Globus" ausführlich berichtet wor-
den ist —) mit Erfolg gezüchtet und daß dort ein großer Ge-
winn mit den Federn erzielt werde, beschloß man, auch in
Melbourne Versuche anzustellen. Im Mai waren süns Strauße
angekommen und eine größere Anzahl unterwegs. Jene süns
hat man am Wimmera auf einer eingehegten Grasfläche von
10,000 Morgen untergebracht. Von englischen Fasanen hat
man viele ins Freie gebracht, ist jedoch über das Ergebniß noch
nicht sicher; ein Gleiches gilt vom indischen Fasan, vom
Waldhuhn, schwarzen Rebhuhn, dem Cap-Frankolin,
dem chinesischen Rebhuhn und der Wachtel. Von diesen
allen sind viele Exemplare in verschiedenen Gegenden ins Freie
gelassen worden. Auf Neuseeland ist in den Provinzen Nelson
und Auckland der chinesische Fasan vollständig eingewöhnt;
in Victoria gedeiht das ceylonesische Rebhuhn sehr gut; 150
Paar graue Rebhühner aus England wurden erwartet. Völlig
eingewöhnt sind ferner der ceylonefische Pfau, die califor-
nifche Wachtel und die englische wilde Ente. Das Perl-
Huhn ist an drei verschiedenen Waldgegenden freigelassen wor-
den. In manchen Gegenden von Neufeeland ist der Pfau nun
verwildert zu finden.
Von kleineren Vögeln sind sehr gut gediehen: der indische
Maina, der chinesische Sperling und aus England die
Lerche, die Drossel, der Buchfink und der Sperling;
für die Amsel, den Hänfling und den Staar hat man die
besten Hoffnungen. Der Sperling ist in der Umgegend von
Melbourne schon in großer Menge vorhanden und genießt gleich
allen übrigen eingeführten Thieren den Schutz des Jagd-
gesetzes; er darf nicht gefangen oder geschaffen werden. Man
erwartet nun auch Krähen aus England.
fundcn hat. Den Engländer Ledgcr kann der oben im Tert ausgespro- '
chcne Tadel nicht treffen; der Mann hat mit preiswürdiger Zähigkeit
und bewundernswürdiger Ausdauer seine Alpacas ans Peru nach Au-
stralien gebracht und verdient alle Anerkennung. Die Einführung jenes
wolletragcndc» Thieres war in Australien sehr überflüssig ; das Land
hat Schafwolle in Menge und das Schaf kostet dort einen Thaler
bis einen und ein drittel Thaler. wenn es 40 bis 50 Pfund wiegt.
Ich betonte, daß es durchaus verkehrt sei, ein Thier, das am liebsten
auf den Paramos, den eisigen und schneeigen Hochwüsten der Andes,
lebt und Kälte haben will', in die heißen Niederungen und Küsten-
flächen Australiens zu bringen, und daß es unstatthaft sei, sich auf
eine Analogie mit dem gleichfalls wolletragenden Schafe zu berufen,
das ein von der Natur ganz anders angelegtes Thier iit. Ich glaube,
daß das Alpaca auch in Uruguay, am La Plata, wohin es, wie die ,
Leser des „Globus" wissen/jüngst gebracht worden ist, nicht son-
derlich gedeihen werde; die klimatischen Bedingungen passen auch dort
nicht. A.
Die Honigbiene ist völlig eingebürgert und auch wild ge-
worden; in manchen Waldgegenden sammelt man Wachs und
Honig tonnenweise; die Tonne hält 20 Centner. Auch die ita-
lienische Biene ist eingeführt worden. Bei der Seidenzucht
wird vorzugsweise die japanische Raupe berücksichtigt, und
man macht auch Versuche mit der Raupe, welche sich von den
Blättern der Ricinuspflanze nährt; diefe wächst in Victoria als
Unkraut.
Vor einigen Jahren schickte die Gesellschaft eine Anzahl von
Kaninchen, Ziegen, Schweinen, Gänsen und Hühnern nach de»
Aucklandinseln. Sie sind dort vortrefflich gediehen und mehrere
Schiffbrüchige haben diesen: Umstände es zu verdanken, daß sie
nicht eine Beute des Hungertodes geworden sind.
Tod des französischen Reisenden Dondard de Lagree.
Wir haben jüngst erwähnt, daß die französische Expedition,
welche den Mekong, jenen „großen Fluß vonKamboscha", er-
forschen sollte, bis nach Minnan, dieser wichtigen Südwestpro-
vinz Chinas, hineingekommen sei und dort einen sehr guten
Empfang gefunden habe. Das Resultat dieses Schiffszuges,
welchen der Fregattencapitän Lagree leitete (— er hatte Saigong
im Juni 186G verlassen und anderthalb Jahre gebraucht, um
über die Grenze Chinas hinaus zu gelangen —), stellt sich im
Wesentlichen als folgendes heraus. Gegen den 20. Grad nörd-
licher Breite hin ist der Mekong nicht mehr schiffbar, wie er
denn überhaupt einen sehr unregelmäßigen Laus hat und den
Fahrzeugen viele Hindernisse entgegenstellt. Ueber die Quellen
des Stromes wissen wir auch jetzt noch nichts; man weiß nur,
daß er unter 27 Grad nördlicher Breite an der äußersten Grenze
von Mmmn schon eine beträchtliche Wassermenge siihrt. —
Lagree ging 1862 nach Cochinchina, wo er sich im Dienst aus-
zeichnete und zur Leitung der Expedition ausersehen wurde. Er
wollte von Wnnan aus durch China nach Schanghai gehen,
aber der Tod ereilte ihn auf der Grenze vonWnnan zu Tung-
tschnan fn. (— Daß er in dieser Stadl gestorben sei, wird
ausdrücklich in der amtlichen „Revue maritime et coloniale",
Juli 1868, S. 762, gesagt; das Londoner „Athenäum" vom
11. Juli sagt, er sei in Suez gestorben, und das ist wohl eine
irrige Angabe. —)
Der französische Reisende Le Saint in Afrika gestor-
fielt. Vor etwa anderthalb Jahren trat derselbe seine Wande-
rung an; Zweck derselben war, vom obern Weißen Nil aus nach
Westen hin den ganzen Kontinent zu durchziehen und bei den
französischen Niederlassungen am Gabon das Atlantische Meer
zu erreichen. Im Juni trafen in Paris von ihm Nachrichten
ein; er war von Chartum bis an einen Punkt vorgedrungen,
der etwa 7 Längengrade westlich von Gondoforo liegt; dort ha-
ben die Gebrüder Poncet, Elfenbeinhändler in Chartum, eine
Station bei dem Häuptling oder König Kaguma, welcher den
Stamm der Mombntu beherrscht. Le Saint war demnach schon
über das Land der vielbesprochenen Nyam Nyams, über welche
wir hoffentlich von Dr. Schweinfurth eingehende Nachrichten
erhalten, hinausgekommen. Es wird wohl ermittelt werden, ob
jene Mombutu zu der weitverbreiteten Gruppe der Fulb e (Fella-
tah, Peuhls) gehören; ihre Sprache weicht von jener der zahl-
reichenNyam-Nyam-Stämme ab; jeder dieser letzteren hat seinen
eigenen Häuptling und nimmt allemal dessen Namen an. In
der Nachbarschaft der Mombutu leben die Onguru und Gur-
guru, welche die Sprache der Nyam Nyams reden. Diese letz-
teren sind durch eine Einöde, die von Westen nach Lsten acht
Tagereisen weit sich erstreckt, von den Mombutus getrennt, welche
ihrerseits an einem Flusse wohnen, der zwar viele Klippen hat,
aber fahrbar ist. Angeblich kommt derselbe aus dem Luta Nzige
oderMwuton, d. h. dem Albertsee Baker's; er verlasse denselben,
so heißt es, unter etwa 2° nördl. Breite und habe zwei Tage-
reisen von Kaguma entfernt eine Gabeltheilung. Der eine Arm
desselben laufe unter dem Namen Sueh ^ous) nach Nord-Nord-
West uud ergieße sich in den Tsadsee, der in Bornu liegt; der
andere Arm ströme geradewegs nach Nordwesten, abermals durch
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einen großen See, der Metuasset genannt wird; dieser sei
mindestens so groß wie der Albert, liege zwischen 6° und 9°
nördl. Breite und 14° bis 18° östl. Länge von Paris; aus ihm
ströme dieser Flußarm im Norden ab und ergieße sich als Ba-
gun oder Bagai gleichfalls in den Tsadsee, während der Haupt-
arm seinen Lauf nach Westen fortsetze und den Benuö oder
doch dessen wichtigsten Zufluß, den Kebbi, bilde. — Aus alle
diese Angaben ist natürlich bis auf Weiteres nur ein sehr ge-
ringer Werth zu legen; wir wissen von den Stromläusen in
jener geographisch ungemein wichtigen Region so gut wie gar
nichts. Le Saint wollte versuchen, sich irgend ein Fahrzeug zu
verschaffen und über jene Angaben ins Klare zu kommen.
Aber auch er ist dem asrikanischen Fieber erlegen. Ein Bries
der Gebrüder Poncet an Herrn V. A. Malte Brun, respective
an die Pariser geographische Gesellschaft, meldet sein Ableben.
(— Ort und Datum des Briefes suchen wir vergebens. —)
„Eine Mittheilung unseres Agenten in Chartum meldet uns,
daß die Barken von Gondokoro zurück seien. Die Männer, welche
unsere Leute zu Abu Kura gesehen haben, brachten die Nach-
richt mit, daß dort Le Saint gestorben sei; er hatte sich eben
angeschickt, um unsere Leute ins Innere zu begleiten. Von
Chartum aus hatte er einen ägyptischen Christen, Francesco, als
Diener mit sich genommen, und ein Brief desselben an den fram
zösischen Konsul Thibaut zu Chartum bestätigt die traurige
Nachricht. Hoffentlich hat derselbe die Papiere und Effecten Le
Saint's in Verwahrung genommen."
Aus den Briefen Livingstone's, welche in der jüngsten
Zeit nach Europa gelangt sind, ersehen wir zu unserer Freude
abermals, daß der Muth des kühnen Reisenden trotz aller Wider-
wärtigkeiten und Gefahren nicht gebrochen war. In jedem Falle
werden wir durch ihn Aufklärung über bisher unbekannte Ge-
genden erhalten und über mehrere wichtige Probleme ins Klare
kommen. Eines seiner Schreiben ist datirt Bemba oder Lo-
bemba, einer Ortschaft unter etwa 10° 10' südl. Breite und
31° 50'2" östl. Länge von Greenwich, zwischen dem Nyassa- und
dem Tanganyika-See, welche beide, wie wir nun wissen, in kei-
nerlei Verbindung mit einander stehen. Das Datum ist: I.Fe-
bruar 1367.
„Ich bin in Bemba oder Lobemba beim Häuptlinge. Drei
Pallisadenreihen umgeben den Ort; die innere ist mit einem
tiefen, trocknen Graben umzogen. Der Häuptling ist ein hüb-
scher Mann und schenkte uns nach unserer Ankunft eine Kuh.
Wir haben es sehr schlecht gehabt unterwegs; ich würde aber
darüber keine Klage führen, wenn wir nicht so lange liebe Zeit
hätten hungern müssen; nun sind wir so abgemagert, daß uns
die Knochen aus der Haut hervorstchen. So lange wir in einer
Gegend waren, wo es Wild gab, war keine Noth-, im Uebrigen
aber hatten wir weiter nichts zu essen als ein Makre, eine
kleine Hirseart. Sehr schmerzlich empfand ich den Verlust des
Arzneikastens; ich hatte denselben einem Burschen anvertraut,
den ich für zuverlässig hielt. Unglücklicherweise übergab er ihn
zwei Freiwilligen, die sich unterwegs angeschlossen und gut auf-
geführt hatten. Diesen wurden die Anstrengungen zu beschwer-
lich , als sie Tag für Tag mit nüchternem Magen marschiren
mußten, auch während kalter Nächte keine Ruhe hatten. Sie
liefen mit den Arzneien fort und nahmen auch unsere Schüsseln,
Teller, einen Theil des Pulvers und zwei Flinten mit. Da
eben ein heftiger Regen gefallen war, fo konnten wir ihre Spur
nicht verfolgen; auch sind die Wälder so dicht, daß man kaum
auf fünfzig Schritte weit sehen kann. Jener Verlust kam mir
wie ein Todesurtheil vor, von wegen des Fiebers; ich werde
nun die im Lande üblichen Arzneimittel dagegen versuchen. Wir
waren fast immer auf einem Gelände von mehr als 3000 Fuß
Höhe. Hier in Lobemba haben wir Araber angetroffen. Der
eine hat mir versprochen, meine Briese nach Sansibar zu besör-
dern; er giebt mir aber nur einen halben Tag Zeit zum Schrei-
ben, und so schicke ich so viel ich kann. Ich hoffe, er wird
Wort halten. Mit den Bewohnern der Gegenden, durch welche
wir kamen, haben wir keinerlei Art von Schwierigkeit gehabt;
Erdtheilen.
wir sind sehr langsam vorwärts gegangen und acht englische
Meilen sind unter den obwaltenden Umständen schon eine gute
Tagereise."
Späterhin sind dann Briefe von Livingstone aus Udschid-
schi eingetroffen, das am östlichen Ufer des von Richard Burton
entdeckten Tanganyika-Sees liegt. Dorthin waren Briefe aus
Europa und allerlei Vorräthe für ihn geschafft worden. Er wollte
auf das westliche Ufer des Sees hinübergehen. Es fragt sich
nun, welche Richtung er von dort aus eingeschlagen hat; ob
nach den Seen des obern Nils oder nach Westen hin durch Afrika
bis zum Atlantischen Ocean.
Herr Theophilus Hahn war so freundlich, uns Auszüge
aus der in Kapstadt erscheinenden Zeitung „Het Volksblad"
vom 18. Juni 1863 mitzutheilen. Wir ersehen daraus, daß
Livingstone von „Bemba, Dorf Cheta" aus unterm 2. Fe-
bruar 1867 auch an Sir Thomas Maclear in Kapstadt schrieb.
Er sagt, daß es ihm unmöglich gewesen sei, die Nordseite des
Nyassasees zu umgehen, theils weil es ihm an Lebensmitteln
gebrach, theils weil er fürchtete von den Johannaleuten ver-
lassen zu werden, die bekanntlich dann auch Reißaus genommen
und die falsche Nachricht von seinem Tode verbreitet haben. Im
Grund ist Livingstone durch ihre Flucht von einer großen Ver-
legenheit befreit worden. Er giebt Schilderungen von einzelnen
merkwürdigen Punkten, die er besucht hat. Udschidschi am Tan-
ganyikasee erreichte er im October 1867.
Wir wollen Einiges aus den verschiedenen Berichten beisü-
gen. Consul Churchill in Sansibar schreibt unterm 27.
Januar 1863 an Lord Stanley in London, daß er Briefe von
Livingstone erhalten habe. Ein gewisser Bundonky oderMa-
gur Mufopu sei am 24. Januar in Sansibar eingetroffen und
habe ihm, Herrn Churchill, die sehnlich erwarteten schriftlichen
Mittheilungen Livingstone's gebracht; jener Mann war ein vol-
les Jahr im Innern auf einer Geschäftsreise gewesen. „Living-
stone durste es nicht wagen, nördlich um den Nyassa herumzu-
gehen, weil die Nordwestseite sich im Besitze der Zulus oder
Masiti befand und seine Begleiter vor diesem Stamme eine heil-
lose Furcht hatten. So zog er nach Süden. Das Benehmen
seiner Leute war aber schmachvoll; sie tödteten die Ochsen, welche
doch als Lastvieh dienten, und glaubten ihn dadurch zur Rück-
kehr zwingen zu können. Sie waren ihm nun eben so unnütz
als lästig und er schickte sie fort. Als er am Südende des
Nyassa war, rissen alle Johannaleute aus. Er ließ sich das
aber nicht besonders anfechten, sondern setzte seine Reise fort
mit nur neun Burschen, welche sein leichteres Gepäck trugen,
und langte, wie schon oben gesagt wurde, am 1. Februar 1867
in Bemba an. Er hoffte im Mai den Tanganyika-See zu er-
reichen und gedachte im Juni in Udschidschi zu sein. Dorthin
hatte schon im Juli 1363 Dr. Seward von Sansibar aus Vor-
räthe und Arzeneien für ihn abgeschickt. — Bundonky und dessen
Gefährten, von denen einer den Capitän Richard Burton auf
dessen Reise an der See begleitet hatte, wurden über die geo-
graphischen Verhältnisse der Gegend zwischen dem Bemba soder
Wemba) und der Küste ausgefragt. Es scheint nicht, daß sie
irgend einen beträchtlichen Fluß dort gefunden haben."
In einem Briefe Livingstone's aus Bemba vom 1. Fe-
bruar 1867 an Lord Clarendon giebt Livingstone selber eine
Darstellung des von ihm bis dahin Erlebten. In Bemba wa-
ren (wie schon weiter oben gesagt wurde) arabische Sklavenhänd-
ler, die sich eben anschickten, nach Bagamoyo (— auf der Küste,
der Insel Sansibar gerade gegenüber —) zu gehen; sie nahmen
den Brief mit. Livingstone setzt auseinander, daß die Zulus
die ganze Gegend am nördlichen Nyassa ausgeplündert hatten
und daß er dort schwerlich Lebensmittel gefunden haben würde.
Er ging also nach Süden hin und fand auf einer Strecke von
etwa 100 Miles eine fast ganz entvölkerte Landstrecke. Aber
er wurde mit Mataka bekannt, einem Häuptlinge, welcher ein
Gebiet beherrscht, das aus der Wasserscheide zwischen der Küste
und dem See liegt. Seine Ortschaft liegt mehr als 3000 Fuß
über der Meeresfläche, hatte im Juli kalte Lust und zählt etwa
1000 Hütten. Einige seiner Unterthanen waren nach dem
Aus allen Erdtheilen.
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Nyassa-See gegangen, um zu plündern; sie brachten 54 Frauen
und kleine Kinder, etwa ein Dutzend Knaben und 30 Stück Vieh
als Beute zurück. Livingstone blieb „eine beträchtliche Zeit lang"
bei diesem Häuptling und in dessen Bezirke; Mataka wollte gern
einige von den Negerburschen behalten, welche in der Nassick-
schule bei Bombay erzogen worden sind und die Livingstone
von dort mitgenommen hatte; sie sollten den Leuten zeigen, wie
man Ochsen beim Ackerbau verwenden kann und sie das Pflü-
gen lehren. Es wollte sich aber keiner jener Nassickburschen
darauf einlassen. Mataka versorgte die Reisenden mit allem
Notwendigen; aus die Araber übte er keinen Einfluß; diese
hatten zwei Fahrzeuge auf dem See, aber Livingstone konnte
diese nicht benutzen. Die Araber waren klug genug, sie in
Sicherheit zu bringen, weil sie besorgten, daß er sie verbrennen
werde, weil Sklaven in denselben verschifft wurden. Den Skla-
venhandel selber konnte er natürlich nicht verhindern, wohl aber
war es ihm nun nicht möglich, in der Mitte über den See zu
fahren; er mußte um das Südende herum, wo er mit drei
Waiao-Häuptlingen zusammentraf, den größten Sklavenhänd-
lern im Lande. Der Reisende machte ihnen Vorstellungen dar-
über, daß sie Handel mit Menschen trieben, was ihnen denn
höchst seltsam vorkam und worüber sie sich baß verwunderten;
„es schien mir, als sei es das erste Mal, daß sie ihre Hand-
lungsweise tadeln hörten". Sehr natürlich, da ein Afrikaner
ganz andere Vorstellungen und Anschauungen hat, als ein in
Philanthropie reisender Schottländer. Uebrigens waren diese
Häuptlinge „sehr gastfrei". Dort kamen auch einige Araber zu
ihm, welche zu einer Partei von Sklavenhändlern gehörten,
denen man ihre Beute wieder abgenommen hatte. Sie erzähl-
ten den Johannaleuten fo viele Mordgeschichten von den wil-
den und grimmigen Mafiti-Zulus, daß ihnen die Haare zu
Berge standen. Nun rissen diese Johannaleute, welche späterhin
in Sansibar die Lüge verbreiteten, daß Livingstone gestorben
sei, bei Nacht und Nebel aus und ließen ihn mit den neun
schwarzen Nassickburschen allein!
In Mataka's District blieb Livingstone von der Mitte des
Juni bis Ende Septembers. Zu Ansang October ging er dann
nach Westen und gelangte in eine Gegend, wohin weder Zulus
noch afrikanische Sklavenhändler gekommen waren. Dort wohn-
ten Marawis oder besser gesagt Mangandschas, deren
Stämme verschiedene Namen sühren, z. B. Kauthunda, Chi-
peta, Echewa :c. Ihr Land liegt hoch und ist kühl; sie trei-
ben Ackerbau und die Dörfer liegen unweit von einander. Auch
hier tritt die afrikanische Zersplitterung und Zerklüftung zu Tage;
jedes Dorf hat seinen eigenen Häuptling, ist unabhängig, „und
sie Alle haben so wenig Zusammenhang mit einander wie ein
Sandseil". Weiterhin giebt Livingstone Schilderungen über die
Art und Weise, wie die Zulus das Land verwüsten. Dann
überschritt er den Loangua; das große Thal, in welchem der-
selbe fließt, ist ein altes Seebett. Dann kam er nach Lobisa,
d. h. dem Lande der Babisa, und erhielt dort zum ersten
Mal Kunde über den Weg, welchen die Portugiesen einschlagen,
wenn sie sich zum Cazembe begeben, diesem mächtigen Häupt-
ling im Innern. Bisher ist dieser Weg auf den Karten viel
zu weit nach Osten hin eingetragen worden. Livingstone be-
rührte ihn nicht. Die Wasserscheide zwischen dem Loangua und
dem Sambesi überschritt er in 10°34' S. Das Land der Ba-
bisa ist durch Sklavenraub und Sklavenhandel entvölkert und
der Reisende litt dort in den Wäldern viel vom Hunger, denn
nicht einmal Wild war vorhanden.
Zur Statistik von Venezuela. Hier theilen wir -einige
Angaben mit, die sich in dem Werke des Engländers Eastwick
(Sketches of life in a South-American Republik, London
1868) finden. Früher theilte man Venezuela in 13 Provin-
zen : Guyana, Cumana, Barcelona, Margarita, Caracas, Cara-
bobo, Apure, Varinas, Barquisimeto, Coro, Trujillo, Me-
rida und Maracaibo. Auf der neuesten Karte Codazzi's von
1865 findet man die Eintheilung in 21 Provinzen oder Staa-
ten, die zusammen 1,565,000 Einwohner zählen. Davon kom-
men auf: Guyana 60,000, Maturin 45,000, Cumana 75,000,
Nueva Esparta 24,000, Barcelona 90,000, Guarico 18,000,
Bolivar 120,000, Araguas 150,000, Bundesdistrict 80,000,
Apure 25,000, Zamora 80,000, Portuguesa 85,000, Cojedes
60,000, Carabobo 170,000, Haracui 80,000, Nueva Segovia
23,000, Coro 80,000, Los Andes 80,000, Tachira 65,000, Me-
rida 90,000 und Zulia 75,000 Seelen. Bon genauen Angaben
kann natürlich keine Rede sein; die Ziffern sind im besten Falle
nur annähernd richtig.
Die Bevölkerung von Chicago in Illinois bestand am
1. Juli 1868 aus 98,964 in Amerika Geborenen, 92,433 Deut-
schen, 45,543 Jrländern, 10,520 Engländern und Schotten,
10,992 Skandinaviern und 9144, welche verschiedenen anderen
Nationalitäten angehörten. Die Stadt ist noch kein Vierteljahr-
hundert alt, hat aber nun längst alle anderen Städte des We-
stens, auch Cincinnati und St. Louis, weit überflügelt und ist
einer der wichtigsten Getreidemärkte der Welt geworden. So
rasch hat sich niemals eine andere Ortschaft erhoben; man nimmt
mit Bestimmtheit an, daß 1870 die Einwohnerzahl, welche jetzt
267,596 Köpfe beträgt, auf 300,000 gestiegen sein werde.
Finanzen der argentinischen Republik. Die Länder
am La Plata würden vortrefflich vorwärts kommen, wenn sie
nicht heimgesucht würden von den Zuckungen, welche von den
Präsidentenwahlen unzertrennlich sind; wenn sie die srivolen,
oft aus geradezu albernen Beweggründen in Scene gesetzten Re-
volutionen, Ausstände und inneren Unruhen vermieden und end-
lich auch keine Kriege führten. In der argentinischen Republik,
welcher allerdings der Krieg von Seiten des Dictators Lopez
geradezu ausgezwungen wurde, verschlingt derselbe die Halste
aller Einnahmen, d. h. 1,290,000 Pf. St. Die Gesammtein-
nähme betrug 1867: 12,040,287 Dollars oder 2,408,057 Pf. St.,
d. h. sie überstieg die gewöhnlichen Ausgaben um fast
6,000,000 Dollars. Bisher haben die Staatseinnahmen sich alle
vier Jahre verdoppelt. Die Republik bezahlt pünktlich die Zin-
sen ihrer Schuld, die durch Amortisation um 1,678,200 Dollars
vermindert worden ist, und jetzt nur 13,364,800 Dollars beträgt.
Afuncion in Paraguay ist bis aus Weiteres nicht mehr
Hauptstadt des Landes; der Sitz der Regierung ist nach der klei-
nen, inr Innern liegenden Ortschaft Luque verlegt worden-
Asuncion ist auf Befehl des Dictators Lopez im Juni völlig
geräumt worden und es war nur eine Compagnie weiblicher
Soldaten zurückgeblieben. Nachdem brasilianische Kanonen-
boote den Strom bis zur Stadt hinausgefahren waren, bom-
bardirten sie die Stadt und insbesondere das Zeughaus. „In
der zweiten Hälfte des Maimonats wurden aus der Eisenbahn
von Asuncion bis Sierra Leon ununterbrochen Menschen mit
ihrer Habe befördert, und nun ist die Hauptstadt ganz und gar
verödet; 40,000 Menschen haben ihren Herd verlassen müssen
und sehen sich nun darauf angewiesen, in den Wildnissen Pa-
raguays Lebensunterhalt zu suchen, so gut sie eben können. Alle
Hausthüren sind verschlossen; an jeder Straßenecke ist das Decret
des Dictators angeklebt, welches die Räumung befiehlt. Der
Krieg, welchen Lopez angefacht hat, ist leider nur allzureich an
Auftritten der Barbarei; aber diese Räumung von Asuncion
bildet nebst dem, was damit zusammenhängt, eine der schrecklich-
sten Episoden."
Wir wollen hier hinzufügen, daß von Seiten Brasiliens
seit Anfang des Krieges bis zum 1. Juni 1868 ins Feld ge-
schickt worden sind 84,219 Mann, davon waren etwa 20,000
oder etwa 25 Procent, oder 8 Procent im Jahre, verloren ge-
gangen; als todt wurden osficiell 8834 angegeben, dazu kanien
nach den Schätzungen des Kriegsministers noch 10,299 andere,
und über 2490 hatte man keine Kunde. Lopez hatte im Juni
5 Bataillone vollkommen gerüstet dastehei^i er verwendet sie zu
Garnisonsdiensten und dergleichen, ins ^eld gegen den Feind
schickte er sie nicht; ausgemacht ist indessen, daß einzelne Frauen
an Schlachten teilgenommen haben. Es ist ein seltsames buntes
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Völkergemisch, das sich dort am Paraguay befehdet. Die Mehr-
zahl der argentinischen Truppen besteht aus Gautschos,
jenen unbändigen Reitern der Steppe, in deren Adern andalu-
sisch-arabisches Blut mit Jndianerblut vermischt fließt. Die bra-
Manische Armee ist aus einer verhältnißmäßig geringen Zahl
von Weißen, dann zumeist aus Negern, Mulatten, Jndia-
nern oder deren Mischlingen zusammengesetzt. Die Para-
guayenser sind Guarani-Jndianer. Der Dictator hat nun,
um ihre sehr gelichteten Reihen zu füllen, einen Bund mit den
Guaycurus geschlossen. Ihr Gebiet liegt nördlich von Asun-
cion im Gran Chaco, und sie sind ausgezeichnete Reiter. Lopez
läßt sie einexerciren. — Aus dem Paraguay und im La Plata
hatte Brasilien am 15. Juni nicht weniger als 36 Dampfer mit
183 Kanonen und 3719 Köpfen Bemannung.
Die Bevölkerung, Eisenbahnen u. s. w. im australi-
scheu Victoria. Die europäische Bevölkerung der Colonie Bic-
toria (Australien), welche im Jahre 1348 erst 51,390 betrug, be-
lief sich am 30. Juni 18(57 auf 647,589 Seelen, und zwar
366,576 männlich und 281,013 weiblich. Nach dem Census von
1861 befanden sich 11,000 Deutsche in Victoria, deren Zahl sich
aber jetzt auf nahe 30,000 erhöht hat. Die Hauptstadt Mel-
bourne mit den Vorstädten zählt gegenwärtig 150,000 Einwoh-
ner. Die Eingeborenen in Victoria wurden im Jahre 1836
auf 5000 geschätzt, dürften aber jetzt kaum noch 1700 betragen.
Die Länge der fertigen Eisenbahnen beträgt 331 y2 eng-
lische oder 72 deutsche Meilen. Eine Bahnlinie zwischen Mel-
bourne und Echuca am Murrayflusse, dem nördlichsten Punkte
der Colonie, wurde 1865 vollendet und verbindet Victoria und
Neusüdwales. Die Colonialeinnahme belief sich für das Finanz-
jähr 1866/1867 auf 2,955,447 Pf. St. gegen 3,042,037 Pf. St.
im Vorjahre.
* * *
— Frankreichs Volksmenge betrug in der Mitte
1868 38,067,074 Seelen; wovon 19,014,109 männlich. Unter
325,000 militärpflichtigen jungen Leuten befanden sich 18,000,
welche nur die zum Trommelschläger erforderliche Größe hatten;
30,500 Brustkranke und andere Schwächlinge; 16,000 Verstüm-
melte, Hinkende und mit Krampfadern behaftete, 9100 Buckelige
und Klumpfüßige, 6900 Blinde, Taube und des Geruchssinnes
entbehrende, 960 Stammelnde, 4100 Zahnlose, 6100, welche
durch Ausschweifungen körperlich verkommen waren, 2500 mit
kranker Haut, 5200 Kröpfige und Skrophulöfe, 2100 mit Irr-
sinn und Kretinismus behaftete und 8300 andere, die an ver-
schiedenen Gebrechen litten und dadurch für den Soldatendienft
unbrauchbar waren. Im Ganzen 109,000 junge Männer „un-
terhalb der normalen Existenz". Bemerkenswerth ist für die
große Nation, welche an der Spitze der Civilisation marschirt
und einen so zahlreichen Clerus hat, daß im Jahre 1866
von denPersonen, welche Ehen abschlössen, unter den
Männern 27,8 und unter den Frauen 41,4 Procent
nicht lesen und nicht schreiben konnten.
— Die Zahl der Armen in England ist während der
letztverflossenen zehn Jahre beträchtlich angewachsen. Aus einem
Bericht an das Parlament geht hervor, daß die Gesammtbevöl-
kerung in diesem Zeiträume sich um 7 Procent vermehrte, wäh-
rend die Zahl solcher Armen, welche Unterstützung in ihren Woh-
nungen erhielten (indoor paupers, d. h. solche, die nicht in
Armenhäusern untergebracht worden waren), sich um 9 Procent
vermehrt hatte. „Wir haben eine Armee von Armen, die aus
etwa 137,000 Regulären und 100,000 Irregulären besteht, haben
überhaupt nahe an eine Million hülfsbedürstiger Menschen zu
unterstützen und zahlen dafür jährlich mehr als 6,000,000 Pf. St."
— Die Bevölkerung von Guatemala wird auf etwa
800,000 Köpfe geschätzt. Davon sind lilehr als 500,000 India-
ner, welche nicht lesen und schreiben können, denn von der Geist-
lichkeit lernen sie nur das Abbeten des Rosenkranzes und das
Herplappern von Gebeten. Annäherung des „lateiuischeu Ame-
rika", welches der Napoleonismus erfunden hat, an das napo-
leonische Frankreich! — Die centralamerikanische Republik Co-
statten hatte zu Anfang des Jahres 128,648 Einwohner; sie
lieferte in dem Jahre bis zum 12. Mai 150,205 Säcke Kaffee
im Gewicht von 187,756 Centnern.
— Es scheint, als ob es mit der interoceanischen Hon -
durasbahn Ernst werden könne. Der Plan zu derselben wurde
schon vor 14 Jahren von dem ausgezeichneten nordamerikanischen
Gelehrten und Diplomaten E. G. Squier entworfen, dem wir,
außer seiner schönen Arbeit über die Alterthümer des Mississippi-
thales, auch treffliche Werke über Nicaragua und Honduras ver-
danken. Der Anfangspunkt der Bahn würde am Atlantischen
Ocean in der Stadt Puerto Cortez in der Bucht von Hon-
duras sein, der Endpunkt am Großen Ocean an der prächtigen
Fonsecabai, etwa in La Union.
— In den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres sind
bei Lloyds in London nicht weniger als 1037 Schisfbrüche an-
gemeldet worden.
— Goldlager sind nun auch in der bolivianischen Pro-
vinz Chiquitos entdeckt worden.
— Fray Ben tos in Uruguay ist bekanntlich derjenige
Ort, in welchen! die Bereitung von Liebig's Fleischextract
ins Große betrieben wird. Durch die Anregungen, welche un-
ser berühmter Landsmann gegeben hat, ist der srüher ganz un-
bedeutende Ort binnen wenigen Jahren zu einer blühenden Stadt
emporgewachsen. Der Hafen ist gut, sicher und wird viel be-
sucht, nild die „Liebig-Compagnie", welche ihren Extract unter
Leitung eines deutschen Chemikers herstellen läßt, wirkt belebend
aus den Handelsverkehr. Bemerkenswerth ist, daß es gerade
Engländer sind, welche sich mit Vorliebe in Fray Bentos nie-
derlassen uud auch dem Ackerbau zuwenden. Fray Bentos hat
Dampferverbindung mit Buenos Ayres und Montevideo und
eine sehr gesunde Lage.
— Von 1750 bis jetzt haben in Neu York III Theater
bestandeil; das älteste der jetzt bestehenden, nämlich das alte
Bowerytheater, datirt von 1845. Nicht weniger als 19 sind
abgebrannt und 76 sind geschlossen worden.
— Erdbeben kommen noch immer in verschiedenen, weit
von einander entfernten Gegenden vor. Am 17. Juni wurde
Ecuador zweimal davon heimgesucht, Mittags 1 Uhr und
Nachts 11 Uhr. Die Ortschaft Ambato hat viel gelitten; zu
Mocha stürzte die Kirche ein und dabei fanden fünf Menschen
ihren Tod. Der Tunguragua in den östlichen Cordilleren hatte
eine Eruption. Der Pichincha bei Quito, den man für er-
loschen hielt, hat wieder Zeichen von Thätigkeit verspüren lassen.
— Der berühmte Mormonentempel zu Nauvoo in
Illinois ist in der ersten Juniwoche ein Raub der Flammen ge-
worden. Das Gebäude war ursprünglich von den sogenannten
icarischeil Kommunisten aus Frankreich errichtet und zu einem
Speisesaale bestimmt worden. Die Heiligen vom jüngsten Tage
machten dann einen Tempel daraus, der für ihr Tabernakel
galt, bis sie verfolgt und gehetzt von den „Heiden" gen Westen
nach Missouri und dann an den Salzsee zogen.
— Im südlichen Italien ist eine ganz neue Art von
„Brigandaccio" aufgekommen. Das zu Neapel erscheinende
„Avvenire" meldet aus der Provinz Aquila, daß dort ganze
Banden in die Wälder ziehen, die höchsten und schönsten Stämme
niederhauen und dieselben ganz unbefangen als Schiffsbauholz
nach Trieft verkaufen. Bei Cantalupo machte sich jüngst die
gesaminte Bevölkerung auf und verwüstete den dortigen schönen
Wald, welcher den Mönchen des Klosters Montecassino gehört.
Der Clerus sollte dort den Leuten billigerweise etwas mehr
Achtung vor dem Eigenthum einflößen, Zeit dazu hat er in
Hülle und Fülle.
Herausgegeben von Karl Andrec i» Dresden. — Für die Redactio» verantwortlich: H. Nieweg in Braunschwcig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
I
V.
M
Im Norden des Kaukasus.
Erster Artikel.
Der Kaukasus und seine verschiedenartige Bevölkerung. — Das nördlich von ihm liegende Steppenland und die Nomaden alter
und neuer Zeit. — Die skythische Einöde. — Die Kalmücken und ihre Lebensweise. — Die Nogayer und ihre Stammver-
wandten. — Neujahrsfestlichkeiten. — Wallfahrten zum Geisterkönig. — Die Kofacken, ihre Stanitzen und Wachtthürme. —
Belustigungen und Wettrennen. — Kämpfe mit den Bergvölkern. — Bettelnde Griechen und Mönche. — Straßen und Post-
wesen. — In Stawropol.
Der Kaukasus erhebt sich auf der Landenge zwischen als „das Gebirge der Sprachen" bezeichnet, denn in ihm
dem Schwarzen und dem Kaspifchen Meere als gewaltige und um ihn herum wohnt ein wahres Gewimmel von ver-
Grenzscheide zwischen Europa und Asien. Die arabischen schiedenen Nationen. Die Kaukasusregion bildet eine ethno-
Schriftsteller des Mittelalters haben ihn mit vollem Recht graphische Musterkarte von größeren und kleineren Ueber-
Der Nossayer Ale Ale.
haben es niemals zu einem organischen Zusammenhang unter
einander bringen können. Keine von allen diesen Nationen
hat das Zeug in sich gehabt, einen eigentlichen Staat zu bil-
den; im Kaukasus ist anarchische Zerklüftung die Regel ge-
13
Ein Nogayer.
bleibseln von Völkern, die entweder seit den ältesten Zeiten
in diesem Gebirge wohnen, demnach dort gleichsam bodenstän-
dig sind, oder welche auf den großen Völkerzügeu dort zurück-
geblieben siud. ^ie reden sehr verschiedene Sprachen und
Glrbus XIV. Nr. 4. (August 1868.)
98 . Im Norden
Wesen und die Fehden und Kriege haben kein Ende genom-
men, bis endlich alle diese Völker und Völkerfragmente nach
langen, blutigen Kämpfen Unterthanen des russischen Kaisers
geworden sind. Nur Georgien mit Jmerethi und Mingre-
lien war ein eigentlicher Staat, der aber nicht dem eigent-
lichen Kaukasus angehörte, sondern im Süden desselben lag.
Im Norden des Gebirges dehnt sich ein weites Step-
Penland aus, in welchem einzelne Städte nnd Wohnorte
zerstreut liegen, und wo Kalmücken nnd nogayische Türken,
die man gewöhnlich als Nogayertataren bezeichnet, mit ihren
Herden umherziehen. So war es auch schou im Alterthum,
das in jenen Gegenden die Hamaxobier und Essedonen kannte.
Diese große „skythische Einöde" war stets ein Lieblingsauf-
enthalt der Hirtenvölker. Der Kalmücke hält sie für ein
wahres Paradies und fragt den Fremden, welcher zu ihm
?s Kaukasus.
kommt, mit stolzem Bewußtsein: Wo giebt es Gegenden, die
so arm an Bäumen sind als die unseren? Kein Berg und
kein Wald belästigt uns, und finden nicht unsere Herden
reiche Weide? Der Ausspruch ist ganz zutreffend, denn wo
das Reich der Gräser und Kräuter beginnt, wird die Steppe
ganz baumlos. Sobald im Frühling der Schnee fort ist,
bedeckt sie sich mit frischem Grün, und dort haben Crocns,
Tulpen und Hyacinthen ihre rechte Heimath. Aber einför-
mig ist der Anblick der Steppe zu jeder Jahreszeit; die Step-
Penkräuter treten in Gruppen anf und bilden gleichsam In-
seln, und der Mermuth, welcher in diesen nordpontischen
Steppen wuchert, giebt ihnen eine traurige Färbung. Schon
im Juni versiechen die Bäche und viele Steppenflüsse, im
Juli zerfallen die meisten Kräuter in Staub und die Son-
nengluth in der schattenlosen Einöde wird unerträglich. Hier
Ein Kalmücke.
also setzten die skythischen Hamaxobier ihre aus zwei oder drei
Abtheilungen bestehenden Filzzelte auf Wagen mit vier oder
sechs Rädern, die von Ochsen gezogen wurden. Ganz ge-
nau dasselbe berichten die Schriftsteller des siebenzehnten Jahr-
Hunderts von den in der Gegend von Astrachan nomadisiren-
den Tataren und von den Mongolen im Reiche Kiptschack.
Schon Aeschylus läßt den Prometheus zur Jo sagen: „Du
kommst zu Skythenhorden, die geflochtene Korbhütten hoch
auf runden Wägen sich erbauen." Es mag hier bemerkt
werden, daß die skythischen Nomaden im Alterthum weder
Kameele noch Esel oder Maulthiere als Lastvieh kannten;
sie benutzten vorzugsweise das Pferd und den Ochsen.
Wir wollen einige ethnographische Skizzen über den nörd-
lichen Kaukasus und die pontisch-kaspische Steppenregion mit-
theilen. In den Jahren 1864 und 1865 durchzog ein rus-
sischer Künstler, Basil Wereschagin, diese Gegenden aus-
drücklich in der Absicht, ethnographische Bilder zu zeichnen
und die verschiedenen Völkertypen genau wiederzugeben. Wir
geben eine Anzahl dieser Zeichnungen und man muß ge-
stehen, daß sie treu und durchaus charakteristisch sind.
Als er von Norbert her die Grenzen des Gouvernements
Stawropol überschritten hatte, traf er mit Kalmücken zu-
fammen, welche nach Nordosten hin bis zur untern Wolga
nomadisiren. Weit und breit war keine ständige Wohnung
zu sehen, alle Civilisation hatte aufgehört; kein Strauch,
keine Hecke; Alles war monoton bis zum Exceß. Aber der
Boden ist doch fruchtbar, und wo da und dort Russen sich
angesiedelt haben, wird ihm Getreide und Gemüse abgewon-
nen, allerdings mit großer Arbeit und schwerer Mühe.
Die Kalmücken theilen sich in Ulusse, deren jeder
Ein alter Kalmücke.
Im Norden
aus einigen Chotnnen, d. h. beweglichen Dörfern, besteht.
Diese werden versetzt, sobald die Umstände es erfordern, und
die einzelnen Kibitken dieses fliegenden Lagers werden mit
Leichtigkeit von einer Stelle zur andern geschafft. Man ist
darauf eingerichtet. Leider sind die Kalmücken sehr unrein-
lich und ihre Kibitken können für wahre Schmutzhöhlen gel-
ten. Alles liegt wirr und unordentlich durch einander: Kof-
fer und Felleisen, Pferdegeschirr uud Lumpen aller Art. In
der Mitte des Zeltes befindet sich der Herd; im Winter
thun sich die Kinder eine Güte damit, daß sie sich in der
?s Kaukasus. 99
warmen Asche walzen; im Sommer laufen sie splitternackt
umher. Der Kalmück trägt ein Beschmet, ein Hemde, das
nie sauber ist, weite Beinkleider, welche er in die Stiefeln
steckt, und eine viereckige Tuchmütze mit einem Rande von
Schaffell. Der wohlhabende Mann zieht wohl auch einen
Chalat über, ein weites Gewand, das unseren Schlafröcken
gleicht. Das Gesicht der Kalmücken ist platt, das Auge eng
geschlitzt und fchief gestellt, die Backenknochen stehen weit vor,
die Ohren sind beweglich und hängend; der Bart ist spärlich,
das Haar schwarz und straff herabhängend; der Wuchs klein,
Ein Kosack
aber der Körper kräftig. Es fehlt dem Kalmücken nicht an
Schlauheit uud Verschlagenheit; er beweist das namentlich
beim Diebstahl, der durchaus nicht für entehrend gilt. Die
Kinderwachsen ohne alle Erziehung aus; doch kommt es vor,
daß reicher Leute Söhue bei einem Lama (Priester) lesen ler-
nen. Im Durchschnitte sind übrigens die Kalmücken nicht
wohlhabend; Ackerbau treiben sie nicht, Futtervorräthe legen
sie auch nicht ein, und so ist das Vieh oft in kläglichem Zu-
stände. Man lebt mäßig, zumeist von Mehlbrei, manchmal
auch vom Fleische gefallener Thiere; das Schlachten eines
vvm Terek.
Pferdes oder Rindes gilt fchon für Luxus. Hauptgetränke
sind Thee und Branntwein; ein starker Rausch gilt für den
größten Hochgenuß. Ganz leidenschaftlich sind sie dem Kar-
tenspiel ergeben, das manchmal Tage lang hinter einander
ununterbrochen fortgefetzt wird.
Als Reiter ist der Kalmück ausgezeichnet; sein Pserd
gleicht jenem der Nogayer und hat große Ausdauer; auch
die Kameele sind abgehärtet.
Auch Nogayer ziehen, wie schon bemerkt, in der Steppe
umher; Wereschagin ist ihnen oft begegnet und er fand
13*
KifevC
100
Im Norden des Kaukasus.
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sie in großer Aufregung. Dieses Volk bekennt sich zum
Mohammedanismus, war mit der russischen Negierung un-
zufrieden und hatte sich vor einiger Zeit entschlossen, zu sei-
nen Glaubeusbrüderu nach der Türkei auszuwandern. Die
Bekenner des Islam blicken mit einer gewissen Sehnsucht
nach Stambul; schon der bloße Name der großen Stadt des
Padischah tönt wie Musik in ihren Ohren. In den Jahren
1856 bis 1860 zogen dann viele, nach übertriebenen An-
gaben an 300,000, in das Gebiet des Sultans, wo aber
bald ein beträchtlicher Theil verschiedenen Seuchen erlag; die
Ueberlebenden versanken in Elend uud Armuth und von die-
sen kehrten die meisten nach Rußland zurück, wo ihnen die
Regierung Vorschub leistete und zur Hand ging. Ihre No-
madenheimath liegt in den Steppen der Kreisbezirke von
Stawropol, Pätigorßk und Kisliar-Mosdok. Im Jahre 1856
bildeten sie sechs Stämme (Erman, Archiv für wissenschaft-
liche Kunde von Rußland, XV, S. 137); mit ihnen stan-
den die stammverwandten Truchmenen oder Turkomanen,
welche in dem letztgenannten Kreisbezirke wohnen, in Ver-
binduug; sodann auch eine Anzahl aus dem Kalmückengebiet
eingewanderter kasylarscher oder scheretowscher Ta-
taren. Von jenen sechs Stämmen oder Hauptsamilien zer-
fiel jede einzelne wieder in mehrere Geschlechter, die einander
manchmal feindlich gegenüberstanden. Diese Fehden reichten
bis ins sechszehnte Jahrhundert zurück uud waren Veranlas-
sung, daß einzelne Stämme sich vom Hauptvolke trennten
und dadurch manche ihrer nationalen Eigenthümlichkeiten ver-
loren. So z. B. haben die Nogatjer von Beschtau Kmn
und Kalausso Dschembulak, deren Stammgenossen zum gro-
ßeu Theile jenseits des Kuban unter dem Namen der M ans-
suren und Nawrnsen leben, in Folge ihrer häufigen Ver-
bindungen mit der Kabarda viele kabardinische Gebräuche
angenommen. Das Vieh derer, welche Wereschagin sah
(„Le Tour du Monde", Nr. 428), war ans der Rückreise
aus der Türkei gauz erbärmlich abgetrieben worden und wei-
dete das verdorrte Steppengras ab; die Männer saßen auf
der Erde und schnitzten Schalen oder Holzlöffel, um dieselben
an russische Bauern zu verkaufen. Die Frauen flickten ihre
Lumpen zusammen oder kochten Brei, während die Kinder
um die Kessel herumlagen. Alle diese Leute befanden sich
früher in leidlichem Wohlstande und manche sprachen das
Russische recht geläufig. Werefchagin rauchte mit einigen
die Pfeife der Freundschaft, und ein Mann sagte: „Wenn
Du nach Stawropol kommst, so besuche mich, den alten Ale
Ale."
Bei allen Volksstämmen dieser Kaukasusregion finden
zu Neujahr große Festlichkeiten statt. Die Russen
folgen dabei den in ihrer alten Heimath üblichen Bräuchen;
man wünscht einander eine gute Ernte und schafft ein neues
Stück Hausrath an, weil man sonst kein Glück im Haus-
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Wettrennen der Kosacken.
Kosacken beim Brettspiel.
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wesen haben würde. Die No gay er richten sich in der Feier
des Neujahrs nach dem gewöhnlichen mohammedanischen Ka-
lender und halten Schmäuse und Wettrennen. Bei den
Truchmenen und anderen Nogayern, welche es mit den vom
Koran gebotenen Vorschriften nicht allzu streng nehmen, gilt
als Neujahr der Eintritt des Frühlings. Dann ist ja
die Zeit gekommen, wo sie nicht ferner in den Kibitken zn-
sammengedrängt leben, nicht mehr vom Frost zu leiden haben
nnd sich in frischer Lust am Anblick ihres Viehes erfreuen,
das nun saftiges Gras findet. Bei manchen, die um Päti-
gorßk unweit der Kabarda wohnen, wird vor Neujahr eine
Wallfahrt nach dem Bezirke Tatar tnpa unternommen.
Der Brauch ist von den Kabardinern entlehnt, welche noch
heute eine große Verehrung für die Knrgane und andere
Ueberreste der Vorzeit hegen. Jener District liegt am Fuße
des Karadagh-Gebirges, am westlichen Ufer des Flusses Terek.
Die dort liegenden Ruinen werden als ein Asyl betrachtet,
wo selbst die Mörder vor Blutrache gesichert sind, und dort
wurden in früheren Zeiten die Verträge zwischen den Ka-
bardinern abgeschlossen und mit Eiden bekräftigt. Dem
Volksglauben nach wäre es unmöglich, hier weiter ins Ge-
birge vorzudringen. Denn hier haust der Geisterkönig,
der Dschiu Padischah, welcher auf dem hohen Niesenberge
Elbrus Hos hält. Wer jene Wallfahrt gemacht und Opfer
gebracht hat, wird im Laufe des Jahres kein Unglück erfah-
ren; weder das Schwert noch die Kugel des Feindes kann
ihn treffen, er ist überhaupt vor allen Gefahren sicher. In-
dem der Pilger dem Padischah einige Huldigungen darbringt,
spricht er einige geheimnißvolle Worte und legt, zum Zeichen
und als Andenken seines Besuches, einige Flintenkugeln, ein
Messer oder irgend einen andern Gegenstand in einer Fels-
schlucht nieder. Auch Christen unternehmen diese Wallfahrt,
und wer dort Opfer bringt, kann ohne Gefahr durch das
Gebirge reisen und der Berggeist wird ihm Wild vor die
Kugel liefern. —
*
In der Umgegend von Stawropol bietet die Steppe an
einzelnen Stellen einen Anblick von Civilisation dar, weil
an der großen Heerstraße Kosackendörfer liegen; weiter-
hin, in der Nähe des Kaukasus, entfernen sie sich von diesem
Wege und verschwinden in der Ferne. Die hier angesiedel-
ten Kosacken gleichen im Allgemeinen den Bauern Neu- und
Kleinrußlands und sind friedliche Ackerbauer. Ihre Sta-
nitzeu, denn so bezeichnet man die Dörser und flecken dieser
Linienkosacken, sind der frühern Grenze der russischen Be-
sitzungen entlang angelegt worden; sie sollten zum Schutze
derselben dienen. Sie haben zum Theil eine beträchtliche
Größe uud zählen ihre Einwohner nach Tausenden. Die
Stanitza gleicht dem ersten besten großen Dorfe Altrußlands;
nur ist sie mit Palissaden umgeben. Das Dors hat nur
zwei Eingänge mit großen Thoren; an diesen befindet sich
Im Norden des Kaukasus.
101
eine Tafel, auf welcher die Zeit der Gründung und die Ein-
wohnerzahl verzeichnet steht. Neben dem Thore steht ein
Thurm, aus welchem ein Kosack Wacht hält. Dergleichen
THUrme sieht man oft an der großen Poststraße, gewöhnlich
dort, wo sich ein Hügel über die Steppe emporhebt; neben
dem Thurme liegen einige Wachtgebäude. Indeß verfallen
sie zumeist; sie sind in unseren Tagen überflüssig geworden,
weil das Land von keinem Feinde bedroht ist. Diese Thürme
bieten, wie unsere Abbildung zeigt, einen eigenthümlichen An-
blick dar. Gewöhnlich hat man vier lange Balken tief in
die Erde eingelassen und oben ein Dach aufgelegt, welches
über der luftigen Wachtstnbe liegt. Die ganze Oertlichkeit
ist mit einer Hecke umgeben. Manche Thürme sind schon
weniger einsach; zu ihnen führt nicht eine gewöhnliche Leiter
hinaus, sondern eine Wendeltreppe.
Die Häuser in den Stanitzen sind von Holz, nnt Lehm
beworfen und mit Kalk geweißt; das Dach ist von Rohr
oder Stroh, Fußböden kommen nur bei sehr wohlhabenden
Leuten vor. Die Wohnung wird reinlich gehalten, es fehlt
nicht an allerlei Bequemlichkeiten und insgemein wird das
Haus von Bäumen beschattet. Das macht in einer solchen
Gegend einen doppelt angenehmen Eindruck.
Jetzt herrscht hier überall Friede und die gegenwärtigen
Zustände bilden einen wohlthueudeu Gegensatz zu den frü-
Heren, da Raub, Fehde und Mord an der Tagesordnung
uud keine Stanitze auch nur einen Tag vor einem Ueberfall
der Bergvölker sicher war. Der Kosack mußte Tag uud
Nacht auf der Hut uud bis au die Zähne bewaffnet sein.
Weiber, Kinder und Herden waren unablässig bedroht. Der
rasch strömende Terek allein bildete eine Schranke gegen die
Bergvölker, aber einem großen Theil seines Laufes entlang
mußten die Kosackeu unablässig auf Piket stehen und den
Feind beobachten. Sobald der auf dem Thurme stehende
Kosack einen Feind gewahrte, gab er sofort das Lärmzeichen.
Im Nothfalle wurde aus den zunächst liegenden Stanitzen
Verstärkung geholt. Alles griff dabei rasch iu einander und
ging wie der Blitz. Jede Furth, jedes Gebüsch, jeder Wald
wurde Tag und Nacht bewacht und die Späher waren in
unablässiger Thätigkeit. Die Bergvölker ihrerseits wußten
sehr wohl, daß sie es mit einem wachsamen und tapsern Geg-
Kosacken schießen nach der Scheibe.
uer zu thuu hatten und gingen bei allen ihren Anschlägen
mit großer Heimlichkeit und Vorsicht zn Werke. Irgend einer
der gewandtesten Krieger wurde aus Beobachtung ausgeschickt.
Wie verhielt er sich dabei? Er schwamm im Terek stromab-
wärts derart, daß er eine große Baumwurzel oder einen Ast
vor sich nahm, um seinen Kopf hinter demselben zu verbergen.
Wehe dann den Kosacken, wenn jener irgend eine lieber-
gangsstelle unbewacht oder eine Schildwache nachlässig fand.
Dann erhielt die auf der Lauer liegende Horde ein Zeichen,
sie stürmte heran und raubte und mordete. Wenn aber an-
dererseits der Kosack auf der Hnt war, dann war es auch
um den Schwimmer geschehen. Er ließ denselben möglichst
nahe herankommen und jagte ihm aus dem ihn schützenden
und verbergenden Gebüsch heraus eine Kugel in deu glatt-
geschorenen Kopf. Man begreift, daß unter solchen Ber-
Hältnissen der Kosack ein eigenthümliches Gepräge bekam, daß
er ein muthiger, verschlagener, kaltblütiger Mann wurde, der
stets bereit sein mußte, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen.
Die ganze Erziehung war derart angelegt, daß man ihm ein-
schärfte, jeder Gefahr zn trotzen. Schon der Knabe mußte
bereit sein, zu jeder beliebigen Zeit in den Sattel zu sprin-
gen, und er wurde zu einem kecken, gewandten Reiter heran-
gebildet.
Seitdem die Bergvölker sich unterworfen haben, führt der
Kosack ein ruhigeres Leben, aber auch heute uoch ist er stets
bereit, gegen einen Feind auszurücken, und als Reiter nimmt
er es mit jedem andern auf. Die Dschigitosska ist eine
Belustigung, die er leidenschaftlich liebt. Er steht dabei aus
dem Pserde, etwas uach voru hin übergebeugt; das Roß
sprengt in gestrecktem Lause dahin und ein Reiter sucht dem
andern vorauszukommeu. Es ist ein waghalsiges Spiel, bei
welchem es auch an Arm- und Beinbrüchen nicht fehlt, und
manchmal nrnß ein Reiter sein allzu tolles Wagen mit dem
Leben büßen.
Früher ersreneten sich die Kosacken mancher Vorrechte
und noch jetzt halten sie sich für besser und freier als andere
Russen, aus welche sie mit einer gewissen Vornehmheit her-
abblicken und auf deren Kosten sie sich lustig machen. Uebri-
gens werden sie jetzt auch bei der Recrutirung herangezogen,
man stellt sie aber nicht in der Linie ein, sondern nur in
102
Im Norden des Kaukasus.
Kosackenregimenter, namentlich in die kaukasischen. In Be-
zug auf die Kleidertracht hat dieser Kosack Manches von den
Bergvölkern angenommen, insbesondere auch die gewaltige
Pelzmütze und die feinen Stiefel. Er war ein geschworener
Feind der Eingeborenen, aber er versagte so tapferen und
muthigeu Gegnern feine Hochachtung nicht und der junge Ko-
Kosackenschildwache am Terek.
sack legte Werth darauf, solch einem Kaukafier
so viel als irgend möglich zu gleichen. Aber
in seiner Arbeitstracht und wenn er auf dem
Felde beschäftigt war, sah er genau aus wie
ein kleinrussischer Bauer. Männer wie Fraueu
sind hübsch gewachsen, ihre geistige Entwicke-
lung ist aber von der dürftigsten Art und sie
theilen mit den übrigen Russen eine gewisse
intellectuelle Trägheit. Schlimm ist auch, daß
sie gegen jede Neuerung eingenommen sind,
und jeder Verbesserung, welche man etwa im
gewöhnlichen Tagesleben einführen will, sich
durchaus abhold zeigen; sie halten starr an dem
einmal Ueberkommenen fest und stämmen sich
gegen Alles, was Civilifatiou und Fortschritt
heißt. Dazu kommt, daß der größte Theil sich
zum Raßkol bekennt, das heißt der Religion
der Altgläubigen angehört. Sie müssen aller-
dings Bekenner der orthodoxen Staatskirche
unter sich dulden, treten aber mit solchen nur
ungern in irgend welche nähere Beziehung.
Wereschagin traf in der nordkaukasischen
Gegend sehr häufig zerlumpte und abgemagerte
Bettler, die als Griechen bezeichnet wer-
den; er zeichnete eine Menge dieser Charakter-
köpfe und wir theilen einige derselben mit.
Dieses abgefeimte Gesindel treibt sich in den
Sommermonaten auf allen Heerstraßen umher
und zieht gen Norden bis nach Moskau. Man
darf wohl annehmen, daß sie im Herbst eine
gute Ernte heimbringen, denn der gemeine
Um nun die Orthodoxie zu bethätigen, schlägt
der Grieche ein Kreuz nach russischer Art, von
der Stirn zur Brust und dann von der rechten
Schulter zur linken. Den Beweis für seine
Armuth sucht er dadurch zu führen, daß er
seine Lumpen zur Schau förmlich auslegt. Un-
ter diesen Landstreichern findet man auch häufig
Leute anderer Nationalitäten, namentlich Zi-
geuner; sie nennen sich aber allefammt Grie-
chen, Freunde der Russen und schlagen das
orthodoxe Kreuz. Eine besondere Gattung von
Bettlern gehört dem geistlichen Stande au.
Sie sind Mönche oder geben sich doch sür
solche aus, und sind viel zu stolz, um zu Fuße
zu gehen. Ihre zusammengeschnürten Mittel
erlauben ihnen, in dem heiligen Rußland mit
eigenem Gefährt herumzukutfchireu. Wie wissen
diese frommen Männer dem gutherzigen Bauer
das Fell über die Ohren zu ziehen, wenn sie
ihm erzählen, welch ein Leben voll Entsagung
sie führen und was sie Alles wegen ihrer Recht-
gläubigkeit haben leiden müssen! Das macht
tiefen Eindruck namentlich aus die Frauen;
dann nnd wann werden auch reiche Kaufleute
mit Erfolg angezapft.
Wereschagin bemerkt, daß sowohl in der
kaukasischen Gegend wie überhaupt in Ruß-
laud die Verbindungswege im Allgemei-
nen sich in kläglichem Zustande befinden. Von
Mann in Rußland ist gutmüthig und giebt Späherthurm bei einem Kofacken- Ausbesserung ist keine Rede, falls nicht etwa
gern etwas. Der verschmitzte Grieche geht Posten. die Durchreise einer hohen Person im Voraus
beim Betteln methodisch zu Werke und hat sich
ein besonderes Kauderwälsch eingelernt; z. B.: „Ich ein
Grieche sein; Bruder, ich, des Russen; ich sehr recht-
gläubig sein, ein armer, sehr armer Rechtgläubiger ich bin."
angemeldet worden ist. Dann werden die
Bauern aus der ganzen Umgegend zusammengetrieben, um
die Schlaglöcher auszufüllen und die sumpfigen Stellen mit
Gezweig zu überdecken. Allerdings hat man in einigen Ge-
Im Norden
genden des heiligen Rußlands Kunststraßen angelegt, so
z. B. nach dem Kaukasus hin uud in dem Gebirge selber,
zwischen Moskau und Woronesch :c.; aber im Allgemeinen
werden auch diese Chausseen schlecht unterhalten und oft
sind sie schlimmer, wie die gewöhnlichen Landwege. „Ich
spreche als Augenzeuge. Auf jenen Chausseen bewegen
sich die schweren Wagen, auf welchen die Lebensmittel und
der Kriegsbedarf für das Heer transportirt werden. Es
ist oft unmöglich und geradezu gefährlich, anders als im
Schritt zu fahren, uud um von einer Station zur andern
zu gelangen, hat man gewöhnlich doppelte und dreifache
Zeit nöthig als vorgeschrieben ist. Als ich über solche Ber-
zögerung Klage führte, entgegneten mir die Jswofchtfchiks
ganz kaltblütig: „Ah, das ist ja Alles in der Ordnung; Du
kommst ja doch au Ort und Stelle, wenn wir auch Schritt
des Kaukasus. 103
fahren." Die Stationshäuser sind in dürftigem Zustande,
die Betten gewöhnlich hart und unbequem. ' Aber die Mili-
tärstraße nach Georgien bildet eine vortheilhafte Ausnahme;
im Uebrigen ist eine Reise durch das heilige Nußland mit
vielen Mühseligkeiten und Beschwerden verbunden; auch ärgert
man sich nicht selten über die Postinspectoren, deren Betragen
sehr viel zu wünschen übrig läßt. Freilich sind diese Leute
in früheren Zeiten von den Reisenden sehr oft schlecht be-
handelt worden; man drohete ihnen, schalt sie aus und nicht
selten wurden sie sogar geprügelt. — Ich kam eines Abends
in eine Station, wo der Inspector sehr betrunken war. Sein
Schlafzimmer lag dicht neben dem meinigen. Der betrun-
kene Mann gehörte zu den frommen Seelen und sang lallend
geistliche Lieder mit nicht sehr lieblicher Stimme bis tief in
die Nacht hinein. Bei mir konnte natürlich dabei von Schlaf
Griechische
keine Rede sein. In den Abendstunden war ein Mann in
mein Zimmer gekommen, um mir Stücke auf der /ylötc vor-
zuspielen und ich mußte ihn eine Zeitlang gewähren lassen;
der Künstler durste nicht beleidigt werden. Ein anderes Mal
bekam ich ein Zimmer, das dicht neben der Stube lag, in
welcher man einen Postillon gefangen hielt. Der arme Teu-
fel hatte unterwegs seinen Wagen ausplündern lassen und
das war folgendermaßen zugegangen. Die Postsendungen
werden insgemein auf mehreren Telegen, d. h. Wagen, die
nicht aus Federn ruhen, befördert; in dieselben legt man die
in große, lederne mit Ketten umschlungene Felleisen verpack-
ten Briefe und Packete, und auf Ballen in der letzten Telega
sitzt derjenige Postillon, welchem die Obhut über Alles an-
vertraut ist. Nun begegnete jener Gefangene eines Tages
einigen Herren, die mit einem Dreigespanne fuhren. Sie
Bettler.
ließen sich mit ihm in ein Gespräch ein und gaben ihm in
der nächsten Schenke mehr zu trinken als ihm gut war. Als
er übergenug im Kopfe hatte, setzte er sich wieder auf seineu
Ledersack und man erzählte ihm allerlei ergötzliche Schnurren.
Dabei schnitten die Diebe ein Felleisen nach dem andern auf
und warfen den Inhalt auf die Straße, wo einer ihrer Spieß-
gesellen bereit stand, die Güter in Empfang zu nehmen.
Südlich von Stawropol wird die Straße von einer großen
Anzahl kleiner Flüsse durchkreuzt. Diese kommen aus dem
Gebirge herab und sind im Sommer, wo sie theilweise aus-
trocknen, ganz bequem zu passtren, aber im Frühjahr, wenn
der Schnee schmilzt, und während der Herbstregen wälzen sie
eine gewaltige Masse schlammigen Wassers in ihren Betten
und reißen "nicht selten die ohnehin zumeist sehr schlechten
Brücken fort. Es kommt nicht selten vor, daß dieselben ein-
104 • Im Norden
brechen, weil die Ortsbehörden ungemein sorglos sind. Jr-
gend ein Schaden, welchen das Hochwasser angerichtet hat,
wird nur ganz oberflächlich ausgebessert, und hinterher wnn-
dert man sich dann, daß ein Unglück geschehen konnte. Post-
relais findet man in den großen Dörfern an der Straße,
namentlich in den Kosackenstanitzen, und sie liegen gewöhn-
lich 15 bis 25 Werst aus einander. Die Post ist an Pri-
vatleute verpachtet, von denen es viele mit ihrem Pflichteifer
nicht eben genau nehmen. Sie stellen alte Karreten und
schlechte, abgemagerte Gäule; häufig fährt man auf mehre-
ren Stationen nur im Schritt. Für ein gutes Trinkgeld
thut übrigens ein Postbauer das Mögliche und fährt so schnell
er kann. Mit den Pferden geht er gut um und lenkt sie
mit einem Zurufe; der russische Postbauer mißhandelt sein
Vieh nicht, von Seiten der Tataren und Nogayer geschieht
das aber nur allzu häufig. Wer Geldausgaben nicht scheut
und sich aus Strapazen nichts macht, kann in Rußland trotz
der schlechten Wege rasch vom Flecke kommen. Ich habe im
Jahre 1865 als Kurier die 2000 Werst lange Strecke zwi-
schen Tiflis und St. Petersburg in acht Tagen zurückgelegt."
des Kaukasus.
lieber das alte russische Postweseu finden wir in
Erman's Archiv (Bd. II, S. 304) einige Notizen nach
amtlichen Quellen. Posten sind zur Zeit der Mongolen-
Herrschast nachweisbar. Man hatte damals Kuriere (G ouzy),
aber ein einigermaßen systematisches Postwesen wurde erst im
Anfange des sechszehnten Jahrhunderts eingerichtet, als schon
die meisten Theilfürstenthümer der östlichen Landeshälfte in
den« moskowitifchen Reiche aufgegangen waren. Iwan der
Dritte vermehrte die Zahl der Stationen; späterhin wurden
Postbücher eingeführt; man registrirte die Wohnorte nach
Poststationen und stellte Revisoren an. Sowohl in den offe-
nen Städten, Pofsady, wie in den kleinen Landesbezirken,
Wolosty, wurden nun die Bewohner zu Postdiensten ver-
pflichtet, und bevor die „freiwilligen Fuhrleute" (Jämsch-
tschiki ochotei) aufkamen, mußten die Bauern eines jeden
Pofsad und Wolost der Reihe nach Dienste für die Post thun.
Diese pflichtmäßigen Arbeiten hatten für die Bauern und
Kleinbürger manches Unbequeme; deshalb suchten sie Frei-
willige aus ihrer Mitte, die man von Erbenzins und ande-
ren Lasten besreiete, sobald sie die Verbindlichkeit übernahmen,
Eine ruf
die kaiserlichen Dienstleute mit Pferden und Wagen zu ver-
sehen. Die Regierung fand diese Einrichtung Vortheilhaft,
bestimmte ein gewisses Postgeld und ernannte eigene Jämsch-
tschikis, welche alljährlich eine bestimmte Entschädigung, ein
Hülssgeld, erhielten; dieses wurde von dem respectiven Be-
zirk aufgebracht. Die zu den Stationen gehörenden Cho-
romys (großen hölzernen Häuser), die Jsbas (Stubeu),
Heuschuppen nnd Pferdeställe wurden von den Bauern erbaut
und int Stande gehalten. Auf jeder Station befand sich
eine bestimmte Zahl freiwilliger Fuhrleute; manchmal stieg
die Zahl derselben bis auf siebenzig. Jeder hatte zwei bis
drei Pferde oder auch mehr und die Reisenden kamen schnell
vorwärts. Auf jeder Station lagen Bücher, in welchen man
das für die verabfolgten Pferde und Fuhrwerke bezahlte Geld
registrirte. Alle Grenzorte und alle wichtigen Handelsplätze
standen durch Poststatioueu mit Moskau in Verbindung und
die sibirische Post bildete einen besondern, sehr wichtigen Zweig
des Postwesens; sie beförderte alle kaiserlichen Sendungen,
namentlich auch die Casse und die Getreidesendungen. Sie
ging vorzugsweise auf trocknem Wege, zuweilen auch theil-
he Telega.
weife zu Wafser. Die im Jahre 1666 in Moskau errich-
tete sogenannte deutsche Post war von keinem erheblichen
Einfluß anf die einheimischen Posten. —
Wereschagin war erfreut, als er endlich in die Nähe von
Stawrop ol kam und die Gegend einigermaßen hügelig fand.
Bisher war er durch eine „von Gott verlassene und vom
Sonnenbrand ausgedörrte" Gegend gekommen; nun trat
endlich wieder einige Vegetation auf und es wehete frischerer
Wind. Auch ein Adler schwebte hoch in den Lüften. Ge-
gen Abend kam die Stadt in Sicht und gewährte einen hüb-
schen Anblick. Sie lehnt sich an einen sanft abfallenden
Hügel und die hohe Kathedrale ragt stolz über die Häufer-
masse empor. Die Vorstädte sind unregelmäßig gebaut, aber
die innere Stadt nimmt sich besser ans; sie gleicht den russi-
scheu Provinzialstädten, nur daß die Hauptstraße sich sehr
stattlich präsentirt; diese würde in jeder europäischen Stadt
für hübsch gelten.
Wir verlassen hier den russischen Reisenden, um ihn dem-
nächst auf seiner Wanderung nach Georgiewsk und weiter
zu begleiten.
Dr. Mehwald: lieber die Bernsteingewinnung an der oft- und westpreußischen Küste.
105
Ueber die Bernsteingewinnung an
Von Dr.
Der Nordrand, d. h. die Ostseeküste und die Dünen,
sind in den genannten beiden preußischen Provinzen meist
unfruchtbar, da der fliegende Sand derartig wechselnd ist,
daß der Besucher au viele» Stelleu iu dem einen Jahre die
Sandhügel zur Rechten, im andern zur Linken hat, je nach-
dem der Wind die Welt dort verändert.
Obschon man da, wo unter dem abgeweheteu Saude
Fruchterde liegt, sogleich mit Saudfängen bei der Haud ist,
so kann alle Mühe und Arbeit den Sand doch nicht ganz
bewältigen, und mithin müssen die Bewohner der Dünen,
Küsten und Buchten andere Nahrungszweige neben dem
Ackerbau cultivireu.
Die einträglichsten Nahrungszweige für jene Küsten-
bewohner sind unstreitig die Fischerei und Bernstein-
gewinnung. In den Buchten bei Tolkemit und anderen
werden nämlich ziemlich viele Störe gesangen, von deren dio-
gen der sogenannte Elbinger Eaviar bereitet wird. Biel
wichtiger aber ist der Fang der zahllosen Aale und Nenn-
äugen in den Süß- und Salzwasserbehältern um Elbiug.
Die Neunaugen werden auf Rosten geröstet, mit verschiede-
neu Gewürzen bestreut, in Fäßchen oder Tuuke mit salzigem
Essig gelegt und dann als Bricken in alle Welt verschickt.
Die Aale räuchert oder marinirt man und versendet sie dann
ebenfalls iu die Ferne. Während der Räucher- uud Röst-
zeit dürfen feine Nafen nicht nach Elbing kommen, denn da
ist die Luft nicht nur in Elbing, sondern bei ungünstiger
Windrichtung oft Meilen weit in der Runde von dem wider-
lichen Röstgernch insicirt. Nach Elbing, Marienburg, Dan-
zig uud anderen Orten bringen diese schlangenähnlichen Fische
— Aale und Neunaugen —, welche in den sumpfigen Um-
gebungen Elbiugs ganz besonders gut gedeihen, viel Geld.
Bei weitem wichtiger ist jedoch die Bernsteinsifcherei und
-Gräberei an der Ostseeküste.
Daß die Benennung Bernstein eine falsche ist, darf als
bekannt vorausgesetzt werden. Schon Tacitus erklärte ihn
für Baumharz, und Göppert — der gründlichste Forscher
über die tertiäre Erdbildung — hat nicht nur über zweihuu-
dert Thiere uud Pflauzeutheile rat Bernsteinharze gefunden,
sondern anch festgestellt, daß der sogenannte Bernstein einer
Pinnsart entfloß; er hat dieser unbekannten Pinns-, d. h.
Kiefergattung, auch eiueu Namen gegeben. Wo aber der
unendliche Kieferwald gestanden, welcher Tausende von Iah-
ren ununterbrochen Ernten von Bernstein geliefert, wie die-
ser Wald untergegangen und auf welche Weife das Harz iu
Fluß gekommen, ist unbekannt. Wollte man annehmen, es
seien jene Kieferbäume, wie Ficus elastica auf Neuholland,
angebohrt worden, so müßten doch Menschen und zwar sehr
viele Menschen in jenem Walde gelebt haben; da aber nach-
gewiesen ist, daß zu jener Zeit, als der Bernstein entstand,
noch keine Menschen existirten, so muß der Berusteiusluß aus
andere Weise erregt worden sein und ich habe anderweitig
erwiesen, daß dies nur auf dieselbe Art wie bei anderen Holz-
gattuugeu in den Braunkohlen geschehen sein könne, nämlich
durch Verfchüttuug des Waldes mittelst unterirdischer Kräfte
und Ausschwellung des Kiensastes durch unterirdische Hitze,
wie bei der Pechfchweelerei.
Merkwürdig ist es, daß man einzelne Stücke Bernstein in
der Erde bis an den Fuß der Karpathen und des Riesen-
gebirges, sowie am Strande der friesischen und englischen
Globus XIV. Nr. 4. (August 1868.)
der oft- und westpreußischen Küste.
Küsten, in Jütland, Skandinavien, Sibirien, im Behrings-
meere, in Schottland, iu Sicilieu, ja sogar in Nordamerika
gefunden hat- Aber nirgends kommt der Bernstein in so
großen Massen vor, als an der Ostseeküste längs der Pro-
vinzeu Ost- uud Westpreußen und namentlich des Samlaudes.
Aber eben so merkwürdig ist auch, daß man vor länger
als dreitausend Jahren den Bernstein schon in Griechenland
uud Kleinasien kannte und ihn dein Golde gleich schätzte.
Ja man wußte schou, daß derselbe, wenn man ihn etwas
reibe, elektro-maguetisch werde, weshalb man ihn Elektro»
uauute. Aus welche Weife aber die Griechen uud Asiaten
iu deu Besitz von Bernstein kamen, ist nicht bestimmt nach-
zuweisen. Einige glauben, daß die Phönizier zu Schiffe bis
nach England und den friesischen Inseln gekommen seien,
dort Bernstein gefunden uud uach ihrer Heimath mitgeuom-
meu hätten. Ein anderer wahrscheinlicherer Weg dürfte wohl
der bekannte Landhandelsweg vom Adriatifchen Meere durch
Oesterreich, Schlesien und die polnischen Lande bis zur Ost-
see gewesen sein.
Der Bernstein hat eine durch Hin- und Herrollen im
Wasser geglättete Rinde, welche bald braun, bald gelblich,
bald weiß aussieht. Im Innern ist der Wasserbernstein,
das heißt derjenige, den man unmittelbar vom Wasser em-
pfäugt, meist durchsichtig, oder richtiger durchfcheiueud, glas-
artig; während der aus der Erde gegrabene, d. h. der foge-
nannte Erdbernstein, nieist uudurchscheiueud, wolkig uud hell-
gelbfarbig ist.
Die Gewiuuuug geuauuteu Harzes ist eine verschiedeue.
Theils werden Strandstrecken verpachtet, d. h. das Recht,
längs einer bestimmten Strecke am Ufer des Meeres Bern-
stein zu lesen, wird an bestimmte Personen gegen Entgelt
übertragen. Theils üben die grnndberechtigten Gemeinden
nicht allein dieses Leserecht in corpore aus, sondern sie
fischen anch den Bernstein aus ihren Territorien. Dieses
geschieht ans folgende Weise. Es fahren bei ruhiger See
Männer auf Kähnen hinaus aufs hohe Wasser zwischen den
Nernngen, d. h. auf Hochdeutsch Niederungen, und dem Fest-
lande, reißen mit an langen Stangen befestigten Eisen auf
seichtem Meeresgrunde den Seetang und andere Waffer-
gewächfe los und fischen den dadurch freiwerdenden Bernstein
mit kleinen Netzen auf.
Oder die Strandwächter beobachten, ob Seestürme viel
Seegewächse vom Grunde abgerissen haben und der Küste
zutreiben. Ist dies der Fall, so werden die Gemeinden ans-
geboten, welche dann die Männer mit großen Netzen den
Seetang auffangen lassen, aus welchem die Weiber den Bern-
stein herausschälen uud -lesen.
Oder Gefellschaften mit Dampf- und Han-dbaggern be-
fchäftigeu viele Hundert Menschen in der bessern Jahreszeit
bei Dutzenden von Baggern, welche fortwährend Meergrund
heranffchöpfen, welcher dann von den Sortirern auf Bern-
stein durchsucht wird.
Auf diese verschiedenen Weisen werden jährlich an der
Küste von Danzig bis Memel dem Meere etwa 130,000
bis 150,000 Pfund Bernstein entnommen. Je nach der
Größe der Stücke, der Reinheit des Innern, der Gleichmäßig-
keit der Farbe, der gewünschten Form u. s. w. steigt oder
fällt der Preis des Bernsteins von 3 bis 6 Silbergroschen
bis 100 uud 200 Thaler pro Pfund. Durchschnittlich kann
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Einblicke in den osmanischen Orient.
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man annehmen, daß das Pfund sogenannten geschöpften
Bernsteins, d. h. Wasserbernsteins, 3 bis 5 Thaler gilt.
Bernsteingrus und -Abfälle beim Verarbeiten können nur zu
Bernsteinrünchernng, Bernsteinsalbe, Bernsteinsäure u. s. w.
verbraucht werden; sie sind daher sehr billig.
Außer dem Wasserbernstem hat man den Erdbernstein.
Dieser hat meist eine undurchscheinend blaßgelbe Farbe und
zeigt nichts Glasiges. Deshalb wird er im Galanteriewaa-
renhandel höher geschätzt als der Wasserbernstein.
Der Erdbernstein liegt in einem blaueu Letten, welcher
mit Braunkohlen und Lehmschichten überlagert ist, in einer
Tiefe bis zu 100 Fuß. Die Gräberei ist daher zwar etwas
mühsam, aber sehr lohnend, da man annimmt, daß 12
Pfund dieser Erde 1 bis 2 Pfund Bernstein geben.
Um zu untersuchen, ob es das Terrain erlaubt, an die
Stelle der kostspieligen und langweiligen Aufdeckarbeit berg-
männifchen Betrieb zu setzen, hat die preußische Regierung
den hochachtbaren Oberbergrath R. in die Fundstätten des
Bernsteins gesandt, uud er hat durch seine praktischen Angriffe
gezeigt, daß dies möglich und Vortheilhaft fei.
Da man bei der Gräberei häufig sehr große Stücke sin-
det, so stellt sich der Preis dieses Erdbernsteins im Durch-
schnitt auf mehr als 5 Thaler pro Pfund und giebt nach
ungefähren Berechnungen eine jährliche Durchfchuittserute
von mehr als 200,000 Thaler. Der obgedachte blaue Letten
scheint sehr viele aufgelöste Seepflanzen, allerdings in nnkennt-
licher Form, zu enthalten und mit diesem Residuum scheint
auch der Beruftem in die Lettenauflagerung gekommen zu fein.
Jedenfalls zeigt die gauze Berusteiugräberei und--Fische-
rei, daß einst eine ganz andere Welt auf beut Grunde stand,
wo seit mehr als 3000 Jahren dasPflanzenproduct Bern-
stein geholt wird. —
Da aus dem Obigen hervorgeht, daß in den östlichen
preußischen Provinzen jährlich 200,000 bis 300,000 Pfund
Bernstein gefördert werden, so entstehen die Fragen: wohin
geht dieses im Ganzen thenre Prodnct? Wozu braucht man
es? Und was macht man daraus?
Bei Beantwortung dieser Frageu fallen die Wege, welche
Handel und Industrie einschlagen, auf. Deuu der an der
Ostfee gefundene Bernstein geht meist nach Livorno und Be-
nebig, wird dort im Negergeschmack für Putz- oder religiöse
Gegenstände bearbeitet nnd dann in Afrika an die Wildeu
verhandelt. Dagegen gehen wieder vou Livorno uud Vene-
dig ungeheure Massen von Korallenkugeln nach den Bern-
steinländern, namentlich nach Cujavieu, wo die dortige reiche
polnische Mode verlangt, daß die Bräute und jungen Damen
bei Festen in einer Art Korallenharnisch erscheinen. Man
fädelt nämlich auf eine lange Schnur erst eine Strecke kleinere
Korallen nnd schreitet nach und nach zu immer größeren
fort, bis die größten das Eude der Schnur bilden. Diese
Perlenschnur wird nun der dafür bestimmten Franensperson
umgewickelt und zwar so, daß die kleineren Perlen den Hals
umwickeln, weiter herab die größeren folgen uud die größten
die Schultern, Brust und den Rücken bedecken. Ein solcher
Harnisch von rothen regelrecht auf einander folgenden Koral-
len kostet bis 500 Thaler. So balancirt der Werth der
italienischen Korallen mit dem Werthe des ostpreußischen und
polnischen Bernsteins.
Außer deu Italienern und Mohren sind anch die Pfei-
fenschneider gnte Abnehmer des Bernsteins. Ebenso bedürfen
die Galanteriewaarenfabrikanten große Mengen Bernstein
zu Brocheu, Ohrgehängen, Halsbändern nnd andern: Da-
menfchmncke. Da so große Stücke Bernstein, wie sie zu
großen Pfeifeuarbeiten uud Halsperlen erforderlich sind, von
gleicher Reinheit selten gefunden werden, fo steigt der Preis
für wirklich reine Stücke zu der enormen Höhe, wie oben an-
gegeben. Die höchsten Preise für gewöhnlichen Bernstein
werden zur Zeit in Ostasien, Amerika nnd den Südseeinseln
erzielt. In diesen Ländern wird heute noch der Bernstein
mit Golde aufgewogen. Der Bernsteingrus, die Abfälle und
alles unreine Zeug geht ebenfalls reißend ab — wie man
kaufmännisch zu sagen pflegt —, weil man desselben sehr
viel zum Räuchern, zur Lack-, Sauren-, Salben- u. s. w.
Bereitung bedarf.
Bei der Bernsteinsischerei und -Gräberei findet in Bezng
auf den Zwischenhandel gauz dasselbe statt, was ich früher
über dieses Verhältniß beim Härings- und Dorschsang in
Norwegen mitgetheilt. (Siehe „Globus" 11. Band, 11. und
12. Lieferung. Ferner: 12 Band, 5., 6. und 7. Lieferung.)
Wie nämlich in Norwegen Hunderte von Aufkäuferschiffen
während der Fischzeit überall bei der Haud sind, um den
Fischern die Fänge abzukaufen, fo befinden sich längs des
Ostseestrandes in West- und Ostpreußeu zahlreiche Auskäufer
von Bernstein, so daß jedes von den Fischern oder Gräbern
gefundene Stück fogleich feinen Mann findet. Das Bern-
steingefchäft ist demnach ein sehr umfangreiches und bringt
eine Menge Geld in obengenannte Ostseeprovinzen *).
*) Eine Korrespondenz aus Berlin vom 6. Juni in den Zeitun-
gen lautet: Die Küste der Ostsee ist immer noch reich an Bern-
stein, obgleich derselbe schon seit Jahrtausenden dort gesucht wird.
Ein Kaufmann erwarb sich vor etwa sechs Jahren vom Fiscns das
Recht, im Kurischen Haffe durch Baggerungen Bernstein zu gewin-
nen; er zahlte für die Dauer seines Contractes 25 Thaler pro Ar-
beitstag an die Regierung, und das betrug für diese sechs Jahre
etwa 30,000 Thaler. Er hat jetzt, nachdem sein Vertrags abgelau-
fen ist, um die Erneuerung desselben nachgesucht und für jeden Ar-
beitstag 200 Thaler geboten. Red.
Einblicke in den osmanischen Orient.
Häusliches Leben in Bagdad. -
verbringt. — Die Abendkühle.
Die Stellung der Sklaven. — Tscherkessinnen. — Küche und Speisen. _ Wie man den Tag
- Die Festtage. — Krankheiten und deren Behandlung; Aerzte und Zaubersprüche. — Begräb-
nisse und Todtenklagen.
Weiße Männer werden nie mehr, dagegen Weiber uoch
sehr häufig in den Handel gebracht; anch junge Knabeu un-
terliegeu demselben Schicksal, werden iudeß, sobald sie heran-
wachsen, gemeiniglich freigelassen. Der Knrde, welcher mit
seinen Kindern specnlirt, kleidet das Verfahren in ein gewif-
ses Decornm, indem er z. B. fcheinbar von dem Käufer der
Tochter verlangt, sich mit derselben durch einen Nikiahcon-
tract zn verloben, dann streicht er sein Geld ein und küm-
mert sich nicht mehr um sie. Die Tscherkesseu dagegen, jene
rohen kaukasischen Räuber, haben sich nie ein Gewissen dar-
ans gemacht, ihre weiblichen Verwandten an die Harems zn
verkaufen. Die Reicheren unter ihnen legten zu dem Ende
Einblicke in den
wahre Gestüte an, indem sie ihren Sklaven Frauen gaben,
deren Kinder, mit Ausnahme eines einzigen Sohnes, zum
Profit des Herrn verkauft wurden. Vor einigen Jahren
noch standen ausgezeichnet schöne Tscherkessinnen und Grn-
sierinnen sehr hoch im Preise, nnd es wurden für ein voll-
kommen gewachsenes Mädchen manchmal über 10,000 Gul-
deu gezahlt. Seitdem aber die Russen die kaukasischen Berge
besetzt halten, nnd die wilden Bewohner mit Waffengewalt
zwingen, ihre Heimath mit dem ungastlichen türkischen Bo-
den zu vertauschen, haben sich die Verhältnisse ungemein ge-
ändert. Der Tscherkesse, welcher z. B. in Trapezuut oder
Samsuu anlangte, sah sich aller Hülfsmittel, welche die Mu-
uisiceuz des Großherrn zu seiner Unterbringung bewilligt
hatte, durch die türkischen Beamten und seine eigenen mit den-
selben verbundenen Beis beraubt. Sie suchten die Wurzeln
und Beeren in den Wäldern, um ihr elendes Dasein zu sri-
steu, doch vergebens; denn bald brach der Hungertyphus unter
ihnen aus und raffte wenigstens zwei Dritthelle der Emi-
granten hinweg. In dieser Noth schlug nun, wer dazu Ge-
legeuheit fand, die jüngeren und weiblichen Familienmitglie-
der an die Türken zn wahren Spottpreisen los, so daß hüb-
sche Mädchen von 14 Jahren zn etwa 40 bis 50 Gulden
an den Mann gebracht wurden.
Jetzt ist freilich so gut wie schon ausgeräumt, und das
Resultat wird sein, daß die der Weiber nnd Kinder beraub-
teu Tschcrkesseu bald gänzlich aussterbeil müssen. Der Türke,
welcher den ungeberdigen Gast mit der Pelzmütze eben so
sehr fürchtet, als haßt und verachtet, wird sich niemals her-
ablassen, ihm seine Töchter zur Ehe zu geben. Die Tscher-
kessin ihrerseits gewöhnt sich nicht nur mit Leichtigkeit, sou-
dern mit wahrem Vergnügen an das bequeme türkische Ha-
remsleben, wo sie wenig mehr zn thuu hat, als sich zu baden
und zu kleiden. Keinerlei Arbeit wird ihr aufgebürdet, sie
solgt ihrer Herrin, deren Freundin nnd Vertraute sie bleibt,
und stickt höchstens, wie diese, in Gold und Farben oder raucht
Cigarretteu und Nargilehs. Besser noch gestaltet sich ihr
Loos, wenn der Herr des Hauses sie mit seinen Blicken be-
günstigt, dann wird sie zur Kadine erhoben und erhält häufig
den Rang einer legitimen Gemahlin. Viele wohlhabende
Türken, welche mit Schwiegermüttern u. f. w. uichts zu fchaf-
fen haben möchten, kaufen sich eine schöne Sklavin nnd lassen
dieselbe in den Regeln des türkischen Anstaudes durch ihre
eigene Mutter oder eine andere Verwandte erziehen, und hei-
rathen sie iu aller Form und mit der guten Absicht, sich nicht
von ihr zu scheiden. Angesehene Paschas verfahren noch
großmüthiger und ihre Sklavinnen find sicher, gnt versorgt
zu werden.
Es ist uichts Ungewöhnliches, daß ein reicher Mann ein
mit so schwerem Gelde acqmrirtes Geschöpf schon nach weni-
gen Jahren, ohne sie mittlerweile aus Furcht vor seiner viel-
leicht gefährlich eifersüchtigen Frau berührt zu haben, frei-
läßt und an einen seiner Proteges verheirathet. Wie be-
merkt : die mohammedanischen Sklaven, namentlich die schwar-
zen, welche vordeni in einem thierischen Zustande Afrika nn-
sicher machten, sind fast ohne Ausnahme mit ihrem Loose
sehr zufrieden und fern von dem Ehrgeiz, als unabhängige
Leute, aber auch als Bettler auf der Straße zu verderben.
Man könnte allerdings die guten Aethiopier ruhig in ihren
Wäldern und Sümpfen lassen und den Handel mit Bimanen
— Menschen wäre zu viel Ehre — verbieten und aufheben,
dann aber würde manche ehrliche schwärze Haut auf der Ta-
fei eines feindlichen Häuptlings als Festbraten prangen oder
auf dem Altar eines Fetischgötzen verbluten, die jetzt weiter
nichts zu thun hat, als Abends uud Morgens ein wenig
Wasser auf den Hof und vor die Hausthür zu sprengen.
Zu dem menschlichen Leben gehört, so prosan und pro-
-manischen Orient. 107
saisch es klingen mag, auch die Speise, und die Art ihrer
Zubereitung giebt immer einen Maßstab für den Civilisa-
tionsgrad eines Volkes ab. Verfeinerung in der Küche deutet
auf feine Sitten nnd feinen Geist in der Gesellschaft; doch
mit Ausnahme, denn wollte man die Engländer lediglich nach
ihren gastronomischen Erzeugnissen beurtheilen, so müßte man
sie für wilde Barbaren halten, welche soeben die Eroberung
eines civilisirten Landes gemacht haben. — Der Orientale
ist ein abgesagter Feind von Fleischgerichten, die das Feuer
nur leichthin empfanden; er liebt sie je länger je lieber ge-
kocht und gebraten, und erst wenn sein Hammel sich in Fa-
sern auflöst oder ein kohleuähuliches Ansehen gewinnt, hält
er ihll für gar und feines Gaumens würdig. Das Schaf
ist das Centrnm, um welches sich seine cnlinarische Thätig-
feit dreht. Kujun heute, Kujuu morgen, Kujuu Jahr aus
Jahr ein. Kebab, Braten, nennt er kleine an eine lauge
Nadel gespießte beim Kohlenfeuer geröstete Stückchen Fleisch;
Külbasti sind größere in der Pfanne gebackene Schnitzen.
Das Gemüse, von denen es im Innern der Türkei nur sehr
wenig Abarten giebt, kocht man unabänderlich mit Rippen-
stückchen, die man vorher etwas in Butter angebraten hat.
Das Mehl wird in Bagdad stets stark gesäuert. Zu dem
Ende bewahrt man in jeder Haushaltung den ausgepreßten
Saft der sauren Pomeranze, Nariedsch genannt, ans.
Die Leibspeisen des Volkes sind der schon beschriebene Pi-
lass, mit Reis nlld gehacktem Fleisch gefüllte Gurken und
ähnlich zubereitete aber gestampfte Klöße, und endlich als De-
licatesse: Spiegeleier mit Datteln. Der Kohl ist erst seit eini-
gen Jahren in Irak eingebürgert worden, Kartoffeln werden
aus Persien importirt und sind nur für reiche Leute; dagegen
producirt man eine Fülle von gnrken- und kürbißartigen Ge-
müsen, von denen die Barnim, Patlidschams und die Kabaks
die hervorragendsten und beliebtesten sind. Dem Lande eigen-
thümlich und in ungeheurer Meuge findet sich in den an-
grenzenden Wüsten die Trüffel vor nild ist den ganzen Win-
ter hindurch spottbillig zu haben. Die zahlreichen Wild-
schweine des Euphrat und Tigris mästen sich von diesem
aristokratischen Schwammgewächs und vielen Stämmen der
Araber bieten sie einen nicht weniger willkommenen Beitrag
der Ernährung. Man erkennt sie nach einiger Uebung leicht
an einer kaum merklichen Erhöhung des Bodens und braucht
dann nur mit einem Stabe den Grund aufzuwühlen, um sich
in den Besitz der Gottesgabe zu setzen. So liefert selbst
dieses sonnversengte Land, ans dessen Oberfläche höchstens im
Frühjahr einige kümmerliche Kräuter zum Futter für die
Kameele wachsen, dem Menschen eine schmackhafte und näh-
rende Speise. Uebrigens fehlt den Trüffeln von Irak der
feine Geschmack der französischen, sie enthalten viel Stärke-
mehl und gleichen entfernt einer holländischen Kartoffel. Auch
die Champignons sind sehr häufig uud stehen den unserigeu
an Güte keineswegs nach. —
Wenn die ersten Sonnenstrahlen am Horizonte der Wüste
aufflammen, verläßt der Einwohner sein baumwollengepolster-
tes Lager auf der Terrasse und begiebt sich mit Frau und
Kind in den Hof, dessen Ziegelplatten unterdessen von Die-
nern und Sklaven mit Wasser besprengt wurden. Hier wirft
er sich, in einen leichten kattunenen Schlafrock gehüllt, auf ein
Kissen, das man zu dem Zweck etwa auf einer Matte ans-
gebreitet hat, raucht seinen Tfchibuk oder seinen Nargileh und
trinkt eine kleine Schale unverfälschten Mokka. Bald ver-
spürt er mit feinen Lieben Appetit, er winkt und man prä-
sentirt ihm und seiner Familie eilte eben von einem Fellah-
Weibe gebrachte runde, wasserdichte Schachtel voll saurer
Milch, an der er sich dann durch Vermittlung hölzerner Lös-
sel und von einigen Bissen Brotfladen begleitet nach Ermes-
sen gütlich thut. Dann kleidet er sich in demselben Hose au
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108
Einblicke in den osmanischen Orient.
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und schleudert seinen Geschäften, etwa einer Bude auf der
Tscharschi, nach; die Fran aber liegt ihren häuslichen Sorgen
ob. Um die Mittagszeit kommt der Hausherr auf eiu Stund-
chen wieder, und man servirt ihm dann in dem Serdab
(Wohnkeller) auf der Platte eine warme Mahlzeit, Gemüse
und Pilafs, und als Dessert einige Datteln oder, wenn es
heiß ist, Stücke einer Hochrothen, frischen Wassermeloue. Ge-
sättigt raucht er und kaffeet er wieder und geht neuerdings
an die Plage des Daseins. Vor Sonnenuntergang ist er
zurück. Als frommer Muselmann verfügt er sich vielleicht
nach der benachbarten Dschauü (Moschee) und verrichtet mit
den anderen Gläubigen gemeinsam sein Gebet, doch ist er da-
zu, was meist der Fall, zu saul oder zu vornehm, so spreizt
er zu Hanse den Gebetsteppich aus und kommt hier den An-
sordernngen der dogmatischen Andacht nach.
Zur Sommerzeit könnte man es eher in einem Backofen
als Abeuds in dem Innern der zuglosen Wohnungen aus-
halten. Vergebens sprengt man Wasser; im Gegentheil ge-
ben dadurch die glühenden Ziegel plötzlich ihre Wärme ab
und steigern die an sich schon quälende Temperatur. Daher
steigt man, sobald sich die Sonne senkt, mit Kind und Kegel
auf das flache Dach und schöpft im Winde Athen:; wenn der
Sam weht, dann ist auch diese Erquickung gerade nicht groß.
Hier begiuut nun der Mensch nach des Tages Last und Hitze,
nach der Folter, kann man wohl sagen, die ihm 40" R. und
Milliarden Fliegen bereitet haben, ein wirklicher Mensch zu
sein. Er ißt, vou dem nunmehr zur Ruhe gegangenen Ge-
schmeiß nnbelästigt, voni Winde gefächelt, seine Hauptmahl-
zeit, die aus denselben, aber aus mannichsacheren Gerichten
besteht als seine Mittagstafel. Vielleicht erlaubt er sich den
Luxus eines mageren, faserigen Huhnes und schwelgt in den
Genüssen, die ihm der Halwa, eine süße höchst primitive
Speise aus Zucker, Butter und gebranntem Mehl, bereitet.
Dann trinkt er Wasser und trinkt wieder und wird nicht
entdurstet, denn er weiß das köstliche Labsal, welches jetzt in
seinen porösen antik geformten Bechern und Krügen auf
eigeus dazu augebrachten Holzgerüsten dem Lnftzng ausgesetzt
ist, vollstäudig zu schätzen. Darauf streckt er sich behaglich
aus seinen Divan, den ihm die Sklaven zugerichtet, nieder, raucht
und trinkt Kaffee oder empfängt und macht guten Freunden
Besuche. Wegen der Frauen bleibt der Muselmann lieber
allein und abgeschlossen, doch die Christen laufen gern Abends
einander zu. Der Tschapkyn und der stille Säufer fangen
nun an, den Wonnen des Arraks zu huldigen. Alle Welt be-
findet sich, die Nachtwächter ausgenommen, aus den Terrassen.
An? lebhaftesten geht es in den christlichen Vierteln zu,
wo man sich von einem Dache zum andern unterhält, mit dem
Nachbar Neuigkeiten plaudert und nngenirt Familieusceueu
aufführt. Da übrigens fast alle Terrassen eine Umfassnngs-
inaner, oben aus dünnen der Länge nach aufgerichteten Zie-
geln bestehend, von sieben bis zehn Fuß Höhe haben, so ge-
hört schon eine Absichtlichkeit dazu, um zu beobachten,» was
bei dem Nachbar vorgeht. Das Schauen über diese Mauer,
das heimliche Belauschen der zarten Geheimnisse Anderer ist
verboten, wird als im höchsten Grade unsittlich betrachtet und
zieht gewiß einen heftigen öffentlichen Scandal nach sich.
Den Kindern dagegen nimmt man diese Freiheit nicht übel.
Daß übrigens dabei dennoch mancher, der sich eines hohen
Hauses erfreut, Gelegenheit hat, sich an demselben Anblicke
zu weiden, der König David, hochseligen Andenkens, der sitt-
samen Bethsaba gegenüber entzückte, ist erklärlich. Die Hitze
zwingt die Lente, sich in einen Zustand zu versetzen, der von
dem paradiesischen oft nicht wesentlich verschieden ist. Man
sollte nun nach den Romanen unserer christlichen Schrift-
steller meinen, die schönen Sarazenerinnen würden, die Gm-
tarre in der Hand, zarte Minnelieder mit silberklingender
Stiinme girren und ihrem begeisterten Gebieter üppige Fign-
ren vortanzen; doch davon ist gar keine Rede. Es johlt und
kreischt, vielleicht ein flegelhafter junger Taugenichts mit einer
Branntweinstimme eine unmelodische Weise, es tanzt viel-
leicht ein häßliches Negerweib oder noch beliebter ein Lust-
kuabe in Weiberröcken einen obscönen Tauz vor einer betrun-
kenen Gesellschaft; daraus aber beschränkt sich die arabische
Romantik. Die vertürkten Orientalen haben in Folge gro-
ber Sinnlichkeit und Ausschweifung und des unter ihnen
maßgebend gewordenen hinterlistigen und betrügerischen Krä-
mergeistes alle wahre Poesie verloren. Ihre jetzigen Vers-
macher, die blumenreichen Perser mit einbegriffen, sind elende
nach verrenkten Bildern haschende Reimschmiede.
Hat man sich, jeder nach seiner Art, in der angedeuteten
Form genugsam unterhalten und das Jkindigebet abgethan,
so speist die gesittete Familie noch die Reste einer zu dem
Ende im Winde abgekühlten Wassermelone (Karpns) und
legt sich dann, jedes Mitglied in seine Bettstelle aus Dattel-
blattstengeln, schlafen. Wer da will und es aushalten kann,
verhüllt sich in eiu Mosquitouetz. Die meisten Bewohner
aber ruhen unter freiem Himmel und blicken träumend in
die fnnkelnden Gestirue, seheu wie Jupiter von Sternbild zu
Sternbild laugsam nach Osten rückt, während er im Westen
täglich früher untergeht; sehen wie die Leier näher und naher
zu derselben Stunde der Nacht in ihren Zenith tritt, aber
dennoch an jedem Tage die der Jahreszeit entsprechende Stel-
lnng beibehält, gewahren so den Unterschied zwischen den Fix-
sternen und Planeten und merken sich das Sternjahr und die
darin immensurabelen Umdrehungen des Mondes. Jeder
Araber ist ein wenig Astronom und weiß an den Räumen
des Himmels trefflich Bescheid, obschon ihm die Wunder,
welche das Teleskop allein entdecken kann, entgehen. Von
den Kometen und Finsternissen hat er indeß, wie ich schon
erwähnt, die sonderbarsten Begriffe.
Von dem Alltagsleben unterscheiden sich die Festtage
nur insofern, als alsdann die gewöhnliche Mahlzeit durch
Backwerk und Süßigkeiten bereichert wird. In der Kuchen-
bäckerei ist man unglaublich zurück. Der Gebrauch der Hefe
ist unbekannt. Auch die Torten und Pasteten, von denen ich
in einer Nummer des „Familienjournals" vom Jahre 1857
in einem Berichte über Bagdad gefabelt finde, reduciren sich
auf ein halbgares Gemengsel von Stärkemehl, Butter und
Zucker. Derselbe Tourist spricht auch von Kirschen und
Spargel, Dingen, die der Eingeborene in seinem ganzen Leben
wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommt. Fische liefert der
Tigris in Menge und einige von fo enormer Größe, daß sie
von einem Lastträger nicht fortgeschleppt werden können und
zerschnitten werden müssen. Ihre Classification mag ein
Naturforscher machen; ich habe statt der Flossen, Kiemen,
Mäuler und Schuppen nur das Fleisch geprüft und finde
das der meisten recht schmackhaft; es ist auch ausnehmend
billig, denn man zahlt für die Okka zwei bis drei Piaster,
während sie in Konstautinopel zehn bis zwanzig kostet. Die
Fischerei beschäftigt eine Menge Individuen. Man genießt
die großen und kleinen stets gebraten oder gebacken und mit
Citronensast versäuert.
Was das geschilderte Familienleben meist unterbricht,
sind Krankheiten aller Art. Fühlt sich der Muselmann ernst-
lich unwohl und verliert er das Vertrauen zu den Hausmit-
telu, die in jeder Familie eingebürgert sind, so consultirt er
entweder die Amme seiner Frau oder irgend ein altes Weib
von solidem Ruf uud läßt sie feststellen, ob sein Leiden auf
natürlichem Wege entstanden sei, oder von Hexenwerk und
dem Einfluß böser Geister herrühre. Wenn die wackere Alte
mit ihrer Weisheit zu Ende ist und die Krankheit einen an-
dern als den bekannten klimatischen Charakter zeigt, schließt
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Einblicke in den
sie auf Zauberei und räth, den Teufel und seine Helfershelfer
durch Sympathie zu bekämpfen. Demgemäß wird ein Imam
oder Derwisch herbeigeholt, oder der Kranke, wenn er es ver-
tragen kann, nach der Moschee seines Viertels gebracht. Der
Priester beginnt nun seinen Hokuspokus, indem er aus dem
Koran, dicht vor den Patienten sich hinstellend, einige Suren
mit lauter Stimme abliest. Dann legt er ihm die Hände
auf deu Kopf, drückt ihu hin und her, bläst und schreit ihn
an oder besprengt ihn mit dem als heilkräftig geachteten Was-
ser irgend eines Brunnens. Schließlich schreibt er einige
Verse des Korans anf einen Zettel, überreicht ihn den: Kran-
ken und empfiehlt ihm, denselben entweder in einer silbernen
Kapsel als Amulet auf dem Leibe zu tragen oder irgendwo
in einer Mauerritze seines Hauses zu verstecken. Wenn er
nun ein Uebriges thnt und einen Lappen seiner Kleidung
an einem Orte, sei es ein Baum, das Gitter eines Tempel-
oder Friedhoffensters, sei es irgend ein Platz, wo sich ein be-
grabener Heiliger befindet oder nächtlich umgeht, anbindet, so
ist er gewiß, daß er von seinem Uebel, insoweit es wenigstens
der Einwirkung der Dschin beizumessen ist, befreit werden
wird.
Selbst die Christen glauben an diese Sympathie und
lassen sich in vielen Fällen von den mohammedanischen Prie-
stern behandeln. Jndeß zuweilen wird es augenscheinlich,
daß bei vielen Leiden, aller Entzauberung ungeachtet, ganz
andere Kräfte als die der subordiuirteu Dämone thätig sein
müssen, und man vermuthet endlich, daß Allah persönlich da-
bei im Spiele sei. Dann ist allerdings die Noth groß und
es ist die Vorherbestimmung, welche in ihre Rechte tritt. Das
Kysmet des Mannes ist, daß er sterben muß, und er sterbe
und lasse sich darüber weiter keine grauen Haare wachsen!
Wer jedoch Geld hat, bequemt sich nicht so resignirt in sein
Schicksal, sondern, nachdem er alle Schriftgelehrten, Stern-
denter und Zauberer der Stadt ohne Erfolg consultirt hat,
muß von dem Minaret der Mnesin die Gläubigen öffent-
lich zum Gebet für seine Errettung aus der Todesgefahr
auffordern. Alle Dienste, die der Imam leistet, müssen natür-
lich bezahlt werden. Ist die Krankheit hingegen einer Natur,
von der man weiß, daß sie den Medicamenten weicht, oder ist
einer Freigeist genng, um von ihnen auch in besonderen Fäl-
len Hülfe zu hoffen, so wendet man sich an einen einheimi-
schen Arzt oder Chirurgen. Der eine und der andere sind
Praktiker, die ihr Wissen und ihre Kunst der Erfahrung ver-
danken, welche sie als Barbiere oder Droguenhändler zu sam-
meln angefangen hatten. Von der Anatomie wissen sie nichts.
Wird ein solcher Giftkünstler zu einem Kranken bestellt, so
waffnet er sich mit dem gehörigen Vorrath von Verschlagen-
heit und Quacksalberwürde. Zuerst prüft er den Kranken
und stellt, so gut er kann, seine Diagnose. Ist ihm das
Uebel bekannt und glaubt er es mit einigen hausbackenen
Mitteln heilen zu köuueu, so nimmt er eine gravitätische
Miene an, wird bedenklich und behauptet, der arme Patient
sei dem Tode ganz nahe, sei so gut wie verloren. Wenn
nun der Verurtheilte und die bekümmerte Familie in ihn
dringt und ihn anfleht, doch irgend etwas wenigstens Versuchs-
weise zu verordnen, so läßt er sich allmälig rühren, wird
weicher und weicher und bemerkt endlich, daß die Umstände
zwar verzweifelt seien, er aber als großer Arzt gegen gntes
Honorar allenfalls die Todten auferwecken könne. Nun wird
gehandelt und geschachert, und der schlaue Doctor sixirt eine
Pauschale, die ihm auszuzahlen ist, wenn der Patient voll-
kommen genesen; natürlich rechnet er nnter dem Vorwand,
daß alles Risico auf seiner Seite fei, die Summe fabelhaft
hoch, und unbemittelte Leute müssen ihm oft eine Fiebercnr
mit fünfzig Thalern vergüten. Stirbt sein Mann, so geht
er allerdings leer aus. Dagegen hütet er sich wohl mit
-manischen Orient. 109
Schwindsüchtigen und Leuten, die verjährten Uebeln unterlie-
gen müssen, einen Contract auf Lebeu und Tod abzuschließen;
dann spielt er den Menschenfreund und setzt den Angehörigen
aus einander, daß er freilich die beste Hoffnung hege, den
Mann wieder herzustellen, doch wäre die Summe, die er in
Anbetracht der Verschwendung an Zeit, Kunst und Mitteln
für die definitive Heilung veranschlagen müsse, so hoch, daß
sie gar nicht zu erschwingen sei, und er ihnen daher in ihrem
Interesse riethe, ihm eiu monatliches Fixum contractlich fest-
zustellen. Davon geht er nicht ab, und erst, wenn er das
von den Zeugen untersiegelte Papier in Händen hat, beginnt
er die Cur.
Ein Arzt, der in Bagdad oder überhaupt im Orient an-
ders verfahren und sich auf die Ehrbarkeit und Dankbarkeit
feiner Kunden verlassen wollte, müßte verhungern. In einer
Stadt von 50,000 bis 100,000 Einwohnern vermag sich
auch nicht ein einziger europäischer Doctor, der uicht auf die
beschriebenen Charlatankünste eingeht, von seiner Praxis zu
ernähren. Derartige Versuche sind, Konstantinopel, Smyrna
und Beirut etwa ausgenommen, stets kläglich gescheitert, und
die Aerzte, welche man im Innern findet, sind entweder in
Negiernngsdiensten oder sie fristen ihr Dasein, indem sie ne-
benbei mit Apothekerwaaren Handel treiben. — Doch auch
das Apothekergeschäft ist durchaus keiu glänzendes. Der Arzt,
der sich nicht vorausbezahlen läßt oder getrost, was er Schwarz
auf Weiß erhält, nach Hause trägt, ist ein betrogener Mann
und erntet für seine Mühe und vielleicht Unkosten nicht ein-
mal einen Dank, dagegen macht der gewiefte Charlatan oft
glänzende Geschäfte. Ein besonders glücklicher, noch gar
nicht ausgebeuteter Industriezweig wäre, iu Irak und Ära-
bien mit einem Stück Höllenstein ans den Dörfern herumzu-
reisen und mittelst einer schwachen Auslösung desselben die
zahlreichen Augenkranken gegen gleich baare Bezahlung zu
heilen.
Helfen weder Zaubersprüche, noch Sympathien, noch
Ammentränkchen, noch Drognen und tritt der snpreme Mo-
ment ein, der den Menschen der Erde znrückgiebt, von der
er genommen ist, so lauschen die Angehörigen, um das Lager
versammelt, mit steigender aber stummer Angst, wie die Schat-
ten des Todes die Blicke des Sterbeudeu mehr und mehr
verdüstern. Kauui aber flieht der letzte Seufzer über die
fahlen Lippen und die erstarrenden Glieder strecken sich noch
einmal, um sich nimmermehr zu rühren, so bricht Plötzlich
der nmhsam verhaltene Jammer der Weiber, mögen sie nun
Verwandte oder Freunde oder Neugierige sein, in wahrhaft
herzzerreißenden Sceuen los. Empfinden Naturmenschen den
tiefen Schmerz der Trauer in einem höhern Grade als Cul-
turmenschen oder wissen sie ihre Gefühle weniger zu verber-
gen; geuug, wer eine Todtenklage von Orientalen nicht mit
angesehen hat, kann sich keine Vorstellnng machen, wie er-
greifend der Verlust eines Angehörigen von ihnen aufgefaßt
wird. Mag auch viel Couveuieuz dabei im Spiele fein, so
läßt sich doch der Beweis von großer Anhänglichkeit und
Liebe in ihren nngemessenen Schmerzansbrüchen nicht ver-
kennen. Die Männer bezähmen meist ihre Empfindungen
und trauern still, aber die Weiber verfallen geradezu in eine
Art Raserei. Sie zerreißen sich die Kleider, sie zerraufen
sich die Haare, sie schlageU heftig au ihre Brüste, sie wälzen
sich auf dem Boden und streueu, von Minute zu Minute
laut aufkreischend, Staub und Asche auf ihre Häupter. Sind
sie total erschöpft, so rufen sie dennoch unaufhörlich den Na-
men des Verblichenen, z. B. „Aali! Aali! Aali! Wo bist
du, Aali! Warum bist du todt, Aali! O wäre ich für dich
gestorben! O Aali! Aali! Aali!" Andere nicht direct bei
dem Todesfall betheiligte Frauen suchen vergebens die Haupt-
leidtragenden zu beruhigen, sie reißen sich, wenn sie können,
110 ' Einblicke in den l
gewaltsam von den Trösterinnen los, geberden sich wo mög-
(ich noch nnsiniger als zuvor und häufen mit einer wahren
Wuth rasch und mit beiden Händen den Staub zu ihren
Füßen über sich.
Unter der Wehklage, die man in dem ganzen Stadtviertel
hören kann, kommt der Jmam, zu desseu Sprengel der Ver-
storbene gehörte, und trifft sogleich die Vorbereitungen zu dm
Begräbuiß; denn im Orient wird der Todte an dem Tage
seines Hinscheidens beerdigt. Der Leichnam bleibt höchstens
eine Nacht über im Hause. Zuerst wird in dein großen
Waschkessel Wasser heiß gemacht; die Weiber müssen sich
entfernen und nun entkleiden eigens dazu bestimmte Leute
den Todteu und brühen ihn ab. Das kochende Wasser giebt
den erstarrten Gliedern nicht nur ihre Biegsamkeit wieder,
so daß der Körper in die gewünschte Lage, gestreckt und mit
dem Gesichte auswärts, gebracht werden kann, sondern dient
gleichzeitig auch als Mittel, um deu Scheiutod oder deu Starr-
krampf zu entdecken. Es ist kaum denkbar, daß eine derartige
Krankheitserscheinung bei einem so radicalen Verfahren uu-
empfindlich bleibt. Nach der Abwaschung, die gewöhnlich in
dem Hofe des Selamliks ans einem hölzernen Gestell vorge-
nommen wird, kleidet man den Leichnam wieder an und legt
ihn in den Sarg. Dies ist ein ans rohen Brettern zu-
sammengenagelter Kasteu von der Form des Körpers, so
daß er, wo die Schultern zu liegen kommen, etwas breiter
ist, als an seinen Enden. Einen Deckel hat er nicht, weil
die Mohammedaner sich einbilden, daß der Todte bei der
Wiederauserstehung am jüngsten Gericht daran Anstoß neh-
men und nicht bequem seiu Grab verlassen könne. — Sie
müssen ihrem Pappelholz demnach eine ungemeine Dauer
zutrauen. — Statt dessen breitet man ein Zeng über den
Sarg aus, das bei den Reichen ans einem echten Shawl
besteht. Dies fällt den Arbeitern zu, die es zu ihrem Vor-
theil verkaufen. Mittlerweile haben sich die Freunde und
Bekannten des Verblicheneu versammelt. Ist Alles fertig, so
heben die jüngeren mit der einfachen Bahre oder auch wohl
ohne dieselbe den Sarg selbst auf uud der Zug setzt sich nach
dem Friedhof in Bewegung. Feierlichkeiten und Ceremonien
sind dabei nicht üblich. Der Leichenzug bewegt sich im raschen
Schritt durch die Straßen und die Träger lösen sich während
des Ganges gegenseitig ab. Ist einer ermüdet, so winkt er
seinem Kameraden, dieser tritt für ihn ein und so kommt
man ohne Aufenthalt vorwärts.
Am Grabe selbst beginnen die von dem Islam vorge-
schriebenen Gebete; der Jmam leitet den Ritus uud die
Menge nimmt daran Antheil. Die Grnft ist meist nur vier
Fuß tief; ist der Sarg hineingesenkt, so bedeckt man ihn ge-
wohnlich mit Ziegelplatten und hänft die Erde darüber. Statt
des bei uns üblichen Grabhügels läßt man dann fpäter ein
ihm in der Form ähnliches massives kleines Mauerwerk auf-
führen und dachförmig mit einer Lehmpaste regendicht über-
streichen. Man sucht dadurch den Körper gegen die Angriffe
der Hunde, Ratten und Schakals zu schützen. Reiche Leute
nanifchen Orient.
lassen auch wohl außerdem eine von vier Pfeilern getragene
Kuppel über der letzten Ruhestätte errichten; doch waltet da-
bei weder im Stil noch im Material Eleganz und Aufwand
vor: es siud rohe Ziegeln, Lehm und Kalk. Mit dem Lei-
chenzuge zugleich wird von gemietheten Hammals oder den
Dienern des Hauses auf den Speifeplatten das Todtenmahl
hinausgetragen und dort an die in Schaaren herbeigekom-
menen Armen vertheilt. Jeder erhält seinen aus glasirtem
Thon bestehenden Knmpen. Diese Sitte scheint, wie die
Speise selbst, uralt. Die letztere ist ein süßes Weizengericht.
Das Getreide wird nämlich so lange in Wasser gekocht, bis
es weich ist, dann Milch, Zucker, zerstoßene Mandeln und
Rosiueu zugesetzt uud das Ganze noch etwas länger gesotten.
Auch im Trauerhause verabreicht man den Armen und den
Gästen Mahlzeiten und süße Getränke.
Die Kosten sind bedeutend und erschöpfen nicht weniger
wie Beschneidnngsfeste nnd Hochzeiten die Cassen der Unbe-
mittelten; mancher armen Wittwe wird da unter der Ober-
leitnng genußsüchtiger oder neidischer Verwandten der Rest
ihrer Habe buchstäblich aufgefressen. Das Speisen der Ar-
men wird oft wochenlang fortgefetzt und wiederholt sich an
den Jahrestagen; wer wenigstens seine Anhänglichkeit an den
Verblichenen beweisen will, thnt es, indem er an seinem Grabe
zubereitete Lebensmittel vertheilt. Inzwischen hören dieWei-
ber im Hanse mit ihren Klagen nicht auf und folgen später
dem Sarge, um auch auf der Straße oder dem Friedhofe
die herzzerreißenden Scenen vor dem Publicum zu wieder-
holen. Dabei jedoch herrscht mehr die Sitte als die Empfin-
dung vor. Die wahren Trauernden bleiben daheim und
schreien dort Tag und Nacht ; die anderen sind bezahlte Klage-
weiber und gute Bekannte, die weiter nichts als ein gewisses
Schanspielertalent zur Schau stellen. Nach mehreren Tagen
begeben sich auch die Angehörigen nach dem Grabe nnd wall-
fahren mit einer unverkennbaren Pietät auch fpäter ihr Lebe-
laug dahin, um dort ihr Gebet zu verrichten, wobei sie denn
nie verfehlen, sich dem Paroxismns der Schmerzen und des
Leides hiuzugebeu.
Die Tröstungen der Religion sind den Hinterbliebenen
wesentlich. Um die tief verwundeten Seelen zu heilen,
wird ein Chodscha bestellt nnd bezahlt nnd bleibt oft eine
ganze Woche im Hanse, wo er dann von des Morgens
früh bis zur Schlafenszeit Stellen aus dem Korau vorlesen
muß, die ans die Wiederanferstehnng und die Glückseligkeit
der Rechtgläubigen im Paradiese Bezug haben. Er liest mit
eintöniger, einschläfernder Stimme ununterbrochen fort, ver-
steht meist selbst nicht, was er fagt, und wird noch viel we-
niger verstanden; denn das Altarabische ist von dem nenern
ungemein vereinfachten Dialekt fo verschieden, wie das Alt-
griechische vou dem Neugriechischen. Dennoch wirkt der
Glaube seine Wunder und der Mohammedaner weiß den be-
ruhigenden Effect einer Korausvorlesung auf seiu Gemüth
nicht genug zu rühmen.
L. Hollaender: Dorf- und Städteleben in den nordöstlichen Districten des Caplandes. III
Dorf- und Städteleben in den nordöstlichen Districten des Caplandes.
Von Dr. L. Hollaender.
IV.
Das Haus und dessen Einrichtung. — Der Prädicant. — Arzt und Hebamme.
Landwirthschaft. — 'Regenmangel und Dürre. — Gesundes Klima.
Jahreszeiten und Vegetation. — Haus- und
Monotonie in allen Verhältnissen.
Was die Bauart und Einrichtung der Hänser be-
trifft, so ist in denselben weniger ans Schönheit als aus Be-
quemlichkeit Rücksicht genommen. Mit Ausnahme der früher
beschriebeueu Bauernhäuser, bei denen die Hausthür vou der
Straße direct ins Wohnzimmer führt, stehen die Hänser der
Stadtbewohner meistens allein für sich. Vor der der Straße
zugekehrten Front findet sich stets eine niedliche Veranda,
oder in Ermangelung derselben sind australische Gummi-
bäume oder Trauerweiden gepflanzt. Die Eingangsthür, die
stets in der Mitte des Hauses, führt in einen Gang oder in
einen Vorsaal, von dem rechts und links ein Zimmer sich
befinden. Das linke ist das Empfangs-, das rechte das
Schlafzimmer. Der Gang selber führt direct ins große
Speisezimmer, rechts von demselben ist die Küche nebst Speise-
kammer und links noch ein anderes Schlafzimmer. Das
Speisezimmer erhält sein Licht durch eine große Glasthür,
durch die man entweder in den Hof, oder in einen mühsam
gepflegten Garten hinaustreten kann.
So ist fast jedes Haus beschaffen und gebant. Das Dach
besteht entweder ans eisernen Platten, die auf Holzbohlen liegen,
oder aus einer Lage von Ziegeln, die mit Mörtel und Kalk
bestrichen sind. Die Ausstattung der Zimmer ist stets sehr
elegant. Das Möbel besteht aus massivem Mahagoni und
wird direct aus England oder Amerika importirt, während
die Auskleidung der Kamine, in den besseren Häusern we-
uigsteus, meist aus weißem oder schwarzem Marmor gefertigt
ist. Holz und Arbeit sind so thener am Capland, daß es
fast eben so billig ist, die Marmorverkleidung der Kamine
direct aus Euglaud zu beziehen. In jedem Schlafzimmer
befindet sich ein zweifchläfernes eisernes oder messingenes Bett,
dessen Matratzen mit Wolle gestopft sind, und ein mit einer
Marmortafel belegter Wasch - und Ankleidetisch. Schlaf-
und Empfangzimmer sind vollständig mit Teppichen belegt,
was um so notwendiger ist, als im Sommer des Nachts
die Temperatur sich bedeutend abkühlt und im Winter es
sogar sehr kalt wird, während in der Regel ins Schlafzim-
mer keine Kamine und Herde gebaut werden.
Das schönste und geräumigste Haus besitzt stets der Prä-
dicant (Prediger der holläudisch-reformirten Kirche), und er
bedarf eines solchen um so mehr, als er von Zeit zn Zeit
verschiedene Amtsbrüder mit ihren Familien aufnehmen muß,
wie denn überhaupt die Herren Prediger in den nordöstlichen
Districten gern auf Reisen gehen. Das Pfarrhaus hat stets
die beste Lage, einen sehr großen Garten, der immer so sitnirt
ist, daß mit Leichtigkeit das Flüßchen des Orts zur Bewässe-
ruug iu denselben geleitet werden kann, was für Südafrika
überhaupt sehr wichtig ist, da ohne Irrigation überhaupt
keine Früchte erzielt werden können. Sobald solch ein Stadt-
chen angelegt wird, wird zuerst besonders auf die Lage des
Pfarrhanfes Rücksicht genommen, und um so mehr, als jeder
neue Ort von der Kirche aus gegründet wird.
Hat sich nämlich im Laufe der Zeit die Bevölkerung
eines Districts stark vermehrt und wird es den Bewohnern
zu weit, die nächste Kirche, die vielleicht 9 bis 10 Stunden
von ihnen entfernt ist, zu besuchen, oder faßt in einem Orte
die Kirche die Zahl der Besucher uicht mehr, so wird von
der Gemeinde selber eine passende gut gelegene Farm, die
meist 5000 bis 6000 Morgen groß, in gemessener Entfer-
nung vom jetzigen Kirchorte angekauft. Dieselbe wird ver-
messen, in kleinere Abteilungen und Bauplätze Verth eilt, die
dann in öffentlicher Anction versteigert und schnell von jun-
gen Kaufleuten, die zur neuen Anlage Vertrauen haben, an-
gekauft werden. Vom tteberschuß aus dem Erlös der Bau-
platze werden dann die Kirche und das Pfarrhaus gebaut und
so kommt es häufig vor, daß die Kirche selber ein sehr gutes
Geschäft aus der Anlage eines neuen Städtchens macht, wäh-
rend auf der andern Seite hinwiederum durch einen neuen
Ort eiue neue Gegend der Civilisation geöffnet wird.
So ein neues Dörfchen oder Städtchen wächst um so
schneller, je eher ein passender Pfarrer für dasselbe sich findet
und um so beliebter er bei seinen Pfarrkindern wird. Kommt
dann noch ein tüchtiger Arzt hinzu, zu dem die Boers Ver-
trauen haben und zu dem dann die Kranken von weit und
breit wallfahrten, so finden sich leicht neue Speculauteu,
Kaufleute, Handwerker, Bäcker, Schmiede und Gastwirthe,
die fchnell neue Häuser ballen uud so das Städtchen vergrö-
ßern. Nachdem es dann einige Jahre so fortgegangen ist,
errichtet die Regierung eine Magistratur, schickt einen Staats-
auwalt hin, der Doctor wird, falls er seine wissenschaftliche
Befähigung nachweisen kann, zum Physikus ernannt, Agen-
ten finden sich ein, es bildet sich zur Bestreitung der städti-
scheu Ausgaben eiue Muuicipalität, die von den Bewohnern
gewählt wird und von der Regierung Corporationsrechte er-
hält, — und das Städtchen hat seine vollständige Ansbil-
düng und Entwickelung erreicht.
Es ist daher leicht ersichtlich, welche eigentlich die Haupt-
Personen des Städtcheus sind. Vor Allem zuerst wird der
Prädicant die erste Stellung einnehmen, und um so mehr
Achtllng genießen, je weniger er mit den übrigen Personen
des Ortes einen familiären Verkehr unterhält. Nach ihm
in zweiter Liuie kommt der Magistrat, dann vielleicht der
Doctor und mit ihm zusammen der reichste Kaufherr. Die
Stellung des Doctors ist jedoch ganz und gar vou seiner
Praxis bedingt. Hat er nur wenig Clienten, werden durch
ihn nur wenig oder gar keine Fremde iu das Städtchen ge-
zogen, so wird natürlich sein Ansehen auch ciu unbedeuten-
des sein.
Da ist die Hebamme meist schon eine ganz andere Per-
so». Schon lange ehe noch das Städtchen angelegt wurde,
hatte sie in der Nähe ein Etablissement unterhalten, sich dann
bei der erstell Auctiou ein Stück Land gekauft und ein Häns-
cheu darauf gebaut. Sie ist die älteste Einwohnerin. Sie
kennt die ganze Geschichte der Gegend von Beginn an und
kennt noch alle die reichen Kaufherren, die jetzt behäbig ihren
Backenbart streicheln, um die Brillanten an ihren Fingern
desto besser sehen zu lassen, ans jener Zeit, als sie arm und
112 L. Hollaender: Dorf- und Städteleben i
gedrückt aus Europa oder aus der westlichen Provinz ein-
zogeu, und das einzige Gold, das sie besaßen, in ihrem Trau-
ring, in ihrem guten Namen und iu ihrem Mutterwitz be-
stand. Sie kennt die Geschichte mancher Frau, welche heute
die Lady spielt, aus langer, langer, verschwundener Zeit.
Aber sie ist unter Arbeit, Umsicht und Verschwiegenheit
alt geworden. Sie weiß Alles, aber erzählt nichts. Sie
hat mehr Franen entbunden, als mancher junge Professor
der Geburtshülfe in Europa. Und hat auch manche Fran
unter ihren Händen schneller als nöthig das bessere Jenseits
erreicht, — die Todten sind stumm und ihren Ruhm und
ihre Geschicklichkeit können nur die Lebenden verkünden.
Ein Arzt, welcher nicht von ihr protegirt wird, wird nie-
mals reüssiren, aber glücklich ist jener Doctor, der ihre Gunst
erlangt hat. Ihre Kunst hat sie zwar nicht auf der Hoch-
schule erlernt, aber sie hat unendlich viel erfahren, Vieles
beobachtet nnd mit Aufmerksamkeit sich umgesehen. Vielleicht
hat sie sich in den letzten Jahren ein altes holländisches Heb-
ammenbuch vom Jahre 1749 mit großen Buchstaben gekauft,
das sie vou jetzt ab täglich liest, und weiß auch alle die Wim-
derthätigen Zaubertränke nnd Heilsalben dieses Buches aufs
Beste zu verwerthen.
Ihr Wissen ist autoritativ. Unter allen Frauen des
Dorfes gilt sie als Meisterin und nicht kann sich ihrem Ein-
fluß die junge, erst kürzlich aus Schottland eingewanderte
Dame entziehen, die in ihrem Heimathlande entsetzt gewesen
wäre, wenn die sage femme unseres Städtchens sich ihrem
Bette genähert hätte. Aber in Afrika angelangt, athmet sie
afrikanische Lnft und beginnt an afrikanische Zauberkünste zu
glauben.
In der That haben die meisten dieser Art Hebammen
im Laufe der Zeit sich gauz ansehnliche Kenntnisse erworben,
und wenn sie außerdem, was sehr häufig der Fall ist, forg-
fältig und behutsam sind, so schaffen sie auch in der Regel
viel Gutes und nutzen durch ihre Geduld eiuer armen Ge-
bärenden ost mehr, als ein junger gelehrter Doctor, den sein
heißes Blut und sein Drang, von sich sprechen zu machen
und sich auszuzeichnen, leicht zu Uebereiluugeu hinreißt.
Nebenbei verkauft aber auch die Hebamme uoch verfchie-
deue Gemüse, Weintrauben :c., die sie in ihrem Gärtchen
zieht, und wird so zur wohlhabenden Frau, die ihrem Manne,
einem unbrauchbaren Farmenschulmeister, der meist nichts
thnt, als Sonntags zweimal die Kirche zu besuchen, ein an-
genehmes und behäbiges Leben verschafft.
Da die Erzeugnisse der nordöstlichen Districte fast nur
aus Wolle bestehen, so herrscht reges, geschäftliches Leben
eigentlich nur ein Mal im Jahre im Februar oder März,
wenn die Farmer ihre Prodncte zum Verkauf einbringen, um
sich dafür ihre jährlichen Bedürfnisse an Kaffee, Zucker,
Reis:c. einzuhandeln. Die ganze übrige Zeit im Jahre
vegetirt das ganze geschäftliche Treiben und wird höchstens
durch die früher geschilderten Kirchenfahrten unterbrochen.
Die verschiedenen Jahreszeiten bedingen hingegen keine
oder nur sehr geringe Unterschiede im socialen Leben. Der
Winter, der im Monat Mai beginnt nnd im September
oder October endet, läßt Wiesen und Felder eben so grau
und braun wie der Sommer erscheinen, und regnet es einmal
zufällig im Winter, der in den nordöstlichen Districten meist
sehr trocken bleibt, so läßt die am Mittag sehr kräftige Sonne
(18° R. im Schatten) schnell grünes Gras in die Höhe fchie-
ßen, so daß man sich wieder in den Sommer hinein versetzt
glaubt.
Einen eigentlich grünen Frühling oder Sommer sieht
man im Innern des Caplandes fast niemals. Hat nach
einem dreitägigen Regen Anfang October der Sommer be-
gönnen, — ein Frühling in nnserm Sinne existirt dort
den nordöstlichen Districten des Caplandes.
kaum, — dann bedeckt sich wie mit einem Male das Land
mit dem erfrischendsten Grün, um nach einigen Tagen wie-
der von der Sonne vollständig gedörrt oder verbrannt zu
werden.
Eben fo wenig Abwechselung findet sich in den verschie-
denen Nahrungsmitteln. Schöpsenfleisch bildet Jahr aus
Jahr ein die vorherrschende Fleischnahrung, und von Früch-
ten sind in den nordöstlichen Districten eben nur Orangen,
Pfirsichen und Weintrauben zn genießen. Unser deutsches
Obst, Aepfel, Birnen, Pflaumen und Kirschen, gedeiht ent-
weder gar nicht, oder schmeckt hölzern und trocken, während
Orangen von Zeit zu Zeit nur aus den südlicheren Districten
gebracht werden, und Pfirsichen und Trauben, wenn ganz
reif, kaum den Transport vou der nächsten Farm zum Dorfe
vertragen.
Die wenigen Gemüfe, wie junge Erbsen, Bohnen, Bln-
menkohl, Kartoffeln, Gurken, Melonen :c., die aus den Far-
men gewonnen werden, kommen in der Regel wöchentlich
einmal aus den Marktplatz zur öffentlichen Versteigerung
und werden da von dein versammelten Herrenpnblicum zn
enormen Preisen angetanst. Es ist überhaupt Sitte, daß
die Männer alle derartigen Einkäufe fowie ebenfalls das
Fleisch jeden Morgen vom Fleischer besorgen, falls einmal
ein Ochse geschossen worden, oder es zu heiß gewesen ist, um
zu Hause einen Hammel schlachten zu lassen. Denn Ochsen
werden meistens nicht geschlachtet, sondern man tlibtet sie ein-
fach dadurch, daß man ihnen eine Kugel in die Stirn jagt
und ihnen dann mit einem Stoß ins Genick den Rest giebt.
Man glaubt, daß dadurch das Fleisch schmackhafter bleibe.
Kalbfleisch giebt es, glaube ich, in ganz Südafrika nicht. Da
die Kühe keine Milch mehr geben, wenn ihnen das Kalb ge-
nommen ist, Milch aber dem Farmer unentbehrlich ist, da
er bei jeder Mahlzeit Milch trinkt, so werden Kälber fast
niemals geschlachtet. Um Butter zu bereiten, dazu ist ent-
weder der Farmer zu träge oder aber es lohnt sich auch häu-
fig gar uicht, da die Milch wegen des geringen Fettgehaltes
zu wenig ergiebig ist.
Auch das Schweinefleisch scheint in Südafrika wegen des
mangelnden Futters nicht so schmackhaft wie in Europa zu
sein. Außerdem hat der Farmer eine vollständige Antipathie
gegen das Schwein. Die zwei Morgen Ackerland, die er
kaum umzäunt, fürchtet er, würden von den Schweinen ruinirt
werden, und fo kommt es denn anch, daß jährlich Taufende
von Schinken aus Westphalen nnd ans England eingeführt
werden.
Obgleich es noch eine Menge von Antilopen in den nord-
östlichen Districten giebt, deren Fleisch, wenn mit Fett ge-
spickt, außerordentlich schmackhaft ist, so wird doch selten
im Dorfe dieses Wild gegessen. Hat man eine Antilope ge-
schössen, so giebt es in der Regel keinen Speck, — und um-
gekehrt, hat man Speck, so haben die Antilopen ihre Wan-
dernngen noch nicht begonnen, und so muß man denn auch
aus diesen Genuß verzichten.
In neuerer Zeit haben die Bauern aus der Transvaal-
republik, des entschieden schönsten, fruchtbarsten und Wasser-
reichsten Landes von ganz Südafrika, angefangen, das feste
Fett des Hippopotamns, der noch sehr zahlreich in dem dor-
tigen Lande sich findet, zu räuchern und nebst ihren getrock-
neten vorzüglichen Früchten als Handelsartikel in die eng-
lifche Eolonie zu verseudeu. Aber so zart und schmackhaft
diefes Fett auch ist, bis jetzt haben die europäischen Damen
nnd sehr viele der eingeborenen Engländerinnen und Hollän-
derinnen sich noch nicht daran gewöhnen wollen, dasselbe zn
benutzen.
Flügelvieh, wie Gänse, Enten, Hühner :c., haben in Folge
des durch die anhaltenden Dürren stets trocknen Grases auch
L. Hollaender: Dorf- und Städteleben in
einen sehr zähen Geschmack, und nur die Enten erreichen
eine für Europäer genießbare Eigenschaft, ja werden znm
Leckerbissen, falls man sie im kleinen Stalle mit Kaffirhirse
mästen kann. Aber auch hier geht es häufig so, wie mit
dem Speck, das man für die Antilopen braucht.
Diese immerwährende Trockenheit und Dürre ist aber
ebenfalls ganz charakteristisch für die nordöstlichen Districte
der Capregion. Meist vergehen Jahre, ehe es einmal ordent-
lich regnet, und ist dies der Fall, so geschieht es mit einer
so enormen Vehemenz, daß das Wasser, anstatt in den Bo-
den zu sickern nnd denselben zu befruchten, mit rasender
Schnelligkeit zu deu Flüssen und ins Meer hinabläuft. Mit
dieser Trockenheit verbindet sich eine wunderbare Durchsichtig-
keit der Atmosphäre und Reinheit des Sonnenlichts. Far-
men uud Bäume, von denen man, nach europäischem Maß-
stak gemessen, höchstens einige Minuten entfernt zu sein
glaubt, liegen vielleicht noch eine Stunde weit von dem ver-
trockneten und verstaubten Reiter, der, müde und abgehetzt,
schließlich an eine Lnftspiegeluug zu glauben anfängt.
Aber eben diese Trockenheit der Atmosphäre und Stärke
des Sonnenlichtes hat anch ihre Vorzüge. Feuchtigkeit, schäd-
liche Gase, durch welche Krankheiten erzeugt werden können,
Zersetzungen thierischer oder vegetabilischer Substanzen kom-
men kaum zu Stande, und die Folge davon ist, daß gewisse
Krankheiten, wie z. B. Wechselsieber:c., in diesen Gegenden
niemals entstehen können.
Es ist daher das Klima dieser Capregion ein außerordent-
lich gesundes, uud wenn man sich die nöthige Bewegung
macht, nicht übermäßig im Essen und Trinken ist, kann man
sast sicher sein, niemals krank zu werden.
Eine daher keineswegs auffallende Erscheinung ist das
blühende und kräftige Aussehen sämmtlicher Kinder in so
einem Städtchen. Solche verkrüppelte, verkommene und scro-
phulöse Figuren, wie man sie so häufig iu größeren und
kleineren Städten Europas findet, wird man dort vergebens
suchen. Jedes Kind ist in der Blüthe seiner Gesundheit
nnd strotzt von jugendlicher Frische. Den ganzen Tag im
Freien, badet es sich fortwährend in gesunder Lust, und da
man in einer neuen Ansiedelung die Mehlsuppen und den
Pappbrei Europas nicht kennt, so erhalten die Kinder schon
früh eine kräftige Fleischnahrung, an der niemals Mangel
ist, und werden so zn starken und musculösen Menschen.
Zufolge der ewig trocknen Luft empfindet man auch sel-
teil jene Abspannung und Schlaffheit, wie die Sommerhitze
in Europa sie erzeugt. Trotz einer ziemlich bedeutenden Hitze
im Sommer (25 bis 26° R.) hat man einen bedeutenden
Appetit nach Fleisch uud sonstigen nährenden Speisen, und
so kommt es denn auch, daß uian trotz einer stärkern uud
länger anhaltenden Hitze als der nordeuropäischen, am Cap-
lande kräftig arbeiten uud kräftig bleiben kann.
Was aber in einem solchen Städtchen besonders inter-
essant ist, das ist die große Anzahl junger Leute, deren Haupt-
und Barthaar bereits vollständig grau oder weiß ist, ja man
kann daraus sofort oft schon beim ersten Blick den eingebo-
renen Afrikaner von dem kürzlich eingewanderten Europäer
unterscheiden. Bei dem Farmer (Boer) freilich ist dies
weniger bemerkbar. Denn dieser nimmt seinen Hut niemals,
selbst nicht in seinem Zimmer und in Gegenwart von Frem-
den vou seinem Kopfe, aber bei den Städtebewohnern, die
häufig barhaupt gehen, ist dies leicht ersichtlich. Uebrigens
werden auch junge Europäer, wenn sie erst einige Jahre da
gelebt haben, leicht grau uud weiß und dies scheint auch mit
dem schärfern, Hellern Sonnenlichte zusammenzuhängen, das
diese bleichende Eigenschaft besitzt, — eine Beobachtung, die
Globus XIV. Nr. 4. (August 1868.)
den nordöstlichen Districten des Caplandes. 113
man übrigens auch in manchen Theilen Australiens, wo ähn-
liche Verhältnisse obwalten, gemacht hat.
Diese ebenmäßige Trockenheit, die übrigens periodisch,
man sagt alle sieben Jahre, eintritt, erzeugt aber auch oft
in den nordöstlichen Districten förmliche Hungersnöthe.' Hat
es erst zwei Jahre nicht mehr geregnet, so haben die sämmt-
licheu Farmer der nordöstlichen Districte kein Getreide bauen
können, und es ist dann außerdem nicht möglich, Mehl :c.
von der Küste herauszuschaffen. Da der Gütertransport durch
Ochsen bewirkt wird, so sterben diese vor Wasser- und Gras-
mangel an der Straße, uud auf diese Weise wird jeglicher
Gütertransport unmöglich. Ja im December 1862 ereig-
nete es sich in Hopetown, einer Stadt am Oranjeflusse, daß
die Einwohner ihre letzten Rationen Mehl theilten und Tage
lang keinen Bissen Brot mehr hatten, bis ein anhaltender
Regen endlich der Noth ein Ende machte und Mehl ins
Städtchen geschafft werden konnte.
Either famine or feast — entweder Hungersnot!) oder
Ueberflnß, — entweder übermäßige Dürre nnd
Trockenheit oder übermäßiger Regen sind die Merk-
zeichen für ganz Südafrika. Keine Uebergänge. Ein-
förmigkeit in allen Situationen uud Verhältnissen, gleich-
mäßig und einförmig aussehendes Land, gleiche Charaktere,
gleiche Gedanken, gleichförmige Bestrebungen, ein durch alle
Kreise gleichmäßiges Haschen nach Behaglichkeit, Monotonie
überall, das ist das Symbol des Landes.
Und eben diese Monotonie der Jahreszeiten, diese Mo-
notonie des Landes, der Lebensweise, der Beschäftigung, des
Efsens und Trinkens, — dieses fortwährende, durch keine
kräftige, Geist und Herz erschütternde Ausregung nnterbro-
chene ruhige nnd beschauliche Leben ist es, das dem an Ab-
wechseluug gewöhnten Europäer deu langen Aufenthalt in
Südafrika verleidet. Am glücklichsten und zufriedensten wird
sich stets der ruhig fortarbeitende Handwerker uud jener Kauf-
mann fühlen, der nur darauf bestrebt ist, sich langsam und
allmälig ein Vermögen zu erwerben, uud dem der kleine Kreis,
der ihn umgiebt, nnd die einfachen Verhältnisse, in denen er
sich bewegt, vollkommen genügen. Er hat jedenfalls in Süd-
afrika ein angenehmeres Leben, als er es je in Europa er-
langt hätte. Bei mäßiger Arbeit hat er keine Concnrrenz
zu fürchten und das Wohlergehen einer großen heranwachsen-
den Familie wird ihm keine Sorge verursachen. Seine Kin-
der siud eingeborene Afrikaner, und diese werden stets Süd-
afrika für das schönste Land der Welt halten. Der Gelehrte
hingegen oder jener, dessen ganze Lebensthätigkeit mehr dem
Idealen zugewendet ist, wie der, der in seinem Innern nicht
den Beruf hat, der Pionier zu sein für künftige Generationen,
der wird sich zwar in den ersten Jahren seines Aufenthaltes
in Südafrika außerordentlich gekräftigt fühlen von der ewig
heitern, trocknen, sanerstosfreichen Lust, aber nach einiger Zeit
wird es ihm doch in dieser Ruhe, iu dieser tonlosen Einförmig-
keit des ewig tiefblauen Himmels und der ewig braunen Berge
unheimlich werden uud er wird sich stets zurücksehnen nach Eng-
land oder Deutschland, trotz des dortigen grauen Horizontes
uud des im Allgemeinen ziemlich unangenehmen Klimas.
Aber immerhin wird ihm die Erinnerung an die iu ^>üd-
afrika verlebten Jahre angenehm und heimisch bleiben. ES
ist ein eigenes, ein eigenthümliches Land, — es giebt dort
eigene und eigentümliche Verhältnisse und Menschen und
Entfernung und Erinnerung verklären ja Alles, Land und
Leute, mit einem wohlthuendenZauber und beleuchten häufig
die entsetzlichste Einöde, die einförmigste Scenerie und die
einförmigsten Menschen mit den anmuthigsten Farben uud
nie oder selten wird sie Ehrgeiz oder ein höherer Drang über
die Bahn des Alltäglichen hinaustreiben.
15
114
Mittheilungen über Venezuela.
Mittheilungen über Venezuela.
Von Franz Engel.
I.
Oberfläche; Gebirge, Urwälder, Region der Llanos. — Die verschiedenen Stromgebiete. — Landeserzeugnisse und Handel. — Die
verschiedenen Beständtheile der Bevölkerung. — Die Grundtypen und die Mischlinge. — Charakter derselben. — Ethnische Zu-
sammenhanglosigkeit. — Arbeitsverhältnisse. — Trostlosigkeit der allgemeinen Zustünde.
Geographisch-ethnographische Ueberficht.
Die geographische und durch die Consiguration der Küste
natürlich befestigte Lage Venezuelas gehört zu der bevorzug-
testen aller Gebiete Südamerikas; sie richtet den Blick des
Historiographen unwillkürlich auf die dadurch entschieden an-
gedeutete hohe Bestimmung, die der Zukuuft dieses Landes
ohne Zweifel vorbehalten ist. Von den 754 geographischen
Meilen der Grenzlinie kommen allein 200 aus die Küste,
welche gut geschützte Rhedeu, Buchten und Hafenplätze darbietet,
und von schützenden Inseln gekrönt ist. Ostwärts von Porto-
Cabello bis zum Cabo-Codera erhebt sich in einer Ansdeh-
nnng von 45 Legnas eine hohe Gebirgsmauer steil aus dem
Meere, mehrere tausend Fnß ansteigend und gegen jegliche
Ueberfälle als eine nnübersteigbare Brustwehr schützend; öst-
lich und westlich von dieser Gebirgsmauer ist die Küste wie-
der flach, bis sie bei Cumanä. und am Golf von Coriaco
wieder hoch und steil ansteigt und vortreffliche Hafenplätze
mit gutem Ankergrunde bildet.
Die Oberfläche Venezuelas erhebt sich theilweife zu com-
pacten Gebirgsmaffen, theils dehnt sie sich in weite, gleich-
mäßige Ebenen aus, in die fogeuanuten Llauos und Savauas.
Die Alpenregion zerfällt in drei Gebirgsfysteme: das vene-
zuelanische Andesgebirge, das Küstengebirge und das System
der Sierra Parime. Das erste, zusammenhängend mit der
Ost-Cordillere der Audes von Nen-Granada, fpaltet sich bei
Pamplona in zwei Hauptzweige, deren einer, gegen Norden
nach Ocaüa zulaufend, in der Sierra de Penija und den
Bergen von Oca in der Halbinsel Goajira endet; der an-
dere, bedeutendste, gegen Ost-Nord-Ost zulaufend, durchzieht
die Provinzen von Tachira, Merida, Trujillo uud einen
Theil von Barguifimeto. Diese compacte Gebirgsmasse er-
streckt sich über eine Länge von 95 Leguas bei 18 Leguas
mittlerer Breite und erreicht und überragt an vielen Höhe-
punkten die Schneegrenze, — in den fogeuanuten Pä,ramos
und Sierra Nevadas. Unter Päramos versteht man die
hohen, rauhen und windigen Bergeinöden, wo es beständig
naßkalt ist; sie liegen in der heißen Zone zwischen 9600 bis
12,000 Fuß über dem Meeresspiegel, von dem verkrüppelten
Baum-, Stauden- und Graswuchfe an bis zur Grenze der
Vegetation, sind fast immer in dichten, kalten Nebel gehüllt
und von den Einwohnern sehr gefürchtet; die Grenze des
ewigen Schnees, Nevado, beginnt oberhalb der Paramos, in
der heißen Zone mit 14,000 Fuß über dem Meeresfpiegel;
die Gebirge Mitteleuropas erreichen etwa fchon mit 8000
Fuß die Schneelinie.
Die Llanos, in Natur uud Meufchen im fchroffen Ge-
gensatze zu der Alpenregion, nehmen den vierten Theil des
ganzen Gebietes der Republik ein und dehnen sich von dem
südlichen Abhänge der Küstengebirgskette und der Andeskette
von Merida ununterbrochen bis an die Ufer des Orinoco
und des Rio Guaviare wie ein Grasmeer aus, im Nordeu
vou den Cordilleren, im Süden von den unermeßlichen Wäl-
deru Guyanas begrenzt. Ihrem Localcharakter nach sind sie
in vier Claffen zu unterscheiden: in die Llanos von Cumana
und Barcelona, die von Caracas und Carabobo, die von Vari-
nas und die von Apure. Die östlichen, die von Cumana und
Barcelona, sind reicher an Wasser und frischer iu ihrer Vege-
tation , um so mehr, als sie sich dem Delta des Oriuoco
nähern; die südlichen, die von Apure, habeu eine so horizon-
tale uud gleichmäßig flache Beschaffenheit, daß sich nirgends
nur die geringste Erhöhung des Bodens wahrnehmen läßt;
die von Caracas uud Carabobo sind von kleinen sichtbaren
Neigungen, Hügelreihen und flachen Bänken durchbrochen.
Jene von Varmas endlich neigen sich den Flüssen Portugueza
und Apure sanft zu, sind von zahlreichen Gewässern, die von
der Cordillere herabfallen, bewässert und von fast immer
schiffbaren Strömen begrenzt. Die Savanen aus dem rech-
ten Ufer des Orinoco zeichnen sich vor den Llanos auf dem
linken Ufer durch eine größere Mannichfaltigkeit der Bo-
denbeschasfenheit aus; ihre Oberfläche bietet einen maleri-
fchen Wechsel von Höhenzügen, Hügeln, Wäldern, Flüssen,
Palmengruppen und frischen Ebenen dar, die nicht, wie die
Llanos, am linken Ufer überschwemmt werden, und neben den
reichsten Weiden zugleich den fruchtbarsten Ackergrund besitzen.
Das Gebiet der Urwälder, welches die Llanos und
Savanas begrenzt, ist noch ausgedehnter als die Region der
Ebenen und des Gebirges zusammengenommen. Es umfaßt eine
Oberfläche von 18,214 Quadratleguas (10,300 geographische
deutsche Quadratmeilen), von denen 12,000 Quadratleguas
der Cultur, fähige Urwalduug sind. Ungefähr 40,000 bis
50,000 Menschen, meistentheils unabhängige Indianer, be-
wohnen dieses ganze Gebiet.
Das Gebiet der Llanos, der Weiden, umfaßt einen Flä-
chenranm von 9000 Quadratleguas (5110 geographische
Quadratmeilen). Große Strecken desselben werden jährlich
überschwemmt und dann bleibt die Viehzucht nur auf die
wenig erhabenen Bänke beschränkt.
Das Gebiet der erhöhten und gebirgigen Bodenobersläche,
des Ackerbaues, von der Nordküste bis zu dein Beginne der
Llanos, umfaßt eine Ausdehnung von 8737 Quadratleguas
(fast 5000 geographische Meilen); es gehört zu den frucht-
barsten und schönsten Regionen der nenen Welt, besitzt eine
ausgedehnte Küste mit günstig gelegeneu Häfeu, liegt aber
aus Mangel an Industrie, technischen Hülfs- und Arbeits-
kräften zum größten Theil noch uncultivirt. Die gegenwärtig
cultivirteu und cultivirt gewesenen Ländereien haben nur eiue
Ausdehnung von 500 Quadratleguas; von diesen sollen ge-
genwärtig nur etwas über 50 Quadratleguas wirklich in
Cultur fein; 4500 Quadratleguas sind mit Urwald bedeckt;
1820 Quadratleguas bestehen aus theils ebenem, theils ber-
gigem Laude und der Rest kommt auf nicht cultivirbaren
Boden, auf Gebirge, Seen, Lagunen und Sümpfe.
Die ganze Oberfläche Venezuelas theilt sich in acht na-
t ü r l i ch e B e ck e n, welchen die Gewässer zufließen. Diese sind:
das Becken des Orinoco, des Essequibo, des Rio Negro, des
Sees von Maracaibo, des rings umschlossenen Sees von
Valencia, der Golfe von Cariaco uud Paria und des Antilli-
fchen Meeres. Das größte und wichtigste von allen ist das
Orinocobecken; fast vier Siebentel des ganzen Venezuela-
Mittheilungen
nischen Gebietes gehören zn demselben, und zwei Drittel des
ganzen Flußgebietes dieses wichtigen Stromes dem Gebiete
von Venezuela. Die Mehrzahl der Flüsse fließt in das
Becken des Maracaibo-Sees, das einen Flächenraum von
beinahe 4500 Qnadratlegnas umfaßt, von denen der See
allein 700 einnimmt, und in das Becken des Antillenmee-
res, dessen Stromgebiet — nur Küstenströme — etwa 2900
Qnadratlegnas beträgt. Nächst dem Orinoco und dessen
größeren Nebenflüssen sind mehrere Flüsse des Maracaibosees
und einige der größeren Küstenslüsse schiffbar.
Die materielle Thätigkeit der Bevölkerung ist durch die
Physische Natur des Landes hauptsächlich auf Viehzucht und
Ackerbau hingewiesen, deren sich der Handel, sich ihnen zu-
uächst anschließend, bald in seiner ganzen Ausdehnung be-
mächtigt. Die Hanptprodncte des Ackerbaues des Küsten-
gebietes sind.- Cacao, Kaffee, Zuckerrohr, Bananen, Mais,
Taback, Yucca (Maniok) und verschiedene Feldfrüchte. Die
Ausfuhr au Bodeuproducten beschränkt sich aber nur auf
Kaffee, Cacao, Rinderhäute; in geringerer Menge: Taback,
Indigo, etwas Baumwolle und einige Waldprodncte, als:
Bauholz, Färbeholz, Dividivi, Droguen nnd Arzneistosfe.
Der Werth der Einfuhr kommt dem Werthe der Aus-
fuhr ziemlich gleich; eiue inländische Industrie hat sich in
keiner erwähnenswerthen Weise anfgethan; der fabrikartige
Betrieb beschränkt sich nur auf folche Gegenstände, die mit
der Prodnctenerzeugnng in nächster Beziehung stehen, wie
auf Brennereien nnd Zuckersiedereieu, auf Anfertigung eini-
ger grober baumwollener Stoffe und von Strohhüten aus
Palmenblättern, sogenannten Panamahüteu; eine Ausfuhr
findet aber nur von diesem letztern Fabrikate statt. Der Eon-
sum ist sast eben so groß als die Prodnetion; selbst Nah-
rungsmittel, namentlich nordamerikanisches Mehl, werden
dem Lande zugeführt, anstatt sein reich gesegneter Boden und
seine unermeßlichen Ländereien dieselben naturgemäß aussüh-
ren sollten. Der Aufschwung des Handels ist aber trotz
der politischen unausgesetzten Wirren und der Unsicherheit
aller Zustände in den letzten Iahren in stetem Wachsen be-
griffen. Nach den Zollregistern der Jahre 1832 bis 1834
betrug der jährliche Werth der Einfuhr 3,300,163 Pesos,
der Ausfuhr 3,208,575 Pefos; in dem Jahre 1855 bis
1856 an Einfuhr 6,996,411 Pesos und an Ausfuhr
8,295,130 Pesos. Der Werth der Einsuhr durch den
Schmuggel ist aber auf 1 bis 1V2 Millionen Pesos zu ver-
anschlagen, so daß ein wirklicher Ueberschnß ans der Aus-
suhr kaum erzielt wird.
Die verhältnißmäßig höchste Productioussumme wird in
dem herrlichen Thale von Aragna gewonnen, das, einge-
schlossen von zwei Paralleljochen des Küstengebirges und von
dem Flusse gleichen Namens durchschnitten, ein wahres Pa-
radies der Fruchtbarkeit und landschaftlicher Schönheit zu
nennen ist; im Süden münden Fluß und Thal in den von
malerischen Ufern umkränzten See von Valencia (Tacari-
gna). Im Verhältnisse zu der Summe der Producte steht
auch die iu dieses Thal zusammengedrängte Dichtigkeit der
Bevölkerung.
Die allgemeine Dichtigkeit der Bevölkerung der ganzen
Republik beträgt uach den Angaben von 1852 43,5 pr.
Quadratlegua oder 77,.. pr. deutsche geographische Quadrat-
meile. Die Verkeilung aber ist unter deu Provinzen eine
sehr ungleiche; in der Provinz Barguisimeto z. B. leben auf
dem Räume einer Quadratlegua 401, in der Provinz Marga-
rita sogar 565, während in der Provinz Apure 17 und in
der 20,149 Quadratleguas großen Provinz Guyana nur
0,^ Menschen auf einer Qnadratlegna leben. Die vierzehn
Provinzen der Republik (die Einteilung der Provinzen wech-
selt häufig unter den verschiedenen Regierungen und in neue-
über Venezuela. 115
ster Zeit ist unter der föderalen Regierung die Republik in
eine Gruppe von conföderirten Staaten eingetheilt worden,
die aber bereits wieder einer neuen Umgestaltung entgegen-
sieht) zerfallen in 96 Cantone mit 560 Parochien, deren Ge-
sammtbevölkernng nach dem Ceusus von 1854 1,554,433
Seelen beträgt, sich in dem letzten halben Jahrhundert nn-
gefähr verdoppelt hat. Diese anderthalb Millionen Menschen
bewohnen einen Flächenraum von 35,951 Qnadratlegnas
oder 20,223 deutscheu geographischen Quadratmeilen, also
reichlich ein dreifach größeres Territorium als dasjenige von
Großbritannien und Irland und nicht ganz doppelt fo groß
als das des ehemaligen deutschen Buudes. Dieses Länder-
gebiet, der nordöstliche Theil des Festlandes von Südamerika,
liegt zwischen 1°8' N. Br. und 12° 15' N. Br. und zwi-
schen 60» 36' und 750 33' W. L. von Paris. Gegen Nor-
den wird es von dem Antillenmeere und dem Atlantischen
Ocean, gegen Westen von dem Staatengebiete Nengranadas,
gegen Süden von Brasilien und gegen Osten nnd Südosten
von Britisch Guyana begrenzt. Die Grenze gegen Neu-
granada giebt zwischen beiden Nachbarrepubliken uoch zu
verschiedenen Auslegungen Raum, jedoch haudelt sich die
Streitigkeit nur um einen imaginären Besitz, da die Halb-
insel Goajira weder der einen noch der andern Macht unter-
worfen, sondern von unabhängigen Indianern, den Goajiros,
bewohnt ist. Anch die britische Regiramg erhebt im Süd-
osten noch auf ungefähr 2000 Qnadratlegnas für Britisch
Guyana Anspruch, deren Verhandlungen mit dem ehemali-
-gen Präsidenten Monagas über noch größere Ausdehnungen
hinaus beinahe zum klingenden Abschlnsse gediehen waren,
als dieser seines Amtes durch die Revolution vom Jahre
1858 entsetzt wurde *).
Der jährliche Zuwachs der Bevölkerung Venezuelas durch
den Ueberschnß der Geburten über die Sterbefälle betrug nach
amtlichen, dennoch aber wenig verbürgten Angaben an 15,000
bis 20,000 Seelen, ungefähr 1,« Procent, uud eiueVermeh-
rung von etwa drei Viertel der Gesammtbevölkeruug in einem
halben Jahrhundert. Die Vermehrung der Einwohnerzahl
durch Einwanderung ist nie von Belang gewesen nnd hat
nach einigen mißglückten Jmportationsversuchen und seit den
letzten Jahren unausgesetzter Bürgerkriege ganz aufgehört.
Der also langsam fortschreitende Znwachs berührt die Be-
völkernng nicht gleichmäßig, die sich in verschiedenen Gegen-
den, ohne sich regelmäßig progressiv zu steigern, vorübergehend
vermindert nnd vermehrt. Verheerende Krankheiten sind nicht
so sehr als politische Schäden und Prostitution, sowie na
meutlich Mangel an Einwanderung Ursache dieses schwan-
kenden und geringen Wachsthumes der Bevölkerung. Es
treten die verderblichen Rückwirkungen jener Uebelstände nur
um so klarer zu Tage in einem Laude, dessen geographische
Lage und fruchtbarer Boden alle Bedingungen zn einer leich-
ten Ernährung uud Vermehrung des Menschengeschlechtes in
sich schließen; aber das Heilmittel derselben liegt nur in einer
Verwandlung und Befestigung des gesellschaftlichen und poli-
tischen Organismus, der die Gesellschaft aus ihrer Auflösung
und den Staat ans seiner Schwäche zn wahrhaft freien, ge-
ordneten nnd Bürgschaft leistenden Institutionen und Gesetzes-
kraft hinauszuleiten vermag und dadurch den Strom der Aus-
Wanderungen nach seinen uubevölkerten Territorien zu leiten
sucht. Bevor nicht eine solche Eonsolidirnng eingetreten,
wird das Wachsthum der Bevölkerung schwankend und lang-
sam vorschreiten, der sittliche Verfall und die Indolenz der
Bewohner uicht gehoben, noch die Wohlfahrt und Kräftigung
des Staates in sich realisirt werden.
*) Er ist nun eben jetzt, Juli 1868, wieder obenauf gekommen.
A.
15*
116 • Mittheilungen i
Aus der Mischung der drei auf dem amerikanischen Bo-
den zusammengewürfeltenMeuschenracen entstand einRacen-
gemenge, das alle Farbenschattirungen vonl tiefsten Dunkel
bis zum lichten Hell durchläuft; aber diese naturwidrige Zu-
sammeudräugung und Mischung der Racen sind eine Quelle
des Unheils geworden für jene Länder, in welchen sie bemerk-
stelligt werden. Die Eifersucht der Farbigen nach
Gleichberechtigung nebeneinander und Herrschaft
übereinander hat in ihnen den Keim gegenseitigen
Hasses und hämischer Feindschaft gelegt; die Son-
derheiten der Urracen haben sich in dem Prodncte
ihrerKrenzung nicht miteinander verschmelzen kön-
neu und werden in dem Staatengusse stets Risse
und Ausbrüche bilden. Die leibliche Berührung verschie-
den organisirter und durch verschiedene Himmelsstriche von
einander abgesonderter Menschenarten hat endemische und epi-
demische Seuchen und Hebet erzeugt, die wie eine ewig drohende
Geißel über den Bewohnern jener Ländergebiete schweben. D i e
Racenabneiguug ist eine Naturäußerung, die keine
Logik, keine Civilisation, keine tausendjährigeGe-
meinschaft — wie die tägliche Erfahrung bewahrheitet —
zu unterdrücken vermag. So hat sich der fluchwürdige
Handel mit Menschenleben in seinen Folgen bitter gerächt;
von der Natur bevorzugte Erdstriche sind von den Elementen,
die man willkürlich zusammengeworfen, unterwühlt worden.
Glücklicherweise ist das indianische Blut in dem Mi-
schnngsverhältnisse überwiegend, da die Einfuhr schwarzer
Sklaven auf dem Festlande von Columbien bedeutend gerin-.
ger gewesen ist als auf den westindischen Inseln. Die Ge-
gensätze zwischen indianischer und kaukasischer Race sind we-
mger groß als die der afrikanischen und europäischen; sie
stehen in leiblicher und geistiger Organisation nicht ganz so
weit auseinander und sind daher fähiger zu einer Mischung
und Verschmelzung des Geblütes. Die Ureinwohner — die
Indianer — sind von den Küstenstrichen sast ganz ver-
drängt worden; die „civilisirten" Stämme, die sogenannten
Indios reducidos, die der Cultur und dem christlich-katholischen
Cnltns unterworfen sind und Sprache und Sitte des Landes
angenommen haben, leben im Binnenlande, auf den Cordil-
leren und in den Gras- uud Waldebeuen zerstreut unter-
einander uud sind dort die Träger und Pfleger des Acker-
baues und der Viehzucht geworden. Sie haben ihren Racen-
charakter unverändert, einzelne Stämme sogar ihre Stammes-
sonderheiten uud das Stammgepräge bewahrt und sich, nn-
gemischt mit anderen Stämmen, in einzelne Ortschaften oder
über einzelne Gebirgszüge zusammengezogen. Wenn auch
alle von einer Race abstammen, so prägt sich in der Hellern
oder dunklern Kupferfarbe sowohl wie iu dem Baue des
Körpers uud dem Gesichtsausdrucke uud selbst in dem ab-
weichenden Temperamente ihre S t a m ut e s Verschiedenheit dent-
lich ans. Friedlich und still zurückgezogen cultiviren sie mit
phlegmatischer Beharrlichkeit ihre Felder oder züchten ihre
Pferde, Rinder und Esel. Ihre Scheu und Gefügigkeit ist
der frechen Zudringlichkeit und Halsstarrigkeit des Negers
geradezu entgegengefetzt; es wohnt ihnen eine tiefe Regung
iuue für Heimath uud Familienbande; aber mißtrauisch und
schüchtern gegen jeden Andersfarbigen, abergläubisch in Re-
ligion und Gebräuchen, phlegmatisch und unzuverlässig in
ihren Aussagen, lassen sie sich selten und nur mit Ueber-
Windung zu Lohnarbeiten und Dienstleistungen heranziehen;
sie sind nicht geeignet, aus eigener Kraft mitzuwirken
an dem Aufschwünge und der Kräftigung des Staates, dessen
„Bürger" sie sind.
In ihren Trinkgelagen, die sie zur Zeit der aus Mais
oder Reis gegohreneu Getränke — der Eh ich et — abhal-
ten, oder in den Zusammenkünften an Sonn- und Festtagen,
der Venezuela.
wo sie sich in Branntwein, dem sie sehr zugethau, berauschen,
verwandelt sich ihr stilles, scheues und phlegmatisches Tem-
perament, so lange der Rausch anhält, in wüste, unzubäudi-
gende Tobsucht bis zur Raserei; nach dem Rausche aber
kehrt die alte Gefügigkeit uud das Phlegma zurück. Der
wilde, unabhängige Geist der Väter schlummert uoch ver-
borgen in der Seele der unterdrückten, gebändigten Enkel;
aber nicht mehr fähig, den Bann seiner Ueberwinder zurück-
zuschleuderu, flammt er von Zeiten Zeit in ohnmächtigen
Wuthausbrüchen und Delirien auf, bis er kraust von der
allmäligeu Raceuauflöfuug ganz verschlungen fein wird.
Andere indianische Stämme haben noch ihre nrsprüng-
lichen Sprachen und Sitten unverändert bewahrt, sind jedoch
getauft, und wenn man es für gleichbedeutend erachten will,
auch Christen geworden; sie leben unter kirchlicher und staat-
licher Beaufsichtigung. Diese, Indios cateqnisados genannt,
umsassen den kleinsten Theil der indianischen Bevölkerung,
uud sind mehr dem Namen nnd den statistischen Registern
nach als in Wirklichkeit unterworfen uud christlicher Gesittung
zugeführt. Diejenigen Indios cateqnisados, die von den fpa-
nischen Missionen beherrscht und bis zu einem gewissen Grade
cnltivirt waren, verwilderten während desUnabhängigkeits-
krieges wieder, und die Versuche, die man in neuerer Zeit
wieder angestellt, sie mit friedlichen Waffen zu unterwerfen,
sind im Grunde resultatlos geblieben. Sie bewohnen die
Niederungen, namentlich im Beckengebiete des Orinoco nnd
einiger Flüsse, die sich in den See von Maracaibo ergießen.
Die Indianer, welche dem Kirchen- und Civilregimeute
noch nicht unterworfen, uugetauft uud unbotmäßig sind, In-
dios bravos, wilde Indianer genannt, leben nach ihren meist
verwandten Stämmen und Sprachen geschieden, zurückge-
drängt in die entlegenen und uncultivirten Ländergebiete, zu-
meist in der Provinz Guyaua, dem großen Stromgebiete des
Orinoco, Rio Negro uud Cuyuui; sie gehören größtenteils
zu dem großen caraibisch-brasilianischen Stamme. Einzelne
andere Stämme der Indios bravos haben sogar mitten in
der Civilisation und modernen Bevölkerung ihre Unabhängig-
keit bewahrt wie dieGoajiros auf derHalbiuselGoajira au
dem Golf von Maracaibo, nnd andere kleine vereinzelte Fa-
mitten in dem Beckengebiete des Sees von Maracaibo, und
zwar im Westen und Südwesten des Sees, innerhalb des
Gebietes zwischen dem Gebirge von Occma, dem untern Laufe
der Flüsse Sardienta, Jurru, Catatumbo und Rio do Oro
und der Sierra de Perija.
Eine derartige unausgeglichene Berührung von Cultur
und Uucultur ist nur möglich iu einem so dünn bevölkerten,
zum größten Theil mit Urwald bedeckten Ländergebiete, in
welchem alle Verbindungen abgebrochen und gegenseitige na-
türliche, streng von einander scheidende Grenzmauern aufge-
worfen sind. Ein Gebiet schiebt sich in das andere hinein
wie ein unbekannter Welttheil, an welchem die Menschen
wie an einer Meeresbucht in weiten Bogen und Umwegen
herumziehen.
In der Provinz Guyaua ist die Neugründung von Mis-
sionen wiederholt decretirt worden, aber theils gar nicht
ausgeführt uoch von Erfolgen begleitet gewesen. Bezüglich
der Unterwerfung der Goajiros auf der Halbinsel sind gar
keine Maßregelu getroffen; die beiden Schwesterrepubliken
Venezuela und Neu-Granada, die sich zwar auf den Karten
die Halbinsel einverleibt nnd gegenseitig getheilt haben, be-
gnügen sich mit der Absperrung des Jndianergebietes durch
Militärcordous. Dadurch werden die feindlichen Raubzüge
und Einfälle der Goajiros in die benachbarten Territorien
der beiden Republiken verhütet und wird zugleich der Tausch-
Handel mit ihnen vermittelt. Jedem Eintritte in ihr behaup-
tetes Gebiet stellen sie sich feindselig entgegen, erscheinen aber
Mittheilungen
häusig selbst auf den Märkten voll Rio Hacha und Mara-
caibo und stehen unter ganz besonderm Schutze der Regie-
rungen, da man eine Kränkung ihrer Familie und die Unter-
brechung des Handels behutsam zu vermeiden sucht.
Aus der Vermischung der indianischen mit der kaukasi-
scheu Race (spanischer Nation) entstanden die Mestizen, mit
gelblich-bräunlicher Hautfarbe, bald heller, bald dunkler, je
nachdem die Neigung zum väterlichen oder mütterlichen Ge-
schlechte im Abkömmlinge vorherrscht. Es nähern sich die
Mestizen oft fo sehr der Farbe der weißen Creolen, daß sie
an den unbedeckten Körpertheilen, dem Gesichte und den Hän-
den, kaum von denselben zu unterscheiden sind, da die unbe-
deckte Haut auch der weißen Creolen mehr oder minder von
dem Klima gebräunt oder gegelbt ist, und der Teint unter den
Angehörigen einer und derselben Familie merkwürdig verschic-
den, dunkel und hell, auftritt. Das fchwarze fchlichte indiani-
fche und das volle gewellte dunkle Kopfhaar der kaukasischen
Race (spanischer Nation) verschmilzt gewöhnlich zu einer rei-
chen, langen, lockig-gewellten, glänzend schwarzen Haarfülle.
Während die Indianer, von dem Küstengebiet zurückge-
drängt, das Hochland und die weiten Landstrecken der Llauos
des Orinoco und Cnyuui bewohnen, leben die Neger in den
Küstenstrichen und.in den Niederungen der größeren Flüsse;
ihre Anzahl war von jeher in den Colonien des spanischen
Festlandes eine geringere als aus den Inseln und ist auch
gegenwärtig den anderen beiden Racen gegenüber nicht be-
deutend. Aber sie wohnen sehr concentrirt innerhalb einzel-
ner Gebiete und haben durch die dunklen Mischlinge ihrer
Race, die ihnen geistig und körperlich näher stehen als den
Weißen, und durch gleiche Interessen an sie geknüpft sind,
einen bedeutenden Zuwachs erhalten, so daß sie aus den er-
sten Blick als überwiegend erscheinen und innerhalb einzelner
Gebiete auch in der That überwiegend sind. Dieses par-
tielle Uebergewicht, namentlich in der Provinz Caracas und
den wichtigen Küstenstrichen, berechtigt die Weißen zur Be-
sorguiß und Vorsicht, denn seit den letzten langjährigen Strei-
tigkeiten zwischen den Föderalen und den Unitariern (den
Liberales und Oligarcas) haben sie gegen die weißen Uni-
tarier eine sehr entschiedene und herausfordernde Haltung
eingenommen.
Die Lohnarbeiten aus dem Felde und in den Städten
werden fast vorzugsweise von Negern und Mischlingen ver-
richtet. Diese besitzen nicht die phlegmatische Beharrlichkeit
der Indianer zum Anbau eigeuer, größerer Grundstücke, noch
zur Viehzucht; sie haben keine Neigung zur Gründung einer
eigenen Häuslichkeit, keine besondere Anhänglichkeit an Hei-
math und Familie. Das nothdürstigste Obdach und ein ge-
ringer Bedarf an Nahrungspflanzen genügt ihnen; sie ziehen
es vor, schnell fremden Sold zu gewinnen, als einer all-
mäligen Wohlhabenheit aus eigener Betriebsamkeit anzustre-
beu; so wie sie heute gewinnen, lassen sie morgen den Ver-
dienst wieder zerrinnen. Neugierig, gesellig, zudringlich und
vergnügungssüchtig wählen sie ihren Aufenthalt besonders
gern in den Städten und großen Haciendas, und sind daher
zu Lohndiensten leichter zu vermögen, als die verschlossenen,
scheuen Indianer. Darin liegt der Grund, daß die Sklaven-
emancipation, zumal so gewaltsam und plötzlich, wie sie in
Venezuela stattgefunden, dennoch nicht in dem Maße Hern-
mend und lähmend auf die Erzeugung von Bodenprodncten
eingewirkt hat, wie man hätte annehmen sollen; die Neger
und Mischlinge — die früheren Sklaven — verrichten nach
wie vor die Arbeiterdienste auf den großen Haciendas, nur,
daß ihre Kräfte mehr zersplittert sind und sie dieselben nach
Belieben verwenden; die Indianer, die sich schwer zu Lohn-
diensten bereit finden lassen, haben auch früher ihre Kräfte
nicht in die Wage der großen Bodencultur geworfen.
über Venezuela. 117
Auf dem hifpano-amerikanischen Festlande war die Auf-
Hebung der Sklaverei bereits lauge durch die Befreiung der
Manomizen ') vorbereitet worden, und für die Wohlfahrt
des Landes und die Befestigung des Grundbesitzes wäre es
ersprießlicher gewesen, wenn jene vorbereitete Abschaffung der
Sklaverei nicht durch ein aus der Lust geschleudertes Decret
gewaltsam überstürzt worden wäre. Durch diese plötzliche
Unterbrechung eines allmälig eingeleiteten Dienst- und Ar-
beitsystemes erlitt die Bodencultur eine bedeutende Hemmung
und Erschütterung und der allgemeine Wohlstand eine rück-
schreitende Bewegung. Die Sklaven zerstreuten sich zum gro-
ßen Theile, zersplitterten und verringerten die bisherige Ar-
beitskraft, große Haciendas blieben ohne ausreichende Bedie-
nnng, die Betriebsamkeit ward gelähmt und der cnltivirte
Boden verwilderte theilweise. Die früheren Sklaven, die
ihre Wohnsitze festhielten, wurden Pächter ihrer ehemaligen
Eigentümer, bebauten ihre eigenen Felder und leisteten der
Hacienda nicht die ausreichenden Dienste mehr, die deren An-
läge erforderte, so daß sie zerfielen und zu Grunde gingen
Aber nur allein der große Grundbesitz prodncirt über den
unmittelbaren und localen Consum hinaus; die Neger pflau-
zen nothdürftig so viel, wie sie selber verzehren. Der Ver-
fall der großen Haciendas mußte alsbald allgemeine Stockung
des Wohlstandes nach sich ziehen; die Folgen des übereilten
Aushebungsdecretes machten sich denn auch sofort durch tief
eingreifende Erschütterungen in dem gesellschaftlichen Verbände
geltend.
Nach und nach legten sich die auflösenden Finthen der
überstürzten Sklavenemancipation; durch gegenseitige Coin-
promisse wurde die materielle Thätigkeit nach einem andern
Systeme wieder ausgenommen, das freilich einen weniger
festen Boden gewann und gänzlich auf persönlichen Abmachnu-
gen beruhte; der Sklave ward Lohnarbeiter, der Pachter lei-
stete durch persönliche Dienste Zahlung, und der seßhafte Ar-
beitsmann übernahm die Arbeit in Accord. Zu der ehema-
ligeu Bedeutung und Cultnrausdehnnng kehrten die alten
großen Güter freilich nicht wieder zurück, da die gesteigerten
Betriebskosten der Landwirthfchaft von den Grundbesitzern,
deren Vermögen hauptsächlich in den Sklaven gesteckt hatte,
nicht erschwungen werden konnten; aber die Bodencultur in
engerer Umgrenzung nahm einen bedeutenden Aufschwung
und deckte nicht nur den Ausfall der verfallenen großen
Haciendas, fondern erzielte ein sich beständig steigerndes
Mehr in der allgemeinen Bodenprodnction^).
Das materielle Wohl, das dem Sklaven ans seiner per-
sönlichen Freiheit erwachsen, ist weniger groß, als der mora-
lische Gewinn. Materiell hat er seine Lebenslage kaum ver-
bessert, und er wird eine Verbesserung derselben überhaupt erst
dann herbeiführen, wenn und falls ihm der moralische Werth
der Freiheit tiefer ins Bewußtfeiu übergegangen fein wird. Als
Sklave befaß er eben fo viel und mehr, als er jetzt sein Eigen-
thnm neunt; ihm ward eine Wohnung überwiesen, gleich der
wie er sie jetzt besitzt; zu derselben gehörte ein gewisses Stück
Land, dessen Früchte er verkaufte und deren Ertrag ihm ge-
hörte, wie gegenwärtig; ihm ward Gelegenheit gegeben, seinen
Feldbau zu erweitern und Ersparnisse zn machen zum Rück-
kauf seiner Freiheit, der ihm gegen eine gesetzlich festgestellte
Summe nicht verweigert werden durfte. Er konnte sich nach
der Arbeitszeit, an Sonn- und Festtagen frei ergehen und
*) Manomizen waren die von Sklaven geborenen Kinder, die bis
zn ihrem zwanzigsten Jahre dem Herrn Sklavendienste verrichten
mußten und darauf frei wurden.
") Dieses Mehr, falls es vorhanden ist, statistisch nachgewiesen
zu sehen, wäre von Interesse. Die Ausfuhr ist für ein Land wie
Venezuela geradezu armselig, und der Herr Verfasser bemerkt ja sel-
ber, daß es an Arbeitskräften fehlt. A.
118 ° Mittheilungen
mit seinem Oelde schalten und walten wie er wollte. Vier
Tage war er gezwungen, auf der Hacienda zn arbeiten, die
übrigen drei Tage gehörten ihm zu seiner Erhaltung und
seinem Erwerbe. Jetzt, als „freier" Arbeiter, bekommt er
freilich Zahlung für feine Dienstleistungen, zn denen er ver-
pflichtet ist, übernimmt damit aber auch die alleinige Sorge
für seine Erhaltung, während er als Sklave erhalten werden
mnßte, er mochte nun arbeiten oder nicht. Bon seiner selb-
ständigen Verfügung über Zeit, Mittel und Arbeit weiß er
keinen ausgedehntem Gebrauch zu machen, als in der ehe-
maligen Beschränkung derselben; träge, indolent, ohne
Ehrgeiz, anmaßend, gierig und wollüstig, giebt er
sich, da der Zwaug aufgehört, kaum in fo weit einer Thätig-
keit hin, als zur Bestreitung der kaum nennenswerten Le-
bensbedürfnisse und der Cultur seiner Brotpflanzen erforder-
lich ist. Das materielle Elend ist im Ganzen dasselbe ge-
blieben.
Höher aber steht der moralische Gewinn; in gleiche Rechte
und Pstichten mit den übrigen Staatsangehörigen eingesetzt,
hat er mit diesem Acte zugleich Achtung, Schonung und An-
sehen seiner Person gewonnen, und darin das Fundament
des Ehrgefühles, des Wetteifers und der Betriebsamkeit ge-
suuden; mit dem allmälig erwachenden Gefühle von Würde
und Ehre wird auch das Bestreben nach Deckung der mate-
riellen Blößen, nach einer edlern Verwerthnng der Zeit,
Kräfte nnd Mittel und das Verlangen nach sittlicher Freiheit
geweckt werden*). Bereits hört man aus dem Munde
großer Grundeigentümer die Aenßernng, daß nach der Skla-
venemancipation der Diebstahl seltener geworden, und seit
der Farbige ein Eigenthum besitze, er auch das Eigenthum
Anderer mehr zu achten wisse. Die Zollregister weisen nach,
daß die Ausfuhr an Bodenprodncten ständig zunimmt, daß
namentlich die Kaffeeansfuhr feit der Emaucipatiou fast um
das Fünffache zugenommen hat. Kommt freilich ein Theil
dieses Mehrproduktes auf den Zuwachs der Bevölkerung, fo
kommt doch ein anderer Plnstheil anf die neue Organisation
der Gesellschaft. Der Kaffeebau erfordert einen geringen:
Aufwand an Maffenkraft als z. B. die Zuckerproduction;
daher muß, feit die Massenkraft durch die Sklavenemanci-
pation zusammengeschmolzen, die Kaffeeproduction sich beson-
ders steigern, wenn auch zum Theil auf Kosten anderer
sonst mehr erzielter Bodenprodncte. —
Aus der Mischung der afrikanischen nnd kaukasischen Race
ging der Mulatte hervor, mit dunkel- und hellbrauner
Farbe, jenachdem das Krenznngsproduct mehr von der Väter-
lichen oder der mütterlichen Verwandtschaft ausgenommen hat.
Die Kinder einer und derselben Ehe zeigen oft große Farben-
abstnfnngen zwischen hell und dunkel; die Beschaffenheit des
Haares leitet zuverlässiger zu der Abstammung zurück, als
die Farbe der Haut, die sich oft zwischen den Mischlingen
verschiedener Racen bis zur Deckung nähern kann. Der Kör-
perbau des Mulatten ist schön, gesund und kräftig, seine Ge-
stalt stolz und elastisch, sein Kopf wohlgebildet, fein Geficht
ausdrucksvoll, der Blick seines Auges kühn, feurig und ener-
gisch. — Die Kreuzung der afrikanischen mit der indiaui-
scheu Race erzeugte den Zambo mit schwarzbrauner Haut-
färbe und kurzem, wollig-gekräuseltem Kopfhaar. Die Haut-
färbe variirt wenig, der Körperwuchs ist ausgezeichnet durch
Kraft und Gewandtheit; an geistiger Begabung bleibt der
Zambo hinter dem Mulatten, der Mulatte hinter dem Me-
*) Der Charakterschilderung gegenüber, welche der Herr Verfasser
einige Zeilen weiter oben giebt, erscheint diese Zukunstshoffnnng von
„moralischem" Gewinn sehr luftig. Die ewige Anarchie in Venezuela
zeugt für die ethnische Zerklüftung^und Zerfahrenheit. Mit den ge-
genwärtigen Volksbestandtheilen ist dort eben so wenig etwas Ersprieß-
liches auszurichten als in Mexico, Neugranada zc. A.
über Venezuela.
stizeu zurück, übertrifft aber beide in den Schattenseiten
des Charakters und der physischen Stärke. Die Mischungen
dieser Unterracen unter sich nnd wiedernm mit den Urracen
haben jenes Gemisch von Hantfarben, von Raceneigenthüm-
lichkeiten und Contrasten entstehen lassen, deren Abstufungen
in ihrer großen Zahl fast übergangslos und indefinirbar ge-
worden siud. Durch den weitern Verlauf der Kreuzungen
kehren die Farbenabstufungen allmälig wieder zur Urfarbe
zurück, so daß, nachdem die Trigeniten und Quadrogeniten *)
den Uebergang — die Zwischenstufen — vermittelt haben,
die Quintogeniten bereits wieder zur Urfarbe zurückkehren.
Die Vertheiluug der Bevölkerung Venezuelas nach den
verschiedenen Racen beträgt nach den letzten genaueren An-
gaben — freilich fchon vom Jahre 1839 — wie folgt:
Weiße (Hifpano-Amerikaner und Fremde) . , 260,000
Gemischte Race (Mischlinge von Weißen, Ne-
gern nnd Indianern durch verschiedene Ab-
stnfungen).............414,150
Neger............... 49,782
Indianer:
1) civilifirte 155,000 j
2) unterworfene 14,000 ....... 221,000
3) unabhängige 52,000j
Die drei Urracen: Weiße, Indianer und Neger, mit den
drei Unterracen: Mestizen, Mulatten und Zambos, bilden
ein Volksconglomerat, das, zwar von Einem Staatsverbande
umfaßt, doch in sich einen unheilbaren Widerstreit
von Interessen, Kräften, Begabungen, Bedürfnis-
sen und Charakteren einschließt; aber die weitere Ver-
Mischung dieser Primären Racenverschmelznng in secnndäre,
tertiäre und qnaternäre Abstufungen verzerrt das pfycholo-
gische Volksmonstrum zu einer sich selbst verschlin-
genden und wiederspeiendenGrimasse; wederdasVolk
noch das Individuum ist in sich individuell, sondern eine An-
Häufung von abgesonderten Individualismen; wenn aber das
Einzelne eine Zusammenwürfelnng von willkürlichen, gegen-
einander wirkenden und sich zersetzenden Kräften ist, so gelangt
auch die Summe derselben zu keiner Einheit, Selbstän-
digkeit und Eigentümlichkeit. Mag nun der Lauf der
Jahrhunderte das Conglomerat zu derartig feinen Atomen auf-
lösen, daß sie keinen Ranm mehr bieten zu Unterscheidungen,
mag das Endziel aller Racenverschmelznngen die Entstehung
einer neuen Race oder die Rückkehr zu der lebenskräftigsten
Urrace fein, oder die gegenwärtige Bevölkerung, wie sie es
vorher mit den Urbewohnern des Landes gethan, von außen
her durch einen neuen Volksstamm verdrängt oder doch über-
wältigt und ausgelöst werden, — nur die eine oder die an-
dere Folge wird das Gleichgewicht der Naturgesetze und aus
der Summe von Individualismen ein Volk und Jndividna-
litäten wiederherstellen**). —
Gegenwärtig ist noch die weiße Farbe im Besitze des höch-
sten gesellschaftlichen Ansehens und des politischen Uebergewich-
tes; eine politische Aristokratie, durch Adel, Orden, Titel und
Standesvorrechte charakterisirt, besteht aber nicht in der Ge-
sellschast, sondern Farbe, Abkunft, Bildung und Wohlstand
begründen eine in sich ezclusive, aber nicht innerhalb der Ge-
sellschast eximirte Aristokratie. Die Handhabung und Bean-
spruchuug der politischen Führung von Seiten dieser Aristo-
kratie beruht nicht auf unberechtigter Eigenmächtigkeit, fon-
*) Trigeniten sind Abkömmlinge _ von Weißen und Mestizen;
Quadrogeniten von Weißen und Trigeniten; Quintageniten von Wei-
ßen und Quadrogeniten -c.
") Es leuchtet ein, daß bei einem solchen „Volksmonstrum" von
„moralischem Gewinn" keine Rede sein kann. A.
Mittheilungen
berrt in Bestimmung und Beruf, denn keine andere Leitung
des Staates, die auf dem Volksconglomerate basirt, kann je-
mals aus dem Chaos widerstreitender Kräfte herausführen.
Nach der Losreißung von dem Mutterlande sind die alten
Ideen und Borurtheile einer in Titel und Stände, Privile-
gien und Gewalten gegliederten Gesellschaft nicht nur äußer-
lich, fondern dem ganzen Wesen nach von den republikanischen
Institutionen absorbirt worden. Die öffentliche Meinung
— um diesen modernen Ausdruck für die zu einer Macht
gewordene Geistesströmung zu gebrauchen — ist in dem
Jnstincte der eigenen nationalen Ohnmacht und des Rück-
standes in der vorgeschrittenen Civilisation aus Neuerungen
und Verleugnung des Bestehenden gerichtet; sie hat sich aus
den alten starren Formen losgewunden, das egoistische Ab-
schließnngssystem durchbrochen, neue Sitten und Gebräuche
angenommen und begehrt den Staatsbau auf der Basis aus-
ländifcher, antispanischer Institutionen.
Jedoch wie überall die wohlmeinenden und klar durch-
dachten Priucipieu von fanatischen, unklaren und böswilligen
Köpfen und dem großen, nrtheilsunsähigen Hailfen verzerrt
und mißdeutet werden, so auch hier. Das Verlangen nach
Neubelebung der alten erstarrten Formen artete in verwerf-
liche Neuerungssucht aus, die selbst die Verwischung der eigeu-
thümlicheu, nationalen Züge, wo solche noch aus dem Volks-
conglomerate hervortraten, nicht fürchtete. Das Aufgeben oder
Uebertünchen nationaler Eigentümlichkeiten und Berechtigung
bleibt aber niemals ungestraft; das eigene Wesen verkehrt
sich niemals in ein fremdes Wesen, und wird durch jede
künstliche Einbettung wie dnrch jede Störung und Verrückung
seiner Entwickelnngsphasen weder das Eine noch das Andere,
sondern ein Monstrum. — Der innere Halt und Gehalt,
den eine Nation nur iu den seiner Nationalität und Geistes-
richtuug wahrhaft angemessenen und geachteten Institutionen
gewinnt, ging dem neuen, republikanischen Staate mit dem
Aufgeben der ihm angemessenen Traditionen des Mntterlan-
des verloren; er verfiel in Verirrungen und Ausschweifun-
gen, die, je mehr sie den eigenen Charakter verleugneten, um
so mehr auch jedes realen Stützpunktes entbehrten, und statt
zu einer Confolidirung auf neuen lebensfähigen und lebens-
frischen, aber dem eigenen Charakter homogenen Grundlagen
zu führen, die an sich schon künstliche Verschmelzung der
Racenbestandtheile gänzlich lockerte, alle Parteien schwächte und
keine einzige zur Erhaltung des Gleichgewichtes kräftigte.
Die Staaten von Columbien bieten gegenwärtig nur den
traurigen Anblick einer Willkür-Vielherrfchaft von Partei-
gäugern dar, deren einzelne Häupter innerhalb ihrer Macht-
sphäre die jedesmalige Regierungsform ihrer Fahne verkün-
den uud iu Scene fetzen, und sich als die alleinigen legitimen
Bevollmächtigten und Vollstrecker des gesammten souveränen
Volkswillens geriren. Innerhalb der einzelnen Parteibanden
bilden sich aber wiederum verschiedene Parteischattirungen,
und es sind nicht allgemein vaterländische Interessen, sondern
ebenso sehr Personal-, Canton-, Provinzial- uud Gemeinde-
interessen, welche dieselben ins Leben rufen und sich einander
mit großer Erbitterung bekämpfen; Städte und Dörfer liegen
mit einander in offener Fehde, und wo der klare Ausdruck der
politischen Parteistellung ein Ende findet, treten leere Erfin-
düngen oder Familiennaulen als Feldgeschrei an deren Stelle,
um welches sich die Kämpfenden aus Speculation, Raus*
über Venezuela. 119
und Gewinnsucht schaareu und gegenübertreten. Die zwei
Hauptlager, die sich seit der Beseitigung des Militärdespoten
Mouagas im offenen Kampfe gegenüberstehen, ringen einer-
feits nach der Centralisation, nach der Conföderation der
Staatengebiete, zwischen welchen der Sieg sich abwechselnd
hin- und herneigt. Es lag in der Natur der Sache, daß
die weiße Race mit der ganzen und vereinten Kraft nach
der Centralisation strebte, denn nur so lange, als der Schwer-
Punkt der Autorität uud physischen Gewalt in ihrer Hand
ruht, als sie gewissermaßen ein Kastenregiment führt, wird
sie ihr Uebergewicht gegen die ihr an Zahl fast zehnfach über-
legenen farbigen Racen behaupten können. Ein gleicher Be-
weggrnnd, nur zu eutgegeugesetzteuZwecken, führte die Far-
bigen hauptsächlich iu das föderale Lager, denn sie schließen
folgerecht, daß die selbständige Leitung und Bewahrung der Son-
derinteressen von neun Zehntel» der Bevölkerung das eine Zehn-
tel allmälig absorbireu muß. Persönlicher Ehrgeiz, Selbst-
sucht, Rauflust und Liederlichkeit, wie auch redliche Ueberzeu-
gnng führte diesem und jenem Lager seine Streiter zn; aber
die sich wiederum gegenüberstehenden Interessen der Farbigen
und die Charaktergegensätze zwischen den Montaüeros (Be-
wohnern der Gebirge) und den Llaneros (Bewohnern der Ebene),
wie die der Fluß- und Küstenniedernngen spalteten diese sel-
ber und trieben sie wechselweise in die sich einander gegen-
überstehenden Lager; die Weißen bedienten sich der Farbigen
zu ihren Zwecken, und diese hofften nach Ausfechtnng des
gemeinsamen Principes das Heft des Schwertes an sich zu
reißen; daher das immerfort sich wiederholende Schauspiel
vou Parteizersplitteruugen in dem eigenen Schooße jeder kaum
zur Herrschaft gelangte» Regierung.
Seit der Trennung von der Republik Columbia im Jahre
1829 hat Beuezuela bereits zum vierten Male seine Consti-
tutiou geändert, dieselbe verschiedene Male unter Dietatnr
außer Kraft gesetzt und geht aller Wahrscheinlichkeit nach
bald wieder einer Umwälzung entgegen. Während mei-
nes fünfjährigen Aufenthaltes in den columbifchen
Staaten wurden fünf Präsidenten hinter einander
ihres Amtes entsetzt, mehrere Pronnnciamientos
erlassen, eine Dictatnr erhoben und die legitime Re-
gierung von mehreren Gewalten zugleich beansprucht; die ge-
setzmäßige Dauer eiues Präsidiums soll freilich fünf Jahre
betragen. Die Folgen solcher unausgesetzten Schwankungen
der öffentlichen Zustände sind: Demoralisation des gesanun-
teu Beamtenthums, Mißachtung und Machtlosigkeit der Ge-
setze, Wirkungslosigkeit der vorzüglichsten Berfassungsurkuu-
den, Rückschritt in der allgemeinen Wohlfahrt des Landes,
unmerkliches Wachsthum der Bevölkerung, Hintertreibung
der Einwanderung und andere fressende Schäden mehr.
Selbst uneigennützige, von warmem Patriotismus beseelte
Männer, von Gleichgesinnten an das Staatsruder gestellt,
vermögen nicht mehr dem Uebel mit Nachdruck entgegeuzu-
treten; die Beamten unterstützen sie nicht in der Vollstreckung
ihres Willens, die Staatscassen sind geleert, alle Maßregeln
stocken auf halbem Wege bei der Unzulänglichkeit der Hülfs-
mittel, und die Volksmasse ist dnrch den permanenten Aus-
nahmeznstand in ein unheilvolles Mißtrauen, in Eigennutz,
Jndisserentismus und Thatlosigkeit versunken, daß sie nur
noch durch Zwang und Drohnng zur Unterstützung und zum
Gehorsam veranlaßt werden kann.
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120
Robert Schomburgk: Die Arekanuß und das Betelblntt als Reizmittel in Siam.
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Die Arekanuß und das Betelblatt als Reizmittel in Siam.
Von Robert Schomburgk.
Die Wichtigkeit der Betelnuß *) bei den siamesischen
Hochzeitsfeierlichkeiten ist schon mehrfach hervorgehoben worden,
ja, diese Frucht ist es, welche der ganzen Ceremonie den Na-
inen giebt. In Begleitung von drei anderen Speisen:
1) einem Kuchen, K'änöm-Cheen genannt, auf einer großen
Platte dargereicht, 2) einer Art von Fleischpastete in Ba-
nanenblätter gewickelt und 3) Siriblatt und rothem Kalk in
einer andern Schale führt sie den Namen: K'anmak —
wörtlich „eine Schüssel Betelnuß" — dies der gewöhnliche
Name für: Hochzeit.
Unter den namhaftesten Bäumen von Siam — sämmt-
lich Palmenarten — nehmen Kokosnußbaum, Palmyrapalme
(zuckerhaltig) nnd „Betelnußbaum" den ersten Rang ein.
Letztgenannter — die Arekapalme — gedeiht in den
Ebenen Siams vorzüglich. Seine mittlere Höhe beträgt
gegen 90 Fuß. Der Wuchs ist sehr schlank, der Durchmesser,
2 Fuß, vermindert sich in der Höhe des Stammes bis ans
6 Zoll, welche Stärke er dann bis zum äußersten Gipfel
beibehält.
Der Stamm hat ein faseriges Mark von etwa 3 Zoll
Durchmesser. Obgleich botanisch zu den grasartigen Pflanzen
gezählt, liefert der Stamm doch ein festes Holz, vorzugsweise
zum Dielen der Fußböden verwendbar.
Die Rinde ist von lichter Aschfarbe; in Parallelkreisen,
etwa 6 Zoll breit, zeigen sich die Stellen, wo die früheren
Blätter gesessen haben.
Der Stamm ist bewundernswürdig schlank und glatt,
ohne den geringsten Ast oder Knoten bis 2 oder 3 Fuß un-
terhalb der Spitze, wo sich ein Tust von 6 bis 8 Blättern
befindet, die au der Spitze ihres Zweiges fitzeu, ebeufo wie
das Zuckerrohrblatt auf seinem Stengel sitzt. Jedes Blatt
hat einen 6 Zoll langen nackten Stiel, über diesem sitzeu zu
jeder Seite au des Blattes Rippe 10 bis 13 Blättchen, 3
bis 4 Zoll groß, sie alle zusammen bilden erst das vollstän-
dige Blatt, 5 Fuß oder mehr in der Länge, graciös auf- oder
abwärts gebogen.
Die Gipfel der Arekapalme sind der der Kokospalme
ähnlich, aber kleiner als diese und mit gröberen Blüthen,
deren Spitzen etwas stumpfer besetzt. Dieser verhältnißmä-
*) „Für vielleicht weit über 50 Millionen Menschen, von Ost-
indien im Westen bis nach China und weit nach Oceanien hinein,
ist die Frucht der schönen und schlanken Arekapalme, Areca Ca-
techu, ein unentbehrliches Reizmittel. Dieser Baum hat eine
weite Verbreitungssphäre, nach Osten hin bis zu den Carolinen und
zu den Gesellschaftsinseln, und kommt insbesondere auf den Eilanden
des indischem Archipelagns vor. Das Wort A reka gehört der Telinga-
spräche (Vorderindien) an; die Malayen nennen den Baum Piuang.
Schon im sechsten Jahre trägt er Früchte und giebt im Jahre zwei
Ernten. Man kauet die Nuß, welche etwas größer ist als eine
Mnskatnnß; sie wird in längliche Stücke zerschlagen und in das
Blatt der Vetelrebc, Piper betle oder bete], gewickelt. Diese
Psefferrebe wird eben ihrer Blätter wegen, die einen zugleich kraut-
artigen und aromatischen Geschmack haben, überall angebaut, wo die
Arekapalme wächst; von den Malayen wird sie Siri oder Sireh
genannt. Es ist durchaus unstatthaft, von einer Vetelnuß zu
sprechen; man sollte immer nur Arekanuß und Betel- oder Siri-
Blatt schreiben. Selbst der Botaniker Meyen spricht in seiner
Pflanzengeographie von Betel nüssen! Die Siri-Pfefferrebe liefert
schon im zweiten Jahre brauchbare Blätter und trägt gut bis ins
dreißigste. Bevor man die Arekanuß einwickelt, bestreicht man das
Betelblatt mit angefeuchtetem, aus Muscheln zerriebenem Kalke oder
setzt etwas Gambir (Terra japonica, Catechu) hinzu." Karl
Andree, Geographie des Welthandels, l, S. 585.
ßigeu Kleinheit ihrer Wipfel verdankt die Arekapalme wahr-
scheinlich ihre aufrechte Haltung, während ihre Nachbaren,
die Kokosbämne, gewöhnlich nach allen Richtungen sich bie-
gext. Letztere leiden deshalb auch mehr als ihre schlanken
Schwestern vou jedem Windhauche, der sie berührt.
Die Wurzeln dieser beiden Bäume erscheinen gleichartig
stark und bestehen aus einem großen Bündel kleiner, doch
zäher Verzweigungen, von einem gemeinschaftlichen Mittel-
punkte ausgehend, welcher sich durch ein sehr loses, faseriges
Gewebe auszeichnet.
Gewöhnlich sindet mau die Arekabäume in regelmäßiger
Ordnung 8 bis 10 Fuß von einander getrennt, in zwei
Reihen auf je einem Beete des Obstgartens. Da die Bäume
keine Zweige haben und ihre am höchsten Gipfel befindliche
Blätterkrone wenig oder gar keinen Schatten giebt, fo hin-
dern sie das Wachsthum anderer Pflanzen auf demselben
Beete uicht. Gewöhnlich benutzen die siamesischen Obstzüch-
ter diesen vorteilhaften Platz für die Einpflanze, ein Schling-
gewächs, welches an 10 bis 12 Fuß hohen Pfählen gezogen
wird. Zum gleichzeitigen Gedeihen beider Pflanzen ist jedoch
eine reiche Düngung nothwendig. Man benutzt dazu kleine,
verfaulte Fische, welche an der Wurzel der Bäume eiugegra-
beu werden. O dieser Geruch! In der That entsetzlich für
europäische Nafen, aber fehr angenehm und stärkend nach
der Meinung der Einwohner!
Diese Baumgärten bieten einen eigentümlichen AnMick.
Ihr seht die Siripflanze 10 Fnß hoch vom Boden ihre Pfähle
umschlingend, wie grüne Meereswellen leicht vom Winde be-
wegt. Und darüber im schimmernden Contrast die hellen,
aschfarbenen, wundervoll schlanken Stämme der Arekapalme,
wie Hunderte weißer Flaggenstangen, jede ihr kleines grünes
Banner lüftend, 60 bis 70 Fuß hoch über der Schaar ihrer
Gefährten.
Die Bäume haben, ehe sie tragen, eine ganz grüue
Rinde; sie wachsen sehr schnell, fangen mit dem fünften Jahre
an zu tragen und haben in diesem Alter eine Höhe von etwa
18 Fuß. Vou dieser Zeit an tragen sie bis zu ihrem vier-
zigsteu Jahre, wo sie anfangen abzusterben.
Die Frucht wächst in großen Büscheln 3 bis 5 zu glei-
cher Zeit; jeder Büschel hat seinen eigenen unabhängigen
Stiel und trägt 150 bis 300 Nüsse. Diese Büschel hängen
sehr graciös unter dem Schatten der langen, schlanken Blät-
ter. Die reisen Nüsse haben die Gestalt einer großen Eier-
pflaume; sie verwandeln beim Reisen ihre tief grüne Farbe
in ein schönes röthliches Gelb nnd sehen alsdann den Orangen
sehr ähnlich. Der äußere Theil der Frucht ist eine harte
Schale, y4 Zoll dick. Die Nuß selbst hat Kugelgestalt, au
einem Ende etwas abgeplattet. Sie ist inwendig sehr hübsch
weiß und fleischfarben gestreift und in ein zartes, dnrchfich-
tiges Häutcheu gehüllt.
Weuu die Nuß trocken geworden, hat sie ein brannnar-
biges Aenßere, sie ist alsdann zu hart, um mit den Zähnen
aufgebrochen werden zu können. In diesem Zustande wird sie
zu Markte gebracht. Die Eingeborenen ziehen sie jedoch in
frischem Zustande, ehe sie völlig reif geworden, den getrock-
neten vor. Sie theileu bte ganze Frucht mit ihrer Hülle in
längliche Viertel und befreien dann jedes Viertel von seiner
Schale mit Hülse eines kleinen Messers, nach auswärts
schneidend von dem Daumen und dem Zeigefinger, welche
il!
Aus all
das Stück halten. Sehr geschickt lassen sie einen kleinen
Bissen des Innern an einem Stückchen Schale sitzen, welches
letztere als Handhabe dient, nm die Frucht graciös in den
Mund zuschieben. Die Zubereitung der frischen Betelnuß
sällt den Frauen und Mädchen zu, sie bringen einen großen
-^heil ihrer Zeit damit hin, und es gilt als eine Liebespflicht
und zarte Aufmerksamkeit, ihren Männern, Brüdern, Lieb-
habern und Freunden dieses Labsal eigenhändig znrechtzu-
machen. Im trocknen Zustande fällt die Verarbeitung der
Betelnuß dem kräftigern Geschlecht zu. Sie zerbrechen die-
selbe in einer Metallbüchse, welche, etwa 8 Zoll lang, an
einem Ende offen ist, während das andere mit einem Hölzer-
nen Stöpsel geschlossen wird. Die Nuß wird in diesem Ge-
fäß mit einer meißelartigen Mörserkeule, deren Griff gewöhn-
lich aus Elfeubeiu besteht, zerstoßen. Die zerstoßene Nuß
wird darauf mit scharlachfarbeuer Kalkpaste und etwas Siri-
blatt gemischt und so zugleich mit dem Pflock aus der klei-
nern Oeffnung des Mörsers herausgetrieben. In dieser
Mischung giebt sie einen Leckerbissen oder auch eine „Speise"
für die Alten und Zahnlosen ab. In den Jahreszeiten, wo
frische Nüsse nicht zu haben sind, sind sämmtliche Einwohner
zu der angegebenen Bereitungsart der trocknen Nüsse ge-
zwnngen.
Die „Encyclopedia Britannica" sagt, der Genuß der sri-
schen Betelnüsse berausche sehr stark und sei überhaupt als
der Gesundheit unzuträglich zu vermeiden. Diese Vorschrift
würde bei den Siamefen nur wenige Gläubige finden. Viel-
leicht hebt auch die gebräuchliche Vermischung der Arekaspeise
mit Taback, Siriblatt und rother Kalkpaste die allzu aus-
regende Wirkung der Frucht auf.
Einige andere natürliche Folgen dieses Genusses sind jedoch
erstens ein blntrother Speichel, der die Spucknäpfe der Wohl-
habenden und die Dielen der Armen beschmutzt und den mit
der siamesischen Lebensweise Unbekannten argwöhnen lassen
möchte, es werde hier bei Tag und Nacht Menschenblut ver-
gosseu. Ferner bekommen die Betelesser scharlachrothe Lippen
und schwarze Zähne mit einer dicken Verkrustung, was letz-
teren ein sehr häßliches Ansehen giebt, sie jedoch von Scor-
but und Caries frei erhält. Als größten Vorzug des Areka-
nußkauens rühmen die Siamefen jedoch, daß übler Geschmack
und Mageusäure gänzlich dadurch vermieden werde. Das
mag in der That so sein, dagegen ist der Geruch, welcher
dem Munde des Betelessers entströmt, für den nicht daran
Gewöhnten so widerwärtig, daß es der Höflichkeit ein großes
Opfer bringen heißt, während lebhafter Unterhaltung in der
nächsten Nähe eines siamesischen Freundes auszuhalten.
Das Betelessen hat größere Macht über die Eingeborenen
\ Erdtheilen. 121
als der Taback über den Europäer. Es wird kaum ein
Mann, eine Frau oder ein Kind über zehn Jahre zu finden
sein, das dieser Leidenschast nicht huldigte, ja, ein Siamese
wird lieber den Reis — den Stab seines Lebens — entbeh-
ren, als seinen Betel. Die Höflichkeit verlangt, daß jedem
Gaste nach der ersten Begrüßung Betel angeboten werde; ein
Unterlassen dieser Aufmerksamkeit gilt geradezu als Feind-
seligkeit, ebenso wird ein Verweigern dieses Anerbietens als
Kündigung der Freundschaft angesehen. Heirathen können
nicht ohne reichliche Betelschüsseln gefeiert werden. Die Betel-
nuß bildet den bedeutendsten Theil der Liebestränke und aller
möglichen Zaubernlittel.
Es ist berechnet worden, daß der tägliche Verbrauch eines
Siameseu an Betelnüssen durchschnittlich 12 Stück beträgt.
Jeder Baum trägt jährlich durchschnittlich 800 bis 1000
Nüsse. Die Eingeborenen erklimmen die Bäume mit Hülfe
eines Bandes, welches sie um die Spanne beider Füße solcher-
weise schlingen, daß der Baum zwischen denselben Raum be-
hält. Sie wenden die Sohlen nach innen, die Beine aus-
wärts; das scharf angezogene Band giebt dem Kletternden
einen festen Halt an dem Baume; er hebt sich mit den Hän-
den nach einem immer höhern Standpunkte und zieht die
Füße uach, so erreicht er den Gipfel des Baumes ziemlich
schnell. —
Die Siripflanze ist ein Glied der Pfefferfainilie, sie gleicht
außerordentlich dein langen Pfeffer; die Frucht besitzt gleich
diesem einen scharfen, brennenden Geschmack, um welcher
Eigenschaft willen sie der Arekaspeise zugesetzt wird.
Auch der rotheu Kalkpaste ist schon als einer beliebten Zu-
that Erwähnung geschehen. Dieselbe wird aus gebranntem
Steinkalke bereitet. Der Kalk wird gelöscht und ein Aufguß
der Turmericwurzel dazugefetzt, wodurch die Masse in Pulver
zerfällt und eine schöne Scharlachfarbe annimmt. So zu-
bereitet wird dieser Kalk in großen Massen auf deu Markt
gebracht und in kleinen irdenen Gefäßen verkauft. Man
streicht mit einem Holzspatel etwas Kalkbutter auf jedes
Siriblatt, wie wir die Butter auf das Brot streichen; dann
wird das Blatt aufgerollt und augenblicklich zum Munde ge-
führt, um sich mit dem schon vorher aufgenommenen Betel
zu vereinigen. "Nicht zufrieden hiermit fügen die Eingeborenen
— besonders die Frauen — diesem noch ein Stückchen ge-
schnittenen Tabacks hinzu, welches sie mit den Lippen festhal-
ten und aussaugen. Geraucht wird der Taback von Frauen
selteu, während der männliche Theil der Bevölkerung außer-
ordentlich leidenschaftlich von zartester Kindheit an — oft-
mals noch nicht entwöhnt von der Mutterbrust — dem Ta-
backrauchen ergeben ist.
Aus allen
Die Kulieinwanderung auf den Maskarenen.
In unseren vorigen Nummern haben wir darznthun gesucht,
daß in Zukunft für die tropischen Länder ein Gedeihen nur
möglich ist, wenn dieselben Arbeitskräfte aus Asien erhalten.
Man hat bisher mit der sogenannten Kuliauswanderung viel-
fach experimeutirt; der Gegenstand ist aber auch wirthschäftlich
von großer Bedeutung, und dafür liefern die beiden Maskarenen
im indischen Ocean, Reunion und Mauritius, einen Beleg.
Rounion oder Bourbon, wie es früher hieß, gehört den
Franzosen. Das dort in der Hauptstadt St. Denis erscheinende
amtliche Blatt war so kühn, im Jahre 1365 Folgendes zu schrei-
Globus XIV. Nr. 4. (August 1868.)
Erdtheilen.
ben: „Was wäre Australien in den Händen Frankreichs
geworden? Nichts! Es wäre noch heute eine Verbrecher-
colonie, aber England hat einen Welttheil daraus gemacht.
Freilich giebt es seinen Colonien die allersreiesten Staatseinrich-
tungen; sie verwalten und regieren sich selbst. Wo aber Frank-
reich seine Fahne ausgepflanzt hat, da führen armselige Colonien
ein dürftiges Leben, während jene Englands üppig gedeihen.
Frankreich hat sich niemals, aus das Colonisiren verstanden.
Ueberall, gleichviel wo es auch sei, hat es mit denselben Elementen
angefangen: einer Garnison, Zollbeamten und einem Schwärm
anderer Beamten. Wir sehen die Folgen dieses Systems. Seit
300 Jahren ist aus den französischen Colonien nichts geworden."
16
122 Aus allen
Das hat seine Richtigkeit; sie erklärt sich aber aus den ganz
verschiedenen Anlagen und Begabungen der romanischen Race
einerseits, der germanischen andererseits. Rsunion kommt trotz
aller Fürsorge der Regierung, vielleicht auch zum großen Theil
wegen derselben, nicht vorwärts, während Mauritius, das
früher auch französische Besitzung war, gedieh. Daß ihm im
Jahre 1867 durch Fieber und Orkane großer Schaden zugefügt
wurde, hat mit der Frage selber nichts zu schaffen, solche Cala-
mitäten sind vorübergehend. Ich habe jenen Gegensatz in mei-
ner „Geographie des Welthandels" hervorgehoben uud entlehne
der eben erschienenen Lieferung 2 des zweiten Bandes (©. 133 ff.)
Nachstehendes über die Kuliangelegenheit. Ich habe dabei alle
amtlichen Berichte benutzt und versucht, das Verhältniß so kurz
und klar als möglich zu schildern.
„Mauritius verdankt es lediglich der regelmäßigen Zufuhr
von Arbeitskräften aus Indien, daß es nicht in Verfall gerathen
ist, wie die meisten westindischen Inseln; es würde zu Grunde
gegangen sein, wenn es auf die Neger angewiesen geblieben
wäre. Als 1833 die Emancipation beschlossen wurde, suchten
die Pflanzer sosort Vorkehrungen zu treffen, um sich Arbeiter zu
sichern: sie wußten sehr wohl, daß aus die ehemaligen Sklaven
nicht zu rechnen sei. Um 1838, in welchem Jahre die Neger-
völlig freigelassen werden sollten, nicht überrascht zu werden,
holten fieArbeiter ausJndien, und damit begann dieEin-
Wanderung der Kulis, welche seitdem für das Colonialwesen
von so großer Bedeutung geworden ist, und ohne welche viele
der fruchtbarsten Regionen wieder zur Wildnis; hätten werden
müssen. An die Stelle des freien Negers, der nicht arbeitet,
tritt der fleißige Jndier als Ersatzmann; während jener „einen
frechen, unverschämten, durch und durch nichtsnutzigen Pöbel,
ein scheußliches Proletariat" bildet, erwirbt der indische Kuli
Geld und bleibt entweder dauernd in den Kolonien oder kehrt
mit dem, was er erspart, in seine Heimath zurück. Mauritius
ist für dieses Kulisystem gleichsam classischer Boden.
Man hat dort, wie in Westindien, längere Zeit hin und
her getastet, bis man zu eiuer verständigen Praxis gekommen
ist, welche beiden Theilen Vortheil bringt. Anfangs war die
Kulieinwanderung ganz freigegeben. Die Pflanzer ließen in In-
dien Arbeiter auf fünf Jahre anwerben und diese auf ihre Ko-
sten, welche durchfchnittlich 10 Pf. St. auf den Kopf betrugen,
nach Mauritius schassen. So bekam die Insel binnen vier Iah-
ren etwa 25,000 Kulis. Aber dabei stellten sich Mißbräuche ein;
manche Arbeiter wurden von den Agenten beschwindelt und auf
der Ueberfahrt starben viele Leute; in England wollte man des-
halb in der Kulieinwanderung eine neue Form des Sklaven-
Handels erblicken und darum wurde dieselbe zu Ende 1838 von
der Regierung verboten. Das war unverständig, denn nun, da
alle fernere Einfuhr der Kulis abgeschnitten war uud die Neger
nach wie vor träg blieben, steigerten sich, wegen Mangels an
Arbeitern, die Löhne dermaßen, daß ein vortheilhaster Anbau
des Zuckers platterdings unmöglich wurde. Die englische Re-
gierung begriff das auch und erlaubte 1842 die Kulieinwande-
rung wieder, jedoch unter gesetzlichen Vorkehrungen. Dahin ge-
hörte z. B., daß jeder Kuli nach Ablauf von fünf Jahren wie-
der in seine Heimath zurückgebracht werden müsse; die Verträge
mit ihm wurden in Indien selber von Regierungsbeamten ab-
geschlossen; diese mußten auch die zur Ueberfahrt bestimmten
Schiffe heuern und dafür Sorge tragen, daß keine Ueberfüllung
stattfinde. Der Kuli wurde nicht vom Privatmanne, sondern
von der Eolonie angeworben und war dieser verpflichtet; erst
auf Mauritius schloß er dann mit einem Pflanzer einen Ver-
trag auf 1 Jahr ab; er konnte sich dort den Arbeitgeber wählen.
Die Colonialregierung gab den Emigranten-Importeuren eine
Schadloshaltung zuerst von 6, bald nachher von 7 Pf. St. für
jede erwachsene Person und von 3 Pf. St. für jedes Kind unter
12 Jahren. Außerdem verpflichtete' sie sich, jeden Kuli nach Ab-
lauf der Vertragszeit in die Heimath zurückzuschaffen. Diese
Maßregeln bewirkten, daß binnen 14 Monaten etwa 34,000
Jndier, Frauen und Kinder ungerechnet, nach Mauritius kamen.
Der Zuckerbau gewann an Aufschwung, aber die Ausgaben sie-
Erdtheilen.
len der Regierung zu schwer und sie setzte die Einfuhrprämie
auf 4 Pf. St. herab. Im Jahre 1844 untersagte sie dann den
Privatleuten die Einfuhr von Kulis, nahm die Sache selber in
die Hand, bestritt alle Kosten, ließ sich jedoch vom Pflanzer
für jeden in seinen Dienst tretenden Arbeiter 2 Pf. St. als
„Stempelgebühr" zahlen. Dabei beschränkte sie die Einfuhr auf
6000 Köpfe im Jahre. Der ganze Plan war unpraktisch; die
Arbeitslöhne wurden dadurch gesteigert; die reicheren Leute mach-
ten den weniger wohlhabenden die Arbeiter durch Bestechung
abspenstig. Deshalb verordnete dann die Regierung, daß der
Arbeiter beim Arbeitgeber 3 Jahre bleiben müsse. Das System
bewährte sich nicht, ist aber trotzdem 11 Jahre lang festgehalten
worden. Erst 1855 wurde den Pflanzern wieder gestattet, auch
ihrerseits auf eigene Kosten Jndier zu holen, die jedoch erst auf
Mauritius einen Vertrag abschließen durften. Daraus erwuch-
sen abermals Uebelstände. Manche Kulis, welche ein Pflanzer
auf seiue Kosten geholt hatte, wurden verleitet, in die Dienste
eines andern zu treten, und jener bekam dann nicht die Arbeits-
kräfte, auf die er gerechnet' hatte. Im Jahr 1858 gestattete man
deshalb deu Pflanzern die Verträge mit den Kulis gleich
in Indien abzuschließen und sich dadurch die Arbeit der
Leute zu sichern. Bis 1861 hatte dabei die Regierung alljähr-
lich ihrerseits 6000 Kulis eingeführt; dann endlich stand sie da-
von ab, und seitdem gilt die Praxis, daß die Pflanzer Ueber-
fahrtskosten bloß für die Männer, für die Frauen dagegen nur
die Hälfte derselben bezahlen. Die Rücksendung der Kulis nach
Indien wird auf Kosten der Colonie bewerkstelligt. Es sind nun
die Verhältnisse derart geordnet worden, daß die Annahme von
Kulis in Indien, gleichviel ob durch Agenten von Privatleuten
oder von solchen der Regierung stattstndet; die Verträge mit den
Kulis müssen jedoch allemal vermittelst eines Bevollmächtigten
der Colonialregierung abgeschlossen werden. Diese miethen auch
die Transportschiffe, sorgen dafür, daß keine Ueberfüllung statt-
finde und Alles in gehöriger Ordnung fei. Früher war ver-
fügt worden, daß unter 100 Kulis allemal 25 weiblichen Ge-
schlechts sein mußten, doch ist diese Ziffer thatsächlich auf 40
Procent gestiegen. — Am Ende des Jahres 1861 befanden sich
auf Mauritius 224,920 indische Arbeiter, wovon 65,928 auf
das weibliche Geschlecht entfielen. In dem eben genannten Jahre
waren 13,985 angekommen, davon 7184 in 21 Schiffen aus
Calcutta, 4996 in 7 Fahrzeugen aus Madras uud 1805 in 6
Schiffen aus Bombay. Die Anwerbe- und Transportkosten stel-
len sich durchschnittlich für jeden Kuli: aus Calcutta auf 10 bis
11 Pf. St., aus Madras 8 bis 10 Pf. St., aus Bombay 7
bis 13 Pf. St. Der größte Theil der Kulis bleibt auf Mau-
ritius; andere gehen wieder in ihre Heimath zurück, welche dann
gewöhnlich Leute aus ihren Familien gewissermaßen als Ersatz-
männer für sich anwerben lassen. Die Zahl der nach Indien
zurückgekehrten betrug in den Jahren 1858 bis 1861 respective:
8165, 548, 2833, 2257 Köpfe; das Ueberfahrtsgeld für jeden
stellte sich von 2 Pf. St. 17 Schilling bis 3 Pf. St. 6 Schilling.
Die Arbeitslöhne auf Mauritius sind, je nach der Beschaffen-
heit der Kulis, sehr verschieden; es giebt 14 Classen derselben,
von 1 bis 5 Schilling für Kinder bis zu 7 Pf. St. monatlich;
mehr als 40,000 von den 70,215 Kulis, welche 1861 Verträge
abgeschlossen hatten, bekamen von 12 bis 16 Schilling; etwa
4000 von 20 bis 30 Schilling; mit den Jahren steigt der Ar-
beitslohn. Der Kuli bekommt ausreichende Nahrung an Reis,
Maniok oder Mais, gesalzenen Fischen, Oel und Salz :c. und
dazu Wohnung. In Krankheitsfällen wird er auf Kosten des
Arbeitgebers verpflegt. Der Protektor der Einwanderer, ein
Regierungsbeamter, hat darüber zu wachen, daß die zum Schutze
der Kulis erlassene Ordonnanz streng beobachtet werde. Wäh-
rend die Jndier gediehen und erwarben, ergab sich der bei wei-
tem größte Theil der emancipirten Neger, deren Zahl 1859 noch
40,140 betrug, dem Nichtsthun; er verrichtet in den Städten
dann und wann leichte Arbeit oder hat sich im Busche Hütten
aufgeschlagen. Dort läßt er einen Fleck Boden durch seine Frauen
bestellen und verwildert mehr und mehr. Die Zahl dieser
Schwarzen, welche eine wahre Plage geworden sind, nimmt in-
Aus allen
deß rasch ab, weil so viele derselben in Folge von Ausschwei-
fungen verkommen.
Auch Reunion hat in Folge der Negeremancipation und
der unbesiegbaren Trägheit der Schwarzen schwere Krisen zu be-
stehen gehabt, und sich, gleich Mauritius, nur durch die Ein-
fuhr von Kulis vor dem Ruine gerettet. Diese nahm aber
auf der französischen Insel einen andern Verlauf als auf der
englischen. Man wandte sich anfangs nach den französischen Be-
sitzungen in Indien und bekam seit 1840 eine Anzahl von Ar-
beitern aus Pondichery und Karikal; sodann brachte man auch
800 Chinesen aus der Stadt Amoy, die sich aber für den Pl«n-
tagenbau nicht eigneten. Eine Einwanderungsgefellschast besorgte
die Anwerbung und den Transport durchschnittlich für 158 Francs
per Kopf, nahm aber 100 bis 150 Procent Nutzen und verlor
deshalb 1858 ihr Privilegium. Sie hatte binnen drei Jahren
35,201 Jndier, 448 Chinesen und 10,265 Afrikaner nach der
Insel geschafft. Inzwischen hatte sich auf Martinique, Guada-
lupe und in Guyana das Bedürfniß nach Kuliarbeit heraus-
gestellt und diese Concurrenz steigerte die Preise auf Reunion,
wo 1856 nur 3000 Kulis eingeführt wurden. Eine neue Ein-
wanderungsgesellschast, die vorzugsweise aus Kaufleuten der bei-
den obengenannten indischen Städte bestand, erbot sich, Kulis zu
dem festen Preise von 39 Rupien (zu 20 Silbergroschen) nach
Reunion zu liefern. Dort übergab man sie einer Ackerbauge-
sellschaft zum Vertheilen, aber da jeder Pflanzer sich so viel
Arbeitskräste als möglich verschaffen wollte, kam Agiotage ins
Spiel und man zahlte 1000 bis 1200 Francs, um sich einen
Arbeiter mehr zu sichern. Die Folge war, daß die französische
Regierung das System der Anwerbung sogenannter freier Ar-
beiter an den Küsten Afrikas erlaubte; diese „freie Jmmigra-
tion" war aber in der Praxis nur eine neue Form des Skla-
venhandels, durch welchen von 1857 bis 1859 Reunion 13,500
Afrikaner bekam; die Kosten für jeden Kopf stellten sich auf etwa
500 Francs. Schon 1859 wurde die Recrutirung an der Ost-
küste Afrikas, die oft wahrer Menschenraub war, wieder verbo-
ten, und es kamen fortan nur noch Jndier in geringer Anzahl,
welche von Seiten der Regierung vertheilt wurden. Der Roth
wurde aber erst abgeholfen, als 1861 die französische Regierung
mit der englischen einen Vertrag abschloß, demgemäß Reunion
jährlich 6000 Kulis in Calcutta anwerben kann. Die Kosten für
den einzelnen Kopf stellen sich seitdem auf etwa 222 Francs.
Im Jahre 1862 waren auf Reunion 72,594 Kulis; davon
46,410 aus Indien, 413 Chinesen, 25,771 Afrikaner."
Die Deutschen in den Vereinigten Staaten haben im
Juni zu Chicago ein großes Sängerfest und Anfangs Juli
zu Neuyork ein Schützenfest abgehalten. Beide waren groß-
artig, fielen vortrefflich aus und imponirten den Angloamerika-
nern'in hohem Grade. Für die inneren Vorzüge und die soli-
den Eigenschaften der Deutschen haben sie im Allgemeinen kein
Verständniß, sie wollen das Massenhafte sehen, Pomp, Aufzug,
Lärm. Das Kolossale, Demonstrative, welches in dem Sänger-
feste wie in dem Schützenfeste lag, die Ordnung und Zucht, welche
dabei vorherrschten, die zwanglose Heiterkeit, die von aller Bestia-
lität fern blieb, machten auf die Yankees einen tiefen Eindruck.
Sie staunten und konnten nicht umhin zu loben und zu bewun-
dern. Die „Dutchmen" werden nun selbst von solchen Blättern
gepriesen, die sonst mit einer gewissen Ostentation von den
Deutschen so wenig als möglich sagen. Wir wollen, als sehr
bezeichnend für die Auffassung der Amerikaner, einige stellen
aus einem Leitartikel des „Newyork Herald" mittheilen. „Das
Schützenfest der Deutschen war die prächtigste Versammlung,
welche jemals in diesem Lande stattgefunden hat und Niemand
wird das großartige Schauspiel vergessen, Solch eine Demon-
stration können nur Deutsche zu Stande bringen und sie dürfen
wahrhaft stolz auf das sein, was sie geleistet haben. Hier sah
man recht deutlich, von welch hervorragender Wichtigkeit das
deutsche Element in diesem Lande ist. Früher fanden ähnliche
Demonstrationen nur von Seiten der Jrländer statt, welche feit
Jahren in unseren politischen Angelegenheiten großen Einfluß
Erdtheilen. - 123
geübt haben. Sie waren unter den auswärts geborenen Bür-
gern die einzigen, welche ihre Stimmen einheitlich und in Masse
abgaben; deshalb mußten die Politiker gebührende Rücksicht auf
sie nehmen; ein Votum von so gewaltigem Schwergewicht hatte
Anspruch auf volle Beachtung; wer dasselbe hatte, gewann, wer
es nicht hatte, verlor. Folglich schmeichelte man den Jrländern;
sie wurden mächtig und bekamen Aemter. Es hat nun aber
den Anschein, als ob demnächst die Deutschen noch viel mächti-
ger werden würden als die Jrländer. In gesellschaftlicher Be-
ziehung stehen sie längst als eine Macht da; ihre Liebe zur
Musik, ihr ganzes Betragen und Benehmen, ihre Vergnügungen
üben einen mächtigen Einfluß aus auf alle Gegenden dieses gro-
ßen Landes. In allen Städten fühlt man ihre commercielle Be-
deutung und weiß, daß sie wohlhabend sind; überall im Westen
haben sie durch Fleiß und Energie die Wildniß in einen blü-
henden Garten umgewandelt. In der ganzen Länge und Breite
der Union giebt es keine kräftigeren, fleißigeren, intelligenteren
Bürger als die Deutschen und überall haben sie Erfolg. Die
deutschen Einwanderer bringen, weit mehr als die irgend eines
andern Volkes, vortreffliche Eigenschasten in unser Land mit
sich: Gesundheit, gute Sitten, gesunden Menschenverstand und
außerdem vielerlei Habe. Es sind mancherlei Einflüsse, welche
für die Zukunft umgestaltend auf das Leben in den Vereinigten
Staaten wirken werden , darunter aber sind die besten und ge-
fundesten jene, welche von Seiten der Deutschen kommen. Des-
halb erscheint es uns als ein hoffnungsvolles und ermuthigendes
Zeichen der Zeit, daß die Deutschen immer mehr Antheil ani
politischen Leben nehmen; sie werden auf dasselbe einen eben so
gesunden und heilbringenden Einfluß üben wie sie ihn bislang
schon auf das gesellschaftliche und commercielle Leben geübt ha-
ben." — Das klingt freilich anders als der Ausspruch des
Hauptorgans der radical-republikanischen Partei, der „Newyork
Tribüne", in welcher der alte fanatische Unheilstifter Horace
Greeley drucken ließ, daß der erste beste Neger unendlich mehr
Werth sei als ein beliebiger Deutscher!
Deutsche Missionen in Südwestafrlka. Aus Deutsch-
land und England fließen jahraus jahrein den Missionsanstalten
auch für Afrika beträchtliche Summen zu, und in Rheinland und
Westfalen, wo das Sammeln in ein für die Missionen sehr
praktisches System gebracht wurde, haben Kinder und Erwachsene
auch „Negerbüchsen", aus denen sie spenden. Die Resultate der
Bemühungen sind iudeß gering. Im Herbste vorigen Jahres
wurden die Missionäre aus Abeokuta im Lande Horuba ver-
trieben, nachdem ihnen jene Negerstadt zwanzig Jahre lang für
den „Sonnenaufgang im Morgenlande" gegolten hatte und der
Berlinische Hosprediger Hoffmann mit überschwenglicher Sal-
bung diesen Sonnenaufgang geschildert hatte. Im H o t t e n t o t e n -
und Damaralande, in der Gegend an der Walsischbay, sieht
es für die Missionen auch nicht erfreulich aus. Man muß dem
Muth und der Ausdauer der Sendboten die größte Achtung
zollen; wir bewundern ihre Hingebung; sie resigniren sich gern,
Jahrzehnte lang unter Barbaren zu leben, die größten Entbeh-
rungen zu tragen, von allem Verkehr mit der gebildeten Welt
entfernt zu sein. Sie ertragen das alles standhaft, weil sie einen
baumstarken Glauben haben und sich stets in Hoffnungen wie-
gen; sie zehren gleichsam von einer Zukunft, welche in der
Regel sich ganz anders gestaltet, als sie sich dieselbe in ihren
Wahnhoffnungen vorgestellt. Aber wenn die Dinge jene Wen-
dung nehmen, welche der Anthropolog voraussieht, dann trösten
sie sich wieder mit Hoffnungen und haben immer ein paar Bibel-
Verse bereit, welche ihnen und ihrem Publicum genügen. Diese
Missionäre „suchen die verborgene göttliche Logik („Be-
richte der rheinischen Missionsgesellschaft," Barmen 1867, S. 5),
wobei es sich dann allerdings um das Finden des -Lei bor-
genen handelt. Das aber hat bis heute auf sich warten lassen.
Die Missionsanstalten leisten der Wissenschaft der Völker-
kunde nicht unerhebliche Dienste und man findet in ihren Be-
richten manche interessante Notizen. Den eigentümlichen Jargon,
in welchem viele solcher Mittheilungen dem Missionspublicum
16*
124 • Aus allen
mundgerecht gemacht werden, überwindet der Laie bald und freut
sich des wissenschaftlichen Gewinnes. Den Kern kann man leicht
von der Schale trennen.
Mit den Missionen bei den Hereros (Tamaras) und Nama-
Hottentoten will es nicht vorwärts. Die eben erwähnten „Mis-
sionsberichte" 1867 schreiben S. 7: „In der Hereromission,
zwanzig Jahre lang auf Hoffnung betrieben, sind die
ersten Früchte in der Bildung kleiner Gemeinden zu Tage ge-
kommen; Hereroland sollte das Fundament für unsere Missionen
nach dem Innern hin werden." — „Die Namaquas werden
nicht mehr Herren der Herero werden." — Am 15. April taufte
Mifsionär Brinker sieben Hereros und „auch die äußere Natur
verfehlte nicht mitzufeiern, da nach langer Dürre das Feld durch
Regen getränkt sich ins Feierkleid gehüllt hatte." Daraus zieht
er in seiner Logik folgenden Schluß: „Die Sonne des Trostes,
wir dürfen es sicher hoffen, geht auch für diese Mission auf."
Der würdige Mann irrte sich. Das „Barmer Missionsblatt"
Nr. 15, August 1868, schreibt:
„Die neuesten Nachrichten aus der Walfifchbay und dem
Damaraland lauten recht bedenklich. Die feindlichen Namaqna-
stämme, welche kurz vor Weihnacht 1867 unsere Station Otjim-
bingus — nun schon zum dritten Male — überfallen hatten,
haben in den Monaten April und Mai auch Scheppmansdorf und
die Lagerhäuser an der Walfifchbay felbst überfallen und beraubt,
und sämmtliche Weiße im Lande mit dem Tode bedroht. Die
Gefahr schien so dringend, daß von Regierungswegen sogar ein
Kriegsschiff von Capstadt nach der Bay gesandt wurde, um den
Europäern, darunter auch den Missionären, einen sichern Rück-
zug zu eröffnen. Nun hoffen wir zwar, daß unfere Brüder nicht
so schnell weichen werden, auch bei drohender Gefahr. Allein
da es auch bei den Ovambo anfängt unruhig zu werden und
die schlimmsten Drohungen von verschiedenen Seiten wiederholt
werden, so müssen wir uns doch auflöse Zeitungen gefaßt hal-
ten, und es könnte sein, daß unfere Damara-Mifsion für den
Augenblick in Stocken geriethe und auch die Ovambo-Mifsion
von den finnischen Brüdern nicht gleich in Angriff genommen
werden könnte. Im März war noch alles ziemlich ruhig und
Mifsionär Brinker schrieb damals etwa Folgendes: Die Zu-
stände des Landes sind jetzt noch nichts besser als früher, ja noch
verwickelter. Der Angriff, den die Namaqua im vorigen De-
cember auf Otjimbingus machten, ist von den Damara nur mit
knapper Noth abgeschlagen worden. Seitdem fcheinen die Da-
mara etwas von ihrem Muthe verloren zu haben, und es wird
ihnen bange um ihre Rinder. Dazu ist dies Jahr wieder ein
recht dürres, so daß es mit der Ackerwirthschaft nichts giebt
und besonders ist Otjimbingus von der Dürre heimgesucht. Hält
dieser Krieg an, so stehen unsere colonifatorifchen wie missiona-
rischen Versuche in großer Gefahr. Die Herero (Damara)
scheinen sich wieder tiefer ins Heidenthum zu vergra-
ben und es wird nicht lange mehr dauern, so wird
eine offene Reaction des Heidenthums dastehen. Viel-
leicht ist das ein gutes Zeichen, wenigstens ein besseres als die
Gleichgültigkeit und Theilnahmlosigkeit, die wir bis
dahin bei den Herero bemerkten. Die Zauberei fängt wieder
an sich auszubreiten und kein Herero ist sicher, daß er nicht
morgen bezaubert ist. Das Z aub ermittel, ein wahres Hexen-
gebräu, wird in die Kalabassen gethan und auf diefe Weife un-
vermerkt unter das Getränk oder die Speisen gemischt. Wie.
viel oder wie wenig an der Sache ist, vermag ich noch nicht zu
durchschauen, hoffe aber, wenn ich einen zweiten Bruder zur
Seite bekomme, Alles, was sich darüber erfahren läßt, in einen
Tractat zusammenzustellen, .damit die Freuude daheim sehen,
welcher satanischen Macht wir armen schwachen Mis-
sionäre hier gegenüberstehen. Wahre Ketten derFin-
sterniß hat der Teufel um die Heiden geschmiedet, und
wenn nicht das Wort Ebr. 4, 12 eine Wahrheit wäre, so wüßte
man nicht, wie eine Seele sich bekehren könnte. Dazu kommt
die Gefahr von außen. Wir erwarten bald einen erneuten An-
griff der feindlichen Namaqua, und wer weiß, wie es dann ab-
laufen wird. Es scheint kaum, als ob die südlichen Häuptlinge
Erdtheilen. >
des Namaqualandes etwas für die Wiederherstellung des Frie-
dens zwischen den Herero und Jan Afrikaner fammt dem rothen
Volk thun wollen. Das Ende wird vermuthlich ein allgemeiner
Krieg aller Gelben und Rothen gegen die Schwarzen sein. Hier
hilft nichts als Gebet und Flehen (sie!). Ach daß doch kräfti-
ger gebetet würde und man uns hier in unserer Roth daheim
nicht so leicht vergäße."
Auch ein anderer Bericht aus der Misston Kommagas
lautet nicht besonders tröstlich oder hoffnungsreich. Dort ist
seit länger als zwanzig Jahren Missionär Weich thätig gewesen.
„Oft habe ich gewünfcht, daß ich mehr thun könnte; der Herr
sieht aber auch wohl nicht so viel aufs Thun als auf Treue.
Sehe ich nun zurück auf meine Arbeit in meiner lieben Ge-
meinde, fo überfallt mich eine große Traurigkeit. In den zwei
Jahrzehnten sind 62 Erwachsene von mir getauft und 58
confirmirt worden. Wie steht es mit diesen Allen und wo sind
sie? Das weiß ich freilich, daß mehrere von ihnen jetzt vor
dem Throne Gottes stehen und das Hallelujah singen dem Lamme,
das auch für sie sich hat schlachten lassen. Sie sind meine Freude
und meine Krone. Mehrere halten fest an dein Herrn und
trachten den guten Streit zu streiten. Einige junge confirmirte
Mädchen sind in Dienst getreten in Springbock und Hondeklip-
bay. Sie unterhalten eine recht fchöne und liebliche Correfpon-
denz mit mir." Der Mifsionär beklagt dann, daß Springbock
ein sehr „umnachteter" Ort und eine feiner Confirmirten dort
zu Falle gekommen fei, obwohl er in Aengsten fortwährend ge-
feufzt habe: „Herr, bewahre sie in der Versuchungsstunde."
„Da sind Andere, von denen ich nichts weiß, aber von Ferne
hören muß, daß sie schlechte Wege wandeln. Von noch anderen
weiß ich noch gar nicht einmal, wo sie sind; sie sind hier und
da zerstreut und wohl alle in sehr großem Elend, leiblich, sitt-
lich und geistig. O, wie rufe ich doch oft zum Herrn:c. ic.
Dann kam „Bruder Hägner" und trat „seine Wirksamkeit auf
Spektakel an", wo fehr viele von solchen verlorenen See-
len umherliefen. Das dauerte leider nicht lange, so wurde die
Arbeit bei dieser (Kupfer-) Mine aufgegeben und die Leute zer-
streuten sich wieder nach allen vier Himmelsgegenden. „Da ist
es denn nun zwar wieder erfreulich, daß Bruder Hägner sich
Mühe giebt, um sie hier und da aufzusuchen; aber wo die Zer
streutheit so groß ist und die Entfernungen fo weit sind, da ist
es auch fehr mühsam und beinahe unmöglich, Allen nachzu-
gehen." — Man sieht, welches Ergebniß die Anstrengungen eines
fo eifrigen Mannes im Verlaufe von 20 Jahren gehabt haben-
In der langen Zeit hat er 62 Schwarze getauft, und die, welche
noch nicht Hallelujah im Himmel fingen, sind Vagabunden gewor-
den, welchen dann ein anderer Missionär unter allen möglichen
Beschwerden nachläuft, um zu sehen, ob er eine solche schwarze
Vagabundenseele wieder bekehren kann, natürlich ohne Garantie,
daß sie hinterher nicht abermals desertirt.
Sladen's Expedition auf dem Jrawaddy nach Mn-
nan in China. Ueber diese wichtige Erforschungsreife giebt
der „Friend of Jndia" Nachrichten bis zum 11. April. Damals
hatte Eapitän Staden die Ortfchaft Ponfi erreicht; sie liegt
in den Ehachyenbergen, etwa 50 Miles von Bhamo und 10
von Mänwain (Manwyne), einer Stadt der Schans. Wir er-
fahren, daß dem Reisenden durch Jntriguen von Seiten der Chi-
nesen manche Hindernisse in den Weg gelegt wurden. Als er
Ponfi erreicht hatte, liefen alle Maulthiertreiber fort und nah-
men die Thiere mit sich; das geschah auf Anstiften einiger Häupt-
linge in den Schan-Staaten, welche den Leuten bei Todesstrafe
jede Unterstützung des Engländers verboten hatten. Diefe Häupt-
linge verfuhren solchergestalt auf Befehl eines mächtigen chine-
sischen Räuberhauptmannes, der an einer Manphoo ge-
nannten Oertlichkeit an der Straße zwischen Ponsi und der
Grenze von Momein eine fehr stark verfchanzte Stellung inne-
hatte. Er heißt Lifethay und hatte sich an der Spitze seiner
Spießgesellen seit mehreren Jahren zu behaupten gewußt gegen
diePanthays, d.h. die Mohammedaner in Hünnan und auch
gegen die nichtmohammedanischen Chinesen. Er hatte Helfers-
Aus allen
Helfer in Birma, namentlich chinesische Kaufleute in Bhamo,
welche Sladen's Versuch, einen Handelsweg zwischen Hünnan
und dem ganzen Jrawaddystrome zu eröffnen, sehr ungern sehen;
sie befürchten ihrerseits dadurch geschädigt zu werden. Sodann
stand Lisethay mit drei birmanischen Beamten in Verbin-
dung, welche ihn gegen Sladen aufhetzten und ihn aufforderten,
den Durchzug desselben durch die Schan-Staaten nicht zu leiden.
Das Alles erfuhr Sladen und, rasch entschlossen, wandte er sich
an die Häuptlinge von Momein, die ihm auch sofort Beistand
zusagten. Es war sehr schwierig, schriftliche Mittheilungen nach
Momein gelangen zu lassen; doch verstanden sich drei Chachyens
zur Besorgung derselben. In Ponsi bekam Sladen eine gün-
stige Antwort von den Panthayhäuptlingen an der Grenze von
Hünnan; sie ließen ihm sagen, er möge nur guten Muthes sein.
Sie hielten Wort und rückten mit starker Macht vor Manphoo,
welches sie am 19. März einnahmen. Die Besatzung wurde ge-
langen genommen, Lisethay aber entkam. Nun schickte derPan-
thaygeneral Lasakon der Expedition Sladen's ein Geleit bis
Sanda entgegen, und jene wollte von Ponsi aus dorthin gehen,
sobald sie die nöthigen Transportmittel zusammengebracht hatte.
Die birmanischen Beamten legten ihr aber so große Schwierig-
feiten in den Weg, daß sie am 11. April dergleichen noch i^cht
bekommen hatte. Es hing aber der günstige Erfolg ganz davon
ab, daß sie zunächst bis Momein zu den Panthayhäuptlingen
gelangte und dadurch die Ränke der Chinesen und der Birmanen
fruchtlos machte. —
Die Eröffnung des Handelsweges auf dem Jra-
waddy nach dem südwestlichen China ist von ganz hervor-
ragender Wichtigkeit und deswegen theilen wir die obigen An-
gaben mit. Man sieht, mit welchen Schwierigkeiten die Eng-
länder hier zu kämpfen haben.
Cooper's Ueberlandreise von Han keu in China nach
dem Bengalischen Meerbusen. Wir haben dieses kühnen
Unternehmens mehrfach erwähnt („Globus" XIII, S. 255) und
zugleich der Pläne zur Eröffnung neuer Handelswege zwischen
China und Indien („Globus" XIII, S. 266). Jetzt finden
wir in 'der „Overland China Mail" vom 26. Juni Mitthei-
lungen über den Fortgang der Reise. Cooper befand sich
am 26. April zu Ta tsien lu, an der Westgrenze Chinas
(etwas nördlich vom 30. Grad nördl. Br.), wohin er in Gesell-
schaft des französischen Missionärs Cheauveau gereist war; diefer
ist vom Papste zum Bischof von Tibet ernannt worden. Cheauveau
hielt sich bisher inHi yan su auf, und von dort machten beide
die Reise nach Ta tsien lu gemeinschaftlich; dieselbe erforderte
sieben Tage. Am fünften Tage kamen sie nach Lu d in tscheu,
einer kleinen Stadt am linken Ufer des Tai tau ho, einem Zu-
flüsse des Mia ting fu. Die Stadt ist berühmt wegen ihrer
Kettenbrücke, die schon vor 80Jahren gebaut worden ist und
150 Hards Spannung hat. Von dort geht der Weg an gefähr-
lichen Abgründen hin durch die Ta-tsien-lu-Schlucht. Diese
ist auf der ganzen Straße von Tschen tu nach Lhassa die aller-
gefährlichste Stelle. Sie wird gebildet von zwei 1000 bis 1200
Fuß hohen, fenkrecht abfallenden Bergen, die mit einander paral-
lel laufen und an manchen Stellen weit überhängen. Unten
strömt ein etwa 90 Fuß breites Bergwasser, das häufig Cas-
caden und Stromschnellen bildet und sich unterhalb der Schlucht
in den Tai tau ho ergießt; oberhalb derselben liegt dann die
Grenzstadt Ta tsien lu. (—Dieselbe ist auf Kiepert's Karte
von Ostasien, im Neuen Handatlas Nr. 30, Karte von Ostasien,
eingetragen. Wir empfehlen wiederholt diesen ausgezeichneten
Atlas und setzen voraus, daß unsere Leser stets die Karte zur
Hand haben. —)
Ta tsien lu liegt auf der Grenze der chinesischen Provinz Sze
tfchuen und ist ein wichtiger Handelsplatz; die Kaufleute aus Schen si
bringen dorthin Thee, Glasperlen und Taback; sie tauschen da-
für Hirschhorn, Moschus und Felle von Luchsen, Wölfen, Füch-
sen und Leoparden, sodann Schaffelle und Hakhäute ein. Die
Chinesen unterhalten dort eine Besatzung von etwa 1000 Mann.
Cooper stellt Betrachtungen über den Handelsverkehr
Erdtheilen. 125
im westlichen China an. Er schildert die Provinz Sze tschuen
als enorm ergiebig, sie unterhalte einen „gigantischen" Handel
mit Han feit in Rhabarber, Hanf, Arzneikräutern, Zucker und
Taback; das sind ihre Ausfuhrartikel; Baumwolle und Stück-
güter sind Einfuhrwaaren. Tschung king ist gleichsam der Han-
delsmund der vier Provinzen Sze tschuen, Hünnan, Kuei tscheu
und Schen si. Für den Bezug ausländifcher Stückgüter sieht es
sich auf Han keu (Hankow) angewiesen; diese Waaren vertheilt es
dann weiter. Der Transport auf dem Hang tfe kiang ist be-
schwerlich und auch kostspielig, weil die Mandarinen Erpressung
üben; deshalb können diese Güter westlich von dem Hün-ling-
Gebirge nicht mehr verkaust werden; die Kosten sind zu hoch.
Dort liegt die Grenze des Handels mit europäischen Waaren
im westlichen China; und jetzt geht er auch nur so weit, weil
die Jrawadd yroute zur Zeit geschlossen ist. Sobald diefe eröffnet
wird, kann es nicht fehlen, daß die Südwestprovinzen auf jenem
Wege ihre Waaren beziehen und versenden, und gewiß werden
dann englische Kaufleute auch am obern Jrawaddy Häufer er-
öffnen. Auf jenem Wege war ein blühender Handelsverkehr,
bevor man an die Europäer dachte; fobald er wieder benutzt
wird, kann es nicht fehlen, daß der Verkehr zwischen Han keu
und Tschung king sich mindestens um ein Drittel vermindert.
Der mohammedanische Fürst in Tarli (— foll heißen Ta li fu
in Hünncm —) hat bereits an der Oftgrenze seines Gebietes
Zollhäuser errichtet; ich traf in Hi yan su einige Kaufleute,
welche von dort kamen und wieder dorthin handeln wollten, ob-
wohl sie Zoll sowohl an die Kaiserlichen wie an die Mohamme-
daner zahlen mußten. So tritt wohl bald die Jrawaddy-
straße von Ranguhn her mit jener von Schanghai
her, also der des Hang tse kiang, in erfolgreichen
Wettbewerb. Schanghai wird aber von diefem Handel um
so weniger einbüßen, wenn der obere Hang tse kiang bis Tschung
king von zweckmäßig gebaueten Dampfern befahren wird; sie
dürfen höchstens 6 Fuß Tiefgang haben; dann können sie allezeit
auch die Stromschnellen Passiren. —
Cooper war früher der Ansicht, daß von Li kian im nörd-
lichen Hünnan bis Sudiya am Brahmaputra in Afsam eine
zweckmäßige Handelsstraße zu eröffnen fei. Wir finden nun, daß
er von einer solchen nichts erwartet. Vom Pater Cheauveau, der
längere Zeit in Li kiang verweilte, hat er genauen Bericht über
die Bodenverhältnisse erhalten. Diese sind ungünstig; nach We-
sten hin wohnen halbwilde Stämme, die unablässig einander be-
fehden, und auch die Patkhoyberge bieten schwierige Uebergänge
dar. Calcutta muß auf directen Handel mit China verzichten.
Cooper sagt, er hoste Lhassa zu erreichen (— was uns
sehr problematisch erscheint —) und wolle über Katmandu in
Nepal nach Indien gehen. Er ist voll des Lobes über die fran-
zösischen Missionäre im westlichen China, und wir wissen auch
aus anderen Quellen, daß diese wackeren Männer solch ein Lob
vollkommen verdienen.
Die französische Mekong-Expedition. Auch die Mit-
glieder derselben sind von den eben erwähnten Missionären in
China sehr freundlich aufgenommen worden. Sie kamen am
6. Juni zu Han keu, am 13. zu Schanghai an und brachten
den einbalsamirten Leichnam Lagree's mit dorthin. Auf die
Mohammedaner in Hünnan sind sie nicht gut zu fprechen; der
Wang, d. h. Oberhaupt, König, derselben, Namens Tsin lin,
gab ihnen keine Audienz; er meinte, sie seien Spione Englands,
das Lust habe, Hünnan zu erobern. Nach Lagree's Tode über-
nahm Lieutenant Garnier die Leitung der Expedition. Bisher
hatte noch kein Europäer die Reife von Saigong in Cochin-
china bis Schanghai auf dem Landwege gemacht und wir dürfen
manchen wichtigen Nachrichten über bisher unbekannte Gegenden
entgegensehen.
Ein Schneefall in Südafrika ist etwas Unerhörtes. „Die
letzte Post vom Cap der guten Hoffnung — fo schreibt uns
Herr Theophilus Hahn, der unter den Hottentoten das Licht
der Welt erblickt hat — brachte mir auch die Zeitung „Het
126
Aus allen
Erdtheilen.
Volksblad" (— leider ist kein Datum angegeben —), das
allerlei Interessantes enthält. So wird z.B. von einem Schnee-
fall mit Sturm aus vielen Gegenden berichtet. Das Un-
Wetter hat seinen Weg zwischen 28 und 32^ Grad südlicher
Breite genommen. Man ist überzeugt, daß demselben große
Fruchtbarkeit solgen werde. Wie ungewohnt ein Schneefall dort
ist, mögen Ihnen die nachfolgenden Bemerkungen des „Volks-
blad" zeigen. Dasselbe schreibt: Am merkwürdigsten war die
Veränderung, welche Alles um uns her erfuhr. Häuser, Hügel,
Berge, — Alles sah ganz anders aus und hatte ein durchaus
fremdartiges Ansehen; man glaubte gar nicht, daß man sich an
seinem gewöhnlichen Wohnplatze befinde. Aber nicht bloß die
Menschen, sondern auch dieThiere verwunderten sich; sie moch-
ten sich kaum bewegen. Die Vögel flogen rathlos in der Runde
herum, etwa so wie Tauben bei Nacht. Alt und Jung belu-
fügten sich mit dem Werfen von Schneeballen. Der ganze An-
blick war Abends schon merkwürdig genug, aber wie war er erst
als am andern Morgen die Sonne am unbewölkten Himmel
ausstieg! Die ganze Erde war mit einem weißen Kleide bedeckt
und alle Bäume waren mit Krystall überzogen bis zum kleinsten
Zweige (— en het geboomte tot het kleinste takje toe
met krystal bekleed —). Und daraus schien die Sonne!
Und wähne nur Keiner, daß Alles farblos gewesen sei. O nein;
die Brechung der Lichtstrahlen auf diesen Krystallen war wun-
derbar und inachte eine herrliche Wirkung :c." Uns, die wir
an Schneefall gewöhnt sind, kommt diese Schilderung sehr naiv
vor, aber für einen Südafrikaner, der nicht weiß, was ein euro-
Päischer Winter, ist das „weiße Ereigniß" eine große Merkwür-
digkeit und Seltenheit gewesen.
Vom Vorgebirge der Guten Hoffnung. Wir entneh-
men der Zuschrift des Herrn Th. Hahn noch folgende Notizen:
Im Capfchen Parlamente hat man endlich Beschlüsse zur
Hebung des dortigen Weinhandels gesaßt.
Es ist wieder ein großer 13- bis 14karatiger Diamant vom
reinsten Wasser bei Hoopstad gefunden worden. In derselben
Gegend hatte man noch einen 15karatigen Diamant gefunden,
für welchen der Gouverneur in Kapstadt 250 Pf. St. bot.
Im Bergflusse, nördlich von Capftadt, ist nun das letzte
Hippopotamusweibchen ins Jenseits befördert worden. Noch
ein junges Männchen lebt im Flusse, und man hat erwogen, ob
man diesen letzten Mohikaner seinem natürlichen Schicksal über-
lassen solle. Er richtet aber Schaden auf den Aeckern an und
so ist ein Jäger beauftragt worden, ihm das Lebenslicht auszu-
blasen. Dieses letzte Hippopotamuspaar wird im Museum der
Capstadt eine Stelle finden. •
Die Räubereien d er Korannas und der Buschmän-
ner hatten ihren Fortgang; man will nun endlich ein „Com-
mando", bewaffnetes Aufgebot, gegen sie aufbieten.
Ungewöhnliche Witterungserscheinung in Südaustra-
lien. In Adelaide, der Hauptstadt von Südaustralien, ereig-
nete sich am Nachmittage des 7. Mai dieses Jahres der uner-
hörte Fall, daß es schneite, wenn das freilich auch nur einige
Minuten dauerte. Der diesjährige Mai zeigte überhaupt eine
sehr niedrige Temperatur und zwar war es die niedrigste, welche
je in diesem Monate verzeichnet wurde, so lange meteorologische
Beobachtungen in der Kolonie bestehen. Das Maximum erreichte
nur + 84,6° Fahrenheit, obgleich dies sonst selten unter 90° kommt
und bis zu 97° steigt. Das Minimum fiel auf -f- 44,7° und die mitt-
lere Temperatur des Monats sank auf kaum 64°, während das
Mittel aus den letzten 11 Jahren reichlich 65° ergiebt. —g.—
Das neue Territorium Wyoming in Nordamerika.
Am 22. Juli wurde die Senatsbill bezüglich Errichtung einer
provisorischen Regierung des neuen Territoriums Wyoming
im Repräsentantenhaufe mit 106 gegen 50 Stimmen angenom-
men. In der Bill wird den Negern das Stimmrecht und die
Fähigkeit zur Bekleidung von Aemtern zugesprochen. Das Terri-
torium ist aus der nördlichen Hälfte von Colorado gebildet, das
am 2. März 1361 durch Congreßacte als Territorium organisirt
wurde, 105,613 Quadratmeilen umfaßte und sich von: 37. bis
zum 41. Grad nördlicher Breite und vom 102. bis 109. Grad
westlicher Länge ausdehnte. Durch die Goldentdeckungen in den
Felsgebirgen wurde eine massenhafte Ansiedlung nach Colorado
gezogen, so daß 1864 der Borschlag gemacht wurde, eine Staats-
regierung zu errichten. Am 3. August 1664 versammelte sich
eine Convention zu Denver, um eine Constitution zu entwer-
sen, am 12. August war sie vollendet und am 5. September
wurde sie dem Volke vorgelegt; es wurden 5895 Stimmen ab-
gegeben und eine Mehrheit von 155 Stimmen nahm die Con-
stitution an. Am 18. Januar wurde im Vereinigte-Staaten-Senat
die Bill für Zulassung von Colorado als Staat eingebracht, fand
jedoch lebhaften Widerspruch namentlich Seitens republikanischer
Senatoren. Man sprach dagegen, weil die Bevölkerung (die
damals 28,000 Köpse betrug) nicht groß genug sei, weil den
Negern in der Constitution kein Stimmrecht verliehen worden
und weil fast die Hälfte der Bürger gegen Bildung eines Staa-
tes wären. Die Bill passirte übrigens beide Häuser, der Prä-
sident aber belegte sie mit seinem Veto und Colorado ist noch
immer ein Territorium. Von ihm hat man jetzt die
nördliche Halste getrennt und daraus das nene Terri-
torium Wyoming gebildet. Es reicht vom 41. bis zum
45. Grad nördlicher Breite und grenzt südlich an das Territo-
rimn Colorado, nördlich an Montana, östlich an Dakota und
Nebraska und westlich an Idaho und Utah. Zuerst hatte man
dafür den Namen „Lincoln" vorgeschlagen zum Andenken an
Abraham Lincoln; man zog jedoch den Namen Wyoming vor
(entstanden aus dem indianischen Wort Maughwaume, „große
Ebene"), um das Andenken an die Patrioten zu verewigen, welche
im Wyoming-Thal, Wyoming Eounty, Pa., am Snsquehanna
umkamen. — Das neue Territorium ist ebenso wie der südliche
Theil des alten Coloradogebietes reich an Gold, Silber, Eisen,
Kupfer, Blei uud Kohlen, Schätze, deren Hebung nur auf eine
zahlreichere Ansiedelung und auf die Vollendung der Pacificbahn
warten. Es hat außerdem große Salzlager und viele Salz-
und Oelquellen. Obgleich es an die sogenannte „große ameri-
kanische Wüste" westlich der Felsgebirge grenzt, so ist es doch
zum Anbau von Getreide ebenso geeignet wie das jetzige Colo-
rado, wo 50 bis 60 Bnshel Weizen aus dem Acker gezogen wur-
den, ein Ertrag, der freilich nur durch eine vorzügliche Bewässe-
rungsmethode erzielt wurde.
Die Eisenbahn über das blaue Gebirge in der Co-
lonie Neusüdwales (Australien). Eine der großartigsten
und zugleich kostspieligsten Unternehmungen der Gegenwart sührt
die Colonie Neusüdwales in Australien aus, indem sie eine Ei-
senbahn über die blauen Berge uach der Stadt Bathurst im
gleichnamigen Districte baut. Diese Bahn geht von Sydney über
Paramatta nach Penrith (25 Miles) und schleicht von hier in
vielen Krümmungen und Windungen das bis zu 6000 Fuß
und darüber ansteigende Gebirge hinauf. Die Terrainschwierig-
leiten, welche bei diesem wild zerrissenen Gebirge zu überwinden,
waren und sind noch von ungeheurer Art, wie man schon dar-
aus abnehmen kann, daß die englische Meile der fertigen Strecke
durchschnittlich auf 90,000 Thaler zu stehen kommt, was, auf
die Länge einer deutschen Meile übertragen, 420,000 Thaler
ausmachen würde. Mitte Mai dieses Jahres wurde eine neue
Strecke dem öffentlichen Verkehr übergeben, wodurch die Bahn
bis auf den Mount Victoria oder bis zur westlichen Senkung
des Gebirges geführt ist. Die dortige Eisenbahnstation liegt
3525 Fuß über dem Niveau des Meeres und ist 76 Miles von
Sydney entfernt. _____—g- —
Eine neu entdeckte Kobaltmine in Südaustralien.
Die neu entdeckte Castaspo-Mine in Südaustralien birgt einen
außerordentlichen Reichthum an Kobalt. Die erste Verschiffung
davon auf England im Betrage von 22 Tonnen fand im Mai
dieses Jahres statt. — g.—
Aus allt
Eine neue Handelscompagnie in der Südsee. In
Melbourne hat sich im Mai dieses Jahres eine mit reichen Geld-
mitteln versehene Gesellschaft gebildet, welche Delegirte an Tha-
kombau, den König der Fidschi-Inseln, abgeschickt hat, um mit
ihm über das vollständige Abtreten einiger Inseln und gewisser
Theile anderer Eilande, welche ^u seinem Territorium gehören,
zu verhandeln. Die Compagnie beabsichtigt, sich, nach dem Vor-
bilde der frühern ostindischen Compagnie, in der Südsee aus-
zubreiten. —g.—
Die Khasias in Ostbengalen bauen noch heute große
Dolmen. Die British Association hat ihre Jahresversamm-
lung zu Norwich gehalten; Präsident war der berühnite Bota-
niker Joseph Hook er. In seiner Eröffnungsrede erwähnte er,
daß jetzt in Indien ganz specielle ethnographische Forschungen
angestellt werden; es handelt sich darum, eingehende Berichte
über die Racenverhältnisse, Sitten und Gebräuche der einheimi-
schen Völker und Stämme zu erhalten, namentlich auch über
die, welche noch jetzt megalithische Denkmäler errichten. Diese
Forschungen werden nun vom Obersten Meadows Taylor
geleitet. Hooker bemerkte:
„Es wird Manchen überraschen, wenn ich aus die Thatsache
hinweise, daß kaum 300 Miles von der Hauptstadt Calcutta ent-
sernt halbwilde Menschen wohnen, welche Dolmen, Menhirs,
Cysts und Cromlechs bauen, die eben so gigantisch in ihren
Verhältnissen sind, wie die sogenannten druidischen Denkmäler
in Europa, mit deren Bauart und Anblick sie die größte Aehn-
lichkeit haben. Schon vor einem Vierteljahrhundert sind diese
Monumente vom Oberst $ule abgebildet und beschrieben wor-
den; man hat aber pule's Aussatz (im „Asiatic Journal" 1844)
wenig beachtet und nur Lubbock hat Bezug auf denselben ge-
nommen.
„Hule schildert die Khasias als einen Stamm, welcher zur
sogenannten indo-chinesischen Race gehört. Sie halten Rindvieh,
trinken aber keine Milch; sie schätzen die Strecke, welche sie beim
Gehen zurücklegen, nach so und so viel Mundvoll „Pawn",
welche sie gekaut haben (— wie die deutschen Bauern z. B. in
Holstein nach „Pfeifen Toback" —). Ich habe vor nun 18 Iah-
ren mit Dr. Thomson einige Monate lang unter den Khasias
gelebt und fand alle Angaben pule's durchweg zutreffend. Auf
den wellenförmigen Höhenzügen, 4000 bis 6000 Fuß über dem
Meere, findet man sehr häufig Gruppen gewaltiger, viereckiger
Pseiler von unbehauenem Stein und tafelförmige Platten, die
von drei oder vier rohen Steinpfosten getragen werden. An
einer Stelle fanden wir im Sande einen beinahe vollständigen
Kreis von Menhirs; der höchste derselben war über dem Erd-
boden 30 Fuß hoch, 6 Fuß breit und 2 Fuß 8 Zoll stark, und
in der Front eines jeden Menhir befand sich ein Dolmen oder
Eromlech von verhältnißmäßig gigantischen Steinmassen; die
größte unter diesen Steinplatten (slabs), so viel deren bis jetzt
gemessen worden sind, ist 32 Fuß hoch, 15 Fuß breit und 2 Fuß
dick. Manche von denen, welche wir sahen, waren erst vor sehr
kurzer Zeit errichtet worden und wir erfuhren, daß man all-
jährlich dergleichen bauet, aber nicht während der Regenzeit,
in welcher wir gerade dort waren. Sie bewegen die Steinmas-
sen derart, daß sie Rinnen ausgraben und diesen entlang Feuer
unterhalten; wenn dieselben heiß sind, gießen sie kaltes Wasser
hinein, wodurch der Stein der Rinne entlang spaltet. (The me-
thod of removing the blocks is by cutting grooves, along
which fires are lighted, and into which, when heated,
cold water is run, which causes the rock to fissure along
the groove.) Zum Transportiren und Aufrichten dieser Stein-
massen haben sie weiter keine mechanischen Hülfsmittel als Hebe-
bäume und Stricke. Sie errichten diese Denkmäler, um Grab-
stätten zu bezeichnen, oder weil an irgend einer Stelle ein für
sie denkwürdiges Ereigniß sich zugetragen hat :c. Es ist eine
bemerkenswerte Thatsache, daß das Khasiawort für Stein, man
(men), sich häusig in den Ortsnamen ihrer Dörfer findet, ähn-
lich wie in der Bretagne, in Wales, in Cornwall auch. Mens-
ma! bedeutet in der Khasiasprache den Eid- oder Schwur-
Erdtheilen. 127
stein; Memlu (mamloo) den Salzstein; Menslong den
begrasten Stein :c., wie in Wales Penmaen Mawr be-
deutet: Hügel des großen Steines, und in der Bretagne
ist Menhir ein aufrechtstehender Stein, und Dol-men
bedeutet dort Tafelstein.
„Unser Verkehr mit den Khasias war nur beschränkt und
nicht immer freundlicher Art; wir verstanden ihre Sprache nicht
und sie selber waren keineswegs mittheilsam. Seit jener Zeit
ist indessen ihr Land mehr eröffnet worden und die britischen
Truppen haben dort ein Cantonnement. Es ist von entschie-
dener Wichtigkeit, über Ursprung, Herkunft, Sprache, religiöse
Vorstellungen, Sitten ?c. dieses Volkes Forschungen anzustellen,
und das wird in der allernächsten Zeit geschehen. Ich zweifle
nicht, daß diese Forschungen helles Licht werfen auf diesen dun-
keln und doch so wichtigen Zweig der vorgeschichtlichen Archäo-
logie, auf die megalithischen Denkmäler in Westeuropa."
So weit Hooker. Jene von $ule schon 1844 beschriebenen
Dolmen ic. im Lande der Khasias sind auch von A. von Bon-
stetten: Essai sur les Dolmens, Geneve 1865, unbeachtet
geblieben. Sein Verzeichniß der Dolmen in Indien, S. 60, ist
folgendes: Ostküste. Im nördlichen Arkot, bei Tschittur (Chi-
toor), in der Präsidentschaft Madras. Die Dolmen nehmen dort
eine Fläche von einer Quadratmeile ein. — Zwischen Madras
und Mangalore, auf dem Nilgherrigebirge. — Bei Utramalur
im Bezirke Tschmglepat. — Zwischen Madras und Pondichery,
bei Sadras. —
Als ich meinen Aufsatz über die geographische Ver-
breitung der Dolmen in drei Erdtheilen schrieb („Glo-
bus" VIII, S. 307 im Jahre 1865), war das Werk des Herrn
von Bonstetten noch nicht erschienen; ich sprach mich dort gegen
Desor's Tamhu-Theorie aus und gegen die Annahme, daß diese
Steindenkmale „keltisch" seien. Hooker irrt, wenn er meint, daß
die Forschungen Mle's nur von Lubbock allein beachtet worden
seien. Ich verweise aus den „Globus" X, S. 9: „Die Dol-
men im südlichen Ostindien", wo der Bericht des Ingenieurs
Fräser an die Regierung von Madras mitgetheilt worden ist.
Es heißt dort: „Auf die Monumente selbst hatte schon vor län-
ger als zehn Jahren Eapitän Pule aufmerksam gemacht, und
es darf uns nicht Wunder nehmen, daß er sie als druidische
Denkmäler bezeichnete." Es bleibt aber ein Verdienst Hooker's,
so eindringlich aus die Monumente im Lande der Khasias hin-
gewiesen zu haben.
Pfahlbauten in Schottland. Der Loch of Forfar hat
während der Sommermonate einen ungewöhnlich niedrigen Was-
serstand gehabt, und dieser günstige Umstand ist zu Nachforschun-
gen benutzt worden. Man wußte, daß in diesem See ein Cr an-
nog, eine Seeortschaft, vorhanden war, doch hatte man bisher
keine Untersuchungen angestellt. Nun berichtet das „Athenäum"
(vom 22. August), daß man ans Werk gegangen sei. Zwölf
Arbeiter mußten einen Dammweg (causeway) durchstechen und
150 Nards desselben ossenlegen. Der Dammweg bestand aus
einer rllckenartigen Erhöhung von Steinen und Mergel und er
läuft bis zum westlichen Ende des Sees. An der Nordseite fand
man eine Reihe von Pfählen, auf welche andere Pfühle in die
Quere gelegt waren, durchschnittlich 5 Fuß unter der Oberfläche.
Beim Nachgraben stieß man aus Lager von Asche, Schaf- und
Ochsenknochen, Hauzähne des Ebers und einige Bronzegeräthe.
Nähere Untersuchungen ergaben, daß dieser Crannog von Leuten
bewohnt war, deren Lebensweise ganz jener der schweizerischen
Pfahlbauten entspricht.
Die Ruinen der alten Stadt Dschaukeud unweit vom
Jaxartes. Wir haben derselben mehrmals erwähnt; jetzt finden
wir nähere Nachrichten, welche der Akademiker Lerch in der
Petersburger geographischen Gesellschaft mitgetheilt hat. Die
alte Stadt liegt unweit vom linken Ufer des Syr Darja, etwa
20 Werst vom russischen Fort Nr. 1. Während des Mittel-
alters, bei den Schilderungen der Eroberung von Chowaresm,
wird der Stadt Hanguiken oder, wie die Kirgisen sagen, Dschan-
128
Aus allen
Erdtheilen.
kend, mehrmals erwähnt; auch Abulfeda spricht von derselben.
Jni Jahre 1740 lag die Stadt schon in Ruinen; wir haben dafür
das Zeugniß Gladyschew's und Murawin's, welche am Aralsee
hin nach Chiwa gingen. Bei den gegenwärtigen Ausgrabungen hat
man Silber- und Kupfermünzen gefunden, welche beweisen, daß
die Bewohner von Dschankend mit der goldenen Horde in Ver-
bindung standen. Die Stadt war nicht groß und nahm einen
Raum von etwa 4 Quadratwerst ein; sie ist völlig nach Art
der anderen turkestanischen Städte angelegt worden. Die Citadelle
war mit Mauern und einem Wall umgeben; Felder und Gär-
ten wurden durch Canäle bewässert, die man aus dem Jaxartes
abgeleitet hatte. Bemerkenswerth ist der Umstand, daß die Häu-
ser aus gebrannten Backsteinen aufgeführt find, während die
Städte Centralasiens fönst im Allgemeinen nur Lehmsteinhäufer
haben. Nichts zeugt sür eine gewaltsame Zerstörung. Lerch
meint, die Stadt sei allmälig verlassen worden, aus Ursachen,
die wir nicht kennen. Die Wohnungen verfielen allmälig, weil
keine Ausbesserung stattfand; erst stürzten die Decken ein, dann
die Wände und hinterher wurde Alles mit Sand bedeckt, auf
welchem dann eine ärmliche Steppenvegetation sich ansiedelte.
Zur Statistik Brasiliens. Die Secretäre, welche bei den
britischen Gesandtschaften angestellt sind, müssen alljährlich Be-
richte über Handel, Finanzen, Bevölkerungsverhältnisse ?c. der
Länder, in welchen sie verweilen, nach London einschicken, und
wir erfahren daraus dann und wann manche nützlichen Angaben.
In dem Berichte des Legationssecretärs Pakenham, datirt Rio
de Janeiro, 1. Mai 1868, finden wir folgende Angaben.
Brasiliens Ausgaben sind im Budget des Finanzministers
für das Finanzjahr 1868/1869 auf 6,774,262 Pf. St. veran-
fchlagt worden; davon für den Krieg 1,441,510, für die Marine
816,287. — Einnahmen: 5,900,000 Pf. St.; davon kom-
men auf Einfuhrzölle 3,303,249, Ausfuhrzölle 1,018,974. —
Staatsschulden: 47,595,318 Pf. St.; davon kamen bis No-
vember 1867 auf die auswärtige Schuld 14,081,800, auf die
innere 12,418,270. Das Uebrige vertheilt sich auf Papiergeld
und Regierungsfcheine, Schulden an die Bank ic. Deficit im
Mai: 7,200,000. — Aussuhren von Rio de Janeiro im
Jahre 1867:
Kaffee..............424,532,680 Pfund 8,776,590 Pf. St.
Zucker..............8,980,960 „ 106,752 „ „
Baumwolle .... 9,240,000 „ 350,000 „ „
Gefalzene Häute . 4,200,000 „ 57,540 „ „
Trockene Häute . . 250,000 „ 8,250 „ „
Hörner..............116,860 „ 1,519 „ „
Rum................3,865 Pipen 40,000 „ „
Tapioca............11,294 Fässer 25,066 „ „
Taback..............51,615 Packen 154,845 „ „
Diamanten .... 5704 Oitavas 37,000 „ „
9,558,287 Pf. St.
Die Ausfuhr in den Häfen Pernambueo, Para, Bahia,
Rio Grande do Sul und Santos beliefen sich auf etwa
7,000,000 Pf. St.
Die brasilianische Regierung hat im October 1867 eine Ta-
belle über die Bevölkerung des Kaiferreichs veröffentlicht;
diefe wird, offenbar viel zu hoch, auf 10,058,000 Seelen
angegeben. Davon sind freie Leute 8,184,000; Sklaven
1,674,000; Indianer 200,000. Die Volksmenge der Stadt
Rio de Janeiro wird auf 320,000 Freie und 100,000 Skla-
ven angegeben.
Zuckerpluntagen in Neusüdwales. Die Zuckerplantagen
in der Kolonie Neusüdwales nehmen einen recht erfreulichen Fort-
gang. Es sind folche bereits an mehr als fünfzig Orten ange-
legt, und wenngleich viele noch nicht weit über die ersten An-
fange hinaus sind, so liefern manche doch schon reichliche Erträge.
So kamen am 16. April dieses Jahres tu Sydney zum ersten
Male 120 Säcke des sogenannten Hellow-Counter-Zucker, den
ein Herr Meares auf seinen Pflanzungen im Haftingsdistricte
gewonnen hatte, zur öffentlichen Versteigerung und erzielten 34
Ps. St. per Tonne. —g.—
# * *
— Drei englische Touristen: Freshfield, Moore und Tucker,
haben im Juli den Berg Kasbeck im Kaukasus erstiegen. Sie
übernachteten am 12. Juli in etwa 11,200 Fuß Höhe über dem
Meere, brachen dann früh 3 Uhr auf und erreichten um Mittag
den höchsten Gipfel. Sie fanden den höchsten Gipfel 18,526, den
zweithöchsten 16,540 englische Fuß hoch. Dann stiegen sie aus
der Nordseite hinunter.
— Die Brasilianer haben aus dem Araguay, einem der
beiden Hauptarme des Tocantins, in der Provinz Goyaz,
eine Dampfschiffahrt eröffnet.
— Brasiliens Ausfuhr von Baumwolle hat 1867
die sehr beträchtliche Menge von 2,692,192 Aeroben betragen.
— Im Territorium Nevada wurde am 2. Mai die „Stadt"
Reno gegründet; am Schlüsse des Monats zählte sie schon 503
Einwohner.
— In der Colonie Neusüdwales (Australien) ist aber-
mals, und zwar bei Anvil Creek, ein außerordentlich reiches und
vortreffliches Kohlenlager aufgefunden worden.
— Aus den Marmorbrüchen von Carrara sind in
den Jahren 1863 bis und mit 1865 nicht weniger als 126,928
Tons (zu 20 Centner) Steine gebrochen worden, im Geldwerthe
vou etwa 270,000 Thalern. In den Steinbrüchen wurden 1867
durchfchnittlich 2238 Personen beschäftigt. — Die Alabaster-
brüche bei Volterra lieferten im Jahre etwa 500 Tons
Alabaster.
— „Woher haben die Engländer den Ausdruck „jungle"
entlehnt, mit welchem sie namentlich in Ostindien ein Wald-
gestrüpp bezeichnen? Europäisch ist derselbe nicht, aber welcher
morgenländischen Sprache gehört er an?"
Es scheint, als ob man ihn aus irgend eine Weise aus dem
östlichen Turkestan erhalten habe. Dieses bis vor wenigen Iah-
ren den Chinesen unterworfene Thian schan nan lu oder die so-
genannte kleine Bucharei besteht zum bei weitem größten Theile
aus Steppenland mit sehr trockenem Klima. Die Vegetation
tritt dort nur an den Flüssen auf, die auf jeder Seite einen
fchmalen Saum von Laubholz haben. Diese Userwaldungen
werden von den Eingeborenen mit dem persischen Worte
Dschengel bezeichnet und dieser Dschengel besteht, je nach den
verschiedenen Oertlichkeiten, aus verschiedenen nebeneinander wach-
senden Baumarten. In Sibirien nennt man solche Waldstücke
Urema.
Wohlau in Schlesien, September 1868. In denk Forste
zwischen Beschine und Mönchmotschelnitz sprengte man einen erra-
tischen Block, welcher von so enormer Größe war, daß er neun
Klafter Sprengsteine gab. Unter demselben, in einer Tiefe
von etwa fechs Fuß, fanden die Arbeiter einen Stein-
Hammer von so schöner Arbeit, daß man ihn für ein Erzeug-
niß der neuesten Zeit halten könnte, wenn der Fundort nicht in
Betracht gezogen würde. Der Hammer ist von Serpentin-
stein; die Face bildet eine regelmäßige Ellipse, nur an einem
Ende so weit abgeplattet, wie es der Gebrauch als Hammer be-
dingt; am entgegengesetzten Ende ist eine etwas lückige Schneide;
in der Mitte ein vollkommen zirkelrundes, durchgehendes Loch;
am dicksten Theile des Hammers hat er in der Face wie ini
Profil zwei Zoll Durchmesser; der Diameter von der Schneide
bis zum andern Ende beträgt sechs Zoll. Ein Serpentin-
steinhammer unter einem erratischen Blocke! Welche
Folgerungen sür die Alterthümer des Menschengeschlechts sind
daraus zu ziehen?
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschwcig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
Im
Norden des Kaukasus.
Zweiter Artikel.
Georgiewsk und dessen Bazar; Baschlicks. — Der Elbrus und die Schneegipfel des Kaukasus. — Der Badeort Piätigorsk. —
Leben und Treiben der Zigeuner. — Wladikawkas und der Terek. — Das Gebirgsvolk der Kabardiner. — Die Lesghinka. —
Zur Charakterisirung des Kampfes der Bergvölker mit den Russen. — Der Paß von Dariel. — Der Kasbek, dessen Lawinen
und Felsstürze. — Die große Militärstraße von Mosdok nach Tislis. — Das Bergvolk der Osseten. — Bauart der Dörfer. —
Übereinstimmung mit germanischen Sitten und Gebräuchen. — Kampf gegen den Drachen zu Gunsten des Mondes.
An der Straße, welche von Stawropol nach Georgiewsk
führt, liegen zu beiden Seiten sehr stark bevölkerte Kosacken-
dorfer, von denen sich manche recht malerisch ausnehmen, be-
sonders jene aus den grünen Hügeln. Georgiewsk ist eine
unbedeutende Stadt, in welcher nur an den Sonntagen eini-
ges Leben herrscht, weil dann großer Markt gehalten wird.
Die Buden im Bazar sind recht gut mit allen möglichen
Dingen versorgt, namentlich mit Reisepelzmützen, kleinen,
eigentümlich geformten Dolchen und mit Baschlicks. Diese
letzteren sind eine Art von Kapuze, welche von den Berg-
Völkern nnd den Kosacken bei Schnee- oder Regenwetter ge-
tragen wird; sie sind durchaus zweckmäßig. Die Straßen
der Stadt haben zumeist nur kleine, einstöckige Häuser, keinen
Baumschatten, sind krumm, nngepflastert und staubig. Schafe
und Kälber weiden gemüthlich in diesen Gassen und auf den
verschiedenen großen Plätzen, auf denen gleichfalls Gras
wächst. Wereschagin sah auf dem Bazar gefangene Kauka-
sier, deren je zwei an einander gekettet waren und von russi-
scheu Soldaten mit aufgepflanztem Bayonnete bewacht wnr-
den; sie kauften Lebensmittel und mancherlei Kleinigkeiten ein.
Anblick der Central
Bei Hellem Wetter kann man von Georgiewsk aus die
Schneegipfel der Hauptketteu des Kaukasus sehen
und der Anblick ist in der That großartig.
Von dieser Stadt laufen zwei Straßenzüge ans; der eine
geht nach Jekaterinograd nnd weiter nach Mosdok und in
den Kaukasus, der andere nach Piätigorsk und Kißlowodsk,
diesen berühmten Badeörtern, welche viel besucht werden.
Nach und nach treten die Gebirge immer deutlicher hervor
und etwas weiter hin erblickt der Reisende zur Rechten den
mit ewigem Schnee bedeckten Elbrus. Er bildet den hoch-
sten Berg in der weiten Region zwischen dem centralasiati-
Globus XIV. Nr. 5. (September 1868.) *
itppe des Kaukasus.
schen Bolorgebirge und dem Atlantischen Ocean, zwischen
dem Aeguator und dem Nordpol; etwa 16,700 Pariser Fuß.
Auf der andern Seite erblickt man den gleichfalls mit Schnee
bedeckten Kasbek, der eine etwas geringere Höhe hat, und
geradeaus erheben sich drei einzeln hervorragende Berggipfel,
unter welchen der Maschuck hinter Piätigorsk sichtbar ist.
Der Name der Stadt bedeutet: an den fünf Bergen liegend;
sie steht am Flüßchen Podknmok, welcher unweit von dort in
dieKuma sich ergießt, und hat etwa 5000 Einwohner. Die
Schwefelquellen, etwa 20 an der Zahl, haben eine Tempe-
ratur von 23 bis 28° R. Dann und wann versiecht eine
17
130
Im Norden des Kaukasus.
dieser Quellen, während dann in größerer oder geringerer
Entfernung eine andere dafür zum Vorschein kommt. In
den Vorstädten wohnen zumeist Kosacken, in der innern Stadt
dagegen viele Armenier, welche überall in den kaukasischen
Gegenden nicht nur den Großhandel, sondern auch den Klein-
Handel in ihren Händen haben, und in letzterer Beziehung
genau die Stelle der Juden in Westrußland einnehmen. Von
den Hügeln aus gesehen gewährt die Umgegend einen reizen-
den Anblick; man sieht die sauberen, weißschimmernden Ko-
sackendörfer und die Ansiedelungen der Tataren, die einen wie
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Ein Waffenschmied aus Daghestan.
die anderen von hohen Bäumen umgeben. Bemerkenswerth
ist das sogenannte Loch, eine Höhle, die einem umgestülp-
teu Kegel gleicht und welche oben ihren Eingang hat. In
ihr sprudelt ein Schwefelqnell.
Werefchagin zeichnete in Piätigorsk einen Waffenschmied
aus Schkau, welcher ihm zufolge recht eigentlich als der voll-
kommene Typus eines Daghestaners betrachtet werden kann.
Als der Reifende feine Fahrt nach dem Gebirge weiter fort-
fetzte, traf er unterwegs mit einer Bande herumstreifender
Tfiganen zusammen. Diese Zigeuner boten ein eigenthüm-
Im Norden des Kaukasus.
131
liches Gemälde dar. Vor den mit Siebensachen aller Art
beladenen Karren waren magere Gäule gespannt; oben aus
Kisten und Kasten saßen Weiber und Kinder; einige Män-
ner gingen zu Fuß, andere ritten. Diese Bande bildete einen
langen Zug; manchmal trabten Wagen- und Reitpferde, wäh-
rend die Fußgänger Trott liefen; der Staub wirbelte in
Wolken auf; dabei wurde gesungen und geflucht.
Solch ein fliegendes Zigeunerlager wird als Tabor be-
zeichnet. Der Tsigan schlägt es auch in der Kaukasusregion
unweit von einer Stadt oder einem Dorfe auf, und bietet
dann seine Dienste an als Kesselflicker, Schmied, Zimmer-
mann und dergleichen. Vorzugsweise aber ist er ein zudring-
licher Bettler und ein frecher Dieb; dabei hat er eine große
Gewandtheit, sich in jede mögliche Lage zu schicken, und an
einer gewissen Anstelligkeit fehlt es ihm nicht. Die Weiber
verkünden gutes Glück, aber neben dem Wahrsagen treiben
sie auch „Zauberei". Das geringe Volk glaubt auch in die-
sen Gegenden den Zigeunerweibern, die etwas zugleich Ab-
Zigeuner aus Mosdok.
stoßendes und Geheimnißvolles an sich haben. Diebinnen
sind sie alle. Niemand hat die Zigeuner gern in seiner Nähe;
die Gemeinden bieten Alles auf, um fie in Städten uud Dör-
fern nicht ansässig werden zu lassen, weil sie nirgends gut
thun und weil dort, wo sie sich einmal eingenistet haben, kein
Nagel vor ihnen sicher ist. Ohnehin ist ihr über alle Be-
schreibnng schmutziges Wesen höchst widerwärtig, und man
bezeichnet ein Zigeunerzelt nicht unpassend als „Elend im
Koth". Das Hauptgeräth ist ^der große Kochkessel; wenn
ein Fremder kommt, von welchem man eine Gabe erivartet,
stülpt man den Kessel um und bietet ihn als Ehrenstuhl dar.
Draußen liegen neben dem Ambos einige Zaugen, ein Blase-
balg und andere Schnüedegeräthe. Die Kleidung ist von
da oder dort her zusammengerafft.
Die Zigeuner, welchen Wereschagin begegnete, waren aus
der Krim gekommen; ihr Tabor lag ganz in der Nähe einer
Stanitze und der Künstler beschloß einige Tage dort zu ver-
weilen, um sich das seltsame Volk mit Muße betrachten zu
132
Im Norden des Kaukasus.
können. Männer und Weiber ließen sich gern „auss Pa-
pier übertragen", denn Wereschagin zahlte für eine Sitzung
— zehn Kopeken. Solchem Anreize konnte kein Zigeuner
widerstehen. Aber die Dinge nahmen ein unliebsames Ende.
Als er am dritten Tag aus der Stauitze in das Tabor kam,
wurde er mit lauten Vorwürfen überhäuft. Weshalb? Weil
ein Zigeuner, welchen er zwei Tage vorher porträtirt, eine
schlimme Hand bekommen hatte. „Mach daß Du fortkommst!"
riefen sie, „Du bist ein Schai'tan (Teufel) und wirfst uns
Krankheiten an den Hals." Nun hatte das Zeichnen ein
Ende. Mit den Bettlern kam er noch am besten zurecht; sie
saßen in Accord und sagten: „Wenn Du mich zwei Stun-
den sitzen lässest, so mußt Du mir so und so viel gehen, sonst
bleibe ich nicht, sondern gehe ins Geschäft, das mir die und
die Summe einbringt."
Von Georgiewsk bis Wladikawkas beträgt die Entfer-
nung 130 Werst. Mit Recht führt dieser Ort den Namen
„Herr des Kaukasus", denn er beherrscht den Eingang der
großen Militärstraße ins Gebirge. Die Endpunkte dersel-
ben sind im Norden Stawropol, im Süden Tiflis; von Je-
katerinograd führt sie am Terek hinauf durch die Kabarda-
Vorstufe des Gebirges. Wladikawkas, an beiden Ufern des
Flusses, liegt 1941 Fuß über dem Meere und hat starke
Festungswerke. Der Terek entspringt in den Schluchten
Zigeunerin.
Zigeunerin.
Zigeuner.
des Darielpasses, nimmt anfangs eine nordwestliche Richtung,
wendet sich dann nach Osten und mündet unterhalb Kisljar
ins Kaspische Meer.
Wer in den Kaukasus reist, thut wohl daran, wenn er
sich in Wladikawkas eine lesghische Burla kauft. Sie ist
eine Art von Ueberwurf oder Mantel aus dichtem Wollen-
gewebe, verhältnißmäßig leicht und schützt dennoch vortrefflich
gegen Wind und Wetter. Die in Lesghistan verfertigten
Burlas zieht man den daghestanischen vor, welche viel schwerer
sind. Die hohe Pelzmütze der Bergvölker hat sich hier bei
den Stadtbewohnern allgemein eingebürgert.
Schon in Wladikawkas kann man Bekanntschaft mit den
Kabardinern machen. Sie heißen so nach der Kabarda,
dem nördlichen Vorlande des Kaukasus zwischen dem Kuban,
der Malka und dem Terek. Die sogenannte große Kabarda
bildet den westlichen Theil, welcher durch den Terek vom öst-
lichen, der. kleinen Kabarda, geschieden ist; jene hat etwa
25,000, diese 13,000 Einwohner. Im Allgemeinen ha-
ben die kaukasischen Bergvölker, obwohl sie sehr verschiedene
Stammgruppen bilden, doch auf den ersten Blick viel Ge-
meinsames in Tracht und Lebensweise, oft auch in der Phy-
siognomie und der Religion. Der Kaukasus ist mehr als
irgend ein anderes Gebirgsland die Heimath der Sagen und
Überlieferungen, von welchen allerdings sehr viele vor der
strengen Kritik nicht Stich halten. So wollen die Kabar-
diner wissen, daß ihre Urheimath in — Aegypten gewesen
sei. Nachdem sie das Land am Nil verlassen, seien sie in
die Krim gezogen, wo sie am Flusse Kabarda sich uiederge-
lassen hätten. Als nach Verlauf langer Zeit jenes Land
ihnen nicht mehr zugesagt, wären sie am Kuban hinauf bis
an die Quellen dieses Stromes gezogen und ein Theil sei
weiter an den Terek gegangen. Jetzt sind sie allesammt den
Russen unterworfen. Sie hatten eine fcharfe Clafseutren-
nung; der Ackerbauer war den Edelleuten uuterthan, die
Im Norden des Kaukasus.
133
ihrerseits in vier Rangstufen zerfielen. Ueber Allen stand
der Wali, Fürst der Fürsten, dessen Würde erblich war. In
Folge der Abneigung gegen die Russen wanderten viele Ka-
bardiner in die damals noch nicht bezwungenen Gebiete aus;
so verließen in den Jahren 1804, 1822 und zuletzt noch
1849 mehrere tausend „Flüchtige" die Heimath, aber auch
sie müssen nun als Uuterthaueu dem Czar gehorchen, welcher
seit 1859 unbestritten im Besitze des ganzen Kaukasus ist.
Veranlassung zum Mißvergnügen gaben die Russen aller-
dings. Sie zwangen den Kabardinern, welche ihre inneren
Zwistigkeiten gemäß dem altherkömmlichen Gesetze des Ch a-
riat zum Austrage brachten, das käufliche moskowitische Ju-
stizweseu auf, und ferner war die Pilgerfahrt nach Mekka
verboten worden. Im Anfange des lausenden Jahrhunderts
trat eine Seuche aus, die volle vierzehn Jahre lang wüthete
und eine große Menge Menschen hinwegraffte. Dann kamen
die blutigen Kriege mit dem General Aermoloff, der 1822
unter den Kabardinern stark aufräumte.
Ein Kabardiner.
Diefe stehen übrigens seit langer Zeit mit den Russen
in politischen Beziehungen, und haben schon im sechszehn-
ten Jahrhundert, iu der Zeit, da Astrachan erobert wurde,
die Oberherrschast Iwan des Schrecklichen anerkannt. Doch
war diese Abhängigkeit eigentlich nur eine scheinbare und sehr
lockere.
Bei den Kabardinern wird der junge Edelmann oder
Fürst schon als Knabe im Gebrauche der Waffen geübt und
zu einem tüchtigen Reiter herangebildet. Alle anderen Be-
schäftignngen gelten für unwürdig; Einfluß übt nur der
Mann, welcher muthig und tapfer, kühn uud stolz ist. ^ Aber
die fchöuen Tage der ununterbrochenen Kriege und Fehden
sind nun dahin; die Russen wollen, daß Frieden gehalten
werde. Der gemeine Mann, der Bauer, welcher früher Leib-
eigener oder Sklav des Edelmannes und demselben blind er-
geben war, hat aber durch die Umgestaltung der Verhältnisse
wesentlich gewonnen.
Die Frauen allein besorgen das Hauswesen, spinnen und
134
Im Norden des Kaukasus.
weben und verfertigen den Männern die Kleidung. Diese
tragen lange Beinkleider und eine Arsch aluka, d. h. eine
Jacke mit stehendem Kragen, welche bis an den Hals zuge-
knöpft oder zugenestelt wird. Als Ueberkleid hat man den
Beschmet oder die Tscherkaska, den sogenannten tatari-
schen Rock. Vor der Brust werden Tuchstreifen von anderer
Farbe aufgenäht, und sie bilden kleine Säcke, in welche der
Kabardiner seine Patronen steckt. Diese sind allemal mit
Lumpen umwickelt, damit sie trocken bleiben. Zu Hause trägt
man grobe Lederschuhe mit hohen Hacken oder im Sommer
nur wollene Strümpfe; der Reiter aber hat hohe Stiefel
von weichem Leder und mit weichen Sohlen. Auf dem glatt-
geschorenen Kopfe sitzt der Papasch, die ungeheure Mütze
aus Schaffell; gegen Wind und Wetter schützt die Burla.
Mütze und Mantel sind
schwer und müssen imSom-
mer wohl lästig fallen; man
dars aber nicht vergessen,
daß die Bergbewohner un-
ablässig schroffem Tempera-
turwechsel ausgesetzt sind,
und daß sie es sehr zweck-
mäßig finden, derart beklei-
det zu sein, wenn sie von
den kalten Höhen in die
heißen Thäler Herabkommen
oder aus diesen ins Gebirge
gehen.
Wir geben eine Abbil-
dnng ihrer Waffen: Dolch,
Pistole, Flinte. Im Jahre
1864 hatten sie noch keine
Zündhütchen, sondern nur
Schlösser mit Feuersteinen.
Die Pistolen hängen hinten
aus dem Rücken an einem
dünnen Seile; auch die
Fliute wird auf dem Rücken
getragen und steckt in einem
Ueberzuge von Schaffell.
Zu beiden Seiten sind zwei
dünne Stäbe mit spitzem
Ende befestigt. Wenn der
Kabardiner zu Fuß geht
und schießen will, dann
steckt er diefe Stäbe so in
die Erde, daß sie oben sich
kreuzen und daß er sein Ge-
wehr auflegen kann. Er
ist übrigens ein gewandter
Schütz. — Die Pferde der
Kabardiner gelten für weniger gut als jene anderer Völker
des Kaukasus; sie laufen jedoch flott und sind unermüdlich,
aber durchschnittlich sehr mager. Die Steigbügel werden un-
gemein kurz geschnallt, und es ist zu verwundern, daß der
Reiter dabei einen festen Sitz behauptet.
Edelleute und Bauern sind gleich unwissend; ein Mann,
der lesen und schreiben kann, gehört zu den Seltenheiten.
Wein darf nicht getrunken werden; die Speisen sind äußerst
einfach uud nur bei festlichen Gelegenheiten, z. B. bei Hoch-
zeiten, werden Schmäufe veranstaltet. Als Nationaltanz im
ganzen Kaukasus kann man die Lesghinka betrachten. Sie
besteht aus sehr schwierigen und excentrischen Pas, welche
der Tänzer taktmäßig ausführt nach einer lebhaften aber ein-
förmigen Musik. Männer und Weiber tanzen in getrenn-
ten Gruppen gleichzeitig, aber nie mit und durch einander.
Ein Kabardiner.
Die Umstehenden schlagen den Takt, indem sie in die Hände
klatschen.
Man trifft in der ganzen Kabardei noch manche Spuren
des ehemaligen Christenthums, namentlich Ruinen von Kir-
chen, und Wandgemälde, die sich zum Theil recht gut erhalten
haben. Noch zu Anfang des laufenden Jahrhunderts konn-
ten alte Leute sich erinnern, daß in manchen nun verfallenen
Kirchen christlicher Gottesdienst gehalten worden fei; der Js-
lam ist erst vor etwa achtzig oder neunzig Jahren allgemein
herrschend geworden.
Wereschagin reiste im Kaukasus mit einem im Gebirge
weit und breit bekannten Lesghier, Namens Hadschi Mur-
tus, der früher in einem Aufstande gegen die Russen seine
Landsleute befehligt hatte. Von ihm erfuhr er manche Ein-
zelnheiten aus jenen lang-
wierigen Kämpfen. Die
Lesghier hatten sich gegen
den Feind verschworen, ohne
daß die Behörden eine Ah-
nnng davon hatten; sie wa-
ren ganz sorglos und un-
vorbereitet. Da erschien
eines schönen Tages ein
Bote in der Festung La-
godsk, wo damals Fürst
Chalikoff als General befeh-
ligte, und brachte die Mel-
dnng, daß die große Ort-
schaft Belokan im Aufstande
sei, welchem die Dörfer in
der Umgegend sich ange-
schlössen hätten. Er berich-
tete weiter, daß einige Tau-
send Rebellen gegen die Fe-
stnng Zakatal anrückten, um
dieselbe zu belagern; an
ihrer Spitze stehe Hadschi
Murtus. Der Bote galt
für einen den Russen an-
hänglichen Mann; er war
wegen der Dienste, welche
er ihnen in früheren Krie-
gen geleistet, mit einem Or-
den bedacht und zum Capi-
täu ernannt worden. Der
General mußte demnach
wohl glauben, daß Murtus
bei dem Aufstande betheiligt
sei. Sofort rückte Chali-
koff mit aller verfügbaren
Mannschaft aus. In der
Nähe von Belokan schloffen sich die Bergbewohner aus der
Umgegend von Dfcharsk ihm an; sie hatten sich seit langer
Zeit freundlich gesinnt gezeigt und wollten sich jetzt als Be-
deckuug anschließen. Als Chalikoff in die Nähe der von
den Rebellen aufgeworfenen Verschanzungen kam, sagte er
zu jenen Leuten: „Nun geht hin und sagt ihnen, daß sie
fortziehen und sich zerstreuen." Die Leute von Dfcharsk
sprengten im Galop davon, aber nicht gegen die Lesghier,
sondern sie entflohen. Jetzt begriff der General feine ge-
fährliche Lage; er war mit einigen wenigen georgischen
Milizleuten allein, wollte aber nicht zurückweichen, son-
dern ritt weiter bis in die Nähe einer Schlucht. Dort trat
Hadschi Murtus auf einen Felsvorfprung; als Chalikoff
ihm das Wort: Schurke! zugerufen hatte, sank er in dem-
selben Augenblicke tobt zu Boden. Die georgischen Männer
Im Norden des Kaukasus.
^wurden niedergehauen, und die russischen Soldaten, welche
nun im Eilmarsch herankamen, waren im Nu von den
„Kopfabschneidern" umzingelt. Jndeß gelang es ihnen, sich
bis zu der etwa zehn Werst entfernten Festung Zakatal durch-
zuschlagen, allerdings mit großem Verluste. Fürst Chalikoff
war mit etwa 200 Mann ausgerückt; davon blieb reichlich
ein halbes Hundert auf dem Platze und eben so viele wur-
den verwundet; aber keiner davon fiel in die Gewalt des
Feindes.
Die Besatzung von Zakatal bestand gewöhnlich aus etwa
tausend Manu; jetzt aber war nur das kleine Häuflein dort,
welches sich durchgeschlagen hatte. Es war sehr nngewiß,
ob von Lagodsk, oder aus
Kachetien, oder von TisliS
her auf Hülfe und Entsatz
zu rechnen sei, denn die Les-
ghier hatten alle Brücken,
namentlich jene über den
Alasan abgebrochen. Bei
der Festung Zakatal liegt
eine kleine Stadt; die Be-
wohner derselben machten
mit der Besatzung gemein-
schaftliche Sache.
Der Tag verlief ruhig.
Als die dunkle Nacht her-
aufgezogen war, rückten die
Lesghier an und sangen ihr
Schlachtlied. Dann folgte
ein wildes Kriegsgeschrei
und der Angriff gegen die
Festung begann. Er wurde
abgeschlagen; dasselbe ge-
schal) am zweiten Tage und
der Feind mußte sich mit
einer Umzingelung begnü-
gen. Gegen Abend aber ka-
men von mehreren Seiten
her russische Truppen in be-
trächtlicher Stärke herange-
zogen und schloffen nun ih-
rerseits die Belagerer ein,
welchen nichts übrig blieb,
als die Waffen zu strecken.
Ein Dutzend derselben wurde
gehängt und ein paar hun-
dert wurden nach Sibirien
verbannt.
Bei den Bergvölkern wie-
derholen sich derartige Auf-
stände theils wegen der Liebe
zur Unabhängigkeit, theils
aus religiösem Fanatismus.
Hadschi Mnrtns war ent-
komme» und irrte länger als ein halbes Jahr im Gebirge
umher. Berrath von Seiten seiner Landsleute hatte er nicht
zu befürchten, aber russische Soldaten waren ihm unablässig
auf der Spur und die Einquartierung siel den Bergbewohnern
sehr lästig. Um der Sache ein Ende zu machen, stellte sich
Hadschi Mnrtns den Behörden. Er wurde erst zum Tode ver-
urtheilt und dann unter der Bedingung begnadigt, fern vom
Kaukasus im Innern Rußlands zu leben. Eine Zeitlang
saß er als Gefangener in den Kasematten der Burg Meseb
bei Tiflis. Seitdem auch die Lesghier völlig unterworfen
waren, konnte er sich frei bewegen.
Ein Tatar von Piätigorsk.
Der Weg nach Tiflis führt durch den berühmten Paß
von Dariel; die kleine Ortschaft, nach welcher er benannt
wird, liegt 3772 Pariser Fuß über dem Meere. Die ganze
Scenerie macht einen gewaltigen Eindruck. Der Paß hat
an seinen engsten Stellen eine Breite von nur etwa dreißig
Schritt; die gewaltigen Felsmassen steigen kerzengerade em-
por; nirgends sieht man eine Pflanze, Alles ist grau und
kahl. Ost liegen dichte Nebelwolken in und über diesen
Schluchten und an manche Stellen dringt niemals ein Son-
nenstrahl. Am Darielpasse liegt die Wasserscheide; der Terek
fließt nach Norden, der Aragwa nach Süden zum Kur.
Beide Flüsse, Terek wie Aragwa, haben ihre Quellen in den
Gletschern des Kasbek, der
sich fast in der Mitte der
Schlucht oder vielmehr ne-
ben derselben zu seiner maje-
statischen Höhe erhebt. Die
große Heerstraße, welche
Eis- und Transkaukasien
mit einander verbindet, ist
mit großen Kosten und An-
strengungen hergestellt wor-
den. In einem Berichte des
Generals Knorring wird
darauf hingewiesen, daß der
Terek einen sehr reißenden
Lauf habe. Unweit von den
Grenzen Georgiens mußten
die Ingenieure auf einer
Strecke von nur 35 Werst
nicht weniger als 18 Brücken
bauen und dabei allemal
Querbalken vou einem Ufer
zum andern legen, fo hoch
als möglich, weil der Strom
in jedem Jahre fein Bett
verändert und ungeheure
Steinmassen herabwälzt.
An manchen Stellen tritt er
so dicht an die Felsen hin-
an, daß platterdings kein
Pfad vorhanden ist. Dann
hat man die Wege aus dem
Felsen heraus oder ins Ge-
stein hinein hauen müssen.
Man sieht, hier war eine
schwierige Aufgabe zu lösen;
aber jetzt findet der Reisende
eine gute, regelrechte Ehaus-
see, gute Brücken und iu ge-
wissen Zwischenräumen auch
Haltestellen.
Aber der Terek ruht und
rastet nicht. Manchmal wird
die Verbindung durch Lawinen und Felsstürze unterbrochen.
Sie kommen vom Kasbek herab, und der „wüthende Strom",
Beschennayia Balka, richtet gewaltige Verwüstungen an.
Ein Augenzeuge schreibt: „Etwa eine Wegstunde von der
Poststation Kasbek läuft ein kleiner Wasserbach fast uube-
merkt zwischen Felsen in ein kleines Becken, das als Pferde-
tränke benutzt wird. Aus demselben heraus fällt er dann
fast senkrecht in den Terek; sein ganzer Lauf ist nur etwa
eine Viertel- (deutsche) Meile lang, die Quellen liegen in
etwa 8000 Fuß Höhe. Dieser winzige Bach nun schwellt
zur Zeit des Frühjahrsregens mit einer erstaunlichen Schnel-
ligkeit gewaltig an; das klare Wasser wird schlammig und
136 Im Norden
bald hört man ein schreckliches Getöse. Ich war Zeuge eines
ergreifenden Schauspiels. Die herabstürzende Wassermasse
war nun dick und sah schwarz aus. Bald vernahmen wir
ein Donnergetöse, das sich im Echo wiederholte. Die Bauern
und Kinder riefen: „Jetzt kommt's!" Und es kam; das
heißt, diese schlammige Masse wälzte unzählige, mächtige Fel-
senmassen mit sich und sie alle stürzten mit jähem Fall in
den Terek mit einem Geräusch hiuab, das sich uicht beschrei-
beu läßt. Der Bach hat sich ein tiefes Bett in den Thon-
schiefer gegraben und reißt in seiner Quellgegend allerlei
Gestein uud Felsgetrünuuer mit fort; diefe häufen sich an
manchen Stellen auf und bilden Dämme. Durch diese sin-
det das Wasser anfangs nur fchmale Durchlässe und stauet
sich, bis es so mächtig wird, daß es den ersten Damm mit
sich fortreißt. Und so geschieht es auch nach und nach mit
den anderen Dämmen."
„Gewaltig uud großartig sind auch die Lawinen, welche
voni Kasbek herabstürzen. Sie verschütten einen Theil des
Darielpasses, halten eine Zeit lang den Terek in seinem Laus
des Kaukasus.
auf und richten an der Chaussee arge Verwüstungen cii£
Die Russen müssen dann sich unter großen Gefahren und
Beschwerden einen Weg über den Schnee hinweg bahnen.
Früher hatte man in jedem Jahre derartige Lawinenstürze.
Dann aber fügte es der Zufall, daß sie eine gewaltige Fels-
masse herabrissen, die sich oberhalb des Passes festlegte und
seitdem als Damm gegen die Lawinen dient. Wir wissen,
daß die drei gewaltigsten Lawinenstürze in die Jahre 1808,
1817 und 1832 fallen; der in letzterm Jahre (vom 13.
August 1832) verschüttete den Terek auf der Strecke von
nahezu einer Wegstunde mit Eisblöcken, Schnee und Steinen.
Der Lauf des Flusses war eine Zeit lang völlig gehemmt,
und weit abwärts, in Wladikawkas, war sein Bett ein paar
Stunden lang fast trocken. Oberhalb der Lawine bildete der
aufgestauete Fluß einen See und erst nach Verlaus von acht
Stunden konnte er sich wieder eine Bahn brechen unter einem
Gewölbe von Schnee uud Eis hindurch. Die Höhe jener
Lawinemuasse ini Terekthale wurde auf etwa 380 Fuß ge-
schätzt, ihr Inhalt aus 3,200,000 Cubikmeter. Kleinere,
Kabardiner. Kabardin
im Allgemeinen wenig gefährliche Lawinen kommen in jedem
Jahre vor."
*
* H=
Bei der Poststation Kasbek liegt auf einem Berg-
gipfel ein altes, jetzt verlassenes Kloster, welches den größten
Theil des Jahres hindurch mit Wolken umhüllt ist. In
dieser Gegend kann man mit einem der interessantesten Volks-
stämme des Kaukasus Bekanntschaft machen, — den Osse-
ten. Sie wohnen nicht bloß im Darielpaffe, fondern auch
in anderen Theilen des Gebirges südwestlich von Wladikaw-
kas, in zumeist unfruchtbarer, vielfach nur mit Gestrüpp be-
wachsener Gegend. Sie theilen sich in vier Stämme und
ihre Gesammtzahl übersteigt 30,000 Köpfe nicht. Schon
oftmals ist von den Reifenden der Umstand hervorgehoben
worden, daß sie sich durch Sprache, Sitten und Lebensweise
durchaus von den übrigen Bergvölkern des Kaukasus unter-
scheideu. Ueber den Ursprung des Volkes und dessen Stamm-
Verwandtschaft herrscheu noch Zweifel, so viel aber ist aus-
gemacht, daß sie zu dm Jndogermanen gehören und ihre
Sprache, welche entweder mit georgischen (grusinischen) oder
zu Pferde. Bauer aus der Kabarda.
auch mit russischen Lettern geschrieben wird, Verwandtschaft
mit dem Altpersischen hat.
Freiherr August von Haxthausen entwirft in seinem
lehrreichen Werke „Transkankasia" (Leipzig 1856, II, 1 bis
55) eine sehr ansprechende und eingehende Schilderung der
Osseten, bei denen er Vieles fand, das ihn au Leben und
Sitten des niederdentschen Volkes in Niedersachsen und West-
phalen, an das Land zwischen Elbe und Rhein erinnerte.
Die Dörfer liegen stets an den Bergabhängen nnd sind
um so größer, je näher sie der Ebene liegen; ganz hoch im
Gebirge findet man nur einzeln liegende Gehöfte, die ein
burgartiges Aussehen haben. In den kleineren Dörfern
sind die Häuser eng an einander geschlossen und alle befestigt,
entweder mit einem Thurm in der Mitte oder in jedem Ge-
höfte steht das Hauptgebäude aus einer hohen steinernen Un-
terlage ohne Fenster, oder das ganze Dorf ist von einer
Ringmauer mit Thürmchen umgeben. Jedes Gehöft hat
zwei Geschosse; das untere enthält die Viehställe uud ist oft
mit der hintern Seite in den Berg hineingearbeitet. Ans
dem Hofe führt eine Treppe oder Leiter hinauf vor das zweite
oder Hintergebäude, Chasar, welches etwas zurücksteht. Alle
Im Norden des Kaukasus.
Häuser sind Blockhäuser, d. h. vou übereiuandergeschichteten,
an den vier Ecken in einander gefügten Balken aufgeführt.
Manchmal lebt ein halbes Dutzend Familien in einem und
demselben Gehöfte. Der Herd wird gewöhnlich durch
einige Steinplatten gebildet, über ihm hängt der Kessel an
eiserner Kette und Haken von einem Querbalken herab, „ganz
genau und ganz nach derselben Form wie iu den Bauerhäu-
seru Westphaleus und Niedersachsens". Zu beiden Seiten
der Wohnung liegen die Ställe für das Milchvieh und die
Hausfrau kann dieselben, wie
das auch in Westphalen der
Fall ist, vom Herd aus
übersehen. Fenster sind nir-
gends, sondern uur kleine
viereckige Oeffnungen. Oben
am Herde steht der h ö lz e r n e
S e f f e l des Hauptes der Fa-
milie, entweder dreibeinig,
mit runder, hölzerner, aller-
liebst geschnitzter und verzier-
ter Rücklehne, Kalatkin ge-
nannt, oder mit vier Stä-
ben, die oben durch Quer-
Hölzer verbunden eine Lehne
und Armstützen bilden. Auch
hat man sophaartige Bänke
mit Rück- und Armlehnen
und au den Wänden stehen
einfache Bänke. DieOsse-
teu setzen sich nie, gleich
den Orientalen, mit nn-
tergeschlagenen Beinen,
sondern stets auf Bänke,
Stühle, Blöcke, so daß die
Beine herabhängen. Sie ha-
ben dreifüßige hölzerne Sche-
mel in der Form, wie die
westphälischen Mägde sie
beim Melken gebrauchen; so-
dann niedrige Tische, derglei-
chen bei keinem andern kan-
kasischen Volke vorkommen;
sie haben ferner eiserne Feuer-
schaufeln,Feuerzangen, Brat-
spieße, Backtröge und Bnt-
terfässer genan so wie die
norddeutschen Bauern. Auch
die Wiegen für die kleinen
Kinder weichen von den kau-
kasischen ab uud nähern sich
den europäischen Formen.
Ganz durchaus europäisch
aber sind die hölzernen Bett-
gestelle, in welche Betten,
Pfühle und Teppiche ganz
wie in Europa gelegt wer-
den und die oft fogar in einem Alkoven stehen. Schon die
gemeinen Russen kennen keine Bettgestelle mehr, sie legen
sich auf den Ofen, auf die Bänke, auf die Erde, wo sie Pfühle
und Decken ausbreiten. So viel ich selbst gesehen und von
Anderen erfahren habe, bedient kein anderes kaukasisches Volk
sich der Bettstelle. An der Wand neben dem Herde waren
einige Bretter befestigt, auf denen allerhand Küchengeschirr
stand von Kupfer, Eifen, Holz, Glas, selbst Porzellan, Alles
blank gescheuert und so wie bei einer deutschen Hausfrau.
Die Offeten brauen Bier aus Gerste, wie die Deutschen,
Globus XIV. Nr. 5. (September 1868.)
Waffen der kaukasischen Bergvölker.
nennen es auch Bier (die übrigen kaukasischen Völker ken-
nen das Bier so gut wie gar nicht, die Tfcherkeffen bereiten
einen bierartigen Trank aus Hirse- und Griesmehl); sie
haben Trinkhörner, bedienen sich aber anch der gemüthlichen
norddeutschen hölzernen Bierkannen, genau so, wie man sie
überall bei unseren Bauern sieht, und bei feierlichen Gelegen-
heiten hölzerner Bierbecher, ganz von derselben Form, wie
sie von uralten Zeiten her auch in Deutschland gebräuchlich
sind. Auch die Sitten bei Festgelagen haben einen durchaus
deutschen Charakter. Der
Bierbecher geht stets nenge-
füllt herum, der 'Nachbar
reicht ihn dem Nachbar, nach-
dem er getrunken, und spricht:
„Auf Deine Gesundheit habe
ich getrunken." Während
einer trinkt, singen die übri-
gen ein uraltes Trinklied und
klatschen dabei in die Hände:
Trink, die Hände schmerzen;
es fließt sonst ans das Trink-
Horn (oder der Becher), trink,
trinke, trink! — Der osse-
tische Pflug weicht von dem
der übrigen kaukasischen Völ-
ker ab und hat Aehnlichkeit
mit dem mecklenburgischen
Hakenpfluge; auch unsere ge-
wöhnliche Harke, die sonst
nirgends bei den Bergvölkern
vorkommt, ist bei den Osseten
im Gebrauch. —
So Herr v. Haxthausen.
Er schildert dann die gast-
liche Aufnahme, welche er bei
den Offeten gesunden. Beim
Abendessen: „Tische, blau-
geblümte Tischtücher, Fleisch-
suppe, Käsekuchen (welcher
jenem Thüringens gleicht),
hölzerne Löffel und Näpfe,
Tifchmeffer, Talgerleuch-
tung," — das Alles waren
Sachen, welche die übrigen
Kankasier nicht kennen. —
Auf die Sagengeschichte des
Volkes gehen wir nicht ein
und bemerken nur, daß die
Osseten zum größern Theil
dem Namen nach Christen
sind; andere halten sich zu
den Mohammedanern, aber
jene wie diese find doch halbe
Heiden, manche sind auch völ-
lig der alten Weise treu ge-
blieben und opfern in heiligen
Hainen Brot und Fleisch. Alle haben große Ehrfurcht vor
den Gräbern der Vorfahren. In Betreff der Hochzeits-
gebränche sagt nnfer Gewährsmann: „Sie alle, namentlich
das Herumführen der Braut um den Herd, das Sichsetzen auf
den erhöheteu Sitz, das Singen der Weiber vor der Braut,
das Herabreißen des Brautschleiers :c., haben in ihrem ganzen
Charakter, in ihrer ganzen Symbolik in Bezug auf die Pflich-
ten und Rechte der Hausfrau etwas so Germanisches, daß
man dabei wohl glauben möchte iu einen Winkel Deutschlands
versetzt zu sein!" In der Regel hat der Osset nur eine Frau.
18
Im Norden des Kaukasus.
Neujahr ist eines der wichtigsten Feste, zu welchem man
von langer Haud her Vorbereitungen trifft. Die Hausfrau
bereitet Bier und Branntwein, und was das Merkwürdigste
ist, sie bereitet aus Weizenmehl Figuren in der Ge-
stalt von Schasen, Kühen, Pferden, Hühnern und
anderen Thiereu, welche dann gebacken werden. Diese
Figuren nennt man Bassila, d. h. Basilius. Die Männer
putzen ihre Flinten und Säbel mit der größten Sorgfalt,
denn die Waffen sind, wie man meint, zu keinem Gebrauch
im neuen Jahre mehr tüchtig und brauchbar, wenn bei An-
Ein Torf der Osseten, im Winter.
beginn des Festes auch nur der geringste Flecken sich an ihnen
befindet. In der Neujahrsnacht beginnt ein allgemeines
Schießen ans scharf geladenen Gewehren und Pistolen und
gleichzeitig erhebt sich in jedem Hanse ein entsetzliches Lärmen
und Schreien. Man schießt unablässig in die Luft nach
dem Monde, denn dieser ist, dem Volksglauben zufolge, in
der Neujahrsnacht großer Gefahr von Seiten eines großen
Drachen (Arwikalm, Himmelsschlange) ausgesetzt.
Um den drohenden Untergang abzuwenden, richten die Osseten
ihre Gewehre zum Schutze des Mondes in die Luft, und bei
Das Innere einer Wohnung im Kaukasus.
jedem Schusse, welchen die Männer thnn, rufen die Frauen:
Gott helfe oder rette! (Taln chnzan). Alle siud (Erman,
Archiv XV, S. 144) fest überzeugt, daß durch ihren Bei-
stand der Mond befreit, der Drache verwundet und beinahe
getödtet wird. Wenn er auch nicht völlig zu Tode kommt,
so ist er doch für das kommende Jahr verhindert, die Koni-
gin des nächtlichen Sternenhimmels zu bekriegen.
Wir kommen gelegentlich anf die kaukasischen Bergvölker
zurück nnd werden dann noch einige Mittheilungen über eigen-
tümliche Verhältnisse bei den Osseten geben.
140
Altrussische Charakterzüge.
Altrussische
Das russische Reich ist ein ungeheures Conglomerat,
dessen größte und schwerste Masse von dem sogenannten
Großrußland gebildet wird; um dasselbe herum sind dann
bis Tnrkestan und an den Amur viele andere zumeist dis-
parate Massen angeklebt. Solch eine mechanische Schöpsung
ist nur möglich in Regionen, die dünn bevölkert sind und wo
die Menschen aus der Stuse der Halbeivilisation stehen. Die
Großrussen selber haben, als Volk im Ganzen nnd Allge-
meinen genommen, mit den von ihnen bezwungenen Völkern
eine gewisse Wahlverwandtschaft; sie sind selber mehr oder
weniger halbeuropäisch, ein Gemisch aus sinnischem und sla-
vischem Blute nnd stehen zum germanischen und romanischen
Europa iu einem schärfen Gegensatze. Bis auf die Zeiten
Peter's des Großen war „dieMoskowiterei" leidlich asiatisch,
und die Nachwirkungen der mehrhundertjährigen Mongolen-
Herrschaft sind bei weitem noch nicht alle überwunden.
Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts wurden dann
europäische Elemente nach Rußland verpflanzt und damit
kam ein Bruch in das ganze Leben. Beamtenwirthfchaft,
Rangstufen, Verordnungen, Gesetze, Soldatenwesen, franzö-
sischcr rassinirter Luxus wurden in den östlichen Steppen-
erdtheil bis an die Wolga und den Ural hin verpflanzt und
sie schickten sich schlecht für das Altmoskowitifche. Auch heute
sind sie mit demselben nicht verwachsen und wir begreifen,
daß die sogenannte altrussische Partei gegen diese dem Volke
aufgezwungenen fremden und fremdartigen Elemente ankämpft.
Durch dieselben und das durch sie bedingte Regieruugs- und
Verwaltungssystem ist mehr oder weniger Alles corrumpirt
worden.
Aber diese Altrussen gehen zu weit, besonders seitdem sie
Panslavisten geworden sind. So lange sie mit einem halb-
civilisirten Volke zu Hantiren haben, ist der gebildeten Welt
mit ihrem Treiben und mit ihren Bestrebungen nicht im
Mindesten gedient. Ein großer Theil derer, welche man in
Rußland für gebildete Leute ausgiebt oder hält, glaubt den
Schlagwörtern der Parteiführer, welche insbesondere gegen
alles Deutsche Sturm laufen. Nuu steht aber als That-
fache fest, daß das, was in Rußland an wirklicher Cultur
vorhanden ist, ganz vorzugsweise den Deutschen verdankt wird.
Indeß, Undank ist der Welt Lohn. Die altmoskowitischen
Planslavisten thäten wohl, ein anderes Feld zu beackern, aus
dem sie Lorbeeren ernten können. Sie sollten Schulmeister
werden, damit die Statistik nicht ferner unter den russischen
Recruten nur 5 Procent aufweisen könne, die Lesen oder
Schreiben verstehen. Aber sie haben sich nun einmal in
ihren Fanatismus verbissen nnd guter Rath hilft nichts.
Der Nihilismus, welcher sich mit geistiger Trägheit so wohl
verträgt, ist ihnen bequemer als andauerndes Arbeiten.
Jüngst hat ihnen einer ihrer Landsleute eine scharfe Straf-
predigt gehalten. Das „Athenäum" vom I.August berichtet
darüber in einem Schreiben ans St. Petersburg. Der Ruffe
fagt feinen Russen: „Eure literarischen Erzeugnisse sind
verächtlich, Eure Kenntnisse ungesund, Euer Geschmack ist
schlecht. Es ist albern von Euch, daß Ihr von einer Aus-
dehuung und Verbreitung Eurer Literatur träumt, uament-
lich unter dem panslavistischen Banner. Ihr habt gar keine
Literatur, welche der Verbreitung Werth wäre. Nur wenige
verstehen die wahren Principieu der Wissenschaft und Litera-
tnr, fast alle find unfähig zn psychologifchen Entwicklungen,
arakterzüge.
und der Haupt- und Grundfehler des moskowitifchen Geistes
besteht in einer mangelhaften Auffassung der Erscheinungen
des Geisteslebens."
Wir unsererseits möchten aber doch daraus hinweisen, daß
es wahrhaft gebildete Nationalrussen giebt, welche alle Kräfte
aufbieten, um ihre Landsleute zur Selbsterkenntniß zu zwin-
gen. Von der großen Masse des Volkes kann natürlich da-
bei keine Rede sein, denn das liest nicht, sondern von denen,
für welche das Alphabet kein versiegeltes Buch ist. Im Ge-
gensatze zu den Altmoskowitern und Panslavisten, welche in
ihren Schriften die gute alte Zeit der Barbarei idealisiren,
schildern die Reformer, die wirklich von abendländischer Enl-
tnr durchdrungenen Schriftsteller, die ungeheure Summe von
Mißbräuchen, welche in Rußland allen Verhältnissen anhaften.
Dort ist die Corruption mindestens eben so arg wie in den
Vereinigten Staaten von Nordamerika. Solchen Zuständen
gegenüber ist auch die bitterste Satyre gerechtfertigt. Des-
halb taucht ein fo eminent begabter Mann wie Tnrgenieff
seine Feder in das stärkste Scheidewasser; deshalb geißelt
Minaieff die sogenannte vornehme Gesellschaft geradezu
mit der Knute. Deshalb legt der geistvolle Schtschedrin-
Saltikoff, der ein feiner Beobachter und vortrefflicher Er-
zähler ist, die Niederträchtigkeiten des Beamtenwesens zu
Tage. Im Jahre 1863 erschienen seine „Skizzen aus
dem Gouvernement" in deutscher Übersetzung (Berlin
1863) und wir empfehlen dieselben denjenigen unserer Leser,
welche sich einen Einblick in das russische Beamtenwesen ver-
schaffen nnd sehen wollen, wie planmäßig das Volk mißhan-
delt, ausgeplündert und verderbt wird. Zn diesen Schrift-
stellern der Reform gehört auch Petfcherski, welcher den
Lobrednern der alten Barbarei in der Lebensgeschichte des Alexis
Juriwitsch, die wir weiter unten mittheilen, ein Spiegelbild
vorhält.
Es handelt sich hier um völkerpsychologische Einblicke.
Die Grausamkeit, die Wildheit, das unbändige Toben und
Treiben solch eines slawo-finnischen Barbaren in der guten
alten Zeit trägt ein ganz anderes Gepräge als in früheren
Jahrhunderten die Rohheit in Mittel- und Westeuropa. Der
Raceuuuterfchied tritt scharf hervor. Ich finde bei den
Russen in Charakter und Temperament einen Mangel an ge-
ordneter Folgerichtigkeit im Denken und im Handeln, einen zu-
sammenhanglosen, springenden Naturalismus, bei dem Laune,
Willkür, Raffinement in jähem Wechsel zu Tage kommt. Daß
manche Russen der höheren Stände und der gebildeten Classen
diesen Naturalismus überwunden haben, gereicht ihnen zum
Lobe, um so mehr, da das keine geringe Anstrengung erfordert.
Aber bei den gewöhnlichen Salonrussen beiderlei Geschlechts
blickt doch nicht selten durch den Lack und Firniß der finnisch-
slavische Naturalismus hervor. Die Kleidung ist bei ihnen
dieselbe wie bei Deutschen nnd Franzosen im Salon, aber
die Psyche ist sehr verschieden, die Art zn empfinden nnd die
ethische Ausfassung mancher Dinge eine ganz andere. Das
Volk, welches unbeleckt geblieben ist, giebt seine Urwüchsigkeit
kund, die eigenartig und für den Beobachter ganz ergötzlich ist.
Nach dieseu Vorbemerkungen werden unsere Leser erklär-,
lich finden, weshalb wir die nachfolgenden Mittheilungen im
„Globus" geben; sie haben ein völkerpsychologisches In-
teresse.
* *
Altrussische
Im Jahre 1862 erschien in St. Petersburg ein Buch
unter dem Titel: „Denkwürdigkeiten eines Goldgrä-
bers", in russischer Sprache. Dasselbe machte großes Auf-
sehen, weil es den Lesern gleichsam eine neue Welt eröffnete
und eine Menge interessanter Schilderungen aus dem Leben
uud Treiben des Volkes im östlichen Sibirien enthielt. Der
Verfasser, Skariatin, war selbst Goldgräber; er hatte das
östliche Sibirien in allen Richtungen durchstreift und die wei-
ten Räume der Taiga (Goldregion) im Gouvernement Je-
nisseisk besucht. Er stellt dar, wie durch das sibirische Gold
eine große Umwandelung im Leben des Volkes hervorgerufen
worden ist. Ein Sibiriak, Herr Kolmogorow, gab dann
Erläuterungen zu Skariatiu's Buche, aus welchem wir seiner
Zeit im „Globus" einige charakteristische Angaben mittheilten.
Wir kommen hente darauf zurück, weil bei deu sibirischen
Goldgräbern manche eigentümliche Züge und Seltsamkeiten
des moskowitischen Charakters scharf hervortreten. Wie ganz
anders hat aber die Goldsördernng in Australien, Nensee-
land und an der Westküste Nordamerikas gewirkt, als im
russischen Asien! Dort sind in Folge der Goldentdeckung
blühende Staaten emporgewachsen, während hier von einer
erheblichen Cultnrentwickelung und einem nachhaltigen wirth-
schastlichen Aufschwünge nur wenig zu verspüren ist. Der
Gegensatz zwischen germanischen Leuten und den slawo-fin-
nischen Moskowitern tritt auch in diesen Verhältnissen zu
Tage.
Uebrigens sind die sibirischen Bauern brave Leute in ihrer
Art. Sie befinden sich zumeist im Wohlstande und sind stolz
darauf, Sibiriaken zu sein, halten sich auch für besser als
die russischen Bauern. Sie lebten in patriarchalischer Einfalt
in Hülle und Fülle (Ermau, Archiv 22, S. 544), aber
vereinzelt, ohne geistige Anregung. Dann kamen die Gold-
entdeckungen, welche eiu fieberhaftes Treiben im Gefolge hat-
ten. Nun wurden Arbeiter gefucht und gut bezahlt. „Wir
sehen jetzt die Czaren der Taiga, d.h. die Besitzer von Gold-
Wäschen, in ihren Palästen bei lucullischen Festen und Schmäu-
sen, bei denen sie zugleich neue Pläne entwerfen, um noch
mehr Gold zu fördern. Wir sehen dann diese Sybariten-
Millionäre in die unermüdlichsten Arbeiter verwandelt. Sie
ziehen mit ihren Prikatschschicks, d. h. Agenten, und einigen
Tausend Arbeitern in die fast unzugänglichen Berge, Wälder
und Tündern, wo sie Leiden, Hunger oder Durst ertragen
und selbst ihr Leben in Gesahr bringen. Einige Monate
vorher delectirten sie sich in Jenifseisk, Krassnojarsk oder
Tomsk an Trüffeln uud tranken Champagner; jetzt stillen
sie ihren Hunger wohl mit einer aus dem Leder alter Stie-
feln bereiteten Suppe, oder mit dem Fleisch eines Gefährten.
Denn ein solcher Fall ist vorgekommen. Sie wollen einen
noch reichern Fundort entdecken. In den Wäldern stnd nun
Axt, Säge und Feuer thätig; auf den Fundstätten werden
Wohnungen gebaut, man bahnt Wege, uni Vorräthe an Ort
und Stelle schassen zu können. Die Tausende von Arbei-
lern gönnen sich nur wenige Stunden der Erholung und des
Schlafes. Und bald nachher fehen wir von 'Neuem jene
Taigakönige mit vollen Händen Gold und Creditfcheine in
ganzen Haufen für ganz finnlose Launen wegwerfen."
Skariatin erzählt davon manches ergötzliche Beispiel. Die
Häuser der reichen Goldgräber wurden als Herbergen oder
Gasthöfe betrachtet, in denen jeder, der schmausen oder spie-
len wollte, willige Aufnahme fand. Er konnte bleiben fo
lange er wollte; zu bezahlen hatte er natürlich nichts. Tag
und Nacht wurde Karte gespielt. Gesetzte Leute, welche Han-
delsunternehmuugen zu überwachen hatten, bei denen es
sich um Hunderttausende handelte, spielten buchstäblich bis
zum Umfallen. Es gab Beispiele, daß auf eine Karte bis
zu 45,000 Silberrubel gesetzt wurden; man spielte auch um
Mrakterzüge. 141
Leibeigene unter der Bedingung, daß der Mann, welcher ver-
lor, dieselben freigeben müsse.
Man trank nur Champagner; in mehr als einem Hause
ist in einem Vierteljahre für mehr als 30,000 Rubel Schaum-
wem vertilgt worden. Das Geld hatte gleichsam allen Werth
verloren, man warf dasselbe buchstäblich auf die Straße. Ein
Goldmann schickte mehrere Tage lang aller halbe Stunden
Estafetten mit leeren Converts ab, lediglich um den
Postmeister zu ärgern und im Schlafe zu stören. Ein an-
derer ohrfeigte zu seinem Zeitvertreib und aus Uebermuth
einen Beamten und gab ihm für jede Ohrfeige ein Hans.
Ein dritter ließ sich die besten Feuerspritzen vom Ans-
lande kommen und bildete aus seinem zahlreichen Gesinde
eine Feuerwache. Zum Probiren der Spritzen wartete er
aber nicht etwa eine Feuersbrunst ab, sondern kaufte ein
Hans, das er anzündete.— Ein Bauer entdeckte eine sehr er-
giebige Priiske, d. h. eine goldhaltige Schicht, etwa 90 Ar-
schin tief; aus derselben wurde ein 11 Pfuud wiegender Gold-
klumpen zu Tage gefördert. Aus Freude darüber warf sich der
Bauer der Länge nach in den Schlamm hin und ließ sich
von einem Diener mit Champagner begießen. Dabei rief
er: „Gieß immer zu, Wanka! Ich mache Dich zum Iwan
Stepanowitsch" (das heißt zn einem vornehmen Manne. Ge-
schlich find nur die Adeligen berechtigt, die Endung itfch
dem Vaternamen hinzuzufügen, doch wird es damit im Um-
gange nicht gerade genau genommen).
Ein Goldmann, der beim Frühstück reichlich Champagner
genossen hatte, verließ etwas benebelt seine Wohnuug. Un-
terwegs rannte er, betrunken wie er war, mit der Nase an die
Wand eines Nachbarhauses. Die Frechheit dieses Haufes
erzürnte ihn sehr; er kaufte dasselbe sofort und es wurde nie-
dergerissen, damit es sich nicht abermals unterstehe, reichen
Leuten den Weg zn versperren.
Ein anderer Goldbauer wollte sich die Residenzstadt St.
Petersburg ansehen, denn seine Mittel erlaubten ihm das.
Also unternahm er die weite Reise vom Jemssei bis an die
Newa. Dort wandelte ihn die Lust an, Kronstadt zu be-
suchen. Als reicher Mann, der er war, hielt er es in-
dessen unter seiner Würde, mit anderen Passagieren für einen
Rubel auf deni Danipfer zu fahren; er miethete für sich
allein ein Dampfschiff. — Ein anderer war in einem an-
ständigen Hanse zur Kindtaufe geladen; er fchenkte dem Säug-
linge 25,000 Rubel „fürs erste Zähnchen". — Noch ein
anderer war entzückt über ein paar italienische Arien, welche
die Tochter eines seiner Bekannten ihm vorsang. Er schenkte
derselben zwei Pai, Antheile an seinen Goldwäschen, und
als das Mädchen nicht recht wußte, was sie damit anfangen
sollte, kaufte er die beiden Kuxen sogleich von ihr für 20,000
Rubel zurück. — „Geld uud Kräfte wurden in der unsinnig-
sten Weife vergeudet; man beging Abgeschmacktheiten und
Verrücktheiten, die kaum glaublich erscheinen."
Manche Arbeiter kamen mit 600 bis 1000 Rubel von
den Priisken zurück uud gaben sich dann in den Städten einer
unerhörten Völlerei hin. Sie wollten nur den Wein genie-
ßen, „welchen die Herren trinken", nämlich Schaumwein,
und zahlten für Burda, d. h. Krätzer, der am Don fabri-
cirt wird, 8 Rubel. Nach ein paar Wochen hatten sie nicht
nur alles Geld vertrunken, sondern Kleider und Schuhwerk.
In der Stadt Jenifseisk kaufte ein Arbeiter ein Stück Sei-
denzeng um hohen Preis, breitete dasselbe quer über die
schmutzigste Straße aus und ging darüber hinweg, um
sich die Stiefel nicht zu beschmutzen. Ein anderer miethete
für schweres Geld eine Anzahl Mädchen, welche ihn in einem
Schlitten nach einem fünfzehn Werst entfernten Dorfe ziehen
mußten. Unterwegs begegnet ihm ein Beamter, der ihn
wegen Störung der öffentlichen Ordnung verhaften will. Er
142 ° Altrussische
stopft ihm mit CassenbilleM den Mund. Noch ein anderer
begegnet auf der Straße dem Polizeicommissär. Er steckt
ihm einen Schein von 50 Rnbeln in die Hand und bemerkt:
„Nimm nur, Wohlgeboren; komme ich Dir heute nicht in
den Griff, so ist's wohl morgen und Du wirst dann meiner
gedenken." Solchen Männern drückten Generäle, Grafen
und Fürsten die Hand, gaben ihnen Diners und Soireen.
Ist es ein Wunder, daß sie alles Maß verloren?
*
-i- *
Zaboria liegt malerisch am Ufer der Wolga. Auf
seinen Kirchen glänzen goldene Kuppeln; ein halbes Hundert
der vorhandenen Wohnhäuser hat zwei Stockmerke und ist
aus Steinen gebauet, im Gostinoi Dwor, dem Bazar, geht
es regsam her. Dem Ufer entlang stehen Magazine und
große Buden, in welchen Getreide lagert, und der Strom
wird von Schiffen belebt. Zur Rechten und Linken der
Stadt erheben sich zwei hohe Hügel von rothem Thon; auf
dem einen steht ein Kloster mit einer reich geschmückten Kirche,
ans dem andern erhebt sich das nun halb in Ruinen liegende,
einst prächtige Schloß der Fürsten von Zaboria. Die gute
alte Zeit ist unwiederbringlich verschwunden.
Der Garten ist verwildert. Man sieht in demselben
das zertrümmerte Gemäuer eines Pavillons, welchen Fürst
Daniel Borissowitsch niederreißen ließ, weil er „etwas darin
gefunden" hatte. Man erzählt schreckliche Dinge, welche in
diesem Pavillon vorgegangen sind. Im Gemäldesaale des
Schlosses hängt das Porträt des Fürsten Alexis Juriwitsch,
von welchem man viele grausige Geschichten weiß. Aller-
dings ist der Ausdruck des Gesichtes roh, verschmitzt, grausam,
grobsinnlich, hochmüthig. Neben ihm hängt das Gleichbild
seiner Gemahlin, einer fein organisirten Frau, in der Tracht
aus der Zeit Lndwig's des Fünfzehnten. Dort hängt auch
noch ein anderes Frauenbild; eine junge Person im Reif-
rocke, die eine Rose in der Hand hält. Aber das Gesicht
ist mit schwarzer Farbe überpinselt. Man sagt, sie sei die
Gemahlin des Prinzen Boris, Jnriwitsch's Sohn, gewesen.
Sie sei gestorben, als ihr Gemahl in den Krieg gezogen war
und gleich nachher starb auch Juriwitsch! Als er eines Ta-
ges in den Gemäldesaal kam, sank er vor ihrem Bilde be-
wnßtlos nieder. Nachdem er sich erholt hatte, ließ er sofort
das Gesicht schwarz anpinseln. Am nächsten Tage war er
eine Leiche.
Dieser Alexis Jnriwitsch war der echte Typus eines
russischen Edelmannes in jener Zeit, da nach Peter's des
Großen Ableben die Boyaren sich mit den Schwelgereien,
der Liederlichkeit nnd den raffinirten Sünden und Lastern
der Franzosen des alten Regimes befreundeten und daneben
ihre sarmatische Unbändigkeit und Brutalität beibehielten.
Die edlere und bessere Seite der europäischen Civilisation
wurde von ihnen nicht begriffen, sie blieb ihnen fremd; sie
nahmen nur das an, was ihren Leidenschaften schmeichelte.
So schwärmten sie für den Hof Ludwig's des Fünfzehnten,
aber dabei blieben sie, wie Petscherski hervorhebt, Säufer und
Faullenzer; sie waren hochmüthig, brutal über alle Begriffe
und hatten nicht eine Spur von Anstandsgefühl. Alexis
Juriwitsch war uoch an Peter's Hose gewesen und hatte die
Ehre gehabt, von des Kaisers eigener Hand geprügelt zu
werden. Seiu Leben und Treiben in Moskau war skanda-
lös; als er in den Tagen der Elisabeth in eine politische In-
trigne verwickelt wurde, zog er sich nach Zaboria zurück und
führte sein Schandleben weiter, aber jetzt in anderer Weise.
Jndeß er war doch ein frommer Herr, denn er bauete Kirchen
und beschenkte das Kloster. Petscherski sagt: „Wenn man
sich heute an die Zeit vor anderthalb hundert Jahren erin-
uert, dann dankt man doch dem Himmel, daß man in der
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts lebt. Selbst in den
sibirischen Wäldern von Jakutsk wird das Menschenleben
und das Recht höher geachtet als damals in Rußland der
Fall war. Und nun giebt es Russen, welche solche Zeiten
zurücksehnen!" Alle Ehre gebührt solchen Geschichtschreibern,
welche das, was sich damals begeben, in seiner ganzen Blöße
schildern!
Das Leben und die Thaten des Alexis Jnriwitsch sind
1822 uach der Aussage eines alten Bauern von einem Hans-
Hofmeister niedergeschrieben worden; damals erzählten die
Leute noch Vieles von dem, was ihre Eltern und Großeltern
erlebt hatten. Jener Bauer war übrigens ein Bewunderer
der guten alten Zeit. „Da sieh nur," sprach er zum Hans-
Hofmeister, welcher die Geschäfte beim Enkel des Alexis be-
sorgte, „da sieh nur, wie Fürst Daniel Borisowitsch lebt. Gar
nicht wie ein Edelmann und doch hat er Tansende von Leib-
eigenen. In Moskau hat er mit Söhnen von Schustern
und Schneidern stndirt, und nun sag mir, ob es sich paßt,
daß ein Fürst mit solchen Leuten umgeht? Was ist daraus
geworden? Als er nach Zaboria zurückkam, gab es da
Schmaus und Tanz und hat er Jagden veranstaltet? Be-
wahre. Er ging in die Hütten der Bauern, spielte mit den
Kindern, ließ sich von den alten Leuten allerlei Singsang
vormachen und das schrieb er dann aufs Papier. Paßt sich
das für einen Fürsten? Er kauft alte Bücher zusammen
und läßt Nachgrabungen anstellen, um ein paar alte Mün-
zen aus der Erde zu holen. Im Gostinoi Dwor saß ein-
mal ein Blinder und sang Psalmen; den setzte der Fürst erst
in seinen Wagen und droben im Schlosse gar in einen sam-
meinen Armstuhl, wo der Blinde singen mußte, und das
brachte der Fürst auch aufs Papier. Ich sage Dir, der Bliude
hat dann drauf losgebrüllt wie ein Bulle. Bah, bah, wer
in den Schmutz greift, kriegt schmierige Hände. Paßt sich
das für einen Fürsten? Da war sein Großvater, der große
Alexis Jnriwitsch, ein ganz anderer Mann, der verstand
zu leben."
Der Bauer erzählte dann. Als Fürst Alexis Hochzeit
gemacht hatte, veranstaltete er auch eine prächtige Jagd. Da-
bei bekam des Bauern Großvater, Jaschka, fünfhundert Hiebe.
Jaschka war vorher schon mehr als einmal geprügelt wor-
den und hatte deshalb Respect vor dem Fürsten. Dieser
ging einst an einem kalten Tag auf die Jagd. Auf der
Wolga lag sogenanntes Glaseis, so dünn, daß man mit einem
Fünfkopekenstücke ein Loch Hineinwersen konnte. Die Jäger
hatten etwa anderthalbhundert Hasen geschossen und lager-
ten sich auf einer Anhöhe anf der andern Seite des Klosters.
Dieser Hügel fiel ganz steil nach der Wolga ab. Der Fürst
war eben in heiterer Laune und hatte Lust zu einem Späß-
chen. So setzte er sich denn dicht an den Rand des steilen
Users auf ein Weinfaß, ließ den Hahn aufdrehen und that
manchen guten Schluck; dabei wurden aber die Jäger nicht
etwa vergessen. Als er sich recht gütlich gethan, sagte er
seinen Leuten: Nun müßt ihr Löcher in das Eis machen,
nnd zwar so, daß ihr kopfüber hinunter springt und dann
an einer andern Stelle wieder heraus kommt. Das war
ein Leibspaß für den verstorbenen Fürsten Alexis Jnriwitsch,
Gott habe den gnädigen Herrn selig! An jenem Tage hat
es ihm aber Keiner recht und zu Danke gemacht. Einige
plumpsten mit dem ganzen Leib auf und durch das Eis und
so hatte es der gnädige Herr doch nicht gemeint. Er ließ
dafür Jedem, der es so unrecht gemacht, sunfzehn aufzählen
und dann mußten sie die Sache noch einmal Probiren. Einer
war dabei so ungeschickt, daß er nicht einmal das Eis er-
reichte, sondern ans einen kleinen Vorsprung fiel; dabei ver-
stauchte er sich das Genick. Drei andere sind zwar mit dem
Kopfe richtig durch das Eis eingebrochen, aber nicht wieder
Die Meere
zum Vorschein gekommen. Nun, die Fische wollen auch lebeu.
Ueber das Alles ist daun der gnädige Herr sehr wild und
grimmig geworden. Ich will Euch Alle todtpeitschen! rief
er, uud nun mußten einige arme Edelleute, deren er stets
eine Anzahl um sich hatte, vortreten, um ihrerseits den Rei-
sack (Sprung) zu machen. Sie benahmen sich aber dabei
eben so ungeschickt, wie die Bauern es gethan, nnd einer ging
auch für die Karpfen und Hechte. Darüber fing der Fürst
zu seufzen und zu weinen an; er wurde sehr betrübt und
rief: Es wird mir nun klar, daß ich nicht lange mehr leben
werde, denn hier ist ja nicht einmal ein Mensch, der einen
ordentlichen Reisack machen kann. Doch da fällt mir der
Joschka ein; der hat früher den Reisack dreimal hinter ein-
ander gemacht. —
Es ist schon erwähnt worden, daß an einem schönen Tage
Jaschka fünfhundert Hiebe genossen hatte. Jaschka wußte
vou Allerlei nachzusagen. Der Fürst hetzte einst seinen Lieb-
lingsbären auf ihn, und der riß ihm ein Ohr ab. Das that
dem Jaschka weh; er zog sein Messer und stach den zottigen
Mischka todt. Der Fürst aber ließ ihm das andere Ohr
abschneiden, weil er sich unterstanden hatte, den Lieblingsbär
zu erstechen. Seitdem nannte der Fürst ihn Stutzohr.
Wo ist Stutzohr Jaschka? rief er jetzt. Der hatte aber
seit dem Kampfe mit dem Bären Zaboria verlassen und War-
ans einem andern Gute. Sofort wurde ein Reiter abgeschickt,
um ihn herzuholen. Als er dann ankam, war das Eis so
stark geworden, daß selbst Jaschka's Reisack kein Loch in das-
selbe hätte machen können.
Ei ja, der Fürst war ein gerechter Herr, wenn es gerade
nicht ihn selber betraf. Es kam zu feinen Ohren, daß ein
Krämer auf dem Jahrmarkt in Zaboria eine Bauerfrau be-
trogen hatte. Da ging Alexis Juriwitsch in die Bude des
Strömungen. 143
Missethäters, nahm ein Stück Tuch, schickte es der Bäuerin
und ließ ihr sagen, der Kaufmann Tschurkiu empfehle sich
ihr und verabfolge ihr das Stück Tuch, nachdem er sie früher
beim Einkaufe betrogen habe. Tschurkin ließ sich die Sache
nicht zur Warnung dienen, sondern betrog einige Tage später
noch einmal. Das hat der Fürst auch erfahren; er ist dann
gleich in den Sattel gesprungen, auf den Markt geritten und
in des Kaufmanns Bude gegangen. Ah, Tfchurkin, hat er
gefagt, ich habe Dich neulich gewarnt und das hast Du ver-
gesseu. Jetzt kann ich Dir nicht helfen, ich muß mein Wort
halten. Nun fort mit Dir, hinweg aus der Bude.
Der Fürst hat sich dann hinter den Ladentisch gestellt,
die Elle in die Hand genommen uud laut gerusen: Heran,
heran, Männer und Frauen; hier liegt Seidenzeug und Mus-
selin, hier sind Kleider und Strümpfe und viele fchöne Waa-
ren. Ihr könnt billig einkaufen, auch wird voll und gut
gemessen. Man schlügt hier zum Einkaufspreise los. —
Nun strömten die Leute herbei. Der Fürst maß mit der
Elle, gab wohlfeil ab und bald war Alles verkauft. Dann
hat er die Einnahme dem Tfchurkin eingehändigt und ihm
gesagt, daß Manches auf Credit verabfolgt worden fei; diefe
Schulden möge der Krämer selbst eintreiben; er werde fortan
wohl das Betrügen der Leute bleiben lassen. Damit war
aber die Sache noch nicht zu Eude. Der Fürst lud demüthig,
im Ton eines Krämers, diesen Tschurkin zu Tische ein, der
aber lehnte ergebenst ab. Da sagte der Fürst, er möge nur
mitkommen; Prügel solle er nicht haben; wenn es ihm be-
liebe, ihn auszuhauen, könne er das ja gleich auf der Stelle
thuu. Er mußte also mit ins Schloß. Der Fürst gab ihm
den Ehrenplatz, bediente ihn und nannte ihn immer nur
Herr. Nach Tische wurde er entlassen und bekam zwei
junge Hunde zum Geschenk.
Die Meeres
Von Herm
Zu den wichtigsten Factoren, welche das vegetative Leben
in seiner Ausbreitung an der Oberfläche unsers Erdballes
bedingen, zählen die Meeresströmungen, obgleich man gerade
ihnen bis vor wenig Jahren noch eine sehr geringe Aufmerk-
samkeit zuwandte. Erst Untersuchungen über die Ursachen der
klimatischen Veränderungen, welche im Lause der Zeiten statt-
gefunden haben, leiteten dazu, deu Einfluß der Meeresströ-
mnugen in dieser Beziehung ins Auge zu fassen, und mit
Erstaunen erkannte man, daß, um hier nur ein einziges, nahe-
liegendes Beispiel anzuführen, die Existenz _ des wichtigsten
Theils von Europa für die Eultur nur ein Geschenk des
Golfstromes ist, wenngleich in anderer Weise wie Aegypten
ein Geschenk des Nils.
Ferner ist die richtige, einsichtsvolle Benutzung der Mee-
resströmungen durch den Seefahrer gleichbedeutend mit einer
Erfparniß an Zeit und Capital. Wie die Windverhältnisse
über dem Weltmeere, so müssen auch die Strömungsverhält-
nisse im Weltmeere eingehend studirt werden, sowohl rück-
sichtlich der Theorie als der Praxis, der die erstgenannte in
die Hand arbeiten soll.
Die praktische Bestimmung der Lage und Ausdehnung
sowie der Schnelligkeit einer Meeresströmung gehört zu dem
st r ö m u n g e n.
I. Klein.
schwierigsten Problem der nautischen Geographie. Wir haben
daher vorerst hierüber einige Bemerkungen vorauszuschicken,
ehe wir uns specieller mit Meeresströmungen selbst beschäf-
tigen.
So leicht es bei einem gegebenen festen Standpunkte ist,
die Richtung, Ausdehnung und Geschwindigkeit irgend einer
Strömung zn bestimmen, so schmierig wird dies auf offener
See, wo das Schiff keineswegs feststeht, sondern mehr oder
minder in seiner Bewegung durch die Strömung beeinflußt
wird. Das vorzüglichste Instrument, um das Vorhanden-
sein einer Strömung im Meere nachzuweisen, ist das Ther-
mometer. Aus Gründen, auf die wir weiterhin noch zurück-
kommen werden, zeigt das als Strom im Meere dahinfließende
Wasser eine andere Temperatur, als die unregelmäßig be-
wegte, beiderseitige, flüssige Umgebung. So erkannte schon
Franklin im Jahre 1776, daß der Golfstrom unter 37
Grad nördlicher Breite volle 8 Grad wärmer ist, als der
Ocean außerhalb desselben. Aber die Versetzung in Folge
der Richtung uud Schnelligkeit des Stromes, welche ein den-
selben durchschneidendes Schiff erleidet, läßt sich nur aus dem
Unterschiede der astronomischen und der Loggerechnung ermit-
teln. Nimmt man nun selbst an, daß außer der Meeres-
144 . Die Meere
strömung keinerlei störende Einflüsse vorhanden gewesen seien,
so würde es trotzdem noch immer mißlich bleiben, über die
Strömungsverhältnisse aus vereinzelten Beobachtungen etwas
zu bestimmen. Denn die astronomischen Beobachtungen auf
See ebenso wie die Loggerechnung erfreuen sich für den in
Rede stehenden Zweck kaum hinreichender Genauigkeit, und
vor Allem läßt sich dadurch uicht entscheiden, was der con-
stanten Meeresströmung, und was zufälliger, vorübergehender
Fluctuation der ewig beweglichen See zuzuschreiben ist.
Die hauptsächlichste Ursache der Meeresströmungen ist
unzweifelhaft in der ungleichen Erwärmung der verschiede-
nen Oberflächeutheile unseres Erdballes durch die Sonne zu
suchen.
In der Tropenzone, wo bei fast ewig klarem Himmel die
zenithale Sonne eine ungemeine Hitze hervorruft, entsteht
eine bei weitem größere Verdunstung des Wassers, als in
den gemäßigten oder kalten Zonen. Die Folge hiervon ist
eine Störung des Gleichgewichts des Meeres, und um dieses
wieder herzustellen, muß beiderseits von den Polen Wasser
gegen die Aequatorialzoue hin strömen, den entstandenen Ver-
lnst zu ersetzen. Um die in Wirklichkeit statthabenden Ver-
Hältnisse klarer aufzufassen, geht man am besten und einfach-
sten von einem hypothetischen Zustande aus und stellt sich
die ruhende, nicht um ihre Achse rotirende Erdkugel gänzlich
von Wasser bedeckt vor. Wird nun rings um den Aequa-
torialgürtel herum das Wasser erhitzt, so wird es verdunstend
in die Höhe steigen, mit den Luftströmungen beiderseits gegen
die Pole sich bewegen und sich auf diesem Wege tropfbar-
flüssig niederschlagen. Die Wassermenge nimmt sonach in
den Aequatorialgegeuden ab und in den mehr polwärts gele-
genen Regionen zu. Eine unmittelbare Folge sind daher
ausgleichende Strömungen von den Polen gegen den Aequa-
tor hin, so daß eine ewige Cirenlation existirt, gauz analog
derjenigen, welche aus derselben Ursache in der Atmosphäre
statthat und die hier, wie die Meteorologie näher zeigt, die
Passatwinde veranlaßt. Bei der uicht rotirenden Erde wird
die nach dem Aequator strömende Wassermasse, wie dies im-
mer in der Natur geschieht, den kürzesten Weg einschlagen,
um zum Ziele zu gelangen, ihre Richtung wird also senkrecht
oder normal zum Erdäquator stehen, d. h. die Strömung wird
im Meridiane vor sich gehen.
Dieses einfache Verhältniß wird durch die Achsendrehung
der Erde wesentlich modisieirt. Das gegen den Aequator
strömende Wasser gelangt nämlich von kleineren Parallel-
kreisen zu größeren, d. h. zu solchen, die in der Richtung von
Westen nach Osten eine größere Rotationsgeschwindigkeit be-
sitzen; es bleibt also gegen diese in derselben Richtung um
einen gewissen Betrag zurück uud wird solcher Art eine der
Rotation entgegengesetzte, also ostwestliche Strömung besitzen,
die durch Hinzutritt der eigenen Bewegung, nach dem Princip
von der Zusammensetzung der Kräfte, für die nördliche He-
misphäre eine nordöstliche, sür die südliche eine südöstliche
Richtung annimmt. Wo beide Strömungen auf einander
treffen, müssen sie sich zu einer einzigen zusammensetzen, die
von Osten nach Westen fluthet. Alles was dazu beiträgt,
die Intensität der beiden secundären Strömungen (der nord-
östlichen und südöstlichen) zu vermehren, wird auch zu dem
bestimmten Auftreten der refultirenden Aequatorialströmung
beitragen. Auf diese Weise begünstigen die Passatwinde ganz
besonders das Znstandekommen der letztgenannten Strömung.
Auch die Anziehung des Mondes trägt dazu bei, indem die
Fluthwelle sich, der Rotation der Erde entgegen, von Osten
nach Westen bewegt. •
Die vorstehend bezeichneten Umstände sind die Ursache der
Entstehung der großen Aequatorialströmung oder „Dienung",
wie die Holländer sagen, wie sie in ihrer größten Reinheit
im Stillen Weltmeere zwischen der amerikanischen und asia-
tischen Küste auftritt.
Wären keine Eontinente vorhanden, so würde die Aequa-
torialströmnng als breiter Gürtel" den Erdball nmfluthen,
aber die Erhebungen der festen Erdmasse über den Spiegel
des Oceans treten dieser Grundform abändernd entgegen.
Schon unter dem 150. Längengrade westlich von Paris be-
ginnt die große Strömung in Folge der bedeutenden Inseln,
aus die sie bald trifft, ihren einheitlichen Charakter zu ver-
liereu. Der südliche Theil wird durch die Ostküste Austra-
lieus von der großen Linie abgelenkt und wendet sich süd-
wärts gegen die Baßstraße, ein Theil der Wasser geht auch
zwischen Neuseeland uud Vandiemensland durch. Die Haupt-
masse des Stromes setzt den westlichen Lauf in gerader Rich-
tuug fort, geht einerseits zwischen Neu-Hollaud und Neu-
Guinea durch, um im Süden der Sunda-Jnseln die ursprüug-
liche Richtung nach Westen wieder anzunehmen, andererseits
aber treffen die nördlicheren Theile auf die Ostküste des
asiatischen Continents mit ihren vorgelagerten Jnselreihen.
Ein Theil des Stromes wird hierdurch nach Süden, ein an-
derer nach Norden abgelenkt. Der südliche vereinigt sich mit
den zwischen Neu-Guinea und Neu-Hollaud hindnrchgeström-
ten Wassern und setzt den westlichen Lauf quer durch den
Indischen Ocean fort; der andere Theil biegt unter einem
Winkel von etwa 45 Grad nach Nordost um und geht als
„japanische Strömung" längs der Ostküste Japans in der
Richtung auf die Aleuten weiter. Aber fchon unter 45 Grad
nördlicher Breite wird er durch die uordamerikanische West-
küste abgelenkt und fließt mit verstärkter Tendenz, die süd-
westliche Richtung einzuschlagen, der Kalmenregion zu. Hier
trifft er etwa unter 140 Grad westlicher Länge von Paris
ans den Aequatorialstrom und vereinigt sich mit diesem. Im
Ganzen durchläuft die japanische Strömung östlich vom
160. Längengrade bis zu ihrer Vereinigung mit dem Aequa-
torialstrome fast zwei Drittel eines Kreisbogens. Aber die
Annahme eines eigentlichen Wirbels, den man in den Kar-
ten häusig als Fleurieuswirbel bezeichnet findet, und die dazu
gehörigen schneckenhausartigeu Windungen sind nichts weiter
als hypothetische Erfindungen, denen keine Realität znm
Grunde liegt.
Die Hauptmasse der Gewässer der äquatorialen Strö-
mnng tritt, mannichfach durch Inseln zerrissen, in den In-
dischen Ocean mit einer Geschwindigkeit, die mit den Jahres-
zeiten wechselt, je nachdem der in diesen Gegenden Vorwal-
tende Monsun der Strömung mehr oder weniger hinderlich
ist. Der nördliche Theil des Stromes folgt fast genau dem
Aequator, bis er, durch die Ostküste Afrikas in seinem Laufe
aufgehalten, nach Südwest umbiegt, mit beschleunigter Ge-
schwindigkeit die Straße von Mozambique passirt und sich
südwestlich von der gleichnamigen Insel mit dem südlichen
Theile des Stromes wieder vereinigt und seinen südwestlichen
Cours bis etwa 15 Grad östlicher Länge von Paris fort-
setzt. Hier biegt er, der Richtung des Passats folgend, nach
Nordwest um, in den Atlantischen Ocean hinein.
Der vorgelagerte südamerikanische Continent, dessen öst-
lichste Spitze das Cap Roque ist, veranlaßt eine Spaltung der
Strömung in zwei Theile. Der südliche geht als brasilia-
nische Strömung mit nicht sehr bedeutender Intensität bis
zum Cap Horn. Doch wendet diese sich keineswegs hier
in einem Bogen, um das Stille Weltmeer zu erreichen, viel-
mehr erlischt die warme Strömung allmälig im Breiten-
parallel der Südspitze Amerikas durch den Widerstand und
die Vermischung der zum Theil entgegengesetzt fluchenden,
kühlen antarktischen Strömung. Diese letztere erhält erst im
Stillen Meere einen bestimmten Charakter, wo die strö-
Mittheilungen
wenden Wasser an der östlichen Küste Amerikas einen Damm
finden und mehr nach Norden abgelenkt werden. Erst unter
15 Grad südlicher Breite wird die Richtung dieser Strö-
mnng wieder etwas westlich, und unter 5 Grad südlicher
Breite vereinigen sich die allmälig erwärmten Wasser ganz-
lich mit der großen pacisischen Strömung. Dieser kalte Peru-
Vianische Strom ist in gewissem Sinne das Gegentheil von
dem weiter unten zu besprechenden Golfstrome. Während
dieser letztere die Temperatur des westlichen Europas erhöht,
vermindert jener in sehr bemerkenswerther Weise die Hitze
an der Westküste von Südamerika. Der Unterschied der nicht
strömenden Pacisischen Wasser gegen die Flnthen des kalten
Stromes beträgt riicksichtlich der Temperatur volle 120 R.
Und nachdem die Wassermassen mit einer stündlichen Ge-
schwindigkeit von kaum einer halben geographischen Meile
30 Breitengrade durchlaufen haben, mitten in der Tropen-
zone, ist ihre Temperatur unter 5 Grad südlicher Breite kaum
auf 18» R. gestiegen. Die Einwirkung der kalten Strö-
mnng macht sich nicht allein in der Mittlern Temperatur des
Landes, sondern auch in bcnt Charakter der Meeresfauna
von Chile und Peru bemerklich, und selbst bei den Galapagos-
Inseln findet man des kühlern Wassers wegen noch keine
Corallen, während diese bei den 33 Grad vom Äquator ent-
fernt liegenden Bermuden, die freilich durch deu warmen Golf-
ström begünstigt erscheinen, häufig anzutreffen sind. Bei-
läufig bemerkt, wurde die peruanische kalte Strömung 1802
durch A. vou Humboldt zuerst entdeckt, daher sie noch bis-
weilen den Namen Humboldt-Strömuug führt.
Wenden wir uns nun zurück zum Atlantischen Ocean,
zu den wichtigsten Strömungen der Erde, jenen nordwärts
über Venezuela. 145
des Aequators, zwischen der Westküste der alten und der Ost-
küste der neuen Welt.
Wir haben gesehen, wie der vorgelagerte südamerikanische
Continent eine Trennung der atlantischen Aequatorialströ-
mung in der Nähe des Cap Nogue veranlaßt, und wir haben
den südwestlich abgehenden Zweig dieser Strömung verfolgt.
Wir wenden uns nun zu der ungleich wichtigern,' Nordwest-
lich abgehenden Hauptmasse von warmem Wasser. Mit einer
Geschwindigkeit von durchschnittlich 12 geographischen Mei-
len pro Tag strömt die ganze ungeheure Wassermasse längs
der südamerikanischen Nordostküste zwischen den kleinen An-
tillen hindurch in die stürmische Caraibensee und hieraus in
den Kessel des Mexicanischen Meerbusens. Dicht au den
Küsten findet sich übrigens allenthalben eine Schicht kalter
Wasser und auch die Temperatur des eigentlichen Stromes
nimmt in dem Maße zu, als man sich vom Laude mehr in die
See hinein entfernt. Nachdem die Strömung mit wachsen-
der Geschwindigkeit den Canal von Ankatan passirt, wendet
sie sich nördlich und eilt mit einer Schnelligkeit von lV4
geographischer Meile pro Stunde durch den Florida-Canal
gegen die Bahama-Jnseln. Man schätzt nach begründeten
Vermuthungen die Wassermasse, welche der Golfstrom in jeder
Secuude durch die Florida-Straße in den Atlantischen Ocean
ergießt, aus 1500 Millionen Cubiksuß, so daß er im Jahre
ungefähr 6000 Cubikmeilen Wasser durch diesen Canal in
deu Ocean drückt. Nimmt man bei einer Mittlern Tiefe
vou ungefähr 0,4 Meile ein Areal des Atlantischen Oceans
von 1,600,000 Quadratmeilen an, so ergiebt sich leicht, daß
der Golfstrom jährlich 1 Procent sämmtlicher Wasser des
Atlantischen Oceans durch den Florida-Canal führt.
Mitteilungen
Von Fr
Volkswirtschaftliche Verhältnisse. — Zölle und Einnahmen
Kirche un
II. Politische uud gesellschaftliche Einrichtungen.
Das engherzige, monopolisirende Regierungssystem des
Mutterlandes Spanien hielt in den Colonien, die demselben
nur zur materiellen Ausbeutung dienten, Industrie, Handel,
Wissenschaft, Literatur und Künste nieder; allgemeine Auf-
kläruug konnte der schmutzigen Jnteressenwirthschast nicht ent-
sprechen. Nachdem die Fesseln dieser Herrschaft gesprengt wa-
ren, entfaltete sich der beschränkte Handel schnell nach allen
Seiten hin, herausgefordert von der Specnlation aller Handel-
treibenden Völker; die lange niedergehaltene geistige Regsam-
keit und Kläruug konnte natürlich mit dem mercantilischen
Fluge nicht gleichen Schritt halten; es konnte die Entfaltung
des geistigen Lebens nur allmälig vor sich geheu uud um so
beschränkter, als das ganze öffentliche Leben von dem Aus-
schwunge desHaudels in Anspruch genommen war, uud unter
solchem Einflüsse auch nur eine einseitige Richtung erhalten.
Daher concentrirte sich Reichthum, Glanz und Macht nur
in der Handelssphäre, und' bildete sich die moderne repnbli-
kanische Aristokratie aus dieser Sphäre heraus. Gegen den
Handelsstand trat der kärglich dotirte Beamtenstand, der mit-
Globus XIV. Nr. 5. (September 1868.)
iiber Venezuela.
lz Engel.
des Staates. — Polizei. — Bildung und Schulwesen. —
) Priester.
tellose und verschwindend kleine Gelehrtenstand, namentlich
aber der Militärstand mit seinem schlecht besoldeten, uuge-
bildeten Offiziercorps in sehr bescheidenen Hintergrund.
Handel, Gewerbe und Niederlassung wurden nach Spren-
gung der Monopol- und Privilegienregierung ohne alle Be-
schränknng freigegeben, sowohl für die Angehörigen des Staa-
tes, wie für die angesessenen Fremden; keine der wechselnden
Regierungen hat den Freihandel und die Freizügigkeit zu
beschränken versucht; die heutige Generation würde eine solche
Beschränkung nicht mehr begreifen uud nimmermehr dulden.
Ebenso sind alle Verkehrshemmnngen beseitigt, Legitimatio-
nen, Atteste, Pässe und dergleichen Vormundschaftspapiere in
Friedenszeiten ganz außer Cours gesetzt.
Die Einkünfte des Staates werden aus den bedeuteudeu
Em- und Aussuhrzöllen bezogen, aus welche uoch besondere
Zuschlüge und außerordentliche Contributionen für Ein- und
Ausfuhr gelegt werden; ferner ans Hasenabgaben, inneren
Renten, darunter Salzsteuer, Stempelpapier, Post und an-
denn mehr, sowie aus außerordentlichen Einnahmen, als
Vorschüssen von Creditoren, durch Coutracte, durch ausgege-
bene Schatzschxzne und Anleihen und verschiedene zufällige
19
146 ' Mittheilungen
Einnahmen, darunter Guano und Urao. Directe Abgaben
entrichtet nur der Handelsstand nach einem Dreiclassensystem;
alle Gewerbe und der Grundbesitz sind von Steuern befreit.
In Ausnahmezuständen — die nun freilich sehr zur Regel
gehören — werden von der obersten Provinzialbehörde, deren
Spitze der Gobernador ist, willkürliche Contributionen er-
hoben und mit diesen die besitzenden Classen in einer will-
kürlichen Summe en bloc belegt; dieselben führen den Titel:
patriotische Anleihen, werden aber zwangsweise eingetrieben
und weder in Capital noch Zinsen jemals wieder eingelöst;
ob diese patriotischen Anleihen immer den Weg in den Staats-
schätz finden, ist eine Frage, die auf Abschweifungen führt.
Bis zum Jahre 1847 befanden sich die Finanzen der
Republik in ausgezeichnetem Zustande; die große auswärtige
und innere Schuld, die auf Venezuela nach Ablösung von
Columbia gefallen war, war in regelmäßigen Raten abge-
zahlt und bedeutend verringert worden. Unter dem Militär-
despoten Monagas wuchs die Staatsschuld wieder in hohem
Maße an, und alljährlich zeigte sich bei dem Rechnungsab-
schluß ein Deficit von einer viertel bis zn einer halben
Million Pesos. Nach der Vorlage des Finanzministers in
den Kammern im Jahre 1857 waren die Einnahmen mit
Hülfe von Zollerhöhungen, von ausgegebenen Schatzscheinen
und Anleihen bis auf 16,454,951 Pesos gesteigert, und den-
noch deckten sie nicht die Ausgaben, die sich bis auf 17,130,970
Pesos beliefen. Seitdem sind keine Vorlagen mehr gemacht
worden, wohl aber ist ein großer Theil der Importzölle an
England verpfändet zur Zahlung der Zinsen und Amorti-
sation einer Anleihe von einer Million Pfund Sterling vom
Jahre 1862, die zu 62 Procent übernommen worden ist.
Die Aduauas — die Zollstätten — sind die ergiebigsten,
ja, die einzigen einflußreichen Hülfsquelleu für die Regie-
rung, und ihr jedesmaliger Besitz ist eine Lebensfrage für
eine jede der streitenden Parteien; gegenwärtig hat nun Eng-
land die Hand auf diesen Lebensnerv gelegt, irnd die Zukunft
wird lehren, ob diese Auslieferung von entscheidendem Ein-
flnfse auf Venezuela sein wird. —
In der Hauptstadt Caracas hat auch die corts suprema
(der höchste Gerichtshof) ihren Sitz, ebenso das Erzbisthum,
die Centraluniversität, das Priesterseminar und mehrere Klö-
ster. Jeder Canton erhält seiue Municipal- und Polizei-
behörden aus seiner eigenen Mitte von der Provinzialregie-
rung zuerkannt. Der Rechtsweg kann durch drei Instanzen
verfolgt, Criminalverbrecher können nur iu Caracas abge-
urtheilt, das rechtsgültige Schlnßurtheil kann nur von der
corte suprema bestätigt werden.
Der Polizeidienst wird vom Civilstande selbst übernom-
men; für jeden Canton ernennt die Provinzialbehörde söge-
nannte jefes politicos, Polizeichefs, cutf die Dauer eines
Jahres, und wählt dazu angesehene Persönlichkeiten aus den
besseren Ständen; diese ernennen wiederum für jede Gemeinde
ebenfalls auf die Dauer eines Jahres Polizeiconnniffäre ans
der großen Volksclafse, die vereidigt, mit ihren Pflichten be-
kannt gemacht mtd zur Vollstreckung aller executiven Maß-
regeln verwendet werden. Der Ehrgeiz dieser Polizeicom-
missäre wird durch die ihnen übertragene Autorität über ihre
Staudesgeuosseu angeregt, so daß sie sich mit großem Eiser
ihrer oft lästigen ititb verantwortlichen Amtspflichten unter-
werfen, einzig und allem belohnt durch das Gefühl ihrer
Würde und Auszeichnung. Das Volk selbst räumt ihnen
ohne Widerspruch Ansehen und Einfluß ein, da dasselbe Ehren-
amt morgen auf Jeden von ihm selbst übergehen kann. Nur
die größeren Städte werden von besoldeten Polizeisoldaten
bewacht, die aber durchaus unter dem Befehle des derzeitigen
jefe politico stehen; ihre Functionen beschränken sich nur
auf die Durchsetzung und Behauptung der Municipalverord-
über Venezuela.
nungen; als Abzeichen ihres Amtes tragen sie einen Säbel
ohne Lederriemen unter dem Arme.
Die Justiz wird in den Landgemeinden von dem Orts-
richter, dem juez, und seinem Schreiber, dem escribano,
ausgeübt; beide sind zur Abwickelung der laufenden Geschäfte
täglich einige Stunden in ihrem Büreau gegenwärtig, wo
das Jus in .der ungezwungensten Weise nach dem Ergebnisse
eines vorhandenen codigo provincial, und nach Schluß
desselben wieder das bürgerliche Gewerbe Praktisirt wird. Der
Schreiber fühlt sich gewöhnlich über feinen Chef erhaben,
da er im Schreiben uud Lesen meistens besser als jener be-
wandert ist, und giebt dem Gefühle seiner Ueberlegenheit bei
jeder Gelegenheit Ausdruck, dem der Juez mit der Würde
seiner Autorität entgegentritt; aus dem Charakterbilde einer
kleinen Dorfgemeinde treten Juez und Escribano als Haupt-
figuren hervor. Die Parteien sind gewöhnlich durch den Aus-
spruch des codigo provincial durch den Mund des Juez
zufriedengestellt; es steht ihnen aber der Weg znm Processi-
ren und Appellireu offen.
Die Gobernadores der Provinz, deren Bestätigung sich
die Regierung vorbehält, werden von den Einwohnern einer
Provinz gewählt; die Amtsdauer ist einjährig, jedoch ist eine
Wiederwahl zulässig; in Ausnahmezuständen setzt die Regie-
rung den Gouverneur auch aus eigener Machtbesugniß ein
und ab. Je nach der politischen Lage sind seine Befugnisse
beschränkter oder ausgedehnter; es kommt sogar vor, daß ihm
dilatorische Gewalt eingeräumt wird. Daß solche Dictatureu
brutal, gehässig und eigennützig vollzogen werden, liegt in
den Verhältnissen, wie in dem herrsch-, räch- und habsüchti-
geu Charakter der Creolen vorgezeichnet.
Venezuela besitzt außer dreizehn Nationalcollegien Vor-
schulen für die Universität, zwei Universitäten, die Central-
Universität zu Caracas uud die Universität zu Merida. Die
Leistungen der Collegien sind bei der schlechten Dotirnng
und Besetzung der Lehrerstellen nur schwach; sie siud kaum
mit unseren Mittelschulen in gleiche Linie zn stellen; es sind
Lehrstühle für Rhetorik, alte und neue Sprachen, Physiolo-
gie, Anatomie, Arzneilehre, Jurisprudenz uud Philosophie
errichtet; die Naturwissenschaften insbesondere werden wenig
gepflegt; merkwürdig ist es, daß ht einem Lande von fo über-
fchwenglicher Naturfülle wenig Sinn für dieselben herrscht.
Der Zuschuitt der Hochschulen und Lehranstalten darf nicht
nach deutschem Muster gemessen werden; das philosophische
Studium faßt alle Lehrgegenstände zusammen und führt als
eine Art Vorschule in das eigentliche Fachstudium ein. Die
ganze Lehr- und Lernmethode stützt sich mehr auf eiu Voll-
stopfen des Gedächtnisses, als auf die Schärfung und Durch-
bildnng des Verstandes nnd selbständiger Denkkunst; viel
mechanisches Einprägen ist viel Wissen, und wer am sicher-
sten den Text der Lehrbücher seitenweise vor- nnd rückwärts
herleiern kann, besteht das Examen nlit größter Auszeichnung.
Kleine Herrchen von zwölf Jahren titnliren sich estudiantes
de la filosofia, und juuge unbärtige Doctoren, Advocaten
und Priester von achtzehn und zwanzig Jahren sind eine ge-
wöhnliche Straßenerscheinung.
Die Zahl der mit dem Doctorhut geschmückten jungen
Juristen, die jährlich aus der Universität hervorgehen, con-
cnrrirt fast mit der Zahl der Priester, die in den Semina-
rien ausgebildet werden; ihr Diplom bahnt ihnen den Weg
zu allen und den höchsten, selbst militärischen Würden. Der
Gelehrtenstand genießt eines weit höhern Ansehens als der
Militärstand, der, wenn überhaupt, nur in den höchsten
Spitzen einen gewissen Bildungsgrad repräsentirt und erst
in den obersten Graden zu einiger Bedeutung kommt; ein
Doctor juris wird häusig mit Trnppencommandos und mit
dem Staatspräsidio betraut, während der Offizier unterer
Mitteilungen
Grade nicht einmal an der Schwelle der guten Gesellschaft
steht-......
Keine Facultät kann sich eines solchen Andranges rüh-
men als die theologische, aber auch feine Würde und Pfründe
ist leichter und bequemer zu erreichen, als die priesterliche,
die zugleich bei geringem Wissen und geringer Anstrengung
ein mehr als sorgenloses Einkommen sichert; die Seminare
senden alljährlich eine Menge ordinirter junger Priester weißer
und brauner Farbe in die Provinzen aus. Einestheils sind
die günstigen Existenzaussichten ohne Zweifel die Ursache zu
deni starken Andränge namentlich der mittleren und unteren
Stände zu der Priesterweihe; auderutheils aber reizt die
Eltern auch das Ansehen der priesterlichen Stellung, ver-
bnnden mit der einträglichen Leibrente, zn dieser Standes-
erhöhnng ihrer Söhne.
Die Kirche unterstützt dieses Streben; indem sie ihre
Jünger aus alleu Ständen wirbt, ehrt und schmeichelt sie
der Eitelkeit der Volksmasse und wurzelt durch solche Popu-
larität tiefer in ihr Gewissen ein. Aber sie zieht auch iu der
großen Schaar der Standeserhobenen bei einer weniger als
mittelmäßigen und durchaus einseitigen Bildung eine feste
Mauer um sich selbst herum, die iu einer weit über die Aus-
sichten ihrer Geburt und ihres Vermögens hinaus erlangten
Lebensstellung und in der absolute» Unselbständigkeit einer
systematisch-beschränkten Ausbildung die sicherste Bürgschaft
für die willenloseste Unterwürfigkeit und den blindesten Ge-
horsam leistet. Zur Vermeidung aller Kränkung des Ehr-
geizes wird aber die weiße Farbe wie die Herkunft der Fa-
milie besonders berücksichtigt; ihrer jungen Söhne Erziehung
wird gründlicher geleitet und über die einseitige Dressur aus-
gedehnt; mit der feinern Sitte ihrer Familie nehmen sie
zugleich eine gewisse geistige Selbständigkeit mit hinüber in
die Priesterwürde und halten in ihrem Stande dem uuwisseu-
den und professionellen Niedern Clerns das Gleichgewicht.
So hat man eine volkstümliche, zufriedene, geistig be-
schränkte Priesterkaste voll Selbstgefühl geschaffen, die mit
der Volksmasse durch Familienbande, Eitelkeit und gleiche
Interessen verknüpft, zugleich, als blindes Werkzeug von oben
geleitet, gegen dieselbe und mit derselben Wache hält für den
heiligen Stuhl in Rom; zugleich weiß man aber um diesen
rohen Guß den Sammetmantel einer geschmeidigen Bildung
und seiner Sitte zn werfen, um der gebildeten Welt den
Sitz darauf bequem und angenehm zu machen.
Der Zelotismus und Fanatismus Alt-Spanieus hastet,
wenn überhaupt, nur uoch an den Weibern der abgefallenen
Colonien; unter den Männern hat der Besitz der politischen
Freiheit auch zur vollen Freiheit des religiösen Gewissens
geführt; Toleranz ist Allgemeingut, au Stelle des Aberglau-
bens weit eher Unglauben getreten. Der gebildete Theil der
Männer zuckt die Achsel über den Cnltns, den die Kirche
mit ihren Dogmen treibt, und über die Form, in welche sie
ihren Cultus kleidet; sie betrachtet denselben als ein Zucht-
mittel für die große Menge. Die sociale^ und politische Ver-
wilderung, die fo manche ehrwürdige Institution umgestoßen
und gemißhandelt, hat auch die Ehrfurcht vor der Kirche im
Allgemeinen tief erschüttert; aber diese, anstatt durch Milde
nnd Versöhnlichkeit die Ehrfurcht wieder zu gewinnen, ver-
feindet sich die erbitterten Gemüther nur noch mehr und mehr
durch herrschsüchtige und habsüchtige Anmaßungen.
Die Volksma'sse ist nicht so sehr aus Erkeuutniß und
Bewußtsein, als aus abergläubischen. Vorstellungen nnd Ge-
Wissensdrucke der unbedingten Vormundschaft des Clerns nn-
terworfen; von dem, was sie glaubt, weiß sie wenig und legt
sie sich keine Rechenschast ab; ihren sie gelehrten religiösen
Pflichten genügt sie nach verkehrten Ausfassungen; die Form
ist ihr Alles, weil sie das Wesen nicht kennt. Durch nahe
tber Venezuela. 147
Beziehungen mit dem Niedern Clerns verbunden und dem-
selben zugethau, fühlt sie sich in der Kirche en famille, und
verbindet mit weltlichen und Familienlustbarkeiten religiöse
Handlungen, und ebenso mit religiösen Pflichten und Hand-
lungen weltliche Vergnügungen in der unbefangensten und
rohesten Weife.
Außerhalb ihres Amtes genießen die Geistlichen nur ein
geringes, zweideutiges Ansehen; ihr Lebenswandel steht durch-
schnittlich im Widerspruche zu ihren Standesregeln und wird
selten durch strenge bischöfliche Maßregeln im Zaume gehal-
teu. Ihr Bestreben ist auch gar nicht darauf gerichtet, im
bürgerlichen Leben den Priester zu repräsentiren; sie nehmen
alsdann alle bürgerlichen Rechte nnd Freiheiten wie deren
geselligen Freuden auch für sich in Anspruch; sie geben jedem
Theile ihrer Doppelstellnng: dem Priester und dem Welt-
bürger, im vollen Maße das Seine nnd collidiren auch uicht
mit ihrem Gewissen in dieser Doppelgewähr. Das bestttn-
dige Tragen der Ordenstracht ist ihnen geboten. Dieselbe
besteht ans dem langen, schwarzen Priestergewande, blauer
Halsbinde und rundem, schwarzem Hute mit aufgeklappten
Rändern.
Das Einkommen der Pfarrer wird ans dem Zehnten
bestritten und durch die Amtshandlungen gesichert. Jede
Messe, jedes Sacrament, jede Predigt, Fürbitte und amtliche
Abfertigung wird nach bestimmten Vorschriften honorirt. Leute
von Stand nnd Vermögen leisten ihre Verpflichtungen in
klingender Münze, nnd der Anstand erfordert, daß sie sich
nicht genau an die vorgeschriebene Taxe halten, sondern ein
Uebriges thun; der kleine Mann bringt seine Opfer in Pro-
ducten seines Feldbaues dar, als in Kaffee, Cacao, Mais,
Zucker, Eiern, Hühnern, Schweinen und anderen Dingen
mehr. Den größten Prodnctenznfluß eröffnen dem Pfarrer
die Fürbitten, die ihm seine Beichtkinder an die zahlreichen
Heiligen, je nach der besondern Verehrung, übertragen; frei-
willige Gaben, ohne geistliche Gegenleistung, nur aus dem
ehrfürchtigen Herzen kommend, sollen nicht mehr so reichlich
fließen, als in den alten guten Zeiten. Besonders feierliche
Messen mit Musik- und Gesangbegleitung (missa cantata)
werden besonders klingend honorirt, ebenso die feierlichen Be-
gräbnisse, nnd eine Predigt wird überhaupt nur auf Verlan-
gen der Gemeinde an hohen Festtagen nnd dann nur gegeu
baare Erkenntlichkeitsbeweise gehalten; in den Zeiten der gro-
ßen Feste aber, als Weihnachten und Ostern, wo die Kirche
tagelang ihre größte Pracht und Thätigkeit entfaltet, fließen
die Opfer und Spenden am reichlichsten. Nebenbei treiben
die Pfarrer mehr oder minder einträgliche Privatgeschäfte;
die kleinen Prodncteneinkünfte häufen sich zu Cargos au, die
sie alsdann an ihre Commissionäre in den Hafenplützen
schicken nnd verkaufen lassen; das eingelieferte Maiskorn
reicht auch wohl aus, einen Hühnerhof zu unterhalten nnd
Schweine, Pferde und Manlthiere zu züchten, die ebenfalls
einen einträglichen Handel begründen. Nicht selten schnallt
der Herr Cura seinem Manlthiere, das ihn in Amtsange-
legenheiten durch feine ausgedehnte Parochie trägt, hinter
dem Sattel einen kleinen Mannfactnrladen anf, den er, nach
absolvirtem Sacrcunente, in einem der Dorfhäuser ausbreitet,
und dann ebensogut mit Elle nnd Scheere umzuspringen
weiß wie mit dem Weihwasser.
Die Kirche genießt in Venezuela, trotz ihrer Machtbe-
schränkung, unter dem Patronate der Regierung, unter wel-
ches sie nach der letzten. Revolution gestellt worden, mehr
Schntz und Beistand, als in der Schwesterrepublik Neu-Gra-
nada, wo sie unter den Uebergriffen der siegreichen Partei
unverzeihliche Mißhandlungen zu erdulden hat, mehr als in
den übrigen südamerikanischen Freistaaten. Nach der letzten
Constitution hat die Regierung die römisch-katholische Reli-
§
!K
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-Ä'
Ein Bericht über Abyssinien.
gion anzuerkennen und als solche deren Cnltns und Diener
zu schützen; dabei aber gebietet die Constitution ebenfalls die
Freiheit jedes Cnltns, und wenn die fremden Protestanten
und Sectenanhänger, die im Lande leben, keinen Gebranch
von der Freiheit des Cnltus gemacht durch Errichtung von
Kirchen, Bethäusern und organisirten Gemeinden, fo liegt
der Grund nicht in einer Verhinderung von Seiten des Staa-
tes oder der katholischen Kirche, sondern in ihrer eigenen
Gleichgültigkeit oder Abneigung gegen ein Kirchenregiment
nach dem Vorbilde, wie es gegenwärtig in ihrer Heimath
herrschend ist. Dazu kommt, daß die fremden Akatholiken
zerstreut im Lande leben, ihren Aufenthalt überhaupt nur
als eiu Provisorium betrachten, das sie nach längerer oder
kürzerer Zeit aufzugeben gewillt sind, um im Vaterlande eiu
dauerndes Heimwesen zn begründen.
Das Kircheuregimeut Venezuelas ruht in der Hand eines
Erzbischoss, der in Caracas residirt; das Erzbisthum zerfällt
wiederum in zwei Bisthümer, das von Merida und von
Guyana. Der Cougreß erwählt die Bischöfe und legt die
Wahl dem Papste zur Bestätigung vor; sie sind gebunden,
den Schwur auf die Verfassung zu leisten. Da die modernen
Verfassungsinterpretationen zwischen der geistlichen und Welt-
lichen Behörde schon sehr alten Datums sind, so bleiben die
höchsten Kirchenämter oft längere Zeit hindurch unbesetzt.
Die Bischöfe regieren die Kirchenprovinzen, die nicht mit der
politischen Eintheilnng zusammenfallen, ziemlich absolut; die
Collegien, Seminare und Klöster stehen unter ihrer Ober-
aussieht; den Priestern ist er der gefürchtete und absolute Ge-
bieter und Herr; sie empfangen Amt und Pfründe aus seiner
Hand; in seiner Nähe gehen sie ihren Passionen nur sehr
leise ans den Zehenspitzen nach, — anders dort, wo sie seine
Augen weit entfernt und sich geborgen wähnen.
Der niedere farbige Clerns steigt selten auf den Bischofs-
stuhl; die Familienaristokratie behält diese reich dotirteu Sitze
gern ihren Söhnen vor. Die bischöflichen Einkünfte fließen
aus den Zehnten zusammen, die, aus allen Provinzen erho-
ben, neben den Privateinkünften, Dotationen und Ehrengaben
eine reiche Reute abwerfen. Die Beiträge des Staates sol-
len nach dem Gesetze von 1853 — mit Einschluß der Au-
Weisungen für Universität, Seminar und kirchliches Unter-
richtswesen — für die Diöcese von Caracas 68,716, für die
vou Merida 52,800 und für die von Guyana 27,250 Pe-
sos betragen. Die Mönchsklöster sind aufgehoben und ihre
Gebäude und Einrichnngen größtentheils zn Unterrichtsan-
stalten verwendet; in Caracas, Maracaibo, Merida und
Trnjillo bestehen noch Nonnenklöster, die aber nur schwach
besucht sind.
Der Volksunterricht hat weniger Theilnahme und
Sorgfalt gefunden, als der frühere Unterricht; die Schnlbil-
dung der großen Menge steht aus fehr niedriger Stufe; ein
wirklich systematischer und geregelter Unterricht wird der länd-
lichen Bevölkerung gar nicht erheilt und ist auch in den
Städten wenig lebensfähig. Einige Fertigkeit im Lesen und
Schreiben bildet schou einen ausgezeichneten Grad von Ge-
lehrsamkeit unter dem Landvolke; im Rechnen sind Alle be-
wandert, soweit es das praktische Leben erfordert; der Zah-
lensinn ist in dem ganzen Volke stark ausgeprägt und macht
den Mangel an theoretischer Unterweisung nicht wahrnehm-
bar. Die Provinzialdeputationen, denen die Aufsicht und
Pflege über deu Volksunterricht übertragen war, kamen ihren
Pflichten in keiner Weise nach; nach amtlichen Ausweisen
bestanden iu den 565 Parochien der Republik nur 110 Pri-
märschulen, die aber so schlecht dotirt und beaufsichtigt waren,
daß sie auch nicht den geringsten Anforderungen genügen
konnten. Die Zahl fämmtlicher Primärschulen, mit Ein-
schlnß der Privatschulen, betrug im Jahre 1825 nur 211,
zusammen mit 5433 Schülern. Dennoch liegt der Elemen-
taruuterricht in Wirklichkeit nicht ganz so arg danieder, als
das absolute Ergebuiß der öffentlichen Unterrichtsregister glan-
ben macht; auch jene 211 Schulen bestehen mehr nominell
als thatsächlich, — jedoch der Elementarunterricht findet eine
Zufluchtsstätte in der Familie selber. Die Mütter und alte-
reu Geschwister ertheilen dem jüngern Nachwüchse in dersel-
ben Weise den Unterricht wieder, wie sie ihn selbst empfan-
gen, und wenn derselbe anch geistlos und empirisch genug
betrieben werden mag, so giebt er den Kindern doch immer-
hin einige Mitgift an elementarem Wissen, Zucht, Erziehung
und eingeprägter guter Sitte für das Leben mit, die sie aus
der Hand der öffentlichen Wohlfahrt fönst nimmer erhalten
haben würden. Wenn aber die eigene Familie nicht zu sol-
chem Unterrichte befähigt ist, fo findet sich doch in jedem Um-
kreise einer Ortschaft ein über die Mehrzahl an Schulkennt-
nifsen hervorragender Mann, dem dann das Lehramt über-
tragen wird; das Interesse nach Aneignung der nothdürstig-
sten Kenntnisse und nach äußerer Gesittung ist in dem Volke
lebendig bis zu dem untersten Indianer hinab; weniger streb-
sam, weil ohne den leisesten Anhauch idealer Gesinnung, ist
der Neger. —
I
Ein Bericht über Abyssinien.
Wir gaben vor einiger Zeit allerlei Aufklärungen über
die Vorgänge in Habesch („Globus" XIII, S. 362), denen
wir jetzt manche Erläuterungen hinzufügen können. Soeben
ist nämlich in London das Werk eines der vielgeprüften Ge-
fangenen, des Arztes Dr. H.B lanc, erschienen^ narrative
of Captivity in Abyssinia; witli some account of the
late Emperor Theodore, Iiis country and people), das
vielerlei Lücken in unserer bisherigen Kunde über die viel-
besprochenen Vorgänge ausfüllt. Offenbar ist Dr. Blanc
ein wahrheitsliebender Mann, der keineswegs einverstanden
zu sein scheint nüt dem Verfahren der Londoner Diplomatie
in Betreff Abyssiniens.
In jenem Lande zählte man, ihm zufolge, im Herbste
des Jahres 1863 etwa 25 Europäer, nämlich den Consnl
Cameron und dessen Dienerschaft, die Mitglieder der Baseler
und der schottischen Mission, die Missionäre der Londoner
Judenbekehrungsgesellschaft und einige Abenteurer. Die Ba-
seler Mission wurde von Ludwig Kraps auf Veranlassung
des Jerusalemer Bischofs Gobat gegründet; die Mitglieder
waren Laien, die als Handwerker für den Kaiser arbeiten
wollten; doch lag es in ihrer Absicht, anch „das Evangelium
zu verbreiten" durch Lehre und Beispiel. Sie wohnten in
Gasfat bei Debra Tabor, wo ste sich halbeuropäische Hau-
ser erbaueteu im^ 9föprfftiittcit errichteten. in tumpn phtnpfm=
rate
beuteten und Werkstätten errichteten, in denen eiugebo-
Lehrlinge arbeiteten. Diese Laienmissionäre machten
sich nützlich.
Die beiden anderen Missionen hatten es auf die Bekeh-
rung der Falafchas, eingeborenen Inden, abgesehen; sie wohn-
Ein Bericht i
tett in Dschenda beiGondar. Flad und Rosenthal hatten
ihre Frauen und Kinder bei sich. Stern, über welchen
Dr. Blanc sich mit Anerkennung äußert, war 1860 zum
ersten Mal ins Land gekommen und einige Jahre später nach
Europa gegangen, wo er ein vielbesprochenes Werk über die
Falaschas veröffentlichte. In demselben spricht er sich gün-
stig über Theodor aus, theilte aber auch allerlei über des
Kaisers Familie mit, was dann späterhin mit eine der Ur-
suchen war, weshalb er viel auszustehen hatte. Um dieselbe
Zeit erschienen in einer ägyptischen Zeitung einige Artikel,
„welche sich sehr scharf über die ehelichen Verhältnisse der
Bewohner von Gassat äußerten". Man hielt Stern für
den Verfasser, doch hat er dem stets entschieden widersprochen.
Aber die Leute in Gassat glaubten ihm nicht und sind ihm
von da au sehr feindlich gesinnt geblieben. Stern war 1863
nach Abyssinien zurückgekommen; als die Gasfater hörten,
daß er in Mafsawah gelandet sei, zogen sie in Masse zum
Kaiser und baten ihn, Herrn Stern nicht wieder ins Land
zu lassen. Theodor gab ihnen eine ausweichende Antwort.
Als späterhin der Sturm ausbrach, war, Blauc zusolge,
der Stand der Dinge folgender: Bell und Plowden,
die einzigen Europäer, welche einen wohlthätigen Einfluß auf
den Kaiser hätten ausüben können, lebten nicht mehr. Die
Gasfater bearbeiteten den König gegen Stern und die Mis-
sionäre zu Dschenda; Capitän Cameron und dessen Ge-
fährten wurden in Gondar bewacht. Weshalb dieses ge-
schah, sagt Blanc nicht; er erzählt aber, daß Cameron, als
er eine Reise nach der von Christen bewohnten Grenzpro-
vinz Bogos machte, vou Samuel, Theodoras Haushofmeister,
begleitet worden sei. Als er dann erfuhr, daß Samuel „mit
den Häuptlingen in der Umgegend, welche den Türken (— d. h.
Aegyptern —) tributpflichtig sind, Jntrigueu zu Gunsten des
Kaisers anspann, hielt er es, um etwaige Weiterungen mit
der ägyptischen Regierung zn vermeiden, für gerathen, jenen
Samuel nicht weiter bei sich zu behalten." Darüber grollte
ihm Samuel und schrieb an Theodor sehr ungünstige Berichte
über Cameron. Ans den Blaubüchern, welche dem Parla-
mente mitgetheilt wurden, erfahren wir mit Theodor's eige-
nen Worten, weshalb er dem Consnl Cameron abgeneigt
und mißtrauisch gegen ihn war. Theodor sagte.- „Ich bat
ihn, mich mit seiner Königin zu befreunden; er ging aber
und hielt fich einige Zeit bei den Türken auf; dann
kam er zu mir zurück. Ich sprach mit ihm von dem Briefe,
welchen ich ihm zur Uebermittelnng an die Königin gegeben
hatte. Er sagte, bislang habe er in Betreff desselben noch
nichts erfahren. Was habe ich gethan, sagte ich ihm, daß
sie mich hassen und leidenschaftlich behandeln? Bei Gottes,
des Schöpfers, Allmacht, ich schwieg."
Weshalb hat Cameron sich einige Zeit „bei den Türken
aufgehalten?" Er mußte doch wissen, daß Theodor Ursache
vollauf hatte, gegen die AegYPter, von welchen er feine Nord-
grenze bedroht glanbte, auf der Hut zu seiu.
Es war im Sommer 1863, als Cameron sich Theodor's
Ungnade zuzog. Dieser „schwieg", weil er den Consnl per-
sönlich noch schonen wollte ; um so herber trat er vom 13.
October an gegen den Missionär Stern auf. Bekanntlich
schlugen alle Versuche, die Freilassung der Gefangenen zn
bewirken, durchaus fehl. Dr. Blanc erzählt folgenden Vor-
fall. Im Februar 1865 erschien ein Kopte Namens Abdel
Melek beim englischen Generalconsnl in Aegypten; er behaup-
tete , freundliche Botschaft vom abyssinischen Abuna (dem
Patriarchen in Gondar) zu bringen. Er impouirte sowohl
dem Generalconsnl wie auch dem britischen Cousul in Dschidda
dermaßen durch feilte Erzählungen, daß diese ihn mit Briefen
und „angemessenen" Geschenken nach Abyssinien an den Abuna
heimschickten. Unter denselben befand sich eine Pfeifen-
er Abyssinien. 149
spitze aus Bernstein. „Hätten jene beidenHerren etwas
von den abyssinischen Verhältnissen verstanden, so würden sie
sofort den Betrug gemerkt haben. In Abyssinien gilt der
Taback für unrein bei allen Priestern; keiner derselben
raucht. Dem Abuna ein Mundstück von Bernstein schenken
zu wollen, das wäre gleichbedeutend mit einer offenbaren Be-
leidignng, obendrein für einen Mann, der, wie man meinte,
seine guten Dienste angeboten hatte." Die Sache wird aber
noch lustiger; der Kopte bekam, außer werthvollen Gegen-
ständen, noch zwei Berusteiuspitzeu, dreißig Pfeifenköpfe, ein
Dutzend Pfeifenrohre und obendrein noch Messingdraht mit
Bürsten zur Reinigung der Pfeifen! Und damit der hoch-
würdige Patriarch auch eiu gutes Kraut schmauchen könne,
dachte man ihm einen ganzen Ballen des besten Latakia zu.
Als der Kopte alle jene Siebensachen hatte, zog er ab, trieb
sich längere Zeit in der Landschaft Takka bei den Arabern
zwischen Metammeh und Kassala umher und zeigte ein Do-
cument vor, in welchem er als Ambassadeur sigurirte. Da
traf es sich, daß Rassam ihn unweit Kassala traf; er ge-
stand gauz unbefangen den Betrug ein, welchen er den bei-
den Consulu gespielt hatte.
Rassam war bekanntlich als bevollmächtigter Agent zur
Befreiung der Gefangenen nach Abyssinien gekommen. Theo-
dor schickte sie nach Magdala zu ihm. Am 15. März 1866
wurden sie ihm vorgeführt, um verhört zu werden. Man
las ihnen ein Verzeichniß der Fehler und Vergehen vor, wel-
cher sie sich schuldig gemacht haben sollten und fragte sie, ob
der Kaiser im Unrecht sei oder ob sie Unrecht hätten. In
dem Berichte, welchen Rassam unterm 21. März an den
Obersten Merewether schrieb, heißt es: „Alle die nun
freigegebenen Gefangenen bekannten, daß sie Unrecht gethan
hätten und baten Seine Majestät um christliche Vergebung."
Rassam erzählt das ganz einfach, aber Dr. Blanc bemerkt:
„Es wäre einfältig von ihnen gewesen, wenn sie ihre Fehler
nicht bekannt und nicht nnl Pardon gebeten hätten." Nach-
dem sie sich aber schuldig bekannt hatten, mußten sie dann
noch fast zwei Jahre lang in der Gefangenschaft schmachten.
Theodor ließ ihnen Beinketten von 7 Pfund Schwere an-
legen ; Dr. Blauc hat die seinige sieben Vierteljahre geschleppt.
Sie wurde ihm, wie er ausführlich erzählt, mit großer Rück-
sichtslosigkeit und Rohheit angeschmiedet und erlitt entsetzliche
Schmerzen. Als sie ihm endlich abgenommen wurden, wankte
und schwankte er beim Gehen wie ein Betrunkener.
Doch wir wollen Einiges über die große Katastrophe be-
merken. „Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Kaiser-
Theodor weder von Seiten der britischen Regie-
rung uoch von dem Befehlshaber der Jnvasions-
armee irgend welche amtliche Kunde darüber erhal-
teu hat, daß man feindselig gegen ihn vorgehen
wolle" („Athenäum" vom 29.August). Er war aber vou
der Landung der englischen Truppen und ihrem Vorrücken
gegen Magdala durch seine Späher unterrichtet, und ließ
sein schweres Geschütz von Gassat nach der eben genannten
Festung schicken. Rassam und die Uebrigen machten ihm
Complimente darüber, daß ihm das gelungen sei und „er
unterhielt sich mit ihnen einige Stunden lang sehr freund-
lich." Rassam erzählte ihm Alles, was er über die Trnp-
Pen, deren Zahl und ihr Vorrücken wußte. „Es geschieht
nur aus Freundschaft," sagte Theodor, „Gott aber weiß,
was kommen wird. Als die Franzosen in mein Land kamen,
damals als der Räuber Agan Negnssie im Felde stand, rückte
ich ihnen rasch entgegen und sie nahmen schnell Reißaus.
Glaubt Ihr nun etwa, ich würde Euren Leuten nicht ent-
gegenmarschirt sein und sie gefragt haben, weshalb sie in
mein Laud gekommen seien? Aber wie kann ich das jetzt?
Ihr habt meine Armee gesehen und — dabei zeigte er nach
150 ■ Ein Bericht
Magdala hinauf — dort ist mein ganzes Land. Aber
ich will sie hier erwarten und dann mag Gottes Wille ge-
schehen."
Man sieht, Theodor fühlte seine Ohnmacht. Später
am Tage ließ er Herrn Waldmeier und den früher erwähn-
ten Samuel kommen, war sehr aufgeregt, weil er getrunken
hatte, und fragte: ob es nicht angemessen sei, daß ein
König einen andern, dessen Land er mit Krieg über-
ziehen wolle, davon in Kunde setze? Es verdroß ihn
sehr, daß man ihm uicht einmal eine Kriegserklärung gemacht
hatte. „Deshalb — so sagt Dr. Blanc — hielten wir es für
rähtlich, Sir Robert Napier zu bitten, daß er einen kurzen aber
höflichen Brief an den Kaiser schreibe und ihm darin den
Zweck der Expedition anzeige. Denn das Schreiben,
welches er vor der Landung an ihn gerichtet hatte,
war von Herrn Rassam zurückgehalten worden.
Auch das Ultimatum, welches Lord Stanley abge-
schickt hatte, bevor noch die bewaffnete Einfchrei-
tung stattgefunden, war nicht in des Kaisers Hände
gelangt, sondern in jene Rassam's, und dieser
Gentleman hatte dasselbe vernichtet."
Dieser Rassam fignrirt als ein levantinischer Gauner
der schlimmsten Art, und eiu solcher Intrigant war diplo-
malischer Bevollmächtigter der englischen Regierung! Er
hat, obwohl von der letztern mehrfach aufgefordert, uoch keinen
Bericht über seine Wirksamkeit erstattet.
So viel ist ansgeniacht, daß am 3. April, als die eng-
tische Armee schon seit Monaten auf abyssinischem Boden
stand und zehn Tage vor dem tragischen Ende Theodoras,
dieser noch keine Kriegserklärung bekommen hatte. Dr.
Blanc schreibt: „Ich meinerseits, nicht Herr Rassam,
hatte einige Tage vor dem 10. April einen Boten an Ge-
neral Merewether geschickt; diesen ließ ich um eiu Schreiben
an den Kaiser bitten; derselbe habe mehrmals sein Erstaunen
darüber ausgesprochen, daß er von Seiten der Engländer
gar keine Mittheilung erhalten habe. Nun kam der Bote
mit einem Briese Napier's zurück; das Schreiben war durch-
aus angemessen, gerade so wie ich es gewünscht hatte, höflich
aber fest, ohne Drohungen oder Versprechungen; es war aber
in demselben betont, daß Theodor ans eine ehrenvolle Be-
Handlung rechnen könne, falls er die Gefangenen unversehrt
ausliefere." Das war die erste Mittheilung, welche Theo-
dor überhaupt von Seiten des englischen Oberbefehlshabers
erhielt, und am Mittage desselben Tages, 10. April, verlor
er die Schlacht bei Fahla. Die Gefangenen erhielten die
erste Nachricht über diese Niederlage der Abyssinier ans Theo-
dor's eigenem Munde; der Kaiser war jetzt niedergeschlagen
und bemerkte, daß seine Truppen schon durch die Vorhut der
Engländer allein geschlagen worden seien. „Alle meine
Musketiere sind tobt; versöhnt mich jetzt mit Euren Leuten."
Rassam versprach zu diesem Zwecke Boten ins Lager Na-
pier's zu senden. Am andern Morgen früh um 4 Uhr ließ
Theodor die Herren Flad und Waldmeier kommen, um sich
niit ihnen zu berathen; sie drangen in ihn, Frieden zu machen.
Ersaß eine Weile nachdenklich, den Kopf zwischen den Händen
und sagte dann: „Ja, geht nach Magdala und sagt Rassam,
daß ich auf eine Aussöhnung durch seine Vermitteluug rechne;
ich will thun, was er für gut hält."
Nun gingen Lieutenant Prideaux, Flad und der abyssi-
nische Detschadsch Alante ins britische Lager. Theodor hatte
ihnen gesagt: „Bisher hatte ich geglaubt, ich sei stark, nun
sehe ich aber, daß jeue stärker sind. Schafft mir Frieden
mit ihnen." Napier gab eine schriftliche Mittheilung, dessel-
ben Inhalts wie die frühere. Dieses Schreiben wollte
Theodor nicht annehmen, sondern schickte es zurück und
schrieb dazu einen Brief tollen Inhalts und von zusammen-
er Abyssinien.
hanglosen Sätzen; von diesem Schreiben nahm nun Napier
seinerseits keine Notiz. Bevor Theodor das letztere erhielt,
hatte er mehrere seiner Würdenträger und europäischen Hand-
werker zu sich berufen. Er wollte mit ihnen beratschlagen,
war aber so aufgeregt, ja so wild uud unbändig, daß sie ihn
nur mit großer Mühe am Selbstmorde verhindern konnten.
Die Häuptlinge warfen ihm vor, daß er schwach sei, und
drangen darauf, daß er alle Gefangenen abthue. Aber da-
von wollte er doch nichts hören; er schickte die Häuptlinge
fort und sagte deu Handwerkern, sie möchten sich bereit hal-
ten, die Gefangenen ins englische Lager zu begleiten. Sie
glaubten aber, daß damit das Gegentheil gemeint uud ihre
Hinrichtung fest beschlossen sei. Man suchte deshalb Zeit
zu gewinnen, damit Theodor auderu Sinnes werde. Sie
ließen ihm sagen, es sei ihr Wunsch, persönlich Abschied von
ihm zu nehmen; er wollte aber nur „seinen geliebten Freund
Rassam allein sprechen". Dieser ging also hin und erzählte
nachher Herrn Blanc, Theodor habe ihm gesagt: „Es wird
dunkel; es ist vielleicht gut, wenn Du bis morgen früh hier
bleibst." Rassanl antwortete: „Gauz wie Ew. Majestät
befiehlt." Der Kaiser entgegnete aber, daß er nur gehen
möge und schüttelte ihm die Hand. Rassam versprach, am
andern Morgen wieder zu kommen; er hat das aber verges-
seu und Theodor sah „seinen geliebten Freund" nicht wieder.
Dr. Blanc erfuhr, daß Theodor allerdings eine Weile ge-
schwankt habe, ob er die Gefangenen hinrichten uud nur allein
Rassam abziehen lassen solle.
Am 11. April erfolgte die Freilassung; am 12. sandte
der Kaiser an Napier ein Schreiben, in welchem er wegen
des oben erwähnten zusammenhanglosen und impertinenten
Briefes sich entschuldigte uud ihn bat, eintausend Stück
Kühe als Geschenk anzunehmen. Das war, nach abys-
sinischer Sitte, ein Friedensangebot, und wenn dasselbe ange-
nommen wurde, mußten die Feindseligkeiten sofort aufhören.
Danials befanden sich noch einige Europäer, die aber keine
britischen Unterthanen waren, in Theodoras Gewalt, und
Samuel, dessen schon früher erwähnt worden ist, hatte am
Abend vorher Herrn Rassam und dessen Partie das Geleit
gegeben. Er erhielt dauu von Rassam den Auftrag, die
Freilassung jener Leute zu verlangen. Bevor er sich zum
Fortgehen anschickte, erzählte ihm Rassam, daß der Ober-
Befehlshaber die Kühe angenommen habe. Das war
ein unglückliches Mißverständniß, weil Theodor dadurch irre-
geleitet wurde, das aber insofern gelegen kam, als dadurch
wahrscheinlich das Leben der Gefangenen gerettet wurde. Als
Samuel den Kaiser sah, war dessen erste Frage, ob die Kühe
angenommen worden seien? Samuel verneigte sich und sprach:
Der englische Ras (Häuptling, Napier) läßt Dir sagen: Ich
habe Euer Geschenk angenommen; möge Gott es
Euch vergelten. — Nun athmeteTheodor tief auf, als ob
er einer schweren Last entledigt sei und sagte den Europäern:
Jetzt könnt Ihr gehen und Eure Familien mit Euch nehmen.
Zu Waldmeier sagte er uoch iusbesoudere: Du also willst mich
auch verlassen? Nun, geh. Jetzt, da ich Freundschaft
mit den Engländern habe, brauche ich nur einenWnnsch
auszusprechen und werde dann zehn Waldmeier haben können.
Erst spät am Abend erfuhr er, daß die Kühe nicht an-
genommen worden seien, sondern sich noch außerhalb des
englischen Lagers befänden. Nun hielt er sich für „getäuscht
und betrogen", und damit traf er wohl das Richtige.
Daß Verrath mit im Spiele gewesen, wird von vielen
Seiten behauptet. Daß Nassam, der Orientale, eine zwei-
deutige und schlechte Rolle gespielt hat, unterliegt keinem
Zweifel. Wir haben die obigen Angaben mitgetheilt, weil
sie einen Einblick in den Gang der Dinge gewähren und den
naturalistischen Halbbarbaren Theodor kennzeichnen.
Robert Schomburgk und seine Reisen in Guyana, am Orinoco, in Hinterindien :c.
15>I
Robert Schomburgk
und seine Reisen in Guyana, am Orinoco, in Hinterindien ic.
I.
Unter den Männern der Wissenschaft, an denen Vorzugs-
weise unser Vaterland so reich wie kaum ein anderes Land
ist, sehen wir manchen, der Alles, was er geworden, durch
sich selbst geworden, und damit den Beweis giebt, wie in
jeder Menschennatur nur das zu voller Blüthe kommen kann,
was als ein Ursprüngliches in ihr aufwuchs.
Auch der Lebensweg, welchen diese anspruchslosen Zeilen
beleuchten sollen, wich weit ab von der breiten Straße des
Gewöhnlichen, und wohl verdient es das wissenschaftliche Ver-
btenft unseres Freundes, wie der edle, selbstverleugnende
Charakter desselben, daß ihm in der Erinnerung dankbarer
Zeitgenossen ein ehrendes Denkmal gesetzt werde.
Robert Hermann Schomburgk, der kühne uud uner-
nüldlichc Forscher in Südame-
rika und Hinterindien — am
5. Juni 1804 zu Freiburg an
der Unstrnt geboren —, war
der älteste Sohn eines Geist-
lichen. Schon in seinem srü-
heften Lebensalter zeigte der
Knabe eine reiche geistige Be-
gabung, vor Allem eine seltene
Willenskraft. Fast alle seine
Spiele hatten einen tiefern
Sinn, als andere Knaben die-
sen unterzulegen pflegen. Alles
wollte er in feinem innersten
Wesen erforschen, womöglich
über jeden Berg hinwegsehen,
und wenn er auch zuweilen an
Mädchenspielen sich betheiligte,
so mußten diese doch dem von
ihm erfundenen Muster sich be-
qnemen, wenn er lange dabei
aushalten sollte.
Bis zu seinem vierzehnten
Jahre hatte er keinen weitern
Unterricht als den seines Va-
ters genossen, welcher außer sei-
uem geistlichen Amte noch einer
Privatschule vorstand. Da
Robert nach den Wünschen seiner Eltern für den Kaufmanns-
stand entschied, so trat er nunmehr seine Lehrzeit in Nauni-
bürg an der Saale an. Freilich beschäftigten sich feine Ge-
danken hier lieber mit anderen Gegenständen als mit Maß
und Gewicht, und so oft auch sein gestrenger Lehrherr die
Bücher, die er hier und da versteckt fand und die benutzt
wurden, wenn der Laden einmal leer war, confiscirte, so fand
der Wißbegierige doch immer wieder Mittel und Wege, sei-
nem Geiste andere Nahrung zuzuführen. Die auch während
seiner mechanischen Berufsarbeiten fortgesetzten Wissenschaft-
lichen Forschungen machten ihn jedoch für Alles, was um
ihn her vorging, vollständig taub und blind; so faßte er ein-
mal, anstatt die Handhabe der Winde zn ergreifen, au wel-
cher er leere Fässer in ein oberes Stockwerk befördern sollte,
in das Räderwerk, und hatte noch von Glück zu sageu, daß
dieses ihm nur die Hand zerquetschte uud nicht auch den Arm
Robert Schomburgk.
in das Getriebe hineinzog. Es dauerte lange, ehe diese Ver-
letzung geheilt wurde; nichtsdestoweniger wurde mich durch
dieses Mißgeschick seine Aufmerksamkeit der Region, in der-
er thätig sein sollte, nicht mehr als früher zugewandt. Ueber-
dies kamen nun die Jahre, wo den Idealen ihre Rechte zu-
gestanden werden müssen. Er hatte edlen Frauen einen Altar
in seinem Herzen errichtet.
Als endlich die Lehrzeit, die wohl noch Keinen auf Rosen
bettete, vorüber war, ging Robert Schomburgk nach Leipzig,
wo er in einem größern Geschäft hinlänglich Gelegenheit
fand, seinem Drange nach geistiger Ausbildung zu genügen
und sich vor Allem die Sprachkenntnisse anzueignen suchte,
die nöthig waren, wenn er seinen von Kindheit an mit Lei-
denschaft gepflegten Plan, sich
die Welt jenfett des Oceans
anzusehen, ausführen wollte.
Endlich zeigte sich eine Mög-
lichkeit, die ersten Schritte zu
wagen. Der Tod hatte ihm
die heißgeliebte Mutter genom-
men, der es wohl schwer ge-
worden sein möchte, ihr theu-
res Kind einen fo gefahrvollen
Weg einschlagen zu sehen. Den
Vater wußte er gar bald sei-
nem Wunsche geneigt zu ma-
cheu, uud so verließ er denn im
Jahre 1828 das Vaterland,
mit einem Auftrage betraut, der
ihn wenigstens fürs Erste festen
Fnß ans fremder Erde fassen
ließ, und erreichte nach einer
langen, beschwerlichen Ueber-
fahrt Amerika, das anch ihm
als ein Land der Verheißung
vor Augen stand, wenn schon
in anderm Sinne, als es den
meisten Europamüden gewöhn-
lich vorschwebt.
Das kaufmännische Geschäft,
welches er zur Zufriedenheit
seines Auftraggebers abgewickelt, hatte ihn bald in dem dor-
ligen Leben heimisch werden lassen; doch blieb er nur kurze
Zeit in Nenyork, wohin er znerst gewiesen war. Er ging
von dort nach Richmond in Virginien und später uach St.
Thomas, wo er auf der Plautage eines Herrn Donawary
anderthalb Jahre als Geschäftsführer sich aufhielt.
Wie mauches Unglück segcusrciche Folgen nach sich zieht,
so waren es anch hier schwere Schicksalsschläge, die ihn in
die längst ersehnten Gleise wiesen. Durch einen Sklaven-
aufstand und eine dadurch hervorgerufene Feuersbrunst seines
ganzen Eigenthums beraubt uud dienstlos geworden, bedurfte
es der äußersten geistigen Anstrengungen seinerseits, der Ver-
Hältnisse Herr zu werden. In der stillen Einsamkeit einer
edlen Herrnhuterfamilie, welche den in Folge des gelben
Fiebers zum Tode Erschöpften liebevoll bei sich aufnahm, ge-
langte er bald wieder in den vollen Besitz seiner Gesundheit.
152 Robert Schomburgk und seine Reisen in
Nun warf er sich mit Feuereifer vor Allem auf naturwisseu-
fchaftliche Studien, welche seinen längst projectirten Unter-
nehmungen die rechte Basis geben sollten. In verhältniß-
nmßig kurzer Zeit hatte er die für einen Forscher auf dem
Gebiete der Erdkunde erforderlichen Eigenschaften sich in sol-
cher Vollkommenheit anzueignen gewußt, daß eine größere
Arbeit über die Insel Anegada die Aufmerksamkeit der
wissenschaftlichen Welt in dem Grade erregte, daß er sowohl
von der geographischen Gesellschaft zn London, als auch von
der englischen Regierung selbst den ehrenvollen Auftrag zur
Erforschung vou Britisch Guyaua erhielt. Hieran
schloß sich später die weitere Mission, die sehr verWickel-
ten Grenzverhältnisse zwischen diesem Lande und
Brasilien zu regnliren. Während dieser fünfjährigenEnt-
deckuugsreise (1835 bis 1839) hat er bewiesen, was eiserne
Willenskraft und unbeugsamer Muth vermögen. Alexan-
der von Humboldt sagt in seiner Vorrede zu den „Rei-
sen Robert Schomburgk's in Guyana und am Ori-
noco" (ins Deutsche übertragen von seinem Brnder Otto
Schomburgk, Leipzig 1841): „Die denkwürdige geogra-
phische Entdeckungsreise des Herrn Robert Schomburgk hat
mir am späten Abend eines vielbewegten Lebens einen großen
Genuß verschafft. Nach einer mehr als 209 geographische
Meilen langen, nicht immer gefahrlosen Flußreise aus dem
Meta, Orinoco, Atabapo, Rio negro und Cassi-
quiare (der letztere Fluß macht die Verbindung zwischen dem
Wasserbecken des Orinoco und des Amazonenstromes) war
ich an den Fuß des mächtigen Gebirgsstocks Duida gelangt,
in die indische Mission der Esmeralda. Was jenseits lag
im Osten gegen die Quelle des Orinoco, die Gebirgs-
fette des Pacaraima, den Essequibo und die Mee-
resnser der Guyana hin, war wie eine unbekannte Welt
verschlossen. Nur vereinzelte Notizen über die Wanderun-
gen ganz ungebildeter, unwissenschaftlicher Europäer ließen
Vermuthungen über das Flußnetz wagen, welches eine weite,
fast menschenleere, aber mit der üppigsten Tropenvegetation
geschmückte Einöde durchsticht. Ich machte damals Vor-
schlüge über die Richtungen und Wege, auf welchen jener
Theil des südamerikanischen Continents aufgeschlossen wer-
den könnte. Diese Wünsche, welche ich nach meiner Rück-
kunst aus Mexico so lebhaft ausdrückte, sind nach vierzig
Jahren erfüllt, ja reichlich erfüllt worden. Mir ist noch die
Freude geworden, eine so wichtige Erweiterung unseres geo-
graphischen Wissens erlebt zu haben, die Freude auch, daß
ein so kühnes, wohlgeleitetes, die hingebendste Ausdauer er-
heischendes Unternehmen von einem jungen Manne ansge-
führt worden ist, mit dem ich mich durch Gleichheit der Be-
strebungen wie durch die Bande eines gemeinsamen Vater-
landes verbunden fühle. Es ist mir ein Bedürfniß, meine
innige Achtung vor einem talentvollen Reisenden öffentlich
auszusprechen, der von einer Idee geleitet, von dem Vorsatze,
aus dem Thal des Essequibo bis zur Esmeralda, vou Osten
gegen Westen, vorzudringen, nach fünfjähriger Anstrengung
und Leiden, deren Uebermaß ich ans eigener Erfahrung theil-
weise kenne, das vorgesteckte Ziel erreicht hat. Muth bei der
augenblicklichen Ausführung einer gewagten Handlung ist
leichter zu finden und setzt weniger innere Kraft voraus, als
die lauge Geduld, physische Leiden zn ertragen, von einem
geistigen Interesse tief angeregt, vorwärts zn gehen, nnbe-
kümmert über die Gewißheit, mit geschwächteren Kräften auf
dem Rückwege dieselben Entbehrungen wieder zu finden."
Fast alle Theile der Naturwissenschaften sind
durch die langjährigen Arbeiten Robert Schom-
bnrgk's bereichert worden. Die botanischen und zoolo-
gischen Sammlungen haben eine große Zahl neuer Formen
(Typen) dargeboten. Durch Lindley und Georg Beutham ist
Guyana, am Orinoco, in Hinterindien:c.
bereits ein Theil der mitgebrachten Pflanzen beschrieben wor-
den. Riesenmäßige Orchideen, baumartige Grasarten und
zwei prachtvolle Gattungen, die den Namen zweier Königin-
nen führen, Victoria und Elisabetha regia, gehören zu
den wundervollsten Bildungen der vegetabilischen Tropen-
Welt. Außer den wohlgetrockneten Pflanzen und den Säme-
reien, die unsere botanischen Gärten bereichert haben, hat
Schomburgk auch eine wichtige Sammlung von Pflanzen-
abbildungen mitgebracht, an Ort und Stelle theils von ihm
selbst, theils unter seiner Direction gezeichnet. Von allen
Gebirgsarten in einer Strecke von acht Längengraden
sind wohlausgewählte Fragmente eingeschickt worden. Da
einzelne Theile dieser Sammlungen, wie herrliche Kunstpro-
dncte von Federschmuck, durch die sorgsame Güte des Rei-
senden in die Berliner öffentlichen Sammlungen niedergelegt
worden sind, so kann ich den Werth, und die vortreffliche Er-
Haltung derselben bezeugen. Aber der Hauptzweck der Unter-
nehmung war nicht ein naturhistorischer: es war, wie ihn
die königliche geographische Societät zu London im
November 1834 bezeichnet hatte, „die astronomischeVer-
bindung des Littorals der britische» Guyaua mit
dem östlichsten Punkte des Oberoriuoco, zu dem ich
meine Instrumente gebracht hatte. Das Problem
ist zur Zufriedenheit jener berühmten, um die all-
gemeine Erdkunde so hochverdienten Gesellschaft
von Robert Schomburgk gelöst worden" n. f. w.
Für dieses glänzende Zeuguiß seiner vielseitigen geogra-
phischen und naturwissenschaftlichen Verdienste finden wir bei
dem Studium der Schomburgk'schen Reiseschriften die voll-
ständigsten Belege. Unter diesen ist das vorhin genannte
Werk als eines der interessantesten auf dem Gebiete der Reise-
literatnr zu empfehlen *). Än blühendstem Stil geschrieben
fesselt dasselbe durch eine Fülle mit tropischem Duft uud Far-
benreichthnm geschmückter Schilderungen.
Mit Herzklopfen und Bangen sehen wir nnsern Reisen-
den tausendfachen Gefahren ausgesetzt, jetzt in dem kleinen
zerbrechlichen Corial (indianisches Boot) die wildschäumenden
Stromschnellen und Katarakte überfahrend, welche zu Huu-
derten das Bett des Orinoco, des riesigen Essequibo und ihrer
zahllosen Nebenflüsse sowie den Rio Branco, Corentyn, Ber-
bice, Demerara n. s. w. versperren. „So weit das Auge
reicht, eine schäumende Wassermasse, Strom kämpft mit
Strom — überall schäumende Wirbel und Strudel." Die
Eingeborenen hören es oft mit ungläubigem Staunen an,
ja, sie halten die Behauptung für Scherz, daß die weißen
Männer mit dem tollkühnen farbigen Steuermanne über die
verderbendrohenden Fälle gefahren seien!
Bei den Weihnachtskatarakten — deren er 48 zählt —
wurde leider sein junger liebenswürdiger Reisebegleiter Karl
Beiß ein Opser eigener Unvorsichtigkeit.
Und doch gab es keinen andern Weg, diese Flußgebiete
bis zu ihren Quellen zu erforschen, als diese unendlich be-
schwerliche Flußreise, — am beschwerlichsten, wenn an seich-
ten Stellen die Boote oft fünfmal des Tages ausgeladen,
über die Klippen hinweggezogen und die Ladung auf dein
Rücken dahingeschasft werden mußte. Welche Verlegenheit,
wenn solcher Mühen satt und sehnsüchtig nach ihrer Heimath
oder auch geängstigt von abergläubischer Furcht vor deu Dä-
nionen, welche diese Wildnisse bewohnen sollten, seine ihm
als Führer dienenden Indianer ihn plötzlich im Stich ließen,
nur durch äußerste Ueberredung zum Bleiben zn bewegen wa-
*) Ferner: Description of Guyana by Robert Schomburgk, Leip-
zig 1841. Dazu: Map. of Guyana to illustrate the route 1840,
welche dem großen englischen Prachtwerke: View« in the interior of
Guyana beigegeben ist.
Robert Schomburgk und seine Reisen in
ren, einige Male aber doch heimlich mit sammt den Corials
sich auf und davon machten! Anderer Gefahren nicht zu
gedenken, welche im Wasser wie in den Urwäldern in Ge-
statt giftiger Schlangen, gefräßiger Kaimans, wilder Kai-
rnnis (indianischer Schweine) aus ihn lauern. Ueberdies be-
reiten zahllose Arten bissiger Ameisen, Scorpione und andere
scheußliche Jnsecteu dem Reisenden eine oft kaum zu ertra-
gende Pein; Hunger, Durst und glühendste Hitze, dann wie-
der ein zu niedriger Wärmestand bei total durchnäßter Klei-
dung briugeu ihm heftige Anfälle klimatischer Fieber, wunde
Füße, entzündete Augen. Aber alle, alle Beschwerden und
Mühseligkeiten sind vergessen über die wunderbare Schönheit
der Aussichten, welche bei einer Biegung des Flusses oder
von dieser oder jener Höhe herab seinem entzückten Auge sich
bieten. Wir begreifen die Freude des Botanikers bei Ent-
deckung dieser zahllosen, neuen, prächtigen Pflanzen, darunter
die Curuvapalme, größer und schöner als der Kokos; eine
merkwürdige Utricularia, der er den Namen Humboldt
giebt, ein Riesencactns, 6 Fuß im Umsang, mit einem
Stamme, der sich 10 Fnß erhob, bevor er sich in gerade auf-
stehende Arme theilte. Einige dieser Aeste maßen 40 Fuß,
in der That der riesenhafteste Leuchter, den man sich denken
kann; — eine Arundinaria, von den Eingeborenen Cu-
rata genannt, aus deren 15 bis 16 Fnß hohem, ganz kno-
tenfreiem Stengel sie ihre Blaserohre machen; — die Ber-
tholletia, dieser brasilianische Nußbaum, ein 80 Fuß hoher
Stamm, ehe seine Aeste beginnen; — eine mächtige Orchidee:
die Sabralia Elisabethea, und die Elisabetha regia, ein
wunderherrlicher Baum; — endlich aber das Wunder der
Pflanzenwelt, sein Stolz und sein Entzücken, die Victoria
regia (Euryale amazonica), die schönste Wasserlilie der
Welt, von welcher er ganze Flächen des bassinartig sich aus-
breitenden Berbice bedeckt findet.
Auch von dem berüchtigten Giftbaum, dem Urari, des-
seu Giftes sich die Eingeborenen vielfach bei der Jagd bedienen,
erfahren wir Näheres. Wird in die leichteste Wunde ein
wenig von diesem festen aloeartigen Gifte gebracht, so ent-
stehen nach einigen Minuten Convnlsionen, nach spätestens
zehn Minuten tritt der Tod ein. Bei der Section solcher
mit Urari getödteten Thiere fand sich, daß alles Blut sich
in der Brusthöhle gesammelt hatte, so daß weder Arterien uoch
Venen, weder Herz noch Lunge einen Tropfen enthielten.
Dabei ist dieses Gist, innerlich genossen, ohne schädliche Wir-
kung, wird im Gegentheil sogar als Fiebermittel angewandt.
Unter den merkwürdigen Thieren dieser Gegenden finden sich
Zitteraale, 5 Fuß 9 Zoll lang und 14 Zoll dick; ferner eine
Froschart, deren quäkende Stimmen den regelmäßigen Schlä-
gen eines Ruders iu so hohem Grade gleichen, daß ein juu-
ger Mann der Reisegesellschaft, dadurch irregeführt, dem Sta-
tionscommandanten am Esseguibo die Mittheilung machte,
er habe während der Nacht ein Boot vorüberfahren hören.
Der Wächter, welcher nichts davon gemerkt, erhielt wegen
vernachlässigter Dienstpflicht einen strengen Verweis. Aber
in der nächsten Nacht klärte sich der Jrrthum aus und der
sonderbare Ruhestörer wurde von da an „der Ruderer" ge-
tauft. — Auch von einem merkwürdigen Käfer hören wir,
dem Prianis coroicornis, welcher das Eannkugebirge be-
wohnt. Derfelbe packt mit seinen sägenartigen Mandibeln
einen Zweig, oft von der Stärke eines Handgelenks, an und
fliegt dann mit der Schnelligkeit einer Windmühle im Kreise
um denselben herum, bis er den Zweig abgesägt hat und mit
ihm zugleich zu Boden fällt.
Der Prianis ist 3Vz bis 5 Zoll lang und beinahe 2
Zoll breit. Seine Flügeldecken sind dunkelbraun mit Roth-
gelb gestreift. Noch lebhafteres Interesse jedoch erregen die
allerliebsten Mittheilungen über die tanzenden Felsenmänn-
Globus XIV. Nr. s. (September 1868.)
Guyana, am Orinoco, in Hinterindien ic. 153
cheu. „Während wir eben das Gebirge durchkreuzten/ er-
zählt unser Reisender, „stießen wir aus eine Herde jener
herrlichen Vögel, den Felsenhahn oder das Felsenmänn-
chen (ßupicola elegans), wobei ich zugleich Gelegenheit
hatte, Zeuge des Tanzes dieser Vögel zu sein, von dem mir
zwar die Indianer schon viel erzählt hatten, den ich aber im-
mer noch für eine Fabel hielt. Eben hörten wir in einiger
Entfernung die zwitschernden Töne, die den Rupicola so
eigentümlich sind, und zwei meiner Führer winkten mir,
mich mit ihnen vorsichtig nach beut Orte hinzuschleichen, der
etwas abgelegen vom Wege den Versammluugsplatz der Tan-
zenden bildete. Er hielt etwa 4 bis 5 Fnß im Durchmes-
ser, jeder Grashalm war entfernt und dabei der Boden so
glatt, als hätten ihn menschliche Hände geebnet. Auf diesem
Platze sahen wir einen der Vögel herumtanzen und springen,
während die übrigen offenbar die bewundernden Zuschauer
bildeten. Jetzt spreizte er seine Flügel aus, warf seinen
Kopf in die Höhe und schlug gleich einem Psan mit dem
Schwänze ein Rad; dann stolzirte er umher und kratzte den
Boden aus, was Alles mit einem hüpsenden Gange begleitet
war, bis er ermüdet einen eigentümlichen Ton von sich gab
und ein anderer Vogel seine Stelle einnahm. So traten
drei uach einander auf die Schaubühne und zogen sich hin-
ter einander mit dem stolzesten Selbstgefühl wieder unter
die übrigen zurück, die sich auf einigen Büschen, welche den
Tanzplatz umgaben, niedergelassen hatten. Wir zählten
zehn Männchen und zwei Weibchen. Plötzlich wurden
sie durch das knisternde Geräusch eines Stück Holzes, auf
das ich unvorsichtig meinen Fuß gesetzt hatte, ausgescheucht
— und dahin flog die ganze tanzende Gesellschaft! Die
Indianer, welche ihre schönen Bälge ungemein schätzen, suchen
diese Vergnügungsplätze eifrig auf und verbergen sich mit
ihrem Blaserohr nnd vergifteten Pfeilen, um die Tanzenden
zu erwarten. Bevor der Tanz nicht völlig begonnen, setzt
der Indianer seine Waffe auch nicht in Thätigkeit; die Vö-
gel sind dann so mit ihrem Vergnügen beschäftigt, daß man
vier bis fünf hinter einander, erlegen kann, bevor es die übri-
gen merken und davonfliegen; ja, während der Paarzeit soll
es nicht schwer fallen 200 bis 300 zu erlegen, da sich dann
die Hähnchen mehr zusammenhalten und bei dem Tanze
alle ihre Vorzüge zur Schau stellen, um durch diese die Nei-
guug irgend eines Lieblingsweibchens zu gewinnen."
Mannichfaltige Gebirgsformationen fesseln das Auge des
Beschauers; wunderbare Zeugen der Urzeit, unter Anderen
die Achramnkra, eine Reihe von Granitpfeilern, unter denen
einer, einem gothischen Thnrme gleich, Bewunderung und
Ehrfurcht gebietend emporragt; der Pure-Piapa, d. i.
wipfelloser Baum, ein 50 Fuß hoher Basaltfelsen, täuschend
einem Baume ähnlich; der Tupauaghae (Menschenhand)
und „dem Riesen gleich, zu hüten ein verzaubert Reich", die
merkwürdige Granitpyramide des Ataraipn oder Teufels-
felfeu. Diese wie alle übrigen irgend einer Thier- oder
menschlichen Gestalt ähnliche Bildungen haben den Eingebo-
renen Stoff zu abergläubischen Voraussetzungen und Sagen
gegeben, wie wir ja dasselbe bei unseren Gebirgsbewohnern
finden. Die genannten Felsen, auch einige Seen am Esse-
qnibo, sind Wohnungen von Dämonen und Ungeheuern,
welche gewöhnlich inSchlaugeugestalt den Wanderer ent-
setzen und ihm Verderben bringen. Die Indianer richten
meistens ihre Anbetung an die bösen Geister, um sie zu
versöhnen und sich günstig zu stimmen — von den guten
Geistern ist ja ohnehin nichts zu fürchten, und da diese sehr
viel zu schaffen haben, so muß man sie nicht mit unnützen
Bitten behelligen. — Stirbt einer der Ihrigen, so verlassen
die Macusis, wie die Karibeu, Waraus, Accawais u. s. w.,
ihre Hütte, ja oft das ganze Dorf; sie fürchten, daß der Erz-
20
154 ° Aus allen
feint» alles menschlichen Lebens, der Kanaima, auch sie
verfolgen möchte, wenn sie an demselben Orte blieben.
Ueber die vielfachen in die Felsen eingeschnittenen Hie-
roglyphen, welche jedenfalls einer Periode angehören, deren
Bildungsgrad dem der jetzigen Bevölkerung Uberlegen war,
hat Schombnrgk eine ausführliche Denkschrift und die ent-
sprechenden Zeichnungen der Londoner geographischen Gesell-
fchaft zugestellt. Nach seinen Berechnungen breitet sich die
Zone der Bilderselsen über eine Fläche von 12,000
Quadratmeilen ans uud begreift die Bassins des Corentyn,
Essequibo und Orinoco in sich. Ebenso hat er eine be-
deutende Anzahl indianischer Sagen, vorzugsweise die der
Macusis, gesammelt.
„Die Macusis," erzählt er, „glauben, daß der einzige
Mensch, der eine allgemeine Überschwemmung überlebte, die
Erde wieder bevölkert habe, indem er Steine in Menschen
verwandelte! Wenn diese Mythe, die Frncht der lebendigen
Phantasie dieser Völker, an Deukaliou uud Pyrrha erinnert,
so zeigt sie sich unter einer etwas veränderten Form bei den
Tamanaken des Orinoco. Wenn man diese fragt, wie das
Menschengeschlecht diese große Fluth (das „Zeitalter der Was-
ser" der Mexicaner) überlebt habe, dann antworten sie ohne
Zögern, daß sich ein Mann und eine Frau auf den Gipfel
des hohen Berges Tamanaca an den Ufern des Atinera ge-
rettet und dann die Früchte der Mauritiapalme über ihre
Köpfe hinter sich geworfen, aus deren Kerueu Männer und
Weiber entsprungen wären, welche die Erde wieder bevöl-
kerteu." —
Der rastlos forschende Geist Schombnrgk's ließ sich aber
nicht allein an wissenschaftlichen oder auch culturhistorischeu
Resultaten genügen, überall suchte er dieselben Praktisch zu
verwerthen, der Menschheit nutzbar zu machen. Beachtens-
Werth für die dereinstige umfassendere Cultiviruug dieses gro-
ßeu und unendlich fruchtbaren Gebietes ist seine Behauptung
der Tüchtigkeit und Gewissenhaftigkeit der Indianer als
fkreie Arbeiter. Es sind bereits 27 Jahre seit seinerMah-
Erdth eilen.
nnng verflossen, daß eine Massenauswanderung so leicht keine
geeignetere Niederlassung sinden möchte, als die Inseln an der
Mündung des Essequibo bis zur zweiten Kataraktenreihe,
sowie die Ufer des Corentyn, „wo ganze Striche des frucht-
barsten Landes unbenutzt liegen und nur dem Jaguar uud
dem Rothwilde zum unbestrittenen Schlupfwinkel dienen, wo
sichere Anzeichen von Kohlenlagern, herrliches Bauholz, auch
feine Thonerde sich vorfindet, eben so Vortheilhaft ein Ge-
birgszug am Berbice, dessen Höhen sich zur Cultur des Kas-
ses, des Weins und der Olive außerordentlich eignen müßten,
während die quellenreichen Thäler jeden Cultnrartikel in der
größten Vollkommenheit hervorbringen würden. Welch ein
Feld ließe sich hier den Bedürfnissen der Menschen dienstbar
machen!" Er schließt seinen Bericht an die britische Re-
gierung: „Würde die kurze Portage zwischen dem Quatata
und dem See Amucu durchstochen und ein Canal von nn-
gefähr drei Meilen Länge zwischen dem Guapore (einem Arm
des Faura) uud Paraguay gegraben, dann wäre eine Bin-
nenschifffahrt zwischen Demerara und Buenos Ayres über
eine Strecke von 42 Breitengraden eröffnet. — Der Napo,
ein Nebenfluß des Solimoes, bietet die Verbindungslinie zwi-
schen Quito; der Ucayali mitCuzco; derHuallagu mit Lima
und dem Stillen Ocean. Auf dem Rio Negro, Oriuoco,
dem Cassiquaire und seinem Nebenflusse, dem Meta, bietet
sich eine ununterbrochene Wasserstraße dar bis Nen-Granada
nnd bis ungefähr acht Meilen vor Santa Fe de Bogata.
Besäße auch Britisch Guyana die ^Fruchtbarkeit nicht, die
dasselbe so sehr auszeichnet, dann würde es schon diese Bin-
nenschifffahrt ungemein wichtig machen; aber gesegnet mit
einer Fruchtbarkeit, wie man sie nur selten finden möchte,
erhöht diese ausgedehnte Wasserverbiudung den Werth dieser
Colonie nur noch mehr; und wenn der Strom der Einwan-
deruug hierher geleitet werden könnte, um alle diese nnschätz-
baren Hülssquellen ins Leben zu rufen, dann würde der Hafen
von Demerara mit jedem auderu Südamerikas wetteifern."
(— Das Land paßt nicht für europäische Einwanderer. — A.)
Aus allen
Die öffentlichen Schulen in den Vereinigten Staaten
von Nordamerika.
Die öffentlichen, d. h. die vom Staate unterhaltenen freien
Schulen und Universitäten Nordamerikas beschränken sich fast
ausschließlich auf die nördlichen und westlichen Staaten. Im
Süden gab es zur Zeit der Sklaverei dergleichen nicht, denn
das Gesetz verbot, die Neger zu unterrichten, und die Kinder der
weißen Bevölkerung wurden für den Zweck ihrer Erziehung ent-
weder nach dem Norden geschickt oder Privatakademien und Pri-
vatuniverfitäten übergeben. Seit der Emancipation der Sklaven
sind freilich auch dort mehrere Hundert Schulen auf Kosten der
Stautenregierungen gegründet worden, aber dieselben sind bei
dem jetzigen ungeregelten Zustande des Südens noch ohne alles
System und hauptsächlich nur für das Bedürfniß des Negers
berechnet. Lassen wir diese daher bei Seite und sprechen im
Folgenden von den öffentlichen Lehrinstituten des Nordens und
Westens. Dieselben stehen bislang unter der alleinigen Auf-
ficht der betreffenden einzelnen Staaten, so daß die National-
regierung in Washington gar nichts damit zu schaffen hat.
Das System der öffentlichen Schulen differirt in den ver-
schiedenen Staaten nur in untergeordneten Punkten. Z. B., die
Legislatur des einen Staates bringt die sämmtlichen Kosten
durch eine allgemeine Schulsteuer auf, wahrend in einem andern
Erdtheilen.
wieder nur ein bestimmtes Quotum von der Revenue übernom-
men wird und die verschiedenen Korporationen für die in ihrem
Districte liegenden Schulen das Fehlende ausbringen müssen. Ab-
gesehen von solchen kleinen Verschiedenheiten steht als allgemei-
ner Grundsatz fest, daß jeder Staat seinen Bewohnern einen
absolut freien Schulunterricht gewährt, und es ist Thatsache,
daß die einzelnen Staaten dabei eifrig miteinander wetteifern,
denselben so vortrefflich als möglich herzustellen. Ein Kind tritt
in eine Elementarschule ein, geht später in die nachfolgenden hö-
heren Classen über, besucht, zum Jüngling herangewachsen, ein
College und verläßt, graduirt und mit einem Diplom versehen,
dasselbe, ohne daß die Aeltern dabei irgend etwas anderes ver-
ausgabt haben als was für Bücher und Papier erforderlich war.
Ja, in einigen Staaten fallen selbst auch noch diese Kosten weg,
indem den Zöglingen Alles ohne Unterschied, was sie in den
Schulen bedürfen, unentgeltlich verabreicht wird. In den grö-
ßeren Städten befinden sich die verschiedenen Classen in beson-
deren Gebäuden, während sie an kleineren Orten in einem und
demselben angelegt sind, so daß ein Knabe von fünf Jahren an
dem einen Ende in die Elementarclasse tritt und nach etwa zehn
Jahren an dem andern Ende es verläßt, um entweder ein Ge-
schäft zu erlernen oder für weitere Studien auf ein College, d. h.
höhere Lehranstalt, zu gehen.
Das erste Erforderniß einer guten Schule sind gute Lehrer
Aus allen
und das amerikanische System sorgt dasür. Früher herrschte in
dieser Beziehung große Noth und die Schulen in Massachusetts
— zu allen Zeiten und noch heute die vorzüglichsten in Ame-
rika — waren es hauptsächlich, die dem großen Mangel an Leh-
rern abhelfen mußten. Jetzt hat fast jeder Staat, gewöhnlich
in der Hauptstadt, seine Normalschule, wo sowohl Lehrer als
Lehrerinnen von tüchtigen Professoren nicht bloß wissenschaftlich
ausgebildet, sondern auch mit den besten Methoden und den
neuesten Erfindungen in der Kunst des Unterrichtens, z. B.
Grammatik mit Hülfe von Diagrammen und Arithmetik auf
Drahttafeln zu lehren, bekannt gemacht werden. Wer eintritt,
muß sich verpflichten, später eine gewisse Anzahl von Jahren an
den öffentlichen Schulen zu wirken, gerade wie es auf den Mi-
litärakademien der Fall ist. Nach Beendigung der Lehrzeit er-
halten die Entlassenen ein Sitten- und Fähigkeitszeugniß, das
allein sie zu einer Anstellung berechtigt. Theoretisch giebt jeder
Staat den auf seinen Seminaren herangebildeten Lehrern den
Vorzug, praktisch werden aber immer die fähigsten gewählt,
gleichgültig aus welchem Staate sie kommen. Allgemeine Lehrer-
Versammlungen werden häufig gehalten, um gemachte Erfahrun-
gen einander mitzutheilen.
Der Gehalt rangirt von 250 bis 2500 Dollars, je nach Ruf
und Fähigkeit, wenngleich in größeren Städten manche Lehrer
bis zu 5000, und selbst darüber hinaus, erhalten. Die Schul-
gebäude sind durchgehend einfach, aber sehr solide gebaut und
die Zahl der darin unterrichteten Schüler disserirt von 50 bis
2000. In Zeiten ansteckender Krankheiten besteht die größte Vor-
sicht, so z. B. muß jedes Kind, wenn Pocken herrschen, ein Zeug-
niß vom Arzte beibringen, daß es geimpft worden. Die Ober-
leitung der Schulen liegt in den Händen einer vom Volke ge-
wählten Schulbehörde, und es gereicht den Amerikanern zum
Ruhme, daß hier nie politische Motive influiren, man wählt
eben die dazu am meisten befähigten Männer. Nur Neuyork
macht auch hier eine Ausnahme, aber dieser Excelsior State,
wie sein Beiname ist, macht noch in mancher andern Beziehung
eine Ausnahme. Nach langem und heftigem, sehr unerquickli-
chem Gezänke zwischen Katholiken und Protestanten hat man sich
jetzt dahin geeinigt, den Religionsunterricht ganz wegfallen zu
lassen. Bei Eröffnung der Schule wird des Morgens vom
Hauptlehrer ein kleines Gebet in vorgeschriebener Form herge-
sagt und von den Schülern ein kurzer Gesang gesungen — wei-
ter nichts.
lieber die Trennung der Knaben von den Mädchen besteht
keine bestimmt anerkannte Regel in den einzelnen Staaten. Manche
Lehrer behaupten, daß beide, wenn vereinigt, weit bessere Fort-
schritte machen, während andere wieder vom vollen Gegentheil
überzeugt sind, abgesehen von manchen anderen Bedenken. In
den Städten findet man gewöhnlich getrennte Schulen oder doch
wenigstens getrennte Räume für beide Geschlechter, während auf
dem Lande der Unterricht meist gemeinsam ertheilt wird.
Was das Lehrcollegium anlangt, so stehen, in den unteren
und mittleren Schulen zumal, gewöhnlich zwei Lehrer an der
Spitze und die übrigen sind Lehrerinnen. Das Verhältniß bei-
der zu einander ist ungefähr wie 1:20.
Der Lehrplan umfaßt alle Zweige einer guten englischen
Erziehung, dann aber auch Griechisch, Lateinisch, Französisch,
Deutsch, Musik, Zeichnen und militärische Uebungen. Französisch
wird öfters gelehrt als Deutsch, und Musik mehr als eine Er-
holung sür die Schüler angesehen. Zeichnen wird in den nie-
deren Schulen nicht so oft gelehrt, desto mehr Aufmerksamkeit
verwendet man aber in den höheren Instituten daraus. Nur
in einigen Schulen auf dem Lande, in deren Plan es von vorn-
herein nicht liegt, ihre Zöglinge für ein College vorzubereiten,
fallen die fremden Sprachen gänzlich aus, aber in den meisten
Anstalten werden doch wenigstens die Anfangsgründe des Grie-
chischen und Lateinischen gelehrt. Declamationen, Compositions-
Übungen und Gesang werden zu den Erholungsstunden gerech-
net und in jeder Woche ist ein halber Tag dazu angesetzt. Es
komm bei diesen Dingeil immer viel aus den besondern Ge-
schmack und die Neigung des Lehrers an, indeß gestattet die
Erdtheilen. 155
Schulbehörde nie, daß zu viel Zeit darauf verwendet wird. Die
militärischen Uebungen sind nicht in alle Schulen eingeführt,
aber in mehreren geht man wieder so weit, daß die Zöglinge
selbst mit wirklichen Musketen versehen und unterrichtet werden,
wie man dieselben zu handhaben, auseinander zu nehmen und
wieder zusammen zu legen hat, und alle Feldexercitien werden
nach den eigentlichen Unterrichtsstunden sorgfältig durchgegangen.
Pulver und Blei wird natürlich nicht verabreicht. Ein Avance-
ment in den Schulbataillonen wird als eine besondere Beloh-
nung für gutes Betragen gewährt und der Brigadier der Bür-
germiliz hat gelegentlich die jungen Krieger zu infpiciren. Man
vertheidigt diese ganze Einrichtung nicht bloß damit, daß, da
jeder Staat einmal Soldaten halten müsse, sie eine vortreffliche
Vorübung bilde, fondern vorzugsweise beruft man sich darauf,
daß sie das beste Mittel darbiete, den Schülern Gehorsam, gute
Diseiplin und Gelehrigkeit, welche dem Lehrer seine Arbeit so
sehr erleichtern, beizubringen.
Solche öffentliche Schulen sind in den Vereinigten Staaten
Nordamerikas sehr zahlreich, sind aber keineswegs ein Monopol
der Staaten. Es bestehen vielmehr neben denselben Privat-
Universitäten, z. B. $ale und Harvard, theologische Seminare,
einige Hundert Colleges und Tausende von Pensionsanstalten,
Akademien, Gymnasien, Erziehungsinstitute für Mädchen, sowie
viele Schulen, welche mit den verschiedenen Kirchen zusammen-
hängen, um nicht einmal die zahlreichen Klosterschulen zu er-
wähnen. Alle diese Erziehungsanstalten blühen neben einander,
denn es klingt in Amerika ganz unbegreiflich, daß es Aeltern
geben sollte, welche ihre Kinder nicht in die Schule schicken woll-
ten. Wer auf einem freien College graduirt, steht nicht höher
und nicht niedriger als wer in Pale diese Auszeichnung sich er-
worben; aber die Erfahrung lehrt, daß viele reiche Familien es
vorziehen, ihre Kinder in eine öffentliche Anstalt zu schicken, weil
diese gewöhnlich eine gründlichere und vorzüglichere Ausbildung
gewähren.
Es ist unmöglich, auf diesen Freischulen den Unterschied in
der bürgerlichen Stellung schon an den Schülern wahrzunehmen.
Alle müssen nett und rein, überhaupt anständig gekleidet sein;
zerrissene Kleider werden nicht geduldet, aber ein Flicken darauf
pafsirt fchon. Wenn irgend ein Knabe oder ein Mädchen be-
sonders elegant gekleidet ist, so verspotten die übrigen den schö-
nen Vogel so reichlich, daß er bald bescheidenere Federn wählt,
oder auch der Lehrer giebt den Aeltern einen Wink, eine ein-
fächere Kleidung für ihr Kind zu bestimmen.
Sind Kinder nicht im Stande, während des Tages die
Unterrichtsstunden zu besuchen, so werden im Winter, wenigstens
an den meisten größeren Orten, Abendschulen gehalten, die na-
türlich ebenfalls frei sind und sehr stark besucht werden. Hier
ist das Erscheinen in jedweder Kleidung gestattet. Auch für Lehr-
linge, Gesellen, Einwanderer n. s. w. bestehen solche Abendschu-
len und sie sind eben so vortrefflich organisirt wie die Tag-
schulen. —g.—
Eine Canalverbindung zwischen dem Amazonenstrom
und dem La Plata. Eine solche ist schon oftmals auf das
Tapet gebracht worden, und sie würde in einem stärker beVölker-
ten Lande auch längst hergestellt sein. Ein Blick aus die erste
beste Karte von Südamerika kann dem Leser zeigen, von welcher
Wichtigkeit eine unmittelbare Wasserverbindung der beiden rie-
sigen Stromgebiete für den Verkehr fein müßte. Kein anderer
Erdtheil könnte auch nur annähernd etwas Aehnliches aufweisen.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß über kurz oder lang eine
solche Verbindung hergestellt wird; die Natur selber hat eine solche
angezeigt und Schwierigkeiten und Kosten werden gering sein.
Wir lesen jetzt in der zu Joinville erscheinenden „Deutschen
Colonie-Zeitung" (welche von Herrn O. Dörsfel vortrefflich
redigirt wird und für deren regelmäßige Zusendung wir unsern
Dank aussprechen), daß ein Jngenieuroffizier, Moraes, der bra-
silianischen Regierung einen Vorschlag zur Herstellung jener Ver-
bindnng der beiden Stromsysteme gemacht hat. Das Wesentliche
läuft auf Folgendes hinaus:
20*
156
Aus allen
Erdtheilen.
Durch Beseitigung einiger Hindernisse in den zu benutzen-
den Flüssen und mit Anlegung eines Canals von wenig
mehr als einer Legoa Länge wäre diese für die Vertheidi-
gung des Reichs und für den Handel so wichtige Aufgabe, das
Thal des Amazonenstroms mit dem des La Plata in Verbin-
dung zu setzen, gelöst. Dieser Wasserweg würde gebildet wer-
den vom Amazonenstrome aus durch die Flüsse Madeira, Gua-
pore und Alegre. Der Zwischenraum zwischen dem Alegre, der
dem Gebiete des Amazonenstromes, und dem Aguapehy, dem
ersten Flusse, welcher dem Stromgebiete des La Plata angehört,
wird durch die Serra Aguapehy, auf der sowohl der Fluß
gleichen Namens wie der Alegre entspringt, gebildet, beträgt we-
nig mehr als eine Meile und könnte leicht durch einen mit Schleu-
sen versehenen Canal überwunden werden. Der Wasserweg wird
dann südwärts weiter fortgesetzt durch den Aguapehy, den
Jauru und den Paraguay, welcher letztere, mit dem Parana
vereinigt, vom Einflüsse des Uruguay ab den La-Plata-
Strom mit bildet. Schon im Jahre 1773 beabsichtigte der da-
malige Statthalter der Provinz Matto Grosso, Lniz de Albu-
querque, die beiden Flüsse Alegre und Aguapehy durch einen
Canal zu verbinden, die Sache schlug aber aus Mangel an Mit-
teln damals fehl. Was nun die Weite dieses vorgeschlagenen
Wasserweges betrifft, so beträgt die Entfernung von Belem,
der Hauptstadt der Provinz Para, bis nach Cuyaba, der
Hauptstadt Matto Grossos, rundhin 1000 Meilen. Von da bis
Montevideo sind noch 440 Meilen. Letzterer Raum wurde bis
zum Ausbruche des Krieges mit Paraguay regelmäßig durch
die Dampfschiffe der brasilianischen Dampfschifffahrtsgesellschaft
des obern Paraguay befahren. Die Herstellung des vor-
geschlagenen Canals würde die beste und ausgedehn-
teste Binnenftraße der ganzen Welt schaffen und zugleich
Brasilien und Paraguay, einen Theil Argentiniens und Uru-
guay in eine ungeheure Insel verwandeln. Damit im Zusam-
menhange besinden sich Wasserstraßen nach allen Theilen Süd-
amerikas. So befindet sich 27 Legoas oberhalb der Einmün-
dung des Madeira in den Amazonenstrom die Mündung des
Rio Negro. Der Solimoes (b. h. obere Amazonas) ist der Weg
nach Peru, Ecuador und Neu-Granada. Tabatinga, der
Grenzort Brasiliens gegen Peru, liegt noch 300 Meilen von der
Mündung des Rio Negro entfernt. Diefe ganze Gegend wird
seit länger als 14 Jahren von den Dampfern der zweiten Linie
der Amazonas-Gesellschaft befahren. Ueber Tabatinga hinaus geht
die Dampfschiffahrt noch 236 Meilen weit bis Jurimangas
am Huallaga, einem Zuflüsse des Amazonenstroms in Peru.
Der Amazonenstrom wird überhaupt jetzt 836 geo-
graphische Meilen weit mit Dampfern befahren. Nach
Ecuador und Neu-Grauada führen die Flüsse Iget und Hya-
pura, welche in den Solimoes fallen. Der J§a (in Peru und
Ecuador Putumayo genannt) ist 100 Meilen weit für Dampfer
schiffbar, der Hyapura sogar 150 Meilen weit. Der Wasser-
weg nach Venezuela ist der Rio Negro. Derselbe ist ebenfalls
150 Meilen weit bis S. Isabel schon von den Dampfern der
Amazonasges ellschaft besahren worden. Von S. Isabel bis S.
Gabriel hat der Fluß auf einer.Ausdehnung von 75 Meilen
einige Hemmnisse für die Schisssährt, die aber beseitigt werden
können, während von S. Gabriel bis Cucuhy, der Grenze Bra-
Mens mit Venezuela, der Fluß wieder von kleinen Dampfern
befahren werden kann. Fürwahr, kein Land der Welt hat folche
Wasserstraßen im Innern aufzuweifen wie Brasilien, und welche
Aussichten eröffnen sich für den Welthandel, wenn einst die von
diesen natürlichen Straßen durchzogenen Gegenden bewohnt und
angebaut sein werden!
Der Ueberlandweg durch Britisch-Nordamerika. Schon
vor etwa fünfzehn Jahren machte Capitän Synge den Vorschlag
zu einer Eisenbahn von den canadischen Seen bis zum Stillen
Weltmeere; späterhin haben dann Palliser und Hector die
Region am Saskatschewan und eine Anzahl von Pässen über
das Gebirge erforscht und neuerdings ist A. W ad dington mit
denl Ergebnisse seiner Untersuchungen hervorgetreten. Er ist
überzeugt, eine prakticable Linie von den Ebenen am Saskatsche-
wan durch ^eHow-H ead-Pa.s? und weiter durch die Central-
ebene von Britisch Columbia bis zum Bute Jnlet ausfindig
gemacht zu haben. Diese Föhrde liegt landeinwärts etwa 100
Miles nordwestlich von der Mündung des Fräser, hat einen
sichern Hafen und ist das ganze Jahr hindurch zugänglich. Nach
Vollendung der großen nordamerikanifchen Westbahn wird ein
großer Theil des ostasiatischen Verkehrs nach Nordamerika ab-
gelenkt werden; aber eine Bahn durch das britische Gebiet ge-
währe mehr Vortheile als jene. Die Bodenschwierigkeiten sind
gering. Das Land im Norden des Obern Sees sei keineswegs,
wie man bisher angenommen habe, uneben und unfruchtbar,
vielmehr haben die auf Antrieb der canadischen Regierung an-
gestellten Untersuchungen ergeben, daß bis zum 49° N. ergiebige
Weizenernten erzielt werden. Von Ottawa bis zur Mündung
des Montreal River, 280 Miles, ist der Boden günstig; noch
mehr auf einer weitern, eben so langen Strecke; weiter westlich
liegt dann eine sterile Gegend, aber jenseit des Wäldersees be-
ginnt die große Ebene des Saskatschewan, welche bis an den Fnß
der Rocky Mountains reicht, 1000 Miles fruchtbaren Bodens hat,
und mit gutem Klima. Sie ist überall für Ansiedelungen ge-
eignet. Für eine Eisenbahn ist die nördliche Route vorzuziehen,
über den Hellow-Head-Paß und die Chilcoaten-Ebene bis
zum Bute Jnlet. Von Montreal bis dorthin beträgt die Ent-
fernung genau 3000 Miles; von Neuyork bis San Francisco
3230. Am Saskatschewan liegt der Schnee im Winter nie über
14 Zoll hoch und verschwindet rasch; zu Victoria auf Van-
couvers Insel fällt er nur selten; das Klima dort gleicht jenem
von Nantes. Dieser Hasen liegt in der Fahrbahn der Segel-
schiffe, die aus Ostasien nach der Nordwestküste Amerikas kom-
men und er würde durch eine Ueberlandbahn zu großer Bedeu-
tung gelangen. — Eine Bahn durch englisches Gebiet scheint im
weiten Felde zu sein; die Nordamerikaner haben den Vorsprung.
Das No-Semite-Thal in Californien. Die zu Chicago
erscheinende „Illinois Staatszeitung" weist auf diese merkwür-
dige Region hin und bemerkt, daß die Natur in Amerika sich
zu ähnlichen Gegenden Europas verhalte wie die alten Riesen,
deren Töchter den Bauer sammt seinem Pfluge als Spielzeug in
die Schürze warfen und nach der väterlichen Riesenburg brachten.
So ist das Hochland Colorados eine vielfach multiplicirte und
gigantisch nach allen Richtungen hin erweiterte Schweiz. So ist
dem Niagarafall gegenüber der Rheinfall nur ein Staubbach;
der Rhein und die Donau sind dem Missouri-Mississippi gegen-
über nur Bäche. Wer ist nicht durch das liebliche Annathal bei
Eisenach gewandert 1 Eine in millionenfach größerm Format
gehaltene Ausgabe des Annathales ist das Thal des semite,
welches in die Riesenfelsen der Sierra Nevada hineingespalten
zu sein scheint. Es giebt in dem an Naturwundern reichen Ca-
lifornien nichts Wunderbareres als dieses auf allen Seiten von
gelblichen Granitfelsen 2000 bis 4500 Fuß hoch umgebene, von
Bächen und Flüssen durchzogene, mit prächtigen Blumen, Farrn-
kräutern, Gräsern und auch da und dort mit Bäumen geschmückte
Thal. Vor 1348 hatte keines weißen Mannes Fuß dieses Thal
betreten; erst 1854 wurde es zum ersten Mal in der Presse ge-
nannt; seit 1856 wird es viel besucht. In einem Umkreise von
einer deutschen Meile rauschen fünf Cascaden, die in einer Höhe
von 350 bis mehr als 2000 Fuß herabfallen. Die höchste ist
jene des $o semite Creek, 2063 Fuß; dieser Katarakt sieht
in der Ferne ans wie ein Vorhang von weißem Atlas, der über
einen Abgrund herabhängt. Ein anderer Fall, der Vernal,
wird vom Mercedflusse gebildet und stürzt, etwa 100 Fuß breit,
in ein Becken, das von immergrünen Bäumen umsäumt ist, 350
Fuß tief hinab. Das etwa 10 Miles lange und in der Mitte
etwa 3 Miles breite Thal ist bloß an beiden Enden zugänglich.
Reifende sind unerschöpflich in der Beschreibung dieses Natur-
Wunders, und der Pinsel Bierstadt s hat es auch denen näher
gebracht, die es in Ermangelung der erst 1870 zu vollendenden
Eisenbahnverbindung nicht mit eigenen Augen genießen können.
Die Vereinigten Staaten traten vor einigen Jahren das
Aus allen Erdtheilen.
157
erwähnte Thal an den Staat California ab,- unter der Bedin-
gung, daß derselbe das Thal für immer in seiner vollen Schön-
heit den Reisenden erhalte, die von allen Enden der Erde es
besuchen. Der Staat ernannte denn auch eine Kommission, zu
der Männer wie Fred. Law Olmsted, der Geologe Whitney und
Andere gehörten, welche Brücken im Thal bauen ließen, Wege
anlegten, kurz Alles thaten, um den Reiz des Anblickes noch
zu erhöhen und alle Theile des Thales zugänglich zu machen, so
weit das überhaupt möglich. Aber es dauerte nicht lange bis
amerikanische Barbaren den Frieden dieses Riesentempels bedroh-
ten. Zwei Squatter machten vor der Staatsgesetzgebung von
Californien Anspruch aus 600 von den 1100 Ackern des Thales.
Sie verlangten das Recht, sich in dem Thale anzusiedeln; und
die Gesetzgebung gab zuletzt ihrem Drängen nach, trotzdem der
Vertrag mit den Vereinigten Staaten dadurch gebrochen wurde.
Ein Veto des Gouverneurs Haight wurde überstimmt und die
beiden Squatter, ihres Sieges gewiß, wandten sich an den Eon-
greß uni Bestätigung des Actes der ealifornischen Gesetzgebung.
Ohne die Bestätigung abzuwarten, nahmen die Barbaren
sofort Besitz von dem Thal und ohne Rücksicht auf die Zerstö-
rung des malerischen Effectes errichteten sie Sägemühlen und
erklärten den ohnehin spärlichen Bäumen den Vernichtungskrieg.
Gleichviel ob der Anspruch dieser Squatter begründet ist oder
nicht, er muß vor dem Anspruch der Welt auf die Erhaltung
des Naturwunders zurückstehen und wenn nöthig mit Geld ab-
gekauft werden. Der Gedanke: „Sägemühlen im Ho-Semite-
Thal" ist noch tausendmal entsetzlicher als der auch von einem
Hankeebarbaren geäußerte, die Wasserkraft des Niagara für Bil-
lionen von Baumwollspindeln zu benutzen.
Schonung der Wälder in Indien. Die Waldschinderei
hat auch in den Kolonien großen Schaden angerichtet, und am
rohesten und widersinnigsten ist sie in Brasilien betrieben wor-
den, namentlich in der Provinz Minas. Auch Indien hat von
derselben zu leiden gehabt. Schon 1850 sanden in der „Britisch
Association" zu Edinburg Erörterungen darüber statt und ein
Jahr später stattete eine Kommission Bericht ab. Die Folge
war, daß man zunächst in der Präsidentschaft Madras und fpä-
ter in Britifch Birma Forstverwaltungen gründete, und seit 1864
ist ein verbessertes Forstsystem für ganz Indien eingeführt wor-
den. Es handelt sich bei demselben zunächst darum, die Staats-
waldungen in gutem Stande zu erhalten oder sie in einen sol-
chen zu bringen. Den örtlichen Verwaltungen ist eingeschärft
worden, dem allgemeinen Vorschriftsplane gemäß zu verfahren.
Es scheint, als ob die englischen Forstmänner in Indien ihr
Amt gut verwalten; sie vermessen eifrig und haben manche für
die Pflanzengeographie interessante Angaben veröffentlicht. Wir
lesen unter anderen, daß die in Britisch Sikkim und in den
Duars von Butan große Strecken, die mit Sät (Vatica robusta)
bewachsen sind, das erforderliche Holz für die ostbengalische Eisen-
bahn liefern. Im Bezirke von Dardschiling werden alle Waldun-
gen über 6000 Fuß Höhe gehegt und man hat dort viele An-
pflanzungen gemacht. In dem heißfeuchten Tera'i, am Fuße des
Himalaya, gedeiht der dorthin verpflanzte Mahagonybaum.
In Kamaon und Gerwhal sind mehr als 400,000 Morgen vermes-
sen worden; ein großer Theil dieser Fläche trägt Pinus longifolia.
In manchen Gegenden ist der himalayaische Buchs bäum häu-
fig; er wird von den Holzschneidern gesucht. In den großen
Wäldern von Gorackpur ist der Säl vorwaltend. Der einge-
borene Teckbaum hat seine Nordgrenze in Bandelkand; man
hat ihn nach dem Pendschab verpflanzt, er will aber dort nicht
recht fort, weil ihm das Klima zu trocken ist. Dagegen gedei-
hen die australischen Bäume vortrefflich; die Acacien, Kasuarinen
und Eucalypten finden dort die trockenen Ebenen ihrer Heimath
wieder.
Uebe? die Wellingtonia gigantea gab der Botaniker
I. H ogg in der British Association folgende Notizen. Die erste
Kunde über diesen ealifornischen Riesenbaum erhielten wir durch
Whitehead, der ihn 1850 im County Calaveras entdeckte. Der
Wald liegt etwa 4000 Fuß über dem Meere in 38° N. und
120° 10' W. Dann wurden 1852 dort von Dowd und Lewis
noch mehrere aufgesunden. Ein Baum, der sogenannte Vater
des Waldes, hatte dicht über der Wurzel 110 Fuß engl, im
Umfange und 435 Fuß Höhe. Aehnliche Riefen entdeckte man
bei Krane Flat, gleichfalls in Calaveras County, an einem Neben-
flüsse des Big Creek, sodann an einem obern Arme des Frezno
und auch im Mariposa Grove zwischen dem Big Creek und dem
Merced. Ferner entdeckte 1857 ein Herr Clark noch zwei Grup-
pen derselben Art und nach Verlauf einiger Zeit wurde l^Miles
östlich von Frezno Grove noch ein beträchtlicher Hain ausgesun-
den. Man hat die größten dieser „Mammuthbäume" mit Namen
bezeichnet. Im Ganzen hat Hogg an den acht oder neun Punk-
ten, an welchen die Wellingtonien vorkommen, mehr als 1200
Bäume gezählt. Die Amerikaner wollten bekanntlich dieses Nie-
sengewächs als Washington!» bezeichnen; doch ist die Bezeich-
nung Wellingtonia, welche von Dr. Lindley herrührt (1853),
allgemeiner geworden. Dieser Botaniker nahm an, daß der
Baum binnen 20 Jahren im Durchmesser nicht über 2 Zoll zu-
nehme, gleich 24 Linien in 20 Jahren, und schätzte das Alter
aus höher als 3000 Jahre. Einige Jahre später nahm er für
die durchschnittliche jährliche Zunahme des Durchmessers 3 Linien
an und für den Baum, da derselbe schnell wächst, ein Alter von
1344 Jahren. Es läßt sich darüber noch nichts Genaues sagen,
da einige Botaniker der Ansicht sind, daß der Baum alljährlich
zwei Wachsthumsperioden habe. Jedenfalls haben Proben ge-
zeigt, daß die Wellingtonia schneller wächst als die libanotische
Ceder; diese letztere trägt Zapsen erst im dreißigsten, jene schon
nach sechs Jahren. Hogg meint, daß die Wellingtonien 3000
Jahre alt werden oder sind; die älteste Ceder aus dem Libanon
reicht nicht über 2500 Jahre hinaus.
Die Chinesen in der australischen Colom'e Victoria.
Die in Australien eingewanderten Chinesen machen haupt-
sächlich in der Goldcolonie Victoria einen sehr beträchtlichen Theil
der Bevölkerung aus, und zwar nahezu ein Zehntel der auf 654,000
Seelen sich belaufenden Kolonisten.
Man war aber von jeher auf die Chinesen sehr schlecht zu
sprecheu. Der Hauptgrund davon liegt wohl immer darin, daß
dieselben bei ihrem großen Fleiße und ihrer Ausdauer den Euro-
päern und Amerikanern starke Concurrenz an den Golddiggings
machen. In der Regel sind sie dort sehr glücklich und stecken
viele Tausend Unzen Gold ein, welche sonst möglicherweise den
Diggers kaukasischer Race zugesallen wären, und das eben ruft
bei letzteren Neid und Mißgunst hervor, die sich gelegentlich in
sehr rohen Ausfällen und sogar in Razzias oder Treibjagden
aus die armen „Söhne des Reiches der Mitte" Lust machen.
Dann hebt man — und zwar mit Recht — hervor, daß
die Chinesen schlechte Colonisten seien, insofern sie von den auf-
gefundenen Schätzen äußerst wenig verausgaben oder verwenden,
vielmehr meistens damit in ihr Vaterland heimkehren. Freilich
thut das mancher Europäer und Amerikaner auch, wenngleich
bei weitem nicht in dem Verhältniß und Maße.
Ferner weist man auf die mancherlei Laster hin, welche un-
ter ihnen herrschen, sowie aus den Umstand, daß nach den Ge-
setzen ihres Landes dem weiblichen Geschlcchte die Auswanderung
verboten, sie also immer ohne ihre Frauen eintreffen. (— Frauen
wandern jetzt allerdings von China aus. —) Dadurch werde
aber die ihnen an sich fchon eigne Unsittlichfeit noch erhöht und
die Frauen und Töchter der anderen Colonisten seien leicht der
Gefahr unsittlicher Angriffe ausgesetzt, wie die Erfahrung auch
bestätige.
Zur Zeit des letzten Census befanden sich überhaupt nicht
mehr als fünf Chinesinnen in Victoria, und auch diese hatten
nur in Verkleidung ihr Vaterland verlassen können. Mancher
Chinese ist freilich so glücklich gewesen, das Herz eines irländi-
schen Mädchens zu erobern, und wenn man in Melbourne die
lange Little-Bourke-Slraße, in welcher fast nur Chinesen woh-
nen, durchwandert, so begegnet man öfters Kindern, welche aus
158 Aus allen
solcher Mischehe hervorgegangen. Das sind jedoch bloße Aus-
nahmen, denn im Allgemeinen verschmähen doch selbst auch diese
Jrländerinnen der Niedern Classe, in Bezug auf welche man so
ost bei Anzeigen in den australischen Zeitungen liest: ,.No Irish
need apply," die Liebe des John Chinaman (wie die Englän-
der den Chinesen gewöhnlich nennen), es sei denn, daß seine
Gold-Nuggets zu schwer wiegen.
Diese besonderen Gründe waren es, welche das Parlament
von Victoria vor mehreren Jahren veranlagten, eine Kopssteuer
von etlichen Pfund Sterling aus jeden einwandernden Chinesen
zu setzen, und der Capitän, welcher sie landete, hatte für die
richtige Einzahlung derselben zu haften. Die Chinesen verstan-
den indeß dieses Gesetz dadurch zu umgehen, daß sie nicht mehr
in Melbourne oder sonst einen Hafen Victorias einliefen, son-
dern vielmehr in Port-Adelaide in der Kolonie Südaustralien,
wo obiges Gesetz keine Gültigkeit hatte, und von hier aus schli-
chen sie sich über Land in die Victoria-Golddiggings ein. Dieser
Umstand, sowie daß man überhaupt das Gehässige und Unge-
rechte einer solchen Maßregel erkannte, führten jedoch bald wie-
der zur Aufhebung des Statutes (— das an und für sich un-
gesetzlich war —).
Gegenwärtig macht sich in Victoria der alte Unwille gegen
die Chinesen wieder bemerkbar. Die Statistiken der Gefängnisse
in der Colonie haben nämlich ergeben, daß dieselben ein unver-
hältnißmäßig großes und jährlich noch steigendes Kontingent zu
den Insassen der Strasanstalten liefern und daß sie daher nicht
allein einen gefährlichen, sondern auch sehr kostspieligen Theil
der Bevölkerung bilden. Es wurden im Jahre 1367 im Gan-
zen 928 Personen, welche ihre Strafzeit verbüßt hatten, aus den
verschiedenen Gesängnissen der Colonie entlassen, und darunter
befanden sich 705 Europäer und 223 Chinesen, so daß also nahe
ein Drittel aller Entlassenen den letzteren angehörten. (— Bei
der Qualität derjenigen Chinesen, welche bisher auswanderten,
kann ein solches Resultat nicht Wunder nehmen. Wenn aber
die Engländer das Recht in Anspruch nehmen, in China zu leben,
so können sie den Chinesen nicht verwehren, sich in den Colonien
auszühalten. Auch ist nicht zu vergessen, daß voll allen euro-
päischen Kaufleuten, welche in den etwa zwanzig eröffneten Häfen
Chinas Geschäfte machen, keiner daran denkt, in jenem Lande zu
bleiben; er kehrt nach Europa zurück mit dem erworbenen Gute.
Genau dasselbe thun die meisten Chinesen, und es ist nicht ab-
zusehen, weshalb man ihnen daraus einen Vorwurf machen
kann. —) —g.—
Die Engländer auf Ceylon. Auch diese Zimmt- und
Kasseeinsel hat eine Rebellion gehabt, die allerdings schon in das
Jahr 1848 fällt. Ein Capitän eines schottischen Regimentes,
Macdonald Henderson, hat soeben eine Geschichte dieses Auf-
standes veröffentlicht. Veranlassung zu demselben gab das wider-
sinnige Verfahren des Gouverneurs, Emerson Tennent; er
ist derselbe Mann, welcher die Wissenschaft mit einem sehr inhalt-
reichen Buche über Ceylon bereichert hat. Aber seine Verwal-
tnng war erbärmlich und seine ganze Weisheit lief auf Finanz-
schinderei hinaus. Die Singalesen, ohnehin arme Leute, muß-
ten Steuern von Hunden, Schießgewehren, Kähnen, Karren und
Waarenläden zahlen, Abgaben, welche sie früher nicht gekannt
hatten. Außerdem wurde ihnen noch eine Stempelsteuer auf-
erlegt und jeder Mann mußte jährlich 3 Schillinge für Aus-
besserung der Straßen zahlen oder sechs Tage persönlich an der-
selben arbeiten. Diese Last wurde auch den buddhistischen Prie-
stern auferlegt, obwohl die Religionsvorschriften denselben ver-
bieten, Eigenthum zu besitzen oder Arbeit zu verrichten. Die
Bauern wurden aus Umkreisen von 50Miles zusammengetrieben
und mußten ihre Flinten mitbringen; diese wurden der Abgabe
wegen einregistrirt. Oftmals mußten sie Tage lang warten, ehe
die Verzeichnung stattfand. Den arg geplagten Leuten riß end-
lich die Geduld, und als Tennent sie in hochfahrender Weise
anredete, jagten sie ihn schimpflich fort. Das Volk versammelte
sich inDambul und rief einen Landstreicher, der bisher von
Almosen gelebt hatte, zum König aus. Er hieß Gongala-
Erdtheilen.
godde Banda und zog mit einer Bande zusammengelaufener
Bauern nach Matele, das etwa drei deutsche Meilen von Kandy
liegt. Zu besorgen war von diesen Bauern nichts und „eine
halbe Compagnie Soldaten hätte hingereicht, sie auseinanderzu-
treiben." Aber die Behörden verloren den Kops. Nach mehre-
ren Tagen ließen sie 200 Mann Soldaten gegen die etwa 300
Mann starke Armee des Königs Gongalagodde ausmarschiren.
Die Bauern liefert sosort auseinander; nur 70 Mann, die arm-
selige Gewehre hatten und nicht an Widerstand dachten, wurden
gefangen. Ein Capitän Watson ließ sie allesammt nieder-
metzeln, ohne daß sie auch nur einen Schuß gethan hatten.
Derselbe Watson ließ hinterher alle Verdächtigen einfangen und
vor ein Kriegsgericht stellen, welches sie zum Tode verurtheilte.
Das Verfahren der Engländer bei diesem Bauernauflauf in
Ceylon war geradezu „eine Niederträchtigkeit". Bisher hatte
über diese Vorgänge nichts verlautet; jetzt hat ein Offizier sie
in das rechte Licht gestellt.
Eine Blutrache bei den Winnevago-Jndianern im
Staate Wisconsin. In der Nähe von La Crosse hatte im
Juni dieses Jahres eine Abtheilung der Winnebago-Jndianer
ihre Wigwams aufgeschlagen. Die braunen Leute wurden oft
von einem Herrn F. A. Moore besucht, der längere Zeit im
Nordosten verweilt hat, um Stoff zu einem Werk über die ge-
genwärtige Lage der Indianer zu sammeln. Nun schreibt das
deutsche zu Milwaukee erscheinende „Banner" Folgendes.
„Wir berichteten vor einiger Zeit, daß die Winnebagos am
Trempeleaustusse einen Kriegstanz abgehalten hatten. Ein Trupp
von 30 Winnebagos, welcher an dieser Nationalseierlichkeit theil-
genommen, war den Mississippi entlang herunter gekommen und
hatte sein Lager auf Frenchs Island im Mississippi, gerade ober-
halb des Depots der St.-Paul-Eisenbahn bei La Crosse aufge-
schlagen. Diese Truppe stand unter dem Kommando eines wohl-
bekannten Häuptlings, Wau-kee-se-hoöng-er-er, oder Snake Chief
(Schlangenhäuptling), welcher zwei Frauen, Se-es-ka und
He-nee-kee, hatte. Beide Squaws waren den Fluß entlang
wohlbekannt und auch in hiesiger Stadt. Se-es-ka war unge-
fähr 30 Jahre alt, von schöner, zierlicher Gestalt, hübschem Ge-
sichte und ausdrucksvollen, dunkeln Augen. Hier in Milwaukee
pflegte sie in Begleitung eines hübschen und interessanten Töch-
terchens indianische Perlen- und Muschelarbeiten von Haus zu
Haus zum Verkauf anzubieten. Bei den Weißen war sie allge-
mein beliebt, während sie die Indianer mit aller Lebhaftigkeit
ihrer Nationalität, gleich einem höhern Wesen, anbeteten.
Snake Chief war ein berühmter und ungemein populärer
Krieger seines Stammes, von hoher, kräftiger und wetterge-
bräunter Gestalt und im nüchternen Zustande friedlich und gut-
müthig. Stand er aber unter dem Einflüsse des Feuerwassers,
so wurde er unangenehm, streitsüchtig wie ein Jrländer, und
alsdann bestand sein gewöhnlicher Zeitvertreib darin, seine Frauen
zu prügeln, welche nicht besser dabei führen, weil ihrer zwei waren.
Am vorigen Freitag war Snake Chief in La Crosse „auf
der Spree" gewesen und kehrte zwar mit der feierlichen Gran-
dezza heim, welche den Indianer nie verläßt, war aber kanni-
balisch betrunken und begann, kaum in seinem Wigwam ange-
langt, Se-es-ka, welche allein in der Hütte war, höchst brutal
und barbarisch über Kopf und Schultern zu schlagen. Durch
diese Behandlung zur Verzweiflung gebracht und nicht länger
im Stande, solche Brutalität zu ertragen, zog Se-es-ka ihr Messer
und stach den Häuptling zweimal durchs Herz, so daß er äugen-
blicklich starb, mit den ernsten Tönen des Sterbegesanges auf
seinen Lippen. Die That verursachte die äußerste Aufregung im
Lager der Winnebagos, welche unschlüssig waren, was sie thun
sollten, da sie eben so sehr an Se-es-ka als an dem Häuptling
hingen. Bekanntlich schreibt der Codex der Indianer vor, daß
ein Verwandter eines Getödteten die Blutrache an dem Thäter
vollstrecken und denselben seinerseits lobten muß.
Se-es-ka war dies indianische Gesetz wohl bekannt. Einige
Winnebagos beschworen sie, sich aus dem Lager zu begeben und
unter den Weißen Schutz zu suchen, aber sie weigerte sich dessen.
Aus alli
Bewohner von Ln Crosse, denen der Vorfall zu Ohren gekom-
mett, kamen ebenfalls herüber und ersuchten sie, das Lager zu
verlassen, aber sie weigerte sich hartnäckig. Sie war sich ohne
Zweifel bewußt, daß ihr die Bluträcher überall hin folgen und
das Leben nehmen würden, und hatte beschlossen, ruhig ihr
Schicksal zu erwarten. Mit echt indianischer Resignation wickelte
sie sich in ihre Decke und setzte sich im Wigwam nieder, den
Blick auf den Eingang gerichtet, in Erwartung des Rächers-
Manche glaubten, daß He-nee-kee, die jüngere und Favorit-Gattin
des Häuptlings, die Blutrache vollstrecken würde. Dieselbe sandte
aber nur einen indianischen Läufer zu den Verwandten ihres
Gatten am Trempeleau mit der Nachricht über das Vorgefallene
und betrauerte den Abgeschiedenen. Inzwischen saß Se-es-ka im
Wigwam und sang ein Sterbelied, gleichgültig gegen Alles, was
um sie vorging, und nur einsilbig die Fragen beantwortend,
welche man ihr vorlegte. Die Winnebagos mieden aber den
verhängnißvollen Wigwam so viel als thunlich.
Am Sonntag Morgen erschien ein Indianer von Trempeleau
im Lager. Er war den Bewohnern desselben wohl bekannt,
führte den Namen Chan-no-ne-ga und trug alle Anzeichen eines
angestrengten Marsches. Nach Erhalt der Todesnachricht hatte
er sich sogleich aus den Weg begeben. Schweigsam betrat Chan-
no-ne-ga das Lager, schritt mit feierlichem Anstände zu der Stelle,
wo der Leichnam des Häuptlings lag, blickte denselben lange
staunend an, ohne einen Muskel seines Gesichtes zu verziehen,
und wandte sich dann plötzlich ab. Niemand sprach zu ihm,
aber Alle bewachten jede seiner Bewegungen mit größter Span-
nung. Ruhig nahm er feine Schrotslinte von der Schulter, lud
dieselbe mit Rehposten und verließ den Leichnam. Die Winne-
bagos kannten sein Vorhaben sehr wohl, aber Niemand rührte
sich. Niemand richtete nur eine Silbe an ihn. Dies mag selt-
sam scheinen, da diese Winnebagos so lange in engeni Verkehr
mit Weißen gestanden und mit so großer Anhänglichkeit an der
dem Tode geweihten Frau des Häuptlings hingen; aber wahr-
scheinlich hatte die Ehrfurcht vor ihren althergebrachten Sitten
uud Gebräuchen die Oberhand, vielleicht waren sie auch so be-
stürzt über das Vorgesallene, daß sie nicht wußten, was sie thuu
sollten. Herr Moore denkt, es sei kein Einziger bei dem Stamme
gewesen, der nicht gedacht hätte, die Frau dürfe nicht getödtet
werden, aber auch kein Einziger, der gewagt hätte, sich in das
„geheiligte" Amt des Bluträchers einznmifchen.
Chan-no-ne-ga ging unbelästigt und langsamen Schrittes zu
dem Wigwam, in welchem Se-es-ka saß und seit der That ge-
blieben war; er warf einen Blick auf die Gestalt der Squaw,
welche laut ihr Sterbelied sang. Nicht ein Muskel der Frau
bewegte sich; nichts verrieth eine Spur von innerer Ausregung,
sondern sie saß ruhig und unbeweglich da, mit erhobenen Blicken
und ohne Zittern, mit fester Stimme entströmte der monotone
Gesang ihren Lippen. Sie sah, daß der Bluträcher vor
ihr stand, daß in einem Moment ihr Leben zerstört sein uud
ihr Geist in den Jagdgefilden des großen Geistes wandern und
den des Häuptlings aufsuchen würde, den ihre Hand voraus-
gesandt; aber sie ließ kein Zeichen von Furcht blicken und er-
wartete ihr Schicksal mit einein Stoicismus, der empörend sein
würde, wenn er nicht erhaben wäre.
Die Augen der beiden Theilnehmer an dem Schlußakte des
Dramas, dessen Entwickelung sich vorbereitete, begegneten sich
nicht. Das Gesicht Chan-no-ne-ga's hatte mittlerweile einen
furchtbar finstern Ausdruck des Hasses und der Rachgier erlangt.
Langsam und fest erhob er sein Gewehr zur Schulter, sicher
zielte er nach dem Kopfe der Frau und kaltblütig drückte er ab.
Der Knall ertönte durch das Jndianerlager, der Rauch verzog
sich und Se-es-ka saß noch immer da, die Decke über ihre i^chul-
tern gezogen, — aber eine Seite ihres Kopfes war zerschmettert,
sie war todt — und Wau-kee-se-hong-er-er, der Schlangenkönig,
war gerächt.
Der Mörder wars nur einen kurzen Blick auf sein Opfer,
um sich zu überzeugen, daß fein Werk vollständig gethan sei;
dann warf er sein Gewehr über die Schulter und schritt lang-
sam aus dem Lager. Niemand sprach ihn an, Niemand stellte
Erdtheilen. 159
ihn zur Rede. Er stieg in sein Canoe, ruderte ans User und
verschwand in den Gebüschen, während die Winnebagos in stum-
mem Schrecken dastanden. An demselben Tage begruben die
Winnebagos unter lautem Wehklagen und Jammern die Leiche
des Häuptlings und seiner Frau, während sie einen Theil des
Dramas, welches sich vor ihren Augen abspielte, so leicht hätten
verhindern können.
Am Montag, als Herr Moore den Stamm verließ, waren
die Winnebagos noch ungewiß, was sie beginnen sollten; aber
wahrscheinlich werden sie inzwischen ihr Lager abgebrochen und
sich zerstreut haben."
Bronce und Eisen in gleichzeitigem Gebrauch in
China und Japan. Lubbock äußert in seinem Werke über
die vorgeschichtliche Archäologie, daß wir über dieselbe in Betreff
der beiden genannten Länder keine Kunde hätten. Dagegen be-
merkt Thomas Kingsmill in Schanghai, daß in China wie in
Japan auch heute noch, mitten im Eisenzeitalter, Bronce zur
Herstellung schneidender Werkzeuge angewandt werde, entweder
allein oder in Verbindung mit Stahl. Die Hauptfabrikation
befindet sich in der Provinz Canton. Dort hat jeder Schul-
knabe ein Klappmesser von Bronce; in das Blatt wird die
Schneide von Stahl eingelassen. Aber auch Messer von reiner
oftmals mit Ornamenten versehener Bronce sind nicht selten;
manchmal bestehen die Niete aus Kupfer. Auch in Japan sah
Kingsmill solche Messer. In früheren Zeiten ist die Bronce
noch allgemeiner im Gebrauche gewesen. Bis zur Handynastie,
etwa um Christi Geburt, waren die gemeinen Münzen, welche
die Gestalt von Messern und Schwertern hatten, von Bronce
oder Messing. Darin liegt wohl ein Beweis dafür, daß man
iu sehr frühen Zeiten auch Waffen als Zahlmittel benutzte. Das
Wort, welches die Chinesen sür ihr Kupfer- oder vielmehr
Broncegeld gebrauchen (— dasselbe besteht aus einem Gemisch
von Kupfer, Zink und Zinn —) uud welches allein die Umlaufs-
münze bildet, ist tsien und hat einen ähnlichen Laut wie das
Wort für schneiden; das phonetische Schriftzeichen für beide
stellt zwei Speere dar. Wu, Gründer der Tschandynastie,
1121 vor Christus, musterte einst sein Heer auf der Ebene von
Muh; er wird fo abgebildet, daß er in feiner linken Hand eine
Waffe von gelbem Metall hat. Kingsmill führt dann noch an-
dere Thatfachen an („Athenäum" Nr. 2121), durch welche seine
Ansicht Bestätigung erhält.
Die Kent's-Höhle in DevonsHire. Ueber dieselbe gab
W. Pengelly in der geologischen Abtheilung der British Asso-
ciation eingehende Nachrichten. Er hatte im Verlaufe der letzt-
verflossenen zwöls Monate zwei Abtheilungen derselben genau
untersucht, die sogenannte Lesehalle und die südwestliche Kammer.
Die rothe Höhlenerde, deren Tiefe man noch nicht kennt, war
ganz mit Stalagmiten bedeckt, über welchen sich eine Lage fchwar-
zer Dammerde befand. In diefer lagen Bruchstücke von Töpfer-
geschirr, ein Spindelstein, ein roh behauenes Stück Sandstein,
ein Theil von einem aus Knochen verfertigten Kamme, eine
kleine rothe Pfanne aus gebrannter Erde, Seemuscheln, ein klei-
nes Stück geschmolzenen Kupsers, der ganze Unterkiefer und bei-
nahe vollständige Schädel eines Dachfes; der Theil eines mensch-
lichen Oberkiefers mit 8 Zähnen, wovon noch 4 in den Höhlen
steckten, und der Abdruck einer fossilen Muschel. In der untern,
der Stalagmitenlage, fand er einen Zahn vom Rhinoceros,
einen Zahn von der Hyäne, 3 Zähne eines Bären, ein Stück
von einem Schulterblatte, wahrscheinlich von einem Bären. Seit
den Zeiten des Rhinoceros hatte die Stalagmitenlage nur so
wenig zugenommen, daß die eben genannten Ueberreste kaum von
ihr bedeckt wurden. In derselben Stalagmitenlage sand Pen-
gelly auch einige Ueberbleibsel verkohlten Holzes. In der Höh-
lenerde und der in ihr liegenden Breccie fand er keine zerspal-
tenen Knochen mit Spuren von Zähnen, dergleichen kommen
aber in der rothen Erdlage vor. Er meint, daß sie auf die An-
wesenheit des Menschen hindeuten, während an den von diesen
160
Aus allen Erdtheilen.
gespaltenen Knochen durch den Zahn der Hyäne benagt wurden;
daher die Zahnspuren an denselben.
# * -f;
— Die Klagen über Verschwendung im Staatshaus-
halte und über die Korruption nehmen in den nordamerikanischen
Blättern eine stehende Rubrik ein. Das deutsche „Neuyorker
Journal" vom 29. August schreibt: In den vier Kriegsjahren
sind mehr als 4659 Millionen Dollars ausgegeben wor-
den, eine Summe, welche, ohne jede Vergleichung mit den Kriegs-
ausgaben anderer Völker, die Verdammung ruchloser Verschwen-
dung über diejenige Partei (die radical-republikanische), welche
sie verausgabt hat, ausspricht. Mehr als 1000 Millionen für
jedes Jahr des Krieges, das sind Ausgaben, welche keine Kriegs-
geschichte der Welt je aufgewiesen hat. Was die Finanzverwal-
tung der Radicalen in den Friedensjahren betrifft, so wur-
den bisher während derselben etwa 1790 Millionen Dol-
lars eingenommen, nämlich 1594,174,000 Dollars von
Steuern und Zöllen, das Uebrige aus anderen Quellen.—
Am 1. Juli 1865 war der Stand der öffentlichen Schuld
2682,600,000 Dollars; in der Mitte des Jahres 1863
stellte sich dieselbe, nach Abzug des Geldwerthes im Schatzamte,
aus 2523,534,480 Dollars. Demnach sind von den in den Frie-
densjahren eingenommenen 1700 Millionen nur 159 Millio-
nen zur Tilgung von Schulden verwandt, die Summe von
1541,000,000 aber ist von der Regierung zu ihrer Verwaltung ver-
braucht worden. Am Kriege mag Schuld sein wer wolle, was
hat aber der Krieg mit einer solchen Wirthschaft nach dem
Kriege zu thun? Man veranschlagt die Ausgaben für Pen-
sionen und ähnliche mehr oder weniger zu rechtfertigende Po-
sten auf jährlich 75,000,000; das macht für drei Jahre, wir
wollen sagen: 200,000,000. So bleiben immer noch 1340 Mil-
lionen für Ausgaben, die mit dem Kriege ordentlicherweise nichts
zu thun haben. Ehe die Republikaner ans Regiment kamen,
gab die Regierung der Vereinigten Staaten nie über 80 Millio-
nen aus. — Das „NewYork Daybook" vom 22. August enthält
eine scharfe Philippika gegen die „Diebe im Congretz und in
der Armee." „Die Congreßspitzbuben," sagt es, „bekommen
täglich 8 Dollars. Sie haben sich außerdem, für jedes einzelne
Mitglied, für Papier 520 Dollars berechnet; für Federmesser,
jeder 15 Stück, 25% Dollars; dann zusammen 40,000 Dollars
für Reisen. Wie sehr die Congreßdiebe von Jahr zu Jahr mehr
für sich verausgaben, ergiebt sich aus Folgendem: Das Reprä-
sentantenhaus verausgabte für sich in den Jahren 1864: 353,630
Dollars. — 1865: 481,884 D. — 1866: 462,428 D. — 1667:
502,081 D. — und 1868 für das Finanzjahr, das mit dem
30. Juni zu Ende ging: 725,555 Dollars."
— Der Republik Chile hat der ihr von Spanien aufge-
zwungene Krieg nicht weniger als 12 Millionen Dollars gekostet.
Ihre Staatsschulden betragen gegenwärtig 34y2 Millionen Dol-
lars ; sie sind zum Theil productiver Art. Die große Central-
bahn, an welcher eisrig gebaut wird, bringt den Hafenplatz Val-
paraiso in Verbindung mit den Provinzen Curico, Colchagua
und anderen; sie soll bis nach Talca fortgeführt werden. —
Die Republik Peru hat 48,452,680 Dollars Schulden und
obendrein von der Guanocompagnie 10,327,893 Dollars Vor-
schiiffe erhalten. Die Ungeheuern Summen, welche sie seit Jah-
ren für Vogeldünger erhalten hat, sind allesammt unnütz ver-
geudet worden.
— Die süd- und centralamerikanischen Staaten san-
gen an, sich nach europäischer Einwanderung umzusehen.
Chile will sogar dem Könige von Italien die eingefangenen Bri-
ganten abnehmen und dieselben in der Magellansstraße ansiedeln!
Ein Versahren, das entschieden zu mißbilligen ist. — In Hon-
duras will ein Emigrationsverein Europäer einführen und jeder
Familie ein Haus und 12 Hectaren Land geben, dazu Nahrungs-
mittel auf sechs Monate, Sämereien, Ackergeräthe, zwei Ochsen
und ein Pferd, Alles gratis. Die Regierung will die Gelder
zur Gründung und zum Unterhalt von Schulen hergeben; reli-
giöser Zwang irgend welcher Art findet nicht statt und während
der ersten fünf Jahre sind die Einwanderer abgabenfrei. — Die
Einwanderung nach Südbrasilien, das fleißigen deutschen Ar-
beitern so manche Vortheile darbietet, ist im Zunehmen.
— Die skandinavischen Einwanderer in Nordame-
rika siedeln sich zumeist in den nordwestlichen Staaten an, deren
Klima ihnen am besten behagt. Seit einigen Jahren ist beson-
ders der Staat Minnesota bei ihnen in Gunst gekommen; bis
Mitte Juli waren dort schon wieder einige Tausend Skandina-
vier angekommen.
— Aus Neuschottland findet seit einiger Zeit eine nicht
unbeträchtliche Auswanderung nach Neuseeland statt, im
Junimonat haben sich in Halifax abermals 70 Ansiedler dort-
hin eingeschifft.
— InBritisch-Columbia, das jetzt mit derJnselVan-
couver eine gemeinschaftliche Kolonie bildet, ist nun wieder
Victoria, statt des aus dem Festlande liegenden New-West-
minster, Hauptstadt und Sitz der Regierung geworden.
— In Südbrasilien und am La Plata sind von Oc-
tober 1867 bis zum 10. Juli 1868 nicht weniger als 1,766,500
Stück Rindvieh geschlachtet worden. Davon kommen auf Buenos
Ayres 440,000, Montevideo 306,000, Rio Grande 468,000;
auf die Schlächtereien am Parana und Uruguay 548,000. Im
Laufe des Jahres 1868 werden mehr als 4 Millionen Stück
Schafe ausgekocht.
— Ueber eine merkwürdige Erscheinung aus hoher
See schreibt man aus Sau Francisco Folgendes: Als am 15.
August' der Dampfer „Constitution" auf der Höhe von San
Piedro, Südcalifornien, sich befand, beobachtete er Folgendes.
Ein ungeheurer Wogenschwall wälzte sich der Küste zu und bin-
nen wenigen Minuten erhob sich dort das Wasser 63 bis 64
Fuß über die gewöhnliche Fluthhöhe. Gleich darauf ging es
wieder zurück und sank etwa eben so tief unter den gewöhnlichen
Wasserstand der Ebbe. Dieses Steigen und Fallen wiederholte
sich während mehrerer Stunden regelmäßig nach Verlauf vou
etwa einer halben Stunde. Unter den Bewohnern herrschte die
größte Bestürzung; sie befürchteten einen vulcanischen Ausbruch,
der aber nicht ersolgt ist. Man meint, daß gewaltige Schwan-
kungen des Meeresbodens in jener Gegend stattgefunden haben.
— Wir haben jüngst erwähnt, daß etwa 300 japanische
Auswanderer aus den Sandwichsinseln angekommen sind.
Wir lesen nun, daß auch die Franzosen in Cochinchina
dergleichen einführen. Im Juni sind etwa 400 japanische Ein-
Wanderer in Saigong eingetroffen.
— Zu Lobethal in Südaustralien haben die Deutschen
in erfolgreicher Weise dem Anbaue des Hopfens sich zuge-
wandt und sie ernten eine sehr gesuchte Waare. Nur klagt man
darüber, daß Mangel an männlichen Hopfenpflanzen sei; da-
durch wird die Kraft des Productes derart geschwächt, daß ein
dreifach größeres Quantum von Blüthe zum Bier erforderlich
sei als durch Beimischung der erforderlichen Menge von mann-
lichen Blüthen nöthig wäre. Nun hat man aber aus Tasma-
nien eine große Zahl solcher männlichen Pflanzen kommen lassen.
— Dr. Müller, Director des botanischen Gartens in
Melbourne, berichtet, daß die australischen gums, wattles und
blackwoods in sehr großer Menge in Lahore und anderen Ge-
genden des nördlichen Indiens angepflanzt worden und dort
ganz vortrefflich fortkommen.
— Es ist bemerkenswert, daß das südafrikanische Cap-
land mit Mehl vorzugsweise von Kalifornien aus versorgt
wird. Am 28. August ging von San Francisco das Barkschiss
„Prosper" mit 2200 Faß Mehl und 8000 Sack Weizen nach
Capstadt. Im Laufe dieses Jahres waren schon 70,000 Sack
Mehl nach jenem Hasen verschifft worden.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redactivn verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Häuptlinge der Santes und Ponkahs.
Der Krieg mit den Prairie-Indianern Nordamerikas*).
Die Stellung der Indianer gegenüber den Weißen. — Unversöhnliche Conslicte. — Anlage und Begabung der Prairiestämme. —
Die Schayennes und Arapahoes. — Die Jagdgründe und der Büffel. — Reservationen. — Barbareien der Weißen und der
Indianer. — Schicksale gefangener weißer Frauen. — Chivington's Metzelei am Sandy Creek gegen die Schayennes; der Haupt-
ling Weiße Antilope. — Branntweintrinken und Scalpiren. — Der Indianer als „Ungeziefer" betrachtet. — Das große Pauwau
mit den Krähenindianern im Fort Laramie, November 1867. — Der Ausrottungskrieg.
Die Friedenspfeife ist erloschen, der braune Mann hat
den Tomahawk ausgegraben und den Kriegspfad beschritten.
Das ungeheure Gebiet vom obern Missouri bis nach Texas,
Neumexico und Arizona hin ist nun wieder ein blutiger Grund
geworden und der Racenkampf zwischen den braunen Leu-
ten und den Weißen wird mit wilder Erbitterung und bestia-
lischer Grausamkeit geführt. Die Summe der entsetzlichen
Barbareien, welche auf beiden Seiten verübt werden, ist
furchtbar; ein Theil wetteifert mit dem andern.
Das Verhängniß will sich erfüllen, die Rothhäute siud
dem Untergange geweiht und Vieles trifft zusammen, um
den Gang des Geschickes zu beschleunigen. Auf der atlau-
tischen Seite des Mississippi finden wir nur noch spärliche
und vereinzelte Ueberreste der Urbewohner, und diese in küust-
lichen Verhältnissen, gleichsam in einem großen Käfich. Im
Westen des großen Stromes verloren sie nach und nach Mil-
lionen Morgen von ihrem Gebiete, als neue Staaten und
Territorien in den Prairiegegenden gebildet wurden.- Dako-
*) The City of the Saints and across the Rocky Mountains to
California, by Richard F. Burton, London 1861. — Le Far
West Americain, 1867, parM. L. Simonin, „Le Tour du Monde"
Nr. 232 235. - New-America, by "W. Hepworth Dixon,
Leipzig 1867. I. p. 43 — 83. — Einzelne Nummern des „Newyork
Weekly Herald" und der „Tribüne".
Globus XIV. Nr. 6. (September 1868.)
tah, Nebraska, Kansas, Colorado, Idaho, Wyo-
ming. Noch vor zehn Jahren hatten sie in dieser Region
leidlichen Spielraum und konnten den Büffel jagen, von
welchem ihre ganze Existenz abhängt und mit dem sie auf
das Innigste verwachsen sind. Die einzelnen Karawanen-
ziige und die Schaaren der Auswanderer, welche das weite
Gras- und Steppenland durchzogen, waren den braunen Leu-
ten unbequem und lästig, aber diese blieben doch in ungestör-
tem Besitz ihrer Jagdgründe. Denn so viel Land ihnen auch
abgekauft und abgeschwindelt wurde, es war doch immer noch
Raum genug für die Jagdnomaden, deren Zahl ohnehin
durch Blattern, Branntwein und schlechte Krankheiten sich
verminderte. Die feindlichen Völker konnten sich nach alter
Weise und mit Herzenslust unter einander befehden und Scalpe
in Hülle und Fülle in ihre ledernen Zelthütten hinein brin-
gen. Sie unternahmen auch Mord- und Raubzüge gegen
die Weißen. Mit einem Wort: es war noch hinreichend
Platz für das urwüchsige Treiben der braunen Leute.
Dann aber wurde Gold auch in den Felsengebirgen am
Fuße des Pikes Peak im heutigen Colorado entdeckt; in
Idaho, Montana und Nevada lag edles Metall, das viele
Tausende weißer Männer anzog. Jetzt waren diese nicht mehr,
wie früher, nur Durchzügler, welche an den großen Salzsee
oder nach Californien reisten, sondern sie wurden Ansied-
21
162 ° Der Krieg mit den Prair
ler und verfuhren mit und auf dem Grund und Boden der
Indianer ganz so, als ob derselbe ihr Eigenthum sei. Von
da an nahmen die Fehden kein Ende; sie wurden so rafsiuirt-
infam, daß uns Schauder in Mark und Bein dringt, wenn
wir die Schilderungen dieser Greuel lesen. In die Seele
der Indianer fuhr eine wilde Verzweiflung und diese stei-
gerte sich, als der Bau der großen Westbahn immer
weiter landein rückte, die Jagdgründe durchschnitt und die
Gründung von vielen Hundert Ortschaften im Gefolge hatte.
In den früheren Einöden herrscht das rege Treiben arbeit-
samer Menschen, die Wildniß hat einen ganz neuen Charak-
ter erhalten, Büssel und Indianer sind schon jetzt mehr oder
weniger deplacirt. Man muß es der Regierung in Washing-
ton zum Ruhme nachsagen, daß sie ihrerseits es von Anfang
an mit den Indianern gut gemeiut hat; sie schloß Verträge,
bewilligte für angekauftes Gebiet den verschiedenen Stäm-
men sogenannte „Annuitäten", Jahrgelder und Geschenke;
sie hätte den braunen Mann gern seßhaft gemacht und ,,ci-
vilisirt". Aber in jenen fernen Gegenden konnte sie ihn
nicht gegen Beeinträchtigung, Betrug und üble Behandlung
-Indianern Nordamerikas.
schützen. Auch war es lediglich ein Wahn, wenn man an-
nahm, daß der Prairie-Indianer in einen seßhaften Menschen
umgewandelt werden könne. Die Begabung zum Acker-
bauer ist ihm ein- für allemal von der Natur ver-
sagt worden; er muß Jagdnomade sein und bleiben
oder er geht zu Grunde. Dagegen kann man mit wohl-
gemeinten Experimenten nichts ausrichten, natura usque
recurret.
Wir wollen durch die folgenden Mittheilungen dem Leser
einen Einblick in die gegenseitige Stellung der Weißen und
der Indianer zu verschaffen suchen. Das wilde Element
und die Civilisation liegen in blutigem Streite, der erst zu
Ende gehen kann, wenn das erstere bis zu völliger Ohnmacht
abgeschwächt sein wird.
*
-i- *
Die Judianernnruheu und namentlich die Raubzüge der
Schayeuues im Westen des Staates Kansas, in der gan-
zen Region zwischen dem Platte und dem Arkansas sind be-
denklicher geworden, seitdem diese rothen Leute im Frühjahr
Häuptlinge d
1866 sich von einem Major Wynkoop betrogen glaubten.
Dieser Offizier kam als Bevollmächtigter der Regierung,
um einen jener Verträge abzuschließen, bei welchen der Un-
terhändler allemal Prosit zu machen weiß. Er gab diesen
Prairiejägern Decken und Waffen, Mehl und Brannt-
wein; sie ihrerseits versprachen die Auswandererzüge und
die Kausmauusgüter zu respectiren. Er hatte hoch und theuer
versichert, daß sie für ihre Büffelgründe gar nicht besorgt zu
sein brauchten, denn der Große Vater in Washington denke
nicht daran, eine Straße durch die Smoky-Hill-Gegend
zu eröffnen. Aber als der Major fort war, kamen sie da-
hinter, daß er ihnen Lügen gesagt habe. Denn noch wäh-
rend er in ihren Zelthütten schlief und mit ihren Häuptlin-
gen Römernase, Schwarzer Falke und Gesprenkelter Hund
Elennfleisch aß, hatten die weißen Leute eine Straße abge-
steckt, die genau mitten in die Weidegegend der Büffel führte.
Hepworth Dixon, der vollkommen begreift, daß es sich
dabei um die Lebensfrage der Indianer handelt, stellt Be-
trachtungen an. Sie haben, sagt er, von den Weißen ver-
nommen, daß alle Straßen frei und offen sein müssen. Man
könne von Nenyork bis St. Louis sich ungehindert bewegen,
r Schayennes.
und so müsse es auch weiterhin nach Westen bis zum Gro-
ßen Salzsee sein. Das ist aber, wie die Indianer meinen,
nur Kindergeschwätz. Würde man dem Schwarzen Fal-
ken erlauben, auf den Feldern in Ohio :c. zu jagen? Dürfte
der Gesprenkelte Hund seine Zelthütten in den Straßen
von Jndianopolis aufschlagen? Könnte Römernase zwi-
schen Neuyork und St. Louis Schafe und Kühe tödten und
verzehren, alfo Thiere, welche nun auf den früheren Weiden
der Büffel und Elenne sich nähren? Gewiß nicht. Die
Schayennes, Arapahoes und Sionx sagen: „Der
Jagdgrund gehört den indianischen Jägern." Die besten
Büsselgegenden, welche man bisher ihnen noch gelassen hatte,
liegen namentlich am Smoky Hill, am Grand Saline und
am Repnblican Fork, wie auch an der Smoky-Hill-Kette,
wo das sogenannte Bnsfalogras wächst. Dorthin kommen
die Bisonten in ganzen Herden und von diesen hängt der
Schayenne für seine Wintervorräthe ab. Wenn man nun
die Herden stört, wohin sollen sie dann ziehen? Im Süden
liegt der vielbenntzteHandelsweg, die sogenannte Arkansas-
straße, welche von St. Louis nach Santa F6 in Neumexico
führt, nördlich die Straße von Omaha, am Platte
Der Krieg mit den Prairie-Indianern Nordamerikas.
163
aufwärts, nach dem Großen Salzsee. Wo aber der weiße
Mann sich ansiedelt oder häufig hin- und herzieht, dort ver-
schwindet der Büffel, und der Bau einer Straße durch die
Smoky-Hill-Gegend bedeutet fo viel als ihn verjagen. „Der
weiße Mann kommt, der Büffel geht; wenn er gegangen ist,
verhungern Squaw und Papuse (Kind);" fo sagte der
Schwarze Falke. —
In Colorado sind die Indianer nicht mehr ruhig ge-
worden, seitdem die Goldgräber ins Land kamen, namentlich
seit 1863. Kein Postwagen war vor ihnen sicher, und noch
im Herbst 1867, als Simonin von Omaha nach Denver
fuhr, hatte derselbe eine bewaffnete Schutzwache. Trotzdem
kamen Uebersälle häufig vor; der rothe Mann fcalpirte nicht
bloß die Indianer, sondern auch die Postkutschen, indem er
die obere Bedeckung, das Leder, vom Wagen ablöste. Der
eben erwähnte Reisende sah auf seiner Fahrt durch Colorado
überall Stationen und Meierhöfe in Trümmern liegen; sie
waren eingeäschert worden. Dann und wann begegneten
ihm Karawanenzüge, welche Nachts ihre Wagen zusammen-
stellten, um sie als Verschanzung gegen etwaige Uebersälle
Der „Gefleckte Wolf", ein Schayenne-Häuptling.
zu benutzen. Die früher einander feindlichen Stämme der
Schayennes, Arapahoes und Sioux hatten ihre Fehden ver-
gessen und einen Bund gegen die Weißen geschlossen, der
noch heute, September 1868, in voller Kraft ist. Die frü-
her vereinzelten Banden haben sich nun zu Truppenkörpern
zusammengeschaart und mehrere derselben sind bis zu 1500
Mann stark, alle gut beritten. Eine Jndianerdeputatiou,
welche 1863 nach Denver kam, um sich mit den Weißen zu
verständigen, hatte nichts ausgerichtet. Dann unternahmen
die Wilden einen Sturm gegen das Fort Sedgwick, wohin
sich viele Weiße mit all ihrer Habe geflüchtet hatten. Sie
wichen erst, als anhaltendes Kartätschenfeuer eine große An-
zahl von ihnen niedergestreckt hatte.
Die gegenseitige Erbitterung wurde immer ingrimmiger.
Als die regulären Truppen nichts ausrichten konnten, zogen
Freiwillige ins Feld und das Gemetzel wurde methodisch
betrieben. Charakteristisch ist jenes am Sandy Creek, einem
Zuflüsse des Arkansas. Diese gräßliche „Chivington-Mas-
sacre" vom 29. November 1864 ist von den Indianern
nicht vergessen worden und hat ihre Wuth noch ärger ansge-
21*
Der Krieg mit den Pran
stachelt. Der Schauplatz der Misiethat liegt etwa acht deut-
fche Meilen südlich von Denver. Chivington befehligte das
dritte Freiwilligenregiment von Colorado, in welchem Man-
ner dienten, denen die Indianer Frauen entführt und alle
Habe genommen hatten. Der Oberst feuerte ihre Leiden-
schaft noch mehr an und fiel über ein Indianerlager her,
in welchem die weiße Fahne wehete. Die rothen Leute lei-
steten schwache Gegenwehr; alle, Männer, Frauen und Kin-
der, wurden ermordet; Alles wurde fcalpirt; den Frauen
wurde der Bauch aufgeschlitzt, den Kindern zerschmetterte
man den Kopf an Steinen; man fchnitt Ohren und Finger
ab, um die silbernen Ringe zu erbeuten, und diese weißen
Schanzgräber der christlichen Civilisation verübten Scheuß-
lichkeiten, welche mit den ärgsten Barbareien der Indianer
jeden Vergleich aushalten. Chivington prahlte groß mit
diesem Siege und rühmte sich, daß er fünfhundert Stück
Ungeziefer vertilgt habe. Der blutbedeckte Mann hatte
darauf gerechnet, für seine Heldenthat den Generalsrang zu
erhalten. Aber seine Scheußlichkeiten schrien doch allzn grell
gen Himmel; die Bundesregierung ließ eine Untersuchung
anstellen und cassirte ihn. — Die Folgen der „Massacre"
blieben nicht aus. Die Schayennes und Arapahoes schlössen
einBündniß mit denKeiowäs, Komantsches nndApat-
sches und weit und breit wurde der Kriegspfad beschritten.
Nur die Antahs schlössen sich nicht an.
Von Seiten der amerikanischen Regieruug gab man sich
Mühe, den Frieden wieder herzustellen, und es gelang ihr,
in der Mitte des Octobers 1867 in Kansas mit fünf In-
dianerstämmen einen Friedensvertrag abzuschließen, der aber
auch keine feste Unterlage hat. Man will um jeden Preis
die Indianer in ihre Reservationen einschließen, um sie
dort militärisch überwachen zu können. Das ist der
Sinn, in welchem General Sherman einen Generalbefehl
erlassen hat, welchen wir in der „Newyork Tribüne" vom
18. August 1868 finden. Die Zahlung der Jahrgelder foll
nicht ferner dnrch die betrügerischen Jndianeragenten erfol-
gen, fondern dnrch das Armeecommando. Die Sionx fol-
len in eine Reservation gebracht werden, die nördlich von
Nebraska, westlich vomMisfonriflnsfe liegt. DieSchayen-
nes, Arapahoes. Keiowäs und Komantsches bekom-
men eine Reservaten angewiesen zwischen Kansas, Arkan-
sas, Texas und dem hundertsten Meridian. Für die Up-
sarokas, Navajoes und Schoschouis, d. h. Schlangen-
indianer, ist gleichfalls je ein General zur Überwachung er-
nannt worden. Ein Blick auf die Karte zeigt, daß es sich
hier um eine Strecke handelt, welche etwa 18 Breitegrade
einnimmt und nach Westen hin bis tief nach Arizona und
Neumezico hineinreicht. Man mnß nun abwarten, ob das
neue System sich bewährt uud ob die Indianer sich einHägen,
gleichsam einzäunen lassen werden. Mit jenen Völkern, die
früher fchou vom Hanse ans auf festen Punkten ansässig wa-
ren und Mais und Kürbisse pflanzten, z. B. den Tschirokis,
Krikhs, Tschikasas. ist man einigermaßen zu Wege gekom-
men; aber die Prairie-Jndianer, diese Büffeljäger, sind ganz
andern Schlages uud haben von der Natur ganz andere An-
lagen erhalten.
-i-
* *
Sehr häusig werden von Indianern weiße Frauen
entführt, deren Schicksal höchst beklagenswerth ist. Bei allen
Unterhandlungen mit den Indianern dringen die Commissäre
allemal zuerst darauf, daß weiße Frauen und Kinder aus-
geliefert werden.
Eine Pennfylvanierin, Frau Luciuda Ewbanks, hat
unterm 22. Juni 1865 zu Julesburg folgende Aussage nie-
dergefchrieben und beschworen.- „Ich wohnte auf unserer
-Indianern Nordamerikas. 165
Farm am kleinen Blauen Flusse, unweit vou den Narrows,
an der Grenze zwischen Colorado und Kansas. Am 24.
August 1864 wurde die Farm von den Indianern überfallen,
ausgeraubt und niedergebrannt; die Schayennes führten mich,
meine beiden Kinder, meinen Neffen und das sechszehnjäh-
rige Fräulein Laura Roper als Gefangene ab. Mein älte-
stes Kind war drei, das jüngste ein, mein Neffe fechs Jahr-
alt. Wir wurden anfangs nach Süden hin geschleppt, über
den Repnblican River, und dann gegen Westen hin an einen
kleinen Fluß, auf dessen Namen ich mich nicht besinne. Dort
schlugen sie sür einige Zeit ihre Zelthütten auf, aber wäh-
rend des Winters waren sie immer auf der Reife. Ich be-
fand mich anfangs im Zelt eines alten Häuptlings, der nach
durch schreckliche Behandlung zur niedrigsten Unterwürfigkeit
zwang. Dann verkaufte er mich an Doppelgesicht, einen
Sioux, der mich nicht als seine Frau betrachtete, wohl aber
prügelte und zu allen häuslichen Arbeiten zwang, als sei ich
eine Sqnaw. Doppelgesicht verkaufte mich an einen andern
Sioux, Schwarzfuß, dessen Squaws mich ganz fchander-
Haft mißhandelten. Auch Schwarzfuß prügelte mich nnbarm-
herzig und die übrigen Indianer behandelten mich wie einen
Hund, weil ich von Schwarzfuß nichts wissen wollte. Nun
kaufte Doppelgesicht mich wieder, und von ihm wurde ich
etwas weniger schlecht als früher behandelt. Bei den Sioux
hatte ich es insofern besser als bei den Schayennes, als jene
mir doch etwas mehr zu essen gaben und ich nicht oft Hunger
zu leiden hatte. Ich blieb bei ihnen bis in den Mai 1865.
Während des Winters kamen Schayennes; sie wollten mich
uud mein jüngstes Kind kaufen, um uns lebendig zu ver-
brennen, aber Doppelgesicht wollte mich nicht hergeben.
Wir waren damals am nördlichen Platte, wo gerade viele
Weiße von den Indianern ermordet wurden; diese trieben
auch viel Vieh weg. Sie brachten die Scalps der Weißen
ins Lager, zeigten mir dieselben und lachten dabei. Sie be-
fahlen mir mehrmals, mein Kind zu entwöhnen; dessen wei-
gerte ich mich jedoch standhaft. Ich wußte wohl, daß sie es
mir für immer wegnehmen würden, wenn es nicht mehr die
Brust bekam, und ich hätte es dann sicherlich niemals wie-
der gesehen. Meine Tochter hatten sie mir gleich anfangs
weggenommen und sie kam mir nicht wieder zu Gesicht.
Heute habe ich hier in Julesburg den Mann gesehen, welcher
sie zurückgebracht hat. Er heißt Davonport, wohnt in Den-
ver und erhielt sie vom Doctor Smith. Die Schayennes
gaben sie im September 1864 dem Major Wynkoop ans
Colorado; sie starb aber schon, in Folge dessen, was sie bei
den Indianern gelitten, im nächsten Februar. Auch mein
Neffe, welchen der Major gleichfalls bekommen hatte, starb
in Folge schlechter Behandlung in Denver." — Solcher Ge-
schichten könnte man zu Hunderten erzählen. Doppelgesicht
uud Schwarzfuß, welche deu Weißen in die Hände fielen,
haben 1866 im Fort Laramie ihren Tod am Galgen gefunden.
*
\ * *
In sehr drastischer Weise schildert Hepworth Dixon die
Stimmung und das Verfahren der weißen Ansiedler wie der
Indianer. Bei der Metzelei am Sandy Creek fiel der Häupt-
ling Weiße Antilope wie ein Kriegsheld in einem roman-
tischen Gedichte. Nach dem Ueberfalle Chivington's und als
er sah, daß Gegenwehr vergeblich sein werde, sprang er auf
einen Sandhügel, entblößte feine Brust und rief den Bleich-
gesichtern zu: Nun gebt Feuer! Sofort wurde er vou mehr
als zwanzig Kugeln zn Boden gestreckt, und bald nachher lag
ein Haufen von Weiber- und Kinderleichen nm ihn herum.
Im Westen des Missouri fand Dixon, daß alle Welt
jenes Gemetzel am Sandy Creek als eine „gesunde Lection"
für die Indianer betrachtete. In den atlantischen Städten
Der Krieg mit den Prairie-Indianern Nordamerikas.
167
fällte man dagegen ein strenges Urtheil, weil der Weiße An-
tilope die Friedensflagge auf seinem Zelte gehabt habe. Chi-
vington, der, wie oben schon bemerkt, seines Ranges verlustig
erklärt wurde, stellte das in Abrede. Er behauptete, im La-
ger der Schayennes seien mehrere sogenannte Hundssol-
daten gewesen, eine Baude rothhäutiger Räuber und Mör-
der, welche seit Monaten eine Menge von Unthateu verübt
hatten. In der Gewalt der Indianer hätte sich ein weißes
Mädchen von sechszehu Jahren befunden; außerdem hätten
sie drei andere Kinder an die Bürger verkauft und sich ge-
rühmt, daß sich noch mehrere Fraueu in ihren Zelthütten
befänden, die sie aber nicht verkaufen wollten. Auch habe
mau im Lager goldene Ringe, Bänder, Photographien und
mehrere Scalps erbeutet. — Auf einer Farm am Ruuuiug
Creek, nicht weit von Denver, lebte ein Herr Huugate. Die
Schayennes brannten sein Haus nieder, trieben das Vieh
weg, thaten der Frau abscheuliche Ungebühr an, ermordeten
die Kinder und schössen zuletzt den Mann todt. Allen wur-
den die Scalpe abgezogen, die Leichen wurden zerhackt und
zerstampft. So brachte man sie nach Denver und trug sie
dort in den Straßen zur Schau umher. Auf solche Weise
wurde die Wuth augestachelt. Aber der Sohn der Weißen
Antilope schweifte dann auf den Prairien weit und breit um-
her und rief die anderen Stämme zu einem Rachezug auf.
Seine Mahnung hat Gehör gefunden; dafür zeugt der Iu-
diauerkrieg im Jahre 1868.
Der Neger ist unterwürfig, dienstbar und kann gekeitet
werden. Mit dem Schayenne und dem Sionx ist platter-
dings nichts anzufangen. Diese zähen Menschen kann der
L)ankee nicht verdauen. Von ihm hat der braune Mann
das Bräunt wein trinken gelernt, der Aankee nahm von
ihm die Vielweiberei und das Scalpiren au. Fast alle
alten Trappers, Maulthiertreiber und Wagenlenker sind Po-
lygamisten. Jem Baker am Clear Creek hat zwei Sqnaws,
Verbrennung eines weißen Gefangenen.
Mageary am Südplatte drei, Beut am Smoky Hill hat
sechs Frauen. Wenn der Kleine Bär sich in Branntwein
betrinkt und dann eine seiner Fraueu todtprügelt, so belustigt
sich der Aankee Jem Smithers mit dem ^calpjagen.
Man hört Dinge in den Prairiegegenden, worüber einem das
Blut in den Adern erstarrt. Jack Duntier in Central
City scalpirte fünf Sionx und seine weißen Kameraden sahen
dabei zu. Derselbe biedere „Colorado Boy" kam einmal
nach Denver geritten; an seinem Sattel hing^die Lende eines
indianischen Kriegers; er rühmte sich, zwei Tage lang von
solchem Lendenfleische gelebt zu haben. Einer der Helden
vom Sandy Creek kam nach Denver zurück; er hatte das
Herz einer Indianerin ans eine Stange gesteckt. Als er die
Squaw erschossen, schnitt er ihr die Brust auf uud riß das
Herz heraus. Niemand hatte dafür ein Wort des Tadels;
die in den Straßen versammelte Menge jubelte ihm zu. Doch
konnte er sich hinterher nicht mehr in der Stadt halten; er
zog weiter, man weiß nicht wohin. —
Sehr ergrimmt sind die Indianer darüber, daß dieHau-
kees Gräber entweihen. Leute, welche einen Waarenzug der
Regierung geleiteten, kamen an die Begräbnißstätte eines
großen Häuptlings. Sie warfen muthwillig die Steine um-
her, schmissen die Knochen des großen Kriegers hierhin und
dorthin, raubten Bogen, Pfeile, Glasperlen uud andern
Schmuck, dann auch einen Löffel aus Büffelhorn, welchen
Dixou als Andenken von einem Offizier der Unionsarmee
bekommen hat! —
Man sieht, wie wild das ganze Leben und Treiben des
einen wie des andern Theils ist, uud welche Rolle dort „die
Bestie im Menschen" spielt. Da, wo der Indianer ans
Habsucht die Berührung mit dem Weißen nicht scheut und
wo er mehr oder weniger auf die Büffeljagd verzichtet, ist er
auch ein Faullenzer und seine Squaw muß ihm den Lebens-
unterhalt erwerben. Ueberhaupt ist der „Herr des Pfeils
und des Tomahawk" viel zu stolz, um irgend etwas Anderm
obzuliegen als der Jagd und dem Kriege. Und triebe ihn
168 Der Krieg mit den Prairi
der Hunger nicht auf die Jagd, so würde er nur fechten und
trinken. Solch ein „Tapferer der Prairie" reitet auf seinem
Gaul, am Sattel hängt eine Flinte, oder er hat Bogen und
Pfeile und ist mit Flitterpntz behängt. Seine Squaw muß
nebenher gehen; sie trägt ihr Papuse auf dem Rücken und
in der Hand einen Beutel mit Lebensmitteln. An der gro-
ßen Westbahn sah Dixon eine Horde Pahnis (Pawnees)
liegen; sie tranken Branntwein und rauchten Taback, wäh-
rend sie ihre Frauen als Arbeiterinnen für einen halben Dol-
lar Tagelohn vermiethet hatten; dafür karrten diese Steine
und trugen Holz. Freilich, der Manu kauft seine Squaw,
er hat für sie vielleicht eine Decke, oder ein altes Gewehr,
oder ein Faß Branntwein gegeben, und nach alter Sitte ist
er unbedingt ihr Herr und Gebieter, kann sie auch beliebig
verkaufen; sie hat keinerlei Recht. Sie muß alle Arbeiten
verrichten und sich anch einem andern Manne hingeben, wenn
ihr Herr, welcher sich dafür bezahlen läßt, das verlangt; so-
bald sie aber ohne seine Erlanbniß einem Andern Gunst ge-
währt, dann schlitzt er ihr die Nasenflügel aus und prügelt
sie entsetzlich. Das ist einmal altes Herkommen.
So steht sie herabgewürdigt da. Sie ist schmutzig, schäm-
los, frech, und wenn es sich darum handelt, gräßliche Dinge
zu verüben, dann läßt man das Weib los. Der Krieger
erlegt seinen Feind mit einem Kenlenschlage und nimmt
den Scalp, aber er wird ihm nicht die Haut vom Leibe zie-
hen oder ihm die Fingergelenke abbrechen, die Nägel ansrei-
ßen, die Augen ausdrehen oder Feuer unter die Fußsohlen
legen; das thnt die Squaw dem noch lebenden Feinde; sie
martert ihn zn Tode und weidet sich an seinen Qualen. —
So weit Dixon. Diesen! Wilden gegenüber ist nun auch
der Weiße wie ein Wilder geworden. Vor einem halben
Jahrhundert waren die Prairiekaufleute nur selten belästigt
worden. Als seit 1822 in Folge der Unabhängigkeit Mexi-
cos das spanische Monopolwesen dort gebrochen wurde und
ein regelmäßiger Karawanenhandel zwischen St. Louis und
Neumexico eröffnet wurde, kamen die Weißen in öftere Be-
rührnng mit den Indianern. Wir haben das Zengniß Jo-
siah Gregg's, der selber ein Prairiekaufmann war, dafür,
daß die Weißen, „statt sich wohlwollend zn benehmen, stets
geneigt waren, jeden Indianer, dessen sie habhaft werden
konnten, kaltblütig ums Leben zn bringen." Julius Frö-
b el, welcher gleichfalls mit einer Handelskarawane nach Neu-
Mexico gezogen ist, schreibt: „Es ist eine Thatsache,
daß der Versuch, ganze Jndianerstämme zu vergis-
ten, von weißen Leuten gemacht worden ist, und ich
selber habe mehrmals die Frage discutiren hören,
wie das am besten zu machen sei." (Aus Amerika.
Erfahrungen, Reisen und Studien. Leipzig 1359. II, S.
109.)
„Die Civilisation der Weißen ist unbarmherzig, auch da,
wo sie das Gegentheil sein möchte. Manche Völker anderer
Racen sind außer Stande, sie auch nur theilweise zu ertra-
gen, geschweige denn iu sich aufzunehmen. Für solche ist
selbst die Sorgsalt, welche man ihnen widmet, gleichbedeu-
tend mit allmäliger Vernichtung. Andere, und zu ihnen ge-
hören die nordamerikanischenPrairievölker, nehmen
gar keine Civilisation an, sind mit den Trägern dersel-
ben in unablässigem Streit, und es kann nicht ansblei-
ben, daß sie ausgerottet werden. Sie verstehen und
begreifen gar nicht, was der weiße Mensch von
ihnen will und verlangt. Ohnehin ist derselbe ein Ein-
dringling, ist der ärgste Feind, verjagt den Büffel und wirft
die Wilden aus dem Gleichgewichte. Daher dann ein uu-
versöhnlicher Zwiespalt." (Geographie des Welthandels von
Karl Andree, I, S. 240 ff.) Ich habe dort die Aeuße-
rungen des Capitäns March angeführt, des Entdeckers der
-Indianern Nordamerikas.
Quellen des Red River. Dieser Kenner der Prairie-Jndia-
ner schreibt: „Ich war nie im Stande, zu entdecken, daß
die wilden Stämme im Westen auch nur eine Eigenschaft
hätten, welche bei civilisirten Völkern als Tugend betrachtet
wird und die den menschlichen Charakter 'zieren." Er ver-
langt rücksichtslose Strenge, d. h. einen Vernichtungskrieg.
Die Aussagen und Ansichten eines alten Trappers, mit wel-
chem er sich über die „Jndianersrage" unterhielt, sind kenn-
zeichnend für die Verhältnisse. Der Gebirgsjäger erklärte
jeden Indianer für „Ungeziefer"; er fei nur ein „halber
Mensch" (im Uankee-Englisch, wie es March in seinem Prai-
rie traveller, Newyork 1859, p. 206 wiedergiebt: The
Injuns are the most onsartainest vermints in all crea-
ture, and J reckon tha'r not mor'n half human). Man
müsse alle Rothhäute zu einem Festmahl einladen und sie
glauben machen, daß es sich um einen großen Festschmaus
handle; dann wäre es zweckmäßig, über sie herzufallen
und die Hälfte des Ungeziefers zu scalpiren; nachher
würden die Uebriggebliebeueu dann wohl einen stichhaltigen
Frieden machen. Von Treu und Glauben hätten sie keinen
Begriff! Ganz richtig aber war es, wenn der alte Trapper
sagte: They can't understand white folks ways and
the won't learn um. Das ist für den Anthropologen eine
ausgemachte Sache. Aber sie wissen doch sehr wohl, daß es
sich um ihre Existenz handelt, und in dieser Beziehung fehlt
es ihnen nicht an scharfer Beurtheilung.
*
* *
Einen Einblick in die Lage der Indianer und in die Be-
drängniß, unter welcher sie leiden, gewährt die Rede, welche
der große Häuptling der Krähenindianer im Herbste des
Jahres 1867 beim Fort Laramie hielt. Auf den 12. No-
vember, zum Vollmond, waren sie von den Commissären der
Unionsregierung nach Fort Laramie zu einer Berathung
einberufen worden. Es handelte sich darum, einen dauern-
den Frieden anzubahnen. Auch die Sioux und die Schayeu-
nes waren eingeladen worden, sie erschienen jedoch nicht.
Die Krähenindianer dagegen waren weit hergekommen,
aus ihrem Jagdgebiete, das in Dakotah am obern Missouri
zu beiden Seiten des Aellowstoneflusses liegt. Sie selbst
nennen sich Upsarokas.
Diese Indianer sind von kräftigem Körperbau und gelten
für tapfer nach Jndianerweise. Die sechszehn Häuptlinge
hatten Frauen und Kinder mitgebracht; eine Anzahl von
Kriegern war gleichfalls erschienen, alle mit rothbemalten
Wangen. Sie wollten sich, obwohl oftmals von denBeam-
ten der Regierung schmählich betrogen und übervortheilt, noch
einmal auf ein Pauwau, d. h. eine berathschlageude Ver-
Handlung, einlassen, während die Sionx von nichts mehr
wissen mochten. Sie hatten dem Unterhändler gesagt: „Wir
sind jetzt aus der Jagd und können nicht abkommen!" Als
man ihnen eine Stafette nach der andern schickte, erklärten
sie: „Für eine weite Reise ist es jetzt zu kalt. Ohnehin
haben die Weißen uns stets belogen und betrogen; sie haben
uns nichts zu besehlen; wir brauchen nicht zu kommen. Der
Große Vater (der Präsident) mag seine jungen Leute (die
Soldaten) abberufen aus uuferm Lande; dann wollen wir
einen Vertrag mit ihm schließen, der kein Ende haben soll." —
Im Fort Laramie liefen eben damals Berichte ein, daß in
Colorado und in Montana von Seiten der Schayennes
und Arapahoes manche Mordthaten an weißen Ansiedlern
verübt worden und Raubübersälle häusig seien.
Um zehn Uhr Morgens erschienen die Upsarokas zum
Pauwau, alle festlich geschmückt und manche zu Pferde
Auch die Frau (die Squaw) des großen Redners Bären-
zahn war beritten. Der erste Häuptling, Schwarzfuß,
Der Krieg mit den Prairil
trat vor und stellte seine Krieger auf, die alle verschieden
gekleidet wareu. Der eine trug eine Büffelhaut über einem
Baumwollenhemde, der andere eine wollene Decke über einer
Jacke von Hirschleder, der dritte eine abgelegte Offiziersuni-
form, deren Beinkleide der Boden fehlte, denn diesen schnei-
den die Indianer allemal heraus. Andere trugen Lederhosen.
Am Hals und in den Ohren hing allerlei Zierrath, mit dem
auch das lange Haar geschmückt war.
Die Häuptlinge stimmten einen ernsten, melancholischen
Gesang an, in welchem manchmal auch schrillende Töne vor-
kamen, und gingen in feierlichem Schritte vorwärts, ohne
sich um die versammelte Menge zu bekümmern; dann traten
sie iu deu großen Berathungssaal, wo sie sich je nach ihrem
Rang auf Bänke setzten. Die Commifsüre hatten Stühle;
die Dolmetscher und Jndianeragenten standen; der Steno-
graph und die Berichterstatter einiger Zeitungen hatten an
einem Tische Platz genommen. Dann erschienen mehrere
indianische Frauen, setzten sich auf die Bänke neben den
Männern, z.B. das Laufende Wasser, die GelbeStnte
und die Bärentödterin. Doctor Mathews, Regiernngs-
agent bei deu Upsarokas, stellte diese den Commissären vor
und zur Begrüßung wurde die Friedenspfeife herumgereicht.
Nun erhob sich Bärenzahn, trat vor, that drei Züge
aus feinem Calumet, reichte diesen zuerst dem Doctor Ma-
thews und sagte.- „Rauche uud erinnere Dich heute meiner;
thne, um was ich Dich ersuche." Dann gab er die Pfeife
dem alten General Harney: „Rauche, Vater, und erbarme
Dich meiner;" dann dem Obersten Taylor: „Vater, rauche
und vergiß nicht, daß wir arm sind." Darauf reichte er
sie vier Generälen und noch einem Obersten und sprach zu
ihnen in ähnlichem Sinne. Nachher ließen alle Upsarokas
den dumpfen Ton Ahu hören; derselbe spricht zugleich eine
Begrüßung und Billigung aus.
Bärenzahn setzt sich und erklärt, daß er bereit sei zuhören,
was die Weißeu ihm zu sagen haben. Taylor steht auf und
liest seine Rede vor, die Satz für Satz vom Dolmetscher
übersetzt wird. Der Inhalt war: Wir sind alle Brüder;
das fagen wir unseren Freunden, den Häuptlingen und Krie-
gern des Volkes der Upsarokas. Euer Großer Vater hat uns
von Washington hierher geschickt; er will von Euch selber
hören, worüber Ihr Euch beschwert. Die Weißeu haben
Euer Land oecupirt, um Metalle zu graben, Straßen anzn-
legen und Häuser zu bauen. Der Büffel nimmt schnell au
Menge ab. Nuu wünschen wir, daß Ihr uns denjenigen
Theil Eures Gebietes bezeichnet, welchen Ihr ausschließlich
uud allein für Euch selber behalten möchtet; den andern Theil
wollen wir Euch abkaufen. Auf Euren „Reservationen"
(dem vorbehaltenen Theile) wollen wir ein Hans für den
bei Euch wohnenden Regiernngsagenten bauen, eiue Schmiede,
eine Ackerwirthschaft, eine Mehlmühle, eine Sägemühle und
eine Schule. Auch follt Ihr alle uöthigen Werkzeuge be-
kommen; Ihr könnt damit den Boden bebauen und habt dann
Lebensmittel genug , wenn auch der Büffel verschwunden ist.
Geschenke für Euch sind eben jetzt unterwegs. Nachdem ich
Euch dieses gesagt habe, wollen wir nun hören, was Ihr
meint; wir hegen gegen Ench die besten Gesinnungen."
Der erste Theil dieser Rede wurde beifällig aufgenommen;
der zweite mit entschiedener Ungunst. General Sanford
ließ erläuternd hinzufügen, die Weißen wollten nur deujeui-
gm Theil des Gebietes behalten, auf welchem sich ohnehin
fchon Ansiedler niedergelassen hätten; das beruhigte aber die
Indianer nicht. Bärenzahn richtete dann an jeden Com-
missär einige Worte, mit denen er um Gerechtigkeit Jbat; er
sei weit hergekommen; es friere ihn und er habe Hunger;
Büffel hätten sich unterwegs nicht blicken lassen. „Seht
mich Alle an; ich bin ein Mensch wie Ihr, ich habe Kopf
Globus XIV. Nr. 6. (September 1368.)
e-Jndianern Nordamerikas. 169
und Angesicht wie Ihr; wir sind Alle ein Volk. Ich möchte,
daß meine Kinder und mein Volk recht lange glücklich leben
möchten."
Dann trat er auf Haruey und Taylor zu, drückte beiden
eonvulsivifch die Hand und begann nun seine eigentliche
Rede, welche wörtlich nach dem Dietat des Dolmetschers
stenographisch niedergeschrieben wurde.
„Väter, Väter, Väter, hört was ich sage. Denkt an
Eure juugeu Leute (Soldaten) im Bighorngebirge.
Sie haben das Land durchstreift, den Wald verwü-
stet, den grünen Rafen zerstört und Brand angelegt.
Väter, Eure jungen Leute haben das Land verwüstet, unser
Vieh getödtet: das Elenn, den Hirsch, dieAntilope und den Büffel.
Sie tödteu nicht, um das Fleisch zu genießen, das lassen sie
liegen und verfaulen. Väter, wenn ich in Euer Laud ginge
und dort Euer Vieh tödteu wollte, was würdet Ihr sagend
Hätte ich dann nicht Unrecht und würdet Ihr mir nicht den
Krieg machen? Nun hört: die Sionx haben mir Hunderte
von Maulthiereu und Pferden geboten, wenn ich gegen Euch
in den Krieg ziehen wollte, und ich habe es nicht gethan."
„Das ist nun fchou eine Weile her. Ihr hattet einen
Vertrag mit den Upsarokas geschlossen und einen unserer
Häuptlinge mit Euch genommen in Eure Staaten. Ihr
wißt, was ich sagen will; jener Häuptling kam nie wieder
zu uns zurück. Wo ist er? Gebt uns, was er hinterlassen
hat. Wir, seine Freunde und Angehörigen, sind gekommen,
um seinen letzten Willen zu vernehmen."
„Ich hörte, daß Ihr wie zu uns so auch zu den Sioux
Eilboten geschickt und ihnen Taback gegeben habt. Aber die
Sioux sagten mir, sie würden nicht kommen, weil Ihr sie
schon einmal betrogen hättet. Sie wollen Euch behau-
deln, wie Ihr sie behandelt habt. Sie sagten uns
auch: die weißen Väter werden Enre Ohren durch schöne
Worte berücken und Euch Versprechungen machen, welche sie
nicht halten. Geht nur zu ihnen, Ihr werdet schon sehen,
daß sie Euch nur zum Besten haben. — Ich ließ die Sioux
reden und bin doch zu Euch gekommen. Wenn ich wieder
in unser Gebiet gelange, werde ich unterwegs die Hälfte
meiner Pferde verloren haben."
„Väter, Väter, ich schäme mich nicht, vor Euch zu reden.
Der Große Geist hat uns Alle geschaffen, den rothen Mann
in die Mitte gesetzt und die Weißen rings herum. Macht
aus mir einen gebildeten Indianer. Ah, mein Herz läuft
über und ist voll Bitterkeit. Alle Upfarokas, die alten Hänpt-
linge in früheren Tagen, unsere Großväter und Großmütter-
Haben uns oft gefagt: Haltet Freundschaft mit den Bleich-
gesichtern, denn sie sind mächtig. Wir nun haben ihren Rath
befolgt und was ist daraus geworden?"
„Vor mehr als zwanzig Jahren, als unsere Upsarokas
am Missouri lagerteu, schoß ein weißer Häuptling uuserm
Häuptling eine Kugel durch den Kopf."
„Am Uellowstoue standen drei Wagen; dabei befanden
sich drei weiße Männer und eine weiße Frau. Vier Upfa-
rokas kamen zu ihnen und baten um ein Stück Brot. Da
nahm einer der Weißen sein Gewehr und fchoß einen Häupt-
ling, deu fuchsrotheu Hengst, auf der Stelletodt. (-- Diese
Thatsache ereignete sich im Jahre 1854. —) Wir vergaßen
diese Missethat. Ich erinnere Euch daran, um zu zeigen,
daß die Weißen so gilt wie die Indianer Unrecht gethan
haben."
„Vor einiger Zeit ging ich nach Fort Benton ( dem
bekannten Handelsposten hoch oben am Missouri ), denn
auch wir hatten Unrecht verübt. Meine jungen Leute schos-
sen aus Versehen auf Weiße. Ich bat deshalb deu weißen
Häuptling um Verzeihung; ich gab ihm neun Manlthiere
und fechszig Büffelfelle, um das geschehene Unrecht zu sühnen.
22
170 Die Meere
Ich wollte die Sache wieder gut machen. Dann ging ich
nach Fort Smith am Bighornriver; dort fand ich Weiße.
Als ich vor die Offiziere kam und ihnen die Hand reichen
wollte, schlugen sie mir mit den Fäusten ins Gesicht und
warfen mich zur Erde. So sind wir von Euren jungen
Leuten behandelt worden."
„Väter, Ihr rathet mir, die Erde umzugraben
und Vieh zu züchten; ich mag aber von solchen Din-
gen nichts hören. Ich bin mit dem Büffel aufge-
wachsen und habe ihn lieb. Seit meiner Jugend habe
ich, gleich Euren Häuptlingen, gelernt tapfer zu sein; ich
kann mein Zelt aufschlagen, wenn es nöthig ist, und nach
Gefallen auf der Prairie herumstreifen. Erbarmt
Euch unserer. Ich mag weiter nichts mehr reden. Und Dn,
Vater (zu Taylor sich wendend), nimm hier diese Mokassins
und halte Dir die Füße warm."
Bei jedem Satze machte Bärenzahn eine Pause, damit
der Dolmetscher übersetzen könne; um seine Worte eindring-
(icher zu machen, begleitete er sie mit angemessenen Bewe-
gnngen. Zwei andere Redner setzten dann weitere Beschwer-
den auseinander. Der eine verlangte Abberufung aller
Soldaten uudGoldsucher aus der mehr als zweihundert
deutschen Meilen breiten Gegend zwischen dem Südplatte
und dem obern Missouri, also aus einem großen Theile der
Gebiete Dakotah, Wyoming und Montana. Er wies bündig
nach, daß der jüngste Vertrag, welchen die Upsarokas mit
den Weißen geschlossen hätten, von den letzteren nicht gehal-
ten worden sei. Sodann zählte er ans, wie viel Betrug die
Jndianeragenten verübt, und verlangte rechtliche, glanbwür-
dige Männer als Agenten. — Ein dritter Redner, schon ein
bejahrter Mann, der Wolf, verlangte gleichfalls dieEntfer-
nnng der Soldaten und erklärte rund heraus: kein Upsa-
roka werde sich so tief herabwürdigen, daß er Acker-
bau treibe.
Als man am andern Tage den Häuptlingen einen sehnst-
lichen Vertrag vorlegte, verweigerten sie die Unterzeichnung,
angeblich weil nicht alle ihre angesehenen Männer anwesend
seien. Beide Theile versprachen, nach sieben Monden, wenn
das Gras grün sei (am 5. Jum 1868), wieder einPauwan
zu halten.
Man hat im Juni viele Panwans gehalten, aber zumeist
fruchtlos, und gerade nnr jene Zeit haben die Indianer von
Texas bis zum obern Missouri, von Kansas bis tief nach
Colorado und Neumexico hinein den Kriegspfad beschritten
und nie zuvor sind die Fehden so wild, grausam und blutig
gewesen als eben jetzt.
Zu jenen: Pauwau waren anch einige Arapahoes ge-
kommen, welche ans beiden Seiten des obern Arkansas nach
Norden hin bis zun: Platte umherstreifen. Ihre Häuptlinge
wurden am 13. November 1867 von den Commissären em-
psangen. Diese Söhne der Steppe hatten es offenbar dar^
ans abgesehen, die Weißen zu betrügen, von denen sie schon
so oft betrogen worden waren. Sie traten glattzüngig auf,
um Geschenke zu erhalten und betheuerten ihre Friedensliebe.
„Wir wollen," sagten sie, „Alles thnn, was die Weißen nur
wüuscheu, ja wir wollen Spaten und Pflug zur Hand neh-
men und den Acker bestellen." Für so schöne Versicherungen
gingen sie denn auch nicht leer aus; man beschenkte sie reich-
lich. Aber gerade sie sind es, welche gemeinschaftlich mit
den Schayennes in Kansas und Colorado so entsetzliche Greuel-
thateu verüben, daß nun keiner von ihnen, welcher den Wei-
ßen in die Hand fällt, geschont werden soll. Der Aus-
rottungskrieg hat begonnen.
Als wir eben diese Zeilen geschrieben, kamen uns die
Neuyorker Blätter vom 29. August 1868 zu. Aus Lawrence
in Kansas wird gemeldet, daß man einen langdanernden Krieg
mit den Indianern erwarte. „Die Hinschlachtungen unbe-
waffneter Bürger von Kansas und die viehischen Mißhand-
lungen vou Frauen und Mädchen durch einzelne Banden der
Schayemies und Arapahoes wurde» in solcher Weise ausge-
führt, daß man einen wohlüberlegten Plan annehmen muß.
Diese Ansicht wird auch von Allen bestätigt, welche lange
Jahre in ununterbrochenem Verkehre mit den Rothhäuten
gestanden haben und mit ihren Absichten nnd Plänen bekannt
sind. General Sheridan hat am 24. August von Fort
Harker aus einen Befehl erlassen, in welchem er verfügt,
daß die Indianer mit Gewalt in die ihnen südlich
von Kansas vorbehaltenen Reservationen geschafft
werden sollen. Man will sie zwingen, die Frevler aus-
znliesern, welche zwanzig unbewaffnete Bürger ermordet, eine
weit größere Anzahl verwundet nnd an Frauen uud Kiuderu
Frevel verübt haben, die zu abscheulich sind, als daß man sie
näher beschreiben könnte." — Aber die regulären Truppen
werden keine leichte Arbeit mit so „schlüpferigen" Feinden
haben; man will deshalb Freiwillige aufbieten und auch solche
Jndianerstämme, welche mit den Schayennes und Arapahoes
in schlechtem Einvernehmen leben.
Die Meeresströmungen.
Von Herm. I. Klein.
II.
Es wurde im Vorhergehenden gezeigt, daß die Aeqnato-
rialströmung des Atlantischen Meeres sich gegen die kleinen
Antillen wendet und zwischen ihnen durch in den Meerbusen
von Mexico strömt, den sie dnrch den Florida-Canal wieder
verläßt. Hierdurch wurde die Frage nach dem Ursprünge
des Golfstromes von selbst beantwortet. In der That, die
warmen Waffer, welche in jenen kesselartigen Golf eindrin-
gen, werden dorthin getrieben durch die Aequatorialströ'mnng;
sie sindeu dort nur seitwärts einen schmalen Durchgang, und
weil die Strömung vom Aequator her mit gewaltiger Wucht
nachdrückt, wird das warme Wasser durch die Florida-Straße
gewissermaßen gepreßt, um deu weitern Lauf zu nehmen,
auf dem wir dasselbe später verfolgen werden. Diese Er-
kläruug ist so naheliegend, daß man sich wundern muß, wie
man so manche allzu gekünstelte Theorie des Ursprungs vom
Golfstrome gewissermaßen an den Haaren herbeigezogen hat.
Freilich, wenn die warmen Wasser der äquatorialen Strö-
mung im Mexicanischen Meerbusen den Küsten desselben
und deren Krümmungen so gehorsam folgen würden, wie
man dies in den meisten Karten durch schöne, geschlängelte
Die Meer«
Linien dargestellt findet, so muß der gewaltige Durchbruch
bei der Florida-Straße eiu Räthsel bleiben, indem unter sol-
chen Verhältnissen an einen gewaltsam pressenden Nachdruck
der äquatorialen Strömung nicht zu denken wäre. Aber man
hat sich den Mexicanischen Meerbusen als einen vollkommen
mit warmem Wasser angefüllten Kessel zu denken, der zwei
Oeffnungen besitzt. An der einen wirkt der Druck der nach-
drängenden Wassermassen, während in Folge dessen durch die
andere ein beschleunigter Abfluß stattfindet. Maury sagt:
Die Frage, wie der Golfstrom entstehe, hat die Geographen
schon lange in Verlegenheit gesetzt. Neuere Forschungen wer-
sen einiges Licht aus das Problem, aber sie erklären noch
keineswegs Alles.
Früher behauptete man, der Mississippi sei der Erzeuger
des Golsstromes, und nach der von ihm in den Mexicanischen
Meerbusen entsandten Wassermasse lasse sich die Strömuugs-
geschwiudigkeit des Golsstromes berechnen. Aber Capitän
Livingstone warf diese Theorie dadurch über deu Haufen,
daß er zeigte, wie der Mississippi noch nicht ein Dreitausend-
stel des Wassers dem Golse zuführt, das durch den warmen
Strom in den Ocean entweicht. Zudem ist das Wasser des
Golfstromes salzig, jenes des Mississippi süß, und jene For-
scher vergaßen, daß gerade so viel Salz, als durch diesen
Strom aus dem Golfe entfernt wird, ihm auch wieder aus
dem Weltmeere zugeführt werden muß, vorausgesetzt, daß
man nicht große Salzlager aus seinem Grunde annehmen
will, was jedenfalls willkürlich nnd sehr unwahrscheinlich ist.
Livingstone stellte an Stelle der von ihm gestürzten
eine neue Golfstrom-Theorie auf, wonach die Geschwindigkeit
der Strömung von der Bewegung der Sonne in der Ekliptik
und dem Einflüsse abhänge, den sie aus die Gewässer des
Atlantischen Oceans ausübt. Diese ganze Hypothese ist aber
viel zu unklar, nm Beifall finden zu können, und in der That
hat sie auch nur als hingeworfene Hypothese vorübergehende
Aufmerksamkeit erregt.
Mehr Beifall fand Franklin's Theorie, nach welcher
der Golfstrom nur ein Abfluß der Wassermassen ist, welche
durch die Passatwinde in das Caraibische Meer gedrängt
werden. Der Druck jener Winde ans das Wasser des Golfs
soll gleichsam die Quelle für deu Strom vorstellen. Es ist
freilich nicht zu leugnen, daß gewaltige, anhaltende Winde
bedeutende Strömungen hervorrufen. Aber nichtsdestoweni-
ger genügt Franklin's Theorie keineswegs allen Umstän-
den der Erscheinung. Wäre sie richtig, so müßte die Strö-
mnng hauptsächlich nur au der Oberfläche statthaben und
könnte nicht in die Tiefe hinabreichen, was doch thatfächlich
stattfindet und allein schon durch die langsame Temperatur-
abnähme in höheren Breiten bewiesen wird. Im Florida-
Canal aber beträgt die Tiefe des Golfstromes nach Maury
mehr als 1000 Fuß.
Man kann den Thatsachen, wie sie wirklich vorliegen,
nur dadurch genügen, daß man als wichtige Ergänzung der
Franklin'schen Theorie den Druck der äquatorialen Strö-
mnng des südatlantischen Oceans hinzufügt. Mittelbar trägt
auch der Mifsissippi zur Entstehung des Golsstromes bei,
indem der Stoß seiner kühleren Fluthen die warmen Wasser
im Golf von Mexico noch mehr zusammen- und durch die
Florida-Straße hinauspreßt.
Nachdem die warmen Wasser, die im Golf von Mexico
zusammengetrieben worden, westlich zwischen Florida und der
Insel Euba ihren Ausweg gesunden, folgen sie mit wachsen-
der Erbreiteruug der Ostküste vou Nordamerika bis etwa zum
35. Grade nördlicher Breite. Beim Cap Hatteras beträgt
die Breite des Stromes etwa 20 geographische Meilen bei
einer Geschwindigkeit von 2 bis 2^2 englischen Meilen pro
Stunde. Die mittlere Temperatur beträgt hier 22° R.
Die Küstenvermessuugs-Eommission der Vereinigten Staaten
hat ans einer Anzahl von Beobachtungen gefunden, daß in der
wärmer» Wassermasse des Golfstromes Streifen von kalten
Wassern existiren, die gegen jene Temperaturunterschiede von
50 R. zeigen. Maury glaubt, daß diese kälteren Streifen
in gewisser Beziehung stehen zu dem Prozeß, durch deu sich
die Gewässer des Golsstromes allmälig abkühlen. Allein
ehe die Wahrnehmungen von kalten Wasserstreisen nicht selbst
über jedem Zweifel erhaben sind, d. h. ehe man nicht jene
Streifen als permanent und unabhängig von zufälligen loca-
len Einflüssen erkannt hat, dürfte es zu früh fein, Erklärnn-
gen geben zu wollen.
Unter ungefähr 35 Grad nördlicher Breite wendet sich
der Golfstrom ostwärts, und die Strömung geht, sortwäh-
rend und schnell an Breite zunehmend, in der Richtung der
Azorischen Inseln weiter. Aber ehe sie diese erreicht, theilt
sie sich; ein Arm, und zwar der schwächere, geht südwärts
ab gegen die Canarischen uud Cap Verdischeu Inseln hin,
wendet hier seinen Conrs wieder mehr westwärts, der Um-
drehnng der Erde gemäß, und vereinigt sich so mit dein nörd-
lichen Theile des Atlantischen Aeqnatorialstromes zu erneue-
tem Kreisläufe. Innerhalb des Raumes, der auf solche
Weise vou warmen, strömenden Flüssen im Meere nmschlos-
sen wird, haben die Wasser eine größere Ruhe und dies ist
wahrscheinlich der Hauptgrund, weshalb wir hier jene nner-
meßlichen, wiesenartigen Tangflächen antreffen, die nnbestreit-
bar zu deu größteu Merkwürdigkeiten des Oceans gehören.
Die Zähigkeit, mit welcher diese Massen, die nach Mar-
tins' Untersuchungen durchaus uicht mit dem festen Meeres-
boden zusammenhängen, ihren Platz behaupten inmitten der
See, ist bemerkenswert!). Wenigstens seit Colnmbns' Zei-
ten, seit 1493, sind jene gesellschaftlich lebenden Pflanzen
an denselben Orten geblieben. Nach Hnmboldt's früheren
Bestimmungen liegen die Fncnsbänke, oder nach der ältern
Bezeichnung liegt die Sargasso-See zwischen 19 nnd 34
Grad nördlicher Breite und 27 bis 70 Grad Länge östlich
von Paris. Innerhalb dieses Raumes befinden sich an der
östlichen und westlichen Grenze derselben zwei Hauptmassen
von Fucns, die durch einen schmalen Streifen mit einander
verbunden sind. Die Gesammtobersläche derselben übertrifft
nach Humboldt's Schätzung jene von Deutschland sechs-
bis siebenmal. Wenn schon Ovied o die Fncnsbänke Wiesen
(Praderias de yerva) nennt, und diese Bezeichnung auch
häufig von Neueren angewandt wird, so darf man doch nicht
übersehen, daß es sich hier keineswegs um eiue große ununter-
brochene Fläche handelt, sondern um Bezirke von geringer
Ausdehnung, innerhalb derer die Dichte der Pflanzen eine so
verschiedene ist, daß bisweilen die Schiffe, welche sie durch-
schneiden, merklich in ihrem Laufe aufgehalten werden, bis-
weilen auch nur zerstreute Masseu das dahinbransende Fahr-
zeug von allen Seiten umringen. Das Phänomen der Taug-
flächen findet sich übrigens nicht auf jeuen Theil des Allan-
tischen Oceans beschränkt, man bemerkt dergleichen auch in
den beiden anderen Weltmeeren, wo das Wasser ruhig und
gewissermaßen durch umkreisende warme Strömungen gegen
den übrigen Ocean abgegrenzt ist. —
Der Nordrand des Golsstromes, wo dieser quer durch den
Atlantischen Ocean auf Europa zuläuft, liegt unter 42 Grad
nördlicher Breite, aber diese nördliche Grenze ist im Laufe
des Jahres beträchtlichen Veränderungen ihrer Lage ansge-
setzt, der Golfstrom schwankt im Ocean wie ein ungeheurer
Wimpel aus und nieder.
Zwischen Island und der zerrissenen skandinavischen Küste
strömen die nach Sabine noch immer 5 bis 6 Grad wär-
mer als die Umgebung bleibenden Wasser des Golsstromes
172 Die Meeres
in majestätischer Langsamkeit nach Norden, sich nach und
nach in den kalten Regionen des Eismeeres in der Nähe des
Nordpoles verlierend. Gerade aus dieser Strecke, zwischen
45 und 65 Grad nördlicher Breite, gewinnt der Golfstrom
seine Wichtigkeit, weshalb ihn Petermann mit Recht den
Erwecker und Träger der Cultur für die ganze Erde nennt.
Seinen warmen Wassern verdankt es der Europäer, daß sich
unter Breiten in Europa noch Centra der (Zivilisation be-
finden, unter denen in Amerika der prächtige Pflauzeuwuchs
der gemäßigten Zone verschwunden ist und ein armseliges,
aus niedrigster Culturstuse stehendes Volk sein kümmerliches
Dasein fristet. Der Golfstrom hält die kalte, nordpolare
Eisströmung von den europäischen Küsten fern, ohne ihn
würden die Nord- und Ostsee eine zweite Hndsonsbay, Mit-
teleuropa ein zweites Canada und Labrador, Skandinavien
unb die nördliche Hälfte Rußlands eiu anderes Grönland
sein. England hat eine mittlere Sommertemperatur von
16° C., und die Temperatur des Winters sinkt im Mittel
nicht unter 3° C. Wärme. Dahingegen zeigt das gleichweit
vom Pole abstehende Labrador bei einer Mittlern Sommer-
temperatnr von ll^E. eine durchschnittliche Winterkälte von
— 14° C. Das westliche Norwegen hat eine mittlere Iah-
restemperatnr von -(- 6,5° C., während die Jahrestempera-
tur des volle 10 Breitengrade südlicher liegenden Canadas
nur -j- 1° (£. ist. Durch solche Temperaturdifferenzen ist
die Cultnrentwickelung eines ganzen Welttheiles bedingt!
Man hat mehrfach die Frage aufgeworfen, ob der Golfstrom
nicht mit der Zeit seine Richtung ändern werde und Europa
das Schicksal des in gleichen Breiten liegenden Nordamerikas
drohe. Diese Frage ist an der Hand empirischer Thatsachen
gegenwärtig noch nicht zu beantworten. Wenn man die
Forschungen der Geologen zu Hülse nimmt, so muß man
allerdings gestehen, daß in der Zeit des Mammuth und der
Gletscher der Golfstrom seine gegenwärtige Direktion längs
der europäischen Westküste nicht gehabt haben kann. Damals
war die Bertheilung von Wasser und Land und die Consi-
guration des letztern nahezu dieselbe wie heute; der Golf-
ström ging längs der amerikanischen Ostküste, durch die Baf-
fiusbay und zwischen Grönland und Island nach Norden;
er verfolgte also genau denselben Weg, den jetzt umgekehrt
die kalten Polarströme einhalten, während diese damals längs
der europäischen Küsten nach Süden hin abgingen. Es hat
also tatsächlich seit der damaligen Zeit ein Verschieben der
beiden Strömungen stattgefunden, ähnlich wie dies häufiger
in größerer Ausdehnung nach Dove's schönen Untersuchuu-
gen bei den Strömungen im Lustmeere vorkommt. Höchst
wahrscheinlich hängt mit den damaligen Verhältnissen auch
der blühende Zustand des jetzt so öden Grönlands zusammen.
Oswald Heer in Zürich hat unlängst nach einer Unter-
suchung der fossilen Pflanzen, welche von verschiedenen Polar-
expeditionen mitgebracht worden sind, 47 Holz- und 28 ver-
schiedene Arten von Baumgewächsen erkannt, die ehedem in
Nordgrönland zu Hause waren. Es sanden sich darunter
Föhren, Eiben, Buchen, Eichen, Platanen, Ulmen, Nuß-
bäume, Magnolien, ein Kirschbaum, ferner von 20 Arten
Laubbäumen 4 Pappeln, von denen 2 über die ganze arkti-
sche Zone vertheilt gewesen zu sein scheinen. Eine derartige
Vegetation verlangt und bedingt aber eine mittlere Jahres-
temperatur von 7 bis 8° C., wie sie jetzt Irland oder Däne-
mark besitzt. Indem sich aber der Golfstrom immer mehr
nach Osten gegen die onropäischen Küsten wandte, mußte
von Westen her die mittlere Temperatur der amerikanischen
Nordregionen abnehmen, während jene an den europäischen
Küsten wuchs, bis der heutige Charakter hergestellt war.
Wodurch jenes Verschieben in der Lage der beiden entgegen-
gesetzten Strömungen entstanden, ist hente schwerlich zu eut-
scheiden, daß es aber stattgefunden, daran scheint kaum mehr
gezweifelt werden zu können. Alles zeigt aber, daß die ge-
genwärtige Lage des Golfstromes nur einem Zustande labi-
len, nicht stabilen Gleichgewichts entspricht. Fragt man
mich nach positiven Beweisen für diese Behauptung, so kann
ich freilich folche kaum ausweisen, es sei denn, daß man die
von Glaisher nachgewiesene säcnlare Zunahme der mitt-
lern Jahrestemperatur vou England als Beweis ansehen will.
Nach den Zusammenstellungen dieses kühnen Forschers hat
die mittlere Jahrestemperatur vou Greeuwich sich seit 90
Jahren um fast 2 Grad der Fahrenheit'schen Thermometer-
scala gehoben, während der größte Theil der mitten in Enropa
liegenden Orte keine folche Verbesserung seiner Mittlern Jah-
restemperatur zeigt. Mau ist um so eher geneigt, jene Er-
höhung auf Rechnung einer Einwirkung des Golfstromes
zu fetzen, als sie sich am deutlichsten in der Erhöhung der
Mittlern Wintertemperatur, weniger klar in der Vermehrung
der Sommerwärme ausspricht. Das stinnnt freilich mit dein
die Extreme herabziehenden, das Jahresmittel der Tempera-
tur erhöhenden Einflüsse des Golfstromes. Ob die Erhöhung
des Meeresbodens in der Umgebung der Bank von Neufund-
land durch den Absatz der Detritusmassen der Eisfelder, die
hier stranden, wie Einige wollen, auch merklich dazu beitrage,
den Golfstrom mehr südwärts zu lenken, muß vorläufig da-
hingestellt bleiben. Die Möglichkeit einer solchen Wirkung
ist nicht in Abrede zu stelle«. —
Von den mächtigen, tief ins Meer hinabreichenden, an
den unbewegten Wassern wie an festen Ufern vorbeifließenden
Meeresströmungen wenden wir uns zu denjenigen Bewegnn-
gen der oceanischen Gewässer, welche sich zwar, von festste-
hendem Standpunkte aus, durch das Treiben leicht beweg-
licher Gegenstände bemerklich machen, im Uebrigeu aber durch
ihre unbestimmte Begrenzung nicht minder wie durch ihre
Oberflächlichkeit für die Seeschifffahrt fowohl als die Wärme-
vertheilung vou sehr untergeordneter Bedeutung sind, zu den
Treib- oder Driftströmungen. Die Ursachen dieser Strö-
muugeu sind sehr mannichfaltig; einesteils kann man sie
für verschiedene Gegenden in anhaltend herrschenden Winden
suchen, dann auch in dem zeitweise nicht immer ganz gleichen
Niveau in den großen zusammenhängenden Meeren. Haupt-
sächlich, besonders in den antarktischen Regionen, entstehen
ausgedehnte Driftströmungen durch das Schmelzen ungehen-
rer Massen Polareises, deren specisisch leichteres Wasser nahe
der Oberfläche des Meeres bleibt und zur Ausgleichung der
Dichtigkeit nach jenen Regionen strömen muß, wo der Salz-
gehalt und mit ihm die Dichtigkeit bedeutender ist.
Wenn schon die Oberflächenströmungeu der Meere noch
immer so wenig bekannt sind, so gilt dies in noch nnver-
gleichlich höherm Grade von den submarinen Strömuugeu.
Die bei den Sondirungen größerer Meerestiefen ange-
stellten Experimente haben, nach Manry's Bemerkung, viel
Licht auf das Thema der unterseeischen Strömungen gewor-
sen. Es dürfte hiernach eine begründete Annahme sein, daß
derartige submarine Flnctnationen in allen Theilen des tie-
sen Meeres existiren. Wenn die gewöhnliche Leine ini Boote
festgehalten wird, nachdem sich etwa 2 bis 3 englische Mei-
len derselben abgewickelt haben, so zerreißt sie jedesmal, in
Folge des seitlichen Drucks, den submarine Strömungen da-
gegen ausüben. Maury führt noch einige, jetzt in alle Lehr-
bücher übergegangene Beispiele an, in denen ein Holzblock,
der in Tiesen von 600 bis 3000 Fuß zum Schwimmen
gebracht wurde, während an der Meeresoberfläche ein kleiner
Schwimmer die Richtung etwaiger Bewegung anzeigte, sich
gegen Wind und Oberflächenströmung fortbewegte. -Mau
schloß daraus auf unterfeeifche Strömungen. Becker und
Gar eis machen dagegen bemerklich, daß bei diesem Experi-
Altrussische
mente sehr leicht eine Täuschung init unterlaufen könne, in-
dem nur das Boot in der Oberflächenströmung trieb.
Wie es mit der Theorie der submarinen Strömungen
aussieht, beweist am besten die vielberufene Strömung in
der Straße vou Gibraltar. Man hat die Existenz einer
untern Strömung au dieser Stelle, welche der obern, durch
die Wasser aus dein Atlantischen Ocean in das Mittelmeer-
decken gelangt, entgegengesetzt ist, zuerst von den: Untergange
eines 1712 von einem Caper in den Grund gebohrten hol-
ländischen Schisses hergeleitet. Dieses kam nämlich einige
Tage später mit seiner Ladung von Branntwein und Oel
au der Küste bei Tanger, d. h. 12 englische Meilen westlich
von der Stelle, wo es gesunken war, wieder zum Vorschein.
Die westöstliche Oberflächeuströmung hätte es uach der eut-
gegengesetzten Richtung hintreiben müssen. Wäre die That-
sache außer allem Zweifel, so würde dadurch selbstverständ-
lich auch die Existenz der Strömung bewiesen sein, allein
dies ist nicht der Fall. Einerseits wird die Erzählung sehr
unwahrscheinlich dadurch, daß zu der Zeit, wo die Versen-
knng des holländischen Schiffes geschehen sein soll, die ver-
einigte holländisch-englische Flotte sich in der Straße von
Gibraltar befand, und der französische Caper, der unter den
Befehlen von de l'Aigle stand, kaum gewagt haben würde,
ein holländisches Schiff anzugreifen. Dann aber widerstreitet
harakterzüge. 173
es auch, wie scheut Böttger bemerkt, geradezu alleu Hydro-
statischen Gesetzen, daß ein Schiff mit einer Ladung in einem
Medium, welches dieselbe nicht tragen kann, erst untersinke
und dann wieder emporsteige, wenn es nicht ein geringeres
specififches Gewicht hat. Ein sinkendes Schiff ist selbstredend
schwerer als Wasser, sonst würde es nicht sinken, wenn es
aber einmal gesunken ist, wie kann es geschehen, daß es ge-
nan so mit seiner Ladung, wie es sank, wieder an die Ober-
fläche des Wassers kommt? Es ist vielmehr anzunehmen,
wenn überhaupt die ganze Sache wahr ist, daß das Schiff
ats Wrack an die Küste trieb und zwar deshalb westlich, weil,
wie Becker und Gareis näher entwickeln, zwar in der Mitte
der Straße von Gibraltar ein Einströmen, zn beiden Seiten
aber ein Ausströmen des Wassers stattfindet. An eine fnb-
marine Strömung aus dem Mittelmeere in den Atlantischen
Ocean ist nicht zu deukeu, ja eine Notwendigkeit derselben,
die man wohl früher annahm, ist nicht vorhanden. Gar eis
und Becker haben überzeugend nachgewiesen, daß die Ein-
strömung bei der Straße von Gibraltar nur in der Mitte
der Meerenge stattfindet, daß dagegen beiderseits eine Aus-
strömung vom Mittelmeere gegen den Atlantischen Ocean
statthat. Auf diefe Weise finden sich auch die Schwierigkei-
teil umgangen, welche einst Lyell gegen die untere Strö-
mung in der Straße vou Gibraltar erhob.
Altrussische
Alexis Juriwitsch war ein rechter Waghals und uiochte
verwegene Leute gern leiden. Schade, daß er zuweilen vom
Säuferwahnsinn zu leideu hatte. Er war eiust auf dem
Jahrmarkte, den er manchmal ohne Begleiter besuchte, und
sah einen Kaufmann, anf welchen er einen Zorn hatte. Der
Mann war einmal bei ihm zur Tafel gewesen und fort-
gegangen, ehe die Lustbarkeiten begannen, welche der Fürst
für die Gäste vorbereitet hatte. Jetzt gab ihm Alexis In-
riwitsch ein Zeichen, daß er mit ihm sprechen wolle. Der
Kaufmann aber sagte: Ich habe keine Lust, mir von Euer
Gnaden die Zähne einschlagen zu lassen. Da rief der Fürst:
O, Du verfluchter Hund! und wollte den Mann packen.
Der aber rannte fort, einen langen Gang hinunter, an dessen
Ende ein Teich war. Da er eiueu Vorsprung hatte, so zog
er rasch seine Stiefel ans, um besser laufen zu können. Das
leuchtete auch dem Fürsten ein und er that ein Gleiches. Der
Kaufmann sprang, ohne sich zu besinnen, in den Teich, der
Fürst auch. Bald stand jener bis zum Kinn, dieser bis an
die Brust im Wasser. — Jetzt komm, ich habe mit Dir etwas
abzumachen. — Nein; Euer Gnaden können zu mir kommen.
— Ei, dann müßte ich ja ersaufen. — Das hängt vom
Himmel ab; ich komme nicht. —
So ging das Gespräch im Wasser hin und her, bis den
Fürsten zn frösteln begann. Nun fprach er: Ich will Dir
was sagen. Leute von Mnth mag ich wohl leiden. Komm
mit mir nach Zaboria; wir wollen mit einander essen und
trinken; Deine Beleidigung sei vergessen. — Nein, Euer
Gnaden lügt; Du betrügst mich und willst mich Prügeln. —
Nicht mit einem Finger will ich Dir wehe thnn. — Ich
glaub's aber doch nicht. — So ging das Gespräch weiter, bis
der Kaufmann den Fürsten ersuchte, zur Bekräftigung seines
Versprechens das Zeichen des heiligen Kreuzes zu schlagen.
arakterzüge.
Alexis Juriwitsch giug mehrere Schritte im Wasser zu-
rück , schlug feierlich das Kreuz und rief alle Heiligen zum
Zcuguiß dafür an, daß er bent Kaufmanns nichts zu Leide
thnn wolle. Und nun gingen beide aus dem Teich heraus
geraden Weges nach dem Schlosse. Der Fürst hat von da
au jenen Kaufmann immer sehr hoch gehalten und ist unge-
»teilt freigebig gegen ihn gewesen.
Wenn Alexis Juriwitsch sein Mittagsschläfchen hielt,
durfte sich keine Katze rühren. An heiteren Sommertagen
ließ er einen großen Sessel auf den Balcou stellen und rnhete.
So lange das währte, verhielt sich in Zaboria nnd auf den
Wolgaschiffen Alles mausestill. Wer irgend eine Störung
verursachte, wurde nach dem Pferdestalle gebracht nnd vor
demselben ausgepeitscht. Jedermann wußte, woran er war,
denn die Zeit der Mittagsruhe wurde durch eine Flagge auf
dem Palast augedeutet. Eines Tages ging einer der armen
Edelleute, welche der Fürst fütterte, unter dem Balcon hin.
An eiuem nahegelegenen Fenster standen zwei adelige Frauen-
zimmer, deuu auch solche hielt der Fürst im Schlosse. Jeuer
wollte mit ihnen ein leises Gespräch führen, sie winkten ihm
aber mit dem Taschentuch, er solle still sein. Darauf machte
er allerlei Stellungen und schnitt Gesichter, worüber die
Frauenzimmer lachen mußten. Zuletzt sing er ein Volks-
lied, „die Straße", zu singen an und entkam ungesehen, denn
der Wächter schlief.
Der Fürst war erwacht uud brüllte: Wer hat „die
Straße" gesungen? Sosort wurde Nachsuchung gehalten,
aber jener Edelmann lag in einem Heuhaufen und stellte sich
als ob er schlafe. Der Fürst wurde wütheud uud trat mit
einer Peitsche vor die Thür. Wer' „die Straße gesungen
hat soll gleich kommen oder ich haue Euch Alle. — Nie-
mand meldete sich. Alexis Juriwitsch ging ins Schloß zu-
174 Altrussische (
rück und zertrümmerte in mehreren Zimmern Alles was er
fand. Er wollte den Sänger haben.
Da verfiel der Kellermeister auf einen guten Gedanken.
Er ging zum Bänkelsänger Waska und bat diesen, die Schuld
aus sich zu nehmen. Waska weigerte sich lange, als man
ihm aber zehn Rubel, eine damals beträchtliche Summe, bot,
ließ er sich bereden. Nur bat er, daß man ihn beim Prü-
geln möglichst schone, falls der Fürst nicht selber Hand an-
lege. Dieser war inzwischen wie rasend im Schlosse herum-
gestürmt; er wolle Allen im Schlosse, auch den Edellenten und
den Fräulein, tausend Hiebe geben; Niemand solle verschont
werden. Da rief einer: Sie bringen ihn! Der Keller-
meister brachte den Waska, welchem er die Hände gebunden
hatte.
Alexis Juriwitsch setzte sich, schwieg eine Weile und ließ
dann Waska vor sich treten. — Hast Du „die Straße"
gesnngen? — Ich habe gefehlt, Euer Gnaden. — Der Fürst
schwieg abermals. Alles zitterte; die Umstehenden waren mehr
todt als lebendig. Dann sagte er freundlich: Du hast eine
recht hübsche Stimme, und, sich zn seinem Kammerdiener
wendend: gieb ihm einen gestickten Kastan und zehn Rubel.
— Ja, sprach der alte Bauer zum Haushofmeister, welcher
Alles niederschrieb, da siehst Du nun, welch ein gütiger Herr-
Alexis Juriwitsch war. Aber auf Ordnung hielt er, und
wer sich gegen diese verfehlte, bekam Prügel. —
Seine Gastfreundschaft trug das Gepräge barbarischen
Prunkes. Bei großen Festlichkeiten, zum Beispiel zu seinem
Geburtstage, wurden Hunderte von Leuten eingeladen. Von
diesen nahmen etwa achtzig an der Tafel im Zechsaale Platz,
etwa sechshundert speisten auf den Galerien nnd in den Ne-
benzimmern. Obenan saßen die Fürstin und die vornehmen
Damen, am andern Ende der Fürst, die eingeladenen Gene-
räle und hohen Beamten, alle nach dem ihnen gebührenden
Range. Zur Seite des Fürsten stand ein junger Bär; neben
demselben hatte der Unrodewe, der Idiot, seinen Platz; er
war barfuß, schmutzig, zerlumpt, trug nur eiu Hemd und
hielt eine Schale in der Hand. In diese schüttete Seine
Gnaden allerlei aus den verschiedenen Schüsseln sammt Pfef-
fer und Senf, Wein und Quas. Das mußte der Simpel
hinabwürgen und dabei Ammenlieder singen. Den Büren
Mischka fütterte der Fürst mit höchsteigener Hand; auch goß
er ihm so viel Wein in den Rachen, daß der Bär znletzt
nicht mehr auf den Beinen stehen konnte. Die Gäste im
Saale aßen von Silbergeschirr, der Fürst nnd seine Gemah-
lin von Gold. Hinter jedem Stuhle waren zwei Diener
jeden Befehls gewärtig, und in einer Ecke des Saales hatten
die Possenreißer, Zwerge, Taubstummen und einige Kal-
mücken ihre Stelle; sie mußten sich mit einander balgen, so
lange die Tafel dauerte. Am Schluß derselben wurde die
Gesundheit des Fürsten getrunken; die Gäste im Saale er-
hielten Champagner, die übrigen Meth und Obstwein; die
Musikanten spielten, die Sänger stimmten Lieder an, die Ka-
nonen donnerten, die Zwerge und die Possenreißer kapriolten
um Seme Hoheit herum, die Gäste zerschlugeu die Gläser
aus das Glück und Gedeihen des hohen Hauses und der be-
trunkene Bär mußte aus Leibeskräften brüllen. Hinterher
wurde feuriger Ungarwein als Schlaftrunk gereicht.
Gegen Abend wurden Alle geweckt, denn um sieben Uhr
begann der Ball. Im Schlosse war Alles glänzend erleuch-
tet; draußen brannten Theertonnen und an beiden Ufern der
Wolga mächtige Feuer. Sobald der Fürst mit seiner Ge-
mahlin eintrat, spielten die italienischen Musikanten eine Po-
lonaise. Der Gouverneur der Provinz trug einen grünen
Kastan mit rothem Besatz über einer gelben Jacke, eine nn-
geheure Wolkenperrücke und über der Brust eine Cavallerie-
fchärpe. So trat er auf die Fürstin zu, verbeugte sich und
reichte ihr die Hand zur Polonaise. Nach derselben nahmen
alle Gäste ihre Sitze ein. Als ein Vorhang aufgezogen
wurde, erschien Dunyaschka, das schönste Mädchen im Dorfe,
in Pompadourkleidung, mit gepuderten: Haar und Schön-
pflästerchen. Sie stellte eine Schäferin vor, sprach ein Gra-
tulationsgedicht und dann trat Paraschka vor, eine andere
Schäferin, die viel von Lämmern und Liebe zu sagen wußte.
Zaboria hatte seinen Poeten, Simeon Titisch, und dieser ließ
es bei solchen Gelegenheiten nicht an sich fehlen. Er war
ein Edelmann und trank gern recht viel; wenn er dichten
follte, mußte man ihn Tage lang einsperren; sonst wurde er
uicht nüchtern. Der Küchenjunge Andrnschka sprang über-
keck zwischen dem Feuerwerk umher; er stellte den Phöbus
dar, und damit man das wisse, bestand seine Kleidung aus
einem gelbeu Kastan und blauen, mit Goldflitteru bespren-
kelten Beinkleidern. Natürlich fehlte die Leier nicht, ein mit
Saiten überzogenes Holz; in das Haar hatte man ihm Mes-
singdraht geflochten, — die Sonnenstrahlen. Auch die Mu-
sen fehlten nicht; neun Mädchen setzten dein Fürsten Kränze
auf. Man trank bis zum lichten Morgen.
Mitten in den Schwelgereien wurde er in seinen späte-
reu Jahren, als er längst seine Gemahlin nicht mehr hatte
sehen wollen, von Gewissensbissen ergriffen und dann bekam
er fromme Anwandlungen. Er konnte nicht schlafen, wenn
Nachts der Wind heulte; er wähnte das Winseln und Jam-
mern von Seelen zu höreu, deren er manche auf seinem Ge-
wissen hatte. Dann rief er: „Ich habe ja Niemand be-
raubt, ich beneide Keinen, und ich gebe ja den Armen reich-
lich! Weshalb soll Gott mir nicht gnädig sein?" Er be-
theuerte, daß er mit Satan nichts zu schassen haben möge,
aber es wandelten ihn Todesgedanken an, und einst sagte er
zu einem Edelmanns, der auf Besuch bei ihm war, er wolle
von seiner Gemahlin Abschied nehmen, mit welcher er seit
fünf oder sechs Jahren kein Wort gesprochen. Als ihn der
Edelmann deshalb lobte und hervorhob, daß die arme Frau
in Folge des Kummers sehr abgehärmt sei, trat beim Für-
steu sogleich die Bestialität wieder hervor: „Bah, man muß
nicht viel Aufhebens von ihr machen; sie ist nur ein Weibs
bild und müßte eigentlich eine tüchtige Tracht Schläge be-
kommen! Aber es ist ein abscheuliches Diug mit dem Ster-
ben. Ja, wenn mau nur wieder juug werden könnte! Ah,
ich habe ja nichts Böses gethan; kein Huhn auf dem Hofe
kann sich über mich beklagen. Wenn mir's nur nicht so
wüst im Kopfe wäre!" Nachdem er lange nnstät ans einem
Zimmer ins andere gegangen war, blieb er plötzlich stehen
und rief: „Ich will Mönch werden! Meine Frau mag
zum Teufel gehen, ich sorge allein für meine Seele. Ihr
sollt für mich beten; ich bin ein armer Sünder. O weh,
wenn die letzte Stunde kommt! Sagt mir, meint Ihr wohl,
daß ich im ewigen Feuer brennen müsse?"
Als er sich solchergestalt der Verzweiflung hingab, ertönte
ein Jagdhorn und die Hunde bellten. Sogleich sprang er auf,
nahm fein Gewehr, schwang sich in den Sattel und sprengte
fort wie der wilde Jäger. Als er zurückkam, fand er einen
Brief von seinem Sohne Boris Alexiewitsch. Als er den-
selben gelesen, fing er an wie ein Stier zu brüllen; in seiner
grenzenlosen Much zertrümmerte er Spiegel, Tische, Glas,
Porzellan, — Alles was zu vernichten war; die Dienerschaft
floh hierhin lind dorthin. Er rief nach seiner Gemahlin.
Der Lakai Doremidow sagte, sie befinde sich unwohl. Da-
für schlug ihm der Fürst fünf Zähne ein und rannte dann
in die Gemächer der Fürstin. Sie lag fehr angegriffen auf
dem Sopha uud Kondratie Sergiewitsch, ein achtbarer ver-
armier Edelmann, welcher in Zaboria ein Unterkommen ge-
funden hatte, las ihr aus der Lebensbeschreibung der heiligen
Barbara vor. Nun schrie er sie an: „Du hast Deinen
Altrussische
Sohn schlecht erzogen, Dn hast ihn so verdorben, daß er nun
ein gemeines Weibsbild Heirathen will!"
Am nächsten Morgen war von Kondratie Sergiewitsch
keine Spur zu entdecken und die Fürstin war eine Leiche.
Alexis Juriwitsch veranstaltete ein ganz prächtiges Begräb-
niß. Drei Archimandriten nnd einhundert Popen hatte er
herbeigerufen; der Leichenzug war lang und Alle weinten;
nur der Fürst, welcher dicht hinter dem Sarge herging, ver-
goß keine Thräne. Aber er sah verstört und hohläugig aus,
feine Lippen zuckten convulsivisch und manchmal zitterte er
plötzlich am ganzen Leibe. Sechs Wochen laug wurden die
Schaaren von Bettlern, welche nun in Zaboria zusammen-
strömten, Tag für Tag gespeist und an jedem Sonnabend
bekamen sie eine Geldspende. Nach dem Begräbnisse saß der
Fürst bei Tafel zwischen zwei Archimandriten, mit denen er
sich über die heilige Schrift, über Christenpflichten und die
Rettung der Seele höchst erbanlich unterhielt. „Die arme
Fürstin, sie ist nun dahin. Sie führte ganz anspruchslos
das Leben einer Heiligen und sie hat nun ihren Platz im
Himmel unter den Seligen, die vom Herrn gebenedeit sind.
Nun sie uicht mehr ist, hat auch für mich das Leben keinen
Reiz mehr; ich will ins Kloster gehen und demselben 40,000
Rubel schenken." Als ein Archimandrit ihm bemerkte, daß
er ja einen Sohn habe uud keinen raschen Entschluß fassen
solle, fluchte er auf den Sohn, der am Tode seiner Mntter
schuld sei. Er habe Schimpf und Schande über ihn, seinen
Vater, gebracht, indem er eine Weibsperson geheirathet habe,
die keinen Kopeken besitze nnd die höchstens gut genug sei,
Schweine zu füttern. Als die Selige vernommen, was ihr
Sohn gethan habe, fei die Arme zu Boden gesunken; das
liebe Täubcheu wäre nach einer Stunde tobt gewesen. „Nun
soll Borka (der Sohn) erfahren, was jetzt geschieht. Ich bin
ein kräftiger Mann, ich will wieder Heirathen, werde Kinder
bekommen und die sollen Alles erben; Borka kann mit seiner
Weibsperson betteln gehen. Im Nothfalle würde ich das
Gänsemädchen Malaschka Heirathen."
Eben trank ein Priester die Trisna. Für den Leichen-
schmaus wird dieses Getränk besonders zubereitet; es besteht
ans einem Gemisch von Wein, Rum, Meth nnd Bier. So-
bald der Becher rund geht, erheben sich alle Anwesenden, die
Geistlichen sprechen ein Gebet und nach demselben wird die
Trisna auf das Wohl der abgeschiedeneu Seele getrunken.
Alle an der Tafel standen auf, nur allem Fürst Alexis Ju-
riwitsch blieb sitzeu. Daun warf er sich plötzlich vor deu
Heiligenbildern nieder und weinte bitterlich. Nur mit Mühe
brachte man ihn wieder aus die Beine. „Am andern Tage,"
fo erzählte der alte Bauer, „war der gnädige Herr dann so
betrübt, daß er sehr viele Bauern auspeitschen ließ, und meh-
rere prügelte er selber. Jeder, der vor seine Augen kam,
sollte Unrecht gethan haben und bekam Hiebe." Die kleinen
Edellente, welche sich bisher in Zaboria füttern ließen, konn-
ten es dort nicht mehr aushalten, aber zum Glück dauerte
die schlimme Laune Seiner Gnaden nur etwa acht Tage lang,
nnd als er auf der Jagd einen Bär erlegt hatte, war er wieder
ungemein lustig uud leutselig. Mau merkte^ aber doch, daß
die Schwäche über ihn gekommen war. Wenn er sich zum
Beispiel seiner Gewohnheit nach auf ein Faß Branntwein
setzte und die Gesundheit der Anwesenden trinken wollte, dann
ereignete es sich wohl, daß es sich wie eine dunkle Wolke auf
sein Gesicht legte; er ließ den Becher fallen. Eben hatte er
laut gelacht; jetzt war Alles todtenstill. Wenn er dann wie-
der zu sich selber kam, sagte er wohl: Lieben Brüder, Ihr
habt Euch wohl erschrocken? Ja, so geht's im Leben, ich
werde wohl bald abfahren. — Dann stimmte er ein lustiges
Lied an, Alle mußten singen und das Trinken dauerte bis
in die Nacht hinein.
Harakterzüge. 175
Nachdem seit dem Tode der guten Fürstin etwa ein Jahr
vergangen war, schrieb Prinz Boris seinem Bater, daß er
ihn in Zaboria besuchen wolle. Alexis Juriwitsch ließ den
Kellermeister kommen und sprach: Borka will mit seiner
Weibsperson hierher kommen. Keiner soll sich unterstehen,
diese beiden zu begrüßen, jeder soll ihnen ins Gesicht lachen
und bellen. Ins Haus dürfen sie kommen, aber keiner spannt
die Pferde ans. Wenn sie von mir eine Sectio« erhalten
haben, können sie sich gleich wieder in den Wagen setzen.
Der Prinz kam und seines Vaters Befehle wurden genau
befolgt. Vor Zaboria waren etwa anderthalbhundert Bauer-
jungen aufgestellt, welche ein Hohugelächter aufschlagen und die
Zungen aussteckeu mußten. An der Einfahrtsthür des Schlof-
fes stand Alexis Juriwitsch, wild, wütheud, mit einer Peit-
sche in der Hand. Die Dienerschaft war auf einen gräßlichen
Sturm gefaßt; um denselben wo möglich zubeschwören, hat-
ten sie heimlich einen Popen ins Schloß kommen lassen.
Das junge Paar stieg vom Wagen. Der Fürst rannte
mit geschwungener Peitsche auf sie zu, als er aber der jungen
Frau ins Gesicht sah, blieb er plötzlich wie angedonnert ste-
hen; die Peitsche fiel ihm aus der Hand, fein Antlitz strahlte
vor Entzücken. Prinz Boris siel vor ihm auf die Knie; die
Prinzessin wollte ein Gleiches thun, aber der Schwiegervater
schloß sie in seine Arme, sagte ihr die freundlichsten Worte,
erklärte sich mit der Heirath einverstanden und ließ große
Festlichkeiten veranstalten. Von mm an war in Zaboria
Alles heiter und bei Tafel ging Alles anständig her. Zwerge,
Possenreißer, Bären nnd Trunkenheit waren verschwunden.
Das war das Werk der jungen Prinzessin Warwara Mi-
chailowna. Wenn sie sagte: Vater, das und das ist doch
eigentlich nicht recht, so folgte er ihr. Niemand wurde mehr
geprügelt; alle Peitschen wurden verbrannt. Diejenigen
armen Edelleute, welche dem Branntwein allzu sehr ergeben
waren, schaffte man aus Zaboria fort und sie wurden auf
anderen Gütern des Fürsten untergebracht. Alexis Juri-
witsch trank nur mäßig, und wenn er ja einmal ein Glas
zu viel geuosseu hatte, sagte er, daß das ja seine Tochter
nicht erfahre. Gegen feinen Sohn war er gütig; sobald
derselbe einen Leibeserben habe, wolle er, Alexis Juriwitsch,
ins Kloster gehen. Als Warwara Michailowna einen Sohn
gebar, kannte die Freude des Alten keine Grenzen. Er trug
den Säugling im Schlosse umher und sang ihm Ammen-
lieber vor; am Tauftage ließ er zweihundert Leibeigene frei.
Als das Kind nach Verlauf einiger Monate starb, legte der
Großvater sich zu Bett, aß einige Tage lang keinen Bissen
und sprach kein Wort.
Rußland gerieth mit dem Könige von Preußen in Krieg
und Prinz Boris, der im Heere diente, wurde einberufen.
Warwara blieb in Zaboria zurück. Der Alte segnete den
Sohn vor den Heiligenbildern und ermahnte ihn, tapfer zu
fechten. In Zaboria ward nun Alles sehr still. Nach Mo-
naten kam ein Brief von Boris, der in Memel stand nnd
nicht weiter mit dem Heere vorrücken sollte.
Alexis Juriwitsch hatte sich lange liebe Zeit musterhaft
betragen. „Da ist Satan wieder einmal über ihn gekommen
und hat ihn gepackt." Bei einem Rückfall in die alte Be-
stialität hatte er Warwara fo schnöde behandelt, daß sie ohn-
mächtig niedergesunken war. Nun wurden wieder Peitschen
angeschafft und die wilden Saufgelage kamen an die Tages-
ordnnng. An denselben nahm ein Bandit Theil, welcher
früher Mitglied einer feit längerer Zeit versprengten Rän-
berbande gewesen war. Alexis Juriwitsch fand Gefallen an
diesem Räuber, welcher ihm nun als Spion diente. Eines
Tages brachte er ihm einen Brief, welchen er aufgefangen
hatte; es war ein Schreiben Warwara's an Boris. Der
Fürst las dasselbe und ging dann pfeifend, die Hände auf
176 L. Lindenschmit: lieber die Eid- und
beut Rücken, im Schlosse umher. Am andern Tage lief ans
Zimogorsk ein Brief vom Gouverneur und vom Woywoden
ein, an welche Warwara sich schriftlich gewandt hatte; jene
meldeten ihren Besuch an. Abends hatten Alexis Juriwitsch
und der Bandit Grifchka Schatuu sich stundenlang einge-
schlössen. Am andern Morgen erhielt die Dienerschaft Be-
fehl, allerlei Sachen der Prinzefsin Warwara einzupacken;
sie wolle uach Memel zu ihrem Gemahle reisen. Gegen
Abend nahm die Prinzessin Abschied; als sie ihren Schwie-
gervater küßte, zitterte sie am gauzeu Leibe; sie wäre beinahe
umgefallen. Das wurde von der ganzen Dienerschaft be-
merkt. Hebt sie in den Wagen! rief er einigen seiner Leute zu.
Nach ihrer Abreise giug Alexis Juriwitsch spät Abends
in den früher erwähnten Pavillon und blieb dort lange Zeit.
Als er herauskam, zog er den Schlüssel ab und warf ihn in
die Wolga. Alle Zugänge zu jenem Theile des Gartens
wurden vernagelt und gesperrt; Niemand durfte dorthin gehen.
Eine arme Fran, Arina, welche seit Wochen am Fieber
gelitten, war verschwunden, Niemand wußte wohin. Etwa
vierzehn Tage nach Abreise der Prinzessin kam Grischka
Schatnn mit den beiden Kammerfrauen, welche als Dieue-
rinnen mitgegangen waren, zurück. Sie meldeten, daß War-
wara unterwegs gestorben sei, sie habe die Anstrengungen
der Reise nicht aushalten können. Schatnn brachte ein Zeug-
niß vom Arzte mit, auch eiueu Todteuscheiu von einem Prie-
ster, der sie begraben hatte. Der Fürst verschloß beide Scheine.
Wie verhielt es sich mit alle dem? Alexis Juriwitsch hatte
die alte Arina fortschaffen lassen und die war wirklich nn-
terwegs am Fieber gestorben; man gab sie dann sür die
Fürstin Warwara aus; — diese war im Pavillon einge-
schlössen worden. Schatnn und dessen Helfershelfer mußten
eine Fahrt auf der Wolga machen, als ein starker Wind
blies und der Strom mit Eisschollen trieb. Das Boot war
insgeheim leck gemacht worden. Der Fürst stand aus der
Uferanhöhe und beobachtete. Als das Schiff sank, schlug er
ein Kreuz, ging nach dem Kloster und bestellte dort Seelen-
messen für die Prinzessin und für die Ertrunkenen.
Nachdem er einem Gottesdienste beigewohnt hatte, ließ
er inl Schlosse eine Menge Branntweinfässer auslegen und
eine Menge von Bauern herbeiholen. Mit diesen zechte er
ununterbrochen mehrere Wochen lang. Ein Bauer bekam
einen Diamantring, ein anderer ein Stück Sammet :c.
In dieses Treiben kam eine plötzliche Unterbrechung. In
Zaboria erschien ein Offizier mit Soldaten. Alexis Juri-
witsch legte seine Generalsnnisorm an, ließ sich eine Knute
reichen und war solchergestalt zum Empfange der Soldaten
vorbereitet. Als sie eintraten, blieb er sitzen. Der Major
erklärte ohne weitere Umschweife, daß er den Auftrag habe,
genaue Untersuchung über das Verfahren des Fürsten im
Allgemeinen und über die Prinzefsin insbesondere anzustellen.
Alexis Juriwitsch fuhr ihn wild an. „Wie kannst Du
Dein schandbares Gesicht vor mir zeigen! Ich werde Dich und
Schwurange bei den arischen Völkern.
Deiue Kerle auspeitschen lassen, und wenn der Woywode
kommt, soll er auch Prügel bekommen!"
„Nur gemach! Alexis Jnriwitsch. Ich habe eineSchwa-
dron Dragoner bei mir nnd — merke wohl auf — ich bin
zu Dir gekommen auf besondern Befehl der Kaiserin!"
Das war ein Donnerschlag! Er zitterte und rief einmal
über das andere: Nun bin ich verloren! Daun warf er
sich vor dem Major auf die Kuie, bot ihm zwanzigtausend
Rubel, damit er abziehe, knrz er benahm sich elend und er-
bärmlich im höchsten Grade. So verwirrt war er, daß er
ans die Fragen des Majors keine zusammenhängende Antwort
geben konnte. Derselbe verschob deshalb das Verhör auf
deu folgenden Tag. Den Fürsten zog es unwillkürlich in
den Bildersaal; vor dem Porträt Warwara's sank er bewußt-
los zu Boden. Als er wieder zu sich kam, ließ er das Ge-
sicht seiner Schwiegertochter sogleich schwarz überpinseln; der
Kopf hatte sich, wie er wähnte, bewegt.
Eine Stunde fpäter war dieser Unhold eine Leiche; von
seiner Familie ist kein Sprößling mehr vorhanden. Alexis
Juriwitsch war ungemein reich; sein Silbergeschirr war viele,
viele Centner schwer, nnd in seinem gewölbten Verschluß hatte
er Weinfässer mit harten Rubeln gefüllt. Seine Verschweu-
dnng ging ins Weite, doch erbte sein Sohn Boris noch Werthe
von Millionen. Auch er vergeudete blindlings und lebte in
Sans und Brans, gleichfalls im Stil eines moskowiti^
Ichen Edelmannes der alten Zeit, obwohl bei weitem nicht
so roh und brutal, wie seiu Vater. Er blieb trotzdem ein
reicher Mann; sein Tod erfolgte durch eine UnVerdaulichkeit.
Dessen Sohn Daniel Borissowitsch besaß immer noch Tau-
sende von „Seelen". Er bemühete sich, die Güter von den
auf ihnen lastenden Schulden zu befreien, erreichte jedoch die-
fenZweck nicht. Er lebte wie ein Grand Seigneur uud
hatte mancherlei fehr kostspielige Liebhabereien. Längere Zeit
war er der Gesandtschaft des Fürsten Woronzoss in Paris
attachirt, verfiel dann, gleich Kaiser Alexander, in die mysti-
schen Schwärmereien der Frau von Krüdencr, verausgabte
viel Geld für sogenannte philanthropische Zwecke nnd für
eine Uebersetzuug der Bibel ms Russische. Dafür gingen
800 Seelen flöten. Daniel's Tochter, Natalie Danilowna,
liebte das Leben und Treiben in den dentfchen Bädern und
lebte später ein Vierteljahr-Hundert lang in Italien. Ihre
Leiche wurde aus Rom nach Zaboria geschafft. Als sie dort
ankam, ergab die Inventur des Nachlasfes die baare Summe
von 12 Rubel nnd 50 Kopeken, während alle Güter mit
Schulden überbürdet waren. Nahe Blutsverwandte waren
nicht da; von den entfernteren wollte keiner die Schulden
Natalien's in Italien bezahlen und dafür Zaboria überueh-
men. So kam dasselbe zur öffentlichen Versteigerung und
es gelangte in den Besitz eines Menschen, der früher Auf-
Wärter in der Dorfschenke gewesen war. Dieser Bauer bezog
das Schloß Zaboria; die Gläubiger bekameu 65 Procent.
So war das Ende dieses moskowitischen Fürstenstammes!
Ueber die Eid- und Schwurringe bei den arischen Völker!!.
ii.
Von Professor Dr. L. Lindenschmit in Mainz.
In der Abhandlung Bd. XIII, S. 329 ff. dieser Zeit- weitern Gesichtskreis für die Beurtheilung dieses anziehenden
schrist, welche durch Heranziehen bisher unbeachteter Denk- Gegenstandes eröffnet, wird zugleich auf die Notwendigkeit
male und Bekanntgebung neuer Forschuugsresultate einen einer vollständigem llekrsicht der betreffenden alterthümlicheu
L. Lindenschmit: lieber die Eid- un
Funde hingewiesen und der Wunsch nach allseitigen Kund-
gedungen in dieser Beziehung ausgesprochen. In Folge die-
ser Aufforderung geben wir einige weitere Nachweise solcher
Ringe, welche vielleicht zur fernern Klärung diefer dunkeln
Frage beitragen mögen, wenn auch etwa nur in negativer
Weise durch Ausscheidung von Formen und Fuuden, welche
mit der vorliegenden Untersuchung in keinem Zusammenhange
stehen können.
Zunächst an die merkwürdigen Erzriuge des Braunschwei-
ger Museums anknüpfend, welche Seite 334 unter Nr. 10,
II und 12 zum ersten
Male veröffentlicht er-
scheinen, freuen wir uns,
denselben eine bis jetzt
schon immerhin nam-
hafte Zahl gleichartiger
und nächstverwandter
Bildungen an die Seite
stellen zu können. Zwei
dieser Ringe sind im Be-
sitze des Museums in
Darmstadt, gefunden un-
weit Grllnberg in Hessen
und abgebildet bei Lin-
denschmitAlterthümer
unserer heidnischen Vor-
zeit, Bd. II. Heft VII,
Tafel 2 unter Nr. 1
und 2. Die nämliche
Tafel dieses Werkes giebt
auch einen Ring dersel-
ben Gattung, welcher in
dem Pfahlbau von Morges erhoben wurde und sich jetzt im
Besitze des Herrn Präsidenten Forel daselbst befindet. Einen
andern gleichartigen Ring von bedeutender Größe fanden wir
bei der Ausstellung in Paris
in der Abtheilung bistoire
du travail unter den soge-
nannten gallischen Bronzen
aufgelegt. Der Katalog sagt
unter Nr. 532 von demsel-
ben : Tres-grand bracelet
creux, partie de la cir-
conference deprimee. II
est orne de groupes de
filets de tres fort relief
et d'annelures finement
gravees au trait, M. Dan-
jou ä Fougeres (Isle-et-
Villaine).
Zwei der Form von Nr. 10
nahestehende unter Nr. 13
hier gegebene Ringe besitzt
das Museum von Mainz ans
einem Grabe bei Worms, und noch eine weitere verwandte
Form in dem Ringe Nr. 14.
Daß aber unter diesen sieben hier ausgezählte« Ringen
sich schon vier befinden, welche verlässigen Berichten gemäß
paarweise in Gräbern gefunden sind, darf immerhin als be-
merkenswerth und für' die Beurtheilung ihrer Bestimmung
nicht ohne Bedeutung hervorgehoben werden.
Außer dieser eigenthümlichen Form sind es noch zwei
besondere Arten von Ringen, welche bisher als Schwurringe
bezeichnet wurden; jene vorzugsweise in Mecklenburg und Pom-
mern gefundenen Ringformen des Schweriner und Stettiner
Museums (abgebildet in Alterthümer unserer heidnischen Bor-
Globus XIV. Nr. 6. (September 1868.)
Schwurringe bei den arischen Völkern. 177
zeit Bd. II, Heft 7, Tafel 2) und jene durch den bekannten
Goldring des Kopenhagener Museums repräseutirte Form
(abgebildet in dem Leitfaden für nordische Alterthumskunde,
1837, S. 43 *).
Ueberblicken wir nun diese sehr verschiedenen Formen der
für Eidringe erklärten Ringe, so finden wir Reife oder Bän-
der, welche entweder durch ihren geringen innern Durchmesser,
durch ihre gedrückte und ovale Form oder durch ihre uach
innen vorragenden Knöpfe das Tragen am Arme theils ge-
radezn unmöglich, theils felbst für kurze Zeitdauer äußerst
beschwerlich machen wür-
den. Wir sehen jene Be-
zeichnnng auf ganz eigen-
thümliche Bildungen be-
schränkt, welche nur darin
übereinstimmen, daß sie
den Gebrauch als Arm-
ring ausschließen und kei-
ner der mannichfachen
Arten dieses weitverbrei-
tetsten und beliebtesten
Schuulckgeräthes der al-
ten Völker zuzutheilen
sind. Es mußte nahe
liegen, für diese eigen-
thümlicheu Bildungen
auch eine besondere Be-
stimmung zu suchen, und
ebenso begreiflich ist es,
daß, nachdem ihre Be-
zeichnnng als Eidringe
zur Anerkennung ge-
langte, zugleich auch die Vorstellung Wurzel faßte, daß über-
Haupt und durchgängig für diese einem bestimmten Zwecke
gewidmeten Geräthe anch eine wesentlich verschiedene Ge-
staltung von jener der Arm-
bauge anzunehmen sei. Al-
lein solche wenn auch im
Ganzen noch so probable
Aufstellungen lassen sich hier
so wenig wie in vielen an-
deren Fragen der Alterthums-
forfchnng zu einer nnbeding-
ten allgemeinen Geltung
bringen, und es liegen Nach-
weise sowohl in bestimmten
Nachrichten wie in Denk-
malen selbst vor, welche es
verbürgen, daß den Eidrin-
gen der germanischen Völker
der volle Charakter des Arm-
ringes nicht entzogen werden
kann.
Schon die nach Holmboe
gegebenen Goldringe nordischer Funde Nr. 1, 2, 3 schließen
sich den Armringen vollständig an. Nr. 1 giebt die vor-
*) Gegen die Bestimmung des letzter« als'Schwurring haben sich
jedoch selbst bei den dänischen Gelehrte» Bedenken erhoben, seitdem
durch Gipsabgüsse einiger römischer Grabsteinseulpturen, namentlich
eines Aquilifer des Mainzer Museums und eines Centurio der Bon-
»er Sammlung, in Kopenhagen eine directe Begleichung mit den
Armillen möglich geworden, welche aus jenen Denksteinen als mili-
tausche Verdienstzeicke» an der Lorica befestigt «scheinen. Wilhelm
Boye stellt dieselbe Bestimmung jenes Goldnngs als gleichberechtigt
neben die bisherige Annahme als Schwurring. S. 43: Oxh-sende
Fortegnelse Over de Gjenstande i det Kongelige Museum for nor-
diske Oidsager i Kjobenhaven, der ere forarbeidede af eller prydede
23
Maßverhältniß darstellt. Dieselbe Ringform ist übrigens
schon in größerer Zahl zu einer Kette verbunden gefunden
worden. Worsaae. Nordiske Oldsager Nr. 459. Be-
zeichnet: Kingguld.
Die Einreihung dieser Ringformen unter die Eidringe
konnte nur die Berücksichtigung
der isländischen Ueberlieferuug
veranlassen, nach welcher der
Schwurring ein offener, sink
commissura, motlaus, war.
Diese Eigenschaft haben sie
allerdings voraus gegeu alle
bisher für Eidringe erklärten
Ringe, welche ohne Ausnahme
zu den geschlossenen zählen.
Allein denselben Vorzug be-
sitzt zugleich die überwiegende
Mehrzahl der unermeßlichen
Menge der Armringe. Ver-
wischt sich damit jedes unter-
scheidende Merkmal, so gilt es
um so größere Zurückhaltung
und Vorsicht, will man uicht
der Anzahl der Eidringe eine
Ausdehnung geben, welche im
Vergleich zu der außerordeut-
licheu Seltenheit alterthüm-
licher Fundstücke, welchen mit
Sicherheit eine religiöse Be-
dentung beizulegen ist, ganz exorbitant erscheinen müßte. Wir
glauben deshalb vor Allem jene Funde außer Betracht stelleu
med aedle Metaller. (I. Afdeling; hedenskeTid) 1859 Kjobenhavn.
Der sonst so entschieden austretende Worsaae bezeichnet in seinen
Afbildninger fra det Kongelige Museum for Nordiske Oldsager
schon 1854 den fraglichen Gegenstand Nr. 289 einfach als: massiv
Guldriug.
zu sollen, welche gleichartig geformte Ringe in großer An-
zahl vereinigt zn Tage brachten, wie jene von Mirchan und
Zarnowitz. Dem erster» namentlich könnten wir eine Reihe
vou Grabhügelfunden des Mittlern Rheinlandes zur Seite
stellen, in welchen eine gleiche und noch größere Meuge fol-
cher mit Einfeilungen verzier-
ter, offener, runder Metall-
reife über einen dnrch Vermo-
dernng unbestimmbar gewor-
denen wohl vegetabilischen
Gegenstand aufgereiht erfchei-
neu. Wir felbst besitzen 20 sol-
cher Ringe aus einem Grab-
Hügel des Taunus, welche auf
einander gesetzt einen Kegel
von 2(i/s bis 2 Vs rheinische
Zoll Durchmesser bilden. Das
eingefeilte Ornament in Form
eines Eierstabes bezeugt, daß
sie der Zeit römischer Herr-
schaft am Rhein angehören,
und unter allen Erklärungen
erscheint wohl die am ersten
gerechtfertigt, welche sie als
Armillen, d. h. im römischen
Kriegsdienst erworbene Ans-
zeichnungen, betrachtet. Keine
andere Art von Ringen sin-
det sich in solcher Zahl so zn
sagen in der Weise von ganzen Nestern in den alten Gräbern
beisammen.
Beschränken wir aber auch noch so sehr in dieser Rich-
tung das Gebiet der Untersuchung, so bleiben immerhin noch
Schwierigkeiten genug und selbst die unleugbar nahen und
wichtigen Beziehungen, welche zwischen den orientalischen
Schwurringen nach den gegebenen Darstellungen altpersischer
L. Lindenfchmit: lieber Eid- und Schwurringe bei den
Völkern.
herrschende Form der goldenen, silbernen und bronzenen Bange
aus den Frauengräbern der fränkischen und alemannischen
Friedhöfe des 5. und 8. Jahrhunderts, und den beiden übri-
gen kann ebenfalls kaum ein höheres Alter zugewiesen wer-
den. Nr. 2 ist offenbar einer jener Armringe, welche häufig
in den Grabhügeln oft noch an der Handwurzel der Skelette
gefunden sind, und Nr. 3 veranlaßt außerdem Bedenken in
Bezug der erforderlichen Größe eines Schwurringes, wie
sich dieselbe aus den Abbildungen 4, 5, 6, 7, 8, 9 selbst
unter verschiedener Gestaltung doch immer in demselben
L. Lindenschmit: lieber die Eid- itr
und safsauidischer Sculpturen und unseren deutschen und nor-
dischen bestehen, sind nicht geeignet, das Räthsel zu lösen, ja
sie knüpfen es theilweise noch fester. Zeigen auch die Schwur-
ringe aus diesen Bildwerken Gestaltungen, welche sich eben-
falls unter den Ringen der alten mitteleuropäischen Völker
finden, so sind doch gerade diese Formen so allgemein der-
breitet, so massenhaft vertreten, daß ein Herausfinden derjeni-
gen, welche mit Sicherheit Priesterlichem und richterlichem
Gebrauch zugewiesen werden könnten, nur von überaus glück-
lichen und entscheidenden Fundverhältnissen abhängig erscheint.
Andererseits bieten unsere bisher für Schwurringe gehaltenen
Reife aus Gold und Erz mit den Eidringen von Persepolis
nur eine ganz entfernte und allgemeine mit jenen der sassani-
dischen Bildwerke nicht die geringste Ähnlichkeit. Und doch
erscheint es immerhin verlockend, für die Erklärung unserer
Funde, welche jeue offenbar nicht zu Armbändern brauchbaren
Ringe paarweife zu Tage brachten, auf das altpersische Ce-
remoniell zurückzugehen, welches, wie die Darstellungen 4
und 8 ergeben, ebenfalls zweier Ringe bedurfte. Ist es doch
schon ausfallend, daß auf dem Pfahlbauringe von Morges
die vorspringenden Rippen so vertheilt sind, daß sie jeden
Beschauer zum Einlegen der vier Finger veranlassen, ganz
in der Art, wie nach dem Zengniß der Bildwerke der per-
sische Schwur nur durch Auslegen der Finger, mit Ausschluß
des Daumens, aus den Ring geleistet wurde.
Ja es finden sich unter den deutschen Ringen noch man-
cherlei Formen, welche, namentlich mit den sassanidischen über-
einstimmend, weiteren Vermnthnnaen Raum geben. Wir er-
wähnen hier nur zweier großer, geschlossener, wulstförmiger
Hohlringe von 6^ Zoll Durchmesser (Nr. 15) aus einem
Grabhügel in Franken bei Wiesenfeld, Landgericht Karlstadt,
jetzt im Museum zu Würzburg, die wie die Abbildung zeigt,
auf der einen Seite Strichverzierungen und concentrische
Kreisornamente, auf der andern eine Reihe regelmäßiger
Einschnitte zeigen, welche kaum zu einen: andern Zwecke als
zum Durchziehen von Bändern geeignet waren, wie solche in
breiten Streifen au den fassanidischen Eidringen befestigt sind.
Doch statt Verfolgung weiterer immerhin sehr schwer zu
begründender Annahmen und Vermnthnngen erscheint es im
Gegentheil gerathener, uns an die nationalen freilich nur
dürftigen Ueberlieferungen der germanischen Völker zu halten.
Und hier bleibt es von höchstem Gewicht, daß alle Seite 330
mitgetheilten Nachrichten über die alten Gebräuche bei der
Eidesleistung nur von einem einzigen Ringe sprechen. Der
Ullarrinq wie der Stallaring hatten keinen Zwillingsbruder
neben sich, wie er in dem Tempel von Persepolis nnd bei
dem Schwüre des sassanidischen Königs erscheint. Von noch
größerer Wichtigkeit ist die Thatsache, daß der isländische
Godi bei der Gerichtsversammlung den Ring, auf welchen
die Eide geleistet wurden, am Arme trug. Wir haben hier
also offenbar nicht ein besonderes nur für diesen bestimmten
Zweck eigenthümlich geformtes Geräth, fondern der Schwur-
ring ist Armring zugleich; und ein solcher ist in der
That jetzt endlich in dem gothischen Goldreife von Pe-
treosa in Rumänien gefunden. Abbildung Nr. 16.
Dieses merkwürdige Kleinod ist ein Bestandteil^ jenes
Schatzes, welcher, beim Steinbrechen an dem Berge Jstritza
unweit der genannten Stadt im Jahre 1837 entdeckt, erst
zwei Jahre später und theilweise nur in den Besitz des Mn-
senms von Bucharest und von dort ans die vorjährige große _
Ausstellung nach Paris gelangte, wo in der Abtheilung hi-
stoire du travail seine aus massivem Golde gebildeten, mit
Granaten, Smaragden, Saphiren und Perlen besetzten rieft-
gen Zierspangen und Schalen, seine Kannen und Becken,
nnd eine Schüssel von über 8 Pfund Gewicht durch ihren
großen Metallwerth, aber mehr noch durch ihre eigenthüm-
Schwurringe bei den arischen Völkern. 179
liche Arbeit die allgemeinste Aufmerksamkeit fesselten. Früher
schon hatte Herr Charles de Linas in seiner Orfevrerie
merovingienne, Paris 1864, diese überaus merkwürdigen
Goldgeräthe besprochen, welche eine so überraschende als an-
ziehende Vorstellung jener germanischen Königsschätze gewäh-
ren, die, in der Geschichte häufig erwähnt, namentlich in nn-
serer heimischen Sage von so mannichfach großer Bedeutung
erscheinen.
Eine genauere Beschreibung und Untersuchung dieser Fund-
stücke giebt derselbe Verfasser in seiner Schrift L'histoire du
travail a l'exposition universelle, sowie Herr Canoniens
Dr. F. B o ck in den Mittheilungen der k. k. Centralcommis-
sion zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale, XIII.
Jahrgang. Juli-August. Wien 1868, unter dem Titel:
Der Schatz des Westgotheuköuigs Athanarich. Nach
der letztern Abhandlung und aus eigner Anschauung geben
wir eine kurze Beschreibung jenes Gegenstandes, der hier vor
Allem eine Berücksichtigung verdient.
Der Riug von massiver unentwickelter Arbeit aus gel-
bem byzantinischen Gold im Gewichte von 1 Pfund 6(!/,i
Loth zeigt einen Durchmesser von 5 Zoll 11 Linien und
beweist, daß der Träger, für dessen Oberarm er bestimmt
war, ein äußerst kräftiger, musculöser Krieger gewesen sein
muß. Die Vermuthung des Herrn Bock, daß der Ring
möglicherweise auch am Beine getragen wurde, ist schon we-
gen mangelnden Belegs durch einen gleichartigen Fund aus
dieser Periode abzulehnen. Desto mehr können wir demsel-
ben beistimmen, wenn er sagt: „In künstlerischer Hinsicht
ist dieser kolossale Schmuckreif durchaus nicht hoch zu stellen,
da er ganz die primitive Technik seiner Zeit zeigt. Ein
starker Golddraht läuft gewunden an der runden Oeffnung
herum und dient offenbar dazu, diesen Theil zu verstärken.
Als Schließe erblickt man einen kleinen Zapfen, der sich in
die Oeffnnng des runden Halters einhakt."
Der Ring steht also zwischen den unbedingt geschlossenen
und den vollständig offenen Armbändern. Er kann nach
Belieben geöffnet und geschlossen werden.
Wichtiger als jedes Ornament ist die eingeritzte Inschrift
in Rnnenzeichen, welche sich auf der Außenseite des Reifs,
der Schließe gegenüber, befindet. Ihre Deutung hat bereits
viele namhafte Gelehrte nnd Sprachforscher beschäftigt, über
deren Erklärungsversuche Herr B o ck ausführlich berichtet.
Wenn derselbe bei dieser Gelegenheit die Ansicht äußert, daß
Sprüche in Weise einer Dedicationsformel gar schlecht zu
den Sitten und der Ausdrucksweise jeuer wilden Volksstämme
passen würden, wenn er weiter behauptet, daß die meisten der
aufgefundenen Runenschriften nur den Anfertiger oder Aus-
traggeber des Objects meldeten, nie aber eine Weiheformel,
so ist ihm einfach unbekannt geblieben, daß in der That sehr
viele Wunsch- und Weihesprüche in alten sächsischen Runen-
zeichen nicht allein auf dem Tunderschen Goldhorne, sondern
aus vielen Goldbraeteaten, Spangen und sogar Waffenstücken
nachgewiesen sind. Von den Deutungen der Ringinschrift
geben wir hier nur jene von Wilhelm Grimm und Professor
Dietrich in Marburg, bekanntlich einem der bedeutendsten
Forscher und Kenner der Runenschrift. Grimm liest mit
Weglassnng der beiden äußersten Zeichen utan nothi haila,
d. i.: Heil ohneNoth (seiDir). Dietrich erklärt es für uu-
zulässig, das erste und letzte Zeichen X als bloße Verzierung
zn betrachten und liest: guta niothi hailag, d. i.: dem Be-
dürfniß der Gothen heilig, indem er nnd gewiß mit Recht
den Ring als einen für den Tempelgebrauch bestimmten
Schwurring erklärt.
Mit dieser Ansicht stimmt auch Herr de Linas vollkom-
men überein, der, wie uns scheint mit Glück, in den vor-
Handeneil Gefäßen und Geräthen die regalia et pontifica-
23 *
180 Einblicke in den t
lia. eines Königs nachweist, welcher, wie bei den Gothen,
die Stellung des Heerführers mit der des Priesters und
Richters vereinigte. Als den ehemaligen Besitzer bezeich-
net Herr Bock mit aller Wahrscheinlichkeit den Westgothen-
könig Athanarich, welcher nach zweijährigem tapfern Wider-
stände gegen die Hunnen durch die Ueberzahl seiner Gegner
uud großenteils durch die Nachstellungen seiner eigenen Um-
gebung bewogen aus das römische Gebiet überging, und wie
man annehmen darf, vorher die Jnsignien des. königlichen
Geschlechts vor den Feinden und feindlich gesinnten Stamm-
genossen in der Erde verbergen ließ.
Mit diesem Nachweise eines Eidringes in Gestalt eines
eigentlichen Armbaugs ist jedoch keineswegs die gleiche Be-
stimmnng anderer Ringformen, namentlich jene der Braun-
schweizer, hessische» und Mainzer Ringe und jenes aus dem
Pfahlbau von Morges unbedingt ausgeschlossen.
nanischen, Orient.
Obgleich entschieden älter als der gothische Schwurring
zeigen dieselben eine bedeutende Ueberlegenheit der Technik
und den vollen Charakter der sogenannten Bronzeperiode, d. h.
unserer Auffassung nach der Zeit, in welcher Massen von
Erzgeräthen aller Art zum Theil eigens für die Bedürfnisse
des Nordens gestaltet, von dem Süden her über die Alpen
bis an die nördlichen Meeresküsten gelangten. Die Beant-
wortnng der Frage, ob diese Ringe nicht auch in Italien ge-
snnden und dort wie bei uns seither unbeachtet geblieben, er-
scheint deshalb von um so größerer Bedeutung, als gerade
bei einigen unserer wichtigsten Exemplare die Angabe des
Fundorts mangelt. Eine auch nur annähernd lichtgebende
Bestimmung der geographischen Verbreitung dieser Formen
ist deshalb bis jetzt noch nicht möglich und eine weitere Auf-
klärung muß also demErgebniß späterer Funde und der Zeit
anheimgegeben bleiben.
Einblicke in den
Heiligenverehrung in Bagdad. 5
Allerlei Opfer. — Der Tschember-Aali. — Jagd im Winter,
tilger. — Tiger, Panther und Tigerkatzen. Wildschweine.
Außer dem früher beschriebenen Lebenswandel des Bag-
daders von der Wiege bis zum Grabe finden sich wenig in-
interessante oder wenigstens originelle Züge, wodurch er
sich von den übrigen Orientalen unterscheidet. Eigenthüm-
liche Volksfeste, wie sie sich doch bei den meisten Nationen
erhalten haben, kennt man in Irak nicht. Die beiden Bei-
rams, der eine nach dem Fastenmonat Ramasan, der andere,
der Knrban- (Opfer) Beiram, drei Monate später, gehören
allen Mohammedanern gemeinschaftlich an und sind mehr
religiöse als nationale Feste. Zu dieser Zeit will es die
Sitte, neue Kleider zu tragen; man macht einander Be-
snche uud die sich begegnenden Bekannten umarmen sich mit
dem Ausrus „Mubareki", was so viel als „ich wünsche
Glück" besagen will. Zum Kurban - Beiram schlachtet
jede Familie allemal einen Hammel und ißt das Fleisch ent-
weder selbst oder vertheilt es an die Armen.. Dieser Schöps
hat den Berns, nach seinem Tode die Familienmitglieder,
wenn auch sie eine geistigere Gestalt angenommen, über die
Haarbrücke iu das Paradies zu tragen. Das letztere ist
nämlich nach der moslemitischen Vorstellung durch einen gra-
benähnlichen Abgrund von der übrigen Welt geschieden, über
welchen als einziges Berbindnngsmittel eiu dünnes Haar ge-
spannt ist. Darauf müßte nun die arme Seele ihre Seil-
tänzerkünste versuchen, doch ganz gewiß ohne Ersolg; besteigt
sie aber den nun ebenfalls gespenstigen Opferhammel, so trägt
er sie schnell und sicher nach dem Wohnsitz der Huri. Das
Opfern, obschon es kein wesentlicher Bestandteil der Lehre
des Propheten ist, findet viele Anhänger unter seinen Jün-
gern. Um irgend einer Angelegenheit oder Unternehmung
einen glücklichen Ausgang zu geben, pflegt man vor der Hans-
thür ein Schaf, ein Lamm oder mindestens ein Huhn zu
schlachten. Das Opfer erfolgt auch oft erst nach dem befrie-
digten Wunsche. Mau gelobt z. B. für die glückliche Rück-
kehr von einer Reise, für die Genesung eines Kranken, für
die Geburt eines Kindes, für den Abschluß eines Geschäftes,
kurz für die Erfüllung irgend einer Hoffnung, diesem oder
Orient.
agden im untern Mesopotamien.
— Die verschiedenen Arten von Wild. — Arabische Löwenver-
— Die Antilope. — Falkenjagd. — Der Dattelmarder.
jenem Heiligen ein Opfer und ermangelt dann nicht, dem
Votiv nachzukommen.
Der Heiligencultus ist überhaupt iu jenen Gegen-
den so scharf ausgebildet, wie es nur iu dem bigottesten
katholischen Lande der Fall sein kann. Allah und der Pro-
phet treten den verschiedenen Scheichs und Jmams gegenüber
vollständig iu den Hintergrund; für Bagdad aber ragt unter
Allen Scheich Abdnlkadehr tonangebend hervor. Es wimmelt von
Sijarets oder solchen Orten, die irgend einem frommen Manne
der Vorzeit besonders geweiht sind. Diese Sijarets haben
viel Aehnlichkeit mit den christlichen Heiligen geweihten Ca-
pellen. Ob nun der Islam von dem Christenthum oder das
Christenthum durch die Kreuzzüge und die spanischen Sara-
zenen von dem Islam die Heiligenverehrung übernommen
haben, oder ob es in der Natur aller Völker liegt, sich Götter
neben dem einigen zu machen, will ich hier nicht entscheiden,
genug, die Araber und die Spanier und Italiener bieten mit
einander in ihrem Cultus sehr viel Analogien, uud der we-
sentliche Unterschied besteht allein darin, daß jene sich nach
dem Koran keine Bildnisse von dem Gegenstande ihrer Ver-
ehrung machen dürfen. Zu Ehren der Jmams thut sich oft
eine größere Gesellschaft bei gelindem Wetter zusammen, zieht
hinaus nach dem Sijaret, ißt die mitgebrachten Speisen:
Dolma und Kiöste, und läßt sich dabei von ein paar Mnsi-
kanten beliebte Stücke vorspielen. Es versteht sich, daß dabei
Männer und Frauen nie zusammen sind. Jedes der beiden
Geschlechter geht abgesondert seiner Unterhaltung nach; doch
das zartere besorgt fast ausschließlich mit Essen und Trinken
den Dienst der Heiligen und der ^.odten.
Ein eigentümlicher Tag ist im Frühjahr der Tschember-
Aali. Wiewohl er sich durch keine besonderen Feierlichkeiten
auszeichnet, so verlaugt die Sitte, daß au diesem Tage jeder
Bewohner einen Spaziergang, und wäre er noch so kurz,
außerhalb seiner Wohnung mache. Wer da kann, benutzt,
wie an den anderen Tagen des Müßiggangs und des Festes,
die Gelegenheit, schlendert mit seinen Freunden respective
Einblicke in den
Freundinnen vor das Thor, setzt sich in einen Garten oder
auf ein Grünfutterfeld an das Ufer eines Wassergrabens,
schwatzt, raucht und trinkt Arrak; nebenbei wird auch ein
Lamm gebraten und verschmaust. Diese Annehmlichkeiten
beschränken sich jedoch nur auf das Frühjahr, in den Mo-
naten März und April, nnd manchmal erlauben auch einige
Herbsttage einen derartigen Genuß. Gewöhnlich geht indeß
das Wetter vou einer jähen Sommerhitze sehr plötzlich zu
einer empfindlichen Kühle über.
Ein den Männern ausschließlich reservirtes Vergnügen
ist die Jagd im Winter. Die Bagdader sind gerade keine
großen Jäger vor dem Herrn und die liebe Faulheit geht ihnen
über Alles, aber es giebt Ausnahmen und sogar Individuen,
die aus der Jagd nicht nur eine Leidenschaft, sondern selbst
eine Profession machen. Für den Europäer, der ein scharfes
Auge und normale Muskeln hat, findet sich in der geeigne-
ten Jahreszeit gewiß keine passendere Unterhaltung, die Lange-
weile zu tödten, als eben die Jagd, denn es bieten sich ihm
sonst im Innern der Türkei bitterwenig Genüsse. Auf Bälle,
Theater, Coucerte, gebildete Gesellschaft und Lectüre — es sei
denn, daß er eine Bibliothek mitschleppte — muß er verzich-
ten, und wenn er daher kein geborener Dichter oder Grillen-
sänger ist, der sich von seiner eigenen Phantasie ergötzen oder
quälen lassen kann, nimmt er am besten fein Gewehr zur
Hand und sucht ein Wild zu erlegen, was ihm zwar nur
ausnahmsweise gelingen, aber ihn dennoch zerstreuen würde.
Die Jagd zu Fuß in der nächsten Umgebung der Stadt
ist sehr ermüdend nnd wenig verlohnend. In der Wüste
halten sich allerdings zahlreiche wilde Tauben und Tnrtel-
tauben ans, aber an diese zähe Race ist es ebensowenig der
Rede Werth einen Schnß zu verschwenden, wie an die uu-
glaubliche Menge der Steppenhühner, dort Ghittos genannt,
die in großen Schaaren immer anzutreffen, aber nicht leicht
in der passenden Nähe zu beschleicheu sind. Uebrigens ist
das Fleisch dieser Vögel, die zwar deu Rebhühnern etwas
gleichen, aber wie die Taubeu fliegen, unschmackhaft und hart.
Besseres, ja ein zarteres Geflügel, als selbst unser Fasan,
hält sich in einigen Gärten ans. Es ist dies eine Art Ha-
selhnhn, französisch Francolin, arabisch Duratsch geheißen,
von der Größe einer juugen Henne. Das Weibchen ist grau
von der Farbe des gewöhnlichen Haselhuhnes, das Männchen
aber mit prächtigen schwarzen Schwanzfedern und am Hälfe
mit schwarz und weiß geperlten Federn geziert. Früher war
der delicate Vogel sehr häufig, jetzt hat er stark an Zahl ab-
genommen. Für den einzelnen Jäger hält es schwer, ihn
zu erlegen, weil in dem Gestrüpp, deu Stauden, Gebüschen
und Bäumen, womit der Garten überwuchert, und in den
Gräben, womit er durchzogen ist, das Thier ein sicheres Ver-
steck findet und nur auffliegt, wenn man beinahe darauf tre-
ten kann, dann aber mit schwerem Flügelschlage im Zickzack
davonschwirrt. Das wäre eine Kleinigkeit, wenn man nur
einen Hund hätte, der zur rechten Zeit arretirte; nun aber
können unsere Jagd- und Hühnerhunde das Klima nicht ver-
tragen und sterben fast alle im Sommer, weshalb es schwer
hält, sich einen solchen zu verschaffen. Ans diesem Grunde
thnn sich gemeiniglich zehn bis fünfzehn Jäger zusammen und
suchen treibend einen Garten ab, wobei es dann oft gelingt,
daß ein Huhn, welches von dem einen aufgejagt, von dem
andern geschossen wird. Der Braten ist, wie bemerkt, aus-
gezeichnet. Bor dem October kann man nicht gut zu Fuß
diesem Vergnügen sröhnen, weil ich aus Erfahrung weiß,
daß der Erdboden noch heiß genug im September ist, um ein
brennendes schmerzliches Gefühl an den Füßen zu erzeugen.
— Vereinzelte Wachteln finden sich auch um diese Zeit, uud
wenn es regnet läßt sich vielleicht eine wandernde Schnepfe
an dem Rande einer Lache fehen. Mitten im Winter end-
manischen Orient. 181
lich trifft man fogar auf dem Tigris und an den Wasser-
grüben Enten an. In den Sümpfen an der Djalla uud
bei dem alten babylonischen Thurms in der Wüste und dann
in all den unermeßlichen Marschen nnd Sümpfen, die sich
über Irak an dem untern Lause der beiden Zwillingsströme
ausbreiten, läßt sich die weit ans dem Norden kommende
Wildgans in großen Schaaren nieder. Diese Vögel bekommt
man in Bagdad meist lebendig. Der Araber draußen besitzt
in der Regel keine Feuerwaffen, oder Pulver und Blei dünken
ihm zu kostbar, weshalb er zu anderen, wahrscheinlich uralten
Mitteln greift, um sich einer Beute zu bemächtigen. Er-
schleicht beim Mondschein, im Schlamme kriechend und Was-
serlänfe durchwatend und überschwimmend, an die wachsamen
Vögel, deren Ruheort er sich gemerkt, heran, und indem er
plötzlich ein Geschrei erhebt, schleudert er eine Bleikugel, die
an einer Schnur befestigt ist, im Kreise um seinen Kopf
und läßt sie über das Lager der Gänfe fahren. Die capitolini-
schen Vögel entfalten nach kurzem Anlauf ihre mächtigen
Schwingen und steigen mit betäubendem Gefchrei nnd Flu-
gelschwirren Hunderte zugleich in die Lust. Fliegt nun eine,
was sehr wahrscheinlich ist, gegen die Schnur, so geräth die
Kugel dadurch in eine kreisförmige Bewegung und umschlingt
ein- oder zweimal den Hals, den Fuß oder den Flügel der
Gans. Es gelingt oft, zwei oder drei mit einem Wurf nie-
derznbringen. Das Fleifch der Wildgans wird von den Ein-
geborenen merkwürdigerweise dem der zahmen vorgezogen.
Die Enten lassen sich so nicht beikommen und müssen ge-
schössen oder in Fallen gefangen werden.
Hafen sind in der Nähe Bagdads nicht selten, werden
aber, weil ihr Fleisch bei den Orientalen wenig beliebt ist,
kaum verfolgt. Die meisten fallen den Ranbthieren zur
Beute. Sie sind nicht so groß wie die nnserigen uud auch
nicht so wohlschmeckend. Der Mangel an Stehhunden tritt
auch hier dem Jäger in den Weg und es ist daher am inter-
essantesten, sie mit Windhunden zu Pferde zu parforcireu.
Anderes Wild als das genannte ist weder in der nächsten
Nähe der Stadt noch in einer stundenweiten Entfernung zu
finden. Der Schakal, der schlaue fuchsartige Räuber, ver-
dient keine Berücksichtigung. Dieser verschmitzte Geselle
kommt meist nur in der Nacht zum Vorschein. Doch auch
an: Tage schleicht er in den Gärten nnd auf den Feldern in
den Gräben oft bis in unmittelbarer Nähe der arbeitenden
Araber herum und sucht ihnen ihr aus Datteln und Brot-
sladen bestehendes, in den abgelegten Abba gewickeltes Mit-
tagsmahl wegzustibitzen. Er nährt sich von Früchten und
kleinen Thieren, die er überraschen kann. Kennt er die Feuer-
Waffen nicht, so läßt er sich schießen; doch er entgeht oft dem
Tode, weil ihn der Nichtkenner für einen marodirenden Hund
aus dem nächsten Dorfe hält. Zur Brunstzeit versammeln
sie sich in Rudeln vor den Mauern der Stadt und führen
dort in der Nacht ein weitschallendes Heul- oder besser Win-
selconcert auf, worauf ihnen dann die gesammten Straßen-
Hunde nicht minder harmonisch antworten. Man behauptet,
daß sich die Hunde mit dem Schakal begatten, was ich indeß
nicht glaube, so ungemein auch viele der ersteren den letzteren
gleichen.
Wer die Jagd in einem abenteuerlicheren Sinne auffaßt
und mehr fucht, als einen Hasen oder ein Haselhuhn , findet
dazu auch in Irak Gelegenheit; doch dann ist die Sache nicht
mit einem bloßen Schießspaziergang abgethan und man muß
wenigstens eine Nacht in irgend einem Dorse bleiben und
ein bischen Ungemach nicht scheuen. ^
Schon in den Ruinen von Ktesiphon, vici Stunden von
Bagdad, lassen sich Löwen sehen. Unter diesen hier bekann-
termaßen mähnenlosen Königen der Wüste giebt es recht statt-
liche Exemplare, die dem nnmidischen wenig an Kraft und
182 Einblicke tri den t
Wildheit nachgeben. Es fehlt daher unter den Jagdliebhabern
an Heroen, die es mit ihm aufnehmen möchten, es sei denn,
daß sie ihm von einem sichern Verstecke ans meuchlings eine
Kugel zuschicken könnten. Am Ende ist es für einen guten
Schützen gerade fein so besonderes Kunst- und Heldenstück,
einem armen harmlosen Löwen eine Büchsenkugel in das Ge-
Hirn zu jagen, wie es nns Herr Jules Gerard und andere
Jagdkoryphäen weismachen wollen. Ich möchte wissen, ob
einer von ihnen einmal die von den Arabern Iraks gebrauch-
liche Methode der Löwenvertilgung zu Probiren Willens wäre!
Wird nämlich das Raubthier einem Stamme lästig und so
schädlich, daß man ihm ein Endc machen muß; stiehlt es die
Ochsen und Schafe oder begeht es gar den Frevel, ein Pferd
zu würgen, statt, wie es jedem ehrbaren Löwen geziemt, nach
den so ungemein zahlreichen Antilopen zu jagen, so schwört
ihm ein kräftiger, entschlossener Bnrsche den Tod und sucht
ihn im Gestrüpp anf. Der kühne Jäger ist nur mit dem
Handschar, dem breiten krummen Dolche, bewaffnet und trägt
in der linken Hand ein vierzackiges, etwa einer Fußangel ähn-
liches Eisen. Glaubt er sich nun in der Nähe des Löwen
oder erblickt er diesen selbst, so nimmt er seinen Mantel ab
und umwickelt sich, auch das Eisen leicht verdeckend, mit dem-
selben den linken Arm und zieht den Dolch. So geht er
verwegen aus das erstaunte Ungeheuer los. Der Löwe flieht
nie; aber der feste Blick und die kühne Bewegung des Men-
schen setzen ihn dermaßen in Verwunderung, daß er rein auf
der Defensive bleibt, sich duckt nnd den grimmigen Rachen
aufsperrt. Nun springt der Araber mit vorgestrecktem linken
Arme auf das Uuthier uud stößt ihm denselben so tief wie
möglich in den Schlund. Der Löwe schnappt wüthend zu,
aber das zackige Eisen verwundet ihn schmerzlich nnd verhin-
dert ihu gleichzeitig, die Zähne aus einander zu pressen. Un-
terdessen bleibt der Jäger nicht müßig nnd versetzt dem Löwen,
ehe er von seinen Tatzen Gebrauch zu machen weiß, tödtliche
Dolchstöße in das Herz. Ich habe das kurze Verfahren mit
einer so gefürchteten Bestie nie selbst mit angesehen und will
mich daher nicht unbedingt für die Wahrheit meiner Angabe
verbürgen, iudeß wurde mir von verfchiedenen Seiten und
von Arabern selbst versichert, daß man sie in der Wüste nur
auf die beschriebene Weise erlege. Dies ist insofern wahr-
scheinlich, als viele Stämme gar keine Schießgewehre besitzen,
nnd daher in ihren Zelten uud Schilfhütten fammt ihrem
zahlreichen Vieh der Gnade der Löwen auheimgestellt wären,
wenn sie sich scheuen würden, ihn mit der blanken Waffe zu
bekämpfen. Ein Beduinenscheich behauptete sogar, daß es mit
nicht viel mehr Gesahr verknüpft fei, einen Löwen als einen
Schakal zu tödten. Ich wollte, Herr Jules Gerard hätte bei
seinen Lebzeiten zur allgemeinen Belehrung den interessanten
Versuch gemacht. In Irak habe ich übrigens nie gehört, daß
ein Mensch durch eiueu Löwen um das Leben gekommen sei.
In Bagdad hält man viele zahm in den Häusern, doch im
Käsich oder an der Kette; auch führen Leute diefe grimmigen
Katzen, wie bei uus die Büren, am Stricke in der Stadt
nmher und lassen sie für Geld Kunststücke machen. Junge
Löwen werden oft von den umwohnenden Fellahs gefunden
uud spottbillig an Liebhaber verkauft. Es sind mir einmal
zwei für ungefähr vier Silbergroschen angeboten worden.
Der Tiger, welcher in den angrenzenden persischen Ge-
birgen haust, wagt sich nie in die Enphratebenen, dagegen sind
der große und der kleine Panther um so häufiger anzutreffen.
Die Jagd auf beide bietet weder große Gefahr noch Schwie-
rigkeiten. Erfährt man durch einen Bauern, wo sie sich ge-
wöhnlich aufhalten, so kann man ihnen auflauern und sie
niederschießen. Die Fellahs selbst halten, wenn das Raub-
zeug zu lästig wird, ein Treibjagen darauf ab und schlagen
es mit Kuüttelu tobt oder nehmen es auch wohl lebendig ge-
namschm Orient.
sangen, indem sie ihm im Anspringen oder Fliehen ihre
Mäntel oder Netze überwerfen. Der Panther wird recht
zahm und man kann ihn in: Hanfe frei umherlaufen lassen,
wenn man Kinder und kleine Thiere nicht allzu vertrauens-
voll feiner Laune preisgiebt. Fremde, die er nicht kennt,
knurrt er wie ein Hund an. Der große Panther ist nnstrei-
tig die schönste Species des Katzengeschlechtes nnd gewöhnt
sich leicht an den Menschen. Im Hofe des Serais war
z. B. einer angebunden, dem sich Jedermann nähern uud ihn
streicheln konnte. Eine Art Tigerkatze von der Größe eines
mittler» Hundes, aber länger im Rumpf, ist ziemlich häusig,
wenigstens weiß ich das Thier nicht anders zu nennen, da
die Naturgeschichte, wie von manchem seines Gleichen, von
ihm bis jetzt keine Notiz genommen hat. Tigerkatzen sind
eigentlich nur in Amerika zu Hause, die arabische, von der
ich rede, scheint jedoch, auch der Zeichnung nach, derselben
Gattung anzugehören. Diese geschmeidigen Räuber leben alle
in der Wüste oder in den Sümpfen von Antilopen, Stran-
ßen oder Wassergeflügel, die sie beschleichen nnd durch einen
oder mehrere Sprünge in ihre Gewalt bringen.
Ein sehr zahlreiches Wild sind die Wildschweine, welche
sich massenhaft an den Ufern der Flüsse aufhalten uud hier
ihre Nahrung in Wurzeln uud Trüffeln, die sie aufwühlen,
finden. Am Tage liegeu sie gewöhnlich in einem Sumpfe
oder auf einem Werder eingekesselt und rühren sich, nament-
lich in der Nähe menschlicher Wohnnngen, nicht. In der
Nacht aber überschwimmen sie das Wasser und gehen ihrer
Aesung uach. Sie richten alsdann oft große Verwüstung
in den Gärten und zumal in solchen Feldern an, welche,
wenn das Wasser fällt, in dem Flußbett selbst bis dicht an
das Ufer augelegt sind. Die Fellahs, welche überall Nachts
wachen nnd ihre Saaten beaufsichtigen müssen, suchen die
gefräßigen schwarzen Gäste durch Lärm und Geschrei fern
zu halten, wagen es aber selten, sie mit einer Kugel
zu begrüßen. Der angeschossene Eber stürzt wüthend auf
seinen Feind los nnd zerreißt ihn mit seinen Hauern. Da
mm der Mohammedaner kein Interesse au dem Fleische
hat, betrachtet er ihn als ein Raubthier der gefährlichem
Art und nicht als ein Wild, nnd geht ihm, wenn er ihn nicht
verjagen kanu, lieber ans dem Wege. Es ereignet sich auch
weit häufiger, daß Leute auf den Feldern von Ebern als vou
Löwen angefallen und getödtet werden. Das Fleisch des
Wildschweines wird übrigens im Winter von den Christen
gegessen uud daher sinden sich denn auch gute Schützen, die
ihm gewerblich den Garaus machen. Zu dem Zwecke lauern
sie ihm beim Mondschein in einer Hütte in der Nähe des
Wassers auf. Eber sind, ganz in der Nähe von Bagdad
schon sehr häufig und die armen Bauern betrachten es als
eine Wohlthat, wenn man diese verheerenden Creatnren er-
legt. Zur Zeit des Tages würde man sie freilich vergebens
aufsuchen; dann muß man sie in Gesellschaft zu Pferde par-
forcireu, was fast eben fo gefährlich und gewiß interessanter
ist, als eine englische Fuchsjagd. Es sind Briten, denen die
Bagdader die aufregendere Art der Schweinehatz verdanken,
doch eine Nachahmung derselben geht über ihren Mnth uud
ihre Leidenschaft. Die Jagdgesellschaft zieht nach einer Nie-
dernng, die von der Sonne gehörig ausgetrocknet ist — ge-
wöhnlich an der Mündung der Djalla in den Tigris —,
übernachtet dort womöglich und beginnt nun am folgenden
Morgen, von den Ufern nach der Wüste zu reitend, ein Treib-
jagen. Jeder Jäger führt eine^ leichte kurze indische Lanze
mit breiter scharfer Klinge. Mit großem Lärm werden nun
die eingekesselten Säue aufgejagt itnb dann in gestrecktem
Galop verfolgt. Das Wildschwein ist ein guter Läufer, aber
es wird bald von dem arabischen Renner eingeholt, und da
es ungelenkig ist und sich seitwärts nicht flink genug wenden
Einblicke in den
kann, gelingt es, dicht heranzureiten, und nun versetzt ihm
der Reiter, indem er an ihm vorübersprengt, einen Lanzen-
stich in den Nacken. Stürzt es, so fangen es die Diener
vollends ab; ist es nur verwundet, so giebt ihm ein anderer
Reiter den Rest. Aus diese Weise werden oft Dutzende an
einem Tage getödtet. Zu Pferde hat man übrigens von
den Thieren selbst wenig zu fürchten, da man ihnen leicht
entgehen kann, aber die Gefahr liegt in dem Ritte selbst.
Es sind die Zufälligkeiten des Bodens, welche dem kühnen
Jäger der Chance, sich den Hals oder Rippen und Knochen
zu brechen, aussetzen, denn in den Vertiefungen, welche die
Wassertümpel zurücklassen, oder in den von den Wildschweinen
ausgewühlten Löchern stürzen leicht Roß und Mann in wil-
dem Jagdeifer. Dennoch ist dies ein schönes männliches
Vergnügen und ein Glanzpunkt in dem einförmigen Leben
des Europäers, der sich in jenen tristen Gegenden aufzuhalten
gezwungen ist. Ich zweifle fast, daß in irgend einenl Lande
der Welt die Wildschweine so häufig find als in Irak, wo
ihnen die schilfbewachsenen Sümpfe eine sichere Zuflucht und
die Trüffeln und Knollen eine reichliche Nahrung bieten.
Ein Engländer trieb von Basra aus sogar Handel mit dem
selbsterlegten und eingesalzenen Fleische nach Bombay und
machte gute Geschäfte. Er soll jährlich an fünfhundert Rüf-
selthiere eigenhändig getödtet haben. Das Fleisch ist sogar
schmackhafter, als dasjenige unseres sich von Eicheln und
Bucheckern nährenden Schwarzwildes.
Das Wild par excellence, dessen Jagd die Eingeborenen
Vergnügen abgewinnen können, ist unstreitig die Dschirrahn
genannte arabische Antilope, von der Größe unseres Rehes,
die in allen Theilen der Ebenen von Mesopotamien und Irak
ungemein häusig ist und anch auf den Hochflächen und nn-
bewaldeten Berglaudfchafteu Auatoliens und Kurdistans in
größeren Herden bis zu 100 Stück und darüber angetroffen
wird. Die Antilope und ihre Abart, die kleinere Gazelle,
sind fchlauke, flüchtige Thiere mit großen, schönen Augen, die
im Orient sprüchwörtlich geworden sind, und scharf gebo-
genen gemfenartigen Hörnern. Jeder Reifende erblickt auf
dem Wege von Bagdad nach Diarbekir fast täglich die sried-
lichen Herden, welche erst erstaunt die vorüberziehende Kara-
wane betrachten und dann, von einem plötzlichen Schrecken
ergriffen, in schnellen Sprüngen hinter den Terrainwellen
verschwinden. Ihr Fleisch wird nicht sehr geschätzt, weil es
mager ist und seine Zubereitung nicht verstanden wird; bratet
man es indeß, gehörig gewürzt und gespickt, so läßt es sich
von dem eben so behandelten des Rehbocks gar nicht unter-
scheiden. Es ist genau so delicat und saftig nnd hat denfel-
ben Wildaesckmack. Der Orientale ist einmal kein Liebhaber
von Wildpret und weiß z. B. mit einem Hasen oder Reb-
Huhn nichts besseres anzufangen , als sie, wie sein Hammel-
fleisch, zu Brei und Fasern zu kochen. Er jagt daher ledig-
lich der Aufregung willen. Die Antilopen mengen sich gern
unter die Schasherden, vielleicht aus Kriegslist, vielleicht aus
Geselligkeit, genug, man kann mit ziemlicher Bestimmtheit
darauf rechnen, wenn welche vorhanden, sie dort in der Nähe
zu finden. Selten werden sie auf dem Anstand geschossen,
sondern entweder mit Hunden oder Falken , auch mit beiden
zugleich gehetzt. Obgleich nun die kurdischen Windhunde große,
gelenkige, seingebaute Thiere sind, die jeden Hasen oder Fuchs,
wenn er sich nicht bei Zeiten versteckt, binnen wenigen Mi-
nuten niederrennen und greifen, fo gehört doch unter ihnen
eine Auswahl von besonders vorzüglichen dazu, welche im
Stande wären, die ausgewachsene Antilope einzuholen. Aber
einzelne, welche die Kenner an ihrem Bau zu unterscheiden
wissen und gut bezahlen, überlaufe» auch den flüchtigsten
alten Bock, der mehr über den Boden zu fliegen als zu sprin-
gen scheint. Dann aber hält das bedrängte Wild plötzlich
smanischen Orient. 188
Stand nnd weist seine spitzen, krummen, eisenharten Hörner den
Hunden , die es mit Wnth chargirt und damit oft gefährlich,
ja tödtlich verwundet, bis ein entschlossener Gegner es glück-
lich an der Kehle Packen und niederreißen kann. Der Jäger
ist natürlich zu Pferde und folgt, doch anch dem besten Ren-
ner gelingt es nicht, mit den Hunden zugleich bei dem Wilde
aufzukommen.
Die Falkenjagd ist fchou ein Luxus, den sich nur Leute
von Vermögen erlauben können und der von Unbemittelten
höchstens als Handwerk in kleinem Maßstabe getrieben wird.
Jeder Falke, ein Thier von geringerer Größe als unser Ha-
bicht, verlangt einen eigenen Wärter und Abrichter, der sich
während der Beize ausschließlich mit ihm beschäftigt. Der
wilde Vogel wird zuerst durch Hunger gezähmt, bis er sich
gewöhnt, auf der Faust seines Herrn nnd nur hier seine Nah-
rang zu nehmen. Dann spricht ihm der Abrichter den gan-
zen Tag über, als ob er arabisch verstände, Schmeicheleien
vor, und streichelt ihm, ihn immer auf der Faust haltend,
das Gefieder. Hat er sich soweit bequemt und sich gemerkt,
wenn man ihm mit einem an einer Stange befestigten Fle-
derwifch ans der Entfernung winkt, auf seinen gewohnten
Sitz zurückzukehren, so fängt man an, die Atzung für ihn auf
den Kopf einer todten Antilope zu binden nnd lehrt ihm hier
sie verzehren. Im Freien behält er immer seine Kappe über
den Augen anf, nimmt man sie ihm aber ab, so muß das
erste, was ihm in die hungrigen Augen fällt, der Antilopen-
köpf mit einer guten Fleischportion sein. Er fliegt von der
behandschuhten Faust darauf zu, fängt an zu schlingen, wird
dann abgenommen und der Rest ihm bei dem Abrichter ge-
geben. So theilt er endlich sein irdisches Sehnen zwischen
diesem und dem Kopfe. Nach den Vorstudien beginnen die
Hebungen in der Wüste an lebendigen Gazellen, von denen
man oft an zwanzig schlachten muß, ehe es gelingt, drei Fal-
ken gehörig zu dressireu. Anfangs bindet man eine mit dem
Fleisch auf dem Kopfe an einer Leine fest und läßt sie etwas
laufen, worauf dem Falken seine Blendung genommen und
versucht wird, ihn zum Angriff zu bewegen; geschieht dies,
so läßt man später die Gazelle auch ohue Lockspeise frei und
tobtet sie, nachdem sie von dem Vogel ergriffen worden. Der-
selbe wird von dem Kopse, an dem er sich sestkrallt, gelöst
und ihm sodann die Lunge des Thieres auf der Faust als
Belohnung gegeben. Dies wiederholt sich zu österm, bis
der Falke feine Lection vollständig inne hat. Dazu gehört
gewöhnlich eine unausgesetzte Dressur von zwanzig Tagen,
binnen welcher Zeit er von einem geschickten Vogler so weit
gebracht werden kann, die Antilope zu jagen.
Der Jäger oder die Jagdgesellschaft reitet nun, das Thier
auf der Faust, von vielleicht zwei vorzüglichen Windhunden
begleitet, in die Steppe, wo er fein Wild zu finden hofft.
Erblickt er eine Herde, so nimmt er rasch dem Vogel die
Kappe ab uud wirft ihn in die Höhe. Der Falke flattert
anf und fchaut um sich, bis er die Antilopen gewahrt; dann
nimmt er, von den verfolgenden Hunden geleitet, feinen
Flug mit einem wilden Schrei, den er von Zeit zu Zeit
pfeifend ausstößt, auf die Flüchtlinge zu. Er steigt zu dem
Ende nicht, wie man sast allgemein fälschlich glaubt, in die
Lüfte nnd stößt plötzlich anf seine Beute herab; — nein, er
verfolgt sie vielmehr kaum vier Fnß über dem Erdboden slie-
gend, holt sie bald ein und klammert sich mit den scharsen
kräftigen Krallen stets vorn im Gesichte fest. Hier sitzt er
nnablöslich, hackt mit dem Schnabel und schlügt mitdenFlü-
geln, bis die von Schmerz gepeinigte und gänzlich geblendete
Antilope mit dem Kopse zu Boden stürzt und hiUflog daliegt.
Mittlerweile sprengt der Jäger heran, macht ihren Leiden ver-
mittelst eines Schnittes durch die Kehle ein Ende, weidet sie aus
und löst den Falken, indem er ihm eine delicatere Mahlzeit
184 Mittheilungen
bietet, als er sie selbst von der magern, seinem Schnabel wi-
derstehenden Kopfhaut abreißen kann. Dann setzt er ihm
die Kappe wieder ans und die Jagd beginnt von Neuem.
Auch der stärkste Bock wird auf diese Weise leicht überwältigt
und zu Fall gebracht, und es gelingt ihm selten, den Falken
durch einen absichtlichen oder zufälligen Stoß seines Hornes
zu verwunden. Die Dressur muß alle Jahre nach der Mau-
serzeit, kurz vor der Jagdsaison in ihrer ganzen Bollständig-
feit wiederholt werden, sonst riskirt mau den Verlust des
Vogels. Auch ist es uöthig, denselben auf jedes zu jageude
Wild besonders abzurichten, was in ähnlicher Weise wie für
die Antilopen geschieht. Zu jeder Wildart benutzt man meist
auch eine eigentümliche Gattung Falken, und zwar bestimmt
mau für Vögel die kleinsten, damit die Beute nicht, ehe sie
der Jäger in Empfang nimmt, zerrissen wird. Die Falken-
jagd steht im höchsten Ansehen in Vorderasien, Persien und
Arabien und ist vorzugsweise ein Privilegium der reichen
Aristokratie. Es läßt sich indeß nicht leugnen, daß sie in
der letzten Zeit sehr in Abnahme gekommen ist; nicht, weil
man weniger Gefallen daran findet, sondern weil die türkische
Regierung die Leute bereits derart ausgesogen hat, daß sich
Niemand mehr dieseu Luxus erlauben kann, ohne sich zu
ruiniren. Manchen hält die Besorgniß zurück als reich au-
gesehen und dann unter irgend einem Vorwand in einen
Proceß verwickelt zu werden, der ihn zu Grunde richten muß.
Von anderen Thieren, die in der Wildniß herumschweifen,
über Venezuela.
ist noch der Dattelmarder, eine schöne ichneumonähnliche
Viverre mit roseurother Schnauze, bemerkenswerth. Er nährt
sich von Datteln und Vögeln uud läßt sich, wie das Frett-
cheu, zur Jagd aus Kaninchen abrichten, ja einige wollen
wissen, daß er es sogar mit dem Fuchse in seiner Höhle auf-
zunehmen im Stande sei. In der Wüste, aber nicht in der
Nähe der Stadt, hält sich der asiatische Strauß, ein eigen-
thümlicher Vogel von der Größe eines Huhnes, aber höher
von Beineu, auf. Er hat nur Flügelstumpfe und ein dun-
keles blaugrünes, dem Kasuar ähnliches Gesieder, dabei aber
einen scharfen, krähenartigen Schnabel. Seine Fußzehen
sind unverhältnißmäßig stark und lang. Er wird in den
Häusern gehalten und amüsirt durch feilte possirlichen Bewe-
gungen. Auch eine gelbbraune, oft über fünf Fuß lauge,
dem amerikanischen Legnan verwandte Eidechse dnrchschweist
jene Einöden. In dem Wasser leben zahlreiche Fische; von
dem Meere steigen die Delphine, die Haie und sogar einige
Robben bis nach Bagdad hinauf. Es ist mir nicht gelnn-
gen, ein Exemplar der letzteren zu Gesicht zu bekommen; in-
deß vermnthe ich, daß sie der sich gern in Flüssen aufhalten-
den Gattung der Seekuh angehören. Einige behaupten, daß
an dem untern Laufe des Tigris und im Schatelarab Kroko-
dile gesehen würden, andere widersprechen dem entschieden
und so will ich denn über ihre Existenz in jenen Gegenden
keine Meinung abgeben; waren welche vorhanden, so dürften
die Dampfer sie zarückgescheucht haben. —
Mittheilungen
Von Fr
Das Soldatenwesen. — Art und Weise
Richten wir nun zum Schluß noch das Auge auf die
Wehrkraft, diese eiserne Pulsader des modernen Staats- und
Völkerlebens. Die Wehrkraft der Republik ist zusammen-
gesetzt aus dem stehenden Heere, der Miliz und der Flotte.
Das stehende Heer bestand in den früheren Friedensjahren
etwa nur aus 1000 Mann, die auf vier Jahre angeworben
und nur zum Schutze der Häfen und Hauptstädte und zur
Sicherung der Zuchthäuser uud Gefängnisse verwendet wnr-
den. Der Militärdespot Monagas brachte das Heer alsbald
auf die Höhe von 5000 Mann, nnd da mit Antritt seiner
Regierung der Landsrieden verschwunden, wie die glückliche
EntWickelung des jungen Staates aus den Fugen gehoben
war, und die Ruhe seitdem nicht mehr zurückgekehrt ist, so
hat, wenn auch wohl keine Erhöhung, doch auch keine Be-
schränkung des gesteigerten Heeranswandes stattgefunden. Der
Kostenanschlag für die 5000 Mann Soldaten betrug 500,000
Pesos, während die Besoldungen einer Menge von activen
und peusiouirten Obersten, Generälen und invaliden Offi-
zieren sich auf 345,000 Pesos beliefen. — Die starken und
schönen Festungswerke der Spanier sind nach Unterdrückung
der Militärrevolution im Jahre 1835 theils demontirt, theils
ganz demolirt; nur iu den Seehäfen stnd noch einige Befe-
stigungen und Batterien erhalten, jedoch in verwahrlostem
Zustande; diese sind unbespauut und werden von der Be-
satzuug selber aufgefahren. Den festesten Platz, überhaupt
über Venezuela.
z Engel.
r Recrutirung. — Wappen und Flagge.
die einzige Festung, bildet jetzt das alte Fort San Carlos
an der Barre von Maracaibo; es ist von mehreren Batterien
guter Geschütze gedeckt, bewacht den einzigen, schmalen Ein-
gang zu dem Hasen und der Stadt Maracaibo und internirt
zugleich die politischen Gefangenen; jedes Schiff kann nur
unter der Mündung seiner Kanonen den innern See von
Maracaibo gewinnen.
Die Eintheiluug des stehenden Heeres in Waffengattuu-
gen, Cadres n. f. w. ist in der Praxis gar nicht dnrchge-
führt; die ganze bewaffnete Macht besteht nur aus dem einen
Heereskörper der Jufauterie, der unorganisirt zusammenge-
rafft nnd bunt durch einander gewürfelt unter einzelne Com-
mandos gestellt wird; Cavallerie und Feldartillerie sind nur
siugirte Heereskörper in den Militärbestimmungen der Eon-
stitntion. Die Flotte ist ganz unbedeutend und zählt nur
einige zur Bewachung der Küsten gegen den Schmuggelhan-
del bestimmte kleine bewaffnete Fahrzeuge.
Zur Wehrpflicht in der Nationalmiliz wird jeder Bürger
— (Bürger ist jeder im Lande von Angehörigen des Staa-
tes geborene Mann vom 18. Lebensjahre, seiner Mündig-
keit, an) — vom 18. bis zum 45. Lebensjahre herangezogen;
sie zerfällt in die active und die Refervemiliz; in Kriegszeiten
soll die erstere 60,000, die letztere 66,000 Mann betragen;
die active Reserve ist verpflichtet, auf Befehl der Executiv-
gewalt oder des Gouverneurs der Provinz unentgeltlich bis
Mittheilungen
zu einem Umkreise von zwei Leguas unter Waffen zu treten,
bei Aufruhr und Kriegszeiten sich aber unbedingt wie das
stehende Heer verwenden zu lassen. Die Reservemiliz soll
nur im äußersten Nothsalle gezwungen werden, ihre Ortschaft
zu verlassen, niemals aber über die Grenzen ihrer Provinz
vorgeschoben werden können; in der activen Verwendung wird
die Miliz besoldet wie das stehende Heer. — Die Miliz wird
an jedem Sonntage einige Stunden in der Kreisortschast
im Dienste der Waffen geübt; indessen wie vom Dienste im
stehenden Heere weiß sich der Mann von Familie und Ver-
mögen auch von dem Dienste in der Miliz zu befreien; die
Familienaristokratie der Creolen fühlt sich entehrt und ver-
letzt durch deu gemeinen Soldatendienst und das Eintreten
in Reihe und Glied; die Begriffe von Ehre und Unehre sind
überhaupt in jenem Volke fo verworren, wie der ganze poli-
tische und gesellschaftliche Verband ohne klares und festes
Gefüge ist. Die Bewaffnung der Milizen erfolgt bei der
Einberufung zum Kriegsdienste; die Uebung in den Waffen
betreibt sie mit hölzernen Gewehren und Jagdflinten.
Die Miliz trägt anch im Kriegsdienste keine Uniform;
das Uniforme in der Uniform des stehenden Heeres reducirt
sich bis aus die gelb-blau-rothe Spitzmütze, das Riemenzeug
und die Waffen; seine übrige Kleidung beschafft der Soldat
aus eigenen Mitteln und nach eigenem Belieben; meistens
näht er sich einige rothe Litzen und Aufschläge auf seine lei-
nene Jacke und Hose, jedoch ganz nach seinen Mitteln und
seinem Gutdünken; Schuhzeug gehört uicht zu seinen Lebens-
bedürsnissen. Die Offiziere tragen Oberrock und Beinkleid
von dunkelblauem Tuche, deu Rock init gelben Knöpfen be-
setzt, ohne Stehkragen und frei aufgeknöpft; ihre Seitenwaffe
ist der Schleppsäbel. Die Offiziere der Miliz kleiden sich
ganz nach eignem Gefchmack und eigner Erfindung und da-
durch erhält solche Truppe oft malerische, romantische uud effect-
volle Lebenszüge. Die mittelalterliche Romantik des Krieges
steht in den unentwickelten südamerikanischen Freistaaten noch
in voller Blüthe; uicht das Uebergewicht der Waffe, die
Tactik, die Gelehrsamkeit, nicht das Massengewicht und die
Colounenwncht entscheidet über den Ausgang des Kampfes,
als vielmehr die persönliche Tapferkeit und Gewandtheit,
Klugheit und Verschlagenheit des Feldherrn, und die Einzel-
kraft fühlt sich noch in dem ganzen elastischen Bewußtsein
ihrer Selbständigkeit; daher hängt von der persönlichen
That, dem persönlichen Mnthe und Talente das Uebergewicht
des einen Gegners über den andern ab. Die Poesie der
Ritterlichkeit, die alte Herrlichkeit der streitbare» Recken und
Degen, der Häuptlinge und Gefolge, die Illusion uud Ro-
mantik' werfen noch ihre grellen Lichter auf die Wahlstätte,
und, noch uicht verblaßt unter der Maschinerie des Krieges,
lenken und reizen sie die müßige und händelsüchtige Jugend
zu dem lustigen Kriegsleben, uud darin gerade liegt ein mäch-
tiger Hebel zu den endlosen Wirren und Unruhen.
Die Miliz ist es, mit welcher die Bürgerkriegs Haupt-
sächlich ausgefochten werden; jeder Eommandant ist eine Art
von Häuptling und Bandenführer, der sich einem neuen Anf-
rühr aus Neigung oder Ehrgeiz, Habsucht und politischem
Fanatismus anschließt, uud zu dem Gefolge untergeordneter
Parteigänger, das sich.um ihn schaart, seine Truppe auf-
greift im Namen des Gesetzes,' wo er mag und kann. Die
Armee ist daher auch nur auf dem Papiere orgauisirt, und
die gesetzlichen Bestimmungen über Dienst und Verwen-
dnng der Miliz kommen in der Praxis kaum zur Geltung.
In Kriegszeiten unterscheidet sich die Aushebuug der Recru-
ten zu dem stehenden Heere wenig von dem Aufgebote der
Miliz; die Aushebung ist hier wie dort eine zwangsweise
und der Milizsoldat wird mit dem Dienstsoldaten in eine
und dieselbe Truppe gesteckt, aus seiner Provinz gezogen und
Globus XIV. Nr. 6. (September 1868.)
über Venezuela. 185
verwendet, wie es der jeweilige Heerführer für gut befindet.
Da sich weder Recrut noch Milizsoldat freiwillig stellt, da
außerdem jede Partei sich die Legitimität der Regierungs-
gewalt und die Verfügung über die bewaffnete Macht des
Staates anmaßt, fo wirbt uud greift eine jede derselben, so
weit ihre factische Gewalt reicht, ihre Truppen aus, wo sie
ihrer habhast werden kann, und hat dauu ein Heer unter den
Fahnen, das auch nicht die leiseste Einteilung zwischen
stehendem Heere und Miliz zuläßt.
Eiue Folge dieser einfachen und periodisch wiederkehren-
den Militärorganisationen ist, daß das lebendige Mate-
rial, aus welchem der Heerkörper zusammengeschweißt wird,
bei dem ersten Alarmsignale der Truppenanshebnngen das
Weite sucht und sich in die Schlupfwinkel der Berge und
Wälder verkriecht. Häuser uud Felder stehen von den kräf-
tigen Männern verlassen, Weiber, Kinder, Kranke und Greise
fristen ein kümmerliches Dasein, der Feldbau verwildert uud
der Flüchtling verbringt die Tage seiner freiwilligen Ver-
bannung in Elend, Angst, Hunger und Nothdurst, wie das
gehetzte Wild, mit welchem er den gleichen Schlupfwinkel
theilt. Die Ortsbehörden werden angehalten, die bestimmte
Zahl von Recruten einzustellen und mit Strafen uud Brand-
schatzungen bedroht, wenn sie dem Gebote nicht nachkommen;
um sich ihrer Haut zu wehren, wird nun die Meuschenhetze
mit allen Maßregeln der Gewalt, der Ueberlistnng und Ver-
folgung betrieben. Die Arme anf den Rücken gebunden und
der Reihe nach hintereinander an ein langes Seil gekoppelt,
ziehen die Opfer des Wildfanges in die Stadt und das Ge-
wahrfam ein. Das nennt man mit dem naivsten Gesichte
eine Recrntirnng im Namen der legitimen Regierung. Das
Gesängnißgebände wird zur Caserne eingerichtet und in den
dunklen engen Räumen, im Hose und in den Galerien wer-
den die zusammengeworfenen Menschenhaufen eingeschlossen,
scharf bewacht, schlecht beköstigt, bewaffnet, eingeübt und an
den Bestimmungsort abgeführt. Dank den unwegsamen Land-
straßen und den unbewohnten Wäldern und Feldern ent-
schlüpft auf deu Märschen wieder eine große Anzahl der ein-
gefangenen Truppen und erkauft sich unter den furchtbarsten
Leiden und Nachstellungen ihre Freiheit, bis sie es gerathen
findet, in ihre Wohnhütten zurückzukehren.
Der Europäer, der unter einem andern Staatsbürger-
rechte und anderen Begriffen von Menschenwerth und Würde
ausgewachsen, kann den Anblick solcher brutalen, aller Men-
schenwürde ins Gesicht schlagenden Conscription der freien
Staaten Südamerikas nicht ohne Abscheu und Erbitterung
ertragen. Dennoch fordert die Gerechtigkeit, seine Entrüstung
nicht zu laut werden zn lassen; eine geordnete, gesetzmäßige
Recruteuaushebuug nnd Heereseinrichtung ist in einem Lande
solcher Culturstufe, solcher physischen Bodenbeschaffenheit, fol-
cher dünnen Bevölkerung und Hülfsmittellosigkeit wie die
südamerikanischen Freistaaten der Gegenwart, geradezu eine
Unmöglichkeit, selbst wenn auch eine einzige Regierung an
Stelle der verschiedenen Parteigruppen eine Armee zu mobi-
lisiren hat. Ferner aber wird ein Land und Volk, das noch
im Kindesalter steht, seine Entwickelnngsphasen nie ohne
Gewaltstöße und ohne die Willkür der Roth durchlaufen;
sehen wir doch auf unferm Welttheile, der sich mit Vorliebe
den Welttheil der Intelligenz und Eivilifation nennt, in sei-
nem vorgeschrittenen Alter ganz-ähnliche, wenn auch unter
dem Nimbus der einheitlichen Gewalt versteckte Schauspiele
ausführen. Den südamerikanischen Völkern aber stehen noch
Perioden und Katastrophen bevor, welche die meisten Staaten
Enropas schon lange überwunden haben.
So wenig militärischer Prunk zum Vorschein kommt,
ebenso wenig ist die Haltung und Bewegung des Soldaten
gedrillt oder nur militärisch straff; jedoch kennt der Soldat
24
186
Robert Schomburgk und seine Reisen in Guyana, am Orinoco, in Hinterindien :c.
die zu seinen Zwecken erforderlichen Waffengriffe und Evo-
lntionen. Die nicht sehr ehrenwerthe Zusammensetzung des
Heeres, das zugleich als eine Unterbringungsanstalt für Ver-
brecher und Uebelberüchtigte dient, nnd die Dürftigkeit seiner
äußern Ausstattung machen es zu einer fast verachteten In-
stitntion. Die Zahl der hohen Offiziere steht in gar keinem
Verhältniß zu der Menge der Truppen; einige hundert Mann
werden oft von mehreren Generälen und einer langen Snite
von Offizieren befehligt. Das ganze untergeordnete Heer-
Wesen, jeder Mangel an militärischem Effecte, die kindischen
Spielen gleichenden Exercitien n. s. w. fordern nur zu leicht
Spott, Gelächter und Verachtung der Fremden heraus, die an
die stolze Erscheinung ihrer vaterländischen Heere gewöhnt sind;
aber sie verleiten auch oft zu einer übertriebenen und uube-
dachten Geringschätzung der wirklichen Kraft, die sich hinter
der zerlumpten, unmartialischen und bunt zusammengewürfel-
ten Truppe versteckt. Ihre große Entbehrungsfähigkeit und
Zähigkeit im Ertragen von allen Mühseligkeiten und elendester
Lebensweise machen diese nniformirten Haufen widerstauds-
fähiger als alle militärische Schulung und Disciplin; ihre
Behendigkeit und Ausdauer in den Guerillakriegen, auf den
schlechten Wegen und in menschenleeren nnd nahrnngslosen
Wildnissen, die Unbeugsamkeit ihres Temperamentes würden
einer fremden Invasion fast unüberwindliche Schwierigkeiten
in den Weg legen, abgesehen von ihrer natürlichen Schutz-
genosseuschaft: dem Klima, der Bodenbeschaffenheit, den Le-
bensmitteln u. f. w. u. s. w., die eine nicht minder' feste
Ringmauer als die steile Cordillere oder die Sumpfufer der
ausmündenden Ströme um das Land ziehen. Die Besetzung
der Häsen erfordert freilich keine Schwierigkeiten, nnd die
Besitznahme der Zollstätten unterbindet die Lebensadern des
Landes, aber vollendet seine Unterwerfung nicht und behaup-
tet seinen Besitz noch weniger.
Der Soldat wird in der Caserne streng bewacht und sogar
hart behandelt; dennoch herrscht zwischen Gemeinen nnd Osfi-
zieren ein unbefangenes Verhältniß in und außer Reihe und
Glied; die Disciplin und strenge Behandlung betrachtet der
Soldat als ein Joch, das der Soldatenberuf ihm auferlegt;
aber er beugt sich nur dem Stande und Berufe, nicht der
Person, — darum glaubt er dem Offizier weiter keinen Re-
fpect schuldig zu sein als seinem Commando zu gehorchen.
Bei vermehrter Truppenaushebung werden alle össent-
lichen Gebäude, sogar auch die Kirchen, in Casernen ver-
wandelt; der Bürger entgeht der Einqnartiernngslast schon
aus dem triftigen Grnnde, daß die in Privathünsern aus-
einandergelegte Mannschaft der Ueberwachung entgehen und
alsbald, wie sie zusammeugebracht, in alle Winde ansein-
anderstieben würde. Große Vorkehrungen zur Casernirnng
der usurpirten Gebäude werden nicht getroffen; die Mann-
schast wird in den leeren Raum eingetrieben und mag sich
darin nach Belieben einrichten. Jeder führt fein kleines
Bündel Wäfche, fein Hüftmesser zc. mit sich, nnd es bleibt
seiner Geschicklichkeit überlassen, sein Lager herzustellen, wenn
er müde ist, und zu schlafen, wie und wann er kann. Viele
der Eingesperrten haben Mutter, Schwestern, Verwandte
oder Freuudiuuen am Orte, die sich ihrer entrissenen Ange-
hörigen nach Kräften annehmen, mit gefüllten Töpfen, Fla-
schen, Schüsseln hin- und hergehen, Strohmatten, Taback,
Thränen und Liebkosungen zutragen und die traurige Lage
ihres Schützlings versüßen, so weit ihr Einfluß reicht.
An einzelnen öffentlichen Gebäuden ziehen Schildwachen
auf, fönst drängt sich die bewaffnete Macht durch keine über-
flüssigen Schaustellungen, Paraden nnd lärmenden Prunk
aus seiner Anspruchslosigkeit der Öffentlichkeit auf. Es
thut aber Jeder wohl daran, auf den Anruf der Wachen zu
achten nnd mit der Antwort: Venezuela! oder: El Gobierno!
nicht zu zögern, denn der Kerl nimmt mit Vergnügen die
Gelegenheit wahr, fein Gewehr einmal abzufeuern.
Das Wappeu der Republik ist ein dreigetheilter Schild;
in dem untern Felde zeigt er ein Pferd, in dem obern rechts
eine Garbe Korn, in dem links kriegerische Embleme, das
Ganze umgeben mit der Devise: Libertad, 19 d. Abril
1810. — 5 d. Julio 1811. — Die Flagge ist drei-
sarbig in horizontalen Simsen, oben gelb, in der Mitte blau
und unten roth. — Das Parteibanner der Centralisten ist
roth, das der Föderalisten gelb.
Robert Schomburgk
und seine Reisen in Guyana, am Orinoco, in Hinterindien ?c.
II.
Wir wollen ein Lebensbild des verewigten Freundes ge-
ben, und da erregt es unser doppeltes Interesse, in seinen
schlichten, anspruchslosen Erzählungen von seinen! Verkehr
mit den Eingeborenen eben so viele Züge seines edlen, lau-
tern, unendlich wohlwollenden Charakters zu finden. Oft
hörte ich von einem jüngernBruder, Richard Schomburgk^)
(der ihn, von der preußischen Regierung dazu beauftragt,
mehrere Jahre als Sammler begleitete), wie seine liebens-
würdige, man möchte sagen kindliche Freundlichkeit ihm die
Herzen Aller, die ihn begleiteten, zugewendet, wie er — wenn-
schon klein und schwächlich — sich doch mit einer ähnlichen
Last beladen habe, wie er seinen Macusis aus die Schultern
legte, wenn nicht zu passireude Fälle eine Ausschiffung nöthig
*) Jetzt Director des botanischen Gartens in Adelaide in Süd-
austragen.
machten, und daß er sicher niemals seine Ration nur um das
Geringste vergrößerte, sobald drohender Mangel eine knap-
pere Einteilung forderte. — Ein Macnsiknabe, der ihm nach
Europa gefolgt war, uud bei feinem Besuch in der Thüringer
Heimath, wie leicht begreiflich, ein Gegenstand allgemeinen
Interesses wurde, hing an ihm mit der kindlichsten Verehrung
und war aufs Tiefste betrübt, wenn ihn einmal , um irgend
einer versäumten Obliegenheit willen", ein mißbilligender Blick
aus den sonst so milden Augen seines Herrn traf.
Wie treulich hält dieser bei seinen schwer erkrankten In-
dianern aus, obwohl sein wissenschaftlicher Eifer ihn jeden
verlorenen Tag brennend empfinden läßt. Er vermag es
nicht, das fromme Vertrauen der angstvollen Mutter zu kräu-
ken, die ihn — den weifen Mann — ihr todtkrankes Kind
anzuschauen bittet, in dem kindlichen Wahn, es müsse da-
durch gesunden. Ein anderes Mal weist er das Geschenk
Robert Schomburgk und seine Reisen in
eines armen verkrüppelten Indianers zurück, — einen wun-
derschönen, seltenen Vogel; es schieu ihm Verbrechen, den
Vereinsamten seines einzigen Freundes zu berauben. Aber
mit tiefer Empörung brandmarkt er die schändliche Hand-
lungsweise jener brasilianischen Beamten, welche unter der
Firma: Freiwillige für die Flotte anzuwerben, ganze india-
nische Dörfer ausrauben, die Hütten verbrennen und die Un-
glücklichen, geknebelt und ohne Ansehen des Alters und Ge-
schlechts — Männer, Greise, Weiber nnd Kinder —, fort-
schleppen, um, nachdem sie die für den Seedienst tauglichen
Männer abgeliefert, alles Uebrige an Sklavenhalter zu ver-
kaufen. Es gelang Schombnrgk's unermüdlichen Bemühuu-
gen, bei dem brasilianischen Gouverneur einen solchen Preß-
gang von 40 Sklaven, unter welchen sich nur 9 Männer
und unter diesen 3 schon über 60 Jahre befanden, während
der Rest aus 13 Weibern und 18 Kindern bestand, seinen
Nänbern abzutreiben und wenigstens die zum Seedienst Un-
fähigen in ihre Heimath zurückbefördern zu fehen.
Bei seiner Rückkehr nach Europa wurde ihm der ehren-
vollste Empfang. Die Königin Victoria von England er-
nannte ihn zum Ritter, König Friedrich Wilhelm IV. erzeigte
ihm vielfache Huld und Gnadenbeweise; von gelehrten Frenn-
den überall — obenan seine alten Gönner Alexander von
Humboldt, Ehrenberg und Andere — wurde er in warmer
Anerkennung seiner Verdienste herzlich willkommen geheißen.
So viele Auszeichnungen ihm aber auch erwieseu wurden
und wie dankbar er sie empfand, so vermochte dies Alles doch
nicht, ihm von der edlen Einfachheit seines Wesens das Ge-
ringste zu rauben.
Nachdem er dem Drange seines Herzens genügt, die alte
Heimath zu begrüßen, die ihm stets ein heller Punkt geblie-
ben war, wie großartig auch immer die Eindrücke gewesen
sein mochten, die er auf seinen Reisen in sich aufgenommen,
ging er nach England zurück, und sich der sernern Ansarbei-
tung des von ihm so reichlich gesammelten Materials wid-
mend, schrieb er hier seine: „History of Barbadoes."
Im August 1848 verließ Schomburgk Europa, das ihm
von der englischen Regierung verliehene Consulat in St.
Domingo zu übernehmen. Dieses Amt, welches große Um-
sicht erforderte, verwaltete er zur völligen Zufriedenheit seiner
Regierung neun Jahre lang. Abgesehen von der Ueberbür-
dung mit ermüdenden Geschäften, hatte er es obenein mit
einer sehr schwierigen Regierung zu thuu, die offenbar anti-
englisch gesinnt war. Er klagt in seinen Briefen aus dama-
liger Zeit, daß der Präsident der Republik, Seftor Baez,
ihn in seinen Haß gegen die Engländer von ganzem Herzen
eingeschlossen zu haben scheine. Nur von intriganten Spa-
niern umgeben nnd aus ihre Gesellschaft angewiesen, sühlte er
oft schmerzlich den Mangel eines Freundes, eines gebildeten
Umganges. Seine einzige Freude nnd Erholung fand er in
feinem wohleingerichteten Garten, in welchem er unter vielen
seltenen Pflanzen vierzig Arten von Rosen — darunter eine
grüne — besaß.
Trotz aller Schwierigkeiten seiner Stellung gelang es
ihm indessen, die Interessen seiner Regierung überall wahr-
zunehmen, was ihm die wärmste Anerkennung Lord Palmer-
ston's eintrug. Inzwischen sing es an auf der Insel selbst
gewaltig zu gähren. Der schwarze Kaiser Fanstin Soulouque
von Haiti drohte den Dominicanern mit Krieg und Belage-
rnng der Hauptstadt und schwur, weder Alter noch Geschlecht
zu schonen. So schlimm wurde es glücklicherweise nicht.
Schomburgk hatte indessen während dieser Unruhen daö Hans
voll von Flüchtlingen jedes Alters und Standes, die eine
Zufluchtsstätte bei ihm suchten, einmal ihrer nicht weniger
als vieruudsechszig. Mit komischem Entsetzen schildert er
Guyana, am Orinoco, in Hinterindien :c. 187
bei dieser Gelegenheit die ihm, dem Unverheirateten, auf-
erlegte Unbequemlichkeit unerhörten Kindergeschreies.
Endlich als die Ruhe im Lande leidlich wieder hergestellt
war, konnte er daran denken, einige Ausflüge in das Innere
der Insel zu machen. Er besuchte unter Anderm die Rni-
nen von Jsabella, der ersten Stadt, welche Colnmbns
gründete; aber leider fand er dieselbe schon arg zerstört, da
man die Steine benutzt hatte, um in der Stadt Porto Plata
Häuser damit zu bauen. Entrüstet über solchen Vandalis-
mus suchte Schomburgk das weitere Abbrechen der von Co-
lumbus erbaueteu Festung Eoncepcion zu verhindern, in-
dem er sich an den Erzbischos, einen würdigen, von ihm sehr
verehrten Mann wandte, welcher auf feine Vorstellungen
denn auch Befehl gab, der Zerstörung Einhalt zu thnn. —
Der Gegenbesuch, den der Erzbischof einige Zeit später, als
er auf einer Wallfahrt begriffen war, mit seiner ganzen Cle-
risei in Pontificalibns, das Kreuz an der Spitze, ihm ab-
stattete, gab den Stockkatholiken der Nachbarschaft nicht wenig
Stoff zur Verwunderung.
Da Schombnrgk nun aber, wie es fchieu, einmal zum
Weltfahrer prädestinirt war, follte sein Geschick nach knrzer
Ruhezeit eine neue Waudeluug erfahren. Er wurde 1857
zum Eonful und Geschäftsträger der englischen Regierung
für Siam ernannt, welchen Posten er wohl vor Allem seiner
außerordentlichen Gewandtheit, sich fremde Sprachen anzn-
eignen, zu verdanken hatte. Glücklich zu Bangkok, der Re-
sidenz Seiner siamesischen Majestät des Königs Major
Prabat Samdet Phra Paramendr Maha Mongknt, ange-
kommen, gewann er während seines siebenjährigen Anfent-
Haltes daselbst mannichfache Gelegenheit, seine interessanten
Studien an Land nnd Leuten fortzusetzen.
Was seine amtliche Ausgabe betrifft, so gelang es ihm
vollständig, die von der englischen Regierung gewünschten
Handelsverträge mit Siam abzuschließen. Auch zwischen
Preußen und diesem Lande vermittelte er eine solche Verbin-
dung, und es war ihm eine besondere Genngthnnng, bei seiner
Rückkehr nach Europa im Jahre 1864 die betreffenden Do-
cumente selbst nach Berlin überbringen zu können.
Seine persönlichen Beziehungen zu dem siamesischen Hose
waren durchaus freundliche nnd gefällige. Der König und
feine Familie beehrten ihn bei verschiedenen Festen und Feier-
lichkeiten mit Einladungen nnd Auszeichnungen aller Art.
So war auch das Photograph, welches er einmal vom Kö-
nige erhielt, von einem eigenhändigen recht hübsch stilisirteu
englischen Briefe begleitet.
*
* *
Ungeachtet Schombnrgk's Gesundheit durch übermäßige
Anstrengungen bereits sehr erschüttert war, unternahm er
doch zwei größere Reisen in das Innere des Landes. Leider
ist es ihm nicht mehr vergönnt gewesen, das hierbei gesam-
melte Material selbst auszuarbeiten; hoffen wir, daß es der
gewandten Feder Robert Seeman's, in dessen Hände das
Schvmbnrgk'sche Tagebuch übergegangen, gelingen mag, die
bedeutendsten wissenschaftlichen Resultate dieser Reise zu ver-
werthen. Wir entnehmen Schombnrgk's Briefen aus
jener Zeit folgende Reifenotizen:
Sir Robert verließ Bangkok am 12. Januar 1859, be-
gleitet von einem der Dolmetscher des Consnlates und zwei
Neffen des Königs, Knaben von 12 bis 14 Jahren, welche
aus Wunsch des zweiten Königs, ihres Vaters, bereits seit
längerer Zeit in seinem Hause gewohnt und die amerikanische
Missionsschule besucht hatten. Die jungen Prinzen machten
ihm durch ihre Strebsamkeit wie durch ihr munteres und
tapferes Verhalten auf der gauzeu Reise viel Freude. Die
Reisenden gingen zuerst den Menam aufwärts. Zwei
188 Robert Schomburgk und seine Reisen in
Kähne des Königs, die Ruderer in königliche Uniformen
gekleidet, waren ihnen zur Verfügung gestellt. Nach 35 Ta-
gen hatten sie jedoch nur 150 englische Meilen zurückgelegt,
da der Fluß sehr seicht war. In Bahaing oder Lahang
(einer Stadt aus der Grenze von Laos nnd Siam) schickte Schom-
burgk die Kähne zurück und setzte die Reise nach Xieugmai
auf Elephanten fort, deren ihm hier 10 mit 200 Mann
Bedeckung gestellt wurden. Auch einige Pferde wurden vor-
sichtshalber mitgenommen, im Fall die Fortschassnng ans
Elephanten sich als zu beschwerlich erweisen sollte. Die Uli-
beqnenilichkeit und Unannehmlichkeit, welche das Reiten auf
Elephanten trotz der bequemen Hawdies oder Palankine ver-
ursacht, ist in der That außerordentlich. Anßer heftigen
Gliederschmerzen leidet auch der Magen ähnlich wie bei der
Seekrankheit; das ungleiche bergige Terrain zwischen Bahaing
und Lagong bis Lampnhn erhöhte das unangenehme Schau-
keln; die große Sicherheit indessen, mit welcher diese merk-
würdigen Geschöpfe selbst die steilsten stufenartigen Wege
hinauf und herunter steigen, beseitigt endlich das nervöse Ge-
fühl, dem im Anfang auch der kräftigste Mensch unterliegt.
In Lagong, der letztgenannten Stadt, eine der Residenzen
der kleinen Lao-Prinzen, welche den König von Siam als
Oberlehnsherrn anerkennen, waren unseren Reisenden außer-
halb der Stadtmauern äußerst bequeme Hütten errichtet; der
Fürst bezeigte ihnen alle erdenklichen Aufmerksamkeiten. Es
ist anzunehmen, daß dieser Empfang sowie die auf den ver-
schiedenen anderen Stationen getroffenen Vorbereitungen auf
Weisung des Königs von Siam geschahen, welcher in aner-
kennenswerther Mumsicenz auch die ganzen Unterhaltnngs-
kosten der Escorte auf sich nahm.
Drei Tagereifen weiter liegt Lampnhn, ebenfalls mit
Mauern umgeben; der District des Fürsten ist jedoch nicht
sehr bedeutend. Von hier führt eine Reihe von Dörfern
eine Tagereise weiter bis Tiengmai. Das Land ist flach
nnd auf das Beste cultivirt, Reisfelder und Gärten sind von
zahlreichen Canälen bewässert. Bedauerlich war für Schom-
bnrgk nur, daß er auf der ganzen Reise weder Blumen noch
Bäume in Blüthe antras; auch gab es nicht so viele Vögel
als er erwartet hatte. Interessant jedoch war es ihm, den
Pfau wild anzutreffen. Dieser ist etwas kleiner als der
in Europa bekannte, der Schwanz aber eben so schön nnd
noch etwas größer.
Xiengmai ist die größte unter den Städten dieser halb
unabhängigen Fürsten. Der König von Siam titnlirt den
letztern Vicekönig. Die Stadt hat drei englische Meilen im
Umfange und ist mit Mauern, die Vorstädte sind mit einer
Art Palissaden umgeben. Der Vicekönig war zu dieser Zeit
in Bangkok; er hatte Schomburgk vor Abreise desselben be-
sncht und ihm die freundschaftlichsten Verheißungen gegeben.
Sein Gouverneur besaß jedoch nicht dieselbe humane Den-
knngsart und machte dem Reisenden ernstliche Schwierigkei-
ten, besonders durch den Versuch, einen englischen Unterthan
festzuhalten, was natürlich nicht zugestanden wurde. Die
Bewohner der Lao-Städte, wie Lagong, Lampnhn, Nengmai,
sind sehr verschieden von den Siamesen. Sie sind besser
gewachsen, und in Hinsicht ihres Teints wetteifern die Frauen
mit Italienerinnen oder Spanierinnen. Die beiden Töchter
des Vicekönigs erregten in Bangkok durch ihre Schönheit
außerordentliches Aufsehen.
Nach zwöls Tagen Aufenthalts verließ Schomburgk Neng-
mai mit einem Gefolge von 160 Mann uud 33 Elephanten.
Man wollte ihm eine größere Escorte aufdringen, da der
Weg durch eine Race wilder Stämme, der rothen Karens,
unsicher sein sollte; er hielt die Anzahl der Leute aber für
ausreichend und wurde auch nicht auffallend beunruhigt. Nach-
dem die Karawane eine Zeitlang die Ufer des Flusses ver-
Guyana, am Orinoco, in Hinterindien ic.
folgt hatte, ging der Weg über eine große Gebirgskette, wo
das Thermometer anf 46 Grad Fahrenheit fiel. Sic kam
dnrch Fichten- und Eichenwälder — ein Anblick, den unser
Reisender lange, lange entbehrt hatte. Am 22. März er-
reichte er glücklich Maulmein und war somit in nächste
Nähe des Golfs von Bengalen gekommen. Die Stadt hat
46,000 Einwohner. Die Straßen sind regelmäßig ansge-
legt und zeichnen sich durch einige recht wohlgebaute Häuser
aus. In sehr pittoresker Lage und Bauart erscheinen die
Pagoden der Buddhisten ans einer Anhöhe. Die Aussicht
von der großen Pagode Kyketalan ist reizend. Man über-
sieht von dort die Stadt am Fuße des Hügels, am rechten
Ufer des Salweiu, welcher von außerordentlicher Breite und
mit Hunderten von Inseln gleichsam übersäet ist. Mar-
taban, die frühere Residenz des Gouverneurs, liegt am an-
dern Ufer des Flusses. Schombnrgk's Wunsch, eine längere
Zeit in Maulmein und seiner malerischen Umgebung zu ver-
weilen, kouute nicht erfüllt werden, da die Regenzeit heran-
rückte, während welcher es für einen Europäer Tollheit sein
würde, durch die Dschengeln (dichte« Wälder) zu reisen. Es
mnßte also eilends zur Rückreise geschritten werden. Nach-
dem er fünf Tage nnter strömendem Regen seinen Weg fort-
gesetzt, bestieg er ein Regierungsdampfboot und erreichte glück-
lich Tavoy, eine Stadt, welche 35 Meilen von der Müll-
düng des gleichnamigen Flusses liegt (14°5' N. 98" 10' O.
v. G.). In Betreff der Einwohnerzahl ist dieselbe nicht mit
Maulmein zu vergleichen. Hier mußten wieder Elephanten
bestiegen werden. Capitän Stevenson, der Depntycommis-
sioner von Tavoy, hatte mit einigen anderen Herren Lust,
die Reise in das Siamesische mitzumachen, doch waren sie
durch den mächtig strömenden Regenfall nach einigen Tagen
gezwungen umzukehren. Schomburgk mit den Seinen hatte
noch während des Uebersteigens der großen Gebirgskette,
welche Tavoy von Siam trennt, alle Unbill des Wetters zu
ertragen; dann aber war ihnen der Himmel zur Fortsetzung
dieser sehr interessanten Gebirgsreise günstig. Am 15. April
erreichten sie den Menam-noi und setzten auf diesem Flusse
in Booten ihre Reise fort. Nachher der Canäle sich bedie-
nend, welche den Menam-noi mit dem Menam verbinden,
kamen sie am 26. April in Bangkok an. Sie hatten wäh-
rend eines Zeitraumes von 4 '/,.> Monat über 1000 englische
Meilen zurückgelegt.
Im Jahre 1863 machte Schomburgk einen kleinern aber
ebenfalls interessanten Ausflug. Nach einer mehrtägigen
Fahrt den Menam aufwärts, darauf einen Nebenfluß ein-
schlagend, erreichte er Tarna. Von hier setzte er auf einenl
Elephanten die Reise bis Prabat fortr wo — wie die Le-
gende erzählt — Buddha seinen Fuß aufsetzte, um mit einem
Schritte die weite Entfernung bis Adam's Pik auf Ceylon
zu übersteigen. Der Eindruck, welcher von dem heiligen
Fuße zurückblieb, ist von einem herrlichen Tempel überbaut,
ein Wallfahrtsort, den der König sowie Tausende seiner Sia-
mesen jährlich einmal, gewöhnlich Ende Januar, besuchen.
Auf dieser Reise traf Schomburgk der Unfall, daß sein
ihm vor langer Zeit vom Könige geschenkter, sehr schöner
Neufundländer Hnnd an plötzlichen Symptomen einer Ver-
giftung starb. Der Hund war ihm außerordentlich ergeben,
er trennte sich weder Tag noch Nacht von ihm, und alle
Welt bewunderte und fürchtete das seltene Thier. Da kurze
Zeit vor seiner Abreise auch sein kleiner reizender Bijon auf
grausame Weife gemordet worden, so erregte der zweite Ver-
lust ein doppelt unangenehmes und trauriges Gefühl in ihm.
Schien es nicht fast, als habe er einen heimlichen Feind, der
ihm nach Leben und Eigenthum trachte? eine Annahme,
die ihm bei der außerordentlichen Ergebenheit seiner Umge-
bnng bisher nie in den Sinn gekommen war. Aller Nach-
Aus all
forschungen ungeachtet, blieb jedoch der boshafte Uebelthäter
verborgen.
Bon Prabat einen andern Nebenfluß des Menam hin-
auffahrend, besuchte er die Tempel und Ruinen von Nack-
buri, welche von einem frühern sehr großartigen Palaste der
siamesischen Könige herrühren. Der jetzige König läßt hier
eine neue Residenz errichten, welche jedoch an Pracht hinter
der frühern zurücksteht.
Schomburgk hatte während seines längjährigen Aufent-
Halts in Bangkok noch die große Freude, den Bau einer pro-
testantischen Kirche — der ersten in Siam — in Angriff
nehmen zu sehen, wozu aus seine Vermittelung der König
den Bauplatz geschenkt hatte.
Zunehmende Kränklichkeit, besonders eine erschreckende
Abnahme des Augenlichts, nöthigte ihn zu schleuniger Heim-
kehr nach Europa. Nach fast fechsuuddreißigjährigem Auf-
enthalte in den Tropen hatte es nur noch des für Europäer
vorzugsweise nachteiligen siamesischen Klimas bedurft, seiue
elastische Constitution zu untergraben. („Hinsichtlich der
Strapazen, welche ich ausstehen kann, bin ich zum Sprüch-
wort geworden!" äußerte er ein Jahrzehnt früher, wenn
man ihn warnen wollte, seiner Kräfte zu schonen.) Mit
tiefer Wehmuth jedoch erfüllte es ihn, feinen Plan, aus der
Rückreise die in Australien lebenden Geschwister zu besuchen,
scheitern zu sehen. Er hatte, obgleich von Allen, die ihm
näher traten, geliebt und geachtet, es doch oft schmerzlich
empfunden, daß er allein im Leben stand, ohne die treue,
durch nichts zu ersetzende Liebe der Familie. Und mit wel-
cher brennenden Sehnsucht harrten die Seinen auf ihn, wie
Erdtheilen. 189
malten sie sich das Wiedersehen des fünfzehn lange Jahre
entbehrten, heißgeliebten Bruders in den rosigsten Farben
aus! Es sollte nicht sein. Die Aerzte erklärten einen ser-
nern Aufenthalt in den Tropenländern für unabweisbar tödt-
lich für ihn.
Er langte im Ottober 1864 nach einer glücklichen Heber-
fahrt in Europa an und begab sich von Hamburg aus nach
Berlin und Leipzig, wo er bei der liebevollen Pflege seiner
Verwandten die gesunkene Lebenskrast wieder gestärkt zu sehen
hoffte. Sein Zustand verschlimmerte sich indessen sichtlich,
eine beabsichtigte Augenoperation konnte zn großer Erschöpfung
wegen nicht mehr unternommen werden. Den Bitten treuer
Freunde nachgebend, vertrauete er sich der Heilanstalt des
Dr. Levinstein in Schöneberg bei Berlin an, welches Asyl
er denn auch lebend nicht wieder verlassen hat.
Mit welcher gottergebenen Geduld er seiue großen Lei-
den ertrug, ja, wie er diese den Blicken der Teilnehmenden
zu verbergen bemüht war, wie er selbst, dem Scherz noch zu-
gäuglich, seine Umgebung zu erheitern suchte, erfüllte Alle,
die feilt Lager umstanden, mit wehmüthiger Bewunderung.
Am 11. März 1865, in einer Nachmittagsstunde, ging
dies vielbewegte, reiche Leben zn Ende; einem von Hamburg
herbeigeeilte« thenren Verwandten war es vorbehalten, ihm
die müden Augen zu schließen.
Alles, was Berlin au gelehrten und wissenschaftlichen
Notabilitäten faßte, folgte trauernd seinem Sarge. Auf dem
Iernsalemer Kirchhofe ist ihm die letzte Ruhestätte bereitet
worden.
Die Heimathserde — nach der er sehnsuchtsvoll ver-
langte — sie sei ihm leicht, sie deckt ein edles Menschenherz!
Aus allen
Die Union-Pacisic-Cisenbahn in Nordamerika. Ein
Berichterstatter der zu St. Louis erscheinenden „Volkszeitung"
giebt Notizen über die Art und Weise, in welcher der Bau die-
ses Schienenweges betrieben wird. — Die Bahn rückt sehr rasch
durch die sogenannte große „amerikanische Wüste" westlich von
Omaha vor. Die Schnelligkeit und zugleich die Solidität, wo-
mit der Bau dieser Bahn ausgeführt wird, sind staunenerregend,
eine Beschreibung des dabei in Anwendung gebrachten Arbeiter-
systems dürfte daher nicht ohne Interesse sein. Die Erdarbeiter
mit Hacke und Schaufel bilden den Bortrab und bereiten aus
Meilen weit das Bahnbett vor; dann folgen die mit Gradirung
und Legung des Geleises beschäftigten Arbeiter, die Construetions-,
Schlaf- und Verpflegungs- (boarding) Züge. Die Waggons der
letzteren sind 80 Fuß lang. Einige der Waggons sind mit Bet-
ten versehen, andere als Speisezimmer, Küchen, Vorrathskammern
und Bureaus eingerichtet. Zur Essenszeit werden die Waggons
bis zum Ende des gelegten Geleises geschoben und die Arbeiter
nehmen ihr Mahl in ihnen ein, Abends wiederum so weit das
Geleis gelegt ist, so daß der Arbeiter am andern Morgen sich
gleich am Anfangspunkte seiner Arbeit befindet, ^ie Unter-
contractoren arbeiten in Seetionen von je zwei Meilen und bei-
nahe 50t) Mann werden an jeder Section beschäftigt, um die
Bahn für die Legung des Geleises vorzubereiten. Die Eon-
structionszüge sind mit Schienen, Verbindungsstücken, «schwellen,
Bolzen, Schienenstühlen und allen sonstigen zur Arbeit nöthigen
Materialien beladen. Mehrere Constructionszüge steheil fort-
während hinter den Verpflegungs- und Schlafwaggons, welche
letztere bei Beginn der Arbeit auf ein Nebengeleis geschoben
werden. Die Schwellen werden durch von Maulthieren gezogene
Erdtheilen.
' Wagen längs der Bahnstrecke vorausgeschickt. Die Schienen
und andere Eisenbahnmaterialien werden auf kleineren Packwagen
bis zum Ende des Geleifes transportirt. An jeder Seite des
Geleises stehen zehn Männer. Einer derselben wirft eine Schiene
vom Wagen herab auf Rollen, drei andere ziehen sie an die
Stelle, wo sie befestigt werden soll. Unterdessen sind die „Stühle"
unter die vorher gelegte Schiene placirt worden. Zwei Män-
ner passen die Schiene in den „Stuhl" der zuletzt gelegten ein,
während das Kopsende derselben von den anderen gehalten wird.
Auf den Ruf des Aufsehers „Nieder" lassen die Arbeiter die
Schiene fallen und so ist auf jeder Seite eine Schiene gelegt,
welche dann mit Bolzen auf den Schwellen befestigt wird; der
Schienenkarren rückt sogleich weiter vor und die Operation be-
ginnt von Neuem. Die Bahn wird dann zwischen und neben
den Schienen mit Kiesel befahren und ist zur Benutzung fertig.
Ist der Schienenkarren leer, so wird er vom Geleise geschafft
und der nächstfolgende beladene nachgeschoben; auf diese Weise
geht es Stunde für Stunde, Tag für Tag fort; alle dreißig
Seeunden wird auf beiden Seiten des Geleises eine
Schiene gelegt, einerlei, unberücksichtigt, ob Regen oder Son-
nenschein. Die Arbeiter sind wohlgemuth und die Contractoren
stets thätig. Gegenwärtig werden innerhalb 24 Stun-
den zwei und eine halbe Meile Bahnstrecke vollendet;
man hofft aber durch neue Einrichtungen von jetzt an vier
Meilen per Tag fertig zu bringen und erwartet mit
Sicherheit, daß die Bahn um Weihnachten bis Salt
Lake Citl), auf eine Distanz von 1051 Meilen von
Omaha und etwa 330 Meilen vom jetzigen Endpunkt
der Bahn, vorgerückt sein wird.
190 Aus allen
Die Werkstätten der Bahn in Omaha bedecken ein Areal
von acht Acres am Missouriufer und sind aus Backsteinen ge-
baut. Sie bestehen aus Maschinen- und Reparaturwerkstätten
Eisengießereien, Waggonfabriken, kurz allen Etablissements zur
Herstellung der beim Eisenbahnbetrieb gebrauchten Artikel. Fast
alle von der Bahn benutzten Waggons — Fracht-, Constructions-
und Passagierwagen — werden dort gebaut und sind denen an-
derer Bahnen völlig gleich. Hier werden Locomotiven und Ma-
schinen reparirt und alle gußeisernen Artikel angefertigt. So
vollständig sind die Werkstätten, daß von der Handkarre bis zur
Locomotive Alles dort construirt werden kann. Die Compagnie
hat bis jetzt noch keine Locomotiven für sich gebaut, wird dies
aber in zwei Jahren thun. Die kürzlich in der Nähe der Linie
entdeckten Jron Mountains liesern das nöthige Eisen. Die be-
wegende Kraft wird durch eine Dampfmaschine von fünfund-
vierzig Pferdekraft erzeugt. Vierhundert Arbeiter, deren Tage-
lohn zwischen 3 Dollars 25 Cents bis 4 Dollars 50 Cents va-
riirt, werden in diesen Werkstätten beschäftigt. Außerdem besitzt
die Compagnie bedeutende Werkstätten längs ihrer Linie in Grand
Island, North Plate, Sydney, Cheyenne und Laramie. Koh-
len wurden amEndpunkte derBahn vorKurzem durch
einen armen Jrländer entdeckt, welcher seinen Anspruch
an einen Speculanten in Omaha für nur zweihundert Dollars
verkaufte. Dieser schloß mit der Compagnie sofort einen Con-
tract auf mehrere Tausend Tonnen ab und öffnete die am Ab-
Hange eines Berges liegenden Kohlenadern. Die Eisenbahn
zahlt ihm 8 Dollars pro Tonne, welche ihm nicht mehr als
2 Dollars kostet. Die Bahn geht von Omaha aus aus eine
Eutsernung von 8 bis 10 Meilen in südlicher, dann in nord-
westlicher Richtung bis Fremont, eine Entfernung von 35
Meilen, wo sie in das Thal des Platteflusses eintritt, längs
des nördlichen Ufers desselben in westlicher Richtung weitergeht
und den nördlichen Arm dieses Flusses 291 Meilen westlich von
Omaha überschreitet. Der Boden in dem Thale ist Alluvial-
boden von sehr fruchtbarer Beschaffenheit, und sind bereits viele
Farmer deshalb nach dort gegangen. Der Ertrag von Wei-
zen pro Acre dieses Landes ist 30 bis 35 Bushel, von Mais
40 bis 56 Bushel. Nach Lone Tree Station, 130 Meilen west-
lich von Omaha, passirt die Bahn eine Strecke von 40 Meilen
über Sandsteppen, auf welchen weder Wasser noch Bäume oder
andere Vegetation sich zeigen und deren Einsamkeit nur durch
Prairiehunde, hier und da durch einen grauen Wolf und durch
den dahinbrausenden Zug belebt wird. Erst bei Fort Kearney
zeigt das Land wieder Spuren von Vegetation.
Forschungen in Grönland. Wir haben mehrmals der
Reise erwähnt, welche E. Whymper während des vorigen Som-
mers unternommen hatte. Seinen Zweck, tief ins Innere vor-
zudringen, konnte er nicht erreichen, und er mußte seine Beob-
achtungen hauptsächlich aus die Küstenstrecke beschränken, nament-
lich auf Bay und Insel Disco, 69° N. Aus seinem Vor-
trage in der British Association geht hervor, daß er dort eine
Menge fossiler Pflanzen sand; er hat dieselben an Oswald Heer
nach Zürich geschickt, also an den richtigen Mann. Die Küste
besteht aus einer Reihenfolge von Hügeln; hinter denselben be-
ginnt sofort ein unbegrenztes Plateau von Gletschereis, das sich
fortwährend durch die Thäler bis ins Meer drängt. In diesem
Eise ist keine Spur von Pflanzenwuchs, kein Kiesel, kein Frag-
ment von Erde zu bemerken. — Die alten Grönländer be-
saßen Werkzeuge nur aus Knochen und Stein; es war gegen
Sitte und Brauch, das Eigenthum eines Verstorbenen zu ge-
brauchen; sie gaben ihm seine Gerätschaften mit ins Grab.
Diese sind dann in Menge ausgefunden worden und zum größten
Theil in die Museen von Kopenhagen gekommen; auch Whymper
hat eine beträchtliche Anzahl derselben mitgebracht. Bei Jakobs-
havn fand er Werkzeuge aus Feuerstein , Hornstein, Chalcedon,
Agat, Jaspis, Bergkrystall, Grünstein, Hornblende und Thon-
schiefer, darunter manche von vortrefflicher Arbeit, die ein gutes
Zeugniß für die Gefchicklichkeit der Eingeborenen ablegt.
Von Seehunden wurden an der Küste fünf verschiedene
Erdth eilen.
Species beobachtet. In manchem Jahre werden 50,000 bis
60,000 Robbenfelle an die Händler verkauft, und im Allgemei-
nen werden mehr als 100,000 Robben an jener Küste geschla-
gen. Die Eingeborenen nähren sich vorzugsweise vom Fleische
derselben. „Wenn die Vertilgung der Seehunde in dem bis-
herigen Maße fortdauert, dann werden sie bald bis auf den letz-
ten ausgerottet sein, und dann wird auch der Grönländer
verschwinden." — Von großer Wichtigkeit für den letztern
sind auch die Hunde, die aber in Folge von Seuchen während
der letztverflossenen Jahre an Zahl ungemein zusammengeschmol-
zen sind. In Jakobshavn fand Whymper kaum ein paar Schlit-
tengespanne. Der Polarbär ist keineswegs so häufig wie man
gewöhnlich glaubt; er geht manchmal weit in die See hinaus,
denn er ist ein vortrefflicher Schwimmer. Seine geographische
Vertheilung ist bemerkenswert!). Man findet ihn nämlich an
der Südspitze Grönlands, am Cap Farewell, dann kommt er
aber an der Westküste nach Norden hinauf nicht mehr vor und
man findet ihn erst nördlich vom 69° N. wieder. Das Horn
des Narwal wird sehr gesucht, denn der Grönländer benutzt
dasselbe als Harpunspitze. Dieses Horn wächst, wenn es abge-
krochen ist, wieder nach; Whymper hat selber sich davon über-
zeugt. Seit einigen Jahren ist das Stück mit mehr als 200
Thalern bezahlt worden; dieser hohe Preis soll daher rühren,
daß in China ein neuer Tempel gebaut werde, bei welchem man
eine große Anzahl Narwalhörner verwende. Die Eidergans
liefert noch immer reichen Ertrag.— DieGesammtzahl der Grön-
länder übersteigt 10,000 Köpfe nicht; davon wohnen etwa 4090.
in den nördlichen, die übrigen in den südlichen Districten. Mehr
als die Hälfte find Mischlinge. An Gestalt sind die Grön-
länder kleiner als die Europäer, theilweise sehr häßlich, doch
mitunter auch ganz hübsch; die Hautfarbe ist, eben der Ver-
Mischung wegen, nicht gleich. Sie sind kurzlebig; nur 11 Pro-
cent werden über 45 Jahre alt, und 60 Jahre gelten für ein sehr
hohes Alter. Bei Hochzeiten und Begräbnissen haben sich viele
dänische Gebräuche eingeschlichen. — Der Grönländer geht nur
höchst ungern auf See und manche lassen sich gar nicht darauf ein.
Sie sind schüchtern, verzagt, und ein finsterer Blick, eine heftige
Bewegung kann sie erschrecken und mit Furcht erfüllen. Man
bemerkt nicht, daß sie Vergnügen oder Mißvergnügen ausdrücken;
selten werden sie ärgerlich; Dank für Geschenke darf man nicht
erwarten; wer etwas hat, muß davon mittheilen; das wird als
selbstverständlich angenommen; es gilt praktische Gütergemeinschaft.
Bemerkenswerth ist die große Abneigung gegen Seife, die
nur beim Abwaschen der Todten angewandt wird. Ehrlichkeit
ist keine Tugend, sondern eine Gewohnheit oder Angewöhnung.
Zum Thiereschießen, Jagd kann man nicht sagen, hat er großen
Hang. Rennthiere sind in manchen Districten völlig verschwun-
den, und auch die Eidergans wird bald selten werden, wenn die
Grönländer fortfahren, sie so rücksichtslos zu behandeln wie sie
jetzt thun. — Man sieht, wie wenig Fortschritte die „Civilisa-
tion" gemacht hat. Ueber die Erfolge der Missionäre, welche
seit Egedes Zeit nuu anderthalb hundert Jahre in Grönland
„arbeiten", sagte Whymper seinem englichen Publicum aus guten
Gründen nichts. Er hat 16 Schädel mitgebracht; die Grön-
länder haben mit den Indianern Amerikas keinerlei Verwandt-
schaft, wohl aber mit den Eskimos, mit denen sie die selb-
ständige Race des Polarmenschen bilden.
Die Hochebene von Barka und die Trümmer der
Stadt Cyrene. In der Gegend, wo einst in den blühenden
Kolonien der Griechen: Cyrene, Berenice und anderen Städten,
ein reiches Culturleben herrschte, weiden arabische Nomaden ihr
Vieh; das Land gehört zu Tripolitanien. Die Hochebene von
Barka, welche durchschnittlich 1500 Fuß Höhe über dem Meere
hat, ist fruchtbar und gut bewässert. Im Jahre 1867 erhielt der
englische Schissscommandeur L. Brine den Auftrag, die afrikanische
Küste von dem alten Berenice (— dem heutigen Bengafi —)
ab nach Osten hin bis zur ägyptischen Grenze nautisch zu unter-
suchen. Er schildert die alten Ruinen und die Nomaden der
Gegenwart. In Cyrene erregten die in den Fels gehauenen
Aus allen
Gräber seine Bewunderung. Kommandeur Percher und der
Jngenieurmajor Smith haben aus den Ruinen prächtige Sculp-
turen ausgegraben, welche an die besten Zeiten der griechischen
Kunst erinnern. Nachdem die Byzantiner aus Nordafrika ver-
drängt worden waren, kamen Beduinen; sie schlugen ihre Zelte
neben christlichen Kirchen und alten Amphitheatern aus. Die
heutigen Nomaden in der Cyrenaica sind keineswegs sanatische
Mohammedaner. Die Bewohner sind Araber, entweder in Ort-
schasten ansässig oder bewaffnete Nomaden oder Viehzüchter. Im
östlichen Theile sind sie, in Folge der Vermischung mit Negerin-
nen und Sklavinnen aus Nubien, nicht mehr reinen Blutes, und
in Bengasi kann man alle möglichen Hautsarben beobachten,
den schlankgewachsenen verhältnißmäßig hellfarbigen Araber, den
dunklen Nubier, den wollhaarigen Neger und dann noch die
verschiedenen Typen, aus welchen die türkische Besatzung besteht.
Das cyrenaische Tafelland fällt auf drei Seiten nach der Wüste
hin ab, auf der vierten zum Meere und besteht aus Kalkstein.
Der Boden ist fruchtbar und in manchen Thälern bietet die
Landschaft einen entzückenden Anblick dar. Cyrene stand aus
dem obern Plateau, das in Terrassen nach der Küste hin sich
senkt. Auf diesen Terrassen halten sich die Beduinen vorzugs-
weise gern aus. Brine fand in ihnen einen viel Hübschern
Menschenschlag als in den Beduinen Syriens. In der Jugend
haben sie eine broncefarbige Haut und ein gutes Benehmen;
mit zunehmendem Alter werden sie dunkler, bekommen eine rauhe
Stimme; sie sind diebisch und verrätherisch. Die Frauen tätto-
wiren das Gesicht und bei einigen Stämmen schlitzen sie auch
den rechten Nasenflügel auf. Die Mütter ziehen ihren
kleinen Töchtern die Unterlippe lang und tättowiren die innere
Seite derselben und auch den Raum zwischen der Lippe und dem
Kinn. Uebrigens halten diese Beduinen auf reines Blut und
bewahren ihre alten Sitten und Gebräuche; Mischlinge kommen
unter ihnen nicht vor. Neger werden zum Feldbau benutzt und
gut behandelt. Im Frühjahr und Herbst ziehen die Beduinen
nach der Strandebene hinab, wo sie nach der Regenzeit die von
den Römern angelegten Wasserbecken gefüllt finden. Ihr Reich-
thum besteht in einigen Kameelen und fehr vielen Ziegen; manche
Familien finden in den vielen Höhlen bequeme Wohnungen und
Viehställe. In den alten Felsengräbern der Stadt Cyrene woh-
nen die Scheichs und andere arabische Häuptlinge. Die bewaff-
neten Nomaden sind sehr gefährlich, insbesondere für die Fremden.
Die Bewohner der Sandwichinseln nehmen fortwäh-
rend schnell an Zahl ab. Der Bischof von Honolulu bemerkt in
einem Bericht an die geographische Gesellschaft zu London, daß
die Eingeborenen sich im Verlauf der letztverflossenen sieben Jahre
um nicht weniger als 3800 Köpfe vermindert haben. Nach der
Zahlung vom December 1867 lebten auf der Eilandgruppe nur
noch 58,765 polynesische Eingeborene; die Zahl der
Fremden stellte sich auf 4194. Die Regierung begünstigt die
Schul- und Erziehungsanftalten für eingeborene Mädchen; aber
das Verhängniß nimmt feinen Gang und es ist mehr als un-
gewiß , ob es gelingen wird, „die Quellen der Entvölkerung zu
verstopfen." — Der Bischof bemerkt, daß aus mehreren Inseln
Korallenbänke in einer Höhe von mehr als 4000 Fuß
über dem Meere gefunden werden. — Ju der Hafenstadt Ho-
nolulu auf Oahu liefen 1867 an fremden Seeschiffen 118 ein;
dabei sind die Walsischfahrer nicht mit gerechnet. Seitdem vom
Januar 1868 eine monatliche Dampferverbindung mit San Fran-
cisco stattfindet, wird sich der Verkehr noch mehr beleben.^
Die früher von uns erwähnten 300 japanischen Kulis sind
im Juli eingetroffen und sofort an die Arbeit gegangen.
Die Geburten u. s. w. in der Colonie Südaustralien.
Der „Globus" hat (—nach der zu Melbourne erscheinenden
„Germania" —) in der neunten Lieferung des dreizehnten Ban-
des S. 288 folgende kurze Bemerkung: „Es ist eine auffallende
Erscheinung, daß in der Colonie Südaustralien die Anzahl der
Geburten seit fünf Jahren successive abgenommen hat."
Dies giebt mir Veranlassung, Ihnen die nachfolgende ge-
Erdtheilen. 191
naue statistische Tabelle über die Geburten, sowie über die Sterbe-
fälle und Heirathen, welche im Verlause der letzten süns Jahre
in der Colonie Südaustralien, welcher ich selber angehöre, statt-
fanden, zur geneigten Veröffentlichung in Ihrer geehrten Zeit-
schrift zu übersenden.
Jahr. Bevölke- rung am I. Ja- nuar. Geb: männ- lich. irten weib- lich. Total. Procent der Bevöl- kerung. Sterbe- fälle. Deren Verhält- niß zur Bevölke- rung.
1863 135,329 3018 2948 5966 4,410 2221 1,642
1864 140,416 3183 3025 6208 4,422 2565 1,828
1865 147,341 3369 3303 6672 4,529 2174 1,476
1866 156,605 3470 3312 6782 4,331 2743 1,756
1867 ' 169,806 3616 3425 7041 4,157 2939 1,731
Diese Tabelle erweist einen absoluten Zuwachs der Gebur-
ten in allen fünf Jahren, dagegen eine relative (d. i. im Ver-
hältniß zur Bevölkerung) Abnahme nur in den beiden Jahren
1866 und 1867. Diese Erscheinung ist indeß mehr zufällig als
auffällig. Der Grund derselben liegt tlzeilweise in den durch
den letzten Ceusus vom 26. März 1866 berichtigten Schätzungen
der Bevölkerung in den Vorjahren, theils in dein Umstände, daß
die freie Immigration auf Kosten der Colonie beschränkt wurde,
und endlich auch in der geringern Anzahl von Heirathen, welche
in diesen beiden Jahren geschlossen wurden.
Folgende Bemerkungen dürften bei diesen Statistiken noch
von besonderm Interesse sein.
Das Durchschnittsverhältniß der Geburten zu den Heirathen
verhält sich wie 1 zu 7, denn die jährliche Zunahme der Gebur-
ten beträgt im Mittel ungefähr 200 und die der Heirathen 1390.
Es sind also sieben Heirathen nöthig, um den Zuwachs eines
Kindes zu erzielen. In England stellt sich dieses Verhältniß
wie 1 zu 16.
Die meisten Geburten ereignen sich in Australien überhaupt
im Frühling, d. h. nach dem antipodischen Gesetze im dritten
Quartal des Jahres, und die geringste Anzahl kommt im ersten
Vierteljahre vor. Aehnlich ist es auch in England, nur daß wir
dort die Jahreszeiten umstellen müssen.
Was das geschlechtliche Verhältniß bei den Geburten an-
langt, so fallen in Südaustralien 105 Knaben auf 100 Mädchen.
In der ganzen Bevölkerung übertrifft die Zahl der männlichen
Individuen die der weiblichen gegenwärtig um reichlich 7000.
In der Sterbeliste begegnen wir auch im letzten Jahre wie-
der der traurigen, leider in ganz Australien constanten Erschei-
nung, daß die Sterblichkeit unter den Kindern jüngsten Alters
eine ganz enorme ist. Es fielen nämlich unter 100 Sterbefällen
immer 53 auf Kinder, welche ihr zweites Lebensjahr noch nicht
vollendet hatten. Es starben im ersten Lebensjahre 1175 und
im zweiten 350 Kinder. Folgende Tabelle über die letzten süns
Jahre bestätigt dieses abnorme Verhältniß.
Jahr. Sterbelifte. Darunter Kinder unter 2 Jahren.
1863 2221 1034
1864 2565 1214 macht durchschnitt-
1865 2174 1041 lich über 50 Pro-
1866 2743 1381 cent.
1867 2939 1525
Die Zahl der Heirathen in den Jahren 1866 und 1867
betrug resp. 1299 und 1379 gegen 1436 in 1865. Es waren
im letzten Jahre 531 der Verheiratheten unter 20 Jahren und
1137 im Alter von 20 bis 25 Jahren.
Ein alter Kolonist Südaustraliens.
Die Bundesbrüder- undBundesschwesterschaft bei den
Südslaven. In dem vortrefflichen und reichhaltigen Werke:
„Serbien, historisch-ethnographische Reisestudien (Leipzig 1868)"
giebt F. Kanitz eine Schilderung dieses „xrodratimstvo und
192
Aus allen Erdtheilen.
xossstriwstvo". Bei den Südslaven gestaltet sich durch die
„Brüderschaft" das zwischen zwei Personen aus freier Wahl ge-
knüpfte Freundschaftsband zu einem von der Kirche geheiligten,
sür das Leben unauflöslichen Bund. Derselbe verpflichtet in
weit höherm Grade als die Blutsverwandtschaft zn gegenseitiger
Treue und Unterstützung. Das Mädchen oder der junge Mann
trifft die Freundeswahl gewöhnlich unter den Jugendgespielen,
am liebsten zur Osterzeit. Hat sich der Freund, die Freundin
bewahrt, so schwört man sich nach Ablauf eines Jahres, zumeist
am zweiten Ostertage, unter Anrufung Gottes und des heiligen
Johannes, Treue und Freundschaft. In manchen Gegenden setzt
man sich dabei einen Weidenkranz aus den Kopf, verbindet sich
zu gegenseitigem Schutze bis zum Tode und läßt wohl auch dem
Bunde durch priesterlichen Segen die höchste Weihe ertheilen.
Die Abschließung solcher Bnndesbrüderschasten reicht bei den
Südslaven weit zurück; sie ist gewiß so alt wie die germanische
Sitte des Ziehbrüderbundes (Foestbrödrlag), welcher ebenso
unauflöslich aneinander kettete, von der Kirche aber schon des-
halb eifrig bekämpft wurde, weil er zur Blutrache verpflichtete.
Der fortgesetzte Kampf, zu welchem sich die serbische Gesannnt-
heit und jeder Einzelne seit der moslemischen Unterjochung ver-
urtheilt sah, mochte das Bedürfniß nach vermehrtem Schutze
und Rächung erlittener Unbilden noch verstärkt haben. Die
serbischen Nationalgesänge verherrlichen Züge der Aufopferung
von Bundesbrüdern, welche an die schönsten Beispiele der Freund-
schast aus classischem Boden erinnern. Die Pflichten, welche der
eingegangene Bund auserlegt, werden nur selten verletzt. Wenn
es doch geschieht, dann übernimmt, nach dem Volksglauben, der
Himmel selbst die Rächung. So läßt das Volkslied einen Mann,
welcher seiner schönen Bundesschwester Ungebühr zumuthete, durch
Blitz aus heiterm Hnnmel tobten.
„Doch, o sieh! gleich führ ein Blitz vom Himmel,
Schlug zu Boden Peter den Bulgaren,
Arg entrüstet aber rief die Jungfrau:
Jeden Helden möge Gott so strafen,
Der da küßt, die ihm von Gott ist Schwester!"
4- * *
— Ueber die Einwanderung in Nordamerika giebt
der Director des statistischen Bureaus in Washington, Hr. Del-
mar, sür das Jahr vom 30. Juni 1367 bis dahin 1868 fol-
gende Ziffern. Es landeten in den Hafen der Vereinigten Staaten
323,749 Köpfe. Davon waren 44,966 Bürger der Vereinigten
Staaten und 5126 Ausländer, welche nicht die Absicht haben, sich
in diesen niederzulassen. Die Zahl der wirklichen Einwanderer
stellt sich demnach auf 273,657 Köpfe. Im Finanzjahr 1366 be-
trug diese Kategorie viel mehr, nämlich 330,705, und 1867 war sie
311,906 Köpfe, was binnen drei Jahren die Gesammtsumme von
916,268 Köpsen ergiebt.
— Das „NewYorker Journal" vom 29. August schreibt:
„Die Verbrecherstatistik in unserer Stadt weist sür die letz-
ten acht Wochen die schauderhafte Thatsache nach, daß in dieser
Zeit 11 Menschen ermordet wurden; es fanden 62 Mord-
anfülle und 20 Selbstmorde statt, der zahllosen kleineren
Verbrechen gar nicht zu gedenken. — Messer und Revolver-
spielen wieder eine Hauptrolle in den täglichen Polizeiberichten.
Seit vergangenem Sonnabend hatten wir 11 Fälle von Ver-
wundungen durch Messerstiche oder Pistolenschüsse und einen Todes-
fall durch Erstechen im Stellwagen zu melden. Das Gesetz ver-
bietet das Tragen von Waffen — mit Ausnahme von Schieß-
Waffen! Es wird wohl noch dahin kommen, daß jeder Bürger
sich zun: wandernden Arsenal oder Kanonenboote wird
machen müssen, um etwaigen Angriffen begegnen zu können.
Die Loafers und Rowdies geben sich nicht einmal die Mühe,
ihre Waffen zu verbergen."
— Die Chinesen halten im Auslande zusammen „wie
Pech und Schwefel", aber sie bilden auch Geheimbünde und ver-
schiedene Clubs, die offene oder geheime Fehde gegen einander
unterhalten. In Californien bilden sie eine Art von Staat im
Staate, in welchem sich mancherlei wunderliche asiatische Dinge
begeben. Bisher sind viele dorthin gewanderte Chinesen in einem
Abhängigkeitsverhältnisse von ihren reicheren Landsleuten ge-
wesen, namentlich solche, welche schon in chinesischen Häfen sich
zu gewissen Arbeiten verpflichtet hatten; solchen Leuten gegen-
über kommen dann, ähnlich wie es in manchen Ländern mit
weißer Bevölkerung der Fall ist, Mißhandlungen vor, die aber
ein besonderes Gepräge haben. Wir finden im „California-De-
mokrat" Folgendes:
„Ein chinesischer Knabe, Namens Ah Sing, der längere
Zeit im Geschäft von Nathaniel Gray beschäftigt gewesen und
sich dort als treu und fleißig bewiesen, wurde am letzten Sonn-
tag Nachmittag, auf Anzeige eines mitleidigen Landsmannes, in
einem Keller in der Commercialftraße, durch grausame BeHand-
lung dem Tode nahe, ausgefunden. So weit wie die Unter-
suchung bis jetzt ergeben, hatte der Knabe an der amerikanischen
Civilisation mehr Geschmack gesunden als an der chinesischen,
sich von seinen Landsleuten mehr entfernt gehalten wie es den
gezopften Machthaber» derselben lieb war, und zuletzt, um ihren
höchsten Zorn zu erregen, seinen Zops abgeschnitten und ameri-
kanische Kleidungsstücke angelegt. Seiner Aussage nach wurde
er am Sonntag Nachmittag, als er in seiner amerikanischen Klei-
dung einen Spaziergang machte, in jenes Haus gelockt, über-
fallen, gebunden und mit Stricken gepeitscht. Der erhaltenen
Nachricht zufolge begab sich die Polizei sogleich an Ort und
Stelle, fand jedoch erst nach langem Suchen das elende Loch
unter dem Seitenwege, *in welches man den Unglücklichen, an
Händen und Füßen gebunden, geworfen hatte. — Der ganze
Keller war voll von chinesischem Gesindel, welches die Polizisten
mit ihren dummen Gesichtern anstierte, und nicht zu wissen
schien, was man von ihnen verlangte. Zwei der Kerle, welche
das Henkerwerk bis sie gestört wurden, vollzogen, sind verhastet
worden, doch bezweifelt man, die Wahrheit von ihnen zu erfah-
reu, da die Macht der großen Compagnien weit reicht.
Es wäre wohl Zeit, daß die Macht diefes asiatischen Staates
im Staate gebrochen würde, von deren Strafsystem ost genug
die von der Bay ans Land geworfenen chinesischen Leichen und
die vielen Krüppel, welche in den Straßen umherkriechen, Zeug-
niß geben."
— In der Nacht vom 18. auf den 19. Juni hat man
in der australischen Kolonie Neusüd Wales nicht weniger als
13 heftige Erdstöße an verschiedenen Orten wahrgenommen.
— Ueber die Eruptionen des Mauna Loa anf Hawaii
erfahren wir jetzt manche Einzelnheiten. Beim ersten Ausbruche
des Vulcans am 20. März zählte man nicht weniger als 190
einzelne Erdstöße und von da an bis zum 23. April dann
noch mehr als 2000! An manchen Stellen der Insel hat der
Boden tiefe Spalten und Risse, in welchen Ortschaften und Men-
schen ihren Untergang fanden. Während der vulcanischen Aus-
brüche hat sich vor der Südküste eine neue Insel gebildet, die
etwa 400 Fuß über den Meeresspiegel emporragt.
— In Neusüdwales ist nun auch bei Bathurst Gold
und am Lachlanflusse, unweit von Cowra im Bezirke Carcoar,
190 Miles von Sydney, Kupfer gefunden worden. — An den
Gilbert Ranges in Queensland hat man neue Goldlager
entdeckt.
— Die Seidenzüchter Europas erhalten jetzt gesunde
Eier aus Californien. Am 21. Juni erhielt ein Handelshaus
in San Francisco vom Züchter Hoag 150 Unzen Seidenraupen,
zu 4 Dollars die Unze. Sie follen bis zum October dort auf-
bewahrt bleiben und dann über Land nach Neuyork und weiter
nach Europa geschickt werden. Der Züchter liefert sie nach Eon-
tract und will diese Industrie ins Große treiben.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vitweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Goldgräber und Indianer in Nordamerika.
Die Karawanenzüge durch die Prairie. — Die Stadt Omaha in Nebraska als Anfangspunkt der großen Prairiebahn. — . Sta-
tionen und neue Ortschaften. — Julesburg und Fort Sedgwick. — Charakter des Prairielandes. — Die Goldentdeckungen in
Colorado und die neuen Grubenörter. — Silber bei Georgetown. — Die Placeres. — Der Gesammtertrag an edelen Me-
tallen. — Die Stämme des Dakotahvolkes. — Zur Kennzeichnung der Prairie-Jndianer.
Wir haben in unserer vorigen Nummer die gegenseitige
Stellung der Weißen und der Indianer geschildert; heute
wollen wir einen Blick auf die neuen Staaten nnd Gebiete
werfen, in welchen die Ansiedler den Büsfel und den rothen
Mann vertreiben, Gold graben, den Acker bestellen und Ort-
schaften in ungezählter Menge gründen. Wie durch einen
Zauberschlag hat die Wüstenei seit Kurzem einen durchaus
veränderten Anblick gewonnen.
Vor etwa dreißig Jahren galt St. Louis am Mississippi
für eine Stadt, die im fernen weiten Westen lag. Als der
Staat Missouri sich mit Ansiedlern füllte, wurde Iudep eu-
deuce, auf der Grenze des heutigen Staates Kansas, ein
Hauptausgangspunkt für die Ochsenkarawanen, welche nach
Neumexico oder überhaupt durch die südlichen Prairien zogen.
Jene aus Iowa schlugen die nördlichere Richtung ein, um
von den sogenannten Council Bluffs aus am Plattefluß
auswärts über Fort Laramie und weiter über den Südpaß
nach Utah und Californien zu gehen. Manches Jahr lang,
Globus XIV. Nr. 7. (Oktober 1868.)
auch nach der Entdeckung der Goldgruben am Westabhange
der Sierra Nevada, blieb die weite Strecke vom Missouri-
ströme bis zum Salzsee nur eine Passagegegend, in wel-
cher einzelne verschanzte Lager der Regierungstruppen und
da und dort ein Handelsfort als feste Wohnsitze vorhanden
waren. Aber seit vor nun etwa zwöls Jahren Kansas eine
beträchtliche Menge von Ansiedlern erhielt, und als bald
nachher am Pikes Peak in Colorado und dann auch in Idaho,
Nevada:c. edle Metalle gefunden wurden, ergoß sich ein ge-
waltiger Einwandererstrom in jene Gegenden; und seitdem
die große Westbahn in Angriff genommen wurde, siud an
derselben in geringen Entfernungen kleinere und größere Ort-
schaften bis tief in die Felsengebirge hinein entstanden. „Auf
je 100 Schienen, die wir legen, kommt ein Hausbau."
Nun ist Omaha in Nebraska ein wichtiger Platz gewor-
den. Vor wenigen Jahren lag es gleichem außerhalb der
Welt; es hatte kaum 3000 Einwohner, von denen viele sich
mit dem Pelzhandel beschäftigten und den Indianern allerlei
1!'
Ii'*:.
194
Goldgräber und Indianer in Nordamerika.
gute und schlechte Waare verkauften. Jetzt, in der Mitte
des Jahres 1868, zählt die nun groß gewordene Stadt mehr
als 20,000 Einwohner und in ihr herrscht ein reges Trei-
ben. Sie erhebt sich am rechten Ufer des Missouri, welcher
von dort aus zu Berg und zu Thal mit Dampfern befahren
wird, und ganz in der Nähe liegt die Mündung des Platte-
flusses. Mit Recht betrachtet man sie als den eigentlichen
Anfangspunkt der Prairiebahn. Ihren Namen hat sie
nach einem Jndianerstamme, dessen Reste in einer Reserva-
tion leben müssen. Die große Bahn zieht schnurgerade nach
Westen und es giebt auf der weiten Welt keine Bodenver-
hältnisse, welche für die Anlage eines Schienenwegs bequemer
wären, als die Prairieregion am Platte; sie ist von der Na-
tur selbst nivellirt worden, und deshalb ist es auch möglich
geworden, den Bau derselben mit wunderbarer Schnelligkeit
zu fördern.
Man legt Schwellen und Schienen mit einem gewissen
Wohlbehagen in die Wüste hinein. Bor einem Monate war
Alles weit und breit nur Grasfläche; dann hatten sich Sta-
tionsgebäude und neben denselben Dörfer gleichsam über
Nacht erhoben. Da kommt man nun vorüber an den Ort-
schasten Snmmit Siding, Papillon, wo die ersten An-
siedler einen großen Schmetterling sanden; Ellhorn, wo sie
ein Elenn tödteten, das sich aus den Felsengebirgen bis da-
hin verirrt hatte. Da ist auch Diamonds, weil man dort
einen schimmernden Stein aufgenommen hatte, und Fre-
mont, welches man zu Ehren des ausgezeichneten Reisen-
den, der als kecker Freibeuter Calisoruieu in Besitz nahm,
so genannt hat. Da ist serner Shell Creek und dann
Colnmbus. Alle diese Ortschaften sucht man auf den Kar-
ten vergeblich; sie sind eben von gestern oder vorgestern.
Unweit von Columbus liegt eine Reservation der
Pahnis-Jndianer, welche sich den Vereinigten Staaten
unterworfen haben. Sie bequemten sich nur ungern zu einem
Wagenzug auf den Prairicn.
seßhaften Leben und baueteu mit Widerwillen Hütten aus
Baumzweigen. Aber ihre Sehnsucht steht nach der Zelt-
Hütte aus Büffelhaut; sie möchten gern wieder in die Weite
schweifen. Ein katholischer Geistlicher giebt sich große Mühe
sie zu bekehren, richtet aber begreiflicherweise gar nichts aus.
Manchmal kommen sie wild aufgeputzt mit Bogen und Pfei-
len nach Omaha.
Der Weg führt über Fort Kearney, einen gegen die
Indianer errichteten Militärposten; dann folgen die Statio-
nen Elm Creek und Plnm Creek, in deren Nähe man-
ches blutige Gefecht stattgesunden hat; weiterhin liegt, 280
Miles westlich von Omaha, Fort Mac Pherson; bis $ort-
hin war schon zu Ende des Jahres 1866. die große Bahn
vollendet. Bei der Station North Platte vereinigen sich
die beiden Hauptarme dieses Flusses. . Immer weiter nach
Westen über Alkali, wo die Erde mit salzigem Ausschlage
bedeckt ist; über Ogallala, wo einst der gleichnamige Stamm
der Sioux hauste, derselbe, welcher jetzt eben wieder unter
Führung des Häuptlings Buutschwauz den Kriegspsad
beschritten hat; dann Big Spring und Julesburg. Wir
erwähnen dieser Stationen, weil sie bald zu Städteu heran-
gewachsen sein werden.
Wie das zugeht, zeigt Jules bürg, wo Simonin am 2.
October 1867 anlangte. Im August war auf jener Stelle
noch keine Menfchenfeele zu erblicken; jetzt waren mehr als
2000 Einwohner vorhanden. Sie handelten mit Waaren
für die Eisenbahnarbeiter, als aber der Schienenweg beinahe
bis nach Ch eyenne (Schayenne) sertig war, zogen viele dort-
hin; denn in vier bis sechs Wochen sollte derselbe bis zu
jenem Punkte vollendet sein, und wenn dann die Fahrgäste
auf dem Dampfwagen ankamen, fanden sie fchon eine fix und
fertige Stadt mit Gasthäusern, Trinkstuben, Spielhöllen,
Magazinen, Telegraphenamt und Postgebäude, natürlich, wie
in Julesburg, Alles leicht aufgezimmert. Im Allgemeinen
taugen diese Menschen so wenig wie die Häuser, aber jene
verrichten nuu einmal die roheste Arbeit der „Civilisation",
Goldgräber und Indianer in Nordamerika.
195
und wenn sie diese gethan haben, treten bessere Leute an ihre
Stelle.
In der Nähe von Julesburg liegt Fort Sedgwick, das
schon 1863 gegen die Schayennes nnd Sioux einen harten
Stand hatte. Es wurde von denselben umzingelt, sie mach-
ten Anstalt es auszuhungern, und am Ende konnte man
ihrer nur durch Kartätscheufeuer Herr werden.
Bis in diese Gegend behält, von Omaha aus, die Prairie
ganz und gar den ihr eigenthümlichen Charakter einer aus-
gedehnten, einförmigen Ebene, aus welcher hier und da einige
hügelartige Anschwellungen des Bodens bemerkbar werden;
sie nehmen sich aus wie versteinerte Wellen. Im Herbst ist
das Gras gelb; die Büffel sind dann gen Süden gezogen,
aber die Antilopen bleiben, gleich dem sogenannten Prairie-
Hunde (Arctomys ludoviciana). Der Biber ist verschwürt-
den oder doch ungemein selten geworden; aber der sogenannte
Prairiewolf, dieser Coyote (Canis latrans), welcher die vica-
rirende Form für den Schakal ist, kommt um so häufiger
vor. Wölfe, Füchfe, Bären und Luchse lassen sich manchmal
ans den Prairien sehen. Nur dann und wann erblickt man
einen Vogel, am öftersten hungerige, heiser kreischende Ra-
ben. Im Frühsommer ist die Steppe einige Monate lang
grün und wegen. des ungemein faftigen Grases ein Para-
dies für das Hornvieh. Baumwuchs kommt nur aus ein-
zelnen Bluffs und am Ufer der Flußläufe vor. Der Gegen-
fatz zu dem Gebirgslande der Rocky Mountains ist ein fchrof-
fer. Diefe bieten in landschaftlicher Beziehung vielfache Ab-
wechfelung dar, und nicht feiten wird das Auge von eigen-
thümlichen Gesteinbildungen überrascht, z. B. von jenen am
Monument Creek in Colorado, und einen prächtigen An-
blick gewährt der Lougs Peak.
Die Entfernung zwischen Jülesburg und Denver beträgt
190 Miles. Die Poststationen aus dieser Strecke waren
überall mit Schießscharten versehen; in den Passagierzim-
Felsbildungen am Monument ^ Creek in Colorado
mern saud Simonin ein wahres Arsenal von geladenen Ne-
volvern und Büchsen. In Colorado war es noch immer
sehr unsicher.
Mit den Goldentdeckungen in diesem Gebiete verhält
es sich folgendermaßen. Mehrfach waren Geognosten in jene
Gegend gekommen, ohne auch nur zu ahnen, daß dieselbe
edle Metalle in sich berge. Die Aussagen der Trappers,
welche das Vorkommen von Gold hartnäckig behaupteten,
ohne jedoch irgend eine Fundstätte genau bezeichnen zu kön-
nen, wurden sür sabelhast erklärt. Da zogen im Jahre
1858 Auswanderer zu Fuß vom Mississippi nach Westen.
Weit hinten in dem damaligen Territorium Kansas, unweit
vom Fuße des Pikes Peak, am Cherry Creek, schlugen
sie ein Lager auf. Ein alter Goldwäfcher auv dem Staate
Georgia wusch zum Zeitvertreib etwas Vand aus und fand
in demselben Goldplättchen; er arbeitete weiter und gewann
mehr. Als die Nachricht von Gold im Cherry Creek in den
atlantischen Staaten bekannt wurde, glaubte anfangs .'-ie-
mand, daß sie wahr sei. Nach und nach wagten sich jedoch
manche Abenteurer dorthin, und als diese in der That reiche
Ausbeute gewannen, machten sich Tausende auf den Weg
nach dem neuen Goldlande, das ohnehin nicht halb fo weit
entfernt war wie Californien; sie baneten Blockhäuser und
bezeichneten das anfangs armselige Dorf stolz als Auraria,
die Goldstadt. In der Nähe derselben entstand dann, als
die Menschenmenge anwuchs, Denver. Es ging in Aura-
ria her wie in allen amerikanischen Grubenorten, in Gol-
den City auch.
. Ein erfahrener Goldgräber, Gregory, zog folgende Schluß-
folgßrung. Wenn Gold am Fuße der Felsengebirge vor-
kommt, so muß es auch iu diesen selber zu gewinnen sein
und zwar in Adern. Er wagte sich ganz allein ins Gebirge
und zog am Clear Creek hinauf, der bei Golden City in den
Südplatte fällt. Auf ungemein beschwerlichen Pfaden durch
die Fels- und Waldwildniß, über Berg und Thal, drang er
muthig vorwärts. An der Stelle, wo jetzt Central City
25*
196 Goldgräber und Im
liegt, fand er eine ungemein ergiebige Ader und seine Mühe
wurde reichlich belohnt. Aber er hatte kaum noch einen Bis-
sen Brot und wurde obendrein von einem Schneesturme über-
fallen. Mit genauer Noth kam er nach Auraria zurück, zog
dort einen Freund ins Vertrauen und ging mit diesem zur
Fundstätte. Beide kehrten buchstäblich mit Gold beladen heim.
Es konnte nicht fehlen, daß die Sache ruchbar wurde,
und bevor ein Jahr verflossen war, standen in dem Thale,
in welchem Gregory seine Entdeckung gemacht hatte, drei
ianer in Nordamerika.
Grubenstädte: Black Hawk, Central City und Nevada,
welche eigentlich eine einzige Ortschaft ausmachen. Sie lie-
gen iu der Thalschlucht des Clear Creek, haben nur eine ein-
zige lange Straße und die Hänser sind an den Berg gelehnt.
Die Höhenzüge waren mit Tannen, Cedern und Pappeln
bestanden; diese sind nun fast überall verschwunden und die
! Abhänge gewähren einen kahlen, traurigen Anblick. Nach
Simonin's Messungen liegt Central City 2600 Meter über
dem Atlantischen Meere. Er fand die Lust sehr leicht und
Ein Sio
spürte das au seinem Athmen, aber sie ist so rein und klar, daß
das Klima im Sommer und tut Herbst vortrefflich genannt
werden kann; dann ist der Himmel stets blau. Im Winter
fällt viel Schnee uud die Külte wird manchmal sehr streng.
Auf der andern Seite des Berges, den man von der
Stadt Nevada aus überschreitet, liegt wieder ein „Minen-
centrum", dessen Placeres bis 1867 reichen Ertrag gaben;
dort findet man die kleine Stadt Idaho mit Mineralqnel-
len. Dort liegt auch Georgetown. Simonin entwarf eine
Skizze dieser Grnbenortschast, welche den Mittelpunkt der
Silberminen bildet; für die Goldgruben ist es Central
City. In Bezug auf Handel und Verkehr hängen alle diese
Ortschaften von Denver ab; doch hat jede von ihnen Zei-
tungen und Banken, Gasthöfe und Kirchen, Waarenmagazine
und wissenschaftliche Vereine.
Die goldführenden Placeres _ liegen, wie fchon bemerkt,
den Wasserläusen entlang; die eigentlichen Minen, ans wel-
chen Gold oder Silber gefördert wird, am Abhänge der Ge-
birge, hoch hinauf bis zu den sogenannten Parks, bewalde-
ten Hochebenen, auf denen man gleichfalls placeres findet.
Goldgräber und Jn5
Sobald die große Westbahn vollendet ist, wird Nord-
amerika recht eigentlich das Land der Mitte aus dem
Erdball sein, namentlich anch eine Durchzugsgegend für einen
beträchtlichen Theil des europäisch-asiatischen Verkehrs. Als
in Folge des großen Secessionskrieges und der Negereman-
cipation die Baumwollenerzeugung um mehr als die Halste
vermindert wurde, gewährte das Petroleum wenigstens theil-
weis einen Ersatz für den Aussall, und heute liefert kein an-
deres Land einen so großen Ertrag an edeln Metallen. Man
ner in Nordamerika. 197
fördert sie in den Apalachen, den Rocky Mountains und der
Sierra Nevada, und immerfort werden neue Lagerstätten ent-
deckt, in Calisornien, Nevada, Colorado, Idaho, Montana,
Arizona. Sie zusammen lieferten 1867, nach den amtlichen
Mittheilungen in der jüngsten Präsidentenbotschast, für etwa
375 Millionen Francs. Davon entfielen auf: Calisornien
125, Nevada 100, Montana 60, Idaho 30, Colorado 25,
Oregon 10, andere Staaten und Gebiete etwa 25 Millionen.
Den großen Straßenzügen und namentlich der Westbahn
Der „Wolf", Häuptling der Mtahs.
entlang dringt unablässig von der atlantischen wie von der
pacisischen Seite her ein Ansiedlerzug nach dem andern vor,
bauet Städte und nimmt das Land in Bejitz. ^ Bald wird
kein Raum mehr für die Indianer vorhanden fem, nicht ein-
mal in den Reservationen, welche man ihnen jetzt anweist.
Das begreisen namentlich die sogenannten Sionx, jene brau-
neu Männer, deren verschiedene Stämme man unter dem
Gesammtnamen Dakotahs zusammenfaßt.
Es traf sich, daß Simon in im October 1867 beim
Fort Laramie eine Bande Sionx fand, welche ihren Lager-
platz etwa drei Miles vom Fort hatte. Das Lager bestand ans
einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Zelt Hütten; wie die-
selben beschaffen sind, ergiebt sich aus der Illustration, welche
wir in der vorigen Nummer mitgetheilt haben. Ueberall
liefen Hunde umher, die nicht bloß als Wächter dienen, son-
dem auch für eine leckere Speise gelten. Der Reisende trat
in einige dieser Zelte. Die Krieger spielten Karte und der
Einsatz bestaud in Bleikugeln. Niemand verzog eine Miene,
Goldgräber und In!
gleichviel ob er gewann oder verlor. Andere spielten das
sogenannte Händespiel, das mit der italienischen Morra einige
Aehnlichkeit hat; die Punkte markirten sie durch Pfeile und
dabei sangen sie; auch wurde aus kupferne Kessel geschlagen.
Die Frauen saßen draußen, verfertigten Mokassins und zeich-
neten Thierfiguren auf Büffelhäute. Mehrere waren auch
damit beschäftigt, dergleichen rohe Häute gar zu machen. Sie
hatten dieselben um Pfühle herumgefpannt, schabten die fetti-
gen und faserigen Theile mit einem scharfen Steine ab und
glätteten dann die Haut mit einem Metallinstrumente; nach-
her wird sie gegerbt und zwar vermittelst des Büffelhirns.
Die Dakotahstämme sind noch jetzt über einen weiten
Raum verbreitet, von Colorado im Süden bis nach Minne-
sota und dem nördlichen Red River, vom Arkansas bis zum
Saskatschewau. Stammverwandt mit ihnen sind auch die
Assinibo in s und am Michigansee, rings von algonkinischen
Stämmen umgeben, die Winnebagos. Die Sionx oder
Dakotahs sind recht eigentlich der Typus eines Prairievolkes,
und Richard Burton, der einen sehr zutreffenden Bericht
über sie gegeben hat, bezeichnet sie entschieden als Wilde. -
Im Jahre 1837 traten sie ihr ganzes Gebiet östlich vom
Mississippi ab; dasselbe bildet nun den Staat Minnesota.
Seitdem haben sie oft in Unterhandlungen mit den Bevoll-
. mächtigten der Bereinigten Staaten gestanden, zuletzt im
^ Juni 1867. Damals wurde ein feierliches Pauwau bei
North Platte gehalten, bei welchem Bnntfchwanz, der große
Häuptling des Stammes der Ogallalas, das Wort geführt hat.
Die Feindseligkeiten waren damals eingestellt, aber zu irgend
einer endgültigen Abmachung kam man nicht. Die Friedens-
commissäre waren anch zu den Banden am obern Missouri
gegangen und dort hatten sie gleichfalls keinen Erfolg. Al-
lerdings hatten sich die Bevollmächtigten der Brules, Uank-
tons, Santes und Ponkas eingefunden, aber den Anträgen
der Weißen setzten sie im August 1867 folgende Forderun-
gen entgegen: Es wird bald Herbst und Winter fein, also
gebt uns Decken und Lebensmittel; wir wollen Büffel fchie-
ßen, also gebt uns Gewehre, Pulver und Kugeln. Ihr ver-
langt, daß wir uns in Reservationen einschließen; das können
und wollen wir nicht. Wir müssen daraus bestehen, daß die
Regierung alle nördlich von Dakotah liegenden Forts räumt
und die dortigen Straßenzüge eingehen läßt. Auch soll sie
alle Arbeiten an der Eifenbahn einstellen, weil diefe unsere
Jagd beeinträchtigen. Mit den Jndianeragenten wollen wir
nichts mehr zu thuu haben; sie sind Betrüger und wir ver-
langen unsere Annuitäten voll und ganz. — Damit war
ACleö gesagt; die Commissäre konnten sich auf die Räumung
der Forts :c. nicht einlassen, und es wird begreiflich, daß
auch jetzt die Sioux auf keine weitere Unterhandlungen ein-
gehen mögen; diese würden auch fruchtlos feiu.
Der Name Dakotah bedeutet Verbündete. Die
Stämme selber bezeichnen sich auch als Oscheti Schako-
wiu, d. h. die Sieben Berathungsfeuer. Der fran-
zöfifche Canadier bezeichnet einen Sioux als Coupe gorge,
Kopfabschneider, weil bei allenPrairiestämmen derSionz.'
pantomimisch dadurch bezeichnet wird, daß man mit der Hand
an der Kehle hinfährt*).
*) Die Dakotahs zerfallen in sieben Hauptbanden: 1) Die Mde-
wankantonwan (oder Minowa Kantongs; pe sind ue Gens du
Lac der Canadier); sie reichten früher von Prairie du Chien des
Francais bis zum Pctersriver, sind jetzt weiter nach Westen gezogen,
gelten für die allertapfersten unter den Siour und haben seit Men-
schengedenken Todfehde mit den F oll es Avoines oder Mcnomo-
nies, welche für die Tapfersten unter den Odschibwäs gelten. Seit
1838 erhalten sie Annuitäten und 1850 zählten sie 2000 Seelen.—
2) Die Wahpekute (Gens des feuilles tirees oder Leas
shooters), westlich vom Des Moines, Canon und Blue Earth River.
Sie waren, Major Pike zufolge (1805 bis 1807), eine Bande von
mer in Nordamerika. 199
Die Dakotahs sind lediglich Jäger rohester Art und auf
einer sehr niedrigen Stufe der Gesittung. Daß einzelne,
welche sich der Weißen nicht erwehren konnten, Mais, Boh-
nen und Kürbisse pflanzen, bedeutet noch keinen Uebergang
zur Civilifation, und anch zum Viehzüchten fehlt ihnen An-
läge und Ruhe. Als die Weißen mit ihnen bekannt wur-
den, lebten sie zumeist in der Quellgegend des Mississippi
und am nördlichen Red river. Nach und nach zogen sie
weiter nach Westen und Südwesten und traten in freund-
liches Verhältnis mit den Schayennes, deren Jagdgründe
zwischen dem Arkansas und dem Platte liegen. Die ver-
bündeten Völker haben einen unbändigen Unabhängigkeits-
sinn uud werden den Weißen noch viel zu schaffen machen.
Ani Ende freilich müssen auch sie unterliegen. Weiter nach
Westen können sie nicht, weil sie dort ans feindliche Völker
stoßen. Im Sommer 1857 hielten alle Stämme eine große
Berathnng; sie verpflichteten sich feierlich, allen Uebergriffen
Flüchtigen, welche ihre Stämme verlassen hatten und theilweise von
denselben ausgestoßen worden waren; 1850 nur etwa 600 Köpfe.—
3) Die Sisitonwan oder Sussitongs; sie jagten früher auf
den weiten Prairien am Mississippi bis zum Raven River, jetzt am
Traverse Lake und am Coteau tes Prairies; etwa 2500 Köpfe. —
4) Die Wahpetonwans. Es sind die Gens des Feuilles;
früher an den kleinen Stromschnellen des Minnesotaflusses, jetzt am
Lac qui parle und am Bigstone River; 1000 bis 1200 Köpfe. Sie
bauen etwas Mais.
Diefe vier Stämme bilden die Mississippi- und Minne-
sota-Sioux. Einige Individuen derselben sind seßhaft geworden
und verkümmern dabei allmälig; die meisten sind wild geblieben und
die Ansiedler im nördlichen Iowa und in Minnesota wissen viel von
ihnen zu erzählen.
5) Die Uanktongs (d. h. Dorf am Ende), auch wohl „die
erste Nation", Wichiyela, genannt. An der Mündung des Big
Siourflufses, zwischen diesem und dem Missouri bis zum Fort Look-
our; 240 Zelthütten oder etwa 2400 Köpfe im Jahre 1851. Zehn Jahre
später sollen sie 360 Zellhütten und 576 Krieger ins Feld gestellt
haben. Sic sind nun arm, weil keine Büffel mehr kommen; der
größte Theil ihres Landes ist ihnen von den Vereinigten Staaten für
eine Kleinigkeit abgekauft worden. — 6) Jhanktonwannas; zwi-
schen dem James und dem Missouri nördlich bis zum Teufelssee;
1852 etwa 6400 Seelen mit 1280 Kriegern; eine Plage für die
Ansiedler in Dakotah. Sie haben viel Verlust durch die Pocken er-
litten. Ihre Unterstämme, deren Namen in den Kriegsberichten dann
und wann vorkommen, sind: die Hunkpatidans, die Pabakse
oder Kopfabschneider und die Kiyuksa, Verächter des Ge-
setzes. — 7) Die Titonwan (Teton, „Dorfder Prairien"), West-
wärts bis zum 106. Meridian; sie bilden mehr als die Hälfte aller
Siourstämme; 1850 noch 1250 Zelthütten oder ungefähr -12,000
Seelen. Sie sind durch Heirathen mit den Schayennes befreundet
und auch mit den Arikaris; mit den Pahnis und Krähen lebten sie
in Fehde, haben sich aber nun mit den letzteren vertragen und gegen
die Weißen mit ihnen gemeinschaftliche Sache gemacht. Alle sind
vortrefflich beritten. Die Titonwans zerfallen in sieben Banden, deren
Namen seit einigen Jahren in den amerikanischen Kriegsberichten oft
genannt werden und die wir auch auf einigen Karten verzeichnet sin-
den. Es sind: a) Die Jlunkpapa, vom Big Schayennefluß bis
zum Uellowstone und westlich bis zu den Black Hills; 365 Zelt-
Hütten, 2900 Seelen, wovon 580 Krieger. — b) Die Sisahapa
oder Schwarzfüße, leben oft mit den vorigen beisammen; 264
Krieger; sehr feindselig gegen die Weißen. — c) Die Jtazipko
oder Sans arc, auch No bows genannt, obwohl sie vortreffliche
Bogenschützen sind; sie schweifen in derselben Gegend umher , wie
die beiden eben genannten Banden; 272 Krieger. — d) Minni-
kanye-wozhipu, „die welche am Wasser pflanzen", zwischen den
Black Hills und dem Platte, 320 Krieger; früher am wenigsten
feindselig gegen die Weißen. — e) Die Ogallalas. Sie werden
gerade jetzt sehr häufig genannt; zu beiden Seiten des Platte bis Fort
Laramie aufwärts, im südwestlichen Nebraska und nordöstlichen Co-
lorado; 1851 hatten sie 460 Zelthütten und 3800 Seelen, wovon
736 Krieger; früher den Weißen nicht gerade sehr feindselig; gegen-
wärtiq ist auch ihnen nicht mehr zu trauen. — t) Die Sichangu
oder Brule's am Niobrarah und White Earth River und vom
Platte bis zum Schayenne, 360 Zelthütten. — s) Die Oohenonpa
oder Zwei-Kessel-Bande, zwischen den anderen Swur zerstreut;
nur etwa 160 Krieger. —
Im Ganzen mögen alle Dakotahs etwa 26,000 bis 30,000 See-
len zählen.
200
Robert Klausnitzer: Deutsche Einwanderer in Rußland.
der Weißen entgegen zu treten und dieselben nöthigenfalls
aus dem Lande zu jagen. Sie werden seitdem begriffen
haben, daß das nicht angeht. Branntwein, Pulver, Blei,
Pocken und Eisenbahnen sind für sie zu mächtig.
Wir geben zum Schlüsse die nachstehende Schilderung
Burtou's. Mit Recht betont derselbe, daß zwischen den
Sioux und den alten, nun erloschenen Jndianervölkern des
Ostens ein scharfer Unterschied zu Tage tritt. Die letzteren
lebten in Wigwams, festen Hütten, nnd in Dörfern, zogen
nur zeitweilig umher und selten weit von Haus, wohin sie
allemal von den Jagd- und Kriegszügen zurückkehrten; sie
trieben etwas Ackerbau und waren nicht beritten. An ihren
Feinden verübten sie Marterqual, aber sie achteten die Keusch-
heit der weiblichen Gefangenen. Das letztere thun die Prairie-
Indianer nicht, sondern verüben namenlose Bestialitäten
gerade an den weißen Frauen. Diese Prairievölker sind uu-
gezähmte und unbezähmbare Wilde, „Wölfe von Weibern
geboren"; Vagabunden, Räuber ohne Gefühl, ausgezeichnete
Reiter, aber nicht viel Werth, wenn sie zu Fuß einen Kampf
bestehen müssen. Sie haben weder Ahnung noch Begriff
von Dankbarkeit, anch nicht, wenn sie jahrelang von weißen
Leuten Wohlthaten genossen haben. Ein Dakotah kann
lange Zeit bei einem Weißen gewohnt haben, von ihm er-
nährt und auch beschenkt worden sein; hinterher wird er dem-
selben Kleider und Pferde stehlen. Wer ihm etwas giebt,
darf sicher sein, noch weiter angebettelt zu werden. Im Bet-
teln und im Stehlen sind sie Meister. Das Weib wird
schlecht behandelt; der Mann sattelt nicht einmal sein Pferd.
Er wird eher zu Grunde gehen und sterben, als sich zu irgend
welcher regelmäßigen Arbeit herbei lassen. Er ist geizig,
rühmt aber die Freigebigkeit, welche er selber niemals übt.—
Wilde solcher Art sind dem Untergange geweiht, sobald
sie auf die Dauer mit den weißen Leuten in Berührung
kommen, und wenn ihnen, wie im Westen Nordamerikas der
Fall ist, die Grundbedingungen ihrer Existenz entzogen wer-
den. Sint ut sunt, aut non sint kann man auch von
diefen uncivilifirbaren Prairievölkern fagen. In hundert
Jahren wird kein Stumpf und kein Stiel mehr von ihnen
übrig sein.
Deutsche Einwanderer in Rußland.
Von Robert Klausnitzer.
In der jüngsten Zeit finden wir wieder eine Menge be-
trübender Nachrichten von Auswanderern, die nach Rußland
verlockt worden und nach Verlauf längerer oder kürzerer Zeit
in der armseligsten Lage nach Deutschland zurückgekehrt sind.
Gewissenlose Agenten verführen im Auftrage russischer Edel-
leute unkundige Landleute, von denen die meisten geradezu
in ihr Verderben rennen. Wir erinnern uns, daß im Früh-
jähr 1867 etwa 150 solcher betrogener Leute nach ihrem
Heimathlande Sachsen zurückkamen; manche ihrer Genossen
waren auf der weiten Rückreise elend verdorben und gestor-
ben. Damals nahm Herr Robert Klausnitzer, der sel-
ber in Rußland begütert war, Veranlassung, den Gegenstand
im Dresdener Verein für Erdkunde zu erörtern. Vor allen
Dingen betonte er, daß die Behörden besser als bisher der
Fall gewesen, das Treiben der für Rußland werbenden Agen-
ten beaufsichtigen und diesen bösen Gesellen das Handwerk
legen sollten. Unser leider am 2. August vorigen Jahres
verstorbener Freund übergab uns damals sein Mcmufcript
zu beliebiger Verwendung, und es ist gerade jetzt an der Zeit,
das Wesentliche aus demselben zu verwenden.
Ich spreche hier nicht von der Auswanderung im Gro-
ßen und Allgemeinen, sondern speciell gegen An Werbungs-
versuche für Privatzwecke in Rußland, dessen innere
Verhältnisse ich ziemlich genau zu kennen glaube, und über
welche ich weiter unten noch Mittheilungen machen werde.
M.eine Meinung geht dahin, daß die bisher angewand-
ten Mittel, den Mißbräuchen vorzubeugen, nicht ausreichen,
sondern daß Gesetz und Behörde energisch eingrei-
fen müssen, wenn analoge Fälle verhütet werden sollen.
Die öffentliche Meinung fürchtend und ihr ausweichend, wird
die Privatfpeculation stets sehr vorsichtig und geheim zu
Werke gehen, und die Sache wird erst dann vor die Oeffent-
lichkeit gelangen, wenn es zu spät ist. Die Leute, welche
auswandern wollen, müssen Pässe ins Ausland von den
betreffenden Behörden erhalten, und bleiben fürs Erste we-
nigstens noch Bürger des Staates, der die Pässe ausstellt.
Wäre es da nicht Pflicht dieser Behörden, den Leuten zuerst
klar zu machen, welchen Verhältnissen, welcher Zu-
kunft sie entgegengehen, ihnen schließlich Pässe ins Ausland
zu diesen Zwecken zu verweigern, und im Fall die Leute
auf ihren freien Willen pochen, ihnen Answandernngspässe
mit Aufgeben des bisherigen Unterthanenverbandes anszu-
stellen, so daß dieselben ihr Heimathsrecht verlieren? Zu die-
fem BeHufe hätten sich die Behörden zunächst an Gesellschaf-
ten wie die unferige zu wenden, um Aufklärungen über die
Verhältnisse der von ihren Landesangehörigen zu betretenden
Länder zu erlangen. Ich für meinen Theil sehe wenigstens
keine andere Möglichkeit, unsere armen unkundigen Lands-
leute vor Unglück und Elend zu schützen.
Schon früher einmal habe ich meine Ansichten über Aus-
Wanderung nach Rußland, d. h. über Auswanderung im
Großen, welche feste Ansiedelung auf Kronsland be-
zweckt, ausgesprochen, und ich behaupte auch jetzt noch, daß
der arbeitsame, tüchtige deutsche Landmann sich und seiner
Familie dort durch Fleiß und Ausdauer eine gesicherte, sor-
genfreie Zukunft auf eigenem Grundbesitz verschaffen kann.
Die vor hundert Jahren an der Wolga, später in Südruß-
land gegründeten Colonien beweisen dies zur Genüge. Ich
selbst habe unter diesen Leuten längere Zeit gelebt, mich von
ihrem theilweise sogar sehr bedeutenden Wohlstande überzeugt
und gefunden, daß sie, bis auf sehr wenige Ausnahmen,
ihrem deutschen Charakter, ihrer Sprache und ihren Sitten
ganz treu geblieben sind. Das Interesse an ihrem alten
Vaterlande ist bei ihnen frisch und warm geblieben, uud es
hat mir stets die größte Freude gemacht, die neugierigen Fra-
gen der Enkel nnd Urenkel der vor hundert Jahren ansge-
wanderten deutschen Landsleute über die heutigen Zustände
und Verhältnisse im alten Vaterlande beantworten zu können.
Solche Zustünde können freilich nur unter dem Schutze und
mit Beihülfe der russischen Regierung geschaffen werden, auch
Robert Klausnitzer: SDeui
muß die Auswanderung in Massen geschehen und auf grö-
ßeren Landstrecken in zusammenhängenden Colonien
concentrirt werden, wenn Nationalcharakter und Sitte auf
die Dauer aufrecht erhalten werden sollen. Einer solchen
Auswanderung kann ich das Wort reden, falls überhaupt
eine Auswanderung nach Rußland stattfinden soll.
Ganz anders stellen sich aber die „Colonisationsversuche"
für Privatzwecke heraus, die seitAufhebnng derLeib-
eigensch ast in Rußland gemacht worden find, und zu denen
die neuesten Erfahrnugen «inen neuen traurigen Commentar
liefern. Der frühere Leibeigene in Rußland war für
den Grundbesitzer das Arbeitscapital, welches dem todten
Grundbesitz Werth gab. Erst seit der Regierung des Kai-
sers Nikolaus wurde der Leibeigene an die Scholle ge-
bunden, d. h. er durfte nicht mehr ohne das Land verkauft
werden, wie das früher vielfach der Fall war. So sind mir
noch ans der Mitte der dreißiger Jahre Fälle erinnerlich,
daß hübsche Mädchen oder tüchtige Kutscher gegen Hunde
und Pferde von Bekannten und Nachbaren ansgetaufcht wur-
deu, daß also ein einzelnes Glied aus der Familie heraus-
gerissen wurde. Solche Fälle konnten früher stattfinden,
wenn sie anch vereinzelt vorkamen, und erst das oben ge-
nannte Gesetz, welches unter der Regierung des Kaisers Ni-
kolans erlassen wurde, steuerte diesem Unsng. Im Uebrigen
blieb aber der Leibeigene stets der absoluten Willkür seines
Herrn unterworfen, fo daß die befähigtsten, tüchtigsten Men-
schen, welche heute uoch bedeutende Stellen in der Gntsver-
waltung oder anderswo eingenommen hatten, morgen nach
Belieben des Herrn zu den niedrigsten Diensten verwandt
werden konnten. Ich selbst bin mit mehreren Leuten dieser
Art zusammengekommen, welche von Jugend an in Peters-
bürg oder Moskau ausgebildet worden waren (freilich nur
im Interesse des Herrn), die ihre Lage vollständig erkannten,
und sich eines schönen Tages durch die Laune oder die Leiden-
schast des Herrn zn den niedrigsten, ich will nicht sagen ent-
ehrenden Dienstleistungen herabgewürdigt sahen. Der Eine
war ein tüchtiger Musiker, der Andere ein Feldmesser und
Zeichner. Aus Verzweiflung ergaben sich Beide dem Trunk
und sind wahrscheinlich darin anch untergegangen.
Das gewöhnlichste Erpressnngssy'stem des geizigen
und schlechten Grundherrn der Leibeigenen, besonders dem
wohlhabenden Bauer gegenüber, war und blieb bis in die
letzte Zeit das Recrntirnngssystein. Nach dem frühern
Systeme schrieb die Krone ans 1000 männliche „Seelen"
je 4, 3, 6 bis 7 Recruteu aus. Die Stellung tüchtiger,
brauchbarer Leute fiel dem Grundbesitzer ganz allein zu, der
im Falle, daß mehrere der Gestellten untüchtig befunden
wurden, immer die doppelte Anzahl einfangen ließ. Ge-
wohnlich wurden die schlechtesten, nnbrauchbarsteu Subjecte
ausgewählt, es stand jedoch dem Gutsherrn ganz srei, auch
die Söhne der reichsten und ordentlichsten Bauern zu nehmen,
die dann ihre Söhne bei dem Grundherrn gewöhnlich für
mehr oder weniger bedeutende Summen loskauften und für
welche audere Unbemittelte oder Lüderliche genommen wur-
deu. Ein Gefetz gegen diefen Unfug gab es bis zur Aus-
Hebung der Leibeigenschaft nicht, und wenn auch nur der
kleinste Theil der Grundbesitzer auf diese empörende Art ge-
gen Menschengefühl und Menschenrecht verfuhr, fo konnte
doch jeder es thun, ohne gesetzlich daran gehindert zu
werden.
Die Lage des leibeigenen Bauern war demnach ganz da-
von abhängig, ob er einen guten oder schlechteu Herrn hatte.
— Das Arbeitsverhältuiß und die Leistungen des
Bauern seinem Herrn gegenüber waren zweifach; das
Obroksystem, wo der Bauer für ein gewisses Stück Land,
welches je nach der verschiedenen Größe der Besitzung 4 bis
Globus XIV. Nr. 7. (October 1868.)
che Einwanderer in Rußland. 201
6, in seltenen Fällen mehr Dessätinen (zu 4 Morgen preu-
ßisch) betrug, einen jährlichen Zins von gewöhnlich 60 bis
80 Rubel Bauco an Geld zahlte, und dafür von allen Dienst-
leistnngen auf herrschaftlichen Feldern befreit war, und das
Barfchtschinasystem, wo der Bauer an Geldesstatt für
das Stück Land 3 Spanntage mit einem Pferde und 3 Hand-
arbeitstage wöchentlich dem Gutsherrn arbeitete. Diese Ar-
beitszeit war gesetzlich bestimmt, aber wie oft und in wie
vielen Fällen ist sie willkürlich überschritten worden! —
Auf vielen großen Besitzungen war das Obroksystem allein
in Anwendung gebracht, und alles Ackerland den Bauern sür
Geldzins abgegeben. Die zur Bearbeitung des Landes nicht
nöthigen männlichen Mitglieder der Familie wurden mit
Pässen der Gutsverwaltung versehen und giugeu als Maurer,
Zimmerleute, Gerber :c. auf Arbeit in die verschiedenen auch
weit entlegenen Gouvernements, verdienten dort Geld und
schickten jährlich au die Gutsverwaltung ihren Obrok oder
Geldzins ein, worans ihnen von Neuem jährliche Pässe aus-
gestellt wurden. Ich kenne Fälle, daß derartige Leute in
10 bis 12 Jahren nicht nach Hause gekommen waren. Aus
diesen Bauern geht auch der so bedeutend reiche russische
Kaufmauusstaud hervor, unter dem es vor der Emaucipation
manche gab, die Millionen im Besitz hatten und ihrem Herrn
dennoch nur ihre 60 bis 80 Rubel Obrok jährlich zahlten.
Dieses wahrhaft väterliche System sand jedoch nur auf den
wenigsten Landgütern statt, nur da, wo der Besitz sehr aus-
gedehnt und der sehr reiche Besitzer, gewöhnlich ans alter
Adelsfamilie, sich selbst nicht mit der Landwirtschaft abgeben
wollte. Oester kam das gemischte System vor, wo der
reichere Theil der Bauern Obrok oder Geldzins bezahlte, der
ärmere oder derjenige, der mit dem Geldzins im Rückstände
blieb, jedoch dem Barfchtschinasystem zugetheilt wurde und
auf den herrschaftlichen Feldern die obengenannten fechs Ar-
beitstage wöchentlich leistete. Am häufigsten und fast durch-
schnittlich auf den kleineren Gütern, die gewöhnlich vom Be-
fitzer selbst bewohnt nnd bewirtschaftet wurden, fand das
letzte System allein Anwendung, und mit seltenen Ansnah-
men saud bei demselben Willkür und Ueberbürdung der Bauern
am häufigsten statt. Zur Ehre vieler Grundbesitzer muß ich
erwähnen, daß sie ihre Leibeigenen gerecht und wirklich Väter-
lich-patriarchalisch behandelten, und daß der Bauer dankbar
dafür sein kann, möge ein Fall beweisen, der mir noch ganz
lebhaft erinnerlich ist. Ein Gutsbesitzer im Gouveruement
Saratow, Bntnrlin, dessen Verwalter, einen Deutschen, ich
genau kannte, war durch Verhältnisse gezwungen, eins seiner
Güter, welches vielleicht schon Jahrhunderte im Besitz seiner
Familie war, verkaufen zu müssen. Die Bauern hörten
davon uud baten-ihn inständig, sie keinem andern Herrn zu
verkaufen. Buturliu setzte ihnen die Notwendigkeit des Ver-
kaufs aus einander, worauf die Bauern, welche dnrch gute,
ehrliche Verwaltung in gutem Zustande waren, sich entschlos-
seil, aus eigenen Mitteln die Schnld ihres Herrn zu bezahlen,
„damit sie ihren guten Herrn behalten könnten".
Leider stehen solche Thatsachen nur vereinzelt in der Ge-
schichte der Leibeigenschaft da, denn im Großen uud Ganzen
war der Zustand des Leibeigenen unerträglich und wurde
von Jahr zu Jahr unhaltbarer, je mehr und öfter der Leib-
eigene mit freien Menschen zusammenkam und von denselben
hörte. Schon unter der Regierung des Kaisers Nikolaus
wurde mehrfach der Versuch angeregt, den Bauern in Gou-
vernementsgruppen die Freiheit zu geben, aber diese Ent-
würse scheiterten stets an dem starren Widerspruch des ge-
sammten Adels. Nur erst unserer Zeit und dem festen Wil-
len des Kaisers Alexander II. war es beschieden, diese für
Rußland fo tief eingreifende Maßregel durchgeführt zu sehen.
Obgleich längst ventilirt und vorbereitet, trat die wirk-
26
202 Theophilus Hahn: Ein Racenkampf ii
liche Emancipation des Leibeigenen unerwartet an den Grund-
besitz er heran. Mit sehr wenigen Ausnahmen hatte der-
selbe das Einkommen seines Besitzes, also die Summe seines
lebenden und tobten Capitals, jährlich auch verzehrt, und
wenig oder nichts gethan, sich ein Betriebs- und Arbeits-
inventar zu schaffen, um die ihm gebliebenen immer noch
bedeutenden Ländereien nutzbringend zu verwerthen. Dem
freigewordenen Bauer, der bis jetzt noch sehr wenig Bedürf-
nisse kennt, genügten die Erträge des ihm für immer zuge-
theilteu Landes, und das frühere Verhalten des Herrn gegen
seine Leibeigenen ergiebt sich jetzt am klarsten aus der mehr
oder weniger ersichtlichen Nichtbereitwilligkeit des frei-
gewordenen Bauers, gegen gutes Geld für seinen frühern
Herrn zu arbeiten. Todtliegen des Grundbesitzes, verrin-
gerte Bodeuproduction, schwacher Export der Bodenerzeugnisse
nach dem Auslande, also schlechter Stand der Finanzen war
die erste Folge davon, die zweite: Verarmung des Grund-
besitzers uud schließlich Concnrs. Man muß in den offi-
ciellen Zeitungen Nußlands der letzten Jahre über Ankün-
dignng von Zwangsverkänfen Einsicht haben, um sich einen
Begriff von dem Herunterkommen des Grundbesitzes im All-
gemeinen zu machen.
Seitdem die Emancipation eingetreten und deren Folgen
so ties in das Leben des Grundbesitzes eingegriffen, hat man
nun angefangen, freie deutsche Arbeiter an die Stelle der
früheren, ich will nicht sagen Sklaven, doch Leibeigenen
herbeizuziehen. Gerade der früher schlechteste Herr, für
den die jetzt freigelassenen Bauern schon aus langjährigem
Haß nicht arbeiten wollen, bedarf dieser Arbeiter am noth-
wendigsten und macht unseren unkundigen armen Landleuteu
Anerbieten, die ihnen, nach ihren hiesigen Verhältnissen be-
urtheilt, äußerst günstig erscheinen. Er erbietet sich, neben
dem vielleicht contractlich festgestellten Tagelohn, den Leuten
Wohnung, Nahrung gegen spätere Rückzahlung fürs erste
Jahr, auch ein Stück Land zu gebeu, welches ihnen während
nordwestlichen Theile der Cap-Region.
der Dauer ihres Bleibens bei ihm unentgeltlich zum eigenen
Gebrauch abgetreten wird. Wie viel oder wie wenig sich
schon beim Antritt der Leute von diesen Versprechungen erfüllt,
ist uugewiß; daß aber die Leute, bei eintretender Krankheit,
Untüchtigkeit oder Arbeitsunfähigkeit wie eine verbrauchte
Sache in die unbekannte Fremde hinausgestoßen, ihnen jed-
wede Hülfe versagt wird und sie somit dem Elend verfallen
müssen, das steht fest; alle bisherigen Erfahrungen zeugen dafür.
Der erst vor Kurzem freigewordene Bauer wird deu freien,
ohnehin ausländischen Mann, der sich aus freiem eigenen
Willen an seine frühere Stelle stellt, nur mit höchster Ver-
achtung betrachten und ihm die Stellung eines Pariah an-
weisen. Wo nnd bei wem will der auf diese Art verlockte
Deutsche, der im fremden Lande weder Sprache noch Gesetze
kennt, Schutz und Hülfe finden, wenn er deren bedarf? Ver-
rathen und verkauft wird er sich fühlen, so lange er im Dienste
seines Herrn steht, verlassen und verzweifelt, wenn ihn dieser
nicht mehr gebrauchen kann oder will. Jedenfalls ist der
deutsche Ackerbauer auch im günstigsten Falle, wenn er ver-
einzelt dasteht, wie das bei diesen Privatspecnlationen stets
der Fall ist, für Vaterland und Nationalität verloren, uud
ich sehe nicht ein, warum eine Landesregierung nicht befugt
sein sollte, ähnlichen Menschenhandel anch durch ener-
gische Maßregeln möglichst zu verhindern. Die Ueberbleib-
sel solcher Privatspeculatiouen, die dem Mutterlande ans der
Fremde wieder zugeschobeu werden, können nie mehr tüchtige
Mitglieder des Staates nnd der Gemeinde werden; sie sind
gebrochen. Also das Messer an die Wurzel des Nebels ge-
legt, wenn die Operation auch etwas derb und rücksichtslos
erscheinen sollte! Mit Warnungen und mit Humanität in
Glacsehandschnhen kommen wir diesem Uebel eben nicht bei.
Daß ich hier nicht von Handel- und Gewerbtreibeudeu
rede, die in Rußland ein weites und oft fruchtbares Feld für
ihre Thätigkcit finden, versteht sich von selber.
Ein Racenkampf im nordwestlichen Theile der Cap - Region *).
Ein Bild aus dem Völkerleben Südwest-Afrikas von Theophilus Hahn.
Wer einmal eine Cnltnrgefchichte der südafrikanischen Co-
lonien schreiben sollte und dem es an einem passenden Motto
dafür gebricht, möchten wir jenes Wort des Dichters als sehr
geeignet empfehlen:
Das ist der Fluch der bösen That,
Daß sie fortwirkend Böses muß gebären.
Ein schauerlich-tragisches Wort, aber durch die historischen
Thatsachen in seiner ganzen Conseqnenz bestätigt. Denn seit
') Wir empfehlen dem geneigten Leser bei der Lectüre dieses Ar-
tikels entweder Stieler's Handatlas Nr. 45 d., „das Capland nebst den
südafrikanischen Freistaaten", oder die ausgezeichneten Karten 9 und 10
in Grundemann's „Allgem. Missions-Atlas", 1. Abth. 2. Liefer.
Der Ausrottungskrieg zwischen den Hereros (d. h. Damaras) und
den Nama (Namaqua-Hottentoten), also den 6-chieferschwarzen und
den Gelben, ist in hohem Grade charakteristisch. Von den Missio-
nären ist derselbe, wie sich nach dem befangenen Standpunkte die-
fer Leute nicht anders erwarten läßt, sehr einseitig nnd fragmentarisch
dargestellt worden; auch werden in den Missionsberichten manche Dinge,
welche zur Orientirung sehr wesentlich sind, mit Schweigen Übergan-
jenem Tage, wo der weiße Mann mit seinem Fuße die Küste
Südafrikas betrat und feine unersättlichen Hände nach Gut
und Land der Eingeborenen ausstreckte, ist noch kein Frieden
gewesen und auch keiner zu erwarten, als bis der Weiße den
Braunen, wie anderwärts, verdrängt oder völlig zertreten
hat. Man thnt dies direct, indem man mit Absicht und
Ueberlegung die Ausrottung betreibt durch förmliche „Com-
mandos" und Treibjagden, oder indirect durch das rein
äußerliche böse Beispiel. Man hetzt die Leute aneinander,
gen. Schon deshalb und im Interesse der geschichtlichen Wahrheit ist
es wichtig, die Verhältnisse in ihrem Zusammenhange dargestellt
zu sehen von einem Manne, der ein geborener Südafrikaner und
mit Land und Leuten bekannt ist. Das Treiben der Missionäre, An-
dersson's, Green's und Galton's, erscheint hier in einem sehr unvor-
theilhasten Lichte; wir kennen aber Herrn Theophilus Hahn und
wissen, daß es ihm lediglich um die Wahrheit zu thnn ist; er ist ein
Feind des Humbugs, der gerade in Bezug auf die südafrikanischen
Angelegenheiten eine io große Rolle spielt und so viel Salbung zum
Besten giebt. A.
Theophilus Hahn: Ein Racenkampf ii
sich in Stammesfehden zu zerreißen, wie jetzt in Abyssinien,
oder mit den Nachbaren einen Krieg bis aufs Messer zu
führen, und, wie man selbst ausgeplündert ist, wieder jene
auszurauben.
Zuerst haben die Holländer das Cap in Besitz genom-
men und recht systematisch die Ausrottung der Hot-
tentoten betrieben; nach ihnen kamen die Engländer.
Allein wer da glaubt, der philanthropische John Bull habe
dieser Metzelei ein Ende gemacht, ist in crassem Irrthum be-
fangen; rückt doch der Mann, dem die Eingeborenen eine
endliche Erleichterung ihrer Lage verdankten, in seinem be-
rühmten Researches in South Africa, illustrating tbe
civil, moral and religious condition of the native
tribes — wir meinen Dr. Philip — der eigenen engli-
schen Regierung vor, wie das verruchte Commandosystem
unter ihren Augen ärger dominirt hätte denn je!
Diejenigen Hottentoten nun, die dem Verderben entkamen,
hatten genug gelernt, um in gleicher Weise gegen andere
Völker zu verfahren. Der jetzige Racenkampf zwischen
Namas und Hereros belegt das Gesagte ganz eclatant
und liefert einmal wieder den Beweis, daß die „civilisirten"
Völker bis jetzt noch wenig segensreich ans die „Naturvölker"
eingewirkt haben. Dies ist in unserer Civilisation der faule
Fleck, der noch nicht ausgeschnitten ist, stets forteitert und die
Naturvölker ruinirt. Denjenigen unserer Leser, welche sich
von der Wahrheit dieser Behauptung überzeugen wollen, em-
pfehlen wir das neuerdings erschienene Werkchen meines hoch-
verehrten Freundes Dr. Georg Gerland: „Ueber das
Aussterben der Naturvölker, Leipzig 1868." Das
Buch zeugt von eingehendem, umfassendem Studium, großer
Sorgfalt uud Fleiß und klarem Urtheil des Verfassers.
Die unmittelbaren Ursachen des Kampfes der Narna und
Herero haben wir demnach nicht auf dem jetzigen Kriegs-
schauplatze zu suchen, sondern in unmittelbarer Nähe des
Caps der guten Hoffnung, dort, wo der Weiße zuerst mit dem
Gelben in Berührung kam.
In der Mitte des vorigen Jahrhunderts lebte ein tapfe-
rer Hottentotenhäuptling mit seinem Stamm in dem Gebiete
zwischen dem Witzemberge und dem Winterberge. Dort wa-
ren wildreiche Jagdgründe und fette Weiden für die zahl-
reichen Herden feines Stammes. Doch bald mußte er dem
Andrängen der Colonisten weichen und gerieth bei seinem
Zuge nach Norden in der Z Hantam am Großen Doornberge
in die Gewalt und Botmäßigkeit eines Boers (sprich Bnhrs),
Pinaar. Der alte Häuptling übergab bald, wie das noch
heute Sitte bei den Hottentoten ist, die Häuptlingschaft schon
bei Lebzeiten dem energischen Sohne, Jäger Afrikaner, und
hatte es dessen Freiheitsliebe und Thatkrast zn danken, daß
er sür seinen Stamm noch später bessere ^,age erlebte.
Zn jener Zeit florirte das Commandosystem (Treib-
jagden gegen die Eingeborenen) und Pinaar zwang
seine Afrikaner, die, selbst Eingeborene, mit dem Wüsten-
leben am vertrautesten waren, gleichsam als Spürhunde an
diesen Hetzereien Theil zn nehmen. Man umstellte einen
Buschmann- oder Hottentotenkraal bei Nacht, uud wenn bei
Tagesanbruch die Bewohner ihre Hütten verließen, streckten
wohlgezielte Schüsse die Wehrlosen nieder. Die schwachen
Weiber und unmündigen Kinder führte man in die Sklave-
rei, das Vieh nahm man als gute Beute fort. Pinaar wurde
ein reicher, aber zugleich habsüchtiger uud roher Mann. Jahre
lang hatten die Afrikaner ihm gedient und dazu uoch gegen
ihre eigenen Landsleute, ohne irgend welche Belohnung zu
erhalten, bis endlich unzufriedene Stimmen laut wurden.
Die Stimmung wurde zur Erbitterung, als Pinaar und
seine Freunde sich ans Wollust zu Gewalttätigkeiten gegen
Weiber und Töchter der Afrikaner hinreißen ließen. Es bildete
nordwestlichen Theile der Cap-Region. 203
sich eine Verschwörung, welche in Kündigung des Gehorsams
ausbrach nnd dem übermüthigen Boer das Leben kostete.
Durch den Trotz der Afrikaner gereizt, ließ Pinaar nämlich
die Häupter des Stammes Titus und Jager vor sich kom-
men. Erstem- hatte ein geladenes Gewehr bei sich, und als
Pinaar den Bruder mit Schimpfreden anherrschte und mit
Faustschlägen mißhandelte, legte er an und schoß seinen Herrn
nieder. Dann, ohne dem Weibe und den Kindern des Ge-
tödteten ein Leid zu thun, drangen sie in das Hans und
nahmen alle Feuerwaffen sammt der Munition fort. Doch
hier konnten sie schlechterdings nicht bleiben, wenn sie vor
der Rache der benachbarten Boers gesichert sein wollten.
Deshalb brach die ganze Horde unter Anführung Jager's
quer durch das Buschmannland nach Nordosten zu den Ufern
des IGarib auf. Etwas unterhalb des Zusammenflusses
des ch Nu- und !Hai!Garib verschanzte er sich auf einer Insel
inmitten des Flusses. Die Boers, welche ein Commando
gegen ihn schickten, mußten mit sehr erheblichen Verlusten ab-
ziehen.
Bald war Jag er Afrikaner der Schrecken der ganzen
Colonie; weit und breit brandschatzte und mordete er; zumal
ließ er den Weißen seinen unauslöschlichen Blutdurst ent-
gelten, denn gegen sie hegte er einen eingefleischten Haß.
Sein Name war bald fo gefürchtet, daß, wie man bei uns
zu Lande die ungezogenen Kinder mit dem „schwärzen
Mann" zur Ruhe bringt, dort die Ammen und Mütter
mit Jager Afrikaner drohten. Neue Commaudos, die man
gegen ihn aussandte, schickte er decimirt nach Hanse; mit
seinen Siegen wuchs seine Keckheit und Verwegenheit. Im
Jahre 1804 verlegte er seine Kraale an den untern !Garib
uud da er hier seine Raubzüge uoch nicht einstellte, so setzte
die capsche Regierung einen Preis von tausend Thalern
capisch (500 preußisch) auf seinen Kopf.
Im folgenden Jahre kam der erste Missionär in jene
Gegend. Den Bemühungen dieses Mannes und seiner Nach-
folger gelaug es endlich, den wilden Barbaren zu „bekehren".
Der unbändige Wüstensohn beugte sein Haupt der Taufe uud
mit ihm viele seiner wilden Krieger. Er, der vorher mit
Raub sich gesättigt, im wilden orgastischen Siegestaumel den
Becher voll Honigbier geschwungen, trat verlangend als Christ
zum Abendmahl. In Abwesenheit der Missionäre predigte
er sogar seinem Stamme, hielt den Kindern Schule uud
war ein strenger Sittenrichter und Zuchtmeister, gefürchtet
vom jungen, leichtsinnigen Volke, dem der ueue ungewohnte
christliche Rock sehr unbequem saß.
Am Cap traute man seinen Ohren kaum ob solcher
Kunde, und das Staunen war kein geringes, als der vogel-
freie Mann eines schönen Tages incognito in Begleitung
eines Missionärs in der Capstadt erschien. Er war der ge-
feierte Held des Tages, wurde allenthalben eingeladen, mußte
redend öffentlich austreten und von seiner plötzlichen Bekeh-
rnng berichten, und die Zionswächter predigten von allen
Kanzeln über die Wirkungen des heiligen Geistes an einem
versunkenen Sünderherzen. Derselbe Gouverneur, der ihn
geächtet, hob die Acht öffentlich auf und bezeugte ihm feine
huldvolle Gesinnung durch schöne Geschenke. Bewnnderns-
Werth ist die Bescheidenheit und der seine Tact (die Missio-
näre nennen es christliche Demuth), deu er trotz aller
Ehrenbezeugungen und Auszeichnungen fortwährend an deu
Tag legte uud in der Folge bewährte. Man hat nie irgend
welche Ueberhebung an ihm gewahrt, noch ein hochmüthiges,
stolzes Wort von seinen Lippen vernommen. Er ist seinem
Volke bis an das Ende ein Muster geblieben; ob aus Klug-
heit und Berechnung oder aus voller Ueberzeuguug, wage ich
nicht zn entscheiden; die Missionäre behaupten das letztere.
Ans jener Reise begleitete ihn sein jüngerer Sohn und Lieb-
26*
204 Theophilus Hahn: Ein Racenkampf im
ling Jonker, ein junges, lebendiges Gemüth mit Hellem
und scharfem Verstand, ein intelligenter Kopf. Die Wunder
und Neuigkeiten der civilisirteu Welt ließen tiefe, unanslösch-
liche Eindrücke in seinem Herzen zurück. Der Vater, dem
die hervorragenden Eigenschaften seines Lieblings nicht ent-
gangen waren, hatte ihn schon im Voraus zum Nachfolger
bestimmt und als solchen auch dem Gouverneur vorgestellt,
ein Umstand, der für Jonker von wichtigen Folgen war.
Denn dem Scharfblick des jungen stolzen Blutes mochte es
bei jeuer Audienz wohl schwerlich entgangen sein, welch wich-
tige Person er sei, wenn ihn der Gouverneur einer Borstel-
lnng würdige.
Die Mission unter den Namahottentoten hat von
jeher viel Selbstverleugnung von den Missionären gefordert.
Abgesehen von der abergläubischen, excentrischen Natur des
Nama, au welcher mancher Bekehrungsversuch schon geschei-
tert ist — wir werden diesen Punkt unten näher beleuchten
— und daher den Missionär sehr entmuthigen muß, bringt
der Missionär, welcher zu diesen Völkern geht, deshalb ein
so großes Opfer, da er den Comfort des täglichen Lebens
nirgends so sehr entbehrt und die socialen Verhältnisse derart
sind, daß er ein großer Geist sein muß, um mitunter sich
selbst trösten zu können und nicht einer granenhaften, alle
Lebensgeister tödtenden Muthlosigkeit anheimzufallen. Also
Engländer eignen sich wenig für ein solches Land
und Volk. —
In seinen Kraal zurückgekehrt, mußte der alte Häupt-
ling zu seinem Leidwesen erfahren, daß die Londoner Mis-
sionsgesellschaft ihre Missionäre fortnahm und er nun genö-
thigt war, feiuem Volke auch Priester und Lehrer zu sein.
Endlich starb er nnd unter heftigem Widerspruch der Partei
des ältern Bruders wurde Jonker Häuptling. Allein er ent-
sprach wenig den Erwartungen des Vaters und der Frommen
im Stamme. Das junge Volk hatte das langweilige Psal-
men- uud Bußliedersiugeu gründlich satt, und es bedurfte
nur eines herzhaften Anstoße's einiger alter grauer heidnischen
„Sünder" und die Genehmigung des jungen Häuptlings, so
konnte man des Nachts wieder die wilden Riettänzer mit
Antilopen- und Büffelhörnern anf dem Kopfe, Dämonen
gleich, das Feuer umtanzen sehen, berauscht von Honigbier,
Dacharanch und erregt von wilden Gesängen nnd Liedern.
Hinterher wurde dann der Aphrodite Pandenws gedient; —
kurz man machte sich für die lauge Entbehrung gründlich
bezahlt. „Den Bösen ist man los, die Bösen sind geblie-
ben" — war auch hier ein erprobtes Wort.
Um diese Zeit drängten verschiedene Hottentotenclans,
unfähig sich gegen die Colonisten zu halten, über den ! Garib
in das Großnamaland. Sie nannten sichOrlams, nach
einem holländischen Tochtgänger (Händler), der lange unter
ihnen gelebt und ein gewisses Ansehen hatte. Zugleich er-
goß sich von Norden ein mächtiges Bantuvolk, die He-
rero (vergl. „Globus" Bd. XIII, S. 268, a), die auf ihrer
halbhundertjährigen Wanderung aus dem Zambesigebiet in
das jetzige Hereroland gekommen waren, erobernd in das
Namaland und drängten den Oberhäuptling des Landes
Xamob ans seinen Wohnsitzen heraus. In kurzer Zeit wa-
reu sie Herren des Landes. An den Quellen und in den
Thälern des Tsoa^anb, sjAub und !Kuisib schlugen sie
ihre Wohnsitze auf. Die im Kreife ruinenhaft noch jetzt dort
zerstreut liegenden Steine bestätigen dies.
Mit den Orlams (1830 bis 1840) zog nun Jonker,
jetzt wieder Heide und zwar von „sieben Teufeln besessen",
mit dem jungen Volke seines Stammes, die alten Kopfhän-
ger seinem Bruder zurücklassend, den ^Aub hinauf und unter-
warf sich einen Namastamm nach dem andern, dem er auf
seinem Zuge begegnete.
nordwestlichen Theile der Cap-Region.
Der alte Aamob saß zwischen zwei Feuern; im Norden
die übermüthigen Herero, im Süden die eroberungslustigen
Orlams. Von zwei Uebeln wählte er das anscheinend we-
niger gefährliche und rief den thatendnrstigen Jonker zu Hülfe.
Dieser, überlegen durch die Schießwaffe, trieb die Herero wie
Spreu jenseit des Tsoa^anb zurück und nahm ihnen zahllose
Herden von Rindvieh ab. Seine Feuerwaffen hatten nun
fortan dieselbe Bedeutung in jenen Gegenden, wie seit 1866
das Zündnadelgewehr in Preußen.
Weit gefehlt aber, wie der alte Xamob wohl gehofft hatte,
jetzt wieder nach Süden zn ziehen, hatte Jonker's Scharfblick
den Norden zum Aufenthalt gewählt, um gleich nach allen
Seiten hin zur Hand zu feiu. Dort bei Zebris ließ er sich
nieder, und als die Herero einmal ihn unerwartet überfie-
len, hat er ihnen trotzdem blutig heimgeleuchtet. Alle Nama-
und Orlamstämme bückten sich, wenn auch mit Widerwillen,
vor ihm. Die von den Nama bis dahin arg gedrückten
IHaukhoiu oder Bergdamara wußte er durch huldvolle
Behandlung zu gewinnen; wo es fehlte, unterstützte er sie
mit verschwenderischer Freigebigkeit; sie nannten ihn allge-
mein ihren Vater. Oft hat er dann mit diesen Bundes-
genossen die Herero überfallen und kehrte mit Beute reich
beladen zurück, um in wilden Gelagen nnd Tänzen seine
Siege zu feiern. Lassen wir einen Missionär weiter reden,
der, nachdem er sich oft und bitter von Jonker getäuscht sah,
folgendermaßen über ihn spricht:
„So unbesorgt, so fröhlich und die Sünde mit vollen
Zügen genießend Jonker auch erschien, so war er dennoch
nicht ruhig. Er hatte in seiner Brust ein Fünklein, das
nicht verlöschen wollte, eine Stimme, die inmitten des Sin-
nentanmels ihn mahnte. Gottes Gnade hatte sich nicht von
ihm gewandt, die Ermahnungen seines Vaters, die Worte
seines ehemaligen Lehrers konnte er beim besten Willen nicht
aus seinem Herzen und Gewissen tilgen. Er wurde zuletzt
ganz unruhig darüber, rief seine Kriegsleute zusammen und
überstieg mit ihnen nochmals das Gebirge. Seine Leute
meinten zum Raube, Jouker aber hatte etwas Anderes im
Auge. Er wollte einen passenden Ort suchen, wo er sich
bleibend niederlassen könnte nnd wollte ein anderes Leben
anfangen. Er ersah sich ein wasserreiches Thal, eine Art
Bergkessel, den schönsten Ort im ganzen nördlichen Nama-
lande, wegen der heißen Quellen |Ai— jjgams (die heiße
Qirelle) genannt, ließ sich dort nieder und fing nun an, sein
Volk allen Ernstes zn reformiren. Jonker, der wilde Or-
lamhänptling, wurde wirklich Reformator. Ein metho-
distischer Missionär, der in jener Zeit ihn auf einer Reise
nach der Walfischbai besuchte, stärkte ihm die Hände und
wußte bei seiner Rückreise nicht genug von diesem wunder-
baren Manne, von der Kirche, welche er gebaut, von der
Schule, die er hielt, zu erzählen. Ja, Jonker war Refor-
mator, Schullehrer, Prediger, Civilisator. Seine Leute, nur
gewohnt die Muskete zu führen, lehrte er den fruchtbaren
Boden bebauen und Handwerke in ihren Anfängen treiben.
Auch legte er mit bedeutenden Kosten und nicht geringer
Kraftanstrengung eine Fahrstraße über das Gebirge an
(zur Walfischbai). Unermüdlich hielt er täglich zweimal
in der steinernen Kirche, die nebenbei anch als
Festung dienen konnte, Gottesdienst, und außerdem noch
Schule. Mit einem Machtspruch war alles heidnische We-
sen verbannt, der Polygamie ein Ende gemacht, das Brauen
von Honigbier untersagt :c. Die wilden Horden, die im
Lande wohnten, verstummten; das waren Dinge, die sie nicht
verstehen konnten. Doch die Herero trauten der Ruhe
nicht und hielten sich fern."^
Da kamen zur selben Zeit vier deutsche Missionäre,
von denen Hugo Hahn und Kleinschmidt besonders er-
Theophilus Hahn: Ein Racenkampf ii
wähnenswerth sind, von der rheinischen (Wupperthaler)
Mission gesandt, in das Land. Jonker hörte von ihrem
Kommen und lud sie durch eine besondere Gesandtschast zn
sich ein. Ein Missionär blieb ans Bethanien, die anderen
drei folgten der Einladung und wurden unter unendlichem
Jubel von den Afrikanern — so nennen sich die Unterthanen
von Jonker — empfangen. Man trug die Missionäre ans
Händen; was man ihnen an den Augen absehen konnte, ge-
schal). Morgens und Abends und wenn sonst die Glocke zur
Kirche rief, war diese gedrängt voll. Die Missionäre und
Jonker wechselten in der Predigt ab. Den einmüthigen
Bemühungen der Missionäre und Jonker's gelang es endlich,
den Herero Vertrauen einzuflößen und Frieden zn schließen.
Es war ein bewegter Augenblick, als Weihnachtsabend 1842
Jonker und die Herero sich die Hände reichten und die Frie-
denspfeife rauchten. Der Assagai (Wurfspeer) wurde vor-
läufig in den Boden gestoßen. — Und welch ein Leben ent-
wickelte sich nun erst in Mi— ssgams? War es früher
schon dort lebhaft, jetzt gab es eiu förmliches Drängen von
Besuchern aus alleu Ecken und Enden. Herero, Mbandiern,
Bergdamara, Nama, Sab wechselten mit einander ab. Der
Ort wurde ein bedeutender Handelsplatz. Hereros kamen
mit großen Herden, um sie gegen Taback, Eisen und Blech-
waaren umzutauschen; mehrere Schmiedewerkstätten wurden
errichtet, in denen das alte Eisen abgenutzter Wagen zu gang-
baren Waaren umgeschmiedet wurde. Die Missionäre hatten
die Hände nach allen Seiten hin voll, und Jonker sah von
Tag zu Tag mit stolzer Freude und Genugthuung, wie seine
Leute unter Anleitung der Missiouäre an Intelligenz und
Civilisation zunahmen und durch einen nicht unerheblichen
Grad von Cnltnr vortheilhast von den umwohnenden Stäm-
men abstachen. Auch auf dem religiösen Gebiete sahen die
Missionäre ihre Arbeit von Erfolg gekrönt; denn schon nach
wenigen Monaten bemerkte man die Wirkung der Bekeh-
rungspredigten an der großen immer mehr wachsenden Zahl
von Leuten jegliche» Alters und Geschlechts, zumal Frauen
— sie müssen ja überall dabei sein —, die sich zur Taufe
dräugteu. — „Unter Erwachsenen und Kindern war
eine Erweckung ohne die krankhasten Auswüchse
neumodischer Revivals," schreibt der Missionär Hugo
Hahn, derselbe, welcher doch in einem andern Berichte an
seine Vorgesetzten in Betreff der Namamission der Ansicht
ist, „daß von hundert bekehrten Nama kaum zehn
Procent gründlich bekehrt seien." — Hatten die Enge-
lein im Himmel sich über die bußfertigen Sünder gefreut,
die sich taufen ließen, der Satan ärgerte sich gewiß nicht,
wußte er doch, daß diese Täuflinge mehr oder weniger hier-
mit die letzte Oeluug für ihu bekommen hatten. Der Eifer
der Missionäre, der durch Jonker's Bitte um mehr Send-
boten sehr angestachelt war, sollte in der Folge eine ganz be-
denkliche Abkühluug erfahren. Sie wurden gewarnt; allein
die glaubenseifrigen Männer wollten davon nichts wissen,
uud zumal Hugo Hahn erwiderte aus eine solche Warnung:
„Jonker sei ein König David." Freilich; aber in
malam partem.
Wir können, obschon in der Mission ausgewachsen nnd
mit ihren Verhältnissen vertraut, Jonker's Bekehrung leider
nicht anders als eine Spiegelfechterei, einen wohlberech-
neten diplomatischen Handstreich zur Befriedigung seines per-
sönlichen Ehrgeizes bezeichnen. Der Leser beachte und lese
mit Aufmerksamkeit das Folgende.
Vor den deutschen Sendboten waren schon Methodisten
oder, wie sie auch sonst heißen, Wesleyaner im Lande be-
suchsweise gewesen und hatten sogar Afrikaner getauft. Sie
sahen es natürlich ungern, daß Deutsche in ihr Revier ge-
kommen waren. Nun wurde geplant, diese wieder auszn-
nordwestlichen Theile der Cap-Region. 205
stechen. Das geschah auf echt niederträchtig jesuitische Weise,
indem mau sich, wie es ja auch gar nicht anders möglich
war, dabei der Schurken und Schelme bediente.
Den Missionären folgten bald die Tauschhändler —
am Cap „Tochtgänger" oder „Smauser" genannt—, jene
abenteuerliche Menschenrasse, die sich großenteils ans der
Grnndsuppe, der Sentina der Gesellschaft aller Herren Län-
der, recrntirt, und deren Nähe jeder anständige und ehrliche
Mensch wo immer möglich meidet. Es hat ihnen noch Nie-
mand einen Segenswunsch in das Jenseit nachgerufen oder
eine Thräne in das Grab geweint; wohl aber gehen die Ma-
nen ruinirter Völker um und fordern Rache für die Schand-
thaten jener. Daß sie die Leute unter Gesaug uud Gebet,
mit dem Vorgeben, sie seien Missionäre, um Gut und Vieh
betrügen, will noch so viel nicht sagen; was sagt der Leser
aber dazu, daß diese Händler neben anderen europäischen La-
steru vornehmlich dort Syphilis, Tuberkeln nnd das
demoralisirende Feuerwasser eingeführt haben, deren
Wirkungen sich jetzt schon schaudererregend zeigen! Natürlich
sind sie keineswegs die Freunde der Missionäre, und wo diese
bauen, reißen jene nieder!
Hinter einen solchen Schuft uud Tochtgänger, einen ge-
wissen Morison, steckten sich die Methodisten; diese Leute
lieben es, etwas überschwenglich und saftig zu fein, uud für
den extravaganten Hotteutotencharakter war ihre Wirtschaft
natürlich wie gemacht. Diefer ging mit anderen methodisti-
schenHändlern nach jAi—jjgams. Sie sahen mit scheelem
Blicke der deutschen Missionäre Wirksamkeit und wußten Jon-
ker's Herz zn umnebeln! Er reiste mit ihnen zur Wal-
sischbai, wo sie Handelsmagazine errichteten. Auch hier
mußte die Religion der Schasspelz für gemeine Wolfsseelen
feilt; denn Morison spielte ganz vortrefflich den Prediger in
der Wüste. Dann malte man dem Häuptling die innere
und äußere gedeihliche Entwicklung nnd Machtstellung seines
Stammes gar herrlich aus unter dem Einflüsse methodisti-
scher Missionäre. Solche arbeiteten damals unter den zn-
rückgelassenen Stammesgenossen am !Garib, und durch Be-
rufung der Wesleyaner glanbte man zugleich den Bruder-
stamm zu gewinnen nnd so nach außen stärker zn werden.
Als der Häuptling noch zögerte und Bedenken trug, feine
deutschen Lehrer fahren zn lassen, da schritt man ganz schäm-
los zu einer Lüge; man beschuldigte sie eines Quafi-Hoch-
verraths durch die Behauptung, fie ständen Jonker's
Macht und Ruhm im Wege. Das entschied. Jonker
rief die Methodisten herbei nnd die rheinischen Missionäre
zogen 1844 am 31. October nach einem vorübergehenden
Aufenthalte auf Okahantja*) nach Otyikango zn den
Hereros!
Die Methodisten kamen nnd brachten anch den zurückge-
lasseneu Bruderstamm mit; allein sie konnten keine Einigung
nnd Unterwürfigkeit unter Jonker bewirken. Morison zog
schachernd und betrügend im Lande umher und hielt dabei
Morgen- uud Abeudandachten. Der Methodistenmissionär
Haddy wußte den Afrikanern „daß Geben seliger sei
als Nehmen" nahe zu legen und bettelte aus die gemeinste
Weise Hunderte von schönen Rindern zusammen, aus deren
*) Dieser Ort war nach dem ehrwürdigen Missionär Schmelen
Schmelensverwachting (Schmelenshoffnung) genannt worden.
Wir nennen absichtlich die Orte :c. bei ihren landesüblichen Namen
und können uns in keiner Weise zn der abgeschmackten englischen
Sitte bekennen, überall ein Victoria, Wellington ?c. auch in fremden
Ländern zu sehen. Wie abgeschmackt ist es z. B., den periodischen
Regenfluß Tsoa^aub, der alle Jubeljahr einmal fließt, „Rhein"
zu nennen, oder Neu-Varmen einen Ort in der Wildniß, der nicht
die entfernteste Aehnliä'kcit mit dem Wupperthaler Barmen hat. Die
Missionäre sind besonders stark darin, ihren Stationen biblische Na-
men, wie Bethanien, Gibeon, Rehoboth, Salem zc., anzuhängen,
206 Theophilus Hahn: Ein Racenkampf it
Erlös dann andere finstere Heidenseelen aus Satans Krallen
dem Herrn gewonnen werden sollten. „Der Krug geht so
lange zum Brunnen bis er bricht." — Jonker ekelte endlich
dieses Treiben an und er jagte die Methodisten sammt
und sonders zum Lande hinaus. Zugleich verbat er
sich für immer den Besuch von Missionären in seinem Stannne
und fing sein altes Leben von vorn an.
Zunächst tanzte und soff man in jAi jjgams. Jonker hatte
aber einen mächtigen Bären bei den Tochtgängern angebnn-
den, und als die Methodisten fortgejagt waren, fing der Bär
an zu brummen. Die Smaufer hatten ihm geborgt und
kamen nun mit einer ellenlangen Schuldforderung. Woher
nun diefe befriedigen? — Die Miffionäre im Hererolande
waren ihm ein Dorn im Auge uud er hätte diese geru dort
vertrieben. So brach er dauu den Frieden mit den Herero
und Mbandierns. Grauenhafter und wilder denn je zuvor
raubte und mordete er und zahlte mit dem Raube seinen
Gläubigern. Der Missionär Hugo Hahn hat sich dann
öfter zu Jonker aufgemacht und ihm eine Büß- und Straf-
predigt halten wollen. Doch der schlaue Häuptling stopfte
ihm den Mund mit einem Geschenk an gutem Rolltaback
— Hahn war ein starker Raucher; jetzt freilich hat er sich
das Rauchen abgewöhnt — oder er sandte seinem ehemaligen
Lehrer einige hübsche Fettschwauzhammel, wo der Schwanz
10 bis 12 Pfund wog. Der Missionär hat oft fpäter feine
Unklngheit bereut, indem er sich durch Jouker's Gefcheuke die
Häude binden ließ. Welche Achtung uud Respect Jouker
vor dem Missionär haben mochte, überlassen wir dem Leser
zu beurtheilen. Folgender Zug charakterisirt des Orlams
Achtung vor den Missionären am besten. Auf einem seiner
Raubzüge hatte Jonker 1849 die Station Okahantja
überfallen und gleich beim ersten Angriff eine Doppclsalve
von vierzig Kugeln auf des Missiouärs Wohnung geben
lassen. Jonker hatte die Hütte früher nur mit einer Wand
aus Riet gekannt und nicht gewußt, daß der Missionär-
Kolbe unterdeß inwendig eine Mauer von Ziegelsteinbreite
aufgeführt hatte, an welcher natürlich die Kugeln abprallten.
Zu Jouker's Verwunderung tritt der Missionar ans der
Thür und fragt, was das zu bedeuten hätte! Der Barbar
antwortet hohnlachend, er wolle den Herero bloß das Evan-
gelium verkündigen! Dann giebt er das Zeichen zu
einem schauderhaften Gemetzel. Unter den Augen des Mif-
sionärs griff man Kinder bei den Beinen und schleuderte sie
an Felsen, Weibern schnitt man die Brüste ab und schlitzte
ihnen den Bauch auf. Noch an den Todten ließ man feinen
Blutdurst und seine Mordlust in der cannibalischsten Weise aus!
Ein ganzes Dörfchen treuergebener Bantieru wurde in ver-
rätherifcher Weise niedergemetzelt; kurz, Jouker's Leben war
fortan eine Reihe vonGreuelthaten und Cannibalismen, wie
sie nur noch in der Geschichte Dahomeys und der Eroberung
Perus ihres Gleichen suchen. Man ist versucht, an Besessen-
heit von bösen Geistern zu glauben, wenn man hört, wie er
zeitweilen zum Gewehr griff, wüthend durch den Kraal rannte
und mit dem Rufe, er müsse Menschenblnt sehen, ans
jeden, dessen er ansichtig wurde, schoß, oder auch in die Hütten
feuerte. In solchen Anfällen durften sich ihm nur sein
Bruder Jager und sein Sohn Jan nahen und nur sie ver-
mochten ihn zu beschwichtigen.
Einige Jahre nach der Zerstörung von Okahantja kam
1851 ein englischer Reisender, Francis Galton, in das Land
und gerirte sich ganz wie ein Bevollmächtigter der englischen
Regierung. Die Art und Weise, wie er sich dort aufgeführt,
und die er noch sehr naiv schildert, macht ihm und dem eng-
tischen Namen wenig Ehre. Wie ein Thierbändiger gellei-
det, in rother Jacke :c., glaubte er dem Orlamhäuptling im-
pouiren zu können. Man lese nur das vierte Eapitel seiner
nordwestlichen Theile der Cap-Region.
Reisebeschreibung und besonders Seite 66, wo er seine Zu-
sammenknnft mit Jonker schildert. Wie sehr er die Hotten-
toten unterschätzt, zeigen folgende Worte: „Nun mag dies
Alles (sein Benehmen gegen Jonker) lächerlich erscheinen,
Orlams sind aber wie Kinder uud die Art, wie man
bei ihnen Respect erwirbt, ist nicht die Art, welche den mei-
sten Einfluß bei uns hat." Jonker ist momentan freilich
etwas verblüfft gewesen; aber wer in aller Welt wäre bei
einer plötzlichen Erscheinung, mehr Kobold und Bajazzo in
einer Person als anständiger Mensch, nicht entweder verblüfft
oder zum Lachen gereizt worden? Hinterher haben nicht
bloß Jonker, fondern alle Namahottentoten, wenn die Rede
auf Galton kam, über ihn in der ausgelassensten Weise ge-
höhnt und gespottet. Titel wie „Rothjäckchen" waren
noch die unschuldigsten!
Aus den jungen gefangenen Hereroknaben bildete er sich
eine mit Gewehren bewaffnete Garde du corps. Er soll
ungefähr 600 Manu gehabt haben, eine nicht zu verachtende
Macht in einem Lande, wo jeder Schütze so geübt ist, daß
er unfehlbar feines Zieles gewiß ist. Man staunt über
den knechtischen b ornirten Geist dieser Leute,
die mit wilder Mordgier auf Jouker's Wink hin
ihre eigenenLandslente ausplündern nnd abfchlach-
ten konnten, ohne daß es ihnen je in den Sinn kam,
das unwürdige Sklavenjoch abzuschütteln und über
die Nama herzufallen! Mit den Nama, besonders
jjOasibs-Stamme, deuGei-jjgaugu, hat er sich dann eben-
falls viel gezankt und geschlagen und ihnen oft feine Ueber-
legenheit empfindlich fühlbar gemacht. Endlich in feinen
letzten Jahren unternahm er noch einen Kriegszng zu den
Ovambo. Dort brach 1861 in Folge des aus Galton's
„Bericht eines Forschers im tropischen Südafrika" bekannten
Königs Nangoro Ableben ein Bürgerkrieg aus. Der unter-
liegende Theil rief Jonker um Hülfe an, und er ließ sich
nicht zwehnal rufen. Er soll gar arg dort gehaust und große
Beute gemacht haben. Bei dieser Gelegenheit sind Lente
von ihm über den Kunenesluß gegangen und haben die
Bewohner auf der andern Seite stark ausgeplündert. Doch
raffte auf der Heimkehr eine Seuche größteutheils die geraub-
ten Rinder weg, und Jonker kehrte außerdem krank nach
Okahantja zurück. Die Ovambo sollen ihm Gift unter das
Bier gemischt haben, erzählt man. Sicher ist, daß er an
einer Unterleibsentzündung gestorben ist.
Wenige Tage vor seinem Tode begehrte er den Missionär
Kleinschmidt noch zu sprechen. Sein Wunsch wurde er-
füllt; Kleinschmidt kam in höchster Eile und fand ihn bei
noch voller Besinnung. Des Missionärs Bekehrungsversuche
scheinen aber an Jonker's steinernem Herzen abgeprallt zu
sein. Folgendes entnehmen wir einem Briefe des Mifsio-
närs unter dem 27. August 1861: „Jonker Afrikaner ist
todt! Am Sonntag Nachmittag den 18. August hat ihn
der Herr über Leben und Tod vor seinen Richterstuhl gefor-
dert. Es war mein Loos, Zeuge seines Endes zu sein und
die letzte Arbeit an seiner Seele zu verrichten und das ganz
ungesucht. — Ich meine mein Bestes gethan zu habeu, seine
arme unglückliche Seele zu retten, sie wie einen Brand aus
dem Feuer zu reißen, — ach, wie gern hätte ich das gethan!
— aber was soll ich sagen? Es steht mir nicht zu, zu ver-
dämmen, habe aber auch kein Recht, noch minder Freimüthig-
keit, ihn selig zu sprechen, obschon ein Unkundiger über seinen
Charakter und über seine Verhältnisse sich leicht hätte täu-
sehen lassen können; vielmehr kommt mir mitunter uuwill-
kürlich die Schilderung Jesaia 14 in den Sinn. So im
Leben, so im Tode: der kalte, überlegene Verstand, womit er
sein Haus, seine Angelegenheiten noch bestellt und geregelt
hat, als ob es mit seiner Seele in Richtigkeit sei, als ob er
Theophilus Hahn: Ein Racenkampf im
dem Tode in das Angesicht schauen könne, ohne sich zn fürch-
ten, ohne zu erzittern. Nur einmal hörte ich, als ich ihm
stark zugesetzt hatte, daß er nach meinem Weggehen unruhig
geworden sei, sonst war nichts derartiges bei ihm zn
verspüren.---Meine Unterredung mit ihm, mein
Lesen und Erklären einiger Bußpsalmen und mein Beten
mit ihm ließ er sich gern gefallen, überhaupt Alles, was
nicht direct die Menge seiner Sünden angriff; aber kam ich
auf diese zu sprechen und forderte ich Buße, dann wich er
jedesmal aus und zog die Sache in das Allgemeine, z. B.:
„Ja, wir sind Alle schuldig vor Gott." Ich habe auch nie
eine Selbstanklage von ihm gehört, auch von Anderen nicht,
die es etwa vor meiner Ankuuft gehört haben könnten. Nur
einmal deutete er an, daß er den Missionären gegenüber nicht
recht gethan, habe doch um einen Lehrer ersucht, aber nicht
bekommen. Er meinte wohl seiu späteres Gesuch bei deu
wesleyanischen Brüdern. Er schien weitersprechen zu wol-
leu, aber die Kraft verließ ihn. Ich jagte ihm, was Du
uns gegenüber gesündigt hast, daS laß nur, das siud die ge-
ringen Deiner Sünden, die können wir Dir leicht vergeben,
aber Du hast unendlich größere Schuld vor Gott, Dein
Rauben, Dein Blutvergießen, Dein Ehebruch :c., das sollte
zunächst Dein Herz zerbrechen und Dich in den Staub vor
des Heilandes Füßen niederwerfen, wenn Du noch Gnade
erlangen willst. Keiue Antwort erfolgte. Daß unter sol-
chen Umständen von Absolution und Abendmahl keine Rede
sein konnte, ist leicht begreiflich, wie gern ich es auch gethan
hätte, wenn es anging. — Das Gute, was ich von ihm er-
wähnen kann, muß ich doch auch anführen. Schon vor mei-
ner Ankunft hatte er seine Kinder nud Leute ermahnt, zum
guten Weg zurückzukehren. Mit den Herero sollten sie säu-
berlich fahren und Frieden halten, auch selbst dann, wenn die
Herero sich schuldig machten; überhaupt sollten sie nicht nach
seinen Werken thuu. Seit seiner Rückkehr aus dem Ovambo-
lande soll er überhaupt ernster gestimmt gewesen sein, weil
er sein Ende erwartete, Als ihn jedoch Daniel's (ein Dol-
metscher des Missionärs) Mutter fragte, was er denke, wie
es seiner Seele gehen werde, antwortete er ganz trocken:
„Das läßt sich nun noch nicht sagen, wir wollen sehen, wenn
das Ende herankommt." Wenn in seinem Kraale gespielt,
getanzt und gelärmt wurde, was geschehen sein soll bis etwa
fünf Tage vor seinem Ende, dann pflegte er mitunter die
Kinder kommen zu lassen, damit sie an seinem Bette geist-
liche Lieder sängen. Das ist doch viel schöner, als jenes,
pflegte er zu sagen. — — — Als man ihn aufmerksam
machte, er solle doch nun seine beiden Kebsweiber von sich
lassen, die bei ihm die Krankenpflege versahen, antwortete er
ebenfalls ganz kühl: „das kann geschehen, übrigens sehe ich
sie nur au wie jeden andern Menschen, der mein Bett um-
giebt." Er ging dann gutwillig darauf ein, als man ihn
in das Haus feiner rechten Frau brachte, die von da an die
Pflege übernahm, nachdem sie sich lange von ihm znrückge-
zogen hatte. .
Nur schade ist es, daß man zuletzt seme Sprache nicht
recht mehr verstehen konnte. So geschah es in der letzten
nordwestlichen Theile der Cap-Region. 207
Stunde, als ich ihn noch ernst und liebevoll ermahnte, die
kurze Gnadenfrist recht zu gebrauchen, da meinte ich seine
Antwort so zu verstehen: het is te laat (es ist zu spät),
nämlich zur Buße, während der Dolmetscher etwas Anderes
meinte verstanden zu haben." —
In einem Briefe dieses Missionärs an Hugo Hahn, der
sich damals hier in Europa aufhielt, heißt es noch: Ich
bat ihn darauf, er möge mir nachbeten: „Herr Jesu, er-
barme Dich meiner!" Erst nach langer Zeit und mit gro-
ßer Anstrengung konnte er den Stoßseufzer herausbringen.
Es schien mir, als ob ihn nicht Leibesschwäche, sondern eine
finstere Macht daran verhinderte.
Vorstehende Notizen haben wir absichtlich etwas anssühr-
licher mitgetheilt, um dem Leser selbst Ramu zu eigenem
Urtheil geben zu können. Sie werfen beachtenswerte Streif-
lichter aus seinen Charakter und sein Verhältuiß zur Mission.
Auch die kurze Charakteristik, die Kleinschmidt giebt, ist
von Interesse; er schreibt:
„Jonker Afrikaner hatte in seiner äußern Erscheinung
nichts Zmponirendes. Er war klein von Statnr, aber kräs-
tig (und breitschulterig) gebaut. Sein linker Arm war steif
von einem Löwenbiß und fpäter brach er ihn zweimal. Der
Ausdruck seines Gesichts war mild und freundlich, aber fein
Auge uustät, denn nur selten konnte er Jemanden: gerade
in das Auge sehen. Seine Stimme war heiser, seine Un-
terhaltuug, lebendig und anziehend, verriet!) seinen scharfen
Verstand, und für seine Verhältnisse waren seine Kenntnisse
im Allgemeinen nicht unbedeutend. Er war ein scharfer Be-
obachter und durchschaute seine Leute, selbst die Europäer.
Seine Untergebenen hatten es im Ganzen gut, auch selbst
in der Zeit seines innern Verfalls, während welcher Periode
er freilich einzelne schaudererregende Grausamkeiten an den-
selben ausübte. Er achtete Geradheit und Unerschrocken-
heit, und wenn wir Missionäre ihm entschieden entgegen-
traten, so nahm er es wohl auf und erkannte es selbst
lobend an, daß wir thäten, was unseres Amtes sei. Die
Europäer, die zahlreich in den letzten Jahren in das Land
drangen, buhlten um seine Gunst. Er behandelte sie sehr
gut uud beschenkte sie zuweilen sehr reichlich. War Jemand
in Roth, so konnte er dreist aus Hülfe rechnen, wenn es in
Jonker's Macht lag. Wir haben es oft erfahren. Der
Hochmuth brachte ihn zum Falle und mochte oft der Beweg-
grund fo mancher scheinbar edlen That sein.--Sein
Leben erinnert an das des Königs Sanl — (insofern er
sich von keinen Priestern hat beherrschen lassen!).
Galton, der Jonker so geringschätzig und unverschämt
behandelte (vergl. Bericht eines Forschers im tropischen Süd-
asrika. Leipzig 1854. Seite 66), muß doch gestehen: „Jon-
ker ist entschieden ein begabter Mann und scheint in voller
Kraft zu sein, wenngleich über die Sechzig hinaus; seine
Bemerkungen waren besonders gescheidt und seine Beschrei-
bungen bündig und genau. In den langen Besprechungen,
die ich mit ihm hatte, stellte er sich ganz wie ein Diplomat
heraus, geschickt versuchend, das Gespräch ans seine Endzwecke
zu wenden."
'208
Theodor Kirchhoff: Die Chinesen im nordamerikanischen Territorium Idaho.
Die Chinesen im nordamerii
Von Theodor
Unter der Bevölkerung von Idaho bilden in neuerer Zeit
die Chinesen einen bedeutenden Brnchtheil von sehr zweisel-
hasten: Werthe. In den östlichen Staaten der Union ist es
die Meinung Vieler, daß die zahlreiche Einwanderung vou
Chinesen iu den Minenländern bei dem dort herrschenden
Mangel an Arbeitskräften ein wahrer Gottessegen sei. Ans
verschönernder Ferne urtheilt es sich bekanntermaßen ganz
anders, als wenn man in nahe Berührung mit den Gegen-
ständen seiner Verehrung kommt. Würden so ein Paar-
Millionen von Zopfträgern (in solchem Verhältnisse muß
man sich die Chinesen zu der Einwohnerzahl der östlichen
Staaten denken, um dem in den dünn bevölkerten Minen-
ländern gleich zu sein) mit ihren asiatischen Sitten und Heid-
irischen Tempeln urplötzlich als Zuwachs der Bevölkerung
im frommen Neu-England losgelassen, wo bald kein
weißer Feld- oder Fabrikarbeiter mehr mit ihnen
concnrriren könnte, erstaunen möchte man über die ra-
dicale Sinnesänderung manches jetzt rabiaten Chinesenschwär-
mers. Allerdings, unsere Freunde im Osten haben von Chi-
nesen bis jetzt nur die Bekanntschaft von Mandarinen ge-
macht, welche als Gesandte des Himmlischen Reichs sich in
Neuyork und anderen großen Städten sehen ließen; würden
sie statt derer eine Schiffsladung von der himmlischen Men-
schensorte betrachten, welche China als seine Repräsentanten
nach den Goldlanden entsendet, so möchte man uns schon
eher um die Acquisition solcher Mitbürger bemitleiden. In
den Minenländern giebt es kaum Einen unter Hundert, wel-
cher der Einwanderung von Chinesen hold ist, und die Mei-
sten vou Jenen sind mehr oder weniger pecnniär dabei
interessirt.
Eine Bemerkung zur Befürwortung der Chinefeneiuwau-
derung uach Amerika, der man oft in östlichen Blättern be-
gegnet, ist diese, daß die Chinesen so gutes Recht hätten sich
in Amerika niederzulassen, als Amerikaner in China. Es
ist aber doch gewiß nicht logisch gesagt, wenn man die weni-
gen in China ansässigen intelligenten amerikanischen Kauf-
leute, Maschinisten, Seeleute :c. mit den in Massen nach
Amerika einwandernden Chinesen aus den niedrigsten Schich-
ten der Bewohner des Himmlischen Reichs vergleicht. Gegen
die Anwesenheit von Chinesen aus der bessern Gesellschafts-
classe ihres Volks hat in den Minenländern kein Veruüus-
tiger etwas einzuwenden.
Es ist unmöglich, daß Weiße in diesen Ländern, wo der
Lebensunterhalt sehr kostspielig ist, als Arbeiter mit den Chi-
nesen, welche so zu sagen von der Luft leben, concnrriren
können, und Jedermann kann doch nicht ein Kaufmann,
Gastwirth, feinerer Handwerker, Fabrikbesitzer, Banqnier,
Inhaber einer reichen Goldmine oder dergleichen sein. Die
alte Minenbevölkerung der Küstenländer am Stillen Meer
fühlt sich durch diese ihnen aufgedrängte Arbeiterconcnrrenz
eines fremden Volks so zu sagen in ihrer Existenz bedroht.
Jenen verdankt die Menschheit nicht weniger als die Ent-
deckung, das Daseiu der Goldlaude, und jetzt kommt ein
fremdes, halbcivilisirtes Volk bei Zehntausenden ins Land
') Wir haben von Herrn Th. Kirchhofs eine eingehende, aus
eigener Anschauung beruhende Schilderung des Gebietes I d a h o (sprich
Eidäho) erhalten, aus welcher wir zunächst die obige Mittheilung
herausheben. Der Herr Verfasser wohnt zu Dalles im Staate
Oregon.
Territorium Idaho.
Kirchhoff *).
nnd raubt ihnen die Früchte der Anstrengungen und Gesah-
ren eines Lebensalters in der Wildniß, die sie eben erst der
Civilisation erschlossen haben. Das unter allen Goldgrä-
bern tief eingewurzelte Bewußtsein, daß ihnen mit dieser
Chineseneinwanderung ein großes Unrecht geschieht, ist sehr
erklärlich. Kein Wunder, daß Viele die erste Gelegenheit
benutzen, ihren Minengrund an Chinesen zu verkaufen, um
nur wieder aus einem Lande herauszukommen, wo ihnen doch
kein Segen mehr blüht!
Der Ruin aller Minendistricte, in denen sich die Chine-
sen in größerer Zahl niedergelassen haben, spricht deutlicher
als alles Andere über das, um sich gelinde auszudrücken,
Unpolitische, die Asiaten, welche außerdem sich nun nnd nim-
mer mit den Weißen assimiliren werden, massenweise in den
Minenländern einzubürgern. Wäre die Versuchung nicht
da, die Minen an Chinesen zu verkaufen, so würden heute
noch Tauseude von arbeitsamen Weißen in den älteren Mi-
nenlagern die Stelle von jenen einnehmen; Handel und
Wandel würden daselbst blühen, anstatt daß jeder unterneh-
mende Kaufmann sich jetzt möglichst schnell von dort ans
dem Staube macht. Wer nie die Erfahrung gemacht hat,
als Kaufmann unter den Chinesen seine Kunden zn suchen,
wird kaum die Bedeutung dieser Bemerkung verstehen; nicht
nur, daß die Bedürfnisse eines Chinesen sich stets auf ein
Minimum beschränken, das lächerlich gering ist nnd einen
anständigen Nutzen außer Frage stellt, ist ihre schändlich
knauserige Weise des Haudelns genug, um Jemandem, der
gewohnt war, mit den sreimüthigen calisornischen Goldgrä-
bern zu verkehren, vor stetem Aerger die Schwindsucht zu
geben.
Dem jetzt in den Minenländern noch so fühlbaren Man-
gel an Arbeitskräften wird, sobald die Pacisic-Eisenbahn voll-
endet ist, durch eine voraussichtlich zahlreiche Einwanderung
von intelligenten Weißen vom Osten und von Europa in
nicht serner Zukunft schon abgeholfen werden. Gegen eine
innerhalb der Grenzen des Erträglichen sich haltende Zahl
von Chinesen, die sich als Waschlente, Köche, Garten- und
Eisenbahnarbeiter und dergleichen mehr in den Minenländern
nützlich machten, wäre allenfalls nicht viel einzuwenden, ob-
gleich man auch ohne dieselben recht gut fertig werden könnte,
— aber als Minenarbeiter bei Zehntauseudeu sind und blei-
ben sie nur der Fluch dieser Länder. Den Vortheil, welcher
Amerika aus den neuen Handelsverbindungen mit China er-
wächst, weiß anch der Verfasser zu würdigen, und daß die
Chinesen als tüchtige Eisenbahnarbeiter an der Central-Pa-
cisic-Eisenbahn zur Förderung dieses großen internationalen
Werkes viel, sehr viel gethau, ist gewiß aller Anerkennung
Werth. Konnten diese Bortheile, groß wie sie sind, aber nur
dadurch erworben werden, daß Amerika seine schönsten Län-
der so zu sagen mit China theilt, so möchte der Preis davon
doch wohl ein sehr theurer zu uenueu sein.
Vielen ist es vielleicht etwas Neues, wenn ich hier eiu-
füge, daß eine Art von verblümter Sklaverei unter den Chi-
nesen in den Minenlttndern an dieser Küste herrscht. Das
Gesetz, welches die Einführung von Knlies nach Amerika
streng untersagt, wird leicht umgangen. Reiche Chinesen
lassen Tausende von der ärmern Classe ihrer Landslente nach
Amerika kommen und zahlen für sie das Passagegeld uud
anderweitige Unterhaltungskosten. Hier müssen sie das vor-
Theodor Kirchhoff: Die Chinesen im
geschossene Geld abverdienen und stehen ganz und gar in der
Gewalt ihrer reichen Landsleute. Daß ein Chinese sich wei-
gerte, in Amerika seinen in China eingegangenen Contract
zu halten, kommt nie vor, obgleich eine solche in China statt-
gehabte Verpflichtung in Amerika gesetzlich nicht erzwungen
werden kann. Die Chinefen haben aber Gesetze unter sich,
denen sie auf eine nns unbekannte Weife Geltung zu ver-
schaffen wissen. Die reichen Chinesen miethen ihre Unter-
gebenen schaarenweise an Minengesellschaften, als Eisenbahn-
arbeiter :c. ans und versorgen sie mit Lebensmitteln und
Kleidungsstücken zu solchen Preisen, daß es diesen fast uu-
möglich ist, je außer Schulden zu kommen. Minengefell-
schaften können sich jederzeit eine beliebige Anzahl solcher
Chinesenarbeiter von Portland oder San Francisco ver-
schreiben.
Daß die in den Minenländern ansässigen Chinesen nicht
allemal vom Gesetze gegen scandalöse Uebergrisfe seitens
schlechter Subjecte unter den Weißen in Schutz genommen
werden, ist gewiß nur zu beklagen. In Californien läßt
man z. B. die Chinesen nicht als Zeugen vor Gericht zu,
in Folge dessen es schon vorgekommen, daß fo ein nieder-
trächtiger Weißer einen Chinefen auf offener Landstraße be-
raubte uud vor Gericht freigesprochen wurde, weil kein Wei-
ßer den Casus bezeugen konnte, obwohl ein halbes Dutzend
Chinesen den Nanbanfall gesehen hatten und auch alle In-
bieten für die Schuld des weißen Galgencandidaten sprachen.
In Idaho läßt man den Chinesen jetzt mehr Schutz äuge-
deiheu als ehedem. Im vergangenen Sommer wurde z. B.
ein Weißer, der einen schlafenden Chinefen ohne jeglichen
Grund gleichsam zum Spaß am Wachtfeuer todtfchoß, vor
Gericht des Mordes im ersten Grade überwiesen und gehenkt.
Wenngleich die zahlreichen schlechten Subjecte unter den Wei-
ßen in Idaho diesen Hängeproceß einstimmig und laut miß-
billigten und schwuren, es sei eine Schande, einen Weißen
wegen eines lnmpigen Chinesen aufzuknüpfen, fo waren doch
alle guten Bürger des Landes über diese summarische Hand-
habung des Gesetzes hoch erfreut.
Wer der Ansicht ist, daß die Chinesen einen nationalen
Bestandtheil der Bevölkerung dieser Länder bilden oder je bil-
den werden, irrt sich sehr. Keine Chinese sieht Amerika als
seine zweite Heimath an und Keiner von ihnen denkt im Ent-
serntesten daran, freiwillig hier sein Leben zu beschließen. Die
Chinesen haben ihre eigenen Gesetze unter sich beibehalten
uud bilden gleichsam einen Staat im Staate. Es ist uu-
möglich, eine Einsicht in ihre absonderliche Rechtspflege zu
gewinnen; schon die gänzliche Unkenntniß mit ihrer Sprache
macht jeglichen Versuch dazu und den zu einer gesetzlichen
Controle nutzlos.
In Kleidung, Sprache, Religion und Sitten bleiben die
Chinesen, mit sehr geringen Ausnahmen, ganz und gar denen
ihrer Ahuen treu; von der englischen Sprache lernen sie nur
die allernothwendigsten Brocken und sprechen ein entfetzliches
Kanderwälfch. Selbst die von ihren reichen Landsleuten
unabhängig Gestellten, z. B. die Besitzer der einträglichen
Waschgeschäfte, geben zum Besten des allgemeinen Wohls
freiwillig keinen Cent aus; was sie an ^taatsabgabeu zah-
leu müssen, entlockt ihnen manchen himmlischen Fluch auf
die Geldgier der „rothköpfigen Barbaren . Die Chinefen
wollen uiit einem Worte gar keine amerikanischen Bürger
werden und denken nur daran, hier schnell ein paar Dollars
zu ersparen, um damit baldmöglich nach ihrem geliebten China
zurückkehren zu können,' von wo andere Zopfträger in ver-
stärkter Auflage bald ihre Stelle in Amerika wieder einneh-
men werden. Die wenigen löblichen Ausnahmen findet man
fast ausschließlich unter den chinesischen Großhändlern in
San Francisco, welche sich allgemeiner Achtung erfreuen.
Globus XIV. Nr. 7. (October 1868.)
nordamerikanischen Territorium Idaho. 209
In allen kleineren Städten und Minenlagern dagegen an
dieser Küste leben die Chinesen ganz für sich uud Pflegen mit
den Weißen, von denen sie gehaßt werden wie die Pest, ab-
solut gar keinen Umgang. Außer der Untugend einer Lieb-
haberei von Schmutz und Opium haben sie auch noch die
des leidenschaftlichen Hazardfpiels. In ihren Schmutzquar-
tiereu herrscht Abends, wenn sie nach vollbrachtem Tagewerke
beim Spiel versammelt sind, ein Lärm wie von Tausenden
schnatternder Gänse. Daß sie aber fleißig und genüg-
fam sind, muß ihr ingrimmigster Feind zugeben, und hierin
können sie den Weißen an dieser Küste, welche mit jenen
Tugenden eben nicht gesegnet sind, nur als lobenswerthes
Beispiel dienen.
Da von den Frauen des Himmels meistens nur gefal-
lene Engel nach den „Barbarenländern" auswandern, und
in früheren Jahren fast fo viele Chinesen wieder nach Hanse
gingen als herkamen, so vermehrten sich dieselben hier gott-
lob nicht so stark, um die Gefahr einer menschlichen Über-
schwemmung Amerikas vou dem Merhuudert-Millioneu-Reiche
so beängstigend zu machen, als Manche sich dieselbe an dieser
Küste vorstellten. Durch die neue Lüne vou mächtigen See-
dampfern zwischen San Francisco und Hongkong, welche
Schiffe, anßer was zahlreiche Segelschiffe an menschlicher
Fracht uns zuführen, mit jeder Fahrt bereits an 100V Chi-
nefen in Californien landen, von wo aus sie sich nach allen
Richtnngen hin durchs Land zerstreuen, ist die sogenannte
Chinesen-Frage an dieser Küste in einStadinm getreten,
welches wohl das ernste Nachdenken amerikanischer Staats-
männer erheischt.
Wie es möglich ist, diese Chinesen-Ueberschwemmuug in-
nerhalb der Schranken des Erträglichen zu halten, ist eine
schwer zu beantwortende Frage. Da Amerika allen Völkern
gastfrei seine Thore geöffnet, so ist es fast unmöglich, unsere
himmlischen Brüder draußen vorstehen zu lassen, wenn sie
sich einmal entschlossen haben, uns im Hause 'einen Besuch
abzustatten. Jedenfalls ist es die Pflicht des civilisirten Ame-
rika, daß es die mit seiner Erlanbniß hier einwandernden
Chinesen anch in ihren Menschenrechten beschützt. Würden
sich diese hier als amerikanische Bürger fühlen, so wäre die
Hoffnnng, daß das vorherrschende anglo-amerikanische Ele-
ment die tatarischen Volksstämme nach nnd nach im großen
Ganzen verschmölze, nicht so ungerechtfertigt; leider ist dazu
bis jetzt aber gar keine Aussicht vorhaudeu, und der Berfas-
ser kann nicht umhin, die Meinung zu äußern, daß sich Ame-
rika mit dieser immer größere Verhältnisse annehmenden Chi-
nesen-Einwanderuug schwere Sorgen für die Zukunft auf-
geladen hat. Ein Schritt ist jedoch von China aus geschehen,
seinen Söhnen das Land der rothköpfigen Barbaren auch
außer dem hier einzusammelnden Golde lieb und theuer zu
machen; der Kaiser hat nämlich feinen Kindern gnädig er-
lanbt, sich hinfort in Amerika ungestört begraben zu lassen,
wogegen es früher Gesetz war, daß man ihre Knochen wie-
der aus der Erde scharrte und als Schiffsladungen nach China
znrücktransportirte, damit sie in geweihter Erde ruhen könnten.
Ihren Götzendienst haben die Chinefen, wie bekannt, nach
Amerika mitgebracht, und heidnische Tempel sind in den Mi-
nenländern, von San Francisco bis nach Montana, keine
Seltenheit mehr. Wenn es gleich auch die Ansicht des Ver-
fassers ist, daß es im neunzehnten Jahrhundert Jedermann
gestattet fein solle, „nach seiner F«9on selig zu werden", so
möchte er doch nicht behaupten, daß chinesischer Götzendienst
eine besonders wünfchenswerthe Acquisition für das freie Ame-
rika sei.
In Idaho City besuchte ich mehrere Male eine Pagode,
in der eine nette Auswahl der angesehensten Götzen Chinas
sich häuslich niedergelassen haben. Josh, der Hauptgötze, ist
27
210 Richard Oberländer: Ei
ein corpulenter, gemüthlich aussehender Bursche von etwa
drittehalb Fuß Höhe. Er hat vier vergoldete Flügel und
ein halbes Dutzend elegant gewichster Schnurrbarte. In
der Pagode ist allerlei chinesischer Firlefanz und Krimskram
ausgestellt; farbige Weihrauchkerzen brennen auf den Altären,
bunte Papiertüten dienen als himmlische Fidibusse, Blätter,
voll von seltsamem Geschreibsel, sind besonders zahlreich. Ge-
legentlich werden den himmlischen Herrschaften chinesische
Delicatessen aufgetischt, wie Ratteupasteteu, gefüllte Schweins-
magen und namentlich fette Hähne. Im Kaufen von letz-
teren, welche die Chinesen leidenschaftlich als Gericht hoch-
schätzen, sind sie ausnahmsweise unverantwortlich extravagant.
Es ist schon vorgekommen, daß ein Chinese vier Dollars in
Gold für einen besonders fetten jungen Hahn zahlte, den er
dem Josh opferte uud nachher auf dessen Gesundheit selber
verzehrte. Die Ädaho-Hähue sind deu Chinesen als Mör-
dern ihrer Race mehr zu Dank verpflichtet als die Schweine.
Einem Hahn wird einfach der Kops abgerissen, wogegen beim
Schweineschlachten ein halbes Dutzend Chinesen das Schwein
niederwerfen und mit den Händen bei Ohren und Beinen
am Boden festhalten, während der Schlächter dem entsetzlich
Lynchgericht in Australien.
schreienden Thiers mit einem drei Fuß langen stumpfen Mes-
ser vorsichtig den Bauch aufschneidet und es sich lang-
sam zu Tode bluten läßt, was ungefähr drei Viertelstun-
den dauert.
Fremden wird großmüthig der Zutritt in chinesischen
Tempeln gestattet. Der chinesische Doctor, welcher in Idaho
Cantorstelle in der Pagode versah, die ich mit einem Besuche
beehrte, schien sich durchaus nicht beleidigt zu fühlen, als ich
mit mehreren Freunden, eine brennende Cigarre im Munde
und den Hut auf dem Kopfe, vor den Hochaltar ging und
die himmlischen Herrschaften genauer infpicirte. Die dick-
leibigen Götzen mit den sauber gewichsten Schnnrrbärten und
vergoldeten Flügeln sahen uns aus den schiefgeschlitzten Augen
äußerst Pfiffig an, als wollten sie sagen:
„Ihr einfältigen Barbaren, die Ihr uns dummerweife
in Euer Land gelassen und uns erlaubt, das Gold vou hier
nach dem blumigen Reiche der Mitte zu schassen, — Ihr
wäret uns herzlich gern wieder los; aber wir müssen Euch
vorläufig noch ein wenig civilifiren und sind einmal hier,
und hier bleiben wir, und damit Basta!"
Ein Lynchgericht in Australien.
Von Richard Oberländer in Dresden*).
I.
Mißmuthig und Trübsal spinnend saß ich vor meinem
Zelte am niedergebrannten Feuer und verwünschte im rein-
sten Ochsentreiber-Englisch Australien, die Goldfelder, Du-
nolly (meinen damaligen Aufenthalt), meinen Mangel an
Glück, — kurz Alles, was mir in den Sinn kam. Seit
längerer Zeit hatte das Unglück uns verfolgt, und trotz allen
Suchens, Grabens und Waschens hatte sich kein Gold für
nnsere Taschen gesunden. Die Barbestände aus alter guter
Zeit waren längst ausgezehrt; der Store-keeper (Kaufmann,
Krämer) wollte uns nichts mehr borgen, statt des Fleisches
hatten wir schon längst zu Schafsköpfen (angeblich für die
Hunde, welche wir nicht besaßen) unsere Znslucht genommen;
täglich war ich genöthigt, meinen Leibriemen enger zu schnal-
len; in meinen Kleidern, wenn man sie noch so nennen
konnte, hätte ich mich in Europa nicht sehen lassen dürfen,
meine Schuhe waren im erbärmlichsten Zustande, ja selbst
der Trost der Pfeife war uns versagt, denn was wir statt
des Tabacks rauchten, will ich lieber verschweigen.
Man wird hieraus ersehen, daß es mir sehr schlecht er-
ging, und daß ich wohl Ursache hatte, mit einigen nicht salon-
') Unser geehrter Freund war Obergymnasiast, als die Dresdener
Unruhen 1849 ausbrachen. _ Die Verhältnisse machten es seiner Fa-
milie wünschenswerth, den jungen Mann für einige Zeit nach dem
fünften Erdtheile zu schicken, wo er vor einem politischen Processe
sicher war. Australien hat er während eines fast elfjährigen Ansent-
Haltes gründlich kennen gelernt, und nichts ist ergötzlicher, als wenn
er erzählt, was er Alles dort gewesen: Goldgräber, Wachtmeister bei
der schwarzen Polizei, mit welcher er den Buschkleppern nachspürte,
Schafhirt, Karrenschieber, Lehrer, Farmer, Handlungsdiener :c. :c.
Seit etwa sechs Jahren ist er zurück und ein tüchtiger und würdiger
Geschäftsmann, dann auch eifriges Mitglied des Vereins für Erd-
künde in Dresden; in einer Sitzung desselben schilderte er das anstra-
tische Lynchgericht. Wir wollen bemerken, daß gerade auf der Farm,
welche Herr Oberländer in Victoria einige Jahre lang besaß, im
Februar 1868 ein reiches Goldlager entdeckt worden ist! A.
fähigen Redensarten meinem Unmuthe Luft zu machen. Mein
Kamerad Bill, der zwar auf Regieruugskosten wegen Wild-
diebstahls vor länger als achtzehn Jahren nach Vandiemens-
land transportirt worden war, hing mit der größten Liebe
an mir, uud schon seit zwei Jahren kannte ich ihn als einen
treuherzigen, braven Burschen.
Er hatte es ebeu nicht für ein fo strafbares Verbrechen
halten können, einmal für sich und seine hungernden Kinder
aus Gottes freiem Walde einen Sonntagsbraten zu holen,
denn: „Hunger thnt weh." Dies empfand ich gerade jetzt
recht lebhaft und war deshalb doppelt geneigt, mich nur aller
der guten Eigenschaften zu erinnern, die meinen alten Freund
Bill schmückten.
Unser Zeltchen stand allein in einem rings von dicht be-
waldeten Bergen umgebeneu Seiteuthale von Dnnolly. Seit
mehreren Stunden war mein Kamerad nach dem belebtern
Theile der Goldfelder gegangen, um „etwas für den Topf"
zn holen; denn außer etwa einem Pannikin (Zinnbecher)
sehr schlechten Thees uud einem Stück sehr harten, unver-
daulicheu Dampers (in der Asche gebackenes Brot) hatten
wir seit einiger Zeit nichts gehabt.
Der folgende Tag war ein Sonntag. Mit welchen weh-
müthigen Gefühlen erinnerte ich mich daran, wie er sonst
verbracht zu werden pflegte. Natürlich inußte man eine
Stunde länger schlafen; nach eingenommenem Frühstück kam
der Zeitungsmann hoch zu Roß und brachte den „Argus",
in welchem für eine halbe Krone (25 Groschen) die neuesten
Nachrichten vom Kriegsschauplatze zu lesen waren: „Wie
Sebastopol endlich gefallen fei und am Stamme des engli-
schen Königshaufes fchon wieder ein neuer Zweig ansetzte"
und dergleichen mehr.
Dann wurde große Wäsche gehalten, und wenn das erste
Stück zum Trocknen aufgehängt war, der unvermeidliche Pud-
Richard Oberländer: Ei
ding nach allen Regeln der Kochkunst gemischt und ans Feuer
gesetzt. Auch an den „Bummelbraten" wurde gedacht, der
die Mittagstafel zieren sollte.
Bill ließ es sich nicht nehmen, des Sonntags einen Ex-
tragrog zu brauen, um, wie er sich ausdrückte, „die Spinn-
weben vom Magen zu entfernen". Er wußte heute sehr
schöne Geschichten zu erzählen, schlief aber stets kurz vor der
Pointe dabei ein. Wenn aber der Kaffee getrunken war,
den wir Sonntags ausnahmsweise, statt des sonst gewöhn-
lichen Thees, zu uns nahmen, wurde auf die Känguruh- oder
Wombatjagd gegangen oder ein Nachbar besucht. EiueZeit
lang ritt ich sogar zu einem vier Stunden entfernt wohnen-
den Squatter und machte seiner muntern, schwarzäugigen
Tochter Lizzy den Hof. Das war namentlich eine gute Zeit,
denn meine sorgsame Flamme packte mir beim rührenden
Abschiede immer mehr Mundvorrath für die Woche ein als
uns zu verzehren gut war, so daß mein Kamerad auch seinen
Vortheil von meiner Liebschaft hatte.
Ja, sonst waren die Sonntage anders gewesen! Der
morgende brachte wieder die traurige Aussicht auf Thee und
Damper und Damper und Thee und wie es dann, und dann,
und die folgenden Tage werden sollte, daran zudenken, machte
mir Kopfschmerzen. Horch! „Coo — eh!" war das nicht
Bill's Ruf? Als ich ein zweites und drittes Mal dieses
allen Colonisten geläufige Signal der Eingeborenen vom
Berge vernommen, eilte ich meinem alten Kameraden ent-
gegen, dem etwas Besonderes zugestoßen sein mußte. Auf
halber Höhe, etwa eine Viertelstunde Wegs vom Zelte ent-
fernt, saß er auf einem umgestürzten Gummibaume, einer
Rumflasche weidlich zusprechend. „Hilloh, Dick, alter Junge,
kommst Du endlich? — Machst ja ein Gesicht, als wenn
Du hättest Wasser trinken müssen! Da, nimm einen tüch-
tigen Zug aus der Schwarzen, damit die Frösche sterben,
das wird Dir gut thun; schneide Dir eine Pfeife voll guten
Cavendish, dann setze Dich zu mir und halte die Ohren steif,
denn ich bringe gute Nachrichten. Hier ist grub (Lebens-
mittel — Futter) für eine Woche," fuhr er fort, auf einen
großen Sack an seiner Seite deutend, „und in den Taschen
habe ich mehr Goldfüchse, als wir seit langer Zeit gesehen!"
„Aber sage mir nur, Bill," erwiderte ich ganz erstaunt,
„wo hast Dn nur das Alles und namentlich das viele Geld
her? Du hast doch nicht etwa gar--?" — „Du bist
mir ein schöner Freund und Kamerad, kennst den alten Bill
so lange schon und meinst, er könne den Buschranger machen.
Pfui, Dick, wenn ich Dich nicht so lieb hätte, liefe ich Dir,
bloß dieses Verdachtes wegen, auf und davon und behielte
alles Geld für mich! Aber, nichts für ungut, alter Junge.
Komm, trinke noch einmal. Doch Du sollst Alles wissen.
Nachdem ich Dich verlassen und über unser Malheur nach-
denkend mit gesenktem Kopfe nach Dunolly ging, sah ich iu
der dead horse gully (dem todten Pferdethale), gerade an
dem Flecke, wo der rothköpfige Jrländer, der den reichen
claim (Goldgrube) am white hill (weißer Berg) hatte, seine
cradle (Wiege — Apparat zum Goldwaschen) stehen gehabt,
etwas schimmern uud glitzern, ich bückte mich, um den speck
(das kleinste Stückchen Gold) aufzuheben, und denke Dir
meine Freude, als ich eiu großes nugget (Nüßchen Stück
Gold) fand. Ich hätte nun allerdings gleich umkehren mö-
gen, um Dir die freudige Nachricht mitzutheilen, hielt es
aber für besser, Dir eine Ueberraschnng zu bereiten, es zu
verkaufen und mit Lebensmitteln und einer kleinen Stärkung
für den schwachen Magen zurückzukehren. Im störe (Kauf-
mauuSladen) habe ich es verkauft, und denke Dir nur, das
Stück wog über 29 Unzen, so daß ich, trotzdem daß das
Gold sehr niedrig steht, 114 baare blanke Sovereigns (So-
vereign — 1 Pfund Sterling) dafür bekommen habe. Ich
Lynchgericht in Australien. 211
habe nun tüchtig eingekauft und ging dann zu meinem Freunde
Sam, Du weißt schon weshalb.
Hier sah ich sehr bald, daß etwas Ungewöhnliches im
Winde sein müsse. Verschiedene meiner alten Freunde, Jack,
Bob und Yankee-Jim, waren da und flüsterten sehr ange-
legentlich mit einander. Obfchon es mir fast das Herz ab-
drückte, that ich gar nicht, als ob ich etwas merkte, setzte mich
still in eine Ecke, ließ mir einen cobbler gin (Glas Gene-
ver) geben und steckte meine Pfeife an. Endlich fprang Bob
auf, schlug mit der Faust auf den Tisch und schwur, daß es
eine Sünde sei, einen alten churn (Kamerad) in der Roth
zu lassen! Von ihm erfuhr ich, daß der Spitzbube Parker,
welcher den black ball store (Waarenladen „zur schwarzen
Kugel") aus dem Bakery-hill (Bäckerei-Berg) hat, von sei-
nem Bruder gestern einen Brief empfangen, worin er auf-
gefordert wird, sofort zusammenzupacken und mit zwei Ochsen-
ladungen Gütern wenigstens an einen näher bezeichneten Ort
zu kommen; Lebensmittel seien dort fast gar nicht zu haben
und würden horrend bezahlt; so koste z. B. 1 Pfund Mehl
15 Schillinge (circa 5 Thaler, 1 Schilling — 10 Sgr.),
1 Pfund Fleisch 10 Schillinge, 1 Flasche Rum 40 Schil-
linge, und ähnliche Preise mehr.
Das Gold würde aber auch in fast unglaublicher Menge,
namentlich in großen Stücken, gefunden. Nuggets von der
Größe einer Mannesfaust bis zu der eines Kinderkopfes seien
nichts Ungewöhnliches. Noch wären die Diggings, welche
in der Gegend von Mouut Hope (Hoffnungsberg) am Mur-
ray liegen sollen, sehr wenig besucht. Parker habe es auch
nur ihm ganz heimlich mitgetheilt und dabei gesagt, daß er
morgen ganz früh nach jenem Platze aufbrechen wolle, er
möge aber ja davon schweigen, sonst liefen Alle mit und sie
wollten doch natürlich erst das Fett abschöpfen. Morgen
früh halb sechs Uhr vor Sonnenaufgang, fuhr mein Käme-
rad weiter fort, geht Parker mit seinem Store in Begleitung
von einigen seiner Freunde heimlich fort. Was meinst Du,
Dick, wenn wir ihnen nachschlichen und erst beim nächsten
Lagerplatz wie ganz zufällig auf sie stoßen und uns ihnen
anschließen?"
„Du bist und bleibst doch ein alter guter und leichtglän-
biger Mensch," erwiderte ich ihm, „Deine ganze Geschichte
klingt mir ziemlich unwahrscheinlich. Wenn dem wirklich so
wäre, daß ein so reiches Goldfeld aufgefunden, woselbst Stücken
wie die Kinderköpfe groß umherliegen, und Parker foll dahin
kommen, um einen Store zu eröffnen, so muß ihm natürlich
daran liegen, recht viele Kunden mitzuziehen, damit seine
Waaren Absatz finden. Welches Interesse würde er daran
haben, damit heimlich zu thun? Nein, nein, es ist die ge-
wöhnliche Geschichte, wie in allen dergleichen Fällen. Der
schlaue Fuchs weiß sehr gut, daß es uur des kleinsten Win-
kes bedarf, um ganz Dunolly rebellisch zu machen, und um
der Sache ja recht weite Verbreitung zu geben, konnte er
keinen bessern Mann finden als Bob. Trotzdem, daß er es
angeblich Dir allein unter dem Siegel der Verschwiegenheit
mitgetheilt, wird er es einer Anzahl anderer Freunde gleich-
falls gesagt haben und morgen früh wird Alles dem alten
Parker nachziehen, der damit feinen Zweck erreicht hat, ohne
sich bloßzustellen. —
Als ich vor drei Jahren die Gegend um den Murray
herum nach den Buschrangern, welche die Escorte angefallen
hatten, mit meiner schwarzen Polizei durchstreifte, habe ich
leider Mouut Hope kennen gelernt. Die ganze Gegend ist
eine große Wüste ohne Baum, ohne Strauch, ohne Gras
und ohne Wasser, nichts als nackte Granitfelsen und tiefer
Sand. Mir sind dort zwei Pferde wegen Mangels an
Wasser und Futter gestürzt uud ich selbst will noch lange
daran denken. Wo da das Gold herkommen soll, kann ich
27*
212 Richard Oberländer: Ei
nicht begreifen, aber noch weniger, wie es gewaschen werden
kann."
„Du siehst immer so schwarz und hast dem alten Parker
niemals etwas zugetraut," erwiderte Bill ganz entrüstet, „der
Kerl würde es nicht sagen, wenn es nicht wahr wäre. Trotz-
dem daß Du die Gegend kennen willst, kann es ja eine ver-
steckte Gully geben, wo Wasser genug ist, um den Stoff zu
waschen. Es foll überhaupt meistenteils bloß nach Nnggets
dort gesucht werden. Ich dächte, wir gingen hin und ver-
suchten unser Glück; schlechter wie hier kann es nirgends
gehen." —
Ich versuchte noch einiges Einreden: da aber mein Ka-
merad es sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, fortzugehen,
ich aber auch in der That felbst nicht wußte, was ich ferner
beginnen follte, fo gab ich endlich zur großen Freude des
alten Burscheu nach. Wir trugen nun den Sack, der schwer
mit Lebensmitteln gefüllt war, in unser Zelt, zündeten uns
ein riesiges Feuer an, bereiteten uns den lang entbehrten Ge-
nnß einer ordentlichen Mahlzeit, wozu natürlich ein tüchtiges
Stück Fleisch gehörte, rauchten vergnügt nnsern Taback und
mein Kamerad sprach der Flasche nach Kräften zu. Als
aber am andern Morgen vor Tagesgrauen die magpie (die
australische Elster) ihr Lied pfiff und der Morgenstern den
Beginn des Tages ankündigte, hatten wir unser Zelt abge-
krochen, und mit unseren wollenen Decken, Kochgeschirr und
Arbeitsgeräth bepackt zogen wir über den Berg und in die
Nähe von Parker's Store. Wir kamen gerade zur rechten
Zeit, denn schon war eine Ochsenladnng Güter fort und
eben schickte sich der Besitzer an, sich in Begleitung der zwei-
ten auf den Weg zu machen. Zwei oder drei andere Gold-
gräber kamen auch zum Vorschein, und freneten sich, in unserer
Begleitung nach den neuen Goldfeldern zu geheu, von denen
sie sich goldene Berge versprachen. Unser Führer, hinter
dessen Wagen wir jetzt schritten, that anfangs, als ob er
ungehalten sei, daß wir uns zu ihm gesunden hätten, bern-
higte sich endlich aber wieder und sprach die Hossnuug aus,
daß nicht noch mehr davon erfahren haben möchten, und uns
folgten.
Aber wie ich es vorausgesehen hatte, so geschah es. Wir
waren kaum eine Viertelstunde gewandert, als sich eine be-
trächtliche Anzahl zu uns gesellte, und als wir auf einem
freien Platze gegen acht Uhr Halt machten, um unser Früh-
stück zu bereiten, zählten wir bereits einige Hundert, die sich
uns offenbar anschließen wollten.
Parker, dem man ansehen konnte, daß er innerlich dar-
über schmunzelte, spielte meisterhaft den Unschuldigen und
versuchte mir begreiflich zu machen, wie uuaugeuehm es ihm
sei, daß der Inhalt des von feinem Bruder empfangenen
Briefes und sein Fortzug so bekannt geworden. Er nahm
mich heimlich auf die Seite uud zeigte mir diesen Brief
selbst, in welchem allerdings mit starken Farben des reichen
Fundes gedacht war, den sein Bruder an jenem Orte gethan
haben wollte; namentlich aber war hervorgehoben, daß Lebens-
mittel sehr theuer und fast gar nicht zn erlangen seien, des-
halb folle er eine tüchtige Ladung mitbringen. Nach dem
Frühstücke wurden die Ochsen wieder angeschirrt und wir
machten uns auf den Weg, geführt von Parker, der ihn na-
türlich allein angeben konnte. Kein Wort wurde darüber
verloren, wo es hinging. Es war klar, daß Alle von dem
Briefe Kenntniß hatten und mit der die Goldgräber charak-
terisirenden Blindheit dahin zogen, .wo Andere ihr Glück zu
machen gedachten. Wenn man dem Goldgräber nur von
recht fabelhaften Funden erzählt, so kann man darauf rech-
nen, daß er sein gutes Auskommen und Alles verläßt, um
das vorgespiegelte Bessere zu erlangen. Trotzdem daß er
schon oft bitter enttäuscht worden ist, geht er immer und im-
Lynchgericht in Australien.
mer wieder in die Falle. Und so war es auch hier mit uns
und den Anderen, die Parker folgten und deren Zahl sich
stündlich mehrte. Es giebt wohl keinen Stand, welcher ein
so trauriges Leben führt, wie die Goldgräber, keinen, der
mit fo vielen Entbehrungen zn kämpfen hat, keinen, der fo
viel und schwere Arbeit hat, und keinen, der so betrogen wird.
Aber der Goldgräber ist in steter Aufregung; wenngleich
er sich täglich, Wochen und Monate lang plagt und er des
Oestern erfahren hat, daß er bei jeder andern Beschäftigung
schließlich mehr verdienen würde, so läßt er sich doch nicht
leicht davon abbringen, sondern hofft und hofft, daß auch ihm
einmal das Glück lächeln und er mit einem Schlage ein
reicher Mann werde. Solche Fälle sind nun zwar vorge-
kommen, aber die große Menge der Goldgräber verdient
kaum das tägliche Brot, und nicht jeder'Goldsncher ist auch
ein Gold sin der. Eben so selten, wie es sich bei uns ereig-
net, daß Jemand einen nennenswerthen Gewinn oder wohl
gar das große Loos in der Lotterie gewinnt, eben so selten
verdient der Goldgräber mehr, als er bei den sehr theuern
Lebensmitteln zu seinem Unterhalte gebraucht.
Die Fleischer, Kansleute :c. machen bei weitem die besten
Geschäfte und sie sind die eigentlichen Goldsinder; sie be-
schwindeln die Leute auf die unverantwortlichste Art. Unter
200 bis 300 Procent machen sie schon gar keine Geschäfte
und suchen sich dabei mit den schlechten Wegen, mangelhasten
Transportmitteln?c. zu entschuldigen.
Es giebt wohl auf den Goldfeldern einige Wenige, die
vom Glücke begünstigt sind, und diese spornen die Anderen
zn regem Fleiße an, so daß in fabelhaft kurzer Zeit der ganze
Boden im Umkreise durchwühlt wird. Denn plötzlich tauchen
wohl vage Gerüchte auf, daß an dem oder jenem Platze ein
reicher Fund gethan worden sei. Da verändert sich das Bild
mit einem Schlage, die Zelte werden abgebrochen, die Bün-
del werden geschnürt und in wenigen Tagen ist der Ort, an
welchem erst so reges Leben herrschte, eine traurige Einöde,
bis die fleißigen Chinesen einziehen, die gewöhnlich noch eine
reiche Nachlese _ halten. Der Goldgräber ist ein echter No-
made. Die leichten Zelte werden abgebrochen und ans dem
Rücken nach einem andern Platze hingetragen. Das Wenige,
was er zu seinem Lebensunterhalte braucht, findet er schließ-
lich überall, wenn er auch je nach der Entfernung von be-
wohnten Plätzen mehr dafür bezahlen muß; und vielleicht
wird er doch noch einmal einer der Auserwählten, die in
wenigen Stunden sich Tansende von Pfunden Sterling er-
graben. Kamen doch einst, als Australiens Goldfelder in
Blüthe waren, drei junge Kaufleute mit dem Dampfer „Great
Britain" in Melbourne an, denen man es auf den ersten
Blick ansehen konnte, daß sie die schwere Arbeit, die Stra-
pazen und Entbehrungen auf den Goldfeldern nicht würden
ertragen können. Ein gewiffenlofer Mensch erlaubte sich mit
den armen Burschen den Spaß, sie nach Ballarat, einem
Orte, welcher zu jener Zeit fast ganz verlassen war und fast
keine Ausbeute mehr lieferte, zu schicken. Nachdem sie dort
angekommen, untersuchten sie gleich am ersten Tage eine
Grube, die Andere verlassen hatten,,weil nichts darin zu sin-
den gewesen war. Zwei Schläge der Picke brachten die El-
lenritter auf das reichste Goldlager, was je in Australien
gefunden worden war, und in weniger als vierzehn Tagen
kehrten die armen bespöttelten Abenteurer als steinreiche
Leute mit dem „Great Britein" nach England zurück. Der
Platz, au dem sie den reichen Fund gethan, wird noch heute
vorzugsweise der Iuwelierladen genannt und hat das groß-
artigste Ergebniß in der Geschichte des Goldgrabens geliefert,
was je dagewesen. Dies ist aber, um das Sprüchwort der
Engländer zu gebrauchen, „wie die Besuche der Engel, selten
und weit aus einander." — Einen solchen plötzlichen Auf-
Gustav Kachel: Das nächtliche Lebe
brach von einem Goldfelde nach dem andern nennt man einen
„Rush", und ans einem solchen waren wir begriffen.
Der Einwanderer, welcher im Januar oder Februar an-
kommt, sieht erschrocken auf das Land seiner Wahl, indem
er nichts weiter um sich her erblickt, als die Bemühungen der
Pflanzenwelt, sich unter der brennenden Sonuenglnth eiu
kümmerliches Dasein zu fristen. Das Gras ist überall zn
Heu vertrocknet, und die blassen, herabhängenden Blätter der
Gummibäume tragen ebenfalls dazu bei, der ganzen Scene-
rie einen traurigen Eindruck zu verschaffen. Aber wenige
Tage Regeu uud mildes Wetter genügen selbst in den heiße-
sten Monaten, für eine Zeit lang das verlorene Grün wie-
zur Zeit des Ramadan in Aegypten. 213
der hervorzuzaubern, und mit den Regenschauern des Herbstes
ist es bald ganz wieder hergestellt. Der Monat October,
der in Australien die Mitte des Frühlings bildet, repräfen-
tirt das Land im günstigsten Lichte, dann ist die Pflanzen-
welt kräftig und üppig. Taufende von Blumen bedecken
weithin das Land, die blühenden Acaeien verbreiten einen
herrlichen Wohlgeruch, und in den Zweigen der Bäume sitzen
muntere, buntfarbige Papageien. In den Herbst- und Win-
termonaten ist hier die Natur iu voller, schaffender Thätig-
keit, während im glühenden, trocknen Sommer, wenn kein
warmer Regen, kein Tröpfchen Thau die welken Pflanzen
erquickt, die Zeit der Ruhe für sie gekommen scheint.
Das nächtliche Leben zur Zei
(17. Januar bis 1
Bon Gust
Unter den Mondmonaten des mohammedanischen Jahres
besindet sich einer, welchem vor anderen die Bezeichnung des
„gesegneten" zu Theil wird: er ist der geheiligte Fasten-
monat, der Ramadan.
Sobald nach Verlauf des vorhergehenden Monats der
äußerste Rand der fahlen Neumondsichel am Firmament er-
scheint, verkündet der feierliche Ruf der Muezzins von den
Höhen der Minarets den Söhnen des Islam den Beginn
des Fastenmonats, welcher die bisher eingehaltene Haus-
und Lebensordnung in eine völlig umgekehrte verwandelt.
Denn das Gesetz Mohammed's erheischt von nun an während
dreißig Tagen von Aufgang bis Niedergang der Sonne Ka-
steiung. Jeder Speise und jeden Getränkes, ja selbst des
Tabacks muß der Gläubige sich enthalten; die gottesdienst-
lichen Handlungen unterbleiben, die Moscheen sind geschlossen,
der geschäftliche Berkehr, ja selbst fast alles häusliche Leben
stockt. Erst wenn das Tagesgestirn sich gesenkt hat, rufen
die Sänger zum Gebet, und dann beginnt das nächtliche,
eigenthümlich geheimnißvolle Leben des Ramadan. —
Es war am Nachmittage des 17. Jannars im Jahre
1866, als während unseres Aufenthaltes in der „hochgeehrten
Stadt der Chalisen" ein Kanonenschuß von den Wüllen der
die Stadt überragenden Citadelle den Bewohnern Kairos
den Beginn der Fasten kundthat. Bald erschollen auch von
den Hunderten der Minarets, welche einer Menge von schlan-
ken Masten gleich über Kairo sich erheben, die ernsten, kla-
genden Gebetsrufe. Alsbald ordnete sich das Volk bei der
Esbekieh, dem Polizeipalaste, mit Priestern, Militärbegleitung
und Musik zur Procession und begrüßte, indem es unter
Freudeukläugeu die Muski eutlaug zog, deu gesegneten Ra-
rnadau.
Jetzt schloffen sich die meisten Läden der zahlreichen Ba-
zare; nur hier und da folgte ein schlauer Speculaut, wohl
mehr auf goldschwere Fremdlinge als auf gläubige Mos-
lems rechnend, nicht der Vorschrift des Gesetzes und ließ seine
Bude offen. Das unermüdliche Klopfen und Hämmern der
Kupferschmiede am Ende der Muski verstummte; die Schu-
ster legten die Ahle uud die spitzschnäbeligen rothen Saffian-
Pantoffeln bei Seite, die Töpfer hörten auf ihre Scheibe zu
drehen, die Teppichhändler schlössen ihre Chans. Der Sei-
denverkäufer legt feine kostbaren Stoffe sorgfältig in Schich-
ten über einander, ehe er schließt. Der Waffenhändler aus
t des Ramadan in Aegypten.
5. Februar 1 866.)
w Kachel.
Damaskus, der noch eben allseitig seine Schätze angepriesen,
läßt Jatagans und Dolche jetzt im saltigen Gewände ver-
schwinden. Ja selbst der behende Kasfeewirth läßt die gleich
dem heiligen Feuer der Vesta sonst nie erlöschende Gluth
unter seinen Kannen zu Asche werdeu, und dem Moslem
mit dem sorgfältig gewundenen weißen Turban und dem lau-
gen blaufchwarzeu Kaftan, welcher sich eben noch mit einer
Tasse des schwarzen Getränkes die richtige Stimmung zum
Feste verleihen wollte, bleibt nichts übrig, als dieses sogleich
mit Fasten zu beginnen. Sogar der würzige Rauch der
Tschibuke steigt nicht mehr empor und das Kollern des N«r-
gileh fchweigt. Der Barbier schüttet sein Seifenwafser aus,
denn nimmermehr wird es ihm einfallen, jetzt noch das Haupt
eines Gläubigen zu fcheeren.
So unterbleibt fast alles öffentliche und häusliche Lebe»
am Tage. Die sonst so belebten Kaffeehäuser, welche in allen
Straßen zu treffen sind, stehen leer, großentheils ist die bogen-
überspannte Eingangsthür, auf welcher Malereien in grüner,
rother uud weißer Farbe prangen, fest verriegelt; kein Rauch
steigt voil den Dächern der Häuser empor, denn nirgends
brennt mehr ein Herdfeuer. Vou der Straße verschwinden
die Orangenverkäuferinnen; die Bäcker „haben zu", überhaupt
kein Verkäufer von Lebensmitteln zeigt sich mehr und der
Fettgeruch des am Spieße gebratenen Hammelfleisches und
des Pillau duftet nicht mehr in weite Entfernung. Die
Wasserträger schleichen matt und ohne nach ihrer Gewohn-
heit mit ihren Blechfchalen zu klappern dnrch die Straßen.
Ohne Pfeife sieht man hier und da einen Gläubigen vor
dem Hause sitzen, sehnsüchtig den Abend erwartend; andere
gehen vorüber niit ernsten Gesichtern und stummein Gruße;
denn ihnen fehlt heute Ruhe und „Kief". Die Lastträger
keuchen schlaff ihres Weges dahin, die sonst so munteren Esel-
jungen sind heute ebenfalls düster und verschlafen, und selbst
ihren Thiereü sieht man die Fastenzeit an. Alles ist wie
gelähmt. Die meisten Moslems verlassen jetzt nicht die küh-
leren Räume ihrer Behausung. Auf den Divan hingestreckt,
suchen sie im Schlafe den Kief, welchem sie heute nicht bei
Tschibuk und Kaffee fröhnen können.
Wie schon erwähnt, sind auch die regelmäßigen Religions-
Übungen auf die Nacht verschoben, sogar die Derwische unter-
lassen ihren Kreiseltanz. Die meisten seit Beginn des Ra-
inadan geschlossenen Puden bleiben mich während der ganzen
214 Gustav Kachel: Das nächtliche Leben
Dauer desselben confeqnent geschlossen, und natürlich ist des-
halb auch die Bevölkerung der Bazare eine weit spärlichere,
und es bringt einen eigenen Gegensatz hervor, jetzt einige
Stille dort zu finden, wo man bisher nnr tosendes Gewühl
gewohnt war. Auch die dichtverschleierten Schönen der Ha-
rems, welche man sonst begleitet von ihren schwarzen Skla-
Vinnen handelnd im Bazar antraf, sehlen nunmehr gänzlich.
Endlich neigt sich die glühende Sonne dem Untergang.
Die bisher verschlossenen Läden der Häuser und die Buden
ösfnen sich. Aus dem Thorwege tritt der Moslem und er
ist schon mit dem Füllen des Tfchibnk beschäftigt. Aus den
Tags über erstorbenen Zügen taucht wieder einiges Leben
auf und erwartend blitzen die Augen.
Da endlich erdröhnt von der Citadelle der langersehnte
Kanonenschuß, welcher dem Jslamiten den Untergang der
Sonne und somit das Ende des Tages bezeichnet; ihm sol-
gen die Klange der Sänger von den Minarets der Moscheen.
Mit den Worten: „Gott ist groß, gesegnet sei die
Nacht des Ramadan!" beginnt der Muselmann in langen
Zügen neuen Lebensodem einzusaugen. Aus dem Hause
bringt der schwarze Diener die Labe des Kaffee, welche der
Herr mit Würde genießt.
Jetzt beginnt es lebendig zu werden auf den Straßen,
Handelsgeschäfte werden noch abgemacht, die Verkäufer rufen
unaufhörlich ihre Waaren aus. Alles raucht und trinkt ge-
fchäftig Kaffee, um die Lebensgeister wachzurufen. Der Kaf-
feewirth vermag kaum über das stets sich mehrende Bedürf-
niß nach dem Labetranke und Nargilehs Herr zu werden.
Jetzt werden die Araber auch wieder gesprächig und man
sieht sie in zahlreichen Gruppen beisammenstehen. Von allen
Dächern wirbeln Rauchsäulen empor, denn überall wird nach
Sonnenuntergang aus allen Kräften gekocht, gebraten und
gesotten. Die einbrechende Dunkelheit, welche sonst das Ende
des Tagesgeräusches herbeiführt, übt nunmehr keine Gewalt;
denn überall zeigen sich Lichter. Die Buden, in welchen
herrliche Früchte, Orangen und Feigen, Datteln und syri-
sches Obst zur Schau liegen, die Läden der Bäcker, die zahl-
reichen Garküchen, die vielgesuchten Specerei- und Tabacks-
läden, — alle sind sie mit dem landesüblichen Fanns er-
leuchtet, welcher von der Decke herabhängt. Die Moscheen
sind mit Kronleuchtern und tiefhängenden Lampenkreisen ganz
magisch erhellt, und durch die offenen mit weiten« Holzgitter
versehenen Fenster dringt der gespenstige Lichtschimmer und
das andächtige Gebetsmurmeln der Gläubigen weit heraus
auf die Straßen.
Aus den Europäer macht dieser nächtliche Gottesdienst,
bei welchem die Araber theils stehen und mit erhobenen Ar-
men beten, theils auf den Knien liegen oder vorn sich über-
beugend mit der Stirn den Boden berühren, stets unter lau-
tem Gebet, einen mystischen, ergreifenden Eindruck.
Schon weithin sind die geheiligten Stätten der Moscheen
kenntlich durch die Lampenkränze, welche, an den Gallerten
der hohen Minarets aufgehangen, leuchtenden Sternen gleich
durch die Nacht ihr Geflimmer senden. Auch der Halbmond
auf der Spitze jeglichen Minarets zeichnet sich hell am Nacht-
Himmel ab und verkündet die Herrschaft des Islam. In
buntem Lichtschimmer glänzen die Wände der Esbekieh, die
zur Erleuchtung mit eigenen Gerüsten überzogen siud; hier
wechseln Halbmonde und Sterne. In einem geräumigen
Gemache, dessen weites Portal nach einer ziemlich engen
Straße geöffnet ist, sieht man beim Scheine zahlreicher Lam-
Pen die arabische Priesterschast, eine Art Kirchenrath, ver-
sammelt. Emsig und ohne sich von den Neugierigen unter
der Thür stören zu lassen, betreiben sie ihr Koranlesen. Sän-
ger und Koranleser führen sie an. Die Wände sind mit
bunten Teppichen behängt.
zur Zeit des Ramadan in Aegypten.
Mit Papierlampen ausgerüstet ziehen die Bewohner der
Stadt durch die Straßen nnd erschrecken die Schaaren der
herrenlosen Hunde, welche gewohnt sind, daß ihnen allein die
Nacht gehöre. Heller Schein dringt ans den jetzt weitgeössneten
Kaffeehäusern. Alle Divans sind besetzt mit kauernden Ge-
stalten,.ja selbst vor die Thür hat man palmgeflochtene An-
karebs herausgetragen, damit die Menge der Gäste hinrei-
chend Platz finde. Geschäftig rennt der Kasseetschi aus und
nieder; hier reicht er einem die gefüllte Tasse, dort nimmt er
eine leere ab, diesem legt er mit langer Zange Kohlen auf
den Tfchibuk; jetzt muß er einen Tschibnk frisch füllen oder
mit dem persischen Tombaki, der bisher in ein feuchtes Tuch
geschlagen war, eiu Nargileh oder ein Gohs, die Kokoswaf-
serpseife, Herrichten. Dann eilt er wieder zu seinem Herde,
stellt die Kannen tiefer in die Glnth und sieht nach, ob das
Waffer kocht oder der Kaffee aufgesprudelt hat. Je eiliger und
hastiger der Kasfeewirth feine Gäste bedient, um so ruhiger
und unbeweglicher sitzen diese, eingehüllt in ihre bunten Ge-
wänder und blasen die blauen Rauchwirbel empor.
Kein Wort ertönt von ihren Lippen, denn Alle lauschen
sie dem arabischen Märchenerzähler, welcher im Hintergrunde
des Raumes seinen erhöhten Sitz hat. Mit näselnder Stimme
führt er der Gesellschaft die Gebilde der orientalischen Poesie
zu Gehör. Je nach dem Inhalte der Erzählung wird seine
Stimme hoch oder tief, jetzt ernst und gemessen, dann geheim-
nißvoll flüsternd, jetzt scheint er eine Persönlichkeit nachzn-
ahmen oder einen vortrefflichen Witz gemacht zn haben, denn
plötzlich verlieren die ernsten Zuhörer ihre bisher bewahrte
Würde und brechen in ein nachhaltiges und lautes Gelächter
aus. Dann singt der Erzähler irgend eine arabische Ro-
manze von Lieb' und Liebesweh mit schmerzlich erregter
Stimme und begleitet ausdrucksvolle Stellen mit einem Schlag
auf die Darabnka. Durch Erzählung und Gefang lockte
er immer noch mehr Gäste herbei; bis tief in das Morgen-
grauen herrscht Leben und Bewegung in dem Kasseehanse
und erst spät schleichen die übernächtigen Gäste nach Hanse,
um in langem Schlafe, tief in den Tag hinein, nene Kraft
zu sammeln sür folgende Nächte.
Aus einem andern Kasfeehanfe dringen taktmäßig die
Klänge des Tambourin und der Darabnka und das Klap-
Pern der Castagnetten; arabische Tänzerinnen, die söge-
nannten Gawasis, treiben daselbst ihr Wesen. Es sind
schlanke, hochgewachsene Gestalten von schönen und vollen
Körperformen, aber großenteils häßlich von Gesicht. Ihre
Tracht besteht in einem auf der Brust geöffneten Jäckchen,
welches gewöhnlich mit Schnnrstickereien verziert ist; die Brust
selbst ist nur von einem leichten Schleier bedeckt, der an den
Hüften unter der Jacke wieder hervorquillt uud unter welchem
man die bräunliche Hautfarbe hervorblicken sieht. Sie tra-
gen weitfaltige, bunte Beinkleider und an den nackten Füßen
meist gelbe Pantoffeln, deren sie sich beim Tanzen entledigen.
Ein leichtes Tuch ist um das blauschwarze Haar gewunden;
oft sind daran Goldmünzen befestigt. Verschleiert sind die
Tänzerinnen natürlich nicht. Auch um den Hals tragen sie
Münzketten; an den Händen nnd oft auch an den Knöcheln
der Füße Silberspangen. Ein blautättowirter Stern ziert
die Stirn. Augenbrauen und Wimpern sind mit Kohle
schwarz geschminkt. Ueber das Kinn ziehen sich senkrechte
blane Streifen. Auch an den Händen haben sie blaue Zei-
chen und die Fingernägel sind mit Henna roth gefärbt. So
ist die ägyptische Schönheit vollendet und nur die Huris im
Paradiese Mohammed's können sie übertreffen.
Der Tanz selber, welchen die Taktschläge der Darabnka,
eine Cither oder eine schneidige Violine begleitet, besteht in
schreitenden und drehenden Bewegungen. Der Hauptreiz
aber liegt für die Moslems in den zitternden Mnskelbewe-
Gustav Kachel: Das nächtliche Leben
gungen der nur leicht verschleierten HUftengegend, in deren
Ausführung die Tänzerinnen unglaubliche Fertigkeit und Ge-
schwindigkeit besitzen. Dazu erheben sie die Arme, spielen
mit den Castagnetten und lächeln verschmitzt und lüstern.
In den Momenten der Erholung schmiegen sich dieGawasis
kosend an irgend einen der Zuschauer, und machen panio-
mimisch ihre Liebeserklärung. Das Ganze trägt übrigens
einen der Natur des Orientalen entsprechenden sinnlich er-
regten Charakter. Mit Wohlgefallen folgen die Augen der
rauchenden Araber jeder Bewegung. Rundtänze oder Tänze,
an denen auch die Männer teilnehmen, kennt der AegyP-
ter nicht. —
Weiter fortschreitend durch die Straßen, sahen wir auch
noch ein Cafe, dessen Gäste sich dem verbotenen Genüsse
des sogenannten Haschischrauchens hingaben. Theilweise
waren sie schon der Sinne beraubt in paradiesische Träume
eingewiegt. Nur wenige Züge aus der Pfeife genügen, um
den bei dem Araber überhaupt nicht sehr lebendigen Geist
der Welt zu entrücken. Durch den wiederholten Genuß des
Haschisch erschlaffen die Nerven ungemein und das schließ-
liche Resultat desselben ist völlige Entkrästnng und geistige
Dumpfheit.
Erst wenn schon die Vorbotin des Tages, die Morgen-
dämmernng, am Himmel sich zeigt, werden Läden und Cafes
geschlossen und senkt sich der Schlaf über die Stadt. Will
man am Tage Jemanden sehen oder sprechen, so darf man
erst spät zu diesem Zwecke sich auf den Weg machen; denn
jetzt bildet, wie schon mehrfach erwähnt, der fortgesetzte Schlaf
die Hauptbeschäftigung des einförmigen Tages.
So wird während der ganzen Ramadanzeit die Nacht
zum Tage gemacht, bis am Morgen der Kanonenschuß von
der Citadelle zur Kasteiung gemahnt. In den letzten Ta-
gen aber, wenn schon der Schlußfeiertag, der Beiram, vor
der Thür steht, gewahrt man mitunter schon am Tage, zu-
meist aber während der Nachtzeit eine besonders rege Thä-
tigkeit in den Bnden der Schneider und Gewandhändler.
Da kauern die Gesellen mit untergeschlagenen Beinen auf
ihrem Schrägen und die Nadel fährt unermüdlich über neue
Gewandstücke hin und wieder. Besonders sieht man viele
Jacken theils von buntfarbigem Sammet, Heils von Woll-
oder Seidenstoffen, die mit goldenen Schnurstickereien über-
laden werden, theils weiße Jacken von steifem Wollstoff mit
schwarzer und rother Verzierung. Die Hände haben Vollaus
zu thnn, um bis zum letzten Tage rechtzeitig fertig zu werden.
Denn am Feste des Beiram, wo unter lautem Jubel
und fanatischer Ausgelassenheit der Ramadan endigt, erheischt
die geheiligte Sitte, daß jeder Moslem sich und die Seinen,
ebenso auch Sklaven und Sklavinnen neu und festlich kleide.
Deshalb blüht in dieser Zeit der Weizen der Schneider. Denn
jahrüber haben sie nur wenig frische Arbeit, da die Araber
uud überhaupt die Orientalen die Kleider so lange tragen,
bis sie zu Lunipen zerrissen sind und von Schmutz glänzen.
Der gesegnete Ramadan dauert so lange, bis von Stam-
bnl, dem Sitze des obersten Musti, des Scheik-nl-Jslam, der
weltverbindende Telegraphendraht die Nachricht bringt, daß
wieder die Neumondsichel sich zeige. Dann beginnt wieder
die gewohnte Lebensordnung und die Nacht ist der Ruhe zu-
i zur Zeit des Ramadan in Aegypten. 215
rückgegeben. Der Moslem ißt, trinkt und raucht wieder am
Tage, die Bazars sind mit Besuchern gefüllt, die eindringlichen
Rufe der verschiedenen Verkäufer erschallen allerorts, der
Ambos klingt und die frommen Derwische drehen sich wieder
in schwindelndem Kreiseltanz.
Nicht sehr lange nach dem Schlüsse der Fastenzeit sieht
die Stadt Kairo abermals einen festlichen Tag. Es ist der
Auszug der Pilgerfchaaren und des Kameeles mit
dem heiligen Teppich, welche zum Feste des Kurbau-
Beiram nach Mekka wallfahrten. Durch die Todtenstadt,
an den Chalisengräbern vorüber ziehen sie vom Ramhiliplatze
aus, begleitet vou zahlreichem Volke hinaus in die Wüste.
Unterwegs, aus mühevoller Pilgerschaft, trifft die ägyptische
Karawane mit der von Konstantinopel kommenden zusammen,
und vereint ziehen beide ein in die heilige Stadt zum Grab
des Propheten uud zur vielgenannten Kaaba.
Leider konnten wir diesen Auszug nicht mit ansehen, denn
die zweite Hälfte des Ramadan brachten wir auf dem Nil
und in Oberägypten zu. Indessen hatten wir ans diese Weise
Gelegenheit zu beobachten, wie auf dem Lande der Ramadan
mehr oder weuiger streng inne gehalten wurde. Wenn auch
hier uud da am Tage gearbeitet wurde, ja fogar öffentliche
Märkte stattfanden, so wurde doch aus Fasten nnd Nichtran-
chen überall streng gesehen.
Ein höchst malerisches und anziehendes Bild gewährte
uns eines Abends (8. Februar) die Stadt Girgeh in Ober-
ägypten. Schon vom Nil aus nahm man eine über der
Stadt schwebende Lichtatmosphäre wahr, in welche die Palm-
krönen düster hereinragten. Zerstreuten Sternen gleich glänz-
ten die Lampenkränze der Minarets. Die Bazarstraße, von
Palmstämmen überdeckt, welche den schattenbereitenden Mat-
ten als Stütze dienten, war erleuchtet und belebt. Viel Ver-
kehr in den offenen Kaffeehäusern, hier und da erklang der
Schall der Darabnka und rasselten die Metallplättchen des
Tambonrins. In den Lüden hingen dieFanusse; beim Tschi-
bnk in beschaulicher Behaglichkeit kauerten die Insassen.
Während unserer Nilfahrt hatten wir auch öfters Gele-
genheit, die erschlaffende Wirkung des Fastens an unseren
Matrosen kennen zu lernen. Den Tag über wollte nichts
von Statten gehen, und wahrscheinlich wären wir zu einer
andern Zeit weniger oft auf Sandbänken aufgefahren, von
denen wir nur mit gewaltigen Anstrengungen loskamen, trotz
dem, daß stets in solchem Unglücksfall der zu Alexandria be-
grabene heilige Scheck Abul-Abas unermüdlich zur Hülfe an-
gerufen wurde.
Als wir am 15. Februar um die Mittagsstunde zu Es-
ueh, dem alten Latopolis, in Oberägypten landeten, hatte
gerade die Nachricht vom Ende des Ramadan sich verbreitet,
und mit Hast sahen wir die bisher ruhigen, phlegmatisch da-
hinschleichenden, oder an einer schattigen Mauer in Schlnm-
mer versunkenen Araber in die Häuser stürzen, aus welchen
sie binnen Kurzem mit rauchender Pfeife und fröhlichen Ge-
sichtszügen wieder hervortraten. Auf jedem Herde loderte
bald ein lustiges Feuer und der schwarze Lethetrank des Kaffee
versöhnte die bisher Entsagenden wieder mit dem Leben, das
von jetzt an in das Geleise des Alltäglichen wieder einlenkt.
2IG Das Erdbeben in Südamerika im August 1868.
Das Erdbeben in Süda
„Die Natur ist aus den Fugen!" Es bebt in fast
allen Regionen des Erdballs und mit einer Heftigkeit, wie
kaum je zuvor. Seit Jahre« ist kaum ein Monat vergangen,
in welchem nicht ans der einen oder andern Gegend ein Erd-
oder Seebeben gemeldet worden wäre, und die gewaltige Ka-
tastrophe, von welcher im November 1867 die westindische
Insel St Thomas heimgesucht wurde, ist uoch in frischem
Gedächtniß. Die Reihenfolge der seismischen Bewegungen,
welche während der letztverflossenen vierzehn Monate statt-
gesunden haben, begann mit einem Seebeben bei den azo-
rischen Inseln im Juni 1867 , über welches wir seiner
Zeit im „Globus" einige Notizen nuttheilten. Seitdem ist
keine Ruhe mehr gewesen. Es wäre von Interesse, alle diese
Erschütterungen in chronologischer Ordnung zusammengestellt
und die verschiedenen Oertlichkeiten auf einer Karte verzeich-
net zu sehen; wir können aber im Augenblicke nur einige
Notizen gebeu.
Am 16. December 1867 begannen die Erdbeben im
Neapolitanischen und dauerten mit Unterbrechungen bis
in den Januar hiueiu. Ju der Stadt Neapel verspürte man
mehrere Stöße; der Vesuv ist seit einer laugen Reihe von
Monaten sehr thätig. — In einer mehrere tausend Meilen
entfernten Gegend, in dem damals uoch russischen Alafchka,
war die Erde 1866 vielfach iu Unruhe; am 5. September
war das Beben auf der Insel Kodiack sehr heftig, und am
20. September verspürte man ein solches zu Antioch in
Calisornien. In dem letztern Staate waren die Erschüt-
terungen in den Jahren 1864 bis 1866 sehr hänfig und in
San Francisco einige Mal so heftig, daß man den Unter-
gang der Stadt befürchtete.
Im März 1868 fand dann der Ausbruch des Mauna
Ron ans Hawaii statt, den wir in unserer Zeitschrift aus-
führlich geschildert haben. Man zählte auf den Sandwichs-
inseln überhaupt mehr als 400 Erdstöße, die erst nach und
nach schwächer wurden. — Während St. Thomas und einige
andere westindische Inseln noch in Unruhe waren, fand auf
Formosa ein Erdbeben statt; der Hasen von Kilong lag
eine Zeit lang trocken, in der Erde bildeten sich tiefe, nner-
gründliche Spalten; Schanghai, N i n g P o und andere chine-
fische Küstenstädte wurden durch Erdstöße geängstigt. — Am
1. März war die Erde im nordamerikanischen Staate Maine
unruhig, namentlich in Augusta, und an demselben Tage und
zu derselben Stunde bebte sie auf der Vanconverinsel,
die vor der Küste von British Columbia .liegt, — also
gleichzeitig am Atlantischen Ocean und am Großen Weltmeer
an Punkten, welche in jenen Breiten durch einen Ranm von
700 deutschen Meilen getrennt sind. Am 7. März wurde ein
Erdbeben in Venezuela verspürt und am 31. März ein
solches in San Francisco, am 8.April in Guatemala,
am 7. Mai zu Healdsburg in Calisornien; am 29.
Mai verspürte man vier Stöße zu Virginia City in Ne-
vada; am 18. December 1867 war im Staate Nenyork
und in Cauada die Erde unruhig. Seebeben sind 1868
namentlich in der Südsee vielfach beobachtet worden.
Alle diese Erscheinungen sind nur kleine Vorspiele zu der
grauenhaften Katastrophe in Südamerika gewesen, welche an
der Westküste auf einer Strecke von nicht weniger als
vierzig Breitengraden, vom südlichen Chile bis
zum Aequator, fast gleichzeitig ungeheure Verwüstungen
angerichtet hat. In wie weit das Binnenland, namentlich
Bolivia, in Mitleidenschaft gezogen worden ist, wissen wir
nerika im Anglist 1868.
gegenwärtig noch nicht. Es liegt uns eine ganze Anzahl
von Berichten vor, und alle, von Concepcion im Süden bis
nach Guayagnil im Norden, erzählen dieselbe Geschichte. Wir
wollen Einiges aus denselben mittheilen, aber die vielen Epi-
soden des Jammers nnd Elendes, die alle einander mehr oder
weniger gleichen, bei Seite lassen.
Schwerlich hat in geschichtlicher Zeit ein Erdbeben statt-
gefunden, das so gewaltige Verheerungen angerichtet. Von
der Ausdehnung desselben wird der Leser sich eine Vorstellung
machen können, wenn er eine Karte von Südamerika zur
Haud nimmt.
Am 13. Angnst gegen halb 6 Uhr wurden in Peru die
Einwohner der südlichen Hafenstädte durch ein gewaltiges
unterirdisches Getöse aufgeschreckt. Da sie wissen, was ein
solches bedeutet, so flüchteten sie sofort aus den Häusern und
thaten wohl daran, denn schon wenige Minuten später be-
wegte sich die Erde sichtbar vier bis fünf Minuten lang, und
die Stöße wurden so heftig, daß alle Häuser wankten und
viele sofort zusammenstürzten. Gleichzeitig wurde auch das
Meer unruhig; iu den verschiedenen Buchten und Häsen stie-
gen die Wogen zu einer gewaltigen Höhe empor, und dann
folgte eine ungeheure Fluthwelle vou etwa 50 Fuß Höhe,
wälzte sich gegen das Land und zerstörte Alles, was nicht
hoch genug lag oder stand. Sie wars Schiffe, welche vor
Anker lagen, bis zu 1000 Schritt weit ins Laud, wo sie
dann auf dem Trocknen blieben.
Bald lief in Lima eine Hiobspost nach der andern ein.
Man erfuhr, daß Arequipa gewesen sei. Diese Stadt
zählte 40,000 Einwohner, darunter auch mehrere Deutsche,
und die Häuser waren, eben in Rücksicht aus die vulcanische
Beschaffenheit der Gegend, ungemein dauerhaft gebaut. Nun
ist Alles ein Schutt- und Trümmerhaufen geworden. Das
Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 war verheerend ge-
nug , aber was will das bedeuten gegen den völligen Unter-
gang so vieler Städte in Südamerika?
Arica, die Hasenstadt mit etwa 12,000 Einwohnern,
litt nicht minder. Es ist buchstäblich zu nehmen, wenn man
sagt, daß dort auch nicht ein einziges Hans mehr steht.
Dort wie in Arequipa ließ man sich durch das Getöse war-
neu, und deshalb sind auch dort wenig Menschen umgekom-
meu. In der Hasenbucht oder vielmehr ans der Rhede stieg
das Meer plötzlich empor, „ähnlich einer Wasserhose", und
bildete dann eine mauergleiche Fluthwelle, welche über die
Schiffe herstürzte und dieselben weit landein schleuderte. Sie
packte ein nordamerikanisches Borrathsschiff, die „Fredonia",
stülpte dasselbe gleichsam um, so daß das Unterste zu Oberst
gekehrt war; alles Schisfsvolk ertrank; das Fahrzeug selber
wurde aus einander gerissen und in Trümmern an die Küste
geworfen. Ein nordamerikanischer Dampfer, die „Wateree",
wurde zwar eine halbe Mile weit landein geschleudert, litt
aber keinen erheblichen Schaden, ebensowenig wie das perua-
nische Kriegsschiff „America", welchem ein Gleiches begeg-
nete; dagegen gingen mehrere Kauffahrteischiffe gänzlich ver-
loren. Im Zollhause zu Arica lagerten mehr als vier Mil-
lionen Dollars Waaren; sie sind alle verloren.
Auch die Städte Jqnique, Moquegua, Locumba
und Pisagua sind nur noch Trümmerhaufen. In dem
durch seine Salpeterausfuhr bekauuteu Jquique kamen viel
mehr Meuscheu durch die Wasserslnthen um als durch das
Erdbeben; mehr als 600 Menschen ertranken, und die Ueber-
lebenden litten die Onalen des Durstes, weil die Umgegend
Das Erdbeben in Südamerika im August 1868.
217
kein süßes Wasser hat. Daß auch hier die aufgespeicherten
Waaren im Werthe von Millionen verloren gegangen sind,
versteht sich von selbst. In den vier genannten Städten
schätzte man am 22. August den Menschenverlust auf mehr
als 1800.
Von Huanca velica, das einst durch seine Quecksilber-
gruben so bedeutend war, kam die Meldung, daß alle
Ortschaften jener Provinz nur uoch Trümmerhaufen seien.
Das war die erste böse Kunde aus dem innern Lande; bis-
her hatte man die schlimmen Nachrichten nur von der Küste
erhalten. Die Stöße kamen von Südosten her und man
war für Puno und Cnsco besorgt.
Was soll aus dem Bau der Eisenbahn werden, welche
von dem Hafenplatze Mollend o nach Areqnipa führen follte,
das nicht mehr ist? Jn Mollendo lagen große Maffeu von
Baumaterial aller Art, Schienen, Schwellen :c. und Lebens-
mittel für die Tausende von Arbeitern. Das Alles ist ver-
nichtet oder zerstreut worden.
Die Hauptstadt Lima blieb nicht etwa verschont. Auch
sie hatte an demselben 13. August ein Erdbeben, das heftiger
war als irgend ein anderes, von welchem sie in den letztver-
flossenen acht Jahren heimgesucht worden ist. Es hielt vierte-
halb Minuten an, und die Stöße waren nicht, wie sonst ge-
wohnlich, vertical, sondern kamen von seitwärts, was für sehr
schlimm gilt. Sogleich rannte Alles auf die freien Plätze
und siel auf die Knie; man sah, daß die Häuser wankten und
schwankten, die Thürme der Kathedrale neigten sich hin und
her wie die Masten eines Schisses im Sturme. Ungeheuer
beängstigend war es, daß der Stoß so lange andauerte, er-
richtete iudeß keinen großen Schaden an.
Dagegen hat der Hasenplatz von Linia, das während der
letzten Jahre schon durch Bombardement, gelbes Fieber und
Revolutionen ohnehin schwer heimgesuchte Callao, entsetz-
lich gelitten. Um 10 Uhr Abends gerieth das Meer in ge-
waltige Bewegung und stürzte über die Häuser hinweg, und
dieser Wogendrang währte die ganze Nacht hindurch. Men-
schenverlust war indeß nicht zu beklagen, aber am andern
Tage brannten 57 Häuser und Magazine nieder; man schätzt
den Verlust auf mehr als anderthalb Millionen Silberpiaster.
Schweren Verlust haben auch die C h i n ch a - I n s e l n und die
ihnen gegenüberliegenden Hafenstädte Jca und Pisco gelit-
ten; der Guano auf jenen Inseln ist unbeschädigt geblieben.
Am 28.August wußte man in Lima, daß auch LaPaz
in Bolivia ein Erdbeben gehabt habe und daß auch die
südlichen Häfen Chiles heimgesucht worden seien; man
hatte erfahren, daß Sama, Locumba, Nasca, Jla,
Mexillones, Pisagua und unzählige kleine Ortschaf-
ten nicht verschont geblieben uud zum bei weitem größern
Theil zu Grunde gegangen seien. „Dort überall ist der
Ruin vollständig und die Häuser, welche noch nicht völlig
zusammengestürzt sind, können doch nicht wieder bewohnt wer-
den. Man muß jeden Augenblick besorgen, daß sie znsam-
meusalleu. Deu Verlust an Menschenleben und an Eigen-
thnm kann man in diesem Augenblicke natürlich nicht einmal
annähernd bestimmen, daß er aber mehr als 100 Millionen
Dollars beträgt, wird sich wohl bald ausweisen. ^
In Lima geschah alles Mögliche, um den Heimgesuchten
nach Kräften mit Nahrungsmitteln, Kleidern, überhaupt
allem Röthigen beizuspringen; auch die fremden Kriegsschisse
stellten sich der Regierung sogleich zur Verfügung. Theil-
nähme und Mildthätigkeit aller Clafsen bethätigten sich in
erfreulicher Weise. Zu derselben bildeten aber sreche Rän-
berbanden einen grellen Gegensatz. Sie benutzten die all-
gemeine Bestürzung und Verwirrung, um Lädeu zu erbrechen
und ohne Weiteres zu plündern. Als die Polizei sie ver-
treiben wollte, widersetzten sie sich und lieferten ihr ein blu-
Globus XIV. Nr. 7. (October 1868.)
tiges Gefecht. Die Räuber, zumeist Zambos (Mischlinge
von Indianern und Negern), blieben Sieger und zogen trium-
phirend ab. Gleichzeitig war in verschiedenen Stadttheilen
Feuer angelegt worden; es lag im Plane der Räuber, die
Aufmerksamkeit der Leute von den Punkten abzulenken, an
denen sie plündern wollten. Die peruanische Gesetzgebung
hat iu ihrer erhabenen „philanthropischen" Weisheit den
Mördern und Räubern eine werthvolle Prämie zuerkannt,
indem sie auch zu Gunsten dieser für die ganze bürgerliche
Gesellschaft so ersprießlichen Biedermänner die Todesstrafe
abgeschafft hat! Der Präsident Balta ist aber ein ener-
gischer Mann, welcher jener unverständigen Weisheit eine
sehr verständige Praxis entgegensetzt. Er hat der Polizei
besohlen, jeden Räuber oder Mörder, den sie aus frischer That
ertappt, ohne Weiteres todtznfchießen wie einen tollen Hund
und namentlich keinen, der sich widersetzt, am Leben zu las-
seu. So kommen Gerechtigkeit und gesunder Menschenver-
stand zum Vortheil der bürgerlichen Gesellschaft doch zn ihren:
guten Rechte.
Durch die Passagiere der Dampfer, welche nach dem 13.
August die verschiedenen Küstenplätze besuchten, und durch
manche Bewohner der heimgesuchten Städte erfuhr man nach
und nach manche Einzelnheiten. In Valparaiso war am
16. August die Hitze so furchtbar drückend, daß man sich auf
ein Erdbeben gefaßt machte. An demselben Tage wurde gemel-
det, daß Concepeion und Tomö, zwei Häfen im füd-
lichen Chile, überfluthet worden seien; Talcahnano litt
gleichfalls durch eine Fluthwelle großen Schaden. Am 14.
August, 9 Uhr Abends, verspürte man dort drei Erdstöße.
In Valparaiso zeigte sich gleichfalls eine Fluthwelle, war
aber ungefährlich, während der Hafen Constitution durch
eine solche schwer leiden mußte. Chala ist entsetzlich mit-
genommen worden.
Zu Caldera in Chile war ein deutscher Photograph aus
Arica angekommen; er hatte natürlich Alles verloren. Seine
Erzählung lautet: „Am 13. August Nachmittags war ich
eben bei meiner Arbeit beschäftigt, als mehrere Stöße rasch
auf einander folgten. Mein chilenischer Gehülfe fprang auf
die Straße hinaus uud ich hinter ihm her. Eben war ich
im Freien, als die Stöße so heftig wurden, daß es mich zu
schwindeln anfing. Der Boden bewegte sich unter mir als
ob ich in einem Boot auf bewegtem Wasser gesessen hätte.
Von da an weiß ich nur noch wenig; als ich auf dem Markt-
platze ankam, stürzte eben der Kirchthurm herab. Um den
andringenden Wellen zu entrinnen, kletterte ich über einge-
stürzte Häuser hinweg, immer iu wahrer Todesangst, um aus
die Anhöhe zu kommen. Das Wasser war mir auf den Fer-
sen. Als ich mich umsah, hatte ich eine wahre Sündsluth
vor Augen; ich kann versichern, daß mir die Haare buchstäb-
lich zu Berge standen. Und dieses Elend, dieser Jammer,
diese Verzweiflung! Jeder war froh, mit dem nackten Leben
davon $u kommen. Wir verbrachten eine wahre Schreckens-
nacht auf den Anhöhen und zählten dort nicht weniger als
dreißig Erdstöße. Am andern Morgen war nichts von nn-
seren Wohnungen zu sehen; die Stadt war lediglich ein nn-
geheurer Schutthaufen, in dem man keine einzige Straße
mehr erkannte. Ich habe weiter nichts gerettet als eine Reit-
Peitsche, die mir gerade zur Hand war."
In Jquique hat das deutsche Handelshaus Gildemeister
und Compagnie einen Waarenverlnst von mehr als 400,000
Silberpiaster zu beklagen. Dort begann das Erdbeben um
5 Uhr 17 Minuten und dauerte 4 Minuten 20 Secnnden
ohne irgend eine Unterbrechung. Das Meer trat fast eine
Mile zurück und bildete eine Flnthwelle, die dann über die
Stadt sich hinwälzte. Jene in Arica warf alle Kanonen
von der Batterie Hunderte von Schritten weit landein. Auch
28
218 Aus allen
Tacna ist schwer heimgesucht worden. JuArequipa ver-
spürten um 4 Uhr 5 Minuten Leute, welche aus Stühlen
saßen, einige Bewegungen, hörten aber kein Geräusch. Nach
etwa 10 Secunden bemerkten auch solche, die nicht saßen,
die Bewegung; und gleich nachher krachte es in den Häusern,
Dächer stürzten ein, das große Erdbeben war da, es kam nun
mit rollendem, polterndem Getöse und alle Menschen liefen
ins Freie. Es war als ob weit und breit die Erde sich öss-
nen wollte; die Stöße gingen von Norden nach Süden; mau
konnte sich nur mit Mühe aus den Beinen halten. Nach
5 Minuten war die ganze Stadt in eine Staubwolke gehüllt,
man sah nichts mehr, hörte aber das grauenvolle Krachen
der einstürzenden Häuser. „Von ganz Arec>uipa steht auch
nicht ein einziges Haus mehr, lediglich der Thurm derCata-
liuakirche ist stehen geblieben, muß aber auch abgetragen wer-
den. Alle Menschen in den Spitälern und in den Gesang-
nissen sind umgekommen. Wir cauipireu (am 16. August)
draußen am Ufer des Flusses in einem Zelte; Niemand wagt
sich in die Stadt, denn die Stöße dauern noch fort; durch-
schnittlich verspüren wir einen in jeder halben Stunde; einige
derselben waren heute Abend sehr heftig; bis jetzt, 8 Uhr
Abends, habe ich im Ganzen 76 Stöße gezählt. Die Trüm-
mer der Jesuitenkirche siud über 100 Schritte weit sortge-
schleudert worden. Der Vulcau Misti, welcher sich neben
unserer einst dagewesenen Stadt erhebt, wirft Lava, Schlamm
und Rauchwolken aus. Wir hören unablässig das Getöse
der herabgeworfenen Felsmassen. Der Fluß Paucarpata
hat nun schwarzes Wasser, das stark schweselig riecht."
Aus allen diesen Berichten, die doch nur erst dürftig sind
nnd über die inneren Gegenden nur vereinzelte Notizen geben,
stellt sich heraus, daß die Verheerungen in Chile sehr be-
trächtlich, in Peru aber entsetzlich find. Und doch erscheinen
diese Unglücksfälle klein, wenn man sie mit denen in Ecua-
dor vergleicht. Die nachstehenden Einzelnheiten finden wir
in einem Schreiben aus Guayaquil vom 26. August.
In den Provinzen Pichincha und Jmbabura fand
das Erdbeben am 16. August statt; es war das schrecklichste,
welches das Land jemals erlebt hat. Äbarra, Hauptstadt
der letztgenannten Provinz, San Pablo, Atuutaqui,
Imantad und andere sind fürchterlich mitgenommen wor-
den, und wo einst Gotacachi stand, ist nun ein See. In
Jbarra, Otovalo und Cotocachi sind nahezu alle Ein-
wohner umgekommen. Quito ist gleichfalls heimgefncht
worden, dort sind alle Gebäude dermaßen beschädigt, daß der
nächste beste Erdstoß sie alle zum völligen Einsturz bringen
wird. Die Thürme der Augustinerkirche, zwei Kirchen nn-
serer lieben Frau del Carmen, der Kathedrale und des Col-
legiums San Luis sind zusammengestürzt, jene der übrigen
Kirchen und des Regierungspalastes haben Risse und drohen
gleichfalls de« Einsturz. In der Umgegend von Quito sind
die Ortschaften Perucho, Puellaro und Cachignancho
völlig verschwunden. In der Hauptstadt selber sind nur we-
uigeMeuscheu umgekommen, aber im Ganzen sollen inEcua-
dor mehr als 20,000 durch die Katastrophe das Leben ein-
gebüßt haben. Die Ueberlebenden konnten weder den unter
den Trümmern Verschütteten Rettung bringen, noch die Tod-
ten begraben; sie mußten schon der durch die Leichen verpeste-
ten Luft wegen fliehen. In Quito dauerten die Erschütte-
rnngen in Zwischenräumen von etwa vier Stunden noch am
19. August sort. In Guayaquil verspürte man sie in
verschiedenen Zeiten vom 13. bis zum 16. August.
Auch der Jztaccihuatl, d.h. die alte Frau, inMexico
hat sich gerührt. Einem Berichte des Dorfschulzen von Nopo-
poalco zufolge vernahm man am 20. Juli, Morgeus gegen 10
Uhr, ein sehr lautes Getöse im Berge, gleich nachher fing der-
selbe an zu beben, und auf einem sehr hohen Punkte öffnete er
sich an der Südostseite, an einer Stelle, die als El Caballete
bezeichnet wird. Ans der Oessnnng kam ein starker Wind
und dann wurden Steine ausgeworfen, welche den Berg hin-
unterrollten; einige sind so groß, daß die angestrengte Kraft
von 200 Männern sie nicht von der Stelle bewegen kann.
Gleichzeitig strömte aus dem Krater auch eine gewaltige
Menge Wassers hervor, das einen schwefeligen Geruch hatte
uud dunkel gefärbt war. Es riß den Damm hinweg, wel-
cher der Wasserleitung von Nopopoalco zum Schutze dient,
zerstörte den Aqnädnct und verlief sich in den Flnß Alcececa.
Am 22. hatte sich dieses Wasser verlaufen. Als sich das Ge-
töse erhob, nahmen mehrere Männer, welche am Berge mit
Eishauen beschäftigt waren, die Flucht; sie retteten sich bis
ans drei, welche von dem Wasserstrome mit fortgerissen wnr-
den und in demselben umkamen.
Am 15. August, also am Tage nach dem Erdbeben in
! Südamerika, wurde aus der entgegengesetzten Seite des Stillen
! Oceans, im Hasen von Yokohama, Japan, eine nnge-
! heure Flnthwelle beobachtet, deren Entstehen man auf
i unterseeische vnlcanische Ausbrüche zurückführt.
Aus allen
Dr. Alphons Stübel in Neu-Granada.
Nachdem Dr. Stübel aus Dresden seine geologischen, in
hohem Grade werthvollen Arbeiten über Santorin und dessen
vnlcanische Erscheinungen veröffentlicht hatte, bereitete er sich fo-
fort zu einer großen Reise nach Südamerika und den Inseln
des Stillen Oceans vor. Sein Freund und früherer Begleiter,
Dr. Wilhelm Reiß aus Mannheim, hat sich auch diesmal
ihm angeschlossen; auch die neue Reise der beiden Gelehrten hat
vorzugsweise das Studium und die Erforschung vulcanischer Ge-
genden zum Zwecke. Wir dürfen demnächst ausführliche Mit-
theilungen der beiden Gelehrten erwarten. In Bogota, auf der
Hochebene von Neu-Granada, muß man von dem gewaltigen
Erdbeben, das vom 13. bis auf den 16. August im benachbarten
Ecuador, in Peru und Chile so beispiellose Verwüstungen an-
gerichtet hat, nichts verspürt, auch noch nichts davon gewußt
E r d t h e i l e n.
haben, als der nachstehende Brief geschrieben wurde; sonst hätte
Dr. Stübel ohne Zweifel desselben Erwähnung gethan.
Bogota., 17. August 1868.
Saint Nazaire war unser Ausgangspunkt. Schon nach
siebenzehntägiger Fahrt, die vom Wetter in dieser Jahreszeit un-
gewöhnlich begünstigt wurde, erreichten wir am 23. Januar den
Hafen von Fort de France auf Martinique. Nur 24 Stunden
verweilte der Dampfer daselbst und legte in nochmals vier Tagen
den Weg bis zur Küste von Südamerika zurück, wo er zunächst
den Hafen von Santa Martha anlief und nachdem er die
wenigen Passagiere, unter denen auch wir uns besanden, aus-
geschifft, die Reise nach Colon fortsetzte. — In Santa Martha,
welcher Ort außer durch seine Lage am Fuße der über 2000
Meter hohen Ausläufer der Sierra Nevada sonst in keiner
Beziehung einen günstigen Eindruck von dem großen Staaten-
"Jt*sSK»g£
Aus attl
complex der Republik Colombia zu geben vermag, hielten wir
uns 20 Tage auf, um durch regelmäßig angestellte Barometer-
beobachtnngen an der Küste eine Basis sür alle späteren Mes-
sungen im Innern des Landes zu gewinnen. Wir benutzten die
Zeit auch serner dazu, um neben geographischen Längen- und
Breitenbestimmungen, die der anhaltende sturmartige Wind sehr
erschwerte, eine Karte der Umgegend zu entwerfen, sür welche
Herr Dr. Reiß die trigonometrischen Messungen ausführte.
Am 15. Februar verließen wir in einem kleinen Dampser
von sehr eigenthitmlicher Construction Santa Martha und fuh-
ren durch die von unzähligen Kaimans belebten Eienegas und
engen Caüas, deren Wasser mit Sumpfpflanzen so dicht bedeckt
ist, daß sich das Schiss oft nur mit Mühe hindurcharbeiten kann,
nach Barranquilla. Der außerordentlichen Zuvorkommenheit
der dort wohnenden Deutschen, von denen ich heute nur den
norddeutschen Consul Herrn Aepli und Herrn Consul Strunz
nenne, hatten wir es zu verdanken, daß wir schon drei Tage
später die Reise nach Cartagena über Tubarä, und La Boca
an der Küste entlang antreten konnten. Um einige der in dieser
Gegend sehr zahlreichen Schlammvulcane, von denen nur die
bei Turbaco befindlichen durch Humboldt's Beschreibung Be-
rühmtheit erlangt, kennen zn lernen, entschlossen wir uns, jenen
beschwerlichen Weg zu wählen; aus dem kürzesten, welcher Carta-
gena mit Barranquilla verbindet, kehrten wir, nachdem wir auch
Turbaco besucht und daselbst Gase in Glasröhren aufgesammelt
und eingeschmolzen hatten, nach unserm Ausgangspunkte zurück.
Barranquilla ist, mit Ausnahme von Panama, gegen-
wärtig der wichtigste Küstenplatz der ganzen Republik und das
Geschäft befindet sich, was nicht unerwähnt bleiben darf,
fast ausschließlich in den Händen deutscher Kaufleute.
Die Fahne des norddeutschen Bundes und das Kriegsschiff „Au-
gusta" dürfte wohl nirgends mit mehr Enthusiasmus begrüßt
worden sein als hier, wo man von jetzt an, wie an vielen
anderen Orten, auf einen nachdrücklichen Schutz gegen unerhörte
Willkürlichkeiten, den Engländer und Franzosen fast überall reich-
lich genießen, auch für den deutschen Handel hofft.
Am 3. März führte der Magdalenenstrom wieder so viel Was-
ser dem Meere zu, daß eines der größten Dampfboote die Fahrt
wagen und Fracht bis nach Honda einnehmen konnte. Wir
benutzten gern diese Gelegenheit, um uns der Hauptstadt Bogota,
zu nähern. Zwölf Tage brachten wir auf dem Flusse hin, ehe
die letzte Station erreicht wurde. Die Ufer bieten für so lange
Zeit dem Auge kaum hinlängliche Abwechselung, bis kurz vor
Honda sind sie ganz flach und mit dichtem Walde bestanden, der
nur an einzelnen Punkten von der Cultur verdrängt oder durch
den Holzbedarf der Dampfer etwas gelichtet ist. Einzelne Bäume,
durch Größe und Form ausgezeichnet oder prächtig blühend,
ragen sast überall aus dem üppig grünen Dickicht hervor, das
von vielen Vögeln mit fremdartigen Stimmen und zahlreichen
Assen, die jedoch ihr Geschrei häufiger hören lassen als ihreKlet-
terkünste zeigen, bevölkert ist. Ä! agangu 6, woselbst all-
jährlich drei große Messen abgehalten werden, ist der wich-
tigste Ort, an dem die Dampser anlegen. Die Stadt Mompos
hat, seitdem der dicht vorüberfließende Arm de» Magdalena zu
wasserarm sür die Schifffahrt geworden ist, außerordentlich ver-
loren.
Der Magdalenenstrom bietet überhaupt der Dampfschiffahrt
durch die schnell wechselnden Wasserstände, durch veränderliche
Sandbänke und einzelne Baumstämme, die auf dem Grunde lie-
gen, große Gefahren. Auch unfer Schiff, die „Consianza", er-
hielt , indem es im tiefen Wasser mit voller Kraft einen ent-
wurzelten Stamm anfuhr, so starke Beschädigung, daß e» nui
durch geschicktes Ausfahren auf eine Sandbank vor dem ganz-
lichen Versinken gerettet werden konnte, ein Schicksal, das kurz
zuvor die „Esperanza" betroffen. Ehe wir von Honda aus
die Reife nach Bogota, antraten, machten wir noch eine Excur-
sion nach dem schon von den Spaniern betriebenen Silber-
bergwerke Santana. Der Weg dorthin sührt über große,
nur mit Gras bewachsene Ebenen, die aus Flußgeröllen gebildet
sich in den weitenThälern des Guali- und des Magdalenen-
: Erdtheilen. 219
strömes gegen Ambalema hin ausbreiten. Das Material
für diefe mächtigen, viele Quadratmeilen bedeckenden Geröll-
massen lieferte fast ausschließlich der Vulcan Paramo de Rniz,
der als breiter, blendendweißer Schneerücken neben dem spitzkegel-
förmigen Tolima über alle Gebirge hervorragt.
Am 24. März verließen wir mit acht Maulthieren, von
denen sechs unsere zahlreichen Gepäckstücke trugen, den Ort Honda
und begannen nach der Hochebene von Bogota hinaufzusteigen.
Wohl Niemand, dem es nicht bestimmt versichert würde, könnte
es ahnen, daß ein solcher Pfad, auf dem die Maulthiere müh-
sam über hohe Felsstnfen hinwegklettern und an anderen Stellen
sich mit Aufwand aller Kräfte durch fumpfige Strecken hindurch-
arbeiten müssen, nach einer Stadt sühre, die über 40,000 Ein-
wohner zählt. Die Straße steigt durchaus nicht continuirlich
nach der Hochebene zu an, fondern führt abwechselnd bald steil
bergauf bis zu einer schon empfindlich kalten Atmosphäre und
wieder stundenlang ebenso steil bergab in heiße fruchtbare Thä-
ler; an solchen liegen die freundlichen Städte Quaduas und
Villetta, welche der Reifende passirt. Großartig aber in jeder
Beziehung sind aus diesem Wege die Gebirgslandschaften, welche
sich dem Blicke immer aufs Neue erschließen.
Nach viertägigem Ritte befanden wir uns am Rande der
Hochebene von Bogota., welche man bei El Noble, nachdem das
letzte steile Stück des Weges erstiegen, fast ebenso plötzlich wie
die Plateform eines Daches betritt. Tief gehende Wolken ver-
bargen die Aussicht nach Bogota., doch konnten wir von Faca-
tativa aus auf dem die Ebene gegen Osten hin begrenzenden
Gebirge als weiße Punkte die Capellen von Gnadelupe und
Monserrate erkennen. Am Abend des 29. März erreichten
wir endlich die Hauptstadt selbst. Um den Weg von Honda,
welcher Ort schon 200 Meter über dem Meeresspiegel liegt, bis
zur Kathedrale von Bogota, die sich 2645 Meter über dem
Niveau der See befindet, zurückzulegen, muß der Reisende, um
jene wirkliche Höhe zu gewinnen, nicht weniger als 4281,2 Meter
auswärts und 1835,g Meter wieder abwärts steigen, in welcher
Rechnung die vielen nur einige hundert Fuß betragenden Un-
ebenheiten des Weges natürlich unberücksichtigt geblieben sind. —
Humboldt, welcher eine kurze Schilderung der Hochebene von
Bogota gegeben, hat auch hier die Natur mit Meisterhand ge-
zeichnet; Jeder, der diese Beschreibung liest, wird von derselben
in hohem Grade angesprochen werden; eine volle Bewunderung
wird ihr aber gewiß von allen denen zu Theil, welche die Gegend
selbst besuchten.
Der schnelle Wechsel des Klimas, den der Reisende auszu-
halten hat, wenn er von dem heißen Magdalenenthale nach dem
kühlen Hochplateau hinaufsteigt, übte auch auf uns einen nach-
Heiligen Einfluß aus und hielt uns für eine längere Zeit als
wir überhaupt in Bogota zu verweilen gedachten von jeder Un-
tersuchung und Bereisung der Umgegend ab. Erst in der letzten
Zeit haben wir die Excursionen unternommen, durch welche wir
eine richtige Vorstellung von der topographischen Beschas-
senheit des Hochplateaus besonders auch in Beziehung zu
den geologischen Verhältnissen zu gewinnen hofften.
Auf der ersten Excursion besuchten wir den berühmten und
großartigen Wasserfall von Tequendama und stiegen nach
Sant Antonio, welcher Ort an dem westlichen steilen Abfall
der Hochebene gelegen ist, hinab. Auf der zweiten hielten wir
eine mehr südwestliche Richtung ein und lernten dieThäler von
Fusagasuga., Pasca und Suma Paz, über welch letzteres
die natürliche Brücke führt, kennen. Auf der dritten Ex-
curfion bereisten wir den nördlichen Theil von Enndinamar ca
und den angrenzenden des Staates Boyaca. Wir berührten
auf dieser vierwöchentlichen Reise zunächst Eipaquira, merk-
würdig wegen des ergiebigen Steinsalzlagers, welches daselbst
abgebaut wird, dann Pacho, wo sich ein kleines Eisenwerk be-
findet, Muso, die reichste Fundgrube des Smaragd, ferner
Ehiquinquira, Villa de Leiva, Paipa mit feinen heißen
Quellen und Santa Rosa, auf dessen Marktplatze im Schatten
hoher Weidenbäume ein großer Block Meteoreisen ruht. Unter
Sogassota, Tunja, Chocanta, Lesqnile und dem kleinen
28*
220 Aus allen
Bergsee von Guatabita kehrten wir kürzlich erst nach Bogota
zurück.
Auf dem bis jetzt zurückgelegten Theile unserer Reise haben
wir eine große Zahl von Barometerbeoba ch tun gen ausge-
sührt und nach der Methode von Boussingaült fast für alle
Orte, wo wir eine Nacht verweilten, die mittlere Jahrestempe-
ratur bestimmt. Ewige der genauesten correspondirenden Baro-
meterbeobachtungen sind in Verbindung mit den sorgfältigsten
von Herrn Dr. Reiß ausgeführten trigonometrischen Messungen,
die sich auf dieselben Höhenpunkte beziehen, besonders auch für
das Verhalten des Barometers-in so beträchtlichen Höhen von
Interesse. Ferner haben wir an den Orten, wo es Zeit und
Wetter gestatteten, nie versäumt, die für die genauere Bestimmung
der geographischen Lage nöthigen Observationen zu machen.
Gegen 1000 solcher Beobachtungen, von denen allein über 500
sich auf Bogota, beziehen, hat Herr Dr. Reiß bereits zusammen-
gestellt und nach Mannheim an Herrn Dr. Schönfeld, Direc-
tor der Sternwarte, gesendet, auch die zum größten Theil schon
berechneten Höhenmessungen mit dem Barometer, über 100 an
Zahl, beigefügt.
Gegenwärtig sind wir im Begriff, Bogota zu verlassen.
Herr Dr. Reiß beabsichtigt, direct nach Ambalema zu gehen,
um von dort aus mit einem vortrefflichen Theodoliten genaue
Messungen an den Vulcanen der centralen Kordilleren auszu-
führen; ich dagegen beabsichtige, um die Begrenzung des Hoch-
Plateaus von Bogota, auch nach Osten hin kennen zu lernen, den
„Llanos", welche der Orinoco mit seinen unzähligen und un-
gekannten Nebenflüssen durchströmt, einen Befuch abzustatten.
Es liegt jedoch nicht in meiner Absicht, den Lauf dieser Flüsse
auf größere Entfernung zu verfolgen; ich werde mich vielmehr
damit begnügen, ein richtiges Bild von diesen sehr merkwürdi-
gen Gegenden zu erlangen. Im Caucathale denken wir, nach-
dem wir auf verschiedenen Pässen die centrale Cordillere passirt,
wieder zusammenzutreffen. Wo und wann das sein wird, läßt
sich bei solchen Reisen freilich schwer bestimmen.
Mit nächster Post hoffe ich Ihnen einen ausführlichern Be-
richt zustellen zu können.
Ein Besuch auf den Fidschi-Jnseln.
In der jüngsten Zeit ist wieder viel die Rede von diesen
wahrhaft paradiesischen Eilanden in der Südsee, auf welche die
Nordamerikaner ein lüsternes Auge geworfen haben. Vor etwa
sechs Jahren wurden sie von einigen Häuptlingen den Englän-
dern angeboten, welche indessen die Besitznahme ablehnten. Da-
mals wurde unser Landsmann Berthold Seemann dorthin ge-
schickt und er hat ein treffliches Buch über die Inselgruppe ver-
öffentlicht. Im vorigen Jahre machte die Ermordung des Mis-
sionärs Baker durch die Insulaner großes Aufsehen und wir
haben seiner Zeit ausführlich berichtet, in welcher Weise die Can-
nibalen ihn verzehrten (Globus XIII, S. 25). Er hatte alle
wohlgemeinten Warnungen in den Wind geschlagen; man hatte
ihm vorhergesagt, daß die Stämme im Innern von seinem
„Lotu", d. h. Predigen seiner Lehre, nichts wissen wollten.
Uns ist eine Augustnummer der zu Yokohama erscheinenden
„Japan Times" zugeschickt worden, in welcher wir eine hübsche
Schilderung der Fidschi-Jnseln finden. Sie kommt aus der Fe-
der eines Engländers, welcher im Frühlinge dieses Jahres den
Archipelagus besuchte, und giebt uns einen Einblick in die gegen-
wärtigen Verhältnisse. —
Die Ortschaft Labeku liegt auf der Insel Ovara, • dicht
am Strande und hat etwa zwanzig auf europäische Art gebaute
Häuser; es sind Missionärwohnungen, Grogläden und Maaren-
lager. Die Hügel haben eine Höhe bis zu 2500 Fuß und er-
heben sich gleich hinter der Stadt; in den Thalschluchten liegen
die Dörfer der Eingeborenen, welche in geräumigen, luftigen
Häusern wohnen. Diese sind aus Bambus aufgeführt, die Fuß-
böden mit Platten bedeckt, und man hält sie sehr sauber. Die
Pracht und Ueppigkeit des Pflanzenwuchses ist geradezu erstaun-
lich. Da wachsen Brotfruchtbäume und Kokospalmen, Pampel-
Erdtheilen.
muß und Citronen, Ananas und Hanls, Zuckerrohr, Kaffee, Cacao
und Baumwolle. Am Strande fischt man Tripang, der nach
Sydney und von dort nach China verschifft wird.
Etwa zwei Miles von der Küste entfernt zieht sich ein Ko-
rallenrisf hin, das einen prächtigen Hafen bildet. Die Einfahrt
zu demselben wird durch eine etwa 200 Schritte breite Lücke
des Riffs gebildet. Auf der Außenseite des letztern brandet der
Ocean mit gewaltigem Wogenschlage, innerhalb desselben liegt
eine ruhige Spiegelfläche. Das Riss liegt etwa 10 Fuß tief;
wenn man über dasselbe in einem Boote hinwegführt, dann sieht
man in der That Wunder über Wunder. Das Wasser ist klar
wie Krystall, die Korallen bilden einen Miniaturwald von Bäu-
men, die in verschiedenen Farben spielen; und in diesem Walde
schießen kleine, glänzende Fische umher.
Thakambau, der mächtigste Herrscher der Fidschi-Gruppe,
wohnt mit seinem zweitgeborenen Sohn auf der Insel Ovala.
Er ist etwa 60 Jahr alt, 7 Fuß hoch und sein Gesichtsausdruck
zeugt von Festigkeit und Intelligenz; der Sohn ist ein prächti-
ges Menschenexemplar, wie ein Apollo gewachsen. Beide speisten
bei uns am Bord iin Salon und sie benahmen sich vollkommen
angemessen und ungezwungen; mancher weiße Parvenü hätte
sich an ihnen ein Muster nehmen können.
Auf Ovala findet man zwei verschiedene Menschen-
typen: die eingeborenen Fidschileute und die von den Tonga-
inseln stammenden Einwanderer. Diese letzteren, braune Po-
lynesier, haben einen intelligenten Gesichtsausdruck und eine
hellere Hautfarbe als die tief schwarzbraunen Fidschianer. Das
Haar ist schwarz, wird aber vermittelst einer Kalkmasse orange
gefärbt. Den Leuten gefällt ihre bronzefarbige Haut; den
Europäer vergleichen sie mit einem abgekratzten
Schweine!
Wir inachen den Fidschi-Jnsulanern einen Vorwurf daraus,
daß sie nicht arbeiten. Aber wozu follen sie das thun? Die
Natur hat ihnen so reich und so vielerlei gegeben, daß sie nur
die Hand auszustrecken brauchen, um alle ihre Bedürfnisse befrie-
digt zu sehen. Die Missionäre beklagten sich bitter über die
Trägheit. Ich entgegnete ihnen: Wenn, wie die frommen Leute
aus der Bibel folgern wollen, das Arbeiten eine Strafe für die
Sünden ist, dann müssen diese Insulaner doch wohl ein von
Jehova begünstigtes Geschlecht sein, und nicht in Erbsünde ge-
boren ; denn Jehova selber hat sich gegen sie ungemein freigebig
gezeigt. Weshalb sollen sie sich nun abplagen, um die Habgier
der in Erbsünde geborenen weißen Fremdlinge zu befriedigen,
um obendrein ihrerseits nicht nur keinen Vortheil davon zu
haben, sondern allerlei Nachtheil und Elend? — Diese Argu-
mentation gefiel den Missionären nicht; sie machten große Augen.
Wir hatten zwei Männer an Bord, die als Bevollmäch-
tigte einer Compagnie in Melbourne mit König Tha-
ekambau unterhandeln wollten. Wenn dieser eine große Streck
Landes abtreten wolle, dann würde jene Gesellschaft ihm 80,000
Dollars geben. So hoch beläuft sich die Summe, welche die
Washingtoner Regierung vom Könige verlangte, weil vor län-
gerer Zeit Unterthanen Seiner Majestät die Waarenlager einiger
nordamerikanischen Bürger überfallen und ausgeplündert hatten.
So weit Thakambau in Frage kommt, haben allem An-
scheine nach die Melbourne! Agenten Erfolg gehabt, und wenn
die Nordamerikaner ihr Geld bekommen, werden sie wohl auch
von ein paar kleinen Jnfeln, welche sie als Pfand in Besitz ge-
nommen haben, wieder abziehen. Es fragt sich aber, was die
Häuptlinge nn Innern zu solch einer Abtretung des Gebietes
sagen.
Die Fidschi-Jnseln sind ganz ausgezeichnet zum Anbau und
zur Kolonisation geeignet, und man kann heute noch einen Mor-
gen guten Landes für den Werth einer Elle Baumwollenzeuges
kaufen. Das Klima ist ganz vortrefflich, nicht zu heiß und
nicht zu kühl, denn die Eilandgruppe liegt zwar in der Nähe
des südlichen Wendekreises, aber im Striche des Passatwindes
uild wird häufig durch Regenfall erfrischt. Die Entfernung bis
Sydney in Neusüd Wales beträgt nur 1800 Miles und es un-
terliegt keinem Zweifel, daß weiße Australier in Menge sich in
Aus allen Erdtheilen.
221
diesem prächtigen Lande niederlassen werden. Dann haben wir
wieder die alte Geschichte! Fidschi-Insulaner, eure Tage
sind gezählt! Ihr werdet dann keine Menschen mehr fressen,
aber wir werden Habsucht und Unzucht, Schurkerei uud Lieder-
lichkeit einführen. Was gelten uns die Wilden, wenn ihr Leben
und Treiben nicht mit den Interessen des Handels im Einklänge
steht? Millionen können zu Grunde gehen, wenn nur das Com-
mercium florirt! —
Wohl gemerkt, dieses schreibt ein Engländer. Auch das
Folgende ist aus feiner Feder geflossen.
„Die Missionäre haben ihr Hauptquartier auf Ovala.
Sie besitzen hübsche Häuser, werden reich und leben wie der
Hase im Klee. Eine große Anzahl von Eingeborenen steht in
ihrem „Dienste". Wir verlebten einen Sonntag auf Ovala und
waren erstaunt über die Menge von Capellen, in welchen Ein-
geborene dem Gottesdienste vorstanden. Bibel und Kirchen-
gefänge sind in die Fidschisprache übersetzt worden; es siel uns
auf, daß keiner von den Insulanern, mit denen wir verkehrten,
Englisch sprechen konnte. Als ich darüber mit einem Missionär
redete, meinte derselbe, es werde den Eingeborenen nicht gut
thun, wenn sie Englisch verständen. — Freilich, wenn die Fidschi-
leute lediglich und ganz für sich allein lebten, dann wäre das
Englisch für sie durchaus überflüssig; ich meinerseits glaube, daß
es für die Missionäre nicht vortheilhaft wäre, wenn jene es
verständen. An Wochentagen begleiteten uns, gleichviel, wo-
hin wir gingen, eingeborene Leute; ohne auf Lohn Anspruch zu
erheben, brachten sie uns Früchte und erschienen ganz unbefan-
gen. Aber am Sabbath! Da fahen die armen Teufel recht
melancholisch aus, wollten nicht mit uns gehen, und als wir
fragten weshalb, entgegneten sie trübselig: Mithonay! Wir
freilich „brachen den Sabbath", indem wir in der paradiesischen
Gegend umherstreiften und dem Schöpfer dankten, welcher diese
Herrlichkeiten gemacht hat."
„Die tragische Geschichte mit dem Missionär Baker ist
bekannt. Zur Erläuterung derselben muß indeß gesagt werden,
daß man ihm dringend davon abgerathen hatte, zu den seind-
lichm Stämmen ins Innere zu gehen; er aber wollte nicht
hören, wurde erschlagen, gekocht und aufgefressen. Hinterher
wurde König Thakambau von den Missionären, und wie
ich vermuthe, auch von den britischen Autoritäten ange-
reizt, einen Rachezug gegen Baker's Mörder zu unternehmen.
Diese aber schlugen ihn auss Haupt, und als er mit seinen
Leuten die Flucht ergriffen hatte, machten sie sich das Vergnü-
gen, mit den Knochen des Reverend Baker hinter ihm her zu
rasseln und obendrein Triumph zu heulen. Thakambau soll bei
dieser Affäre etwa 400 Leute verloren haben und auch viele
Kannibalen blieben in diesem Kriege. Der fromme König hat
sich feiner Zeit an Menschenfleifch manche Güte gethan, es ver-
steht sich aber von selber, daß er nicht gern an solche leckeren
Male erinnert sein will."
„Die Arbeiten der Missionäre haben auch hier einen nur
sehr geringen Erfolg gehabt. Diese Geistlichen sind die Veran-
lassung zu vielem Blutvergießen gewesen, sie sind schuld am
Tode von Tausend und aber Tausend erschlagener Menschen.
Aber solche Missionsanstalten müssen doch wohl gut und noth-
wendig sein? Warum? Weil sonst die frömmelnden Weibs-
Personen in England und die Männer, welche in der Londoner
Exeterhall geistliche Vortrüge halten, gewiß nicht so exorbitante
Summen zusammenbringen könnten, um solche Anstalten zu
unterhalten. Der Tod Baker's wird für die weltlichen Inter-
essen der Missionäre sehr ersprießliche Folgen haben. Daß tau-
send Heiden dieses unvorsichtigen Menschen wegen haben ins
Gras beißen müssen, — was will das bedeuten? Ueber solche
Kleinigkeiten muß man weiter kein Wort verlieren."
So weit der Engländer. Wir wollen hier die nachfolgende
Notiz mittheilen, welche wir in der Melbourner „Germania"
vom 16. Juli fanden: —
Die Zeitung „Sydney-Morning-Herald" meldet, daß die
Herren Brewer und Evans, Agenten einer Compagnie, welche
in Melbourne ihren Sitz hat, einen Vertrag mit König Tha-
! kambau abgeschlossen haben, nach welchem Letzterer ihnen 200,000
Acres Land überläßt mit dem Vorkaufsrecht auf sein
ganzes Gebiet. Zugleich erhalten sie das Recht, für
die Bewohner ihres Gebietes Gesetze zu erlassen und
Zollgesetze abzufassen. Der König war zuerst geneigt, ihnen
die Bestimmung von Zollgesetzen für die gesammte Inselgruppe
zuzugestehen, aber die anderen europäischen Ansiedler protestir-
ten dagegen durch VermitteluNg des englischen Consuls. Die-
selben Ansiedler protestirten auch gegen die Bedingungen des
obenerwähnten Verkaufes, indem dieselben ihre Rechte beeinträch-
tigen. Die Herren Brewer und Evans garantiren dagegen Be-
schützung des vom Könige beherrschten Territoriums und werden
die Schuldsumme desselben an die amerikanische Regierung be-
zahlen, sowie auch dem Könige und, nach seinem Tode, einem
ihm in der Regierung folgenden Sohne jährlich die (geringe)
Summe von 200 Pf. St. zahlen. Der andere Sohn soll eine
europäische Erziehung in Melbourne auf Kosten der obigen
Compagnie erhalten.
Capitän Hall's Expedition in den Polargegenden. Wei-
tere Spuren von Franklins Begleitern aufgefunden.
Die Ausdauer, mit welcher der Nordamerikaner Hall in den
eisigen Regionen des arktischen Labyrinthes nach Spuren Frank-
lin's fucht, ist bewundernswürdig. Dann und wann verlautet
durch heimgekehrte Walfischfahrer einige Kunde von ihm; die
letzte kam im Herbst 1867 nach Neuyork und wir haben darüber
feiner Zeit berichtet. („Globus" XII, S. 284.) Hall hatte fein
Hauptquartier an der Repulsebai aufgeschlagen, wohnte in
einem Zelt aus Seehundsfellen, lebte mit und unter den Eski-
mos als sei er einer der Ihrigen, und hatte süns Weiße bei sich.
Auf seinem Zuge von der Repulsebai nach Nordwesten hin war
er mit einem Eskimostamme zusammengetroffen, der sich sehr
feindselig zeigte; er erfuhr jedoch von ihnen, daß früher weiße
Leute bei ihnen gewesen seien; einer derselben sei gestorben und
von seinen Gefährten begraben worden. Damals, in: Sommer,
mußte Hall umkehren, war aber fest entschlossen, zu gelegener
Zeit weitere Nachforschungen anzustellen.
Diese Nachrichten erhielten wir im Herbst 1867; jetzt, An-
fang Oktobers 1868, erfahren wir Näheres über Hall's Unter-
nehmungen. Wir rathen dem Leser eine Karte zur Hand zu
nehmen. Ein Schiff, welches von der Labradorküste durch die
Hudsonsstraße fährt, wird auf der Fahrt gen Westen zwischen
mehreren Eilanden hindurchsteuern und dann an die South amp-
ton-Insel gelangen. Zwischen ihr einerseits und dem östlich
liegenden Luke-Fox-Land andererseits ist der Fox-Canal,
welcher die Ostküste der Sonthampton-Jnsel bespült; der nörd-
liche Theil der westlichen Küste liegt an der Straße Rowe's
Welcome. Im Norden dieser letztern, etwa unter dem Polar-
kreise, ist die Repulsebai, im südwestlichen Theile der Mel-
ville-Halbinsel. Wer von der Repulsebai etwa unter dem Po-
larkreise nach Westen hin wandert, wird an den untern Lauf
des von Georg Back entdeckten Großen Fischflusses (Thleeui-
tschodezeth) gelangen; derselbe hat eine breite Mündung; west-
lich an derselben liegt die Halbinsel Adelaide und von die-
ser, durch die schmale Simpsonstraße getrennt, die Insel King
Willi am'sLand. An der Westküste dieser letztern fand Leo-
pold Mac Clintock sichere Spuren von Franklins Expedition,
und überzeugte sich, daß Leute von den Schiffen „Erebus" und
„Terror" dort gewesen feien.
Hall nahm ganz richtig an, daß er in der wüsten Region,
welche sich von der Repulsebai bis nach Boothia und der Mün-
dungsgegend des Fischflusses erstreckt, Spuren von Franklin fin-
den werde. Jetzt erfahren wir Näheres.
Mitte Septembers kam Dr. Gould, welcher während der
letztverflossenen zwei Jahre die Polargegenden bereiste, nach Neu-
london in Connecticut. Er war in Cumberland Jnlet an Bord
eines Walfischfahrers gegangen und in diesem zurückgekommen.
Im Monat August 1867 verweilte er einige Zeit bei Hall an
der Repulsebai. Dieser erzählte ihm Folgendes. Im Jahre 1866
222 Aus allen
erfuhr er, Hall, von einigen Eskimos, daß etwa zwei Jahre
früher Capitän Crozier und ein Begleiter desselben in der Nähe
der Insel Southampton gestorben feien; sie hätten damals sich
bemüht, jene Insel zu erreichen, weil sie dort irgendwo einen
Walfischfahrer anzutreffen glaubten. Hall ist überzeugt, daß
diefe Angabe entschieden aus Crozier passe; die Eskimos nannten
nicht bloß den Namen desselben, sondern besaßen auch allerlei
Sachen, die ihm und seinem Gefährten gehört hatten. Hall be-
kam von den Eskimos Crozier's Uhr, einen goldenen Chrono-
meter, der von Arnold und Dent in London verfertigt ist, und
mehrere Sachen von Silber. Das Alles ist in seinem Besitz und
Dr. Gould hat es in Händen gehabt.
Crozier's Gefährte ist vielleicht der Steward vom „Erebus"
oder „Terror" gewesen; die Eskimos erzählten, er hätte die
Speisen zubereitet; den Namen wußten sie nicht. Ferner er-
zählten sie, daß die Eskimos auf der Southamptoninsel goldene
Stickereien und ein Goldstück besäßen, die beide dem Capitän
Crozier gehört hätten; wahrscheinlich sind Epauletten gemeint.
Eine weitere Aussage lautet, daß mehrere Männer von
einem Punkte, der weit nördlich von Southampton liege, Cro-
zier begleitet hätten, um Southampton zu erreichen, sie seien je-
doch unterwegs einer nach dem andern gestorben. Sie kamen
zu verschiedenen Stämmen von Jnnuits (— so nennen sich die
Eskimos; das Wort bedeutet: Menschen —); die Eingebore-
nen wollten aber nichts Genaueres über den Weg wissen, wel-
chen er dann genommen. Diesen hat aber Hall aufgefunden.
Er sagt: „Ich bin der festen Meinung, daß sie von den
Eingeborenen erschlagen worden sind. Sie sagen selbst,
daß Crozier kein Hinderniß gefunden habe, um die verschiede-
nen Stämme zu passiren, denn sie wußten, daß er ein ausge-
zeichneter Jäger war, der sich allzeit Nahrung genug verschaffen
konnte."
Hall bietet nun Alles auf, uni die hinterlaffenen schrift-
lichen Aufzeichnungen ausfindig zu machen; diefe müssen
irgendwo auf King Williams Land vorhanden sein. Es wird
aber sehr schwierig sein, bis zu der betreffenden Oertlichkeit vor-
zudringen. Den Aussagen der Eingeborenen zusolge haben die
letzten sechs Ueberlebenden dort eine Art Gewölbe aus Steinen
gebaut und in demselben vielerlei Dinge niedergelegt, deren sie
nicht mehr bedursten.
Unter den Eskimostämmen herrscht seit einiger Zeit Fehde,
z. B. zwischen dem Häuptling William und dem Häuptling Al-
bert. Der letztere haust mit seiner Bande an der Repulsebai,
wo Hall sein Quartier hat. Er duldete nicht, daß ein Angriff
gegen sie gemacht werde.
Die Stelle, an welcher der erwähnte Steinhaufen oder das
Gewölbe liegt, mag etwa 450 Miles von der Repulsebai nach
Norden hin entfernt fein. Um dorthin gelangen zu können,
hatte Hall mit König Albert und dessen Stamm ein Bündniß
geschlossen und Vorbereitungen getroffen, um mit feinen Euro-
päern und etwa 90 Eskimos dorthin aufzubrechen; das follte, wie
er dem Dr. Gould sagte, im Februar oder März 1863 geschehen;
Vorräthe und allerlei anderer Nothbedars für die Reise waren
schon aufgespeichert worden. Von seinen weißen Gefährten find
zwei aus Irland, je einer aus Deutschland, Schweden und Eng-
land, fämmtlich Leute vom Schiffsvolk des „Pionier", der im
Sommer 1867 am Kings Cap gescheitert ist. Sie sind alle mit
Revolvern und Flinten bewaffnet, und nur weil das der Fall
ist, haben sich die Albert-Eskimos dazu verstanden, an der Ex-
pedition teilzunehmen, denn sie allein wären der Bande des
Königs Wilhelm nicht gewachsen; der Letztere kann binnen vier
oder sechs Wochen ein paar Hundert Mann zusammenbringen.
Hall will die letzteren unbehelligt lassen, wenn sie ihn aber an-
greifen, wird er rücksichtslos mit ihnen verfahren, weil ihm Alles
daran liegt, die schriftlichen Aufzeichnungen zu bekommen. Mit
ihm gehen auch Joe und Hannah, das Eskimoehepaar, welches
er von seiner ersten arktischen Reise mit nach Neuyork brachte
und das er dann in ihre Heimath zurückgeschafft hat. Sie sind
ihm, weil sie',Englisch gelernt haben, als Dolmetscher sehr nützlich.
Hunde und Schlitten für die Expedition hatte Hall voll-
Erdtheilen.
auf. „Wenn er die Urkunden gefunden hätte und sich sonst
kein Hinderniß in den Weg stellte, wollte er weitergehen, wo
möglich das (hypothetische) offene Polarmeer zu erreichen und
vielleicht über die Behringsstraße heimzukehren versuchen." Diese
Stelle ist uns nicht klar; Hall hatte ja kein Fahrzeug, und würde
er die Urkunden auf einer problematischen Reise ins Ungewisse
hinein allen Gefahren einer solchen aussetzen mögen? „Wenn
er aber aus Hindernisse trifft, dann gedenkt er im September
18G8 von King Williams Land nach der Repulfebai zurückzu-
gehen."
Wahrscheinlich erfahren wir erst im Herbst 1369, welchen
Erfolg diese Expedition gehabt hat, denn die Walfischfahrer sind
zumeist schon zu Anfang Septembers aus dem arktischen Meere
weggesegelt.
Gifford Palgrave's Phantasien über die Asiatische
Türkei. Der geistreiche Mann und kühne Reifende, dessen lehr-
reiches und anziehendes Werk über Arabien so großen Beifall
fand, hat in der Britifh Association einen Vortrag über „die
türkische Nordostgrenze und deren Stämme" gehalten.
Er beurtheilt die Dinge von einem Standpunkt aus, der uns
neu erscheint. Die Gegend, über welche er sprach, ist der Ge-
birgsdistrict, der an das russische Georgien grenzt und parallel
mit der Kette des Kaukasus liegt. Palgrave hat sie 1867 be-
sucht. Er fand prächtige, fruchtbare Thäler und eine zahlreiche
Bevölkerung, welche sich dort während der letztverflossenen Jahre
zusammengefunden hat. Es seien, meint er, alle Anzeichen vor-
Händen, daß sich dort eine „neue Nationalität" bilden werde.
Die Thäler, so fährt er fort, haben schwierige Zugänge, sind
gleichsam natürliche Festungen und können leicht vertheidigt wer-
den. Vor etwa 50 Jahren waren sie nur spärlich bewohnt; jetzt
sind Turkomanenstämme eingewandert, Kurden, Georgier
und Cirkassier. Sie entflohen theils aus russischem Gebiete,
theils aus Persien. Palgrave unternahm seine Ausflüge von
Kars aus; mit ihm zogen der dortige Pascha und viele Häupt-
linge sammt ihrem Gefolge, „weil sie den britischen Beamten
dadurch ihre Hochachtung bezeigen wollten." Er reiste in gerader
Linie etwa 140 Miles weit, der Weg selbst war aber wohl dop-
pelt so lang, weil er manche abseit liegenden Ortschaften be-
fuchte. Die Gegend ist herrlicher als selbst in der Schweiz.
Alle Häuptlinge und Gouverneure dort gehören einer und der-
selben Herrscherfamilie an, welche aus den frisch einwandernden
Stämmen Frauen nimmt, so daß eine Racenvermischung statt-
finde; daraus feien Menschen mit gesundem Verstände und gro-
ßer Körperkraft entsprossen. Ihre schöne Körperbildung ver-
danken sie den georgischen Müttern. Die Dörfer befanden sich
in bestem Zustande, die weißgetünchten Häuser waren von Gär-
ten umgeben, die Felder gut bestellt. Ein Pascha erzählte dem
Reifenden, zu seines Vaters Zeit hätte man in dessen Verwal-
tungsbezirke nur 15 Dörfer gezählt, jetzt aber feien deren 83
vorhanden, mit je 20, 60 und einigen bis zu 200 Wohnhäusern.
Woher kamen die Bewohner? Als Rußland mehrere Turko-
manenstämme bezwungen hatte, sahen viele Mißvergnügte sich
nach einer neuen Heimath um und türkische Agenten versprachen
ihnen im Gebiete des Sultans nicht nur Grund und Boden,
sondern auch anderweitige Unterstützung, z. B. beim Häuserbau.
Diese Versprechungen sind ihnen auch gehalten worden und die
Folge davon ist, daß seit längerer Zeit im Durchschnitt jährlich
500l) Einwanderer kommen. Auch viele Gebirgsbewohner aus dem
Kaukasus haben sich hier niedergelassen, namentlich in: Bezirke
des Ararat. Andere Strecken sind von Kurden besiedelt wor-
den, welche der Anarchie in Persien überdrüssig waren. Diese
Kurdenstämme sind Nomaden und haben ausgedehnte Weide-
ländereien bekommen. „Alle Leute aus verschiedenen Völker-
schaften sind nicht bloß Edelleute und Bauern, fondern auch
Soldaten und alle beseelt von einem gemeinsamen Gefühle für
eine afiatische Nationalität (!). Diefer Geist ist hervorge-
gangen aus dem Gefühle gemeinsamer Gefahr und bildet das
verknüpfende Band für alle. Die Herrfcherfamilie dieser begin-
nenden Nationalität wurde als jene der Trebisondes bezeich-
Aus allen
Erdtheilen.
223
net, weil ihr Gründer zur Zeit Soliman des Zweiten Gouver-
neur von Trebisond sTrapezunt) gewesen ist." Dieses „neue
Volk" sei nicht abgeneigt, auch fernerhin dem osmanischen Reiche
anzugehören und einen Schutzdamm gegen weitere Uebergriffe
Rußlands zu bilden; vielleicht, meint Palgrave, würden sie aber
auch eine „unabhängige Nationalität" bilden und als „Freunde
Englands" sich sehr nützlich für den Verkehr in der Region des
Euphrat und Tigris erweisen, denn den Schlüssel zu derselben
hätten sie in ihrer Hand.
Die Zukunft von San Francisco.
Wir gaben neulich eine Schilderung des raschen Aufblühens
von Chicago in Illinois. Heute entlehnen wir dem deutschen
„California Demokrat" nachfolgende Phantasien; es ist schwer-
lich große Uebertreibung darin.
„Unsere Stadt steht eben auf dem Punkt, auf welchem Chi-
cago vor einer Reihe von Jahren sich befand, in dem Augen-
blick, wo dessen erste Eisenbahn ihrer Vollendung entgegen
ging. Das Wachsthum unserer Stadt in den nächsten zehn
Jahren dürfte leicht ähnliche Verhältnisse annehmen, wie das
von Chicago. Die kühnste Phantasie hätte das in Chicago nicht
vorausfagen können, was erfolgt ist. Dort wie hier gab es
Tausende, welche bei jeder neuen Verbesserung schrien: Die
Stadt wird nie so groß werden, die Anstalten sind zu umfang-
reich; aber die Zeit lehrte, daß der Fortschritt die Prophezeiun-
gen der kühnsten Propheten noch um das Fünffache überragte.
Im Laufe des nächsten Jahres wird die Eisenbahnver-
bindung über San Jose, über Stockton mit Sacramento
vollendet werden, und eben so die Bahn über Vallejo nach
Sacramento. Eine großartige Bahnlinie nach Oregon ist
schon im Bau, die Bahn nach dem Süden bis Gilroi ist
bald vollendet, in all den kleinen Agriculturthälern jenseits der
Bai sind Bahnen im Bau, während wir gleichzeitig über Oak-
land mit San Jose in Verbindung treten. Von all diesen Linien
ist noch keine im Betrieb, der ganze ungeheure Verkehr, den sie
binnen Jahresfrist vermitteln werden, besteht noch nicht, und
trotzdem jetzt schon die riesige Zunahme unserer Stadt! Dazu
kommt noch die Vollendung der großen Pacificbahn, die
unsere Stadt zum Mittelpunkte des chinesischen Handels machen
muß. Dazu kommen die zahlreichen weiteren Projecte von Eisen-
bahnen, die, kaum aufgetaucht, schon in Angriff genommen wer-
den. Wir stehen also jetzt erst auf dem Punkte, auf dem Chi-
cago stand, als die erste Linie seines colossalen Eisenbahnnetzes
noch nicht vollendet war, und sind ini Begriff, ein gleich großes
Eisenbahnnetz zu vollenden, welches unsere Stadt zu einer Welt-
stadt zu machen bestimmt ist. Wir.stehen erst am allerersten
Anfang einer Bewegung. Dies gegenwärtige San Francisco,
trotz seines riesenhaften Wachsthums, ist nur ein Dorf imVer-
gleich zu dem San Francisco in zehn Jahren.
Wir haben im letzten Jahre bereits für 25 Millionen
Dollars Getreide ausgeführt, ohne den inländischen Ver-
kauf, welcher seinen Centralmarkt in San Francisco hatte. Die
Eisenbahnen, die in den nächsten zwei Jahren eröffnet wer-
den, werden ein Gebiet des fruchtbarsten Bodens aufschließen,
auf dem wir reichlich das Doppelte dieser Ausfuhr produciren,
und das Aufblühen von Agriculturplätzen wie San Jose ist
nur ein Vorspiel zu Dutzenden von blühenden Agriculturftädten,
die in der nächsten Nähe von ^>an Francisco und überall längv
der Eisenbahnlinie entstehen werden. Die weiten ^.häler von
Santa Clara, San Joaquin bis hinunter nach ^an Bernar-
dino, die fruchtbaren Gebiete, welche die Vallejo bahn durchschnei-
det, die fruchtbaren Thäler von Sonoma, Napa, Petaluma :c.
werden jetzt erst ihren Segen über uns ergießen.
Kein Staat der Union kann so leicht eine massenhafte Be-
völkerung ernähren wie der unsere. Wir reden hier noch nicht
von den herrlichen Gefilden von Tulare, Bernardino zc., die
Bevölkerungen erreichen werden wie große Staaten, und durch
die in den nächsten fünf Jahren die südliche Bahn vollendet
wird, welche uns mit Texas verbindet, — nicht von dem
colossalen Handel, den die Pacificbahn jetzt fchon mit Washoe
treibt, — nicht von dem Riesenverkehr dieser Pacificbahn selbst, —
nicht von dem Aufschwünge der Minengegenden, von Humboldt,
Idaho, Reese River, Esmeralda ic., welche an San Francisco durch
die Eisenbahn tributpflichtig werden. In Norden dann Oregon,
Washington, an sich schon das Gebiet von Dutzenden von Staa-
ten umfassend, mit denen wir innerhalb der nächsten fünf Jahre
in nächster Eisenbahnverbindung stehen werden, nach Osten zu
die Reihen blühender Staaten, die sich längs der Eisenbahn bil-
den werden. Gegen diese Gebiete ist das Handelsgebiet
von Chicago nur unbedeutend. Alle oben angedeuteten
Aussichten liegen nicht fern, nein, sie reifen in allernächster Zu-
kunft ihrer Vollendung entgegen, und der riesenhafte Fortschritt
der nächsten zwei Jahre ist nur ein kleiner Anfang im Vergleich
zu dem, was die nächste Zukunft liefern wird.
Man sehe nur, wie rasch selbst dieser Anfang schon seine
Verkehrswege sucht, man blicke auf die Straßeneisenbahnen, die
fast bis an die Grenze unseres County schon im Bau begriffen
sind, man sehe auf die Tausende von Häusern, die jährlich über-
all aufspringen. Jahr für Jahr hören wir: so kann es nicht
fortgehen, es wird zuviel gebaut, — und doch liefert jedes fol-
gende Jahr noch die doppelte Anzahl neuer Häuser, wie sein
Vorgänger, — doch steigt das Grundeigenthum beständig, — doch
bilden sich Meilen von der Stadt täglich neue Colonien, die
mit Siebenmeilenstiefeln nach der Stadt zu sich ausdehnen. Und
doch ist all dieser Riesenwachsthum nur ein ganz kleiner Anfang
von dem, was die nächsten Jahre sehen werden, wenn das ko-
lofsale Eisenbahnnetz vollendet sein wird, von dem bis jetzt noch
kein Theil mit San Francisco den Anschluß bewerkstelligt hat.
In zehn Jahren werden wir auf Hunderte von Meilen Farm
au Farm haben, mit blühenden Städten dazwischen gestreut
wird das colossale Eisenbahnnetz, welches eben seiner Vollendung
entgegengeht, nur das Gerippe andeuten von Dutzenden neuer
Zweigbahnen, und San Francisco wird eine Weltstadt sein. So
fruchtbar, so herrlich wie das Gebiet, von dem es den Mittel-
punkt bildet, findet sich kein zweites in der Welt.
Unser Staat hat die Periode passirt, wo Minen feinen
Hauptreichthum bilden, und von dem Augenblick an, wo feine
unerschöpflichen Agriculturschätze in den Vordergrund treten,
begann erst das Aufblühen, dessen allererste Anfänge wir soeben
begrüßen. Ehe zwanzig Jahre vergehen, wird eine Bevölkerung
von 15 bis 20 Millionen Menschen die Basis für den Wohl-
stand von San Francisco bilden."
& Jf:
— Bei Wentworth in Südaustralien ist eine Queck-
silber grübe aufgefunden worden.
— Im County Shasta, Kalifornien, ist auch eine sehr er-
giebige Quecksilbergrube, an der South Fork, entdeckt worden.
— Die australischen Blätter haben, wie unsere Leser wis-
sen, großes Aufheben von den Diamanten gemacht, welche in
der jüngsten Zeit dort gefunden worden sind. Jetzt hat in Lon-
don der Geolog Tennant in der British Association nachge-
wiesen, daß sie nicht so viele Pfennige Werth seien als man
Pfund Sterling für sie gefordert habe.
— Arbeitereongresse und Versammlungen sind auch
in Nordamerika an der Tagesordnung. In der letzten Sep-
temberwoche hielt der „nationale Arbeitercongreß" in Neuyork
seine Sitzungen und es kam „die sociale Frage" zu lebhafter
Erörterung. Ein Herr L. A. Hine (der sich wahrscheinlich aus
Heine veryankeet hat) suchte nachzuweisen, wie ungleich das
Einkommen in den Vereinigten Staaten vertheilt sei. Seine
Berechnungen bezogen sich nur auf 27 Staaten; die zehn süd-
lichen Staaten berücksichtigte er nicht, da die Geschäfte in ihnen
noch nicht geregelt genug find, um Anhalt zu bestimmten Auf-
stellungen zu bieten. Er berechnete die Gesammtbevölkerung jener
27 Staaten auf 20 Millionen Menschen, davon kommen auf die
„besitzende Classe" 440,000 erwachsene männliche Menschen, auf
die „mittlere Classe" 1,710,000 und aus die „arbeitende Classe"
2,750,000, zusammen 4,900,000 männliche Menschen. Die arbei-
224
Aus allen
Erdtheilen.
tende Classe ist also um 23 Procent größer als die beiden an-
deren zusammen genommen. Das Einkommen ist jedoch folgen-
dermaßen vertheilt:
20,000 Personen haben jährlich 10,099 Dollars Einkommen
und mehr; 140,000 Personen haben jährlich 1000 bis 2000
Dollars; 280,000 Personen 600 bis 2000 Dollars; 2,500,000
Personen durchschnittlich 450 Dollars jeder; 2,090,000 Perso-
nen 350 Dollars jeder, so daß sich das Einkommen Aller aus
3,789,000,000 Dollars beläuft und zwar haben
Personen. Jährl. Einkommen.
20,000 ............. 612,000,000 Dollars
140,000 ............. 714,000,000
280,000 ............. 588,000,000 „
2,500,000 ............. 1,725,000,000
2,000,000 ............. 700,000,000 „
4,900,000 9,739,000,000 Dollars.
Ein Zehntel der Bevölkerung besitzt also die Hälfte des Ge-
sammteinkommens, die übrigen neun Zehntel müssen sich mit
dem Rest begnügen.
Daraus lenkte der Redner die Aufmerksamkeit der Versamm-
lung daraus, wie ungerecht die indirecten Steuern vertheilt seien;
die Armen müßten die Hauptlast tragen, die Reichen seien ver-
hältnißmäßig niedrig besteuert. So zahlten: Die besitzenden
Classen niit 440,000 Personen 100,000,000 Dollars; die mittle-
ren Classen mit 1,710,000 Personen .120,000,000 Dollars; die
arbeitenden Classen niit 2,750,000 Personen 130,000,000 Dollars.
Der Redner kam alsdann auf die hohe Besteuerung und
die Verschwendung der Regierung zu sprechen. Die directen
Steuern betrugen in den Jahren 1863, 1864, 1865, 1866 und
1867 2000,000,000 Dollars, davon wurden bezahlt:
Von der besitzenden Classe . . . 560,000,000 Dollars
Von der Mittlern Classe..... 650,000,000 „
Von der arbeitenden Classe . . . 800,000,000 „
2000,000,000 Dollars.
Jeder „Arbeiter" werde auf diese Weise um 440 Dollars be-
trogen, da beim Beginn des Krieges als ausgemacht angenom-
men worden sei, daß die Armen die Soldaten liefern uud die
Reichen die Kosten bestreiten sollen. Anstatt dies zu thun, hät-
ten die Bondsbesitzer ihr Wort gebrochen, indem sie jetzt die
Soldaten uud Arbeiter deu größten Theil der Steuern bezahlen
ließen.
Es scheint Herrn Hine nicht einzuleuchten, daß auch die
„besitzende" und die „mittlere" Classe arbeiten.
— Hankee-Humbug im besten Stil. Die Neuyorker
Blätter machten sich einige Wochen lang viel zu schaffen mit
einem gewissen John Allen. Der Patron hielt unter der Firma
eines „Tanzsalons" eine sehr schlechte Wirthschaft. Dort ent-
deckte ihn ein gewisser Dyer, Mitarbeiter an einer neuen Mo-
natsschrist: „Packard's Monthly", und benutzte ihn als Stoff
zu einem rührenden Senfationsartikel. John Allen mußte als
der „verworfenste Mensch in Neuyork" herhalten und salbungs-
volle Ermahnungen lesen. Nun bemächtigten sich die Metho-
distenprediger der Sache; sie bestürmten den verworfensten Mann,
der ihnen auch „zerknirscht" versprach, im Mai 1869 seiner Wirth-
schast ein Ende zu machen. Als sie ihn so weit hatten, setzten sie
ihn: mehr und mehr zu; es wurde Mode bei den Frauen, Allen
zu besuchen und noch mehr ihn zu bekehren, und groß war der
Triumph in Zion, als er eines schönen Morgens einen Sen-
sationszettel an seine Thür geklebt hatte: „Tins clance house
ie closed, Gentlemen werden nur in Begleitung ihrer Frauen
zugelassen und auch nur, wenn diese letzteren Magdalenen als
Dienstboten verwenden wollen." Der verworfenste Mann war
bekehrt. Die Zeituugsreporter rannten ihm um die Wette mit
beglückwünschenden Frommen das Haus ein, und der Bericht-
erstatter der „Tribüne" (vom 2. September) giebt in rührender
Weise Alles, was er mit deni nun so tugendhasten John Allen
gesprochen habe. Einem Amerikaner mag solches Zeug zusagen,
wir gehen nicht darauf ein, wollen aber bemerken, daß Allen's
Humbug würdige Nachahmer gefunden hat. Hier handelt es
sich aber nicht um methodistische Salbaderei, sondern um Rat-
ten und Hunde, um Speculation auf den Antithierquälerver-
ein. Das „Newyorker Journal" vom 12. September schreibt:
Noch Einer, der bekehrt sein will. Die Lorbeeren
des John Allen lassen einen andern Einwohner der Waterstreet,
Namens Kit Burns, nicht schlafen. Kit beschäftigt sich damit,
Hunde zu Kämpfen mit Natten zu dressiren. Da er ein dunkeles
Gefühl hat, daß er mindestens ein ebenso schlechter Kerl wie
John ist, nebenbei aber auf eine billige Weise sein Geschäft „ge-
pufft" haben möchte, so wendet er sich in einem „Eingesandt"
an den „Herald" mit folgenden Zeilen an den Präsidenten der
Gefellschaft zur Verhinderung der Thierquälerei, Herrn Hemy
Bergh:
„Seitdem Johnny Allen seine Bude zugemacht hat, habe ich
nicht aufgehört, mir über mich und mein Geschäft Gedanken zu
machen. Ich besitze und dressire eine große Menge Hunde uud
tödte so viel Ratteu, wie verlaugt wird. Es ist eine wahre Freude
zuzusehen, wie die Hunde über die Natten herfallen; ich wette,
es geht Ihnen ein Schauder über den ganzen Leib. Ich habe
meine Thierchen aber auch wirklich ausgezeichnet dressirt. Aber
ich wollte etwas Anderes sagen: Jeder muß seine Chance haben
und ich denke, Herr Bergh dürfte die sich ihm bietende Gelegen-
heit nicht versäumen. Wenn dieser Herr nun zu mir kommen
wollte, so würde ich es so einrichten, daß er zu der Menge spre-
chen könnte — bisweilen finden sich bei nur. gegen zweihundert
Personen zusammen —; wenn er uns dann zeigen würde, daß
wir grausam und unmenschlich handeln, ich würde, wahrhaftigen
Gott, mein Geschäft aufgeben und die Hunde und die Ratten
— ich habe deren einige vorzügliche Exemplare — verkaufen.
Ich bin mir nicht recht klar, ob ich ein Unrecht thue, wenn ich
ein solches Geschäft betreibe, und doch will es mir nicht einleuch-
ten, daß es grausam und unmenschlich ist, Ratten zu tödten,
obgleich ich zugebe, daß es nicht verzeihlich ist, Hunde mit ein-
ander kämpfen zu lassen. Ich möchte gern mit Herrn Bergh
über diese Dinge plaudern; er würde mir einen großen Gefallen
thun, wenn er mich in Nr. 273 Waterstreet besuchte. Achtungs-
voll Kit Burns."
Ob Herr Bergh dem „smarten" Kit den Gefallen thun
wird? Das hängt davon ab, ob Herrn Bergh's Thierliebe groß
genug ist, um den Widerwillen, den es ihm einflößen muß, sich
zum Reclameschmied für einen rohen, gemeinen Gefellen zu machen,
zu besiegen, uud ob er sich fo viel Einfluß auf Kit und dessen
Kunden zutraut, um sie wirklich von der Verwerflichkeit ihrer
Amüsements überzeugen zu können.
Es scheint jetzt übrigens eine wahreBekehrungsmanie
unter den Methodistenpredigern zu herrschen. So hat
ein „Reverend" David Mitchell gestern in der Presbyterial-
kirche in Greene Street eine Predigt gehalten, in welcher er
sämmtliche „Magdalenen" in Mercer, Greene, Thomson:e. Street
ausforderte, zu ihm zu kommen und sich von ihm bessern zu
lasseu. Der Reverend S.H. Tyng jr. wird am nächsten Mon-
tag in derselben Kirche zum nämlichen Zwecke predigen.
John, der Gottlose, hat sich übrigens noch nicht entschließen
können, sich einer bestimmten Religionssecte zuzuwenden, so sehr
ihn auch seine frommen Zusprecher beschwören mögen, „sich in
die Legion Jesu einreihen zu lassen", „unter Christi
Banner zu kämpfen" ?c. „Ein ander Mal", „heut' ist mir
nicht danach", „ich will warten, bis das Wetter schöner wird",
sind seine Ausflüchte. Es würde uns gar nicht wundern, wenn
der schlaue John eines schönen Tages, „wenn ihm danach zu
Muthe ist", seine Polkakneipe, die ja jetzt einen bedeutenden Ruf
erlangt hat, wieder öffnete. Es würde dies einen neuen Beitrag
zur Geschichte des amerikanischen Humbugs abgeben; Barnum
wäre um mehrere Nasenlängen geschlagen.
Herausgegeben vvn Karl Andree in Dresden. — Für die Redactivn verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag vvn Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschwcig.
Capitän Mage's Aufenthalt beim König Ahmadu zu Segu ain ober» Niger.
i.
Der Empfang Mage's in Segu. — Erste Audienz beim Sultan. ■— Die Person des Königs. — Die Wohnung der Europäer. —
Der Aolof Samba Ndiaye. — Freigebigkeit des Herrschers. — Verhandlungen mit demselben. — Leben und Treiben in Segu. —
Allerlei Charaktere. — Aufstand der heidnischen Bambaras.
Unsere Leser werden sich erinnern, mit wie viel Noth
und unter welchen Beschwerden es dem Capitän Mage ge-
lang, die weite Reise von St. Louis an der Mündung des
Senegal bis nach Segu am obern Niger zurückzulegen. In
dieser Stadt herrschte Köuig Ahmadu, einer der Söhne
des Hadsch Omar, mit welchem
der Reisende einen Vertrag ab-
schließen sollte. Mage gewann
dort und späterhin bei San-
sandig einen tiefen Einblick in
die politischen und gesellschast-
lichen Verhältnisse der Völker
in jener innerafrikanischen Re-
gion, über welche wir bisher
eine nur mangelhafte Kunde
hatten. Wir weisen auch auf
unsere Illustrationen hin, wel-
che Typen und Gegenstände
anschaulich machen, die früher
nie zuvor bildlich dargestellt
worden sind.
Im Februar 1864 fuhr
Mage mit Dr. Quintin und
seinen schwarzen senegambi-
schen Begleitern in einer elen-
den Pirogne von der Stadt
Aamina auf dem Niger bis
Segu, das eigentlich ans vier
großen Ortschaften besteht; er-
hielt bei einer derselben, Segu
Knra, d. h. Neu-Segu, au
und setzte seinen Führer Fam-
hara bei einem benachbarten
Gnpuilli, d. h. einem aus
Strohhütten bestehenden Dorf,
ans Land; dasselbe bildete eine
Art Vorstadt^der Ortschaft Segu Sikoro; die beiden an-
deren heißen S e g u B n g u und Segu Koro.
Famhara wurde zum Könige geschickt, um demselben die
Ankunft der Europäer zu melden. Diese gingen den sandi-
gen Strand entlang und hatten dort einen Ueberblick über
Segu Sikoro. Am Ufer hin zog sich eine hohe graue Mauer;
Globus XIV. Nr. 8. (Oktober 1868.)
Samba Ndiaye, Oberingenieur Ahmadu's.
am Flusse trieb sich eine zahlreiche Menschenmasse umher;
viele Frauen nahmen ein Bad, andere waren mit Waschen
beschäftigt oder holten Wasser in großen Kalebassen; manche
gingen einzeln, andere dagegen, offenbar Gefangene, in lan-
ger Reihe hinter einander unter Begleitung eines Aufsehers.
— Gegen zwei Uhr Mittags
kam der Führer zurück und
brachte einen Schwarzen mit,
welcher den beiden Europäern
im besten Französisch einen
guten Tag wünschte. Er war
als Muselmann gekleidet, aber
sein intelligentes Benehmen
und ein gewisses Etwas in sei-
nem ganzen Benehmen recht-
fertigte den Schluß, daß er
längere Zeit zu St. Louis ge-
lebt haben müsse. Der Mann
nannte sich Samba Ndiaye
und die Ndiayes gehören zum
Volke der Aoloss. Im Fran-
zösischen drückte er sich sehr ge-
läusig aus uud sagte den Euro-
Päern, daß sie bei ihm wohnen
würden. Auf Mage's Bemer-
kuug, daß er sich sofort in feine
Behausung begeben möchte, ent-
gegnete Samba, daß es ange-
messener sein werde, vor allen
Dingen dem Könige die Auf-
Wartung zu machen, und der
Führer Famhara war derfel-
ben Ansicht; ohnehin warte der
König schon auf den Besuch.
Die Ankunft der fremden
weißen Leute erregte die Neu-
gier des Volkes, das in unzähliger Menge herbeiströmte und
so dicht zusammengedrängt war, daß eine Schaar Soldaten,
die mit ledernen Peitschen rücksichtslos nach rechts und links
unter die Menschen hineinhieben, nur mit Mühe freien Durch,
gang schafften. Wir lassen Capitän Mage weiter erzählen:
So wanderten wir am Strand hinaus durch dicken Staub,
29
226
Capitän Mage's Aufenthalt beim König Ahmadu zu Segu am obern Niger.
der uns in die Augen biß, und kamen an das Thor Sn-
kutu, neben welchem ein sehr angesehener Mann dieses Na-
mens sein Haus hatte. Die Thore der Stadt sind doppelt
wie bei einer Festung; der Raum zwischen beiden bildet eiue
befestigte Caserne mit Schießscharten; ein Reiter kann be-
quem passiren, die Flügel sind aus dickem Cailcedraholze,
gewöhnlich je aus einem einzigen Stücke verfertigt; die Schlüs-
sel sind von Holz und sehr stark. An jedem Abend werden
sechs der sieben Stadtthore geschlossen und nur ein einziges
bleibt für die Landleute geöffnet, welche bis späthin Milch
und Früchte bringen.
Durch enge gewundene Gaffen, in denen es von Men-
fchen wimmelte, kamen wir an einen freien Platz. Zu un-
serer Linken stand dort ein mit einigem Schmuckwerke ver-
ziertes Haus, und demselben gegenüber eine wahre Festnngs-
mauer von etwa 20 Fuß Höhe. Das war Sultan Ahma-
du's Palast. Wir hatten übrigens keine Zeit zu Betrach-
tungen, denn die Menge drängte uns unaufhaltsam der Thür
zu. Als wir dort waren, peitschten die Soldaten aus Lei-
beskrästen nach allen Seiten hin und verschafften uns freien
Eingang. Unweit von der ersten Thür befindet sich eine
andere, durch welche man zu einem sehr großen, etwas dun-
kelu Borzimmer gelangt. An den Wänden sind die Bänke
oder Ruhebetten sür die Garde angebracht, die Waffen hän-
gen an Haken und auf allen Seiten stehen Schildwachen.
Wir stiegen von dort aus zwei Stufen hinan und befanden
uus nun im Hofe der Tata, das heißt der Ringmauer. In
der Mitte steht das Haus Ahmadu's, das sich durch nichts
Besonderes auszeichnet (siehe das Bild). Die Schießscharten
und überhaupt die Befestigunswerke sind offenbar nach dem
Muster der französischen Forts am Senegal gebaut worden;
auf der Wind- und der Regenseite hat man sie mit Stroh
bekleidet, damit sie nicht leiden. Im Fall einer Belagerung
fänden wohl 2000 Mann hinter diesen Erdmauern Platz
Eingang zu Ahmadu's Palast in Segu.
und die gesammten Fortisicationen sind derart aufgeführt, daß
selbst regelmäßigen Truppen ohne Kanonen das Eindringen
schwer fallen würde, sie müßten Minen anlegen und sprengen.
Ein langer Gang führte zu einem andern Hofranme, in
welchem Sultan Ahmadu nebst einer Anzahl von Würden-
trägern sichtbar wurde. Er saß aus einer Ziegenhant, die
man auf den feinen Sand gelegt hatte; die Uebrigen hatten
auf der nackten Erde Platz genommen. Zu beiden Seiten
war eine Leibwache von etwa 50 Sklaven aufgestellt; ihre
Bekleidung war sehr ungleich und Jeder hielt sein Gewehr
so wie er eben Lust hatte.
Ich sagte ihm auf Französisch: „Guten Tag" nnd reichte
ihm die Hand; ein Gleiches thaten Doctor Quintin und
Samba Aoro, der mir als Dolmetscher diente. Sosort brachte
man uns ein Tara; dieses Gestell zum Sitzen oder Liegen
ist etwa anderthalb Fuß hoch, aus Bambus verfertigt und
mit einer Dampeh, weißbaumwollenen Decke, belegt. Ahmadu
redete mich in Petthl an, fragte nach meinem Wohlbefinden,
wünschte mir das beste Willkommen und erkundigte sich nach
dem Stande der Dinge in St. Louis. Ich meinerseits gab
ihm sehr lakonische Antwort, beschwerte mich darüber, daß
ich meinen Weg nicht durch Beledugu hatte nehmen können,
erkundigte mich nach Hadsch Omar und fragte, ob derselbe
sich immer noch in Hamdallahi befinde (— der Hauptstadt
des von ihm eroberten Fnlbereiches Mafstna —). Die Ant-
wort lautete: er sei noch immer dort und befinde sich wohl.
Auf meine Frage, ob ich dorthin reisen und ihn sehen könne,
antwortete Ahmadu: „Wir werden darüber reden." Er-
öffnete den franzöfifch nnd arabifch geschriebenen Brief des
Gouverneurs (— der französischen Besitzungen Senegam-
biens, General Faidherbe —) und las ihn mit einiger Ver-
legenheit, weil er nicht genug Arabisch verstand. Deshalb
ließ ich den arabischen Text zuerst ins Penhl (— Sprache
der Fnlbe und Toucouleurs —) übersetzen; ich las den sran-
Capitän Mage's Aufenthalt beim König Ahmadu zu Segu am obern Niger.
227
zösischen Tez^t vor, Samba Aoro wiederholte denselben in
Dolos und Samba Ndiaye verdolmetschte dieses letztere für
den Sultan.
Ich drang dann daraus, sofort über die Angelegenheiten
zu verhandeln, welche mich nach Segu geführt hatten, aber
Ahmadn ging nichl darauf ein, fondern machte der Sitzung
ein Ende, angeblich weil ich der Ruhe sehr bedürftig sei und
deshalb unverweilt nach meiner Wohnung geleitet werden
müsse.
Anfangs hielt ich diesen Sohn Hadsch Omar's für etwa
neunzehn oder zwanzig
Jahr alt, er war aber
ein Dreißiger, ist ziem-
lich hoch und regelmäßig
gewachsen, sein Gesichts-
ausdruck hat etwasSauf-
tes, der Blick ist ruhig
und er sieht recht intelli-
gent aus. Er spricht
immer leise und stottert
etwas. Das Auge ist
groß, die Nase gerade,
die Nasenflügel sind we-
nig entwickelt, die Stirn
ist hoch und breit; aber
die aufgeworfenen Lip-
pen und das zurückwei-
chende Kinn, zweiDinge,
dte von Negerbeimischung
zeugen, machen sein Ge-
ficht unschön. Seine
Hautfarbe ist bronzear-
tig, mehr braun als
schwarz. Seine Kopf-
bedeckuug war von blauer
Baumwolle, sogenann-
tem Rum, d. h. Zeug
aus dem Elsaß; ein wei-
ter Bubu aus demsel-
ben Stoffe war über ein
aus fehr feiner weißer
Baumwolle verfertigtes
Turkey, Untergewand,
gezogen. Ich bemerkte,
daß die Gniba, Vor-
dertafche in seinem Bubu,
sehr weit war. In der
Hand hielt er einen Ro-
senkranz, während der
Pausen des Gesprächs
ließ er die Kugeln durch
seine Finger gleiten und
murmelte dabei etwas
her. Vor ihm auf der
Ziegenhaut lagen seine
Sandalen, ein arabisches ,
Buch und sein Säbel. Alle Landeseingeborenen hatten ihre
Fußbekleidung abgelegt.
Auf dem Wege zu unserer Wohnung hatten wir zum
Geleit eine Abtheilung von Sofas (— Sklaven dev Königs,
die Soldaten sind und die Leibwache bilden ); es versteht
sich von selbst, daß sie Peitschen trugen und sich derselben
mit großem Nachdrucke bedienten. Mit wahrem Vergnügen
hieben sie in die dicht gedrängte Menge hinein und schonten
auch die Frauen und Mädchen nicht. — Eine breite Straße
läuft zwischen der Moschee und dem Hause des Hadsch Omar,
Ahmadu, König von Segu.
das gleich der Tata Ahmadu's eine Festung bildet. Dort
hat der letztere seine Frauen und Sklavinnen im Verwahr,
dann auch die gefangeneu Prinzessinnen der königlichen Fa-
Milien von Segu und Massina, uud außerdem seinen Schatz
und vielerlei Vorräthe. Die Erdmauer ist oben mit spitzen
Pfählen aus hartem Holze versehen. Samba Ndiaye, der
mir unterwegs diese Mittheilungen machte, war Schutzhüter
dieses Hauses und hatte sogar Zutritt bei den Frauen, welche
außer ihm und Ahmadu keiu anderer Mauu sehen durfte.
Weiterhin kamen wir auf einen freien Platz, wo unter-
herrlichen Dubabelbäu-
> o [ men (— wir verwei-
seu auf die Illustration,
welche wir früher, S. 69,
gegeben —) Markt ge-
halten wurde. Es wäre
dort recht anmuthig,
.' -. wenn die Schwarzen nicht
ganz in der Nähe ein
umfangreiches Loch ge-
graben hätten, aus wel-
chem sie die Erde zum
Aufbau ihrer Hütten und
Häuser nehmen. Das-
selbe bildet während der
Regenzeit einen Snmpf
und in den trockenen Mo-
naten eine abscheuliche
Eloake, so daß allezeit
die Luft umher verpe-
stet wird. Am östlichen
Ende der Ortschaft lag
die Wohnung Samba
Ndiaye's, eine Reihe von
Hütten von etwa 10 Fuß
Höhe; alle waren aus
rohen Balken und ge-
stampster Erde gebaut
uud hatten ein flaches
Dach, die Thüren nur
4 bis 5 Fuß Höhe. Der
vorderste Hofraum war
für uus wohnlich herge-
richtet worden; vermit-
telst eines großen, mit
Stroh gedeckten Schup-
Pens gelangte man in
unser Zimmer, das etwa
10 Fuß laug und 12
Fuß breit war; in der
einen Ecke bemerkte ich
eine Art von Feueresse;
das Bett bestand ans
Matten. In einem hin-
tern Hosraume befindet
sich, wie das überhaupt
in diesen „Barbarenländern" der Fall ist, eine gewisse uu-
bedingt nothwendige Anstalt, von welcher aber in dem
„civilisirten Frankreich" kaum die Hälfte der Landbewohner
eine Vorstellung hat. Hier lag aber zu uuserm Leidwesen
die Küche in nächster Nähe! Meine Habseligkeiten brachte
ich in einem Speicher unter, der auch als Getreidemagazin
diente. An der einen Mauer stand eine plumpe Leiter,
deren Sprossen mit ungegerbteu Lederstreisen an die Seiten-
stangen befestigt worden waren. So gelangte man auf das
platte Dach, auf welchem Samba Ndiaye ein kleines höl-
29*
Capitän Mage's Aufenthalt beim Köi
zernes Haus errichtet hatte; dort konnte er in frischer Luft
schlafen, ohne durch Feuchtigkeit zu leiden. Die ganze An-
läge war verstündig; man sah es überhaupt der ganzen
Wohnung an, daß Samba Ndiaye sich allerlei von den
Weißen angenommen hatte.
Dieser Mann war ein Bakiri ans Tnabo (— einer
Provinz in Guoy am Senegal —) und damals, 1864, zwi-
schen 40 und 50 Jahre alt; er hatte volle 20 Jahre lang
in St. Louis als Geisel zugebracht. Nach der Rückkehr in
seine Heimath trieb er Handel und hatte ein gutes Geschäft,
als der Hadsch als Eroberer nach Tnabo kam. Nun wurde
er Muselmann, gab bald nachher seinen Kram auf und schloß
sich dem Sieger Omar an. Dieser begriff bald, wie nütz-
lich ihm ein Mann sein konnte, welcher so lange mit den
Weißen verkehrt hatte und sich obendrein in gewisser Art auf
das Bauwesen verstand. Omar ernannte ihn zum Ingenieur
seiner Truppen und zeichnete ihn sehr ans. Er hatte die
) Ahmadu zu Segu am obern Niger. 229
Kanonen unter seiner Aufsicht und verstand sich gut darauf,
beschädigte Lasfetten in brauchbaren Stand zu setzeu. Haupt-
sächlich diesem letztern Umstände verdankt es Omar, daß er
seine Eroberungen bis an den Niger ausdehnen konnte, denn
nur vermittelst seiner Geschütze konnte er entscheidende Schlach-
ten gewinnen. Als er dann von Segn nach Massina sich
in Bewegung setzte, um dieses Reich zu erobern, bat Samba
Ndiaye, in jener Stadt bleiben zu dürfen, und der Hadsch
ernannte ihn nicht bloß zum Befehlshaber der Festung, son-
dern auch zum Hüter seines Hauses.
Sobald er erfuhr, daß weiße Männer vom Senegal ein-
treffen würden, bat er um die Vergünstigung, ihnen in seiner
Wohnung Unterkommen zu geben; er rede ihre Sprache nnd
wisse aus Erfahrung, wie man mit ihnen umgehen müsse.
Bei Ahmadu steht er nicht ganz in so hohem Ansehen wie
bei dessen Vater Omar, doch wird sein Rath über mancherlei
Dinge eingeholt, und namentlich dann, wenn es sich um
Mage's Woh
weiße Leute handelt. So kam es, daß die Griots (Hofsän-
ger) und andere einflußreiche Lente diesmal den Kürzern
zogen; sie hätten mich gern in Beschlag genommen, weil dar-
aus für sie allerlei Profite herausgesprungen wären. Ahmadu
wollte uns, wie der landesübliche Ausdruck lautet, „ausneh-
men" ; also verstand es sich von selber, daß er mir viele Le-
bensmittel, Salz und andere Geschenke geben würde, und
dabei mußte natürlich für meinen Hanswirth etwas abfallen.
Nun war Samba Ndiaye schon in seiner Eigenschaft als
Bakiri eben so eigennützig oder aus Geschenke erpicht wie die
anderen, aber durch seinen langjährigen Aufenthalt unter den
Weißen hatte er gelernt, eine Art von Anstand zu beobach-
ten; er war nicht bettelhaft zudringlich, während die übri-
gen von jedem Weißen so viel als möglich zn erpressen sn-
chen. Die letzteren sind aber daran einigermaßen selber schuld.
Nur allzu lange befolgten sie beim Handelsverkehr mit den
Schwarzen das System, denselben Geschenke zu geben, be-
vor das Geschäft begann, und so kam es allmälig, daß Ge-
ing in ^>egu.
schenke gewissermaßen als ein Recht in Anspruch genommen
werden.
Als ich mich einigermaßen eingerichtet hatte, erschienen
bei mir zwei schwarze Männer, Seidn und Ibrahim; sie
waren, wie früher gemeldet worden ist, vom Gonvernenr
aus St. Louis als Eilboten nach Segu vorausgeschickt wor-
deu, um meine Ankunft zu melden und waren schon seit fünf
Monaten in der Stadt. Ahmadn hatte sie gut aufgenom-
men, wollte sie aber nicht nach Massina zu seinem Vater-
Omar gehen lassen, angeblich weil sie des Krieges halber
nicht dorthin gelangen könnten. Auch die Rückkehr nach dem
Senegal wurde ihnen nicht gestattet; sie dürften, sagte
Ahinadn, nicht heimkehren, ohne dem Gouverneur eine Am-
wort von Omar zu bringen. So befanden sie sich in der
Klemme. Uebrigeus wurden sie gut behandelt nnd wohnten
bei einem Tonconlenr-Griot, den sie sehr lobten. Ich kannte
diesen Mann, er hieß San oder Samba Farba und auch
ich kann nur Gutes von ihm sagen. Früher hatte er län-
230
Capitän Mage's Aufenthalt beim König Ahmadu zu Segu am obern Niger.
gere Zeit in St. Louis, in Bakel und anderen Stationen
am Senegal sich aufgehalten und war mit manchen dortigen
Kaufleuten bekannt. Er hat mir, ganz gegen die Gewohn-
heit anderer Griots, niemals etwas abverlangt, und wenn
ich ihm dann und wann ein kleines Geschenk gab, bedankte
er sich herzlich. Er gehört zu denjenigen Afrikanern, an
welche ich mich mit Vergnügen erinnere.
Die beiden Eilboten hatten in Segu Gelegenheit vollauf
gehabt, den Stand der öffentlichen Angelegenheiten genau
kennen zu lernen, und ich hätte von ihnen manches Wichtige
erfahren können. Leider verstand ich damals erst wenig von
der Aolofsprache und vom Toucouleur gar nichts, und um
aus den Leuten etwas herauszubringen, hätte ich mich eines
Dolmetschers bedienen müssen. Nun sind aber diese Neger
so mißtrauisch, daß sie nicht gewagt haben würden, einem
meiner Laptots die wahre Lage und Stellung Ahmadn's zu
offenbaren; sie besorgten, daß dieser Kunde davon erhalten
könue und fürchteten den Zorn des Königs. Uebrigens ließ
Samba Faröa, einflußreicher Griot in Segu.
Sei'du einige Worte und Winke sallen, die mir zu denken
gaben, aber nie ging er offen mit der Sprache heraus und
das that er auch späterhin nicht beim Gouverneur Faidherbe.
Ich lernte nur auf meine eigenen Kosten und im Verlaufe
der Zeit den wahren Stand der Dinge kennen.
Ahmadu war anfangs sehr gastfreundlich und freigebig.
Am Tage nach unserer Ankunft fanden wir im Hanse Samba
Ndiaye's einen fetten Hammel, ein wahres Prachtexemplar.
Man sieht bei den Handelsleuten, namentlich am obern Se-
negal, nicht selten stattliche Schöpse, die man am Tabaski-
feste schlachtet und die einen Werth von 50 bis 60 Franken
haben, aber ein so mächtig fettes Thier hatte ich nie zuvor
angetroffen. Auch Reis und Salz ließ uns der König brin-
gen und bald nachher auch einen gemästeten Ochsen. Dieser
benahm sich so widerspenstig, daß die Schwarzen ihm die
Beinflechsen durchschnitten. Ich ließ ihn dann sofort ab-
schlachten und wir hatten nun Fleisch die Hülle und die Fülle.
Ich mußte, als Gesandter und Bevollmächtigter meiner Re-
gierung, natürlich alle Geschenke des Königs annehmen und
war auch froh, daß wir nach langem Fasten wieder einmal
Capitän Mage's Aufenthalt beim König Ahmadu zu Segu am obern Niger.
231
kräftige Nahrung genießen konnten. Abends und Morgens
brachte man uns Milch; Samba Ndiaye hatte vom Könige
5000 Kaurimnscheln erhalten, um uns dafür Hühner, Eier
und Fische zu kaufen und wiederholte mehrmals, wir möchten
uns ja nicht einschränken, Ahmadu habe einen großen Geld-
beutet und würde es sehr übelnehmen, wenn wir uns etwas
abgehen ließen. Er seinerseits schenkte uns gleichfalls einen
Hammel, der eigentlich am Tabaski verzehrt werden sollte;
an jenem Festtage schlachtet jeder Familienvater, der es irgend
ersHwingen kann, einen Schöps.
Als eine Art von Hanshofmeisterin besorgte die Sklavin
Mairam den Dienst in der Küche und bereitete auch für
meine Laptots die Speise. Die Wache von Sofas vor mei-
ner Wohnung wurde von einem gewissen Karnnka Djawara
befehligt; er sorgte dafür, daß' Niemand ohne meine aus-
drückliche Erlaubniß Eingang fand, und jeder Zudringliche,
gleichviel welchen Ranges er auch war, bekam tüchtige Peit-
schenhiebe. So konnte ich mich endlich der Ruhe erfreuen.
Am folgenden Tage zogen meine Laptots insgefammt zum
Sultan, der sie nicht nur freundlich aufnahm, sondern ihnen
auch einen Ochsen und 40,000 Kaurimuscheln schenkte. Ich
erhielt gleichzeitig eine wahrhaft fürstliche Gnadenspende,
nämlich einen Korb mit 500 Guru- oder Kolanüssen. Mein
Führer Famhara hatte dem Sultan gesagt, daß die Weißen
diese Frucht sehr gern genössen und er speculirte seinerseits
auf das Geschenk, ich aber wußte den Werth desselben wohl
zu würdigen und hielt Haus damit.
Am 1. März 1864 ließ ich Ahmadu um eine Audienz
bitten und er bestellte mich um 5 Uhr. Als ich eintrat,
fand ich ihn von einer großen Menschenmenge umgeben, ver-
langte aber, nachdem ich ihn begrüßt hatte, fofort vom Ge-
schäfte zu reden. Die Mehrzahl der Anwesenden ging dann
fort und nur einige wenige Beamten durften dableiben.
„Seit dem Gefechte bei Gnemu," fo redete ich ihn an,
Ein Blick auf Segu von einer Dachterrasse aus.
„ist kein Krieg mehr zwischen uns gewesen. Wir wußten
aber, daß trotz des Friedens mehrere Talibes (d. h. bewafs-
nete Marabutschüler) sich in Koniakary und Kundian auf-
hielten und wir (die Franzosen) hätten sie dort leicht aus-
suchen können. Wir thaten es nicht, weil man dem Gon-
vernenr gesagt hatte, der Hadsch wolle nie wieder feindselig
gegen uns austreten. Seitdem er das erfahren, war es seine
Absicht, einen Bevollmächtigten an Deinen Bater zu schicken.
Wir führen nur Krieg, wenn man uns beleidigt, mit fried-
lichen Leuten dagegen leben wir gern in Eintracht, ^nideß
der Hadsch (Omar) war weit entfernt und wir hörten nur
selten etwas über ihn; auch waren die Straßen unsicher und
so konnten wir keinen Offizier abschicken. Nun hat man
aber dem Gouverneur mitgetheilt, Du seiest König von Segu
und Dein Vater gebiete über Massina uud deshalb schickt er
mich, damit ich mich mit Dir verständige. Er will nur das
Gute und zum Beweise dafür schickt er Dir zwei Offiziere.
Nun bin ich hier und frage Dich: Kannst Du mich zu Dei-
nem Vater schicken? Oder soll ich Dir mittheilen, was ich
ihm zu sagen habe? Und wenn ich rede, kannst Du mir
eine Antwort geben?"
Ahmadu entgegnete mit schlichten Worten auf meine
Fragen, ohne sich irgendwie zn binden.- „Seitdem die Welt
steht, giebt es Krieg und hinterher wird man dann gut
Freund. Schaichu (d. h. Hadsch Omar) arbeitet lediglich
für den Ruhm GotteS. Wenn er es nur auf Macht und
Reichthnm abgesehen hätte, so könnte er ausruhen uud in
Frieden Alles genießen, was er erworben hat. Aber das ist
nicht seine Absicht. Er will den Krieg, um das Laud ein-
zurichten, und deshalb vertreibt er die Heiden und bösen Men-
scheu aus demselben. Die Guten läßt er in Ruhe. Es sind
schlechte und böse Menschen, welche Euch gegenüber die Ver-
Hältnisse in Verwirrung gebracht haben. Nun bist Du aus
Frankreich hierher zu uns gekommen und darüber sind wir
232 Capitän Mage's Aufenthalt beim Köi
glücklich, höchst glücklich. Wenn ich Dir sofort am heutigen
Abend eine Antwort geben könnte, so würden die Sachen ganz
nach Deinem Wunsch erledigt werden; aber Du weißt wohl,
daß die alten Leute es gern sehen, wenn man achtungsvolle
Rücksicht auf sie nimmt. Schaichn lebt noch, befindet sich
fthr wohl und ich kann, aus Rücksicht für ihn und ohne ihm
weh zu thuu, die Dinge nicht gleich zum Abschlüsse bringen.
Allerdings könnte ich wohl auf eigene Hand verfahren, denn
er hat mir unbedingte Vollmacht gegeben, aber das darf ich
doch nicht thun. Uebrigens hat er mir schon vor langer
Zeit gesagt, daß die Weißen zu mir kommen würden und
daß es für mich nothweudig sei, mit ihnen zu reden." In
Betreff meiner Abreise, so fügte er noch hinzu, könne man
nichts Festes bestimmen, er würde mich aber fortziehen lassen,
sobald der geeignete Zeitpunkt da sei.
Ich drang weiter in ihn, denn diese Ausschweifungen ver-
kündeten mir nichts Gutes. Mit Entschiedenheit betoute ich,
; Ahmadu zu Segu am obern Niger.
daß mir die Zeit nur kurz zugemessen sei und ich nach dem
20. Mai darauf verzichten müsse, nach Handallahi zum
Hadsch zu gehen; vor Eintritt der Regenzeit wolle ich wieder
in St. Louis eintreffen. Ich verlangte auch, daß er die bei-
den Eilboten sofort dorthin abschicke, damit der Gouverneur
erfahre, daß ich in Segu sei.
Antwort auf das Alles follte ich morgen haben, und
wirklich erhielt ich Audienz in dem kleinen Hofraum, in wel-
chem er mich zum ersten Mal empfangen hatte. Die Eil-
boten, fo äußerte er, sollten abgeschickt werden, aber umjt
sofort; ich möchte inzwischen meine Briefe an den Gouver-
neur schreibe». Dann kam er wieder, wie schon bei den
früheren Besprechungen, aus Europa zu reden, fragte nach
den verschiedenen Völkern, wie stark sie seien, welche Regie-
ruug und Religion sie hatten und was in Stambul vorgehe.
Auch vom Krimkriege, von Eisenbahnen und Telegraphen
hatte er gehört. Ueber das Alles wurde viel hin- und her-
Frauen sta?
gesprochen und ich benutzte die günstige Gelegenheit, um
einige praktische Angelegenheiten aufs Tapet zu bringen.
Wenn er, sagte ich ihm, Wege bahne und Straßen von zehn
Ellen Breite herrichten lasse, dann werde er etwas sehr Nütz-
liches thun und sogar in einem Wagen fahren können. Ich
mußte ihm meine Zeichnungen vorweisen; die landschaftlichen
Skizzen waren ihm gleichgültig, aber die Menschengestalten
und Gesichtszüge interessirteu ihn lebhast.
Als ich wieder in meiner Wohnung war, schickte er mir
einen Hammel und einen Ochsen.
Erst am 6. März sah ich den Sultan wieder. Der Doc-
tor litt am Fieber und Ahmadu bemerkte, daß mit seinen
Gesichtszügen eine Veränderung vorgegangen sei. Als ich
wieder von der Absenduug der Eilboten und Beschleunigung
unserer Abreise sprach, erhielt ich lediglich diplomatische Ant-
worten, aus welche die Afrikaner sich wohl verstehen: „Bald;
sogleich; Tsche Allaho!" — „Hoffentlich machst Du es
möglich, daß wir binnen heute und acht Tagen die Reise
fen Hirse.
antreten können?" — „Vielleicht läßt sich das machen."
Ich war damals noch unerfahren genug, die Hoffnung nicht
zu verlieren, aber ich lernte leider bald, was jene Redens-
arten bedeuten sollten.
Tagtäglich wurde die Hitze ärger; die ausweichenden Ant-
Worten steigerten meine Reizbarkeit, auf allen Seiten begeg-
nete ich nur Hindernissen. Ich wollte Pserde kaufen, aber
meine Bemühungen waren vergeblich; ich konnte auch nicht
eins bekommen. Dann wurde ich bedenklich krank und mußte
unter dem Schuppen Hansen, denn im Zimmer war es nicht
mehr zum Aushalten. Als ich mich etwas erholt hatte,
borgte mir Samba Ndiaye ein Pferd und ich konnte aus-
reiten. Es that mir wohl einsam zu sein, aber ich stellte
auch ernste Betrachtungen über meine schwierige Lage an.
Einst war ich so tief iu Gedanken versunken, daß ich beim
Galopiren eine halbblinde und taube alte Frau nicht be-
merkte; sie kam unter das Pferd und lag bewußtlos an der
Erde, obwohl sie nur einen schwachen Stoß bekommen hatte.
Capitän Mnge's Aufenthalt beim Köi
Sofort sprengte ich fort und holte den Doctor; als dieser
kam, war die Alte schon wieder auf den Beinen und bei vol-
lem Bewußtsein. Ich schenkte ihr eintausend Kaurimuscheln
und sie war darüber hocherfreut; eiu paar Tage nachher
starb sie, und dann sand sich ihr Herr bei mir ein, um
ein Gescheut herauszupressen. Ich ließ ihn jedoch hart an
und jagte ihn fort; als ich am Abend darüber mit Samba
Ndiaye sprach und mein Bedauern äußerte, daß die Sklavin
eine kleine Verletzung erhalten habe, rief er: „Was macht
das? Es wäre weiter nichts, wenn Du sie auch getödtet
hättest; sie ist ja nur eine Heidin (Kefir)." So äußerte
sich ein Mohammedaner, der zwanzig Jahre lang mit den
Weißen verkehrt hatte!
Am folgenden Tage ließ ich Ahmadn zweimal um eine
Unterredung bitten, und beidemal erhielt ich zur Antwort, er-
sitze unter den Bäumen vor dem Hanse seines Vaters und
sei in tiefes Nachdenken versunken; ich möchte nur bis zum
1. April warten. So lange geduldete ich mich auch, dann
aber verlangte ich die mir zugesagte Audienz; indeß auch jetzt
vergeblich und man vertröstete mich auf künftige Zeiten!
Ich war seit einiger Zeit wirklich sehr krank und kaum fähig,
Notizeu niederzuschreiben; Doctor Quintin befand sich eben
so unwohl. Einige Linderung verspürte ich nur, wenn ich
mich tüchtig kneten ließ ; dadurch bekam ich auch etwas Schlum-
mer. Die Frauen der Nachbarschaft verstanden sich sehr gut
auf das Kneten und thaten es gern, weil sie jedesmal einige
Kanris und kleine Stücken Bernstein dafür bekamen. Als
Ahmadn davon erfuhr, schickte er uns zwei junge Sklavinnen;
ein Mann könne ohne weibliche Beihülfe nicht im Lande leben;
wenn wir sie bei unserer Abreise nicht mitnehmen wollten, so
könnten wir sie ihm zurückgeben. Anfangs war ich entschlos-
sen, ein solches Geschenk nicht anzunehmen, aber Samba
Ndiaye machte mir klar, daß Ahmadn unsere Bedenklichkeiten
gar nicht begreifen und sich sehr verletzt fühlen werde. So
behielten wir denn bis auf Weiteres die beiden Dienerinnen.
Inzwischen liefen von verschiedenen Seiten her allerlei
widersprechende Nachrichten ein, aus denen jedoch so viel her-
vorging, daß weit und breit große Verwirrung herrsche. Unter
diesen Umständen konnte ich nicht ohne einen amtlichen Füh-
rer reisen und auch nur, wenn ich Pferde hatte; diese aber
gab Ahmadu mir nicht. Auch mußte ich trotz aller Gast-
lichkeit des Königs täglich nahezu an tausend Kaurimuscheln
für allerlei Nebenausgaben aufwenden und dann -und wann
meinen Laptots eine Gratification zukommen lassen. Mein
Waarenvorrath war inzwischen nach und nach auch geringer
geworden: Baumwollenzeug fand Absatz, aber die Luxus-
artikel: Korallen und Bernstein, blieben liegen, weil bei dem
allgemeinen Nothstande nur die wenigen Wohlhabenden von
mir kauften und auch nur zu niedrigen Preisen. Dagegen
fanden sich Bettler in großer Menge ein und ich durfte sie
nicht abweisen, wenn ich meinen Respect behaupte» wollte.
Sobald ich von irgend Jemand Erkundigungen über die Lan-
desVerhältnisse einziehen wollte, mußte ich allemal erst ein
Geschenk geben.
Man begreift, daß ich unter solchen Umständen keinen
heißern Wunsch hatte, als so bald als möglich abzureisen.
Es war nun April geworden. Ahmadu saß tagelaug unter
den Bäumen vor seines Vaters Hanse und hielt Berathuug
mit seineu Würdenträgern. Fortwährend liefen widerspre-
chende Nachrichten ein: die feindlichen Truppen kommen von
Sansandig gegen Segn herangezogen; — eine Abtheilung
von Ahmadn's Truppen hat gesiegt; — eine andere ist aufs
Haupt geschlagen worden; — des Königs Armee erhält von
da oder dorther Verstärkung:c. Der König suchte dann
seine getreuen Kriegersklaven (Sofas) anzufeuern, und auch
die Talibes, diese in der Schule Hadsch Omar's gezogenen
Globus XIV. Nr. 8. (Oktober 1868.)
ig Ahmadu zu Segu am obern Niger. 233
Marabutkrieger, doch zeigten diese letzteren keine Neigugu,
sich mit der Armee zu vereinigen.
Als ich darüber meine Verwunderung äußerte, gab mir
Samba Ndiaye folgende Erläuterung: Du mußt nicht etwa
glauben, daß es ihnen an Muth fehle, wir Alle sind aber
gegen Ahmadu aufgebracht. Wir leiden Mangel an Vielem
und er giebt uns nichts, nicht einmal Flinten. Manche Sol-
daten haben keine Schießwaffe, und wenn sie von ihm Ge-
wehre verlangen, von denen eine große Menge in den Ma-
gazinen liegt, dann sagt er ihnen: Was hast Du denn mit
Deinem Gewehre gemacht? Wenn der Mann sagt: Ich
mußte es verkaufen, um mich satt essen zu können und meine
Frau nicht verhungern zu lassen, dann sagt er: Weshalb
verkaufst Du Deine Frau nicht? Thue das, dann
kannst Du Dir ein Gewehr anschaffen! Nun sind die
Frauen allerdings nur Sklavinnen, wenn aber der Mann
sich einmal an ein Weib gewöhnt und dasselbe gern hat,
dann läßt er solch eine Person nicht gern von sich fort, und
wenn sie Mutter wird, ist sie keine Sklavin mehr, darf dann
auch nicht mehr verkauft werden. —
Aus Allem konnte ich entnehmen, daß man gegen Ahmadu
und auch gegen seine Sofas mißvergnügt war, weil diese von
ihm sehr gut gehalten wurden. Sehr unbeliebt--waren auch
seine Günstlinge Mohammed, Bobo und Sutuku nebst
einigen Anderen, die von ihm oft mit Gaben bedacht wurden
und ihm dafür schlechten Rath gaben. Mein Hauswirth
Samba erzählte mir weiter: Ahmadu hat in den Magazinen
seines Vaters goldgefüllte Tonnen liegen; das Gold reicht
hin, um die Armee wenigstens zehn Jahre lang zu unter-
halten; aber er läßt sie hungern und giebt höchstens alle paar
Monate den Soldaten eine Löhnung von 600 Kaurimuscheln
und einen Stein Salz. Was soll der Mann damit anfan-
gen, wie weit kann er damit kommen? Da war Hadsch
Omar ein ganz anderer Mann; der gab mit vollen Händen,
und hätte ich nicht noch etwas übrig von dem, was ich durch
ihn erhielt, so wüßte auch ich nicht, wovon ich leben sollte! —
Manchmal erhielt ich Besuch von Dialy Mahmadi,
einem Hofgriot (Troubadour), der über alle möglichen Dinge
einen Gesang anstimmen konnte; er spielte ganze Tage lang
aus einer Mandingozither, und das that dieser gekrönte Dich-
ter lediglich um ein Geschenk zu erwischen. Er fehlte nie-
mals, wenn vor dem Hanse Ahmadu's eine Bambnla ge-
geben wurde, d. h. ein Negerfest mit Musik und Tanz. Dann
brachte er stets nicht nur seine sieben Frauen mit, sondern
auch seine sämmtlichen Griotzöglinge, denn der Mann hatte
eine Dichter- und Sängerschule und war ein eifriger Lehrer.
Die Bambulas finden Abends bei Vollmond statt oder beim
Scheine von großen Feuern. Der Griot Dialy Mahmadi
war übrigens ein Stutzer. Er trug z.B. eine grüne Tuch-
kappe und um dieselbe einen seidenen, golddurchwirkten Tur-
ban; über seinem gelb- und blauseidenen Bnbn (Unterkleide,
Rocke) hatte er einen Mantel von gelber und blauer Seide.
Wenn er mich besuchte, saß er gewöhnlich eine Weile ganz
still da und hoffte auf ein Geschenk; wenn er aber nichts
erhielt, forderte er ohne Weiteres eine mit Gold gestickte
Sammetmütze, die ich ihm denn auch gegeben habe. Er
war ein ganz intelligenter Mensch, war an der Meeresküste
gewesen und hatte einige Zeit in Sierra Leone zugebracht,
verstand auch einige Brocken Englisch und war dem Luxus
sehr ergeben. Unter den freien Griots galt er für den reich-
sten, und seine Serenaden und Ballette brachten ihm etwas
Erkleckliches ein. Als ich von Segu zurückreiste, vertrauete
er mir Gold an, wofür ich ihm in St. Louis allerlei ein-
kaufen sollte, namentlich ein paar Epanletten, einen dreiecki-
gen Hut, einen Uniformrock, Beinkleider und — Schuhe von
gefirnißtem Leder.
30
234 Hermann @rebner: Aus den Urwi
Auch von einem andern Griot erhielt ich manchmal einen
Besuch. Er hieß Sukutu, war Sklav und trotzdem
der angesehenste große Herr in Segn. Sein Haus lag
neben jenem Ahmadn's und es war (wie unsere Abbildung
zeigt) etwas von Stil darin. Der Mann kleidete sich statt-
lich und sauber und sein angemessenes und ruhiges Beneh-
men mußte bei einem Schwarzen überraschen, der nie zuvor
mit Weißen in Berührung gekommen war. Nie forderte
er ein Geschenk, er gab vielmehr gern und das war an
einem Griot doppelt auffallend ; er brachte mir jedesmal einige
Guruuüfse, und nach jedem Besuche, den ich ihm machte,
schickte er mir ein Huhn oder irgend etwas Anderes. Mei-
nerseits schenkte ich ihm Bernstein oder einige Geldstücke, so
daß er nicht zu kurz kam. Aber er war wirklich freigebig
und dabei einer meiner besten Kunden, weil er Alles, was
er von mir kanfte, pünktlich bezahlte.
Mit Ahmadu konnte ich nichts ausrichten, er hielt mich
in ungewisser Schwebe. Während dieser langen, peinlichen
Monate waren die eben genannten Troubadours, einige alte
Bürgersleute, die sich ein wichtiges Ansehen gaben und doch
am Hose keinen Einfluß hatten, nebst Samba Ndiaye mein
Umgang. Unsere Ausflüge beschränkten sich auf die Lu-
gans, d. h. Gärten, welche meine Freunde in der Nähe der
Stadt besaßen. Das dauerte so bis in den Juli hinein.
Dann erfuhr ich, daß Ahmadu seine mit Mühe zusammenge-
brachte Armee ins Feld schicken wollte. Sie bewerkstelligten
am 24. Juli bei Segu Koro ihren Uebergang über den
Niger, und ich ritt dorthin, um mir die Sache genau an-
zusehen. Bon militärischen Anordnungen und Anstalten war
keine Spur vorhanden; man hatte keine anderen Fahrzeuge,
als elende Pirognen, von denen viele umschlugen, weil man
sie schlecht und viel zu stark beladen hatte; viele Menschen
und Pferde kamen um.
Während das Heer in den Krieg zog, ließ Ahmadu sich
gar nicht sehen, sondern blieb in seinem Harem und wartete
den Erfolg des Zuges ab. Uebrigeus wußte Niemand ge-
nan, wohin derselbe eigentlich gerichtet war, bis man nach
einiger Zeit erfuhr, die Soldaten seien in der Richtung nach
Aamina hin gegangen. Dort sollten sie das Dorf Toco-
roba angreifen, in welchem die aufständigen Bambaras sich
verschanzt hatten und von wo ans sie die Dörfer der Land-
fchaft Fadugu ausplünderten. Ahmadn's Truppen wurden
mit großem Verlust zurückgeschlagen uud in den ersten Tagen
des August trafen in Segn viele Verwundete ein. Doctor
Quintin wurde vom König ersucht, sich einiger derselben an-
>ern am Obern See in Nordamerika.
zunehmen. Die Frauen, welche im Kriege ihre Männer
verloren hatten, stimmten das landesübliche Klagegeheul an.
Täglich schwirrten nun mehr und mehr beunruhigende Ge-
rüchte im Publicum umher; sie ersetzen in jenen Gegenden
die Zeitungspresse. So viel wurde mir aus Allem klar,
daß es unmöglich sei, meine Reise nach Osten fortzusetzen
und daß gleichzeitig eine Rückkehr nach dem Senegal mit
den bedenklichsten Schwierigkeiten verbunden fein würde. So-
wohl Ahmadu wie sein Vater Hadfch Omav waren ringsum
vou aufständischen Bambaras gleichsam umzingelt und die
ganze Gegend an den Bergen in Dschallonkadu im Süd-
Westen bis in die Nähe des Debn-Sees im Nordwesten be-
fand sich in vollem Aufruhr. Bald erfuhr man auch, daß
Hadsch Omar, der sich doch für einen Propheten ausgab,
bei Timbnktu von seinen eigenen Religionsgenossen, nämlich
den Kuutahs uud den Mohammedanern, ans Massina zu-
rückgeschlagen sei; er habe sogar seine neueroberte Hauptstadt
Hamdallahi räumen und sich in die wilde nach Süden hin
liegende Gegend zurückziehen müssen. Weiter wurde gemel-
det, daß Mari, ein Verwandter der früheren eingeborenen
(Bambara-) Könige von Segu deu Bakhoy (weißen Fluß)
mit einem Heer überschritten habe, welches von ihm unter
deu südlichen Bambaras zusammengebracht worden war. Der
Feind habe auch der Armee Ahmadn's eine empfindliche
Schlappe beigebracht.
Diefer König gerieth in Zorn und Wuth, begriff, daß
er sich in einer sehr gefährlichen Lage befinde und beschloß
endlich, sich selber an die Spitze zu stellen. Er zog so viele
Verstärkungen als immer möglich war an sich; Ulibo und
Turno Abdül, zwei Feldherren, die er für fehr tüchtig hielt,
zogen ihm voraus. Die Lage der Dinge war allerdings be-
deutlich genug, denn wenn Ahmadu geschlagen wurde, dann
kam er schwerlich nach Segu zurück, und wenn ich in die
Gewalt der siegreichen Bambaras fiel, dann war mir der Tod
sicher. Das Alles erwog ich hin und her und Folgendes
erschien mir allein räthlich. Ich wollte ihn ersuchen, nnch
mit sich zu nehmen, und das konnte ihm nur willkommen sein,
wurde er geschlagen, so waren wir unter seinen Soldaten,
auch wenn diese sich auf der Flucht befanden, wenigstens
nicht unsicherer, als in dem verlassenen Segu. Ahmadu war
auch in der That über mein Anerbieten hoch erfreut, ich aber
traf meine Vorkehrungen für alle Fälle, ordnete meine Pa-
piere, gab in Betreff derselben die nöthigen Weisungen, packte
Alles was ich noch von Silber, Bernstein, Korallen und Gold
besaß, zusammen und wartete nun das Weitere ab.
Aus den Urwäldern am Obern See in Nordamerika.
Von Dr. Hermann Credner.
Die Küstenländer des Obern Sees sind noch fast voll-
ständig von dichtem Urwalde bedeckt. Nur an den Südufern
jener großen Wasserfläche im Innern Nordamerikas dehnen
sich vereinzelte Lichtungen uud in diesen gewerbfleißige An-
siedelnngen aus. Hier hebt der Bergmann die reichen Mi-
neralschätze, welche die Natur in verschwenderischer Laune
ausgestreut hat, werden die Riesen des Waldes zu Bauholz
und Brettern geschnitten, um über den ganzen amerikanischen
Continent, selbst nach der alten Welt hin vertheilt zu wer-
deu. Das monotone Geräusch der Pochwerke, in welchen
die metallführenden Gesteine zerkleinert werden, das keuchende
Athmen der Dampfmaschine, welche die gefüllten Kübel aus
der Tiefe fördert, der schrille Pfiff der Locomotive, welche die
gewonnenen Erze nach den Hüttenwerken zieht, sie stehen im
grellen Contraste zu der tiefen Ruhe des noch unberührten
Urwaldes, von dessen Rande aus der Trapper auf die rüh-
rige Scene zu feinen Füßen hinabblickt. Marqnette, Ne-
gauuee, Keweeuaw Point und Ontouagon sind solche Oasen
des Gewerbfleißes und des Unternehmungsgeistes inmitten der
kaum zugänglichen Wildniß, welche sich nach Süden zu fast
200 englische Meilen weit ausdehnt und in welcher der Chip-
pewah-Jndianer den Bär, den Bieber und den Hirsch jagt.
Hermann 6x ebner: Aus den Urwi
Ein nordischer Urwald, welcher aus abwechselnden Stri-
chen von Tannen, Fichten, Kiefern, Birken, Buchen und
Ahorn besteht, würde bald einen ermüdenden Eindruck machen,
wäre er nicht von zahlreichen Seen uud größeren oder klei-
neren Strömen unterbrochen, deren zum Theil wilde, zum
Theil unbeschreiblich liebliche Scenerien dem Urwaldleben
Reiz verleihen. Das Ufer eines fischreichen, klaren Sees,
der luftige Rand eines Wasserfalles, eine Berglehne mit sprn-
delnder Quelle, solche Plätze siud es, wo der Reisende beim
Untergange der Sonne sein Zelt ausschlägt, wo er die Beute
seiner Flinte und Angel am mächtigen Feuer zubereitet uud
sich dann ins Gras ausstreckt, um beim Genüsse einer Pfeife
mit sciucu Geführten zu plaudern oder seine Pläne für den
morgenden Tag zu berathen, — wenn es ihm die Musqui-
tos erlauben! Diese höllischen Quälgeister siud der Fluch
der Urwälder Nordamerikas; sie fingen um die Ohren des
Reisenden, wenn er wandert, sie vergällen ihm jeden Bissen,
wenn er ißt, sie stürzen sich aus ihn, wenn er ausruht oder
sich zum Schlafe hinstreckt, bedecken seine Hände, sein Gesicht,
seinen Hals mit den schmerzhaftesten Stichen uud sind im
Stande, den geduldigsten, abgehärtetsten Reisenden zur Wuth,
den an Strapazen gewöhntesten Trapper zur Verzweiflung
zu bringen.
In weniger erheiternder Art als durch Seen, Flüsse und
Wasserfälle wird die Monotonie der Urwaldlandschaft durch
Sümpfe und Waldbrände unterbrochen. Erstere bedecken die
Niederungen zwischen den flachen, oft kaum merklichen Er-
Hebungen jener Gegenden, bestehen aus weichem Moor nnd
sind von dichtem Gestrüppe von in einander verschlungenen
Cedern bedeckt. Ihre Oberfläche ist von hohem Moose über-
wachsen, das sich voll Wasser gesogen hat und nur hier uud
da Tümpel des moorigen Sumpfes offen läßt. Dazwischen
liegen morsche Baumstämme, welche beim Betreten in Stücke
zerfallen, oder fo chaotisch über einander gethürmt sind, daß
sie nnübersteigliche Barricaden bilden. Die Wurzeln der Cedern
laufen häufig über der Oberfläche des Sumpfes in der Luft
hin und feuken Ausläufer in den Boden unter sich und schaf-
seu so einen trügerischen, nur scheinbar festen Boden, durch
welchen man beim Darauftreten hindnrchbricht, um knietief
in den zähflüssigen Moorgrund zu sinken. Nebenbei die blu-
tigeu Verletzungen an den splitterigen Baumstümpfen uud
stacheligen Aesten und die Qualen durch die unbarmherzigen
Musquitos! Ein paar Stunden in einem solchen Ceder-
sumpfe erscheinen wie eine peinvolle Ewigkeit.
Oede Schauplätze der Zerstörung sind die Landstriche,
in welchen Sturm und Feuer gewüthet und sich zum Theil
über gewaltige Flächenräume ausgedehnt haben. Kein Baum
hat hier den dahiubrausenden Wirbelwinden widerstehen kön-
nen, zerschmettert liegen die gewaltigstenBaumriesen am Bo-
den,' haushoch find sie chaotisch über einander gethürmt. Noch
trauriger wird das Bild der Verwüstung, wo die Trümmer-
masse vom Feuer ergrissen worden ist. Die Baumstämme
sind verkohlt, das Moos, welches sie bedeckte, die Pflanzen,
welche unter ihnen auf dem Felsengrunde wucherten, die Der-
Westen Vegetabilieu, welche eiue Decke über letztern gebildet
hatten, sind zu Asche verbrannt, welche von den Winden ver-
weht worden. Die Felsen haben ihre Farbe unter der Gluth
verloreu nnd ragen schneeweiß unter den schwarzen Baum-
resteu hervor.
Die Bewohner der mit Wald bedeckten Landstriche , in
welche Civilisation noch nicht eingedrungen, sind die CHippe-
wah-Jndianer. Sie führen, wie alle Rothhäute, ein unstetes
Wander- und Jägerleben und ziehen mit dem wechselnden
Wilde nnd je nach dem Ausenthaltsorte der in den verschie-
denen Jahreszeiten genießbaren Fische von der Nordküste des
Michigansees nach den Ufern des Obern Sees. Im Som-
)ern am Obern See in Nordamerika. 235
mer find die Flüsse ihre Landstraßen, ans welchen fie ihre
leichten Canoes aus Birkenrinde mit Pfeilesschnelle zu bewe-
gen wissen. Im Winter benutzen sie Schlitten, vor welche
sie je zwei bis vier Hunde spannen, zum Transporte ihrer
Habseligkeiten. Am südlichen Ende der Keweenaw-Bai hat man
katholische und methodistische Missionen gegründet, ohne
daß die dort angestellten Bekehrnngsversnche einen besonders
günstigen Erfolg haben; — eine Thatfache, welche mir nur
zu natürlich erschien, nachdem man mir erzählt hatte, daß
vor einigen Jahren einer der methodistifchen Missionäre Le-
bensmittel, welche ihm zur Vertheiluug uuter die von einer
Huugersuoth heimgesuchten Indianer anvertraut worden wa-
ren, statt sie diesen unentgeltlich zukommen zu lassen, an sie
verkauft, ihre Hülflose Lage benutzend die unerhörtesten Preise
erzielt uud außerdem noch beim Abwägen durch Benutzung
falscher Gewichte betrogen habe!
Nachdem ich während des ganzen Frühjahrs und Som-
mers die Urwälder am Obern See durchzogen hatte, rief mich
der Spätherbst des vorigen Jahres von Neuem in ihre Mitte.
Einzelne Schneestürme kündeten bereits den nahenden Win-
ter an.
Ein klarer November-Nachmittag brachte mich nach acht-
tägiger Wanderung durch zum Theil lichte Zuckerahornwal-
düngen, zum Theil kaum durchdringliche Sümpfe aus dem
Düster des Waldes in das Thal des Meuomoneeflusfes, wel-
cher die Grenze von Wisconsin und Michigan bildet. Die
untergehende Sonne beleuchtete eiue fremdartig belebte Sceue.
Der weite Strom glänzte im Abendschein, an seinen Ufern
erhoben sich die bienenstocksörmigen Wigwams und die rohen
Blockhütten der C hipp ew ah-Indianer. Sie waren mir
alte Bekannte; hier hatte ich an manchem Tage von Strapazen
ausgeruht und gejagt und gefischt. Neu war mir ein gerän-
miger 60 bis 70 Fnß langer Wigwam aus Matten und
Birkenrinde, aus welchem wildes Geheul und der dumpfe
Tou einer Trommel erscholl. Ausfällig war mir ferner eine
Flotte schlanker Canoes, welche, ans User gezogen, auf dem
Trocknen lagen. Bald wurde ich unterrichtet, daß die In-
dianer seit vier Tagen ein großes Fest feierten. Gegen fünf-
zig Indianer uud Indianerinnen waren von Nah und Fern
in ihren Canoes herbeigekommen, beladen mit getrocknetem
Wildpret, Decken und Matten, um sich vereint der Lust des
Tanzes zu ergeben. Ich trat in die Festhalle, schüttelte eini-
gen meiner alten indianischen Freuude die Hand und kauerte
mich aus die Erde nieder. Es war gerade eine Pause, der
Wigwain^sast leer. Ich hatte Zeit ihn zu mustern. Aus
dünnen Stämmen von Birken und Cedern war ein Gerüst
hergerichtet, welches im Querschnitt halbkreisförmig gegen
70 Fnß lang und 20 Fuß breit war. An seiner Anßcn-
seite war es bedeckt mit Binsenmatten und Birkenrinde. Vier
Fener brannten in ihm, Uber ihnen kochte in Kesseln Wild-
pret zum gemeinschaftlichen Mahle. Flinten, Decken, Felle
und Hirschkeulen hingen an den Wänden; längs dieser hatte
sich ein Theil der versammelten Indianer, Frauen und junge
Mädchen, Greise und Männer und zwischen ihnen ein Dutzend
hungrig und bissig aussehender Hunde gelagert; die Indianer
rauchend und sich von vorhergegangener Anstrengung erholend.
Säuglinge auf Brettern angebunden standen steif wie Mn-
mien an die Gerüstpfähle angelehnt, einige alte Weiber lagen
in Decken eingewickelt wie tobt anf der Erde. Ein Greis
von abschreckend häßlicher, typischer indianischer Gestchtsbil-
dnng, mit langer, gebogener Nase, ties liegenden schrägen
Augen, hohen Backenknochen, welche von einer braunen Per-
gamenthant bedeckt waren, uud weißem, straffem, bis unter
die Schultern fallendem Haar saß am obern Ende der Halle,
eine aus Cederbretteru und Hirschfell verfertigte Pauke vor
sich, ein krnmmstabähnliches Stück Holz in der Hand, bereit,
30 *
236 Einwirkung des Racencharnkters auf t
damit [btc Tonwellen zu verursachen, welche die Indianer
zum Tanze begeistern sollten. An seiner Seite kauerte ein
junger Mann mit einer halb mit Erbsen gefüllten Blech-
büchse, um sie im Tacte zur Musik des Alten zu schütteln.
Er sah aus, als wenn ihn diese viertägige Beschäftigung
blödsinnig gemacht hätte.
Die Trommel und die Rasselbüchse ertönten, wozu der
Alte einen eintönigen Gesang anstimmte. Neues Leben kam
im Nu in die wilde Gesellschaft. Durch die ThUren stürzen
sie herein mit Geheul, auf springt die alte Frau, welche ich
für einen Leichnam gehalten, in die Höhe schnellen die auf
die Erde Gelagerten. Bald ordnet sich ans dem wirren
Haufen eine Reihe nnd der Kriegstanz beginnt. Mit ge-
messenem Schritte bewegen sie sich um die Feuer, die Mäu-
uer trotzig nach allen Seiten blickend, die Frauen gegen ihre
sonstige Gewohnheit die Augen niederschlagend, fast wie im
Schlafe schließend. Das Tempo wird rascher, der Schritt der
Tanzenden schneller und größer und endet in rasendem Ren-
nen um die Feuerplätze. Mit wildem Geheul begleiten sie
ihre Bewegungen, ihre Arme sind weit vorgestreckt, ihre Fin-
ger klauenartig gekrümmt, ihre Augen starr vorwärts gerichtet
nnd weit geöffnet, als ob sie einen Geist erblickten. Schweiß
fließt von ihrer Stirn, Dampf steigt von ihnen auf in die
kalte Novemberluft. Sie find unermüdlich, vor Allen die
alte Frau, welche den Reigen anführt, zu ihrer Auszeichnung
ein todtes Eichhörnchen an: Gürtel trägt nnd eine so kurze
Pfeife raucht, daß die Spitze ihrer gekrümmten Nase fast den
Pfeifenkopf berührt.
Die Musik fällt in einen andern Tact. Mit ihm än-
dert sich die Bewegung der Tänzer. Sie hüpfen mit glei-
chen Füßen, zuerst mit dem Gesicht nach vorn, dann eine
Viertelwendung machend, seitwärts gerichtet in kurzen, schnel-
len Sprüngen. Dann nehmen sie einen schlürfenden Schritt
an und bewegen sich, den Kopf wie Stiere, wenn sie zum
Kampfe gegen einander rennen, weit vorgestreckt. Dieselben,
wenigstens in meinen Augen dieselben, „Touren" wiederholen
sich vielfach, bis die Trommel plötzlich verstummt und die
schweißdurchnäßten Tänzer mit Geheul, wie sie gekommen,
ins Freie und in ihre Canoes stürzen, um sich in den kalten
Abendnebeln, welche der Fluß aushaucht, abzukühlen. Nach
kurzer Ruhe ein neues Rennen, bis sie sich mit Einbruch der
Nacht in ihre Decken wickeln und dicht neben einander in
ihrem gemeinsamen Tanz-, Speise- und Schlafsalon zur Ruhe
ausstrecken.
Auch ich kehrte nach meinem Zelte zurück, warf noch einige
Holzblöcke aufs Feuer und war eben im Begriff, mich dem
Religionen und deren Umwandelung.
Schlafe zu überlassen, als ich in meiner Nähe leise Stini-
men und ein Klingeln von vielen Schellen hörte. Ich trat
aus dem Lichtkreis meines Lagerfeuers in die Nacht. Eine
Scene bot sich meinen Blicken, welche sich meinem Gedächt-
niß tief eingeprägt hat. Rings um mich breiteten sich die
schwarzen Schatten des Waldes aus, vom Flusse stiegen
weiße, dichte Nebel auf, welche sich, vom Wiude getrieben,
wie im Tanze hin und her bewegten, ein klarer Sternen-
Himmel überdeckte die Landschaft. Vor mir erhob sich auf
dem kurzen Grase eine obeliskenförmige, aus Zweigen gebaute
und mit Matten gedeckte, allseitig geschlossene Hütte, welche
hin und her schwankte nnd dadurch eine Menge Schellen,
welche an ihr angebracht waren, ertönen ließ. Es war das
„Medicin-Heiligthnm", ans welchem der „große Geist", der
seine Gegenwart durch stetes Schütteln seiner Wohnung kund-
giebt, Orakelsprüche ertheilt. Im Halbkreis um das Heilig-
thum, vor welchem ein kleines Feuer unterhalten wurde, saßen
die älteren Indianer düstern Blickes und in tiefem Schwei-
gen, mit der Feierlichkeit angemessenem Ernste ihre Pfeifen
rauchend. Dann und wann näherte sich einer von ihnen
der Hütte, legte anf einen Zipfel der sie bedeckenden Matte
als Spende ein Stückchen Taback und richtete Fragen an den
Priester, welcher sich im Innern des Heiligthums befand.
Um sicher zu sein, daß das Schütteln der Hütte nur durch
den großen Geist bewirkt werde, hatte man dem Priester-
Hände und Füße gebunden. Er ist die Mittelsperson, durch
welche die Indianer mit dem Manitou verkehren. Mit tie-
ser Stimme wiederholte er die Worte des Fragenden. Hes-
tiges Schütteln des Heiligthnmes folgte, und dann ertönte
die helle Stimme des Geistes hoch ans der obersten Spitze
der thurmartigen Hütte, laut und vernehmlich Antwort nnd
Rath ertheilend. Das Heiligthum befand sich über zwei
Stunden in ununterbrochener schüttelnder Bewegung; die
Indianer waren schwer zn befriedigen in ihren Fragen an
die Zukunft. Erst gegen Mitternacht zogen sie sich zurück,
es erstarben die Töne der Klingeln, der erschöpfte Priester-
würde seiner Banden entledigt, der gespendete Taback sorg-
sam von ihm ausgelesen uud das Heiligthum abgebrochen.
Am nächsten Morgen war der große Festwigwam seiner
Bedeckung beraubt; nur das nackte Gerüst ragte über den
hartgetretenen Boden kahl empor. Stille herrschte; die In-
dianer und ihre Canoes waren verschwunden. Sie hatten
sich nach allen Himmelsgegenden zerstreut, um ihre Wigwams
an Plätzen auszuschlagen welche ihnen der große Geist letzte
Nacht angewiesen hatte und wo ihrer reiche Beute an Wild
und Fischen harrt!
Einwirkimg des Raeencharakters auf die Religionen und deren
Umwandelung.
Der bekannte Ausspruch, daß „Alles eine Herde und ein
Hirte" werden solle, hat gar keine Aussicht, jemals ver-
wirklicht zu werden. Er nimmt keine Rücksicht auf die sehr
verschiedene intellectuelle Anlage und Begabung der einzelnen
großen Stammgruppen des Menschengeschlechts; er setzt eine
Gleichartigkeit und Gleichheit voraus, die nirgends Vorhan-
den ist. Eine sogenannte Weltreligion gehört unter die
unmöglichen Diuge, wenn man darunter eine Religion
verstehen will, über welche bei allen Erdenbewohnern eine
und dieselbe gleichmäßige Auffassung gefunden würde.
Unter den Theologen haben nur erst wenige die Be-
dentnng des Racenelementes für die religiöfenAn-
schauungen nnd deren Umwandelung bei verschiedenen
Völkern ins Auge gefaßt; den meisten sind culturanthropolo-
gische Kenntnisse fremd. Die anthropologischen Thatsachen
lassen sich mit vielen fogenannten Fuudamentaldogmen nicht
in Einklang bringen und werden deshalb bei Seite geschoben
oder ignorirt. Unter den Philosophen finden wir einige,
denen schon ein Licht aufgedämmert ist; am entschiedensten
tritt ein Fläming auf, Leo van der Kind er e in Brüssel,
Einwirkung des Racencharakters auf i!
über dessen vortreffliches Buch: De 1a race et de sa part
d'influence dans les diverses manifestation de l'acti-
vite des peuples, Bruxelles 1868, wir demnächst einiges
zu sagen haben. Lazarus in Berlin hat sich um ^„Völ-
kerpsychologie", welche er seit Iahren in den Vorder-
grnnd stellt, sehr verdient gemacht; Adolf Bastian gab schon
1860 über die Psychologie der Racen eine ungeheure Fülle
von Thatsacheu und stellte die Gesetze fest, nach welchen bei
ihnen der Proceß des Denkens und des Anschauens vor sich
geht (^Der Mensch in der Geschichte. Zur Begrün-
dnng einer psychologischen Weltanschauung"; Berlin 1860,
drei Bände). Seine soeben (Berlin 1868, Dümmler's Ver-
lagshandlung) erschienenen: „Beiträge zur vergleichenden
Psychologie; die Seele und ihre Erscheinungsweise
in der Ethnographie", enthalten abermals eine Menge
wichtiger Thatsachen und eröffnen einen neuen und weiten
Horizont. Die Leser des „Globus" wissen, daß wir unserer-
seits die Raceueigeuthümlichkeiteu vou Ansang an scharf ins
Auge gefaßt haben; wir berücksichtigen die verschiedenen eth-
nischen Anlagen, die bei den verschiedenen Racen sehr tief
liegen und sich andauernd behaupten. So weit wir den
Menschen in der Geschichte kennen, ist bei allen großen Ur-
stammen, Grundstöcken, Nacen weder physisch noch psychisch
eine „Transmutation" nachzuweisen; die Racenanlage ist
immanent und constant, deshalb auch der Grad der Cultur-
fähigkeit und Cnltnrmöglichkeit fo verschieden, und weder
Dogmen noch Civilisation können etwas daran ändern. Wir
wiederholen einen Ausspruch, welchen wir jüngst gethan
(„Globus" XIV, S. 19): „Die sogenannte Menschheit ist
von der Natur hierarchisch angelegt worden, nicht demo-
kratisch oder egalitär. Das Gleichheitsprincip hält absolut
uicht Stich gegenüber der Abstufung der Nacen, es gehört
zu den Wahnvorstellungen, die keine andere Unterlage haben,
als die hohle Luft." Die psychische Grundanlage ist eine
bleibende.
Diese Wahrheit findet ihre Anwendung auch dann, wenn
es sich darum handelt, die Anschauungen nud die Formen
zu würdigen, durch welche die Religionen modificirt werden,
sobald sie bei einem Volke von anderer Raceuaulage zur
Geltung gelangen. Es nimmt dann allemal mit der aus
der Fremde ihm zugekommenen Religion solche Umwände-
lnngen vor, welche seiner eigenen psychischen Ra-
cenanlage entsprechen. Darüber hat Emil Buruous:
La diversite des religions („Revue des denx Mondes",
15. August) eingehende Betrachtungen angestellt. Die Ar-
beit ist zu umfangreich, als daß wir sie ganz mittheilen könn-
ten , wir wollen aber Einiges herausnehmen, um zu zeigen,
zu welchen Ergebnissen dieser gelehrte und geistreiche Forscher
gelangt ist.
Zunächst würdigt er die religiösen Anschauungen der
alten arischen Völker. Sie versuchten, sich drei wichtige
Erscheinungen zu erklären: Bewegung, Leben und den
Gedanken. Als Mittelpunkt und Urprincip der Bewegung
erschien ihnen die Sonne; als kosmisches oder terrestrisches
Agens der Sonne das Feuer oder die Wärme in ihren
verschiedenen Aeußerungen und Wirkungen. Diese konnten
nicht entstehen nnd nicht andauern ohne den Wind, die in
Bewegung befindliche Luft. Diese drei allgemeinen Agentien
wurden von ihnen identisicirt; sie sahen in denselben eine
und dieselbe Urkrast mit drei verschiedenen Seiten; aus ihr
leiteten sie die unzähligen Mannichfaltigkeiten in der Bewe-
gnng der Welt ab. Die heiligen Bücher der Inder und
Perser liefern den Beweis dafür, daß dieses ihre Ur- und
Grundlehre war, und wir haben hier die erste Vorstellung
von dem, was fpäter als Dreieinigkeit auftritt. Unsere
arischen Urahnen beobachteten aber a.uch in den Erscheinun-
? Religionen und deren Umwandelung. 237
gen des Lebens eine eben so große Mauuichfaltigkeit von
Formen und Bewegungen, wie in der physischen Welt. Sie
identisicirten Leben und Wärme, sie gaben den Urprincipien
Leben und die Sonne galt ihnen nicht mehr bloß als be-
wegende Kraft, fondern wurde zum himmlischen Vater,
das Feuer zu dessen Sohn, und der Wind, der Luftzug,
zum Geiste, desseu Hauch alle Wesen durchdringt, welche da
athmen, und der ihr Leben unterhält. Dies ist die zweite
Form der Dreieinigkeit nnd diese ist von psychologischer
Beschaffenheit. Die dritte Form bezieht sich ans die Er-
scheinungen des Gedankens, ans die Seele, bei Menschen
wie bei Thieren.
Der Gott war anfangs nur ein glänzendes Wesen (in-
disch: Dewa, daraus Dens :c.), er wurde dann aber zu
einem Principe des Lebens (afura) und drittens zum Ge-
danken, in dessen Aufschwung zum Höchsten, zum Religiösen
(Brahma).
Als Fundamentalsatz der Wissenschaft ergiebt sich, daß
die Religion eine metaphysische Auffassung ist,
eine Theorie, eine synthetische Erklärung des sicht-
baren und unsichtbaren Universums. Eine bloße Theo-
rie bildet aber keine vollständige Religion, wenn sie bloß in
der Idee und der Abstraction verharrt; sie bedarf eines Cul-
tus. Sobald Gott einmal als ein intelligentes Wesen ans-
gefaßt wird, von welchem die Gesetze der Welt herrühren und
durch welches Leben und Bewegung erzeugt werden, dann
fühlt der Mensch sich mit seinem ganzen Dasein und Wesen
an diese unermeßliche Macht gebunden und von ihr abhängig.
Er faßt sie als analog mit sich selber ans, obwohl er sie nn-
endlich höher stellt als sich. Das Gefühl dieser Ab-
hängigkeit von Gott ist die erste Form, welche die Reli-
gion annimmt. Dann folgt eine sichtbare Handlung, durch
welche dieser Glaube au Gott auch äußerlich bethätigt wird,
das Opser. Somit ist schon der Anfang zu einem Cultus
gegeben. Dieser ist zunächst ein bloß persönlicher, beschränkt
sich aus Haus und Familie. Allmälig tritt er in die Oes-
fentlichkeit hinaus; mehrere Familien vereinigen sich um deu-
selben Altar; hinterher treten Priester auf, es bilden sich
Gemeinden, Kirchen; die Angehörigen geben Mittel her, um
dem Cnltns Glanz zu verleihen. Wer die Vedas liest,
wird sich davon überzeuge«, daß dies der Hergang war. Diese
indischen Hymnen, welche in ein weit höheres Alterthum hin-
aufreichen, als alle anderen bekannten Bücher, nennen sogar
die Ribhns als die Männer, durch welche der häusliche
Cultus in einen öffentlichen umgewandelt wurde. Der Ribhu
entspricht dem thrakischen Orpheus auch in der Gestalt der
Sage. —
Jeder, sei er Priester oder Laie, Jude oder Christ, der
ohne Leidenschaft oder Voreingenommenheit die Thatsachen
ins Auge faßt, wie sie durch die Sprachwissenschaft nnd das
vergleichende Studium der Religionen festgestellt sind, wird er-
kennen und zugeben, daß alle arischen Religionen in der
Vergangenheit wie in der Gegenwart in ihren Grundlagen
identisch find, aus derselben Theorie ruhen und denselben
Cultus ausüben. Lehre uud Cultus waren in Allem, was
sich aus Symbolik bezieht, schon festgestellt vor der Zeit, aus
welcher wir die jüngsten vedischen Hymnen übrig habe», und
seitdem ist nichts Wichtiges hinzugethau, nichts Wesentliches
verändert worden. Die kirchlichen Gebräuche unserer
Tage, von deren Ursprung die wenigsten Menschen einen Be-
griff haben, unsere Symbole, die mehr oder weniger zu
einem tobten Buchstaben geworden sind, selbst viele unserer
Legenden finden wir schon im Beda und häufig mit densel-
ben Ausdrücken, deren man sich heute noch bedient.
Wer irgend einer besondern Kirche angehört und vom
Standpunkte derselbe» aus sich einbildet, daß es möglich sei,
238 Einwirkung des Racencharakters auf -
die Leute aller anderen Kirchen zu vereinigen und somit
eine Einheit zu bewerkstelligen, der täuscht sich gründlich;
er giebt sich einem Wahn hin. Der Protestant, welcher Alles
protestantisch, der Katholik, welcher alle Welt katholisch machen
möchte, der Orthodoxe, der seine Orthodoxie Anderen anfzn-
erlegen vermeint, thnt genau dasselbe, wie eiust derAlchY-
mist, welcher aus jedem beliebigen Metalle Gold
machen wollte.
Die Moral tritt bei den alten Religionen entschieden in den
Hintergrund. Aus den ältesten heiligen Büchern der Inder, der
Griechen und auch aus den Zoroastrischen Schriften läßt sich
der Nachweis führen, daß es nicht Zweck der religiösen Ein-
richtungen war, die Menschen mehr oder weniger tugendhaft
zu machen und ihnen moralische Verpflichtungen aufzuerlegen.
Das ist erst viel später geschehen, namentlich von Seiten des
Buddhismus und dann von den Christianern, insbesondere
vom römischen Katholicismus, späterhin und noch strenger
vom Protestantismus. Die Moral ist eben im Fortgange
der Zeit in die verschiedenen Religionen eingeführt worden
und damit nur dem allgemeinen Gange der Civilisation ge-
folgt. Die Moral jeder Religion hat allemal im Einklänge
mit den allgemeinen Bedürfnissen jeder Gesellschaft gestan-
den. Ein eigentlich religiöses Element liegt nicht zu Grunde;
die Auffassungen sind in verschiedenen Zeiten verschieden.
Im Grunde genommen werden die Sitten weder durch die
Religion noch durch die Philosophie, weder durch die Wissen-
schasten uoch durch die Moral bedingt, vielmehr sind es die
Sitten ihrerseits, welche eine Moral schaffen, auch aus die
religiösen Einrichtungen einwirken und in diese manche Ele-
mente der Verschiedenheit bringen. Aus deu Bedas geht
deutlich hervor, daß die Religion nichts mit der Moral zu
schaffen habe, denn die inoralischen Vorschriften in denselben
reduciren sich auf so viel wie nichts.
Wenn nun die Moral bei den Völkern ein Erzeuguiß
ihrer Sitten ist, dann muß man auch in den gesellschast-
lichen Zuständen eine Ursache der religiösen Ver-
schiedenheit erblicken. Deshalb kann auch nicht eine belie-
bige Religion von jedem beliebigen Volke angenommen werden
und nicht für jede beliebige Epoche passen, weil eben die
Moral derselben den gesellschaftlichen Verhältnissen einer sol-
chen Epoche oder eines solchen Volkes nicht entspricht. Die
alten Griechen, Inder und Perser haben Vieles gethan, was
uns verdammenswerth erscheint; wir unsererseits thnn Vieles,
was den Mohammedanern Abschen einflößt. Man denke
nur daran, welche Stellung das Weib bei ihnen und bei uns
einnimmt, und man wird finden, daß schon allein dieser Um-
stand eine Schranke gegen die Annahme des Katholicismus
bildet. Bevor eilte solche möglich wäre, müßten Sitten und
Gebräuche eine völlige Umwandlung erfahren haben, die
Mohammedaner müßten sein und denken wie wir. Dann
aber wären sie ja ohne Weiteres Katholiken und inan hätte
nicht uöthig, sie zu bekehren. Man kann ähnliche Betrach-
tungen über die Sklaverei anstellen. Im alten Athen wnr-
den die Sklaven so gut behandelt, wie bei uns die Hans-
dieuerschast, sie waren aber doch Sklaven, und man mußte
Gesetze geben, um sie gegen die Sitten zu schützen. Das
Christenthum wäre, wenn es nicht die Sklaverei anerkannt
hätte, mit den gesellschaftlichen Zuständen der Hellenen un-
verträglich gewesen. In Athen find während der letztver-
flofsenen Jahre viele alte Inschriften gefunden worden, welche
besagen, daß Sklaven zum Geschenk für irgend eine Gottheit
freigegeben worden feien; durch solche Wandelungen wurde
es möglich, in der Kaiserzeit die christliche Moral in Grie-
chenland einzuführen.
Sobald eine Religion Moralgebote feststellt, büßt sie das
Wesen und den Charakter der Allgemeinheit ein und be-
' Religionen und deren Umwandlung.
qnemt sich einer gewissen Epoche oder einem gewissen Volke
an. Da aber die Zeit fortschreitet, ein Volk sich höher ent-
wickelt oder verkommt und aus dem Fortschritt oder dem Ver-
falle neue Sitten in neuen gesellschaftlichen Verhältnissen
entstehen, so muß auch die Religion einen Wandel erfahren
oder verschwinden. Gewöhnlich wird das Letztere der Fall
sein, weil die Unwandelbarkeit, welche der metaphysischen
Doctrin zu Gruude liegt, auf die gefammten religiösen Ein-
richtungen übertragen wird und jede Kirche den Anspruch
erhebt, in allen ihren Elementen unveränderlich zu sein. Da-
durch hört sie auf, den wechselnden Bedürfnissen der Nation
oder der Zeit augemessen zu sein, sie entspricht denselben nicht
mehr. Dann wird sie zuerst den Männern, hinterher auch
den Frauen gleichgültig und die Tempel stehen leer. Beweise
dafür liegen in Menge vor. —
In Indien wurde, als die Gefellschaft bei den Ariern
sich weiter entwickelt hatte, die Religion mit der Poli-
tik vermischt. DerBrahmanismns accommodirte sich dem
Feudalismus und erwarb Privilegien. Als im Fortgange
der Zeit die Sitten sich änderten, wurde eiue Art von Re-
Volution unvermeidlich. Die Gleichheit der Menschen vor
der Religion und dem Gesetze fand viele Anhänger, und der
Buddhismus lehrte eine Trennung zwischen Kirche und
Staat; in Bezug auf Politik predigte er Jndifferentismns;
seine Moral will, daß man auf die irdischen Güter verzichte;
er verlangt Mitleid und Theilnahme und Brüderlichkeit aller
Menschen, lieber das, was der Buddhismus als eigentliche
Religion war, findet man in seinen alten Büchern wenig
Aufklärung, aber als Reform der gesellschaftlichen Zustände
und als politische Revolution, welche gegen die weltliche Ge-
walt der Brahmanen gerichtet war, steht er wahrhaft groß-
artig da. —
Wir können hier auf Burnonf's Schilderung der alten
arischen Religion in Indien und Persien und auf den Ge-
gensatz dieser beiden arischen Glaubensformen nicht näher
eingehen. Mit Recht hebt er hervor, daß der persische Ma-
gismus gleich dem indischen Brahmanismns mehr ein poli-
tisches System als eine eigentliche Religion gewesen sei. Als
fünf oder sechs Jahrhunderte nach Buddha und Cyrus das
Christenthum auftrat, bewirkte dasselbe im Westen eine
analoge Umwälzung, wie einst der Buddhismus im Osten,
aber unter verschiedenen Bedingungen. Wenn man Dog-
men, Ritus und Symbole des Christenthums mit jenen des
Ostens vergleicht, so erstaunt man über die Einerleiheit bei-
der. Burnons bezweifelt nicht im Mindesten, daß die Theo-
rie von einem Christus, die viel älter ist als Jesus,
weil jener Name in der Bibel schon dem Cyrus gegeben
wnrde, arisch sei, ganz identisch mit Agni in den Bedas.
Dasselbe ist der Fall mit der Bezeichnung Gott Vater,
welche dasselbe ist wie Surya (Sonne) und nachher Brahma.
Der heilige Geist ist dasselbe was der vedische Vayn.
Alles Uebrige der christlichen Metaphysik finden wir gleich-
falls im heiligen Buche der Inder: Gebräuche, Symbole
und fogar den größten Theil der Legenden. Diese gemein-
samen Elemente kommen aber anch im persischen Avesta
vor, hier aber weniger rein als in den indischen Bedas und
schon mit einem neuen Gewände bekleidet. Vernünftiger-
weise kann man also nicht daran zweifeln, daß das Chri-
stenthnm die in den Tagen des Angnstus und Tiberins
aus Asien gekommene arische Religion ist, einerlei, auf
welche Art dasselbe eingeführt, verbreitet und verallgemeinert
worden ist.
Schon die Legende von den drei Magiern, welche zum
Jesuskinde kamen, weist auf Persien hin. Sie bringen dem
Jesuskinde dieselben Geschenke, welche sie daheim ihrem Or-
mudz (Ahura masda), dem höchsten reinen Geiste, dar-
Einwirkung des Racencharakters ans di
brachten. Die Sage vom Kindermord, welchen der idn-
maische Judenkönig Herodes anbefohlen, ist nicht minder be-
deutungsvoll; durch den Mord sollte die Reform in der Wiege
vernichtet werden. Den römischen Kaisern war der Chri-
stianismns anfangs gleichgültig, weil er die Politik unberührt
ließ. Weder in den Evangelien, noch in der Apostelgeschichte
oder in den Episteln wird speciell auf Politik Bezug genom-
inen. Auch findet man, abgesehen vom Evangelium Johan-
nis, das in spätere Zeit fällt, im neuen Testamente nichts
Metaphysisches, außer da und dort eine Andeutung. Aus
deu Ev augelieu kann man kein vollständiges Bild des Ur-
christenthnms zusammensetzen; sie enthalten wesentlich nur
die Moral desselben und entsprechen, so genau wie nur Ber-
schiedenheit der Zeit und des Ortes gestatten, den bnddhi-
stischen Sutras, die aus verschiedenen Zeiten stammen
und einen sehr ungleichen Werth haben. Man darf anneh-
men, daß die ersten Stifter des Christenthums bekannt wa-
ren mit dem Grundwesen der christlichen Metaphysik in der
Art, wie der iudo-persische Osten sie ihnen überliefert hatte
und wie sie auch von Paulus gelehrt worden ist. Diese
Doctrin ist implicite enthalten in den ältesten Formeln des
Rituals, und mehrere dieser Formeln reichen über Jesus und
desseu Vorläufer Johauues hinaus. Man kann Aehnlichcs
von den Symbolen sagen; mehrere derselben kommen in
den römischen Katakomben vor, aus einer Zeit, die gleichfalls
über Jesus hinaufreicht. Diese Formeln und Figuren nun,
welche mit dem alten Aegypten, Griechenland und Judäa
uichts gemein haben, finden wir mit derselben metaphysischen
Bedeutung in den Büchern der Inder und Perser. Dieses
leitet auf die Annahme, daß die ideale Lehre und die Sym-
bolik, unter welcher sie verschleiert war, fertig aus dem Osten
nach dem Westen kam und zwar durch Vermittelnng Sy-
riens, Galiläas und anch des jüngern Aegyptens. —
Bnrnons erörtert, wie verschieden die Stellung des Chri-
stenthnms in den beiden Hälften des römischen Kaiserreiches
war. „Im Abendlande wurde allmälig der Bischof von
Rom Haupt des sogenannten Katholicismus (der Allgemein-
heit). Es muß indessen wohl beachtet werden, daß die Be-
zeichnnng einer katholischen (allgemeinen) Kirche, welche
sich die römische gegeben hat, den Thatsachen gegenüber nicht
gerechtfertigt erscheint; denn sie hat niemals alle christlichen
Kirchen mit sich vereinigt, sodann sie hat ihre Hierarchie
nach jener des Kaiserreichs gemodelt und somit ein fremd-
artiges Element in sich aufgenommen, welches der Allgemein-
heit Eintrag thnt. Dieses Element ist durchaus politi-
scher Natur und hat gar nichts Religiöses an und in sich."
Die nachstehenden Bemerkungen sind gerade in unseren
Tagen, in denen das Papstthum so große Ansprüche er-
hebt, von Interesse. Der Katholik Bnrnons schreibt:
„Jedermann weiß, daß und wie das Papstthum ununter-
brechen mehr und mehr gesunken und immer tiefer herabge-
kommen ist, theils durch den Widerstand der Könige, theils
durch die Einwirkungen des germanischen Geistes,
d. h. die Reformation. Diese doppelte Bewegung ist noch
lange nicht zu Ende. Wir sehen einerseits, wie der Papst
die letzten Fetzen seiner weltlichen Gewalt durch Waffen und
Geld vertheidigt; andererseits setzt der Laieng eist das Werk
der Reformation unablässig fort und wird durch die Resul-
täte der Wissenschaft und durch diese selbst immer mehr ge-
kräftigt. Er will die Macht und Gewalt des römischen Pon-
tisex auf das zurückführen, was sie bei ihrem Ursprünge war.
Manchmal ist Europa eines Kampfes müde, der ihm uner-
sprießlich erscheint und desseu Ende sich nicht absehen läßt.
Aber es muß Geduld habeu. Das Non possurnus zeugt
nicht etwa von Kraft, sondern liefert einen Beweis für die
Ohnmacht. Die lebendige Kraft und Stärke der modernen
e Religionen und deren UmWandelung. 239
Gesellschaft beruht in der Wissenschast und in dem festen
Willen, jedem Diuge seinen rechten Platz zu geben, nament-
lich durch Theiluug der Gewalten. Die Religion hat gar
kein Interesse am Fortbestehen der römischen Hierarchie, denn
der römische Katholicismus ist eine politische Einrichtung,
keineswegs eine religiöse." —
Die alte arische Religion war anfangs einheitlich; sie
theilte sich in verschiedene Zweige: bei Indern, Persern,
Griechen, Lateinern, bei anderen abendländischen Völkern,
wie späterhin in Asien der Buddhismus und dann auch der
Christianismus. Es ist nicht Zufall oder Willkür, was die-
sen Christianismus in mehr und mehr Abtheilungen zerlegt;
er folgt dabei lediglich einem Gesetze, das ans alle Zeiten
und auf alle Völker Anwendung findet. Die alten Hellem-
schen uud lateinischen Religionen zeigen uns eine große Ver-
schiedenheit uud Mannichfaltigkeit, eine Menge kleiner Prie-
stercollegien ohne clericale Einheit, und viele kleine Gemein-
den von Gläubigen. Der Buddhismus, welcher freilich um
ein halbes Jahrtausend älter ist als der Christianismus und
trotzdem einen ganz modernen Charakter aufweist, zeigt uns
in Asien eine eben so große Menge von Kirchen wie das
Christenthum. In Tibet sitzt ein Papst, welcher scheinbar
dem Buddhismus eine kirchliche Einheit giebt, aber die Bnd-
dhisten in Ceylon, Birma, Siam, Annam, China, Japan :c.
sind von dem Dalai' Lama eben so unabhängig, wie die Pro-
testanten in Europa und Amerika vom rönlischen Papste.
Das Gesetz der Trennung und Scheidung ist bei
den arischen Völkern von Anfang an wirksam ge-
wesen und wird es auch fernerhin sein. Nun haben
fast alle Nationen, welche mit einem arifchen Volke in Be-
rühruug kamen, von einem folcheu mehr oder weniger an
Lehren entlehnt nnd ihre heiligen Einrichtungen nach densel-
ben modisicirt. So hat der Buddhismus bei Völkern von
geringerer Racenbegabung die Sitten gemildert, umgestaltet
und civilisirt, und er ist überall tolerant aufgetreten, mehr
als irgend eine andere Religion. Wenn man nun den Bnd-
dhismns in Siam mit den nepalesischen Sutras vergleicht,
die gleichsam für die Evaugelieu jener Religion gelten kön-
nen, so findet man ohne Weiteres, daß der metaphysische
Theil der Lehre fast ganz verschwindet; die Völker ans
der hinterindischen Halbinsel haben an dessen Stelle einen
Wirrwarr von Aberglauben und plumpen Gebräuchen gesetzt
und die Zahl der Klöster und Priester ins Ungeheure ver-
mehrt. Dort hat, wie in Rom, das Priesterthum sich nach
den politischen Einrichtungen umgestaltet. China erhielt
den Buddhismus aus der Fremde her; F o ist die monosylla-
bische Form für Buddha, dessen Lehre im Blumenreiche der
Mitte wesentliche Umgestaltungen erfahren hat. Aehnlichcs
ist in Tibet der Fall gewesen und überhaupt bei allen
Völkern gelber Race.
Aber nicht bloß der praktische Theil dieser Religion hat
einen Abgang erfahren, fondern auch die metaphysische Theorie,
an deren Stelle der Anthropomorphismns, der Glaube an
Geister und allerlei andere Snperstitionen getreten sind. Und
wenn wir nun fragen: worin liegt die Ursache, durch welche
eine der erhabensten Religionen solchen Rückgang erlitten hat,
so müssen wir uns ssgen, daß sie nicht in den eigenthüm-
lichen Einrichtungen der gelben und dunkelfarbigen Menschen
zu suchen ist, sondern in der Racenbegabung derselben.
China hat wohl Moralisten nnd praktische Philosophen, aber
keinen einzigen MetaPhysiker; viele empirische Fertigkeiten
und Gewerbe, aber keine Wissenschaft in höherm Sinne. Im
Jahre 1361 suchten die Europäer iu Peking nach einem
chinesischen Mathematiker, sie fanden aber nicht einen
einzigen, obwohl in jener Hauptstadt sehr viele Leute sich
meisterhast auf das Rechnen verstanden. Die allgemei-
240 Richard Oberländer: Ein
nen abstracten Begriffe und Vorstellungen fehlen
dieser Menschen race, wie ihr denn auch der Theil des
Gehirns mangelt, welcher als das Organ derselben erscheint.
So ist ihr denn auch die metaphysische Theorie, welche das
Wesen der Religion bildet, gleichfalls fremd.
Die dunkelfarbigen, schwarzen Völker stehen an
Racenanlage tief unter den gelben, sowohl im südlichen Asien
wie in Afrika. Wie verwahrlost der Christianismus iu Abys-
sinien ist, wie tief herabgekommen, darüber haben wir auch
schon vor dem Kriegszuge der Engländer eingehende Kunde
gehabt.
Jede einzelne Menschenrace nimmt von einer
Religion gerade so viel an, wie sie begreift und
versteht. Die eine das Metaphysische mit den Symbolen und
dem Ritus, welche sich daraus ableiten; das sind jene, welche
Jesus als die Söhne des Lichtes bezeichnet. Andere haben
den Anthropomorphismus ohue Vernunft, heilige Thiergestal-
teu, priesterliche Allegorien, allerlei Superstitionen und bar-
barischen Cultus. Wir haben auf Erden auch uoch sehr tief-
stehende, völlig untergeordnete Racen, welche ohne Beeinflnf-
snng durch eine höhere Religion geblieben sind; so in Afrika
und in Amerika.
Ein- für allemal steht fest, daß jede Religion,
welche bei einem Volke von niedrigerer Race ein-
geführt wird, durch dasselbe Einbuße erleidet. Sie
übt auf ein solches nur eine unvollkommene, man-
gelhafte Wirkung, weil solch ein Volk von ihr nur
dasjenige annehmen kann und annimmt, wozu es
vermöge feiner besondern Naturanlage befähigt ist.
Lynchgericht in Australien.
Alles Andere liegt außerhalb seines Horizontes
und geht über sein Verstündniß hinaus. (— Das
ist ein Erfahrungssatz, welchen die christlichen Missionäre
übersehen und aus dem sich doch ihre Erfolglosigkeit ganz von
selber erklärt. —) Die Erfahrung lehrt weiter, daß die Ra-
cen sowohl physisch wie moralisch auf einander nur in sehr
oberflächlicher Weise Einwirkungen ausüben, die
außerdem vorübergehend find und welche verschwinden, sobald
die Ursache, der sie ihr Entstehen verdanken, nicht mehr wirk-
sam ist. —
Burnouf erörtert dann die Stellung, welche die Semi-
ten in der Religionsgeschichte einnehmen. Er geht auf den
Racencharakter derselben näher ein und spricht ihnen den Geist
der Initiative ab; sie wüßten nur nachzuahmen. Nicht alle
Inden seien von semitischer Race; Bunsen habe in seinem
Bibelwerke nachgewiesen, daß bei ihnen zwei verschiedene Ra-
cen neben einander ezistirt hätten: Weiße und dnnkler ge-
särbte, und beide könne man noch hente überall nachweisen,
wo Juden vorhanden sind. Die Racenanlage spiele im
Abendlande eine nicht minder wichtige Rolle wie im Mor-
genlande und übe eine große Einwirkung ans den Chri-
stianismus. Das ist auch gewiß richtig, deuu dieser gestaltet
sich anders bei den Romanen wie bei den Germanen oder
Slaven.
Wir brechen hier ab; uns kam es nur darauf au, einige
der wesentlichsten Ansichten des ausgezeichneten Forschers
über die Stellung der Racen zu der Umwandelung in den
verschiedenen Religionsvorstellungen und Cultusformeu wie-
derzugeben.
Ein Lynchgericht in Australien.
Von Richard Oberländer in Dresden.
II.
Seit dem Tage nach unserer Abreise von Dnnolly hatten
wir uuseru Weg am Loddon, einem der Zuflüsse des Murray,
entlaug genommen und waren bei verschiedenen Schaf- und
Rindviehstationen vorübergezogen, auf denen wir unsere Fleisch-
vorräthe ergänzt hatten. Unser Führer machte schon jetzt
glänzende Geschäfte, denn die Meisten pilgerten gleich uns
mit ihren Habseligkeiten ans dem Rücken dahin und konnten
sich natürlich nicht besonders mit dem Transport von Lebens-
Mitteln befassen. Unsere Reise hatte ans diefe Weise schon
vier Tage gewährt.
Am Morgen hatte Parker seine Ochsen angeschirrt und sich
ans den Weg gemacht; wie Schafe ihrem Leithammel, waren
wir ihm blindlings gefolgt und hatten uns, gegen 80 englische
Meilen von Dnnolly entfernt, in eine Gegend verlocken laf-
sen, in welcher weit und breit keine Ansiedelung zu finden war
und welche wohl fetten der Fuß eines Europäers betreten hatte.
Am fünften Tage, einem Sonntage, wurde Rasttag ge-
macht, angeblich um den Ochfeu Ruhe zu gönnen. Als
aber auch am darauf folgenden Morgen keine Anstalt ge-
troffen wurde, dieselben anzuschirren, und man stürmisch in
Parker drang, nun endlich aufzubrechen, um uus nach seinen
Goldfeldern zu bringen, erklärte er uns ganz naiv, er wisse
jetzt nicht, welche Richtung er einschlagen solle und müsse auf
weitere Nachricht von seinem Bruder warten, der ihm wohl
entgegenkommen würde.
Unsere Zahl war inzwischen auf zweitausend gestiegen.
Einen Tag lang ließen wir uns wohl diese Verzögerung ge-
fallen, als aber die Lebensmittel knapper wurden und unser
Freund seiue Preise so erhöhte, wie sie uach seiueu Augabeu
an uuserm Reiseziele gefordert wurden, riß unsere ohnehin
nicht sehr rühmenswerthe Geduld, und um schnell und auf
dem praktischsten Wege ein Resultat zu erlangen, wurde eine
große Volksversammlung auf den Nachmittag angesetzt. Zum
Vorsitzenden derselben wurde ein baumlanger Uankee erwählt,
der in echt parlamentarischer Weise das Ganze leitete. Von
einem abgesägten Baumstamme herab, der als Rednerbühne
diente, wurden große Reden gehalten, und zunächst die Frage
behandelt, was wohl in der gegenwärtigen Calamität am
zweckmäßigsten zu thun sei. Alle stimmten in überraschender
Weise darin überein, daß sie nichts Genaues über die neuen
Goldfelder wüßten. Jack hatte es von Bill und Bill von
Bob, diefer von dem und der von jenem gehört, und endlich
ward man darüber einig, daß die ganze Angelegenheit von
Parker ausgehen müsse.
Hieraus ward dieser um Auskunst befragt; er bedauerte
lebhaft, daß er nicht im Stande sei, den Herren mehr zu
sagen, als sie bereits wüßten. In dem Briese seines Brn-
ders sei der Weg bis zu dem Orte, an welchem wir uns
gegenwärtig befänden, genau vorgeschrieben, von hier aber
verwirrten sich die Angaben. Man werde deshalb wohl
Richard Oberländer: Ein
bis zur voraussichtlichen Ankunft seines Bruders warten
müssen.
Nach längerer Debatte erhielt mein Kamerad Bill das
Wort und sprach in ausführlicher Rede, von vielem Beifall
unterbrochen, die Ansicht ans, daß ein solches Warten wohl zu
lange für uns währen dürfe, da er sich sehr stark zu der An-
sicht hinneige, daß die ganze Geschichte erfunden sei. Er-
schlage deshalb vor, eine Commission auf Kosten der Ver-
sammlung nach Mouut Hope zu schicken, dem Orte, an wel-
chem nach Parker's Angaben sein Bruder sich aufhalten solle,
um gewisse und wahrheitsgetreue Auskunft zu erhalten. Zum
Mitglieds dieser Commission wurde ich vorgeschlagen und mir
noch unser Vorsitzender, der lange Yankee, ein Irländer und
ein Schotte beigegeben.
Der folgende Tag ward zu unserer Abreise bestimmt.
Man versah uns mit guten Pferden und gab uns hinreichende
Lebensmittel mit auf den Weg. Anch erbot sich der Ameri-
kaner, seinen Bnggy mitzunehmen sowie auch eiuige Fässer-
Wasser, und Fleisch und Rum zur Stärkung. Unser Lager-
platz befand sich am Zusammenflusse des Serpentine, eines
kleinen Flüßchens, mit dem Loddon, aus einer weiten mit
üppigem Gras bewachsenen und von zahlreichen Acacien be-
schatteten Ebene. Der Loddon floß von hier, scharf nach
Osten abbiegend, dem Murray zu, während unser Reiseziel
nach Nordwesten hin lag. Ehe wir den 65 Meilen entfern-
ten Murray, in dessen Nähe jene mysteriösen Goldfelder lie-
gen sollten, erreichen konnten, hatten wir eine Wüste zu pas-
streu, auf der weder Vegetation, noch Wasser, sondern einzig
und allein nackter Granitfelsen und stellenweise knietiefer
Sand lag. Es gehörte eine fast übermäßige Anstrengung
dazu, in der drückenden Sonnenglnth, geblendet von den glitzern-
den Felfeu und halb erstickt von dem aufwirbelnden Staube
und leichten Sande den mühseligen Weg zurückzulegen. Kei-
nen Tropfen frischen Wassers gab es, um unsere schmachten-
den Lippen zu benetzen. Statt dessen nur die in den Fäs-
fern mitgenommene, ans dem Loddon geschöpfte Flüssigkeit,
welche durch die Hitze mehr als lauwarm mit dem Rum ein
schlechtes Getränk lieferte! Kein grünes Fleckchen, kein Gras-
Halm, auf dem unsere müden Blicke ruhen konnten, so weit
das Auge reichte, vor- und rückwärts, rechts und links —
nichts als blauer Himmel und gelber Sand. An dem Orte,
an welchem wir unser erstes Nachtlager aufschlugen, kamen
wir im traurigsten Zustande an. Nichts unterschied den-
selben von der uns umgebenden, endlos erscheinenden Wüste,
außer dem Umstände, daß er eine kleine kesselartige Bertie-
sung bildete, die uns etwas Schutz bot. Unsere armen Pferde
mußten gefesselt werden, damit sie nicht fortliefen, und das
wenige Heu und Wasser, was wir ihnen reichen konnten,
war nur eine schlechte Entschädigung für die großen Stra-
pazen, welche sie des Tages über gehabt. Schinken, Dam-
per und Wasser mit Rum hatten unser Frühstück und Mit-
tagsmahl gebildet und dasselbe setzten wir uns auch zum
Abendessen vor. Der lange Yankee, dem solche Expeditionen
in den grünen Wäldern des fernen Westens noch nicht vor-
gekommen waren, machte in lauten Verwünschungen seinem
Herzen Luft. Wir Anderen waren schon länger in der Co-
lonie und zum Theil an solchen Mangel an Scenerie und
überhaupt an diese Art zu reisen gewöhnt, obschon wir es
auch nicht zu den Annehmlichkeiten rechnen konnten und nicht
wenig gelitten hatten. Da wir uns wegen Mangels an
Holz kein Feuer anzünden konnten, so stockte auch bald die
Unterhaltung und, in unsere wollenen Decken gehüllt, ver-
suchten wir, im Schlaf unsere Trübsal zu vergessen. In
der Natur herrschte eine unheimliche Stille; kein Nachtvogel
ließ seinen melancholischen Rns erschallen, selbst das sonst so
unangenehme Heulen der wilden Hunde ward nicht vernom-
Globus XIV. Nr. 8 (Ottober 1368.)
Lynchgericht in Australien. 241
men. Darüber aber strahlte der milde Sternenhimmel im
Vollmondsglanze, und die prächtige Milchstraße mit den Cap-
wölken sowie das südliche Kreuz staunend wieder und immer
wieder zu betrachten war uns nach den Anstrengungen, welche
wir gehabt, eine willkommene Abwechselung.
Mit dem Morgengrauen fütterten wir unsere Pferde ab,
nahmen unsere einförmige Mahlzeit ein und begannen zeitig
den Weitermarsch, um am Abend womöglich die mir bekannte
Schafstation des Herrn Hngh Glaß am Fuße des Mount
Hope zu erreichen. Doch bald bemerkten wir zu nnserm
größten Schrecken, daß uns noch eine harte Prüfung für heute
bevorstand. Blntroth stand die Sonne am Himmel und der
immer schärfer und heißer wehende Wind aus Nordwesten
blies uns dicke Wolken beißenden Sandes entgegen. Den
ganzen Tag lang hatten wir gegen diese schrecklichste aller
Landplagen Australiens, den sogenannten heißen Wind,
zn kämpfen, und nur der glückliche Umstand, daß wir mit
etwas Wasser unsere aufgesprungenen schwarzen, schmerzen-
den Lippen benetzen und unseren Pferden zeitweilig einen
Schluck gebeu konnten, rettete uns von dem gräßlichen Tode
des Verfchmachtens, den alljährlich eine ziemliche Anzahl
Menschen in den Wüsten Australiens finden. Schon woll-
ten wir fast verzweifeln und wären bald den Anstrengungen
des Tages unterlegen, als zu unserer großen Freude gegen
süns Uhr Nachmittags der Wind plötzlich nach Südost um-
sprang und bald ein erquickender Regenschauer uns einiger-
maßen erfrischte. Bald darauf ward auch der mir wohl be-
kannte stumpfe Kegel des Mount Hope sichtbar uud uach
Sonnenuntergang gelangten wir zu einer am Fuße dieses
Hügels in einer lieblichen Oase stehenden einzelnen Schäfer-
Hütte, deren Bewohner uns freundlich bewillkommneten.
Unsere erste Sorge war, uns durch ein kühles Bad zu
erfrischen, um den brennenden Staub von unserer Haut zu
entfernen. Nachdem wir nns überzeugt, daß unsere Thiers
es sich in dem üppigen Grase recht wohl sein ließen und in
der Nähe des Wassers gut aufgehoben waren, sprachen wir
der uns gastfreundlich gebotenen Abendmahlzeit, bei der fri-
sches Hammelfleisch natürlich den Hauptbestandtheil bildete,
tüchtig zn.
Wie erstaunten aber die guten Leute, als wir ihnen den
Zweck unserer Reise mittheilten. Der alte Schäfer, welcher
seit Jahren schon aus dieser Station gewesen, versicherte uns,
daß außer der kleinen, etwa 6 englische Quadratmeilen gro-
ßen Station über 50 Meilen in der Rimdc dieselbe Wüste
sich befände, die wir in den letzten beiden Tagen durchwandert.
Nur im Norden, nach dem 8 Meilen entfernten Murray zu,
sei dies nicht der Fall, dafür sei dieser aber durch den ge-
fürchteten „Scrub" vollkommen unzugänglich. Die nie-
drigen , flachen Ufer des Murray zeigen an einigen Stellen
die eigenthümliche Erscheinung, daß im Bette selbst nur we-
nig Wasser sich vorfindet, das in dem tiefen, sandigen Ufer
sich verläuft. Keiu Mensch, kein Thier kann in diesem ge-
fährlichen Morast vordringen, er müßte rettungslos versin-
ken; dazu ist derselbe mit dichtem Unterholze, dem Malee,
einer Gummiart, dicht bewachsen und mit zahllosen zähen
Schlinggewächsen eng dnrchslochten. Die Eingeborenen haben
vor diesem Scrub eine abergläubische Furcht; sie meinen,
er sei von dem gefürchteten Bnnyip, einem fabelhaften rie-
sigen Ungeheuer aus dem Geschlechte der Seehunde, bewohnt
und sind nicht einmal in die Nähe dieser Gegend zu bringen.
Der alte Schäfer kannte mich von meinem frühern Be-
suche her uoch recht wohl; ich mußte ihm so viel von meinen
damaligen Leuten und ihren Schicksalen erzählen, als ich selbst
wußte, und erlangte von ihm volle Bestätigung dafür, daß
im weiten Umkreise es nicht im Entferntesten möglich sei,
ein Goldfeld aufzufinden. Ich hatte dies nie bestimmt aus-
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242
Richard Oberländer: Ein Lynchgericht in Australien.
zusprechen gewagt, da ich zu jener Zeit bloß eine Nacht auf
der Station gewesen und von beut Goldfelde Beudigo her
nach dem Stadtchen S w an Hill am Murray den Scrub
entlang meinen Weg genommen hatte. Deshalb hatte ich
nicht genau wissen können, wie die Gegend nach der andern
Richtung hin beschaffen sei. Alle weiteren Bemühungen,
das fabelhaste Goldfeld aufzufinden, gaben wir noch diesen
Abend aus; denn in einer solchen Wüstenei ist die Existenz
der Goldgräber geradezu unmöglich; und gesetzt auch, es hat-
teu sich am Rande der Oase Goldlager gefunden, was bei
dem Zutagetreten des Granits undenkbar erschien, so wäre
das Wasser auf diesem kleinen Fleckchen von einer solchen
Menschenmenge in wenigen Tagen vollständig aufgebraucht
worden, und an den Murray zu gelangen war wegen des
Sernbs unmöglich.
Aus diesen gewichtigen Gründen entschlossen wir uns,
am nächsten Morgen den Rückweg anzutreten. Nach langen
Wochen that uns eiue Nachtruhe iu einer bequemen Hütte
aus Baumrinde statt unserer gewöhnlichen Zeltwohnnng dop-
pelt wohl, und so süß wie selten schliefen wir nach den er-
eignißreichen, jüngst vergangenen Tagen ein.
Die aufgehende Sonne des andern Tages fand uns be-
reits auf der Reise, welche ähnlich verlief, wie die vor weni-
gen Tagen. Als wir etwa zehn englische Meilen von dem
Platze entfernt waren, au dem wir unsere Kameraden ver-
lassen, sollten wir einen traurigen Beweis der schrecklichen
Folgen erhalten, welche jener gewissenlose Mensch Parker
heraufbeschworen hatte. Eine Anzahl Raubvögel umschwärmte
drei menschliche Leichen, welche, auf dem Rücken liegend, ihr
starrendes Antlitz gen Himmel gerichtet hatten. Die Armen,
noch Neulinge in der Colonie, hatten, wie wir fpäter erfuh-
reu, uicht glauben wollen, daß die vor ihnen liegende Wüste
für Fußgänger ohne mitgenommene Wafservorrärhe nicht zu
passiren sei, und hatten es tollkühn gewagt, vorzudringen.
Elendiglich mußten die Aermsten in der brennenden Sonnen-
gluth und während des heißen Windes verschmachten. Wir
luden diese Opfer gewissenlosen Eigennutzes auf unsere Wa-
gen und zogen traurig und mißgestimmt unseres Weges
weiter.
Von fern schon erblickten wir die schimmernden Zelte
und das frische Grün der mit Gras bewachsenen Ebene lachte
uns entgegen. Die zurückgebliebenen Kameraden hatten uns
bereits bemerkt. Eine Anzahl derselben kam auf uns zu und
theilte nns mit, daß im Lager die Aufregung aufs Höchste
gestiegen sei. Wegen Mangels an Fleisch und sonstigen
Nahrungsmitteln habe man, da Parker zu überschwengliche
Preise für seine Waaren gefordert habe, seit Tagen bloß von
den in dem Serpentine reichlich vorgefundenen Krebfen ge-
lebt. Da man jetzt allgemein der Meinung fei, daß er uns
feines Vortheils willen hierher gelockt habe, so werde er bis
zu unserer Rückkehr streng bewacht, um danach weitere Maß-
nahmen zu treffen.
Als wir das Lager erreicht hatten, mußte der lange Hankee
von seinem Wagen herab einen Bericht über unsere vernu-
glückte Expedition geben. Nach dessen Beendigung machte
sich die Erbitterung in lauten Verwünschungen gegen den
Urheber unseres Unglückes Luft, und als wir gar feine be-
klagenswerthen Opfer enthüllten, kannte die Wnth keine Gren-
zcn. Nur deu größten Anstrengungen der Bessergesinnten
gelang es, die aufgereizte Masse abzuhalten, sich an Parker
zu vergreifen. Als aber endlich in Vorschlag gebracht wurde,
ein förmliches Lynchgericht über ihn zu halten, beruhigten
sich die Gemüther einigermaßen, und man schritt sofort zur
Ausführung dieses Planes. Durch Acclamation ward ein
Goldgräber, der in England den Posten eines Justizbeamten
bekleidet hatte, zum Richter erwählt. Ein Anderer, der frü-
her ein tüchtiger Rechtsanwalt gewesen, wurde zum öfsent-
lichen Ankläger ernannt. Ein Geschworenengericht von zwölf
Mann wurde nach allen Vorschriften des Gesetzes gebildet
und die Versammlung grnppirte sich im Kreise um den Ge-
richtshos, welcher aus herbeigerollten Baumstämmen Platz
genommen hatte.
Der gefangene Parker wurde vorgeführt uud aufgefordert,
sich einen Vertheidiger zu wählen. Der Aermste war todten-
blaß, zitterte am ganzen Körper und rief fortwährend, daß
er unschuldig sei. Einen Anwalt ernannte er nicht. In
die Mitte des Kreises wurde ein leeres Buttersaß gerollt und
der Angeklagte auf dasselbe gestellt.
Der Richter eröffnete mit kurzer Ansprache die Versamm-
luug und hob hervor, daß er zwar eigentlich gegen die Volks-
jnstiz sei. Unter den obwaltenden Umständen aber und weil
die bestehende Obrigkeit nicht leicht von uns zu erreichen wäre,
seien wir genöthigt, uns selbst Recht und Hülse zu verfchaf-
feu. Er machte auf den tiefen Ernst unseres Vorhabens
aufmerksam und betonte die Verantwortlichkeit, welche auf
uns falle. Frei von Vorurtheilen und Haßisollteu die Ge-
schworenen ihre Pflicht erfüllen, und die Zeugen möchten nur
solche Aussagen machen, welche sie vor Gott und ihrem guten
Gewissen verantworten könnten. Er gab hierauf dem öffeut-
lichen Ankläger das Wort, welcher in beredter Weise den
Hergang der Sache schilderte; zu beweisen versprach, daß
Parker den Brief selbst geschrieben, um uns zu seinem Vor-
theile auszubeuten; die Schrecknisse der vor uns liegenden
Wüste in lebhaften Farben malte, und endlich das Straf-
gericht Gottes und der Menschen auf den gewissenlosen Mann
herabbeschwor, welcher das Unglück aller Anwesenden und
den Tod dreier Menschen verschuldet hatte.
Zu Zeugen wurden zunächst wir Mitglieder der Expe-
ditiou aufgerufen und wir hatten nach auf die Bibel gelei-
stetem Eide einen genauen Bericht über unsere Erlebnisse ab-
zustatten und unsere Ansicht zn motiviren, weshalb wir die
Auffindung eines Goldfeldes als unmöglich bezeichneten.
Gleichfalls vereidete Zeugen bewiesen zur Evidenz, daß Par-
ker deu Brief selbst geschrieben.
Der Angeklagte wurde ausgefordert, sich zu vertheidigeu.
Todtenblaß, mit kaltem Schweiß auf der Stirn stand er, am
ganzen Leibe zitternd, auf dem Füßchen, das lebhaft hin und
wieder wackelte, so daß er öfters das Gleichgewicht verlor.
Er konnte nur die Worte stammeln: „Es ist nicht wahr, ich
bin unschuldig," vermochte aber keine Beweise sür diese Be-
hanptnng beizubringen. Der Richter legte hierauf den Ge-
schworenen noch einmal die Verantwortlichkeit ans Herz,
welche sie auf sich nähmen, uud zeigte ihueu, wie glaubwür-
dige Zeugen die Schuld des Beklagten anscheinend erwiesen
hätten; gab ihnen aber zu bedenken, daß, salls sie den gering-
sten Zweifel daran hätten, dieser sie zu einem Ausspruche zu
Gunsten des Beklagte» bestimmen müsse. Die Geschworenen
zogen sich zurück, und auf die tiefe Stille folgte ein düsteres
Gemurmel. Keiner der Anwesenden verhehlte sich, was der
Ausspruch der Geschworenen und das richterliche Erkenntniß
sein werde. Mir wurde dabei so unheimlich, daß ich gern
die bisher ausgestandenen Trübsale vergessen hätte und mich
weit weg von hier sehnte.
Nach einer Viertelstunde endlich erschienen die Geschwo-
renen wieder innerhalb des Kreises und der Bormann der-
selben erklärte auf Befragen des Richters, daß sie einstim-
mig den Beklagten für schuldig befunden hätten. Hierauf
wurde die Frage an Parker gestellt, was er noch vorznbrin-
gen habe, um das Urtheil des Gerichtshofes von sich abzuwen-
den. Der Unglückliche war indessen so geknickt, daß er kei-
nen Laut mehr vorbringen konnte. Der Vorsitzende schloß
mit einer Herzergreisenden Rede an den Gefangenen, worin
Die Bedeutung
er hervorhob, daß er von 12 Geschworenen nach gewissen-
hafter Erkenntniß für schuldig befunden worden sei und er
ihn deshalb dazu verurtheile, „am Halse ausgehenkt zu wer-
den, bis er tobt, tobt, tobt sei nnd möge der Herr Gnade
mit seiner Seele haben." — Er gewähre ihm eine Stunde,
um sich auf fein Ende vorzubereiten und könne ihm keine
Aussicht auf Begnadigung machen, da auch nicht ein Um-
stand zu Tage gebracht worden, welcher zu feiner Entfchul-
diguug spräche. Die Versammlung forderte er auf, vor der
Hand ruhig aus einander zu gehen itnb zu bebenken, welcher
wichtige Act bevorstehe, nie aber in ihrem Leben zu ver-
gesseu, an welcher feierlichen Hanblnng sie Theil genommen.
Ich hätte Alles barmn gegeben, wenn ich mit guter
Manier aus ber jetzt sehr ernsthaft werbenben Angelegenheit
heraus gewesen wäre, beim, obschon Parker sein bevorstehen-
bes Schicksal reichlich verbiente, konnte ich mich nicht an ben
Gebanken gewöhnen, baß wir bazu berufen seien, bas Recht
in unsere eigenen Hänbe zu nehmen. Mein Kamerab Bill
weckte mich aus meinen Träumereien uub zog mich nach
nnserm Zelte, um etwas zu genießen. Wir hatten kaum
ben Rücken gewenbet, als wir durch ein lautes Geschrei zur
Rückkehr veranlaßt würben. Der ausgeregten Menge hatte
man vor bas Zelt, in welchem Parker's Waarenlager stch
befaub, ein Faß Rum gerollt, ben Deckel eingeschlagen und
Alles drängte sich vor, einen Becher bes so beliebten Geträn-
kes zu erlangen. Balb war bas Faß geleert unb ein zwei-
tes, mit Genever gefüllt, theilte basselbe Loos. Dann würbe
bas Waarenlager gestürmt, bie Zeltdecke zurückgeschlagen und
Jeder verhalf sich zu solchen Gegenständen, welche er in der
Eile erlangen konnte. Hier trug Eiuer eiuen Sack Reis
fort, dort hatte ein Anderer einen Sack Zucker aufgenom-
nteit, ein Dritter ein Kistchen Thee; Mehl, Butter, Schin-
ken, Taback waren beliebte Artikel. Dazu gab es auch höchst
komische Scenen. Auf einem umgefallenen Baumstamme
der Erdkunde. 243
faß ein untersetzter rothköpfiger Jrländer, welcher zwei Schuhe
erobert hatte und zu seinem größten Schrecken fand, daß sie
beide an den linken Fuß gehörten; ein Anderer hatte einige
Flaschen Ricinnsöl gestohlen, schmierte sich damit die Schuhe
ein uub benutzte es als Poinabe. Wohin man blickte, lagen
zerbrochene Flaschen, entleerte Waarensäcke, zerbrochene Kisten,
Stroh!c.
Wem von ben guten, langentbehrten Dingen aus Par-
ker's Waarenlager etwas zu Theil geworben, ber war beflif-
feit, sich einen guten Tag bafür zu machen; bie Feuer wur-
ben angeschürt nnb bie Bratpfannen angefetzt. Schinken,
Extraportionen Thee mit viel Zucker sowie vergnügte Ge-
sichter unb Massen von Grog gab es überall. Keiner bachte
für ben Augenblick au ben Delinquenten.
Als man aber boch für uöthig hielt, ben feierlichen Ur-
theilssprnch bes Gerichtshofes auszuführen, ba — war ber
Vogel ausgeflogen. Ein schlauer Lanbsmann bes Berurtheil-
teu hatte bie Plüuberuug in Scme gesetzt unb, wohlberech-
itenb, babnrch seinem Freunbe in ber allgemeinen Verwir-
rang nnb Aufregung zur Flucht auf einem bereitgehaltenen
Pferbe verHolsen. Ein allgemeiner Schrei ber Wnth nnb
ber Entrüstung erscholl , als man bas Opfer über die weite
Ebene bahinjagen sah. Wir Bessergesinnten aber waren
sroh, baß wir aus ber sehr heikeligen Angelegenheit ans so
gute Art herausgekommen waren. —
Ja, was war nun weiter zu thuu? Es blieb uns nichts
Anberes übrig, als unter Hunger uub Durst ben Rückweg
nach unseren verlassenen Quartieren wieber anzutreten. Ich
verschwor aber auf eine Zeit lang bas Golbgraben nnb ver-
miethete mich unterwegs auf einer Station als: „Hüter
ber weißwolligen Schafe!"
So enbete unsere Geniereise nach Monnt Hope nnb so
ward unsere Lynchjustiz vereitelt.
Die
Die Geographie in ihrer heutigen Auffassung ist zu eiuer
Weltwissenschaft" geworden; sie ist wahrhaftig als eine
F u u d a m e n t a l w i fs e n s ch a st zu betrachten. Wunderlich und
feltfam genug, daß dieselbe, trotz der großeu Theilnahme,
welche sie in ben gebilbeten Kreisen findet, auf fo vielen
Schulen nur nebenbei berücksichtigt wirb. Schlimmer noch,
baß minbestens brei Biertheile unserer bentschen Universitäten
keinen Lehrstuhl für Länder- und Völkerkunde ha-
ben! Als ob es wichtiger wäre, Krystalle zu kennen und
sich auf Infinitesimalrechnung zu verstehen, als auf der Erde
Bescheid zu wissen, dem Schauplatz, aus welchem die Men-
scheu sich bewegen.
Ueber die Bedeutung unserer Fundamentalwissenschaft,
von welcher die Euratorieu vieler Hochschulen im Allgemei-
nen wenig begrissen zu haben scheinen, hat jüngst Adolf«
Bastian vortreffliche Worte gesprochen. Die Gesellschaft
für Erdkunde in Berlin feierte ihr vierzigjähriges
Stiftungsfest; der berühmte Reisende, welcher seit einigen
Semestern an der Berliner Universität Vorträge über Eth-
nologic hält, ist gegenwärtig Präsident jener Gesellschaft.
Es war feines Amtes, die Festrede zu halteu, nnd er hat
seine Aufgabe meisterhaft gelost. Zunächst betonte er, wel-
chen Stand unsere Wissenschaft in der Gegenwart erreicht
habe; er hob namentlich die Verdienste Karl Ritter's her-
der Erdkunde.
vor, dann begann er eine Umfchan über die geographischen
Veränderungen in den letzten fünf Jahren, und wies klar
nnd umfassend nach, in welcher Weise die Wissenschaft in
bieser kurzen Spanne Zeit neue Gebiete erobert hat unb wie
uuablässig thätig bie Forschung gewesen ist.
Wir wollen Einiges aus bem letzten Theile bieser vor-
trefflichen Festrebe hervorheben, zunächst eine Stelle über
Ostasien, weil sie zeigt, baß es gleichsam in ber Lust liegt,
baß bie neue Stellung, welche biese wichtige Region nuu
einnimmt, begriffen werbe. Äbolf Bastian faßt, wie wir zu
unserer Frenbe fehen, biese Stellung genau so auf, wie sie
von uns in bem Anffatze: „Die Veränderung in ber gegen-
feitigen Stellung ber Menschen" („Globus" XIV, S.17ff.)
geschilbert worbeu ist, unb wir Beide sinb ganz unabhängig
von einanber zu benselben Ansichten gelangt. Dr. Bastian
schreibt:
„Im fernen Ostasien ist eine neue Welt imBil-
bnngsprocesse begriffen, eine Welt im Entstehen,
bie früher ober später ben bisherigen Schwerpunkt
verrücken, ber Achsenrichtung ber Geschichte eine
anbere Neigung ihrer Lage geben muß. Aus Mischung
ethnologischer Elemente verschiedener Spannungsfähigkeit
krystallisiren nach festen Gesetzen die Culturepochen hervor;
im friedlichen oder feindlichen Verkehr verschiedenartiger
SN
244 Die Bedeutung
und vorher getrennter Völker pflegt eine neue Aera vorbe-
reitet zu werden, und alle diejenigen Vorbedingungen, welche
jemals bei solcher Geburt thätig waren, finden sich vereinigt
unter den heutigen Coujuuctureu ostasiatischer Politik. Dort
sehen wir an einem Ufer der pacififchen See die uralten
Reiche China und Japan, die schneebegreisteu Häupter einer
diluvialen Cultur; dort auf dem andern dringt in nervöser
Hast das jüngste Kind unserer westlichen Civilisation uach
der californischen Küste vor, geschäftig, Städte und Staaten
zu erbauen und durch elektrische Schläge der Telegraphen,
durch das Gebrause der Eisenbahnzüge und Dampfschiffe
seine altersgrauen Nachbaren aus der geistigen Stagnation
zu erwecken, in der sie so manche Jahrtausende verträumt
haben*c." Bastian schildert dann eine für die chinesischen
Zustände kennzeichnende Episode aus der jüngsten Zeit.
„Das stolze Mittelreich, das in den Jahrhunderten oder
Jahrtausenden seines Bestehens nur Gesandtschaften demüthi-
ger Tributträger empfangen, entschließt sich seinerseits eine
Gesandtschaft abgehen zu lassen an die Barbaren des Westens
auf der fernabgelegenen Insel Europas, an dieselben Bar-
baren, denen noch in den letzten Decennien selbst die Gleich-
stelluug im diplomatischen Verkehr verweigert wurde, bis sie
es sich durch Waffengewalt erzwangen. Als Bevollmächtig-
ter des Drachenthrons wird ein anderer Barbar ernannt,
der aus dem Osten gekommen, ein Amerikaner, Mr. Bur-
lingame mit Namen. Dieser Sohn der freien Union, der
als hochbeknöpfter Mandarin die Sache des Himmelssohnes
an den Höfen Europas zu führen haben wird, reist, von der
Leibwache kaiserlicher Majestät escortirt, aus dem dreifach
ummauerten Peking ab, findet sich aber schon am nächsten
Tage in den Händen der Rebellen, die ihn mit seinen Mand-
schu-Soldateu ceruireu und sich weder um seinen Charakter
als chinesischer Gesandter, noch an seinen frühern als ameri-
kanischer kehren. Herr Burlingame schickt Brandbriefe uach
allen Seiten, nach Peking, nach Tientsin, nach Taku, und
am zweiten Tage hört man von der einen Seite das
Hurrah der englischen Matrosen, die in Tientsin
aus den Kriegsschiffen gelandet zu feiner Be-
freiuug herbeieilen, von der andern sprengt einPi-
quet Kosacken heran, die ihm die russische Mission
aus ihrem Gesandtschaftshotel in Peking zu Hülfe
sendet. Wir haben also einen Amerikaner, als Bevollmäch-
tigten des chinesischen Kaisers, in dessen eigenem Lande von
seinen Unterthanen angegriffen und für feine Befreiung ein
Fraternisiren zwischen englischen Matrosen und russischen
Kosacken, die innerhalb des noch 1859 für jeden Ausländer
verschlossenen Chinas autokratisch walten und schalten. Das
ist in derThat eine Confusio rerum itttd es verlangt einen
wohlgeprüften Geschichtschemiker, um hier die richtige Aua-
lyse anzustellen und dasjenige Krystallsystem zu errathen,
unter welchem die erwartete Wiedergeburt des Ostens in die
Erscheinung treten wird. Bedeutungsvoll ist die Errichtung
einer Akademie in Peking, zu der europäische Gelehrte beru-
fen wurden, nnd in Japan hat die Regierung fchon feit län-
gerer Zeit mediciuische Schulen unter die Leitung holländi-
scher Aerzte gestellt."
Den heutigen Stand der Wissenschaft schildert Bastian
in folgender Weife:
„Die Geographie in ihrer heutigen Auffassung ist eine
junge Wissenschaft, aber schon der jugendliche Körper zeigt
gigantische Dimensionen und mit rapider Schnelligkeit
beginnen die Glieder zur Vollheit auszuwachsen. Schon
greift fie in alle Lebensverhältnisse ein, sie leitet
die Schiffe des Kaufmanns auf ihren Fahrten, sie
regelt unsere Beziehungen zu außereuropäischen
Staaten, sie zeigt in fremden Welttheilen die Lage
der Erdkunde.
der Bergwerke, werthvolle Fabrikationsstoffe, die
in der Erde verborgen liegen, sie giebt denWissen-
schaften ihrefichere und weite Grundlage, sieschafft
die vergleichende Botanik, die vergleichende Zoolo-
gie, die Anthropologie. Sie auch lehrt, wie das
Menschenleben emporblüht aus dem mütterlichen
Schooße unserer Erde, wie es sich zn bunter Man-
nichfaltigkeit der Volksstämme entfaltet, wie es zu
den wunderbaren Schöpfungen der Nationalitäten
hervorwächst, in deren Widerstreit, in deren Zusammen-
wirken die Schauspiele der Geschichte spiegeln, aus deren
unerschöpflich quellender Jdeenfülle die Gedankenblitze neuer
Entdeckungen hervorleuchten.
Nicht nur das Räumliche umfaßt die Geographie, sie
schreitet in der Archäologie, in paläontologischer An-
thropologie auf frühere Epochen zurück, sie combiuirt aus
den Thatfachen der Geologie die Vergangenheit im Zeit-
lichen, sie ahnt aus den Gesetzen des Vergangenen das Zu-
künftige des Werdens. Seit den folgenreichen Entdeckungen
in den dänischen Torfmooren haben sich neue Wissens-
zweige entwickelt, die werthvolle Früchte versprechen, und
sie in den kritischen Untersuchungen der Stein-, Eisen- und
Bronzezeit zum Theil auch schon geliefert haben. Seit den
ans Abbeville, Salisbnry und Le Puy, aus den Pfahlbauten,
aus der Engis- und Neanderhöhle zu Tage geförderten Bei-
trägen ist der Horizont dieser Forschungen sehr erweitert wor-
den, vielleicht allzu weit, und es hat sich ein eigenthümliches
Conglomerat, ein facettenartig zerbrochenes Wissensstückwerk
herausgebildet, durch ephemere Verschmelzung der Anthro-
pologie, der Paläontologie, der Geologie, durch gelegentliche
Entlehnung selbst von der Kosmogonie, wenn Gletschertheo-
rieu zur Erklärung der Eiszeit nicht genügen wollten, —
und allmälig ist, halb im Fanum der Wissenschaft, halb außer-
halb desselben stehend, eine buntscheckige Alliance zusammen-
getreten, die, noch nach neuen Verbrüderungen lüstern, bald
mit Hülfe der Aegyptologen im Nildelta angetroffene Thon-
siguren und Kupfermesser zu verwertheu sucht, bald sich den
Jndianologen associrt, um gemeinsam das Ohiothal und die
Mississippischichtungen zu durchgraben, die sich dann wieder
in die Maschen der Descendenztheorie verliert, in denen die
Variationen manche Fäden gesetzlicher Umwandlungen ange-
knüpft, aber noch keine leitend verbunden haben.
So entscheidend nun auch das Zusammenwirken getrenn-
ter Wissenszweige ist, um in lösungsreifen Fragen das letzte
Wort zu sprechen, so bedenklich bleibt es andererseits, wenn
ein ans Gegenseitigkeit gegründeter Geschäftsbetrieb sich fchon
zu einer Zeit bildet, wo man nur noch mit imaginären Grö-
ßen rechnet, ohne fchon feste Ziffern für die Werths gefunden
zu haben, die sie in Wirklichkeit repräfentiren. Die in der
letzten Zeit durch die Studien über die Urgeschichte des
Menschen zusammengetragenenThatsachenverpflichten jeden
Freund der Wissenschaften zu aufrichtigem Dank gegen die
emsigen Forscher, die sich darum bemühten, aber wer es ernst
und ehrlich mit der guteu Sache meint, kann den Wunsch
nicht unterdrücken, daß noch für längere Zeit hinaus das
Priucip strenger Arbeitstheilung festgehalten werden und das
, Publicum mit vorschnellen Verallgemeinerungen verschont
bleiben möge, die die Phantasie auf Abwege leiten und für
die exacte Forschung nicht nur Nichts gewinnen, sondern so-
gar Vieles verderben dürften.
Eine feste Basis für den Aufbau der Anthropologie ist
mit der Begründung des anthropologischen Archiv es
gelegt unter der umsichtigen Leitung der Professoren Ecker
und Lindenschmit. Außer von den Herausgebern hat es
schon eine Reihe in den Einzelnheiten sorgsam dnrchgearbei-
teter Abhandlungen gebracht von Lucä, Karl Vogt, Rü-
Theophilus Hahn: Ein Racenkampf
timeyer und anderen Forschern, deren Namen die Trefflich-
keit ihrer Beiträge verbürgt, so daß es mit der Zeit ein ge-
sülltes Rüsthans bilden wird, aus der die Statistik die ihr
bedürftigen Materialien wird entnehmen können.
Seit dem Vorangange der Philologie hat sich der Kreis
der comparativen Wissenschaften gebildet, die verglei-
chende Pflanzenlehre und Thierkunde, die vergleichende Ana-
tomie, die Ethnologie, als Vorarbeit für eine vergleichende
Geschichte. Sie bilden die Grundpfeiler für die neue Rich-
tung, welche die Entwickelnng der Naturgeschichte genommen
hat, denn es bedarf der Vergleichuugen, des Zusammenfassens
in einem statistischen Vleberblicke, um die Welt nach ihren
Verhältnissen zn verstehen, um aus dem Einzelnen das Ganze
zu begreifen; und die Erkenntniß, daß alle vergleichende
Wissenschaften geographische sind, hat uns der große Meister
als Vermächtniß in seinen Schriften hinterlassen. Für diese
Umgestaltung der Wissenschaften in vergleichende
erwies sich bald der geographische Cyclus des alteu Orbis
terrarum, in dem sich die Studien bis dahin vorzugsweise
bewegt hatten, als ein viel zu enger; die Gesammtober-
fläche des Globus war als Basis zu gewinnen, damit den
fortan gestellten Anforderungen entsprochen werden könnte.
So trat die Geographie in ihrem heutigen Charakter auf,
als eiue wahre Erdkunde, als die Kunde von der
ganzen Erde, uud in ähnlicher Weise wird sich anch die
Weltgeschichte aus ihrer Beschränkung auf die westlichen
nordwestlichen Theile der Cap- Region. 245
(Kulturvölker, die zwar die wichtigsten, nicht jedoch die ein-
zigen sind, zn einem allumfassenden Ueberblick erweitern
müssen.
Die Richtung unserer Zeitströmung zeigt sich in der
raschen Vermehrung der geographischen Gesellschaften.
Bisher zählte man 17, in den letzten fünf Jahren sind 6
neue hinzugekommen, so daß die Zahl sich jetzt auf 23 be-
läuft. 1863 bildete sich die geographische Gesellschaft in
Dresden, besonders auf Antrieb Karl Andree's^), 1867
kam die in Florenz hinzu, die unter Negri's Leitung große
Thätigkeit entwickelt, in demselben Jahre die zu Turin, die
zn Wilna und Kiel, und 1868 die zn Orenburg. In Ruß-
laud, das für sich allein ein geographisches Weltsystem bildet,
gruppireu sich jetzt vier geographische Gesellschaften, die zn
Tiflis, Jrkntsk, Wilna nnd Orenburg, nebst der eth-
nologischen zu Moskau um die Centralsouue in Peters-
b u r g.
Die Geographie ist mit der Umwandlung der Erde zn
Ende, aber sie schließt mit der Erde nicht ab, ihre Gesetze
sind verknüpft mit denen des Himmels."
*) Der „Antrieb" ging nicht speciell von mir aus; viel mehr
von den Herren Oberst von Abendroth, Dr. Sophus Nu>ge,
Dr. Häntzsche, dem bei Gitschin gebliebenen Woldemar Schultz
und einigen anderen Herren. Aber ich habe die Ehre gehabt, vom
ersten Tage an ein sehr thätiges Mitglied dieses blühenden Vereins
zu sein nnd seine Wiege überwacht zu haben. A.
Ein Racenkampf im nordwestlichen Theile der Cap-Region.
Ein Bild aus dem Völkerleben Südwest-Afrikas von Theophilus Hahn.
II.
Die rheinische Missionsgesellschast respeetive ihre Missio-
näre haben große Hoffnung für die Mission gehabt in jenem
Lande und dachten, daß nach Jonker's Tode eine günstige
Wendung der Verhältnisse eintreten würde. Aber die kurz-
sichtigen Herren werden trotz aller Erfahrung nicht klug; der
Grund hiervon liegt in ihrer Einseitigkeit und Verbohrtheit
und der eigenen unklaren Anschauung der Verhältnisse.
Dem Jouker Afrikaner folgte in der Häuptlingschaft sein
Sohn Christian Afrikaner, ein Mensch, dem die Herrscher-
gäbe und Energie des Vaters fehlte. Die unterworfenen
Herero in seinem Dienste glaubten daher einen Versuch zum
Abfall immerhin wagen zu dürfen, und ihr Vorhaben wurde
besonders durch zwei Umstände begünstigt. ^
Seit Jahren vorher reiste der berühmte Reisende I. C.
Anderson, der uns durch seine Reisen zum Ngamisee und
dem Okavangostrome bekannt ist, in jenen Gegenden umher
und trieb einen ergiebigen Tauschhandel. Nicht lauge vor-
dem hatte er ein Handelsetablissement aus Otyimbingns
eröffnet, in den Gebäulichkeiten, welche er von einer engli-
schert Bergwerkscompagnie, die bankerott geworden war, dnrch
Kauf an sich gebracht hatte. Dieser Anderson machte nun
im Herbste eine Handelsreise zu Christian Afrikaners Kraal
und spannte eines Tages ans einem Außenkraale zum Jon-
ker'scheu Stamme gehörig aus. Unter anderen Handels-
artikeln führte er auch Branntwein. Das Haupt der
Werst — so nennt man auch wohl einen Kraal , ein
gewisser Hartebeest, bekam auch Branntwein, doch nicht so
viel, als er wollte. Darüber gerieth er mit Anderson in
Streit; der Letztere hatte nämlich ein Füßchen Branntwein
für den Oberhäuptling Christian bei sich, und dieses wollte
der Hotteutot mit Gewalt haben. Zornig, daß Anderson
ihm nicht willfahrte, schlug er diesen mit einem Pferdezaum
ins Gesicht, daß Blut floß. Sobald der Tauschhändler das Blut
laufen spürt, springt er im Jähzorn in den Wagen, holt sein
Gewehr und schießt den Mann in den Unterleib, daß er zn-
sammenstürzt. Die Reue folgte der That auf dem Fuße
nnd nun versuchte Anderson, den Mann durch allerlei Me-
dicamente zn retten. Doch vergebens, er starb nach wenigen
Stunden, und Anderson jagte dann mit noch zwei Begleitern,
Engländern, nach Christian Jonker's Kraal, wo er seine
That erzählte und sich zur Disposition stellte. Sofort berief
der Häuptling eine Rathsversammlung und nach zwei Tagen
wurde der Schwede losgesprochen. Auch wurde ihm aus-
drücklich erlaubt, uach wie vor unter den Afrikanern seinen
Handel zu betreiben. Als Grnnd seiner Freisprechung wurde
angegeben: Hartebeest hätte diese Strafe schon längst
verdient, und da der Häuptling seine Pflicht nicht
gethan, fo habe Anderson sie unglücklicherweise,
wie vom Schicksal dazu bestimmt, erfüllen
müssen.
Wir sehen, die Hottentoten hatten nicht umsonst Missio-
näre unter sich gehabt. Sie verstanden sich auszudrücken.
Anderson war also freigesprochen! Natürlich wog das Fäß-
chen Feuerwasser ziemlich schwer, und Nemesis hatte diesmal
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Theophilus Hahn: Ein Racenkampf im nordwestlichen Theile der Cap-Region.
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nicht mit verbundenen Augen das Urtheil gesprochen. Doch
Anderson kannte die Sitten und den Brauch der Nama zu gut,
um nicht die Blutrache uud ihre Bedeutung zu würdigen.
Vor dieser schützte ihn keine richterliche Freisprechung. Daher
reiste er direct uach Otyimbingue und suchte von jetzt an
eine Stütze in den Herero. Er verschaffte ihnen
Feuergewehre und übte sie zu Scharfschützen ein.
Er hatte gelehrige Schüler. Dann wurden im Stillen
mit den Joukerschen Herero, dem früher erwähnten Garde
du corps, Unterhandlungen angeknüpft, um sie zur Ab-
schütteluug des Joches zu veranlassen. Diese Ver-
Handlungen mußten über kurz oder lang doch zur Oefseut-
lichkeit gelangen, und die Orlams hätten dann bald auch den
Anstifter gewittert. Dies mußte Anderson sich gestehen, er
mußte auch einsehen, daß die Schießübungen der Herero den
Hottentoten ein Dorn im Auge waren. Wenn er also trotz-
dem seine Agitationen weitertrieb, sich durch allzu hochfah-
rendes Benehmen, wie wir weiter fehen werden, in neue
Unannehmlichkeiten verwickelte, so muß man einräumen, daß
wir in allen folgenden Ereignissen offenbare Absichten An-
derson's — und anderer Leute, die sich für die He-
rero intereffirteu — zu sehen haben.
-Im Jahre 1862 reiste Anderson von Otyimbingne
über Land nach der Capstadt, um dort sein Horn- und Klein-
viel), welches er eingehandelt hatte, zu verkaufen. Aber nn-
terwegs brach unter dem Vieh die Lungenfenche aus. Er
mußte das Gebiet des Häuptlings David Christian
Passiren zwischen Angra Pequena und dem jAubfluß. Der
Häuptling schickte ihm Boten entgegen mit der Bemerkung,
nicht weiter zn ziehen, bis er (der Häuptling) gekommen sei
uud den Gesundheitszustand des Viehs untersucht hätte. Ge-
wiß doch ein durchaus gerechtfertigtes Verlangen! Allein
der Schwede gab eine sehr herausfordernde Antwort. Da
rückte David Christian ssNai^ab mit einem wohlbewaffne-
ten Commando von ungefähr 150 Mann ihm entgegen.
Als sich der Europäer und der Hottentot begegneten, kam es
zu einem harten Wortwechsel, wobei Anderson im Jähzorn
die tollkühnen und überdreisten Worte äußerte: Ou David,
zou ik van dag die magt hebben, die gy hebt, dan
zou gy een ding zien. (Alter David, hätte ich heute die
Macht, die Du hast, dann solltest Du was erleben.) Der
Häuptling verwehrte standhaft Anderson das Weiterziehen,
wogegen dieser — es klingt wirklich lächerlich — mit Schie-
ßen drohte, er, der kaum zehn Begleiter hatte, gegenüber der
zwölffachen Uebermacht. Der Häuptling forderte ihn auf,
immerhin zu schießen, versicherte ihm aber, daß er (Anderson)
nicht zum zweiten Male schießen würde. So lagen sie sich
denn mehrere Tage gegenüber, bis endlich ein östlicher, am
Geitsi — !Gnbibberge, alias Groote Broekkaroß,
wohnender Stamm des Häuptlings Goliath oder ^Ho-
wich ab, die jKaua vermittelte. Anderson durfte froh seiu,
daß er endlich nach derSeefeite hinüber |Aus ziehen durfte.
Aber kaum war er aus dem Bereiche David Christiau's, auch
jjNaichab genannt, in die Nähe des !Garib, so sandte er
Boten an den Häuptling mit der Drohung, er werde vom
Cap Kanonen, Gewehre, Pulver, Blei und Kulis mitbringen
und allen Hottentoten, Orlams und Namas ein
Garaus machen! Natürlich sorgte David Christian für
die Verbreitung dieser Drohung unter alle übrigen Stämme
und warnte sie; denn dort ist Alles verschwägert und ver-
onkelt, und die Verwandtschaftsverhaltnisse sind von wesent-
lichem Einfluß auf die Politik.
Hier iu Europa war zur selben Zeit der Missionär der
Herero, Herr Hugo Hahn; jetzt wird er ziemlich von sei-
nen Sympathien für diese wilden Menschen zurückgekommen
sein; damals habe ich mit eigenen Ohren gehört, wie er in
seinen sonst anziehenden Missionsstunden den Herero ganz
besonders das Wort geredet hat; wie er bei der Nachricht
von ihrer Erhebung dieselbe eine national-moralische
nannte und behauptete: es sei sonst unerhört in der Völ-
kergeschichte Afrikas, daß ein schwarzes Volk, ein-
mal völlig unterjocht, sich wieder erhoben und frei-
gemacht hätte. Wir bedauern, Herrn Hugo Hahn hier
anf seine eigenen Worte (vergl. Berichte der Rheinischen
Missionsgesellschaft. Februarheft 1862, S. 40) verweisen zu
müssen: „Der bedeutend größte Theil der von Jonker an-
gegriffenen Herero nahm zu den Ovambo feine Zuflucht.
Die nördlichen Herero, die im Kaoko wohnen, sind von
Europäern noch nie besucht. Namaqua, auch Jouker's Leute
sind manchmal dahin gezogen, um zu rauben, aber haben
wenig Beute gemacht und oftmals schwere Verluste erlit-
teu." — Demnach waren die Herero ja doch nicht völlig
unterworfen!? Wie paßt dies „völlig" zu dem obigen
„völlig"? Der Verfasser des Rheinischen Missionstrac-
tates Nr. 1: „Ein Missionärsleben in Südafrika", Barmen
1866, behauptet Seite 75: Die Herero verdanken ihre
Erholung jedenfalls dem Einfluß der Mission, die
das Volk, am meisten die Führer, mit sittlicher
Kraft ausrüstete. Scheint der Herr Verfasser denn ganz
vergessen zu haben, wie man, durch die Unempfänglich-
keit der Herero für das Christenthum entmuthigt,
oft schon auf dem Punkte stand, „das Sein oder Nichtsein"
der dortigen Mission in Frage zu stellen? Er sindet dar-
über in den rheinischen Missionsberichten Belehrung und Auf-
schluß! — Doch zur Sache; wir wollten nur entschiedenen
Protest gegen obige Behauptungen einlegen und würden uns
freuen, sie einmal schlagend bewiesen zu sehen! —
Missionär Hnge Hahn nun nahm eine sehr beden-
tende Anzahl Gewehre — sie sollen in Suhl gemacht
worden sein — nach Afrika mit zurück und gab fie den
Herero. Es war schön und edel von Hugo Hahn, für die
Freiheit eines zertretenen Volkes aufzukommen, nur fragt es
sich, was sagt die böse Welt dazu, wenn ein Missionär
Mordwaffen einführt, wodurch, wie es doch auf der Hand
lag, ein unseliger Krieg auf Tod und Leben hervorgerufen
wurde?
Anderson nun brachte bei seiner Rückkehr in das Herero-
land wohl keine Kulis mit, aber zwei Kauoueu, Pulver und
Blei und außerdem eine Menge Flinten. In den drei ersten
Monaten des Jahres 1862 trafen die Herero, welche mei-
stentheils Hirten bei den Afrikanern waren, in aller Stille
Vorbereituugeu zum Abfall. Mau nahm das Vieh der
Herren bei der Flucht mit nach Otyimbingue uud ließ den
Afrikanern sagen, sie möchten das Vieh sich nur holen, aber
sie (die Herero) hätten keine Lnst mehr, jenen zn dienen.
Die Jonker'schen kamen nun mit Waffen in der Hand, um
den Herero die Freiheitsgelüste zu vertreiben. Ihnen hatte
sich ein Theil der Gei—|jfciit unter dem Oberhäuptling
Cornelius jjOasib angeschlossen. Das Kriegsglück war
aber auf Seiten der Herero. Mit Christian Afrikaner bc-
deckten viele Hauptleute der Jonker'fchen das Schlachtfeld.
Die Uebrigeu unter sjOasib's Anführung suchten in wilder
Flucht ihre Kraale.
Die Gei 11kau und Afrikaner schnaubten Mord und
Rache. Zunächst wählten diese sich erst in der Person des
Jan Afrikaner, Bruder des Gefallenen, einen Häuptling.
jjOasib dagegen schickte uuterdeß an alle Namahänptlinge
Boten uud ließ sie zu eiuem allgemeiuen Heereszug gegen
die Herero auffordern; aber nur zwei Haupter kamen, näm-
lich INauib mit seinen HHabobiga, auch „Feldschuh-
träger" genannt, und !Aimab, Anführer der ||O-geis,
zu deutsch „Großer Tod". Diese Macht war aber zu
"'W N
Theophilus Hahn: Ein Racenkampf i:
gering, und so unterließ man vorläufig deu Rachezug. Die
Herero dagegen warteten nicht aus ihren Feind, sondern such-
teu unter Anführung eines Engländers Friedrich Green,
in einer Heeresstärke von 1500 Mann, die Afrikaner in
ihrem Lager zu Ai gams auf. Bevor jedoch Green von
Otyimbingus abmarschirte, kam der Unterhäuptling einer
südlichen Missionsstation Beerseba (ijiOu-tsawises), ein
gewisser Jakobus Isaak, zu ihm, und ersuchte ihn, er
möge als Fremder, Engländer, seine Hände aus den
Angelegenheiten der Eingeborenen lassen. Aber
Green wies stolz und höhnend diese Bitte zurück und mar-
schirte gegen Ai gams, wo er am 12. März 1864 ein-
traf. Es enthielten sich 200 bis 300 Leute des Kampfes,
weil der Engländer ihren Anführer wegen Insubordination
hatte standrechtlich erschießen lassen. Was versteht eine
wilde Horde von Subordination und Standrecht? Daß diese
Haudlung Greeu's ein großer Fehlgriff war, geht ans dem
folgenden Gemetzel hervor, welches die Herero an den Wehr-
losen ausführten. Die Streitkraft der Afrikaner betrug 200
Mann. Diese wichen vor der Uebermacht und ließen Weib
und Kind im Stich. Der Wandalismus dieser „schwarzen
Bande" ist unbeschreiblich, und wie sehr „die moralische
Kraft des Christenthums" sich an diesen „Stockheiden"
bewiesen hatte, mögen ihre Greuel- und Schaudthateu bewei-
sen: denn in der ekelerregendsten Weise schwelgten sie im
Blute der schwachen Weiber und Kinder, und verbrannten
in ihrer tollwüthigen Siegestrunkenheit sechszehn neue Wa-
gen und sechs bereits gebrauchte. Jonker's Frau war unter
den Gemordeten. Mit dem Hausrath und Vieh der Hotten-
toten zogen sie dann ab, stolz auf ihre edlen Thaten.
Wie den Afrikanern das Blut kochte, kann sich Jeder
denken, und daß Green sich nicht in Schußweite ihrer Ge-
wehre wagen durfte, leuchtet ein. Sie schwuren, an den
Schwarzen und deren weißen Anführern, Anderson
und Green, blntige Rache zu nehmen.
Da ließ !Huisib, mit seinem holländischen Namen auch
Willeiu Zwartbooi genannt, Häuptling der Rehobother,
echter Nama, sich manchmal vernehmen, er wolle den Herero
gegen die Afrikaner Helsen, denn, meinte er, jene hätten
eine gerechte Sache gegen diese. Das klingt aus einem
getauften Heidenmunde wirklich herrlich! — Allein der Stock-
heide steckte dahinter mit der ganzen Bosheit und Rachsucht.
Es stellte sich nämlich bald heraus, daß noch eine alte
Blutrache zwischen ihm und den Jonker'schen schwebte, und
er glaubte die Gelegenheit günstig, durch eiu Bündniß mit
den Herero seine Rache zu befriedigen. Die Blutrache spielt
überhaupt in diesem Kriege eine bedeutende Rolle, und man
staunt, wie dieselbe noch nach vierzig Iahren geübt wird.
Am 7. April nun zogen einige rheinische Missionäre von
Otyimbingn<z uach Rehoboth. Mit dieser Gelegenheit schickte
Anderson mehrere hundert Stück Horn- und Kleinvieh nn-
ter Green's Aufsicht mit. Die Sache wurde den Afrika-
nern verrathen. Die Karawane wurde überfallen, dieWäch-
ter wurden getödtet, das Biel) wurde fortgeführt, ^ie Mis-
sionäre waren glücklicherweise etwas vorausgezogen und eut-
kamen so dieser Katastrophe; Green war zurückgeblieben und
entkam auch. Bei dieser Gelegenheit wurde auch Vieh vom
Stamme des Häuptlings IHnisib sortgetrieben, und nun
hatte dieser ja einen Grund zu einem Bündniß mit Ander-
son resp. den Herero gegen die Afrikaner.
! Hnisib's Stamm (die Rehobother) ist aber ein Zweig
des großen Gei-ganstammes unter ||£)afif>; als nun
diese vou dem neuen Bündniß hörten, machten ihre Hänpt-
linge jjOasib, !Nanib, !Aimab und derOrlamhänpt-
ling Jan Jonker sich auf und belagerten die Missions-
station Rehoboth am 10. Mai mit 600 Mann. Es
nordwestlichen Theile der Cap-Region. 247
kam zu keinem Gefechte, fondern durch einen bis jetzt noch
unerklärlichen Umstand — die Missionäre sprechen von dem
„Schrecken Gottes", der unter sie gefahren; meiner Ansicht
nach spukte der Aberglaube unter ihnen — bewogen, zogen
die Feinde plötzlich in der Nacht vom 10. auf deu 11. Mai
ab. Aber die Rehobother ließen sich dadurch nicht warnen,
sondern ihre Gereiztheit und Rachgier steigerte sich um so
mehr. Am 23. Juni 1864 standen ungefähr 3000 Herero
und 80 Rehobother unter Anderson's und Green's Anfüh-
rung 300 Afrikanern gegenüber. Aber trotzdem vertheidig-
ten sie sich wie die Löwen gegen eine mehr als zehnfach über-
legene Macht. Dem Schweden Anderson wurde gleich
zu Anfang des Gefechtes ein Bein zerschossen; er mußte aus
dem Kampfe getragen werden. Green umging den Berg,
den die Jonker'schen verschanzt hatten, und siel ihnen in den
Rücken. Das gab den Ausschlag und die Afrikaner mußten
weichen. Sie entkamen auch großentheils; denn die Herero,
die ja offenbar doch Zweck und Ziel dieses Krieges
nicht begriffen haben, stürzten in ihrer Raub- und Hab-
gier sich gleich auf das Vieh, anstatt durch eine totale Ver-
nichtnng des Feindes dem Kriege eine entscheidende Wendung
zu geben. Dieses Vieh war aber großentheils jenes früher
Anderson'sche, welches, wie oben gesagt, die Jonker'schen weg-
genommen hatten. Es entstand nun ein Streit zwischen den
Anführern Anderson nnd Green einerseits und den Herero,
die das Vieh nicht herausgeben wollten, andererseits. Green
nahm ihnen das Vieh für Anderson ohne Weiteres weg. Dies
ließen sich die Schwarzen scheinbar ruhig gefallen, stahlen
aber später ein Stück nach dem andern. Wahrlich, saubere
Leute! Wo ist da auch nur ein Funken von Dankbarkeit
und ein Zeichen der von Missionären so oft in die Welt
posannten „national-moralischen Erhebung und mo-
ralischen Einflusses der Mission?" Anderson, der
seine eigene Haut zu Markte getragen für fremde Interessen,
mochte wohl jetzt zu spät einsehen, wie unklug er gehandelt
hatte.
Mit diesen! Zuge schließt denn auch die abenteuerliche
Laufbahu der beiden Helden Anderson und Green. Und was
hatten sie erlangt? — Anderson hatte ein zerschossenes Bein
uud davon sein Lebenlang fortan dieQualeu zu tragen. Als
Dank für seiu „Befreiungswerk" bestahlen ihn die Herero,
und so war und wurde er ein armer Mann. Green hatte
zwar nicht so viel Schaden gelitten und hat noch später hin
nnd wieder die Hand im Spiele gehabt. Er zog sich aber
einen nnsühnbaren Haß von Seiten der Nama zu. Denn
auch diesmal waren gerade unter seiner Anführung, wenn
anch gegen seinen Willen, Weiber und Kinder der Namaqua
gräßlich abgeschlachtet worden. Außerdem hatten ! Hnisib's
Leute 25 Weiber und Kinder mitgenommen und sie einen
Monat lang gefangen gehalten. Dieser Häuptling sah aber,
daß er sich zu sehr deu Angriffen seiner Feinde aussetze, wenn
er in Rehoboth bliebe, zog es daher vor, in die Nähe von
Otyimbiugus zu ziehen, wo sie unter dem Schutze der Herero
lebteu. Am 25. Juli brach man auf und entließ die gefan-
genen Weiber und Kinder der Afrikaner, die man nicht wei-
ter füttern mochte, aber auch nicht tobten wollte. Diese lie-
fen ans Leibeskräften in die heimathlichen Kraale und ver-
riethen den Abzug der Rehobother. Da schickte Jan Afrikaner
fporustreichs einen Courier an ÜNanib und lud ihn eiligst
zu eineni Ueberfall der Feinde ein. !Nauib rieb sich die
Hände, hatte er doch längst einen Augenblick ersehnt, eine
Blutrache aus deu Zeiten feines Großvaters zum
Austrag zu bringen. Am 18. August 1864 holten Jan
Jonker und !Nanib die Rehobother ein. Der Kampf be-
gann und da sich eine ungleiche Macht gegenüberstand, wurde
mit gleicher Erbitterung gefochten. Als bis Mittag die Schlacht
248 Georg von der Gabelentz: Köm
unentschieden war, gab !Nauib den teuflischen Rath:
„Kommt, laßt uns der Rehobother Weiber und Kinder —
die sich in einem engen Flußthale voll trocknen Grases be-
fanden — verbrennen, wie ihre Vorfahren es den meinigen
gemacht haben, als sie unsere Weiber und Kinder mit Gras
verbrannten." Also die Talio (Wiedervergeltung) in ihrer
vollendetsten Form!
Gesagt, gethan! Man steckte das hohe Gras in Brand
und ein furchtbarer Wind wälzte förmliche Feuerwogen über
die Rehobother, von denen ungefähr 30 Personen verbrann-
ten. Die Männer fluchteten nach Otyimbingns und der
Feind machte große Beute au Wagen, Vieh und Hausgeräth.
Bei seinen Rehobothern war auch der brave und biedere alte
Missionär Kleinschmidt, ein Missionär von Kopf bis zur
Zehe, was Hingabe und Aufopferung für seine Mission an-
belangte. Er sloh mit den Seinen bei der Ankunft der Feinde
auf die nächstgelegenen Berge. Sie irrten von 5 Uhr Mor-
gens bis Nachmittags 1 Uhr bergauf nud ab in sengender
Sonnenglnth und mußten dabei meistens über die heiße Erde
gebückt und kriechend schleichen, weil die feindlichen Kugeln
Midas in mongolischem Gewände.
pfeifend über sie Hinsausten. Als das Feuer losbrach, floh
er mit den Seinen, von fechs Herero geführt, nach Otyim-
biugus. Wußte mau auf der einen Seite eines Berges
kaum, wie man die heißen Felsen erklimmen sollte, so war
man auf der andern Seite rathlos, wie hinabrutschen, ohne
durch einen Sturz in die Tiefe zu zerschmettern. Dabei
machten sich Hunger und Durst in der empfindlichsten Weise
geltend. Man begegnete zum Glück einer Schafherde. Es
wurden einige Schafe mitgenommen, ein Lagerplatz bezogen
und das Fleisch, in dünne Streifen geschnitten, zwischen zwei
erhitzten Steinen gebraten. „Ohne irgend welches Gewürz
hat es dennoch vortrefflich geschmeckt." Doch bald mußte
man wieder aufbrechen. Der Mond beleuchtete den dornigen
Pfad. Die wunden Füße voller Blasen, ohne Schuhe, mußte
sich Alt und Jung auf dem Felsenwege fortschleppen, drei
Tage und vier Nächte, bis man endlich am 31. August bei
Tagesanbruch, zum Tode matt, in Otyimbingns anlangte.
Der Missionär ist dann kurz nachher über dem Elend und
traurigen Schicksal seiner Gemeinde am 2. September am
gebrochenen Herzen gestorben!
König Midas in nti
Von Georg voi
„Früh vor Zeiten lebte in Schwarz-China an Indiens
Ostseite ein König Namens Daibang, der einen Sohn
hatte. Dieser Sohn zeigte sich, seit er zur Regierung ge-
langt war, den Leuten auch nicht ein einziges Mal. Täg-
lich ließ er ans dem Volke einen schönen Jüngling holen,
und nachdem er sich von ihm seine Haare hatte kämmen las-
sen , pflegte er ihn zu tödten. Nachdem er dies Jahre lang
so getrieben, kam eines Tages die Reihe an den einzigen
Sohn einer alten Frau. Diese, bekümmert bei dem Gedau-
ken an den ihr bevorstehenden Verlust, zog dem Sohne ein
neues Gewand an, knetete Mehl mit der Milch ihrer Brust
zu einem Teige und machte Brotkügelcheu daraus, welche sie
ihm in den Busen steckte. „Wenn Du den König kämmst,"
sprach sie, „so iß fortwährend davon, das kann Dich retten."
Der Jüngling begab sich zum Könige, und als er ihm
mit goldenem Kamm die Haare kämmte, da zeigte es sich,
daß die Ohren des Königs Eselsohren gleich waren. Das
war der Grund, warum der König die Jünglinge tödten
ließ: er besorgte nämlich, sie möchten weiter erzählen, was
sie an ihm wahrgenommen hatten. Während des Kämmens
aß aber der Jüngling fortwährend Brotkügelchen. Dies be-
merkte der König und fragte: „Was issest denn Du da?" —
„Reisbrötchen sind es," sagte der Jüngling. „Gieb mir
auch davon," bat ihn der König. Das that der Jüngling,
und der König sprach, nachdem er ein Brötchen verzehrt
hatte: „Geruch und Geschmack sind sehr angenehm, was ist
das für eine Mischuug?" — „Meine Mutter hat es mit
Milch ihrer eigenen Brust geknetet und mir mitgegeben."
Da dachte der Köuig: „Ihn zu tobten geht nicht an; wo
in aller Welt wäre das möglich? wir haben Einer Mutter-
Milch getrunken, und es wäre unnatürlich, das eigene Ge-
schlecht zu tödten." Zu dem Jünglinge aber sprach er: „Ich
will Dich nicht tödten, aber daß ich Eselsohren habe, darfst
Dn keinem andern Menschen sagen." — „Niemandem,
o König," sprach der Jüngling, „werde ich es sagen." —
»Nun, auch Deiner Mutter sage es nicht; wenn Du es Je-
,gotischem Gewände.
der Gabelentz.
mandem verräthst, so werde ich Dich tödten." Damit ent-
ließ er ihn.
Kein Mensch hatte davon erfahren. Der Jüngling kehrte
nach Hanse zurück. Die Jünglinge aber, die nach ihm den
König kämmten, ließ dieser, wie früher, umbringen, und so
priesen alle Leute voll Verwunderung den Sohn der Alten
glücklich; Jedermann fragte ihn: „Wie ist das doch znge-
gangen?" Allein weder seiner Mutter noch den Anderen
sagte er anch nur das Geringste.
Während er es nun durchaus Niemandem verrieth, daß
die Ohren des Königs größer waren als die anderer Lente,
fiel der Jüngling, weil er in seinem Innern stets daran
dachte, in eine heftige, schwere Krankheit; weder Arzneimittel,
noch Opfergaben, noch die fonstigen Vorkehrungen, welche
man traf, halfen etwas. Schon war er dem Tode nahe, da
rief man einen Arzt herbei, dieser befühlte den Puls und
sprach: „Deine Krankheit ist lediglich ein Gemüthsleideu,
dagegen Hilst Arznei nichts; die einzige Rettung ist, daß Du
über die Lippen bringst und Anderen mittheilst, was Dich
beschäftigt." Nun drangen alle Anwesenden in ihn: „Hast
Du ein Geheimniß auf dem Herzen, fo sprich es jetzt ans;
wenn Du stirbst, wem willst Du es dauu offenbaren?" Allein
der Jüngling betheuerte, kein Geheimniß zu haben und blieb
verschwiegen wie zuvor. Erst später gestand er seiner Mut-
ter, die in ihn drang: „Ich hätte allerdings ein Geheimniß,
das darf ich aber nicht verrathen, sonst bestraft mich der Kö-
rtxg." — „Wenn das der Fall ist," versetzte die Mutter,
„so gehe iu eine Einöde und sprich es in eineSpalte
der Erde oder in die Ritze eines Felsens oder eines
Baumes, dauu wirst Du genesen." Der Sohn ging
hin und traf auf die Höhle eines Eichhörnchens*); in diese
*) Eichhörnchen ist ganz gewiß nicht richtig. Das Eichhörn-
chen wohnt nicht in Erdhöhlen, wohl aber das in der Mongolei so
häufige Mnrmelthier; es kommt in so ungemeiner Menge vor,
daß man ein Gebirge nach demselben benannt hat, das Tarba-
gatai-, d. h. Murmelthiergebirge. A.
Aus Olli
rief er hinein: „Unser König hat Eselsohren!" wieder-
holte diesen Nuf viele Male und wurde nun gesund. Allein
das xut Loche befindliche Eichhörnchen hatte seine Worte ge-
hört, verbreitete sie weiter, und so drangen sie, vom Winde
fortgepflanzt, bis zn den Ohren des Königs. Der ließ den
Jüngling, denn nur dieser konnte der Verräther sein, vor
sich führen und redete ihn an: „Ich hatte Dir befohlen, ver-
schwiegen zu sein; ist denn Dein Verhängniß genaht, daß
Du das Geheimniß verrathen hast?" — „Niemandem,"
betheuerte der Jüngling, „Niemandem zu Hanse habe ich
auch nur das Geringste gesagt." — „Jemandem mußt Du
es gesagt haben," entgegnete der König, „denn jene Worte
von Dir wurden mir zugetragen; wie hätte ich sie hören
können, wenn Du sie nicht gesprochen hättest?"
Nun erzählte der Jüngling unverhohlen, wie es ihm er-
gangen; „ich habe es nur in die Höhle des Eichhörnchens
hineingerufen," fügte er hinzu, „sonst habe ich es Nieman-
dem mitgetheilt. Der Wind muß diese unglückseligen Worte
verrathen haben, wer hätte sie sonst verbreiten köuueu?"
Darauf fprach der König: „Sei dem wie immer, ich habe
die Worte in der That vom Winde zugetragen erhalten;"
und zu ihm sich wendend fuhr er fort: „Nun, weißt Du viel-
leicht für diefe meine Eselsohren irgend ein Täuschungsmit-
tel?" Der Jüngling antwortete: „Wenn Du, großmächti-
ger König, ans meinen Vorschlag eingehen willst, so stände
mir wohl ein Mittel zu Gebote." — „Nenne mir nur Dein
Mittel," versetzte der König, „ich will es hören." Und der
Jüngling begann: „Großmächtiger König, lasse für Dein
Haupt eine Mütze verfertigen, und zwar lasse eine die Ohren
an beiden Seiten des Hauptes verhüllende Klappenmütze ver-
fertigen und fetze sie auf. Allen Anderen, die in Deine Nähe
kommen, wird es dann geziemend erscheinen, auch ihrerseits
in derselben Weise angethan vor Dich zu treten." DerKö-
nig billigte diesen Vorschlag. Alle betrachteten die Mütze
voll Bewunderung und spendeten ihr ihren Beifall, und allent-
halben fand sie Anklang. Indem nun Niemand wußte, daß
die Ohren des Königs Eselsohren glichen, kam die Mütze
in die Mode; unter dem Namen Klappenmütze ward sie überall
bekannt, und von nun an trugen die Würdenträger in der
Umgebung Daibang-Chan's solche Mützen. Der Jüngling
wurde zum Verwaltungsminister ernannt, und fortan hatte das
Tödten der Leute ein Ende; das ganze Volk aber erholte sich
außerordentlich und nahm zu an Wohlstand und Gedeihen."
*
* *
Das Obige ist ein mongolisches Märchen, das ich einer
kürzlich erschienenen Uebersetznng des Siddhi-Kür*) nach-
erzählt habe. Gewiß, es bedurfte der von mir gewählten
Ueberfchrift nicht, — die Aehnlichkeit der mongolischen Er-
Zählung mit der griechischen Sage vom Könige Midas fällt
von selbst ins Auge; was der Asiat hinzugefügt hat, ist
Beiwerk, der Keru ist derselbe.
*) Mongolische Märchen von Professor Dr. Bernhard Jülg.
Innsbruck 1868.
Aus allen
Die österreichische Expedition nach Ostasien.
Sie ist am 17. October von Trieft aus in See gegangen.
Die beiden Schiffe „Donau" und „Friedrich" besuchen der
Globus XIV. Nr. 8. (October 1868.)
Erdtheilen. 249
Woher aber diese Uebereinstimmnng? Ist es wahrschein-
lich, daß zwei Nationen, unabhängig von einander, dieselbe
Fabel erfunden haben, und noch dazu solch eine Fabel?
Oder hat sie ein Volk von dein andern entlehnt, und wel-
ches? Wir wissen, daß die Mongolen ihre Literatur zum
großen Theile aus indischen Quellen geschöpft haben: ihr
Midas wird also wohl auch auf iudifchem Boden gewach-
fen sein. Aber die Griechen? Ihnen freilich ist Midas
ein König der Phrygier, sie verlegen seine Heimath nach Osten,
vielleicht um ein Stück näher als sie sollten. Es mag ihnen
ergangen sein, wie uns mit den sogenannten arabischen Ziffern
und mit dem fogenannten persischen Schachspiele; diese beiden
sind ja auch ursprünglich Erzeugnisse des indischen Geistes. —
Es sind drei Zweige der indischen Literatur, über welche
die Wissenschaft noch vor wenigen Jahrzehnten die Achsel
zuckte, weil sie die rohesten sind, und die sie heute mit beson-
derer Vorliebe pflegt, weil sie die urwüchsigsten sind: Das
Sprüchwort, die Volkslyrik und das Märchen. In
dem einen spiegelt sich die Lebensphilosophie eines Volkes,
in der andern sein Gemüthsleben, in dem dritten äußert sich
seine Phantasie. Entlehnungen sind auch hier häusig: hat
doch das ungalante Wort von den langen Haaren und dem
kurzen Verstände des schönen Geschlechtes beinahe die Runde
um deu Erdball gemacht; uud nichts ist natürlicher als daß
das Märchen sich überall schnell einbürgert, wo es ein hör-
lustiges Publicum findet. Herr Emil Schlag int weit hat
im neunten Bande dieser Zeitschrift interessante Mittheiluu-
geu über die Vikramaditya-Sage und über deren Verbreitung
im buddhistischen Asieu gemacht und dabei gezeigt, wie ver-
schieden derselbe Stoff von den einzelnen Völkern
verarbeitet worden ist; auch der Mongolen gedachte er
hierbei, und sein Wunsch, es möchte uns deren Märchen-
schätz zugänglicher gemacht werden, ist, Dank der Gelehrsam-
keit, der Ausdauer uud dem Geschmacke des Herrn Profes-
sors Jülg in Innsbruck über Erwarten in Erfüllung ge-
gangen. Herr Jülg hat das große Verdienst, zugleich den
Sprachforschern von Fach und dem größern gebildeten Pn-
blicnm gerecht zu werden; während seine kritischen, mit Ueber-
setzung und gelehrten Anmerkungen versehenen Teztansgaben
die Zahl der uns zugänglichen oft- und westmongolischen
Originalwerke vermehren, sindet der, welcher sich eben für die
Märchen als solche interessirt, in den kleineren deutschen Aus-
gabeu und den darin enthaltenen eingehenden Sacherklärnn-
gen das, was er sucht, im reichsten Maße und in anziehender
Form *).
*) Hier ein Verzeichniß der bisherigen Veröffentlichungen:
1) Die Märchen des Siddhi Kür. Kalmückischer Text mit
Uebersetzung u. s. w. Leipzig 1866.
2) Kalmückische Märchen (dasselbe, bloß deutsch). Leipzig
1866.
3) Mongolische Märchen. Erzählung ans der Sammlung
Ardschi-Bordschi, ein Seitenstück zum Gottesgericht in Tristan und
Isolde. Innsbruck 1867.
4) Mongolische Märchensammlung. Die neun Märchen
von Siddhi Kür u. s. w. (Tert mit Uebersetzung u. s. w.). Inns-
brück 1868.
Erdtheilen.
Reihe nach Gibraltar, Tanger, Kapstadt und Port Elizabeth in
Südafrika und dann Singapore, wo sie in der Mitte des Fe-
bruars einzutreffen gedenken. Nachher besuchen sie Bangkok in
Slam, Hongkong, Schanghai, Tientsin (von wo die Bevollmäch-
32
250 Aus all
tigten sich an den kaiserlichen Hof nach Peking begeben), Hoko-
hama, $ebbo, Osaka, Nangasaki in Japan. Weiter geht die
Fahrt nach San Francisco, nach einigen Häfen Centralamerikas,
nach Callao und Valparaiso; dann um das Cap Horn nach Monte-
Video und Buenos-Ayres. Die Geschenke für die Herrscher von
Siam und Japan und die Muster österreichischer Jnduftrieer-
Zeugnisse sind in 158 Kisten verpackt und haben ein Gewicht von
20,795 Pfund. Dr. Karl v. Scherzer, welchem die Leitung
der commerciellen Angelegenheiten übertragen worden ist, wird
diese Muster in den chinesischen und japanischen Häfen ausstellen
und sie dann den verschiedenen Handelskammern zu einer per-
manenten GeWerbeausstellung überlassen. — Die Schrauben-
fregatte „Donau" wird befehligt von Capitän v. Wipplin-
ger, die Schraubencorvette „Friedrich" von Capitän Pitner;
Commandeur und bevollmächtigter Minister ist Baron v. Petz,
welcher sich in der Seeschlacht von Lissa als Befehlshaber des
Schiffes „Kaiser" rühmlich hervorgethan hat. Außer dem Per-
fonale, welches der Gesandtschast beigegeben ist, befinden sich bei
der Expedition acht commercielle Berichterstatter, welche specielle
Forschungen über die Handelsverhältnisse der östlichen Absatz-
markte anzustellen haben, dann auch ein Zeichner und ein Pho-
tograph. Oesterreich wird in China uud Japan Consulate er-
richten.
Wir wünschen dieser Expedition Glück und die besten Er-
folge. Da Industrie und Handel i>n österreichischen Kaiserftaate
ganz Vorzugsweife durch die deutschen Bewohner desselben ver-
treten find, fo verstand es sich von selber, daß die Leitung deut-
schcn Männern anvertraut wurde. Daß insbesondere der an
Erfahrungen reiche Herr V. Scherz er die volle Bedeutung der
Aufgabe begreift, geht aus den vortrefflich abgefaßten „Jnstruc-
tionen für die fachmännischen Begleiter der k. k. Mission nach
Oftasien und Südamerika" (Wien 1868) hervor; sie sind ganz
musterhaft entworfen, und wir haben Respect vor einer so klaren
Arbeit. In der Generalversammlung der Landwirthschaftsgesell-
fchaft zu Wien am 27. Mai 1868 hielt Scherzer einen Bor-
trag, in welchem er Bedeutung und Zweck der Expedition aus-
einanderfetzte; der letztere, sagte er, sei zugleich ein commercieller
und diplomatischer. Auch mit Peru, Chile und Argentinien sollen
Handels- und Schifffahrtsverträge abgeschlossen werden.
Ob, wie Herr v. Scherzer meint, nach Eröffnung des Suez-
canals der Welthandel in ganz neue Bahnen gelenkt werde,
das wird die Folgezeit lehren; richtig ist aber, was er über
die Großartigkeit des ostafiatischen Handels bemerkte:
„Nach einem durch die chinesischen Zollbehörden veröffentlichten
Ausweife betrug der Werth des im Jahre 1866 unter fremden
Flaggen geführten Handels nicht weniger als 916,000,000 Gul-
den. Der Werth der aus China nach fremden Ländern und
küstenweise exportirten Landesproducte wurde auf circa 310 Mil-
lionen Gulden, jener des Baarschatzes auf 130 Millionen Gulden
geschätzt. In Schanghai, dem wichtigsten Hafen Chinas für den
fremden Handel, erreichte die Ein- und Ausfuhr einen Ge-
sammtwerth von 640 Mill. Gulden, darunter 520 Miß. an Pro-
ducten in Waaren und 120 Mill. Gulden an Baarschatz. Die
Hauptausfuhrartikel Chinas sind bekanntlich Seide und Thee.
Von Rohseide wurden im Jahre 1866 4,328,200 Pfund, von
schwarzem und grünem Thee zusammen 157,750,000 Pfund ex-
portirt. Der Schiffsverkehr beschäftigte im Jahre 1866 zusam-
men 15,672 Schiffe unter fremder Flagge mit 6,877,632 Ton-
nen; davon waren 8276 Schiffe englischer, 3602 Schiffe nord-
amerikanischer und 2248 Schiffe mit 620,300 Tonnen
norddeutscher Nationalität; während sich die Franzosen
an dem Gesammtverkehr nur mit 234 Schiffen von 108,918 Ton-
nen betheiligten. — Der Austausch von Waaren und Produk-
ten mit Japan und seinen 35 Millionen Einwohnern erreicht
dermalen erst einen Werth von etwa 50 bis 60 Mill. Gulden,
aber es verdient Beachtung, daß es zum großen Theil
deutsche Handlungshüuser sind, welche denselben ver-
Mitteln. Auch der Handel mit Siam und seiner 7 Millionen
Seelen zählenden Bevölkerung beträgt gegenwärtig erst einen
Werth von 16 bis 20 Mill. Gulden jährlich; derselbe ist aber,
i Erdtl) eilen.
ebenso wie der Handel Japans, in stetiger Zunahme begriffen,
und zählt gleichfalls die dort ansässigen Deutschen zu
seinen hervorragendsten Vertretern. — Mit der Erfor-
schung neuer Absatzwege für die einheimische Industrie, mit Auf-
zeichnungen über Bedürfnisse, Geschmack und Mode der besuchten
Völker und die Eigentümlichkeiten des ostasiatischen Marktes,
mit der Anlegung von Mustersammlungen scheint uns jedoch die
Ausgabe der die Expedition begleitenden commerciellen Fach-
Männer keineswegs erschöpft zu sein; ihre Bestrebungen müssen
sich auf das ganze volkswirtschaftliche Gebiet ausdehnen, überall
sich bemühend, durch Gewinnung neuer Erfahrungen und That-
fachen dein vaterländischen Unternehmungsgeiste ein möglichst
reiches Material mit heimzubringen."
Fray Bentos in Uruguay und die Fabrikation von
Lievig's Fleischextract.
Lielng's Fleischextract macht die Reise um die Welt; das
Product selber wird in seinem Werth immer mehr anerkannt.
Während die Versuche, das Fleisch der Millionen überschüssiger
Ochsen und Schafe aus Südamerika, Australien und vom Vor-
gebirge der Guten Hoffnung in einer solchen Weise nach Europa
zu schaffen, daß es markt- und preiswürdig erscheint', noch nicht
gelungen sind, hat jener Fleischextract großen Erfolg und ent-
spricht allen Anforderungen. Er ist ein Erzeugniß deutschen Er-
findungsgeiftes und deutscher Industrie. Diese wird in groß-
artigem Maßstäbe betrieben, wie wir aus dem zu Buenos-Ayres
erscheinenden „The Standard and River Plate News" (vom 2.
und 3. September) und aus der „Deutschen Zeitung am Rio
de la Plata" (Nummer voni 12. September) ersehen. Die
nachfolgenden Mittheilungen werden für unsere Leser von In-
teresse sein.
Bis vor Kurzem waren und sind größtenteils noch jetzt
die Schlachthäuser der Laplatastaaten nur dazu bestimmt, Häute
und Fett der Thiere zu Markte zu liefern. Längst schon hatte
dabei das als nutzlos weggeworfene Fleisch die Aufmerksamkeit
erregt. Nur hatte man immer die Idee verfolgt, dasselbe in
möglichst unveränderter Gestalt in den Handel zu bringen, was
trotz einiger scheinbaren Resultate sich stets wieder als unprak-
tisch erwies. Da kam unser Landsmann Herr Giebert aus
Hamburg, damals in Brasilien ansässig, während einer Befich-
tigung der hiesigen Schlachthäuser im Jahre 1861 auf die glück-
liche Idee, die von Professor Liebig in München 1847 ent-
deckte Methode, „die ausgezogenen nährenden Bestand-
theile des Fleisches in condensirter Form zu confer-
Viren", hier in größerm Maßstabe ins Werk zu setzen. Ueber
die Eigenschaften des Liebig'schen Fleischextractes können wir,
als heute allgemein bekannt, kurz hinweggehen. Derselbe besitzt
kaum 1/30 des Gewichtes des zu seiner Herstellung verbrauchten
Fleisches, ist gänzlich srei von Fett, enthält sogar noch alle jene
nährenden Bestandteile, die fönst durch Einsalzen und.Räuchern
verloren gehen, wird weder ranzig noch schimmelig, conservirt
sich unverändert in jeglicher Temperatur und Atmosphäre, selbst
in der heißfeuchteften, und ist so kräftig, daß ein einziges Pfund
davon unter bloßer Zuthat von etwas Salz hinreichend ist, für
130 Mann eine kräftige und schmackhafte Bouillon zu bereiten,
die namentlich für Truppenverpflegungen und Feldlazarethe ein
unschätzbar wohlthätiger Proviant ist, weshalb auch die baierische
Regierung den Extract seit Jahren in ihrer Hofapotheke in
München und anderwärts zubereiten läßt.
Sobald Herr Giebert diese Idee einmal erfaßt hatte, reiste
er im Jahre 1862 nach München, studirte daselbst in der Hof-
apotheke sowie bei Professor Liebig selbst das Verfahren zur
Herstellung des Extractes gründlich, ließ sodann in Berlin und
Westphalen unter seiner Angabe und Leitung die geeigneten
Maschinen anfertigen, wußte Theilnehmer für fein Unternehmen
zu gewinnen, wonach sich in Antwerpen eine Gesellschaft un-
ter der Firma „Giebert und Comp." mit einem Capital von
1,200,000 Frcs. bildete, und kehrte sodann nach hier zurück, um
sein Project zur That werden zu lassen.
Aus allen
Nach mancherlei Umschau hielt er endlich Fray Bentos
— damals ein Ort von zwei elenden Ranchos am linken Ufer
des Uruguay, jetzt nach fünf Jahren ein Städtchen von 2000
Einwohnern nebst etwa 1000 Fabrikarbeitern :c. — für den
geeigneten Platz zur Anlage des beabsichtigten Etablissements.
Er pachtete ein kleines Stück Land, führte die nöthigen Gebäu-
lichkeiten zu einem Saladero auf, stellte die mittlerweile von
Europa angekommenen Maschinen auf und sah sich endlich, nach
geduldiger Ueberwindung der vielen Schwierigkeiten, in einem
so dünn bevölkerten Lande hinreichende und zuverlässige Arbei-
ter zu gewinnen, im August 1864 im Stande, mit der Fabri-
kation zu beginnen, zuerst nur mit je 10 Stück Vieh per Tag.
Im November 1864 ging die erste Sendung seines Productes
nach Antwerpen, und da Professor Liebig auf die ihm zugesen-
deten Proben erklärte, „daß dieselben alle seine gehegten Erwar-
tungen weitaus überträfen", so wendete sich sofort die allseitige
Aufmerksamkeit dem neuen, der Menschheit so wohlthätigen Fa-
brikat zu. Außer den schmeichelhaftesten Anerkennungen seitens
der verschiedenen Jndustrieausstellungs-Commifsionen durch goldene
Preismedaillen:c. mehrten sich die Bestellungen so rasch, daß
Herr Giebert bereits im Jahre 1865, die Unzulänglichkeit seiner
seitherigen Einrichtungen erkennend, eine abermalige Reise nach
Europa unternahm, um eine neue Gesellschaft mit vermehrtem
Betriebscapital zu gründen. Sein Reisezweck sollte in über-
raschender Weise über Erwarten schnell und gut in Erfüllung
gehen; in London erbot sich ihm die Firma Corneille und Da-
vis zum Arrangement der beabsichtigten Gesellschaft mit einem
Betriebscapital von einer halben Million Pfund Sterling, die
binnen sechs Wochen gezeichnet waren. Sofort begab sich Herr
Giebert nach Glasgow, um die erforderlichen Maschinen anferti-
gen zu lassen, die sich, ohne Fracht, auf 45,000 Pf. St. stellten.
Kein Wunder, daß der Name Fray Ben tos alsbald in allen
europäischen Zeitungen wiederklang.
Im April 1866 wurden die neuen Maschinen verladen; sie
füllten nicht weniger als 6 Schisse zu je 600 Tonnen an. Mit
deren Aufstellung konnte noch im November desselben Jahres
begonnen werden, und seit im Mai dieses Jahres die neue Fac-
torei in Betrieb gesetzt ist, werden schon jetzt täglich gegen
500 Stück Vieh geschlachtet, also binnen 4 Jahren eine
Vermehrung von 10 auf 500 Stück per Tag!
Gehen wir von dieser gedrängten, nur die äußersten Um-
risse enthaltenden Skizze über das so rasche Entstehen und Auf-
blühen der Fabrik zu einer gedrängten Beschreibung des jetzigen
Anblickes derselben, wie uns solcher von einem kürzlich von dort
zurückgekehrten Besucher geschildert wird.
Aus der öden Sandebene, vor nunmehr fünf Jahren kaum
besucht von einzelnen Reitern, hat sich wie durch Zauber ein
blühendes, reinliches -Städtchen von jetzt schon sast 3000 Seelen
gebildet. Die Factorei steht auf dem hier ziemlich hohen Fluß-
ufer, den Fluß weithin beherrschend, etwa eine halbe Legua ent-
fernt von Fray Bentos, mit welchem Orte sie durch eine schöne
Allee verbunden ist. Mehrere kleinere und eine schöne große
Brücke ziehen sich über die hier so häufigen Flüßchen und Bäche;
diese Straße ist eigens von Seiten der Fabrik gebaut worden
und wird jede Nacht abgesperrt. Alles Land zwischen Fabrik
und Stadt ist Eigenthum der erstern, welche darauf bereits die
Straßen abstecken läßt für die projectirten Arbeiterwohnungen.
W>ir* betreten die Fabrik durch ein großes Thor. und er-
blicken vor uns das mächtige Fabrikgebäude, hinter welchem die
mit Draht umzogene, eine Quadratlegua einnehmende Viehhürde
beginnt. Im Hof, zwischen Thor und Hauptgebäude, sind rechts
die Hürden zum Absperren von bis zu 5000 ^tück Schlachtvieh,
links verschiedene Wirtschaftsgebäude und Arbeiterwohnungen.
Von ersteren interessirt uns am meisten die Fabrik von Zinn-
büchsen zur Verpackung des Extractes. Vierzig große Kannen
für je 100 Pfund Extract werden täglich gefertigt. Daneben
befindet sich das große 5000 Pipen fassende Wasserreservoir, das
mittelst Dampfkraft aus dem Flusse fortwährend gefüllt erhalten
wird, und nicht bloß das zum Fabrikbetrieb nöthige Wasser,
sondern auch in jede Arbeiterwohnung den Bedars liefert, fowie
Erdth eilen. 251
die Tränken der Hürden speist. Da das Wasser des Uruguay
sehr rein und weich ist, eignet es sich vortrefflich zum Auskochen
des Fleisches. ,
Begeben wir uns zum Schlachthaus, so finden wir die
gleiche Einrichtung, wie in allen hiesigen Saladeros. Die Thiere
werden zunächst in eine enge Hürde getrieben, an deren einem
Ende eine Art kleiner Eisenbahn angebracht ist zum Transport
der getödteten Thiere. Nachdem denselben der an zwei außer-
halb gehende Pferde befestigte Lasso um die Hörner geworfen
ist, werden sie durch Antreiben der Pferde bis zu einer Art Ge-
rüst vorwärts geschleppt, wo sie durch Anziehen des Lassos
regungslos verharren müssen, bis der Schlächter sein kurzes,
zweischneidiges Messer ihnen zwischen die Halswirbel stößt. Das
Gerüst öffnet sich zum Wegschaffen des todten Thieres, während
schon wieder ein anderes lebendes an die Schlachtbank kommt.
Es geht fast so tactmäßig wie ein Pendelschlag. Mit dem Ab-
häuten sind 150 Arbeiter beschäftigt, welche zugleich das geschlach-
tete Thier in sechs Stücke zerhauen. Die Häute werden zunächst
24 Stunden lang in großen Eisternen aufbewahrt, hierauf ein-
gesalzen und in mächtigen Haufen aufgeschichtet, damit sie durch
ihr eigenes Gewicht sich auspressen und so trocknen, denn jede
srische Haut enthält circa 15 bis 20 Pfund Wasser, die durch
die Pressung nach dem Einsalzen entfernt werden. Vom Depot
der Häute bis zum Fluß führen Eisenbahnen, um solche zu ver-
laden.
Die Knochen, Köpse und Eingeweide werden zunächst eben-
falls in Eisternen geworfen, von diesen aus aber alsbald in Kn-
sen verladen und verschifft, nachdem jedoch zuvor der zur Hei-
zung der Dampsmaschinen nöthige Bedarf an Knochen ausgesucht
ist. Die Knochenasche wird später gleichfalls verladen und in
England mit 5 Pf. St. per Tonne bezahlt.
Das nicht zu Extract bestimmte Fleisch wird in dünne Strei-
sen geschnitten, gesalzen und zum Trocknen aufgeschichtet und
kommt dann als „Ehacre" in den Handel, welches Product nach
Brasilien und Havana bedeutenden Absatz findet. Es dient den
Sklaven zur Nahrung.
Mittlerweile wird das zu Extract bestimmte Fleisch (natür-
lich die beste Sorte) zunächst zum Wagehaus gebracht, einer
äußerst reinlich gehaltenen, kühlen und luftigen Halle, und von
da aus in angebrachte Oeffnungen geschoben, hinter welchen vier
Hackmaschinen in ununterbrochener Bewegung sind. Jede dieser
vier Maschinen kann in einer Stunde das Fleisch von 200 Och-
sen zerschneiden und wird von 10 Arbeitern bedient. Das also
zerkleinerte Fleisch wird dann in große Kessel geworfen, in denen
es mittelst gewaltigen Dampfdruckes (75 Pfund auf den Qua-
dratzoll!) vollständig sich auflöst. Die also gewonnene Masse ent-
hält nun den Extract, jedoch auch noch das Fett, welches aus-
geschieden wird mittelst Entsettungsmaschinen besonderer Con-
struction, wie solche nach Angabe des Professors Pettenkofer
in München eigens für Herrn Giebert verfertigt wurden.
Das Fett muß sofort in heißem Zustande der Masse ent-
zogen werden, da es fönst anhaften würde.
Zunächst beginnt nun der Klärungsproceß, der gleichfalls
mittelst Dampfdruckes geschieht und in fünf Eisenbehältern, jeder
zu 1000 Gallonen Gehalt, vollzogen wird.
Von hier aus wird die Masse mittelst Pumpwerken in den
Kühlraum gebracht. Hier hat sie zunächst noch mehrere Filtri-
ruugen zu bestehen, ehe sie zum Verdunsten und Eindicken zu-
gelassen wird.
Noch haben wir einen interessanten Raum zu durchwandern,
nämlich die große Abkühlungshalle. Dieselbe ist durch Draht-
und Gacegitter jeder Art gegen Zutritt von Fliegen und Staub
geschützt. Die Ventilation wird hergestellt mittelst großer Fächer
von Stahlplatten und Stahlscheiben, eigens erfunden von Herrn
Giebert, welche das Abkühlen außerordentlich fördern, indem die
vorhandenen fünf Fächer in einer Minute zwei Millionen Qua-
dratfuß Luftzutritt vermitteln. Hiermit endigt das eigentliche
Herstellungsverfahren; der^Extract wird vorerst in großen Be-
hältern aufbewahrt. Ein Stockwerk höher liegt der Raum, wo
endlich die Masse von den sich seit dem letzten Verfahren gebil-
32*
252 Aus allen
bet habenden Körnchen und Krystallen befreit und schließlich ver-
packt wird. Elfteres geschieht in zwei großen eisernen Behältern,
unter deren Boden Heißetz Wasser hinfließt. In diese Behälter
wird das Fabrikat in Quantitäten von je 10,000 Pfund ge-
bracht, entkrystallifirt und zu einer durchaus gleichartigen Masse
verarbeitet. Erst nachdem der Chemiker der Fabrik, Herr See-
kamp, nach verschiedenen Proben sein Gutachten abgegeben hat,
darf mit der Verpackung begonnen werden, was in großen Blech-
kann'en von je 100 Pfund Inhalt geschieht.
Zum Schluß unserer leider nur zu gedrängten Beschreibung
können wir nicht umhin, noch der pünktlich gehandhabten Rein-
lichkeit des ganzen Etablissements zu erwähnen, als eines Haupt-
Mediums zur Erzielung eines tadellosen Fabrikates. Alle zwei
Tage wird das ganze Etablissement gesäubert bis zum letzten
Winkel mittelst Strömen Waffers.
Ueberall kocht und brodelt heißes Wasser, um Fett und
Blut wegzuspülen. Selbst Rauch und Ruß der kolossalen Ka-
mine werden durch eigene Vorrichtungen entfernt gehalten.
Wirft sich unseren Lesern jenseits des Oceans die Frage
auf: „Hat denn ein so beispiellos rasches Aufblühen noch nicht
zur Eoncurrenz angeeifert?" so müssen wir allerdings diese
Frage bejahen, aber auch hinzusetzen: indeß bis jetzt nur mit
wenig Erfolg. Der Grund des Fehlschlagens jener Versuche
ist wohl hauptsächlich darin zu suchen, daß eben bis jetzt Herr
Gisbert der Einzige ist, dessen Etablissement gewissermaßen un-
ter der directen Eontrole des berühmten Chemikers Liebig. steht,
so daß das von Herrn Giebert erzeugte Fabrikat den jede Eon-
currenz besiegenden Vortheil besitzt, unter der Autorität dieses
weltberühmten Gelehrten in den Handel zu kommen. Werden
auch mit der Zeit die Concurrenzen nicht ausbleiben, so steht
doch die Thatfache entschieden fest: Herr Giebert hat innerhalb
fünf Jahren eines der großartigsten Etablissements von ganz
Südamerika geschaffen, in Folge dessen eine ansehnliche Stadt
entstanden ist, und ferner: sein Fabrikat gewährt bereits in allen
Welttheileu und Zonen der Menschheit Labung.
Erwähnen müssen wir noch, daß zur Zeit das geachtete
Bankhaus Benites y Hijo in Buenos-Ayres mit der Errichtung
eines gleichfalls kolossalen Etablissements zu demselben Zwecke
beschäftigt ist. Dieses Etablissement wird in Gualeguaychu
(Entre-Rios) unter der Leitung des Herrn Peker betrieben wer-
den. Die zum Theil bereits angelangten Maschinerien reprä-
sentiren einen Werth von circa einer halben Million harter
Thaler.
Die deutschen Ansiedelungen in der südbrasiliani-
schen Provinz Rio Grande do Sul. Die zu Joinville er-
scheinende „Coloniezeitung" enthält folgenden Bericht: „Die Deut-
schen haben in der Provinz Rio Grande einen ziemlich ausge-
dehnten Landstrich inne, der von der Seeküste im Osten bis tief
in die Provinz hinein ungefähr vom 50. bis 54. Grade westlich
von Greenwich sich erstreckt; im Süden bildet Porto Alegre, im
Norden der Zug der Serra die ungefähre Grenze; außerdem
aber sind die Deutschen in der ganzen Provinz, vornehmlich in
den Städten, vertheilt. Umgekehrt sind die Deutschen noch nicht
überall geschlossen angesiedelt: so ist im Osten zwischen St. Maria
und der alten Kolonie Tres Forquilhas, ferner zwischen dem
Taquary und dem Rio Pardinho und zwischen diesem und dem
obern Jacuhy eine Unterbrechung; ganz getrennt im Westen
liegt ein zweites St. Maria und ganz abgesondert im Süden
St. Lourenzo bei Pelotas. Entschiedenen Widerwillen scheinen
die Kolonisten gegen den Camp (das offene freie Feld) zu hegen;
sie sitzen fast alle auf Waldboden und in den Thälern. Der
Waldboden ist auch entschieden besser und anbequemt sich der
deutschen Landbauerei noch am ehesten. Sollte aber der Camp
wirklich zu weiter nichts gut sein als zur Viehzucht? Es ist
dies kaum zu glauben; im Gegentheil scheint er vielfach sehr
gut, wenigstens bester als man ihn in vielen Theilen Deutsch-
lands hat. Ich will hierüber nicht aburtheilen, genug, er ist
bis jetzt nicht viel benutzt für Pflanzung. Wo sich deutsche An-
siedelungen finden, ist die Bewohnung dicht, so weit es die Größe
Erdtheilen.
der hiesigen Coloniegrundstücke (sogenannte Kolonien) erlaubt.
Jede Colonie hat 100 Bra^as Front und 1500, auch 1600 Br.
Tiese. Gewiß mehr als hinreichend für eine Familie; es ge-
schehen daher auch bei Erbschaften und Verkäufen Theilungen,
und so erstarkt das Coloniegebiet weit mehr in sich, als daß es
an Umfang gewinnt. Die Zahl der Bevölkerung wächst ziemlich
rasch, wie es das gesunde Klima mit sich bringen muß. Jeden-
falls scheint die gewöhnliche Angabe von 50,000 Deutfchen für die
hiesige Provinz entschieden zu niedrig. Der Zuzug aus dem
Mutterlande war zeither, wie in Brasilien überhaupt, nur sehr
gering, jedoch sollen in nächster Zeit etwa 150 Colonien in Neu-
Petropolis vergeben werden, und es wird diesen Leuten eine sehr
verständige Unterstützung zu Theil, indem man ihnen die ersten
Arbeiten der Ansiedler liefert, ihnen Wald schlägt, eine Hütte
baut und dergleichen mehr; eine solche Hülfe ist für den An-
kömmling nicht hoch genug anzuschlagen, da gerade das Wider-
wärtigste und Ungewohnteste für den Einwanderer gethan ist.
Hoffentlich verstärkt sich durch solche Maßnahmen die Einwände-,
rung. — In Folge der großen Fruchtbarkeit des Bodens ist
überall ein guter Mittelftand geschaffen, der ja die solideste und
glücklichste Grundlage jedes Staatswesens bildet. Doch ist der-
selbe fast nur auf den Ackerbau gegründet, fo daß das industrielle
Element ziemlich vernachlässigt erscheint. Genau genommen hat
das ganze Gebiet nur eine Stadt, nämlich Porto Alegre,
dem S. Leopoldo und Rio Pardo nur als Vorstädte dienen.
Einige andere Orte versprechen Ausgangspunkte von Stadtan-
lagen zu werden, wie Taquary an der östlichen Seite, St.
Maria und der sogenannte Hamburger Berg nördlich von S.
Leopoldo. Wenn ich die industrielle Bedeutung der deutschen
Colonien nicht hoch anschlage, so soll das aber bei Weitem nicht
sagen, daß die Brasilianer sie überragten, im Gegentheil stehen
dieselben viel weiter zurück; ich meine damit nur, daß die Frei-
heit vom fremden Markte größer sein könnte. Wenn man das
Vorschreiten der nordamerikanischen Gewerbe betrachtet, die doch
bis 1790 in den härtesten englischen Fesseln schmachteten, und
gleichwohl jetzt den europäischen nahe kommen, in einigen Zwei-
gen sie sogar überflügeln, so ist die- hiesige Gewerbthätigkeit
nur erst ein Anfang zu nennen und es haben die hier geliefer-
ten Arbeiten nicht selten das Ansehen als seien sie von Anfän-
gern geliefert. In S. L e o p o l d o ist in gewerblicher Beziehung vor
Allem die Sattlerei anzuführen, welche im Kaiserstaate wohl die
erste Stelle einnimmt. Dabei ist auch die Umgegend einzuschlie-
ßen. Die Baumwolle wird auf der Hand gesponnen und zu
stärkeren Kattunen verarbeitet. Schafwolle wird nur äußerst
wenig gewonnen und eben so selten gesponnen. Die Bekleidungs-
Handwerke find in genügender Zahl vorhanden, hingegen fehlt
es hier und da noch an Mühlenanlagen, so daß ein Sack Weizen
vier Patack (1 Dollar 280 Rs.) zu mahlen kostet. In Pelotas
soll die Böttcherei großen Auffchwung gewonnen haben. Die
Schlächtereien haben starken Bedarf an Fässern. Im steten Wach-
sen ist ferner die Cigarrenfabrikation. In Porto Alegre ist die
Industrie beinahe ausschließlich in deutschen Händen
und es fehlt dort fast immer an Arbeitern, wie aus den An-
zeigen der „Deutschen Zeitung" und des „Boten" zu ersehen ist.
— Die hiesigen Colonien machen zwar langsame, aber desto
sicherere Fortschritte und viele brasilianische Grundbesitzer fangen
an, ihre liegenden Gründe zu zertheilen und an Colonisten zu
verkaufen. Jedenfalls bilden die Niederlassungen der Deutschen
einen wesentlichen Kern der Provinz und eine treibende Kraft
auf dem Gebiete der Volkswirthschast, die die Berücksichtigung
und den Dank Brasiliens verdienen."
Leben und Treiben an der großen nordamerikanischen
Westbahn. An die sechs Gesellschaften, welche bei dem Baue
des großartigen Werkes betheiligt sind, hat die Wafhingtoner
Regierung bis zum 30. Juni des laufenden Jahres schon mehr
als 60,000,000 Dollars Unterstützung ausgezahlt. Diese Gesell-
schaften sind: Union Pacific Railroad Company, 24,720,560
Dollars. — Central Pacific Railroad Company, gleichfalls
24,726,560 Dollars. Union Pacific Railroad Company, öst-
Alls allen Erdtheilen.
253
liche Abtheilung, 6,096,000 Dollars. — Western Pacific Rail-
road Company, 1,920,000 Dollars. — Atchinson-Pikes Peak
Railroad Company, 1,600,000 Dollars. — Siona City of Pa-
cific Railroad Company, auch 1,600,000 Dollars.
Wir finden im „California Demokrat" vom 30. Juli die
Notiz, das; die Bahn von Westen her 33 Miles Uber Neno hin-
aus bis nach Wadsworth fertig war. Von dort aus hat die
Compagnie eine ebene Fläche von etwa 200 Miles Länge vor
sich. Jetzt werden dort regelmäßig an jedem Tage 3 Miles
Schienen gelegt und die Arbeiten werden rasch weiter geführt.
Die Vorhut der Nivellirer ist schon bis zum Humboldtsluffe vor-
gedrungen und die Schienenleger eilen rasch hinterher. Oestlich
der Sierra Nevada sind 15 Locomotiven beschäftigt, um das
Material zum Bau der Bahn herbeizuschaffen. Bis 1869 sollen
von San Sacramento aus gerechnet 500 Miles Bahn im Be-
triebe sein! —
Jüngst haben einige Deutsche „eine kleine Spritztour" von
Chicago am Michigansee nach den Felsengebirgen unternommen,
und die deutsche „Illinois Staatszeitung" hat darüber einen
Bericht erhalten. Derselbe vervollständigt Die Schilderungen,
welche wir in einer frühern Nummer unserer Zeitschrist mitgetheilt
haben und giebt einen Einblick in die Zustände.
„Den Punkt der Bahn, bis zu welchem vorläufig Passagiere
befördert werden, die Station Benton, erreichten wir Sonn-
abend den 15. August, Morgens 4 Uhr. Der Ort, dessen 1500
bis 2000 Einwohner fast alle inZelten Hausiren, liegt in einem
äußerst pittoresken aber öden Thale, 694Meilen von Omaha,
vom Nord-Platte-Fluß nur durch einen niedrigen Höhezug ge-
trennt. Benton steht sast unter allen Städten des Kontinents
in feiner Art einzig und allein da, und das will viel sagen.
Hier herrscht der Richter Lynch noch souverän, hier ist
ein Menschenleben noch billig, sehr billig, hier giebt es
nichts als Spieler, Confidenzleute, Diebe und dem Galgen ent-
laufenes Gesindel, außer einigen wenigen Personen, welche ein
legitimes Geschäft betreiben. Familien giebt es in derZelt-
stadt Benton nicht, die weiblichen Wesen, welche man sieht,
sind Prostituirte, welche hier sür ihre längst entschwundenen Reize
noch Käufer finden.
Laramie ist in moralischer Hinsicht kein sehr sauberer Ort,
aber mit Bentou gar nicht zu vergleichen; die Bewohner von
Laramie sind, mit denen von Benton verglichen, wahre Heilige.
Ihr Korrespondent machte gleich, nachdem er mit einigen
Reisegefährten eine Tasse Kaffee zu 75 Cents eingenommen hatte,
einen Gang nach dem Ufer des Nord-Platte-Fluffes, wel-
cher hier ungefähr 150 Fuß breit ist; das nördliche Ufer dessel-
ben ist durch steil aufsteigende Felsenberge begrenzt, das Thal
ist eng und tief, jedoch reich an Naturschönheiten.
Von der Hügelkette aus, welche Benton vom Flusse trennt,
breitet sich ein prachtvolles, grandioses Panorama aus bis zu
den Schneebergen iin Südosten und den nördlichen Höhen der
schwarzen Berge hin. Im Westen erhebt sich ein Bergkegel über
dem andern, und bis auf eine Distanz von mehr als 50 Meilen
bietet sich dem Auge eine Fernsicht, wie man sie nur in den Fel-
sengebirgen finden kann.
Die deutsche Geschäftswelt ist in Benton durch einen B ü ch -
senmacher Namens Freund vertreten, welcher einen recht Hüb-
schen Vorrath von Revolvern, Büchsen und sonstigen Waffen hat
und auch ganz gute Gefchäfte machte, wie nicht anders zu er-
warten stand, da gerade diese Artikel dort immer Käufer finden.
Die besten Geschäfte jedoch machen entschieden die Inhaber von
Farobanken, von denen es in dem Orte in jeder Straße meh-
rere giebt. Gleich nach dem Frühstück geht das Spielen an und
dauert bis spät in die Nacht hinein; mehrere Spieler, welche
ihre Geschäftsfreunde nicht alle in ihrem Zelt unterbringen konn-
ten, hatten thatfächlich einen Tisch auf die Straße gesetzt, wo
das Farospiel, ohne daß dies irgendwie ausfiel, feinen Fortgang
nahm. Die Leute sind hier alle leidenschaftliche Spieler und
einer derselben, ein gewisser Jack Morrel, welcher sein halbes
Leben in den Bergen zubrachte, verlor in einer Nacht über 20,000
Dollars.
Ein eigentümliches und der Erwähnung werthes Institut
ist der „shop" des Dr. Allen in Benton; derselbe befindet sich
in einem Zelt von 10 bis 12 Fuß; auf der einen Seite stehen
einige Flaschen mit Patentmedicinen nebst einem Barbier-
stuhl, während aus der andern Seite ein am Halse aufge-
hängt es Skelett den Befuchern den nöthigen Refpect vor die-
fem Jünger Aesculaps einflößt. Dr. Allen hat feit den
letzten 6 Wochen 23 Schußwunden behandelt, von denen
8 einen tödtlichen Ausgang nahmen, was dem Doctor außer-
ordentlich unangenehm war, da ihm dadurch sein Honorar ver-
loren ging. Am liebsten ist dem Doctor, wie er Ihrem Bericht-
erstatter versicherte, eine hübsche gefährliche Schießwunde, „that
pays the best", wie er sagte.
Wie lange Benton übrigens noch bestehen wird, ist eine
Frage, welche sich innerhalb der nächsten 4 bis 6 Wochen ent-
scheiden wird; jetzt schon rüsten sich verschiedene Bentonianer zur
Abreise uach dem Green River, ein paar hundert Meilen
weiter westlich, wo sie sich bessere „chances" versprechen.
Eine eigentümliche Art Spiel, die sogenannte Havana-
Lotterie, wird neben dem Faro exercirt; dasselbe ist jedoch
nicht sehr beliebt, da die Bankhalter bei demselben das „For-
tune" zu stark corrigiren, und die größere Anzahl der Bewoh-
ner von Benton selbst erklärten dasselbe für einen Humbug (im
Gegensatz zu den Chicagoern, welche auch Havana-Lotterie spie-
len) und Faro für das einzige anständige und eines „Gentleman"
würdige Spiel.
Die Tanzkneipen bilden natürlich auch hier ein wichtiges
Element bei dieser vagabondirenden Bevölkerung; dieselben sind
in der Hauptsache wie die in Laramie eingerichtet und werden
nach demselben Muster geführt; im Hintergrunde befinden sich
die Gemächer der Tänzerinnen, welche an Schamlosigkeit wirk-
lich alles nur Denkbare leisten.
Während unserer Anwesenheit saß Richter Lynch über zwei
Leute zu Gericht, welche die Post beraubt haben sollten. Der
Proceß war ein unglaublich kurzer, und eine Viertelstunde
nachdem die beiden angeblichen Posträuber angefangen waren,
sah Ihr Berichterstatter die Leichname derselben an den Balken
eines im Bau begriffenen Bretterhauses hängen. Die Bevölke-
rnng nahm die Sache sehr kühl; die Leichen wurden bald dar-
auf abgeschnitten und irgendwo eingescharrt."
Alterthümer des Menschengeschlechts in Nordame-
rika. Früher nahm man leichtfertiger und leichtsinniger Weise
an, daß die sogenannte neue Welt ihre Bewohner von der alten
Welt aus bekommen habe. Es ist das eine absolut werthlose
Hypothese, sür welche auch nicht ein Schatten von Beweis vor-
liegt; sie spukt aber immer noch herum. Dann sind andere
Leute gekommen und haben den Spieß umgekehrt; sie lassen die
„alte Welt" von der „neuen Welt" aus bevölkert sein: das ist
eben so luftig; aber diefe Westöstler haben eben fo gut ein Recht,
unhaltbare Dinge aufzustellen, wie die Ostwestler. Wir kommen
demnächst aus die Sache zurück, wenn wir das tolle Buch „P a-
läorama" besprechen, das, wie wir vorläufig hier sagen wollen,
eine Ausgeburt des wilden und wirren Hirns ist, mit welchem
der alte Hafis-Daumer jetzt die fabelhaftesten Albernheiten
herausfpintisirt. Heute geben wir einige Mittheilungen aus
den Verhandlungen der „American Science Association",
welche im August ihre Sitzungen zu Chicago hielt. In einer
derselben handelte es sich um die Erörterung von drei Werken:
Whittlefey's geologische Beweise für das hohe Alterthum des
Menfchengefchlechts im Gebiete der Vereinigten Staaten;
Foster's Alterthümer des Menfchengefchlechts in Nordamerika,
und Blake's Spuren vorhistorischer Racen in Kalifornien.
Whittlefey glaubte nachweisen zu können, daß vor dem
Auftreten des heutigen Indianers, des sogenannten rothen Man-
nes, vier andere Racen vorhanden gewesen seien. Die soge-
nannten Moundbuilders, von welchen tbie bekannten Hügel-
auswürfe herrühren; — eine zweite im Gebiete des heutigen
Staates Wisconfin; — drittens eine kriegerische Race im
Süden der Seen Ontario und Erie, und viertens eine religiöse
254 Aus allen
Race in Mexico. Man sieht, daß das eine ganz rohe Einthei-
lung ist, die keinen wissenschaftlichen Werth haben kann.
Man hat Topsscherben, Pfeilspitzen und andere Sachen von
Menschenhand zusammen mit Knochen des Mastodons und des
Megatherinnis und unter denselben gesunden. Drei Menschen-
gerippe lagen in einer Höhle unter einer mehrere Fuß hohen
Erdlage; die Schädel waren so wohl erhalten, daß man sie auf
den ersten Blick für Schädel „rother Leute" halten mußte; sie
mögen wohl seit 2000 Jahren an jener Stelle gelegen haben.
Man sand einen Kieser und einen Zahn, welchen Agassiz ein
Alter von etwa 10,000 Jahren giebt. — Foster sprach zu-
nächst über das schon oft erwähnte Menschengerippe, welches man
in Calisornien im Golddrift gesunden habe; über diesem letztern
lagen fünf verschiedene Schichten Lava. Dieses Gerippe ist viel
älter als die Spuren, welche wir aus dem ältesten Steinzeit-
alter haben. Foster wies eine Pfeilspitze vor, die im Thale des
San Joaquin, Calisornien, 30 Fuß unter der Erdoberfläche ge-
legen hat. Die Insel Petite Anse an der Mündung des Mis-
sissippi besteht aus einer sesten Salzmasse, die 15 Fuß hoch mit
Erde bedeckt ist. In dieser Salzmasse wurde neben fofsilen
Ueberbleibseln des Elephanten ein versteinertes Stück von einer
Matte gefunden; eine Zeichnung derselben wies Foster vor. Als
in Neuorleans die Gasanstalt gebaut wurde, sand Dr. Dowler
Menschenknochen in einer Tiese von 16 Fuß.
In Bezug auf die Moundbuilders bemerkte Foster: Kein
Volk, das lediglich von der Jagd lebte, konnte fo großartige
Werke herstellen. Die Moundbuilders standen an Civilisation
weit über den heutigen Indianern. Sie benutzten das Kupser,
wir haben aber keinen Beweis dafür, daß sie sich auf das Schniel-
zen verstanden hätten; sie hämmerten dieses Metall. Ein kupfer-
nes Messer aus einem Mound in Illinois wurde vorgezeigt.
Blake sprach über einen Schädel, der in Calisornien in
einer Tiefe von 200 Fuß gefunden worden fei, uud wies allerlei
Gegenstände vor, welche man beim Graben in jenem Lande sehr
ost antrifft.
Der calisornische Geolog Whitney berichtete ausführlich
über den Fund des viel besprochenen calisornischen Schädels.
Er bekam im Juni 1866 von Dr. William Jones in Murphys,
County Calaveras, der ein wissenschaftlich gebildeter und wahr-
heitsliebender Mann sei, die Nachricht, daß derselbe sich im Besitz
eines Schädels befinde, welcher recht gut erhalten fei. Derfelbe
fei gefunden worden von dem Herrn Mattison im Walde
Mountain, unweit von Altaville, 130 Fuß unter der Erdober-
fläche, unter der Lava und unmittelbar neben einer versteinerten
Eiche. Whitney ging sofort nach der Fundstätte, prüfte Alles mit
der größten Aufmerksamkeit und sand die ihm gemachten Angaben
richtig. Der Schädel wurde in jenem Schacht im Februar 1866
gesunden, neben einigen Stücken Holz. Mattison brachte ihn
zu Herrn Scribner, der gleichfalls ein ihm (Whitney) als zu-
verlässig bekannter Mann fei. Als man ihm, fagte er, den
Schädel gebracht habe, war dieser mit einer erdigen uud steinigen
Masse dermaßen umgeben, daß er im ersten Augenblick nicht
erkannte, um was es sich handle. Als Mattison ihn im Schachte
fand, hielt er ihn für ein Stück von einer Baumwurzel, und
erst als Scribner den Schmutz beseitigte, sah er, daß hier ein
Schädel vorlag. Er gab ihn dem Dr. Jones, weil er wußte,
daß derselbe allerlei Merkwürdigkeiten sammele. Von Täu-
schuug könne keine Rede sein. Verhält es sich richtig mit diesem
Fund und der Fundstätte, so ist klar, daß der Mensch weit
früher auf Erden lebte als die Geologen überhaupt bisher an-
nahmen. — Zwei Professoren, Grinies und Andrews, erklär-
ten, daß sie nicht an das hohe Alter der Calaverasschädel glau-
ben und sich überhaupt mancher Zweifel nicht erwehren könnten.
Mohammedanische Literatur in Nußland. Das Czareu-
reich hat bekanntlich Millionen von Untertanen, welche sich zum
Islam bekennen und für diese giebt es einen befondern Bücher-
markt. In dem reichhaltigen „American and oriental lite-
rary record", welches unser unternehmende Landsmann Herr
N. Trübner in London herausgiebt, finden wir darüber fol-
gende Angaben. Schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts ließ
die russische Regierung 3000 Exemplare des Koran drucken und
dieselben unter den Mohammedanern vertheilen. Im Jahre 1800
wurde in Kasan eine Druckerei für Bücher in tatarischer Sprache
eröffnet und von einem derselben kundigen Russen, Buraschess,
geleitet; sie lieferte in den ersten drei Jahren 31,200 Abdrücke
mohammedanischer Werke. Die Tataren sind zumeist Sunni-
ten, und diese vermerkten es sehr übel, daß Buraschess in jene
Bücher Stellen eingeschmuggelt hatte, welche zu Gunsten der
Schiiten lauten. Das war eine arge Ketzerei und die sunni-
tischen Geistlichen wollten in derselben Weise ein Exempel statui-
ren, wie es die christlichen so oftmals gethan haben. Das Buch,
welches die ihnen anstößigen Sätze enthielt, wurde unter Zulauf
einer großen Menge Volkes öffentlich und feierlich verbrannt;
Burafchefs und der Censor wurden entsernt. Die Universität Ka-
san bekam 1823 einen großen Vorrath von asiatischen Typen
und konnte von nun an mehr Werke als früher drucken. Sie
lieferte von 1842 bis 1852 vom Koran 23,600 Abdrücke und
von 1855 bis 1864 nicht weniger als 1,084,320 Exemplare ver-
fchiedener mohammedanischer Werke, sämmtlich religiösen Inhalts.
Auch legten, gleichfalls in Kafan, einige Tataren Privatdrucke-
reien an, welche von 1853 bis 1859 allein vom Koran 82,500
Exemplare verkauften. Die Werke finden ihren Hauptabsatz auf
den großen Messen und Jahrmärkten in Rußland, werden aber
auch in der Krim, im Kaukasus und selbst in Centralasien ver-
trieben. Die russisch-orthodoxen Kirchenzeitungen nehmen be-
greislicherweise ein großes Aergerniß an der Verbreitung solcher
„Irrlehren" und bedauern, wie das bei den meisten „Ortho-
doxen" aller Secten der Fall ist, eine solche Toleranz gegen
„Ungläubige". — Auch die Pressen in St. Petersburg und in
Moskau liefern eine sehr beträchtliche Anzahl mohammedanischer
Bücher, von denen gewöhnlich 10,000 bis 25,000 Abdrücke ver-
anstaltet und gewöhnlich drei Auflagen gemacht werden. Die
ganze Sache ist ein reiner Speculationsartikel und die Her-
ausgeber oder Verleger kümmern sich wenig um den innern
Werth solcher Bücher. Sie überschwemmen das mohammedani-
sche Volk mit allerlei schlechtem Zeuge, während sie es doch in
der Gewalt hätten, zur Belehrung und Ausklärung desselben bei-
zutragen. Es ist nun der Vorschlag zur Bildung eines Vereins
gemacht worden, welcher dem Uebel dadurch entgegentreten will,
daß er sür Abfassung und Verbreitung von wohlfeilen Büchern
bessern Inhalts sorgt.
Die vnlcanischen Erscheinungen auf den Sandwichs-
inseln. Neuere Nachrichten aus Honolulu, welche bis zum
5. September (über San Francisco und durch den Telegraphen)
reichen, melden, daß die Südostküste vonHawaii allmälig
tiefer finke. Dasselbe wurde auf Hilo beobachtet. Die Sen-
kung des Ufers auf Hawaii betrug an manchen Punkten 3 bis 4,
an anderen 6 bis 7 Fuß. In Hilo, Paui und noch einer drit-
ten Oertlichkeit fanden täglich ein bis fünf Erdbeben statt.
Der Kilauea warf starke Rauchsäulen aus; Flammen kamen
nur dann und wann zum Vorschein. Am 11. August gerieth
bei Hilo das Meer in Schwingungen, 15 bis 16 derselben wa-
ren sehr bedeutend. Zwei Tage lang fiel und stieg das Meer
in Zwischenräumen von 10 Minuten um 3 bis 4 Fuß.
* * *
— „So sprechen die Schwaben." Unter diesem Titel
hat Dr. Anton Birlinger (Berlin, Ferd.Dümmler's Buch-
handlung) ein kleines Buch herausgegeben, das jedem Leser eine
heitere Stunde verschaffen wird. Sprüchwörter, Redensarten
und Reime, welche seit Jahrhunderten im Volksmunde leben,
hatJemaud einmal nicht mit Unrecht als „Weisheit auf der
Gaffe" bezeichnet, und das trifft vielfach auch beiden: zu, was
die Schwaben sprechen. Sie sind ein tüchtiger, in hohen:
Grade achtungswerther Stamm unseres Volkes, der einst die
Reichssturmfahne vorangetragen hat. Es ist in ihnen — wir
kennen sie, weil wir einige der besten Jahre unserer Jugendzeit
unter ihnen in heiteren Tagen verlebten — ungemein viel Kern,
Aus allen
Urkraft, Geist, Witz, Verstand, und wir Deutschen im Norden
möchten um Alles in der Welt diese schwäbischen Brüder nicht
missen. Wir bedürfen ihrer, schon von allem Andern abgesehen,
zur Ergänzung. Was haben sie uns Alles gegeben? Wenn
wir ihnen auch Schölling und Hegel, die doch auch gewaltige
Geister waren, schenken wollten, — wir Deutschen alle verdan-
ken ihnen Schiller und U hl and, die uns gerade so gut an
und iu das Herz gewachsen sind, wie ihnen. Im Allgemeinen
sind diese Schwaben, namentlich so weit die „Altwürtemberger"
in Frage kommen, eigenartige Leute. Wenn sie es nur ver-
ständen, aus sich das zu machen, was sie wirklich sind! Aber
es haften ihnen in der Mehrzahl seltsame Eigentümlichkeiten
an; sie sind mißtrauisch gegen sich, noch mehr aber gegen die
Anderen. Ihr Geist ist frisch und frei in sich, und dabei erschei-
nen manche im Verkehr doch etwas linkisch, unbeholfen und viele
im Anfange einer Bekanntschast geradezu unnahbar. Und diese
Leute haben so viele vortreffliche Eigenschaften und sind so gute,
kernige Patrioten, daß sie vorab dreist und srisch auftreten könn-
ten. Der Schwabe macht es einem sauer, ihn zu ergründen
und lieb zu gewinnen. Er verbeißt sich gar zu gern in sich
selbst und sieht nur schwer ein, einmal, daß er dazu gar keine
Ursache hat, und zweitens, daß das nichts taugt. Wenn er von
den anderen deutschen Stämmen nicht nach Gebühr oder wie er
es wünscht gewürdigt wird, so giebt er schwerlich zu, daß die
Schuld daran lediglich an ihm liege. Er ist ein hartnäckiger
Kerl, den man erst „auskennen" muß, um ihn richtig nehmen
zu können, aber wer ihn einmal versteht, wird an ihm viele
vortreffliche Eigenschaften finden. Er sollte aber nicht so speei-
fisch sein und etwas mehr übers „Ländle" hinausblicken.
Draußen wohnen auch Leute, von denen er Profitiren kann, wie
wir von ihm.
Herr Birlinger nun, auf diesen zu kommen, giebt viele
Kraftsprüche, die im schwäbischen Stamme noch heute im Leben
alle Tage zu hören sind. Seine Beiträge zur Weisheit aus
der Gasse bestehen in: SprüchWörtern (567 an der Zahl),
Bauernregeln, sprüch wortartigen Redensarten. Dazu
kommen dann noch: Lebensregeln, Allerlei und Haus-
reimen.
Manches davon ist Gemeingut aller deutschen Stämme, vie-
les ist bloß schwäbisch. Herr Birlinger hat sehr wohl daran ge-
than, so viel als möglich die Oertlichkeiten zu bezeichnen, an
denen der eine oder andere Spruch vorkommt, und von ihm
selber oder von seinen Freunden aufgezeichnet worden ist; auch
hat er Manches alten Büchern entlehnt, und daran that er recht.
— Herr Birlinger giebt natürlich die Sprüchwörter :c. im schwä-
bischen Dialekt; wir wollen einige derselben hochdeutsch mittheilen:
Seit der Bauer die zehn Gebote nicht mehr hält, hält auch
unser Herrgott die Wetterregeln nicht mehr.
Man muß den Beutel nicht weiter austhun, als er ist.
Wo kein Dank, ist auch keine Ehre.
Hab Dank! süllt den Beutel nicht.
Wenn man Deutsche verderben will, nimmt man Deutsche
dazu. — Das hat früher gegolten, und Herr Birlinger hat
dieses Wort in mehreren fchwäbischen Druckschriften gefunden.
Es stammt aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges.
In der Gmündner Gegend sagt man: Der ist zu dumm
zum Rübenrupsen, er rupft das Kraut uud läßt die Rübe stecken.
Gewonnen mit Schand, geht schnell aus der Hand; gewon-
nen mit Ehr, das wird immer mehr.
Ein Rausch ist besser als ein Fieber, er vergeht ja bald
wieder.
Was die Städter verschenken, giebt man auf dem Land um-
sonst, — so sagt man zu Ehingen an der Donau.
In Deißlingen sagen die Leute: „Rede wenig und wahr.
Iß, trink, aber zahl' baar. ' Sei still und verschwiegen. Was
nicht Dein ist, laß liegen."
— Mordthaten in Neuyork. Das „Newyorker Jour-
nal" findet häufig Veranlassung, hervorzuheben, wie wild in
mancher Beziehung die Zustände jener Weltstadt sind und wie
Erdtheilen. 255
sehr die Unsicherheit zunimmt. Unterm 3. September entwirft
das Blatt folgende Schilderung:
„Schreckensherrschaft. Es stellt sich mit jedem Tage
klarer heraus, daß etwas geschehen muß, um der überhand neh-
menden Gesetzlosigkeit in Neuyork, die immer gefährlicher und
verderblicher wird, ein Ziel zu fetzen. Es vergeht fast kein Tag,
ohne daß wir von einem Fall zu berichten haben, wo Pistole
oder Messer ein Menschenleben gefährdet oder ein anfangs Harm-
loser Streit mit der Ermordung eines Menschen endet. Mord-
Waffen werden bei der geringfügigsten Gelegenheit gebraucht: ein
Mensch sticht den andern nieder, um einen Wortwechsel zu Ende
zu bringen; ein roher Patron tobtet einen Polizisten, der ihn
zu verhaften beabsichtigt; eine Person giebt einer andern, in
Selbstvertheidigung, wie iin Verhör angegeben wird, bei einer
Balgerei, die eben so gut mit einigen Faustschlägen hätte abge-
macht werden können, einen Stich in den Leib, der den Gegner
zeitlebens arbeitsunfähig macht; eine Bande von Hülfsscherifsen
feuert, um eine Verhaftung vorzunehmen, in einen Haufen harm-
loser Leute; ein Polizist schießt einen armen Teufel, den er arre-
tirt hat und der nicht gleich gutwillig mitgehen will, um sich
alle Weitläufigkeiten zu ersparen, ohne Weiteres nieder.
So zeigt -sich eine Rücksichtslosigkeit gegen die Mitmenschen
und eine Gleichgültigkeit gegen die Gesetze, die wahrhaft schreck-
lich ist. Es ereignen sich in allen großen Städten häufig Morde.
Es giebt in einer Commune, die aus vielen Hunderttausenden Men-
schen besteht, eine Menge Elemente, die sich nicht unter das Joch
des Gesetzes beugen wollen. Es giebt Leute, die, von Haß gegen
einen ihrer Mitmenschen erfüllt, nur die Gelegenheit abwarten,
um ihm das Lebenslicht auszublasen; es giebt Leute, die sich
das Verbrechen zum Handwerk gemacht haben, denen es nicht
mehr Gemüthsausregung verursacht, einen ihrer Mitmenschen
zum „stillen Manne" zu machen als einen Schluck Gin zu neh-
men, wenn sie ein paar Dollars dabei erlangen können; es
giebt Männer, die, durch widriges Geschick verstimmt, in einem
Anfall von schlechter Laune, Wuth oder Verzweiflung ihre Weiber
erschlagen; es kommt vor, daß Betrunkene in bewußtlosem Zu-
stände eine rasche That begehen und sich an ihren besten Freun-
den vergreifen; es giebt endlich Leute, die der Versuchung nicht
widerstehen können, Jemanden, der ihnen im Wege ist, durch
Gift bei Seite zu schaffen; solche Verbrechen ereignen sich überall;
die menschliche Gesellschaft hat keine Mittel gefunden, und wird
sie, so lange die Menschen keine Engel sind, auch nicht finden,
um solche Vorkommnisse zu verhüten.
Die Mordseenen aber, die sich so häufig in den Straßen,
Kneipen und auf den öffentlichen Plätzen Neuyorks ereignen,
haben einen ganz andern Charakter. In neun Fällen von zehn
sind die Ursachen der sich fo oft wiederholenden Schauerthaten
vollständig triviale. Man nehme als Beispiel nur den Lyon'schen
Fall. Ein Mann tritt auf dem Heimwege in eine Kneipe; der
Wirth überreicht ihm eine kleine Rechnung für Sachen, die seine
Frau gekauft hat; es entsteht betreffs der Rechnung ein Streit,
im Verlauf dessen der Besucher einen Revolver zieht und seinen
Gegner todtschießt. Oder man nehme den Fall im Broadway-
theater, wo sieben bis an die Zähne bewaffnete Männer Tirail-
leurübungen in einem öffentlichen Vergnügungslocale anstellen,
oder — wir könnten noch ein Dutzend ähnlicher Fälle aus der
letzten Vergangenheit anführen, aus denen hervorgehen würde,
wie unbedeutend die Veranlassung und wie vollständig ungerecht-
fertigt der mörderische Angriff war.
Neuyork hat in verbrecherischen Angriffen und Morden die-
ser Art eine traurige Berühmtheit erlangt. Es ist nicht zu viel
gesagt, wenn wir behaupten, daß auf fünfzig solcher Fälle hier
nur einer in London oder Paris kommt, und daß sie hier zehn-
mal häufiger als in Boston oder Philadelphia vorkommen. Wir
haben hier dieselben Zustände wie in Neuorleans vor zwanzig
Jahren, und was das Schlimmste ist, es wird damit jeden Tag
schlimmer statt besser.
Zweifellos ist die vielverbreitete Gewohnheit, Waffen zu
tragen, einer der Gründe für das häufige Vorkommen dieser Art
von Morden. Wenn Jemand, der einen Revolver, ein Messer
256
Aus allen Erdth eilen.
oder einen Dolch in der Tasche hat, in einen Wortwechsel oder
in ein Handgeinenge geräth, oder sich augenblicklich in einer
schwierigen Lage befindet, so wird er nicht leicht der Versuchung
widerstehen, von seiner Waffe, behufs fchleuniger Beendigung
der Angelegenheit, Gebrauch zu machen. Führte er keine Waffen
bei sich, so würde er sich damit begnügen, seinem Gegner im
schlimmsten Falle das Nasenbein zu zerschmettern oder ihm die
Augen für einige Zeit zu retouchiren; aber nur selten wird Je-
mand die Selbstbeherrschung haben, von einer ihm zur Dispo-
sitiou stehenden Masse keinen Gebrauch zu machen, wenn er be-
leidigt oder durch einen Schlag in Wuth gesetzt worden ist.
Jemand, der stets Mordwaffen bei sich führt, schwebt jeden Au-
genblick in der Gesahr, ein Mörder zu werden.
Die Hauptursache dieser traurigen Zustände liegt jedoch
darin, daß man diejenigen, welche sich solcher Gewaltthätigkeiten
schuldig gemacht, nicht die Strenge des Gesetzes fühlen läßt.
Ein Mann, der in Neuyork eine Mordthat begangen
hat, hat neun Chancen gegen eine, der Strafe ent-
weder gänzlich zu entgehen oder eine Buße zu erlei-
den, die fo gering ist, daß fie weder als Warnung für
Andere gelten kann, noch den Uebelthäter verhindern
wird, bei der ersten besten Gelegenheit sich desselben
Verbrechens schuldig zu machen. Die Geschworenen sind
oft mehr geneigt, Entschuldigungen sür die That zu finden als
Gerechtigkeit und Ordnung aufrecht zu erhalten; die die Anklage
leitenden Anwälte lieben es, solche Fälle so lange wie möglich
hinauszuschieben, die Richter sind in sehr vielen Fällen mehr
aufgelegt, eine gefährliche, Schwäche verrathende Milde Vorwal-
ten zu lassen, als den böswilligen Gesetzesverletzer zu bestrafen;
selbst das Publicum sucht sehr häufig eine Gräuelthat eher auf
diese oder jene Weise zu entschuldigen, als die Gesellschaft vor
entarteten, verbrecherischen und rücksichtslosen Individuen zu
schützen. Wenn ein Mord begangen worden ist, so hält Jeder
anfangs den Thäter für schuldig und alle Welt schreit: „Hängt
den Kerl!" Erzählt dann der Mörder die näheren Umstände,
wie er zu der That gereizt wurde :c., so erscheint sein Verbre-
chen der öffentlichen Meinung schon nicht mehr so schlimm;
kommt nun nach langem Aufschub der Prozeß endlich vor, so
fangen in Folge der beschönigenden, Alles zu Gunsten des An-
geklagten darstellenden Haranguen des Vertheidigers, die Ge-
fchworenen und das Publicum für den Frevler sich zu interessi-
ren an und Alles ist höchlich befriedigt, wenn er den „Klauen
des Gesetzes" entgeht.
Es ist diese Nachlässigkeit in der Ausführung und diese ver-
derbliche Nichtachtung der Gesetze von Seiten des großen Pu-
blicums, welche diese Schreckensherrschaft unterstützen und befür-
worten. Ließe man in einem solchen Falle dem Gesetze in aller
Strenge seinen Lauf, so würden wir bald andere Zustände haben."
— Im mexicanischen Staate Pucatan besteht die gesetz-
gebende Versammlung, welche in der Stadt Mvrida ihre Sitzun-
gen hält, aus nur neun Mitgliedern und von diesen sind nicht
weniger als sechs Aerzte. Diese Jünger Aesculaps stehen mit
der auch in Hucatan sehr anmaßenden und lästigen Geistlichkeit
nicht auf gutem Fuße. In der genannten Stadt, die mehr Kir-
chen als Schulen hat und viele Klöster, die alle überflüssig sind,
hatte das Glockengeläut und Gebimmel von früh bis spät der-
maßen überhand genommen, daß man es nicht mehr aushalten
konnte. Die Legislatur hat nun verordnet, daß kein Geläut
länger als sechs Minuten anhalten dürse und ist darüber in
Zwist mit dem Clerus gerathen, welcher die Herren Gesetzgeber
nun beim Volk als „Heiden und Ungläubige" verketzert. Wir
wollen bemerken, daß so ziemlich überall im ehemals spanischen
Amerika eine große Unzufriedenheit init der Geistlichkeit zu Tage
tritt; sie ist allerdings während der letzten Jahre namentlich
auch in Peru sehr intolerant aufgetreten und hat in den argen-
tinischen Republiken sich mehrmals gegen die Regierung
offen aufgelehnt. In Santa F« hatte der Gouverneur dieses
Staates in Uebereinstimmung mit der Legislatur ein Gesetz über
Einführung der Eivilehe erlassen. Die Geistlichkeit rottete sich
zusammen, fanatisirte einfältige Weiber und rohen Pöbel, setzte
eine Rebellion in Scene und verlangte mit großem Geschrei
„Wiedereinführung der Inquisition"! Eine auf Befehl
des freisinnigen Gouverneurs Orono in der Druckerei eines
Deutschen, Herrn Bentheim, gedruckte Schrift über die Civilehe
wurde in einem öffentlichen Auto da F« „von Frauen höherer
Stände" verbrannt. An der Tagesordnung ist das Geschrei:
„Hoch Pius der Neunte! Tod den Ketzern!" So ge-
schehen im Juli 1863.
— Belgische Zeitungen berichten, daß die Geistlichkeit in
den südlichen Niederlanden seit 1330 Eigenthum im Be-
laufe von mehr als 150,009,000 Francs erworben habe und
beklagen, daß überhaupt ungeheure Summen fortwährend in
die todte Hand gelangen. Wenn das so fortgehe, werde bald
der Grundbesitz zum großen Theil in die Hände des Clerus
falleu. Ein zu Namur erscheinendes Blatt, „l'Organe", schreibt:
„Wir erschrecken über die große Zahl von Landgütern und Grund-
stücken, welche den Klöstern gehören, und wir würden sicherlich
noch mehr erstaunen, wenn wir wüßten, wie viel sie an baarem
Gelde und in Papieren haben." In Antwerpen insbesondere
kommen zu den vielen schon vorhandenen Klöstern immerfort
neue. „Die kirchlichen Körperschaften vermehren ihren Reichthum
Tag für Tag; sie operireu damit sehr klug und benutzen alle
günstigen Umstände. Man sehe sich nur einmal in den Straßen
um und man wird finden, daß es wimmelt von Kapuzinern
und Jesuiten, Redemptoristen und Recollectenbrüdern zc., und
an Nonnen aller Art haben wir Ueberfluß. Seit vier Jahren
ist mehr Geld für Erbauung kirchlicher Häuser verausgabt wor-
den als für Civilbauten."
— Die ostindische Regierung hat eine Commission nie-
dergesetzt, welche Sorge für die Erhaltung der alten Bau-
werke tragen soll. Das Land ist überreich an solchen aus ver-
schiedenen Perioden und von verschiedenen Völkern. Zunächst
ist der Santschi Tope in Centralindien restaurirt worden. Die-
ser Tope ist eines der ältesten und schönsten buddhistischen Bau-
denkmäler, aus der Zeit von 250 vor Christi Geburt. Er liegt
im Gebiete der Königin (Begum) von Bhopal. Nun ist der
französische Generalconful Place fo naiv gewesen, an die Be-
gum eine recht dreiste Bitte zu stellen: sie möge ihm das Pracht-
volle Portal des Tope schenken; er wolle dasselbe sorgfältig
abbrechen lassen und nach Paris schaffen, wo es dann ebenso
sorgsältig wieder zusammengesetzt werden und neben den ägyp-
tischen Obelisken eine Zierde der kaiserlichen Hauptstadt bilden
solle. Die Bitte wurde in Gnaden abgeschlagen.
— Dr. I. C. Nott, der berühmte Verfasser der „Types
os mankind" und der „Jndigenous Races", welcher als Arzt
in Mobile lebte, hat den Staat Alabama verlassen und ist in sei-
neu alten Jahren nach Neuyork übergesiedelt. In einem Schrei-
ben an die Londoner „Anthropological Review" (October 1 68,
S. 451) sagt er: „Die Lage unserer südlichen Staaten ist
von der Art, daß kein weißer Mann, der dort geboren ist und
sich selber achtet, es dort länger aushalten kann. Ich habe ein
Land verlassen, in welchem ich 30 Jahre gelebt und wo es mir
wohl erging. Aus dem Süden lastet nicht nur strammer Despo-
tismus, sondern obendrein noch die Negerherrschaft. In
Südcarolina ist die weiße Bevölkerung ihrer politischen Rechte
beraubt und die gesetzgebende Versammlung wird nun von etwa
einhundert Negern gebildet, die nicht lesen und schreiben kön-
nen, und von etwa 50 (vom Norden her eingedrungenen) Weißen,
die noch viel schlimmer sind als die Neger. Die gefammten
Mitglieder der Legislatur und sämmtliche Civilbe-
amten des Staates zahlen etwa 150 Pf. St. Steuern
im Jahre, haben aber für ungefähr 400,000 Pf. St.
Steuern jährlich den entrechteten Weißen auferlegt."
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Capitäu Mage's Aufenthalt beim König Ahmadu zu Segu am obern Niger.
ii.
Kriegszug des Sultans Ahmadu gegen die Bambaras von Togu und Sansandig. — Die Zerrüttung im Reiche des Hadsch Omar
und dessen Tod. — Mage's Entlassung und Rückreise.
Die Landeseingeborenen am obern Niger, die Bamba-
ras, sind zum größten Theil ihrem alten Heidenthum treu
geblieben. Das gab dem Hadsch Omar einen guten Vor-
wand, den heiligen Krieg gegen sie zu eröffnen. Er bezwang
sie und sein Sohn Ahmadu schaltete als König in Segu,
während er selber Hamdallahi, die Hauptstadt von Massina,
als seine Residenz betrachtete und von dort aus einen Kriegs-
zug zur Unterwerfung Timbuktus unternahm. _ An der Spitze
der aufständischen Bambaras stand Mari, ein Mann aus
dem alten Königsgeschlechte, und gegen ihn unternahm
Ahmadu zu Ansänge des Jahres 1865 einen Kriegszug,
welchen Capitän Mage mitmachte. Seine Erzählung giebt
uns einen Einblick in echt afrikanische Barbarei, und durch
ihn lernen wir zum ersten Male die Einzelnheiten einer
merkwürdigen Art von Kriegführung kennen.
Globus XIV. Nr. 9. (November 1868.)
In den letzten Tagen des Januars zog Ahmadu alle
verfügbaren Truppen zusammen; er war hoch erfreut, als
sich die beiden Europäer bereit erklärten, am Feldzuge Theil
zu nehmen. Der König vertheilte unter seine Leute 140
Faß einheimischen Pulvers, zusammen etwa 8400 Pfund;
33 Sack europäischen Pulvers, je zu 15bis20 Pfund, 150
Sack eiserner Kugeln, zusammen etwa 150,000 Stück, und
Reservewaffen. Das Alles wurde von Somonos (Bam-
barafifchern aus Segu) auf dem Kopfe fortgeschafft. Die
Habseligkeiten des Königs befanden sich in einem Dutzend
großer Kalebassen. Mage's und Dr. Qnintin's Vorräthe
bestanden in Mais, in Burakie, d. h. zerstampftem Mais
mit Honig, zerquetschten Erdmandeln (Arachiden), einem
Sacke Salz und einigen Wasserschlänchen. Das Heer nahm
einen gewaltigen Raum ein, marschirte langsam und bot einen
33
Haus des Griot Sukutu in Segu.
258 Capitän Mage's Aufenthalt beim Kör
höchst malerischen Anblick dar. Es zog anfangs am Ufer
des Niger hin bis zum Dorfe Bugu, dann nahm es die
Richtung landein und nach zehn Uhr Abends wurden die
Lagerfeuer angezündet.
Der König schickte den Europäern einen halben Hut
Zucker zur Versüßung des Maisbreies, und sie wurden von
nun an nicht bloß von ihm, sondern von Jedermann mit
großer Aufmerksamkeit behandelt. Zwei Weiße Verbündete
und ihre mit guten Gewehren bewaffnete. Laptots waren
Bundesgenossen, deren Beihülfe man nicht gering anschlug.
Am Morgen des 30. Januar spielte die Musik in aller
Frühe und Ahmadu hielt ein Palaver mit den Talibes
(Marabutkriegern). Sie seien verweichlicht und hätten doch
seinem Vater Omar und ihm Alles zu verdanken; jetzt thä-
ten sie gar nichts, während die Sofas (Kriegersklaven) thätig
und tapfer seien. Nun befahl er ihnen, daß jede ihrer Rot-
ten einhundert Mann Kerntruppen zum vordersten Angriffe
stelle. Das geschah auch sofort. Dann forderte der König
Junge Fulbemädchen aus
Entfernung auf deu Feind Feuer geben und keinen Fuß breit
zurückweichen.
Es muß hervorgehoben werden, daß zwischen den Talibes
und den Sosas eine bis zu grimmigem Hasse gesteigerte Ab-
neignng herrscht. Ahmadu entwickelte eine ganz ungemeine
Thätigkeit, vergaß aber dabei Mage's nicht, welchem er einige
Körbe mit Fischen zur Mahlzeit schickte.
Am folgenden Morgen wurde in aller Frühe anfgebro-
chen. Für Ahmadu handelte es sich offenbar um das Höchste.
Wenn er nicht einen entscheidenden Sieg über seinen Gegner
Mari erfocht, dann erhob sich alles Volk gegen ihn, und er
durfte nicht einmal feiner Sofas sicher sein. Siegte Mari,
dann waren alle Talibes rettungslos verloren, weil Segu
sich nicht lange gegen die Bambaras halten konnte. So wie
so befanden sich die Europäer in einer schlimmen Lage; sie
konnten keine Neutralität für sich geltend machen. Mage
nahm nur ungern Partei, unter den obwaltenden Verhält-
nissen blieb ihm jedoch uichts Anderes übrig, als Ahmadu
Ahmadu zu Segu am obern Niger.
Herausgabe der unterschlagenen Kululus, d. h. der in frü-
Heren Kriegen gemachten Beute, denn jeder müsse reine Hände
haben, wenn er im Kampfe falle und vor Allah hiutreten
müsse. Keiner wollte mit der Herausgabe den Anfang machen;
endlich ging man ans Werk. Der eine legte einen Kamm
hin, der andere einen Schlauch oder eine Bockshant, der dritte
ein Messer oder einen Rosenkranz und so fort. Diese für
die europäischen Beobachter merkwürdige Scene dauerte lange;
dann zählte Ahmadu seine Armee und zwar nach der Menge
der Gewehre, die in langen Reihen an die Erde hingelegt
worden waren. Nachher hielt er eine Anrede an die Sofas,
deren Oberhaupt, Arsek, des Königs Magazinverwalter, Koch,
Barbier und gelegentlich auch Scharfrichter war. Der Kö-
nig erinnerte die Sofas an die Wohlthaten, welche sie dem
Hadsch Omar zu verdanken hätten, an die vielen Geschenke,
welche er selber ihnen gebe. Er rechne aus sie und rathe
ihnen, nicht eher ans Plündern zu gehen, bis der Sieg ganz
gewiß und vollendet sei. Man müsse erst ans zehn Schritt
der Umgegend von Segu.
zu unterstützen, und die Folge lehrte, daß er wohl daran ge-
than hat.
Das Heer wurde schlachtbreit aufgestellt. Die vier gro-
ßeu Colonnen der Talibes bildeten einen Halbkreis; zur Lin-
ken standen die Sofas, die Fnlbe auf der Ostseite. Ahmadu
musterte jede einzelne Abtheilung und sprach einige Worte.
Es mochten etwa 4000 Reiter und 6000 Mann Fußvolk
versammelt sein. Der Aufbruch erfolgte, nachdem die ein-
zelnen Heersäulen geordnet worden waren. Um neun Uhr-
Morgens wurde auf einer weiten Ebene im Angesichte des
Dorfes oder der Ortschaft Togn (Toghon) Halt gemacht
und der Angriff vorbereitet. Mage erzählt: Ich befand
mich mit Doctor Ouintin und meinen Laptots bei der Vor-
Hut, nur etwa 600 Schritt vom Feinde entfernt. Mari
hatte sich mit dem größten Theile seiner Mannschaft etwa
50 Schritte von der Stadtmauer aufgestellt; die Linie seines
Fußvolkes war weit aus einander gezogen; etwa 400 Reiter
standen auf der linken i^eite, auf der Mauer und auf den
Capitän Mage's Aufenthalt beim Kö
flachen Dächern der Häufer stand eine zweite Linie von Ver-
teidigern. Ich machte den Vorschlag, durch meine Leute
einige Reiter, welche Phantasie machten, d. h. vor den Reihen
umhersprengten, vom Pferde herabschießen zn lassen, aber
Ahmadu hatte seinen besondern Plan und ließ mich bitten,
nur erst dann zu feuern, wenn er das Zeichen gegeben habe.
Sein Volk war in fünf Colonnen geordnet und viele
Reiter waren abgestiegen. Zur Rechten standen die Talibes
und Irl ab es mit schwarzem Banner, unter General Turuo
Abdul; dann kamen, unter Anführung Fali's, die Sofas mit
rothem Banner. Die mittlere Colonne war von Toncou-
leurs aus Futa Toro gebildet (— alfo Muselmännern vom
Senegal —); sie standen unter Tnrro Alassan; hinter ihnen
marschirten ohne Fahne die Tnburus und zur Linken die
Talibes aus Gauuar, unter dem General Tnrno Abdul Kadi.
Jetzt rückten diese Colonnen im Schritte gegen den Feind
an; die Talibes als Priesterkrieger sangen im Tact: Lahi-
lahi Allah Mohammed rasuld y Allah (nach der Aus-
Frauen a
v
war zu Mari.hingesprengt, der inmitten einiger wenigen
Krieger auf einem Hügel hielt; er wollte seine Sache durch
seine Sklaven ausfechten lassen.
Als ich sah, daß die Colonnen in Togn eindrangen, sprengte
ich zu Ahmadu und verkündete ihm seinen Sieg; dann suchte
ich meine Laptots auf, welche in den vordersten Reihen ge-
kämpft hatten. Ich konnte sie aber nicht aussindig machen.
Die Bambaras vertheidigten sich in Togn sehr tapfer und
wurden dort nur mit Mühe überwältigt.
Nach und nach wurden viele Gefangene eingebracht, dar-
unter auch eine Sängerin, eine Griot, welche schon bei der
Einnahme Segus durch Hadsch Omar diesem in die Hände
gefallen, später aber entflohen war. Dadurch hatte sie wohl
ihr Leben verwirkt. Sie war mit allerlei goldenem Zierrath
behangen, faßte sich, stimmte sofort ein Loblied zu Ahmadu's
Ehren und Ruhm an, und der König ließ ihr Verzeihung
angedeihen. Gleichzeitig wurden zwei Dorfschulzen, welche
man mit den Waffen in der Hand gefangen hatte, sofort
niedergemetzelt. Ich sah, daß vor Ahmadu's Füßen zwei
ig Ahmadu zu Segu am obern Niger. 259
spräche von Segn), d.h. Gott ist groß und Mohammed sein
Prophet. Der Feind wich und wankte nicht. Die Bam-
baras hatten sich auf die Erde niedergekauert und warteten
offenbar darauf, daß Feuer gegeben werde; wenn dann die
Talibes wieder laden mußten, wollten sie über dieselben her-
stürzen. Aber die Colonnen rückten bis auf weniger als
hundert Schritt heran und stürmten dann im Schnelllaufe
gegen die Bambaras ein, welche nun anffprangen. Jetzt
erst gab in jeder Rotte ein vorher von Ahmadu bestimmter
Offizier Befehl zum Feuern in die dichte Masse der Feinde
hinein, die sogleich Kehrt machten uud in Togn Schutz suchen
wollten. Aber an den Thoren staueteu sich die Massen, in
welche die Talibes Hineinschossen und dann mit blanker Waffe
über die Bambaras herfielen, welche haufenweis über ein-
ander stürzten. Die Talibes drangen über Lebendige, Todte
und Sterbende hinweg in die Stadt, verfolgten die Flüchtigen
in den Straßen und stiegen selbst ans die Dächer. Die Rei-
terei der Bambaras hatte gleichfalls die Flucht ergriffen und
Massina.
kopflose Leichen anf dem Banche lagen; man hatte ihnen das
Rückgrat zerhauen. Eine andere Exemtion wird nie aus
meinem Gedächtnisse verschwinden. Man hatte einen jun-
gen Sosa Mari's unter einem Haufen Gefallener hervor-
gezogen und ihm die Hände auf dem Rücken znsammenge-
Kunden. Ein Sofa Ahmadu's stand hinter ihm und säbelte
ihm mit einem Hiebe den Kopf vom Rumpfe. Dann wischte
er, als sei weiter nichts geschehen, die Säbelklinge im Grase
rein!
Ich wurde meiner Leute wegen besorgt, denn in Togu
dauerte das Gefecht noch fort. Man warf Feuer in die
Häuser und die Insassen vertheidigten sich, bis sie, von den
Flammen gedrängt, zu entfliehen suchten. Sobald sie an
der Thür sich blicken ließen, wurden sie niedergeschossen. —
Bon den Laptots Mage's waren die meisten von matten Kn-
geln getroffen worden; einem derselben war ein Stein in
den Nacken geworfen worden und seine Kleider waren ver-
brannt. Aliuu, der beste und tüchtigste unter den Laptots,
hatte einen Schuß in den Kops erhalten und starb. Am
33*
260 Capitän Mage's Aufenthalt beim Kö
nächsten Tage dauerte die Verfolgung fort. Viele Bamba-
ras hatten sich in einen benachbarten Gestrüppwald geflüch-
tet und wurden dort von den Sofas und Talibes aufgesucht;
eine Rotte von 97 Mann kam heraus, legte die Waffen
nieder und schrie um Tnbira, Pardon. Man führte sie
zu Ahmadu, der sie lang und breit ausfragen ließ und dann
dem Henker übergab. Er ließ Mage durch einen Talibe
einladen, der Hinrichtung beizuwohnen, aber der Europäer
hatte an Allem, was er fchon gesehen, genng und übergenug;
doch ließ er sich den Hergang berichten. Die Schlachtopfer
z Ahmadu zu Segu am obern Niger.
wurden mit gebundenen Armen in einen Kreis geführt; einer
nach dem andern mußte vor dem Henker vorbeigehen, der
mit seinem Säbel blind zuhieb.
Ich ging mit Dr. Quintin zu vielen Verwundeten; er
hatte schon am vorigen Abend manche Operationen vorge-
nommen; leider fehlten ihm für manche Fälle die erforder-
lichen Instrumente und er mußte sich beHelsen, so gut es eben
gehen wollte. Ich half ihm nach besten Kräften beim Her-
ausziehen von Kugeln. Ich hatte dabei abermals Gelegen-
heit zu beobachten, wie viel weniger enwickelt oder
Ein Talibe in tri
vielmehr wie viel weniger empfindlich das Nerven-
system der Neger ist als das unserige. Daraus er-
klärt sich, daß sie auch schwerere Operationen so leicht ertra-
gen und ohnehin heilen in jenem Klima die Wunden merk-
würdig leicht.
Togu bot einen Anblick dar, welcher sich nicht beschreiben
läßt. In den Häusern und auf den Straßen lagen die
Leichen in Menge umher. Die Hütten sind mit Stroh
gedeckt; als Feuer auf die Dächer geworfen war, stürzten
dieselben hinab und so kam es, daß Hunderte von Menschen
erischer Rüstung.
verbrannten. Manche hatten sich aus Verzweiflung erhenkt.
An einem Stadtthore lagen mehr als 500 Leichen. Ich
ging in den Gestrüppwald; auch dort lag eine Leiche neben
der andern und die Lust war verpestet. Dort waren, mäßig
gerechnet, mehr als dritthalb Tausend Bambaras gefallen;
wie viele von der Fulbereiterei, welche die Flüchtigen verfolgten,
niedergemacht worden sind, weiß ich nicht. Seitdem Hadsch
Omar seinen heiligen Krieg zu Gottes Ruhm und Ehre be-
gann, war ein solches Gemetzel nicht vorgekommen. Ahma-
du's Verlust betrug kaum 100 Todte und etliche Hundert
Capitün Mage's Aufenthalt beim
Verwundete. Die Bambaras verfuhren thöricht, indem sie
ausrückten; sie hätten den Feind hinter ihren Mauern er-
warten müssen.
Nach einer solchen Niederlage schien Mari's Sache ver-
loreu, aber auch Ahmadu ging unverständig zu Werke. Wäre
er mit seinem siegestrunkenen Heere sofort auf Sansandig
gerückt, so hätte er diesen Mittelpunkt des Aufstandes ohne
Schwertstreich nehmen können und dann war er Herr des
Landes. Aber seine Günstlinge und Generäle konnten die
Zeit der Bentevertheilnng nicht erwarten und beredeten ihn,
nach Segn zurückzugehen. Das geschah in langsamein
Zuge. Jeder schleppte seine Beute; die Krieger waren zu
wandernden Trödlern geworden. Der eine trug Kalebassen
mit allerlei Inhalt, der andere einen Getreidesack, dieser Eisen-
geräthe, jener Waffen und Hacken, einer sogar eine — Haus-
thür. Manche waren mit Baumwolle, Taback, Indigo-
kugeln beladen. Etwa 3500 gefangene Frauen und Kinder
; Ahmadu zu Segu am obern Niger. 261
wurden fortgeschleppt und gelegentlich von den Sofas mit
Peitschenhieben zu rascherm Gang angehalten. Was nicht
mehr weiter konnte, erhielt einen tödtlichen Lanzenstich oder
wurde niedergeschossen und blieb liegen. Dergleichen habe
ich mit eigenen Augen gesehen. Diese Menschen waren ja
nur Kefir, Ungläubige!
In Segu war Alles vor Freude außer sich. Selbst auf
den Dächern sangen uud tauzten die Sklaven und klatschten
in die Hände. Das Abfeuern von Schüssen ins Blinde
hinein wollte gar kein Ende nehmen und die Gewehre wur-
den manchmal dermaßen überladen, daß sie platzten. Mage
wurde überall freudig begrüßt und hatte nur noch einen
Feind, den Minister Mohammed Bobo, welcher auf den König
großen Einfluß übte. Au diesem lag es auch wohl, daß der
Europäer keine Audienz erhalten konnte, obwohl er dringend
um eiue solche gebeten hatte. Die Verkeilung der Beute
nahm alle Zeit in Anspruch uud dauerte lauge. Jeder wollte
Ein Bambara-Soldat Mari's
etwas davon verbergen und namentlich die Gefangenen behal-
ten. Ahmadu wurde zornig, ließ die Vorsteher der Sofas holen
und befahl denselben, zehn, zwanzig oder vierzig derselben zu
stellen, denn so viele würden von ihnen verheimlicht. —
In Folge vieler Anstrengungen erkrankte Dr. Quintin
an einem schleichenden Fieber, auch Mage befand sich nicht
wohl und das beste Labsal, Milch, war nirgends zu bekom-
men. Am 28. Februar 1865, uach einem anhaltenden,
erfrischenden Regen wurde das Kaurifest gefeiert. Ahmadu
trug einen weißen, mit Blau und Gelb gestickten Mantel,
als er große Musterung über die Truppen hielt; sein Bru-
der Agibn prangte in einem safrangelben Mantel, und alle
Würdenträger und Generäle hatten fich in barbarischer Weise
aufgeputzt. Der König hielt wieder eine eindringliche Rede
von wegen Herausgabe der Beute, verkündete, daß demnächst
wieder ein Feldzug unternommen werden solle, und kam auf
allerlei andere Dinge. Es sei schmachvoll, daß man neu-
geborenen Kindern Schnitte ins Gesicht mache, denn das sei
wird zur Hinrichtung geführt.
ein heidnischer Brauch; schändlich sei es auch, daß die Weiber
Lumpen auf den Kopf legten und das Haar darüber, damit
es recht dick aufgebauscht aussähe. Verheirathete Frauen
sollten sich fernerhin nicht mehr auf dem Markte und auf den
Straßen umhertreiben, und die Talibes fortan zum Beten
hübsch ordentlich in die Moschee kommen und die Sache fer-
ner nicht mehr im Hanse abmachen. —
Ich war nun, sagt Mage, seit länger als einem Jahre
in Segu und der König machte immer noch keine Anstalt,
uns zu entlassen. Wir sollten bei ihm bleiben und von ihm
überwacht werden, damit wir keinen klaren Einblick in die
für ihn und Hadfch Omar bedenkliche Lage der Dinge erhiel-
ten; ein solcher mußte uns jedoch werden, sobald wir ent-
weder nigerabwärts oder gen Westen nach dem Senegal gin-
gen. Deshalb verzögerte er auch die Rückkunft der Eilboten,
welche ich uach dem Senegal geschickt hatte. Ahmadu wech-
feite oft seine Ansichten und Vorsätze; man sagte allgemein,
daß er sich ganz und gar von Bobo leiten lasse.
Ahmadu's Armee setzt über den Niger.
Capitän Mage's Aufenthalt beim Köi
Trotz der Metzelei in und bei Togu hatten die Bamba-
ras sich nicht unterworfen; deshalb sollte wieder ein Kriegs-
zug gegen die südwestlichen Provinzen unternommen werden.
Ich schloß mich an, um diese Gegend kennen zu lernen. Am
25. März wurde die Tabala (Tamtam) in der Moschee ge-
schlagen, die verschiedenen Truppentheile wurden zusammen-
gezogen und lagerten bei Segn Koro, und Ahmadu hielt
Anreden. Aber er gerieth in allerlei Irrungen mit den Tali-
lies, welche sich zurückgesetzt glaubten, und deshalb konnte das
Heer sich nicht vor dem 3. April in Bewegung setzen. Es
zog am Niger aufwärts, welcher ihm zur Rechten lag. Die
Gegend war weit und breit verwüstet, die Dörfer lagen in
Ruinen, die Felder waren mit Gestrüpp bewachsen, Perl-
Hühner, Rebhühner, Hasen und Antilopen in Menge Vorhan-
den. Am 7. April wurde die Ortschaft Di na angegriffen
und dort wiederholten sich genau die Austritte wie in Togu.
Nach der Einnahme und dem Gemetzel zog Ahmadu zwei
1 Ahmadu zu Segu am obern Niger. 263
Tage laug am linken Nigerufer aufwärts, ließ alle Dörfer
ausplündern und niederbrennen, ging bei Manabugu, wo
sich eine Furth befindet, über den Strom und schlug die Rich-
tuug gegen Aamina ein. Denselben Weg hatte 67 Jahre
früher Mungo Park genommen, als er von Segu zurück-
kam und sich von Dorf zu Dorf durchbettelte, um die eng-
lifchen Handelscomptoire am Gambia zu erreichen. Ich zog
nun auf dieser Straße unter dem Schutze einer Horde bar-
barischer Eroberer, die mich als einen Verbündeten und Gast
ihres Herrschers betrachteten. Mir war aber die günstige
Gelegenheit geboten, auf einer Strecke von etwa 60 Lienes
die Ufer und den Lauf des Niger topographisch aufzunehmen
und eine genaue Karte zu entwerfen.
In Mmina belegte Ahmadu die Einwohner mit einer
schweren Kriegssteuer; dann gingen wir in Eilmärschen nach
Segu zurück, wo ich fieberkrank und mit unerträglichem
Kopfschmerz ankam; meine Kräfte waren völlig erschöpft.
Das Gemeindehaus !
Glücklicherweise fehlte es jetzt nicht an Milch und so er-
holte ich mich. Nnn kam das Ende des Mai heran und die
Regenzeit war nahe. Ich wollte wieder einen Eilboten nach
St. Louis absenden, aber Ahmadu war nur mit den Raub-
zügen beschäftigt, die er nach Osten hin bis in die Nähe
von Sansandig unternehmen ließ; denn diese Razzias
verschafften ihm Beute. Offenbar waren die Verhältnisse
für ihn günstig und die rechte Zeit da, um einen großen
Schlag auszuführen, aber in Segu sind die Häuptlinge ge-
wöhnlich anderer Ansicht als der König, und die Soldaten
ihrerseits mißvergnügt. Jetzt wollten sie nicht ausziehen,
denn sie bestellten die Felder mit Getreide. Aber am 6.
Juni hielt Ahmadu ein langes Palaver mit seinen Wür-
denträgern und Generälen, welche ihm nun Bedingungen
stellten. Er solle von jetzt an den Talibes freien Zutritt
bei sich gewähren und nicht ferner dulden, daß ein Talibe
von den Sofas verhaftet werde. Er solle die Verwundeten
pflegen und ernähren lassen und für die Wittwen und Kin-
r Somonos in Segu.
der der im Kriege gefallenen Talibes sorgen. Das versprach
er denn auch.
Am 21. Juni wurde die Tabala geschlagen, die Griots
liefen in der Stadt umher und riefen die Soldaten zusam-
men, denn der Zug gegen Sansandig solle nun beginnen.
Und das geschah. Ich ging nach dem Dorfe Bafu-Bugu,
das einige Wegstunden oberhalb der Stadt liegt; dort war
der König, um die Passage über den Strom zu überwachen,
der dort eine Breite von etwa 2000 Schritt hat. Nach drei
Tagen war das Heer auf dem andern Ufer; Ahmadu selbst
kam erst am 7. Juli über den Niger. Mehrere Dörfer,
welche bisher zu den Bambaras von Sansandig gehalten,
unterwarfen sich und stellten Leute für Ahmadu's Heer; am
9. Juli lag die eben genannte Stadt vor uns, ein längliches
Viereck von 1000 Meter auf 500; am Strome, von wel-
chem sie nur im Norden und im Süden ein wenig zurück-
tritt. Der nördliche Theil, die Spitze der Somonos, so
genannt nach den dort wohnenden Fischern, hat während der
264
Capitän Mage's Aufenthalt beim König Ahmadu zu Segu am obern Niger.
Belagerung eine wichtige Rolle gespielt. Die Stadtmauer
hatte eine Böschung von etwa 16 Fuß Höhe und mehrere
Bastionen.
Der König befahl den Sturm und der Angriff war so
heftig, wie die Verteidigung hartnäckig. Man schlug sich
vom Abend an, die ganze Nacht hindurch und den folgenden
Tag über ohne Unterbrechung, unten vor der Mauer, in den
Breschen und im Dorfe der Somonos, wo Feuer von jedem
Dach herabgeworfen wurde. Die Bambaras machten jeden
Fuß breit streitig und verteidigten jedes Haus. Am 10.
Juli Abends war indeß beinahe die ganze Tata, das Dorf,
der Somonos genommen worden, eben so ein Verbindnngs-
gang, der zur eigentliche Stadt führte. Von dort flüchte-
ten einige Leute in Piroguen; eine derselben wurde aufge-
bracht; die vier in derselben befindlichen Männer wurden so-
fort niedergehauen, die zwölf Frauen zu Sklavinnen gemacht.
Am 11. Juli Morgens wollten die Generäle den An-
griff erneuern, aber Ahmadu wollte nicht, weil die Soldaten
Ein Talibeknabe geht in die Schule der Marabuts. -
sich ausruhen müßten. Er beging überhaupt einen Fehler
über den andern, ließ in seiner Unentschlossenheit die besten
Gelegenheiten unbenutzt, beging aber abscheuliche Grausam-
keiten, indem er alle Gefangenen, gleichviel ob Fnlbe, Mauren
oder Bambaras, ohne Weiteres niedersäbeln ließ. Jnzwi-
schen entstand Hungersnoth; die Sofas genossen, trotz des
mohammedanischen Verbotes, das Fleisch gefallener Pferde,
ja sie verzehrten geröstete Ochsenhäute. Die Talibes hatten
weiter nichts als rohe Hirse, welche Magenschmerzen ver-
ursachte. Auch in Sansandig herrschte Hungersnoth; trotz-
dem sah ich, wie ein alter Bambara auf die Mauer trat und
den Talibes zurief: Kommt nur heran, Männer von Fnta,
wir haben Ueberflnß an Allem ; da, hier habt Ihr Gnrn-
nüffe! Und wirklich warf er einige Hände voll herab.
Das währte fo zwei Monate lang, und sowohl in der
Stadt wie in Ahmadu's Lager gestalteten sich die Sachen
immer schlechter. Mangel an Mannszucht, Unentschlossen-
heit, Plünderungszüge, Mordthaten, Verrath und Hungers-
noth waren an der Tagesordnung. Eine Menge von Lei-
chen trieb im Flusse, andere lagen da nnd dort umher, die
Capitän Mage's Aufenthalt beim Km
Luft war verpestet. Und dabei dachten Ahmadu's Leute an
nichts als an die Beute, welche sie aus Sausaudig zu holen
gedachten; Allah sollte die wahren Gläubigen belohnen.
Plötzlich, am 11. September, nahmen die Dinge eine
ganz unerwartete Wendung. Die Belagerten eröffneten ein
lebhaftes Feueru. Einige Zeit nachher sprengte ein Reiter
in das Lager Ahmadu's und meldete, daß zehntausend
Bambaras über denBakhoi' und den Niger gegangen seien,
um Sausandig zu entsetzen. Und in der That, sie kamen
und zögerten nicht mit dem Angriffe; zunächst gegen die Ta-
libes, welche sich tapfer wehrten, während die Sofas von
Segn, die den rechten Flügel bildeten, wichen, bis ins Lager
verfolgt wurden und viele Leute verloren. Auch die Jrlabes
und Ganna mußten den Widerstand aufgeben; die Toucou-
leurs aus Toro, welche Ahmadu's Leibwache bildeten, wurden
gleichfalls in das Gefecht verwickelt, der König war fast iso-
lirt, und einen Augenblick schien es mir, als sei für uns Alles
verloren. Ich war einen Augenblick von Bambarareiteru fast
umzingelt und gelaugte unter einem Kugelregen nur mit
Mühe in Sicherheit. Ganz unerwartet ließen die Bambaras
ihre Vortheile unbenutzt und zogen in die Stadt ein! Es
erschien mir als ein wahres Wunder, daß wir uns halten
konnten, aber in diesem ganzen Kriege zeigten beide Theile
bei gleicher Tapferkeit auch denselben Unverstand; hüben wie
drüben beging man die größten Fehler. Fünf Tage hinter-
einander lieferten sie sich Gefechte.
Am 17. September ereignete sich Unglaubliches. Ich
fühlte mich sehr unwohl; seit nun 70 Tagen hatte ich keine
andere Nahrung genossen als Reis mit Huhn, weiter nichts.
Ich lag, wie seit zwei Jahren stets, völlig angekleidet aus
einer feuchten Ochsenhaut, die mir als Bett diente, und hatte
mir das Gesicht verhüllt, um den entsetzlichen Leichengeruch
einigermaßen abzuhalten. Die bisher von der Sonne aus-
getrockneten Cadaver waren in Folge der Regengüsse in
Fänlniß übergegangen. Als ich in einem fieberhaften Halb-
schlafe lag und an einer Gurunnß kanete, vernahm ich Plötz-
lich den Ruf: Das Heer bricht auf; es zieht nach Segn!
Ich fprang auf und ging zu Samba Ndiaye, der von
nichts wußte. Wir erfuhren indeß, daß Ahmadu die Ver-
mundeten und das Pulver habe einschiffen lassen und viele
Soldaten bereits abgezogen seien. So war denn für mich
kein Augenblick zu verlieren. Ahmadu's ganzes Heer war
die Beute eines panischen Schreckens und eine Compagnie
Bambarareiter hätte ihm den Garaus machen können. In
solcher Weise ging die Belagerung von Sansandig zu Ende.
*
* *
Als Mage nach Segn zurückkam, litt er schwer au einem
Sumpffieber und schwebte längere Zeit zwischen Leben und
Tod. Dr. Quintin widmete ihm sorgfältige Pflege und die
Genesung war bereits im Fortschreiten, als Kuriere aus
St. Louis kamen und auch aus Europa frohe Kunde mit-
brachten. Der neue Gouverneur, Laprade, hatte bündige
Instructionen geschickt und dazu noch Geschenke für Ahmadu.
Dieser mußte sich nun endlich zum Abschluß eines Vertra-
ges verstehen, dessen wesentlicher Inhalt folgender ist: Die
Leute des seuegambischen Gouverneurs können sich frei nnd
ungehindert in allen Landern bewegen, wo Ahmadu gebietet
oder wo er künftig gebieten wird, und er soll ihnen Schutz
augedeihen lassen, gleichviel, ob sie als Kaufleute, Missionäre
oder nur aus Wißbegierde kommen. Sobald sie die Abgabe
von einem Zehntel, welcher alle Karawanen unterworfen
sind, gezahlt haben, brauchen sie während ihres Aufenthaltes
weiter nichts mehr zu entrichten. — Ahmadu verspricht, alle
Straßen, welche nach den französischen Handelscomptoiren
am Senegal führen, offen zu halten; der Gouverneur ver-
Globus XIV. Nr. 9. (November 1868.)
\ Ahmadu zu Segu am obern Niger. 265
spricht, daß die Straße nach dem seuegambischen Fnta
(= Toro) offen sein soll. — Die Leute, welche Ahmadu nach
St. Louis schickt, dürfen dort Alles kaufen, dessen sie bedür-
sen und haben auf besten Schutz zu rechnen. Weiter wird
festgesetzt, an welchen Orten die seuegambischen Kaufleute
ihren Eingangszoll zu entrichten haben.
Dieser Äertrag wurde am 26. Februar 1867 abgeschlos-
seu, aber Ahmadu unterzeichnete immer uoch nicht. So ver-
gingen noch Wochen und Monate! Inzwischen erhielt Mage
endlich eiueu Einblick in den wahren Stand der Dinge. Einer
seiner Laptots, Dethi« Ndiaye, hatte sich in Segu auf Zeit
eine Frau genommen uud diese Ehe war vou eiuem Marabut
eingesegnet worden, der für seine Mühwaltung 100 Kann
muschelu bekam. Ahmadu hatte deu Fraueu verboten, sein
Gebiet zu verlassen; Dethis's Frau hatte einen Knaben ge-
boren, welcher dermaleinst Talibe werden sollte. In dem
Hause seiner Frau wohnte eine andere, die aus Massiua mit
einer Gemahlin des Hadsch Omar nach Sausaudig gekom-
meu und dann nach Segn gebracht worden war. Dort hatte
man ihr dringend eingeschärft, über die Vorgänge in Mas-
sina und Hamdallahi reinen Mund zu halten. Nach und
nach ließ sie aber doch das eilte oder audere Wort verlauten
und so erfuhr man Folgendes.
Der Hadsch Omar hatte unter Alpha Umar's Befehl
ein starkes Heer gegen Tombuctu geschickt. Dasselbe fand
diese Stadt ohne Vertheidiger, nahm sie ein, schleppte große
Beute fort und zog ab. Unterwegs erhob sich aber alles
Volk weit und breit auf den Rnf Balobo's und anderer auf-
ständischen Häuptlinge in Massina; auch Sidy war thätig,
der Sohn des Scheich Achmed Bakays, desselben, welcher
einst Heinrich Barth's Beschützer gewesen war. Diese grif-
fen an; im ersten Treffen blieb Alpha Umar Sieger; auch
im zweiten schlug er seine Feinde zurück, verlor aber seine
Beute und seine Kanonen. Er mußte sich zurückziehen und
machte erst Halt, als er sich anderthalb Tagemärsche von
Hamdallahi befand. Dort verlor er eine Schlacht und sein
Leben und nur ein Theil seiner Truppen konnte die Stadt
erreichen. Das war ein verhängnißvollcr Schlag für den
Hadsch. Dieser war zu schwach, um nach solchen Verlusten
ins Feld zu rücken uud blieb hinter den Mauern vou Ham-
dallahi. Er war eingeschlossen von den gegen ihn erbitterten
Massina-Fnlbe, deren König er hatte hinrichten lassen, und
bald stellte sich Huugersuoth ein. Seine Talibes aßen das
Fleisch gefallener Pferde und angeblich auch vou Meuschen-
letchen. Eines schönen Tages riß eine große Anzahl von
Talibes aus, und nun stellten ihm die Häuptlinge vor, daß
die Stadt nicht länger zu behaupten sei; wolle er sie trotz-
dem in derselben festhalten, so würden sie ihn vor Allah für
alles folgende Unheil verantwortlich macheu.
Der Hadsch begriff seine verzweifelte Lage und beschloß
die Flucht für den Abend desselben Tages. Er ließ die Erd-
mauer unterhöhlen, um Nachts durch das Loch zu eutkom-
men. Die Massinasoldaten hatten auf die eine oder andere
Weise Wind von Allem bekommen, und als das Loch in der
Mauer durchgeschlagen wurde, flammten plötzlich Feuer auf
und die Flüchtigen wurden verfolgt. Die Frau, welche diese
Eiuzeluheiteu berichtete, war am Morgen nach jenen Bor-
gangen nebst vielen anderen von Balobo und Sidy gefangen
genommen worden. Sie sagte, der Hadsch werde wohl sein
Leben gerettet haben, doch wußte sie dafür keinen Grund an-
zuführen und wollte vielleicht nicht mit der Sprache heraus.
Die Flucht des Hadsch Omar aus Hamdallahi füllt schon
in den April 1864; int Mai desselben Jahres hatte man
den Europäern in Segu gesagt, der Hadsch habe soeben einen
Eroberungszug unternommen! Die Wahrheit ist, daß er
sechs bis sieben Monate belagert worden war und dann ent-
34
266 Die neuesten Ansichten über die Höhe der
floh. Balobo und Sidy geriethen wegen der Beute in Zwist
und zogeu nach wenigen Tagen von Hamdallahi fort. Vom
Hadsch und denjenigen seiner Söhne, welche sich bei ihm be-
fanden, hat man seitdem nichts mehr gehört. Die Bamba-
ras müssen Kunde von seinem Tode gehabt haben, denn einer
seiner Häuptlinge, Snke, ließ einen Popanz umhertragen, den
er als „Arm des Propheten" bezeichnete, und das war viel-
leicht ein Arm des Hadsch. Einige Zeit nach der Belage-
rung von Sansandig kam ein Mann, der in Massina als
Soldat unter Omar gedient hatte, nach Segn. Als man
ihn nach dem Hadsch und dessen Söhnen fragte, entgegnete er,
sie seien tobt, und auch Alpha Umar, Alpha Usmen und an-
dere Generäle seien nicht mehr am Leben. Als Ahmadu hörte,
was der Mann gesagt hatte, ließ er ihm sofort den Kopf
abhauen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Hadsch 1864
oder spätestens 1865 seine blutige Lausbahn beschlossen hat.
rdatmosphäre und über den Himmelsäther.
Näheres über den Ausgang dieses fanatischen Mannes,
welcher zehn Jahre lang die Länder am obern Senegal und
obern Niger in so großer Bewegung erhielt, wissen wir auch
heute noch nicht.
Mage erwirkte endlich eine Abschiedsaudienz, bei weicher-
es noch viele Weiterungen gab. Erst am 7. Mai 1867
konnte er Segu Sikoro verlassen und nahm ans der Rück-
reise so ziemlich denselben Weg, wie auf der Hinreise. Am
28. Mai war er in dem französischen Grenzposten Medine
und fuhr von dort den Senegal abwärts bis St. Louis. Mit
Recht hat die Pariser geographische Gesellschaft ihm eine gol-
dene Denkmünze zuerkannt. Er war seit Mungo Park der
erste Europäer, welcher jene Regionen betrat, und wir haben
durch ihn Knude über die merkwürdigen Zustände in jenen
Theilen des innern Sudan erhalten, über welche wir ohne
ihn nichts wissen würden.
Die neueste» Ansichten über die Höhe der Erdatmosphäre und über
den Himmelsäther.
Von Dr. Heinrich Birnbaum.
I.
Das große Gebiet der Physik des Luftkreises hat immer
noch viele Probleme, welche unerforscht geblieben sind, obgleich
man es an hypothetischen Versuchen wahrlich nicht hat fehlen
lassen. So ist z. B. die Frage, ob unsere Atmosphäre
eine obere Grenze habe oder nicht, noch bis auf deu
heutigen Tag ohne befriedigende Beantwortung geblieben.
Das könnte im Allgemeinen sehr befremden, da alle betreffen-
den Lehrbücher die Sache wie eine längst abgemachte behan-
deln, als ob dabei an Zweifel gar nicht mehr zu denken sei.
Ueberall heißt es, der Luftkreis unserer Erde besitzt eine obere
Grenze in der Höhe von zehn geographischen Meilen
und darüber hinaus herrscht der Himmelsäther durch den
ganzen Weltenraum hindurch. Da nun seit Jahrhunderten
die meisten Männer von Fach sich für dieselbe Ansicht er-
klärten und kaum eine namhafte Einrede' dagegen erhoben
worden ist, so hielt man eine weitere Untersuchung für un-
nöthig. Thut man aber einen unbefangenen Blick in die
Geschichte der Physik, so zeigt sich sogleich, daß mau sich früher
sehr lauge vergebens abgemühet hat, den Gegenstand gründlich
zum Abschlüsse zu bringen, und daß man sich schließlich nnr
in so weit geeinigt hat, es reiche für astronomische Zwecke
vollkommen aus, wenn man der Erdatmosphäre eine Höhe
von zehn geographischen Meilen beilege. Das Ganze be-
rnhete also nur in einem friedlichen Übereinkommen, und
wenn lange Zeit dagegen keine Einrede geschehen ist, so liegt
der Grund davon wohl hauptsächlich nur darin, daß keine
Entdeckungen vorgekommen sind, welche eine Störung des
guten Glaubens nothwendig gemacht haben. Diese schöne
Ruhe scheint aber jetzt ihr Ende erreicht zu haben. Man
hat in der Mechanik des Himmels Wahrnehmungen gemacht,
welche eine obere Grenze unseres Lustkreises für
unmöglich erscheinen lassen, oder dieselbe wenig-
stens viele hundert Mal weiter hinaufrücken, als
man es seit langer Zeit gewohnt war anzunehmen. Das
soll nun der Gegenstand unserer Betrachtung sein.
Schon vor zwei Jahrhunderten, als Halley die Bahn
des nach ihm benannten Kometen berechnet hatte, machte er-
gänz entschieden darauf aufmerksam, daß die Umlansszeit dieses
Wandersterns nach und nach kleiner geworden sei, welches
sich nur durch die Annahme einer widerstehenden
Himmelslust erklären lasse. Eine ähnliche Störung
beobachtete man 75 Jahre später bei der nächsten Wieder-
kehr desselben Kometen, und Claireant hat schon Hand
angelegt, nnr diese Pertubationen mit Hülse der Analysis
regelrecht festzustellen. Es ergab sich aber, daß diese Regeln
unzuverlässig waren, und man meinte den Grund in der
Vernachlässigung des von Halley angedeuteten Widerstandes
annehmen zu dürfen.
Was hatte nnnHalley mit der widerstehendenHim-
melslnft eigentlich andeuten wollen? — Nichts Anderes
als unsere irdischeAtmosphärenlnft, aber in einem sehr
verdünnten Zustande, so daß ihr Widerstand bei der Bewe-
gnng der Planeten für Null zu achten sei. Er stimmte in
dieser Hinsicht ganz genau mit fernem Freunde, dem genialen
Newton, überein, und konnte sich ebenso wenig wie dieser
zu der Annahme des Cartesianischen Himmelsäthers
verstehen, dieses imponderabilen Etwas, von dem man nichts
wnßte, als was ihm angedichtet worden war. Euler, der
eifrige Verfechter und eigentliche Begründer nnserer heutigen
Vibrationstheorie des Lichtes, thut daher diesen großen Män-
nern Unrecht, wenn er behauptet, daß sie au einen absolut
luftleeren Weltenraum gedacht und dabei doch von einer Alles
durchströmenden Lichtmaterie geredet hätten. „ Ein trauriges
Beispiel," ruft er aus (Letti-es a< une Princesse d'Alle-
magne. L. 18), „menschlicher Weisheit, die, indem sie einer
gewissen Schwierigkeit ausweichen will, in eine noch viel
größere Ungereimtheit verfällt!" — In diesem Vorwurfe liegt
eiue gedankenlose Härte nnd er könnte gar leicht mit besserer
-Begründung ans Enler selbst angewandt werden. Doch
wir kennen seine auflodernde Sprache schon, welche im
Parteikampfe nicht immer die einfache Wahrheit zur Richt-
schnür nimmt. Er, der genaueste Kenner und begeisterte
Die neuesten Ansichten über die Höhe der Erdatmosphäre ltnb über den Himmelsäther.
267
Verehrer der Newton'schen Principien der allgemei-
uen Gravitation seiner Zeit, mußte es ganz genau wissen,
daß der große Meister deu ganzen Weltenraum nicht leer,
sondern mit Lnft erfüllt ansah, natürlich aber mit Lnft in
einer solchen Verdünnung, daß ihr Einfluß auf die Mechanik
der Himmelskörper für Null zu achten war. Und gleich in
dem nächstfolgenden Briefe sagt Euler selbst: „DerAether
ist also auch eine flüssige Materie wie die Luft, aber uueud-
lich viel feiner und dünner; weil wir wissen, daß die himm-
lischen Körper sich darin bewegen, ohne einen Widerstand zu
finden/' Lassen wir hier den Namen Aether weg und setzen
dafür Himmelslust, so haben wir fast dieselben Worte,
welcher sich Newton in seinen unsterblichen Principien der
mathematischen Naturphilosophie bedient.
Seit Enler's Sieg der Vibratioustheorie des Lichtes
über die Newton'sche Emanationstheorie wurde der Glanbe
an die Existenz des Aethers im Weltenraume immer mehr und
mehr verbreitet. Wer nicht zum Sonderling gestempelt sein
wollte, durfte darau uicht zweifeln. Dies galt besonders in
den ersten Decennien unseres Jahrhunderts. Um so über-
raschender mußte es aber sein, als 1826 der berühmte Astro-
nom Encke mit der Behauptung austrat, daß der Aether
wohl kein so wesenloses imponderabeles Etwas sein
könne, da derselbe seinem Kometen einen merklichen Wider-
stand entgegengesetzt habe. Die durchschnittliche Umlaufszeit
dieses Himmelskörpers von 1207 Tagen zeige bei jeder Wie-
derkehr eine Verkürzung von beinahe sechs Stunden. Das
war nun uicht gerade der Todesstoß für den Glauben an
den Aether, aber doch der Anfang zu einer unheilbaren Krank-
heit. Mau konnte es mit dem Verstände nicht in Einklang
bringen, daß es eine Materie geben sollte, welcher
die Eigenschaft der allgemeinen Schwere fehle. Zu
dieser ersten Veranlassung des Zweifels gesellten sich aber
bald noch mehrere andere.
Als die Astronomen ihre Aufmerksamkeit ans die P eriodi-
scheWiederkehrderSternschnnppenschwärme lenkten,
welche zuerst von Alexander v. Humboldt angeregt wor-
den war, stellte sich sogleich heraus, daß diese Himmelskörper
in viel größerer Entfernung an der Erde vorbeistreiften, als
der Atmosphäre derselben eine Höhe beigelegt wurde; einige
hatten in 260, andere sogar in 293 geographischen Meilen
ihre Lichterschcinnng blicken lassen, welche !nicht anders als
aus der Reibung in unserer Atmosphäre zu erklären war.
Ebenso hatte mau die Höhe der Strahlen des Polarlichtes
uahe au 200 Meilen groß gefunden, und hielt sich über-
zeugt, daß dies Phänomen nur unserer Erde und ihrem Luft-
kreise angehören könne. Man war also auch hierdurch ge-
zwungen, die bescheidene Höhe von zehn Meilen für unsere
Atmosphäre nicht bloß in Zweifel zu zieheu, sondern sie ge-
radezn aufzugeben.
Es wäre nun schon damals sehr natürlich gewesen, den
hypothetischen Aether ganz über Bord zu werfen, um dafür
die wirklich vorhandene atmosphärische Luft an den Platz zu
setzen, aber es ist nicht so leicht, Gewohnheitsübel abzulegen,
selbst wenn man das Unpassende und Schädliche noch so klar
zum Bewußtsein gebracht hat. Man brauchte sich eigentlich
nur dazn zu verstehen, zu den alten Ansichten von Halley
und Newton wieder zurückkehren zu wollen, 2 as vertrug
sich nun freilich mit dem Fortschritte der neuesten Wissenschaft
nicht gut; man hätte darin einen Rückschritt erkennen können.
Doch ehe wir den soeben betretenen Weg noch weiter ver-
folgen, möchte es zum bessern Berständniß des Nachfolgenden
wohl nöthig werden, mit einigen historischen Worten aus die
B e st r e b u u g e u und Methoden hinzuweisen, _ die H ö h e
unserer Atmosphäre zu bestimmen. Auch hieraus wird
sich sogleich ergeben, wie wenig Grund vorhanden war, die
Sache der Zehn-Meilen-Höhe wissenschaftlich so fest begrün-
det ansehen zu können, daß alle Zweifel gehoben worden
wären.
Das älteste Verfahren der Höhenmessung unserer Atmo-
sphäre rührt von dem arabischen Astronomen Alhazen her,
welcher im elften Jahrhunderte lebte. Er meinte, die Atmo-
sphäre habe ihre obere Grenze da, wo sie die letzte Spur des
reslectirteu Sonnenlichtes zur Wahrnehmung bringen könne.
Wir wollen ihm diese Annahme zugestehen, dürfen aber nicht
unterlassen dabei zu bemerken, daß damit nicht eigent-
lich die obere Grenze des Luftkreises schon selbst
bestimmt wird, souderu nur die für den Reflex des Lichtes
in der Luft. Wenn bei heiterm Wetter am Schlüsse eines
Tages die offene Sonne eben unter deu Horizont getreten
ist, fo zeigt sich auf der direct gegenüberliegenden Seite nn-
ten am Himmel ein dunkles Segment. Es ist dies das
Schattenbild der Erde, welches nicht gerade scharf, aber doch
wahrnehmbar markirt im Luftkreise auftritt. Der gemeine
Mann pflegt damit sehr richtig den Anfang des Abcnddnnkels
zu bezeichnen; er weiß auch, wie dieser Schatten mit dem Sin-
ken der Sonne immer höher uud höher emporsteigt und fort-
während dunkler wird, besonders in seinen unteren Partien;
wie derselbe über den Scheitelpunkt des Himmels hinüber geht
und sich ans der Abendseite hinabsenkt, bis aus der Westseite
nur noch ein schmaler Dämmerstreifen sichtbar bleibt, als
die letzte Scheidegrenze vor eintretender Nacht. Auf ganz
ähnliche Weise zeigt sich auch des Morgens am Schlüsse der
Nacht ein gleicher Dämmerstreifen als erstes Zeichen für den
Beginn der Morgendämmerung. Mit Hülfe der Meßwerk-
zenge hatte nun Alhazen gesunden, daß dieser charakteri-
stische horizontale Dämmerstreifen jedesmal zum Vorschein
komme, wenn die Sonne 18° unter dem Horizonte stand;
er hielt diesen Lichtstreifen für den Reflex der Sonnenstrah-
len von der obersten Grenzfläche unserer Atmosphäre und
sann nun auf Mittel zur Berechnung der zugehörigen Höhe.
Es stellte sich denn bald heraus, daß es dabei nur auf die
Bestimmung eines rechtwinkligen Dreiecks ankomme, wobei
die eine Lothseite der Erdhalbmesser, die andere in die Rich-
tnng des Horizonts falle und die dritte Seite sich zu der
ersten: unter einem Winkel von 9° (als Hälfte von 18°)
neige. Anf dem Wege der Constrnction, welcher damals
noch am liebsten betreten wurde, fand er die dritte Dreiecks-
seite etwas mehr als zwölf Meilen größer als den Radius
der Erde, folglich war dies zugleich die Größe der Atmosphä-
Rechnend kam er ziemlich genau zu demselben Re-
snltate. Eigentlich fand er die gesuchte Höhe ungefähr */50
des Erdhalbmessers, das wäre 17 geographische Meilen ge-
wesen, unter Voraussetzuug, daß der Erdhalbmesser 860 sol-
cher Meilen betrage, aber die Araber hielten die Erde da-
mals noch für viel kleiner. Kepler, der diese Bestimmung
auf ganz gleiche Weise durchführte, dabei nur noch die Ver-
bessernng anbrachte, daß er die Strahlenbrechung nicht ganz
unberücksichtigt ließ, fand so die Höhe des Luftkreifes zu aller-
erst zehn Meilen groß. Halley und de la Hire, welche
sich schon anf genauere Gesetze der Strahlenbrechung und
anf die Picard'sche Messung der Erde beziehen konnten,
berechneten die Höhe der Atmosphäre 92/s geographische Mei-
len, wobei indeß immer noch die Alhazen'sche Methode zu
Gruude gelegt wurde. Laplace, Arago und mehrere An-
dere, welche dasselbe Verfahren mit immer mehr verbesserten
Instrumenten und Rechenmitteln in Anwendung brachten,
gelangten ziemlich zu denselben Resultaten, so daß dieselben
sämmtlich zwischen 8 und 10 geographischen Meilen ihre
Grenze fanden. Wenn man daher stets bei der Mittelzahl
zehn geographische Meilen stehengeblieben ist, so glaubte
man dadurch von der Wahrheit nicht eben viel abzuweichen,
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Julius Braun: Die Secten im Islam.
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und das um so weniger, da die Annahme von 18^ für die
Dämmerungstiefe der Sonne unter dem Horizonte viel mehr
bloß geschätzt als scharf gemessen zn betrachten war. Ob-
gleich nun überhaupt diese Bestimmung gar wenig Anspruch
auf Schärfe und Genauigkeit machen konnte, fo hat man
doch sehr zähe und gläubig daran festgehalten. Die Wege
des Vertrauens sind auch in der Wissenschaft zuweilen der
Mode unterworfen.
In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts schlug
Mairan (in seinem Trains de l'aurore boreale) einen
ganz andern Weg zur Bestimmung der Atmosphärenhöhe ein.
Er bezog sich auf das Nordlicht, wofür er durch wieder-
holte Messungen eine Höhe von 100 bis 150 geographischen
Meilen herausrechnete und nun behauptete, daß der Luftkreis
wenigstens auch diefe Höhe haben müsse. Man legte indeß
auf dieses sehr abweichende Resultat wenig Gewicht, weil man
das andere lieber hatte, und es noch sehr zweifelhaft sei,
ob das Phänomen des Nordlichtes der Erde angehöre, ob
zu seiner Lichtentwickelung die atmosphärische Luft uöthig sei.
Diese Zweifel sind nun längst gehoben, aber die Neigung
zum Zehn-Meilen-Glauben ist doch unverändert dieselbe
geblieben.
Dann war man längere Zeit damit beschäftigt, ein festes
Gesetz zwischen der Zunahme der Höhe der Luft und ihrer
Dichtigkeitsabnahme mit Hülfe des Barometers und Ther-
mometers zu Stande zn bringen, und dies hauptsächlich zu
dem Zwecke, Gebirgshöheu damit genau ausmessen zu
können. Dabei zeichneten sich fchon Halley, Mariotte,
Bernoulli, Bouguer und Andere aus, aber den höchsten
Glanzpunkt erhielt dies Streben erst, als die großen Meister
Laplace, Gauß, Wessel, Oltmanns u. s. w. Haud an-
legten; sie brachten Formeln heraus, welche in Hinsicht der
Genauigkeitsschärfe kaum einen Wunsch unbefriedigt ließen.
Das für uns besonders merkwürdige Resultat der Unter-
suchung war indessen, daß es gar keine wissenschaftlich
begründete Annahme fei, wenn man dem Luftkreise
unserer Erde eine obere Grenze beilegen wolle.
Man hielt aber dennoch ganz unverändert den Zehn-Meilen-
Glauben fest. Laplace, Arago und Bessel sprachen es
ganz entschieden aus, daß die Höhenbestimmung der Atmo-
sphäre nach der Abend- und Morgendämmerung auf sehr
unzuverlässiger Grundlage beruhe, wenn man aber dennoch,
auch selbst in streng wissenschaftlicher Hinsicht, von einer
zehn Meilen hohen Atmosphäre rede, so sei dies ganz an-
ders aufzufassen, wie dies im gewöhnlichen Leben geschehe,
man wolle nämlich damit bloß andeuten, daß die
Lichtstrahlenbrechung derLuft nur bis zu zehnMei-
len Höhe eine zu beachtende Größe besitze, daß dar-
über hinaus dieselbe ohne Nachtheile der Rechnung
für Null zu achten sei. Dasselbe gelte auch von dem
Lichtreflex der Luft. Selbst diese Einrede hatte keinen än-
dernden Einfluß, im Gegentheil benutzten die Gegner dieselbe
sehr eifrig für ihren Zweck. Denn, sagte man, wenn selbst
die gelehrtesten Männer von Fach sich mit einer zehn Mei-
len hohen Atmosphäre vollkommen zufrieden stellen können,
fo reiche diese Höhe für den alltäglichen Menschenverstand
längst aus. Mit diesem ganz entstellten Scheinschluß bethörte
mau die große Menge, welche nun um so hartnäckiger am
Zehn-Meilen-Glauben festhielt.
Wäre die Luft in allen Höhen von einerlei Dichte, so
müßte sie nothwendig eine obere Grenze haben und sie ließe
sich dann auch mit Leichtigkeit berechnen. Denn man weiß,
daß der untere Lustdruck einer Wassersäule von 32 Fuß Höhe
das Gleichgewicht hält, da nun diese Luft 763 Mal leichter
als Wasser ist, so würde eine Säule solcher Luft von 32
Mal 763 Fuß, d. i. von 24 416 Fuß Höhe genau so viel
Druck bewirken, als eine Wassersäule von 32 Fuß Höhe.
Hiernach betrüge die Höhe eines von unten bis oben gleich-
dichten Luftkreises nicht viel über eine einzige geogra-
phische Meile. Das ist aber ein Minimum, welches der
Wirklichkeit gar nicht entsprechen kann, weil die dabei zu
Grunde gelegte Boraussetzung der gleichmäßigen Dichte ge-
radezu unwahr ist. Denn die Erfahrung und auch unser
Nachdenken belehren uns, daß die Dichtigkeit der Luft mit
der Zunahme der Höhe abnehmen muß, weil in jedem Punkte
alle höher gelegene Luft auf die darunter befindliche drückt,
während die höhere von der tiefern gar nicht gedrückt wird.
Dabei stellt sich denn auch mit großer Wahrscheinlichkeit her-
aus, daß die Lust in den oberen Regionen, welche aber schon
mehrere hundert Meilen von der Oberfläche der Erde ent-
fernt sind, ein Streben zur constanten Dichtigkeit an-
nehmen werde. Sowie aber ein folches Streben wirklich
vorkommt, so ist damit zugleich ausgedrückt, daß die obere
Lustgrenze ganz fehlt, daß sich die verdünnte Luft durch den
ganzen Weltenraum erstrecke. War nun auch hierdurch aber-
mals ein Fingerzeig gegeben, daß die Erdatmosphäre keine
obere Grenze haben könne, wenigstens keine solche, worüber
hinaus Alles luftleer sei, so hielt man dennoch am Gewohn-
heitsglaubeu fest.
Die Secten im Islam.
Von Julius Braun in München.
I.
Mandäer, Jesiden, kurdische Kissilbasch und Ali Jlahi.
Bekanntlich ist der Zusammenhang der mohammedani-
schen Welt in der Mitte und an allen Enden von Secten
unterbrochen, die zum Theil nur noch in wenigen Zügen an
einen mit dem Jslanl gemeinsamen Ursprung erinnern. Im
Libanon und Hauran sitzen die Drusen (50,000 Seelen);
im nordsyrischen Küstengebirge die Jsmaelier (10,000)
und Nasairier (64,00.0), welch letztere aber auch über An-
tiochien und um die nordöstliche Golfecke des Mittelmeeres
herum sich nach Kleinasien verbreiten und, unter mohamme-
dänischer Maske, namentlich die Bevölkerung von Tarsus
bilden. In den Gebirgen am obern und obersten Enphrat
wohnen und wandern die Kissilbasch (Rothköpfe) — keine
Julius Braun: D
Verehrer Mohammed's und immer bereit, ihren Haß ans die
Mohammedaner in Raubüberfällen zu bethätigen. Es sollen
400,000 Seelen sein. Zwar besteht Haran nicht mehr, die
Stadt Abrahams, wo die Sabier, diese unverfälschten Reste
chaldäischen Heidenthums, sich mit ihren Tempeln bis in die
Zeit der tatarischen Weltstürme erhalten hatten. Aber Reste
dieser Sabier, die sogenannten Schemsieh, Sonnenanbeter,
verbergen sich zu Maredin (in derselben nordmesopotamischen
Wildniß) unter dem Namen jakobitischer Christen. Hei-
den von altbabylonischer Herkunft sind die Solaib, jene
scheuen, von den arabischen Beduinen verachteten Gazellen-
jüger der Wüste, wie sie da und dort an allen Enden dieser
Wüste zwischen Arabien, Babylonicn und Syrien anszutan-
chen Pflegen. In dem einsamen Gebirge Sindjar (zwischen
dem obern Enphrat und Tigris) und in den Vorbergen von
Kurdistan Hausen die Iesiden, die sogenannten Tenfelsan-
beter, und in der südöstlichen Fortsetzung desselben kurdischen
Hochgebirges (zwischen Mesopotamien und Persien) die Ali
Jlahi, welche gleichfalls den gefallenen Engel oder Gott
verehren, nur daß er einen Namen aus dem mohammedani-
schen Pantheon, den Namen Ali, angenommen. Am untern
Enphrat und Tigris fristen die Mandäer ihr Leben —
kleine Gemeinden mit einer heiligen Schrift, worin die alt-
chaldäische Theologie und Kosmogonie, wenn auch sehr zer-
rüttet, unverkennbar noch vorliegt. Längst dem Islam ent-
fremdet oder eigentlich niemals recht bekehrt war Oman,
das südöstliche Gestadeland Arabiens, wo die Nationalsecte
der Biadiyah (Weißbursche) keine Moschee besucht und kein
Gebet gegen Mekka richtet. In Persien löst sich das ortho-
doxe Bekenntniß vor der berauschenden Gewalt des Susismus
uud Babismns, deren letzte Wurzeln gleichfalls unter Mo-
hammed's Zeit hinabsteigen. Zwischen Afghanistan und In-
dien hat die Lehre der Sikh sich eingeschoben und ist für die
moslimfchen Staaten im Osten und Westen furchtbar ge-
worden.
Es wird der Mühe Werth sein, diese Secten etwas näher
zu betrachten und nachzuweisen, wie sie sämmtlich nnr Trüm-
mer eines und desselben Systems, oder wenigstens sämmtlich
bedingt sind durch wiederauftauchende Elemente des vom
Islam überflutheten Heidenthums, wenn auch Einiges aus
dem Islamglauben mit in die alten Wirbel gezogen wurde.
Die Reste chaldäischer Theologie, wie diese Secten sie auf-
bewahren, siud eine willkommene Bestätigung für ein Grund-
system, von dem in letzter Instanz auch die Weltreligiouen
selber abhängen. Jedenfalls ist es unserer menschlichen Theil-
nähme würdig, zu sehen, unter wie vielen Titeln (aber im-
mer nur auf historisch ererbten Geleisen) die arme Mensch-
heit sich abmüht, ihrem religiösen Bedürsniß genug zu thun
und aus den unbarmherzigen Schranken des menschlichen
Begriffs- und Erfahrungskreifes zu entkommen.
I. Die Mandäer.
Wenn die Mandäer selbst auch gar nicht zum Islam zu
zählen sind, so sind sie doch verwandt mit manchen Secten,
ans welche der Islam Einfluß gewonnen, und helfen mit,
uns jene zu erklären. Wir gedenken ihrer zuerst, eben weil
ihr chaldäifches Heidenthum von jüdischer, christlicher und
mohammedanischer Lehre unabhängig geblieben ist.
Genaueres über die Mandäer (fälschlich Johannis-
christen genannt) wissen wir erst, seit Herr H. Peter-
mann in Berlin sie zu Suq es Schiuch am untern Euphrat
(einem unsanbern sanatischen Schiiten-Nest) mit der Auf-
opferungsfähigkeit des deutschen Gelehrten aufgesucht und nnt
Hülfe ihres Priesters ihre heiligen Schriften stndirt hat (Pe-
termann, Reisen im Orient, II, 98 :c., 447 :c.). Bis da-
mals (d.h. bis zum Jahre 1854) hatten sie noch ihren dürs-
Secten im Islam. 269
tigen Tempel jenem Marktort gegenüber auf dem linken
Enphratufer, eutfloheu aber vor der Bedrückung durch den
dort herrschenden Scheich der Montefik-Araber, um sich au-
derwärts (zu Amarra ani Tigris :c.) wieder niederzulasseu.
Im Ganzen sollen ihre zerstreuten kleinen Gemeinden noch
etwa 1500 Seelen betragen. Nach neuerer Nachricht (Schläsli,
Reisen :c. 1861) hat auch Suq wieder feine Gemeinde mit
dem religiösen Oberhaupt der Secte. Sie leben still und
fleißig in den Uferorten am untersten Euphrat und Tigris
als Goldarbeiter, geschickte Waffenschmiede :c., wissen wenig
oder nichts von ihrer Vergangenheit, glauben aber an die
Sage von einem anderwärts heute noch bestehenden großen
Mandäerreich. Als ihre Glaubensgenossen zu Ahwas (am
Qnran, östlich vom untern Tigris) einst hart von den Mo-
hammedanern gedrückt wurden, versprach ein Dämon, den
sie gefangen hatten, sie in ein Land zn bringen, wo keine
Mohammedaner seien, und trug iu der That ihre ganze Stadt
ins Land Biadhije. Dies liegt weit entfernt in Moghreb;
der Boden ist lauter Gold und ewiger Frühling ist da :c.
Herrn Petermann, der uns die Sage mittheilt, ist sie nnver-
ständlich geblieben. Es kann aber kein Zweifel sein, daß mit
jenein Lande „Biadhije" das schöne Oman mit seinen gleich-
falls dem Islam abgeneigten „Biadiyah", die gleich den
Mandäern ihr Gebet nach dem Nordstern richten (Palgrave,
Arabia, X V), gemeint sei *). Auch in den fränkischen Schis-
fen, die vor diesem sonst unerreichbaren Lande erschienen und
ihre Kanonen lösten, aber von dem Oberhaupte des Landes
durch bloßes Gebet und Deuten mit dem Finger in die Tiefe
versenkt wurden, sind unschwer die Engländer (in den See-
räuberkriegen 1809, 1819) zu erkennen.
Die heilige Schrift der Mandäer, Siddra Rabba
(das große Buch), euthält, wie so manche andere Urgeschichte
(Sanchnniathon, Hesiod, Edda :c.), nur zerrüttete Geschiebe,
worin dasselbe System mit denselben Figuren mehrmals un-
ter verschiedenen Namen wiederkehrt. Doch unterscheiden wir
klar neben einem endlosen Weltstoss einen belebenden Urgeist
(Mana rabba), über alle Verehrung erhaben, und ans ihm
hervorgehend das „erste" und das „zweite" Leben (Hajje
qadmäje und Hajje tinjane), d. h. jene beiden inner-
weltlichen Schöpfungsmächte, die bei den Chaldäern als
schöpferischer Zeitgott (Bel-Satnrn, Logos, innerWelt-
liche Intelligenz) und alsUrfenergott(Hephästos) gedacht sind
und in derselben Ordnung und Bedeutung auch in den Sy-
stemen der Drusen, Jsmaelier :c. wiederkehren. Von den
Mandäern am meisten verehrt wird das „erste Leben"
entweder unter diesem Namen, oder als „Manda de hajje"
(wonach die Bekenner sich Mandäer nennen), oder als„Hi-
bil Siva" :c. Wenn diese Namen auch, wie es zu gesche-
hen Pflegt, stellenweis zn verschiedenen Figuren geworden sind,
die sich da und dort in die kosmische Genealogie einreihen
müssen, so werden sie doch fortwährend vertauscht und bedeu-
teu denselben ersten innerweltlichen Schöpfergeist oder Logos.
Er ist der König der Engel, der geliebte Sohn, das Wort
des Lebens; er ist es, der die Seele in die ersten Menschen-
leiber gelegt, die heiligen Bücher an die Menschheit überliefert
hat, aber auch iu die Hölle stieg, um den gegen das Lichtreich
kämpfenden Teufel (den Unterweltgott Ur) zu fesseln — also
Vorstellungen, die wir für christlich und aus dem Christen-
thum entlehnt halten müßten, wenn sie nicht urkundlich schon
vor dem Christenthum und als Eigenthnm des chaldäischen
Systems nachzuweisen wären.
Aber nur für einen Theil seiner Verehrer hat jener in-
nerweltliche Schöpfergeist (Logos) seine kosmische Reinheit
") Aber Moghreb, Magreb, bedeutet doch Westland, und
Oman liegt süd südöstlich. A.
270
Theophilus Hahn: Ein Racenkampf im nordwestlichen Theile der Cap-Region.
bewahrt; für andere ist er (durch Mischung mit sagengeschicht-
lichem Element) zum gefalleneu Gott, zum gefallenen Engel
geworden. Auch iu biefer Auffassung fehlt er den Mandäern
nicht. Der Engel Fetahil oder Gabriel, heißt es (der aber
Eins ist mit Hibil Siva :c.), hat bei Bildung der Erde, wo-
mit er beauftragt war, bethört durch unterweltliche Mächte,
seine Vollmacht überschritten und auch schädliche Thiere und
Pflanzen geschaffen. Darum ist er aus der höchsten Licht-
Welt verbannt, wird aber dereinst (wie der Satan der Jesiden)
wieder zu Gnaden angenommen werden und in ewiger Selig-
keit über eine Lichtwelt herrschen, welche dann an die Stelle
der Erde tritt.
Die gegenwärtige Erde ist eine vom Weltmeer umslos-
sene Scheibe und hat gegen Norden ein Türkisgebirge, von
dessen Wiederschein das Blau unseres Himmels kommt. Ueber
dieses Gebirge fliegt die Seele der Verstorbenen zu dem nörd-
lichen Grenzmeer. Dort ist ein Charou, der die frommen
Mandäer übersetzt; andere können lange warten. Dann geht
es durch sieben Breiten und durch das Verhör von Dämonen-
Wachposten, wo jede Sünde ihre besondere Strafe findet.
Vollends zuhinterst öffnet sich der Rachen des Ur, jenes nn-
geHeuern Höllenhundes, auf dessen Leib alle bisher durch-
messenen Breiten sammt unserer Erde ruhen. Dieser Ur
verschlingt täglich 3000 Seeleu und die Bösen sterben dort
ihren zweiten Tod. Nur wenn die Seele eines frommen
Mandäers vorübergeht, schließt sich der Rachen. Die Seele
schwebt höher hinauf zu Fetahil und zu Abathur, dem
Engel mit der Wage, der die Thaten wägt und die ge-
recht erfundenen Seelen in die Lichtwelt einläßt. Als höchste
Stufe der Seligkeit (aber selbst von der frommsten Seele
nur ein einziges Mal zu erreichen) nennt man die Anschauung
des Urgeistes Maua Rabba.
Jenes weltgroße Ungeheuer Ur (vergleiche deu Chaos-
rächen des nordischen Fenriswolfs) ist ein Sohn der „Rncha",
mit welchem Namen im Syrischen allerdings der „heilige
Geist" bezeichnet wird. Da aber nach mandäischem Glau-
ben von dieser Rncha heute noch alle Zaubereien und bösen
Lüste der Menschen kommen und nichts Gutes von ihr aus-
zusagen ist, als daß sie den Frauen beim Gebären Beistand
leistet, — so wird denn doch wohl sich einsehen lassen, daß
mit dieser Göttin Rncha nicht (wie Herr Petermann annimmt)
ein aufs Aeußerste entstellter „heiliger Geist" gemeint sei,
sondern die babylonische Urnachtgöttin, die gebnrthel-
sende Ilithyia, die Mutter der Unterwelt oder des Unter-
Weltgottes, — sie, die alsLilith, Lamia :c. allerdings auch
zum bösartigen" Schreckgespenst geworden ist. Jener Unter-
Weltgott, symbolisch als rachenösfnendes Ungeheuer, als Höl-
lenhnnd, gedacht, vermählt sich (weil er zugleich Urseuergott
ist) mit der eigenen Mntter (wie in allen jenen älteren Sy-
stemen) und erzeugt Sonne, Mond und Sterne. Sein Name
„Ur" bedeutet „Feuer", und der Name „Rucha" die „Unter-
welt" (vergleiche die babylonische Göttin des Chaos und der
Uruacht, die mit auderm Nameu Om-Orka, „Mutter der
Unterwelt", heißt; die babylonische Todtenstadt Erech, Urka,
wo sie residirt; den Orens :c.). Da wir jenen Schreckens-
gang der bösen Seelen, das sie verschlingende Ungeheuer auch
bei den Jesiden finden werden, dürfen wir mit um so grö-
ßerer Sicherheit voraussetzeu, daß alles das auch schon im
chaldäischen Ursystem vorhanden war.
Ein Racenkampf im nordwestlichen Theile der Cap-Region.
Ein Bild ans dem Völkerleben Südwest-Afrikas von Theophilus Hahn.
III.
, ;>:•
If:
m-
Im April des Jahres 1865 fielen die Herero die von
Orlams bewohnte Missionsstation Gobabis an. Sie ist
gleichsam der Schlüssel zum innern Südafrika, und besonders
zu den Ngamiländern. In Folge dessen verließ der Stamm
des Häuptlings Braudup oder Amiraal (corrumpirt für
Admiral) die Station. Dieser Stamm ist ein Zweig der
bereits erwähnten sKaua am Geitsi-!Gabibberge. Jetzt,
nach dem Tode des alten Häuptlings, hat der Stamm keinen
eigentlichen Häuptling, sondern die mehr oder weniger ton-
angebende Person ist ein gewisser Fred erik Vle ermuis
(Fledermaus).
Im Juli und August machten Jan Jonker und !Nanib
einen ueuen Augriff auf Otyimbingns mit einigen Hundert
Mann; sie führten aber nichts Wesentliches aus, sondern
als sie sahen, daß das Krähenherz nichts helfen wollte,
flohen sie. Mit dem Krähen herzen hat es nämlich
folgende abergläubische Bewaudtniß. Dieser vielbesprochene
!Nanib ist uoch cht recht echter Heide und abergläubisch wie
Keiner. Neben der Herrschaft über Menschen waltet er noch
im Reiche der Geister nnd ist ein berühmter und geschätzter
Zaubermeister. Wenn nun ein Comniando auszieht, so
schießt man vorher eine Krähe, schneidet das Herz heraus
und trocknet es an der Sonne. Dann wird es unter aller-
lei bestimmten Zauberformeln und Künsten als Pulver Prä-
parkt. Hierauf ladet der Zauberdoctor resp. Anführer nn-
ter allerlei Besprechung dies Pulver in das Gewehr und
schießt los, daß der Rauch über die feindliche Seite fährt.
Man glaubt, daß dadurch die Zündlöcher der feindlichen Ge-
wehre verstopft werden und die Feinde ein feiges Krähenherz
bekommen und wie Krähen bei dem ersten Angriff ans ein-
ander stieben. Ein folches Zauberstück hatte!Nauib auch
vollführt als Oberzauberdoctor, aber es hatte doch nicht den
gewünschten Erfolg gehabt.
Solche uud zahllose andere heidnische abergläubischen
Bräuche sind in diesem Kriege recht zum Vorschein gekom-
mm. Wir wollen gelegentlich ein ander Mal unseren Lesern
auch davon eine recht reichhaltige Zusammenstellung geben.
Es hat dieser Krieg noch einmal ganz evident gezeigt, daß
man einem Volke seinen althergebrachten, mit der Mutter-
milch eingesogenen Aberglauben nicht wie Unkraut gleich mit
der Wurzel ausrupfen kann. Davon wollen leider nicht
alle Missionäre wissen und hüten sich dann, ihrer Ansicht
zu Liebe, dergleichen zur Kenntniß des Pnblicums
zu bringen. Wie dann neuerdings der alte chHowi^ab
(Paul Goliath), Häuptling von chOn-Tsawises (Ber-
seba), wo Reverend Krönlein steht, einen Zauberdoc-
Theophilus Hahn: Ein Racenknmpf it
tor vom jjAnbflnfse kommen ließ, um seine kranke Tochter
zn heilen, — dieser „Musterchrist und leuchtendes Beispiel
eines wahrhaft Bekehrten", als welchen ihn der Missionär
Krönlein in den Missionsberichteu stets aufführt. Doch
zur Sache!
Im September desselben Jahres machten ! Hnisib's Leute
einen neuen Angriff auf Jan Afrikaner, !Nanib und die so-
genannten Fransmannschen, die jetzt auch Herren- und Hirten-
los umherirren und sich bald an den einen und andern Stamm
anlehne«. Jonker und die Fransmannschen nahmen bald
Reißaus. Dagegen hielt !Nanib mit ungefähr 50 Mann
Stand, welche dann anch fast bis anf den letzten Mann
aufgerieben wurden bei chHatsamas. So gläuzend dieser
Sieg auch schien — denn 50 Mann bedeuten dort etwas!
— so wurde durch diesen Krieg eine Spannung zwischen
den Rehobothern hervorgerufen, welche später in wirklichen
Haß Uberging.
Im September 1866 unternahmen die Herero einen
längern Kriegszug gegen die Nama, aber ohne die Reho-
bother; denn ihre Freundschaft war schon ziemlich locker!
Zuerst stießen die Herero auf eine Werft vonAmiraal's Leu-
ten; dort fanden sie nur meist Weiber und Kinder, gegen
welche sie ä la Herero verfuhren. Es wurde Alles ohne
Gnade und Barmherzigkeit hingeschlachtet; sogar ein Englän-
der, der im Dienste eines Tauschhändlers Duucau dort
Handel trieb, wurde niedergestochen und die Waare sortge-
nommen. Andere Wagen Duncan's, worin sich namentlich
viel Elfenbein und Stranßfedern befanden, nahmen die He-
rero weg und stachen die Diener mit ihren Afsagaien nieder.
Sie zogen mit Beute reich beladen nach Otyimbingus und
verkauften das Elfenbein an den Miffionär Hugo
Hahn; denn — wir kommen nuten darauf zurück — jetzt
war in Otyimbingus der Handel in Händen der Mis-
stoit. Duucau, hiervon benachrichtigt, schwur dem Hugo
Hahn Rache, ihm bei erster bester Gelegenheit eine Kugel
durch den Kopf zu jagen. Nachher hat er sich doch von
diesem Mordgedanken abbringen lassen.
Das Jahr 1867 ging mehr oder weniger unter kleinen
Räubereien und Abschlachtnngen hin bis zum December.
Besonders in den Monaten Juli bis October machten die
Herero mehrere kleine Ausfälle. So überfielen sie einmal
eine Werst von Wasib; die Männer flohen und die armen
Weiber und Kinder mußten dann wieder den Blutdurst dieser
Unmenschen stillen. Den schwängern Frauen schnitten ste
den Leib ans, nahmen die Frucht heraus und zerschnitten
diese wiederum in Stücke.
Daraus machten am 13. December die Nama unter An-
sühruug von Jan Jonker einen neuen Anfall auf Otyim-
biugue mit ungefähr 500 Manu uud richteten besonders ihr
Feuer gegen die Missionäre und Tanschhändler,
welche dort wohnen. Es sehen natürlichermaßen die Nama
alle Weißen, welche unter den Herero wohnen, gleichviel ob
Tauschhändler oder Missionär, als ihre Feinde an. Denn
weiße Leute hatten sich zu Anfang des Krieges an die Spitze
der Herero gestellt. Ueberdies war ihnen nur zu sehr be-
kannt geworden, daß Hugo Hahn aus Europa eine große
Menge Waffen den Herero zur Befreiung gebracht hatte.
Doch gelang es den Nama dieses Mal noch nicht, einen
Weißen zu erschießen oder den Platz zu nehmen. Als sie
den ganzen Tag gefeuert hatten, zogen sie sich des Abends
zurück und setzten sich mehrere Stunden weit vom Platze
fest. Hier wurden sie nach Verlauf von acht Tagen von
den Herero angegriffen und in die Flucht geschlagen. Ganz
kannibalisch muß es dort hergegangen sein! Es wird erzählt,
daß, wenn die Herero einen Nama fingen, sie ihm erst an
Arm und Beinen Fleischfetzen abgeschnitten hätten, dann den
nordwestlichen Theile der Cap-Region. 271
Bauch aufgeschlitzt und darauf vor den Angen der noch leben-
den Schlachtopfer das Blut von ihren Assagaien geleckt.
Dann erst haben sie, nachdem sie sich an den Qualen der zn
Tode Gemarterten gelabt, denselben den Todesstoß versetzt.
Die Namaqua haben gebeten und gefleht, sie doch lieber gleich
niederzustoßen; aber dafür hatteu diese Barbaren, „die die
moralische Krast der Mission an sich empsuudeu
hatteu", nicht die geringste Lust. Hier hätte sich diese
Kraft einmal zeigen können!
Wir haben bisher Otyimbingus häufiger nennen
müssen, und glanben so des Lesers Wunsche entgegenznkom-
men, wenn wir eine kurze Geschichte dieser Missionsstation
nnd der dortigen Verhältnisse geben.
Otyimbiugus liegt ungefähr 15 geographische Meilen
nordöstlich von der Walfischbai am Thoa^onbflnß, wel-
cher die natürliche Grenze zwischen Hereroland und
Großuamaland ist. Am 9. Juli 1849 legte der rhei-
nische Missionär Rath dort eine Missionsstation an unter
den Herero. Es dauerte aber kaum einige Jahre, so hatte
Jonker Afrikaner (vergleiche oben) das ganze Land unterjocht
und nicht nur die Herero, sondern alle Bewohner des Lan-
des, Missionäre, Tauschhändler und Kupfergräber mußten
seine Oberhoheit anerkennen. Als zu Ansang der fünfziger
Jahre bei Otyimbingus Kupfer entdeckt wurde uud eiue
Gesellschaft, bestehend aus Engländern, dort Bergwerksunter-
nehmnngen anfing, kaufte diese Gesellschaft von Jonker ein
Grundstück in der Nähe der Missionsstation, errichtete ein
Handelsetablissement und Magazine für ihre Kupfererze ic.
Die Gesellschaft machte Bankerott. Da kaufte der fchou oft
genannte Anderson Platz und Gebäude. Jonker bestätigte
den Kauf und erkannte Anderfon als Besitzer des Platzes
an. Selbstverständlich stand dieser unter Jonker, so lange
er im Lande war; zog er weg, so siel Alles wieder an Jon-
ker zurück. Anderson bante nun recht großartig uud erwei-
terte die Gebäulichkeiten um ein Beträchtliches. Auch sein
Handel ging flott und ersprießlich. Doch dauerte das Glück
nicht zu lange uud er machte auch Bankerott. Da bot er
den Platz sammt Gebäuden dem Missionär Hugo Hahn
au. Dieser kaufte ihn auch für Rechnung der rheinischen
Mifsionsgesellschast. Da aber der Krieg zwischen den He-
rero und Afrikanern ausgebrochen war, fo fragte der Miffio-
uär natürlicherweise nicht mehr den Häuptling von j| At jjgmns
um die Genehmigung, sondern Kamaherero, den Hänpt-
ling der Herero, welcher den Kauf auch bestätigte. Die rhei-
nische Missionsgesellschaft gründete dort eineColonie; man
machte einen nicht unbedeutenden Anfang mit Kornländereien,
zumal im Thoa^onbthale. Auch schickte man Handwerker
dahin, einen Wagenmacher und Schmied; diese sollten Pflüge,
Ackergeräthe uud Wageu macheu. Da jedoch viel Krieg
im Lande war, so hatte der Schmied so viele Waffen - und
Gewehrreparaturen, daß man es für gut fand, einen aus-
gelernten Büchsenschmied dahin zu senden. Der Mann
machte brillante Geschäfte, und eine nicht unbeträchtliche Summe
floß fortan in die Missionscasse. Also lebten ja die
Missionäre wenn auch nicht direct, so doch indirect vom
Kriege? fragt der neugierige Leser. Er mag sich die Ant-
wort selbst geben.
Mit Ackerbau und den anderen hierbei brauchbaren Hand-
werken ging es freilich langsam, wir wollen gerade nicht
sagen, sie schliefen ein. Man verdiente dabei nicht gleich so
viel und deshalb war das Interesse dafür geringer. Außer-
dem hatten Platz und Anlagen viel Geld gekostet, welches
wieder herausgeschlagen werden mußte. Roth macht ersin-
derisch. Man errichtete auch ein Handelsetablissement.
Aber im Handel gehen nicht alle Artikel, und man mußte
darauf bedacht fein, solche in den Handel zu bringen, welche
272 Theophilus Hahn: Ein Racenkampf im
Absatz fanden. Nun stand und steht noch dort der Krieg
auf der Tagesordnung, und folglich ließ man Hunderte
von Pfunden Blei und Pulver ab und zu vom Cap
kommen. Der Häuptling von jAi^gams hatte aber nicht
umsonst seine Spione in Otyimbingus, die ihm wieder Alles
haarklein hinterbrachten. Nun wird es anch erklärlich, war-
um er am 13. December einen solch energischen Angriff auf
Otyimbingu« machte und fein Feuer besonders auf die
Missionäre, Händler und die Weiber und Kinder dersel-
ben richtete. Es ist dort heiß hergegangen, wie ein (im
„ Evangelischen Monatsblatt snr Westphalen" , fünftes Heft,
Mai, 1868, Gütersloh, abgedruckter) Brief der Frau
Missionär H. Hahn an ihre Kinder bezeugt.
Jan Afrikaner wollte besonders Dreierlei bezwecken:
1) Er wollte den Missionär H. Hahn dafür strafen,
daß dieser den Platz ohne seine Zustimmung gekauft hatte.
Wäre ihm die Einnahme gelungen, er hätte gewiß den Mif-
sionär erschießen lassen.
2) Er hoffte — uud dies nicht mit Unrecht — große
Beute zu machen, wemn er das Handelsmagazin und
den gauzen Platz plündern könnte. Besonders hoffte er viel
Pulver und Blei zu erlaugeu.
3) Er gedachte großen Vortheil zu erlangen, wenn er
die Handwerker in seine Gewalt bekäme. Sie sollten ihm
, seine Wagen und Gewehre machen und was sonst Nützliches
ihm geleistet werden konnte.
Seinen Plan hat er nun vorerst nicht erreicht, aber da
die Herero so schändlich gegen seine Leute gewüthet haben,
ist an eine Aussöhnung nicht zu denken. Gegen die dort
wohnenden Europäer hegt er auch nicht die freundschaftlich-
steu Gesinnungen, ist er doch aufs Genaueste über ihr Ver-
halten unterrichtet. Und haben die Missionäre nicht mit
den Tauschhändlern gemeinsam einen Artikel unterschrieben,
der in einer capschen Zeitung dieses Jahres 1863 „Adver-
tiser and Mail" abgedruckt, nichts als falsche Angaben ent-
hält, wo alle Schuld auf die Nama geschoben und man
rein die Greuelthateu der lieben Herero vergessen
zu haben scheint? Die Europäer behaupten unschuldig
und ganz unparteiisch (onzydig) gewesen zu sein. Ja frei-
lich, wenn das Parteilofigkeit heißt, daß Green und Ander-
son gegen die Nama anführen, daß Missionär Hugo Hahu
Pulver und Blei an die Herero verkauft und Flinten aus
Europa mitbringt, daß man die Hererotruppen bei
ihrem Ausmarsch gegen die Nama förmlich zum
Kampfe eingesegnet, daß die Missionshandwerker
Flinten repariren, und daß die Missionäre nnd Co-
lomsten eigenhändig Kugeln gießen! Wir wollen ihnen
diese Parteinahme nicht zum Vorwurf machen, allein das
werfen wir ihnen vor, daß sie dieselbe leugnen und ihre
Herero weißbrennen! In welchem Contraste stehen die Mis-
sionäre doch zu jener beliebten Bibelstelle, die sie so gern auf
sich anwenden? Jesaia 52, Vers 7: „Wie lieblich sind
die Füße der Boten, die da Frieden verkündigen, Gutes
predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein
Gott ist König!" —
Wie es gegenwärtig mit Otyimbingus steht, können wir
nicht sagen, die Gerüchte, die von dort kommen, sind dunkel
uud spärlich. Die Herero sollen bedeutende Verluste erlitten
haben, auch sagt man, es seien ein paar Europäer ermordet
worden. Wenigstens steht es so bedenklich, daß die capsche
Regierung den Kriegsdampfer „Petrel" nach der Walfischbai
gesandt hat, um Schritte zur Rettung der Europäer zu
thuu. Bei einem Anfall follen nämlich einige Flüchtlinge
sich an Bord eines zufällig anwesenden amerikanischen Schoo-
nordwestlichen Theile der Cap-Region.
ners gerettet haben. Das Ausführlichste, was uns bis jetzt
zugekommen, find Nachrichten in zwei Missionsblättern. Es
freut uns, daß daraus auch ersichtlich ist, daß wenigstens
einige Missionäre klar und nüchtern über die dortigen
Verhältnisse denken und daß sie ihrer bewaffneten Macht
„von 3000 Gewehren" nicht gänzliche Unbesiegbarkeit
zutrauen.
Das „Missionsblatt" bringt in der zwölften Nummer
1868, Mitte Juni, Folgeudes unter dem Titel: „Weitere
Nachrichten aus Damralaud": „Seit dem Ueberfall von
Otyimbingnö, welcher kurz vor Weihnachten geschah, ist die
Ruhe bis in den Februar hinein, bis wohin unsere letzten
Nachrichten reichen, nicht wieder gestört worden. Aber dar-
um sind doch die Aussichten in die nächste Zukunft keines-
Wegs friedlicher geworden. Trotz ihrer Niederlage haben
die feindlichen Namastämme noch keineswegs die Hoff-
nnng aufgegeben, schließlich dennoch Meister des
Landes zu werden und Otyimbinguv in Besitz zu nehmen.
Jan Jonker, der an der Spitze der Feinde steht, macht die
größten Anstrengungen, um mehr Volk an sich zu ziehen
und namentlich auch die Rehobother gegen die Herero auf
Otyimbiugus aufzureizen. Die Rehobother haben sich am
Erougogebirge niedergelassen und ihr Missionär Böhm thnt
selbstredend Alles, was er kann, sie in friedlicher Stimmung
zu erhalten. Auch fageu sich die Missionäre, daß, so lange
die Familie des seligen Kleinschmidt auf Otyimbiugus wohnt,
die Rehobother schon durch die Pietät gegen ihren frühern
Lehrer sich von einem Angriff auf die Station werden ab-
halten lassen." — — Zu diesen Nachrichten, die nns mit
der letzten Post zugegangen sind, fügt einer der Missionäre
in Otyimbingus noch Folgendes hinzu: „Die Namaqua
sind durch die letzten Ereignisse bei weitem nicht so entmu-
thigt, wie man anfangs dachte. Auch scheinen die Verluste,
die sie erlitten haben sollten, sehr übertrieben zu sein. Jan
Jonker schreibt jetzt hierher: vom Frieden wolle er jetzt
nichts mehr wissen; er verlangt und bittet dringend, daß
wir (nämlich die Weißen, besonders die Lehrer) den Platz
verlassen sollten, weil er sonst genöthigt sein würde,
unser Blut zu vergießen und unsere Häuser zu ver-
brennen, schonen w ü r d e e r u u s ni ch t! Natürlich
legen nach solcher Kriegserklärung die Herero ihre Hände
nicht in den Schooß. Sie bringen jetzt ein großes Com-
mando zusammen, um dem Jan Jonker zuvorzukommen und
die feindlichen Namaquastämme zu überfallen. Dabei ver-
sprechen sie freilich, alle Unschuldigen zu verschonen, nicht
zu rauben, auch keine Ochsen fortzutreiben (!), fondern alle,
die in ihre Hände fallen, fofort zu erschießen — was noch
unsinniger ist —. Das sind dann freilich Versprechungen,
die schön klingen, aber die schwerlich zur Ausführung kom-
men. Etliche der südlicheren Namaquastämme sollen gesagt
haben, wenn sie hierherkämen, wollten sie Hahn aus dem
Laude jagen, uns übrigen aber zu ihren Lehrern annehmen,
jedoch nicht ohue uns erst gehörig gezüchtigt zu
haben. Auch von den Rehobothern (jHnisib's Stamm)
lauten die Nachrichten wieder ungünstig. Doch hossen wir,
daß mit ihnen der Friede noch erhalten bleibt" *).
*) Hier fügte der Herr Verfasser die Nachrichten an, welche Mis-
sionär Brink er über die verwirrten Verhältnisse an der Walfischbai
und dem Damaraland nach Barmen geschrieben hat. Als Herr Th.
Hahn seinen Aufsatz schrieb, konnte er nicht wissen, daß wir jene
Nachrichten schon im „Globus" mitgetheilt haben. Wir verweisen
auf S. 124. — Th. Hahn hat uns auch eine Schilderung des Vru-
derkrieges zwischen den Nama und den Orlams gesandt. Wir kön-
nen dieselbe erst nach Verlauf einiger Zeit drucken. A.
Rudolf Rost: Die Dakotasprache.
273
Die Dako
Von Nui
Der deutlichste Zug, deu die Spracheu der eingeborenen
amerikanischen Völkerschaften mit einander gemein haben, ist
die eigentümliche Art und Weise, in der sie znsammenge-
setzte Wörter bilden, und welche Einverleibung genannt
wird. — Um die Verschiedenheit zwischen der amerikanischen
Einverleibnngsmethode und der gewöhnlichen Agglutination
in anderen Sprachstämmen zu verstehen, müssen wir beach-
teu, daß die amerikanischen Idiome neue Composita aus
einer Anzahl von kleinen Fragmenten einfacher Wörter bil-
den und diese Composita wieder so behandeln, als seien sie
einfache Wörter, indem sie dieselben verstümmeln und zusam-
menziehen, um andere aggregirte Wörter zu bilden.
Die Ausdehnung, bis zu welcher diese Abkürzung in die-
sen Idiomen geübt wird, ist viel größer als in irgend einer
bekannten Sprache der alten Welt, mit Ausnahme des Bas-
tischen, was in dieser Beziehung den amerikanischen Sprachen
gleicht, diese Eigentümlichkeit aber nicht in der Ausdehnung
wie die Idiome Amerikas besitzt. Bei beiden sind jedoch die
Elemente einfacher Wörter, welche in die zusammengesetzten
Wörter aufgenommen werden, nur kleine Theile dieser Wör-
ter und zuweilen ist es ein einzelner Buchstabe. So drückt
man z. B. in der Delawaresprache den Satz: „komm mit
dem Cauoe und bringe uns über den Fluß" durch das Wort
nadbolineen aus, welches folgendermaßen zusammengesetzt
ist. Die erste Silbe nad kommt von dem Worte Baten,
holen; die zweite hol steht für amochol, ein Boot oder
Canoe; ineen endlich ist die Verbalendung und bedeutet uns,
wie in millineen, gieb uns. Dieses so gebildete Zeitwort
wird nun durch alle Modi uud Tempora, die in der Dela-
Waresprache sehr zahlreich siud, conjugirt. So ist nad-
holawall die Form für die dritte Person des Singular im
Präsens des Passivs und heißt: „er wird in eineni Eanoe
über den Fluß geholt." — Da der vorherrschende Trieb bei
einem rohen Volke von Jägern und Fischern nicht darauf
gerichtet ist, die Beschaffenheit äußerer Gegenstände zu un-
terscheiden, sondern den inneren Gefühlen, den Leidenschaften
und dem Verlangen der eigenen Seele Raum zu geben, ihr
persönliches Thun und Wollen daher obenan steht nnd ihrem
geistigen Leben die vorherrschende Richtung giebt, so sind Zeit-
Wörter, also Wörter, welche innere Bewegungen, Willen und
Handlungen ausdrücken, die hauptsächlichsten Wörter in die-
sen Sprachen und auch iu der größten Mannichfaltigkeit der
Formen entwickelt. Es ist die beständige Tendenz, in den
Ausdruck des Zeitwortes soviel als möglich hineinzubringen
und Alles mit einem Worte zn bezeichnen, so die Umstände
und Verhältnisse des Handelnden und die äußeren Beziehnn-
gen der Handlung, die er vollbracht hat und vielleicht im Be-
griff ist zu vollbringen. Diesen Hauptcharakter der Cou-
struction haben nun sämmtliche amerikanische Sprachen. Diese
Sprachen werden auch polysynthetische genannt, als solche
Sprachen, in welchen die größte Zahl von Begriffen in der
geringsten Zahl von Wörtern enthalten ist.
Daß nun die amerikanischen Sprachen in ihren Wörtern
so verschieden von einander sind und es daher in Amerika
eine ungleich größere Anzahl von Idiomen giebt, als in anderen
Theilen der Erde, liegt darin, daß in der Beschaffenheit der
amerikanischen Sprachen selbst Eigenthümlichkeiten vorkom-
men, die wahrscheinlicherweise große Aenderuugeu in Wör-
tern hervorbringen und in einer vergleichsweise kurzen Zeit
Globus XIV. Nr. 9. (November 1868.)
tasprache.
olf Rost.
die Spuren der Ähnlichkeit verwischen können. So ist die
große Länge der Wörter nicht günstig für die Erhaltuug der
Vocabularien getrennter Stämme, da diefe langen Wörter
im Gespräch immer abgekürzt werden. Daher geschieht es,
daß oft nur diejenigen, welche nahe bei einander wohnen und
viel mit einander verkehren, sich teicht gegenseitig verständlich
machen können. Sie müssen offenbar Manches von der Art
der Gedanken nnd der Anschauungen des Indern kennen, um
zufällige uud willkürliche Aeußerungeu zu verstehen, iu deueu
beständig Wörter vorkommen, die für den einzelnen Fall neu
gebildet sind.
Eine andere Ursache, welche es äußerst schwer und sehr
unsicher macht, die ursprünglichen Verbindungen zwischen den
amerikanischen Sprachen aufzufinden, und welche immer die
Verschiedenheiten iu dem Vocabular vou Idiomen, die ihrem
Ursprung nach verwandt sind, vermehren und neue schaffen
muß, ist die rege Einbildungskraft und die rednerische An-
läge der Eingeborenen der neuen Welt. Bei einem rohen
Zustande der gesellschaftlichen Verhältnisse nnd vorzüglich bei
junger, unvollkommener oder zunehmender Läuterung der
Seele hat die Einbildungskraft mehr Einfluß auf die Bildung
der Sprache, als bei weiter vorgerückter Eutwickelung. Die
amerikanischen Sprachen können hierzu als Beleg dienen,
denn in ihnen finden sich kühne Metaphern, richtige, aber
unerwartete Zusammenstellungen von Begriffen, Fälle, wo
leblose Gegenstände dnrch eine sinnreiche Ansicht ihres ans
die Phantasie wirkenden Wesens in die Reihe der lebendigen
versetzt werden u. s. f. Denn da diese Sprachen gramma-
tisch nicht den Unterschied der Geschlechter, wohl aber und
in sehr ausgedehntem Umfange den lebloser und lebendiger
Gegenstände beachten, so geht ihre Ansicht hiervon aus der
grammatischen Behandlung hervor. Wenn sie die Gestirne
mit den Menschen und den Thieren grammatisch in dieselbe
Classe versetzen, so sehen sie offenbar die ersteren als sich
durch eigene Kraft bewegende und wahrscheinlich auch als die
menschlichen Schicksale von oben herab leitende, mit Persön-
lichkeit begabte Wesen an.
Betrachten wir jetzt etwas näher die Sprache der
Sioitj', die Dakotasprache, welche sich durch eine ge-
wisse Einfachheit ihres Baues vor den meisten amerikanischen
Sprachen auszeichnet, nichtsdestoweniger aber den Charakter
dieser Sprachen bewahrt, indem der Unterschied hauptsächlich
darin liegt, daß die einzelnen Bestandtheile der Wörter der
Dakotasprache bei deren Zusammensetzung weniger Verände-
rungen unterworfen sind und daher selbständiger erscheinen,
als dies bei anderen amerikanischen Sprachen der Fall ist.
Dem Folgenden legen wir die Grammatik der Dakotasprache
von Hans Conon von der Gabelentz, diesem eminenten
Linguisten, zu Grunde.
Was das Substantivum betrifft, so.unterscheidet es
sich nicht durch besondere Formen oder Endungen von an-
deren Redetheilen, und es können Adjectiva, ohne eine Ver-
Änderung zu erleiden, als Substantiv« gebraucht, oder Verba
durch bloße Verbindung des Conjunctivs mit dem Artikel zu
Substantiven gemacht werden.
Wie alle anderen amerikanischen Sprachen kennt auch die
Dakotasprache kein grammatisches Genus, also auch keine be-
sonderen Formen dafür weder am Substantivum, noch an
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Rudolf Rost: Die Dakotasprache.
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den übrigen Redetheileu. Man sagt wicaxta waxte, der
gute Mensch/und wicinyana waxte, das gute Mädchen.
Der Plural endet sich beim Namen wie beim Verbum
aus pi, z. B. wicaxtapi, die Menschen.
Eine eigentliche Declination der Snbstantiva findet nicht
statt. Den Genitiv erkennt man daran, daß er dem Sub-
stantiv, von dem er abhängt, stets vorangeht, z. B. waka-
tanka cihintku, Gottes Sohn. Dativ undAccnsativ werden
aus der Stellung oder dem Zusammenhang erkannt und nur
wo eine Zweideutigkeit entstehen könnte, durch die Demon-
strativpartikel 6, welche dem Accnsativ nachgesetzt wird, näher
bestimmt. — Der bestimmte Artikel heißt kin, ein und der
unbestimmte wan, welche stets nach ihrem Substantivum ste-
Heu, z. B. wicaxta kin, der Mensch, wicaxta wan, ein
Mensch.
DaS Adjectivum, welches nach Genus und Casus
ebenso unveränderlich wie das Substantivum ist, wird seinem
Substautivum stets nachgesetzt. Die Steigerung geschieht
sowohl für Comparativ als für Superlativ durch die Partikel
iyotan. Eine andere Art, den Superlativ auszudrücken, ist
die Rednplication, d. h. die Wiederholung der ersten, Mittlern
oder letzten Silbe des Wortes, z. B. eikeistina, sehr klein,
von cistina, klein.
Die Zahlen von 1 bis 10 heißen: 1 wanji, 2 nom,
nonpa, 3 yamni, 4 tom, topa, 5 zaptan, 6 xakpe,
7 xakowin, 8 xahdogan, 9 napeinwanka, lOwikcemna.
Die einfachsten Formen der persönlichen Fürwörter
sind erste Person Singularis mi, Pluralis on, zweite Persou
ni, dritte Person i, die jedoch nur als Präfixe in der Be-
dentung der Possessiva und an Verbalsormen vorkommen;
nnverbunden haben sie die volleren Formen miye, ich, mich,
mix, ich auch, niye, du, dich (ihr, euch), nix, du auch, ihr
auch, iye, er, sich, ix, er auch, onkiye, wir, uns, onkix, wir
auch, niyepi, ihr, euch, iyepi, sie.
Der formenreichste und wichtigste Redetheil im Dakota
wie in anderen amerikanischen Sprachen ist das Verbnm.
Die dabei vorkommenden Formen beziehen sich aber nicht
sowohl auf die Tempora und Modi, als auf die Person, und
zwar nicht nur des Subjects, sondern auch des Objects.
Man unterscheidet daher die einfache Conjugation und die
Conjugation mit Transitionen.
Betrachten wir zuvörderst die eiufache Conjugation.
Die verschiedenen Tempora haben nicht verschiedene Formen,
nur das Futurum wird durch ein nachgesetztes kta bezeichnet.
Dagegen giebt es eiuige Formen für die Modi. — Die Per-
son des Subjects wird durch die Präfixe der ersten Persou
Singnlaris wa, Pluralis on (vor Consonanten), onk (vor Vo-
caleu), zweite Persou ya bezeichnet; außerdem erhält das Verbum
uoch im Plural die Endung pi. Die dritte Person bleibt
ohne nähere Bezeichnung. Das Präsens des allerdings un-
regelmäßigen Verbum Substantivum ya lautet -
Singular.
waya, ich bin. yaya, du bist. ya, er ist.
Plural.
onyanpi, wir sind, yayapi, ihr seid, yapi, sie sind.
Bei der Conjngation mit Transitionen hat das
Verbnm besondere Formen für ein im Objectsverhältniß
stehendes persönliches Fürwort. Es walten bei diesen Tran-
sitionen folgende allgemeine Regeln ob. Die erste Person als
Object wird im Singular durch das Präfix ma, im Plural
durch on, onk bezeichnet; die zweite Persou als Object mit
der ersten Person Pluralis und der dritten Person als Sub-
ject hat ni, mit der ersten Person Singularis als Subject
aber ci znm Präfix; das Präfix der dritten Person im Ob-
ject ist im Singular ki (ci) und im Plural wica; sowohl
wenn das Object als wenn das Subject im Plural ist, er-
hält das Verbum die Endung pi, mit Ausnahme der dritten
Person Pluralis im Object. — Folgende Beispiele mögen
ein Bild von diesen Transitionsformen geben: mayapakinta,
du reinigst mich; onxipi, er läßt uns; onnicagapi, wir
machen dir; nicopi, sie rufen dich; eieahi, ich bringe dir;
kikte, er tobtet ihn; wicayakte, du tödtest sie (Plur.).
Ohue noch näher auf die mannichsaltigen Formen des
Zeitwortes dieser Sprache einzugehen, geben wir hier eine
Probe dieses Idioms:
Ate unianpi kin
Marpiya ekta,
Nicaje wakan kin,
Niyatanpi kta;
Nitoxkanxkan kin he
Ecadan u kte,
Nakun wicaxta kin
Onipapi kta.
Vater unser
Im Himmel,
Dein heiliger Name,
Du werde gelobet;
Dein Reich
Komme herbei,
Anch die Menschen
Mögen dir dienen.
Viele Leute haben sich bekanntlich bemüht, die Urbewohner
der neuen Welt als Abkömmlinge von denen der alten dar-
zustellen, und sich in dieser Hinsicht nicht gescheut, oft zu den
wunderlichsten Hypothesen ihre Zuflucht zu uehmeu, um ihre
ebenso unnützen als unfruchtbaren Untersuchungen zu stützen.
Daß bei diesen Experimenten auch die Sprachvergleichung
hat herhalten müssen, kann durchaus nicht überraschen. So
legte man ein bedeutendes Gewicht darauf, daß sowohl das
Mordwinische als auch das Samojedische, und in gewisser
Beziehung auch das Magyarische die vorhin besprochenen,
die amerikanischen Sprachen charakterisirende Transitionen
besitzen nnd daß einzelne amerikanische Wörter in ihren Wnr-
zeln scheinbare Verwandtschaft mit solchen aus den tatarischen
Sprachen zeigen. Nähere Nachforschung und Vergleichuug
aber kommt zu ganz anderen Resultaten und zwar zu ganz
entgegengesetzten. Während sich z. B. die tatarischen Spra-
chen durch den gänzlichen Mangel aller Präfixe charakterisi-
ren, sind dieselben bei den einverleibenden Sprachen Amerikas
von großer Bedeutung. Um von anderen auf der Hand
liegenden ganz gewaltigen Unterschieden zu schweigen, ver-
gleiche man noch in der mordwinischen Sprache, die wir aus
den tatarischen deshalb herauswählen, weil namentlich auf
sie dieAuhäuger jener sogenannten Verwandtschaststheorie sich
zu steifen scheinen, die Zahlwörter von 1 bis 10 mit den
oben genannten aus der Dakotasprache. Der Mordwine zählt
wie folgt: 1 väike oder vä, 2 kavto, 3 kolmo, 4 nile
oder nilen, 5 väte oder väten, 6 koto, 7 sisem oder si-
sim, 8 kavkso oder kavkson, 9 väikse und 10 kämen.
Welch verschiedene Resultate bei der Sprachvergleichung
oft zum Vorschein kommen, lehre folgendes Beispiel. Bopp
versuchte bekanntlich in seiner Schrift „über die kaukasischen
Glieder des iudo-europäischen Sprachstammes" (Berlin 1847)
mit allem Aufwände linguistischer Kunst die kaukasischen Spra-
chen als Sprößlinge jenes Sprachstammes hinzustellen, da
ihnen doch nur höchstens ein Platz an der Schwelle der Fle-
xionssprachen anzuweisen ist. Während Bopp demnach diese
Sprachen auf eine höhere Stufe, als ihnen zukam, was ihm
beiläufig viel leichter mit dem Finnischen, Magyarischen, Se-
mitischen und anderen gelungen wäre, stellen wollte, geht
Hyde Clarke den entgegengesetzten Weg und findet „nach um-
fangreicher Prüfung und Vergleichnng" Verwandtschaft zwi-
schen den kaukasischen und den in Tibet gesprochenen einsil-
bigen Sprachen (s. „Globus" X, S. 269 ss.). Darauf
führte ihn zuerst das Zahlwort für „drei", was im Tibeta-
nischen und Siamesischen säm, im Georgischen sami, im
Snanischen semi, im Abchasischen aber chi-ba lautet. Wei-
ter stützt er seine Behauptung darauf, daß er bei beiden
Wirkungen der Erdbeben
Sprachstämmen folgende gemeinsame Züge erkennen will:
Inversion von Wurzelbuchstaben; Theilnng der Wurzeln in
Halbwurzeln (!); Verwechselung von Buchstaben wie in allen
anderen Familien (!); Vermehrung der Wurzeln durch das
Vorsetze» von Buchstaben und Partikeln und durch Einschal-
tung eines Schmarotzerbnchstabens. — Mit welch größerm
Rechte könnte man, wenn man wollte, die kaukasischen Spra-
chen als verwandt mit den einverleibenden amerikanischen
hinstellen! So werden beispielsweise im Abchasischen die
Personalbezeichnuugeu des Zeitwortes an den Anfang gesetzt,
also präfigirt; bei vielen Verben aber anch in den Stamm
eingeschalten, also insigirt. Ich reite heißt: sara scwisloit
auf das Leben der Völker. 275
(sara, ich); hingegen: wir werfen, iharschoit (hara, wir).
Hierzu kommt noch, daß diese Präfixe und Infixe ganz nach
deni Einverleibungssystem auch in objectiver Beziehung ge-
braucht werden. Man sagt im Abchasischen: sara i-s-t'ap,
ich gebe, und i-u-s-tcap, ich gebe dir (gebe — dir — ich —
gebe), von i-t'ap, geben. Trotz alledem lassen wir die kaukasi-
schen Sprachen als eine eigenartige Gruppe bestehen, da durch
alle Idiome der kaukasischen Länder eine lautliche uud eine
formell grammatische Analogie geht und jene Art von Ver-
Wandtschast zwischen ihnen sich findet, welche einen gemein-
schaftlichen Ursprung in einer sehr frühen Zeit beweist.
Wirkungen der Erdbeben a
Man muß selbst in einem Lande, wo Erdbeben häufig sind,
gewesen sein, um zu wissen, welche Bestürzung und welchen
Schrecken schon nicht bedeutende Erdstöße hervorzubringen im
Stande sind. Und ganz natürlich! In der heutigen Gene-
ration lebt die Kunde über frühere Zerstörungen vom Groß-
vater ans den Enkel wie eine lebendige Chronik fort, und die
Bewohner folcher Länder, wo zerstörende Erdbeben keine sel-
tene Erscheinung sind — wie an der ganzen Westküste von
Südamerika —, wissen es, daß sie auf fehr lockerm Boden
wandeln. Nun tritt aber das Unglück mit dem vollen Ent-
setzen seiner unheimlichen, unterirdischen Mächte aus, und
nichts vermag die schwache Menschheit zu schützen. Kaum,
daß sie durch eiliges Hinausstürzen auf die Straßen uud
freien Plätze ihr Leben in Sicherheit weiß! Denn eine große,
allgemeine Zerstörung erfüllt die Luft bald derartig mit Staub
und von dem Schutt der einfallenden Häufer herrührenden
Übeln Gerüchen; dazu ergreift das Feuer des für immer ver-
nichteten häuslichen Herdes die noch übrig bleibenden Reste
der zertrümmerten Gebäude, und um das Unglück voll zu
machen, öffnet sich die Erde uud speit Flammen und Wasser-
massen aus, daß an ein Entweichen oft gar zu bald nicht
mehr zu denken ist.
Wir würden die von mancher geschickten Feder gegebene
Schilderung großer Erderschütterungen wiederholen, wollten
wir unseren Lesern das vollständige Gemälde eines Erdbebens
geben. Wir können uns in dieser Beziehung die sast allen
großen Erdbeben gemeinsamen Eiuzelnheiten vergegenwärtigen,
wenn wir die kurze, aber schöne Schilderung, welche Göthe
in „Wahrheit und Dichtung" über die Zerstörung Lissabons
gegeben hat, in allen ihren Zügen verfolgen.
Allerdings sind Größe und Ausdehnung der Erdbeben,
wie' die Richtung ihrer Erschütterungswellen sowie auch ihre
atmosphärische und klimatische Einkleidung n. f. w. von gro-
ßer Verschiedenheit, doch ihre vernichtende Wirkung ist, soweit
wir die größten denkwürdigen Erdbeben verfolgen, fehr ähn-
lich. Ob der Himmel vor dem Erdbeben heiter oder trübe,
ob das Erdbeben senkrechter, wagerechter oder rotatorischer
Richtung, ob ein unterirdisches Getöse sich mit, vor oder
nach demselben einstellt, oder ob ein solches sich gar nicht
bemerkbar macht: Alles dieses ist für die wissenschaftliche Er-
klärung der Erdbeben von größter Wichtigkeit, nicht aber für
die unmittelbare Kraftäußerung und Wirkung der Erschei-
nuug selbst. Ganz besonders wichtig ist aber, wie dies an
") Der Herr Verfasser dieses Aufsatzes hat zehn Jahre lang an der
Westküste von Südamerika gelebt und schildert aus eigener Anschauung.
I
f das Leben der Völker*).
der Westküste Südamerikas der Fall ist, die Nähe des Mee-
res und der Berge. Wenn, wie bei dem Erdbeben des 13.
August, die See mit großartiger Gewalt in mächtigen Was-
sermassen sich zurückzieht, um mit unumstößlicher Gewißheit
nach einigen oder vielen Minuten wiederzukehren, dann er-
kennt der noch vom Erdbeben verschont gebliebene Küsten-
bewohner, daß die größte Gefahr für ihn im Anzüge ist. Auf
die Berge! Auf die Berge! ist das Losungswort, und Alles,
was sich bewegen kann, stürzt den Höhen zu, um dort aus
den vielleicht selbst noch wankenden Bergesfesten Sicherheit
zu suchen. Glücklich sind dann die Landstriche, welche die
Berge in größter Nähe haben, und wir ersehen aus den perua-
uischen Berichten, daß Tausende von Menschen in Iqnique,
Arica, Pisco und anderen Hafenplätzen auch dieses Mal den
Bergen ihr Leben verdanken.
Da es nicht vorauszusetzen ist, daß der zerstörte Süden
Perus alsbald wieder zu seiner bisherigen Blüthe gelangen
wird, so ist mit der Zerstörung der Städte ein wichtiger Ab-
schnitt in der Geschichte der Republik eingetreten. Areqnipa,
die Hauptstadt des Südens und eine der größten des Lan-
des, mit einer Einwohnerzahl von mindestens 30,000 Ein-
wohnern, ist nicht mehr, und mit ihrer Zerstörung ist Peru des
Mittelpunktes der bedeutendsten ackerwirthschastlichen Provinz
beraubt worden. Die schöne Lage der Stadt in einem brei-
ten Thale, ihre Entfernung vom Meere sowie der Reichthum
ihrer Bewohner gab derselben für die Republik eine Bedeu-
tung, wie sie keine von den unfruchtbaren Küstenstädten des
Südens, welche fast ausschließlich uur des Handels wegen da
sind, gewinnen konnte. Es ist gewiß dem Wohlstande und
der Ueppigkeit des Departements Areqnipa, dessen Haupt-
ort die Stadt gleichen Namens war, zuzuschreiben, daß die-
ses Departement sich fast allein in manchen Fällen gegen die
Beschlüsse der Hauptstadt der peruanischen Republik erhob
und seine eigene selbständige Politik befolgte. M^mHeZüge
in den vielen Revolutionen, welche Pern erlebt hat, würden
sich darüber anführen lassen. Diese öftere Widersetzlichkeit
gegen die hohe Politik, wie sie in Lima ausgemacht wird,
liegt unserer Meinung nach ganz in der Natur der Verhält-
nisse und des Landes begründet.
Die meist militärische Präsidentschaft der Republik war
zu oft Erfolg des Waffenglückes eines unternehmenden und
ehrsüchtigen Soldaten, als daß der wohlgesinnte Theil der
Bevölkerung des Landes mit solchem östern launigen Regie-
ruugswechfel zufrieden fein sollte. Das in Lima herrschende
Regierungssystem, wonach ein Präsident niederwirft, was der
andere gutheißt, die unmoralischen Mittel, welche die Par-
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276
Wirkungen der Erdbeben auf das Leben der Völker.
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teien anwenden, um sich und ihre Genossen am Ruder zu
erhalten, die wahrhaft räuberische Weise, womit oft die Re-
gierenden auf Unkosten der Nation sich bereichern, und die
vielen Mißbräuche, welche die in Lima hausenden Beamten
ausüben, alles das macht es sehr wohl erklärlich, daß die
Provinz Arequipa, welche sich gern ein wenig ihres soliden
Reichthums erfreuen möchte, oft nicht mit den Maßregeln
der Politik der Hauptstadt einverstanden ist. Dabei zeichnen
sich die Bewohner der südlichen Provinzen theils in Folge
des bessern, nicht gar zu tropischen Klimas, ganz besonders
aber wegen der nicht so großen Mischung der verschiedenen
Racen, durch größere Frische und Naturwüchsigkeit aus, die
ihnen die nördlichen Departements fast wie ein ihnen seind-
lich geborenes Volk erscheinen läßt; — daß es uns nicht
wundern muß, wenn die Lima freundliche Partei selbst die
Vernichtung Arequipas durch das Erdbeben als eine göttliche
Strafe für die Opposition gegen die Regierung ansieht. In
einem Blatte, welches, wie ich glanbe, in Tacna gedruckt ist,
fängt ein Bericht über die Zerstörung Arequipas mit fol-
genden Worten an: Die kriegerische und stolze Stadt des
Südens ist zerstört-worden*). —
Es ist selbstverständlich fern von uns, irgend welcher Po-
litischen Partei in Peru eine bevorzugte Anerkennung zn scheu-
ken; aber so viel zu sagen können wir uns nicht enthalten,
daß, wenn eine Stadt für böse Thaten zerstört werden sollte,
Lima es gewiß viel eher verdiente als Arequipa. Dem sei
nun wie ihm wolle. Die Stadt Arequipa bildete einen wich-
tigen Mittelpunkt für die Bestrebuugen des südlichen Peru,
und ihre Zerstörung muß uothweudig der politischen Zukunft
der Republik eine andere Wendung geben. Vielleicht, daß
man daran denkt, Arequipa wieder aufzubauen, — aber wie
langsam wird die Stadt sich wieder zu der Bedeutung erheben,
die im Stande ist, in wichtigen Entscheidungsfällen Lima
gegenüber Stand zu halten! Des Gesagten ungeachtet sehen
wir die gegenwärtige neue Regierung des Landes als eine
glückliche Verheißung seiner Zukunft an, und wollen die Mög-
lichkeit nicht in Abrede stellen, daß durch Arequipas Vernich-
tung ein wichtiges Hinderniß für das Jnslebentreten zweckmä-
ßiger Maßregeln des Congresses gefallen ist.
Dann wäre die interessante Erscheinung aufs Nene ehre
sehr sichtbare Wahrheit, daß Naturereignisse wichtige Elemente
im Leben der Völker sind. Und sind sie dies nicht in der
That? Man betrachtet für gewöhnlich die Kriege als noth-
wendige Aderlässe für die Menschheit, — aber was für
eine untergeordnete Macht sind Kriege in mancher Beziehung
gegen Erdbeben? — Ohne Vorbereitung, ohne vorherige
Erregung tödtlicher Leidenschaften, ohne Rücksicht auf Alter
und Geschlecht sprengt die Erde ihre glühend schwangeren
Geschosse und zerstört Städte uud Menscheuleben ohne Scho-
nnng in wenigen Minuten. Niemand kann entrinnen! Ueber-
all ist die Gefahr nahe, und wenn sie vorüber ist, — sind
die feindlichsten Parteien versöhnt.
Es wäre eine Aufgabe für sich, an Beispielen nachzu-
weisen, welchen Einfluß die mannichfachen Naturerscheinun-
gen auf die Geschicke der Völker ausgeübt haben. Ein vor
einer Schlacht trüber oder heiterer Himmel, plötzlich eintre-
tende Finsterniß, außerordentliche Sturmgewitter, Kometen,
Sonnen- und Mondfinsternisse u. s. w. haben gewiß oft nicht
wenig dazu beigetragen, den Beschlüssen und Handlungen der
*) Tacna ist ein Erzpfaffennest, wo ein fanatischer Clerns oft-
mals das Volk aufwiegelt gegen die vereinzelten Protestanten, welche
dort leben. Im Juni stachelte derselbe den Pöbel und die Weiber
auf, weil die Engländer in der Stadt ein Bethaus für sich bauen
wollten. A.
Menschen eine andere Wendung zu geben. Selbstverständ-
lich können wir in dieser kleinen Abhandlung nicht unterneh-
men, das große, unendliche Gebiet der Geschichte mit solchem
Maßstabe in der Hand zu durchwandern; dennoch wollen
wir nicht versäumen, an einigen Beispielen zu zeigen, wie
Erdbeben und feuerspeiende Berge, diese beiden dämonischen
Waffenbrüder der Natur, die großartigsten Veränderungen
im Leben der Nationen hervorgebracht haben.
Ohne den mythischen Ueberliefernngen alter Völker zu
vielen Glauben beizumessen, ohne von dem muthmaßlichen
Erdbeben, welches zweifelsohne bei der „Sündfluth" thätig
war, oder von dem Umsturz der Mauern zu Jericho zu mel-
den , bleiben uns in der historischen Zeit der Griechen und
Römer einige Fälle aufbewahrt, welche bekunden, daß ver-
schiedene große Umwälzungen durch Erdbeben und fener-
speiende Berge im Alterthum stattgefunden haben. So er-
zählt Ovid in seinen Metamorphosen unter Anderm *) von
zwei Städten am Corinthischen Meerbusen, Bura und Helice
— deren Untergang auch vou Thueydides, Plutarch und an-
deren Schriftstellern des Alterthums berichtet wird —, welche
von der See verschlungen waren, und fügt hinzu, daß man noch
zu seiner Zeit bei Hellem Wetter und stiller See die Mauern und
Thürme der versunkenen Städte habe sehen können. — Zur
Zeit des Tiberius, im Jahre 19 n. Chr., wurde Kleinasien
von einem so gewaltigen Erdbeben heimgesucht, daß eine ganze
Anzahl von Städten zerstört wurde. — Vor Allem denk-
würdig und auch am meisten bekannt ist die durch den ge-
waltigen Ausbruch des Vesuv erfolgte Zerstörung der Städte
Herculanum und Pompeji im Jahre 79 n. Chr., deren
Bedeutung die Menschheit noch in unseren Tagen in so man-
nichfacher Weise beschäftigt.
Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, nicht
zu beweisen, denn Beweise sind kaum möglich, ohne ein-
gehende und fragliche Combinationen anzustellen, daß Erd-
beben schon im Alterthum eine große Rolle im Leben der
Völker spielten. — Zwei außerordentliche und wissenschaftlich
ausgemachte Erscheinungen stehen aber vor allen im Vorder-
gründe zn einer großartigen naturwissenschaftlichen Geschichte
der Völker. Wir meinen die Trennung Sieiliens vou Jta-
lieu uud den Durchbruch der Straße von Gibraltar. Beide
haben zu keiner historischen Zeit stattgefunden, aber die Wich-
tigkeit diefer unzweifelhaft durch Erdbeben hervorgebrachten
Erscheinung und ihr Einfluß auf das ganze europäische Staa-
teulebeu ist unberechenbar. Denn würden jemals die Völker
des Mittelländischen Meeres eine so großartige Rolle in der
Geschichte gespielt haben, wenn sie ans ihr eigenes Binnen-
meer beschränkt gewesen wären? Und wäre Sicilien das
Land der großen historischen Bedeutung, wenn es mit dem
Festlande Italiens verbunden geblieben wäre?
Andere Erdumwälzungen von welthistorischem Interesse
liegen uns nicht so bestimmt ausgesprochen vor Augen; doch
sind deren unzweifelhaft nicht wenige. Und selbst wenn wir
nur auf die Zerstörungen einzelner Städte, wie sie in jedem
Jahrhundert aller Zeiten stattgefunden haben, unsere Be-
trachtung wenden, ist es nicht gewiß, daß jede zerstörte
Stadt eine Lücke in dem Leben einer Nation bildet, zu wel-
cher das ganze Volk beisteuern muß, um die Lücke zu schlie-
ßeu? Kein Jahrhundert ist von solchen Zerstörungen frei-
geblieben, uud fo können wir mit größerm Recht, als wir
die Kriege für Reiniger des politischen Himmels ansehen, die
Erdbeben als sehr bedeutende Umwälzungen im Leben der Völ-
ker betrachten.
Es würde unsere Aufgabe übersteigen, wollten wir die
ganze Chronik der Erdbeben durchgehen, um die ausgefpro-
*) Metamorphosen XV, 293.
ms
Wirkungen der Erdbeben
cheue Behauptung nachzuweisen; aber unterlassen können wir
es nicht, aus der großen Fülle der seit Menschengedenken
stattgefundenen Erdbeben an eins zn erinnern, welches in
größerer geschichtlicher Nähe zur Gegenwart noch heute das
größte Interesse verdient. Wir meinen das Erdbeben vom
1. November 1755, das unter manchen anderen Verwüstun-
gen Lissabon zerstörte. Lissabon hat in den mehr als 100
Jahren, die seit dem Erdbeben verflossen sind, die Bedeutung
nicht wieder erlangt, die es vor demselben hatte. Eine der
größten Handelsstädte der damaligen Zeit, die nicht allein
mit ganz Europa, sondern mit allen Theilen der Welt, be-
sonders aber mit Ostindien und Brasilien in wichtiger Han-
delsverbindnng stand, eine Stadt, die 200,000 Einwohner
zählte, wurde in wenigen Minuten zu einem Schutthaufen
umgewandelt. Es ist die Zerstörung Lissabons unbedingt
das hervorragendste Beispiel der Zerstörung einer Stadt in
der neuern Geschichte, die Zerstörung Magdeburgs durch Tilly
nicht ausgenommen, deshalb vor allen Dingen von so großer
Bedeutung, weil die Stadt trotz der baldigen Wiederaus-
bauung doch nie wieder den alten Glanz erreicht hat. Es
giebt eine große Anzahl von Darstellungen, Abhandlungen
und Schilderungen über die Zerstörung Lissabons, und bei
jedem seitdeni stattgesnndenen Erdbeben erinnert man sich
unwillkürlich aufs Neue dieser Katastrophe; denu es ist wie
ein Naturgesetz im menschlichen Geiste begründet, Verglei-
chungen zwischen ähnlichen Begebenheiten anzustellen. Eine
solche Vergleichuug läßt auch das peruanische Erdbeben vom
13. August wie vou selbst zu, und wir wollen deshalb nicht
ermangeln, eine Parallele zwischen der Katastrophe von da-
mals und der von jetzt zu ziehen. Ehe wir jedoch zn solcher
Aufgabe übergehen, wollen wir unsere Blicke wieder nach
Südamerika wenden, um zu sehen, welchen Rang Peru in
dem großen Erdtheile der Erdbeben einnimmt.
Bon allen Ländern der Welt werden keine mehr von Erd-
beben 'heimgesucht, als diejenigen, welche im Westen Süd-
amerikas dem mächtigen Urgebirge der Cordilleras de los
Andes augehören *), und unter ihnen sind es Chile und Peru,
welche die größten denkwürdigen Erdbeben aufzuweisen haben.
Wir wagen keinen Grund dieser uuaugeuehmen Bevorzugung
der beiden so wichtigen und schönen Länder anzuführen, müssen
dies vielmehr fachwissenschaftlichen Erörterungen überlassen.
Vielleicht, daß die größere Anzahl thätiger Vulcaue in Bo-
übten nach der einen Seite, und in Ecuador nach der andern
Seite diese beiden Länder von gar zu häusigen Erderschütte-
rnngen befreit und den Hauptsitz derselben nach Peru und
Chile verlegt. Uns genügt hier die Thatsache, daß letztere
beiden Nachbarrepubliken der fortdauernde Herd vou Erd-
beben fiud, deren von schwächerer Kraft und Wirkung fast
allmonatlich eins oder mehrere stattfinden, die aber meist alle
zehn Jahre in zerstörender Weife und jedes Jahrhundert ein-
oder zweimal großartige Vernichtungen anrichtend thätig sind.
Es ist eine gewisse Gesetzmäßigkeit, eine gewisse Periodicität
in der Erscheinung der Erdbeben, doch nicht, wie sich von
selbst versteht, in so bestimmten Zahlenverhältnissen, daß die-
selben als Norm anzusehen wären. Man vergleiche die fol-
gende Uebersicht der denkwürdigen Erdbeben von Chile und
Peru, die wir aus verschiedenen glaubhaften Quellen entnom-
men haben.
Chile. In Coqnimbo hat man binnen 25 Monaten
') Nach einer Uebersicht, die Dr. Karl Emil Kluge in seiner
bedeutenden Zusammenstellung „Ueber die Ursachen der in den Jahren
1850 bis 1857 stattgefundeuen Erderschütterungen it." giebt, stellt
sich freilich die größte Anzahl der Erdbeben für die Schweizer, Sa-
voyer und piemontesischen Alpen heraus; doch scheint der Verfasser
über die Erdbeben Südamerikas, südlich vom Äequator, fast ans-
schließlich die von Chile in Rechnung gebracht zu habm.
auf das Leben der Völker. 277
(1849 bis 1852) 156 Stöße gezählt, vou denen 2 oder 3
als Terremotos gelten konnten (die kleinen Erdstöße pflegt
man Temblores zu nennen), ungerechnet das große Erdbeben
vom 2. April 1851. Besonders denkwürdig sind folgende
Erdbeben geblieben: Das von 1570, wo Concepcion zerstört
ward, das von 1647, wo Santiago unterging, das von 1657,
welches wiederum Concepcion traf und wobei Uber diesen
Ort die See hereinbrach, das von 1688, das von 1722, das
von 1730, welches unter Mitwirkung des Meeres alle Kit-
stenorte zwischen Coqnimbo und Concepcion zerstörte, das
von 17 51, wo Concepcion zum dritten Male zerstört ward,
, Chillau und Santiago fast ganz untergingen und die Insel
Juan Fernandez überfluthet ward; die vou 1783, 1819,
182 2, 1829, das vou 183 5, wo Concepcion zum vierten
Male zerstört ward, das von 1837, welcbes Valdivia zer-
störte, und die häufigen und zum Theil heftigen Erdstöße von
1849, 1850 und 1851.
Peru. Die denkwürdigsten Erdbeben dieses Landes sind
die von den Jahren: 1582, 1586, 1600, 1604, 1605,
1609, 1630, 1655, 1678, 1687, 1690, 1697, 1699,
1716, 1725, 1732, 1734, 1738, 1743, sowie das vom
2 8. October 1746, welches Lima und Callao zerstörte,
und endlich das vom 30. März 1822, wo Lima zuletzt ziem-
lich bedeutende Zerstörungen erlitt.
Unter diesen Jahreszahlen sind einige auch für die am
13. Angnst diefes Jahres zerstörte Stadt Arequipa verhäng-
nißvoll gewesen, nämlich die Jahre 1582, 1600, 1604,
1687, 1725, 1732 und 1738. — Arica ist, soviel wir
aus den uns zu Gebote stehenden Ueberliefernngen ersehen,
nur einmal, im Jahre 1605, zerstört worden.
Es ist zu verwundern, daß von den aufgeführten mehr
oder minder zerstörend aufgetretenen Erdbeben kein einziges
Peru und Chile gleichzeitig getroffen hat (denn die für beide
Länder aufgeführte Jahreszahl 1822 gilt für Chile iu dem
Monat November). Ein Beweis, daß Erdbeben von sehr
weiter Erstreckung an der Westküste Südamerikas glücklicher-
weise seltener sind als solche, welche örtliche und streckenweise
große Verwüstungen anrichten. Die Natur der Westküste
mit ihrer oft von Vorbergen durchzogenen Gebirgskette der
Cordilleren, welche eine bald mehr bald minder mächtige
Maner nach Osten bildet, scheint es mit sich zn bringen,
daß die Erdbeben meist ein nicht so großes Gebiet dem Flä-
cheninhalt nach beherrschen. Dadurch wird es leicht begreif-
lich, daß die größten geschichtlichen Erdbeben nach den wich-
tigsten Städten benannt werden, welche durch sie zerstört
wurden. So spricht man in Chile vou den Erdbeben, welche
Concepcion zerstörten, und es geht auch aus unserer obigen
Uebersicht hervor, daß Concepcion mehrere Male das Un-
glück allein traf, während nur einmal die Hauptstadt Chiles,
Santiago, mit Concepcion das Unglück theilte.
Nicht so gut ist Lima, die Hauptstadt Perus, davouge-
kommen. Fast in allen großen peruanischen Erdbeben, welche
die Geschichte uns überliefert hat, ist gerade die Hauptstadt
der Mittelpunkt der Zerstörung gewesen. Die allerbeden-
tendsten unter ihnen, das vom 19. October 1682 und das
vom 28. October 1746, haben Lima, das letztere auch Cal-
lao, fast vollständig vernichtet. Die außerordentliche Größe
des letztgenannten, das auch seiner Zeit in Europa einige
Seusatiou erregte und iu den damaligen Tagesblättern be-
richtet wurde (siehe unter anderen den „Hamburger Corre-
spondenteu" vom 19. Jnli 1747), drängte die Bedeutung
des erstem so sehr zurück, daß seitdem nicht mehr, wie vor-
dem Jahre 1746, der 19., sondern der 28. October als be-
sonderer Festtag durch Messenlesen und Processionen in Lima
und Callao heilig gehalten wird; auch wird in den peruaui-
278 Wirkungen der Erdbeben
scheu Kalendern stets angegeben, wie viel Jahre seit dem
großen Erdbeben von 1746 verflossen sind.
Wir ersehen ans dem Vorhergehenden zur Genüge, daß
die Peruaner und Chilenen auf einem noch gefährlichem Bo-
den wandeln, als die Bewohner anderer Länder, welche Erd-
beben ausgesetzt sind, und ich habe es schon weiter oben be-
merkt, daß die Kunde der großen Erdbeben als eine leben-
dige Chronik ein wichtiges Element in dem gesellschaftlichen
Leben jener Völker bildet. Alexander v. Humboldt bemerkt
freilich in seiner alle allgemeinen wissenschaftlichen Erörte-
ruugen umfassenden Darstellung über Erdbeben, „daß in
Lima schwache Oscillationen des Bodens kaum mehr Auf-
merkfamkeit erregen, als ein Hagelwetter in der gemäßigten
Zone" (Kosmos, Bd. I, S. 225), und ich kann es selbst-
verständlich nicht in Abrede stellen, was der größte aller Na-
turforscher mittheilt. Die Peruaner, besonders die Einwoh-
ner von Lima, sind in der That ein leichtsinniges Volk, und
nicht jede kleine Erderschütterung bringt sie ans der Fassung;
aber Stöße von einiger Heftigkeit pflegen doch die Bewohner
sehr schnell auf die Beine zu bringen. Dasselbe gilt natür-
lich auch von den Chilenen, nur daß diese mir wo möglich
noch empfindlicher gegen die Kraftäußerungen der Erde er-
schienen sind. In Chile sind allerdings Erdbeben noch hän-
figer als in Peru, und je jünger die Erinnerung an beden-
tendes Unheil, das durch sie angerichtet wurde, um so empfind-
licher werden natürlich anch die Gemüther. So gab es in
Chile respective in Valparaiso viele Leute, welche vor dem gro-
ßen Erdbeben am 2. April 1851 wenig Besorgniß bei dem
Eintreten von leichten Erdstößen zeigten, nach den Erlebnissen
desselben aber bei jedem Erzittern der Erde die Häuser ver-
ließen und auf die Straßen eilten. Ausländer insbesondere
wissen selten die große Kraftwirkung zu würdigen, die ein
Erdbeben haben kann, bis sie dieselbe bei einem bedeutenden
Erdstoße in Erfahrung bringen.
Ich will mir erlauben, aus meinem eigenen Leben in
Chile zwei Fälle anzuführen, die hierher gehören. Ich war
die erste Zeit meines zehnjährigen Aufenthaltes au der West-
küste (von 1855 bis 1865) in der Provinz Coquimbo,
in deren Hauptstadt la Serena, Lehrer in englischen Schn-
len, und in beiden Fällen befand ich mich mit dem Unter-
richt chilenischer Knaben beschäftigt. Das erste Erdbeben,
welches ich erlebte, spürte ich nicht eher, als bis ich die ganze
Classe der Knaben sich plötzlich erheben und hinausstürzen
sah. Auf meine Frage: Was giebt's? hieß es: Un Temblor!
Un Temblor! Ich verstand kaum, was ein Temblor war,
ging aber den Kindern nach auf den großen Hofplatz, wie
ihn dort in Serena fast alle im maurischen Stile gebauten
Häuser haben. Die Erschütterung war eine sehr geringe,
aber die Kinder hatten das unterirdische Gerolle der Erde
gehört, wovon ich selbst gar nichts vernahm.
Der zweite Fall, von dem ich berichte, traf mich wieder
in einer Classe von Kindern — es war in der Schule des
Herrn Kerr —, und ich stand mit denselben, Rechnenans-
gaben lösend, an der Wandtafel, als plötzlich, ohne vorherige
Ankündigung durch unterirdisches Gebrülle, die Wände sich
erhoben nnd krachten. Eben so schnell stürzten wir Alle auf
den Hofplatz und warteten hier, bis das sich in verschiedenen
Stößm wiederholende Erdbeben vorüber war. Alle Men-
schen waren auf die Straße geeilt, und unter ihnen machten
sich einige Frauen ganz besonders durch das laute Beten von
Ave Maria, Misericordia lt. s. w. bemerklich. Es fand
freilich keine bedeutende Zerstörung statt, aber das Heben
und Senken der Mauern nnd Dächer machen einen eigen-
thümlichen Eindruck, nnd man bekommt Respect vor der Ma-
jestät unserer Mutter Erde. Unsere Schnlelasse trug einen
großen Riß in einer Mauerecke davon.
uf das Leben der Völker.
Außer diesen beiden kleinen Erdstörungen habe ich manche
Erdbeben sowohl in Chile als in Peru erlebt, aber keines,
welches so sehr der allgemeinen Beachtung Werth wäre als
das, welches die Stadt Mendoza in der argentinischen Re-
publik am 20. März 1861 zerstörte. Es mochte des Abends
7 Uhr fem. Ich befand mich in Valparaiso in dem
Hanse eines Freundes, mit diesem nnd einem dritten Freunde
im Gespräch, als auf einmal eine gewaltige wellenartige Be-
wegnng eintrat. Wir eilten hinaus auf den Hof und sahen,
wie die Dächer sich in langen Bogenlinien beweg-
ten, nicht, wie es gewöhnlich der Fall ist, auf- und nieder-
hüpfen. Dabei schien die Luft um uns sowie die ganze At-
mosphäre in einer eigentümlichen Aufregung. Die Hunde
heulten, die Schweine grunzten*), und selbst die Tauben
wurden auffallend unruhig, so daß es uns schien, als sei die-
ses Erdbeben von ganz außerordentlicher Natur. Die Nach-
richten bestätigten nur zu bald diese Meinung durch die
Schreckenskunde, welche einige Tage nachher von Mendoza
einlief.
Da die Eindrücke dieses Erdbebens, das auch in Europa
nicht ohne Theilnahme blieb, bei manchem Leser noch in guter
Erinnerung sind, so will ich nicht verfehlen, eine Erzählung
mitzutheilen, die mir einige Wochen nach der Katastrophe
von einem der die großartige Verwüstung überlebenden Be-
wohner der ehemaligen Stadt Mendoza berichtet wurde. Ich
stand, so ungefähr erzählte mir Herr Ferrari, ein Italiener,
in der Thür eines Kaffeehauses, wo ich eine Weile zugebracht
hatte, im Begriff nach meiner Wohnnng zu gehen, als ein
plötzlicher Erdstoß mich bewog, anf die Straße hinauszutre-
ten. Kaum habe ich Zeit, mich umzusehen, als sich rings
umher die Erde in gewaltigster Weife erhebt, und Secnnde
auf Secnnde, ehe ich Zeit habe, mich zu fassen, fallen die
Häuser wie Kartenhäuser zusammen. Die Laternen in den
Straßen erlöschen; die Lnft füllt sich mit Afche und Staub,
und Klagegeschrei von allen Seiten nmgiebt mich. ' Mein
erster Gedanke war: Die Welt geht unter! — denn mir ein
solches Erdbeben zu denken, vermochte ich nicht. Dann aber
erinnert mich das vielseitige Geschrei nach Hülfe, daß meine
Familie, die aus meiner Frau, unseren beiden Kindern und
der Schwester meiner Frau bestand, meine volle Besinnung
und Anstrengung in Anspruch nehmen muß. Ich gehe oder
vielmehr tappe in dem allgemeinen Entsetzen durch die Straße,
und es gelingt mir am Ende, die Straße zu finden, in der
ich noch vor einigen Minuten gewohnt habe, — jetzt eine
langgestreckte Ruine. Die Angst um die Meinigen überfällt
mich, und mit Riefenanstrengung, um meiner Besinnung
mächtig zu bleiben, fühle ich mich bis zu der Ruine, wo meine
Wohnung gestanden hat, jetzt ein zusammengefallener Stein-
haufen, von dem nur noch die eine Seite stehen geblieben ist.
Diese Seite zu erreichen, biete ich alle meine Kräfte auf, be-
ginne die Steine und den Schutt wegzuräumen, bis es mir
gelingt, den Theil der Wohnung iu Sicht zu bekommen,
wo unsere Schlafstube war. Ich rufe den Namen meiner
Frau: Carmelita! Carmelita! feid Ihr da? — und eine
Kinderstimme, die meines sechsjährigen Knaben, antwortet:
Hier sind wir, Papa! Mit aller Anstrengung meiner Kräfte
räume ich weiter weg, und endlich — wer kann meine Em-
psindung begreifen? — in der einen freigebliebenen Ecke des
Zimmers liegt meine Frau wohlbehalten im Bette, ihren
Säugling, von dem sie erst vor wenigen Tagen entbunden
war, im Arme, uud neben dem Bette steht der Knabe, den
*) Es ist hier nicht als Eigentümlichkeit anzusehen, daß die
Hunde bellen und die Schweine grunzen; sie thun dies bei allen
Erdbeben. Auch will ich noch bemerken, daß in einem Garten, wo
ich wohnte, ein Pfau stets sehr lebhaft schrie, sobald ein
Erdbeben eintrat.
Handel, Gewerbe, Ackerbau und türf
Sie hier bei mir sehen. Meiner Schwägerin nachzuforschen
war vergeblich, denn es war uns nur zu bald traurige Ge-
wißheit, daß sie unter den Trümmern des Hauses begraben war.
— So schnell wie thunlich bin ich meiner Frau zum Auf-
stehen behülflich, schlage ihr meinen Mentschikoff um und
suche sodann mit meiner kleinen Familie das Freie. Wir
begaben uns aus den großen Marktplatz, wo wir bereits Hun-
derte von Menschen vorfanden, welche, wie wir, dort das gött-
liche Geschick in genügsamer Entfernung von allen Häusern
erwarteten. Es war eine höchst unbehagliche Nacht, die wir
dort zubrachten, aber Dank dem Schöpser und unserer guten
Gesundheit, — wir waren doch gerettet. Alles Uebrige, —
welche Maßregeln wir am nächsten Tage trafen, um weiter
hinaus ins Freie vor die Stadt zu kommen, welche Hülfe
uns von San Jnan und bald darauf auch von Santiago
zukam, welche pöbelhaften Auftritte des Raubens in den
Neberbleibseln der Stadt vor sich gingen, und welche grauen-
he Wirtschaft im Paschalik Bagdad. 279
haften Scenen die zerstümmelten halbtodten Menschen dar-
boten, die aus dem Schutte hervorgeholt wurden: das Alles
haben Sie iu den Zeitungen gelesen.
Gewiß war das Erdbeben in Mendoza ein derartiges,
welches zu den denkwürdigsten gerechnet werden muß; schon
deshalb, weil östlich von den Cordilleren Erdbeben verhält-
nißmäßig selten sind. Es verdient aber auch wegen sei-
ner großartigen Vernichtung in den Chroniken der Erdbeben
aufbewahrt zn bleiben. Die Zahl der getödteten Menschen
war eine sehr beträchtliche; denn von den 15,000 Einwoh-
nern , welche die Stadt Mendoza mindestens hatte, ist nicht
die Hälfte mit dem Leben davon gekommen. Wenn es dessen-
ungeachtet in Europa nicht mehr von sich sprechen machte,
so liegt dies zweifelsohne an dem geringen directen Handels-
interesse, welches die Stadt für Europa hatte. Iu Chile,
welches mit Mendoza lebhafte Handelsverbindungen hatte,
war die Theilnahme eine sehr große.
Handel, Gewerbe, Ackerbau und
Als Handelsplatz hat Bagdad noch immer eine große
Bedeutung, obschon es auch in dieser Beziehung, nachdem es
längst als Sitz des Islams und Hauptstadt der Chalisen
aufgehört, in den letzten Jahrzehnten ungemein abgenommen.
Früher war es der Stapelplatz aller Waaren, die aus Per-
fieit und seinen Nebenländern nach Konstantinopel und Europa
geführt wurden. Seitdem aber die Dampfschifffahrtslinie
auf dem Schwarzen Meere von Trapeznnt nach Stambnl
eröffnet wurde, nehmen die meisten Karawanen ihren Weg
durch Hocharmenien. Jndeß diejenigen Artikel, welche für
Irak, Syrien und das Hedschas bestimmt sind, gehen nach
wie vor über Bagdad, und es ist unter Umständen sogar vor-
theilhaster, auch Sendungen für Europa auf der Straße nach
Aleppo und Jskenderuu zu befördern. Die Araber und die
Bewohner der Städte Chaldäas, Babyloniens und der an-
grenzenden persischen und kurdischen Landschaften versorgen
sich in Bagdad mit den nöthi^en Bedürfnissen. Hier sind
in den Chans und Magazinen Persische Shawls und Teppiche,
indische Stoffe, sowohl Seide wie Baumwolle, Waffen und
europäische Quincaillerie- und Mauufacturwaaren in ziem-
lichcr Auswahl aufgehäuft. Die größten Ankäufe werden
von den Persern und namentlich von den nach den Sijarets
der Schiaß ziehenden großen Pilgerkarawanen gemacht. Die
eigentlichen Araber haben wenig Bedürfnisse und sabriciren
das Wenige, was sie gebrauchen, meist selbst. Die Europäer
ihrerseits haben es bis jetzt noch nicht verstanden, sich nach
dem Geschmacke ihrer asiatischen Kunden zn richten uud machen
nur deshalb nicht immer so glänzende Geschäfte, wie sie es
berechnet haben. Am besten werden schmalstreifig gedruckter
aus mehreren Farben bestehender Kattun, Garne und Halb-
fabrikate, Waffen, namentlich Doppelflinten für Perser und
lange Läufe ohne Schaftnng für Araber, abgefetzt. Die
Glanzepoche der Glaswaaren ist dahin. Kupfer reutirt vor-
züglich, ebenso Tuche, dagegen dürfen Colonialwaaren und
raffinirter Zucker uicht in bedeutenden Quantitäten auf den
Markt geschleudert werden. Der Handel mit Calicos und
Stabeisen befindet sich in den Händen einiger englischen Kauf-
*) Vom Verfasser der „Einblicke in den osmanischen Orient".
türkische Wirthfchaft im Paschalik
ad *).
leute. Färbestoffe und Trachantgummi mangeln sehr oft
und bieten dann einzelnen Speeulanten ein günstiges Feld.
Das sehr mit Fett getränkte aber dauerhafte Leder kommt
aus Persien.
Die Haupteinfuhr an Taback kommt in großen Schlauch-
flößen aus der Gegend von Kerkueb oder für deu Nargileh
aus Persien; die Galläpsel ans den großen Steineichenwal-
dnngen, mit denen Kurdistan bedeckt ist, treiben ebenfalls von
Mossnl auf Flößen den Tigris hinab, werden in Bagdad
theils verkauft, theils anf Flußschiffe verladen und von Basra
nach Indien und Europa verführt.
Der wichtigste Export ist, wie ich schon früher erwähnt
habe, die Wolle, die im Frühjahr massenhaft auf Kameelen
durch Mesopotamien nach Aleppo und Marseille befördert
wird. Sonst geht kein Produet des Landes nach Europa;
nach Indien aber bringt man Reis, Getreide, Datteln und
Pferde. Die dazu benutzten Flußschiffe sind wunderliche an-
tike Kasten mit hohem Hinter- und flachem Bordertheil, uuge-
heureni aus rohen Baumstämmen gebildetem Steuerruder
und einem Mast mit einem mächtigen lateinischen Segel.
Die Nachen sehen noch weit primitiver aus. Es sind dies
wahrscheinlich genau dieselben Körbe, welche auf dem Nil ge-
bräuchlich waren, als die Pharaonische Prinzessin in einem
von ihnen den kleinen Moses fand. Sie heißen Kufa (Korb)
und bestehen in der That aus einem Binsengeflecht, das in-
nen und außen mit einer halbzölligen Lage von geschmolzenem
Erdpech überzogen und vollständig wasserdicht gemacht wor-
den ist. Ihre Form ist rund uud kesselförmig, doch derge-
stalt, daß der Durchmesser des im Wasser schwimmenden
Bodens um einen Fuß größer ist, als der des oberu Randes.
Ihre Tragfähigkeit reicht hin ein Pferd, oder bis zehn Men-
schett, oder eine entsprechende Ladung zu fassen. Natürlich
sind sie vermöge ihrer runden Form gerade uicht sehr lenk-
sam und beweglich. Sie sind das gewöhnliche Mittel über
den Fluß zu setzen und dienen dazu, die Verbindung der am
Ufer gelegenen Dörfer und Gärten mit der Stadt aufrecht
zu erhalten. Größere Fahrten unternehmen sie nicht. Der
Handel mit Basra wird mit jenen anderen antiken Holz-
Maschinen betrieben. In neuester Zeit erpediren zwei tür-
280 Handel, Gewerbe, Ackerbau und türkis
tische und ein englischer Dampfer, zu denen sich noch ein
britisches Kanonenboot gesellt, Waaren und Passagiere in
drei bis vier Tagen dorthin. Es ist auch die Rede davon,
eine Dampsschisssahrtslinie von Basra nach Bombay zu er-
richten; ob dies jetzt geschehen, weiß ich nicht genau, doch,
so wüuschenswerth sie sein mag, schätzen sie competente Leute
vorläufig für nicht rentabel. Die Zukunft Bagdads und
Basras wird von dem Zustandekommen der projectirteu
Euphratbahu abhängen. Sie würde nicht nur den schnell-
sten, sondern auch den billigsten Ueberlandweg nach Indien
bilden und den Euphratländern ihre alte Bedeutung wieder-
geben. Es ist der Mangel an Communicationen, der Haupt-
sächlich die Entwickeluug, wenigstens die materielle, der dem
türkischen Scepter unterworfenen Völkerschaften zurückhält.
Zu der inländischen Ausfuhr Bagdads gehören Haupt-
sächlich: die Datteln, Büffelhäute, welche bis Siwaß und
weiter transportirt werden, Marokinleder, gedruckte Kattune,
Seidenstoffe und geschäftete Feuerwaffen. Von dem Handel
leben die meisten Einwohner; indeß nicht immer auf sehr
rechtliche Art. Bessern Gewinn als die Concnrrenz mit den
verschiedenartigen Waaren wirft der inländische Wucher mit
Geld und Lebensmitteln ab. Große und kleine Specnlanten
borgen auf Pfänder zu 24 Procent und darüber, kaufen dem
Landmanne die Ernte mit Vorschuß gleich nach der Aussaat
ab, speichern Brotstoffe, Reis, Datteln und andere Boden-
producte in Magazinen auf, ja erstehen Schafherden und
Kameele, um sie zu eiuer gewissen Zeit zu dem doppelten
Preise loszuschlagen. Diese Geschäfte sind eben so sicher als
lncrativ. Der Mangel an prakticabeln Wegen uud die Furcht
des gemeinen Mannes vor den Schergen der Regierung oder
anderen Rändern bewegen ihn, seine Borräthe so schnell als
möglich gegen baar Geld, das er versteckt, umzutauschen.
Wem anders als dem Speculanten kann er sie en gros ver-
kaufen ? Kommt nun der Winter uud ist der Bauer feine
Erzeugnisse los, oder convenirt es ihm nicht, sie bei schlech-
tem Wetter zu Markte zu bringen, so hängt das große Pu-
blicum von den Händlern ab und muß sich, wenn es nicht
verhungern will, die Preise derselben gefallen lasten. Die
steigen dann im März gewöhnlich um das Dreifache dessen,
was sie im Juli gewesen sind. Natürlich leiden nur die Uu-
bemittelten durch den Wucher, denn die Vermögenden kaufen
zu der geeigneten Jahreszeit die Sachen ein, welche sie das
Jahr hindurch für ihre Haushaltung bedürfen. Die Beam-
ten der Regierung, auch der Gouverneur selbst, sind durch-
gängig mit dem einen oder andern dieser Blutsauger associirt
und treten, wenn er durch einen saumseligen Schuldner iu die
Verlegenheit zu klagen geräth, für ihn in die Schranken. Die
meisten treiben gleichzeitig das Amt der Finanzpächter, doch
dann müssen sie sehr thätig, schlau, aufmerksam und nner-
bittlich sein, wenn sie zu ihrem Gelde ohne Bankerott kom-
men wollen. Die üblichen Geschenke an die Permanenten
Regierungscommissionsmitglieder, an Essendis, Schreiber,
Rechnungsführer, Vögte und Baschibosnkhäuptliuge verschliu-
gen die große Masse des etwaigen Überschusses und nöthigen
den Unternehmer, seine Bauern bis auf das Blut zu fchiu-
den. Diefe bestehlen ihn dafür, wie sie immer können, ziehen
aber gemeinlich den Kürzern und laufen endlich davon: Kurz,
selten kommt ein anderer als ein offenbarer Betrüger zu sei-
nen Auslagen, indem er sich ruhig bankerott erklärt und vor-
giebt, er könne ans Anlaß eines Unglücks oder einer Miß-
ernte die Summe, die er sich dem Staate bei der Pachtung
zu zahlen verpflichtete, nicht aufbringen und läßt die Folgen
über sich ergehen. Hat er nun vorher feine Richter gehörig
geschmiert, oder sind sie und andere Mächtige gar seine Part-
ner, so braucht er von dem Ausgange der gegen ihn einge-
leiteten Untersuchung gar nichts zu fürchten. Das Tribunal
>e Wirtschaft im Paschalik Bagdad.
findet für ihn fo viel Milderungsgründe auf, daß er entweder
gleich vollkommen freigesprochen oder zum Schein mit ein
paar Wochen gelinder Hast bestraft wird.
Weil einmal der Sultan Murad IV. den Perfern, die
ihrerseits doch auch nichts weiter als Eindringlinge waren,
diesen Theil Iraks entrissen hat, wird das ganze große Land
als eine Domäne der Regierung und der Kirche erklärt, wor-
auf Niemand unter keinen Vorwänden Anspruch aus Eigen-
thumsrecht erheben darf. Einzelne Besitzer von Gärten wer-
den gleichsam nur geduldet und man benutzt sehr oft die
Gelegenheit, sich derselben wieder zu bemächtigen; daher kommt
es, daß die größten und schönsten der Regierung gehören und
von ihr an den Meistbietenden verpachtet werden. Mit den
Feldern ist dies immer der Fall. Die darauf wohnenden
Bauern sind lediglich Arbeiter, die mit dem Pächter einen
Contract über den ihnen zufallenden Theil der Ernte ab-
schließen; gewöhnlich ein Drittel des Bruttoertrages. Gefällt
ihnen der Handel nicht oder werden sie übervortheilt, beraubt
und betrogen, so steht es ihnen frei, ihre Schlammhütten zu
verlassen und sich in einer andern Gegend neue auszubauen.
Dies Verfahren ist ihnen jedoch nur bei den unbedeutenden
Pachtungen möglich, weil die Specnlanten keinen Einfluß
besitzen; bei den größeren hält man sie mit Gewalt zurück,
indem man sie durch bewaffnete Landreiter beaufsichtigen läßt.
Es bleibt ihnen dann nichts weiter übrig, als ihre geringe
Habe im Stich lassend heimlich nach Persien oder in die
Sümpfe zu flüchten. Hier kommen sie massenhaft vor Huu-
ger und Fieber um. Es giebt schwerlich einen andern Staat
in der Welt, wo der Ackerbauer so systematisch in Elend und
Tod gehetzt würde, als in der Türkei. Der Mohammedaner
ist noch weit schlimmer daran als der Raja. Der letztere hat
doch noch eine entfernte Haarbreite Möglichkeit, durch feinen
Bischof und in letzter Instanz durch seinen Patriarchen in
Konstantinopel eine Berücksichtigung zu finden, oder es ge-
lingt ihm, einen europäischen Consnl für sich zu interessiren,
aber so ein unglücklicher arabischer Fellah oder kurdischer Ge-
birgsbauer ist von Gott und der Welt vollkommen verlassen,
und wenn er hier und da noch anfathmen kann, fo verdankt
er das lediglich der Entfernung, der Furcht oder der Faulheit
semer Unterdrücker. Wehe jedoch denen, die in der Nähe der
Provinzialhauptstädte wohnen! Es ist kaum glaublich, wie
ungemein fchnell die Bevölkerung von Anatolien und Irak
in Folge dieser besinnungslosen Tyrannei abnimmt! Dazu
kommt für jene noch die Recrntiruug.
Daß es mit der Industrie nicht besser geht, wie mit der
Agricultur, läßt sich denken. Der einzige Artikel, den das
früher so gewerbreiche Bagdad jetzt noch für auswärtigen
Verkauf anfertigt, sind die Kefiah der Beduinen. Auch die
seidenen Umschlagetücher haben Ruf, sind aber anderswo nicht
Mode. Die Darstellung oder der Handel der Seise, der
Lichter, des Getreides, des Branntweins, der Butter u. s. w.
ist oder war ebenfalls Regierungsmonopol und wurde einzeln
verpachtet.
Die gewöhnlichen Handwerke stehen auf einer sehr unvoll-
kommenen Stufe der EntWickelung. Es ist einem Eingebo-
renen nicht möglich, irgend einen Artikel sauber, paffend oder
geschmackvoll herzustellen. Ein Individuum, das einen guten
Tisch, Stuhl oder sonst ein Möbel machen und Poliren könnte,
existirt gar nicht. Es ist eine miserabele und noch dazu un-
verhältnißmäßig theuere Pfuscherei. Stoffe und Hansgeräthe,
wenn sie einigermaßen nach Eleganz aussehen sollen, müssen
aus Indien und Europa bezogen werden. Am besten arbei-
ten die Perser, doch beschäftigen sie sich nur mit solchen Hand-
Werken, die sie im Sitzen ohne viel Schweißverlust ausführen
können. Sonderbar erscheint uns die Manier dieser Leute und
noch mehr der Araber, wonach sie sich in vielen Fällen statt
Aus allen
des Schraubstockes ihrer nackten Füße bedienen. Mit
den letzteren halten sie den Gegenstand, den sie mit den Hän-
den bearbeiten, gewöhnlich fest. Neuerungen haben sich indeß
schon stellenweise eingeschlichen, und es giebt Intelligentere
unter ihnen, welche die Vorzüge des Schraubstockes zu wür-
digen wissen. Die Färber und Gerber wie die Weber, Araber,
leisten in einzelnen Zweigen ihrer Fächer Erhebliches. Die
gedruckten Kattune und die blauen und rothen Hemden der
Weiber des Volkes zeichnen sich durch gute, dauerhafte und
lebhafte Farben aus, die man, wie es scheint, in den enro-
päischen Fabriken noch nicht vollkommen nachzuahmen Der-
standen hat; ebenso ist das Marokinleder, das zum Schuh-
werk benutzt wird, vorzüglich und zwar dauerhafter als unser
Kalb- oder Roßleder. Es giebt rothes, gelbes und grünes.
Bagdad bildet mit den umliegenden Districten, wozu im
Norden Kerkük, im Süden Basra, im Osten Mendeli, im
Westen Nedschef und Kerbela sammt anderen dazwischen lie-
genden Städten und Bezirken gehören, ein Ejalet (Provinz)
des türkischen Reiches. An der Spitze desselben steht ein Ge-
neralgonverneur, türkisch Wali genannt. Er ist gewöhnlich
ein mit dem Rang eines Marschalls (Mufchir) bekleideter
Militär, der ausuahmsweife auch die Civilgefchäfte unter
seiner Leitung hat. Ich sage ausnahmsweise, weil in den
anderen Provinzen stets außer dem Militärcommandanten
uoch ein Civilpräfect existirt. Indeß spielt dieser neben sei-
nem College« meist eine untergeordnete Rolle. Damaskus
hat gleichfalls nur einen Wali. Die civile Autorität des
Statthalters von Bagdad erstreckt sich jedoch z.B. nicht über
Mossul oder Nyssebin, obschon auch dort die Truppen unter
seinem directen Befehle stehen. Hier ist er nichts weiter als
der Befehlshaber des Armeecorps von Irak. Unter seiner
unmittelbaren Controle und insofern von ihm abhängend,
daß er sie von Konstantinopel aus absetzen lassen kann, ver-
walten Kaimakam-Paschas, d. h. Stellvertreter, die zu der
Provinz gehörigen größeren Sandjaks; Leute von geringerm
Rang aber die kleineren Bezirke. Der Generalgouverneur
steht gerade auf keinem beneidenswerten Posten. In der
Regel wird er alle zwei Jahre und womöglich noch früher
durch einen andern ersetzt, was der Provinz natürlich zum
größten Schaden gereicht; denn kaum lernt so ein oft ziem-
lich unwissender Mann — angenommen er sei wenigstens
ehrlich und erpresse nicht — annähernd die Bedürfnisse und
Verhältnisse des Landes kenneü, so muß er fort. Dazu kommt,
daß mau ihn geradezu zu Unterschleisen zwingt. Seinen
Posten erhält er, wenn er nicht ein ganz besonderer Freund
des Kaisers ist, nur dadurch, daß er einflußreiche Günstlinge
Erdtheilen. 281
und gewisse zu einer kleinen, stets in der Nähe des Thrones
verbleibenden Clique gehörende Großwürdenträger entweder
durch gleich gezahlte große Baarsummen für sich gewinnt,
oder sich verpflichtet, die bedungene Summe ratenweise abzn-
zahlen. Wenn er dabei im Amte bliebe, so ginge die Ge-
schichte uoch an; nun aber treiben andere Paschas denselben
Handel und macheu ihm Coucurreuz, so daß er nach Ablauf
eines Jahres jeden Augenblick seinen Sturz gewärtigen muß.
In dem Lande, wo er regiert, kennen die Leute die Lage in
Konstantinopel nur zu genau und es bildet sich dann in sei-
ner Nähe eine Partei, die es sich zur Ausgabe macht, ihn zu
stürzen, indem sie Anklagen gegen ihn hervorsucht, und diese
seinen Feinden und Neidern in der Hauptstadt mit den Be-
weisstücken in die Hände spielt. Kein Wunder, daß er jedes-
mal, wenn ein Courier ankommt oder der Telegraph arbeitet,
in der angstvollen Erwartung seiner bevorstehenden Absetzung
schwebt. Die Sache ist allerdings unangenehm; denn ein
Wesir und Mnschir darf keinen Anspruch auf Pension und
Gnadengehalt erheben und kann ohne einen Groschen in
Disponibilität versetzt werden. Erhält er etwas, so hängt
dies ganz von der Gnade des Sultans ab; dann übersteigt
die ihm bewilligte Summe selten 10,000 Piaster, während
er in Activität 50,000 bis 120,000 bezieht. Ein Pascha
oder Effendi Niedern Grades kann dagegen gesetzlich, so lange
er keine Verbrechen begeht, nicht ohne Weiteres und ohne
Entschädigung verabschiedet werden. Es geschieht aber, weil
die Gesetze in der Türkei nur tobte Buchstaben sind.
Unter solchen Umständen ist es gewiß nicht schwer zu er-
rathen, welche Anstrengungen unerlaubter Art ein Gouver-
ueur machen muß, um nicht nur zu seinen Auslagen zu kom-
men, sondern sich auch einen Rückhalt zu sichern, mit dem er
in der Residenz sein Heil aufs Neue durch Bestechungen ver-
suchen mag. Die Folge des Systems ist in nackten Worten,
daß er, so lange er das Heft in Händen hat, seine Gunst,
die Gerechtigkeit und die Staatsinteressen demjenigen Spe-
cnlauten verkauft, der ihm die größten Vortheile in klingen-
der Münze und anderen Geschenken anbietet. Von Ehrgefühl
ist dabei gar keine Rede; denn fei ein Mann im Orient wer
er wolle, so lange er Geld hat, ist er angenehm und er findet
immer Gönner, milde Richter und falsche Zeugen. Im
Grunde genommen ist die Corruption nicht gerade seine, son-
dern hauptsächlich der Centralregierung Schuld, die sie zu
ihrem Profit zu vermehren trachtet. Alle Leute von Ver-
stand, welche das Innere der Türkei näher kennen, sind
darin einer Meinung, daß die Centralisation das Ver-
derben des osmanischen Reiches und seiner Bewohner ist.
Aus allen
Anton Goering's Wanderung von Puerto Cavelto nach
dem See von Valencia in Venezuela.
Wir haben aus Valencia vom 2. October ein Schreiben
dieses rüstigen Naturforschers erhalten, zugleich mit einer An-
zahl in Farben ausgeführter Typen von Chaymas- und Coro-
Indianern und Indianerinnen, die ungemein charakteristisch sind
und die wir späterhin zu benutzen gedenken. Nachstehend geben
wir den wesentlichen Inhalt des Brieses. —
Mit dem 15. August ging die zehn Tage lange Belagerung
und der Straßenkampf von Puerto Cabello zu Ende;
damit ist die Ruhe wenigstens für hier wieder zurückgekehrt und
ich konnte mich endlich aufmachen nach Valencia. Ich trach-
Globus XIV. Nr. 9. (November 1868.)
Erdtheilen.
tete schon seit lange, diesen Punkt zu erreichen, um an den Ufern
und der weiten Umgebung des schönen Sees von Valencia
meine Arbeiten zu beginnen. — Sie werden schon aus Zeitun-
gen über den letzten Verlauf der Revolution in Venezuela unter-
richtet sein, ich will mich deshalb nicht dabei aufhalten, da ich
diesen Punkt auch so ungern berühre, weil ich für ineine Unter-
nehmungen stets Hindernisse fand und durch die Revolution einen
großen Theil meiner Zeit verloren habe.
Ich langte hier Ende August an und hatte den verfallenen
kürzern Weg über die Cumbre gewählt. Begleitet von einem
Zambo (d.' h. Mischling von Neger und Indianer) nebst seinem
dreizehnjährigen Sohne, verließ ich San Esteban zu Fuß,
während mein Gepäck vermittelst eines Karrens auf dem ge-
36
'282 Aus allen
wohnlichen bedeutend längern Fahrwege über Trincheras nach
Valencia ging. Man gelangt nach einer Stunde bis an die
letzte Niederlassung, von San Esteban aus. Sie heißt Cam-
panero und liegt hart am Wege; hinter ihr rauscht in der
Tiefe der Rio de San Esteban, der in seinem schnellen Lause
durch malerisch gruppirte Steingeschiebe und Gerolle herrliche
Partien bildet. Eine unendlich reiche Vegetation schmückt seine
Ufer und die oft ziemlich steil ansteigenden Bergabhänge. Es
würde zu weit führen und hier nicht am Orte fein, eine aus-
führliche Beschreibung des reichen Pflanzenwuchses zu geben,
welcher von San Esteban an bis nach der Eumbre das Küsten-
gebirge schmückt. Er gleicht ini Allgemeinen dem des Ostens
von Venezuela und dem von Guyana, obgleich hier die Höhen-
Verschiedenheit andere Pflanzen aufzeigt, welche sich im Osten
nicht finden dürften.
Ich will nur einen höchst merkwürdigen Baum hervorheben,
der als hier vorkommend noch nicht bekannt ist. Es ist der aus
Neugranada bekannte Balsambaum, von welchem der berühmte
Balsamo de Tolü gewonnen wird, Myroxylon Toluiferum,
eine der schönsten Leguminosen. Ich habe aus England beson-
dern Auftrag, Früchte und Blüthen für das Herbarium zu fam-
meln, aber nur erstere- erhielt ich bis jetzt, obgleich ich mehrere
Bäume fällen ließ und selbst fällte. Die Schwierigkeit, Früchte
und Blumen zu erhalten, ist ungemein groß und der Grund,
weshalb bis jetzt nur wenige Exemplare nach Europa gelangt
sind. Der Baum ist von ungeheurer Höhe, schlank und glatt,
und erst auf 30 bis 60 Fuß Höhe beginnen die schlanken Aeste;
auch habe ich bis jetzt noch keinen gefunden, welcher, wie die
meisten anderen Waldbäume, von Schlingpflanzen umflochten
wäre, die unter Umständen das Klettern ermöglichen. So kann
man nur durch Fällen des Baumes zu für das Herbarium
brauchbaren Früchten gelangen, und diese lösen sich zumeist
durch den Sturz des Baumes. Eine große Strecke der Um-
gebuug wurde von einem höchst angenehmen balsamischen Dufte
erfüllt, als ich einen Früchte tragenden Baum fällte. Er kommt
hier nicht selten, aber doch nur vereinzelt vor, und ich glaube
nicht, daß er aus Höhen, die gegen 1000 Fuß erreichen, sich
noch findet.
Hinter dem Eampanero ist der Weg für Reitthiere nicht mehr
gangbar. Allmälig beginnt das Steigen und hier und da engt er
sich zu einem schmalen verwachsenen Pfade zusammen, der ost 100
und noch mehr Fuß hart an den sehr steilen, sich in den rau-
schenden Fluß senkenden Gehängen hinführt. Uns überraschte ein
plötzlicher heftiger Regen, als wir an einer solchen Stelle
uns dem sogenannten Paso hondo näherten, und deshalb konnten
wir nur mit Mühe vorwärts. Wenn man so ganz durchnäßt
ist, wenn mit Macht der Regen herabfällt und durch nur leises
Berühren eines der taufend großblätterigen Zweige sich ein Strom
von Wasser über Einen ergießt, wenn in der Tiefe ein ange-
schwollener Fluß sich reißend Bahn bricht durch wildes Stein-
gerölle, und Blitze von heftigem Donner begleitet die Luft durch-
zucken, dann ist es ein in der That schwieriges Geschäft, auf
schmalem, verwachsenem und zerrissenem Pfade sich vorwärts zu
arbeiten. Aber in anderer Art erhaben ist unter solchen Um-
stünden der Anblick der Pflanzenwelt; sie zeigt sich uns in
einer ganz andern Physiognomie, als wenn das klare Sonnen-
licht auf sie fällt und nicht der geringste Luftstrom sie zu be-
wegen scheint. Das Ganze macht einen ernsten, tiefen Eindruck,
den die unendliche Mannichfaltigkeit der Formen und Farben
des tropischen Waldes noch mehr erhöht. Das Unbehagliche, ja
ost Gefahrvolle vergessend, blickt man mit Bewunderung auf
eine Gruppe von baumartigen Farren, deren malerische Kronen
von Millionen Silberperlen bedeckt zu sein scheinen. Jeder Blick
giebt ein anderes überraschendes Bild; denn auf kleinem Räume
neigen Hunderte von verschiedenen Pflanzenformen ihre Kronen
und Blätter vom Drucke des auf sie fallenden Regens, oder wer-
den vom braufenden Gewittersturme durcheinander gespielt. Wenn
im letztern Fall ein alter Riesenbaum dem ungeheuer« Luft-
drücke nicht zu widerstehen vermag, sich entwurzelt und krachend
aber langsam zu Boden stürzt, in seinem gewaltigen Falle Hun-
Erdtheilen.
derte von Zweigen seiner kräftigeren Nachbarn bricht und ein
unbeschreibliches, weit durch den Wald schallendes Getöse ver-
ursacht, dann erfüllt den Menfchen ein eigentümlicher Schauer.
Wie lange mochte der Baum, allen Wettern trotzend, eine stolze
Zierde des Waldes gewesen sein!
Am Paso hondo (— d. h. tiefem Paffe —), den wir nach
mehrstündigem anstrengenden Marsche erreichten, passirt man
den Fluß. Als dieser Weg über die Cumbre nach Valencia
ehemals noch in gutem Zustande war, ging man über gut ge-
baute Brücken, jetzt steigt man an das Flußbett herab, springt
von einem Steine zum andern, oder geht durch das Wasser
nach dem andern Ufer. Wir fanden hier in dieser reizenden
Waldgegend den Kuh bäum, Palo de Vaea, welchen mein
Jäger mit dem Machete (Haumesser) einhackte; sofort lief ein
Milchstrom heraus. Wir sammelten in kurzer Zeit eine halbe
Weinflafche voll.
Von hier aus wird die Steigung steiler und der Pflanzen-
wuchs gewinnt noch mehr an Großartigkeit, je näher man der
Cumbre kommt. Da sich die baumartigen Farren bis zu 30
und noch mehr Fuß erheben, können Sie sich eine Vorstellung
von den anderen Pflanzenformen machen, die vielfach einen un-
durchdringlichen Wald bilden.
Dieser Mannichfaltigkeit der Pflanzenwelt entsprechend ist
das Thierleben, welches sich indeß dem Wanderer mehr ent-
zieht. Man wandert oft lange Strecken ohne einen Vogel zu
sehen, nur selten ertönt der laute Ruf des Waldhuhns und
das Zwitschern kleiner Vögel. Unter solchen Umständen bleibt
der Eindruck weit zurück hinter der Erwartung, die man sich
machte, wenn man in europäischen Museen die zahlreichen Thier-
arten ausgestellt sah. Aber unter anderen Umständen, wenn
man am srühen Morgen im Walde an einer Wasser spendenden
Schlucht sich befindet, zeigt sich bald ein reiches Thierleben.
Auch macht die Wetterveränderung Eindruck auf-die Thiere
wie auf den Menschen. Wenn trübe Wolken sich zusammen-
ziehen und mit Donner und Regen drohen, dann erheben die
Brüllaffen ihr schauriges Gebrüll und viele andere Thierstim-
men deuten aus den Ausbruch des nahen Unwetters.
Wir gelangten nach mehrstündigem Marsche von Paso hondo
aus nach einer Stelle, welche man hier Las canales nennt.
Die Vegetation ist ungemein üppig und ganz besonders male-
risch gruppirt sind die vielerlei Baumarten. Zwischen tausend
und abertausend Pflanzensormen hindurch rieselt ein klares, sehr
frifches Wasser, welches eine lange Strecke weit den Weg bildet.
Hier wurde das Halbdunkel des Waldes herrlich belebt durch
buntfarbige Vögel. An den tptljen Blüthen der Helikonien
fummten Kolibris verschiedener Arten mit langen Gabelschwän-
zen, die Spathura Underwoodi umflog die Blumen des Guayave-
baumes. Ein prachtvolles Pärchen von der Gruppe der Cotin-
gida, die Pipreola formosa, fiel in meine Hände. Ich hatte
denselben Vogel fchon auf den bewaldeten Bergen von Caripe
in der Provinz Cumana gefunden. Wir schössen in kurzer Zeit
eine ziemlich große Anzahl verschiedener Vögel, wobei mein
Zambqjäger große Geschicklichkeit entwickelte. Ich hielt es manch-
mal für unmöglich, den Vogel zu bekommen, welchen ich an
einem Abhänge schoß, an dem er in den tiefen bewachsenen Ab-
grund fiel. Aber mein flinker Zambo überwand das alles;
halbnackt, mit dem großen Waldmesser, verschwand er im dich-
ten Buschwerk und kehrte in den meisten Fällen mit dem Vogel
zurück.
Während ich mich mit dem Ausstecken einiger Jnsecten be-
schäftigte, war mein Jäger um 50 Schritte vorausgeeilt. Plötz-
lich fah ich ihn stillstehen und eine geduckte Stellung nehmen,
wobei er hinter sich mit der Hand nach mir winkte. Ich schlich
ihm mit seinem Sohne näher und bald hörte ich ihn leise sagen:
„el tigre!7' Auf dem Pfade bemerkte ich sogleich die frischen
Abdrücke der Tatzen und blickte dann nach der Richtung, nach
welcher der braune Jäger forschte. So verharrten wir Drei eine
geraume Zeit, aber nichts war mehr zu vernehmen. Eine U nze^
die man hier allgemein Tiger nennt, mußte vor ihm über den
Pfad geschlichen sein, denn der Mann hatte das ihm bekannte
Aus all
Geräusch im Buschwerk vernommen und die Fitßabdrücke gaben
uns Zeugniß, daß er nicht falsch gehört. Die Unze ist im gan-
zen Küstengebirge wie im bewaldeten Innern nicht selten neben
noch anderen Katzenarten. Der Puma kommt bis ganz in die
Nähe von San Esteban und ich hörte dort von Einwohnern,
daß er oft in der Ortschaft selber bemerkt worden sei, schwangere
Frauen Versolgend.
Ich erzählte Ihnen diesen kleinen Vorfall, um anzudeuten,
wie viele ähnliche Fälle dem Wanderer auf so unsrequentirtem
Pfade Zeit rauben. Nur in wenigen Fällen kommt es zum
sichern Schuß, weil Alles fofort in das Dickicht verschwindet.
Wir tödteten mehrere Schlangen, schössen und griffen Alles auf,
was sich beim Marsche nicht schnell aus dem Wege machte und
für mich interessant war. Aber dabei mußte ich im Auge be-
halten, noch vor Einbruch der Nacht aus der Waldgegend zu
gelangen.
Wir erreichten endlich nach 4 Uhr die Cumbre und ich be-
grüßte zum dritten Male den großartig schönen Anblick des
Sees von Valencia mit seiner weiten malerischen Umgebung,
jetzt mit der sichern Aussicht, recht bald die weite vor mir aus-
gebreitete Landschaft nach allen Richtungen zu durchstreifen.
Wenn man einen ganzen Tag auf verwachsenen, vom Wasser
zerrissenen Wegen Berge bestiegen und fast immer im Halbdunkel
des Waldes die allernächste Umgebung durchspähend keine Fern-
sicht genossen hat, und zuweilen einen Blick auf den nächsten
ebenso bewaldeten Bergabhang genoß, oder hinab in die sinste-
ren, ewig feuchten Schluchten blickte, dann athmet man frei auf,
wenn man plötzlich an den Waldsaum tritt und den Blick in
die Weite schweifen lassen kann. Hier aber wird dem müden
Wanderer eine ganz besondere Belohnung für seine anstrengende
Tour. Besser gesagt, noch eine Belohnung auf die, welche er
fchon mitbringt, die er hochbefriedigt gefunden haben muß in
dem langen Anblicke der reichen Pflanzenwelt.
Die höchste Stelle, worüber der Weg führt, mag etwas über
3090 Fuß haben. Ich wage nicht, eine ausführliche Befchrei-
bung zu geben von der malerischen Landschaft, die so plötzlich
das Auge des Wanderers erfreut. In der Tiefe, vor dem Be-
schauer, laufen die vielfach gezackten Zweige des Küstengebirges
dem großen Seebecken, welches eine weite fruchtbare Ebene bildet,
zu, über sie hinweg, in der Richtung nach Süd und Süd-Ost
erblickt man den ausgedehnten See von Valencia mit seinen
reizenden Inselgruppen und Usern. Den Hintergrund schließen
in duftiger Ferne die blauen Berge von Cura und Guiyue!
wenn man sich ein wenig nach S.-W. zu W. wendet, erblickt
das überraschte Auge die Ebene von Naguanagua und Va-
lencia bis der Blick endlich an den Gebirgen von Nirgua,
Montalban u. s. w. in schwindender Ferne geschlossen wird. Die
Zweige, welche vom Küstengebirge aus nach der Ebene von Va-
lencia laufen, sind kahl; deshalb ist ihr Aussehen so eigenthüm-
lich und niacht einen merkwürdigen Eindruck, wenn man immer
nur hochbewaldete Berge zuvor gesehen hat.
Dieses malerische Relief der großen Landschaft, diese große
Mannichfaltigkeit in seinen Farben durch die Vegetation, die
große Wasserfläche eines Binnensees, die Abwechselung der Ebene
mit den Gebirgen und Hügeln, alles wird noch gehoben durch
Momente ihrer Beleuchtung vom tropischen Himmel. Ich habe
mit Entzücken den Aufgang der Sonne von hier aus beobachtet
und werde nie in meinem Leben den großen Eindruck vergessen
der verschiedenen Lichtwirkungen auf die oben oberflächlich fkizzirte
Landschaft. Es soll mir eine große Freude gewähren, Ihnen
nach meines Rückkehr durch große Tableaus eine klarere Vor-
stellung von der eben besprochenen Gegend in ihren verschiede-
nen physiognomischen Erscheinungen geben zu können. Lesen
Sie einstweilen die trefflichen Schilderungen A. v. Humboldt's
und Sic werden mit mir fühlen.
Nachdem wir uns an einer Quelle (Agua fria) erholt hat-
ten, stiegen wir an den kahlen Bergen hinab nach der Ebene
von Naguanagua und langten im Orte am Abend gegen 7 Uhr
an. Ich wurde bei Verwandten meines Zambo fehr freundlich
aufgenommen. Am nächsten Sonntag Morgen marschirte ich
Erdth eilen. 283
freudig in Valencia ein. Valencia ist eine freundliche Stadt,
in demselben Stile angelegt wie Caracas und hat im Ganzen,
obgleich bedeutend kleiner, viel Aehnlichkeit mit letzterer. Die
Lage ist sehr hübsch und von den Hügeln im Westen der Stadt
genießt man einen malerischen Blick auf sie, die weite Ebene
und einen Theil der Laguna mit den sie umgebenden Gebirgen.
Doch von der Stadt und ihren Bewohnern später.
Seit meiner Ankunft hier habe ich die Gegend schon rüstig
durchstreift; ich war eine Zeit lang in Guacare an der Nord-
feite des Sees, doch erst nachdem ich die Südfeite kennen gelernt,
will ich Ihnen ausführlicher darüber schreiben. Ich sehe, daß
es hier viel für den Zoologen zu thun giebt und gedenke vor
November oder Anfang December die Umgebung des Sees nicht
zu verlassen; dann hoffe ich endlich die lange ersehnte Reise
nach Merida und San Joss deEucuta antreten zu können.
Der Vernichtungskrieg gegen die Eingeborenen auf
Neuseeland.
Die „Civilisation" setzt auf den Inseln des großen Oceans
ihre blutige Arbeit unablässig fort. Ein Stillstand ist auch
nicht mehr möglich; das Werk muß vollendet werden, weil nun
einmal der Racenkampf entbrannt ist und die Unverträglich-
keit der braunen und der weißen Menschen klar zu Tage tritt.
Die Phantasten meinten, es sei ihnen möglich, die „Wilden"
(oder wie man eben so unpassend fagt, die „Naturvölker") nach
europäischer Schablone umzumodeln; sie gingen und gehen noch
in ihrem Wahne so weit, dieselben in „Christen" verwandeln zu
können. Aber sie werden fort und fort durch die Thatsachen
Lügen gestraft.
Was war das bis vor wenigen Jahren ein Loben und
Rühmen der Maoris auf Neufeeland, aus denen man schon
wahre „Musterchristen" gemacht zu haben vermeinte! Da er-
hoben sich plötzlich diese Musterchristen, schlugen Missionäre todt
und rückten mit dem wunderlichen System ihrer Pai-marire-
Religion heraus, welche beweist, wie sie die Dogmen der Mis-
sionäre sich in ihrer Weise zurecht gelegt hatten. Die Hau-
haus, über welche wir in diesen Blättern oftmals gesprochen,
führten einen erbitterten Kampf gegen die Weißen und bereite-
ten diesen große Verlegenheiten. Aber sie konnten bei ihrer
verhältnißmäßig geringen Zahl und gegenüber der europäischen
Taktik nur vereinzelte Siege erfechten. Viele wurden gefangen
und nach den Chatham-Jnfeln (Warrekauri) deportirt.
Damit waren sie aus ihrer Heimath entfernt und man glaubte
sie für alle Zeit unfchädlich gemacht zu haben.
In Wellington, der Hauptstadt Neuseelands, war man
nicht wenig überrascht, als man erfuhr, daß 'die nach Warre-
kauri deportirten Maoris sich befreit hätten und wieder in ihrer
alten Heimath erschienen seien. Der Hergang ist folgender:
Ein Regierungsschiff, der Schooner „Rifleman", war gegen
Ende des Junimonates nach den Chatham-Jnfeln gekommen,
um den dort zur Ueberwachung der deportirten Maoris befind-
lichen Soldaten allerlei Vorräthe zu bringen. Am 4. Juli
wurde das Fahrzeug von den Maoris genommen; sie zwangen
das Schiffsvolk, den „Rifleman" nach der Povertybai in Neu-
feeland zu schaffen. Dort brachten sie die Vorräthe ans Land
und verfchanzten sich in einem Pah, d. h. einer Art von Fe-
stung, in deren Bau die Neuseeländer sehr geschickt sind. Der
Plan zum Entweichen war von einem Hauhau-Propheten
entworfen worden; er hgtte sorgfältig Alles vorbereitet, um
denselben durchzuführen, sobald das Vorrathsfchiff angekommen
fein und vor Anker liegen werde. Er wußte, daß ein solches
allemal nach Ablauf eines Vierteljahres anlangte. Dieser Pro-
phet, Te Kooti, gab das verabredete Zeichen; die Gefangenen
fielen über die Wache her und banden die Soldaten an Händen
und Füßen. Einer derselben, welcher Widerstand leistete, wurde
fofort „getomahawkt", d. h. mit einem Keulenschlage getödtet;
weiter ging kein Menschenleben verloren. Der Oberbeamte, Capitän
Thomas, wurde gleichfalls gebunden und man nahm ihm seine
Verwaltungsgelder im Betrage von etwa 400 Pf. St. weg. Die
36*
284 Aus allen
Eingeborenen von Warrekauri und die dort lebenden wenigen
Europäer waren zum Widerstande zu schwach und mußten es
geschehen lassen, daß man Geld, Waffen und Schießbedarf aus
ihren Häusern nahm. Dann brachten die Maoris ihre Frauen
und Kinder an Bord und segelten sort. Die Gesammtzahl be-
stand aus 163 Männern, 64 Frauen und 71 Kindern. Drei
Männer und eine Frau wollten sich nicht mit einschiffen und
blieben zurück. Ein Beamter, welcher an Ort und Stelle ge-
schickt wurde, um über diese merkwürdige Episode zu berichten,
hebt hervor, daß der Plan mit bewundernswürdiger Umsicht und
Schnelligkeit ausgeführt worden sei. Er erklärt die Mäßigung,
mit welcher „eine Bande siegreicher Fanatiker" Versahren sei, für
preiswürdig. Als Eapitän Thomas sich beklagte, daß die Stricke,
mit welchen man ihn gebunden hatte, zu straff angezogen seien
und ihm Schmerz verursachten, lockerten sie sosort die Bande.
Von Rachsucht zeigten sie keine Spur und es wäre, wie ein
Berichterstatter meint, angemessen gewesen, wenn man sie nach
ihrer Landung auf Neuseeland in Ruhe gelassen hätte; als Ge-
fangene auf den Chatham-Jnseln waren sie sehr gut behandelt
worden und führten auch keine Klage. Nun aber wurden be-
wassnete Constabler, Freiwillige und einige Eompagnien Solda-
ten gegen sie ausgeboten und sofort begann das Scharmützeln.
Die tapferen Wilden wehrten sich wacker, wurden aber am 8.
August vom Obersten Whitmore aus einer ihrer festen Stellun-
gen vertrieben, aber sonst nicht weiter verfolgt. Bis zum An-
fang Septembers — so weit reichen die Nachrichten — hatten
die Weißen in allen Unternehmungen gegen diese Maoris nur
Mißgeschick; die „Wilden" haben sich nun in Gegenden an der
Ostküste gezogen, in welche man sie nicht verfolgen kann.
Inzwischen nimmt an der Westküste der Krieg seinen Fort-
gang. Dort hat Oberst M'Donnell eine Menge kleiner Dörfer
zerstört, nachdem vor einiger Zeit ein Posten der Weißen bei
Waihi vorn Maorihäuptling Tito Kauharo überfallen worden
war. Nun hat der Oberst den festen Pah bei Ngutu o te Manu
angegriffen und jenen Tito in der Art umzingelt, daß er sich
außer jeder Verbindung mit anderen Stämmen befindet. Sein
System lautet: summarische Züchtigung. Insgemein überfällt
er die Maoris vor Tagesanbruch und am 20. August erstürmte
er mit seinen 350 Soldaten einen Pah, welchen er sofort in
Asche legte. Er wird von einigen Maoristämmen unterstützt,
und wir sehen also dasselbe Schauspiel, wie bei den Indianern
Nordamerikas. Die Wilden selbst tragen wesentlich zu ihrer
eigenen Ausrottung bei. Aber am 7. September erlitten die
Weißen eine sehr empfindliche Niederlage. Diesmal ließen die
Maoris sich nicht überraschen; zwar verloren sie 27 Mann, alles
Hauhaus, aber die Weißen ließen 14 Soldaten und 5 Offiziere
aus dem Platze. Unter den letzteren befand sich auch ein Deut-
scher, welcher seit Jahren gegen die Maoris focht und dessen
Name oft genannt worden ist, der Major von Tempsky. Er
war, wie wir gelesen zu haben glauben, aus Braunschweig ge-
bürtig und siel, durchbohrt von der Kugel eines Hauhau, der
sich in den Zweigen eines Baumes verborgen hatte. Die Colo-
nialtruppen wollen den Krieg fortsetzen, der einen immer blu-
tigern Charakter annimmt.
Die neuseeländischen Inseln hatten nach dem Census von
1867 eine weiße Bevölkerung von 218,668 Köpfen und ihre
Zahl wächst durchschnittlich in jedem Jahre um 25,000 Köpfe
an. Die Zahl der Eingeborenen, der Maoris, stellte sich
schon 1858 auf kaum 56,000; sie ist seitdem viel schwächer ge-
worden, und die Zahl der kriegstüchtigen Männer und Jung-
linge wird höchstens 10,000 bis 12,000 betragen. Von diesen
sind viele den Engländern befreundet oder leben wenigstens in
Frieden mit ihnen. Von den feindlich gesinnten erscheinen im-
mer nur kleine Trupps von höchstens einigen Hundert Mann
im Felde. Sie sind so geblieben, wie sie stets gewesen; die Ei-
vilisation läßt sie innerlich unberührt, sie hat ihnen aber gute
Waffen geliefert und sie gelehrt, von diesen den besten Gebrauch
zu machen. Man sperrt sie ein und sie entlaufen; man depor-
tirt sie und sie kommen wieder; man greift sie an und sie hal-
ten Stand oder zerstreuen sich, und in den Scharmützeln und
Erdtheilen.
Gefechten find sie eben so oft Sieger wie Besiegte. Sie leben
über weite Räume zerstreut und deshalb kann man nicht mit
einem Male einen großen Schlag gegen sie sühren. So ver-
zettelt sich Alles und der Kampf wird dadurch ^in unabsehbare
Länge gezogen. Ueber den Ausgang desselben kann kein Zweifel
obwalten; die Maoris werden im Fortgange der Zeit unterlie-
gen und am Ende verschwinden. Das wird das Ende der Ei-
vilisations- und Missionsbestrebungen sein, — der Maori wird
der Geschichte angehören, wie so viele Jndianerstämme Nord-
amerikas, von denen nichts übrig geblieben ist als der Name.
Vertilgung der Eingeborenen im australischen
Queensland. Wir haben derselben schon oft erwähnt; jetzt
lesen wir l„Anthropological Review", October 1868), daß das
Werk der Ausrottung unablässig fortschreitet. Man meldet aus
Carpentaria, daß die Schwarzen einen vormaligen Polizei-
inspector, Manson, und einen Chinesen ermordet haben. Eine
zu Brisbane erscheinende Zeitung sagt nicht, was Anlaß zur
Ermordung gab, wohl aber, wie dieselbe „gerächt" wurde:
Die Schwarzen sind sehr unruhig geworden. Unweit von hier
haben sie mehrere Pserde gespeert und Steaks aus dem Fleisch
herausgeschnitten. Nun ritt die schwarze Polizei unter Führung
des Unterinspectors Uhr ins Feld und schoß etwa dreißig
Schwarze nieder. Als das eben geschehen war, lief die Nach-
richt ein, daß ein Herr Cannon bei Liddle und Hetzers Station
unweit von Norman ermordet worden fei. Herr Uhr ritt sofort
auch dorthin und hatte vollständigen Ersolg. Eine 14 Mann
starke Bande wurde von ihm abgefaßt, dann zwei andere je von
neun und acht Köpfen, und es gelang ihm, sie alle niederzuschie-
ßen. In der letztern Bande war ein Schwarzer, der 18 bis 20
Kugeln im Leibe hatte und doch nicht sterben konnte, da schlug
ein „Trooper" (Reiter) ihm den Schädel ein. In einem Lager
der Eingeborenen fand Herr Uhr einen Compaß. der Herrn
Manson gehört hatte, und einen Revolver, früher Eigenthum
eines Chinesen. Die Leichen dieser beiden wurden aufgefunden;
sie waren gräßlich verstümmelt. „Jedermann im Bezirk ist hoch
erfreut über diese Schlächterei en gros, bei welcher die schwarze
Polizei trefflich mitgewirkt hat. Herrn Uhr gebührt Dank da-
für, daß er diesen Bezirk vermöge seiner Energie von 59 My alls
(d. h. Eingeborenen) befreit hat." So hoch beläuft sich also die
Zahl der vertilgten Eingeborenen.
Zur Mission in Australien. Im Juni dieses Jahres
fand in Adelaide, der Hauptstadt von Südaustralien, die Jahres-
Versammlung der sogenannten A borig ines' Friends' Asso-
ciation Statt. Es bestehen in dieser Eolonie gegenwärtig
folgende Missionsanstalten zur Bekehrung der Eingeborenen: in
Poonindie, die älteste; in Far North, nördlich von Port
Augusta, wo die mährischen Brüder wirken; in Point Pierce;
in Lacepede Bai und in Point Macleay. Die letztere ge-
hört den Dissenters und steht unter der Leitung des Herrn G.
Taplin, und auf diese eben hatte obige Generalversammlung
Bezug. Aus dem Bericht entnehmen wir Folgendes. Mit den
Finanzen stehe es nicht besonders. Milde Gaben aus der Co-
lonie selbst wären bloß 220 Pf. St. eingegangen und zwar
meist nur von wenigen reichen Kolonisten; indeß habe eine sehr
bemittelte und fromme Dame in Schottland, der das Seelen-
heil der „armen Heiden" sehr am Herzen liege, ein Geschenk
von mehreren Hundert Pfund Sterling dargebracht. Die Co-
lonialregierung gewähre eine jährliche Unterstützung von 500
Pf. St. Wie sehr die Eingeborenen selbst (wirkte wir die-
selben aus langjährigem Verkehre kennen, möchten dies
außerordentlich bezweifeln) um ihr geistiges Heil besorgt
seien, beweise der Umstand, daß sie aus den Ersparnissen ihres
kärglichen Verdienstes 22 Pf. St. eingeliefert hätten! Man be-
absichtige, eine Capelle und kleine Wohnungen für die Bekehrten zu
bauen. Ein Eingeborener, Namens William Mac Hughes,
solle zum Missionär unter seinen Stammgenossen „ausgebildet"
werden und erhalte dazu ein von jener srommen Schottin aus-
gesetztes Stipendium von 40 Pf. St. pro Jahr. Aus und bei
Aus alle
der Anstalt befinden sich acht Knaben und zehn Mädchen, welche
die Schule regelmäßig besuchen; neun junge Männer und fünf
Frauen arbeiten am Tage auf der Farm und werden des Abends
unterrichtet; außerdem leben noch 55 Eingeborene, alt und jung,
nicht weit davon. Der Gottesdienst werde durchschnittlich von
12 bis 29 Erwachsenen und 14 bis 17 Kindern besucht. Sehr
viel davon sei jedoch weiter nichts als Aussaat und
müsse man auf eine spätere Ernte hoffen. Als Arbei-
ter verdienten die auf der Anstalt lebenden Eingeborenen den
entschiedenen Vorzug vor ihren übrigen Stammgenossen, denn
sie zeichneten sich durch Nüchternheit, Wahrheitsliebe, Keuschheit
und Fleiß aus! Von neun Eingeborenen müsse 'Herr Taplin
versichern, daß sie wirklich gläubige Christen seien und sünf
andere seien auf guteni Wege dazu. (— Die gewöhnlichen
Floskeln! —)
Solche Missionsberichte muß man immer mit Vorbehalt
lesen. Daß die Missionen im Allgemeinen sehr gerin-
gen Ersolg haben, weiß man an Ort und Stelle am
besten; von dem Dogmatismus zumal, welchen man
meist predigt, verstehen die Eingeborenen kein Wort.
So viel ist aber gewiß, daß, wo immer dieWeißen ih-
renFuß hinsetzen, von dem Augenblicke an dieSterbe-
liste der Farbigen um gewaltige Procente zunimmt,
bis sie ausgestorben sind. Uns fällt hier ein sehr wahres
Wort bei, welches vor ungefähr zehn Jahren der sehr intelli-
gente und im letzten Maorikriege oft erwähnte Na Wire mu
Tamihana te Waharoa, gewöhnlich William Thompson
genannt, gegen den damaligen Gouverneur aussprach: „Ihr (die
Europäer) nehmt (richtiger: raubt) uns unser Land und damit
unser Brot, — und dafür predigt Ihr uns das !Chriftenthum,
davon wir aber nicht leben können." —g—.
Die Chinesen in Californien. Für die Chinesen be-
standen in Kalifornien bislang sehr lästige und unbillige Be-
stimmungen. Dahin gehört insbesondere, daß sie ungewöhn-
lich hoch besteuert waren, daß sie kein Land eigentümlich erwer-
ben durften und endlich, daß ihr Zeugniß vor Gericht gegen
Europäer keine Geltung hatte. Es ist nun dem Bemühen des
jetzigen chinesischen Gesandten, Herrn Burlingame, in Washington
gelungen, einen Artikel in den neuerdings zwischen China und
den Vereinigten Staaten geschlossenen Vertrag hineinzubringen,
welcher obige Vorschriften aufhebt und die Chinesen niit den
Unterthanen anderer Staaten gleichstellt. Auch wird der Regie-
rung von Peking das Recht zugestanden, von jetzt ab überall
Konsuln zum Schutze der Ihrigen anzustellen.
Es leben in Kalifornien gegenwärtig ungefähr 62,000 Chi-
nesen, die — man kann beinahe sagen: ausschließlich — Ein-
geborene der Provinz Canton sind. Sie haben sich fast ohne
Ausnahme in sechs landsmannschaftliche Clubs vereinigt, und
ist diese Ziffer von der Zahl der Diftricte entlehnt, aus denen
die Emigrirten meist kommen. Ihre Namen sind folgende: Sam
Yap, Kong chaa, Ning young, Yeung wo, Hop wo und Hip kat.
An der Spitze dieser Clubs stehen nur Männer von An-
sehen und Rang, welche im Uebrigen die Leitung in ziemlich
absoluter Weise betreiben. Bei Ankunft eines Schiffes mit chine-
sischen Einwanderern begeben sich Emissäre an Bord desselben
und nehmen die aus ihren respectiven Districten Kommenden
unter ihre Obhut. Im Clubhause erhält der Ankömmling gegen
eine geringe Vergütung Kost und Wohnung, bis er ein Unter-
kommen gesunden, und ist er später einmal außer Verdienst, so
mag er, ausgenommen in Fällen von Faulheit und Liederlich-
keit, auch da wieder eintreten. Handelt es sich um Kranke und
Schwache, so übernimmt der Club, wenn nicht durch Privat-
beitrüge geholfen wird, ihre Pflege, bezahlt den Arzt und trägt
selbst, falls die Rückkehr nach China nothwendig wird, die
Reisekosten.
Eine fernere Aufgabe dieser Genossenschaft besteht darin,
die bürgerlichen Rechte ihrer Mitglieder zu überwachen und, wo
es nöthig, Advocaten anzunehmen, die sie vor dem Gerichtshofe
vertheidigen. Ist das Mitglied zu arm, um selbst die Kosten zu
Erdtheilen. 285
tragen, so zahlt der Club. Bei Streitigkeiten unter Chinesen
wendet man sich allemal an den Vorstand und dessen Entschei-
dung wird in den meisten Fällen als endgültig acceptirt.
Eine dieser Landsmannschaften hat sich auch die gewiß sehr
löbliche Aufgabe gestellt, dem abscheulichen Handel mit chinesi-
schen Mädchen, den manche nichtswürdige San Franciscaner be-
treiben, nach Möglichkeit zu steuern. .
Die Namen sämmtlicher Mitglieder sind in ein großes Buch
eingetragen, und um zu verhindern, daß Schuldner sich heimlich
davon machen, müssen alle, die nach China zurückkehren wollen,
zuvor dem Comits diese ihre Absicht kundthun, das ihnen nur
dann die Abreise erlaubt, wenn es sich überzeugt hat, daß sie
keine Schulden hinterlassen.
In den meisten Clubhäusern ist ein besonderer Raum vor-
Händen, in welchem die Geister verstorbener Mitglieder
verehrt werden. Es befindet sich darin ein Altar, auf welchem
Gaben von Verwandten und Freunden dargebracht werden, und
hinter demselben gewahrt man eine lange Liste derer, welche in
dem Lande des Exils, d. i. in der Fremde, gestorben sind.
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Fortschritt in Ostindien. In England bekümmert sich
das große Publicum im Allgemeinen nicht viel um die Verhält-
nisse in dieser Besitzung. Man hat sich allerdings gefreut, daß
dieselbe Baumwolle in wachsender Progression lieferte, größere
Theilnahme für Indien zeigt sich jedoch erst seitdem die Russen
Samarkand eingenommen hatten und viel von einem Conflicte
der beiden europäischen Großmächte im Innern Asiens gespro-
chen wird. Vor einigen Tagen hat nun ein Parlamentscandi-
dat, Herr Massey, der längere Zeit in Indien als Beamter
lebte, in der Baumwollenbörse zu Liverpool auf die große Be-
deutung dieses Landes und die Fortschritte desselben hingewie-
sen. Vor hundert Jahren, sagte er, bestanden die britischen Be-
sitzungen lediglich aus ein paar Handelsfactoreien, aber seitdem
hat eine Handvoll Europäer dort ein großes Reich erworben,
das vom Cap Comorin bis an den Fuß des Himalaya reicht,
und behauptet dasselbe durch Willenskraft, Tapferkeit und kluge
Politik. Diese letztere werde allerdings sehr verschieden beur-
theilt, man müsse jedoch in Betreff der vielfach getadelten An-
nexionen die eigentliche Sachluge ins Auge fassen. Ohne An-
nexionen, sagte Masfty, würde unser indisches Reich ein Ding
der Unmöglichkeit sein; ja, die Bedingungen unserer Existenz in
Indien wären ohne solche Annexionen aufgehoben worden. Wir
hatten nicht bloß mit auswärtigen Rivalen zu kämpfen, sondern
auch mit den indischen Fürsten. Es ist aber allezeit Wunsch der
Regierung gewesen, die Rechte der indischen Fürsten zu achten
und sie ist gegen dieselben nur dann eingeschritten, wenn drin-
gende Gründe und Veranlassungen dazu zwangen. So gegen den
unverbesserlichen Tyrannen in Audh (Lude), der sein Volk abscheu-
lich bedrückte; so auch in Maissur (Mysore), dessen Herrscher sich
mit auswärtigen Feinden verbündet hatte. Aber nach Vertreibung
Tippu Sahib's, welcher ein Usurpator auf dem Throne war,
hat man einen Erben des rechtmäßigen Herrscherstammes einge-
setzt, der sich freilich sehr untauglich zeigte; man mußte das Land
durch britische Beamte im Namen deS Königs verwalten lassen,
der im vorigen Jahre in hohem Alter gestorben ist. Nun ist
ein Adoptivsohn desselben König. Unter Umständen aber können
wir gar nicht umhin, Länder einzuverleiben.
In Betreff der Eisenbahnen ist Großes geschehen. Man
fährt nun mit Expreßzügen von Ealcutta nach Delhi, 1100
Miles, und bald auch bis Amballah am Fuße des Himalaya.
Die Linie von Allahabad bis Bombay ist ein Triumph der
Jngenieurkunst. Die Entwicklung des Eisenbahnsystems hat
nicht bloß in wirtschaftlicher Beziehung schon jetzt segensreiche
Folge gehabt und dem Handel mächtigen Aufschwung gegeben,
sondern auch auf die Anschauungen und die Sitten der Einge-
borenen umwandelnd eingewirkt. Schon jetzt ist durch dasselbe
mehr zur Beseitigung mancher Vorurtheile und namentlich des
Kastenwesens geschehen, als durch irgend welche Verwaltungs-
maßregeln. Der Respect vor einem Volke, das solche Schienen-
286 Aus allen
wege baut, ist gewachsen, die frühere Absonderung wesentlich ver-
»lindert worden. Zwischen 70 und 80 Millionen Pfund Ster-
ling britischen Capitals ist bei den indischen Bahnen angelegt
worden und die Regierung hat die Zinsengarantie übernommen.
— Das indische Budget ist größer als das von Rußland, Preu-
ßen oder Oesterreich. — Massey erwähnte dann der vielen Be-
wässerungscanäle, welche auf Antrieb der Regierung herge-
stellt worden sind und die von unberechenbarem Segen in einem
Lande erscheinen, das so viele sandige Strecken hat und theil-
weise an Dürre leidet. Man fährt unablässig fort mit diesem
Canalbau. — Es versteht sich von selber, daß Massey vor seinen
Liverpooler Zuhörern der indischen Baumwolle erwähnte; man
dürfe annehmen, daß der Anbau derselben nach und nach einen
noch größern Umfang gewinnen werde. Man hat, so schloß der
Redner, gesagt, daß wohl bald die Zeit kommen werde, da wir
aus Indien abziehen und das Land sich selbst überlassen müßten.
Ich glaube, daß diese Zeit noch in weiter Ferne liegt. Wenn
wir aber dermaleinst freiwillig oder gezwungen unsere Besitzun-
gen in Asien aufgeben, dann werden wir dort großartige Denk-
mäler unserer Herrschaft und unserer Civilisation zurücklassen,
und die Geschichte wird uns das Zeugniß ausstellen, daß wir
mit dem Pfände, das uns anvertraut war, in gutem Sinne
gewuchert haben. Durch Indien ist England mächtiger und rei-
cher geworden, aber Indien hat unter unserer Herrschaft nicht
nur nichts verloren, sondern viel gewonnen.
Die Hülfsquellen Spaniens und die Capitalien des
Auslandes. Als industrielle Leute auf der pyrenäischen Halb-
insel kann man eigentlich nur die Catalonier, Asturier und Gal-
legos betrachten. In manchen Provinzen versteht man sich gut
auf den Anbau des Bodens, indem man den Ueberlieserungen
aus den Zeiten der Mauren treu geblieben ist. Aber in dem
bisher von der doppelten Geißel des Pfaffenthums und des De-
spotismus heimgesuchten Spanien ist heute die Hülste der ge-
sammten Oberfläche eine steinige oder sandige Einöde. Auch
unter günstigen Umständen wird das Land nur langsam empor-
kommen. Ein Kaufmann in Eadiz schreibt („Times-Mail" 30.
October): „Sobald in religiöser Beziehung ein freieres System
zur Geltung kommt und die hohen Eingangszölle erniedrigt
werden, dann kann es nicht fehlen, daß die Küstenstädte von
einer Armee friedlicher Kaufleute — Deutschen, Franzosen, Ita-
lienern und Engländern — überzogen werden, welchen dann
allmälig in den Hafenplätzen das Uebergewicht zufallen niuß.
Der Spanier wird sich dann auf das Innere angewiesen sehen
und muß dort Landwirthschast treiben, für welche er sich gut
eignet und die ihm lohnenden Ertrag gewähren kann. Natür-
lich wird auf Unterricht und Erziehung große Sorgfalt zu ver-
wenden sein."
Die deutschen Handelshäuser spielen schon jetzt in Spa-
men eine Rolle; die größte Papierfabrik im Lande, jene zu Gra-
nada, ist in deutschen Händen!, aber die Engländer stehen in
Betreff der Kapitalanlage in der vordersten Reihe. Die Win-
gerte, welche den Scherrhwein liefern, sind zum großen Theil
in ihrem Besitze, schon seit 1808 haben die Ankäufe dieser an-
dalusischen Weinberge begonnen. In Jerez de la Frontera
sind 12 englische Handlungshäuser, deren Besitz in Ländereien,
Landgütern, Weinbergen und Vorrath an Wein auf die kolossale
Summe von 2,230,000 Pf. St. abgeschätzt worden ist. In
einer dieser Firmen haben englische Kapitalisten einen Antheil
von mehr als einer Million Pfund Sterling. Die Spanier
schätzen den Werth des britischen Eigenthums in Jerez und
dessen Umgebungen auf vier Millionen Pfund, jenes in Sevilla
auf 360,000, im Hafen Santa Maria 453,000 Pf. St., in
den Minenbezirken der Provinz Cordova 480,000, in der Pro-
vinz Huelva 580,000, in Eadiz, hier ihre Rhederei mit ein-
geschlossen, 350,000 Pf. St. Zwischen Utrera und Morore
haben die Engländer eine Eisenbahn für 650,000 Pf. St. ge-
baut, und so ergiebt sich, daß das britische Eigenthum in An-
dalusien sich auf 5,301,000 Pf. St. beläuft. — Die spanischen
Eisenbahnen sind fast alle von französischen Unternehmern
Erdtheilen.
gebaut worden: die Aktionäre machen aber kein gutes Geschäft,
weil es noch gar zu sehr an Verbindungswegen fehlt. Geist-
lichkeit und Königthum haben sich um solche Dinge nicht ge-
kümmert, sondern Schätze in todter Hand aufgehäuft; auch ist
die Bahnverwaltung schlecht. In den nördlichen Provinzen ist
viel englisches Capital im Bergbau angelegt worden. Am nütz-
lichsten sind aber die von englischen Compagnien angelegten
Bewässerungscanäle; so hat z. B. der Hsnarescanal
in der Provinz Guadalajara 300,000 Pf. St. gekostet. Wenn
ein verständiges und ausgedehntes System solcher Bewässerungs-
canäle ausgeführt würde, dann könnte es nicht fehlen, daß Spa-
nien ein ganz anderes Aussehen gewönne und doppelt soviel
Getreide lieferte wie gegenwärtig. Es unterliegt, den Unter-
suchungen englischer Ingenieure zufolge, nicht dem mindesten
Zweifel, daß mindestens zwei Drittel der jetzt trocken liegenden
Gegenden in Kastilien, Leon, Estremadura :c. anhaltend und
regelmäßig bewässert werden könnten; noch mehr, sie wären
dann wieder zur Anpflanzung von Wäldern geeignet, an wel-
chen das Land so empfindlichen Mangel leidet.
Die französische Compagnie der transatlantischen
Dampfer hat drei Linien: von Havre, Brest und St. Nazaire,
nach Amerika. Die Schiffe der erstern gehen direct von Havre
nach Neuyork, jene der zweiten von Brest nach Westindien: St.
Thomas, Havana, Vera Cruz mit Nebenlinie nach Neuorleans;
die der dritten von St. Nazaire nach den französischen Antillen,
St. Thomas, Guyana, Venezuela und dem Isthmus; sie stehen
im Anschluß an die englischen und amerikanischen Dampfer. Die
Compagnie will nun auch die Westküste Südamerikas in das Be-
reich ihrer Thätigkeit ziehen vermittelst einer Linie von Panama
nach Valparaiso; die Dampfer werden in den zwischen beiden
Punkten liegenden Häfen von Ecuador, Bolivia und Peru an-
laufen. Der Handel Frankreichs mit den fünf südamerikanischen
Republiken am Stillen Oceane beträgt jährlich etwa 130,000,000
Francs. Die Compagnie hat gegenwärtig 21 Dampfer von
17,000 Pferdekraft und 80,000 Tonnen Ladungsfähigkeit; diese
Flotte kostete 65,603,683 Francs.
Fortschritte der nordamerikanischen,Paeisic-Cisenbahn.
Zu Ende Septembers waren, den californischen Blättern zu-
folge, die Schienen der Central-Pacific-Eisenbahn bis nach Win-
nemucca, 318 Meilen von Sacramento, gelegt und die ganze
Tour bis dort dem Betriebe übergeben. Die Union-Pacific-Ei-
senbahn auf ihrer Seite hat ihre Schienen bereits bis 800
Meilen von Omaha gelegt; zusammen 1118 Meilen, wonach
bis jetzt noch eine Entfernung von 600 Meilen zu überwältigen
bleibt. In den letzten 8 Monaten hat die Union eine Strecke
von 260 Meilen, die Central 218 Meilen dem Betriebe über-
geben, mithin durchschnittlich 59 Meilen per Monat. Wenn
wir jedoch in Erwägung ziehen, daß beide Compagnien mit dieser
Bahn über Gebirge, resp. 7000 bis 8000 Fuß hoch, und noch
gerade dazu in der Winterzeit zu legen hatten, und die jetzige
Schnelligkeit, mit welcher die Arbeiten verrichtet wurden, be-
trachten, wo gegen 80 Meilen Schienen per Monat in der letz-
ten Zeit gelegt worden sirch, so dürfen wir annehmen, daß,
wenn nicht besondere Störungen vorkommen, die Hälfte der
noch zu legenden Bahn bis Anfang nächsten Jahres und die
übrigen 300 Meilen, Schneeregen und Sturm in Erwägung ge-
zogen, bis zum nächsten Juli fertig sein werden und die Be-
wohner an den Küsten beider Meere durch eine ununterbrochene
Eisenbahnlinie in Verbindung stehen. Wenn wir annehmen,
daß die 600 Meilen zwischen den beiden Bahnen per Wagen
fünf Tage in Anspruch nehmen, auf der Centralbahn, foweit
dieselbe bis jetzt vollendet ist, 16 Stunden, auf der Union-Road
bis Omaha 40 Stunden, so kann jetzt schon die Tour von
Sacramento bis zum Missouri River in 7 Tagen und
8 Stunden zurückgelegt werden. Die Distanz von Omaha
bis Neuyork, 1454 Meilen, nimmt 72 Stunden oder 3 Tage, von
Sacramento bis San Francisco circa 6 Stunden in Anspruch,
mithin würde es heute nur 12 Tage erfordern, um von San
Aus allen
Francisco am Pacific nach Neuyork am Atlantischen Ocean zu
kommen, die noch vor Ablauf dieser Zeit auf 10 Tage herab-
sinken können.
Alte Menschenspuren in Mittelitalien. Professor
Nicolucci fand im verflossenen Juni dergleichen bei Ausgrabun-
gen in den hohen Uferhügeln der Tiber, im Kies (bianchi di-
luviali) unweit von Rom, in einer Kieshöhle bei Pontemolle
und Tor di Quinto. Bei Rom findet man eine ausgedehnte
alluviale Ablagerung, mehr als 30 Meter hoch über dem höch-
sten Wasserstande des Flusses; Sand und Breccie sind sehr un-
regelmäßig durch einander gemischt und liegen in sehr unebenen
Betten; man findet dort Kreide und Feuerstein von der Jura-
formation, eocenes Gestein von den Apenninen, Breccie und vul-
kanische Stoffe aus den fubapenninifchen Gegenden. In dieser
ganzen Ablagerung kommen bearbeitete Flintsteine vor, zu-
meist in einer Tiefe von 10 bis 12 Meter unter der Oberfläche.
Es sind Messer, Pfeilspitzen, Lanzenspitzen, Kratzer, Keile, alle
so roh, daß man sie bei oberflächlichem Betrachten nicht für
Werke des Menfchen halten follte; alle sind von Feuersteinen
abgeschlagen worden, die theils gelblich und durchsichtig, theils
opalingrau erscheinen und welche durch Wasser aus der Central-
region der Apenninen dorthin geschwemmt worden find. In
denselben Betten fand Nicolucci Ueberbleibfel von ausgestorbenen
Dickhäutern (Elephas antiquus, meridionalis, primigenius)
zusammen mit solchen von Meies (Dachs), Felis und Testudo.
— Die Gebrüder Indes veranstalteten Nachgrabungen in einer
Knochenhöhle am Monte delle Gioie bei Ponte Salara
und fanden dort Steinwaffen und Geräthe zusammen mit Kno-
chen vom Elephas primigenius und anderen ausgestorbenen
Thieren.
Aufgefundene Fossilien in Südaustralien. In der
Nähe von Kap und a (Südaustralien), berühmt durch seine rei-
chen Kupferminen, wurden kürzlich in einem ausgetrockneten Creek
foffile Knochen aufgefunden, die dem ausgestorbenen Diprotodon
Australis angehören. Sie lagerten an der obern Seite eines
kleinen Riffes von Thonschiefer in der Tiefe von fünf Fuß und
waren wahrscheinlich durch eine Alluvialüberschwemmung dahin
getrieben, da der Creek sich erst in späterer Zeit gebildet zu ha-
ben scheint. Dieses gigantische Thier, von dem zuerst Sir Tho-
mas Mitchell auf seinen Expeditionen ins Innere Australiens
im Jahre 1837 Fragmente auffand und von dem ein erstes volles
Exemplar sich jetzt in der paläontologischen Abtheilung des briti-
schen Museums befindet, gehört den Marsupialien oder Beutel-
thieren au, fällt also ins Känguruhgeschlecht, hat aber trotzdem
auffallende Ähnlichkeit mit den großen Pachydermen. —g—.
Die Ritualisten in England sind bekanntlich diejenigen
Geistlichen und Mitglieder der anglikanischen Hochkirche, welchen
der äußere Kultus der letztern viel zu einfach ist und die des-
halb auf eigene Faust Kleiderpomp, Kniebeugungen, das Schwin-
gen der Weihrauchfäffer und allerlei andere „papistische Abomi-
Nationen", zu deutsch Abscheulichkeiten, eingeführt haben, welche
den übrigen Anglikanern als geradezu „shocldng" erscheinen.
Besonders auffallend treiben es die Ritualisten mit ihren Neue-
rungen in der Stadt Brighton, und es ist dort schon zu man-
cherlei anstößigen Auftritten gekommen. Wie weit die Ritua-
listen bereits auf dem Wege nach Rom hin vorgedrungen sind,
ergiebt sich aus folgenden Stellen einer Predigt, welche der hoch-
würdige Arthur Wagner, ein protestantischer Prediger, am
dritten Sonntage des Oktober in der St. Paulskirche gehalten
hat: „Der Protestantismus ist eine Religion, "Die auf der Tob-
tenbahre liegt; sie stirbt an Erschöpfung, aus Mangel an Le-
benskraft und weil sie in sich keinen innern Zusammenhang hat.
Wir haben sie nicht verfolgt, wie sie uns verfolgt hat; wir haben
sie sich selber überlassen. Ihr Alle wißt, wie giftig der Prote-
stantismus gegen Alle ist, die von ihm abweichen. Aber nun
ist seine Zeit abgelaufen; seine eigenen Kinder mißtrauen ihm.
Das Volk merkt nun, daß es ein weit sichereres Ding ist, Mit-
Erdtheilen. 287
glied der katholischen Kirche zu sein, als auf den hohen Plätzen
zu sitzen, wo der Protestantismus ist. Gottes Gnadenohr ist
dem Protestantismus verschlossen. Wer könnte eine Thräne ver-
gießen über den Untergang eines solchen Systems? Es geht zu
Grunde, rasch zu Grunde, und unter Gottes Beihülfe wird es
überhaupt recht bald mit ihm völlig zu Ende sein." Bei der
Neigung der Engländer zu allerlei theologischen und kirchlichen
Händeln fehlt es nicht an bitteren Controverfen. Daß die ang-
likanifche Staatskirche in ihren Grundfesten erschüttert ist, und
daß ihr Fall nicht ausbleiben kann, sobald einmal die irische
Staatskirche zu sein aufgehört hat, das darf man nicht bezwei-
feln. Aber vom protestantischen Standpunkte kann man es aller-
dings für „shocking" halten, daß ein Pastor, welcher den Eid
auf die 39 Artikel der anglikanischen Kirche geleistet hat, sich in
solcher Weise über dieselbe äußert, ohne vorher aus ihrer Ge-
meinschaft ausgetreten zu sein. Uebrigens ist es nicht zu ver-
kennen, daß die römische Kirche in wachsender Zahl Anhänger
in England gewinnt, während man ihr in anderen Ländern so
oft den Rücken kehrt.
Aberglaube auf den orkadischen Inseln. Die Land-
leute auf den Orkneys sind ruhige brave Leute, sehr fleißig in
ihrer Art, fast alle können lesen und schreiben und zumeist
sind sie auch bibelfest und heiligen sehr streng den Sabbath.
Aber trotzdem lebt doch noch mancher interessante Aberglaube
im Volke fort. Daß Menschen, welche ertrunken sind, in See-
Hunde verwandelt werden, glaubt man seit etwa einem Menschen-
alter allerdings nicht mehr, aber alte Frauen haben großen Ab-
scheu vor der Steinbutte und mögen den Namen dieses
Fisches nicht aussprechen. Viele Leute scheuen sich auch zu ge-
wissen Zeiten ihren eigenen Namen zu nennen, und allge-
mein vermeidet man bei Beginn einer Fahrt das Boot nach der
Richtung zu lenken, in welcher die Sonne steht (turning a boat
widdershins). Heirathen schließt man bei wachsendem Monde,
denn der abnehmende Mond gilt für „unfruchtbar". Der Don-
nerstag ist für den Abschluß der Ehe am günstigsten. — Das
Fleisch von einer Kuh, die bei abnehmendem Monde geschlachtet
worden ist, schrumpft im Topfe zusammen. — Es ist ein giin-
stiges Anzeichen, wenn das erste Lamm, welches im Jahre fällt,
weiß ist; ein schwarzes bedeutet Unglück. — Auf Stromneß
lebte bis 1840 eine alte Frau, Bessie Miller, welche für einen
Sixpence den Schiffern günstigen Wind verkaufte. Sie wird als
eine alte Hexe mit stechenden blauen Augen beschrieben, als eine
hagere und magere Hekate oder Sycorax. Sie stand vor einem
Kessel, in welchem es kochte, und machte Wind oder stellte ihn;
also eine Wetterhexe. Eine andere Zauberschwester war Steine
Beagh, und noch jetzt ziehen alte Weiber umher, welche Zahn-
schmerzen besprechen und schmerzloses Gebären versprechen. Unter
den frommen, puritanischen Leuten ist eine kleine Schrift ver-
breitet, welche allerlei Zauber bewirkt: „Abschrift eines Briefes,
den unser seliger Herr Jesus geschrieben hat;" sodann: „Des
König Agbarus Brief an unfern Erlöser, mit Jesu Antwort;
seine Euren und Mirakel; des Lentulus Brief an den römischen
Senat in Betreff Christi, treu aus der hebräischen Urschrift über-
setzt, welche sich im Besitz der Familie der Lady Euba in Me-
sopotamien befindet." Jedes Haus, in welchem sich dieses Buch
befindet, hat Glück, und die noch vorhandenen Exemplare dieser
Scharteke werden hoch gehalten.
Richard Burton, der unermüdliche Reisende, hat von San-
tos aus (in der brasilianischen Provinz San Paulo, wo er Eon-
sul ist) einen großen Theil Südbrasiliens durchwandert und be-
fand sich im September am La Plata. Von dort ist er gen
Süden nach Bahia Blanca und Patagones gegangen; nach
seiner Rückkehr von dort wollte er die Landschaft Gran Cha co,
ain rechten Ufer des Paraguay, erforschen.
Von Livingstone hatten wir seit Februar 1867 keine Nach-
richten; nun hat Dr. Kirk in Sansibar von ihm einen Brief
erhalten; der Reisende befand sich im October und December
288
Aus allen Erdth eilen.
1867 in Marungu und im Lande des Eazembe. Man meint,
daß er noch vor Schluß des Jahres 1863 in Europa wieder
eintreffen werde.
Die Auswanderung nach Amerika. In den Vereinig-
ten Staaten ist sie im laufenden Jahre verhältnißmäßig schwach
gewesen. In Neuyork sind bis zunr 14. October nur 179,165
gelandet gegen 200,319 im Jahre lö67. Durch die verwirrten
Zustände und die hohen Steuern werden viele Leute abgeschreckt
und wählen andere Auswanderungsziele. Der Director des sta-
tistischen Bureaus in Washington, Delmar, hat eine verglei-
chende Tabelle der Steuerlast für die Jahre 1860 und
1668 aufgestellt. Demzufolge betrugen die 1860 vom Volke
bezahlten Steuern für die Bundesregierung und -Verwal-
tung in runder Summe 56 Millionen; für die Verwaltung
der einzelnen Staaten 24 Millionen, und für die County-,
Stadt-, Special- und andere Taxen 54, zusammen etwa
134 Millionen, demnach 4 Dollars 32 Cents aus den
Kopf. — Im Jahre 1868 beliefen sich die Steuern sür die
Bundesregierung auf nahezu 500,000,000, die Staatssteuern
aus 750,000,000, die County-, Stadt- :c. Steuern auf
276,000,000 Dollars,.— Totalsumme 851,000,000 Dol-
lars oder 23 Dollars auf jeden Kopf der Gefammtbevöl-
kerung. Delmar will diefe exorbitanten Ziffern durch amtliche
Nachweife belegen. — Die Staatsfchuld der Union betrug
abzüglich des Baarvorraths am 1. October 1868 die Summe
von 2534,643,719 Dollars. — Die Auswanderung nach
Südamerka nimmt namentlich in den romanischen Staaten
zu. In der ersten Hälfte des lausenden Jahres kamen (bis 30.
Juni) in Montevideo an: aus Italien 4480 Köpfe; Spanien
und Westiudien 1777; Brasilien 1377; Frankreich 836; dann:
Belgien 358, England 201, Chile 187; aus anderen Ländern
123. Von jenen 9139 erhielten Alle schon in den ersten drei
Tagen nach ihrer Ankunft lohnende Arbeit und nur 323 hat-
ten nöthig, sich an das Einwandererbureau um Unterkommen
und Beschäftigung zu wenden. — Die deutsche Einwande-
rung in Südbrasilien, wo jetzt schon an 100,000 unserer
Landsleute im Wohlstande leben und blühende Gemeinden bil-
den, nimmt allmälig zu und wird ohne Zweisel immer stärker
werden, sobald die Vortheile, welche jene fruchtbare und gefunde
Region darbietet, allgemein bekannt und in verständiger Weife
gewürdigt werden.
# * *
— Die Anlagekosten der Eisenbahnen im Königreiche
Sachsen stellten sich zu Ende des Jahres 1866 aus 83,044,235
Thaler. Davon entfallen auf die Staatsbahnen 59,980,550
Thaler; auf die in Staatsverwaltung stehenden 3 Privatbahnen
6,945,997 Thaler; auf die in Privatverwaltung stehenden 5
Bahnen 16,117,688 Thaler. Auf die Meile Bahnlänge kommen
bei 3 Bahnen mehr als 800,000 Thaler (Zittau-Reichenberg
1,016,693; fächsifch-böhmische 936,820; Tharand-Freiberg 894,930
Thaler); dagegen erreichen sie bei 3 anderen Bahnen noch nicht
300,000 Thaler. Die Zahl der Locomotiven beträgt 318, alle
bis auf nur 29 deutsches Fabrikat; der Tender 256; 657 Per-
sonenwagen enthalten 25,147 Plätze; 9767 Lastwagen haben
1,360,540 Centner Gesammtladungssähigkeit.
— Die consolidirte österreichische Staatsschuld be-
trug am 30. Juni 1868 die Summe von 2564,729,916 Gulden
(umgerechnet in ein 5procentiges Capital); darunter befinden sich
532,225,974 Gulden rückzahlbare Schuld. Die jährlichen Zinsen
für die consolidirte Staatsfchuld stellen sich auf 102,065,016, für
die schwebende Schuld 5,367,126 Gulden.
— Die Baumwollenausfuhr aus Indien nach Eu-
ropa betrug 1858 nur erst 361,000 Ballen im Werthe von
2,970,518 Pf. St.; sie war 1866 gestiegen auf 1,847,770 Ballen
im Werthe von 25,270,547 Pf. St., also mehr als 170 Millio-
nen^Thaler. — Ueber die wachsende Baumwollenausfuhr
aus dem brasilianischen Hasen Bahia finden wir folgende An-
gaben: 1861: 116 Ballen; 1862: 6258; 1863: 12,298; 1864:
23,111; 1865: 47,450; 1866: 47,859; die Ausfuhr für 1867/68
wird etwa 88,000 Ballen betragen.
— Die Postbeförderung zwischen Europa, Neusee-
laud und Australien nimmt jetzt, auf dem Wege über Pa-
nama, keine vier Monate Zeit in Anspruch. Aus Briese, welche
am 2. Juli von Southampton abgingen, war die Antwort am
27. October in London eingetroffen, also nach 117 Tagen. Da-
von entfallen 22 und 9 Tage Zeit für Neuseeland und Sydney
zur Beantwortung der Briefe. Die Fahrzeit zwischen Welling-
ton auf Neuseeland und Southampton nahm 47 ^ Tage in
Anspruch, von Sydney nach Southampton 54 Tage.
— JnCalifornien hat man 1868 mehr als 25 Millio-
nen Büschel Weizen geerntet. Im Durchschnitt ergab der Acre
45 Büschels, in Santa Clara County aber 90 Büschels! Wir
wollen bemerken, daß auch Buenos Ayres eine ungemein
reiche Ernte an Weizen gehabt hat und den beträchtlichen Ueber-
schuß exportiren wird. Also wieder eine neue Getreideregion.
— Die Wirkungen des großen Erdbebens in der
Südsee hat man nicht bloß in Japan, aus den Sandwichs-
inseln und an der südlichen Küste Kaliforniens verspürt. Am
15. August, also gleichzeitig mit den Erdstößen, welche in Peru
seit dem 13. ununterbrochen sortdauerten, wurde die ganze
Ostküste der beiden großen Inseln Neufeelands von drei
mächtigen Fluthwellen heimgefucht. Sie waren bis zu 20 Fuß
hoch und richteten an manchen Stellen vielen Schaden an. Auf
den Chatham-Jnseln, wo man diese drei Fluthwellen gleich-
salls verspürte, waren an der Nordküste der größten die Ver-
Wüstungen beträchtlich. In Newcastle, Sydney, Süd au-
stralien und aus Tasmanien waren Ebbe und Fluth in
großer Unordnung. Ein Korrespondent, welcher zu Wellington
aus Neuseeland am 8. September diefe Notizen schrieb, hatte
eine richtige Ahnung, als er bemerkte: „Das Alles deutet auf
gewaltige Convulsionen, die vielleicht 2000 Miles östlich von den
Chatham-Jnseln vorgekommen sind. Wir auf Neuseeland ha-
ben um dieselbeZeit leichte Erdstöße gehabt. DerGeolog
Dr. Hector verfaßt eine Abhandlung über diese Erscheinungen."
Auch Europa wird nun von Erdbeben heimgesucht. Am
31. October verspürte man zu Leamingtvn in der Grafschaft
Marwick (England) mehrere Stöße; drei derfelben waren mit
Schwankungen und unterirdischem Rollen verbunden. Auch in
Worcester verspürte man schon am 30. October einen Erdstoß.
— In der Republik Chile sind im Jahre 1866 nicht
weniger als 14 Erdbeben vorgekommen: im März 3, April 3,
Mai 1, Juni 1, Juli 2, August 1, September 2, October 1.
— In demselben Jahre hatte die Hauptstadt Santiago 25 Re-
genschauer, welche sich auf 32 Tage vertheilten.
— Eine kymrische Zeitung, unter dem Titel „P Drych ",
d. h. der Spiegel, erscheint zu Utica im Staate Neuyork. Sie
ist das Organ der mehr als 100,000 Waliser, welche in den
Vereinigten Staaten leben.
— In Idaho und zwar in den Coeur d'Alenebergen
sind ungemein reiche Goldadern entdeckt worden.
— Aus Detroit in Michigan wird unterm 8. October
geschrieben: — Gestern kamen aus der Great Western Bahn
wieder 60 Mormonen an; sie gehen unverweilt nach dem
Großen Salzsee ab. Seit- dein Frühjahr sind mehr als 5000
Europäer, welche sich nun zur Lehre der Heiligen vom jüngsten
Tage bekennen, nach der Mormonenstadt gegangen; etwa 3500
kamen durch Detroit. Wir erfahren von dem Hauptagenten,
daß die Zahl im Jahr 1869 zwischen 10,000 und 12,000 be-
tragen werde. — Brigham Houng's Kirche nimmt fortwährend
zu und fchon nach wenigen Monaten werden die Locomotiven
an seinem großen Tabernakel im heiligen Neu-Zion vorüber-
brausen.
Herausgegeben vv» Karl Andree in Dresden. — Für die Redactivn verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
A n der Wolga.
Der Strom und dessen Schiffbarkeit. — Die Städte am obern Laufe. — Uglitsch und die verbannte Glocke; Romanoff, Kostronm,
Nischni Newgorod. — Die Tfchuwafchen als Schiffsleute. — Rufsische Bärenjäger. — Gestüte. — Die Tatarenstadt Kafan. —
Dampfer auf dem Strome. — Mündung der Kama. — Ssimbirsk, Ssamara und Ssaratow. — Die deutschen Kolonien, ihre
Geschichte und ihr Gedeihen.
Die Wolga bildet auf ihrem etwa 500 deutsche Meilen
langen Laufe die wichtigste Verkehrsader für einen großen
Theil des europäischen Rußlands. Vermittelst des ausge-
dehnten Canalsystems, welches die großen Wasseradern jenes
Reiches mit einander in Verbindung gebracht hat, kann man
voni Ural wie von der Ostsee Waaren auf den Strom brin-
gen, dessen Gebiet mehr als 20,000 deutsche Geviertmeilen
umsaßt. Von der Gesammtlänge des Laufes sind nahe an
400 Meilen schiffbar, aber das Delta unterhalb Astrachans
ist derart verschlammt und versandet, daß dadurch den Fahr-
zeugen große Hindernisse erwachsen. Vom Nordwesten her
erreicht die Eisenbahn den Strom bei Nischni Nowgorod,
die Zahl der auf ihm schwimmenden Dampfer ist beträchtlich,
und da er den directen Weg zum Verkehr mit der Westseite
des Kaspischen Meeres und den Nordprovinzen Persiens bil-
det und an seinem untern Laufe Tataren wohnen, Kalmücken
und Kirgisen mit ihren Herden umherziehen, hat man ihn
als ein halbasiatisches Wasser bezeichnet.
Wir haben vor einiger Zeit („Globus" XIII, S. 129)
eine Schilderung der untern Wolgaregion mitgetheilt; heute
wollen wir den Strom von seiner Quellgegend ab verfolgen.
Derselbe entsteht in einer Sumpfebene auf der Höhe des so-
genannten Wolchonski-Waldes (der alaunischen Höhen); das
Wasser dieser Moräste speist den „Jordanbrunnen" beim
Dorfe Wolgo, das im Ostaschkower Kreise des Gouverne-
ments Nowgorod liegt. Der Ablauf aus diesem Brunnen
(57° n. Br. 51° östl. L. v. P.) zieht dann durch eine Wald-
gegend und fließt durch eine Reihe von Seen. Die eigentliche
Schiffbarkeit beginnt bei Twer, welches den wichtigsten Ver-
kehrsplatz an der obern Wolga bildet. Weiter abwärts liegt
die alte Stadt Uglitsch, wo im Jahre 1591 ein in der
russischen Geschichte verhängnißvolles Drama spielte. Czar
Iwan der Grausame oder Schreckliche hinterließ zwei Söhne,
Feodor und Dimitri. Der erstere lebte zurückgezogen, lag
andächtigen Uebungen ob und übertrug die Ausübung seiner
Macht seinem Schwager Boris Gndunoss. Dimitri war
nach Uglitsch verwiesen worden und mit ihm, dem zehnjähri-
gen Knaben, lebten dort seine Mutter und drei Oheime. Feo-
dor war kränklich und Boris wollte Czar werden. Nur allein
jener Knabe, der rechtmäßige Thronerbe, stand ihm im Wege
und mußte deshalb beseitigt werden. Am 15. Mai 1591
erschien ein Vertrauter des Boris, Bitiagowsky, in Uglitsch,
bemächtigte sich des Knaben und ermordete ihn. Die Wär-
terin schreiet um Hülse, wird aber sosort niedergemacht; in-
Globus XIV. Nr. 10. (November 1868.)
zwischen kommen einige Diener herbei und nehmen den Mör-
der sest. Derselbe behauptet, Dimitri sei^in ein Messer ge-
sallen und das habe seinen Tod herbeigeführt. Einer der
Oheime läßt die Sturmglocke läuten. Das Volk rottet sich
zusammen und ruft laut, daß Boris Urheber der Schaudthat
sei. Dieser läßt inzwischen durch einige ihm völlig ergebene
Leute zum Schein eine Untersuchung anstellen und diese er-
klären, der Prinz sei allerdings in ein Messer gefallen. Die
Leute in Uglitfch hätten sich rebellisch betragen; etwa zwei-
hundert derselben wurden hingerichtet und viele andere ver-
bannt. Der Glocke, mit welcher man Sturm geläutet
hatte, wurden die beiden Henkel abgebrochen, sie selbst aber
wurde nach Jrkutsk verbannt. Nun haben im Jahre
1847 die Uglitscher um Begnadigung der Glocke gebeten nnd
Czar Nikolaus gewährte auch dieselbe; aber die Leute waren
zu arm, um die Transportkosten zu bestreiten, die sich aus
Tausende von Rubeln belaufen hätten. So ist sie denn in
Jrkutsk geblieben, und es wird dort, wie man sagt, jedesmal
mit ihr geläntet, sobald ein dorthin Verbannter die Erlaub-
uiß zur Heimkehr nach Europa bekommen hat. Boris wurde
Czar, das Reich durch ihn und dnrch Kronprätendenten zer-
rüttet und die Polen und Schweden spielten den Meister bis
1613. Damals wurde Michael Romanoff zum Czar
erwählt.
Ro mau off liegt an der Wolga unterhalb Mologa und
liefert viele treffliche, zum Theil schön nnd zierlich gearbeitete
Schafspelze, Tulupen, in den Handel. Der Strom ist in die-
ser Gegend ungemein fischreich und Wasservögel kommen in
unendlicher Zahl vor; die Russen scheinen indessen die Jagd
auf dieselben nicht zu lieben. Im Gouvernement Jaroslaw,
das zu fünf Zwölftheilen noch mit Wald bedeckt ist, findet
ein lebhafter Gewerbebetrieb statt; die Bewohner sind ein
hübscher Menschenschlag, fleißig, fparfam, und viele von ihnen
ziehen des Erwerbes halber weit und breit im Reich umher.
In der Nähe der Stadt Jaroslaw liegt eine Schänke,
welche gewissermaßen als ein Normal-Kaback betrachtet werden
und die Eigentümlichkeit der russischen Bauart veranschau-
lichen kann. Wir geben eine getreue Abbildung derselben.
Folgen wir dem Laufe des Stromes, so finden wir am
linken Ufer die Gouvernementsstadt Koström«, mit nur
etwa 15,000 Einwohnern, aber ungefähr 40 Kirchen, deren
vergoldete Kuppeln weit ins Land hineinleuchten. Rußland
ist in den meisten Beziehungen ungegliedert und so ist auch
seine Architektur sehr einförmig: Kirchen, Klöster, Caser-
37
An der Wolga.
291
neu, — Alles ist gleichförmig und nach der Schablone ge-
arbeitet. So wollte es auch Czar Nikolaus. Der Mann
hatte einige definitive Pläne als ein- für allemal Mustergut-
tig ausgestellt und nach diesen wurde gebaut. „Laut Nr. 1,
2 oder 3, je nach der Volkszahl einer Ortschaft." Das paßt
ganz zu der übrigen Reglementirnng aller möglichen Dinge,
welche sich der Kaiser ein- für allemal in den Kopf gesetzt
hatte. Nebenbei haben die Russen eine wahre Manie, die
Gebäude mit Stnck und Mörtel zu überladen, und mit dem
Anstreichen und Ueberpinseln sind sie dermaßen bei der Hand,
daß Scnlpturen und Inschriften dadurch nicht selten nnkennt-
lich werden. In Kostromä. zeigt man das Haus, in welchem
Michael Romanoff wohnte, als er 1613 auf den Thron berufen
wurde, uud das Denkmal des Bauern Susanin. Auf dem
Piedestal erhebt sich eine Granitsäule und oben auf derselben
steht ein Brustbild des genannten Czaren, während gleich vor
demselben und dicht über dem Untersatz ein bärtiges Bild jenes
Bauern zu sehen ist; er kniet und hat wie zum Gebet die
Arme über die Brust geschlagen. Als einst die Polen ins
Land gekommen waren, zwangen sie Susanin, einer Abthei-
lung von 3000 Mann als Wegweiser zu dienen; er aber
führte sie in die Irre, und sagte ihnen zuletzt, er habe das
mit Vorsatz gethau, damit sie alle umkämen. Trotz aller
Mißhandlungen gab er ihnen den rechten Weg nicht an; er
wurde ein Opfer seiner That, aber die Polen erlagen zumeist
dem Hunger nnd der Kälte. Das Dorf Kar ab o novo,
Snsanin's Heimath, ist seitdem von Abgaben frei und braucht
auch keiue Recruteu zu stellen.
Von Kostromä. ab ist das Uferland der Wolga mit dich-
ten Wäldern bestanden; am rechten Ufer giebt es indeß
Russisches Dorf.
manche Lichtungen. Die gebahnten Wege, durch welche die
einzelnen Ortschaften die Verbindung mit einander unterhal-
ten, bestehen zuweilen aus breiten sogenannten Knüppel-
dämmen, für deren Anlage das erforderliche Material überall
zur Hand ist. Auf dieser Strecke des Stromes sind die Dam-
pfer oftmals mit Menschen und Waaren überfüllt, namentlich
im Sommer, wenn die große Jahresmesse zuNischni Now-
gorod abgehalten wird, welche am 1. Juli beginnt und bis
in den August hineindauert. Auf ihr begegnen sich Waaren
und Menschen aus dem Abend- und aus dem Morgenlande.
Von nun an wird das ganze Leben und Treiben für einen
Westeuropäer immer fremdartiger. Auf den Schiffen, welche
stromab fahren, ist ein buntes Gemisch von Leuten aus weit-
entfernten Gegenden; der Kalmück geht anf dem Verdecke
neben dem Finnen, der Deutsche aus den Ostseeprovinzen
oder aus deu Colonien an der Wolga neben dem Türken oder
einem Perser, dessen Gürtel uud Turban aus einem prächti-
gen Kaschmirshawle bestehen. Das orientalische Wefen macht
sich schon bemerklich; auf dem Hinterdecke sitzen gewöhnlich
tatarifche Frauen, welche Kopf und Gesicht mit einem großen
blauen Tuche verhüllen, sobald ein fremder Mann in ihre
Nähe kommt.
Unter dem Schiffsvolke bemerkt man eine beträchtliche
Anzahl Tschuwaschen. Sie gehören zu den sogenannten
Wolga-Tschuden und zählen in den Gouvernements Wjatka,
Kasan, Orenbnrg, Ssamara, Ssaratow und Ssimbirsk etwa
430,000 Seelen; ihre nächsten Stammverwandten der „Wolga-
Race" sind die Mordwinen und Tscheremissen. Der Tschn-
wasch ist kräftig und wohlgebaut; er trägt einen aus grober
Leinwand gefertigten Rock ohne Kragen; am Halse, vor der
37*
An der Wolga.
293
Brust und den Enden der Aermeln bringt man gern Seiden-
stickereien an. Die Tschuwaschen haben sich zwischen Nischni
Nowgorod und Kasan erst in der Mitte des sechszehnten
Jahrhunderts festgesetzt, ein Theil derselben ist zum Christen-
thum bekehrt worden, Alle aber machen sich als Arbeiter nütz-
lich, theils als Ackerbauer, theils als Schiffsleute. Von den
Russen werden sie insgemein als Burlakis bezeichnet.
Manchmal findet man auf einem Wolgaschisfe mehr als vier-
zig solcher Leute. Die Dampfschiffahrt, durch welche die
Waareu vermittelst der Remorqneure rascher uud regelmäßi-
ger befördert werden, hat ihnen vielen Schaden gethan, weil
jetzt nur uoch- verhältuißmäßig wenige Schiffe stromauf ge-
treidelt werden. Im Jahre 1860 entstanden durch außer
Brot gekommene Burlakis Unruhen in Kasan, und Edel-
leute, welche über die Emancipation der Bauern mißvergnügt
waren, zeigten sich dabei nicht nnthätig. Die Regierung mußte
Truppen kommen lassen und der Ausgang war, wie er ge-
wohnlich bei dergleichen Aufläufen zu sein Pflegt: eine An-
zahl von Burlakis kam ums Leben.
Unsere Abbildung der Ortschaft Jfadfchi, am rechten
Ufer, macht klar, wie manche Wolgadörfer und die Uferhöhen
sich ausnehmen. Weiterhin legt der Dampfer bei Maka-
rieff an, das bis 1817 ein wichtiger Handelsplatz war, denn
dort wurde die große Messe gehalten, durch welche seitdem
Nischni Nowgorod so wichtig und weltberühmt geworden ist.
Jetzt ist der Platz verödet und muß sich damit trösten, daß
er noch die Kirche und das Kloster des heiligen Makarius
besitzt. Die Einwohner sind mißvergnügt darüber, daß sie
alljährlich das Reliquienkästchen, in welchem sich Kuochen
jenes Heiligen befinden, nach Nischni Nowgorod znr Ein-
Jsadfchi an der Wolga.
Koffer, zumeist aus Blech, welche gewöhnlich roth oder blau
glänzend lackirt werden uud bis nach Vorderasien hinein regel-
mäßigen Absatz finden.
Allmälig treten in Zwischenräumen auch schon Steppen
auf, namentlich unterhalb der Einmündung der Weluga. Auf
deuselbeu tummeln sich in zahlreicher Menge die Pferde um-
her, welche in den verschiedenen Gestüten gezüchtet werden.
Es giebt in dieser Gegend eine beträchtliche Anzahl derselben;
manche davon gehören dem Staate, welcher ans ihnen
Remontepferde bezieht. In den Wäldern Hausen Wölfe und
Bären in größerer Menge als den Bauern lieb ist, und
manchmal werden diese wilden Thiere, z. B. im Gouverue-
meut Kasan, so lästig, daß die Bauern ihre Jsba (Gebäude,
Wohuuug) verrammeln müssen, um uicht unwillkommenen
Besuch von den ausgehungerten Bestien zu erhalten.
Für die Bärenjäger ist diese Gegend ein geradezu clas-
sischer Bodeu. Sie sangen den Meister Braun entweder in
Erdfallen oder erlegen ihn mit dem Schießgewehr, der ruf-
fische Bauer dagegen verfährt nach einer ihm eigentümlichen
Methode. Er nimmt einen kleinen Pfahl oder einen starken
Knüttel, dessen Spitze er im Feuer gehärtet hat, und hat
ein Messer im Gürtel. Ohne weitere Vorbereitung geht er
in den Wald, um den Bär aufzusuchen. Dieser nimmt den
Kampf nicht gern an, falls er nicht zuvor verwundet worden
ist oder seine Jungen zu vertheidigen hat, sondern trollt ab.
Der Bauer verfolgt ihn uud ruft alle möglichen Schimpf-
294 An der Wolga.
An der
Wörter hinter ihm her. Daran kehrt sich der zottige Gesell
nicht, sondern sucht nach einem sichern Schlupfwinkel. Wenn
ihm aber der Bauer dicht auf den Fersen ist, drehet er sich
um, stellt sich aus die Hintertatzen und macht Anstalt, seinen
Verfolger zu umhalsen und zu erwürgen. Nun beginnt der
Kampf, bei dem es sich allemal um Tod oder Leben handelt.
Das weiß der Bauer, und bevor er angreift, schleudert er
noch einmal seinem Gegner ein paar der allerderbsten Schimps-
Wörter ins Gesicht, welche insbesondere der Mutter des Bä-
ren nicht zur Ehre gereichen. Dann rennt er mit dem Pfahl
auf jenen ein, um ihm den Bauch aufzureißen; gelingt das
nicht, so greift er zum Messer, um einen Stich ins Herz zu
führen. Verfehlt er dasselbe, dann ist er verloren; gewöhn-
lich aber trifft er gut und bleibt Sieger.
Solch ein Bärenjäger kennt keine Furcht, so lange er es
mit den ersten neununddreißig Bestien zu thun hat. Aber
vor dem vierzigsten Bären hat er einen heillosenRespect;
er zittert, mit dem zusammen zu treffen. Aber da das nun
doch gelegentlich einmal geschehen wird oder muß, so legt er
sich aufs Beten, unternimmt eine Wallfahrt nnd spendet der
Wolga. 295
Kirche Opfergaben. Der Aberglaube spielt in Bezug aus
den „Vierzigsten^ eine große Rolle, und an den langen Win-
terabenden, wenn die Bauern im warmen Zimmer sitzen,
weiß man darüber Dinge zu erzählen, welche auch beherzten
Leuten das Blut von der Wange drängen. Aber was Hilst
das Alles; hat man es schon mit so vielen ausgenommen,
dann muß auch der vierzigste an die Reihe kommen, und
nimmt man ihm den schwarzen Pelz ab, der in Kasan mit
hübschen Rubeln bezahlt wird, dann hat man einen hübschen
Profit und ein paar Centner wohlschmeckenden Bärensleisches
obendrein. Kasan ist für den Handel mit Rauchwaa-
ren von Bedeutung. Diese kommen zumeist aus Sibirien
und selbst aus Kamtschatka. Man findet außer den Fellen
von Büren auch jene von Füchsen, namentlich auch von den
blauen, sodann Wölfen, Mardern zc.
Kasan liegt fast eine deutsche Meile vom linken Ufer
der Wolga entfernt an der Kasanka und nimmt sich mit den
Kuppeln seiner Kirchen und den Minarets seiner Moscheen
ganz stattlich aus. Vom Strom ab führt eine auf Pfählen
ruhende Straße bis in die Stadt; zur Linken derselben sieht
Ein russischer
man eine 1811 errichtete Pyramide zum Andenken an die
russischen Soldaten, welche 1552 bei der Erstürmung von
Kasan gefallen sind. Wer an Ort und Stelle sich befindet,
wird nicht fragen, weshalb die Stadt so weit vom Strom
entfernt gebaut worden ist. Die Ebene ist häufigen Ueber-
schwemmungen ausgesetzt, die Stadt selber vou einem See
umgeben, dessen Spiegel in gleicher Höhe mit dem beträcht-
lichsten Wasserstande bei großen Überschwemmungen liegt.
Deshalb hat man auch die eben erwähnte Straße auf Pfäh-
leu bauen müssen, damit in jeder Jahreszeit die Verbindung
zwischen der Stadt und den Magazinen am Strome nicht
unterbrochen werde.
Die alte Tatarenstadt hat manche Wechselfälle erlebt.
Sie wurde 1552 vom Czar Iwan dem Schrecklichen bela-
gert; sein Heer stand in der großen Ebene zwischen Kasan
und der Wolga. Am 2.October ließ er Sturm laufen und
nahm den Ort, aber die Tataren verteidigten mit wilder
Tapferkeit jede Straße und jedes Haus, so daß die Russen
ungehenern Verlust erlitten. Im Innern der eben erwähn-
ten Pyramide befindet sich eine Capelle; in dem dort befind-
lichen Sarge werden die Schädel der Offiziere aufbewahrt,
Knüppeldamm.
in der Krypta liegen die Knochen der gefallenen Soldaten
und es mögen wohl viele tatarische darunter sein.
Heute bilden die Tataren mindestens ein Drittel der Be-
wohner, sie hausen zumeist in den Sloboden, Vorstädten, wo
sie auch ihre acht Moscheen haben. In der eigentlichen Stadt
bilden Russen die überwiegende Mehrheit; neben ihnen fin-
det man auch viele Kalmücken, Mordwinen und Tschuwa-
scheu. Die Stadt ist oftmals durch große Feuersbrüuste
verwüstet worden; die 30 Kirchen sind in schlechtem, halb
byzantinisch, halb italienischem Stile gebaut und bekunden
einen schlechten Geschmack. Es versteht sich von selber, daß
an ihnen die fünf normalen, grün bepinselten Kuppeln nicht
fehlen. In der Kathedrale befindet sich ein, natürlich wun-
derthätiges, Bild Unferer lieben Frau von Kasan; dasselbe
ist durch ganz Rußland weit und breit berühmt und wird
nur bei höchst feierlichen Gelegenheiten umhergetragen.
Die Bewohnerzahl mag sich auf nahe an 60,000 belau-
fen. Von den alten Befestigungen an den Stadtgräben sind
nur wenige Spuren vorhanden. Unsere Abbildung zeigt,
von welcher Beschaffenheit die an denselben stehenden Häuser
sind. Mit der Universität ist eine Sternwarte und ein bo-
296
An der Wolga.
tanischer Garten verbunden; aus den Druckereien gehen all-
jährlich mehrere tatarische Werke hervor, dann aber auch Ko-
raue und andere mohammedanische Erbauungsbücher. Einen
Hauptgewerbszweig bildet zunächst die Verfertigung trefflicher
Lederwaaren, in welcher Russen und Tataren mit einander
wetteifern, namentlich in Goldstickereien auf Leder, die man
sehr zierlich herzustellen versteht. Sodann ist die Fabrika-
tion von Heiligenbildern nicht ohne Belang. Auf dem Ba-
zar, der eine bunte ethnographische Musterkarte bildet, herrscht
reges Leben, an welchem der europäische Beobachter seine Freude
hat. Aber diese macht einem
gedrückten Gefühle Platz, wenn _________
man in der Hauptstraße die
Züge der „Unglücklichen" sieht, \ '
welche nach Sibirien trans-
portirt werden. Für sie ist
Kasan eine Passagestraße,
welche berührt werden muß.
Solche „Unglückliche", die sich
schwerer Criminalverbrechen
schuldig gemacht haben, z. B.
Räuber und Mörder, müssen
Ketten tragen, alle anderen
nicht. Kaiser Nikolaus hatte
Tausende von Menschen we-
gen politischer Vergehen nach
Sibirien verbannt; Alexan-
der der Zweite hat diese Ka-
tegorie von Gefangenen, zu-
meist Polen, begnadigt und sie
durften zurückkommen. Uebri-
gens ist namentlich im In-
nern Rußlands die Erbitte-
rung des Volkes gegen die
Polen sehr groß, es schreibt
sich bereits aus früheren Jahr-
Hunderten her, in denen die
Polen einen großen Theil
Rußlands mit ihren Heeren
überzogen und eine unzählige
Menge von Städten und
Dörfern verwüstet oder ein-
geäschert Habens.
Der Schiffsahrtsver-
kehr zwischen Kasan und
Astrachan ist sehr lebhast. Die
Dampfer nehmen Fahrgäste
auf, schleppen aber gleichzeitig
drei bis vier große Schiffe
und deshalb kommen sie nur
langsam vorwärts. Sie hei-
zen sast alle mit leichtem Holz
und müssen deshalb sehr oft
anlegen, um neuen Vorrath
einzunehmen. Sobald das
Schiff der Haltestelle nahe ist, kommen Schaaren von Bur-
lakis mit Holz beladen vom hohen Ufer herab und werfen
ihre Last auf das Deck hin, wie es eben kommt, und dadurch
ist dann allemal der Verkehr auf dem Schiffe zwischen Vorder-
deck und Hinterdeck unterbrochen. Die Verpflegung der
Fahrgäste auf dem Astrachaner Dampfer „Nachimos", auf
welchem der französische Maler Moynet fuhr, war außeror-
Tschuwaschen von der Wolga.
*) „L'antipathie entre ces deux peuples sembie devoir durer
aussi longtemps que l'histoire du Monde." Moynet, ,,Le Tour
du Monde", Nr. 369.
deutlich schlecht, der Schmutz abscheulich, die Zubereitung der
Speisen barbarisch.
Die Wolga ist der fischreichste Strom in Europa und
von ihr wird ein großer Theil Rußlands mit Stören, Lach-
sen, Barben, Elisen, Sterlet, Sovdak und anderen Fischen
versorgt; auch Karpfen, Brassen und Lampreten werden in
ungeheurer Menge gefangen.
Etwas nördlich vom fünfuudsuufzigsten Breitengrade
mündet in die Wolga die vom Ural herabkommende Kama,
deren klares Wasser einen scharfen Gegensatz zu den schlam-
migen Fluthen der Wolga bil-
..........det. Mau kann beobachten,
■ daß auf eine weite Strecke
beide Flüsse neben einander
.....hinlaufen, ohne sich zu vermi-
schen, allmälig aber bekommt
der größere Strom die Ober-
Hand. Er wälzt seine Wogen
unterhalb Ssimbirsk und
Ssamara,wo er einen wei-
ten Bogen macht, durch eine
Uferlandschaft, in welcher nur
selten ein Dorf sichtbar wird.
Ssimbirsk liegt auf ei-
nem hohen Hügel zwischen
zwei einander parallel ziehen-
den Wasserläufen, die aber in
entgegengefetzter Richtung lau-
fen; die Richtung der Wolga
nämlich geht von Norden nach
Süden, jene der Swiaga ist
umgekehrt. Der letztere Fluß
vereinigt sich mit dem Strome
erst nach einem Lause von
etwa 100 Werst im Gouver-
nement Kasan. Das Land
wird jetzt mehr und mehr nn-
europäisch. Unterhalb Sin-
gilei'r sind an beiden Ufern
die Dörfer ausschließlich von
Tschuwaschen und Mord-
winen bewohnt und bei
Stawropol treten am lin-
ken Ufer auch schon Kal-
mü ck en auf. In dieser Stadt
wohnen mehrere ihrer Häupt-
linge und auch Kaufleute die-
ses Volkes, welche mit ihren
Landsleuten der Steppe Han-
del treiben. Diese mögen um
keinen Preis ihrem Wander-
leben entsagen und in festen
Häusern wohnen; sie lieben
ihre beweglichen Zelte über
Alles. Von den in der Stadt
ansässigen hat man eine Anzahl zum Christenthum bekehrt;
sie schlagen wenigstens ein Kreuz, gehen in die Kirche und
haben ihre Priester, aber zum Ackerbau haben auch diese sich
niemals bequemt. Stawropol führt feinen Namen „Stadt
des Kreuzes", weil dort 1730 die christlichen Kalmücken
angesiedelt wurden.
S samara liegt im innersten Ende der großen Biegung,
welche hier die Wolga macht, und ist wohlhabend durch den
Handel mit Vieh, Talg, Fischen und Kaviar; auch kommen
viele kalmückische Hammel auf den Markt und die feinen
Lammfelle, welche im Handel als Astrachaner bezeichnet wer-
An der Wolga.
297
den. Sodann ist der Boden in der Umgegend fruchtbar und
leidlich gut bestellt; Melonen verschiedener Art werden in ganz
ungeheurer Menge gebaut. Die Arbnsen, Wassermelonen,
werden für den Winter eingesalzen, schmecken aber fade und
haben keine nährende Kraft. Bon nun an treten nicht fel-
ten Kriechthiere auf, welche im nördlichen Rußland nur aus-
nahmsweife vorkommen, z. B. Eidechsen und Vipern; die
Tarantel ist häusig, wird aber nicht sehr gefürchtet, weil ihr
Biß hier keine gefährlichen Folgen hat. Sehr lästig wird
im Frühjahr die sogenannte Hundszecke.
In den beiden Gouvernements Samara und Sara-
tow liegen bekanntlich viele deutsche Colonieu, deren
Rußland überhaupt mehr als 500 zählt. So weit sie evan-
gelisch sind, bilden sie in jenen beiden Gouvernements zwei
Propsteien und 25 Kirchspiele. Diese hatten 1865 eine
Einwohnerzahl von 166,464 Eingepfarrten, 128 Schulen,
146 Lehrern und 30,768
Schülern beiderlei Geschlechts.
Um zu zeigen, wie bunt in
jenen Gegenden die durch und
neben einander wohnende Be-
völkernng ist, führen wir an,
daß imGonvernementSa-
mara, welches 3063 deut-
sche Geviertmeilen Flächen-
inhalt hat, 1,529,210 Men-
sehen wohnen. Davon sind
Russen 1,031,000, Mord-
winen 140,000, Tataren
95,000, Tschuwaschen
70,000, Baschkiren und
Meschtscherjäken 60,000,
Kleinrnssen 50,000, Kal-
mücken 1500, Syrjänen
1000,Griechen510,Perser
etwa 200, und Deutsche un-
gefähr 80,000. ImGouver-
nement Saratow, 1486
Geviertmeileu mit 1,635,580
Seelen, sind 110,000 Dent-
sche, 100,000 Mordwinen,
50,000 Kleinrussen, 50,000
Tataren, 20,000 Tschuwa-
schen, 6500 Kosacken, 700
Kalmücken, 380 Zigeuner,
die übrigen sind Großrussen.
In diesem Gouvernement liegt
jene große Gruppe deutscher
Colonien, welche nächst den
Mennonitenansiedelungen im
jekaterinoslawschen Gouvernement und nächst den deutschen
Colonien in Bessarabien in großer Blüthe stehen. Dort
liegt auch die berühmte Herrnhutercolonie Sarepta.
Friedrich Matthäi hat vor zwei Jahren ein lehrreiches
Werk *) veröffentlicht, welches den hier berührten Gegenstand
in eingehender Weise behandelt. Interessant ist namentlich
eine Darstclluug des Pastors Dsirne zu Nord-Katharinen-
stadt: „Zur Geschichte der deutschen Colonien an der Wolga/'
Katharina die Zweite erließ am 22. Juli 1763 eiu Ma-
uifest, in welchem sie verkündete: „es sei ihre Absicht, durch
Hereinberufung fremder Colonisten die menschenleeren
') „Die deutschen Ansiedelungen in Rußland. Ihre Ge-
schichte und volkswirthschaftliche Bedeutung für die Vergangenheit und
Zukunft. Studien über das russische Colonisationswesen und über
die Herbeiziehung fremder Culturkräste nach Rußland. Leipzig, Ver-
lag von Hermann Fries, 1866." 389 S.
Globus XIV. Nr. 10. (November 1868.)
Ein russisches Bauerkind.
und Wüsten südlichen Provinzen des Reiches zu be-
Völkern und durch die hineinkommenden Ausländer neue
landwirtschaftliche Kenntnisse und Industrie unter ihren Un-
teilhatten zu verbreiten." In den nächstfolgenden Jahren
begann auch die erste größere deutsche Colonisation auf den
Steppen der Wolga in den beiden oben genannten Gonverne-
ments. Die Ansiedler kamen aus allen Theilen Deutsch-
lauds: Holstein, Westphalen, Hessen, Sachsen, Schlesien,
Ostpreußen, aus der Pfalz, Baden, Bayern, Tirol, der
Schweiz, dem Elsaß, Lothringen und selbst aus Holland. Es
scheint, als ob man bei der Auswahl dieser Leute nicht sorg-
sam genug verfahren sei. Gewiß ist, daß die Regierung
vielerlei Unannehmlichkeiten durch sie erfuhr. Sie hatte ihnen
Kirchen und Häuser gebaut, für die ersten Jahre Lebensmit-
tel, sodann auch Geld zur Anschaffung von Saatgetreide und
Ackeraeräthsch asten gegeben, zusammen im Belaufe von
5,199,813 Rubel. Die Län-
dereieu sowohl auf dem linken
niedrigen User, der sogenanu-
ten Wiesenseite, wie auch auf
dem andern, der Bergseite,
wurden den Ansiedlern nicht
streng nach der Heimath der-
selben angewiesen; nur ein-
zelne Niederlassungen mach-
ten Ausnahmen, z. B. Phi-
lippsthal, wo nur Hessen
wohnen. Die Katholiken er-
hielten sämmtlich abgesonderte
Niederlassungen.
Die Prüfungen begannen
bald. Viele Colonisten woll-
ten nicht arbeiten; sie seien,
meinten sie, lediglich berufen
' worden, als Lehrer unter den
Völkerschaften an der Wolga
zu dienen. Feindliche Rei-
bungeu mit den Russen blie-
ben nicht ans; die benach-
barten wilden Kirgisenstämme
brachen aus ihren Steppen
heraus, überfielen manches
deutsche Dorf, brannten die
Häuser nieder, verwüsteten die
Aecker, raubten die Vorräthe,
metzelten einen Theil der Be-
wohner nieder und schlepp-
ten andere in die Sklaverei
fort. Unter solchen Umständen
wurde bei vielen Ansiedlern
der Wunsch rege, in die alte Heimath zurückzukehren; in dieser
würden sie allerdings schwer arbeiten müssen, „aber wir brau-
chen doch nicht zu befürchten, daß wilde Kirgisen uns bei
lebendigem Leibe braten!" Viele rotteten sich zusammen und
wollten gemeinsam nach Deutschland aufbrechen, doch nicht,
bevor alle Vorräthe aufgezehrt feien. Nun hielten sie Wochen-
lang Feiertag; Fenster und Thüren in den Häusern wurden
ausgehoben und zertrümmert, damit ein ferneres Bleiben un-
möglich wäre. Die erste Schaar dieser bethörten Bauern, welche
von der Wiesenseite her die Reise angetreten hatte, gelangte
nur bis au die „Mordinsel" beider neu angelegten Colonie
Katharinenstadt. Dort wurde sie auf der Wolga von Russen
und Tataren überfallen, beraubt und bis auf den letzten
Mann niedergemacht. Eine zweite Schaar kam bis an die
Wolga bei Saratow; dort wurde ihr von Kofackenpikets der
Weg verlegt; man trieb sie mit vorgestreckten Lanzen in die
38
w-
Kolik
298 An der
Dörfer zurück. Von nun an wurden alle Ansiedler durch obrig-
keitlicheu Zwang zur Arbeit augehalten, und sehr bald be-
währte sich auch der Segen, welchen die Arbeit bringt. „Das
ordnungslos durch einander Führende Chaos der Ansiedler-
Haufen orgauisirte sich nach und uach zu einem schonen Gan-
zeu; durch Arbeit kamen viele zu bedeutendem Wohlstande;
es wurde Zucht und gute Aufsicht gehandhabt, und wer heute
die'Colonieu bereist, ist erfreut über die schönen reinlichen,
zum Theil stadtähnlichen Dörfer; er sieht nur fleißige Be-
wohner, er lernt den Stand des deutschen Colouisteu bei man-
chen Mängeln und Fehlern im Ganzen als einen sehr acht-
baren und betriebsamen Stand kennen. Und das sind die
Abkömmlinge jener arbeitsscheuen Ansiedler."
Ein richtiger Jnstinct und jene Racenabneigung, die
zwischen Germanen nndSlaven überall hervortritt, sagt dem
deutschen Ansiedler, daß er wohlthut, wenn er sich sowohl
vom Russen wie vom Kirgisen fernhält; ein näheres Freund-
schastsverhältniß zwischen ihm und einem Nichtdeutschen ge-
hört zn den größten Seltenheiten. Die Kirgisen kommen
durch das Gebiet der Colonien, wenn sie im Herbst mit lan-
gen Kameelzügen sich auf die bedeutenden Colonialjahrmärkte
begeben oder im Winter uach der Gouveruemeutsstadt Sa-
ratow ziehen, wo sie Waaren gegen die Erzeugnisse ihrer
Herden eintauschen. Ein Stück Weizenbrot gilt diesen No-
maden für einen köstlichen Leckerbissen und ist hinreichend für
den, welcher es giebt, um damit Anspruch auf Gastsreuud-
schast zu erwerben. Er kann sicher die nächste Kirgisen-
tabnne besuchen, dort eine Friedenspfeife mit dem Häuptlinge
rauchen und mit ihm Kumyß, gegohrene Stutenmilch, trin-
ken. So sind nun die Zustände anders und besser als in den
Tagen, iu welchen dem Pastor Wernborner, dem ersten
Geistlichen von Katharinenstadt, von den Kirgisen die Zunge
aus dem Munde geschnitten wurde, als Hunderte von Dent-
schen geköpft, gespießt, von Pferden zerstampft und in den
angeschwollenen Steppeubächen ersäuft wurden. Heute trei-
beu Deutsche und Kirgisen miteinander in friedlicher Weise
Viehhandel. Doch muß mau vorsichtig zu Werke gehen, da-
mit die räuberischen Söhne der Steppe am Pferdediebstahl
verhindert werden.
Die Zahl der ersten Einwanderer belief sich auf etwa
25,000 Seelen. Da die Colouisten vom Soldatendienste
befreit sind, so vermehrten sie sich, als einmal die Zustände
in regelrechter Ordnung waren, bei ruhigem und sicherm Le-
beu sehr bald, und jetzt hört man schon Klagen über Mangel
an gutem Ackerlande und Weide. Das erklärt sich anch.
Anfangs legte mau die Dörfer nahe bei einander, damit
eines dem andern gegen die räuberischen Kirgisen beistehen
könne, und als der Ackerbau an Ausdehnung zunahm, be-
rührten sich die Ortsgrenzen. So sind denn manche Cc»lo-
nisten Handwerker und Fabrikanten geworden nnd man grün-
det neue Ackerbauansiedelungen, welche sich von den Mutter-
colouien abzweigen. Iu solcher Weise sind z. B. die Dörfer
Weizenfeld am Nachoi, Frefenthal, Lilienfeld, Wie-
fenheim und Rosendamm am Jeruslau entstanden, und
die Uebersiedelnng nimmt auch jetzt ihren steten Fortgang, so
daß sich mitten in der Wildniß der Kirgisensteppe eine neue
Welt bildet.
Wer ein deutsches Dorf iu Hessen, Bayern oder Sach-
seu gesehen hat, kann sich ein Bild von den Wolgacolonien
machen. Die meisten sind sehr regelmäßig gebaut; die meist
breiten Straßen durchschneiden einander in rechten Winkeln;
jedes Haus hat einen Giebel und einen weiß angetünchten
Schornstein. Die Stuben sind hell und lustig, die Fenster-
rahmen bunt gemalt; der geräumige Hof wird sehr sauber-
gehalten, ein Gemüsegarten fehlt nie und Obstgärten sind
häufig. Die Gemeindeeinrichtungen sind jenen der alten
Wolga.
Heimath angepaßt; jedes Dorf hat seinen Schulzen. Die
Hofbesitzer wählen allemal nach Ablaus von zwei Jahren
aus ihrer Mitte einen Vorsteher und zwei Beisitzer; diese
bilden nebst dem Dorfschreiber die erste obrigkeitliche Instanz,
das Colonialamt. Mehrere Aemter sind einem Kreisamt
untergeordnet, die Kreisämter zusammen stehen unter Auf-
ficht des Comptoirs für die ausländischen Ansiedler in Sa-
ratow, durch dessen Ausseher die Kreise controlirt werden.
Jede Colouie hat ihre eigene Kirche oder wenigstens ihr
Schulhaus, iu welchem Gottesdienst gehalten wird. So
lange neue Ansiedelungen noch nicht so erstarkt sind, daß sie
ein eigenes Kirchspiel bilden können, werden sie von Geist-
lichen der alten Colonien bedient. „So besuchte der Pastor-
Bauer vou Rjasonowka (dies ist ein Kirchspiel, das selber
sieben Colonien umfaßt und mehr als 7000 Eingepfarrte
zählt) mehrere- Jahre hindurch eine Anzahl neuer Ansiede-
lungen sechs- bis siebenmal jährlich, legte dabei jedesmal
einen Weg von 225 Werst zurück und mußte manche Nacht
bei eisiger Winterkälte und Schneegestöber, von Steppen-
wölfen umheult, auf freier Steppe zubringen. Und was
dieser wackere Mann gethan, das thnn viele andere Kirchspiel-
Prediger noch heute."
Au der untern Wolga und um das Kaspische Meer her-
um liegen innerhalb des russischen Gebietes nahe an 2000
Salzseen; uuter diesen ist der Elton-See am wichtigsten,
weil er jährlich an drittehalb Millionen Centner Salz lie-
sert nnd einen großen Theil des Landes mit dieser nothwen-
digen Waare versorgt. Von Saratow ist er in südsüdöstli-
cher Richtung 39 deutsche Meilen entfernt (49° 7' n. Br.),
von Kamyschin an der Wolga, von wo das Salz verschifft
wird, beträgt die Entfernung nur 19 Meilen. Den Elton-
See bezeichnen die Kirgisen als Jalton-Noor, den golde-
nen See, weil die bis zu 30 Fuß hohen Thonufer gegen
Sonnenuntergang einen goldenen Schein zeigen. Der Flä-
cheninhalt beträgt nahezu 3y2 Geviertmeilen, der Umfang
9 Meilen, die Tiefe ist aber so gering, daß man, wenn die
Beschaffenheit des Bodens es erlaubte, hindurchwaten könnte.
In dieses Steppenbecken münden nicht weniger als 13 salz-
haltige Flüßchen; dazu kommen in der Ufergegend noch viele
gleichfalls salzhaltige Quellen und der Boden besteht aus
festem Salze; die Rapa, eine gesättigte Soole, bedeckt den
Boden im Frühjahre bis zn 2 Fuß hoch. In der Sommer-
wärme scheidet sich das aufgelöste Salz wieder aus und bil-
det aus dem Boden eine nene Schicht. Die obersten zwei
Zoll derselben bestehen aus schneeweißen Würfeln; in der
Mitte des Sees wird diese Schicht bis zu 5 Zoll stark.
Man hebt dieses Salz heraus, wäscht die einzelnen Stücke
vom Schlamme rein und ladet sie in breite, flache Fahrzeuge.
Für diese hat man im See selbst fahrbare Canäle ansge-
graben. An den Usern kann man genau die Formation der
verschiedenen Salzablagerungen beobachten; die Arbeiten be-
ginnen im Frühjahr nnd dauern bis in den Herbst hinein;
manchmal sind bis zu 1200 Leuteu bei der Förderung des
Salzes beschäftigt. Sie theilen sich in verschiedene Gruppen
und hauen die obere Lage mit einer Hacke ab; diese hat eine
röthliche Farbe nnd ist unbrauchbar; dann folgen die anderen.
Die Straße zwischen dem See und Kamyschin ist in den
Sommermonaten mit Ochsenkarren manchmal in sehr langen
Zügen gleichsam bedeckt. In Saratow befinden sich große
kaiserliche Salzmagazine und in der Umgegend des Sees lie-
gen mehrere Kosackenposteu zum Schutz gegen die im All-
gemeinen zwar friedlichen, aber doch raubsüchtigen Kirgisen.
Südwestlich vom Elton-See bei Tzaritzyn hat die
Wolga eine Breite von einer halben deutschen Meile; sie
bildet dieser Stadt gegenüber zwei Arme, welche die große
Insel Sarpinskoi Ostrow umschließen; diese reicht bis
Geächtete Mensche?
zur Mündung der Sarpa und auf derselben befindet sich ein
Gestüt. Bei Tzaritzyn nähert sich die Wolga dem Don
uud die zwischen beiden Strömen liegende Strecke ist mit
Schienen belegt; durch diese Eisenbahn wird eine Verbindung
mit dem Asowschen respective Schwarzen Meere vermittelt'.
Die Stadt spielt eine Rolle in der Kriegsgeschichte. Der
osmanische Sultan Selim der Dritte gab im Jahre 1559
einer Flottille Befehl, den Don bis Katschalinskaja hinauf-
zufahren uud dort nnverweilt einen Canal bis an die Wolga
zu graben. Der Plan konnte nicht ausgeführt werden, weil
die türkische Flotte aufs Haupt geschlagen wurde. Auch Peter
der Große war geneigt, solch eine Wasserverbindung herzu-
stellen, er hat aber späterhin davon abgesehen und dasselbe
war der Fall mit dem Kaiser Nikolaus. Ein merkwürdiges
Project war das folgende. Als Czar Alexander und Napo-
leou noch Verbündete waren, kamen beide überein, den engli-
schen Handel in Asien zn Grunde zu richten. Demgemäß
sollten 40,000 Franzosen d'onauabwärts bis ms Schwarze
nnd Asowsche Meer schiffen, den Don hinauf befördert wer-
den und über deu schmalen Isthmus nach Tzaritzyn gehen,
wo eine eben so große Anzahl Russen schon bereit stehen
sollten. Diese 80,000 Mann wollte mau wolgaabwärts
uach Astrachan, dann über das Kaspische Meer schaffen; sie
sollten zu Asterabad an der Nordküste Persieus gelandet wer-
den und von dort aus ihre Kriegsoperatioueu in Asien be-
ginnen. Der in hohem Grade abenteuerliche Plan blieb in-
deß auf sich beruhen, der politische Wind schlug um uud
Czar Alexander machte mit den Engländern gemeinschaftliche
Sache gegen seinen bisherigen Freund.
Unterhalb Tzaritzyn liegt die 1765 gegründete Herrn-
hnterniederlassnng Sarepta, welche 1797 ein Privilegium
erhielt. Als Moynet 1858 sie besuchte, war diese früher so
blühende Colonie in einem traurigen Zustande, weil in Folge
lassen in Spanien. 299
der heillosen und unseligen Reglemeutirungswnth des Ge-
Waltherrschers Nikolaus die Privilegien verletzt waren. Co-
louien können überall nur gedeihen, wenn sie sich frei be-
wegen dürfen, und den Herrnhutern war feierlich verbrieft
worden, daß sie von den russischen Provinzialbehörden unab-
hängig seiu sollten. So lange das der Fall war, gediehen
sie und ihre Ansiedelung gelangte zu hoher Blüthe. Nach Ab-
lauf der Privilegienzeit drängten sich dann russische Beamte ein,
und der hohe Himmel weiß, was das bedeutet. Sie schnür-
ten deu fleißigen Deutschen fast die Kehle zu, mischten sich
in Alles und dann fehlte die Lebenslust. Die russische Be-
amteuwirthschaft wirkt überall wie verderblicher Mehlthan.
Als der bekannte Reisende Hommaire de Hell vor
einem Vierteljahrhundert Sarepta besuchte, war er entzückt
über das, was er dort sah. Mitten in der Einöde sah er
eine Niederlassung, wie sie lieblicher nicht einmal in der
Schweiz zu finden sei. „Da liegt," sagt er, „eine kleine
deutsche Stadt mit Giebeln, Häusern, Obstgärten, Brunnen,
Baumgängen, nnd äußerster Sauberkeit. Alles zeugt von
Wohlstand, die Menschen fühlen sich glücklich; es herrscht
Gewerbsamkeit, Sittlichkeit, Geselligkeit nnd moralischer Sinn.
Es ist, inmitten der nomadischen Kirgisen und Kalmücken,
eine von Gott gesegnete Stadt. Als echte Deutsche sind die
Herrnhnter leidenschaftlich der Mnsik ergeben."
Die deutschen Ansiedelungen in Rußland haben gezeigt
und beweisen jeden Tag, was die germanische Race im Ge-
gensatz zur slavischen ausrichtet. Lange Zeit fanden sie am
kaiserlichen Hofe die Anerkennung, welche ihnen gebührt, nnd
es wurden ihnen wenigstens keine Hindernisse in den Weg
gelegt. Jetzt ist es bei den altmoskowitischen Halbbarbaren
Mode geworden, anch gegen die deutschen Colonien gleichsam
Sturm zu laufen. Der Neid ist grimmig.
Geächtete Menschei
Die Greuelthaten, welche von den spanischen Christen
verübt worden sind, schreien gen Himmel. Jahrhunderte hin-
durch hat das ganze Land von Blut getrieft, und seit Ver-
treibung der Maureu ist es in Barbarei und Verkommenheit
gesunken. Man wüthete gegen die Mohammedaner, welche
auf der iberischen Insel Vertreter der Cnltnr und der Wis-
senschast waren, wie in Peru und Mexico gegen die Jndia-
ner. Man hetzte die Juden, verfolgte die Ketzer, und in
Spanien blühete jenes „schandbarste Institut, das die Welt
je gesehen hat", die „heilige Inquisition", welche im Namen
„Christi und der wahren Lehre" alljährlich Hekatomben Men-
schen abschlachtete. Alle Cannibalen Afrikas und der Süd-
fee haben nicht so viele Menschen gemordet als die spanische
heilige Inquisition in ihren Glanbenshinrichtnngen, den Autos
da f6.
Dergleichen rächt sich> die Weltgeschichte übt auch ihre
Justiz. Spanien sollte nicht ewig eine Beute einer lieder-
lichen und meineidigen Königsfamilie, es sollte nicht das Do-
rado der Jesuiten und der Pfaffheit bleiben. Ein gewaltiger
Orkan hat die Einen wie die Anderen vom Boden der pyre-
mischen Halbinsel hinweggefegt, unter jubelndem Beifalle der
gebildeten Welt. Hoffen wir, daß das Unkraut nicht wieder
unter den Weizen komme und daß es gelingen werde, jene
Pest für immer fern zu halten.
Aber es wird das eine schwere Arbeit sein, denn drei
lassen in Spanien.
Viertheile des Volks mindestens stecken noch in tiefer Unwis-
senheit. Das Priesterthum hatte ein Interesse daran, die
Massen in derselben zu erhalten. Die freisinnigen Bestre-
bnngen sind mächtig, aber die Traditionen aus der schlechten
Zeit des Absolutismus und der Pfaffenherrschaft sind es nicht
minder. Die Moral des Volks ist in vieler Beziehung in
schlechte Bahnen abgelenkt worden und der kirchliche Pomp,
der Müßiggang und der von den Priestern hervorgerufene
und genährte Fanatismus in höheren und niederen Schichten
der Gesellschaft hat Millionen Anhänger. Wir erläutern den
Charakter der verschiedenen Völkerschaften in Spanien ein
anderes Mal; heute kommt es uns daraus an, au einem Bei-
spiele zu zeigen, in welcher Weise die Geistlichkeit systematisch
gegen eine Menschenrasse verfahren ist, die ihr nicht recht-
gläubig genug erschien; wir meinen die Chnetas auf der
balkarischen Insel Mallorca (Majorca).
Diese Chnetas (sprich Tschn-etas) wurden bis Ende des
vorigen Jahrhunderts in der Hauptstadt Palma mit jenem
Spitznamen belegt, um ihre jüdische Abkuuft zu bezeichnen.
Chuya bedeutet im Dialekte von Majorca Speck uud
Chueta ist das Diminntivum. Die Borfahren dieser „Speck-
fresser" waren auf dem spanischen Festlande stetig verfolgt
worden nnd dann nach jener Insel geflohen, wo ste 1435
nicht umhin konnten, wenigstens äußerlich zur „katholischen
Gemeinschaft" sich zu bekennen. Aber sie hatten viel vou
300 Geächtete Menschei
der heiligen Inquisition zu leiden, deren Spione aus der An-
geberei ein Handwerk machten. Daun und wann zündete
dieselbe nicht sofort den Scheiterhansen an. So erließ sie,
die ja souverän war, im Jahre 1488 ein Decret, durch wel-
ches alle heimlichen Juden amnestirt wurden, falls sie
Ketzerei und Abfall in der Beichte geständen. Es stellten
sich 260 Personen, welche ihre „Jrrthümer" abschworen.
Nun wurden sie zwar in den Schooß der Kirche auf-
genommen, aber diese thut ja nichts bloß um Gotteswillen;
die Ketzerei mußte mit Geld gebüßt werden uud die Chuetas
hatten der Inquisition 10,560 Livres 14 Sous und 8 Heller
zu zahlen.
Im Jahre 1491 verlangten 480 Chuetas Vergebung
dafür, daß sie sich für Christen ausgegeben hatten; diese muß-
teu dem königlichen Fiscns Buße zahlen uud wurde« begua-
digt, nachdem derselbe ihnen 1500 Goldducaten abgezapft
hatte. 1506 und 1511 wurde eine Untersuchung gegen
solche angestellt, welche wieder ins Judenthum zurückgefallen
seien. Diese Leute waren theils schon tobt r theils flüchtig.
Sie wurden im Bildnisse an dem Jesusthore verbrannt. Im
Jahre 1509 wurden'4 Frauen, weil sie „judaisirt" hätten,
an demselben Jesusthore zu Palma erwürgt; nachher ver-
brannte man sie; 1510 geschah drei des Judaisirens ver-
dächtigen Männern dasselbe; 1511 verbrannte man 62 Mich-
tige im Bildnisse.
Im Fortgange des sechszehnten Jahrhunderts hört man
dann nichts weiter von Erwürgen und Verbrennen. Die
Majorcauer hatten manche bürgerliche Zwistigkeiten uud litten
viel von Seuchen. Man bekümmerte sich weniger um die
Chuetas, aber seit 1675 nahm das Morden wieder lustigen
Fortgang. Die Spürhunde der heiligen Inquisition hatten
drei jüdische Familien ausgewittert. Am 13. Januar des
genannten Jahres wurde ein feierliches Auto da fs verau-
staltet und ein gewisser Alonso aus Madrid, welcher sich als
„hartnäckig" gezeigt habe, lebendig verbrannt; 1679 fanden
5 Autos da fs statt; das erste am 6. April. Bon den 50
Verurteilten waren 26 Männer und 24 Frauen. Mauche
wurden zu lebenslänglichem Gefängnisse verurtheilt; daß man
ihnen ihre sämmtliche Habe consiscirte, versteht sich von selbst.
Ein Gartenhaus, welches sie als Synagoge benutzt hatten,
wurde niedergerissen.
Durch die massenhaften Confiöeationen waren die Chuetas
arm geworden; als sie aber 1691 wieder einen gewissen
Wohlstand erlangt hatten, consiscirte man ihnen Alles was
sie besaßen. Der Raub brachte die beträchtliche Summe
von 1,491,272 harten Thalern ein. Diese wurden theils an
die heilige Inquisition, theils an den frommen König abge-
führt; doch schoß man einige 100,000 Thaler aus, um davon
die Inquisitoren von Majorca anständig zn besolden und ein
Jnquisitiousgebäude aufzuführen.
Im.Jahre 1687 hatten die Chuetas im Stilleu Vor-
kehrungen getroffen, sich den Verfolgungen und Beraubungen
zn entziehen und ein englisches Schiff gemiethet, um auszu-
wandern. Sie waren heimlich an Bord gegangen, das Schiff
wurde aber durch Unwetter in den Hafen von Palma zurück-
getrieben. Sofort nahm die heilige Inquisition alle diese
„Verbrecher" gefangen und strengte einen Criminalproceß
gegen sie au. Nicht weniger als 25 wurden zum Feuertode
verurtheilt und „die heilige Glaubenshandlung" sand am 7.
März 1691 statt; alle Habe wurde cousiscirt. Am I.Mai
desselben Jahres wurden abermals 25 jener „Verbrecher"
hingerichtet; man legte ihnen die Garote an, d. h. schnürte
ihnen den Hals zu; hinterher wurden sie verbrannt. Das
Verbrechen bestaud in dem „Verdachte zn jndaisiren"!
Am 6. Mai wurden wieder 25abgethan uud 2 Männer uud
1 Frau lebendig verbrannt, weil sie sich nicht reuig genug
lassen in Spanien.
gezeigt hätten. Denen, welche reuig gewesen, wurde nur der
Hals umgedreht nnd nachher wurden sie feierlich verbrannt.
Am 2. Juni wieder ein Auto da fs gegen 21 Judaisirende,
am 15. September 1721 wieder eine „heilige Glanbens-
Handlung".
Um „heilsamen Schrecken" einzuflößen, ließ die Jnqni-
sition im Dominikanerkloster zn Palma Gemälde von allen
diesen Mordthaten anfertigen. Jeden, welcher den Flammen
geopfert worden war, hatte man porträtirt uud unter das
Bild seinen Namen, sein Alter und den Tag seiner Hinrich-
tnng gesetzt. Mehrere waren zum Ueberslusse noch kreuzweis
mit Knochen bezeichnet, zumeist auf den Bildern solcher, deren
Gebeine man noch einmal ausgegraben und deren Staub man
in alle Winde zerstreut hatte.
Solch ein ^allerchristliches Verfahren" wurde auch noch
in der Mitte des „philosophischen" Jahrhunderts beobachtet.
Die Inquisition entwarf 1755 eine Liste aller Ketzer und
des Judaisirens überführten oder verdächtigen Leute, welche
von 1645 bis 1691 auf Majorca bestrast worden waren.
Dieser scheußliche Katalog, durch welchen auch den späteren
Nachkommen der Gemordeten ein Brandmal aufgedrückt wer-
den sollte, erhielt eine weite Verbreitung. Und so kam es,
daß bei einem vom Pfassenthume demoralifirten Volke noch
im Jahre 1782 mehr als 300 Chnetasfamilien, die durch-
gängig aus fleißigen und rechtschaffenen Leuten bestaudeu,
förmlich geächtet waren. Es ließ sich nichts gegen ihren
Wandel einwenden, sie zahlten ihre Steuern pünktlich, wur-
den aber als Pariahs behandelt. In einer Eingabe an den
König vom 12. Februar 1773 hatten sie um Gleichstellung
mit den übrigen Unterthanen gebeten; dagegen Protestirte je-
doch die majorcanische Geistlichkeit, und ihr Widerstand dauerte
bis in den December 1782. Damals mußte sie sich einem
königlichen Erlasse fügen. Demzufolge sollten die Chuetas,
welche bisher zu Palma in einer abgesonderten Straße hat-
ten Hansen müssen, ganz nach ihrem Belieben in der Stadt
und ans der Insel wohnen dürsen; die Eiugangsthore zu
ihrem Ghetto wurden abgetragen, und zwar so, daß keine
Spur von denselben übrig blieb. Es wurden Strafen in
Aussicht genommen für Jeden, der sie beleidige und mit
Schimpfnamen belege. Ein Edelmann, der gegen das Ge-
bot verstoße, sollte 4 Jahre in einem afrikanischen Presidio
gefangen sitzen, ein Nichtadeliger eben so lange in einem Ar-
senale, ein Knabe sollte 8 Jahre auf der königlichen Flotte
Zwangsdienste leisten, Im Jahre 1785 wurden dann die
ehemals Geächteten für fähig erklärt, im Heer uud in der
Flotte zn dienen und jedes Amt zu bekleiden.
Aber die Tyrannei des blinden Vorurtheils ließ sich da-
durch nicht in Abgang decretiren, das von der Geistlichkeit
beeinflußte Volk sah iu den vormaligen Chuetas nach wie
vor geächtete Menschen. Diese waren zumeist Goldarbeiter
und Kaufleute. Ein Caballero konnte wohl von ihnen etwas
kaufen uud vielleicht durften sie sogar in sein Haus kommen;
aber er hätte weder seiner Magd noch seinem letzten Küchen-
jungen erlaubt, mit Chuetas sich zu verheiratheu. Diese
konnten uicht einmal in die Brüderschaft des heiligen Cris-
Pinns treten, d. h. nicht Schuster werden, und eben so wenig
Fleischer:c.
Francisque Michel, ans dessen Iiisfcoire des races
rnaudites de la France et de l'Espagne wir das Obige
entlehnt haben, erwähnt (Thl. 2, S. 41) noch einer andern
geächteten Menschenrasse in Spanien, der Vaqneros de
alzada (d. h. der Hirten des Gebirges) in Asturien.
Einigen Schriftstellern zufolge wären sie Abkömmlinge der
Morisken, welche während der Verfolgungen des siebenzehn-
ten Jahrhunderts sich nach Asturien geflüchtet hätten; andere
leiten sie eben so unwahrscheinlich von flüchtigen Sklaven
Ferdinand Appun: Aus dem L>
aus der Römerzeit ab. Die Vaqueros unterscheiden sich in
ihrer äußern Erscheinung nicht von den übrigen Asturieru.
Wir wissen den Grund nicht, weshalb sie von ihren Lands-
leuten verachtet und gemieden werden; gewiß ist, daß sie die-
ser Zurücksetzung bittern Haß entgegensetzen. Ihre Dörfer,
otc sogenannten Braüas, liegen weit von einander getrennt
aus den Terrassen der astnrischen Gebirge; die Leute beschäs-
igen sich lediglich mit der Zucht und dem Verlause von
Zieh. Alljährlich ziehen sie in die Hochgebirge von Leon
md bleiben dort vom Juni bis zu Anfang Octobers. Man
n der Neger in Britisch Guyana. 301
sagt ihnen nach, daß sie verschmitzte Betrüger seien, man meidet
sie wo es irgend angeht und verschwägere sich nicht mit ihnen.
Da sie keine sehr zahlreiche Classe bilden, so kommen Hei-
rathen in von der Kirche verbotenen Fanliliengraden vor,
natürlich gegen Dispens von Seiten der römischen Curie,
welche deshalb an den Vaqueros gute Kuudeu hat. Alle
sind Plebejer bis auf eine Familie, welche aus der Kanzlei
von Valladolid einen Adelsbries erhalten hat. In den mei-
sten Kirchen sind sie durch ein Gitter von den übrigen Chri-
sten abgesondert.
Aus dem Leben der Ne,
Von Karl Ferdi
Seit 1838 sind die Neger in Britisch Gnhana frei ge-
worden und ihre Befreiung von der Sklaverei hätte dazu ge-
führt, diese Colouie nahezu au den Nand des Abgrundes zu
bringen, wären nicht noch zu rechter Zeit, als die Anzeichen
eines Ruins sich kundgaben, die energischesten Maßregeln
von Seiten der Regierung ergriffen worden, einem solchen
dnrch Einführung ostindischer und chinesischer Kulies
zur Bearbeitung der Plantagen vorzubeugen.
Die Neger, sobald sie frei geworden, weigerten sich in
Folge der ihnen angeborenen Indolenz, in den Plantagen
ferner zu arbeiten, und suchten in ihren verkehrten Begriffen
von Freiheit zu beweisen, daß sie nunmehr „Freie" wären,
indem sie vorzogen zu faulenzen, obgleich sie dadurch oft in
den größten Mangel geriethen und am Hungertuche zu nagen
hatten.
In einem Lande, wo die Natur Alles zum Leben Nöthige
in reichlichem Maße hervorbringt, hält es nicht schwer, seinen
Lebensunterhalt ohne große Anstrengung zu erwerben; eine
mit geringer Mühe hergestellte kleine Anpflanzung von Ba-
nanen, Papayas, Brotfruchtbäumen, Manihot, den den
Schwarzen unentbehrlichen Qnimbombo oder Ockro (Hibis-
cus esculentus), welche fast fämmtlich in sechs bis neun
Monaten eine Ernte liefern; der nahe durch Fischreichthum
sich auszeichnende Fluß; der Wald mit seinem wilden Geslü-
gel und niederen Sängethierarten, als Agntis und Labas;
— Alles dies bietet dem freien, indolenten Neger hinreichen-
den Lebensunterhalt. Darf er doch nun im Genüsse der Frei-
heit schwelgen und den Tag über in der Hängematte liegen,
während seine Lebensgefährtin für die Befriedigung seines
Magens sorgen muß. _
So bringt der freie Neger auf dem Lande sein Leben da-
hin, denkt nicht im Entferntesten daran, etwas höher sich zu
schwingen und scheuet sich nicht, auf fast gleicher Stufe mit
*) Herr *Appun war etwa zwanzig Jahre lang in Südamerika.
Er hat als Botaniker der Colonialregiernng nicht nur ganz Britisch
Guyana durchreist, sondern auch einen großen Theil von Venezuela,
weite Strecken am Amazonenstrom und dessen Zuflüssen; er hat auch
da? nördliche Peru botanisch durchforscht. Den bei weitem größten
Theil jener zwanzig Jahre verlebte er unter Indianern, Mischlingen
und Negern. Die Schilderung, welche er von den letzteren entwirft,
entspricht zwar nicht den Phantasien der europäischen Pseudophilan-
thropen, bei welchen es Mode geworden ist, die dunkelfarbigen Racen
zu idealisiren, sie hat aber das Verdienst, auf vieljährige Veobach-
tung gegründet und „Photographisch getreu" zu sein. Gegen den Ver-
dacht, als sei Übertreibung im Spiele, verwahrt sich Herr Appun
ausdrücklich am Ende seiner Mittheilung. A.
.er in Britisch Guyana.
rand Appun *),
dem Thiere des Waldes oder dem rohen Indianer zu stehen,
wenn er nur „frei" ist und feine Ruhe hat.
Der in den Städten lebende Neger, dem eine folche Un-
terstützuug der Natur sich nicht darbietet, ist gezwungen zu
arbeiteu; er thnt dies jedoch in dem geringsten Maße, nur
so viel, als dazu genügt, den nothdürstigsten Lebensunterhalt,
der in Syrup, Salzfisch und Banaueu besteht, sich zu ver-
schaffen. Seine Lebensgefährtin (denn wo giebt es einen
Neger ohne diefe?) hat mit ihrem Erwerb, den sie als Wasch-
sran oder Köchin verdient, für die ihm nöthige Kleidung wie
seine anderen Bedürfnisse an Rum und Taback zu sorgen,
und sobald er nur durch einige Tage Arbeit am Werst oder
durch eine andere Tagelöhnerarbeit seinen Geldbedarf für die
Woche gewonnen, verschwindet er vom Schauplatze und zieht
sich in seine Hütte zurück, um als „freier Mann" für die
übrige Zeit auszuruhen. Viele Neger dienen als Matrosen
ans den Küstenfahrern; von ihrer Reife zurückgekehrt, ahmen
sie, gleich alleu Negern, den Weißen nach, indem sie anf
Matrosenart, nachdem sie ihren Lohn empfangen, verfchwin-
den und nicht eher wieder zum Vorschein kommen, bis sie
alles Geld durchgebracht haben, wozu natürlich nur kurze
Zeit erforderlich ist. Doch wie es in allen Dingen Aus-
nahmen giebt, so trifft man anch unter den Negern arbeit-
same Leute, die als Handwerker sich ganz besonders auszeich-
nen und einen ungewöhnlichen Grad von Intelligenz besitzen,
denn an einer gewissen Intelligenz fehlt es ja auch dem
Schwarzen nicht; Selbständiges zu schaffen sind sie jedoch
unvermögend und nur bereits Vorhandenes wissen sie gut zu
copireu. Sie sind überdies sehr geneigt zu religiöser Schwär-
merei; die meisten gehören den Secten der Disseuters und
Methodisten an und mehrere uuter ihnen sind recht eiserige
Prediger.
Die Aufhebung der Sklaverei hat dem Neger wenig gute
Dienste geleistet und dem Lande, in welchem sie stattgefunden,
noch weniger.
Viele der westindischen Inseln, besonders Jamaica,
haben darunter gelitten, und ebenso beginnt Surinam, das
erst vor einigen Jahren den Negern die Freiheit gab, eiyzn-
sehen, wie sehr es sich selbst dadurch geschadet und welchen
Dank durch Plünderung der Plantagen u. s. w. ihm die Ne-
ger dafür erstatteten. Welchen Dank hat endlich Jamaica
von den befreiten Negern erhalten? Den, daß sie eine Menge
Weißer ermordeten und aus der Insel ein zweites Hayti zu
machen gedachten!
Als Sklaven sind die Neger durchgängig gut gehalten wor-
302 Ferdinand Appun: Aus dein Li
den, was ganz natürlich tut Interesse der Eigner lag; daß hier
und da Strafen vollzogen werden mußten, ist selbstverstäud-
lich wegen des bösartigen Charakters mancher Schwarzen.
Straft man nicht anch unter allen civilisirten Völkern bös-
artige Charaktere? Um den Verlust der Freiheit hat der
im Durchschnitt stupide Neger sich nie gekümmert, nur daß er
arbeiten mußte, das hat ihn schmerzlich berührt und oft
Widerspenstigkeit bei ihm hervorgerufen.
Ich habe in Venezuela wie in den hollüudischeu Colouien
zur Zeit der Sklaverei gelebt und neuerdings dieselbe im
nördlichen Theile Brasiliens beobachtet, jedoch nie bemerkt,
daß den Sklaven in irgend einer Weise ein Unrecht von ihren
Eignern zugefügt worden; sie genossen eine gute Behandlung,
hatten eine regelmäßige, nicht drückende Arbeitszeit
und taglich immer noch soviel Zeit, ihr ihnen vom Eigner
gegebenes Land zu bestellen und audere Arbeiten in ihrem
Interesse zu verrichten; auf die Erhaltung ihrer Gesundheit
wurde stets in hohem Grade Rücksicht genommen.
Den Erzählungen der Beecher-Stowe, Friederike Bremer
it. s. w. mag vereinzelte Wahrheit zu Grunde liegen, die von
diesen Frauen geschilderten Charaktere und Scenen gehören
jedoch nur zu den allerseltensten Ausnahmen; nach meinen
eigenen zwanzigjährigen Beobachtungen in Süd-
amerika muß ich sie als im höchsten Grade über-
trieben bezeichnen. Der Charakter der Neger ist durch-
schnittlich keineswegs gutartig; sie sind zumeist hinterlistig
und hegen einen großen Haß gegen alle Weißen, denen sie
übrigens in allen Dingen in lächerlichster Weise nachäffen.
Als große Meister in der Verstellungskunst und Schmeichelei
wissen sie deu mit ihrem Charakter Unbekannten dermaßen
zu bethören, daß er int Glauben ist, mit den redlichsten Mm-
scheu zu thnn zu habeu, während sie den günstigen Augen-
blick beuutzeu, trat den ihnen Vertrauenden durch irgend eine
betrügerische Handlung zu hintergehen.
Dies ist mir in zwanzigjährigem Umgänge mit dieser
Race ost wiedersahren, und trotzdem ich ihren wahren Cha-
rakter sehr bald kennen lernte, wußten sie sich doch dermaßen
zu verstellen und so devot und ehrlich zu erscheinen, daß ich
mich abermals von ihnen täuschen ließ und in die von ihnen
gelegte Falle ging. Friederike Bremer würde anders über
sie genrtheilt haben, hätte sie längere Zeit unter ihnen zu-
gebracht; eiuem flüchtig Reisenden, der von vornherein schon
tiefes Mitleid für sie empfindet und sie als die unglücklich-
sten Geschöpfe Gottes betrachtet, erscheint ihr Zustand, wel-
che« jener ja nicht kennt, in dem düstersten Lichte, und sie
wissen sich ihm gegenüber so gedrückt nnd unglücklich und da-
bei so kindlich und seelensgut zu zeigen, daß seine philanthro-
pische Ader gereizt anschwellt und er Worte des Zornes ge-
gen „die Unterdrücker dieser edlen Race" schleudert. Eiu
„treuer Neger", wie er so oft in Erzählungen von Leuten
paradirt, die vielleicht nie in ihrem Leben einen Schwarzen
gesehen, ist jedenfalls die seltenste Erscheinung und dars sehr
wohl zu deu Wunderdingen gezählt werden. Auf meinen
vielen Reisen in Südamerika habe ich öfters Neger als Die-
ner nnd Ruderer Monate lang mit mir geführt, und so
fleißig und treu sie auch lange Zeit mir gegenüber sich be-
uahmen, war doch der spätere Verlauf und das Ende der
Reise von unredlichen Handlungen ihrerseits begleitet; sie
können es nicht über sich gewinnen, lange Zeit hinter einan-
der ein ordentliches Leben zu führen. Außerdem sind sie
diebisch, dem Trünke ergeben und im höchsten Grade eifer-
süchtig uud händelsüchtig. Ihre Zusammenkünfte, Tänze-
reien n. f. w. enden gewöhnlich mit Prügeleien; ohne letztere
würde ein Fest keinen Reiz für sie haben. Etwas allein
spricht zu ihren Gunstelt uud dies ist ihre Lustigkeit, die oft
in Ausgelassenheit ausartet. Bei allen ihren Beschäftigungen,
m der Neger in Britisch Guyana.
wenn irgend möglich, singen sie; bei allen irgend sich darbie-
tenden Gelegenheiten tanzen sie. Selbst während des ange-
strengtesten Ruderns im Boote konnten meine Neger nie
unterlassen, im Chorus ihre meist lustigen, wohlklingenden
Lieder zum Besteu zu geben und den Tact dazu mit den Rn-
dern zu schlagen; die Pausen wurden durch lärmendes Ge-
sprach ausgefüllt, und fo war den ganzen Tag für Unter-
Haltung gesorgt, die beim Landen am Abend mit einer uu-
vermeidlichen Prügelei endete, wobei die steinharten Köpfe
gegenseitig in derbster Weise zusammengestoßen wurden. Ihre
Nachäffuug europäischer Manieren ist bekannt; so schmutzig,
ja zerlumpt der Neger an den Wochentagen umhergeht, so
sieht ihn doch bereits der Sonnabend Abend, an welchen! in
der Hauptstadt Georgetown regelmäßig ein Negerball statt-
findet, in höchster Galla. In weißen Beinkleidern und dito
Weste, einem schwarzen Frack nach einer seit zwanzig Jahren
veralteten Mode, hoher Cravate, weißen Handschuheu, den
runden Hut unter dem Arme, steht der gurkenbeinige, schwarze
Chapeau d'honneur an der Thür des Ballsaales und em-
psängt die eintretenden weißgekleideten schwarzen „Damen",
die auf ihren Wollköpfen mit Kränzen und Blumen reichlich
versehen sind oder anch seinseidene Tücher turbanartig um
dieselben geschlungen haben, um das knrze Haar zu verdecken.
Good evening, Miss Sarah! — How clo you do,
Lady Phoebe ? — I am very glad to see you, My Lady
Apollonia! — uud audere Begrüßungsformeln und hohe
Titel werden den eintretenden Damen von Seiten des Cha-
peau, der von ihnen als Sir Moses*) angeredet wird nnd
die Schönheiten nach einem Sitze führt.
Eine Menge schwarzer Dandies in ähnlicher Kleidung
wie Sir Moses und die als Mister Salomon, Sir Ha-
baknk, My Lord Abimelech u. f. w. angeredet werden, sind
in dieser Zeit eben anch eingetreten und gruppiren sich in
stolz das Jahrhundert herausfordernder Stellung in der Mitte
des Salons.
Alles duftet nach Pomade nnd Floridawasser, um deu
unangenehmen Negergeruch zu unterdrücken; man glaubt hier,
dem Gerüche nach, sich in einem über und über blühenden
Citronenhain zu befinden. Brandy mit geeistem Sodawasser
wird deu „Ladies" zur Erfrischung gereicht; die „Gentlemeu"
trinken dasselbe Getränk in gesteigertem Maßstabe an der Bar.
Eitte Trompete, deren Klang große Ähnlichkeit mit dem
zauberisch wunderbaren Alpenhorne hat, giebt das Zeichen
zum Beginne des Tanzes. Die Gentlemen engagiren ihre
Ladies und stellen sich auf. In majestätischer Haltung, mit
blasirter Miene, in den behandschuhten Händen ein großes
Bouquet und Taschentuch, stehen die Ladies da; ihnen gegen-
über die Gentlemen mit zurückgeworfenem Kopfe und dem
ins linke Auge gekniffenen Lorgnon, während das andere, die
ganze Welt verachtend, um sich blickt, die Brust weit heraus-
geworfen und den Daumen der rechten Hand in die Arm-
höhle der Weste gesteckt, die andere nachlässig herabhängend
und ein weißes Taschentuch haltend.
Die Musik beginnt, eine Musik, die wirklich Steine er-
weichen und Menschen, d. h. weiße, rasend machet* kann.
Sofort ändert sich die Scene.
Säbel-, Gurken- uud alle anderen Sorten krummer Beiue in
weißen Pantalons fliegen, wie von der Tarantel gestochen, nach
allen Himmelsgegenden, vollbringen unglaubliche Pas, machen
Balancss, die einem Seiltänzer mit geraden Beinen Ehre
bringen würden, schlagen Pironettes g. la Taglioni, kurz, zei-
*) Die Neger lieben es sehr, Namen aus der Bibel zu führen
als Gegensatz zu den Namen heidnischer Gottheiten, die sie früher
von ihren Eignern erhielten.
Ferdinand Appun: Aus dem Lel
gen sich in den wundersamsten, krampfhaftesten Stellungen,
welche die schlimmsten Beinbrüche befürchten lassen.
Noch einige großartige Sprünge, die voraussetzen lassen,
daß der Tänzer über den Wollkopf der vor ihm stehenden
Tänzerin zu voltigiren beabsichtigt, und dann steht der Gentle-
man still, wirft sich in seine frühere heroische Stellung und
hat einzig und allein damit zu thun, alle Minuten mit dem
Taschentuchs das von Petroleum ähnlichen Schmeiß triefende
Gesicht sich zu wischen.
Seine Lady, die bisher wie die Sonne fest vor ihm ge-
standen, während er gleich der Erde um sie herumtanzte, be-
ginnt sich nun um ihn zu drehen; wie Quecksilber durchzuckt
es ihre Füße, sie wirbeln, springen, fliegen nach allen Rich-
tungen umher, ihre Crinoline, auf- und abwärts geschlendert
wie ein Schiff in bewegtester See, weiß vor Angst nicht,
wohin sie Anstands halber sich zu wenden hat, bis eudlich
auch die Lady ihre vorige Stellung wieder einnimmt.
Jetzt beginnen beide zugleich noch einige graeiöse Pas
durchzuführen und der Tanz ist beendet.
Allgemeines, wenigstens 10 Minuten anhaltendes Schweiß-
abwischen, das beinahe zn dem Glanben führt, die fchwarze
Farbe müsse doch endlich die Taschentücher färben. — Neuer
Brandy mit Sodawasser für die Ladies, dreifache Portion
desselben Stoffes an der Bar für die Gentlemen. —
Wiederholter Tanz mit noch entzückenderen Pas und
Saltomortales. Und so wechseln Tanz und Erfrischungen,
bis die Köpfe erhitzt sind nnd die Gesichter glühen, was je-
doch ihrer Ebenholzfarbe wegen nicht zn bemerken ist.
An der Bar stehend findet Sir Mofes auf einige pikante
Aeußerungen vomMyLordAbimelech es für nöthig, dem-
selben ein volles Glas Brandy ins Gesicht zu gießen, was
Letztern veranlaßt, für einige Zeit wegen Schärfe des Stoffes
die Augen zu schließen, ihn jedoch nicht abhält, sofort dem
ersten Besten neben ihm Stehenden einen Schlag an den
Kopf zu versetzen. Nunmehr beginnt die Würze des Festes;
alle feinen Manieren verschwinden, die Gentlemen und Lords
werden zu Niggers. Parteien bilden sich, Köpfe werden ge-
gen einander gerannt, Fracks iu zwei Hälften zerrissen, auf
der Erde liegende schwarze Cylinder zertreten. Die Gelieb-
ten der Kämpfenden, unter ihnen Miß Sarah, Lady
Phöbe, My Lady Apollonia, mischen sich in den Kampf;
mit ihren Fingernägeln verursachen sie schwer zu heilende
Wunden, ihre Kränze, seidenen Tücher und Bonqnets sind
verschwunden und der Wollkops ist seines Nimbus beraubt.
Die ganze Gesellschaft bildet einen nugehenern, dem gordi-
scheu Knoten ähnlichen Knäuel, der sich der Thür und der
unmittelbar daranstoßenden Treppe zuwälzt.
Die Thür wird wie durch magische Hand ausgerissen und
My Lord Abimelech wie Sir Moses, als die vordersten
des Knäuels, hängen über der Treppe, nur durch die Schwal-
benschwänze des Fracks vou Mister Salomon und Lord
Habakuk, an die sie sich geklammert, vor dem jähen Sturze
geschützt. Da reißen die Schwalbenschwänze und die zwei
Opfer, jedes in der Hand ein großes Stück des Frackes sei-
nes Gegners haltend, fahren mit Blitzesschnelle unter Don-
nergepolter die Treppe hinunter. Ein großer Theil des zu-
rückgebliebenen gordischen Knotens folgt ihnen in ähnlicher
Weise bald nach. Schwarze Gestalten in halben Fracks,
zerrissenen Beinkleidern, breitgedrückten Crinolinen liegen in
bunter Reihe durch einander, richten sich jedoch bald, wenig
beschädigt, wieder auf. Dem an Härte einer Kanonenkugel
gleichen Schädel hat der schlimme Fall nichts anhaben kön-
nen, nur die Wolle des Kopfes ist an einigen Stellen etwas
hinweggerauft worden; ebensowenig Habensich diejenigen ver-
letzt, die auf die Nase gefallen, welche, von Natur breit gc-
n der Neger in Britisch Guyana. 303
drückt, nur an ihrer weit geflügelten Spitze, die allein aus
dem Gesichte hervorragt, etwas blutrünstig geworden ist.
Die ganze Gesellschaft zerstreut sich nach diesem glorrei-
chen Ende des Festes und der Salon zeigt allein durch die
umherliegenden, zertretenen Cylinder, abgerissenen Tuchstücke,
Reliquien von Damengarderobe, daß ein Negerball hier
abgehalten wurde; der Geruch von Parfüms und Florida-
Wasser ist verflogen, ebenso die Idee des Citronenhains, und
statt dessen findet sich die Atmosphäre mit dem pnren Neger-
dufte geschwängert.
So ist ein Negerball in Georgetown und solche Scenen
finden dort wöchentlich einmal statt.
Sonntags ist der Neger ein vollkommener „Swell".
Im elegantesten Costiim, mit dem unvermeidlichen schwar-
zen Cylinder auf dein Wollkopfe, einer Reitpeitsche in der
Hand, promenirt er in den Straßen und begiebt sich sodann
in das Eishaus, um seinen Brandy mit Angostnrabittern
und Sodawasser zn sich zu nehmen; herablassend grüßt er
seine Raceverwandten und mit intimster Freundlichkeit und
Cordialität nähert er sich dem Weißen, ihm die Hand mit
einem flow clo you clo, Sir? entgegenstreckend. Seine
Sprache ist sehr geziert, er spricht echt London slang und
seine Cigarre ist eine Havana purissima. Abends begiebt
er sich nach der Kirche und geht mit dröhnendem Schritte
in derselben dahin, um zn zeigen, daß er Stiefeln besitzt,
die außerdem in allen Tonarten knarren. Vom Prediger
aufgefordert, spricht er mit lauter, salbungsreicher Stimme
ein Gebet, und besonders dumpf und schauervoll, halb schluch-
zend ertönen seine Worte: „0 Lord liave mercy with
us sinners!" 9!ach Beendigung des Gebetes sieht er sich
überall um, um zu bemerken, welchen Eindruck seine Worte
gemacht, und setzt sich mit weinerlich verzerrtem Gesicht nie-
der. Sobald er aber ans der Kirche gekommen, geht er an
einen Ort, wo int Geheimen Rum verkauft wird, und prü-
gelt sich zum Beschluß des Sonntags mit seinen Kameraden.
Der andere Morgen findet ihn zerlumpt und barfuß in
den Straßen einhergehend, um in diesem Zustande die Nach-
seier des gestrigen Tages durchzumachen.
Es sind, wie bereits erwähnt, nicht alle Neger gleich den
hier geschilderten, jedoch jene sind Ausnahmen; es giebt unter
ihnen sehr fleißige und wirklich religiöse Leute. .
Die in Britisch Guyana lebenden Neger sind meist von
Sierra Leone, Congos, Coromantis und außerdem viele an-
dere von westafrikanischen Stämmen, die aus gecaperten
Sklavenschiffen befreit worden sind.
Ein von den genannten Negern völlig abweichender Stamm
sind die Krulente, die von der Küste von Liberia nach
Britisch Guyana als Arbeiter gebracht werden. Diese sind
ein arbeitsames, minder arglistiges Volk. Sie arbeiten
meistens in den großen Etablissements der Holzhändler an
den Usern des Essequebo, Massaruui, Demerary und Berbice.
Hier müssen sie die im Urwalde gefällten ungeheuren Stämme
von Greenheart, Crabwood, Mora, Bully-tree zc. nach dem
Flußufer ziehen; eine sehr beschwerliche Arbeit, die ihnen je-
doch guten Verdienst bringt. Haben sie sich in einigen Iah-
ren ein Sümmchen erspart, dann kehren sie nach ihrer Hei-
Math zurück, um sich sodann ein kleines Besitzthum zu grün-
den nnd soviel Frauen auzuschaffeu, als ihr Ver-
mögen ihnen erlaubt; ein solcher Harem ist die Haupt-
triebseder ihres Fleißes; sie lassen dann ihre Frauen für sich
arbeiten und thun selber nichts mehr. Sie sind außerdem
brauchbare Matrosen und viele suchen ihren Erwerb als solche
auf den Küstenfahrern.
Durch eine Eigentümlichkeit zeichnen sie sich vor ande-
ren Negerstämmen aus, indem sie ihre kurzen Haare in kleine
Büschel vereinen, welche sie dicht mit Zwirn umwickeln, so
304 Gerhard Röhl
daß Hunderte kleiner Zöpfchen von allen Seiten des Kopfes
starren und derselbe einem Melonencactus nicht unähnlich
sieht. An Festtagen wird der Zwirn abgenommen, das Ganze
durchkämmt und eine merkwürdige, starr in die Höhe stehende
Perrücke kommt sodann zum Vorschein. —
In den ersten Jahren meines Ausenthaltes in Britisch
Guyana wurde mir in der Nähe der großen Strafanstalt
an derMündnng des Massaruni von der englischen Re-
gierung ein Haus zur Wohnung angewiesen, um von da aus
meine botanischen Ausflüge in die Urwälder an den Flüssen
Essequebo, Massaruni und Cnyuui zu machen und zugleich
eine Sammlung der zum Schiffsbau tauglichsten Hölzer an-
zulegen. Die Regierung lieferte mir ein großes Boot und
die nöthige Anzahl Neger als Ruderer und Holzschläger, die
aus Sträflingen des Staatsgefängnisses bestanden und mit
denen ich zwei Jahre lang meine Tour aus diesen Flüssen
und in den Wäldern gemacht habe. In diesem Gesängniß
befanden sich nur schwere Criminalverbrecher; es enthielt an
200 Gefangene, von denen 4/s Neger und Farbige wa-
ren, die wegen Mordes, größerer Diebstähle, Obiah (Zau-
berei) u. s. w. saßen, während Vs in Hindus (meist wegen
Frauenmordes), Chinesen (wegen Diebstahls), Portngie-
sen von Madeira (wegen Fälschung) und nur einigen weißen
Europäern (wegen Fälschung und Diebstahls) bestanden. Meine
Bootsmannschaft hat mir anfangs viel zu schaffen gemacht uud
ich habe, als ich mich allein mit ihnen oft Wochen lang im Ur-
Walde befand, eigends mauöveriren müssen, um mich solchem
gefährlichen Volke gegenüber behaupten zu können. Ich lenkte
sie anfangs in Güte uud hier uud da durch kleine Geschenke
von Taback u. s. w., fand jedoch bald, daß sie dies Beneh-
men nicht vertragen konnten und dasselbe sie unverschämt und
allzu vertraulich machte. Als ich darauf streng und grob
in Abyfsinien.
gegen sie wurde, begannen sie sich widerspenstig zu zeigen.
So ergriff ich denn das Mittelding, suchte ihnen zu imponi-
ren, nahm wenig Notiz von ihnen und verlangte nur ihre
Arbeit. Auf diese Weise kam ich gut mit ihnen aus, ob-
gleich ich natürlich mich stets und in jeder Beziehung vor
ihnen zu hüten uud noch oft auch mit ihrer Arroganz zu
thuu hatte.
Was von diesen Gefangenen gilt, gilt eben auch von den
freien Negern. Mit großer Güte richtet man bei ihnen
nichts aus, und bei großer Strenge erhält man sofort zur
Autwort: „Ich bin kein Sklave," eine stereotype Redensart
bei diesen Leuten.
Hoffentlich werden spätere Generationen dieser Neger,
wenn durch Schulen und gute Erziehung auf sie eingewirkt
wird, Manches vom Charakter ihrer Vorgänger verlieren;
so wie derselbe jetzt beschaffen, ist er nur zu tadeln.
Ich glaube nicht, daß meine hier ausgesprochenen Ansich-
ten über den Neger zu schroff sind; ein Jeder, der denselben
lange Jahre hindurch kennen gelernt hat, wird mir darin
sicher Recht geben; meine Ansichten und Beurteilungen über
diesen Gegenstand sind ein uud dieselben mit denen vieler
gebildeter Männer Südamerikas, die eben auch mit mir dar-
in übereinstimmen, daß der jetzige Neger nicht reif war, um
plötzlich die Freiheit zu erlangen, ebensowenig als das Volk
in den südamerikanischen Republiken reif war, unabhängig
zu werden uud demokratische Republiken zu bilden.
Durch Unterdrückung des schändlichen Sklavenhandels
haben die Engländer viel Gutes gestiftet, aber ihre Bemü-
Hungen um Aufhebung der Sklaverei kamen viel zu früh,
sie haben erfahren, wie in Jamaica ihnen dafür gedankt
wurde!
Gerhard Rohlfs in Abhssinien.
Herr Rohlfs hat bekanntlich die Expedition der Eng-
länder in Abyfsinien im Austrage des Königs von Preußen
mitgemacht. In einem soeben (in Bremen, Verlag von
Kühtmann) erschienenen Buche erzählt er in äußerst schmuck-
loser Weise feine Erlebnisse. Wer sich für jenen Kriegszng
interessirt, findet eine klare Uebersicht dessen, was geschehen
ist, und gewinnt einen Einblick in die Art und Weise, wie
der Krieg geführt wurde. Für uns sind die vereinzelt ein-
gestreueteu geographischen Schilderungen, die Resultate der
vou Herrn Rohlfs angestellten Höhenmessungen und die Züge
aus dem abyssinischen Volkslebens das Interessantere. Ueber
die große Katastrophe von Magdala finden wir nur einen
kurzen Bericht; doch wird nicht verschwiegen, in welcher Weise
die Engländer geplündert haben. Seite 171 wird erzählt,
daß „die Soldaten in den Wohnungen des Königs Alles
auseinanderrissen. Haufen von Gegenständen aller Art lagen
durcheinander. Hier fah man Monstranzen, silberne
und kupferne Kreuze uud Räuchergefäße aus Kir-
ch e u, dort Kronen von Gold und Kupfer jc." Wir finden
alfo hier die Bestätigung dessen, was wir im „Globus"
XIV, S. 30 aus dem Privatbriefe eines andern Afrika-
reisenden gemeldet haben.
In Betreff der Verhandlungen zwischen Negus Theodor
und dem englischen Feldherrn Napier giebt Herr Rohlfs nur
kurze Notizen, durch welche man keinen Einblick in die Sach-
läge gewinnt. Diesen erhält man erst durch das Buch des
Dr. Blaue, eines der Gefangenen, in welchem die Ver-
säumniffe, Rücksichtslosigkeiten uud Fehler der englischen Re-
gierung und ihres Obergenerals ganz offen dargelegt wer-
den. Wir haben darüber noch jüngst ausführlich gesprochen
(„Globus" XIV, S. 148 ff.). Derselbe Robert Rapier,
welchen jetzt die englischen Philister als einen großen Kriegs-
Helden mit Ovationen heimsuchen, erscheint in dem Berichte
des wahrheitliebenden Herrn Rohlfs in einem äußerst uu-
vortheilhafteu Lichte uud für die Engländer ist es ein Glück
gewesen, daß der durch seinen frühern Aufenthalt in Birma
rühmlich bekannte Oberst Phayre mehrmals die Discipliu
verletzte, indem er sich nicht an Napier's unverständige Be-
fehle kehrte. Rohlfs schildert ihn als einen liebenswürdi-
gen und gescheidteu Manu, „was man vom commandiren-
den General eben nicht sagen konnte. In der That kann
man dreist behaupten, daß, wenn Sir Robert (Rapier) nicht
einen so tüchtigen und energischen Mann in seinem General-
qnartiermeisterstabe gehabt hätte, die Campagne wenigstens
zwei Jahre gedauert haben würde."
Zu Anbeginn des Märzmonats 1868 erschien Napier,
der anfangs die Absicht gehabt hatte, den ganzen
Feldzug von Bombay und Indien aus zu leiten, im
Lager bei Antalo. „Er hatte lange," sagt Rohlfs, „auf
eine Zusammenkunft mit Kassa von Tigre gewartet, wäh-
rend dieser gar keine Lnst hatte, mit ihm zusammenzutreffen."
(— Dieser Häuptling ist derselbe, welcher in dem weiter oben
Gerhard Röhls«
von uns citirten Bericht als ein Straßenräuber bezeichnet
wird, „der aber die Engländer mit viel Tact behandelt,
das heißt mit moralischen Fußtritten." —) Auf die-
sen Häuptling wartete Napier „sehnlichst"; er schickte Eon-
sul Munzinger und Major Graut (den Reisegefährten
Speke's) an ihn ab, und als Kasai oder Kassa endlich kam,
ritt Napier auf einem Elephanten aus, um ihn zu empsau-
gen. „Nun wurde uns anch klar, warum Sir Robert so
sehr auf das Herbeischaffen der Elephanten gedrungen hatte,
die bis jetzt der englischen Regierung Tansende von Pfund
Sterling gekostet, aber gar keinen Nutzen gebracht hatten.
Natürlich würde er sich lächerlich gemacht haben, wenn er
die Forderung für einen oder zwei Elephanten zum Reiten
gestellt hätte, aber unter dem Vorwaude von Transport hatte
er auch natürlich Elephanten zum Reiten zur Verfügung.
Nichts war eine lächerlichere und unnützere Kostspieligkeit
als die Herbeischaffung von Elephanten aus Indien. Und
glaubte Napier vielleicht, dadurch Kassa zu imponiren, wäh-
rend er sich doch in den Augen der ganzen Welt so kindisch
lächerlich machte? Um einem Abyssinier zu imponiren,
hätte er ganz andere Mittel anwenden müssen. Kassa, der
dem ruhig zusah, schien es kaum zu bemerken, daß der engli-
sche Obergeneral einen Elephanten geritten hatte. — —
Napier mnß in der That sehr schlecht berathen gewesen sein,
daß er, um einem so kindischen Gepränge zu fröhnen, in
schlüseriger Langsamkeit die Armee warten uud kostbare Tage
zum Vorwärtsgehen auf Magdala verstreichen ließ."
Auch vor Magdala benahm sich Napier ganz unfähig
und schläferig. Phayre unternahm das Gefecht bei Äroge
vor Magdala auf eigene Faust. In Folge desselben lieferte
Theodor die Gefangenen aus. Phayre sagte zu Hrn. Rohlss:
„Sir Robert fürchtet, ich laufe ihm davon, um Theodor
allein zu schlagen." Am Tage nach diesem Gefechte fand
unser Landsmann den Sir Robert wie er auf einem Fels-
blocke saß und das Bombardement von Magdala ordnete.
„Er hatte Armstrongkanonen heraufkommen lassen, die Feld-
batterien aufgestellt, die Raketenbatterie ins Feuer gebracht
und dies alles mit solcher Präcision und so viel Tact wie
auf dem Exercirplatze. Aber schade, keine einzige
Armstrongkugel traf, keine einzige Rakete zündete
auch nur eins der vielen Strohdächer in Magdala
an. Aber es war schön! Die Schüsse fielen so regelmäßig
und platzten in der Luft und die Raketen zischten so artig,
daß Sir Robert innerlich eine außerordentliche Befriedigung
und Genugtuung zu verspüren schien, wenn er anders
wachte; deun als ich ihn aus dem Felsblocke sitzen sah, hatte
er die Augen fest geschlossen."
Man bedenke: Theodor hatte sich mit 7 Chefs und 9
Soldaten verschanzt; das war Alles, was ihm von seiner
Armee treu geblieben. Das einzige Thor, welches nach Mag-
dala von Salamge aus führte, hatte er geschlossen und mit
Steinen verbarricadirt. Napier hatte keinen einzigen Schuß
gegen dieses Eingangsthor richten lassen, „sondern sich
damit begnügt, die Atmosphäre von Magdala zu
beschießen." „Hinter dem Thore stand Theodor mit sei-
nen wenigen Getreuen und kämpfte gegen die ganze engli-
sche Armee." Als dann englische Soldaten, Herr Rohlss
und der Preußische Lieutenant Stumm über die Mauer ge-
klettert waren, hörte der ungleiche Kampf sofort auf und
Theodor schoß sich eine Kugel durch den Kopf.
Der Negus war offenbar seit einigen Jahren halbtoll
geworden und ein Trunkenbold der ärgsten Art. Nicht sel-
ten litt er au Wuthanfüllen. Am Morgen des Gefechtes
von Aroge, welches auf den Charsreitag fiel, hatte er 200
abyssinische Gefangene ganz ohne irgend welchen Grund in
einen Abgrund stürzen und auf die etwa Ueberlebeuden von
GlvbuS XIV. Nr. 10. (November 1868.)
in Abyssinien. 305
oben herab schießen lassen. „In Magdala kamen wir an
eine große Hütte, die mit abyssinischen Gefangenen (Theo-
dor's) gefüllt war und denen wir die Eisen abnehmen konn-
ten; sie waren wie Häringe zusammengepfercht. Aber fo
elend dieser Anblick auch war, — unser Herz war ganz ab-
gestumpft gegen Schreckensscenen. Hatten wir doch beim
Heransmarsch vor unseren Augen jene 200 Cadaver gesehen,
welche Theodor in den Abgrund hatte stürzen lassen; wie ein
unförmlicher schwarzer Pudding aus Menschensleifch, von
krächzenden Raben und Aasgeiern überschwebt, die sich Fetzen
von den auseinanderfallenden Körperteilen abrissen, lagen
diese letzten Opfer Theodor's da."
Ueber die unpraktische Art der Engländer, den Krieg zu
führen und über die mangelhaften Einrichtungen beim Com-
missariat giebt Rohlfs manche ergötzliche Notizen, so z. B.
folgende. Das zahlreiche Corps, welches General Staveley
befehligte, kam vonGosa ans an den FlußThalet. „Dieser
hat immer fließendes Wasser und große Compaguieu (sie!)
von Gänsen uud Enten bedecken ihn. Unser Anführer
brachte eine Stunde mit Jagd auf diese Wasser-
Vögel zu, während dessen die ganze Abtheilung hal-
ten mußte und die Packthiere alle bepackt in der
Sonne standen. Würde in Deutschland oder in Frank-
reich der Chef einer militärischen Colonne es wagen dürfen,
bloß feines Privatvergnügens wegen stundenlang einen gan-
zen Truppenkörper am Wege halten zu lassen? Das pas-
sirte aber fast alle Tage. Ich erwähne nur, daß die
uns begleitenden Truppen tagtäglich stundenlang am Wege
halten mußten, die Manlthiere alle mit ihrer Ladung auf
dem Rücken, indeß wir unsere Mahlzeit hielten. Man
dachte nicht daran, die Leute unter der Zeit auch frühstücken
zu lassen. Der Soldat, wenigstens der indische, ist in den
Augen eines englischen Offiziers nicht eine belebte Maschine,
sondern ein Sklav." — Herr Rohlfs, welcher die Krieg-
führung in Algerien aus jahrelanger eigener Erfahrung kennt,
stellt folgenden Vergleich an. Der Franzose ist gewohnt,
auf seinem Rücken für vier oder fünf Tage Lebensmittel
mitzutragen, während der englische Soldat nicht nur nichts
trägt, sondern auch seine 21/2 Diener leer gehen. Man hat
berechnet, daß auf jeden Soldaten drittehalb arbeitende Leute
kommen; zwei englische Soldaten haben fünf Civil-
leute zur Disposition.
Ueber die Christen und das abyssinische Christenthum füllt
Rohlfs aus eigener Beobachtung ein eben so ungünstiges
Urtheil wie Herr v. Heugliu und andere unbefangene Rei-
sende. „Was ich von den abyssinischen Christen sah, be-
festigte meine Ueberzeugung, daß das Christenthum ohne die
classischen Ueberliefernngen der Griechen uud Römer, sich
selbst überlassen, eben so bald wie die beiden anderen semiti-
schen Hanptreligionen: das Judenthum und der Islam, zu
einer leeren üußern Form herabsinkt." Jn Takonda fand er
weder Kirche noch Priester und das einzige Zeichen für das
Christenthum der Bewohner war ein blaues Band; sie
verfehlten denn auch nicht, dasselbe bei jeder Gelegenheit zu
zeigen; sie tragen dasselbe um den Hals. An manchen an-
deren Orten lagen die Kirchen in Ruinen. Vor der Eingangs-
thür hingen gewöhnlich einige 2 Fuß lange, 2 Zoll breite
und eben so dicke Steine; sie dienen als Glocken und werden
mit einem hölzernen Klöppel geschlagen. Die abyssinischen
Priester haben für Geld Alles feil; sie scheuen sich gar nicht,
die Kirchengefüße, z. B. Kelche von Silber und Kupfer und
kupferne Schüsseln, anf welche das geweihete Brot gelegt
wird, zu verkaufen. Gebühren find für sie die Haupt-
sache, deun als geweihete Männer Gottes thnn sie nichts
umsonst.
Die Mohammedaner in Habesch stehen geistig und sitt-
39
306 Die neuesten Ansichten über die Höhe der
lich auf einer höhern Stufe als die Christen. Herr Rohlfs
will damit nicht sagen, daß er sie für viel besser halte,
aber es ist mit ihnen wie mit allen Bekennern solcher Reli-
gionen, welche sich einer herrschenden Kirche gegenüber be-
finden. Eben weil sie in der Minderheit sind, wollen sie
sich durch einen exemplarischen Lebenswandel die Achtung
ihrer stärkern Umgebung erzwingen.
Der in der jüngsten Zeit mehrfach erwähnte Asch angi-
see, ein prächtiges Alpenbecken, das Munzinger in Be-
treff der Gestalt mit dem Zuger See vergleicht und dessen
Ausfluß jetzt nach allen Seiten gehemmt ist, liegt, nach
den Beobachtungen des Herrn Rohlfs, in 12" 29'26" Breite,
39"8' 28" östlicher Länge von Greenwich 7264 englische
Fuß über dem Meere und hat etwa 10 Miles Umfang.
Im Norden wird dieser Kessel von dem fast 12,000 Fuß
hohen Seringaberge geschlossen, im Westen vom Ofelaberge,
nach Osten und Süden hin durch weniger hohe Gebirgszüge.
Die Höhen sind alle bewaldet, das Flachland hat den schön-
sten schwarzen Humus; in der Mitte des März war die
Gerste reif. Die Bevölkerung, welche dicht gedrängt an den
Bergen hinauf in kleinen Dörfern lebt, ist durchweg moham-
medanifchen Bekenntnisses.
Herr Rohlfs giebt in einem Anhang eine Anzahl theils
hypofometrifch, theils mit dem Aneroid gemessener Punkte,
nach den Bestimmungen des Oberst Merewether und des
Herrn Clements Markham. Der westliche Punkt der Amba-
Antalo hat 9335 Fuß englisch; der Aladje-Paß 9630;
der Aschara-Paß am Aschangisee 8547; Magdala etwa
10,000 :c. Werthvoll ist das meteorologische Tagebuch,
welches die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Mai umfaßt
uud sehr sorgfältig geführt worden ist.
Wir heben eine Bemerkung heraus. Rohlfs landete am
6. Januar bei Zula in der Annesleybai (Landungsplatz
15^15' N., 39° 46'15" £).). Der Thermometerstand war
Erdatmosphäre und über den Himmelsäther.
Mittags im Schatten 30" C. und Morgens nie unter 20".
„Dabei war die Feuchtigkeit eine ganz ungewöhnliche, das
Hygrometer erreichte manchmal 90", war aber nie unter 60.
Ich denke übrigens, daß die Feuchtigkeit im Winter eine ge-
steigerte ist, indem die Regenzeit des Mittelländischen
Meeres sich ans ganze Rothe Meer und an dessen afri-
kanifcher Küste nach Süden hin bis zur Bab el Mandeb
erstreckt und selbst auf eine Entfernung von einigen deutschen
Meilen ins Innere hineingeht. Es ist dies auffallend genug,
da eiuestheils die Regenzeit des Mittelländischen Meeres sich
nicht einmal auf Nordägypten erstreckt und dann auch nicht
die Ostküste des Rothen Meeres, jene der arabischen Halb-
insel, mitberührt."
Rohlfs fügt (©. 29) hinzu: „Judeß hat in Aegypten
in Beziehung des feuchten Niederschlages auch ein beden-
tender Wechsel stattgefunden. Während es z. B. in Kairo
früher fast nie regnete, wird es jetzt regelmäßig von der
Mittelmeersregenzeit in Mitleidenschaft gezogen und im letz-
ten Winter fanden so starke Regengüsse statt, daß viele
Häuser in Kairo, die nicht danach gebaut waren, um dem
Wasser Widerstand zu leisten, dabei zu Grunde gingen."
Die Sache erklärt sich aber, wie wir meinen, sehr ein-
fach. SeitMehemed Ali find in Unterägypten mehr
als 4,000,000 Bäume angepflanzt worden. Diese
wuchsen empor und ziehen nun die Feuchtigkeit an. Je mehr
Bäume Aegypten bekommt, um so mehr wird es sich auch
des Regens erfreuen.
Das Buch des Herrn G. Rohlfs führt den Titel: „Im
Auftrage Seiner Majestät des Königs von Preußen mit
dem englischen Expeditionscorps in Abessinien." Beigegeben
ist eine vortreffliche Karte über die Marschroute von Zula
bis Magdala von Hrn. August Petermann, und ein Porträt
Napier's, der viele Orden auf der Brust, aber eine sehr
schläfrige Physiognomie ohne kernigen Ausdruck hat.
Die neuesten Ansichten über die Höhe der Erdatmosphäre und über
den Himmelsäther.
Von Dr. Heinrich Birnbaum.
Laplace wandte nun seinen ganzen Scharfsinn an, um
klare Einsicht in die Sache zu bringen. Er kam zu einem Re-
sultate, welches großes Aufsehen erweckte, aber genau betrach-
tet wieder ganz mit der Ansicht von Halley und Newton
übereinstimmte. Er behauptete, von einer eigentlichen
Grenze der Luft könne gar nicht die Rede sein, da
sie den unendlichen Weltenraum überall erfülle,
dabei müsse man aber einem jeden Himmelskörper
eine ihm besonders zukommende Atmosphäre zu-
schreiben, welche gerade da ihre obere Begrenzung
habe, wo die Schwerkraft des betreffenden Körpers
von der Schwungkraft seiner Achfendrehuug im
Gleichgewichte gehalten werde. Ein luftleererWel-
tenraum sei ein undenkbarer Begriff, aber ebenfo
undenkbar sei der Aether. Ihm war derAether ein mit
dem ersten Auftreten schon angezweifeltes Hypothesengebilde,
ein haltloser Traum ohne die geringste wissenschaftliche Be-
deutung. Diese entschiedene Abfertigung fiel nicht gerade sehr
II.
auf, da der große Manu den Newton'fchen Standpunkt
nicht bloß in der Mechanik des Himmels, sondern auch in
der Lehre vom Lichte ganz zu dem seinigen gemacht hatte,
wozu die Annahme des Aethers gar nicht nöthig war. Ab-
gerechnet einige von dem Fortschritte der Wissenschaft be-
dingten kleinen Abweichungen machte er die Newton'fchen
Prmcipien ganz zu den seinigen.
Wir wollen nun sehen, wie Laplace die Höhe der sei-
ner Anschauung entsprechenden Erdatmosphäre zu bestimmen
sucht. Da dieselbe, meint er, mit der ganzen Erde die Ta-
gesdrehuug gemein besitzt, so muß sie in größeren und größe-
ren Höhen eine mehr und mehr gesteigerte Centrifugalkraft
annehmen, welche an der mit der Höhe abnehmenden Schwer-
kraft zehrt, bis beide, gleich groß geworden, einander das
Gleichgewicht halten; uud dies ist dann der Punkt für die
obere Grenze der Erdatmosphäre. Darüber hinaus hört die
Luft auf an die Erde gebunden zu fein, sie macht keine Ta-
gesdrehnng mehr mit ihr, sondern ist der überwiegenden
Die neuesten Ansichten über die Höhe der
Fliehkraft nnterthan. In welcher Höhe ist nun aber der
eben bezeichnete Neutralpunkt zwischen den beiden Kräften,
wovon die eine zum Mittelpunkte der Erde hin- und die
andere ebenso stark davon hinwegtreibt? Diese Frage
ließe sich mit Hülfe des Newton'schen Princips der allge-
meinen Gravitation direct beantworten, der Weg ist aber be-
schwerlich und nur für die Männer von Fach verständlich;
man kann indeß leichter und dem allgemeinen Fassnngsver-
mögen besser zusageud zum Ziele kommen, sobald man dabei
die dritte Kepler'sche Regel zu Grunde legt, welche nach
Newton als eine bloße Folge des Princips der allgemeinen
Gravitation anzusehen ist. Diese Regel lautet nun:
„Bei allen Haupt- und Nebenplaneten ver-
halten sich die Quadratzahlen der Umlaufs-
zeiteu gerade wie die Cubikzahlen der mitt-
leren Entfernungen vour Centralpnukte."
Für den ersten Augenblick scheint diese Regel mit der
Beantwortung der Frage selbst wenig zu thun zu haben, die
Sache ändert sich aber sogleich, sobald man die zu lösende
Aufgabe nur in eine passendere Form bringt. Zu diesem
Zwecke denken wir uns zwischen der Erde und ihrem Monde
noch einen andern Nebenplaneten, der seinen Umlauf gerade
wie die Erde nnd ihre Atmosphäre in einem Tage vollen-
dete. Offenbar müßte dieser Himmelskörper sich gerade da
befinden, wo unser irdischer Luftkreis seine höchste Höhe be-
säße. Denn näher zum Mittelpunkte der Erde würde die
überwiegende Schwerkraft ein Näherrücken und zuletzt ein
Zusammenfallen mit der Erde zur Folge haben; und entfern-
ter vom Mittelpunkte der Erde würde die Centrifugalkraft
das Uebergewicht geben uud eine Vergrößerung der Umlaufs-
zeit bewirken, Die Umlaufszeit des Mondes? ist nun 27 Tage,
die mittlere Entfernung vom Mittelpunkte der Erde 60 Erd-
Halbmesser; die Umlaufszeit des bloß gedachten Nebenplaneten
ist 1 Tag. Bezieheu wir nun diese Werthe ans die Kepler'-
sche Regel, so finden wir für die mittlere Entfernung dieses
Nebenplaneten vom Mittelpunkte der Erde 6,^g *). Das
sagt uns nun, daß der Ort in nnserm Luftkreise, wo die
Centrifugalkraft der Schwerkraft das Gleichgewicht hält, ge-
rade 6,66 Halbmesser vom Mittelpunkte der Erde entfernt
ist. Um nun die Höhe von der Oberfläche der Erde abge-
rechnet zu erhalten, so müssen wir von dem gefundenen Re-
snltate noch einen Radius abziehen, dann bleiben ö,ßg Erd-
Halbmesser als die Höhe der Laplace'schen Erdatmosphäre.
Setzen wir die Länge eines Erdhalbmessers 860 geographi-
sche Meilen, so erhalten wir 4867% geographische Meilen
für die Höhe der Erdatmosphäre im Sinne Laplace's. Ver-
gleicht man dieses rein auf allgemein für wahr gehaltene
Vernunftgründe bezogene Resultat unseres größten Himmels-
kundigen mit dem so hartnäckig vom großen Haufen für wahr
gehaltenen, so ist dasselbe fast fünfhundert Mal größer,
und reicht daher weit über die Höhe hinaus, welche für luft-
leer gehalten oder mit Aether erfüllt angenommen wird.
Obgleich nun gegen die denkwürdigen Worte:
„La limite de l'atmosphere est oü la force cen-
trifugale due ä son mouvement de rotation
balance la pesanteur",
welche Laplace schon vor 72 Iahren im X. Kapitel seines
unsterblichen Meisterwerkes — „Systeme du monde" — aus-
sprach , von der rein theoretischen Seite gar kein Einspruch
') Für dic der Mathematik nur etwas mächtigen Leser wollen wir
zur Durchführung der Rechnung noch andeuten: Es sei die mittlere
Entfernung des fingirten Planeten x, so ist nach der Kepler'schen Regel
272: l2 — 603: x3, also z3 = — — ^ und daher x = —— — 6/66.
272 93 9
Erdatmosphäre und über den Himmelsäther. 307
gemacht werden konnte, so hatte man um so mehr gegen das
daraus gefolgerte enorm große Resultat einzuwenden. Man
schätzte Laplace's eminenten mathematischen Scharfsinn und
ließ ihm volle Gerechtigkeit widerfahren in Hinsicht der theo-
«tischen Forschungen in seiner Mechanik des Himmels, aber
seine Erdatmosphäre von beinahe 5000 geographischen Mei-
len Höhe hielt man für eine unfaßbare Größe, für eine
mathematische Schwärmerei, zu deren Annahme sich der ge-
meine Menschenverstand nie verstehen könne. Man blieb
daher nach wie vor bei dem geliebten Zehnmeilensatze stehen,
und war um so lieber damit zufrieden, als nach dem Urtheil
aller Sachverständigen derselbe für alle praktischen Geschäfte
der Astronomie vollkommen ausreiche. Auch kam schon die
Zeit, wo man der Vibrationstheorie des Lichtes mehr Glau-
ben scheuten mußte als der Emanationstheorie, wodurch denn
auch dem Aether wieder sehr entschieden das Wort geredet
wurde, der sich nach der damaligen befangenen Ansicht nn-
möglich durch bloße verdünnte atmosphärische Luft vertreten
lassen konnte. Es wird sich sogleich herausstellen, daß diese
Ansicht eine ebenso unrichtige, wie die Hypothese des Aethers
selbst eine unhaltbare ist.
Doch ungeachtet der Abneigung des großen Haufens fehlte
es der Laplace'schen Theorie der Atmosphären aller
Himmelskörper nicht an Anhängern, und die Zahl würde
sicher noch viel bedeutender geworden sein, wenn nicht Wol-
laston unter Voraussetzung, daß Laplace's Ansicht die
richtige sei, zu Resultaten gelangt wäre, welche für den da-
maligen Standpunkt der Wissenschaften sich mit der Wirk-
lichkeit nicht in Einklang bringen ließen. Wollaston wurde
dann Gegner Laplace's, und mit ihm sielen nun auch viele
Gelehrte von Fach der Theorie ab. Es hat sich indeß ge-
rade in unseren Tagen herausgestellt, daß sich die Zweifel,
welche von Wollaston gegen das Laplace'sche System
geltend gemacht sind, ganz leicht heben lassen, nnd daß dieser
große Mann vollkommen Recht hatte. Laplace sowie seine
großen Vorbilder Newton und Halley sind dadurch wieder
zur vollen Geltung gebracht. Um dies aber ganz begreifen
zu können, müssen wir auf einen Augenblick mit Wollaston
gehen.
Die Ansicht Laplace's, daß das ganze Weltall mit ge-
wohnlicher Luft erfüllt sei, welche sich in der Nähe eines jeden
Himmelskörpers im Maße seiner wachsenden Anziehungskraft
verdichte und eine ihm zukommende Atmosphäre bilde, fand
bei deu praktischen Astronomen nicht viel Beifall, weil sie mit
der wirklichen Beobachtung gar nicht gut iu Einklang zu
bringen war. So müßte z. B. uuserm Monde eine Atmo-
sphäre beigelegt werden, obgleich doch vollkommen bekannt sei,
daß die allersorgsältigsten Prüfungen mit den
allerfeinsten Meßwerkzeugen nicht die leiseste Spur
davon hätten entdecken lassen. Darin lag nun der
Grund, weshalb Wollaston, der ursprünglich ein begeister-
ter Anhänger des großen Laplace war, seine Untersuchung
zunächst auf den Mond lenkte. Auf der Oberfläche dieses
Himmelskörpers ist die Schwerkraft nur y5 fo groß, als die
Schwerkraft auf der Erde, woraus also solgte, daß auch die
Mondesatmosphäre in ihrer untersten Schicht nur die Dichte
haben könne, wie unsere Atmosphäre in einer Höhe, wo die
Erdschwere nur noch 75 so groß sei als unten an der Ober-
fläche. Da nun die Kraft der Schwere nach dem Prin-
cip der allgemeinen Gravitation in demselben Verhält-
niß abnimmt, als das Quadrat der Entfernung zunimmt,
so müßte die Schwere in 2 Radien-Entfernung nur noch
y4, in 3 Radien-Entfernung nur noch y9 fein, woraus also
folgte, daß die Entfernung, worin die Schwerkraft nur noch
Vö so groß als ursprünglich sei, 2 bis 3 Erdradien groß
sein müßte, doch viel näher an 2 als an 3 liege. Nach der
39*
308 Die neuesten Ansichten über die Höhe der
durchgeführten Rechnung^) erhält man 2,23<i Erdhalbmesser.
Da nun aber diese Entfernung vom Mittelpunkte der Erde
gerechnet ist, so würde 1,23g Erdhalbmesser die Höhe über
der Erdoberfläche sein, in welcher die Erdatmosphäre eben so
dicht wäre, als die des Mondes an seiner Oberfläche. Rechnet
man nun bei 1,236 Erdhalbmessern jeden zu 860 Meilen,
so erhält man sehr nahe 1063 geographische Meilen für die
Höhe in unserer Atmosphäre, wo wir dieselbe Luftdichte an-
träfen, wie sie die untersten Schichten der Mondesatmosphäre
besitzen. Mit diesem Resultate konnten sich nun Wollaston
und alle Praktischen Astronomen sehr gut einverstaudeu erklä-
ren, denn wenn man weiß, daß unsere Erdatmosphäre schon
in 10 geographischen Meilen Höhe keine vom Menschen mehr
wahrzunehmende Strahlenbrechung besitzt, so wird gar kein
Gedanke zu einer solchen Wahrnehmung mehr vorkommen
können bei einer mehr als millionenmal dünnern Luft, wie
wir sie in einer hundertmal größern Höhe mit Bestimmtheit
voraussetzen dürfen.
Nach diesem ersten so sehr glücklich ausgefallenen Ver-
suche machte sich Wollastou voll bester Hoffnung fogleich
wieder an einen zweiten. Dazu wählte er die Sonnenatmo-
fphäre. Die Schwerkraft an der Oberfläche der Sonne ist
sehr nahe 30 Mal so groß als die auf der Erde. Er fragte
also, in welcher Entfernung vom Mittelpunkte der Sonne
ist die Sonnenschwere ebenso groß als die Erdschwere, d. h.
nur noch 1jä0. Nach dem Newton'schen Princip der
allgemeinen Gravitation würde die Sonnenschwere in
2 Sonnenradien nur noch l/4, in 3 Sonnenradien nur noch
7g, in 4 Sonnenradien nur noch 1/16, in 5 Sonnenradien
nur noch 725, in 6 Sonnenradien nur noch 7s 6 so groß
sein als auf der Oberfläche der Sonne. Daraus folgte also,
daß die Entfernung, in welcher die Sonnenschwere nur noch
730 von der ursprünglichen ausmacht, zwischen 5 und 6
Sonnenradien betragen müsse. Genauere Rechnung **) giebt
hierfür 5,47. Also müßte die Atmosphäre der Sonne in
einer Höhe von 4,47 Sonnenradien über der Oberfläche schon
dieselbe Dichtigkeit haben, wie unsere Lust unmittelbar an
der Erdoberfläche, das wäre also in 2 xf4 Sonnenbreiten rund
um die Sonne herum. Da aber jede Sonnenbreite von der
Erde unter einem Winkel von 32'4" gesehen wird, so würde
uns der Abstand von der Sonne, in welcher ihre Atmosphäre
mit der untersten Schicht unserer Erdatmosphäre gleiche Dich-
tigkeit besitzt, unter einem Winkel von 1°12'9" erscheinen.
Die Strahlenbrechung in diesem Abstände von der Sonne
müßte also so groß sein, als die stärkste auf der Erde uu-
mittelbar längs des Horizonts. Die horizontale Strahlen-
brechnng der Erde beträgt aber schon 33 Winkelminuten.
Besäße also die Sonnenatmosphäre eine verhältnißmäßig gleiche
strahlenbrechende Kraft, so müßte ein Lichtstrahl, der in einer
Entfernung von 1°12'9" vom Sonnenrande hindurchginge,
nach zweimaliger Brechung um 2 mal 33, d. i. um 1°6'
näher an die Sonne gerückt werden, also in einer Entfernung
von 6' 9" vom Sonnenrande zu Gesicht kommen. Zu die-
sem merkwürdigen Resultate war Wollaston 1822 gekom-
*) Für die mathematisch gebildeten Leser: Die Entfernung vom
Mittelpunkte der Erde, in welcher die Kraft der Schwere nur noch
- so groß ist als an der Erdoberfläche, sei x Erdradien, so wäre
— —, oder x2 = 5 und x = 2,236.
xz 5
**) Für die mathematisch gebildeten Leser: Die Entfernung vom
Mittelpunkte der Sonne, in welcher die Sonnenschwere so groß
ist als auf der Sonnenoberfläche, sei x Sonnenradien, io wäre —2 — -L
oder x2 = 30 und x = 5,47.
cdatmosphäre und über den Himmelsäther.
men, als in nächster Zeit der Durchgang der Venns
hinter der Sonne zn erwarten stand. Der 23. Mai traf
ein, war günstig zum Beobachten, aber die erwartete starke
Ortsyerrücknng der Venus in der Sonnenatmosphäre wollte
sich nicht zeigen, ja es wurde eigentlich gar keine Wirkung
der Strahlenbrechung in Sonnennähe wahrgenommen, wor-
auf Wollaston doch mit solcher Sicherheit gerechnet hatte
Dadurch wurde nun Wollaston schon etwas stutzig, und
er wäre wahrscheinlich schon damals ganz vonLaplace'sAn-
schauung abgegangen, wenn sich um dieselbe Zeit nicht die
neue Theorie der Wärme schon etwas Bahn gebrochen hätte,
wonach die Sonne nicht mehr für kalt, sondern in
einem fenrigflüfsigen glühendheißen Zustande an-
genommen wurde, so daß die unteren Schichten der Sonnen-
atmosphäre so stark verdünnt seien, daß die Wahrnehmung der
Strahlenbrechung nicht mehr möglich wäre. Er konnte es
aber nicht unterlassen, seinen Fachgenossen Folgendes znzu-
rufen: „Nach diefer Erfahrung möchte es wohl an
der Zeit sein, zu bedenken, ob sich in irgend einer
namhaften Entfernung von der Sonne nicht den-
noch fchon eine Spur von Strahlenbrechung beob-
achten lasse, und ob dann bei gesteigerter Nähe die
vergrößerte Sonnenwärme wohl im Stande sein
könne, die strahlenbrechende Kraft der Sonnen-
atmosphäre unwahrnehmbar zu machen." — In die-
sem Zurufe lag eigentlich noch der Wunsch, daß Laplace
Recht behalten möchte. Aber ungeachtet der fleißigsten Be-
Nutzung aller passenden Gelegenheiten bei Durchgängen und
Sonnenfinsternissen hat sich doch bis auf den heutigen Tag
noch keine Spur der Sonnenatmosphäre durch Strahlen-
brechung wahrnehmen lassen wollen. Es wäre aber sehr
unrecht, wenn mau deswegen gleich die ganze Sache in Zwei-
sel ziehen wollte, denn offenbar liegt hier das Mißlingen
viel mehr in der UnVollkommenheit des Menschen und seiner
Beobachtnngswerkzenge als in der wirklichen Abwesenheit des
mit großer Wahrscheinlichkeit vermutheten Gegenstandes selbst.
Uebrigens sind auch die Männer der Wissenschaft gar nicht
darüber in Zweifel, daß es recht gut möglich sei nachznwei-
sen, wie durch den Act gesteigerter Erwärmung unserer Lust
die strahlenbrechende Kraft derselben immer mehr verringert
und zuletzt dahin gebracht werden könne, daß ihre Kleinheit
für Null zu achten sei. — Obgleich sich nun Wollaston
dies alles selbst sagen konnte und auch gesagt hat, so war
doch das Feuer der ersten Begeisterung für Laplace's Hy-
pothefe etwas abgekühlt, jedoch noch lange nicht ganz erstickt.
Denn gerade aus Verehrung des großen Denkers suchte er
nun nach einem andern Beispiele, wodurch die geistreiche Hy-
pothese praktisch bewahrheitet werden könnte. Er wünschte
ihre Bestätigung.
So kam Wollaston zur Untersuchung der Atmo-
sphäre des Jupiter. Die Kraft der Schwere ist aus
diesem Planeten an der Oberfläche 2,zz Mal fo groß als
an der Oberfläche der Erde. Er fragte daher, in welcher
Entfernung vom Centro des Jupiter die Schwere desselben
gleich eins oder gerade so groß sei als die der Erde. Auf
dem vorhin fchon angedeuteten Wege fand er die gesuchte
Entfernung 1,68 Jupiterradien. Ziehen wir hiervon einen
Radius ab, um die Entfernung von der Peripherie des Ju-
piter aus bestimmen zu können, so bleibt 0,68 Jupiter-
radien als die Höhe über der Jupiteroberfläche, in welcher die
Atmosphäre desselben genau dieselbe Dichtigkeit besitzen müßte
als die Erdatmosphäre in ihrer untersten Schicht. Es müßte
also rund um den Jupiter herum, in einer Entfernung, die
etwa 2/3 seines Radius ausmachte, die Strahlenbrechung sei-
ner Atmosphäre schon eben so groß sein als die horizontale,
die allergrößte der Erdatmosphäre. Daraus zog nunWol-
Julius Braun: Dl
laston mehrere andere sehr interessante Folgerungen, beson-
ders auch die, daß der vierte Trabant bei seinem Durch-
gange hinter dem Hauptplaneten eigentlich gar nicht ver-
schwinden könne, sondern in demselben Momente, wo er aus
der einen Seite anfange zu verschwinden, er aus der andern
Seite schon wieder zum Vorschein kommen müsse, ja daß
sogar auch der Fall vorkommen könne, wo dieser Trabant,
genau hinter dem Jupiter stehend, diesen von allen Seiten
sichtbar umstrahle, gerade wie eiu sogenannter Heiligenschein.
Von allen diesen Vorausbestimmungen wollte sich nun aber
uicht eine einzige beobachten lassen, wie scharf und sorgfältig
Wollaston auch mit den besten Instrumenten prüfte. Und
zu demselben unbefriedigenden Resultate kamen auch alle
übrige» praktischen Astronomen, welche ihre Aufmerksamkeit
dem Gegenstande zugewandt hatten. Da kam er denn zu
der Ueberzeuguug, daß fich auch bei dem Jupiter die
vermeinte Atmosphäre nicht auffinden laffe, und
er glaubte damit ganz entscheidend den Beweis geliefert zn
haben, daß Laplaee's Ansicht über das Erfülltsein des
Weltenranmes mit atmosphärischer Luft und über das Ver-
Secten im Islam. 309
dichten derselben zn besonderen Atmosphären für jeden Him-
melskörper — falsch sei; daß sie höchstens nur ans die
Erde und ihren Mond bezogen werden könne.
Man kann sich nun leicht denken, wie eine solche Ent-
scheiduug vou den Anhängern des Himmelsäthers mit gro-
ßem Frohlocken begrüßt wurde, und wie besonders die Mäli-
ner, welche bis dahin fest an eine obere Grenze des Lnstkrei-
ses geglaubt hatten und daher höchst ungern von ihrerZehn-
Meilen-Höhe ablassen wollten, sich glücklich priesen. Selbst
die wenigen Gelehrten, welchen das Phantasiegebilde des
Aethers fortwährend ein Stein des Anstoßes gewesen war,
und es mit Freude begrüßt hatten, daß sie einen Laplace
zum Vorfechter besaßen, konnten gegen Wollaston's Be-
weisführung nichts einwenden, woher es denn kam, daß
man nun mehrere Jahre lang den Streit für geschlichtet
hielt. Da kam aber auf dem Gebiete der neuesten Chemie
eine sehr wichtige Entdeckung hinzu, welche ganz dazu paßte,
den Streit wieder anzufachen und den Sieg der Laplace'-
schen Partei zuzuführen. Doch hiervon in einem folgenden
Artikel.
Die Secten
Bon Julius Br
Die Jesiden. — Kil
Von größerer politischer Bedeutung als die Mandäer
sind die Jesiden, deren weit verstreute Gemeinden ini Gan-
zen noch etwa 100,000 Seelen betragen sollen. Da sie den
Moslimen als vermeinte Teufelsanbeter ganz besonders ver-
haßt sind, wetteiferten noch vor wenig Jahrzehnten kurdische
Häuptlinge mit den Paschas von Mosul und Bagdad in
Raubzügen und Metzeleien unter dem unglücklichen Volke.
Zuletzt brachte ihnen der Kurdeubey von Rowandiz eine große
Niederlage bei und verfolgte die Flüchtigen bis gegen Mosul.
Es war im Frühjahr (1832), der Tigris ausgetreten und
die Schiffbrücke abgeführt. Auf dem Nuiueuhügel Kuj-
jundschik (Central-Ninive), von wo sie vergebens über den
Strom um Hülfe riefen, wurden die zusammengedrängten
Männer, Weiber, Kinder niedergeschlachtet, während die Be-
wohner Mosnls (Christen wie Mohammedaner) von ihren
Dachterrassen mit Vergnügen zusahen. Ein anderer Haupt-
theil der Jesiden wohnt im Sindjargebirge. Dies ist
das einsam aus der Wildniß sich erhebende, nicht sehr hohe
Gebirge westlich vou Mosul, mitten zwischen dem obernEuphrat
und Tigris, — ein Gebirge mit reichen Feigengärten um
schneeweiße Dörfer und mit Eichenwäldern um kahle Gipfel.
Dort übernahmen türkische Paschas (Hasiz, der bald darauf,
1839, den Aegyptern bei Nisib unterlag) die Vernichtung.
Die Jesiden flüchteten in die Höhlen ihres Gebirges, wurden
in diesen aber durch Rauch erstickt oder kamen im Geschütz-
sener um. Das Mißtrauen der Ueberlebenden war in Folge
dessen begreiflicherweise so groß, daß später, auch wenn ein
Pascha mit den besten Absichten kam, er mit mörderischem
Flintensener ans den Schluchten und Grotten empfangen
wurde und seine von fanatischen Psassen zum Glaubenskampf
ermnthigten Hastars (irregulären Reiter) durch uufichtbare
im Islam.
n in München.
(nifcf) und Ali Jlcihi.
Feinde fallen sah (Tahir Pascha in Layard's Begleitung,
1846).
Da aber die verhetzte Secte mit wunderbarer Treue ait
ihren Lehren und heiligen Plätzen hängt, treffen immer noch
alljährlich zum Feste des Scheich Adi (in den Vorbergen von
Kurdistan, nordöstlich von Mosul) große Wallfahrtzüge,
fämmtlich iu blendend weißen Kleidern nnd schwärzen Kopf-
Kunden, ein. Solche Feste mit ihrer Musik von Rohrflöten
und Tamburin, ihren feierlichen Gesängen nnd Reigentänzen
bei Rächt in dem waldigen Thale des Scheich Adi und beim
Scheine von mehreren Tausend Fackeln, mit dem schrillen Iu-
belschrei der Weiber (Tahlihe!) und dessen Wiederhall in den
Felsen sollen von sinnberauschender Wirkung sein. Laut der
Nachrede andersgläubiger Nachbaren arten diese Feste in die
unzüchtigsten Gelage aus, und man hat die Jesiden (wie die
mit ihnen verwandten Nasairier und Jsmaelier) als „Licht-
anslöscher " verrufen. Allerdings erklärt L a y a r d, welcher
dem Feste wiederholt beigewohnt (1846, 1849), solche Nach-
rede für die grundloseste Verleumdung. Bei Badger
(Iiis Nestorians etc. II, 109) gestehen sie angeblich selber,
daß innerhalb des heiligen Thals Alles erlaubt sei. Dr.
Lobdell hat das Lichtausblasen gesehen (Petermann a. O.
II, 331). Daß aller Mysticismns in sinnlicher Ausschwei-
suug eudet, ist eine Erfahrung, die nicht eben neu erscheint
und auch bei christlichen Sectirern sich zu wiederholen pflegt.
Hauptheiligthum der Jesiden in jenem bäum- und quel-
lenreichen Thal ist ein Grabtempel, dessen blendend weiße
Kegelspitze fern sichtbar aus dem üppigen Grün hervortritt.
Darunter steht der grünverhüllte Sarkophag des heiligen
Scheich Adi. Dieser Heilige (angeblich gestorben im Jahre
1160) hatte tu einem ihm zugeschriebenen Hymnus (der ein-
B
310 Julius Braun: Di
zigeu heiligen Schrift der Jesiden) sich selber für Gott er-
klärt (wie fo mancher Susi oder Pautheistische Schwärmer),
und wenn seine Anhänger auch dieses snsische Einswerden
mit Gott nicht ganz begriffen, so dachten sie doch ihren Hei-
ligen an der Seite Gottes sitzend und mit ihm Knoblauch
(das höchste kurdische Labsal) verspeisend (Journ. asiatique,
Ser. Y, Tom. VI, aus Makrizi).
Ungleich wichtiger als eine solche in den Ausartungen
des Islam so oft erlebte Vergötterung sind die Reste alt-
chaldäischen Systems, wie sie auch bei den Jesiden noch
vorliegen. In demselben Thale des Scheich Abt ist ein klei-
neres Heiligthum, Scheich Schems genannt, also dem
Sonnengott geweiht. Man ernährt dort heilige weiße
Rinder, und wenigstens manche Jesiden Pflegen noch die
Stelle zu küsse«, auf welche der erste und der letzte Sonnen-
strahl fiel.
Am bezeichnendsten für dieSeete ist aber allerdings ihre
Andacht vor dem Satan. Wie bereits bemerkt, war der
Bel-Saturn der chaldäischen Lehre nicht nur der innenwelt-
liche Schöpsergeist, der (durch Hinwegfall aller anderen Göt-
ter) zum alleinigen und höchsten Gott sich verklären konnte
und verklärt hat, sondern er wurde durch sein Zusammen-
schmelzen mit einem sagengeschichtlichen, sterblichen Saturn,
dem ägyptisch-babylonischen Urkönig (dem Empörer und Göt-
terseind) anch zum gefallenen Gott, zum gefallenen Engel oder
Satan. Beides in einer Person zu denken, ist allerdings
schwer; aber vor solchem Widerspruche, der im Innersten einer
jeden antiken Gottessignr sich findet (durch die Mischung spe-
cülativer und sagengeschichtlicher Elemente), pflegt der Men-
schengeist sich in Andacht zu beugen (wieAeschylos in seinem
„Prometheus") und hält die unbedingte Unterwerfung feines
logischen Gesetzes sogar für religiöse und moralische Pflicht.
Selbst wenn der logische Trieb zu einer Wiedertrennung der
Figuren führt und z. B. den Satan als bösen Gott und
treulosen Diener dem guten Herrn gegenüberstellt, ist diese
Trennung niemals vollständig, sofern auch dem Satan kos-
mifche Kräfte und Erinnerungen bleiben. Es bleibt ihm,
wenigstens sectenweis, auch die Verehrung der Völker. So
war es zu Haran, wo tief in moslimscher Zeit Sche-
mal (oder Samuel) als höchster und mächtigster Gott ver-
ehrt wurde, und so ist es bei den Jesiden, die in der That
dem „großen Engel" eine warme Anhänglichkeit bewahrt
haben und es unklug finden, mit ihm zu brechen, weil er
gegenwärtig in Ungnade sei. Er wird dereinst wieder an-
genommen werden und sich seiner Getreuen erinnern. Den
Namen Sch eitan und alle nur von fern anklingenden Worte
vermeiden sie mit Entsetzen und dulden nicht, daß ihr Gön-
ner als „böses Princip" bezeichnet werde, denn „das Böse
ist nur nach menschlicher Ansicht böse". Wie schwach müßte
Gott sein, sagen sie, wenn er ein böses Princip nicht unter-
drücken könnte! (Vergl. außer Layard :c. Petermann a. a. O.
II, 334.) Als Symbol des großen Engels dient eine Art
Hahngestalt aus Kaudelabersuß (Melik Täus, König
Pfauhahn genannt). Diefe Form erinnert nicht nur au
die auf babylonischen Eylindern verehrte Hahngestalt, sondern
anch an die Rolle, welche in moslimscher Sage der Pfau-
hahn als Genoß des Satan bei der Verführung der Eva
gespielt haben muß, denn wir wissen, daß er für diese seine
Beihülfe aus dem Paradies gestürzt wurde und in Hindostan
zur Erde fiel (Herbelot, unter „Adam").
Wie die Mandäer und einst die Sabier denken auch die
Jesiden die Welt der Geister im Norden, und richten ihr
Gebet (wie die Sabier, Mandäer, Solaib, Biadiyah) nach
demNordstern. Eben dahin wenden sie dasAngesicht ihrer
Todten, denn auch die Jesidenseele hat (gleich der Mandäer-
seele) einen angstvollen Weg in jener Richtung vor sich. Erst
Secten im Islam.
kommt sie zu einem Wald, an dessen Eingang ein grimmiger
Löwe steht. Alle Bösen zerreißt und verschlingt er; die Gn-
ten trägt er sogleich ins Paradies. Die Mittelsorte läßt er
durch und ein Engel reicht diesen die Axt, mit der sie sich
selber einen Weg durch den Wald zu hauen haben. Am
Ende des Waldes ist eine äußerst schmale Brücke über den
hellen Feuerschlund. Dort hinab fallen die Schlechteren und
verbrennen; die Besseren kommen hinüber, treffen aber drü-
ben auf eine groA furchtbare Schlange, die noch einen Theil
verschlingt und je nach der Größe der Sünden längere oder
kürzere Zeit behält, bis endlich ein Engel ihr befiehlt, sie
wieder herauszugeben (wie der mandäische Hibil Siva dem
Ur), Kohlschwarz wieder ausgespien, aber von einem Engel
zu einem Quell am Berg geführt, wäscht die Seele sich rein
wie Schnee, erhält einen Kamm, sich zu kämmen, nnd reine
Kleider. Dann geht es in den Himmel (Rassam's, bei
Petermann a. a. O.).
Jene Brücke des Schreckens kennen wir aus dem Glau-
ben der Moslime (die Brücke Sirath, feiner als ein
Haar, schärfer als ein Schwert; die Erwählten kommen blitz-
schnell hinüber, die Verworfenen stürzen ins ewige Feuer),
— aus dem Glauben der Rabbinen (im Thal Josaphat
Versammelnsich alle Nationen, nnd eine unermeßliche Brücke,
welche über die Hölle führt, gewährt Jedem den Uebergang;
aber für die Gottlosen wird die Brücke ein dünner Faden
und sie stürzen in die Tiefe), — aus dem Glauben der P ar-
feu (die Brücke Chinvat, die dem Frommen breit, dem
Gottlosen sehr schmal erscheinen wird; darunter reinigt man
die Dews in glühendem Metallstrom), — und dürfen aber-
mals mit Sicherheit schließen, daß dieselbe Vorstellung auch
im chaldäischen Systeme schon vorhanden war, um so
mehr als andere Spuren (z. B. bei Pindar) noch darüber
hinausführen und ein folcher Schreckensgang der Seele zwi-
schen höllischen Dämonen und Ungeheuern schon im ägyp-
tischen Todtenbuche beschrieben und abgebildet ist.
Wenn es aber gelingt, in dieser Weise das feine Netz
des begrabenen Jdeenznfammeuhanges wieder zu Tage zu
heben, dann wird damit allerdings ein unermeßlicher Schutt
entfernt, den alle einseitigen Erklärungsversuche nur immer
noch größer machen. Der Name Jesiden selber stammt (nach
eigener Angabe) von einem alten Gottesnamen Azed, Jaz-
dan, womit (wie aus Schahrastaui zu ersehen) bei verschie-
denen Magiersecteu Ormuzd bezeichnet wurde. Auch dies
wäre kein Hinderniß der chaldäischen Herkunft des jesidischen
Vorstellungskreises, denn das ganze Parsenthnm sammt Or-
mnzd und Ahriman stammt ebendaher und ist nichts weniger
als srisch zusammengeballt aus der blauen Luft eines indo-
germanischen Himmels. Racengrenzen find nicht (wie
man vielfach mit eigensinnigem Vorurtheil noch festzuhalten
sucht) anch Jdeengrenzen. Sie sind es zur Zeit des
Christeuthums nicht gewesen, aber auch nicht zur Zeit früherer
Systeme.
Denselben innenweltlichen Schöpfergeist wie die Jesiden
und Mandäer verehren die kurdischen Kissilbasch. Diese
„Rothköpse" wohnen zumeist in Armenien zwischen den Quell-
strömen des Euphrat im unzugänglichen Gebirge und sind
der Schrecken der Umgegend, so oft sie aus ihren Alpentrif-
ten herabsteigen; denn wo nur ihre schwarzen Zeltlager er-
scheinen und wohin sie ihre Herden führen, verschwinden alle
Ernten. Die Winterdörfer sind halb in die Erde gegraben,
elend ans Stein und Lehm erbaut.; die engen, dnnkelen,
schmutzigen Räume aber von Waffen starrend. Wen sie bei
sich aufgenommen, der ist sicher. Ihre schönen Frauen gehen
nnverschleiert; sie selber trinken Wein, essen Schweinefleisch
und halten sich darum für religionsverwandt mit den Fran-
f
Hermann Beckler: Der
ken (T.schihatcheff, Lettres sur la Turquie; Kot-
schy 2c). Doch sollen sie (außer ihrer Verehrung von Sonne,
Steinen und Bäumen) anch Jesum hochhalten, der ihnen
(wie alle Propheten seit Adam) als Verkörperung Gottes
gilt. Am höchsten allerdings steht Ali — er, welchen das
uralte Bedürsniß, einen aus Erden wandelnden
Gott zu sehen oder auf die Wiederkehr eiues solchen
hoffen zu dürfen, schon so früh über die Grenzen der
Menschlichkeit entrückt hat. Ali, „der Löwe Gottes", der
Vorkämpfer auf den ältesten Schlachtfeldern des Islam,
Schwiegersohn des Propheten (aber nach Fatme's frühem
Tod auch noch Gemahl und Herr von 6 oder 8 anderen
Frauen und 19 Sklavinnen), kann selbst seinem Aenßern
nach uicht ebeu imposant gewesen sein, denn er war zuletzt
sehr wohlbeleibt und hatte einen Bart wie von gelbweißer
Wolle. Aber wer einen neuen Heiligen oder Gott will, be-
sieht ihn nicht lange. Gilt es ja doch nur einen neuen
Träger für alte Ideen zu finden. Auch bei den Kissil-
basch ist Ali: „Das Wort, der Ungeschaffene, der vom Licht
Erzeugte, der Löwe Gottes, der Vollkommene, Gerechte, Weise"
— also der Logos und innenweltliche Schöpfer-
geist. Sie singen das Lob Ali's und der zwölf Jmame
(seiner Nachkommen, in denen die Gottesverkörperung sich
fortsetzt), beten in duukelen Räumen, genießen geweihtes Brot
und Wein; aber die Unzucht, die man bei solcher Gelegen-
heit auch ihnen nachsagt, soll Verleumdung sein. (Nach
Taylor, dem britischen Consul für Kurdistan. („Globus"
XI. 349.)
Von jenen zwölf Jmamem ist nach dem Glauben aller
Ultra-Schiiten (aller fanatischen Anhänger von Ali's Ge-
schlecht) der letzte nicht gestorben, sondern nur verschwunden
und wird dereinst wiederkehren. Zu Hillah am Mittlern
Enphrat (mitten im Ruinenbereiche von Babylon) zeigte man
die Moschee, in der er verschwunden sei, und täglich (erzählt
Jbn Batuta, der Reiseude von 1346) erschienen an 100
Gewassnete mit einem gesattelten Rosse, begleitet von viel
Volk mit Trompeten und Trommeln vor dem verschleierten
Eingange dieser Moschee und riefen hinein: „Komm hervor,
Herr der Jahre, denn Tyrannei und Bosheit haben überhand
genommen. Es ist Zeit, daß Dn hervorgehst und' Allah
durch Dich die Wahrheit von der Falschheit scheide." So
warten sie bis in die Nacht und kehren dann heim.
Es wird nicht zu verkennen sein, daß auch hier Eriune-
australische Tropenwald. 311
rungeu an die Saturusage nachklingen. Jene innenweltliche
Intelligenz, der kosmische Schöpsergeist, welcher, wie gesagt,
durch Mischung mit sagengeschichtlichem Elemente theilweis
zum Götterfeind und Empörer geworden, er wurde nach der
ägyptisch-babylonischen Ursage zuletzt von den guten Göttern
überwältigt und in eine, je nach verschiedener Ausfassung,
mehr oder minder harte Haft gelegt. Es ist die Haft des
parsischen Zohak, des griechischen Prometheus, des uor-
discheu Loki, des apokalyptischen Satan :c. Alle diese sind
in Berg und Abgrund begraben, werden aber sämmtlich einst
wieder loskommen — ein Tag, welcher eben wegen jeuer
zwiespaltigen, aus Gut und Bös eigentlich unvereinbar ge-
bildeten Natur des Gottes theils gefürchtet, theils (wie bei
deu Jesiden und Ultra-Schiiten) gehofft und ersehnt wird.
Wie wenig die böse Hälfte des im Berg gefangen sitzenden
Gottes zum Bewußtsein zu kommen braucht, oder wie leicht
sie sich daraus verlieren kann, beweist z. B. der Umstand,
daß in germanischen Bergverließen (Kyffhänser, Unterberg)
die gefeiertsten Nationalheroen an die Stelle jener unHeim-
lichen Mächte getreten sind.
Also nicht nur der himmlische Schöpfergeist oder Logos
hat in moslimscher uud antimoslimscher Sectenbildung den
Namen „Ali" angenommen, sondern auch der gestürzte Schö-
pfergeist oder Satan. Das fehen wir vollends bei den Ali
Jlahi, die in dem Stufengebirge zwischen der mesopotami-
schen Tiesebene und der persischen Hochebene wohnen. Ihr
abgöttisch verehrtes Oberhaupt residirt zu Keriud, einem
malerisch in seiner Felsbucht hinaufgebauten Dorf innerhalb
der „Zagros-Pforten", dort, wo der Weg von Bagdad nach
Persien hinaufführt. Dort wird Gott in täglichen Gebeten
und Flüchen aufgefordert, alle Moslime mit Hülfe Benja-
min's, des Sohnes Jakob, zu vertilgen. Auch Benjamin
ist eine der vielen Menschwerdungen ihres Gottes uud wird
mit Vorliebe verehrt, obgleich ihr Name Ali Jlahi sie zu-
nächst als Bekenner von Ali's Gottheit ausweist. Nach
Einigen aber sollen die Kerinder den Satan für den Welt-
fchöpfer halten und nur ihn unter deu Namen Ibrahim (Abra-
ham), Benjamin und Ali anbeten (Petermann a. a. O. II, 263)
— nach dem, was wir bis dahin gesehen, nichts weniger als
verwundersam.
Als andere Trümmer und Umgestaltungen desselben alt-
chaldäischen Vorstellungskreises werden wir demnächst die Lehre
der Drusen und Jsmaelier schildern.
Der australische Tropenwald.
Von Dr. Hermann Beckler *)♦
Jedermann kennt die sogenannte „offene" Waldung
Australiens. Das kleinste Lehrbuch der Geographie giebt
davon eiue kurze Charakteristik. Vom Urwalde der wärme-
ren Theile Australiens, dem „scrub" oder „brush" der Eo-
lonisten, wissen nur Wenige etwas. Im Allgemeinen scheint
der australische tropische und subtropische Wald hinter dem
berühmten südamerikanischen mit seiner erdrückenden Lebens-
fülle, seinen rasch wechselnden Generationen, seinen ins Un-
endliche wuchernden prachtvollen Schmarotzerpflanzen, die sich
sogleich jedes gefallenen Baumriesen bemächtigen uud den
der
*) Herr Dr. H. Beckler war bekanntlich als Naturforscher bei
berühmten Expedition O'Hara Burke's betheiligt.
großen Todten mit neuem Leben schmücken, endlich seinen oft
undurchdringlichen Strecken zurückzustehen. Auch fehlt dem
australischen Urwalde das tauseudsältige reiche Thierlebeu,
welches jene südamerikanischen Waldungen wenigstens gegen
die offenen Stellen hin oder an den Usern der Flüsse belebt.
Aber trotz allem, was man über Pracht und Reichthum tro-
pischer Wälder gelesen und in Abbildungen gesehen haben
mag, bleibt unsere Vorstellung bei dem Betreten eines solchen
australischen Waldes gar sehr hinter dem Eindrucke der Wirk-
lichkeit zurück.
Die eigentliche tropische und subtropische Waldung hat
in Australien erst tief im Süden, also ziemlich weit vom
Aeqnator entfernt, ihre Grenze. Man findet noch auf 35°
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Hermann Beckler: Der anstralische Tropenwald.
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fübt. Br. Waldungen mit einzelnen tropischen Baumformen,
ja, nieiu verehrter Freund, der berühmteste Pflauzenforscher
Australiens, Dr.Ferd. Müller, hat auf 36° südl.Br. noch
80 Fuß hohe Palmen (Corypha) gefunden. Nach dem
Innern des Landes zn hat dieselbe ihre scharfe Grenze an
dem vom Süden zum Norden verlaufenden Küstengebirge,
jenseits dessen die Vegetation des Binnenlandes allein das
Terrain beherrscht. Man kann vom Süden, z.B. von Ade-
laide oder Melbourne, in nördlicher Richtung ganz Australien
durchreisen, ohne auch nur die Spur einer solchen Waldung
zu finden, ehe man an den untern Lanf der in den Golf von
Carpentaria mündenden Flüsse, also in das nördliche Küsten-
gebiet gelangt. Die tropische Waldung füllt die zur Küste
abfallenden Schluchten des Küstengebirges, folgt in breiten
Gürteln dem Laufe der östlichen Küstenslüsse, bedeckt aber
auch, je nach der Beschaffenheit des Bodens, ungeheure Strecken
des Küstengebietes, wie am Hastiugs, am Clärence,
Richmond, Brisbane und anderen Flüssen.
Ich habe viele Wochen ausschließlich iu den herrlichen
Wäldern dieses Küstengebietes zugebracht, und diese nicht ge-
rade mühelosen Tage gehören noch jetzt zu den schönsten Er-
innerungen aus meinem Leben.
Was mir immer als höchst sonderbar vorkam, war die
oft plötzliche Grenze eines solchen Tropenwaldes. Hier
ist z. B. ausgedehntes Grasland mit einzeln stehenden Gummi-
bäumen, oder offener Wald, von so nüchternem Aussehen,
als eine Landschaft nur sein kann. Da thürmt sich Plötzlich,
scharf abgeschnitten, die dunkelgrüne schimmernde Wand des
Tropenwaldes vor uns auf, und mit ein paar Schritten be-
finden wir uns, so zu sagen, in einer andern Welt.
Es ist eine andere Welt! Eine heilige Scheu befällt
den Wanderer, der zum ersten Mal eine dieser Waldungen
betritt, und die große einsame Natur macht dem Eindring-
linge gegenüber einen nicht zu bewältigenden Eindruck gel-
tend. Der Mensch empfindet in dieser großen ihn fast
verschlingenden Umgebung so sehr seine Nichtigkeit, daß er
in der Pracht und Fülle, an der sich sein Auge weidet, un-
geachtet der Abwesenheit aller Gefahr das Gefühl seiner per-
söulichen Sicherheit verliert und nur unter öfterm Still-
stehen lauschend und mit angehaltenem Athem in das lockende
Dunkel des Waldes vordringt.
Dies sind nicht die wenn auch noch so frisch grünen und
prächtigen Laubmassen unserer vaterländischen Wälder. Dunk-
les, meist großes, vielgestaltetes Laubwerk thürmt sich hier
wie zu Mauern auf, und unter den dichten Laubmassen ver-
schwinden Aeste und Zweige, und nur hoch oben blickt das
Blau des Himmels herein. Je tiefer aber das dunkle Grün,
desto ausfallender hebt sich davon das helle der Schling- und
Kletterpflanzen, die auf die anmnthigste Art Lauben und
Schirme bilden, sowie die hellgrünen Blätterkroneu niedlicher
Palmen mit Stämmchen von nur 1 bis lVs Zoll Durch-
messer, einer Höhe von 6 bis 12 Fnß, und mit ihren im
Hochsommer von zahlreichen scharlachrothen Beeren besetzten
Fruchtstengeln.
Das bei Schilderungen tropischer Wälder gebräuchlicher
Weise so sehr hervorgehobene üppige Wuchern von Lianen
nnd Schlingpflanzen, welche die dichtesten Landen, Dächer
und Gänge bilden und in weitlaufenden Festons hoch oben
von Baum zu Baum ziehen, gehört, wenn man einmal tiefer
in den australischen Urwald gedrungen ist, nicht zu dessen
Charakter. Au offenen Stellen zumal, wo der Wald die
Ufer eines Flusses umrahmt, wie streckenweise an allen öst-
lichen Küstenflüssen niederer Breitengrade, kann man sich bei
tagelanger Fahrt nicht satt sehen an dem unerschöpflichen
Reichthnm und den tausendfältigen phantastischen Gestaltun-
gen der Ranken- und Kletterpflanzen. Da umspinnen in
lichtgrüner Farbe den dunkeln Hochwald bis ans niedere Ufer
herab Gewächse der mannichfaltigsten Art; sie gehören zum
größten Theil den Familien der Celastrineen, Menispermeen,
Scitamiueen und Anonaceen an. Eine Fahrt auf einem,
auf jedem dieser Flüsse mit ihrem ruhigen Wasser, ihren
zahlreichen überraschenden Biegungen ist eine Fahrt durchs
— Paradies. Mau sieht, es ist wahr, viel weniger von
bunten Farben, als an den Flußufern der Aequatorialgegeu-
den Amerikas, aber die riesenhaften Verhältnisse der Bäume,
das dnnkle, oft glänzende, wie zu undurchdringlichen Massen
sich verwebende Laubwerk entzücken uns da und dort, über-
ragen einzelne Bäume vou wundervoller Zeichnung und
prächtigem tief dnnkelm Grün — offenbar Coniferen — den
hohen Wald. Es sind Araucarieen. Stellenweise zieren
weiße oder sanft rosenfarbene handgroße Blumen wie leuch-
tende Sterne die Uferwaldung; es sind die prächtigen Blü-
then eines baumartigen Hibiscus, die hier die Höhe von 30
bis 40 Fuß und darüber erreichen.
In der Tiefe des Waldes verhält es sich anders. Sie
präfentirt sich uns eher in der Form ernster, feierlicher und
hochgewölbter Säulenhallen, als in der einer nndurchdring-
lichen Wildniß. Eine den Boden mehrere Fuß hoch dicht
bedeckende Vegetation fehlt hier fast gänzlich. Nur strecken-
weife stößt man auf Dickichte, durch welche man sich Schritt
für Schritt den Weg bahnen muß. Sie bestehen Vorzugs-
weise aus einer wild rankenden, mit zahlreichen, großen,
hakenförmig gekrümmten Dornen befetzten Rubusart (uuferm
Brombeerstrauch verwandt) und den weithin laufenden Schlin-
gen von Canna und Flagellaria. Sonst kann man Tage
lang im Urwalde gehen ohne irgend ein Hinderniß, ja man
hat, namentlich im tiefern Walde, den nackten, dunkeln, feuch-
ten Boden fast stets vor Augen, was wegen der Gegenwart
von Schlangen sehr wünschenswert!) ist. Auf dem Grunde
findet sich auch der einzige andere Feind, der zwar nicht ge-
fährlich, aber sehr unangenehm ist. Da einer vieljährigen
Gewohnheit gemäß meine Fußbekleidung trotz Schlangen und
anderm australischen Ungeziefer, Hundertfüßlern, Taranteln,
Scorpionen, stets nur aus hohen Schnhen bestand, so konnte
ich jenem Feinde nie entrinnen. Es sind Blutegel, die dort in
unglaublicher Menge vorhanden sein müssen. Ehe man es
nur bemerkt, hängen sie zu drei und vieren innerhalb der
Schuhe und verrichten ihr blutiges Geschäft. Nach einer
Viertelstunde kann man sicher sein schon wieder andere zu
finden, und das geht so, je nach der Loealität, den ganzen
Tag fort.
Bekanntlich erträgt man Blutverluste in warmen Ländern
viel schlechter als in gemäßigten; so wurde ich denn, nachdem
ich mich einmal mehrere Tage lang in besonders blutegel-
reichen Waldungen am Richmond herumgetrieben hatte, um
auch dort mit der zum großen Theil unbekannten Baumflora
durch Sammeln von Blüthe- und Fruchtexemplaren eine
nähere Bekanntschaft anzubahnen, von den fortwährenden
Blutverlusten so schwach und elend, daß ich einige Zeit zn
meiner Erholung brauchte. Wenn man so wochenlang nnd
aus Berus diese Wälder durchstreift, so sieht man sie freilich
etwas nüchterner an, als bei einem ersten kurzen Besuche.
Des Menschen Auge gewöhnt sich leider auch an das Schönste
in kürzester Zeit und es wird Alles bald alltäglich. Den
Eindruck des Großartigen, des Erhabenen wird man aber
in der Umgebung dieser großen Pflanzenwelt nie verlieren.
Die Riesenstämme der Bäume gewinnen hänsig fast das An-
sehen monumentaler Säulen, wie sie sich mit 6 bis 8 schma-
len, radienartig abgehenden Pfeilern, die sich wiederholt thei-
len, und welche da, wo sie sich an den Stamm ansetzen, 5
bis 6 Fuß hoch sind, an die Erde klammern. Ganze Reihen
dieser Bäume findet man vom Grunde an bis zu 50 und
Hermann Beckler: Der australische Tropenwald.
313
60 Fuß Höhe dicht umwachsen und umschlungen von den
zarten aber dicht stehenden Zweigchen und Blättern einer klet-
ternden Pflanze aus der Familie der Aroideen — Pothos
australasiens. Zahlreiche parasitische Orchideen, viel wem-
ger prunkvoll als die brasilianischen, meistens bescheidene, dem
oberflächlichen Beschauer kaum ausfallende, dennoch sehr nied-
liche Gewächse sitzen an Stämmen und Aesten; ich war so
glücklich, mehrere seltene Arten davon zu entdecken. An be-
sonderen Stellen sind ganze Baumstämme von einem wuu-
derschön gezeichueten Netzwerk einer holzigen Schmarotzer-
pflanze, einer Ficusart, umstrickt, fo eng, daß man denken
sollte, es wurde dem so umschlungenen noch sein Leben kosten,
denn das holzige, starre Netz drückt tiefe Furchen in den
Stamm. In einigen Wäldern kommt man auf Stellen, wo
holzige, biegsame, aber vollständig zweig- und blattlose Stämme
parasitischer Pflanzen hoch von den Bäumen in langen Schlin-
gen und Schleifen herabhängen uud in großen Knäueln
schlangenförmig oder wie ungeheure Schiffstaue auf dem
schwarzen, feuchten Boden gerollt liegen. Dieses holzige Tau-
werk erreicht eiue Dicke von 3 biö 3*/? Zoll Durchmesser;
von anderen hoch oben nistenden Parasiten steigen Luftwur-
zelu wie straff gespannte Seile ans den Boden nieder. Da
nnd dort wallt über tief dunkles, fast schwärzliches Grün
wie ein mächtiger bauschiger Schleier eine parasitische Pslan-
zenmasse herab, ein Loranthus mit Taufenden von fener-
farbenen Blüthen.
Am Richmond, anch am Clarence findet man in langen
Gewinden von Bäumen herabhängend eine der bei uns hän-
fig in Zimmern gezogenen Wachsblume ähnliche und nahe
verwandte Schlingpflanze, eine Stephania.
Was von schmarotzenden Pflanzen dem australischen Walde
seine Charakteristik giebt, sind außer der genannten Pothos-
art hauptsächlich zwei Farrenkräuter: das dem wärmern Anstra-
lien eigenthümliche, auch bei uns in größeren Gewächshäu-
seru vielfach bewunderte Platycerium grande, und eine Art
Scolopendicum ober Asplenium — der genaue botanische
Terminus ist mir leider nicht erinnerlich. Das eine sitzt
oft zu mehreren Exemplaren am Stamme und an den Aesten
hoher Bäume, in Gestalt und Farbe vielleicht ungeheuren
Kohlpflanzen am ehesten vergleichbar, ein Bild, das auch den
oberflächlichsten Beschauer als völlig fremd und in: höchsten
Grade sonderbar überraschen muß. Die andere Farre, eben-
falls parasitisch, hängt mit zahlreichen, strahlenförmig fallen-
den, prächtig glänzenden, bis zu 3^2 Fuß langen Blättern
von todten und lebenden Bäumen herab.
Man kann nicht fagen, daß das Innere eines solchen
Waldes, wenn er sich auch über mauche Meilen Landes aus-
dehnt, viele Abwechselung bietet. Dies ist erklärlich, wenn man
bedenkt, daß es sich fast ausschließlich um eine Baumflora
handelt, uud daß es im Verhältuiß zur Anzahl der Jndivi-
dum immerhin nur eine beschränkte Anzahl von Gattungen
und Arten ist, denen jene angehören. Um Abwechselung zu
finden, muß man fchou die Wälder verschiedener Gegenden
besuchen, auch haben die Wälder nahe an der Küste wohl
eine verschiedene Physiognomie von denen im Gebirge.
Dort trifft man außer deu zahlreichen, niedlichen Palmen
uud Musaceen auch gauze Bestände hochwachsender Palmen,
Licistonien und Coryphen, und Gruppen von niedrigen
Fächerpalmen, an deren Schönheit man sich nicht genug satt
sehen kann.
Lockt uns aber im Gebirge eine der zahlreichen dämmern-
den Schluchten zum Hinabsteigen, so fesselt bald eine andere
charakteristische Pflanzengattung unsern Blick; dies sind die
baumartigen Farren, die Farrenbäume, die hier im tiefen
Schatten und in der fortwährend feuchten Luft ihre reizenden
Formen entwickeln. Von einer solchen Schlucht gelangte
Globus XIV. Nr.lv. (November 1868.)
ich einmal mit vieler Mühe in eine noch tiefere und engere,
bis ich endlich in einem Kessel stand, der von ganz niedrigen,
aber dickstämmigen Farrenbänmen besetzt war. Ueber Felsen
und schmierige Erdwände rieselte Wasser so srifch nnd fo kalt,
wie ich lange keines gekostet hatte. Die Farrenbäume waren
sicher eine seltene Art. Es war ein ganz einziger Ort. Da in
einer tiefen, stillen Schlucht einer wenig bewohnten Gegend
Australiens war man weit genug von dem Getriebe der großen
Welt, um es zu vergessen. Eine Schlange verleidete mir den
beabsichtigten längern Aufenthalt, um so mehr, als die großen
dunkeln, fetten Blätter einer Composita den Boden fo dicht
überwucherten, daß ich mich nicht länger ficher glauben durfte.
Wir wollen nun, nur zu einigem Verftändniß für Freunde
der Pflanzenkunde, uns die Flora dieser Wälder etwas näher
besehen. Es sind fast durchwegs Fürsten, Sprößlinge fürst-
licher Familien der Pflanzenwelt, die auf uns hier so still in
ihrer imponirenden Ruhe und Größe herabsehen. Es ist
zum großen Theil eine indische oder indischen Formen nahe
verwandte Flora. Viele dieser Bäume schmücken Küstengegen-
den von Indien und sind weit über die Inseln des indischen
Archipels verbreitet. Die Eucalypten sind in diesen Wäl-
dern fast nicht vertreten, aber es fehlt nicht an anderen edlen
Gattungen und Arten der Myrtaceen, wie Eugenia, Tri-
stania, Jambosa. Wir begegnen riesigen Bäumen mit
Prächtigen, weißen, von fern federbuschartigeu Blüthensträu-
ßeu; sie gehören zu den Amaranthaceen, einer Familie, die
bei uns nur durch unscheinbare einjährige Pflanzen vertreten
ist. Eine große Anzahl der Bewohner dieser Wälder ge-
hören zur Familie der Feigen, Ficoideen, und den verwand-
ten Mareen. Ost überrascht uns mitten in dem dnnkeln
Grün ein Baum, 30 bis 40 Fuß hoch, mit weicher, weißer
Rinde, spärlichen, sehr hellgrünen, ein bis zwei handgroßen
Blättern, und armleuchterartigem Wuchs von der Familie
der Nesseln oder Urticaceen. Es ist die Urtica Gigas oder
Riesennessel. Der Schmerz, den die Berührung dieser Blät-
ter verursacht, soll ihrer Größe und der ihrer Brennhaare
proportional sein. Jedermann fürchtet, ihnen nahe zu kom-
men, uud Pferde sollen davon rasend geworden sein. Von
derselben Familie, zu der unser Epheu gehört, finden wir dort
pfeilgerade Bäume von palmähnlichem Wuchs und palmähn-
licher Blätterkrone, einem Blüthenstande, der 3 Fuß hoch
und von wenig geringerm Durchmesser ist, eine wunderschöne
Pflanze mit Namen Panax elegantissimus.
Zahlreich vertreten ist die Familie der Euphorbiaeeen,
namentlich die Gattung Croton; dieser gehört auch der iudi-
sche Baum an, der das Crotonöl liefert. Andere dieser
Baumfürsten gehören zu deu Familien der Laurineen, wohin
der indische Camphorbanm gehört, andere zu den Stercnlia-
ceen, Nhamneen, Rutaeeen, Capparideen, Anonaeeen. Die
Familie, zu der unser Spindelbaum gehört, die der Cela-
strineen, wird durch mehrere Formen, Bäume und Kletter-
pflanzen, repräsentirt.
Nach dem, was ich ans meinen vielen Wanderungen durch
diese Wälder beobachtet habe, liefern die Familien der Me-
liaceen und der Sapindaceen die im Wüchse edelsten und
schönsten sowie auch die höchsten Bäume. Man kann vor
manchem dieser Bäume mit den säulenartigen Stämmen, von
denen die ersten Aeste erst in einer Höhe von 80 bis 100
Fuß abgehen, mit dem reichen, je nach der Art und GaDkig
bald einfachen, bald gefiederten Blätterwerk voll Bewunde-
ruug stehen bleiben.
So unglaublich es scheinen mag, ist es dennoch Thatsache,
daß diese Waldungen, namentlich am Maelay, am Clarence
uud am Richmond, was die bis jetzt von den Colonisten als
Nutzhölzer angesehenen Bäume betrifft, fchou sehr stark be-
arbeitet sind.
40
314 W. Hausmann: Beitrüge z
Die Colonisten unterscheiden nur wenige dieser Bäume
durch eigentümliche Namen, die zum Theil nur die Aehn-
lichkeit des Holzes mit anderen bekannten Holzarten andeuten.
Flindersia oxleyana nennen sie yellow woocl, Gelbholz,
ich weiß jedoch nicht, ob sie viel davon gebrauchen. Dysoxy-
lum rufum, ebenfalls zu den Meliaceeu gehörend, nennen
sie Lastard-Osdai'-peneil^vood, Bastard-Ceder-Bleistist-
holz; es arbeitet sich leicht und wird zu Bauten verwendet.
Den Arancarien, die schlechtweg den Namen „pine", Fichte,
führen, stellt man schon in größerm Maßstäbe nach, da das
weiche Holz sich leicht in Bretter sägen läßt. Einen mir
unbekannten Baum beuutzeu die Colonisten ebenfalls fleißig,
das Holz geht unter dem Namen „beech", Buche. Als
Handelsartikel und im Großen geht man aber seit langer
Zeit einem der schönsten Bäume aus Leben, der Cedrela
Toona, „Iied Cedar", rothe Ceder der Colonisten (Familie
der Meliaceen).
Man muß dabei nicht an eine Ähnlichkeit oder Ver-
wandtschaft dieses Baumes mit der Libanon-Ceder denken;
das Holz ist ähnlich und die Pflanze selbst nahe verwandt
mit Swietenia Mahogany, dem echten Mahagoniholz.
Es sind nun an die 25 Jahre, daß Hunderte von rüsti-
gen Menschen diesem einst sehr erträglichen Erwerbszweig
nachgingen. Da Wege in diesen Waldungen nicht existiren,
so schlug man anfangs nur die in der Nähe der Flüsse und
ihrer Arme stehenden Cedern und schwemmte sie in großen
vierseitigen Blöcken von 3 bis 7 Fnß Durchmesser zu Flö-
ßeu zusammengekettet stromabwärts. Jetzt muß man schon
weit vom fahrbaren Wasser in den Wald dringen, um Ce-
dern zu erhalten, und die Mühe und Anstrengung, um die
Blöcke mit Bullochsen bis zum nächsten Flußarme zu briu-
gen, ist für Menschen und Transportthiere eine fast unsägliche.
Zur Zeit meines Aufenthaltes in jenen Gegenden, vor
neun Jahren, waren jedoch nur uoch wenige Leute, am gan-
zen Richmond vielleicht 150, als „cedar-cutters" beschäf-
r Naturgeschichte der Trappen.
tigt. Der Verdienst war trotz der viel schwereren Gewin-
nnng des Holzes geringer, der Handel damit schon seit ein
paar Jahren sehr flan geworden; eine schwer zu begreifende
Erscheinung, wenn man weiß, daß in ganz Australien die
Möbel des Reichen wie des Armen fast ausschließlich aus
Cederholz gefertigt werden. Die Bewohner jener Gegenden
selbst können sich jedoch leicht den Luxus erlauben, ihre gan-
zen Häuser aus Cederholz zu bauen. Dasselbe hat in glat-
ten Brettern eine prächtige lichtbraune Farbe, und eine Zeich-
nung ähnlich dem Wasser eines Seidenstoffes. Ich habe
eine Zeitlang in einem Gasthanse gewohnt, dessen Fronte 90
Fuß Länge hatte und das ganz aus Cederholz erbaut war.
Eben als ich am Richmoud war, hatten anhaltende Regen
die Flußarme bedeutende geschwellt und einen Transport von
Cederholz ermöglicht, das seit vielen Monaten der Abführung
harrte.
Die mit Gewinnung dieses Holzes beschäftigten Leute
sollen früher, wie ich an Ort und Stelle mir sagen ließ,
jeden Arbeitstag 3 bis 5 Pf. St. verdient haben. Keine
Gegend Australiens veranschaulicht besser die elende und ver-
schwenderische Wirtschaft, die bei diesen Leuten, zum großen
Theil alten Verbrechern, gang und gäbe war.
Hier steht noch der Urwald in seiner ewig frischen Pracht,
dazwischen die wenigen offenen Stellen und Lichtungen mit
den wenigen elenden Hütten. Aber die rothen Cedern sind
dahin — die noch stehenden kaum zu erreichen — unsägliche
Summen wurden damit Jahre hindurch verdient, aber fast
nirgends findet nian auch nur die Spur eines ehemals so
bedeutenden Erwerbes in diesen paradiesischen Gegenden.
Es hieß wohl: Tages Arbeit! Abends Gäste! Saure
Wochen! Frohe Feste! Aber — es war kein Zauberwort.
Es war die rücksichtsloseste, räuberische Ausbeutung des edel-
sten Holzes, der reiche Erwerb aber der physische und mora-
tische Ruin der Mehrzahl der Arbeiter, zum Theil schon
früher verkommenen Individuen.
Beiträge zur Naturc
Nach Beobachtungen im Tieflande der W
Die eigenthümliche Konfiguration der Walachei, wonach die-
selbe in ein scharf geschiedenes nördliches Hochland und ein süd-
liches wahres Tiefland zerfällt, begünstigt nicht nur bedeutende
klimatische Verschiedenheiten und Kontraste, auch die Flora und
Fauna des Landes, ist in Folge dieser Eigenthümlichkeiten eine
sehr mannichfaltige und verschiedene. — Leider wurden bis
jetzt über die Naturverhältnisse der Walachei von eingeborenen
Gelehrten noch keinerlei umfassende Untersuchungen und Beob-
achtungen gemacht. So sind auch nirgends irgend vollständigere
Naturaliensammlungen zu finden. Nur in dem noch lange nicht
vollständig ausgebauten Kollegium Szento Szava in Bukarest
sahen wir eine größere Anzahl in- uud ausländischer Natura-
lien, aber auch da zeigen sich große Lücken. Nur die dem Tief-
lande eigenen Vogelarten sind besser vertreten. Vorzüglich zogen
einige Prachtexemplare von Otis tarda unsere Aufmerksamkeit
auf sich und wir beschlossen, einmal an Ort und Stelle über
die Naturgeschichte dieser interessanten Vogelgattung und die
Jagd derselben möglichst genaue Daten zu sammeln. Das Glück
begünstigte uns bei diesem Vornehmen, da auch Prinz Scarlatt
und einige andere Jagdmatadore uns freundlichst unterstützten,-
den Nachweisungen dieser Herren verdanken wir Vieles, was uns
sonst entgangen wäre. —
schichte der Trappen.
achei von W. Hausmann in Kronstadt.
Zunächst erlauben wir uns eine kurze Beschreibung des
Beobachtungsterrains zu geben, welche zum bessern Verständniß
jedenfalls nothwendig ist.
Namentlich der Theil des walachischen Tieflandes, welcher
sich südlich und östlich von Bukarest ausbreitet, ist keineswegs
eine vollkommen ebene, trockene Steppe, wie z. B. solche in mehr
östlicheren Gegenden sich finden. Strichweise wechseln sandiger,
kiesiger und Moorboden miteinander ab. Mehr südlich nach den
Donauuferdistricten zu breiten zahlreiche größere und kleinere
Teiche ihren blitzenden Wasserspiegel aus. Viele sind mit Schilf
und Rohr fast ganz verwachsen. Manchmal beobachteten wir,
selbst nördlich von Bukarest, auch große, lang sich hinziehende
muldenförmige, völlig trockene Vertiefungen, die wir glauben als
Depressionsvertiefungen bezeichnen zu können, da sie alle
unter dem Niveau der sonst gleichförmig sich ausbreitenden Ebene
liegen und nicht eigentlich als Thäler zu betrachten sind, von
Hügeln oder Anhöhen umgeben.
Die zahlreich von den weit entfernten Hochgebirgen herab-
kommenden Gewässer, welche die Ebene durchschneiden, fließen in
einem oft sehr tief eingeschnittenen Bette, mit hohen, steil und
senkrecht abfallenden Ufern, was, beiläufig bemerkt, ihrer Pas-
sirung und Ueberbrückung oft bedeutende Schwierigkeiten ent-
W. Hausmann: Beiträge zur
gegenstellt. Aus einiger Entfernung bemerkt man oft durchaus
nicht, daß man sich in der Nähe eines Flusses befindet. Es zei-
gen sich keine Weidenbäume, Einführten oder Windungen, die
durch ihren glänzenden Wasserspiegel sich sogleich bemerklich ma-
chen würden. Plötzlich steht der Wanderer am Ufer und sieht
ties zu seinen Füßen ein träges, stilles Wasser sich langsam und
geräuschlos sortschleichen. Kein einziger Stein, auch nur von
Faustgröße, ist im Flußbette zu entdecken ; nur klaftertiefer Trieb-
fand und zäher, weißer oder bläulicher Schlamm bedeckt den
Grund. Ein Durchwaten solcher Flüsse ist an den meisten Stel-
len keine Möglichkeit, denn auch das jenseitige User ist von glei-
cher Höhe wie das diesseitige und auf stundenlange Entfernung
geht es gleichförmig so fort wie in einem Festungsgraben, bis
endlich eine Stelle kommt, wo eine weniger steile Einfenkung
ein Herauskommen möglich macht. — An der Jalomitzabrücke
bei Plojest, wo das Flußufer über 30 Fuß hoch entblößt zu
feheu ist, konnten wir mit Bequemlichkeit die Reihenfolge der
Tertiärschichten beobachten, welche den Untergrund der walachi-
fchen Tiefebene bilden. Zu oberst lag eiue Dammerdeschicht,
welche auf nicht fehr lange Strecken von 1 bis 2 Fuß wechselte.
Das Aussehen derselben ist dunkelbraun bis ins Kohlschwarze
übergehend. Unter dieser Schicht lagert zäher blauer Thon von
4 bis 9 Fuß Mächtigkeit. Unter diesem wechsellagern gelbliche
Thonschichten mit grobkörnigem Sande, worin streifenweise schmale
Einlagerungen von Kohle sich zeigen. Diese Sandlager gehen
oft bis zu bedeutender Tiefe nieder. —
Die Breite aller Flüsse und Flüßchen, welche durch die wa-
lachifche Ebene der Donau zueilen, nimmt nun sehr zum Nach-
theile des Laudcs von Jahr zu Jahr zu. So sahen wir z. B.
selbst, wie Erdmassen von mehreren Hundert Cubikfchuhen von
den steilen Uferwänden herabstürzten, auf welchen noch frische
Maispflanzen standen. Manche Landleute klagten, daß ihr Feld
am Flußufer immer kleiner werde, da fort und fort neue Abschnitte
in die Fluthen versinken. Userbauten und Flußregulirungen
müßten hier Millionen verschlingen, wollte man sie vornehmen.
So wurden z. B. auf eine Eindämmung der Dimbowitza ober-
halb Bukarest bedeutende Summen verwendet, da bei jedem
Regengusse oder Schneeschmelzen ein bedeutender Theil der Haupt-
stadt überschwemmt wird. Wie wenig aber diese Kunstbauten
hier helfen, sahen wir gerade am besten im Juli 1864, wo in
wenigen Stunden die halbe Stadt unter Wasser war und Wochen-
lang nachher, viele Straßen noch nicht zu Passiren waren.
Strichweise kommen im Tiestande hier die eigenthümlichen
Strauchdistr icte vor, die sich oft eine Meile breit und mehrere
Meilen lang hinziehen. Wald kann man sie füglich nicht nen-
nen, da keine Bäume darin vorkommen, aber alle möglichen
Straucharten haben sich hier Rendezvous gegeben. Die Hunds-
rose (Rosa canina), der Schlehdorn, Pfaffenhütchen, der Kreuz-
dorn (Rhamnus catiorticus), sie alle und noch viele andere
Arten machen sich behaglich breit und erlangen auf gutem Bo-
den oft eine erstaunliche EntWickelung. — Eigentliche Waldun-
gen sieht man weit seltener und diese bestehen fast ausschließlich
aus Winter- oder Stieleichen (Quercus pedunculata); aber trotz
der warmen Lage und des fetten Bodens sahen wir keine Exem-
plare, die höher als 18 bis 20 Fuß gewesen wären, und die
meisten hielten im Durchmesser nur 5 bis 3 Zoll. Nur bei
Jodu-Zigauest, einige Meilen nördlich von Bukarest, ist ein gro-
ßer Eichenwald, der in dichtgeschlossenem Bestände eine größere
Fläche bedeckt. Doch auch da sind keine Riesenbäume zu finden,
wie wir sie iu viel nördlicheren Ländern oft beobachtet hatten.
Der Theil der walachischen Ebene, wo namentlich die Bu-
karester Sportsmeu ihre Jagden abhalten, wird die Paraqua
genannt und breitet sich einige Meilen südwestlich von der Stadt
aus. — Man stelle sich übrigens die Trappenjagd nicht als ein
behagliches Vergnügen vor, dem sich auch ein Neuling mit Lust
hingeben kann. Die von weitem so harmlos scheinende Ebene
hat auch ihre bedenklichen Eigentümlichkeiten. Es bedrohen den
Jäger nicht wie int Gebirge steile Felswände, von denen herab-
stürzend er jähen Tod finden kann; aber dafür sind hier Sumpf-
geister, die den im Jagdeifer Vergessenen, ist er einmal in ihre
Naturgeschichte der Trappen. 315
Mitte gerathen, nicht mehr loslassen und ihn sanft und lang-
sam, aber sicher hinabziehen in den tiefen schwarzen Moorgrund,
so daß die suchenden Freunde oft nicht einmal mehr die Spur
des Verschwundenen aufzufinden wissen. Auch kamen Fälle genug
vor, wo sich Jäger allein in die Steppe gewagt, ohne genügen-
den Proviant mitzunehmen, und nachdem sie tagelang verirrt
umhergelaufen waren, entweder gar nicht oder verschmachtet wie-
der aufgefunden wurden.
Der Anzug der hiesigen Trappenjäger ist dem Terrain an-
. gemessen und sehr zweckmäßig. Eine Blouse von lohbrauner
Farbe mit Taschen. Ebenso gefärbte weite Hosen. Lederne Ga-
maschen bis ans Knie und tüchtige Schuhe von ungeschwärztem
Leder, mit sehr breiten Sohlen, um im Sande oder Moore nicht
so leicht einzusinken. Schwere hohe Stiefel wären hier gar nicht
zu gebrauchen. Ein lohbrauner Hut, eine Tasche und eine
leichte karabinerartige Büchse oder Doppelflinte vervollständigen
die Ausrüstung des Jägers.
Die große Trappe (Otis tarda) ist auch hier im walachifcheu
Tieflande so scheu und vorsichtig wie in Deutschland und an
anderen Orten, woher es auch kommt, daß die Jagd auf sie
niemals sehr ergiebig ausfällt und an einem Jagdtage selten
mehr als sechs bis sieben Stück erlegt werden können. Die
Trappen leben auch hier gesellig — außer der Paarungszeit —
in Zügen von zwanzig, vierzig bis sechzig zusammen. Ueberein-
stimmend bemerkten alle Jäger, daß je größer eine solche Gesell-
schuft sei ihr um so schwerer beizukommen wäre. Die weite
offene Steppe ist in der Regel ihr liebstes Revier. Dies ist für
den Jäger nun gerade sehr fatal; oft sieht man deutlich eiue
Truppe der stattlichen Vögel, wie sie argwöhnisch mit den klei-
nen, aber sehr scharfsichtigen Augen Alles um sich her beobachten.
Den Jäger kennen sie nun namentlich sehr gnt, und beim Man-
gel geeigneter Deckungsgegenstände ist es keine Möglichkeit, ihnen
weiter als 300 bis 500 Schritte in die Nähe zu kommen, und
meist geht man dann völlig leer aus. Die Jungen lassen sich noch
eher überraschen, da sie, in die Enge getrieben, sich oft fest drücken
und, vom Hunde gestellt, dann leicht geschossen werden können.
Manchmal täuschen die Trappen den Jäger auch dadurch, daß
sie sich auf den Bauch legen und nur den langen Hals unbe-
weglich in die Höhe strecken. Sind mm, wie so oft, dürre ab-
gebrochene Distelstengel, Kletten oder andere grobe Unkräuter in
der Nähe, so gehört ein äußerst geübtes Auge dazu, die Schelme
zu entdecken. Kommt der Jäger näher, und glauben sie sich
noch nicht entdeckt, oder sind jetzt zu ängstlich, sich durch die
Flucht zu retten, so strecken sie auch den Hals der Länge nach
auf dem Boden aus. Da ihr Gefieder nun so eigenthümlich
erdbraun, weißlich uud grau melirt ist, so geht man oft ziemlich
nahe an ihnen vorüber, ohne sie zu bemerken; namentlich wenn
viele alte Ameisenhaufen im dürren Riedgrase umher vertheilt
sind. Es scheint, als wüßten sie ihre Manöver mit kluger Be-
rechnung stets nach dem Terrain einzurichten, wo sie sich eben
befinden. Man kann sich aber die Ueberraschung des Neulings
denken, wenn plötzlich hinter ihm glucksend und laut mit den
Flügeln klatschend acht bis zehn Trappen aufstehen und in rasen-
der Eile das Weite suchen, wobei sie mit den kräftigen Ständern
große Staubwolken aufwirbeln machen. Mag dann der Jäger
auch die Flinte rasch herunterreißen und in schneller Folge den
Flüchtlingen beide Schüsse nachsenden, so ist es doch umsonst;
meist sind die blitzschnell rennenden Vögel dann schon weit aus
dem Kernfchuß. Oft sieht man deutlich, daß eine Trappe ge-
troffen ist und dennoch bekommt man sie nicht in die Hand.
Mit völlig zerschossenem Flügel machen sie sich noch munter da-
von. Der Verwundete foudert sich dann sogleich von den gesuu-
den Cameraden ab und sucht sich durch verdoppelte List der
Nachstellung des Jägers zu entziehen. Ist ein Terrain in der
Nähe, wo mannshohe Disteln wachsen, welche durch Sturmwinde
umgeworfen wurden und nun ein stachliches, undurchdringliches
Dickicht bilden, so retiriren sie da hinein und sind nicht mehr
herauszubringen, denn auch die Hunde haben gerechte Scheu
davor, den Pelz voller langer Stacheln zu bekommen. Können
sie einen der vorerwähnten Strauchdiftricte erreichen, fo sind sie
40*
316 Aus allen
fast immer für den Jäger verloren, denn gerathen sie einmal
dahinein, so ist alles Suchen vergebens. Bei jedem Schritte
haken sich die krummen Dornen in die Kleider und meist folgt
dann ein tüchtiger Riß. Mit boshafter Tücke schnippen die
dünnen, aber zähen Ruthen immer nach den Augen; alle Augen-
blicke verwickelt sich der Fuß im dichten kriechenden Brombeer-
gerank. Dabei ist die Gefahr des Verirrens hier sehr nahe lie-
gertb; hat man sich einmal in solch ein Labyrinth hineingearbeitet,
so ist bald jede Richtung verloren. Kreisförmig verschlungen
ziehen sich überall kleine Psade hin, welche hungrige Kühe aus- -
getreten, die natürlich keiner bestimmten Richtung folgen. Da-
bei Passiren dem Jäger auch regelmäßig allerlei ärgerliche Zu-
sälle. Da hätte man z. B. einmal prächtige Gelegenheit, einen
Schuß anzubringen, aber beide Läufe versagen, weil die Dornen
schon längst die Kapsel vom Piston gestreist haben. Ein Ande-
rn* will frisch laden und greift nach dem Pulverhorn, findet zu
feiner unangenehmen Ueberraschung nur noch die Schnur davon
am Riemen hängen, das Pulverhorn baumelt wer weiß wie
weit an irgend einem Strauch und ist nicht mehr aufzufinden.
Gefährlicher ist es fchon, wenn man nach dem unvermeidlichen
öftern Stolpern und. Fallen in der Uebereilung nicht daran
denkt, daß die Läufe mit Erde verstopft sind, wodurch mindestens
beim Schusse ein furchtbarer Rückstoß erfolgt oder bei starker
Ladung die Läufe zerspringen. Dieser Unfall ist nicht nur Neu-
lingen schon passirt, sondern selbst erfahrenen Schützen, die im
Jagdeifer sich vergaßen.
Wenn der Mai auch die sonst einförmige, freudlos schei-
nende Steppe mit seinem Leben spendenden Athem anhaucht, so
suchen die schüchternen Trappenweibchen eine «recht verborgene,
trauliche Stelle, wo sie ihre stattlichen, gelblich graubraunen Eier
brüten können. In eine höchst kunstlos ausgescharrte Erdver-
tiesnng legen sie gewöhnlich nur zwei bis vier Eier. Sie wissen
meist so geschickt ihre Neststelle zu verbergen, daß Trappeneier
auch in Naturaliensammlungen ziemlich felten sind. Nur der
leise und tückisch schleichende Fuchs wird ihnen zur Brutzeit ge-
fährlich; diese schlauen Räuber sind nicht nur im Gebirge hei-
misch, sondern wissen auch hier in der weiten offenen Ebene ihr
Genüge zu finden, wo sie meist im trockenen Schilf und Rohr
sich verstecken oder unter großen Dornsträuchen ihre Baue graben.
— Von Raubvögeln sind dem Trappen nur Adler gefährlich, die
namentlich im Winter, wo ein blitzender Schneemantel die weiten
Flächen deckt und Bäume und Sträucher völlig entlaubt sind,
vom Gebirge Herabkommen und in luftiger Höhe majestätische
Kreise ziehen, wobei sie schars spähend auf die Ebenen herab-
blicken. t—
Sobald die Jungen aus dem Ei geschlüpft sind, laufen sie,
den kleinen Hühnern ähnlich, sogleich der Mutter nach, die sie
ängstlich hütet und mit lautem Glucksen das Zeichen giebt, daß
sie sich verstecken sollen. Darin haben die kleinen Schelme —
wie auch die wilden Hühnerarten — eine solche Virtuosität, daß
man nur selten im Stande ist, ein Junges zu erhaschen.
Wie diese stattlichen großen Vögel, deren Anzahl oft so be-
deutend ist, immer genügende Nahrung finden, bleibt jedenfalls
Erdtheilen.
sehr schwer erklärlich. Es ist bekannt, daß sie im Herbst nach
dem Kornschnitt fleißig die Felder besuchen und gierig die ver-
streuten Halme auslesen. In der Walachei, wo ost meilenlange
Kukuruzfelder sich hinziehen, die oft genug an völlig unbebautes
Land angrenzen, besuchen die Trappen gern dieselben, um die
noch nicht ganz erhärteten Maiskolben anzupicken. Die verschie-
denen Arten Heuschrecken, die hier im Sommer mit ihrem ein-
tönigen Zirpen die Lust erfüllen, wissen sie sehr geschickt zu ha-
schen und verschlingen sie in Menge. Aber wenn der November-
stürm über die dann doppelt kahle Ebene saust, die verlorenen
Körnchen oft schon durch tiefen Schnee verdeckt sind, Heuschrecken,
Grillen und Käfer tief in der Erde den langen Wintertraum
träumen, dann haben auch die armen Trappen ihre liebe Noth
um ihr tägliches Futter. Weite Streifereien machen sie dann
von einer Gegend in die andere. Die vom Wintersturm herab-
gepeitschten Beeren lesen sie begierig aus. Sind Wintersaatfelder
in der Nähe, so sressen sie die grünen Spitzen ab. Daß die
Trappen Standvögel sind, ist wohl im Allgemeinen richtig;
ungern verlassen sie ein bekanntes und ihnen durch Futterreich-
thum liebgewordenes Terrain; nur der Nahrungsmangel zwingt
sie zur zeitweisen Auswanderung. Gewisse Tränkplätze besuchen
die Trappen häufig, da ihre oft trockene Körnernahrung sie zu
häufigem Trinken nöthigt. Beim Besuch der Tränke sind sie
aber besonders vorsichtig, da die Erfahrung sie ost gewitzigt ha-
ben mag, wenn aus dem benachbarten Geröhricht Schüsse fielen,
die, sicher gezielt, manch lieben Kameraden niederstreckten. —•
Außer auf dem eben erwähnten Anstände werden die Trappen
in einer Art Kesseljagd verfolgt. Wenn, wie es fast stets der
Fall ist, mehrere Jäger zusammengehen, so suchen sie das scheue
Wild zu überflügeln, indem sie sich so theilen, daß eine Abthei-
lung rechts, die andere links im weiten Bogen geht, während
einige der besten Schützen sich im Centrum möglichst gedeckt auf-
stellen. Stößt eine Abtheilung auf die Trappenherde, so giebt
sie Feuer, worauf die verblüfften Vögel in der Regel im schnell-
sten Lause nach der andern Seite retiriren; dort treffen sie im
glücklichen Falle aus den andern Flügel; auch hier mit Schüssen
empfangen, zerstreuen sie sich meist und irren rathlos umher
und kommen den mehr und mehr zusammenrückenden Jägern
leichter zum Schusse. Soll die Jagd aber recht gut ausfallen, so
Müssen eben einige sehr erfahrene, genau revierkundige Jäger
dabei sein, denn sonst brechen die Trappen aus irgend einer Seite
durch, wo es Niemand bemerkt; und sind sie einmal aus dem
Revier, so hält es gar schwer, sie wieder zu stellen. — Eigene
Fangmethoden für Trappen werden hier nicht enltivirt. Bei
der Scheuheit dieses Wildes und der Schwierigkeit, geeignete
Fallen oder Netze für sie zu stellen, lohnte es sich auch nicht der
Mühe den Versuch zu machen.
Alte ausgewachsene Trappen sind meist 3% Fuß lang und
wiegen oft 15 bis 20 Pfund. Das Wildpret derselben ist, rich-
tig zubereitet, sehr schmackhaft, bei ganz alten aber immer etwas
zähe und trocken. Da die hier vorkommenden ihren in Deutsch-
land lebenden Brüdern ganz ähnlich sind, so übergehen wir die
Beschreibung der Farbe und Zeichnung.
Aus allen
Capitän Ssaden's Expedition auf dem Jrawaddy.
Es war Zweck dieser wichtigen Expedition, vermittelst des Jra-
waddy, welcher das Reich Birma durchströmt, einen Handels-
weg nach dem südwestlichen China, nachHünnan, zu eross-
nen. Wir haben über dieselbe mehrfach Notizen gegeben (XIV,
S. 124); jetzt liegt uns ein umfangreicher Bericht („Times-
Mail" vom 20. Noveniber) vor. Sladen war am 20. September
glücklich in Mandelay, der Residenz des Kaisers von Birma,
Erdtheilen.
wieder angelangt. Er brach am 13. Januar von dieser Stadt
aus; die Expedition hatte also 8 Monate in Anspruch genommen.
Es kam daraus an, die Gegend zwischen Bhamo, bis wohin
der Jrawaddy für Dampfer schissbar ist, nach Nordosten hin zu
erforschen, also die Chachyenhügel und einige Staaten der
Schans bis nach Wnnan. Hier haben, wie schon mehrfach im
„Globus" hervorgehoben wurde, die chinesischen Mohammedaner,
welche als Panthays oder Pansis bezeichnet werden, einen
Sis!
SiäämäeM
'--rill-
Aus allen Erdtheilen.
317
vom Pekinger Hof unabhängigen Staat gegründet, dessen Haupt-
stadt Talifu ist. Die Karawanenstraße aus Birma nach Wn-
nan war in Folge der Unruhen und Fehden längere Zeit ge-
sperrt, es kam also darauf an, sie wieder zu eröffnen. England
hat 1867 einen neuen Vertrag mit Birma geschlossen, und dem-
gemäß stand von dieser Seite der Expedition kein Hinderniß im
Wege; in Mnnan herrschte endlich wieder Ruhe, der König von
Birma zeigte scheinbar guten Willen; das Gegentheil war der
Fall bei seinen Mandarinen, welche bisher am obern Jrawaddy
ein Handelsmonopol ausgebeutet haben. Sie boten Alles auf,
um die Expedition zu vereiteln, und die Mandarinen machten
sogar Anschläge gegen Sladen's Leben. Begleiter desselben wa-
ren der Ingenieur Eapitän Williams, der Naturforscher Pr.
Anderson aus Calcutta und zwei Kaufleute aus Nanguhn.
Die letzteren und Williams kehrten unterwegs um und ein Herr
Gordon trat an ihre Stelle.
Von Bhamo ab zog Staden trotz aller Ränke der birma-
nischen Beamten in das Land der Chachyens. Am 10. Mai be-
fand er sich noch in Ponsi. Von dort schickte er insgeheim
einen Boten in die östlich liegenden Staaten der Schans, deren
Fürsten jetzt von den Panthays abhängig sind. Diese Häupt-
linge zeigten eine günstige Stimmung; sie baten den Engländer,
zu ihnen zu kommen, und er ging also nach Mo mein, um von
dort bis nach Talifu vorzudringen. Das letztere war unmöglich,
weil die Panthays, welche ihr Gebiet zu vergrößern streben, ge-
rade damit beschäftigt waren, den noch im Besitze der Manda-
rinen befindlichen Theil von 'Mnnan zu erobern. Der Fürst
von Momein ist ein Scheut und von den Panthays abhängig;
er bot der Expedition ein bewaffnetes Geleit an, sie hätte aber
unterwegs sich mit den Waffen durchschlagen müssen und das
wollte sie vermeiden. Ohnehin war der Hauptzweck auch in Mo-
mein zu erreichen, da der Fürst von den Panthays Vollmacht
hatte, über alle Handelsangelegenheiten zu unterhandeln. Er
wünschte eben so dringend wie die Engländer selbst, den alten
Karawanenweg wieder eröffnet zu sehen. Auch war bei ihm
vom Sultan der Panthays aus Talisu ein Schreiben eingelau-
sen, in welchem derselbe erklärte, daß ihm Sladen's Mission zu
großer Freude gereiche und daß er seinerseits bei Eintritt der
kühlen Jahreszeit eine Gesandtschaft nach Nanguhn schicken
wolle.
Der Fürst oder Statthalter von Momein ist Herr der
achtSchan-Staaten oder -Provinzen, welche nordöstlich vom
eigentlichen Birma liegen. Er empfing die Mitglieder der Ex-
pedition in königlichem Stile, faß auf einem Throne und be-
stritt im Auftrage der Panthayregierung gastfreundlich alle Aus-
gaben für die Mission. Hier war der beste Wille nicht zu be-
zweifeln. Sladen erhielt von ihm ein Schreiben des Panthay-
sultans an den Generalstatthalter von Indien, in welchem der-
selbe verspricht, nicht nur Alles zur Belebung des Handels zu
thun, sondern auch allen englischen oder überhaupt frem-
den Kaufleuten Schutz zu gewähren. Die Panthays
(Pcmteis, Panfis) werden von Sladen als ein tüchtiger, kräfti-
ger Menschenschlag geschildert, mit denen sich gesellschaftlich gut
umgehen läßt. Die in Momein anwesenden höheren Beamten
und Offiziere derselben verkehrten mit der Expedition auf das
Freundschaftlichste. Die Abgeordneten der bedeutendsten Sau-
linas, d. h. Schanfürsten, mit welchen Sladen in Ponsi ver-
kehrte, fand er civilifirter als selbst die chinesischen Gentlemen.
Sie wußten übrigens vorher nichts von der Stellung, welche die
Engländer Birma gegenüber einnehmen, oder von den abgeschlos-
senen Verträgen, wohl aber hatten sie gehört, daß von Seiten
eines mächtigen fremden Volkes eine Expedition nach dein obern
Jrawaddy ausgerüstet worden sei. Ihre Gebiete, fagten sie,
könnten bequem 100,000 Maulthiere als Transportvieh stellen.
Die Engländer wollen nun eine förmliche Gesandtschaft nach
Talisu schicken. ______
Großbritanniens Handel mit den Hansestädten. Für
den englischen Handel ist Deutschland wichtiger als Ostindien.
Ein Theil unseres Verkehrs mit England wird durch die Ostsee-
häfen vermittelt, ein anderer über Holland und Belgien, der bei
weitem größte Theil aber durch Hamburg und Bremen. Im
Jahre 1867 exportirte England nach diesen beiden Hanse-
städten für 17,229,251 Pf. St., also für mehr als 120
Millonen Thaler, gegen 10,806,092 Pf. St. im Jahre 1863,
also binnen fünf Jahren ein Plus von mehr als 40
Millionen Thalern. Für 1867 kommen auf die Ausfuhr nach
den Hansestädten: Wollenwaaren 3,703,373 Pf. St., Baumwollen-
garn 3,703,373; wollenes Streich- und Kammgarn 3,057,041;
Baumwollenzeuge 1,945,736; Leinengarn 694,509; Eisen 405,301;
Leinenwaaren 465,187; Eolonialproducte und - Manufacturen
6,718,230. — Die Hansestädte importirten nach England
nur für 9,415,188, gegen 6,946,235 im Jahre 1863, was eiu
Mehr von 2,468,953 Pf. St. beträgt. Aber unsere Exporte
sind zumeist nicht Fabrikate, sondern landwirthschaftliche Er-
zeugnisse, und wenn der Abzug derselben dem Landwirthe gute
Preise bringt, so hat er doch für Deutschland „das Leben theu-
rer gemacht". England bezog von uns: Butter für 66,327, Vieh
477,587, Getreide 734,138; Schinken und Schweinfleifch 295,945 ;
Rohzucker (Rüben-) 8578 (aber 1863 für 572,857), Wollenwaa-
ren 167,931, Wolle 747,493, Wollengarne 402,334, Hopfen
199,539, Zink 197,295 Pf. St. Wir verdienen an diesen Sa-
chcn nur wenig Arbeitslohn und die sogenannte Bilanz ist stark
gegen uns. Aber die Engländer begreifen, daß Deutschland eine
große „Kaufkraft" hat und daß es ein dringendes Interesse der
britischen Politik ist, mit einem fo kaufkräftigen Nachbar auf
gutem Fuße zu stehen.
Nußlands Handel mit Asien im Jahre 1807. lieber
diesen wichtigen, in der neuern Zeit so viel besprochenen Gegen-
stand ist von der russischen Regierung ein amtlicher Bericht ver-
öffentlicht worden („St. Petersburger Zeitung" vom 20. No-
vember). Er gewährt einen Einblick in die beiderseitigen com-
mereiellen Verhältnisse, über welche bisher speeielle Angaben ge-
fehlt haben.
Der Werth des Exports betrug im Jahre 1367 24,639,548
Rubel, der des Imports 28,434,836 R.; vor 10 Jahren betrug
ersterer 11,945,598 R., letzterer 19,347,199 R. — Gold und
Silber in Münzen und Barren wurde 1867 im Betrage von
2,278,700 R. ausgeführt und im Betrage von 336,616 R. ein-
geführt, während 1857 für 5,745,228 R. ausgeführt und für
196,952 R. eingeführt wurde.
Die Hauptausfuhrartikel, nach ihrem Geldwerthe berechnet,
waren: Baummollenfabrikate (für 11,836,746 R., 8,531,921 R.
mehr als 1857), Wollenfabrikate (für 3,280,288 R., 1,634,515 R.
mehr als 1857), Häute (für 1,313,149 R.), Rohbaumwolle (für
l,078,827 R.), Baumwollengespinnst (für 909,988 R.), Rohme-
talle (für 850,327 R.), Getreide (für 776,890. R.), Metallfabri-
kat e (für 647,281 R., 987,367 R. weniger als 1857), Rauch-
werk (für 464,269 R., 820,478 R. weniger als 1857), rohe
Schafwolle (für 400,696 R.), Getränke (für 313,942 R.), Zucker
(für 294,572 R.), Seide (für 293,963 R.) u. f. w.
Die Haupteinsuhrartikel waren: Rohbaumwolle (für
6,749,593 R., 5,917,092 R. mehr als 1857), Thee (für 5,117,286
R., 807,467 R. weniger als 1857; die stärkste Theeeinfuhr war
im Jahre 1862, wo sie einen Werth von 8,949,649 R. hatte),
Baumwollenfabrikate (für 4,362,015 R.), Vieh (für 3,178,208 R.),
Seide (für 1,536,586 R.), Früchte und Gemüse (für 1,184,539
R.), raffinirter Zucker (für 815,415 R.), Häute (für 668,293 R.),
Seidenfabrikate (für 463,094 R.), Wolle (für 358,000 R.),
Taback (für 336,281 R.), Baumwollengespinnst (für 318,997
R.) it. s. w.
Nach den verschiedenen Gegenden gestalteten sich die Han-
delsumsätze folgendermaßen:
1) Für Transkaukasien war die Ausfuhr mit 3,570,888 R.,
die Einfuhr mit 8,732,093 R. zu veranschlagen. Die Haupt-
ausfuhrartikel waren: Rohbaumwolle (1,078,827 R.), Getreide
(493,381 R.), rohe Schafwolle (379,339 R.), Rohmetalle (344,824
R.) u. f. w.; die Haupteinfuhrartikel: Baumwollenfabrikate
(3,624,782 R.), raffinirter Zucker (698,251 R.), Früchte und Ge-
ili
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Aus allen Erdth eilen.
müse (669,779 R.), Rohbaumwolle (552,272 R.), Seidenfabrikate
(392,291 R.) u. s. w.
2) Für den Astrachaner Hafen betrug der Werth des Ex-
Ports 339,841 R., der des Imports 1,285,701 R.; bei ersterm
waren Eisenfabrikate (134,318 R.), bei letzterm Rohbaumwolle
(682,943 R.) die Hauptartikel.
3) Für die orenburgische und sibirische Linie hatte die Aus-
fuhr einen Werth von 16,634,396 N, (gegen 3,838,867 R. des
Jahres 1857), die Einfuhr einen solchen von 12,859,405 R. (ge-
gen 6,047,545 R. des Jahres 1857). Die Hauptexportartikel
waren Baumwollenfabrikate (10,797,090 R.), Wollenfabrikate
(980,717 R.), Baumwollengespinnste (900,415 R.), Häute (836,128
R.), Metallfabrikate (465,494 R.) u. s. w.; die Hauptimport-
artikel: Rohbaumwolle (5,513,422 R., gegen 639,873 R. des
Jahres 1857), Vieh (2,946,334 N.), Seide (1,273,088 R.),
Rauchwaaren (822,082 R.), Baumwollenfabrikate (534,472 R.)
u. s. w.
4) Für den Handel mit China über Kjachta und den Amur
wurde der Export der Maaren mit 4,093,570 N., der der Fa-
brikate aus edlen Metallen mit 853 N. (gegen 1,226,987 R.
des Jahres 1857) und der der Edelmetalle in Münzen und
Barren mit 1,316,725 R., und der Import der Maaren niit
5,566,637 R. (gegen 7,478,543 R. des Jahres 1857) berechnet.
Der Hauptausfuhrartikel waren Wollenfabrikate (2,170,998 N.),
der Haupteinfuhrartikel Thee (4,975,594 N.).
Im Transithandel hatten die nach Persien gehenden Waa-
ren einen Werth von 1,768,929 R., die nach Europa kom-
Menden einen solchen von 331,917 R. —
Die Zahl der angekommenen Schiffe belief sich auf 2255,
darunter 1342 mit Waaren und 913 mit Ballast, die der ab-
gegangenen auf 2208, darunter 1458 mit Waaren und 750 mit
Ballast.
Die Goldfelder in Australien. Die Diggings der Co-
lonie Victoria find 1868 bis jetzt ergiebiger gewesen als im Vor-
jähre. Vom I.Januar bis zum 1. September wurden 1,359,668
Unzen, von denen jedoch 152,208 aus Neuseeland kamen, expor-
tirt, gegen 1,251,135 Unzen (davon 174,923 Unzen aus Neu-
seelaud) in derselben Periode des Jahres 1867. Den alten
Ovens Diggings zwischen Beechworth und Albury, welche wegen
Mangels an brauchbaren Communicationswegen bisher ziemlich
isolirt lagen und noch nicht so ausgebeutet sind wie sie es ver-
dienen, steht ein großer Umschwung bevor. Das Parlament von
Victoria hat nämlich 2,107,000 Pf. St. für Eisenbahnbauten
bewilligt, und soll diese Summe größtenteils zum Baue einer
Bahn von Melbourne via Kilmore, Wangaratta und Beechworth
nach Belvoir am Flusse Murray verwendet werden.
Die Goldfelder der Colonie Neusüdwales haben nach den
Beträgen, welche per Escorte einliefen, in den ersten acht Monaten
dieses Jahres 148,624 Unzen geliefert gegen 139,100 in der
entsprechenden Periode des Vorjahres. Davon kommen ans die
Western Diggings 87,492 Unzen, gegen 87,210 im Jahre 1867;
auf' die Southern 51,771, gegen 38,729, und auf die Northern
9361 gegen 13161.
Während die Colonie Südaustralien an Kupfer sehr reich
ist — ich brauche nur an die Burra-Burra- und Moonta-Kupser-
bergwerke zu erinnern — und auch mehrere Silberminen besitzt,
unter denen die jüngst aufgefundene, Almanda, den bedeutend-
sten Erfolg verspricht, war, trotz vielfältiger und sorgfältiger
Nachsuchungen, von dem edelsten der Metalle bisher nicht viel
mehr als die Spur aufzufinden gewesen. Die Echunga-Alluvial-
diggings sind freilich da, aber diese können, nach australischen
Begriffen, kaum als Diggings gelten, denn die dort beschäftigten
Goldsucher sind froh, wenn sie — was man in Australien einen
guten Tageslohn, d. i. 10 Sh. oder 3^/g Thlr., nennt — „ma-
chen". Jetzt endlich ist es ini August dieses Jahres gelungen,
ein allem Anschein nach ergiebiges Goldfeld ani Jupiter Creek,
24 Miles von Adelaide und 4% Miles von Echunga entfernt,
zu entdecken. Dieser Bach, welcher das Wasser des Echunga
Creek aufnimmt, fällt in den Onkaparingafluß, welcher mit sei-
nen Einläusern überhaupt durch ein goldhaltiges Terrain zn
fließen scheint, obgleich reiche Deposite bisher nirgends anzu-
treffen waren. Es mögen gegenwärtig an 1000 Golddiggers
am Jupiter Creek versammelt sein. Man hat Nuggets bis zum
Gewichte von einer halben Unze, Werth 2 Pf. St. oder 13y2
Thlr., gesunden und int Allgemeinen läßt sich sagen, daß der
Digger 2 bis 4 Pf. St. die Woche gewinnt, — Manche freilich
mehr, Andere wieder weniger.
Die mit großem Eclat ausgeschrienen Gympie Creek Gold-
felder, um das Städtchen Nashville in Queensland, haben sich
schlecht bewährt. Die dortigen Alluvialdiggings waren von nur
geringem Umfange und sind völlig ausgebeutet, während unter
den Quarzclaimen sich kaum acht befinden, welche gute oder
leidliche Ersolge liesern. Es sind reichlich 10,000 Diggers dort
versammelt, und die Noth unter ihnen soll zum Theil entsetzlich
sein, da ihnen di'e Mittel fehlen, um in ihre Heimath zurückzu-
kehren. So kam es vor, daß man sich eines bei Maryborough
liegenden Dampfschiffes mit Gewalt bemächtigen wollte.
Dagegen sind die in der Nähe von Auckland (Neuseeland)
aufgefundenen goldhaltigen Quarzriffe außerordentlich ergiebig
an diesem edlen Metalle, so daß dieselben wohl als die bisher
bekannten reichsten Quarzdiggings gelten können. Ein Mr. Hunt
hat z. B. aus seinem Claim bereits 5000 Unzen reines Gold
gewonnen und doch hat er erst einen kleinen Theil desselben be-
arbeitet. Ein australischer Colouist.
Eine neue Silbermine in Südaustralien. Man glaubte
sich nach den bisherigen Erfahrungen zu der Ansicht berechtigt,
daß die Colonie Südaustralien wohl reich, sehr reich an Kupser
sei, daß aber die sogenannten edlen Metalle nur ein Erbtheil
der Schwestercolonien Victoria, Neusüdwales, Queensland und
Neuseeland seien. Entdeckungen neuesten Datums haben jedoch
diese Ansicht umgestoßen, da an Scott's Creek, in der Nähe von
Kapunda und zwanzig Miles von Adelaide, sehr silberreicher
Bleigang, Galcnn, aufgefunden worden, zu dessen Ausbeutung
sofort eine Compagnie zusammengetreten ist. Die Mine selbst
hat den Namen Almanda Silver Mine erhalten. Der Erz-
gang, 23 bis 43 Faden unter der Oberfläche gelegen, bildet
einen Block von 20 bis 30 Fuß in Weite und ist 50 Hards
lang. Wahrend der ersten Monate wurden 103 Tonnen zu
Tage gesördert und nach England verschifft, und lieferten 7622
Unzen reines Silber, also im Durchschnitt 74 Unzen pro Tonne.
Bei Abgang der Julipost waren wieder 122 Tonnen, mit einem
Silbergehalte von 9028 Unzen, gehoben worden. Der Preis
für das Blei stellte sich aus 17 bis 18 Pf. St. für die Tonne,
während das Silber 5 Sh. 6 P. pro Unze realisirte. Das
ärmste Erz enthielt 69%, das reichste 78 Unzen. —g—.
Ein Urtheil über die Walachen.
Die „Rumänen", d. h. die Leute in der Moldau und Wa-
lachet, machen sich unangenehm; ein Engländer würde sagen:
diese aus niedriger Civilisationsstuse befindlichen Bursche seien
eine public nuisance für Europa. Ihre Bojaren lärmen und
intriguiren und möchten ein Groß-Rumänien zu Stande
bringen. Nicht nur für die Türkei sind sie lästige Nachbaren,
diese Juden hetzenden Walachen, sondern sie möchten auch Sie-
benbürgen, die Bukowina und Theile von Ungarn an sich reißen.
Sie sind aber ein entschieden unfähiger Menschenschlag, der es
nie so weit bringen konnte, einen dritten Stand, ein Bür-
gerthum, zu schaffen. Daher ihre niedrige Civilisationsstuse.
„Putz und Schmutz", lackirte Boyaren, arme Bauern, die in
Erdhöhlen Hausen, Popen und Zigeuner. Wir finden in einem
Bericht über eine Douaureise (in der Wiener „Presse"), welche
Dr. Karl Th. Richter tnt Herbste dieses Jahres gemacht hat,
eine Schilderung, die wir unseren Lesern nicht vorenthalten wol-
len; sie ist kennzeichnend und gegenüber dem unruhigen politi-
schen Treiben der Bojaren und des (nun Ex-) Ministers Bratiano
von Interesse, obwohl die Farben etwas stark aufgetragen sind.
„Fast gegenüber von Rustschuk liegt Giurgevo und davor
Aus allen Erdth eilen.
319
die Insel Ocuroy, die so mit den Donau-Ufern einen Paß bil-
det, in den die Schiffe von Nordost einfahren. Der Hafen ist
trotz der günstigen Naturbildung schlecht, weil gar nichts dafür
geschehen, und der Eisstoß drängt oft hart an Giurgevo heran.
Der Landungsplatz ist groß und mit Gütern so überfüllt, daß
man kaum einen Weg finden kann, um zur Stadt selbst zu ge-
langen. Auch er ist in einem sehr elenden Zustande und ohne
alle technischen Hülfsmittel. Es ist fo recht ein Zeugniß für die
Unthätigkeit der großmäuligen Regierung. Und was wir hier
sehen, sehen wir am ganzen walachischeu Ufer. Ueberall
Städte, in die sich das Leben mit Gewalt hineindrängt, nirgends
die That und das Vcrständniß der Negierung, diesem Leben eine
sichere Stätte zu bereiten. Giurgevo, Braila, Galaez,
drei Städte mit großem Handel, drei Städte, in denen sich
allenthalben auf Hunderten von Schiffen die Naturprodukte die-
ser reichen Länder zusammendrängen und überall eine elende
Verwaltung im Großen und im Kleinen, keine Sorge für
den Verkehr, keine Pflege auch nur der nothwendig-
sten Einrichtungen für das Wohl des Handels und
dessen Gedeihen. Ueberall elende Straßen, überall
Schmutz und Koth. Ueberall neben den erschwindelten Pa-
lösten der Millionäre die tausend Hütten eines armen, indolen-
ten Volkes.
Wir haben die Straßen dieser Städte mühsam durchwan-
dert, wir haben uns dieses Volk genau angesehen und vermein-
ten, wir müßten etwas finden, was uns an die alten Römer,
die es fo gern als seine Stammväter ausgiebt, erinnern und
den Muth erklären könne, womit dieses Volk zu denken wagt,
die Türkei zu zerstören. Wir haben nichts gefunden und stim-
men Dr. R. Rösler bei, der in seinen vielfachen Schriften über
diese angeblichen Nachkommen der Römer energisch diese histori-
schen Hallucinationen zerstört. Wir erinnern uns oft einer Stelle
aus dem Reisebericht eines spanischen Juden, der zu Anfang des
zwölften Jahrhunderts Thraeien besuchte und Folgendes über
die Walachen bemerkt: „Hinter der Stadt Roviniza beginnt
Walachien. Die Einwohner desselben wohnen in den Bergen
und heißen Walachen. Sie bekennen sich nicht zum Christen-
thum. Es sind bei ihnen jüdische Namen in Gebrauch, weswe-
gen Einige annehmen, daß sie ehedem Juden waren." Wir
halten sie nicht dafür, denn dafür sind sie zu faul und zu feige.
Und der Jude arbeitet, er ist der Gewerbsmann und
Kaufmann in der Walachei. Er kümmert sich nicht um
die 210Festtage, an denen die ganze Bevölkerung fau-
lenzt, er ist immer emsig und darum reich und wohlhabend.
Und darum der Haß gegen das Judenthum, zumeist von
der sogenannten Aristokratie des Landes, die gewöhnlich ihren
Adelsbrief aus einem Schweinestall datirt.
„Auch glaubt man," sagt unser Gewährsmann aus dem
zwölften Jahrhundert, „daß sie die Juden als ihre Brüder an-
erkennen, denn wenn sie die Juden auch überfallen und aus-
rauben, so erschlagen sie dieselben doch nicht, wie sie dieses mit
den Griechen zu thun pflegen." Was würde der gute Mann
heute sagen? Uebrigens haben wir von einem Augenzeugen der
Judenverfolgungen in Galacz, von denen man fo viel Lärm ge-
macht hat, gehört, daß es keineswegs fo fchlimm war und daß
selbst die drei Juden, die man ins Wasser warf, eigentlich ins
Wasser — gefallen sind. Der Mann, der uns das erzählte, ist
selbst Jude. Uebrigens giebt er zu, daß, wenn sich günstige Ge-
legenheit findet, die Walachen gewiß die Juden auch erschlagen.
Lieber aber würden sie sie bestehlen, denn zum Erfchlagen gehört
doch Muth und den haben sie nicht. Ich will das gern glau-
ben. In Kalafat vertheidigte ein griechischer Kaufmann zwei
Mädchen, die der wachhabende Offizier bei Gelegenheit der Paß-
abnähme ungeziemend behandelte. Auf eine freche Erwiderung
des Offiziers, es war ein Hauptmann der großen rumänischen
Armee, schimpfte ihn jener weidlich herab, nann-te ihn einen
Lumpen, einen Hund und Schuft, warf einen der drei zur Deckung
bestimmten Soldaten an die Wand und ging dann seines Weges.
Die Kerle, mit Säbel und Gewehr ausgerüstet, rührten sich nicht
und ertrugen das Hohngelächter der Umstehenden.
Und diese Armee will die Türkei vernichten! Dieses Offi-
ziercorps, von dem felten einer weiß, wie viel Mann eine Com-
pagnie hat, diese Schürzenhelden wollen diese ernsten, ruhigen
und mit heiligem Feuer an Land und Volk hängenden türkischen
Soldaten verdrängen! Sie haben es nie vermocht und werden
es auch nie, wenn sie allein es sollen!"
Große Sterblichkeit unter den Kindern in Australien.
Die sehr große Sterblichkeit unter den Kindern in Australien
zeigte sich wieder recht eminent in der Stadt Melbourne wäh-
rend der drei Monate Mai, Juni, Juli des laufenden Jahres.
Es starben bei einer Bevölkerung von 170,000 Seelen 991 Per-
fönen, und zwar 537 männliche und 454 weibliche, was pro
Tag 10,89 ergiebt, und befanden sich darunter nicht weniger
als 470 Kinder im Alter von noch nicht fünf Jahren.
q- * %
— Redeübungen eines nordamerikanischen Know-
Nothing. Sprecher int Repräsentantenhause des Rumpfcon-
gresfes in Washington war ein gewandter Aemterjäger und Hand-
Werkspolitiker, HerrSchuyler-Colfax. Die radieal-republika-
nische Partei stellte diesen Mann als Kandidaten zur Vieeprä-
sidentschaft auf, und da sie in den Wahlen vom 3. November
die Majorität erhalten hat, fo wird Colfax Vieepräsident. Er
hat sich während der letzten Jahre hauptsächlich dadurch ausge-
zeichnet, daß er Alles aufbot, um allen Negern, auch den
eben freigewordenen, die politischen Rechte zu verschaffen. Aber
er ist ein erbitterter Feind der Deutschen, der Jrländer und über-
Haupt aller aus Europa Eingewanderten, und war einer der
Stifter und Leiter des berüchtigten Know-Nothing-
Ordens, welcher vielfach, namentlich in Philadelphia, die Ein-
gewanderten blutig verfolgte und ihre Häuser und Kirchen nie-
derbrannte. Diesem Know-Nothing haben nun viele deutsche
„Republikaner" ihre Stimme gegeben und damit, um nordame-
rikanisch zu reden, einen dicken Schuhnagel hinabgewürgt. Als
Colfax 1855 von der Know-Nothing-Convention in Philadelphia
zurückgekehrt war, hielt er zu Vineennes in Indiana eine
Rede, welche seiner Zeit das dort erscheinende Blatt „Sun" ab-
druckte. Während des Wahlkampfes suchte diese Zeitung jene
Rede wieder hervor, und wir finden sie nun in dem deutschen
„Newyorker Journal" vom 31. Oetober. Der eifrige Neger-
freund äußerte sich über die weißen Europäer in folgender
Weife:
„Einige sagen mir, diese Ausländer seien intelligent; ja, in-
telligent. Wie im Namen des allmächtigen Gottes kann man
so etwas sagen? Blickt auf den Deutschen, wie er seine
Pfeife raucht, und wenn Ihr einen Strahl von In-
telligenz in jenem schmutzigen, blödsinnigen Gesichte
sehen könnt, zeigt es mir! Blickt auf jenen betrunkenen,
aufgeschwollenen Jrländer, mit seiner Flasche von Rattengift-
Whiskey in seiner Tasche, und er selbst betrunken, fluchend und
taumelnd — zeigt mir in seinem besudelten Gesicht nur einen
Funken von Sittlichkeit, Intelligenz oder Erziehung. Der Ge-
danke ist unsinnig, rein abgeschmackt!
„Wir müssen die Landesgesetze ändern, um diese
unwissenden, gesunkenen Bettler daran zu verhin-
dern, daß sie hier Stimmen und Aemter halten. Sie
sind nichts als ein Haufen grundsatzloser Tagediebe uud Rauf-
bolde, die sich in und um unsere großen Städte und Dörfer
ansammeln und durch Stehlen und Betteln von den Amerikanern
ihr Leben machen. Einige sagen mir, sie hätten Rechte. Das
haben sie auch; das Recht, unter unseren Gesetzen zu leben, den
Boden zu bebauen uud zu thun, wie wir gethan. Sie sind den
Amerikanern an Geisteskräften und Intelligenz untergeordnet,
und sie müssen und sollen unterdrückt gehalten werden, sogar
wenn es mit der Spitze der Bayonnette und mit Pulver und
Blei geschehen muß. Es ist nutzlos, allzu vorsichtig zu reden
oder sich vor Folgen zu fürchten iu Bezug auf diese Sache. Ein
großes Geschrei ist erhoben worden von den Altmodischen, weil
Ausländer von den Polls weggetrieben worden und weil man
320
Aus allen
Erdtheilen.
sie nicht stimmen ließ. Vermutlich ist das in gewisser Beziehung
wahr. Verlangt Ihr, daß ein amerikanischer Bürger zurück-
stehen und eine ausgedunsene, rothnasige, besessene
Bestie von einem Jrländer an seiner Statt stimmen soll? Blickt
aus den Lump, wie er näher tritt; seine Knie schlagen zusammen
und die Tabacksbrühe lauft ihm aus dem Maul, und wie er
herankommt, hört Ihr ihn rufen „Hurrah sür die Demokratie";
und hier kommt er frisch von den Morästen gerade erst vor
einem Jahre, und will stimmen; — und weil die Buben rufen
„schiebt ihn ab", und weil er niedergeschlagen wird wegen seiner
Unverschämtheit, wird ein großes Geschrei erhoben unter den alt-
modischen Demagogen. Ich sage, es ist ihm Recht gesche-
hen — laßt ihn zurückstehen.
„Wiederum seht Ihr einen schlappohrigen, groß-
mäuligen, sischköpfigen Deutschen herankommen,
direct von einer Hütte im Lande des Krautes, mit
Bierschaum noch an seinem roßhaarenen Bart hän-
gend, und sein Athem stinkend noch von Knoblauch und Zwie-
beln, genug, um einen weißen Mann dreihundert Aards ab zu
tödten, und ehe er sonst irgend etwas in der Welt sagen kann
außer „Demokrat", muß er stimmen, und seine Stimme zählt
so viel als Eure und meine. Dies ist unerhört und abscheulich.
Diese Ausländer, welche die Wahlen sür die Altmodischen
gewonnen haben, niüssen den ihnen zukommenden Platz
einzunehmen lernen. Sie haben nicht mehr Recht zum
Stimmen als die Thiere des Waldes, und haben nicht
den Verstand eines guten Neufundländer Hundes.
Und Gott weiß es, wenn ich ein Kandidat für irgend
ein Amt wäre, dann würde ich diesen Bettlern uud
Vagabunden, diesen gemeinen, schmutzigen, schmieri-
gen, gesunkenen, blödsinnigen Ausländern sagen, ich
will Eure Stimmen gar nicht haben, und wenn ich jemals ein
Kandidat werde, dann hoffe ich zu Gott, daß ich sie nicht erhalte."
Dieser Colfax also wird Vicepräsident. Der bekannte poli-
tische Abenteurer Karl Schurz hat für ihn „gestumpt", d. h.
Reden auf politischen Wanderzügen gehalten. Der Radikalste
unter den Radikalen, Karl Heinzen in Boston, macht in sei-
nein „Pionier" der eigenen Partei folgendes Kompliment: „Durch
nichts fordert die republikanische Partei das Verdammungsurtheil
einer gerechten Kritik so entschieden heraus, wie durch die For-
derung einer allseitigen Unterstützung zur Erfüllung einer Mis-
sion, die sie bei jeder entscheidenden Probe im Stich läßt. Sie
will die Freiheit garantiren und bahnt den Weg zur Herstellung
der Sklaverei, sie will den Verrath züchtigen und Hilst ihm zur
Macht, sie will die Rebellion niederwerfen und beschwört sie wie-
der herauf, sie will Frieden stiften und schafft die Möglichkeit
zur Erneuerung des Krieges, sie will Leben und Ordnung sichern
und läßt Mord und Anarchie ungestraft walten, sie will
den Süden reconstruiren und läßt überall die Elemente der De-
ftructiou emporwuchern. Kurzum, alle Zwecke, die sie vorkehrt
und zu deren Erreichung sie die allgemeine Hülse in Anspruch
nimmt, bleiben unerreicht durch ihre eigene Schuld. — An der
Herrschast bleiben, das ist das einzige Ziel, das sie
conseqnent im Auge behält; da sie'aber ihren Anspruch
auf die Herrschast nur durch die Erreichung derselben begründet,
untergräbt sie selbst ihre Aussichten durch das, wodurch sie die-
selben zu fördern sucht. „An ihren Früchten sollt 'ihr sie er-
kennen." Man blicke bloß nach dem Süden und frage sich, wie
weit die Früchte, die dort gereift sind, den Ungeheuern Mitteln
entsprechen, welche der republikanischen Partei seit acht Jahren
zur Verfügung gestanden und von ihr verschleudert worden sind."
— Die „Newyork Tribüne", das einflußreichste Blatt der
radicalen Partei in Nordamerika, giebt zu, daß in den Süd-
staaten in Folge eines Deeretes, welches der radicale Eongreß
erlassen, mindestens 100,000 Weiße ihres Stimmrechtes
für verlustig erklärt worden seien. Etwa 300,000 weiße
Männer des Südens seien im Kriege geblieben und so gestalte
sich unter der (den Südstaaten aufgezwungenen sogenannten) Re-
construction das Verhältniß der wahlberechtigten Weißen
und Neger in nachbenannten Staaten folgendermaßen.
Weiße. Neger.
Alabama . . . . 74,450 80,350
Florida . . . . . 11,100 15,357
Georgia . . . . 95,214 93,450
Mississippi. . . . 48,926 88,925
Louisiana . . . . 44,732 82,907
Nordcarolina . . 103,000 71,657
Südcarolina . . 45,000 79,585
Texas..... 56,666 47,430.
Virginia.... . 116,000 104,000
595,838 673,669.
Nicht nur, daß die Radicalen mehr als 100,000 Weiße po-
litisch entrechteten, sie haben den Südstaaten auch das Stimm-
recht der rohen Negermassen aufgezwungen, „im Namen der
Freiheit und Gleichheit aller Menschen auf dem weiten Erdball",
und so ist die Entscheidung in die Hände der vormaligen Skla-
ven gelegt. Sie haben in den genannten Staaten eine Majori-
tät von etwa 80,000 Stimmen. Im Hinblick aus die Umtriebe,
welche der Präsidentenwahl vorhergingen, sind diese Ziffern nicht
ohne Bedeutung.
— In Kalifornien erscheinen jetzt 9 kirchliche Zeit-
schristen; jede Secte will ihr eigenes Organ haben. —- In
Boston haben die Universalisten eine Frau Namens P. A.
Hanaford unter großen Feierlichkeiten in das Predigtamt eingesetzt.
— Es zeigt sür die Energie der Unternehmer, welche die
Eisenbahn von der Küste nach Arequipa bauen, daß sie
wenige Tage nach dem großen Erdbeben die Arbeit fortsetzen
ließen. Die Stadt soll wieder aufgebaut werden, aber aus Holz.
Das Niveau der Bahnstrecke hat keine wesentlichen Veränderun-
gen erlitten. Man will, in Hinblick auf künftige Zerstörungen,
nun noch eine zweite Bahn von der Küste ins Innere bauen
und den Schienenweg von Arequipa nach Puno und Cusro
weiterführen. — Bei der Landspitze Sama, unweit von
Arica, hatte das Meer vor dem Erdbeben 40 Faden Tiese, nach
demselben haben die Lothungen nur 6 Faden ergeben.
— Der „Globus" nimmt in Band 14 S. 223 Bezug auf
eine Aeußerung des Geologen Tennant in London, daß die austra-
tischen Diamanten nicht so viel Pfennige Werth seien als man
Psund Sterling für sie gefordert habe. Ganz so schlimm muß
es denn doch wohl nicht mit der rechten Sorte stehen, denn im
September 1368 ward am Square Waterhole in Port Elliot
(Kolonie Südaustralien) wieder ein recht werthvoller Diamant
gefunden, für den 500 Pf. St. geboten wurden, dessen wirklicher
Werth aber ein viel höherer war. —g—.
— Der Kretinismus in der Schweiz nimmt eher zu
als ab. Amtlichen Berichten zufolge befanden sich zu Anfang
1868 unter den 2,032,119 Bewohnern der 19 eidgenössischen
Kantone 3431 Kretins (Trottel). Die Zahl der Irrsinnigen
stellte sich auf 6258, so daß von je 202 Bewohnern einer in
diese Kategorie sällt.
— Hohes Alter. Londoner Zeitungen meldeten jüngst,
daß ein Mann Namens Richard Parser in dem Alter von 112
Jahren gestorben sei. Die medicinische Wochenschrift „Laneet"
nimmt davon Veranlassung, einige andere Fälle von Langlebig-
keit in Erinnerung zu bringen. Henry Jenkins wurde unter
der Regierung Heinrich's des Siebenten geboren und lebte noch
unter König Karl dem Zweiten; er soll 169 Jahre alt geworden
sein. Thomas Parr starb 152 Jahre alt; seine Leiche wurde
vou Harvey secirt. Jean Claude Jacob, ein Bauer ans dem
Jura, erschien vor der französischen Nationalversammlung als
er 120 Jahre alt war. Agnes Skuner in Camberwell wurde
119 Jahre alt, hatte 92 Jahre im Wittwenstande verlebt. Hun-
dertjährige Menschen sind bekanntlich keine Seltenheit, aber we-
nige Leute leben lange genug, um an Alterschwäche zu sterben.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
Aus beut Volksleben der Japaner.
i.
Die Hauptstadt 'Zeddo und der O Gawa. — Die City, ihre Brücken und Quartiere. — Nippon-Bassi und der Tokcüdo. —
Barbiere, Schusterläden, Verkäufer von Seekräutern, Haifischen und Mollusken; Samenhandlungen. — Der Fischmarkt. —
Oessentliche Anschlagesäulen. — Bauart der feuerfesten Godauns. — Die Schlagbäume an den Straßenenden. — Der Bürger-
stand. — Stellung desselben gegenüber dem Adel. — Die niederen Volksschichten. — Fehden unter denselben. Das Straft
recht und dessen Härte. — Gefängnißstrase, Brandmarken und Todesstrafe.
Aeddo war bis vor Jahresfrist Hauptstadt der Ta'ikuue,
welche nun bis auf Weiteres ihre Rolle ausgespielt haben;
aber die Stadt wird ihre Wichtigkeit nicht verlieren, wenn
auch dort kein Kaiser thront. Sie ist die volkreichste in ganz
Japan, hat eine vortreffliche Handelslage und ist Mittelpunkt
eines großartigen Verkehrs.
Wir lassen die aristokratischen Stadttheile mit den Pa-
lasten der Daimios zur Seite liegen, um durch die Straßen
der von Bürgersleuten bewohnten Quartiere einen Wandel-
gang zu machen. Dem Europäer, welcher zum ersten Male
das ungemein bunte und sarbige Leben und Treiben in die-
sen Gassen sieht, bietet sich sehr viel Ueberraschendes und
Fremdartiges dar; seine ganze Aufmerksamkeit wird auf
das Lebhafteste in Anspruch genommen, und es ist für ihn
nicht gerade leicht, alle diese neuen Eindrücke zu überwälti-
gen und sich die Dinge geistig zurecht zu legen.
Der „Große Fluß", O Gawa, zieht von Nordwesten
nach Südosten durch 2)efcbo, welches durch ihn in zwei nn-
gleiche Hälften getheilt wird. Die südlich liegende ist die
größere und theilweise von Hügelreihen durchsetzt, während
die nordöstlichen Viertel von einem Canalnetze durchzogen
sind, welches den O Gawa mit einem kleinern Flusse ver-
bindet. Heber den O Gawa sind vier große, auf Pfählen
ruhende Brücken geschlagen und von allen aus hat man eine
sehr malerische Aussicht, auch auf die Hügelreihe, welche sich
unweit vom Strome hinzieht. Auf ihr erheben sich die von
Parkanlagen und Gärten umgebenen Paläste des Taiknn.
Sie sind, wie unsere Illustration zeigt, von einer Ringmauer
eingeschlossen, die aus vieleckigen Steinen aufgeführt worden
und von einem breiten Wassergraben umgeben ist; über die-
sen hat man acht Brücken geschlagen.
Die eigentliche Kernstadt, wenn man so sagen darf die
City, liegt im Osten des Schlosses von der Sen-Brücke, nach
Süden hin bis zur Großen Brücke (O Bassi) und besteht
ihrerseits aus drei Quartieren, deren Straßen einander zumeist
in rechten Winkeln durchschneiden. Das Stadtviertel Nip-
pon-Bassi bildet gleichsam das Herz dieser Altstadt. Die
fünf langen Hauptstraßen derselben werden von 22 Quer-
straßen durchkreuzt, so daß 78 Häuserquadrate vorhanden
sind. Dieses ganze längliche Parallelogramm ist ans allen
Seiten von schiffbaren Canälen umzogen und steht mit den
Globus XIV. Nr. 11. (December 1368.)
anliegenden Stadtvierteln durch 15 Brücken in Verbindung.
Das Quartier hat seinen Namen von der Nippon-Brücke
(Bassi), welche den geometrischen Mittelpunkt Japans bil-
det. Von ihr ab werden alle Entfernungen im Reiche be-
stimmt und gerechnet, und von ihr aus läuft die Toka'ido,
die große Reichsstraße, sowohl nach Norden wie nach
Süden hin; innerhalb dieses Stadtviertels ist sie die einzige
breite Straße; alle übrigen Gassen sind enger.
Es wurde schon gesagt, daß die verschiedenen Quartiere
dieser City große Ähnlichkeit mit einander haben, sie machen
aber darum doch nicht etwa den Eindruck einer ermüdenden
Monotonie. Die Häuser der Bürger sind einfach ans Holz
aufgezimmert und haben über dem Erdgeschoß gewöhnlich
noch ein zweites, meist mit einer Galerie und allemal einem
niedrigen Dache. Fast jedes Haus ist ein Verkaufs- oder
Handwerkerladen, und das Leben und Treiben ungemein bunt
und mannichfaltig. Da liegt, gleich an der Brücke, eine Bar-
bierstnbe, oder wie jetzt die vornehm gewordenen Bartkratzer
in den deutschen Städten auf ihre Aushängeschilder setzen,
eine „Rasir-Ossicin"! Man kann von der Straße aus ge-
mächlich beobachten, wie der Künstler gleichzeitig drei Bür-
gersleuten bald mit der Scheere, bald mit dem Messer Kopf
und Gesicht in die gehörige Ordnung bringt.
In dem Hause neben dem Barbier hat ein Schuh-
macher seinen Laden. Er verkauft Holzpantoffeln, welche
je unter Ballen und Absatz einen etwa einen Zoll hohen Steg
haben und somit den Fuß trocken halten. Auf dem Auslege-
brette sieht man Sandalen aus Stroh oder geflochtenen Binsen.
Die Sohlen sind mit dickem Zeug oder Leder besetzt; vorn
gehen zwischen der großen und der zweiten Zehe nach den
Seiten hin zwei rund genähete Lederbänder; vermittelst der-
selben wird die Sandale am Fuße festgehalten. Bei kühlem
Wetterwerden genähete Strümpfe getragen, welche gleichfalls
eine besondere Abtheilung für die große Zehe haben. An
der japanischen Gauklertruppe, welche gegenwärtig in Deutsch-
land ihre Künste zur Schau stellt, konnte man beobachten,
wie gewandt man mit solchem Schuhwerke sich zu bewe-
gen weiß. Der Schusterladen bei der Nippon-Brücke hat
gute Kundschaft; Männer und Frauen prüfen die Waare,
Probiren sie an und zahlen, nachdem sie einige höfliche Worte
mit dem Schuster gewechselt haben, den ausbedungenen Preis.
41
" I ' I
-
Aus dem Volks!
Dabei rechnet man nach Szenis, kleinen Elsenstücken, deren
100 aus einen Tempo gehen; dieser ist eine kleine Kupfer-
münze und macht etwa so viel wie 15 Centimes. Die Szenis
haben, gleich den chinesischen Sapeken (Caschs), in der Mitte
ein viereckiges Loch, werden aus eine Schnur gezogen nnd
am Gürtel getragen.
m der Japaner. 323
Nachbar des Schuhmachers ist ein Mann, welcher Algen
und allerlei andere Seekräuter verkauft. Der Tang bildet
in China eine Lieblingsspeise, wird in großer Menge dorthin
ausgeführt und auch von den Japanern genossen. Die Al-
gen kommen in allen japanischen Buchten in großer Menge
vor, und die schwimmenden Massen bieten bei ruhigem Wet-
Verkäufer von Strohschuhen.
ter und bei Sonnenschein mit ihrem röthlichen nnd grün-
gelblichen Farbenspiel einen reizenden Anblick. Der Fischer
zieht vermittelst eines Hakens lange, netzartig znsammenhän-
gende Massen in sein Boot, reinigt sie und sucht alle Mu-
schelu heraus. Dann bringt er seine Ernte ans Land, trock-
net die Algen in der Sonne und verpackt sie in größeren oder
Ein Medu
kleineren Ballen. Die ersteren werden an die Besitzer der
Seedschonken verkauft, die anderen sind für die inländischen
Märkte bestimmt. Die Meeresfrüchte werden von den Ja-
panern gründlich ausgenutzt. Der ordinäre Seetang, welcher
sich zum Verspeisen nicht eignet, enthält einen kleberigen Stoff,
welchen man durch Kochen auszieht. Die Japaner machen
aus demselben kleine Tafeln, die als Nur: theils in der
Küche, theils zu gewerblichen Zwecken verwandt werden.
In Yeddo wird eine ungeheureQuantitätSeemuscheln
consnmirt. Der Händler füllt mit denselben eine Kufe voll
und giebt die Waare erst an die Käufer, nachdem er sie
gründlich durch einander gerüttelt hat. Das thut er vermit-
41*
Eine San
einzelne Sorte ist in Düten von besonderer Gestalt und Farbe
verpackt und auf den Regalen musterhaft geordnet. Man
erstaunt, sobald man bei näherer Betrachtung herausfindet,
daß auf jeder Düte nicht nur der Name der Sämerei, fon-
dern auch die mit Farben gemalte Pflanze, von welcher sie
herrührt, angebracht ist. Manchmal sind diese Pinseleien
kleine Meisterwerke und so hübsch, daß man glauben könnte,
sie seien Blätter aus irgend einem Album. Wer aber näher
sich umschaut, findet bald die Werkstatt und den Künstler
heraus; er sieht nämlich eine junge Arbeiterin, die platt auf
einer mit Blumen und Papier fast bedeckten Matte liegt uud
in dieser sonderbaren Position jene allerliebsten Bilderchen
verfertigt.
Je weiter man von der Brücke her in die Stadt ein-
dringt, um so dichter wird das Menschengewühl und um so
häufiger findet man Volksküchen, aus deren Anslegebret-
tern besonders häufig Pasteten von Reis und Hirse liegen,
und wo mau Thee und heißen Reisbranntwein (Saki) schänkt.
Nachdem man noch einige hundert Schritte gegangen ist, ge-
langt man an den Fisch markt. Der Canal an demselben
ist mit Booten und Barken förmlich bedeckt und die Menge
und Manuichfaltigkeit der verschiedenen Fifchsorten geradezu
erstaunliche Das Meer bei Japan ist ungemein reich an
Fischen, und von den Flüssen gilt dasselbe. Ein Theil der
Fischer bringt den Fang aus dem Wasser der kalten Strö-
mnng, welche von Norden herkommt; ein anderer jenen aus
dem Kuro Siwo, der warmen von Süden heraufkommenden
Strömung. In den Buchten der langgestreckten Insel Nip-
pon geben auch Muscheln und Schildkröten, Weich- und
Schalthiere reichen Ertrag. Herr von Siebold hat in der
Bucht von Neddo 70 verschiedene Arten von Fischen, Krab-
ben und Mollusken nachgewiesen, und dazu noch 26 Sorten
von Miesmuscheln und anderen Muscheln. In den Hallen
am Fischmarkte sind die Aufkäufer sehr geschäftig; sie han-
deln die Fische auf dem Boot ein und laffen sie von ihren
Kulis in Körben ans Land tragen; dort werden sie in lackirte
Tragkästen geschüttet. Dann und wann drängen sich ein
paar Träger durch die Menge, welche an Bambusstangen
ein Meerschwein oder einen Haifisch tragen. Das Fleisch
des letztern mundet den Japanern; Walfischspeck wird gut
324 Aus dem Volks
telst zweier Bambusstäbe; er stellt sich, die Beine weit aus
einander, mit beiden Füßen auf den Rand der Kufe und
giebt den Stäben eine besondere Richtung. Er kreuzt sie
und arbeitet derart, daß er mit dem Stabe in der rechten
Hand die zu seiner Linken liegenden Muscheln durch einander
rührt und wühlt, während mit dem durch die linke Hand
bewegten ein Gleiches auf der rechten Seite geschieht. Die
Muscheln isset auch der Europäer recht geru, aber vor allerlei
anderen Seefrüchten hat er doch einen gerechtfertigten Wider-
willen, z. B. vor Meerblutigeln, allerlei kleinen Quallen,
Holothnrien (Tripang, Seewalzen) und dergleichen japanischen
Delicatessen mehr. Sie werden in getrocknetem Zustande
feilgeboten, von den Käufern gebacken und zum Reis genof-
sen. Eine Art sehr kleiner, länglicher Fische verzehrt man
getrocknet ohne all und jede Zubereitung. Austern sind in
Menge vorhanden, aber fleischig und nicht wohlschmeckend;
beträchtliche Quantitäten werden getrocknet und dann aus-
geführt.
Vom ästhetischen Standpunkt aus äußern sich die Japa-
ner sehr scharf gegen die widerwärtige Gestalt mancher Mol-
>en der Japaner.
lusken, uud in ihren illnstrirten Büchern findet man darüber
manches ergötzliche Zerrbild; der Schweizer Humbert über-
zeugte sich indeß oftmals, daß sie lecker zubereitete Weichthiere
keineswegs verschmähen. Er sah auf freier Straße manche
Vorkehrungen zum Kochen und Braten der Mollusken. Ein
Händler ging an einem Laden vorüber, in welchem Säme-
reien verkauft wurden; dort waren mehrere Mädchen und
Frauen mit Düteumachen beschäftigt. Jener trat näher und
hielt ihnen an einem Haken eine abschreckend häßliche Medufe
entgegen. Die Frauen verhüllten sich sofort vermittelst der
langen uud weiten Aermel ihres Kirimon (Obergewandes)
das Gesicht bis in die Nähe der Augen, denn auf solche Weise
bethätigen die Schönen im Jnselreiche des Sonnenaufgangs
ihr Schamgefühl und ihren Abfcheu vor Unanständigkeiten.
Nachdem sie solchergestalt ihre Schuldigkeit gethan, riefen sie
lachend den Ladenbesitzer, welcher dann auch richtig jene Me-
dnfe kaufte.
Die Magazine, in welchen trockene Gemüse und Säme-
reien feilgeboten werden, sind nicht bloß mit allen möglichen
Arten versorgt, sondern auch höchst elegant aufgeputzt. Jede
Aus dem Volksleben der Japaner.
eingesalzen und gern genossen. Der Haifisch- und Walfischhandel
im Großen und im Kleinen erscheint in Japan keineswegs
unbedeutend.
Unsere Illustration zeigt, daß man von der stark gewölbten
Nippon-B rücke eine ganz prachtvolle Ausficht hat. Ganz
herrlich nimmt sich die weiße Pyramide des Fusiyama aus;
sie ragt in einsamer Majestät hoch empor. Der Paläste und
Gärten des Tai'kun ist schon weiter oben erwähnt worden.
Am Nippon-Bassi-Canale liegen zahlreiche Speicher, die mit
Seide, Baumwolle, Reis, Saki:c. gefüllt sind. Sehr viele
lange Barken oder breite Boote sind beladen mit Holz oder
Kohlen, Bambusrohr, Matten, Körben, Fässern, Fischen
und allerlei Waaren. In den Straßen sieht man zweirüde-
rige Karren, die von Kulis gezogen werden; Pferde spannt
man nicht vor, sie werden
jedoch als Saumthiere be-
nutzt.
Am südlichen Ende des
Stadtviertels Nippon-Bassi
bemerken wir mehrere mit
einem brusthohen Geländer
umfriedigte Pfeiler oder
Säulen; an diesen hangen
weiße Tafeln mit Jnschrif-
ten. In der Nähe steht ein
Pavillon auf einer steiner-
nen Unterlage, und auch dort
findet man solche Tafeln.
Pavillon und Säulen bilden
den Kuknsatsu, d. h. die
Stellen, an welchen die
noch gültigen alten Gesetze
in Erinnerung gebracht und
die neuesten Polizeibefehle
zur Nachachtung angeschla-
gen werden. Zur Bewa-
chung dient ein Posten von
Uakunins und von Spritzen-
lenten. In allen Straßen
sieht man mit Wasser ge-
füllte Bottiche und viele
Eimer; diese letzteren sind
in Pyramiden aufgestellt,
theils vor den Eingängen
zu deu Magazinen, theils
auf der Straße selber. Diese
Vorkehrungen zum Löschen
findet man in allen japa- Muschelhändler,
nischen Städten; außerdem
haben manche Häuser im obern Geschosse und aus dem Dache
größere oder kleinere Wasserbehälter. An den großen Holz-
gebäudeu, namentlich Tempeln und Pagoden, stehen Tag und
Nacht große Leitern. Die großen Magazine und Waaren-
Niederlagen, die sogenannten Godanns, gelten für feuerfest
und man legt sie deshalb gern in der Art an, daß sie zwi-
schen den hölzernen Wohnhäusern liegen und dann eine
Schranke gegen die Verbreitung eines Brandes bilden. Sie
sind hoch und viereckig, aus Steinen oder gestampfter Erde
gebaut und auf der Außenseite mit einer dichten Lage von
Mörtel und Kalk überzogen. Die Thurm sind von Eisen
und an der Mauer sind viele Haken angebracht, an wel-
chen man bei drohender Gefahr nasse Matten und grobe
Leinwandtücher befestigt.
A. Berg bemerkt in seinem trefflichen Werk über die
preußische Expedition nach Ostasien (I, S. 299): „Viele
Häuser dieses Stadttheiles, wo die wohlhabendsten Kaufleute
wohnen, sind feuerfest. Sie haben dicke, um Bambuspfosten
gefügte Lehmwände und einen Ueberzng von feinem Stuck.
Ihre Farbe ist gewöhnlich schwarz, zuweilen auch weiß; der
Stuck ist von so glänzender Oberfläche, alle Ecken nnd Kan-
ten sind so scharf und winkelig, daß man polirten Marmor
zu sehen glaubt. Die dicken Fensterläden haben einen Ueber-
zug von derselben feuerfesten Masse und schließen hermetisch;
das Dach besteht aus dichtgesugten, schweren Ziegeln. Diese
Häuser sind theils das Privateigenthum Einzelner, theils ge-
meinsames Eigenthum einer ganzen Reihe von Hanswirthen,
die bei den rasch um sich greifenden Fenersbrünsten meist nur
Zeit haben, ihre besten Habseligkeiten dorthin zu flüchten.
Diese Häuser werden dann
verschlossen, von außen noch
mit nassen Strohmatten ge-
sichert und ihrem Schicksal
überlassen, — eine Art rie-
siger Geldschränke, die vor-
treffliche Dienste leisten und
trotz der furchtbaren Gluth
japanischer Brände — denn
Alles ist ja nur Holz und
Papier — ihren Inhalt un-
versehrt bewahren sollen."
Humbert bemerkt, daß
diese Godanns, Leitern,
Kufen und Eimer keines-
wegs zur Verschönerung der
Hauptstadt beitragen; aber
die Japaner sehen nun ein-
mal mehr auf das Nützliche
als auf das Schöne und
opfern erforderlichen Fal-
les das Letztere unbedingt
dem Erstern. Das gilt auch
von den Schlagbäumen,
durch welche die einzelnen
Straßen und Quartiere von
einander abgesperrt werden.
Sie bestehen aus schwarz
angepinselten Balken und
Gattern und haben neben
dem zweiflügeligen Thor in
der Mitte zwei Seitenthü-
ren. Diese bleiben bei Tage
offen, falls übrigens Alles
in gehöriger Ordnung ist,
werden aber nach neun Uhr-
Abends geschloffen. Wer sich
verspätet hat, giebt dem Wache stehenden ^akunin ein Zeichen
und wird von demselben ausgefragt. Ist er ein Bürgers-
mann, dann pafsirt er durch die Seitenpforte ein, während
vor einem Samurai' (Edelmann) beide Flügel des mittler»
Thores geöffnet werden.
Manchmal läßt die Polizei eine Anzahl von Straßen
vermittelst dieser Barrieren absperren, namentlich wenn es
daraus ankommt, Verhaftungen oder Haussuchungen vorzn-
nehmen, bei einem Straßentumult einzuschreiten oder sonst
eine wichtige Angelegenheit in Frage kommt. Der Viertels-
meister des Quartiers und die Zehnmänner einer Straße
sind für die ihrer Aufsicht untergebenen Bewohner der Re-
gierung verantwortlich, werden von der Polizei zur Mitwir-
kuug herbeigezogen oder lassen auch erforderlichen Falles die-
selbe herbei holen.
Aus dem Volksleben der Japaner.
Ein eigentlicher Bürgerstand war bis jetzt nur in
den fünf, dem Taikun gehörenden Städten Kioto, Aeddo,
Osaka, Sakai und Nangasaki vorhanden; dazu sind nun noch
Yokohama, Hiogo und
Hakodate gekommen.
Diese Bürgerclasse hat
sich in der Art, wie
sie nun besteht, erst
in der neuern Zeit ge-
bildet und sie galt für
eine Hauptstütze des
Taifuns. Humbert
meint, daß sie eine
große Zukunft habe.
Aber politische Rechte
hat sie noch nicht und
auch der geringste Ade-
lige würde sich nicht
mit der Tochter auch
des reichste» und an- Angeklagte im
gesehensten Kanfman-
nes verheirathen. Sowohl die Edellente, welche Grundbesitz
haben, wie alle der Beamteuclasse Angehörigen stellen den
Handwerker, den Ladenhalter und selbst den Großhändler tief
uuter den Bauer; nur
die Aetas, die Leute,
welche „unreine Ge-
werbe" treiben, gelten
für noch niedriger, also
die Fleischer, Ger-
ber und Bettler.
Wenn ein Dai-
mio mit Gefolge oder
ein Würdenträger des
Taiknn in amtlichem
Aufzug in einer Stra-
ße erscheint, dann ge-
hen Herolde voraus,
um den Bürgern kund
zu thuu, daß sie aus
die Seite treten und Verhör eines
in gebückter Haltung
dasteheu. Wer nicht Folge leisten wollte, würde mit Säbel-
hieben bedient oder unter die Pferde getreten werden. Es
muß indessen bemerkt werden, daß die vornehmen Herren und
Beamten gewöhnlich
ein Jncognito beob-
achten und auf jene
Ehrenbezeigungen fei-
nen Anspruch erheben.
Wenn sie jedoch in
Pomp und Staat auf-
ziehen müssen, lassen
sie schon lange vorher
Anzeige davon ma-
chen, entweder durch
einen Vortrab ihrer
Leute oder durch ge-
wisse Signale aus lan-
gen Bambusstäben;
das Volk weiß, was
dergleichen Zeichen für Tortur eines
eine Bedeutung haben.
Wenn der Kaufmann, Aliudo, mit einem Edelmann?,
Samurai', zu thuu hat, muß er sich mehrmals in landes-
üblicher Weise beugen und verneigen, und wenn er die Schwelle
eines Adeligen betritt, kniet er nieder, berührt mit seiner Stirn
den Boden und wartet, bis der Hausherr ihn aufstehen heißt.
Er wird nur gebeugten Hauptes und mit aus die Knie her-
abhängenden Armen
mit jenem reden.
H n m b e r t er-
zählt Folgendes. Im
Schloßviertel zu Md-
do hatte eine Feuers-
brnnst große Verwü-
stuugeu angerichtet.
Am andern Tage kam
ein Beamter nach 2)o-
kohama, um von dort
die japanischen Zim-
merleute zu holen, wel-
che aus dem Werfte
beim Schiffsbaue thä-
tig waren. Ein japa-
Gefängnisse. nischer Zimmerbaas
machte ihm einige Ge-
genvorstellnngen; es würden Ungelegenheiten mit den Euro-
päeru entstehen, wenn man ohne Weiteres die contract-
mäßig angenommenen Arbeiter wegnehmen wolle; das gehe
doch nicht an. Was
that der Beamte? Er
hieb den Raisonneur
mit seinem Säbel zu
Boden.
DieKansman n-
schast gewann zur
Zeit des Taifun und
bis heute immer mehr
an Einfluß; je mehr
sich der Handelsver-
kehr ausdehnt, um so
reicher wird sie, und
der Geldbeutel ist auch
in Japan mächtig.
Innerhalb desSchloß-
Angeklagten. Viertels wurden in der
Münzstätte des Tai-
kun täglich 21,000 Jtzebus geprägt oder vielmehr gegossen.
Der Jtzebn ist ein flaches, länglich viereckiges Stück Silber
im Werthe von etwa 16 Silbergroschen oder, je nachdem
der Conrs steht, etwas
mehr. Bis vor Kurzem
wurden diese Münzen
nicht durch Maschi-
nen, sondern durch
Handarbeit hergestellt,
und man beschäftigte
dabei eine große Men-
ge Menschen. Diese
Arbeiter mußten am
Morgen, bevor sie an
ihr Tagewerk gingen,
ihre Kleider ablegen,
und erhielten dieselben
am Abend, aber erst
nach genauer Durch-
Angeklagten. suchung, zurück. Auf
diesem Wege kamen
also keine Jtzebus in das Handelsquartier, wohl aber durch
kaufmännische Geschäfte und durch Anleihen, welche von Sei-
ten des Taifun und der Samurais gemacht wurden. Der
Aus dem Volksleben der Japaner.
327
große Seidenhändler Mitsni ist auf diese Art Bankier
der Regierung, Hofagent, geworden.
Die kolossalen Waarenmagazine dieses Kaufmannes neh-
men beide Seiten der
hübschen Muromats-
Straße ein. Er hatte
auch in Venten ein
Zweiggeschäft erösf-
net, mußte aber das-
selbe wieder aufgeben,
wahrscheinlich weil
man ihm seine glän-
zenden Geschäfte mit
den Europäern nicht
gönnte. Einst er-
schien eine Rotte von
Lonins (— adelige
Taugenichtse, die aus
dem Dienste uud aus
der Samurai'classe
„Ausgestoßenen", die
zum Theil gefährliche Raufbolde siud —) in Mitsui's
Hause zu 3)ebbo, um ihm Gelb abzupressen. Er ließ sich
uicht einschüchtern, aber ein paar Tage nachher legten bie
Lonins Feuer in sein
Gewölbe.
DerBauer barf
eilt Schwert tra-
gen, der Kauf-
mann nicht. Auch je-
ber Diener eines Ebel-
mannes hat bas Recht
auf bas Schwert. Da
nun jeber Japaner ba-
nach geizt, diese Waffe
zn tragen, so lassen
sich manche Kaufleute
als Trabanten eines
Samurai einschreiben
und zahlen ihm dafür
irgend eine Summe.
Die reicheren Kauf-
leute erwarben das Recht, ein Schwert zu tragen, vom Tai-
kun, gleichfalls gegen Geld. Als Diener des Herrschers be-
zogen sie dann, der Form wegen, einen geringen Jahrgehalt,
übernahmen aber zu-
gleich die Verpflich-
tung, erforderlichen
Falles Geld vorzu-
schießen.
Während die Adels-
classe auf den Mittel-
stand mit Hochmuth
herabsieht, stellt sie
sich mit bem Pöbel aus
guten Fuß uub behan-
belt denselben mit gro-
ßer Nachsicht. Die
Kulis, Bootsknechte
und Pferdeknechte (Be-
tos) der untern Stadt,
an beiden Ufern bes
O Gawa, sinb wilde,
Die Prügelexecution.
Ein Vatermörder wird zur Kreuzigung geführt.
Eine Hinrichtung mit dem Schwerte.
unbäubige Gesellen, unter denen Zank und Schlägereien häufig
sind. Manchmal wird der Zank ans eine eigentümliche Art
ganz harmlos zu Grabe getragen. Die beiden Parteien gehen
auf eine der vielen hochgewölbten Brücken. Man wirft ein
Schisfstau über die ganze Länge derselben hin uud jede Par-
tei packt ein Ende desselben an. Die zu Unparteiischen ge-
wühlten Richter stellen
sich in ber Mitte ber
Brücke auf, geben bas
Zeichen zum Aufau-
gen unb nun ziehen
unb zerren an jeber
Seite Hnnberte von
kräftigen Armen uub
Fäusten nach entgegen-
gesetzten Richtungen
hin, bis bie einePar-
tei ermübet unb ber
anbern ben Sieg las-
sen muß. Der Haupt-
spaß besteht barin, baß
viele Kämpfer nieber-
gerissen werben, unb
baß nicht selten, wenn
bas Tau reißt, beibe Theile im Nu zu Bobeu stürzen. Das
giebt bann ein wilbes Gelärm uub eine unbeschreibliche Ver-
wirrung. Nach bergestalt ausgemachter Sache gehen bie Leute
in ber heitersten Stim-
muug in bie Theehän-
ser, um Saki (heißen
Reisbranntwein) zu
trinken unb ihre Aus-
söhnung zn feiern.
Dieses Tanzerren gilt
für eine große Volks-
lustbarkeit, an wel-
cher sich Polizeileute,
Frauen uub Vorüber-
geheube betheiligen.
Hier ist basEnbe
allemal harmlos, aber
Humbert erlebte inAo-
kohama eine Emeute
ber Vetos, welche einen
tragischen Ausgang
nahm. Der Baas ober „König" bieser Pferbeknechte be-
suchte ein schlechtes Haus, eiu Gankiro; eine ber Dirnen,
welche ihm gefiel, weigerte sich, ihn'zn empfangen unb flüchtete
in einen anbern Theil
bes Hanfes. Der Vor-
steher bes von berRe-
gieruug Privilegium
Gankiro weigerte sich,
bem Könige ber Pfer-
beknechte bas Mäb-
chen zu überantwor-
ten. Darüber eutstaub
eine ungeheure Aufre-
gung unter ben Betos;
unter Anführung ihres
Baas rotteten sie sich
zusammen und rückten
in geschlossenen Rei-
hen bis an ben Gra-
ben, von welchem je-
nes Gankiro umzogen
wirb. Dort mußten sie Halt machen, weil bie Polizei bereits
bie Brückenbretter abgenommen unb bie schwere Eingangsthür
verrammelt hatte. Dagegen half alles Geschrei uub Drohen
328 Aus dem Volkse
nicht. Nun theilteu sich die Vetos in drei Rotten. Die eine
war mit Bambusknütteln bewaffnet und stellte sich vor der
Brücke auf, um bei günstiger Gelegenheit Sturm laufen zn
können. Die Polizei hatte inzwischen Verstärkung erhalten, fah
aber ruhig zu. Die beiden anderen Rotten vertheilten sich an
beiden Ufern des Canals, um sich einiger Barken zu bemäch-
tigen. So war das Gaukiro während der ganzen Nacht
und noch am folgenden Morgen förmlich belagert. Dann
erhob sich ein ungeheures Geschrei und der Sturm sollte be-
ginnen. Jetzt aber kam aus dem Gankiro eine mit Aaku-
nins (Beamten) besetzte Barke, welche nach der Stelle hin-
gerudert wurde, wo der dickste Knäuel von Pferdeknechten
stand. Nachdem beide Theile in aller Ruhe und Höflichkeit
einige Worte gewechselt hatten, verlief sich die Menge unter
Triumphgeschrei.
Zu einem solchen hatte sie auch allen Anlaß, denn ihre
Rachsucht war vollkommen befriedigt. Das unglückliche Mäd-
chen hatte sich auf Anstiften und Andrängen der Aakunins
mit ihrem Geliebten, wegen dessen sie die Liebkosungen des
Betokönigs zurückgewiesen hatte, in einen Brunnen gestürzt,
und der Halter des Gankiro wurde außerdem zu gerichtlicher
Verantwortung gezogen. Solche Nachsicht der Regierung
gegen den Pöbel ist nicht gerade selten. In Nangasaki wa-
ren die Bewohner zweier verschiedener Straßen seit langer
Zeit einander spinnefeind; seit ein paar Menschenaltern tha-
ten sie sich gegenseitig so viel als immer möglich zu Leide.
Endlich kam man überein, die Sache auszufechteu, und sie
lieferten sich mit Bambusknütteln eine Schlacht. Die Polizei-
Mannschaft eilte allerdings in beträchtlicher Menge herbei,
begnügte sich aber damit, die Nebenstraßen abzusperren und
ließ den feindlichen Nachbaren zwei volle Stunden lang das
Vergnügen, einander mit Bambusknütteln weidlich dnrchzn-
dreschen. Dann erschien der Gouverneur, erklärte, daß es
nun genug sei, und der Kamps hatte ein Ende.
Diese Dinge erinnern genau an die Zustände des europäi-
schen Mittelalters. Bis in das achtzehnte Jahrhundert hinein
gab es bei uns in vielen Städten dergleichen erbliche Feind-
schaften und Fehden zwischen einzelnen Straßen und benach-
barten Dörfern. Eben so waren verschiedene Zünfte einan-
der aufsässig. Ueberhaupt finden wir in Japan vielfach die
Schattenseiten unserer mittelalterlichen Zustände; aber das
Lob wenigstens gebührt den Asiaten, daß sie keine Hexen-
processe und keine Hexen- oder Ketzerverbrennungen
kennen, in welchen das „christliche" Europa so Eminentes
geleistet hat. Und wenn wir die Strenge des Gerichts-
Wesens mit Recht als barbarisch bezeichnen, so ist sie doch
immerhin nicht so barbarisch, wie die Carolina und das
systematische Torturwesen, an welchen die christlichen Eu-
ropäer so lange liebe Zeit ihre wahre Freude gehabt ha-
beu. Japan kennt keine „eiserne Jungfrau", und rühmt sich
auch nicht, „eine Religion der Liebe und der Demuth" zu
bekennen.
Also das Gerichtswesen ist in Japan heute so roh und
barbarisch, wie es in Europa bis ins achtzehnte Jahrhnn-
dert hinein gewesen ist. Wie hier die Peitsche dem ver-
meintlichen oder wirklichen Delinquenten gegenüber eine wich-
tige Rolle spielte uud als ein Hauptmittel „zur Eruirung
der Wahrheit", d. h. zum Herauspressen von Geständnissen,
— so iu Japan der allgegenwärtige Bambus. Der
Angeklagte wird vor den Richter geführt, welcher das Verhör
beginnt. Wer nicht so antwortet, wie es gewünscht wird,
bekommt vorerst etliche Hiebe ans Schultern und Rücken.
Wehe ihm aber, wenn der Richter meint, daß er lüge oder
systematisch leugne; dann muß er sich mit deu Knien auf
scharfe Holzkanten niederlassen und man legt ihm auf die
Lenden schwere Steinplatten, bis ihm das Blut aus allen
)en der Japaner.
Poren dringt. Natürlich gesteht er dann bald Alles ein, was
man nur haben will.
In den Augen eines japanischen Richters ist jeder An-
geklagte schuldig. Er geht von der Maxime des berüchtigten
preußischen Demagogenquälers Tschoppe aus, der jeden,
welcher ihm verdächtig schien, als überwiesenen Hochverräther
ansah, und welchem die klägliche Berliner Regierung erlaubte,
grenzenloses Unheil anzurichten. Tschoppe wollte seine Opfer
haben, der japanische Eriminalrichter will auch seine Opfer
haben, und die löbliche Polizei sorgt, ganz in der Art der
weiland preußischen Demagogenriecher, emsig dafür, daß es
ihm daran nicht fehle. In den „Depots" werden gewöhn-
lich zwanzig bis dreißig Angeklagte zusammen in ein Gemach
gesperrt. Jeder trägt einen weiten Kittel (Kirimou) von
grobem Baumwollenzeuge; weiter hat er nichts auf dem Leibe.
Er darf sich weder barbieren, noch den Vorderkopf fcheeren,
sieht dann bald wild genug aus und gilt nun für ein unrei-
nes Wesen, das nur Widerwillen und Abscheu einflößt. Er
muß auf dem nackten Fußboden schlafen; doch giebt ihm der
Kerkermeister ein paar Matten und eine Steppdecke, wenn
dafür bezahlt wird. Alle derart Zusammengesparten dürfen
kein Wort reden, sie müssen das tiefste Schweigen beobachten.
In dieser Beziehung wird eine Ausnahme lediglich nur dann
gestattet, wenn ein zum Tode Verurtheilter zur Hinrichtung
abgeführt wird. Dann ist ein Gefchrei des Jammers und
der Verzweiflung erlaubt, aber unmittelbar nachher muß wie-
der tiefes Schweigen eintreten. Der allmächtige Bambus
sorgt dafür, daß es beobachtet werde.
Den alten Reichsgesetzen zufolge giebt es keine andere
Strafen als Gefängnißhaft mit körperlicher Züchtigung und
Verlust des Lebens. Dazu kommt für Große des Reiches
und Bonzen von hohem Range die Verbannung nach einer
der nachstehenden vier Inseln: Sado, Oki, Jsu und Fat-
sisio. Sie dürfen sich dort mit Seidenweberei beschäftigen.
Die Gefängnißstrafe ist, abgesehen von der Untersuchung^
Haft, niemals von langer Dauer, etwa von drei Monaten.
In Yokohama, so erzählt Humbert, hatte der japanische Die-
ner eines Europäers gestohlen und wurde dafür auf ein Vier-
teljahr in das Tobe (Kerker) des Gouverneurs von Kana-
waga geschickt. Dort saß er nebst anderen Missethätern in
einem hohen Saale; er bekam täglich ein Kümpchen voll
Reis und einen Tempo (Münze im Werth von etwa 15
Centimes); für den letztern kaufte er sich vom Kerkermeister
etwas Obst oder Gemüse. Durchschnittlich ist die Einsper-
rnng nur eine Zugabe, denn die wesentliche und eigentliche
Strafe besteht immer in körperlicher Züchtigung: Brand-
mark oder Schläge! Wer einen qualificirteu Diebstahl
begeht, erhält das Brandmark, wenn der Werth der gestoh-
lenen Sachen nicht 40 Jtzebus, sage 100 Francs beträgt.
Brandmark kann man eigentlich nicht sagen, weil die Japa-
ner sich nicht des heißen Eisens, sondern einer Lanzette be-
dienen. Mit dieser wird das vorgeschriebene Zeichen in den
linken Arm eingeschnitten und die Wunde vermittelst Einrei-
bung eines schwarzen Pulvers unvergänglich gemacht. Man
nimmt diese Operation in zwei neben dem Gefängniß lie-
genden Zimmern vor. In dem einen muß der Sträfling
niederknien, dicht an einer Wand, in welcher sich ein Loch
mit einem Schieber befindet. Durch dieses muß er seinen
linken Arm stecken, der somit in das andere Zimmer hinein-
reicht. In diesem steht schon ein Wundarzt bereit, der nach
allen Regeln seiner Kunst verfährt. Ein Dieb, der seinen
Rummel versteht, wird sich hüten, für mehr als 40 Jtzebus
zu stehlen; wenn er ertappt wird, macht man ihm nach jedes-
maligem Rückfall wieder eine Marke, und in Yokohama war
einer, der es bis zu 24 Stück gebracht hatte. Iu solchen
Chevalier de Vincenti: Die wilden
Fällen erfordert die gerichtliche Praxis, daß vom vierten Fall
an das Märken jedesmal mit einer höchst eindringlichen
Tracht Schläge verbunden ist, und daß die Wunden dann
nicht mehr bloß auf dem linken Arme, sondern auch an der
Stirn eingeschnitten werden. Die Prügel werden nach den
körperlichen Verhältnissen des Verurtheilten bemessen. Der
Menschen im Hurdesthale, Spanien. - 329
Kerkerarzt ist dabei zugegen, fühlt an den Puls und giebt
dem Büttel das Zeichen zum Aufhören.
lieber jeden Missethäter, der 24 Märke erhalten hat und
dann abermals rückfällig wird, oder der eine Sache im Werthe
von mehr als 40 Jtzebns stiehlt, wird die Todesstrafe
verhängt.
Die wilden Menschen i
Von Chevalier de
Wenige Tonristen besuchen Salamanca, das Klein-
Rom Spaniens, und noch seltener verirrt sich ein Reisender
in die Sierra de Francis oder Francos, jene Gebirgs-
kette, welche, den Südwesten des alten, hochberühmten Kö-
nigreiches Leon durchziehend, sich an die Serra Estrella in
Portugal anschließt. Sie ist bis jetzt einer der am wenig-
sten erforschten Punkte der spanischen Halbinsel. Mich hatte
die Einladung des liebenswürdigen Marques von Alenarza
in die berühmte Universitätsstadt geführt, wo mein hochge-
bildeter Gastfreund in mir den Wunsch wach rief, die oft
genannten Batuäcas und das meiner Meinung nach un-
gleich interessantere Hurdesthal zu besuchen.
Ich hatte in Cindad-Rodrigo einige Mühe gehabt, mir
ein Maulthier und einen Arriero (Treiber) zu diesem Aus-
finge zu verschaffen, indem die Eingeborenen dieser Stadt
eine gewisse mir anfangs unerklärliche Abneigung hegen, die
Batuecas und insbesondere die Hurdes zu besuchen. Nach-
dem wir etwa vier Stunden durch ein sehr malerisches, quel-
leureiches, aber sast unbebautes Land geritten waren, erreich-
ten wir gegen Mittag ein großes Dorf, La Alberca, das
anf dem nordwestlichen Abhänge der Sierra in einer groß-
artigen von Nuß- und Kastanienbäumen beschatteten Felsen-
kröne liegt. Nach kurzer Rast fetzten wir nnsern Weg nach
Süden fort. Die Straße wird nach und nach zum schlech-
teu Felseupfade, den unsere Thiere während einer Stunde
in vielfachen Krümmungen mühsam erkletterten, bis wir auf
einer der jäh abstürzenden Felswände, welche die Batuscas
von der übrigen Welt abzuschließen scheinen, angekommen
waren. Hier tauchte unser Blick in eine Wildniß von un-
heimlich-romantischer Schönheit. Vor uns zog sich eine un-
geheure, ziemlich schmale Thalfchlucht von Norden nach Sü-
den, deren unergründliche Tiefen von riesigen Felsblöcken in
chaotischer Verwirrung starrten, während Tausende von schlan-
ken Obelisknadeln drohend über den vertical abfallenden im-
Posanten Felswänden zwischen Himmel und Erde zu schwe-
ben schienen. Die Felsmasse bestand ans Granit, vermischt
mit Kalk nnd Kieselerde; eine Formation, die überhaupt der
Sierra de Francos eigen zn sein scheint. Die Vegetation
war prachtvoll und von üppiger Lebenskraft ; überall sah ich
die zarte Blüthe des Heidekrautes vermischt mit zahllosen
Wacholder- und Meerkirschenbäumen, aus deren dichtgedräng-
ten Gruppen Taxusbäume, Korkeichen und wilde Oelbäume
Hervorschossen. Unsere Thiere ließen sich mit Sicherheit den
glatten Felsenpfad hinabgleiten, bis wir auf einen bessern
Weg kamen, der uns durch schauerliche Felsenschluchten und
au Abgründen, wo riesige Granitobelisken zwischen Stech-
Palmen und Taxusbäumen überhingen, nach einem großen,
rohen Steinkreuze führte, San Jose genannt, welches einen
der Prachtvollsten Aussichtspunkte der Batuecas bezeichnet.
Im Süden droht eine ungeheure, senkrecht aufsteigende Gra-
Globus XIV. Nr. 11. (Decembcr 1868.)
Hurdesthale, Spanien.
Vincenti tu Graz.
nitwand, welche das Thal nach jener Seite abschließt, wäh-
rend gegen Osten aus der Felsenschlucht, in deren Tiefe der
Blick sich schwindelnd verliert, zwischen verwirrt hingesäeten
Steinblöcken die Ruinen eines Carmeliterklosters herauf-
schaueu. Soviel man von oben sieht, liegt das in Trüm-
mer gesunkene Hans inmitten einer prachtvollen Vegetation
von Oliven, Kastanienbäumen und ungeheueren Cypressen.
Mein Führer wollte wissen, daß zu gewissen Zeiten des
Jahres die Glocken im majestätischen Campanile von selbst
zu läuten ansingen. Wir ritten nun nach Osten zn auf
einem halsbrechenden Naturpfade, der uns nach den Hurdes
führen sollte.
Drei Stunden ging es anf den in unzähligen Krüm-
mnngen sich dahinwindenden Pfade fort, bis wir in ein
schönes gut bewaldetes Thal kamen, wo von allen Seiten
Bäche murmelten und Quellen aus den Granitfelsen hervor-
sprudelten. Wir befanden uns in dem Hnrdesthale, dessen
Bewohner inmitten der spanischen Civilisation wie die Wil-
den, halbnackt und jeder geistigen und religiösen Cultur eut-
behreud, in einem Elende, einer Verkommenheit nnd Ver-
lasfenheit dahin vegetiren, welche man der Regierung zum
schweren Vorwurf machen kann.
Nirgends eine Spur von Ackerbau oder sonstiger Men-
schenthätigkeit; die ganze Landschaft, welche wir während
mehrerer Stunden durchzogen, schien wie ausgestorben. End-
lich gegen acht Uhr Abends erreichten wir ein Dorf, wie
sich mein Leonefe pompös genug ausdrückte. Ich sperrte
die Augen weit auf; die Häuser des Dorfes blieben jedoch
für mich ebenso apokryph wie ihre Bewohner. Das war um
so begreiflicher, da wir uns in einer so tiefen, wilden Thal-
fchlncht befanden, daß die Sonne während mehrerer Monate
kaum einen Blick in diese Tiefe hineinwerfen kann. Wir
kamen indeß bald an den Ruinen einer Capelle vorüber und
befanden uns plötzlich, wie durch Zauberschlag, inmitten eines
Hausens nackter Kinder, die ein Paar magere Ziegen hüte-
ten und bei nnserm Anblick einige Gurgellaute ausstießen
und dann auseinanderstoben; wie Kobolde sanken sie Plötz-
lich in die Erde hinein.
Ich begriff bald ihr unheimliches Verschwinden, als an
denselben Orten zuerst einige Köpfe mit wild herabhängen-
dem Haar sichtbar wurden, denen nach und nach nackte Kör-
per nachfolgten, bis zuletzt zwei mit einer kurzen Hose be-
kleidete Beine herauftauchten. Nachdem wir einige Schritte
weiter gegangen waren, standen wir in der Mitte des Dor-
fes, dessen Häuser von einer ungemein primitiven Bauart
waren. Man denke sich breite, etwa 6 bis 8 Fuß tief in
die Erde gegrabene Löcher mit einer höchstens 2 Fuß hohen
Kieselmaner am Rande der Grube, welche unter einem plat-
ten, aus Baumzweigen und Erde gebildeten und von großen
Steinen bedeckten Dache verborgen liegt und als Thür und
42
330 • Chevalier de Vincenti: Die wilden
Rauchfang zugleich nur eine kleine Oeffnuug besitzt. Far-
renkraut und Gras wucherten überall auf diesen Dächern,
fo daß ich sie im Anfange, ihrer kaum merklichen Höhe hal-
ber, für Terrainerhebnngen gehalten hatte. Ich gestehe, daß
mir die Gurbis der Araber sowohl als die Hütten der Kemi-
läppen in Kengis, wo ich mehrere Nächte zugebracht habe,
als wahre Paläste erschienen im Vergleich mit diesen Dachs-
löchern, welche mir mein Führer als Häuser bezeichnete.
Wir wurden indeß von einer Menge „honorabler" Jnwoh-
ner umzingelt, unter welchen sich die Honoratioren dadurch
Vortheilhaft auszeichneten, daß sie ein Beinkleid und ein Hemd
besaßen, während der größere Theil in ekelhaft schmutzige
Lappeu gehüllt war. Im schönen Geschlechte insbesondere
schienen sich die unheimlichsten Typen von Besenamazonen
der Walpurgisnacht incarnirt zu haben. Die Elegantesten
glaubten nämlich ihre Schamhaftigkeit zur Genüge gewahrt
zu haben durch die traurigen Reste eines kurzen Unterrockes,
welcher längs ihrer lamentabel dürren Beine in Fetzen her-
abhing, während ein durchlöchertes Tuch auf ihren Schultern
klebte. Alle waren barfuß, mit aufgelösten Haaren, und
Schmutz und Parasiten schienen ihnen aus allen Poren zu
kriechen.
Mein Leonese mühte sich ab, den Eingeborenen dieser
Wildniß begreiflich zu machen, daß der Caballero aus Sala-
mauca um eiu Nachtlager für gutes Geld bitte. „Geld!"
dies Wort schienen sie zu begreifen, „das magische Wort!"
Sie, die, wie ich mich später überzeugte, weder einen Be-
griff von Gott, noch Religion, noch den Jahres-
zeiten haben, ja selbst unfähig find, ein Verbrechen von
einer guten That zu unterscheiden, sie, die durch die schuld-
und schmachvolle Nachlässigkeit der Kirche und der Regierung
weder Obrigkeit noch Priester kennen. Sie zitterten vor
Freude bei dem Worte: „Geld!"
Jeder bot mir seine Hütte an, und ich wählte eine solche,
deren Eingang am praktikabelsten und am wenigsten von
Düngerhaufen umgeben schien. Kaum hatte ich mich in die
Grube hineingleiten lassen, als mir ein entsetzlicher Geruch
die Gurgel zuschnürte. Die Krisis ging glücklich vorüber
und ich suchte mich zn orientiren. Es war stockfinster, bis
der Hausherr — ich muß ihn so nennen — einen Spahn
anzündete, den er au einem Haken unter dem Eingaugsloch
aufhing. Die Möbel standen im Einklänge mit der Woh-
nnng: ein halbausgehöhlter Korkeichenstamm, der mit Far-
renkraut ausgestopft war, diente als allgemeines Familien-
bett; ein anderer Trog dieser Art enthielt gepreßte Oliven,
in welchen mehrere Kinder mit den Händen wühlten, wäh-
rend hinter einem Verschlage von Baumzweigen einige Zie-
gen meckerten. Ein schwarzgebrannter Felsblock, der als
Herd diente, und zwei Baumstümpfe, welche als Sitze figu-
rirten, vervollständigten die patriarchalische Einrichtung dieses
Zimmers oder vielmehr dieser Höhle. Während ein bleiches
Mädchen beschäftigt war, mein Farrenkrautbett in einem
Winkel zurecht zu machen, setzte mir die garstige, schmutzige
Frau meines Wirths einige gekochte Bataten und Kastanien
nebst einer Schaale Ziegenmilch vor. Brot war nicht zu
sehen; glücklicher Weise habe ich solches mit Wein und eini-
gen Früchten allezeit selbst bei mir, so daß ich selbst im Hur-
desthal anständig speisen konnte. Als ich die Flasche hervor-
zog, machte mein Wirth eine Bewegung und seine Augen
funkelten. Ich faßte ihn erst jetzt genau ms Auge. Er
war klein, schmächtig, erschrecklich mager und hatte Kopf und
Oberkörper in ein Ziegenfell gehüllt, fo daß man fast nur
seinen langen Bart und zwei kleine blitzende Augen aus einem
ranchfarbenen, verwitterten Gesichte hervorlauern sah. Ich
hatte bis jetzt noch nicht das Vergnügen gehabt, diesen mei-
nen Wirth sprechen zu hören, weshalb ich glaubte, ihn durch
Menschen im Hurdesthale, Spanien.
freundliche Aufforderung im Leonefer Dialekt, meine Flasche
Wein anzunehmen, mittheilsamer zu machen. Doch dies
war vergebliche Mühe, er begnügte sich, einige grunzende
Laute auszustoßen, ohne jedoch meine Einladung zurückzuwei-
sen. Mein Arriero war indeß durch den Kamin in das
Zimmer herabgestiegen und meldete mir, daß er es vorziehe,
„a la luna de Valencia", d. h. unter freiem Himmel, die
Nacht zuzubringen, wobei er mit einer energischen Geberde
des Abscheues auf mein Farrenkrantlager deutete. Ueberhaupt
schien er eine wahre Furcht zu einpfinden, mit den Bewoh-
nern zu verkehren, etwa, wie wenn er sie als Pestkranke an-
fähe, während diese armen Leute mir selbst mehr Mitleid als
Abscheu einflößten.
Die ganze Familie hatte sich bald, ohne sich ihrer Lum-
Pen entledigt zu haben, in das gemeinschaftliche Bett in bun-
ter Verwirrung hineingekauert, und ich selbst betrachtete die
vom ersterbenden, grellrothen Flackern des Leuchtspahns er-
leuchtete Scene mit einem Gemisch von Grauen und Neu-
gierde.
Die Nacht war gar unruhig und manchmal kam es mir
vor, als wolle mein Bett davonlaufen. Endlich ward es
oben lebeudig, die Ziegen begannen zu scharren und zu
meckern. Die Familie des Wirths war schon auf den Bei-
nen, als ich mich anschickte, an das Tageslicht hervorzukrie-
chen. Außen dämmerte es und die tiefe Schlucht war wie
von einem fahlen Scheine beleuchtet; alle Bewohner des
Dorfes umstanden unsere Maulthiere, die zur Abreise bereit
waren. Eiu hübscher Knabe siel mir ans, der besonderes
Gefallen an den Thieren fand; er mochte etwa fünf Jahr
alt fein, war mager und elend, hatte aber eine ungemein in-
telligente Physiognomie im Gegensatze zu den stumpfsinnigen
Mienen des übrigen Publicums. Ich' redete ihn an und
verstand, daß er aus Plasencia sei, oder vielmehr ich verstand
nur dies einzige Wort und zog diesen Schluß daraus. Da
ich mir seine Anwesenheit in dieser Wildniß nicht erklären
konnte, belehrte mich mein Leonese, daß der Knabe wahr-
scheinlich hier in Pflege sei, indem es oft vorkomme, daß die
armen Frauen im Hurdesthale in den umliegenden Städten
von Haus zu Haus gingen, um kleine Kinder zu erhalten,
die sie für ein Geringes mit Hülfe einer Ziege mühsam er-
ziehen. Welch trauriger Beweis der Zerfahrenheit und Ver-
kommenheit der Familie in Spanien! Welche Mutter mag
dies sein, die ihr Kind solchen Händen anvertraut! Oder
wer weiß? Das Hurdesthal ist wie ein Grab; ein Kind lebt
dort und ist dennoch tobt und vergessen in dieser Wildniß.
Wehmnth beschlich mich, als ich mit diesem Gedanken das
Kind anblickte. Wie hieß es? Niemand wußte es, denn
von allen Umstehende» war sich selbst Keiner eines Namens
bewußt. Ohne Taufe in die Welt gekommen, leben sie ohne
einen Begriff von Gott und werden ohne Priester, ohne letz-
tes Gebet dahingehen; und dies im Schooße des katholischen
Spaniens, im Reiche der allerchristlichsten Königin!
Ich verwandte den ganzen Tag darauf, einen Theil des
so traurig interessanten Thales zu durchforschen. Seine
Ausdehnung ist, nach den Angaben des Geographen Ma-
doz, etwa 18 bis 20 Quadratmeileu und seine Bevölkerung
soll sich auf nicht mehr als 4000 Seelen belaufen. Als ich
nach Westen hin ritt, fand ich allenthalben eine reiche Vege-
tation und eine unglaubliche Menge von Quellen und Bä-
chen. Die Thierwelt war insbesondere durch eine beträcht-
liche Anzahl von Wildschweinen vertreten, welche, von Zeit
zu Zeit durch das Dickicht brechend, unsere Maulthiere er-
schreckten.
Mein Führer gab mir unterwegs noch einige Angaben
über die Bewohner des Thales, und was er mir sagte, hörte
ich später von glaubwürdigen Personen bestätigen. Er be-
Emil Schlagintweit: Die
hanptete, daß sie gewissermaßen den Mond als ihre Gott-
heit verehren, oder vielmehr diesem Gestirn einen ganz uu-
bedingten Einfluß auf ihre Verhältnisse einräumten, indem
sie ihre Ehen, welche sie ohne Assistenz eines Priesters schlie-
ßen, nach den Phasen des Mondes richten, und denselben
ebenfalls bei ihren wenigen Feldarbeiten, Olivenernten u. s. w.,
befragten. Ihr moralischer Zustand sei ein entsetzlicher, in-
dem sie alle Verbrechen begingen, ohne nur das Bewußtsein
zu haben von dem, was sie gethan, und ohne Recht und Un-
recht von einander unterscheiden zu können. Vor einiger
Zeit, fugte er hinzu, fei ein Fall vorgekommen, daß ein juu-
ger Mensch seinen Bater erdrosselte, weil dieser ihm einiges
Geld weggenommen, welches der Junge sich in Ciudad-Ro-
drigo erbettelt hatte.
Hin und wieder kamen wir auf der Rückkehr an einigen
Capellen vorüber, die alle in Ruinen lagen, zugleich jedoch
den Beweis gaben, daß man den Versuch gemacht hatte, Re-
ligion unter diesen Wilden zu verbreiten. Allerdings hatte
dieser Plan einen würdigen und energischen Vertreter in dem
verstorbenen Bischöfe von Plaseneia, Antonio Parras, ge-
funden, als diefer jedoch starb, fand sich Niemand, der sein
Werk fortsetzen wollte. Dies macht dem reichen spanischen
Clerus alle Ehre! Das an merkwürdigen Dingen so reiche
Spanien bietet die Curiositat dar, daß es beinahe im Mit-
telpuukt des Landes eine von reichen, fruchtbaren Provinzen
umgebene Wildniß besitzt, wohin noch kein Strahl der Civi-
lisationssonne gedrungen ist, und wo Kinder der „großen
spanischen Nation" vergessen und vergraben, wie Ausgestoßene
der Familie, wie Geächtete, in einem Zustande von Elend
und Stumpfheit leben, wie er fchwerlich bei den rohesten
Völkern in der nenen Welt vorhanden ist.
Möchte das freie Neuspanien recht bald dieses Brand-
mal, eines der zahlreichen Vermächtnisse einer düstern Ver-
gangenheit, von seiner Stirn wischen! —
*
* *
Es wäre zu wünschen, daß diese Pari ah s imHurdes-
thale einmal vom wissenschaftlichen Standpunkte aus näher
beobachtet würden; namentlich wären Nachforschungen über
ihre Abstammung nöthig und Untersuchungen darüber, ob sie
vielleicht ein Rest, ein Splitter und Bruchstück vou einer der
Völkerschaften sind, welche im Fortgange der Geschichte über
Spanien hinwegzogen. Es versteht sich von selbst, daß auch
Sprachproben mitgetheilt werden müßten. In dem inhalt-
reichen Werke von Francisque Michel, Histoire des
races maudites de la Francejet de l'Espagne X,
Paris 1847, 2 Bände, habe ich vergeblich nach einer Notiz
über die Lente im Hurdesthale gesucht.
MoritzWillkomm („DiepyrenäischeHalbinsel" S. 150)
erwähnt in der Beschreibung von Cstremadnra in der Provinz
terwaltung Britisch-Indiens. 331
Caceres der Batuecas: „In den Alagon ergießt sich, zwei
Leguas oberhalb Grauadilla, der Rio de las Batuecas,
welcher durch das tiefe, enge, gleichnamige Thal fließt, das
sich zwischen der Sierra de Gata und Pena de Francia be-
sindet und dessen Urbewohner der Sage nach Jahrtausende
lang von aller Welt abgeschnitten gelebt haben sollen. Jetzt
liegt in jener Schlucht ein Kloster." Ueber die Hnrdes sagt
er nichts; da, wo er von der Stadt Bejar in der leonesischen
Provinz Salamanca spricht, heißt es: „Die Bewohner der
benachbarten Gebirgsdörser sind zum Theil Abkömmlinge der
Gothen, ausgezeichnet durch bloude Haare und blaue Augen."
Die verkommenen, halbwilden Leute im Hurdesthale sind da-
gegen sicherlich nicht von gothischer Abkunft.
In der Octobernummer der „Revue britauuique",
S. 327 bis 356, finden wir einen Aussatz von Antoine de
la Tour: Les Batuecas. Die Arbeit ist George Sand
gewidmet nnd nimmt gleich zu Anfange Bezug auf einen
Roman der Frau vonGenlis. „(Je roman est eminem-
ment socialiste. Les Batuecas sont une petite tribu
qui a existe, ea realite ou en imagination dans une
vallee espagnole, cernee de montagnes inaccessibles.
A la suite de je ne sais quel evenement, cette tribu
s'est renfermee volontairement en un lieu, oü la na-
ture lui offre toutes les ressources imaginables, et ou,
depuis plusieurs siecles, eile se perpetue, sans avoir
aucun contact avec la civilisation ordinaire." So sagte
George Sand. Herr de la Tour beschreibt dann einen Ausflug
nach den Batuecas, aus welchem wir leider so gut wie gar
nichts Positives erfahren. Aus dem bekannten großen Wörter-
buche von Madoz entlehnt er die Notiz, daß die Batuecas ein
Thal in der Provinz Salamanca feien, im Bezirke von Al-
berca und im Gerichtssprengel von Segneros. Das Gebiet
von Alberca ist rauh uud unzugänglich, etwa zehn Quadrat-
leguas groß, nach allen Seiten hin von Schluchten durchrissen
und mit Haidekraut überzogen. Dort wachsen viele Kork-
eichen. Von Alberca aus führen zwei Wege ins Batuecas-
thal; der eine ist für Fußgänger praktikabel uud für Reiter-
gefährlich; der andere ist weiter, aber bequemer. Mittewegs
steht ein Kreuz; im Thale strömt ein Fluß; eine herrliche
Cedernallee führt zu einem in Ruinen liegenden Kloster.
In dieser Einöde liegen auch die Trümmer von fünfzehn
Einsiedeleien; das Kloster war von dem Herzoge von Alba
gegründet worden; diesem gehörte auch Alberca. — Lope
de Vega ließ 1633 eine Comödie drucken.- „Die Batuecas
des Herzogs von Alba."
Herr de la Tour erzählt dann eine Expedition, welche
er im November 1866 mit mehreren Herren und Damen
nach den Batuecas unternommen habe; sie enthält aber nur
Landschaftsbilder und Jagdgefchichten und kein Wort über
die Bewohner. A.
Die Verwaltung Britisch-Indiens.
Von Emil Schlagintweit.
Bei der Eroberung von Bengalen vor nunmehr einem
Jahrhunderte fanden die Engländer Einrichtungen vor, wesent-
lich verschieden von denen des Mutterlandes, und ungenügend
für die Verhältnisse, wie sie zur Befestigung der Herrschaft
zu schaffen waren. Die Forderungen der Sicherheit des
Eigenthums und des Verkehrs waren hier zunächst im In-
teresse der geringem Anzahl, der herrschenden Partei, zu er-
füllen, es konnte hier zur Verwirklichung des Zweckes rück-
42'
332
Emil Schlagintweit: Die Verwaltung Britisch-Indiens.
sichtsloser vorgegangen werden, es mußte sich aber deswegen
anch rascher die Wirkung der neuen Organisationen zeigen,
Fehler des Systems traten leichter hervor. Bedenkt man,
daß die Engländer wünschen mußten, Institute, die sich im
Mutterlands bewährt hatten, auf ihre indischen Besitzungen
zn übertragen, so geben Schilderungen der indischen Zustände
und die Nachweise über den Ersolg der Reformen zugleich
ueueS Material zur Beurtheilung unserer europäischen Ein-
richtungen und ihres Werthes.
Die indische Administration ist in ihrer Einwirkung auf
Sitte und öffentliches Leben sicherer zu verfolgen als in
manchen Ländern selbst Europas. Es dürfte kaum ein Land
geben, iu welchem, wie in Indien, die Details der Verwal-
tuug in so kurzen Zwischenräumen Periodisch gesammelt und,
was uicht minder wichtig ist, allgemein durch den Druck be-
kannt gemacht werden. Das Aufsichtsrecht der englischen
Krone hatte von jeher ausführliche Berichterstattung nothwen-
dig gemacht; seit 1855 werden aus den periodischen Rechen-
schastsberichten der einzelnen Verwaltungsbranchen von dem
statistischen Comite ° in Calcutta „Annals os Jndian Admi-
nistration" zusammengestellt. Diese „Annals" erscheinen in
Vierteljahrsheften von 12 bis 15 Bogen und enthalten eine
Fülle belehrenden Details. Ein „Statistical Abstract" der
wichtigsten Zahlen, zugleich mit ergänzenden Nachträgen für
einzelne Gegenstände bis in das Jahr 1840 zurück, ist im
Jahre 1867 als ein Octavheft in der bekannten Form der
Blaubücher für das englische Parlament angefertigt worden.
Im Folgenden soll über einige der schwierigsten Fragen in-
dischcr Administration Mittheilnng gemacht werden.
Eintheilnng und Bevölkerung. Britisch Indien
ist seit 1862 iu Folge der mehrfachen Jncorporationen in
9 Provinzen gegen früher 5 eingetheilt; ihre Namen, Haupt-
städte und Bevölkerung sind:
Provinz. Hauptstadt. Bevölkerung.
lKurg....... , Merkara 119,118
1. I Hyderabad, assigned Pro-
vinces..... . Hyderabad 1,530,981
Maissur..... Maissur 40,136,601
2. Bengalen..... . Calcutta 42,505,222
3. Nordwestprovinzen . . . Allahabad 28,223,889
4. Pendschab..... . Lahor 14,585,804
5. Madras..... . Madras 24,926,509
6. Bombay mit Sind . . . Bombay 12,889,106
7. Audh...... . Lakuau 6,502,884
8. Centralprovinzen. . . . Nagpur 7,181,321
9. Birma...... . Raugun 2,196,180
Dazu:
Bevölkerung der Staaten unter eingebore-
nen Herrschern (meist in Central- und
Südindien) . . . . 47,909,199
Französische Besitzungen 203,887
Portugiesische Besitzungen . 313,262
Summa: 193,100,963
Die Zählung von 1852, vielfach noch auf Schätzungen
beruhend, hatte 176 Millionen ergeben, wovon 40 auf die
noch selbständigen Staaten trafen. — Die Provinzen des
südlichen Indiens: Knrg, Hyderabad (umfassend Theile von
Berar und nicht zu verwechseln mit dem Territorium des
noch selbständigen Nizams von Hyderabad mit circa 10Mil-
lionen), Maissur und Andh, in Folge von Depossediruug und
Verträgen erworben, werden als „Imperial" behandelt und
unmittelbar von der Centralregieruug des Governor-General
in Council verwaltet; die übrigen Provinzen, haben selbstän-
dige Gouverneure. Die Himalayalandschaften sind Bengalen
und den Nordwestprovinzen zugetheilt. — Den Eingebo-
renen ist neuerdings in Rechtspflege und Verwaltung ein
wichtiger Antheil an der Berathnng und selbst in Entschei-
dung eingeräumt, es sind ihnen nicht mehr bloß die unteren
vollziehenden Aemter zugewiesen.
Die Dichtigkeit der Bevölkerung beträgt für ganz Indien
128 auf eine englische Quadratmeile; die Extreme sind aber
sehr groß: sehr viele Theile sind in hohem Grade übervölkert.
Am größten ist die Zahl in den Ackerbaudistricten Hindo-
stans; im Bezirke von Benares leben 850 Menschen auf
einer englischen Quadratmeile, in Ghazipnr 730, in Azim-
garh 657, in Agra 537; zur Vergleichung sei erwähnt, daß
eine Bevölkerung von 200 auf eine englische Quadratmeile
für das mittlere Europa als befriedigend, fast dicht, genannt
werden kann. Gegen Westen und Süden nimmt das Ver-
hältniß ab. -Der Durchschnitt für die Nordwestprovinzen
im Ganzen beträgt 374; in Centralindien erreicht nur der
Nagpur-District 252, obgleich dort eiue rege Industrie herrscht.
Die Mehrzahl der Districte bewegt sich unter 100; als ein
Beispiel dünner Bevölkerung sei Bustar erwähnt mit nur
12 Einwohnern auf die Quadratmeile; die willkürliche Ver-
waltung des noch selbständigen Radscha wird als die Haupt-
Ursache angegeben. Für die Madras-Provinz berechnen sich
178 Einwohner aus eine Qnadratmeile. Die Zunahme der
Bevölkerung für den fünfjährigen Zeitraum von 1858 bis
1863 beträgt hier 7 Procent.
Der Beschäftigung nach nährt sich die größere Mehrzahl
vom Ackerbau und den Diensten hierfür; in Hindostan fallen
ihm 80 Procent zu, in Madras nach genauer Zählung 71
Procent.
Hinsichtlich der Religion und Race ist der wichtigste Gegen-
satz jener zwischen Hindus und Muselmännern. Die Hindus
oder Anhänger des Brahmanismns und der daraus hervor-
gegangenen Secten, schon an Race reicher an rein arischem
Blnte, zeigen auch in ihren Gesinnungen leichtere Gewöhnung
an europäische Anforderungen. Das Bewußtsein derStammes-
gemeinschast mit den Europäern ist durch kluge Verbreitung
der Resultate indo-germanischer Sprachforschung in den hö-
Heren Ständen ziemlich allgemein, die Abkömmlinge der alten
Herrscherfamilien genießen mit Stolz ihre Vorrechte, die zn
vergleichen sind mit jenen unserer Standesherren. Der Bil-
dung und Besserung der socialen Lage der unteren Stände
wird große Aufmerksamkeit geschenkt; doch darf nicht ver-
schwiegen werden, daß in dieser Beziehung noch viele Euro-
päer der Anschauung sind, die geistige Begabung und die
Gesinnung ihrer Untergebenen sei der Race, als einer nie-
drigen, angeboren und könne nie entsprechend gebessert werden.
Die Hungersnoth in Orissa im vergangenen Jahre hat große
Mißstände der englischen Verwaltung bekannt werden lassen.
Die Muselmänner dagegen zeigen schon vermöge der Leh-
ren des Koran geringere Geneigtheit, den „Ungläubigen"
sich zn fügen. Charakteristisch ist ihr Mißtrauen und ihr
fanatischer Glaube an Wiederherstellung eines Moghulthro-
ues, welcher dem Aufstande von 1858 wesentlich den so be-
denklichen Charakter gegeben hatte. Die Muselmänner sind
fast überall in der Minderheit; am zahlreichsten sind sie in
den früheren Sitzen der Großmoghnle und ihrer Gouver-
nenre, in den Städten Delhi, Allahabad, Lahor; hier können
sie mitunter bis zur Hälfte der Bevölkerung angenommen
werden; für Indien im Ganzen beträgt aber ihre Zahl nicht
über ein Drittel. In den drei größten Städten gab es 1865:
Bombay. Madras. Calcutta.
Hindus 523,974 325,678 239,190
Muselmänner 145,880 63,886 113,059.
Die wenigsten Anhänger haben sie im Mittlern uud süd-
licheu Indien, dessen Herrscher ihre Selbständigkeit stets, selbst
gegenüber den Engländern, besser zu sichern verstanden. Schon
Emil Schlagintweit: Die
in Hazaribagh im Südwesten von Bengalen, einem Grenz-
districte gegen Centralindien, wurden nur wenige muselmän-
nische Bewohner beobachtet. In der Provinz Madras wur-
den 1863 21,858,713 Hindns gegen 1,379,371 Mnsel-
männer gezählt, so daß diese nur 16-Proceut betragen.
Sehr unbedeutend ist die Zahl der Christen; in Bombay
betragen sie 2,44 Procent der ganzen Bevölkerung; etwas
größer stellt sich ihre Zahl in Madras, wo sie um 15 Pro-
ceut zunahmen, während die Bevölkerung um 7 Procent sich
vermehrte. Das Kastenvorurtheil trägt wesentlich dazu bei,
den Uebertritt zu erschweren, da die nene Gemeinschaft nicht
jenen festen Verband, jenes Selbstbewußtsein gewährt, wie
das Kastengesetz.
Die größte Stadt Indiens ist Bombay. Nach der Zäh-
luug vom 1. Februar 1864 war die Bevölkerung 816,562
Einwohner, darunter 8415 Europäer und 1891 Mischlinge
zwischen Europäern und Eingeborenen. Die Ueberzahl der
Männer über die Frauen war am größten unter den Euro-
päern, 22 Frauen auf 100 Männer; unter den Eingebo-
renen 174 Männer auf 100 Frauen; die geringste Diffe-
renz war bei den Inden (im Ganzen 2872), nämlich 112
auf 100 Frauen, bei den Parsis (49,201) 133 auf 100
Frauen. Aehnliches Vorwiegen der männlichen Bevölkerung
über die weibliche wird iu allen Colonien beobachtet. Nach
Beschäftigungen ausgeschieden treffen auf je 1000, männlich
und weiblich nicht geschieden:
Bereiter von Nahrungsmitteln.....100,5
Schneider...........91,2
Gesinde........... 66,8
Maurer, Zimmerleute.......40,2
Kleine Gewerbsleute für Hausgeräthe . . 18,5
Verkäufer von Luxusgegeustäudeu (Juweliere,
Photographen, Musiker, Branntwein-, Ta-
back-, Betel-Händler)....... 60,6
Medicinalpersonen mit Apothekern .... 11,9
Priester, Lehrer, Buchdrucker..... 18,2
Geldwechsler und Handelsagenten .... 56,7
Militär und Polizei........ 31,0
Träger und Eigentümer von Transportmitteln 105,0
Handelsstand, Fabrikanten, Ingenieure . . 113,0
Tagelöhner....................234,2
Rentiers........... 19,1
Bettler...........33,1.
Von Interesse ist eine Scheidung der Bettler nach Ka-
sten. Unter den Hindus Bombays haben die Brahminen
oder die erste Kaste 31 Proceut Bettler; sie halten sohin fest
an dem traditionellen Rechte, vom Fleiße der Uebrigen zu
leben; die übrigen Hindukasten hatten etwas über 1 Procent,
die „Outkasts" oder die wegen Veraehen gegen die Kasten-
ordnung Ausgestoßenen 4 Procent. Die Muselmänner
weisen 5 z/2 Procent Bettler auf, dagegen findet sich kein
Bettler bei den Juden und Parsis. Als Tagelöhner und in
niederen Dienstleistungen suchen unter den Hindus 1/3 ihren
Erwerb, unter den Muselmännern nur Ys; der Schiffsdienst
ist von Muselmännern gesucht; als Bediente, besonders als
Butlers oder Kammerdiener und Chef des Hansgesindes, suchen
Parsis Verwendung; der Kaufmauusstand weist Mitglieder
aller Kasten auf. Bekannt ist das bedeutende Vermögen ein-
zelner Parsi-Häuser.
Madras, die zweitgrößte Stadt Indiens, zählte Ende
1863 427,771 Einwohner, darunter 16,338 Europäer und
Mischlinge. Schlechtes Trinkwasser, dichte Bevölkerung in
der Black Town, häusiges Auftreten der Cholera und Nei-
guug zu Unterleibsbeschwerden sind den Gesuudheitsverhält-
nisseu sehr nachtheilig; unter den Eingeborenen sind die schwar-
Verwaltung Britisch-Indiens. 333
zen Blattern sehr hänfig; die Schutzpockeuimpfuug will man
nicht für alle Classen gleich wirksam gesunden haben.
Die Bevölkerung von Calcutta ist nach der Aufnahme
vom 8. Januar 1866 zu 377,924 erhoben. Europäer
wurden 11,224 gezählt, dazu 11,036 Mischlinge; 30 Pro-
cent der Männer sind zwischen 26 bis 40 Jahren, stehen
sohin im Alter kräftigster Mannesreife, der älteste Europäer
zählte 87 Jahre; die Sterblichkeit unter den Europäern war
2,7 Procent gegen 5,4 Procent unter den Eingeborenen.
Wohnhäuser sind 58,892, darunter 42,917 nur von Erd-
geschoß, über je 7000 mit 1 und 2 Stockwerken, 1000 mit
3 Stockwerken und darüber; auf 1 Person treffen 25,75
Quadratyards. Die Raumverhältnisse sind zwar hier gün-
stiger als in Bombay, die Sterblichkeit aber viel größer als
in Bombay. Es trägt hierzu wesentlich die Unsitte der Be-
kenner der Hindn-Religionen bei, ihre Todten in das heilige
Wasser des Ganges zu werfen; zu Tausenden schwimmen
die Leichen Calcutta zu, so daß derHugly, wie hier der Gan-
ges heißt, stellenweise ganz davon bedeckt ist; die Regierung
beabsichtigt strenge Gesetze dagegen.zu erlassen.
Polizeiverwaltung. Es gehört zn den ältesten Ein-
richtnugen der indischen Dorfverfassung, daß die Gemeinde
einen Wächter aufstellt und ihn durch Überlassung eines
Grundstückes und durch Ackerzehnten besoldet. Das Amt ist,
wie in Indien fast stets, erblich und zum Beruf einer Kaste
geworden; die Kastenmitglieder unterstützen den Wächter, den
Träger ihres Rechtes und Amtes, bereitwilligst. Unter der
Muselmännerherrschaft verfiel diese zweckmäßige Einrichtung;
die Ortsvorstandschaft und damit die Pflicht der Sorge für
den Sicherheitsdienst fiel den Grundrenteneinnehmern, den
Zemindars, zu, die durch ihre bevorzugte, wenig überwachte
Stellung bald die Grundherren des Ortes wurden.
Die Engländer begannen gleich nach der Eroberung zu
reformiren, und zunächst in den Städten und längs der Heer-
straßen Sicherheit zu schaffen. Die neuen Einrichtungen
waren aber ungenügend; der Dienst der Mannschaft bestand
wesentlich nur in Wachdiensten; dabei Mißbrauch mancher
Art, wie Postenstehen vor den Häusern höherer Offiziere,
Verwendung zu Botendiensten. Die Ortswächter sollten
durch Patrouillen controlirt werden; die Ueberwachnng war
aber mangelhaft, unrichtige Behandlung bewirkte vielfach Auf-
lösung der älteru Dorfeiurichtuug, so daß sich die Zustände
auf dem platten Lande eher verschlechterten. Nach mehr-
fachen Aenderungen geringerer Bedeutung wurde endlich seit
1860 eine neue Organisation durchgeführt, welche deu mili-
tärifchen Charakter im Aeußern beseitigt. Die Mannschaft
theilt sich in ein Sicherheit- und in ein Wachdienstcorps;
die letzteren tragen Gewehr und Säbel, die Sicherheitspolizei
ist mit einem eisernen Stocke bewaffnet und militärisch ge-
drillt. Ein Mißstand, auf desseu Beseitigung augenblicklich
hingearbeitet wird, ist der Maugel einer Einwirkung von der
Civilbehörde auf den Dienst, da die Mannschaft zur Zeit
ihren eigenen Beamten unterstellt ist. — Die Stärke der
Mannschaft und ihre Leistungen mögen aus folgenden Daten
entnommen werden.
Die Ortswächter sind ausschließlich Organ der örtlichen
Polizei geworden, die Gonvernementalpolizei übt die Con-
trole und sammelt die Anzeigen. An dem Kastenrechte wird
nicht gerüttelt, unwürdige Mitglieder werden ausgeschlossen,
die Dotation ist sichergestellt. Die Zahl dieser Wächter ist
ungemein groß; in den Küsten- und Gangesdistricten Ben-
galens mit ihrer dichten Bevölkerung wurden im Juni 1864
164,000 Dorfwächter gezählt. Im Pendschab nimmt ein
Gesetz die Gemeinde in Strafe, wenn bei einem im Innern
des Dorfes verübten Verbrechen der Thäter nicht zur Haft
gebracht wird. Dieses Gesetz leistet aber keineswegs den ge-
334 Franz Engel: Die Fahrstraße
hofften Nutzen, im Gegentheil, die Thätigkeit der Polizei er-
schläfst durch die geringere Verantwortlichkeit.
Das Staatspolizeicorps betrug am 1. April 1865
154,435 Mann. Europäer werden selbst als Constabler selten
verwendet; die Mehrzahl der Leute sind im Süden Mnsel-
männer (in Madras z. B. 60 Procent der Mannschaft ge-
gen 16 Procent der Bevölkerung), im Nordwesten niedere
Hindukasten und örtliche Kriegerkasten; die Kaste der Brah-
muten ist ausfallend gering vertreten. Der Dienst im Po-
lizeicorps ist sehr gesucht, in Laknau meldeten sich über 2000
zu wenigen Stellen; die Besoldung ist ausreichend. Zur
Unterweisung der Mannschaft sind Schulen eingerichtet, ins-
besondere wird erstrebt, einen Berufsstand heranzuziehen, in-
dem auch Kinder aufgenommen werden.
Die Verkeilung der Mannschaft ist in den einzelnen
Provinzen sehr verschieden; 1865 traf 1 Mann ans:
Provinz, Stadt. Einwohner.
Bengalen.........1573
Madras, auf dem Lande .... 1080
„ in Städten.....548
Delhi, Stadt................305
Lahor, Stadt................262
Amritfar, Stadt..............261
England, auf dem Lande . . . . 870
,, in Städten..........463.
Die Kosten absorbirten 1865 in Madras 5 Procent,
in Bengalen 2,8 Procent des Provinzialbndgets; auf den
Kopf trafen 3 Sgr. (2\/2 Anas) in Madras, 2 Sgr. in
Bengalen; die durchschnittlichen Kosten für 1 Mann betru-
gen 137 Rupien.
Für die Leistungen der Polizei sprechen folgende Zahlen
von 1865. In Benares (Land- und Stadtdistrict) trafen
aus 100 Anzeigen 48, Azymgarh (Nordwestprovinzen) 60,8
Überführungen. In Audh finden Strafen statt, so oft grö-
bere Verbrechen sich in einer Gegend mehren; unter 100 An-
zeigen endeten 1861 63,88, 1862 67,51, 1863 68,20,
1864 71,78, 1865 77,47 mit Vernrtheilung; im Durch-
schnitt war binnen 3 Tagen der Thäter ermittelt. JnCen-
von La Gnayra nach Caracas.
tralindien wurde unter 100 Fallen 81 Mal der Thäter zur
Anzeige gebracht uud 85 Procent der Angeschuldigten ver-
nrtheilt; in Bengalen gelang die Überführung in 51,6 Fäl-
len unter 100 Anzeigen; in Madras wurden 60,2 Procent
vernrtheilt, 18,8 Procent des gestohlenen Geldes konnten zu-
rückerstattet werden. In England treffen 1862 durchschnitt-
lich 24 nnd in Irland 43 Freisprechungen auf 100 Ver-
Handlungen. Diese Resultate müssen um fo befriedigender
sein, wenn man bedenkt, daß 1864 in Madras-63,1 Pro-
cent der Polizisten weder lesen noch schreiben konnten. Ver-
schwiegen darf jedoch nicht werden, daß die Verhafteten häufig
schlecht behandelt werden. Die Lust zu glänzen ist bei den
Eingeborenen eben so stark als ihr Mitgefühl gegen Leiden
gering.
Das Criminalverfahren ist dem englischen Gerichts-
verfahren nachgebildet. Oefsentlichkeit in allen Sitzungen,
Geschworenengerichte; für geringe Übertretungen ist mit Er-
folg ein honorary Magistrate ans Eingeborenen unter dem
Vorsitze eines rechtskundigen Richters berufen. Der Proceß ist
rasch, die Förmlichkeiten sind auf das Wesentlichste beschränkt;
die Vorerhebungen für die Hauptverhandlung nehmen durch-
schnittlich 12 bis 17 Tage je nach den Vergehen und ein-
zelnen Provinzen in Anspruch. Die Acte Nr. 6 von 1864
führt die Strafe körperlicher Züchtigung ein für Diebstahl,
Bedrohung und einzelne Arten von Eigenthumsbeschädignn-
gen, es kann jedoch statt derselben auf Freiheitsstrafe erkannt
werden. Die Urtheile über den Erfolg sind sehr verschieden;
für jugendliche Verbrecher und unter den rohen Aboriginer-
stämmen wird sie noch am meisten gebilligt; es will gefnn-
den werden, daß die Gerichtshöfe nur zu gern darauf erkeu-
uen. Es wirkt hier die echt semitische Auffassung mit, welche
durch den Islam in das Land gebracht wurde, daß dem Meu-
schenleben kein nnverhältnißmäßig höherer Werth zukommt
als jenem eines Thieres. — In den weniger dicht beVölker-
ten Districten wird über zu große Gerichtssprengel geklagt,
bei kleineren Beschädigungen entsteht durch die Anzeige und
Zeugenvernehmung so großer Zeitverlust, daß vielfach unter-
lassen wird, auf Bestrafung anzutragen; schädliche Selbst-
hülfe tritt an Stelle der Verurtheilung.
Die Fahrstraße von La Guayra nach Caracas.
Bon Franz Engel.
Von La Guayra, dem Hafen oder besser: der offenen
Rhede von Caracas, der Hauptstadt der Republik Venezuela,
führen seit neuester Zeit drei verschiedene Wege über die steile
Küstengebirgsmaner zu der sruchtbareu uud schönen Hochebene
von Caracas hiuan. Zwei dieser neueren Wege sind nur
Maulthier- und Fußgängerpfade; der Achsenverkehr wird nur
allein auf der längern, in vielen Windungen die Cordillere
hinanklimmenden, von den ehemaligen Beherrschern des Lan-
des, den Spaniern, breit, dauerhaft uud bequem angelegten
alten Heerstraße vermittelt. Auf diefem sogenannten alten
Wege fährt täglich zweimal eine Diligence und eine große
Anzahl zweiräderiger Frachtkarren hin und her; außerdem
aber werden auch alle Lastthiere über diese Straße getrieben,
und nur ein geringer Theil der leicht gesattelten Reisenden
und der Fußgänger wählt einen der kürzeren, aber steil an-
steigenden und beschwerlichen Gebirgspsade.
Der alte Weg läßt alsbald das große Dorf Maiqne-
tin, das sich fast an La Guayra anlehnt, mit seinen Kokos-
Pflanzungen unter sich und erreicht sodann mit allmäliger
Ansteiguug den Torre quem ad a; die Benennung: „ge-
brannter Thurm" ist bezeichnend für die Hitze, die von den
kahlen Felfen und dem Sande hier aufgefangen und zurück-
gestrahlt wird. Oberhalb des Torre quemada geht die heiße
Zone allmälig in die kühle Zone über; die zunehmende Fri-
sche theilt sich bald dem ganzen Organismus durch ein wach-
sendes Wohlgefühl mit. Die Vegetationsphysiognomie nimmt
ein anderes Gepräge an; der nackte, glühende Boden schwin-
det und ist von Gebüsch und Stauden bedeckt; Gehölze wech-
seln ab mit cnltivirten Ländereien; gesellig zieht die Flor
de tara — Yerbesina lielianthoides —, ein straucharti-
ger Baum mit zahlreichen gelben Blumen, über Hügel und
Berge hin und bildet den hervorragenden Hanptschmnck der
Anhöhen um La Guayra. Schaareu von Papageien fliegen
lärmend über den Weg, über Schluchten und Felsen hin
Franz Engel: Die Fahrstraße
von einem Frnchtfelde zum andern, unermüdlich in ihren
räuberischen, verwüstenden Einfällen, die den Landmann zu
unausgesetzter Wachsamkeit nöthigen und dennoch einen Theil
seiner Ernten vernichten. Während des hohen Sonnenstandes
ziehen sie sich zurück in die Wälder, aber bei Aufgang und
Untergang der Sonne versammeln sie sich herdenweise und
wählen zu ihren Vereinigungsorten die Nähe reisender Mais-
und Reisfelder.
Schwalbennestartig hängen die kleinen, mit Palmenstroh
gedeckten Lehm- und Rohrhütten und Häuser der Landleute
und ihre cultivirten Feldstücke an den Bergabhängen, oder
sie keilen sich in die schmalen Thalsenkungen ein, die in an-
muthiger Frische und Fruchtbarkeit bei einer schroffen Wege-
biegung plötzlich vor den überraschten Blicken aus der geschlos-
senen Gebirgsmasse auftauchen. Gleich freundlichen Wand-
gemälden an der großen, einfarbigen Naturtapeterie ziehen
sie das Auge auf ihre unerwartete und unterhaltende Erschei-
nnng. Viele dieser kleinen Menschensitze liegen aber in völ-
liger Abgeschiedenheit von allem Weltverkehre, nur dem be-
kannt, der die Schlupfwinkel der Cordilleren durchstreift, —
eine kleine Welt für sich, die weiter keine Roth und Sorge
berührt, als was das Wachsen uud Gedeihen ihrer Frucht-
felder betrifft.
Um das Wegschwemmen und den Absturz der Dammerde
von dem abhängigen Gesteine zu verhüten, wird dieselbe stufen-
förmig durch Baumstämme, gleichsam wie durch eine Holz-
treppe, gestützt; ohne solchen Widerstand würden die Regen-
güsse, die sich auf den Gebirgskuppen entladen, gewaltige
Wassermengen ansammeln und von den Abhängen nieder-
rollen, das Gestein von der fruchtbaren Erdschicht entblößen,
oder dieselbe doch zerreißen und umstürzen. Ganze Stücke
Waldes werden in dieser Weise entwurzelt und fortgeschwemmt,
bis die losgelösten Bäume in ihrem Sturze einen Stützpunkt
gewinnen und nun selbst den Laus der übersluthenden Ge-
Wässer abdämmen und sie nöthigen, einen andern Dnrchbruch
und ein neues Bett zu suchen, ost zum Schrecken und Ver-
derben einzelner Ansiedler und ganzer Gemeinden.
In der Provinz Trujillo hatte es sich ereignet, daß ein
kleiner, unansehnlicher Waldbach plötzlich versiechte. Der
Fall gab den Landleuten, die sein Wasser zu trinken gewohnt
waren, viel zu denken und zn sprechen, führte sie auch wohl
aus die richtige Vermuthung der Ursache, nicht aber auf das
Gefährliche der Wirkungen, deren ungeahntes Verderben für
sie stündlich wuchs uud näher zog. Denn plötzlich öffnete
sich eines Abends, eiue Stunde vor Sonnenuntergang, eine
Felsenmauer, und aus ihr, der nie zuvor ein Tropfen Wassers
entsprungen war, drängte sich ein reißender Strom heraus;
schäumend stürzte er in die Tiese, blitzschnell, kaum vorher
bemerkt, schlugen unten seine Wellen zusammen, rissen Alles
mit sich, was in ihrem Sturze lag, — und als sie verlaufen
war, und nur die gewohnte Wassermenge wieder harmlos, aber
durch ein neues Bett hinabrieselte, waren mehr als zehn
Häuser mit ihren Anpflanzungen weggerissen, mehrere Men-
schen ums Lebeu gekommen, Thiere weggespült, und rings-
umher auf den: umgewühlten Boden lagen entwurzelte Bäume,
Feldgewächse, Felsentrümmer und Hausruinen durch einander
geschüttet. — Die Untersuchung ergab, daß die Oeffnung,
durch welche der alte Bach sich aus einer kleinen Hochebene
in das Thal hinabgezwängt hatte, durch entwurzelte Bäume,
Gestrüppe, Schlamm und Erdmassen gänzlich verkittet wor-
den war, so daß sich das zufließende Wasser seeartig ausge-
stauet und endlich durch feinen Druck die Eindämmung ge-
sprengt, aber einen andern als den bisherigen Ausgang ge-
snnden hatte.
Für die Gebirgsbewohner ist die Beachtung der gering-
sten Abweichungen von den täglichen Erscheinungen nnerläß-
von La Guayra nach Caracas. 335
lich, da dieselben ohne Ursache sich niemals verändern und
ihren Unregelmäßigkeiten meist verderbliche Störungen zu
Grunde liegen. Aber sie verstehen deren Zeichen auch wuu-
derbar genau; man möchte es instinctartig nennen, wie
sie mit denselben verkehren; jedoch die Scheu vor einer Ar-
beit oder Bemühung ungewöhnlicher Art, oder die Furcht vor
außerordeutlicheu Ausgaben hält sie meistens zurück, die Na-
turkräste zu ihrem eigenen Nutzen auszubeuten oder abzn-
halten. —
Die Folgen der Ruchlosigkeit, oder gelinde gesagt: der
Unbedachtsamkeit, mit welcher die ersten Eroberer und An-
siedler die Ausrodung der Wälder betrieben, stellen sich
bereits in der Bersiechuug der Gewässer und der daraus sol-
geuden Unfruchtbarkeit ganzer Gebirgsketten heraus; der Holz-
mangel, bis dahin noch nicht fühlbar, wird sich mit der Zeit
einst neben dem Wassermangel in den entwaldeten Gebieten
empfindlich bemerkbar machen. Eine Wiederansamung der
verödete» Gebirgszüge ist größtenteils unausführbar, da die
Dammerde und Boden- wie Atmosphärenfeuchtigkeit daselbst
verschwunden und die ersten Bedingungen des Feldbaues verlo-
ren sind.— Eine andere Rückwirkung der Waldausrottnngen
macht sich in plötzlichen und gewaltsamen Ueberschwem-
mnngen geltend, von denen die Gebirgsbewohner beständig
in dem ruhigen Besitze ihrer Häuser, Felder und Ernten be-
droht siud. Die Regeuuiederschlttge auf den Kuppen der
Gebirge stürzen, durch keinen Widerstand ausgehalten und
von keinem Waldgrunde aufgesogen, in wilden Wasserströmen
von dem nackten Gesteine nieder uud überfüllen das Netz der
kleinen Berggewäffer, die ihre angeschwollenen Fluthen durch
neu gebrochene Bahnen weiterwälzen. Die bewaldete Erd-
decke aber verhütet solche verderblichen Erscheinungen. Ihr
Laubdach ist vermöge der beständigen uud mächtigen Ein-
und Ausathmung des Wasserdunstes der beste Vermittler und
Erhalter des Feuchtigkeitsgleichgewichtes zwischen Erde und
Atmosphäre; sein Schatten erhält die Feuchtigkeit des Bo-
deus und verhindert deren Verdunstung durch die aussaugen-
den Sonnenstrahlen; dnrch den unausgesetzten Erzeugungs-
und Verwesungsproceß der angehäuften Vegetation verdickt
sich die Dammerdeschicht ans dem unfruchtbaren Gestein; diese
wieder saugt die atmosphärischen Niederschläge und Verdun-
stuugen der Lanbmassen auf und bildet ein großes Wasser-
reservoir, aus welchem sie ein geregeltes Netz vou fließenden
Wafsersäden durch das ganze Land leitet. Mag auch die
Atmosphäre durch die Wasserduustmengen, die der bewaldete
Boden an sich bindet, verdichtet und verdunkelt werden und
au Trockenheit Einbuße erleiden, mögen die Niederschläge
auch in beständiger Wiederkehr und in großen Mengen er-
folgen, so werden doch die Gefahren der Ueberfchwemmnngen
und der Entfrnchtnng des Bodens nicht hervorgerufen. Die
Dammerdeschicht mit ihrem Wurzelgeslechte, ihren Moosen und
Verwesungsstoffen, welche die Niederschläge ansammelt und
absorbirt, verhindert den schnellen, zu Strömen anschwellen-
den und abschwemmenden Sturz der Gewässer. Anders aber,
wo die Atmosphäre ihre Dünste auf kahle Felsmassen nieder-
schlügt, wo der Niederschlag keinen Widerstand sindet, in un-
gehemmtem Lause abfließt, sich in den Niederungen zerstörend
ansammelt, die geringe Erdkruste, welche die Zeit langsam
gebildet, schnell wieder abspült und, nachdem sein Wasser ver-
laufen, wieder Wafferarmnth uud Dürre hinter sich läßt.
Die üblen Folgen der unbedachten Entwaldungen treffen
nicht nur die Cordilleren oder die Bodenflächen, wo die ehe-
maligen Wälder gestanden, sondern auch die fruchtbareu Thä-
ler, welche die Cordilleren durchfurchen, und die benachbarten
Landflächen, wo auch uoch gegenwärtig der Ackerbau beson-
ders blüht. Die Atmosphäre ermangelt der hinreichenden
Feuchtigkeitsmeugeu, mit denen sie sonst ans den Wäldern
336 Franz Engel: Die Fahrstraf
gesättigt wurde und wiederum das ganze Ländergebiet tränkte;
nun aber müssen die fließenden Gewässer die zur Frucht-
gewinnung erforderliche Wassermenge hergeben. Es fragt sich,
ob Zufluß und Verbrauch des Wassergehaltes der Flußbecken
sich ausgleichen, — wenn nicht, so wird die Wasseroberfläche
sich immer mehr verringern, die Bewässerung spärlicher, der
Ackerbau in den gegenwärtigen Fruchtgärten mehr und mehr
eingeschränkt und endlich ganz verhindert werden. Und in
der That ist seit vielen Jahren eine beträchtliche Abnahme
des großen Sees von Valencia wie eine Austrocknung des
benachbarten fruchtbaren Thales von Aragua beobachtet wor-
den, die zum ernsten Nachdenken eine wohlbegrüudete Ver-
anlassung geben.
Die in Cnltnr genommene Erdscholle ernährt ihren Co-
lonen eine kurze Reihe von Jahren, 6 bis 8 oder 10 Jahre,
je nach der Beschaffenheit des Bodens und ohne alle Unter-
stützung durch Düngung; nach dieser Zeit bleibt der ausge-
sogene Acker liegen, und neben ihm wird eine andere Scholle
unbebauten Landes urbar gemacht. Zuweilen läßt der Co-
lone seine Hütte, die ihm so lange Obdach gewährt, zugleich
mit dem Acker liegen, zieht mit seinem geringen Haushalte,
mit Weib nnd Kind, mit seinen Hunden, Schweinen und
Hühnern nach einem andern Berge oder Thale, schlägt dort
in wenigen Tagen eine andere Hütte aus, und bleibt oder
geht, fo wie es ihm gerade gefällt; überall ist mit Leichtig-
feit und ohne schwere Erkausnng des Niederlassungsrechtes
die alte Stätte verlassen und die neue Stätte wohnlich —
je nach den Bedürfnissen — hergerichtet. Neben der Ba-
nane, die etwa bis zu 3000 Fuß Höhe gnt gedeihet, beut
Mais, der etwa 6000 bis 6500 Fuß hiuausteigt, wird
auf dem Gebirge der Apio (Appinm montanum), ein Ver-
wandter unseres Gartensellerie und der Petersilie, ein sehr
wohlschmeckendes, gelbes Wurzelgemüse, innerhalb eines Hö-
hengürtels von 4500 bis 9000 Fuß aufwärts, in einer
Durchschnittstemperatur, die uicht über 20° C. steigt und
uicht unter 12° C. sinkt, in ausgedehnter Weise angebaut;
die Wurzel bedarf acht Mouate zu ihrer vollen Ansbilduug;
jede Pflanze trägt einen Wurzelbüschel von 20 bis 30 dicken,
knollenartigen Wurzeln, die, der Erde entnommen, sich an
kühlen Lagerplätzen mehrere Wochen srisch erhalten. Zur
Aussaat schneidet man nur den obern Theil der Wnrzel ab,
an welchem eine Menge schlummernder Triebe (Augen) vor-
Händen siud. —
Mit vorrückender Morgenstunde belebt sich die Straße
mehr und mehr durch Züge von Karren, Saumthiereu und
Reitern; das Schellengeläute und die lauten, bald munter
jubelnden, bald zornigen Ausrufe der Arrieros, womit sie
den gleichförmigen Gang der Lastthiere zu beleben suchen,
melden schon aus der Ferne und Höhe die Annäherung der
einzelnen Lastzüge an. Höflich grüßend eilt der halbnackte,
muskelfeste, kräftig gebaute und von Lebenslust gehobeue Ar-
riero an dem Reiter vorüber, stets mit prüfendem, fcharfem
Blicke über seine Herde schweifend, um hier und dort dem
schmerzenden, verwundenden Drucke einer verschobenen Last
abzuhelfen, diesen Gurt zu lockeru, jenen anznstraffen, Hm-
dernisse aus dem Wege zu räumen, einen Zusammenstoß mit
entgegenkommenden Zügen zu vermeiden, kurz, überall mit
Auge und Hand bereit zu sein, die nie ruhen dürfen, um
Thiere und Frachten in gut erhaltenem Zustande an den Ort
der Bestimmung zu bringen.
Man gewahrt auf der Heerstraße außerordentlich kräftige,
schön gebaute, elastische Männergestalten, die, größtentheils
entblößt, deu vollen Eindruck der Schönheit menschlicher Kör-
perform und ungeschwächter Gesundheit hinterlassen. Mit
geflügelten Merkursfersen eilte die Fußpost in der Person
eines dunklen Mulatten von Caracas nach La Guayra hin-
von La Guayra nach Caracas.
ab, dessen langausgeholter, schwellender und mächtiger Schritt
lebhaft an das Märchen der Siebenmeileustiefel erinnerte;
ich hatte noch niemals einen Menfchen so ausschreiten und,
ohne zu traben, vorwärts eilen sehen. Oft prägen sich dem
Gedächtnisse die allergewöhnlichsten Dinge, die kaum einer
Erwähnung verdienen, aber eine besonders charakteristische
Gestaltung gewinnen, tiefer ein, als ungewöhnliche Erfchei-
nungen, die in Schrift und Wort hervorgehoben werden. So
mir jener Postbote; der fast nackte, muskelstraffe, schwellende,
elastische Körper; vollkommenes Ebenmaß und gesunde Kraft
und Rundung in allen Formen; die dunkle, im Firniß des
Schweißes glänzende, straffe Haut; der wohl berechnete und
beherrschte und doch gewaltig ausholende Schritt; der lauge
Stab mit der Lanze in der nervigen Faust, der deu rhythmi-
schen Schwung des Ganges unterstützt; das hochgerichtete
Gesicht mit dem Ausdrucke des Selbstgefühles, der Sicher-
heit und Kraft; der listige, kein Vertrauen erweckende, aber
keck herausfordernde Blick des dunklen, blitzenden Auges, —
ein Bild, das mir noch hente klar vor Augen steht.
Mit Absicht zeichnete ich dieses Bild, um das mit Vor-
liebe gepflegte, irrige Vorurtheil vou einer im Durchschnitt
geschwächten, entnervten und Siechthum athmeuden Leibes-
constitntion der südamerikanischen Creolen am treffendsten
zu widerlegen. Zutreffender ist jene Siechthnmsvorstellnng
in Bezug auf die europäischen Abkömmlinge in jenen
Ländern, auf die Mischlinge von Weißen und Mesti-
zen, auf dieTri-, Quadro- und Quintogenitos; diese
verrathen im Durchschnitte Schwäche, Schlaffheit
und Siechthum des Geistes und Körpers und Zwei-
dentigkeit des Charakters. —
Nach kurzem Aufenthalte in der Venia grande, noch 900
Fuß unter der Cumbre *) de Caracas, wo die von La Guayra
aufsteigenden und die von Caracas absteigenden Reisenden
eine kurze Weile zu rasten pflegen, um die Maulthiere und
Pferde ein wenig verschnaufen zu laffeu, wurde der Ritt
wieder fortgesetzt, um die letzten 900 Fuß bis zur Cumbre
aufwärts, und sodann wieder 2000 Fuß in das Thal von
Caracas hiuabzusteigeu. Die Region der Saftfülle und
der großen Blattdimensionen ist bereits überschritten; der
Banmwuchs wird geringer uud dünner; es hebt die Re-
gion der Gesträuche, der Stauden, der baumartigen Farrn
und der Orchideeu uud Bromelien feucht-kühleu Klimas an.
An Stelle der Bauane cultivirt der Landmann den Apio,
die Kartoffel, den Dominiks und andere Gemüse der gemä-
ßigten Zone (Sierra templada). Die Vegetationsübergänge
sind auf der Küstencordillere schroffer abgegrenzt, als aus
dem Audesgebirge im Binnenlande von Venezuela uud Neu-
grauada. Hier ist der Waldreichthum, mithin die Feuchtig-
keitsmenge uud die Dammerdeschicht größer und sich gleich
geblieben, wie ihn die Urzeit der Gegenwart überliefert hat;
der Pflanzenwuchs ist daher ein kräftigerer geblieben, der
Uebergang der Höhenzonen dnrch die gleichmäßigen Wasser-
dnnstmengen aus dem Gebirge mehr ausgeglichen, und mit-
hin ihre Einwirkung auf das Pflanzenleben weniger schroff.
Ein Höhengürtel, der den Baumwuchs auf der Küstenkette
von Caracas fchon abschließt, ist auf dem Gebirge von Me-
rida und Pamplona noch mit hohen Waldungen bedeckt.
Bon der Venta grande bis zur Cumbre wird der Weg
einförmiger als bisher; — auch die Sonne stieg höher und
brannte empfindlich, trotz der abgekühlten Luftschicht; in dem
lockern Gestrüppe und Bergsavanengrase schwankt im Lust-
zuge die Flor de Margarite (Epidendram floribundum)
in allen Farben auf ihrem langen, dünnen Stiele, dessen
*) Cumbre — die Spitze oder der Gipfel eines jeden einzelnen
Berges wie ganzer Gebirgszüge.
Wurzeln die Erde mehr berühren als darin haften; ihre grel-
len, leuchtenden und verschiedenen Farben machen sie zu einer
wahren Zierde der Gebirgssavanen.
Auf der Cumbre führt der Weg über eine schmale Hoch-
ebene; seiner vielen Biegungen halber las Vueltas genannt.
Im Verlaufe der Vneltas taucht plötzlich aus einem ebenen,
weiten Gebirgskessel, eingefaßt von lichtgrünen Pflanzungen
und dunkel bewaldeten Hügelketten, Caracas — die Geliebte
des Avilas — vor den frendig-überrafchten Blicken aus;
die Schönheit der Lage wirkt um so ergreifender, als das
weite, malerische Panorama unerwartet aus der ermüdenden,
kahlen Eintönigkeit der nächsten Umgebung hervortritt. Die
Bauart der Stadt bildet ein längliches Viereck mit langem
Schweife; ununterbrochen bergab feukt sich der Weg bis dicht
zu ihrem Eingange an dem langen, vorgeschobenen Häuser-
schweife, wo man, nach Entrichtung eines Wegegeldes von
einem Real am Thore, in das Bereich der Stadt eintritt.
Das Thor ist weit vor die ersten Häuser der Stadt hin-
ausgerückt; von dort schreitet die Senkung des Bodens noch
immer fort bis in die Stadt hinein. Die ersten, schlecht ge-
pflasterten und unbelebten Straßen führen an ärmlichen,
■ *) Caracas — am Fuße der Silla de ^Caracas oder des Avila —
wird in den venezuelanischen Poesien die Geliebte des Avila genannt.
n in China. 337
schmutzigen, nur von der untern Volksschicht bewohnten Häu-
sern vorbei; bald aber gewinnt die Stadt ein freundliches
und bewegtes Ansehen. Sie ist auf einem unebenen, abschüs-
sigen Bodeu erbaut, obwohl in nächster Nähe das Thal-von
Chacao eine ausgedehnte, vollkommen ebene Bodenfläche zur
Grundlage eines Stadtbaues darbietet. Die früheren Städte-
erbauer haben aber dem unebenen Boden vor dem ebenen den
Vorzug gegeben; denn die meisten Städte Venezuelas und
Neugrauadas stehen auf solchem Grunde, während in nnmit-
telbarer Nähe sich vollkommene Ebenen ausdehnen. Der
erste und hauptsächliche Grund zu solcher Bodenwahl ist ge-
wiß darin zu suchen, daß die ersten Städtegründer ihre Bau-
teu bereits vorhandenen Ortschaften oder Häufergruppen an-
schlössen, sodann lenkten sie zunächst, wie Alle, die sich allein
oder zusammen anbauen, ihre Fürsorge auf das fließende
Waffer, das erste von allen Lebensbedürfnissen ; der hügelige
Boden ist aber von Quellen und Bergwassern reichlicher durch-
rieselt als die Ebenen; das Graben von Brunnen nnd Lei-
tungscanälen überbot die anfänglichen Kräfte, die durch die
Befestigung und Hütung des erworbenen Besitzes aufgezehrt
wurden, uln sich inmitten aller noch unüberwältigten feind-
seligen Elemente behaupten und festen Fnß fassen zu können;
auch Gesundheitsrücksichten werden zur Ortswahl bei der
Städtegründung maßgebend gewesen sein.
Es ist eine beklagenswerte Thatsache, daß es dort überall
mit Ruhe, Frieden nnd Ordnung vorbei ist, wohin Missio-
näre kommen. Wir können diesen Zank und Streit über
den ganzen Erdball verfolgen. Selbst im hohen Norden
Amerikas, bis an die Küsten des Eismeeres, Hetzen protestan-
tische und katholische Sendboten einander wie Jagdhunde das
Wild und bringen Verwirrung in die Kopse der Indianer.
Auf den Inseln der Südsee, wo sie den Mädchen und Frauen
verbieten, Blumen ins Haar zu flechten, weil das „heidni-
schner Greuel" sei, und wo sie den Männern das Taback-
rauchen verbieten, weil „Gott daran ein Aergerniß nehme",
— dort machen sie einander Concurreuz iu der gehässigsten
Weise. Ueber die „unbefleckte Empsängniß", über Dreieinig-
keit, Sündenfall und dergleichen Phantasmen mehr haben
braune Polynesier, die als Protestanten nnd Katholiken ein-
ander gegenüberstanden, blutige Kämpfe gehabt. Als ob
jene Insulaner von solchen metaphysischen Abstraktionen etwas
verstehen könnten, und als ob dergleichen überhaupt zu irgend
etwas nütze sei!
In Südafrika bei den Hottentoten und Herero schleppen
die Missionäre Waffen ein und treiben Handel; sie tragen
keinen geringen Theil der Schuld an dem Racenkriege, der
neulich in diefen Blättern geschildert worden ist. Die Fehde im
Osten der Eapregion zwischen den holländischen Bauern und
denBasutos ist durch die Missionäre verbittert worden. In einer
andern Region Afrikas, im Lande Aoruba, wo „der Sonnen-
anfgang im Mohrenlande" angeblich so glänzend strahlte,
sind sie im Herbst 1867 aus Abeokuta vertrieben worden;
die schwarzen Leute wollten sie nicht mehr unter sich haben,
weil durch die Missionäre nur Unfrieden ins Land gekommen
sei. Unbefangene Beobachter sagen gerade heraus, daß alle
Missionsbestrebungen an der afrikanischen Küste zwar große
Summen Geldes verschlingen, aber absolut keine gesunden
Früchte bringen. Der Neger bete zwar und singe, es sei
Globus XIV. Nr. 11. (Deccmber 1868.)
en in China.
aber, und das hebt Richard Burton scharf hervor, ein söge-
nannter christlicher Neger allemal schlechter als ein nicht-
christlicher; Sierra Leone liefere dafür Beweist so viel man
nur haben wolle. Es ist für uns uicht auffallend, daß in
Abeokuta es gerade „Musterchristen" aus Sierra Leone wa-
ren, welche bei Austreibung der Missionäre eine Hauptrolle
spielten.
In Asien haben die Missionäre zu mehr als einem Kriege
Veranlassung gegeben; z. B. in Annan: und Korea. Der
König des erster« Landes ist Souverän; er hat das unbe-
streitbare Recht, zu bestimmen, wie es in seinem Lande zu
halten sei. Er kann von Jedermann verlangen, daß die
Landesgesetze beobachtet werden. Diese sind bekannt; wer
dagegen verfehlt, weiß genau, welche Strafe ihn trifft. In
Annam hatte man aus früheren Zeiten hinlängliche Erfah-
rungen gesammelt, und verbot ausdrücklich den Missionären
das Ueberschreiten der Grenzen und das Bekehren, das alle-
mal gleichbedeutend ist mit Erregung von Haß und Verach-
tung gegen die Landesreligion und den Volksglauben. Trotz-
dem schlichen die Missionäre sich ein, sie verachteten das
Landesgesetz und als sie dann dafür nach Vorschrift des Ge-
setzes bestraft wurden, fchrie man in Europa über „Barba-
rei". Der Mann des Decembergemetzcls in Paris, der sich
zum „Schirmherrn der katholischen Kirche in ganz Asien"
aufgeworfen hat, rüstete einen Flottenzug „im Interesse der
Religion und (Zivilisation" gegen Annam aus und ließ durch
seinen „Moniteur" laut vor der Welt feierlich verkünden,
daß er lediglich die Würde der Religion im Auge habe und
an Gebietserwerbungen nicht denke. Wir kennen die Folgen.
Der König von Annam hat, weil Missionäre, die sich heim-
lich und unter Verletzung der Gesetze ins Land schlichen, nach
landesüblichen Gesetzen bestraft wurden, nicht weniger als
sechs Provinzen — das ganze sogenannte Cochinchina — an
den Vertheidiger der Religion und Civilisatiou abtreten müssen-
43
338 Mssionärwt
Ganz ähnlich war die Veranlassung zu dem berüchtigten
Flottenzuge, welchen die Franzosen gegen Korea unternahmen
und wo sie eine Stadt in Asche legten, weil Missionäre für
Gesetzübertretungen die gebührende Strafe erlitten hatten.
Wer in Europa Gesetze übertritt, dem geschieht dasselbe, und
es ist geradezu widersinnig, asiatischen Fürsten einen Vor-
Wurf aus dem zu machen, was auch in europäischen Ländern
stattfindet.
Mit Waffengewalt erzwingt man Verträge, in denen
allemal festgestellt wird, daß die Missionäre freien Zugang
haben und ihre Lehre verkündigen dürfen. Gerade damit ist
der Keim zu unablässigen Zerwürfnissen uud Streitigkeiten
gelegt. Diese Missionäre verfahren allemal aggressiv
gegen eine Religion, welche mit dem Volke verwachsen ist,
und damit reizen sie implicite das Volk auf. Man nehme
einmal an, daß ein Brahmine oder ein Buddhist oder ein
Protestant etwa in Rom öffentlich aufträte, den Papst als
einen Jrrlehrer, den Katholicismus als ein Greuel, die Prie-
ster als unnütze Faulenzer oder gefährliche Fanatiker fchelten
wollte. Was würde solch einem Manne im christlichen Rom
geschehen? Was aber dem einen recht, ist dem andern billig,
und die europäischen Missionäre sind platterdings nicht be-
fugt, ein Privilegium für sich iu Anspruch zu nehmen.
In Japan und China sind gerade sie es, welche auch den
europäischen Regierungen Verlegenheit bereiten. Das Volk
in beiden Reichen reagirt begreiflicherweise gegen die aufge-
zwungenen Verträge. Würde in Europa jedes beliebige Volk
nicht etwa dasselbe thun? Mit dem Maße, damit ihr mef-
fet, wird euch gleichfalls gemessen werden.
In Europa uud Nordamerika wird für Missionszwecke
alljährlich eine Summe von mehr als 12,000,000 Thalern
eingesammelt. Daß die Erfolge mit diesem mächtigen Ko-
stenauswande nicht entfernt im Verhältniß stehen, ist bekannt.
Man tröstet das gläubige Publicum, welches zu zahlen hat,
für und für mit — Hoffnungen, bereit Erfüllung freilich
stets aus sich warten läßt. Missionärwerden ist in England
zu einer Art von Handwerk geworden, das seinen Mann
trefflich nährt. Berichte aus Indien und China (z. B. die
zu Hongkong erscheinende „Overland Mail" sehr oft) fchil-
dern das Wohlleben namentlich der hochkirchlichen Missio-
näre und ihrer Familien. Wir wollen hier auf die man-
cherlei Vorwürfe nicht eingehen, fondern vielmehr gern her-
vorheben, daß manche protestantische Sendboten der Wissen-
sch ast nützen und daß unter den katholischen namentlich die
Lazaristen von Eifer und Hingebung durchdrungen sind. Biel
ausrichten werden aber auch sie nicht. Veranlassung zu deu
vorstehenden Bemerkungen giebt uns ein Vorfall, der zu
Uang tscheu (Aauchow) sich ereignet hat und der englischen
Regierung Verlegenheit bereitet. Er ist in jeder Beziehung
charakteristisch.
Hang tscheu liegt am großen Kaisercanale, etwa 3 deut-
sche Meilen nördlich vom Mngtsekiang und etwas weiter eut-
ferut von Nanking und Tfchinkiang. Vor etwa 600 Iah-
ren war dort der berühmte venetianifche Reisende Marco
Polo Statthalter des mächtigen Mongolenherrschers Knblaü
Chan. Hier nun hatten sich Sendboten von der „Chinesen
Inland Society" angesiedelt und an ihrer Spitze stand ein
gewisser I. Hudson Taylor. Männer und Frauen der Mis-
sion hatten chinesische Tracht angenommen.
Diefe Inland-Missionäre wollten anfangs in Tfchinkiang
ein Haus miethen, das Volk mochte sie aber nicht haben nnd
die Ortsbehörde gab ihnen abschlägigen Bescheid. Jn Pang
tscheu dagegen gelang es ihnen, eine Wohnung zu bekommen.
Sie fingen an zu „arbeiten", wie der Kunstausdruck lautet.
Bald nachher wurden Maueranschläge gefunden, welche das
Volk aufreizten. Der Inhalt derselben war geradezu albern.
:en in China.
Sie stehlen, hieß es, Kinder, kochen dieselben und bereiten
aus dem Fett Arzeneien; sie schneiden den Leichen Herz und
Leber aus, um sie zu verzehren; sie flößen den Chinesen Zau-
bertränke ein, um sie dadurch in Europäer zu verwandeln.
Da die Missionäre die Religion der Chinesen für eine irr-
thümliche und verdammenswerthe erklärt hatten, so wurde,
um Gleiches mit Gleichem zu vergelten, in den Mauerau-
schlügen gefragt: „Wer ist denn das Vieh Jesus, welchen
sie predigen?"
Die Folgen blieben nicht aus. Das Volk verhöhnte die
Missionäre, schlug ihnen die Fenster ein und verübte aller-
lei Rohheiten. Dagegen wurde dem Fu, d. h. Präfecten,
zu Gemüthe geführt, daß die Missionäre vertragsmäßig
berechtigt feien, im Innern zu wohnen und ihre Lehre zu
predigen; der Beamte schritt jedoch nicht ein. Am 22. August
stürmte ein zahlreicher Volkshaufe das Haus, li?fte im untern
Stocke Feuer an und mißhandelte die Insassen; die Frauen
warfen in Angst ihre Kinder aus den Fenstern und fpran-
gen dauu hinterher; dem Missionär Reid wurde ein Auge
ausgeschlagen. Endlich gelang es, die solchergestalt Miß-
handelten und Verfolgten nach Tfchinkiang zu retten. Der
Chinese, welcher iu Dang tscheu den Missionären sein Haus
vraniethet hatte, wurde eingesperrt uud gemartert.
Nun begab sich Consnl Medhurst aus Schanghai nach
Tschinkiang und ließ den Kriegsdampser „Rinaldo" dort-
hin kommen. Die Aufregung hatte sich auch nach dieser
Stadt verbreitet, die Mandschnbesatznng meuterte; man drohete
die Wohnungen der Fremden zn zerstören und das Consn-
latsgebände niederzubrennen. Wahrscheinlich sind die Be-
Hörden an dieser Sache schuld; das Volk verhielt sich ruhig.
Medhurst ging ani 8. September nach Äjang tscheu, um mit
dem dortigen Präfecten zu verhandeln. Da er seinen Zweck
nicht erreichte, forderte er denselben ans, mit ihm nach Nan-
king zu kommen, wo man die Angelegenheit mit dem Vice-
könige verhandeln wolle. Der Präfect folgte in feinem Boote
bis Tsingkiang, machte sich aber dort aus dem Staube. Die
Chinesen mußten 4000 Thaler Entschädiguug zahlen, den
eingesperrten Hausvermiether freilasset: uud einen großen
Stein fetzen, dessen Inschrift befagt, daß die Fremden ein
Recht darauf hätten, in Aattg tscheu nnbelästigt zu wohnen.
Als aber der Dampfer „Rinaldo" nach Schanghai zurück-
gefahren war, widerrief der Vicekönig seine Zugeständnisse,
wurde hartnäckig und hochmüthig, wollte nur 2000 Thaler
Eutschädiguugsgeldcr bewilligen und den eben erwähnten Stein
nicht aufrichten lassen. Medhurst gittg also unterrichteter
Dinge nach Schanghai zurück und übergab die ganze Ange-
legenheit dem britischen Gesandten Rutherford Alcock.
Der Viceköuig ließ übrigens in Tfchinkiang eine Pro-
clamation anschlagen, welche besagte, daß die Missionäre ein
Recht hätten, im Innern zu wohnen, und daß es Pflicht der
Beamten fei, ihnen zu einem Obdache zu verhelfen. Das
Volk seinerseits heftete eine Gegenproclamation an, in der
es heißt, solche Wohnungen werde man nicht nur niederbren-
nett, sondern auch den Vermiether und die Insassen in die
Flammen werfen. Jedem Beamten, welcher zur Vermiethung
eines Hauses an die Missionäre behülflich fei, werde man
seine Wohnung über dem Kopfe anzünden. In Schanghai
fand man Maneranfchläge mit wilden Drohungen gegen die
katholischen Missionäre, gegen welche dann der Taotai, Statt-
Halter, eine Proclamation der Mißbilligung veröffentlichte.
Das geschah auf Andringen des französischen Generalconsnls.
Alle diese Demonstrationen sind lediglich gegen die Mis-
sionäre gerichtet, nicht etwa gegen die Ausländer im
Allgemeinen. Wahrscheinlich ist das eigentliche Volk da-
bei nicht betheiligt und die Opposition geht von den wissen-
schaftlich gebildeten Classen aus; von Leuten, welche die
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Die neuesten Ansichten über die Höhe der Erdatmosphäre und über den Himmelsäther.
339
Staatsprüfungen bestanden haben und entweder Mandarinen
(Beamte) sind oder werden wollen. Diese sind insbesondere
den Missionären feindlich; sie fürchten den Einfluß der letz-
teren auf die Bekehrten. „Es erregt auch großes Aergerniß,
daß diese in so heftiger Weise- ansfallen gegen die Ver-
ehrung der Vorfahren, welche allen Chinesen theuer ist
und eine Hauptgrundlage ihres ganzen gesellschaftlichen Lebens
bildet. Die Missionäre eifern dagegen, weil sie „Götzendie-
nerei" sei, und laufen damit Sturm gegen jene Grundlage.
Das will nun der Chinese nicht dulden. Die Missionäre
gehen höchst unverständig zn Werke; sie versöhnen nicht, sie
erbittern nur."
Die „Times" (4. December) nimmt Veranlassung, den
Engländern einmal nackte Wahrheiten zn Gemüthe zn fUH-
ren. Das Mifsionürwefen, welches sich über die ganze Welt
ausbreite, sei zu einer Quelle großer politischer Verlegenhei-
ten geworden. Es kann, sagt das Weltblatt, jeden Tag vor-
kommen, daß die Vertreter der englischen Negierung in frem-
den Ländern oder Häfen aufgefordert werden, ihre Unter-
stützung Leuten augedeiheu zu lassen, die sich auf eigene Faust
und ohne vorher den Staat um Rath gefragt zu haben, in
allerlei Unternehmungen einlassen. „Wir sind schon mehr-
umls in große Ungelegenheiten durch Personen gekommen,
welche Schleichhandel trieben und fremde Staaten nm die
Zollgebühren betrogen; wir möchten aber nicht außerdem in
unangenehme Verwickelungen gerathen durch Menschen, welche
eS darauf abgesehen haben, den uralten Glauben eines Vol-
kes zu untergraben und die eigenthümlichen Einrichtungen
eines Reiches zu zerstören. Das Evangelium des Friedens
darf keine Veranlassung zum Kriege gebeu; auch steht uicht
geschrieben, daß die Apostel Heere und Flotten verlangt hät-
ten, um ihren Glauben zu verbreiten. Sie gaben keinen
Anlaß zu blutigen Kriegen und riefen nicht das Feuer vom
Himmel herab zur Vernichtung derer, welche ihnen nicht
glaubten. Wenn wir dagegen lesen, daß heut zn Tage Leute,
deren Beruf es ist, zu beten und zu predigen, Kanonen ver-
langen, um Städte zu bombardiren, so finden wir das in
hohem Grade anstößig und sagen uns, daß hier nicht Alles
in Ordnung sei."
Diese Missionäre versuchen mit Gewalt bald in die eine,
bald in die andere Stadt einzudringen. Man weist sie zn-
rück; endlich finden sie in Aang tschen ein Unterkommen und
fangen ihr Bekehrungswerk an. Was sie gepredigt haben,
erfahren wir nicht, wohl aber tritt der Antagonismus zwi-
scheu dein einheimischen und dem fremden Systeme sofort
scharf zu Tage. Die Chinesen mögen es nicht leiden, daß
von Eindringlingen gegen ihren Glauben und gegen ihre ge-
sellschaftlichen Einrichtungen Sturm gelaufen werde. Im
Handel und im Kriegswesen ist ihnen der Ausländer über«
legen, — was soll werden, wenn er auch Glauben, Sitte,
die Grundlagen der Gesellschaft und der Etikette, unterwühlt?
Man ruft die Vertreter der britischen Regierung zum Ein-
schreiten in die Händel ans uud eiu Dampfer mit Kanonen
erzwingt Zugeständnisse; die Kirche triumphirt, aber die ab-
gezwungenen Zugeständnisse werden hinterher wiederrufen.
So viel ist klar, daß in Uang tschen, der Stadt Marco Po-
lo's, das Evangelium der Liebe nur mit Hülfe von Kanonen
Eingang finden könnte.
In China wie in Japan haben die Missionäre unseres
Glaubens allezeit in weitem Umfange selber dazu beigetra-
gen, daß sie nichts ausrichten. Es steht die Thatsache fest,
daß sie selber daran Schuld sind durch ihr höchst unkluges
Benehmen und durch ganz extravagante Forderungen. Es
möge auch wieder daran erinnert werden, daß derKrieg gegen
Abyssinien ans der politischen Jndiscretion mancher Missio-
näre entsprang. Es nützt nichts, daß wir das System der
Nichtintervention proclamiren und das Recht einer jeden Na-
tion, ihre eigenen Angelegenheiten nach Belieben zu ordnen,
anerkennen, wenn wir zu jeder beliebigen Zeit veranlaßt wer-
den können oder sollen, in Händel uns einzumischen, welche
die Missionäre haben, also Lente, über deren Charakter, Aus-
wähl, Discipliu und Verfahrungsweife die britische Regierung
keine Controle hat und von denen sie überhaupt nichts weiß.
Die Regierung kann wohl ihre Diener und Beamten dazu
anhalten, daß sie internationale Höflichkeit, angemessenes Be-
nehmen und gesunden Menschenverstand beobachten; sie dürfen
im fremden Lande nichts thun, was in der eigenen Heimath ver-
boten ist. Wenn ein Anhänger der Lehre des Confucius hier in
London aufträte, öffentlich Schmähungen gegen unfern Glauben
ausstieße, das Buch verdammte, welches diesen Glauben enthält
und sich in Ausfällen erginge gegen die Männer, welche den-
selben predigen, — würde er dabei nicht etwa übel fahren?
Mit harten und herben Worten setzt man schwerlich einen
Glauben an die Stelle des andern, und harte Worte fallen
oft empfindlicher als harte Schläge. Die englischen Missio-
näre verspotten und beleidigen das Gefühl, welches in der
Seele des Chinesen am tiefsten eingewurzelt ist und welches
die Grundlage ihres Religions- und Moralsystems bildet.
Es ließe sich, so schließt die „Times", nicht verantwor-
ten, wenn das britische Volk in einen Zwist verwickelt wer-
den sollte, dessen Veranlassung eine so widerwärtige ist und
der kostspielig genug werden könnte.
Die neuesten Ansichten über die Höhe der Erdatmosphäre nnd über
den Himmelsäther.
Von Dr. Heinrich Birnbaum.
III.
Die Fortsetzung unserer Untersuchung bezieht sich auf die
sogenannteSpcctralanalyse, eine Entdeckung der neuesten
Zeit, welche besonders im Gebiete der Erforschung der Natur
der Himmelskörper schon jetzt vortreffliche Dienste geleistet
hat, aber auch Hoffnung giebt zu einer noch viel größern
Zukunft. Es ist daher uöthig, ein leicht faßliches Wort dar-
über zur Mittheilung zu bringen.
Wenn das Sonnenlicht durch eiu Prisma gebrochen wird,
so zerlegt es sich in das den Alten schon bekannte schöne
Faröenspectrum, welches aber erst von Newton genau
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Die neuesten Ansichten über die Höhe der Erdatmosphäre und über den Himmelsäther.
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untersucht wurde, und dann die Grundlage zu seiner berühm-
teu Farbenlehre bildete. Die weitere Entwickelung dieser
Lehre führte im achtzehnten Jahrhundert zur Coustructiou
nud immer höher gesteigerten Verbesserung der achromati-
scheu Fernröhre und Mikroskope. Aber erst 1802 machte
man am Farbenspectrum selbst eine gauz neue Entdeckung.
Der uns schon bekannte NaturforscherWollaston fah näm-
lich darin zwei schwarze Sonderüngslinien. Erregte nun
diese erste Wahrnehmung unter den Männern von Fach schon
viel Interesse, so wurde dasselbe aber noch gewaltig höher
gesteigert durch Frauenhofer's feinere Untersuchung. Er
beobachtete das Spectrum mit Hülfe eines guten Fernrohrs
und sah nun sogleich, daß die beiden Wollaston'schen schwar-
zen Sonderungslinien sich in mehr als hundert einzelne auf-
lösten, wozu bald noch mehrere neue hinzukamen; bei allmälig
gesteigerter Vergrößerung unterschied er zuletzt an 600 sol-
cher Linien. Er gab davon ein sorgfältig beschriebenes und
ausgemessenes Bild. Diese Franenhoser'schen Linien haben
nun die Gelehrten sehr gefesselt, man brachte ihre Zahl zu-
letzt bis zu 3000, strengte sich aber vergebens an, die ver-
anlassende Ursache befriedigend angeben zu können. Durch
Wheatstoue, Brewster und Andere war zugleich in Er-
fahrung gebracht, daß nicht bloß verschiedene Lichtquellen ver-
schiedene Spectra zeigten, sondern auch eine merkliche Aende-
rnng in den schwarzen Sonderüngslinien veranlagen, ja
einige Farbenbilder die schwarzen Linien gar nicht blicken
ließen. Ein Versuch von ihnen siel aber ganz besonders auf.
Sie hatten einst mit Hülse der Spiritusflamme ein sehr
schwaches Farbeuspectrum ohne wahrnehmbare Sonderungs-
linien zum Vorschein gebracht und rieben nuu den Docht der
Lampe etwas mit Kochsalz ciu, um ein kräftigeres Spiritus-
licht zu erzeugen; da ereignete sich das wunderbare Schauspiel,
daß das ganze vorhergesehene Spectrum wie ausge-
löscht erschien und davon nichts^weiter übrig ge-
blieben war als ein eiuziger gelber Farbenstreif.
Die gelbe Farbe der Spiritnsflamme schien so überwiegend
vorzuherrschen, daß im Spectrum nur diese Farbe noch ge-
blieben war, alle anderen hatten sich dagegen in ein färb-
loses Schwarz zurückgezogen.
Diese und einige andere damit verwandten Wahrneh-
mungen waren gemacht, als Bunsen und Kirchhof in
Heidelberg sich vereinigten, den Gegenstand noch genauer
zu erforschen. Sie experimentirten mit Glück und wurden
sehr rasch zu einer ganz neuen Welt von Entdeckungen ge-
führt, welche die Grundlage zu der jetzt allgemein angestann-
ten Spectralanalyse abgegeben hat. Die erste Mitthei-
lung darüber trat 1861 an die Öffentlichkeit. Sie über-
zeugten sich zunächst davon, daß ein bloß glühender einfacher
Körper, wie z. B. der Platindraht, welcher den Schluß einer
Voltaischen Säule bildet, immer nur ein Farbenspectrum
ohne die schwarzen Sondernngslinien zum Vorschein
brächte. Sobald aber ein solcher Draht nicht ganz rein,
sondern nur die geringste Spur von Salzwasser oder eine
andere Natriumverbindung an sich trug, so bildete sich^ine
charakteristische Fraueuhofer'fche Linie in dem Gelb des Spec-
trnms. Diese schwarze Linie in dem Gelb fehlte wieder, wenn
der Draht ganz sorgfältig gereinigt war, aber sie stellte sich
jedesmal ein, wie unendlich wenig von der Natriumverbindung
auch hinzugebracht wurde. Sie überzeugten sich also voll-
kommen davon, daß das gelbe Licht des Natriums in dem
Farbenspectrum des glühenden Platindrahtes genau immer
seine eigene Farbe auslösche. An diese erste Entdeckung
reihete sich nun rasch eine sehr große Anzahl anderer, wo-
von die eine immer noch wunderbarer war als die andere.
Man kam dann sehr bald zu der Ueberzeugung, daß alle
im Feuer flüchtigen Stoffe im Platinspectrnm eine charak-
teristische schwarze Sonderungslinie in einer bestimmten
ihnen entsprechenden Farbe erzeuge und zwar so regelfest,
daß man umgekehrt aus deu charakteristischen Sonderungs-
linien mit Sicherheit wieder auf die Stoffe selbst zurück-
schließen konnte. So konnte also dadurch in unzählig vie-
len Fällen die qualitative Analyse vertreten werden, woher
denn auch der Name Spectralanalyse kam. Mau kann
sich leicht denken, mit wie lebhaftem Eifer die Chemiker und
Physiker diefe neue Entdeckung verfolgten und wie der Ge-
genstand rasch weiter und weiter entwickelt wurde. Auf ein-
mal hatte man nun ein klares Licht über die Ursache der
Frauenhofer'schen Linien imSonnenspectrum. Der glü-
heude einfache Sonnenkörper trat an den Platz des glühenden
Platindrahtes und die charakteristischen schwarzen Linien deu-
teten auf'die iu der Sounenatmosphäre flüchtig gewordenen
Stoffe: Kalium, Natrium, Calcium, Strontium,
Eisen n. s. w. Uebrigens stellte das Drnmmondslicht,
wobei ein Kreidecylinder in der Hydro-Oxygen-Gasflamme
so intensiv glühet, daß ein dem Sonnenlichte ähnliches ent-
steht, ebenfalls wie der glühende Platindraht ein Farben-
fpectrum ohne Fraueuhofer'fche Linien dar, und es ließen
sich damit ganz dieselben Versuche durchführen. Dasselbe
galt auch von dem elektrischen Kohlenlichte, von dem mit
Hülfe des Bnnfen'fchen Brenners vollkommen verbrennen-
den Leuchtgase uud mehreren anderen Stoffen; es war stets
nur nöthig, daß dabei ein nicht flüchtiger Stoff glühend
leuchte, oder daß dabei das Leuchten rein nur auf dem Acte
einer chemischen Verbindung zu einem einzigen Stoffe be-
ruhete, wie bei Wasserstoff und Sauerstoff u. s. w.
Kehren wir nun wieder zu der Wollaston'scheu Ein-
rede gegen Laplace's Atmosphärentheorie zurück. Er hatte
uicht bloß bei der Sonne, sondern anch bei dem Jupiter
keine Spur einer Atmosphäre durch die Wirkung der Strah-
lenbrechung wahrnehmen können, und leugnete daher die Ge-
genwart der Atmosphäre bei diesen Himmelskörpern. Man
hat nun aber das Licht des Jupiter mit Hülfe der Spec-
tralanalyfe untersucht uud aus dem Farbeuspectrum ohne
Frauenhoser'sche Linien geschlossen, daß dieser Himmels-
körper sich noch in einem glühenden Zustande befinde. Zn
diesem Resultate war unter Anderen Zöllner gekommen
und sprach es in seiner 1865 erschienenen Schrift — „Photo-
metrische Untersuchungen mit besonderer Rücksicht auf die
physische Beschaffenheit der Himmelskörper" — ganz ent-
schieden ans. Wird nun hierauf Rücksicht genommen, fo
heben sich die Wollaston'schen Zweifel ganz auf dieselbe
Weise wie die bei der Sonnenatmosphäre. Auch dürfen wir
hier nicht unerwähnt lassen, daß schon Wilhelm Herschel,
der Vater, an dem Jupiter sowie an dem Saturn Ver-
Änderungen beobachtete, welche unverkennbar auf das Bor-
handeusein der Atmosphäre dieser Planeten schließen ließen.
Daß Venus uud Mercur Atmosphären besitzen, ist durch
den emsigen Himmelsforscher Schröter schon vor 50 bis
60 Jahren außer Zweifel gestellt. Der Mars, welcher in
vielfacher Hinsicht mit unserer Erde genau übereinstimmende
Eigenschaften hat, besitzt auch gerade wie diese eine Atmo-
fphäre, worüber besonders Mädler fleißig geforscht hat.
Von dem Uranus und Neptun können wir in dieser Hin-
ficht durch unmittelbare Beobachtung nichts Bestimmtes in
Erfahrung bringen, da ihre große Entfernung von der Sonne
ihnen nur eine gar zu geringe Lichtstärke zu Theil werden läßt.
Die neu entdeckten hundert kleinen Planeten zwischen Mars
und Jupiter sowie die sämmtlichen Nebenplaneten des In-
piter, Saturn, Uranus und Neptun sind alle zn klein,
als daß mau dabei auf eine wahrnehmbare Spur ihrer Atmo-
fphäre rechnen könnte. Doch haben wir schon bei nnserm
Monde gesehen, daß wir eigentlich gar kein Recht haben, seine
Die neuesten Ansichten über die Höhe der
Atmosphäre bloß deßwegen zu leugnen, weil dieselbe auch mit
dem best bewaffneten Auge nicht wahrgenommen werden kann,
und ganz dasselbe wiederholt sich bei sämmtlichen Planetoi-
den und Satelliten. Fassen wir nun das Ganze noch einmal
in Ems zusammen, so haben wir vollen Grund, bei allen
Himmelskörpern eine Atmosphäre als wirklich vorhanden an-
nehmen zu können, so daß die Laplace'sche Anschauung in
dieser Hinsicht nicht in Zweisel zu ziehen ist. Aber dennoch
besteht der Kampf noch fort, denn die Anhänger der Gegen-
Partei sind auch nicht müßig gewesen; sie können sich von
dem Glauben an den Himmelsäther nicht trennen und
haben es nicht an Versuchen fehlen lassen, welche beweisen
sollen, daß die Atmosphäre unserer Erde für sich allein be-
stehe und ihre obere Grenze besitze, welche wenig mehr als
zehn Meilen Höhe habe.
Aus unserer obigen Begründung ist offenbar die La-
place'sche obere Grenze der Erdatmosphäre eine ganz an-
dere als die Gegner darunter verstehen wollen. Denn dort
hört die atmosphärische Luft als solche noch nicht auf, sondern
nur die specielle Beziehung zur Erde; währeud hier ein wirk-
liches Aufhören der Erdenluft und das Anfangen des luft-
leeren Weltenranmes angenommen wird. Dort ist die Hy-
pothese des Himmelsäthers eine bloße Phantasiedichtung,
während er hier für eine der Wahrheit und Wirklichkeit ent-
sprechende Nothweudigkeit gehalten wird. Die beiden Par-
teien stehen alfo noch auf schloff gesonderten Standpunkten,
und es ist vor der Hand gar wenig Aussicht zur Eiui-
guug oder auch nur zur Vermitteluug. Bei der Umschau
nach anderen Ansichten, die in dies Gebiet fallen, kom-
men wir auf eiue, welche der scharssinnige Genfer Natur-
forscher de la Rive ausgefouuen hat und wohl verdient,
beachtet zu werden. „Wenn unsere atmosphärische Luft,"
sagt er, „eine obere Grenze hätte, so müßte sie daselbst eine
expansive Flüssigkeit ohne Expansion bilden, denn mit
einer solchen Spannkraft müßte dieselbe sich ganz ohne
Grenze ausdehnen und in den unendlichen Weltenraum zer-
streuen." — Zu der ersten Annahme kann er sich nun gar nicht
gut verstehen, weil dafür durchaus keine Erfahrung paffen
will; denn wie weit man die Verdünnung 'der atmosphäri-
schen Luft auch getrieben habe, so sei man doch nie an eine
wirkliche Grenze der Expansion gelangt. Das ist vortrefflich.
Aber nun kommt die andere Seite seiner Betrachtung, wo-
nach es ihm unmöglich fällt, anzunehmen, daß die atmofphä-
rische Luft eine grenzenlose Ausdehnung und Verbreitung
durch den unendlichen Weltenraum besitzen solle. Er hat
eine wahre Scheu diesen Gedanken zum Abschluß zu bringen.
Das ist nun sehr zu beklagen und um so mehr, als derselbe
so allgemein geschätzte klare Denker sich wieder gar keine Ge-
wissensscrnpel daraus macht, die Existenz des Aethers für-
wahr zu halten. — Doch giebt es auch noch andere Ge-
lehrte von Fach, welche die Sache weniger gewissenhaft ab-
wägen, welche sie geradezu als ihr Glaubeusbekeuntniß hin-
stellen, und sagen, daß die Expansion der atmosphärischen
Luft ebenso ihre Grenze haben müsse, wie die Dämpfe und
nichtpermanenten Gase. Das ist eiue Behauptung, welche
der exaeten Erfahrungsnaturlehre viel weniger als dem Plnm-
Pen Durchhauen des Gordischen Knotens angehört, und zu-
gleich sehr au die wunderliche Logik des Simplicius in
den Dialogen des Galilei erinnert; es sieht aus, als wenn
die andere Ansicht ein Verrath an ihrem alten Glauben
wäre, der doch bei Lichte besehen gar nicht viel mehr als ein
Aberglauben ist, denn er stützt sich ans das Fürwahrhalten
des Aethers, einer Materie ohne Schwere, ohne Adhä-
sion und Cohäsion. Um aber nicht mißverstanden zu
werden möchte es wohl nöthig sein, etwas näher in die Sache
einzugehen; wir wollen daher noch ein kurzes Wort der Er-
Erdatmosphäre und über den Himmelsäther. 341
fahrung über die Grenzen der Expansion der Dämpfe zur
Mittheiluug bringen.
Faraday, der große selbständige Denker- und eifrige För-
derer aller Zweige der cxacten Naturwissenschaften, hat diesen
Gegenstand zuerst zur Sprache gebracht und zwar mit so
einfachen Versuchen, daß jeder Gebildete sie mit Leichtigkeit
sogleich begreifen kann. Er nahm eine langhalfige Glas-
slasche, auf deren Boden im Innern sich einige Tropfen
Quecksilber befanden und wobei der festverfchließcnde Kork ein
Goldschaumblättchen trug, welches einige Linien tief im Halse
der Flasche frei hinabhing. Da zeigte sich nun, daß im
Sommer die Quecksilberdämpfe bis zu dem mehr als fußhoch
über dem Boden der Flafche befindlichen Goldschaumblättchen
hinausragten nnd dasselbe angriffen, daß sie dagegen im Win-
ter uicht so hoch emporstiegen und das Blättchen ganz nn-
versehrt ließen. Die Quecksilberdämpfe besitzen also eine be-
grenzte Expansion, welche bei Abnahme der Temperatur sich
ebenso stark zusammenzieht wie sie bei gesteigerter Tempera-
tnr sich mehr ausdehnt. — Ganz ähnliche Resultate er-
langte er auch, wenn er statt Quecksilber coneentrirte Schwe-
felsäure und dann statt Goldschaum Zinkfolie nahm. Er
ersann Apparate, welche weit besser zu genauem Ausmessen
paßten, und kam dann znletzt zu der Ueberzeuguug, daß alle
dampfförmigen Stoffe und nicht permanenten Gase
eine begrenzte Ausdehnung haben nnd daß diese
ganz vorzugsweise von dem Grade der Temperatur
bedingt ist. Das ist ein durch Erfahrung bewahrheitete
Satz. Wie man denselben jedoch so ohne Weiteres auch mit
aus die permanenten Gase und besonders mit auf unsere
atmosphärische Luft hat ausdehnen wollen, ist kaum zu be-
greifen, da alle und jede Erfahrung dafür fehlt, und die
berühmten Versuche vou Arago und Anderen ganz entschie-
den dafür sprechen, daß an ein Begrenztsein oder rich-
tiger an ein Nullwerden der Expansion unserer
Atmosphäre gar nicht zu denken sei. Das Streben
unserer Lust, sich auszudehnen, das ist die Expansion der-
selben, steigert sich bei gesteigerter Zusammenpressung und
erhöheter Temperatur bis ins Unendliche, so wie dieselbe
ganz ohne Aushören kleiner nnd kleiner wird bei verminder-
tem Drucke und erniedrigter Temperatur; es ist also weder
dort uoch hier je an eine Grenze zu denken. Aber auch selbst
Faraday hat nicht entfernt daran gedacht; er spricht es
ganz entschieden aus, daß sein Erfahrungssatz nur für Dämpfe
und dampfartige Gase passe, aber nicht für die permanen-
ten Gase. Dies ist die Anschauung, welche mit ihm auch
Berzelius, Biot, Gay-Lussac, Arago und Andere haben.
Allerdings vermuthete man wohl, daß das Mariotte'-
sche Gesetz, wonach die Luft iu eben dem Verhältnisse ver-
dichtet werde als sie mit Atmosphären gedrückt wird, seine Be-
grenzung haben müsse, es war aber doch nicht möglich, dieser
Vermuthung irgend eine Erfahrungsgrundlage zu geben. Auch
hatte man für diese Vermuthung keinen andern Grnnd, als
die Schen vor großen Zahlen, und daß ohne diese Grenzen
die Lnst zuletzt eine größere Dichte annehmen müsse als selbst
Platina, der dichteste aller festen Stoffe. So müßte z. B.
nach diesem Mariotte'schen Gesetze die atmosphärische Luft 10
Meilen tief unter der Oberfläche der Erde schon 15 Mal so
dicht als Wasser sein, also größere Dichtigkeit wie das Queck-
silber haben. Allerdings wäre dies ein Resultat, das man
nicht gut ohne Bedenken für wahr halten könnte, aber was
berechtigt oder nöthigt uns denn dazu, fo tief im Innern der
Erde uoch atmosphärische Lust unter dem freien Einflüsse des
atmosphärischen Druckes anzunehmen? — Offenbar hat auch
diese Art der Untersuchung wenig oder gar nichts zn thun
mit der, die uns interessirt, nämlich mit der Verdünnung
der atmosphärischen Lnst bis ins Unendliche, wobei wir uns
342
Die türkische Verwaltung unfr die sittlichen Zustände in der Provinz Bagdad.
auf einem stets denkbaren und ausführbaren Gebiete be-
finden. Wir bleiben bei größeren und größereu Höhen im-
mer im Luftkreise, worauf dann nichts Anderes als eine noch
höher hinaufragende Atmosphäre drückt; das ist eine Be-
trachtung, an welche wir uns durch den Begriff der Un-
endlichkeit des Weltenranmes schon längst gewöhnt haben.
Wenn nach dem Mariotte'schen Gesetze in 10 Meilen Höhe
die Dichte der Luft nur noch 0,00015«; von der an der Ober-
fläche der Erde besitzt, oder in 30 Meilen Höhe die Luft
schon */4 Billion Mal dünner ist als die wir gewöhnlich
athmen, so kann man sehr natürlich die außerordentliche Klein-
heit der Zahlen anstaunen, ist aber durchaus nicht berechtigt,
das Gesetz dieses Staunens wegen schon in Zweifel zu ziehen.
Man überschreitet dabei in keinem Punkte das Reich der
Wirklichkeit und Möglichkeit, und besitzt in der Welt der Fix-
sterne und der- daraus gebildeten Nebelregionen ein schon
längst nicht mehr bezweifeltes Seitenstück der Unendlichkeit.
Dagegen ist es eine gar nicht zn rechtfertigende Willkür,
daß man zu. der Annahme des Aethers schritt, dessen Exi-
stenz durch nichts bewiesen ist, und demselben Eigenschaften
andichtete und absprach, rein nur zu dem Zweck, um eine
handgreifliche Erklärung der Lichtphänomene geben zu kön-
nen. Das war ein Verfahren, wogegen sich schon vor zwei
Jahrhunderten Newton erklärte, weil es dem rationalen
Sinne eines Naturforschers direet entgegenlaufe, denn die-
ser dürfe bei dem Erklären eines Phänomens keine
anderen Ursachen znHülfe nehmen als solche, deren
Vorhandensein Niemand bezweifele. Und Zöllner
spricht dies in seiner Physik der Himmelskörper noch entschie-
dener so aus: „Bei den Untersuchungen über die
physische Beschaffenheit der Himmelskörper dürfen
zur Erklärung der beobachteten Phänomene nur
folche Kräfte nndErscheinnngen vorausgesetzt wer-
den, deren Analogien man anch auf der Erde zu er-
forschen und zu beob achten Gelegenheit hat. Man
muß bei allen Untersuchungen über die physische
Beschaffenheit der Himmelskörper von der Anficht
ausgehen, daß die allgemeinen und wesentlichen
Eigenschaften der Marerie im unendlichen Räume
überall dieselben sind." — Genau auf denselben Stand-
punkt muß sich jeder Naturforscher stellen, dem die Wahrheit
und Wirklichkeit höher steht als aller Glanz in der Anffin-
dung und Aufstellung sublimer Hypothesen, und wir loben
in die^r Hinsicht auch ganz besonders den Herrn Mci-
baner, der in seiner soeben erschienenen Schrift — „Ueber
die physische Beschaffenheit der Sonne I, und über die No-
vemberschwärme der Sternschnuppen II" — das Zöllner'-
sche Priucip ganz zn dem semigen macht. Diese Männer
und ihre Anhänger, deren Zahl schon fetzt sehr bedeutend ist,
werfen natürlich den Himmelsäther über Bord, weil sie in
ihm keine Wahrheit, sondern nur Dichtung erkennen, welche
nicht für die Wirklichkeit paßt. Sie sind es aber anch,
welche dafür unserer atmosphärischen Luft mit ganzer Ent-
schiedenheit das Wort reden. Darüber sollte man sich auch
nun recht aufrichtig freuen und eifrigst zugreifen, um zu
beweisen, daß unsere ehrwürdige, allgemein gekannte atmo-
sphärische Erdenluft in ihren höchsten Stnfen der Verdün-
nuug auch vollkommen im Stande sei, die Phänomene von
Licht und Wärme, von Magnetismus, Elektrieität
und Galvanismus befriedigend zu erklären.
Die türkische Verwaltung und die sittlichen Zustände in der Provinz
Bagdad.
Die durch und durch verdorbenen Paschas und Effendis,
welche die hohe Pforte und das Ministerium ausmachen, wissen
wenig, was in den Provinzen Noth thut und kümmern sich
auch gar nicht darum. Indem sie lediglich ihre persönlichen
Interessen verfolgen und nur dafür forgeu, daß sie bis an ihr
Lebensende üppig und in Freuden schwelgen können, behan-
deln sie die Staatsangelegenheiten nur nebenbei als Mittel
zu ihrem Zwecke; was nicht direet mit ihrem theuern Ich
verbunden ist, lassen sie gewissenlos verderben. Höchstens
suchen sie den Sultan und die europäischen Gesandten in
Konstantinopel selbst durch einen Anschein von Ordnung und
gntem Willen zu täuschen; was aber jenseits der Berge vor-
geht, beschäftigt sie nur insofern, daß sie immer neue Gewalts-
maßregeln ersinnen, um die Geldsendungen von dorther all-
jährlich etwas zu vermehren. Der Rest ist ihnen gleichgül-
tig. Keine Straße, keine Brücke, keine gemeinnützige An-
stalt wird gebaut, kein Canal gegraben, kein Wald geschont,
kein die Gewerbe, den Handel und den Ackerbau beschützendes
Gesetz erlassen und vollzogen. „Stehle wer kann, doch lasse
sich Niemand auf der That ertappen," so lautet die allgemeine
Losung. In Hinblick auf diese Thatsacheu muß man wohl
wünschen, daß jeder Provinz, wie sie sich durch ihre geogra-
phische Lage abgrenzt, eine gewisse Autonomie unter einem
lebenslänglichen oder womöglich erblichen Statthalter gegeben
werde. Hiernach sollte man z. B. die jetzige asiatische Türkei
in die Provinzen Irak, Kurdistan, Armenien, Karamanien,
Anatolien, Syrien und Arabien eintheilen. Der jeweilige
Gouverneur, wenn er anch für sich allein Reichthümer sam-
meln möchte, brauchte es von anderen unter ihn gestellten
Beamten nicht zu dulden und würde, wie es in der mensch-
liehen Natur und in seinem Interesse liegt, das seiner Ob-
Hut anvertraute Land wenigstens in gewissen Beziehungen
mit Vorsorge und Ordnung verwalten. Daran ist jedoch
nicht zu denken. Das wissen die Engländer und speenliren
daher, von der Unzufriedenheit der Einwohner gegen die Pforte
überzeugt, feit Jahren auf den Besitz der Enphratländer. Ist
einmal die projeetirte Eisenbahn fertig, so werden sie auch
ganz sicher dahin gelangen.
Dem Gouverneur zur Seite steht ein großer Regiernngs-
rath, dem er zu Zeiten selbst Präsidirt, den Vorsitz aber ge-
wöhnlich dein Defterdar überläßt. Der Defterdar, wörtlich
Buchführer, ist der Geueralcontrolenr der Finanzen einer
Provinz, mifcht sich aber oft auch iu Dinge, die in ein ganz
anderes Ressort als seine Rechnuugen gehören. Ueberhanpt
herrscht in allen Verhältnissen der türkischen Verwaltuugs-
Maschine ein Wirrwarr ohne Ende. Ein Hochgestellter maßt
sich gewöhnlich alle Functionen aus Eifersucht an und über-
läßt nur Kleinigkeiten, die er nicht bewältigen kann oder will,
der dazu eigentlich bestimmten Behörde. Der große Rath
(bojuk medschliss) z. 23., den von rechtswegen nur die
administrativen und exeeutiveu Angelegenheiten beschäftigen
sollten, verhandelt mit weit mehr Vorliebe Rechtsfälle, sowohl
criminale als eivile. Auch der Defterdar ist wandelbar und
steigt und fällt gewöhnlich mit dem Gouverneur, doch die
Mitglieder des Rathes selbst, meist Paschas., die man sonst
nicht zu verwenden weiß, und mohammedanische Notabilitüten
Die türkische Verwaltung und die M
der Stadt sind Permanent und bleiben oft zwanzig Jahre au
ihrer Stelle. Sie sind an dem Orte, wo sie angestellt sind,
ansässig und haben sämmtlich bedeutenden Besitz. Fast durch-
gängig bilden sie eine Clique, die in allen Fragen Uber „Mein
und Dein" unter einander einig ist, fest zusammenhält und
den Gouverueur zwingt, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Diese
permanenten Commissioneu, die beim Militär und Civil
Uberall anzutreffen sind, müssen als einer der großen Krebs-
fchäden der Türkei betrachtet werden. Beim ersten Anschein
könnte man zwar sich der Meinung hinneigen, daß sie, wie
es wahrscheinlich ursprünglich in der Absicht lag, ein vor-
treffliches Mittel seien, die Willkürherrschaft eines Statthal-
ters zu zügelu und zu beaufsichtigen, indem dieser keinen Be-
fehl zur Ausführung bringen darf, der nicht vorher durch das
Medschliß gutgeheißen worden wäre. Nurt aber verständigt
sich der Gouverneur nur allzu bereitwillig mit dem Defter-
dar und der Clique, und diese drei coordinirten Gewalten
operiren dann Arm in Arm gegen den Beutel der Bevölke-
ruug, die sie zu regieren haben. Sehr wichtige Beschlüsse
müssen allerdings erst von der hohen Pforte selbst sanctionirt
werden, indeß bleibt doch noch immer viel für den Provin-
zialrath übrig. Geschehen hier nun auch wirklich Diuge, die
auf dem einen oder andern Wege an das Tageslicht kommen
und in Stambnl übel vermerkt werden, so will keiner die
Verantwortlichkeit übernehmen; sie theilen sich alle brüderlich
in die Schuld und da muß dann wohl die Centralregieruug
schou der öffentlichen Meinung willen annehmen, daß eine
so hochweise und erlauchte Versammlung höchstens sich geirrt,
aber nicht gefehlt haben könne.
In Bagdad bietet sich diesen würdigen Vätern der Pro-
vinz weit mehr Gelegenheit als anderswo, friedlich auf
Staatsunkosten Reichthümer zu fammeln. In erster Reihe
stehen die Fiuanzverpachtuugen; dann kommen die Riva-
litäten der arabischen und kurdischen Scheichs des weiten
Gebietes; dann der Wucher mit Lebensmitteln in Gemein-
schast mit reichen Inden; das Verleihen der Cassenbestände
zu hohen Procenten und endlich Privataffairen. Es ist hier
nicht der Ort, auf die Details, wie dabei verfahren wird,
näher einzugehen; genug, in jedem der oben angegebenen
Fälle verkauft man einesteils das Recht als eine Begünsti-
gnng für den Meistbietenden, oder verbindet sich direct mit'
Speculantcn, um durch den Mißbrauch der Gesetze und der
anitlichen Position die Bevölkerung auszubeuten, ja zu schiu-
deu. Die Bauern werden principiell in Tod und Berzweis-
lnng gejagt; die arabischen Stämme zum Bruderkampfe, da-
mit man für den Protege interveniren könne, gereizt; die
Einwohnerschaft wird ausgehungert, die Zahlung voreuthal-
ten und der Kläger, der mit leeren Händen kommt, hinge-
zogen und verspottet. Es ist kaum glaublich, wie unverschämt
der Gouverneur, der Defterdar und der große Rath ihre
lncrative amtliche Thätigkeit zu treiben wagen! Nehmen
jene auch des Löwen Antheil, fo dauert es dagegen mit ihnen
nicht lange.
Mit der Justiz ist es ungefähr ebeufo bestellt. Der Kadi,
der alle Jahr durch einen andern ersetzt wird, ist immer auch
Mitglied des großen Raths, präsidirt aber auch dem aus
Mollas und Naibs zusammengesetzten theokratischen Gerichts-
Hof, der Makameh. Hier werden Civilprocesse von unter-
geordneter Bedeutung oder solche, die zwischen Mohamme-
danern allein entstanden sind, geführt; doch erweitert dies
Tribunal, wo immer thunlich, feine Autorität, urtheilt über
Christen und Juden ab und verhängt Strafen nach den reli-
giöfen Gesetzbüchern. Natürlich ist diese betnrbante fromme
Gesellschaft eben fo feil, bestechlich uud parteiisch, wie der
große Rath, und der Kadi oder Mufti ist nach Ablauf seines
Jahres stets ein gemachter Mann.
hen Zustände in der Provinz Bagdad. 343
Ein Handelsgericht existirt anch. Es ist aus kaufmäu-
nischen Notabilitäteu, worunter Christen und Juden, znsam-
mengesetzt, die über Handelsfragen, Wechselschulden, Jusol-
venzen und Bankerotte entscheiden.
Nichts ist elender als das Gerichtsverfahren der gedachten
Behörden. Es wird kein Thatbestand aufgenommen, kein
Protocoll geführt, überhaupt, wenn man nicht nach Konstan-
tinopel referireu muß, kein Buchstabe geschrieben, keine Aus-
sage verglichen, kein Factum durch das Zusammentreffen von
Umständen festgestellt. Alles beruht, als einzig gültiger Be-
weis, auf rechtskräftig untersiegelten Docnmenten, und der
Aussage zweier mohammedanischer Zeugen. Christen und
Juden werden als solche nur unter sich anerkannt. Das
Naivste ist, daß ein Verbrecher, gegen den der schwerste Ver-
dacht vorliegt, sich in Ermangelung von zwei Belastnngs-
zengen durch einen Schwur bei Gott uud dem Propheten
selbst entlasten kann. In dieser Beziehung herrscht eine gren-
liche Unordnung, Fahrlässigkeit und Ignoranz — und mit
gutem Grunde, da man ja doch einmal statt des Gesetzes
uud Rechtes das Geld und das persönliche Interesse als Norm
aufgestellt hat.
Die Polizei ist nun gar ein Spott auf den Namen. Je-
der neue Gouverneur fetzt auch eiueu neuen Polizeiaga, Tü-
fakdschi-Baschi, ein uud knüpft diesen dadurch au sein ephe-
merisches Glück. Er muß also nach denselben Grundsätzen
verfahren, wie sein biederer Chef. Er treibt das Handwerk
nur etwas gröber und im kleinern Maßstabe. Er greift
z.B. ihm bekannte Diebe, oder am liebsten lüderliche Frauen-
zimmer auf, auch im Falle sie nichts Nachweisbares verschul-
det haben sollten, sperrt sie aus eigener Machtvollkommenheit
ein und zwingt sie, sich durch einen Tribut von 50 bis 100
Piaster wieder auszulösen. Hier ist er unbeschränkter Ge-
bieter und macht sich ein kleines Vermögen. An Verbrechern
fehlt es in Bagdad leider nicht. Die gefährlichsten sind die
Räuber, die genau so verfahren, wie wir es in „Tausend
und eine Nacht" lesen. Es bilden sich Banden von 10
bis 30 Köpsen, die schwer bewaffnet Nachts in die Häuser
dringen, Alles ausplündern und bei dem geringsten Wider-
stände oder Lärm morden. Vorzugsweise statten sie den
Israeliten ihre gefürchteten Besuche ab. Merkwürdig ist die
Art, wie sie in die Häuser gelangen. Im Sommer treiben
sie ihr Handwerk nicht. Im Winter aber, wo man in den
Zimmern schläft, erklettern sie das Gebäude, indem sie
Holzpflöcke zwischen die Fugen der Ziegel schlagen und über
das flache Dach hineinsteigen; dann klettern sie auch wohl
über mehrere Terrassen fort, bis sie an das vorher erkorene
Angrisssobject gelangen. Vor wenigen Jahren erschreckten
diese Uebelthäter tagtäglich die Stadt durch überaus freche
Raubmorde und brachten ihre Bente immer sicher jenseits
des Tigris in ihren Verstecken unter. Die gemeinschaftlichen
Schritte der Generalconsnln zwangen endlich den Gonver-
nenr und seine Satelliten, die von der halben Stadt gekannte
Bande, worunter einige Soldaten der Garnison, aufzugreifen
und zu zerfpreugeu. Der alte fanatische Satrap Mustafa
Nury Pascha, weit entfernt, dem Unfug zu steuern, klatschte
heimlich Beifall uud freute sich über den Schrecken der Un-
gläubigen. Ja unter seinem Nachfolger stellte es sich her-
ans, daß der Polizeimeister sammt vielen seiner Häscher mit
den Räubern einverstanden waren uud sogar thätlich mitge-
wirkt hatten. Wegelagerer, die dem Wanderer in einer dun-
keln Gasse die Börse oder das Leben abfordern, oder ihn auch
ohue Weiteres niederstechen und berauben, sind zu gewissen
Zeiten nichts Seltenes, dagegen 'mangelt es an geschickten
Dieben, die mit dem Dietrich zu arbeiten wissen. Gelegent-
liche Diebe sind überaus zahlreich, wozu namentlich hausirende
Juden und Weiber gerechnet werden müssen. Falschmünzer
344 Die türkische Verwaltung und die sittli
betreiben ihr schädliches Handwerk mit ungestörter Sicherheit,
und die Mehrzahl der Bevölkerung dürfte in die weite Classe
der Betrüger zu rechnen sein.
Ueber die sonstigen sittlichen Zustände glaube ich mich
schon früher hinlänglich ausgesprochen zu haben. Die Stra-
sen werden, wie man es von einer Justiz, wie die türkische,
nicht anders erwarten kann, höchst inconsequeut und parteiisch
applicirt. Während oft der größte Verbrecher nicht nur frei
ausgeht, sondern oft noch einen Gnadensold von der Regie-
rnng empfängt, häuft man auf einzelne arme Schelme den
ganzen Zorn der Gerechtigkeit. Selten verfällt ein snnniti-
scher Muselmann einer Ahndung. Gegen Ketzer, - Christen
und Juden, verfährt man aber minder glhnpflich. Wucherer,
Betrüger, Hehler und Nebellen stellt man gewöhnlich zuerst an
den Pranger, indem man sie mit Theer bestrichen ans einen
Esel setzt und in den Bazars zum Gespött des Pöbels einige
Stunden herumführt oder sie aus einem freien Platze an einen
Pfahl gebunden ausstellt uud hier von den Gassenjungen mal-
trätiren läßt. Körperliche Züchtigungen folgen, auf Widersetz-
lichkeiten gegen die Anordnungen der Obrigkeit und treffen
manchmal auch kleine Schuldner der Regierung, gewiß aber
allzu stürmische Gläubiger, die in ihrem Eifer, sich bezahlt
zu machen, denRespect verletzen. Auf Diebstähle, Schulden,
Verdacht u. f. w. steht zuerst Gefängniß, fodann Kettenstrase.
Die Kerker für gemeine Leute sind wahrhaft schauerlich. Sie
gleichen ganz und gar dem berühmten schwarzen Loche in
Calcntta, wo einige Hundert Engländer ersticken mußten,
weil man den Nabob von Bengalen nicht im Schlafe stören
wollte. Durcheinander werden hier Verdächtige, Schuld-
gefangene uud bereits Uebersührte eingesperrt und leiden nun
von einer sürchterlichen Hitze, zahllosen! Ungeziefer und Huu-
ger. Freunde und Verwandte müssen den Gefangenen er-
nähren oder er kommt um. Die in Ketten an der freien
Luft zu Zwangsfrohnden verwendet werden, sind unstreitig
die Glücklicheren, aber eine Sommernacht ist anch für sie
eine entsetzliche Qual.
Hinrichtungen sallen sehr selten vor und werden nur voll-
zogen, wenn die Anverwandten des Ermordeten Blut als
Vergeltung fordern. Nun aber wird es ein Christ oder ein
Jude nie wagen, auf den Tod eines Muselmanns zu drin-
gen, weshalb denn auch Raubmörder, die sich ausschließlich
an Bekenner der beiden nur geduldeten Religionen vergreifen,
nichts als höchstens einige Jahre Kettenstrafe zu fürchten
haben. Mit diabolischer Ironie befolgt hinwider die Justiz
das Gesetz der Blutrache, wenn es sich um Fälle handelt,
die vor dem Forum eines europäischen Gerichtshofes als
von mildernden Umständen begleitet benrtheilt worden wären.
So hatte ein Knabe von 17 Jahren einen andern seines
Alters im Streite über einen gefangenen Bogel, vom Jäh-
zorn erfaßt, erstochen, was um so erklärlicher war, als er
bei dem Beginn der Controverse bereits das blanke Messer
zu einem andern Zwecke in der Hand hatte. Der Proceß
wurde instrnirt und der unglückliche junge Mensch zum Tode
verurtheilt. Da die Mutter des Getödteten ihren Haß nicht
mäßigen und von keinem Vergleiche hören wollte, fand die
Exemtion wirklich statt. Das Verfahren dabei war eben fo
einfach wie empörend. Der Delinquent wurde von einem
Hänfen Saptis eines Morgens aus dem Gefängnisse geholt
und, da er nicht gehen konnte, von zweien derselben unter den
Armen gefaßt und fo nach dem Meidan, dem öffentlichen
Platze vor der Tscharschi (Bazar), geschleppt. Hier hielt die
Gruppe an. Nun versammelte sich sogleich ein dichtgeschaar-
ter Kreis Neugieriger aller Stände, Männer und Weiber,
um die Scene, nnd der Polizeimeister hatte die größte Mühe,
sich den Ranm für fein blutiges Werk zu bewahren. Sobald
ihm dies gelungen, packten seine Leute den Vernrtheilten und
>en Zustände in der Provinz Bagdad.
zwangen ihn auf die Knie. So hielten ihn einige, während
ein anderer ihn bei dem Haarschopf seines sonst nach Art
der Moslim geschorenen Scheitels festhielt. Ein dritter zog
nun sein Hiebmesser nnd hackte ungeschickt in den Nacken des
Aermsten. Er wand sich in Schmerz und Verzweiflung, aber
der tölpelhaste Henker säbelte und sägte nngenirt weiter, als
verstände sich das von selbst, bis es ihm endlich gelang, den
Kops vom Rumpfe ^n trennen. Das hervorstürzende Blut
besprengte die Kawaffen und einige Zuschauer. Dies ge-
schehen, steckte man den Hinrichtungsbefehl iu die grobe Tu-
uika, welche den Rumpf bedeckte, und entfernte sich dann,
indem man die entstellten Ueberreste der Betrachtung der
Menge überließ. Sie wurden erst gegen Abend entfernt.
An Bettlern nnd Vagabunden ist ein großer Ueberfluß
in Bagdad, doch tragen die letzteren durchgängig einen reli-
giöfen Charakter. Hospitäler und sonstige gemeinnützige An-
stalten zur Unterbringung der Kranken, Armen uud Arbeits-
scheuen fehlen. Der sterbende Bettler kriecht in irgend ein
verlassenes Gewölbe und giebt den Geist ans; versehen dann
nicht die Hunde und die Ratten das Todtengräberamt, so be-
stellen die Nachbaren einen Lastträger, der den Leichnam in
einen Sack steckt und ihn entweder gleich in den Fluß wirft
oder in der Wüste verscharrt. Die Reinlichkeit der Straßen
wird dadurch unterhalten, daß Jeder die Verpflichtung hat,
vor seiner Thür zu fegen und den angesammelten Kehricht
von Eseln ans der Stadt bringen zu lassen. Diese wohl-
thätige Einrichtung verdankt Bagdad nur der von Europäern
geleiteten Quarantäne.
Die Garnison der Stadt beträgt mit Ausschluß der Ba-
schibosuks gewöhnlich 2000 bis 3000 Mann an Jägern,
Musketieren, Cavallerie und Artillerie. Diese Truppen müs-
seu sehr häufig kleine Campagnen gegen die Araberstämme
der Provinz unternehmen, und daher kommt es, daß ihre
Zahl sich bald sehr verringert, bald wieder vermehrt. Ein
besonderer Rath, aus Stabsofsiziereu und Paschas zusammen-
gesetzt, steht den Militärgeschäften vor. Er ist das getreue
Abbild des großen der Regierung.' Seine Mitglieder berei-
chern sich, indem sie bei den verschiedenen Lieferungen gewin-
nen und den Sold der Truppen, den sie ihnen vorenthalten,
an Juden auf Ziufeu ausleihen. Bei einem Zinsfuß von
2 Procent monatlich und darüber kann man sich denken, was
für Geschäfte diese Herren machen müssen, wenn heute z. B.
die Truppen gerade für 28 Monate Löhnnng zu fordern
haben. Das ist aber eine Kleinigkeit im Vergleich mit dem,
was täglich an verkürzten Rationen, nicht gelieferten Klei-
duugsstücken, verfälschten Rechnungen u. s. w. für sie abfällt.
Da befinden sich angeblich den Erben verstorbener Militärs
zugehörige Summen in den Cafsen deponirt, die iu Wirk-
lichkeit längst unter die ehrenwerthen Mitglieder der perma-
nenten Commission vertheilt sind uud nun von ihnen gemein-
sam gegen fremde Ansprüche vertheidigt werden. Mancher
Todte wird auch wohl in den Listen im Einverständniß mit
denr betreffenden Regimentscommandenr fortgeführt nnd be-
zieht seine Emolnmente zum Besten seiner ehemaligen Vor-
gesetzten fort.
Die Truppen bilden ein eigenes Armeecorps, das jedoch
lange uicht vollzählig ist, sondern mit Einbegriss der in den
Hedschas garnisonirenden Bataillone kaum mehr als 7000
Mann beträgt. Die Recrutiruug hat man unter den Ära-
bern noch nicht einzuführen gewagt, weshalb die meisten Sol-
daten Türken nnd Kurden sind. Mit Ausnahme einiger
Jägerbataillone taugt die Truppe nicht viel, genügt aber, um
die schlecht bewaffneten Stämme Jsmaels im Zaume zu hal-
ten; ja sie wäre allenfalls im Stande, einem ersten Angriff
der Perser die Spitze zu bieten. Nahe an 40 bespannte Feld-
geschütze können die Verteidigung unterstützen. Kämpfe mit
Die türkische Verwaltung und die sitt
den Beduinen kommen aus Mangel an einer guten Reiterei
von Seiten der Türken zu keinem Ende. Der flüchtige, sich
auf kühne Streisereien verlegende Feind ist nicht zu erreichen,
und daher wird er meist nur durch Jntriguen, die man in
seinem Schooße einzufädeln weiß, besiegt. Man besticht einen
Häuptling durch Geld und Versprechungen und er ergreist
gegen seinen Rivalen die Waffen, bis beide des Streites
überdrüssig ihre Unterwerfung antragen. Ackerbauende, wenn-
gleich in Sümpfen und Marschen hausende Stämme, lassen
sich leichter beikommen, vertheidigen sich aber oft sehr hart-
näckig hinter Gräben und Schanzen, die erstürint werden
müssen und immer viel Blut kosten. Ehe es so weit kommt,
veranlassen jedoch einige gut geworfelte Granaten und wohl-
gezielte Spitzkugeln aus den neuen Jägerbüchsen die mit
elenden oder schwerfälligen Gewehren bewaffneten Vertheidi-
ger zum Rückzüge. Der Araber besitzt zwar, wenn er zu
Fuß hinter Deckungen kämpft, einigen Muth, aber keine Or-
ganisation und keine Disciplin. Weit mehr als das Gefecht
selbst greifen im Sommer die Märsche die Truppen an. Ein
Arzt versicherte nur, daß um Mittag unter seinem Zelte das
Thermometer bis auf 50° R. gestiegen sei. Dann sterben
viele Soldaten im Lager wie auf dem Marsche, und gewöhn-
lich ersticken die vollsaftigsten, anscheinend gesundesten Leute
zuerst. Unmittelbar nach dem Tode läuft der Körper gauz
schwarz an, schwillt auf und platzt gar, wenn er nicht auf
der Stelle begraben wird. Im Durchschnitt dars man wohl
behaupten, daß jährlich ein Viertheil der Besatzung durch
Strapazen und Krankheiten umkommt. Dafür jedoch macht
die türkische Herrschast, zumal seit das gezogene Gewehr Ein-
gang gefunden, in Irak Fortschritte. Während sie früher
kaum hinter den Mauern von Bagdad sicher war, schwingt
sie jetzt ihren Scepter von Mossnl bis Basrah und von
Suleimanieh bis Nedschef. Der Vortheil für die Bevölke-
rung ist dadurch nicht größer, sondern eher geringer gewor-
den, denn unter den Füßen der Osmanen verdorrt buchstäb-
lich das Land und die Einwohner flüchten sich oder verhun-
gern. Daß es je besser werden wird, läßt sich leider nicht
voraussetzen. Die großen Capitalien sind seit dein Mittel-
alter nach dem christlichen Westen gezogen, imd ehe sie nicht,
durch eine rechtliche Regierung und gute Gesetze angelockt,
wieder nach dem Orient zurückkehren, werden jene in der
alten Zeit wegen ihrer üppigen Fruchtbarkeit berühmten Län-
der Vorderasiens die Wüsten bleiben, die sie durch Indolenz
und Verheerung geworden sind.
Von Europäern halten sich in Bagdad einige Engländer
und ein paar Leute anderer Nationalität auf. An der Spitze
der Colonie steht ein britischer und ein französischer General-
consul. Andere Mächte sind nicht vertreten. Jener hat
ziemlich viel zu thuu, da es im Laude immer Jndier giebt,
welche seines Schutzes bedürfen. Auch eigentlich türkische
Unterthanen beschützen die Engländer gern. Früher war der
Generalconsul ein Resident der ostindischen Compaguie und
besaß mehr Macht und Ansehen als heutzutage; ja er gerirte
sich dem Pascha gegenüber oft wie ein Commissär, der einem
scheinbar selbständigen indischen Radscha zur Aufsicht beige-
geben ist. Streitigkeiten brachen mitunter aus und es kam
zum offenen Kampfe, an dem die Bevölkerung Theil nahm.
Die Schiaß hielten es meist mit dem Residenten und der
Pascha wurde zum Nachgeben gezwungen. Damit ist es
nunmehr vorbei. Die Briten sind bescheidener geworden und
räumen ihren Freunden, den Türken, gewisse staatliche Rechte
ein. Dennoch ist es bei der jetzigen Großmächtlichkeit der
Pforte zu verwundern, daß ein britisches Kriegsschiff, ein be-
waffneter Dampfer, mitten im Binnenlande Station nehmen
kann! Dieses Boot verletzte sogar alle Neutralität, indem
es bei Gelegenheit des letzten persischen Krieges die sich von
Globus XIV. Nr. 11. (December 1368.)
hen Zustände in der Provinz Bagdad. 345
Mohammerah zurückziehende Armee des Schah den Karuu-
fluß hinauf bis Schuster und Dißful verfolgte und dann nach
Bagdad zurückkehrte. Insgeheim gaben die Türken ihren
religionsverwandten Nachbaren allen möglichen guten Rath,
wagten es aber nicht, ihre Mißbilligung über das Gebahreu
der Engländer offen auszusprechen. Auch eine Abtheiluug
Sipahis hält in Bagdad Garnison und dient dem Consn-
latsgebäude als Wache. Die Offiziere des Dampfers sind
durchgängig ansässig und manche von ihnen leben dort schon
über zwanzig Jahre. Auch die Matrosen sind meist mit einge-
borenen Christinnen verheirathet; sie betragen sich schlecht,
gelten aber nichtsdestoweniger als Muster, wonach man also
ziemlich den sittlichen Zustand in der englischen Marine be-
urtheileu kann. Wer es gar zu arg treibt, wird nach Bom-
bay zurückgeschickt. Zwei Handelshäuser aus London sind
vertreten. Die Engländer spielen gern in jenem Thcile Asiens
die höhere Kaste und nehmen den Eingeborenen gegenüber
den indischen Ton an; den Umgang mit anderen Europäern
beschränken sie daher, um ihres Prestiges willen, auf ein
Minimum. Sie leben der festen Neberzeugung, daß das
Cabinet von St. James es eines Tages für passend erachten
werde, die Euphratläuder seinem asiatischen Reiche zu an-
nectireu und bereiten sich mit großem nationalen Selbstgefühl,
jeder für sich, aus diese Herrschaft vor. — Für die Christen
ist die britische Protection eine außerordentliche Wohlthat,
und ihr allein verdanken sie ihr Gedeihen und ihr Leben.
Nur durch die Vermitteluug des Geueralcousuls kann ein
Naja zu seinem Rechte kommen. Freilich erlauben sich die
Unterbeamten oft Nebergriffe, die den türkischen wenig nach-
geben, allein das ist der Mangel des ganzen consnlarischen
Systems, der bei Frankreich und Oesterreich genau sich ebenso
zeigt. Nicht mit Unrecht gehörten die Dolmetscher bei den
alten Aegypten zn der untersten Kaste. Ihr Hauptgewinn
besteht darin, daß sie schlechte Schuldforderungen von Chri-
sten an Türken um ein Spottgeld aufkaufen und nun ihren
Einfluß oder, besser gesagt, den ihres Gebieters, bei dem Pa-
scha benutzen, um den Schuldner zur Zahlung zu zwingen.
Gewöhnlich erhält der Pascha einen Theil des Gewinnes;
aber heimlich, denn er darf sich nicht verdächtig oder nnbe-
liebt machen. Dem Volke gegenüber klagt er dann mit heuch-
lerischem Bedauern, wie unverschämt die Autorität der Giaurs
in Stambnl gewachsen sei, daß er nun selbst gezwungen
werde, das Werkzeug zu sein, welches einen Muselmann, even-
tualiter mit Gesängniß und Stockstreichen, bewegen müsse,
seine Schulden zu tilgen. Der Dragoman bereichert sich
allerdings, doch der Naja kann zufrieden sein, weil er ohne
seine Hülfe ganz leer ausgegangen wäre. Am Ende kosten
unsere Processe in Europa auch Geld und oft mehr als der
Gegenstand, um den es sich handelt, Werth ist.
Mit dem englischen Consulat ist auch eine Post verbuu-
den, welche alle vierzehn Tage die Verbindung mit Damas-
kus und Beirut unterhält. Früher konnten keine Briese
direct durch den persischen Golf nach Indien befördert wer-
den; doch glaube ich, daß dies nunmehr in Folge der neu
errichteten Dampfschifffahrtslinie von Basra nach Bombay
der Fall ist.
Das französische Generalconsulat hat wenig oder gar nichts
zu thuu, und besteht eigentlich nur, um den Leuten zu zeigen,
daß England auf der Welt nicht die einzige Großmacht sei.
Französische Handelsinteressen sind am Tigris nicht zu ver-
treten, und die Protection eines Franzosen und einiger Al-
gierer verlohnt kaum die Gegenwart eines Agenten, geschweige
denn eines Generalconsuls. Frankreich hat also andere In-
teressen im Auge. Die Franzosen sind nicht sehr beliebt im
Orient; ihr herausforderndes, die Bewunderung der Mensch-
heit als selbstverständlichen Tribut voraussetzendes: je suis
44
S46
Aus allen Crdtheilen.
II
V;''
Frangais klingt mißtönend in den Ohren derjenigen Erdbür-
ger, die nicht in der belle France geboren sind. Ein fran-
zösischer Quarantänearzt und ein comte sans aveu ist die
außeramtliche Gesellschaft, welche Gallien dem Tigris gelie-
sert hat. Drei belgische Arbeiter, ein Schneider aus Berlin,
ein anderer aus Rußland bilden den Handwerkerstand. Die
Schweiz ist durch eiue von jungen Leuten geführte Comman-
dite der Exportgesellschaft von Zürich vertreten. Ihre Ge-
schäste sind gnt, doch die Concurrenz ist bedeutend und der
Markt oft überfüllt, fo daß zuletzt keine glänzende Resultate
erzielt werden. Auch eine griechische Firma hat sich dort an-
gesiedelt. Die meisten eingeborenen Kaufleute sind weiter
nichts als Agenten größerer Handelshäuser in Konstantino-
pel, Aleppo und Bonibay und leben nur von dem Commis-
sionsgewinn. Die Europäer haben aber vor diesen, obschon
sie persönlich mehr verausgaben, den Vortheil voraus, daß
sie von den Consnln wirksamer unterstützt werden und des-
halb nicht leicht Verluste durch Räuber und Bankerottmacher
erleiden. Herr Swoboda, ein ehemaliger Glashändler aus
Böhmen, hält sich schon über dreißig Jahre im Lande ans,
und von Herrn Demarki, einem italienischen Mechani-
ker, läßt sich dasselbe sagen. Beide haben sich dort, trotz
vieler Mühe, keine Reichthümer erworben, und es dürfte
wahrscheinlich anderen Leuten dabei nicht besser gehen. Der
Rest der europäischen Colonie besteht aus einigen polnischen,
italienischen und griechischen Aerzten, die sich sämmtlich in
türkischen Diensten befinden. Ein Heilkünstler kann im In-
nern der Türkei nur in den seltensten Fällen — wenn er
ein fcrupellofer Charlatan ist — von seiner Praxis leben.
Der Quarantäne-Inspector Herr Padovan: zeichnet sich be-
sonders durch einen ehrenwerthen Charakter und eine genaue
Kenntniß des Landes aus. Er besitzt viele seltene Antiken,
die nur in der Umgegend von Bagdad gefunden werden, wes-
halb es rathsam ist, daß der Sammler, der entweder das
Land selbst bereist oder mit demselben in Verbindung zu tre-
ten wünscht, sich an den genannten Herrn wendet.
Die Unterhaltungen, welchen sich die Europäer int In-
nern der Türkei hingeben können, sind wenige. Wer sich
nicht in seiner Häuslichkeit zu beschäftigen weiß, ist ein ver-
lorener Mann, den der Spleen über kurz oder lang heim-
fuchl. Im Winter, wo man ausgehen, Jagd- nnd Garten-
Partien macheu und gesellig zusammenkommen kann, vertreibt
man sich am Ende an einzelnen Tagen genügend die Zeit,
aber während des Sommers, wenn Luft und Erde Tag und
Nacht wie die Hölle glühen, bleibt nichts übrig, als in dem
Serdab (Wohnkeller) geduldig zu transpiriren. Leute, die
lange in Bagdad wohnen, ergeben sich, wie ich leider wahr-
genommen habe, dem Trunk. Auch scheint es, daß der Dat-
telarrak in einem vorgerücktem Alter der Constitution nicht
nur nicht schädlich, sondern selbst zuträglich sei. Er enthält
keinen Fusel und sein Alkohol präservirt offenbar das Blut
gegen die klimatischen Einflüsse, denen so mancher durchaus
nüchterne Mann erliegt. Wer etwas anderes als Schnaps
und Weiber in abstractem Begriff in Irak zu fiuden hofft,
wird sich getäuscht finden. Das sind die beiden Angelpunkte,
um die sich die gauze Sehnsucht des verfeinerten Orientalen
dreht. Doch es giebt auch eine fromme Partei, die den Wein-
geist als eine unheilige Reform verdammt und auch von den
Weibern wenig hält; dagegen verschlucken und rauchen diese
zelotischen Orthodoxen Haschhasch und fröhnen der Sinnlichkeit
in einer Weise, die man füglich nicht wohl niederschreiben kann.
Der Neugierde halber ist es wahrlich Niemandem zu
rathen, die ferne Stadt der Chalisen auszusuchen. Wer sich
jedoch aus einer Temperatur von 40° R. im Schatten, Blut-
geschwüreu, Dysenterien, Diarrhöen, Staub, Ungeziefer, Un-
beqnemlichkeit und unendlicher Langweile nichts macht, kann
es immerhin wagen; er wird dafür als Compenfation, wenn
er im August bleibt, frische Datteln essen! Die leidigen Dat-
teln hält der Araber für die Frucht des Paradieses, deren
Genuß alle irdischen Leiden aufzuwiegen vermag! — Auch
bei den Türken steht Bagdad in hohem Rns, und in Siwaß
und Aleppo wird es von Leuten, die niemals dort gewesen
sind, als die zweite Stadt des türkischen Reiches nur einzig
deshalb gepriesen, weil man dort die schönsten frischen Dat-
teln finde. Einen andern Jrrthum begehen die Anatolier,
daß sie Bagdad für einen wohlfeilen Platz halten. In Wahr-
heit sind die Preise dort im Durchschnitt eben so hoch, wie
in Konstantinopel, und nur die Ausgaben geringer.
Aus allen Crdtheilen.
i|j||
Eine Fahrt auf dem Suez-Canal.
In der letzten Woche des November ist ein französisches nach
Mayotte bei Madagaskar bestimmtes Kriegsschiff, die „Levrette",
auf dem Canale von Port Said bis Suez und weiter ins
Rothe Meer gefahren. Es wird ein kleines Fahrzeug gewesen
sein, wie der „Primo" aus Trieft, der zu Ansang des vorigen
Jahres dieselbe Fahrt machte; er hatte nur 80 Tonnen Trag-
fähigkeit.
Der Canalunternehmer, Herr Ferdinand v. Lesseps, ver-
sprach der Welt, den ganzen Canal in seiner vollen Länge,
Breite und Tiefe schon im Jahre 1861 zu eröffnen; es lag aber
auf der flachen Hand, daß er platterdings nicht im Stande sein
könne, dieses Versprechen zu halten. Nachher sagte man, die Ar-
beiten würden 1862 vollendet sein; auch das traf eben so wenig
zu wie die späteren Verheißungen, welche auf 1866 und dann
auf den I. Juli 1868 vertrösteten. Dann hieß es, Anno 1869
werde die große Eröffnung beginnen können. Lesseps veran-
schlagt? die Kosten aus 150,000,000 Francs; sie betragen schon
jetzt, obwohl der Canal noch sehr weit von seiner Vollendung
entfernt ist, das Doppelte, und was weiter erforderlich sein wird,
um die Häfen und das Canalbett in gutem Zustande zu hal-
ten, läßt sich heute noch gar nicht berechnen.
Der Suezcanal wird dem Handelsverkehr manche Vortheile
bringen, obwohl es für uns außer aller Frage steht, daß die
phantastischen Versprechungen des Hrn. v. Lesseps unerfüllt blei-
ben. Es ist bei dieser ganzen Angelegenheit überhaupt viel
Schwindel mit Worten und Prophezeiungen getrieben worden.
Der Erfolg wird zeigen, wie die Dinge sich gestalten.
Mit Interesse haben wir (in der „Times-Mail" vom 1. De-
cember) den Bericht eines Engländers gelesen, welcher mit sei-
nem eigenen Boote während der zweiten Novemberwoche eine
Eanalfahrt unternommen hat. Er schildert den gegenwärtigen
Stand des großartigen Unternehmens und wir wollen seiner
Mittheilung das Nachstehende entlehnen.
„Seit vierzehn Jahren läßt die Canalcompagnie an diesem
gigantischen Werke arbeiten. Die Länge beträgt etwa 100 Mi-
les, die Breite des Wasserspiegels 100 ^ards, die Tiese minde-
stens 25 Fuß. Die Richtung ist fast gerade von Norden nach
Süden, der Krümmungen find nur wenige, Brücken und Schleu-
Aus allen Erdtheilen.
347
fen kommen nicht vor. Man rechnet auf eine schwache Ebbe- und
Fluthströmung, über welche sich noch nichts Genaueres sagen
läßt. Gegenwärtig ist etwa die Hälfte der ausgegrabenen Strecke
mit Salzwasser gefüllt und auf demfelben fahren täglich viele
kleine Fahrzeuge und einige Dampfer. Dazu kommen unzäh-
lige Kohlenboote, Barken und Bagger, welche letztere Tag und
Nacht arbeiten.
Manche Strecken auf diesen 50 Miles sind noch nicht breit
genug für größere Fahrzeuge und nur erst ein kleiner Theil hat
die normale Tiefe. Die übrige Canalstrecke ist mehr oder we-
niger ausgegraben. Einige Theile liegen noch ganz trocken, in
andere bringt man das Wasser, um den Sand anzufeuchten.
An manchen Stellen sprengt man Felsen und eine lange Ab-
theilung von 20 Miles wartet darauf, daß das Meer in ein
großes, noch trocken liegendes Becken, welches einen See bilden
soll, geleitet werde.
Die Arbeiten sind in der That großartig und man kann
sich der Bewunderung nicht erwehren, wenn man auf einem
breiten Wasser hinfährt, an dessen Ufern Dörfer und viele Feuer-
fchlote sich erheben. Die hydraulischen Maschinen find von un-
geheurer Größe; jede einzelne hebt eine gewaltige Menge von
Schlamm und Sand aus. Dieser wird zum Theil in Barken
ins Meer hinaus abgeführt, oder vermittelst einer 220 Fuß
langen Röhre oder geneigter Ebenen zur Seite des Cauals bis
zu einer Höhe von 50 Fuß aufgeworfen. Bei dieser Arbeit sind
nicht weniger als 40 Maschinen in Thätigkeit und jede derselben
hat 280,000 Thaler gekostet. Gegenwärtig betragen die Aus-
gaben in jedem Monate 200,000 Pf. St.
Am nördlichen Anfangs des Kanals liegt die kleine Stadt
Port Said. Sie ist aus Holz aufgeführt, hat breite, gerade
Straßen und die Häufer fehen aus, als ob sie aus braunem
Papier gemacht worden wären. An Hotels, Kaffeehäusern, Lä-
den und Bazaren für die etwa 6000 Menschen fehlt es nicht;
eine große Anzahl derselben sind Griechen und Levantiner. Die
beiden Hafendämme laufen weit in> die See hinein, fchließen
aber doch erst eine geringe Fläche ein und sind den Nordwinden
völlig ausgesetzt. (— Der englische Ingenieur Spratt schrieb
1862: „Diese Bucht des Mittelmeeres, in welche der Canal
mündet, wird so unablässig und so regelmäßig mit Schlamm
gefüllt, daß gegen ein so mächtiges Localgesetz der Natur auch
ein fortwährendes Baggern nichts nützen kann; es ist unmög-
lich, dort einen permanenten guten Hafen zu bilden.
Der Flugsand, welcher von Westen nach Osten getrieben wird,
beeinträchtigt den Canal. Man wird unaufhörlich gegen eine
gewaltige Menge von Hinderniffen ankämpfen müssen, die in
der Natur selber liegen." — Admiral Tegethoff, welcher ge-
gen Ende des Jahres 1865 den Canal prüfte, bemerkt, daß an
der Ostseite der Hasendämme fortwährend Sandablagerungen
vorkommen und daß dergleichen auch an der Westfeite nicht fehl-
ten. Er fagt: „Zudem ist die Rhede von Port Said
schlecht; sie hat gegen denNordwind gar keinen Schutz,
und der Platz hat kein Wasser; dasselbe kommt aus Js-
mailiah am Süßwassercanal vermittelst einer Röhrenleitung."
Vergleiche Karl Andree: Geographie des Welthandels II, S.
143 bis 152. —)
Halbwegs liegt Jsmailiah, ein hübsches Städtchen, am
Canale, der dort in den Tjimfah- (Krokodil-) S e e tritt. Hier
ziehen die Araber mit ihren Kameelen und heulen die Schakale
der Wüste dicht neben Dampfern, Telegraphen, Schmiedewerk-
stätten und den Eisenbahnschienen. Bis dorthin kommt vom Nil
her der Süßwassercanal, welcher sich dann weiter den Canal
entlang nach Süden und Norden hin verzweigt.
Dieser Süßwassercanal ist für jenen Theil Aegyptens
eine wahre Wohlthat. Er hat eine Breite von 30 bis 40 Fuß
und auf ihm werden beladene Boote theils von Menschen ge-
zogen, theils benutzt man Segel. Mein Boot wurde von Jeder-
mann angestaunt; ich ersreuete mich in demselben des besten
Schlafes; ich will aber erwähnen, daß am Ufer des Timsahsees
mir ein Schakal zu einer unwillkommenen Zeit bei Mondenlicht
in meinem Schlafzimmer einen Besuch abgestattet hat.
Eines Tages fuhr ein gewaltiger Sturm über den Canal
dahin. Die Luft war weit und breit mit gelbem Sand ange-
füllt. Durch solche Winde wird so viel Sand in den Canal ge-
trieben, daß es eine sehr schwierige Sache sein wird, denselben
in Ordnung zu erhalten. Eine Unze Sand auf die Quadrat-
yard, welche in den Canal fällt, macht für die ganze Strecke
derfelben 500 Tons je zu 2000 Pfund, und der Sandwind hält
manchmal einen ganzen Monat an.
In Schaluf (— unweit von Suez —) waren nicht weni-
ger als 14,000 Menschen an der Arbeit, die sehr mühsam ist;
man schafft den Sand in Körben, die auf dem Kopfe getragen
werden, auf den Hügel, und etwa 1000 Efel schleppen auch Erde
fort, welche durch Dampsbagger ausgehoben wird. Man bringt
die Arbeiter aus allen Theilen Aegyptens herbei; sie müssen
kommen, werden aber mit 2 bis 3 Francs per Tag gut bezahlt.
Arbeitslöhne und Nahrungsmittel sind durch den Canalbau be-
trächtlich gestiegen, aber an Fischen ist Ueberfluß in beiden Canälen.
Von Schaluf ab sind die Canalarbeiten noch sehr zurück.
Bei Suez hat der Eingangshafen alle Nachtheile einer feichten
Mündung, weichen Sand, der sich unablässig verschiebt, und eine
höchst unregelmäßig laufende Ebbe und Fluth.
Wenn einmal die Passage vom Mittelländischen bis zum
Rothen Meere offen sein wird, dann will man die Schiffe
vermittelst Remorqueure in derWeife befördern, daß
sie an einerKette gezogen werden. Diese soll auf dem
Grunde des Canals liegen.
Dampfer follen ihre eigenen Räder und Mafchi-
nen nicht gebrauchen dürfen, weil sonst die weichen
Uferwände beschädigt würden.
Nun wird es aber keine leichte Sache fein, ein großes Schiff
von 2000 Tons und mehr Tragfähigkeit in folcher Weise zu
schleppen, namentlich wenn der Wind stark von der einen Seite
herweht. Ich erwähne das, weil ich mich Hunderte von Miles
in meiner Jölle habe schleppen lassen und einen ganzen Tag
lang mit eigenen Händen dieselbe gezogen habe. Ueber die Er-
tragsfähigkeit des Canals maße ich mir jetzt keine Meinung an.
Ich will zum Schlüsse noch bemerken, daß auch fleißige Chi-
nesen beim Canalbau beschäftigt sind."
Die Polarexpedition der Schweden. Ueber dieselbe hat
einer der Theilnehmer, Professor Nordenskjöld, einen Bericht
an die Royal Society in London geschickt; der Inhalt ist sol-
gender. Diese arktische Expedition überwintert nicht im Polar-
eise, sondern ist nach Tromsö in Norwegen zurückgegangen.
Der Dampfer war von Norden her nach der Jnfel Amsterdam
zurückgefahren, um dort Kohlen zu fassen, und war dann in
der Mitte Septembers wieder nach Norden gegangen. Das er-
scheint im Hinblick auf die späte Jahreszeit als ein gewagtes
und etwas abenteuerliches Unternehmen. Der Dampfer bemühete
sich, die Sieben Inseln zu erreichen, konnte ihnen aber des
Eises wegen nicht nahe kommen und mußte bei ungemein stür-
mischem Wetter die See halten. Am 19. September erreichte
er auf 17% Gr. östl. L. die Breite von 81° 42' N. Weiter
nach Norden hin konnte er nicht vordringen, weil so weit das
Auge reichte eine ununterbrochene Eisschranke vor ihm lag.
Diese wurde photographisch aufgenommen. Der Dampfer fuhr
mehrere Tage lang an jenem Eise hin; man bemerkte an man-
chen Stellen, daß dasselbe mit Erde gleichsam besprenkelt war,
und daraus schloß man auf das Vorhandensein von
Land weiter nach Norden hin.
Das Schiff ging nun wieder nach dem Kohlendepot und
versuchte noch einmal ins Eis einzudringen, es wurde aber ge-
gen einen Eisklumpen gedrängt, bekam einen Leck, wurde nur
mit Mühe flott erhalten und ans Land gebracht, wo man eine
nothdürftige Ausbesserung vornahm. Als das geschehen war,
untersuchte man die Gewässer südlich von Spitzbergen,
wo sich aber schon allerwärts Eis bildete, namentlich auch ver-
niittelst der Spritzwellen auf dein Schiffe selbst. Es blieb weiter
nichts übrig als umzukehren, und am 19. October lief das Schiff
in den Hafen von Tromsö ein.
44*
348 Aus allen
Professor Nordenskjöld schreibt, daß die Expedition wichtige
Beobachtungen über die Strömungen, die Tiese und die Tem-
peratur des Oceans angestellt habe und die darauf bezüglichen
Karten veröffentlichen werde. Auch den Naturwissenschaften, ins-
besondere den geologischen Verhältnissen habe man Sorgfalt zu-
gewandt. Uebrigens sei die Expedition gemäß der von ihr ge-
machten Wahrnehmungen zu derUeberzeugung gekommen, „daß
die Annahme eines offenen und verhältn iß mäßig
mildern Polarbeckens lediglich ein Wahngebilde, eine
Chimäre fei."
Da aber diefes vermeintliche offene Polarmeer feit einiger
Zeit wieder in den Köpfen vieler Leute rumort, so werden trotz
aller mißlungenen Versuche die Suchexpeditionen ihren Fortgang
nehmen. Das deutsche Schiff „Grönland" oder wie man es
getauft hat, „Germania", ist mit seinem muthigen Schiffsvolke
unter Capitän Koldewey's Führung l>is Sl°5' N. gekommen.
Es hat viel Eis, aber kein offenes Polarmeer gesunden und nicht
einmal an die Oftküste Grönlands gelangen können.
Das „Athenäum" hat in derselben Nummer (5. December),
in welcher Nordenskjöld's Bericht steht, eine Notiz über Hayes,
der mit großer Dreistigkeit das Dasein des Polarmeeres behaup-
tet. Die Westseite des Smithsundes ziehe sich auf eine bedeu-
tende Strecke nach Norden hin, und daraus fei zu folgern, daß
Land in der Richtung nach dem Pol hin vorhanden fei. Hayes
behauptet weiter, daß jenfeit des Cap Constitution der grön-
ländische „Kontinent" aufhöre und von dort an bis zum Pol
offenes Waffer sei.
Das ist eine in der Luft stehende Behauptung, für welche
jeder Beweis fehlt, eine pure Hypothese. Aus derselben will
man nun folgern, daß solchergestalt der Smithsund einen der
besten, wenn nicht den allerbesten Ausgangspunkt für eine Ent-
deckung des Nordpols abgebe. Das „Athenäum" besorgt, daß
die Nordamerikaner eine Expedition ausrüsten werden. Es sei
zu wünschen, daß die englische Regierung ihnen zuvorkomme und
ihrerseits eine Expedition aussende. Schon 1527 habe Thörne
dem Könige Heinrich dem Achten eine solche angerathen. Wir
werden mehrfach Gelegenheit haben, auf die Polarexpeditionen zu-
rückzukommen.
Gerhard Rohlfs in Nordafrika. Der unermüdliche
Reisende hat diesmal seine Schritte nach Nordafrika gelenkt, um,
wie er uns in der Mitte Novembers schrieb, die alte Cyre-
naica, das Plateau von Barka, zu erforschen. Dort ist aller-
dings auf eine reiche antiquarische Ausbeute zu hoffen. Jetzt
lefen wir in der „Allgemeinen Zeitung", daß Herr Rohlss zu
Ende des genannten Monats in Tunis eingetroffen war; er
fuhr von dort nach Tripolis. Von da aus will er dieMeschenke,
welche der König von Preußen dem Sultan von Bornu zuge-
dacht hat, nach Kuka absenden; Ueberbringer wird ein Dolmet-
scher sein, dessen Treue und Zuverlässigkeit früher schon durch
Heinrich Barth und später durch Herrn Rohlss selber erprobt
worden ist. Von der Cyrenaica wird der letztere zu Lande nach
Aegypten gehen, auf diefem Wege wohl die Oase des Jupiter
Ammon (Siwah) berühren und dann sich nach Jerusalem be-
geben. Er ist zum Consul Norddeutschlands für Palästina er-
nannt worden.
Dr. Alfons Stübel's Reise in den Llanos von Neu-
Granada-. Wir haben briefliche Mittheilungen dieses Reisenden
aus Bogota vom 15. October. Er war von seinem Ausfluge
nach den Llanos de San Martin in den letzten Tagen des
Septembers zurückgekehrt; am 23. August war er aufgebrochen.
Nach wenigen Stunden erreichte er von Bogota aus den Ge-
birgskamm, welcher die Wasserscheide zwischen dem Magdalena
und dem Orinoco bildet. Er gebrauchte sechs Tage, um von da
durch d>as fast unbewohnte Thal des Rio Negro nach Villa-
vicencio hinabzusteigen. Dieses elende Dorf liegt am Ein-
gange der Llanos. Die in jener Jahreszeit sehr angeschwollenen
Flüsse, häufige Regengüsse und die abscheulichen, kaum zu Pas-
sirenden Wege machten dem Reisenden viel zu schaffen.
Erdth eilen.
„Die Llanos, diese unabsehbaren Ebenen, durch welche der
Orinoco und seine zahlreichen Nebenflüsse langsam dahinströmen,
erblickt man zuerst kurz vor Villavicencio von einem hohen Berge
aus, dem Alto de Buenavifta. So weit das Auge reicht,
sieht man bloß Urwald; er wird hin und wieder von grünen
Grasflächen unterbrochen, aus denen das Wasser von Flüssen
hervorglitzert. Die Fernsicht wird von keinem Berge begrenzt.
An verschiedenen Punkten stiegen Rauchsäulen von brennenden
Grasflächen empor; diese werden angezündet, um den Graswuchs
zu befördern und das Ungeziefer zu vernichten. Gewitterwolken
warfen tiefe Schatten auf diesen grünen Laub- und Grasocean,
der an anderen Stellen von der Sonne grell beleuchtet wurde.
„Von Villavicencio aus hätte ich gern ein großes Steinsalz-
lager besucht und dann die Reise nach der Ortschaft San Mar-
tin fortgesetzt, das aber wurde durch die hoch angeschwollenen
Flüsse vereitelt. Nachdem ich sechs Tage in Villavicencio ver-
weilt, machte ich den Versuch, den Rio Guataquia zu passi-
ren, aber vergeblich, weil die Maulthiere der Gewalt des Stro-
mes nicht widerstehen konnten. Nun mußte ich meinen Reife-
plan abändern, und statt die vom Gebirge kommenden Flüsse
in der Richtung nach San Martin zu verfolgen, zwei Tage lang
durch eine ebene Gegend reiten, die Apiai genannt wird, um
die Ortschaft Pachaquiaro zu erreichen. Ich begegnete auf
dieser Strecke einem Indianer, der mit Bogen und Pseil auf
die „Venado", Jagd eines kleinen Hirsches, ging; im Uebrigen
trifft man nur selten auf Menfchen und deren Spuren. Der eine
Indianer, welcher die ganze Bevölkerung der Ortschaft Pacha-
quiaro ausmacht, war im Besitz eines Kahns, des einzigen weit
und breit vorhandenen Fahrzeuges.
„In diesem ausgehöhlten Baumstämme fuhren wir den Rio
Negro hinab, bogen in den Reh et a ein und gelangten am
zweiten Tage gegen Abend an das kleine Dorf Cabugaro.
Die Ufer jener Flüsse sind auf den Strecken, welche ich befuhr,
durchaus unbewohnt, und es vergehen Jahre, ohne daß ein Kahn
über diese Wasserflächen hingleitet. Die Natur ist sich hier völ-
lig selber überlassen und ist ungemein großartig. Der Ueppig-
feit der Vegetation entspricht das Thierleben; die Wälder sind
belebt von Assen, Papageien, vielen anderen Vögeln und Schmet-
terlingen, im Wasser wimmelt es von Fischen und Caymans.
Ich sah mehrmals, daß große Schlangen eilig durch den Fluß
schwammen, und ein großer Tiger, der eben trank, schien sich
sehr zu verwundern, als er unsern Kahn sah, gewiß den ersten,
welchen er jemals erblickt hat. Alle diese Thiere sind nicht lästig,
desto mehr aber die blutsaugenden Jnsecten, welche durch Zahl
ersetzen, was ihnen an Größe abgeht. Während einer Nacht,
welche wir auf einer Sandbank im Flusse zubrachten, sind wir
trotz der Moskitonetze von den „Sangudos" fast aufgefressen
worden.
„Bei Cabugaro hat der Rio Meta schon eine Breite,
welche jener des Rheins bei Mainz mindestens gleichkommt. In
dem genannten Orte blieb ich zwei Tage und ritt dann wieder
nach dem Gebirge zu, hinter welchem Bogota liegt. Nach vier
Tagen erreichte ich bei Medina den Fuß desselben und fand
meine Maulthiere, welche ich von Villavicencio dorthin voraus-
geschickt hatte. Auf dem Ritte dorthin kam ich oft stundenlang
über Ebenen, die fußhoch unter Waffer standen, und dann
und wann ein so tiefes Canon, daß abgesattelt werden mußte.
An solchen Stellen schwimmen die Maulesel ganz vergnügt hin-
durch; Sattelzeug und Gepäck wird von den Indianern auf dem
Kopfe getragen und manchmal in den Aesten zweier gegenüber-
stehender Bäume eine Brücke improvisirt. In den Flüssen be-
trug die Temperatur Mittags bis 30 und in ruhigstehenden Was-
seransammlungen bis 34v C. In Cabugaro stieg das Queck-
silber im vollen Schatten bis 36° C. und in der Sonne auf
52^ <x., — eine ganz refpectable Temperatur!
„Von Medina aus, wo ich ein paar Tage verweilte, trat ich
die Reife ins Gebirge an und war acht Tage später in Bogota.
Medina liegt in einem prachtvollen Thalkesiel, das Dorf selber
besteht aber nur aus wenigen armseligen Häusern. Trotzdem
ist es Hauptpunkt für den Viehhandel zwischen der Savana von
Aus alle
Bogota und den Llanos. Diese letzten, die weiten, ebenen Gras-
fluren, produciren bis jetzt nur Rindvieh, das in großer Menge
nicht nur nach Bogota, sondern auch bis nach dem Magdalena-
thale verhandelt wird. Ein großer, fetter Ochs kostet in den
Llanos 10 bis höchstens 12 Thal er. Die Llanos von San Mar-
tin und Casamare haben in Betreff des Handels eine große Zu-
kunft, und insbesondere wird Bogota durch eine Verbindung
mit dem Rio Meta viel gewinnen, denn dieser ist für die Schiff-
fahrt viel günstiger als der Magdalena. Die Regierung begreift
das und will eine Straße nach dem Meta bauen lassen, aber
vorläufig fehlen die Mittel dazu! Mit Rücksicht auf dieses Pro-
ject ersuchte mich der Präsident der Republik brieflich, ihm münd-
lich meine Ansichten und Erfahrungen mitzutheilen. Es brach
aber in Bogota wieder einmal eine Revolution aus und so blieb
bis jetzt die Sache auf sich beruhen.
„In Medina und Villavicencio, wo einige Bogotaner Kaffee-
Pflanzungen angelegt haben, wurde ich fehr zuvorkommend
empfangen und gebeten, bei der Regierung zu Gunsten des Stra-
ßenbaues zu sprechen. Die von Villavicencio gönnen jenen von
Medina den Weg nicht. Unglaublich ist die Unkenntniß der
Bogotaner über das nach dem Orinoco zu gelegene, reiche und
ungeheuer ausgedehnte Terrain, welches doch auch die klimati-
schen Verhältnisse der Hauptstadt bedingt. Außer einigen Vieh-
Händlern giebt es wohl nur wenige Personen, die es gewagt
haben, bis Medina oder Villavicencio zu gehen. Man hat eine
lächerliche Furcht vor den schädlichen Einflüssen des Klimas, die
gar nicht so arg sind, wie die Leute es sich vorstellen. Ich bin
ganz glatt durchgekommen, habe aber wohl kein Haus passirt,
in dem nicht wenigstens ein Kind fieberkrank gewesen wäre.
Das ist jedoch zu nicht geringem Theile der ungesunden Lebens-
weise und den schlechten Nahrungsmitteln zuzuschreiben."
Dr. Stübel's Schilderung der Revolution in Bogota über-
gehen wir; auch er betont die Art und Weise, wie man die pa-
triotischen Armeen recrutirt. „Man reiht täglich viele Frei-
willige ein, d. h. Soldatenabtheilungen durchziehen die Stra-
ßen und sangen Jeden ein, der ihnen brauchbar erscheint. Wer
nicht gutwillig mitgeht, bekommt einen Strick um den Hals. Die
Truppen bestehen zumeist aus Indianern, von denen jeder
zerlumpt nach Belieben geht. Bei feierlichen Gelegenheiten wird
eine Uniform nach französischem Muster getragen."
Es war Dr. Stübel's Absicht, gegen Ende Octobers zunächst
nach Jbague am Fuße des Tolima zu gehen und von dort
die Reise überNeiva, La Plata und denParamo deGna-
nacas in das Eauca-Thal fortzusetzen.
Das Todte Meer Californiens: der Owens-See.
Im Jahre 1866 wurde aus Gebietsteilen der Eounties Tulare
und Mono das County Jnyo gebildet. Dasselbe umsaßt am
Ostabhange der Sierra Nevada eine ausgedehnte Landstrecke, die
erst nach und nach näher bekannt wird. Das Gebirge ist hoch,
öde und an vielen Stellen unzugänglich. Der Mount Whit-
ney soll sich bis zu 15,000 Fuß erheben. Die ganze Gebirgs-
landschast ist ungemein wild und großartig. Wer von Vesalia
nach Lake City geht und den Gebirgspaß überschreitet, bemerkt
sofort den schroffen Gegensatz zwischen dem West- und dem Ost-
abHange der Sierra; auf dem letztern fehlt der Baumwuchs und
der Wachholderftrauch tritt auf. Man gelangt an den Owens-
See, ein ausgedehntes Wasserbecken, aus welchem Schwefeldämpfe
aussteigen. Weit und breit kann kein Thier leben. Die Pa-
Huta-Jndianer sagen, das Wasser fresse Alles auf, was hinein-
gerathe. Einst wurden etwa 80 diefer Indianer von den Wei-
ßen verfolgt, wollten sich nicht gefangen nehmen lassen, sprangen
in den See „und der hat sie zerschmolzen, als wären sie Salz
gewesen". Ob der Owens, wie behauptet wird, das Ueberbleibsel
von einem Meeresarme sei, der einst etliche 100 Miles weit nörd-
lich vom heutigen Ende des californischen Golfes landein gereicht
habe, das lassen wir unsererseits dahingestellt sein. Die Schwe-
feldämpfe sprechen nicht für diese Annahme. Der Owens-
Fluß, welcher in den See fällt, kommt aus der Sierra Nevada
im County Mono und fließt durch ein Thal, das auf der einen
Erdtheilen. 349
Seite von den Weißen Bergen, auf der andern von der Sierra
Nevada begrenzt wird. Lediglich an feinen Ufern und feinen
kleinen Zuflüssen liegen etwa 60,000 Acres anbaufähigen Bo-
dens, und dort haben sich auch schon Farmer angesiedelt, um
den Gold- und Silbergräbern Getreide und Gemüse zu liefern.
Denn der Owens-Bezirk ist reich an edeln Metallen. DieKear-
sage-Grube wurde 1864 durch Zufall von zwei Abenteurern
entdeckt, einem Amerikaner und einem Norweger, welche Quarz
fanden, der 2743 Dollars Gold und Silber auf die Ton ge-
stampften Gesteins ausgab; späterhin steigerte sich die Ausbeute
auf 4973 Dollars auf die Ton. Dann fand von Virginia City
her ein großer Andrang von „Miners" statt, die Kearsage-Grube
kam in die Hände einer Gesellschaft, welche den Betrieb mit gro-
ßen Mitteln führt, und seitdem sind sehr viele Adern, z. V. die
Silver Sprout Mines, in einer Höhe von 11,000 Fuß und
andere in 13,000 Fuß Höhe entdeckt wordeu. Die Goldausbeute
ist gegenüber jener des Silbers gering; z. B. 2000 Pfund ge-
stampften Quarzes oder auch Erzes geben 876 Dollars Silber
und 70 Dollars Gold, oder 507 Dollars Silber und 64 Dollars
Gold.
Die Colonisation von Palästina. Ein Magnetiseur,
Dr. Kuhlmann, hat jüngst eine Schrift über „Palästina, als
Ziel und Boden germanischer Auswanderung und Eolo-
nisation" erscheinen lassen. Wir erfahren davon aus einem
Berichte der „Allgemeinen Zeitung", in welcher ein Correspon-
dent in Jerusalem den Gegenstand bespricht. Wir unsererseits
wollen von vornherein bemerken, daß es auf baren Unverstand hin-
ausläuft, an eine Besiedelung jenes Landes und Syriens über-
Haupt durch germanische Menschen auch nur zu denken. Fromme
Gemüther oder religiöse Fanatiker mögen sich wohl dem Wahn
hingeben, daß im „heiligen Land" eine solche möglich sei, wer
aber auch nur das A-B-C der Geographie und der Völkerkunde
inne hat, wird ganz anderer Ansicht sein. Wir Deutschen ha-
ben, vom Handel abgesehen, im semitisch-osmanischen Morgen-
lande nichts zu suchen. Das weiß man seit den Kreuzzügen.
Was ist von den Kreuzfahrern, welche zwei Jahrhunderte lang
den Orient heimsuchten, übrig geblieben? Nicht die Spur. Es
ist in Nordafrika dasselbe. Vorzugsweise reibt aber Vorderasien,
insbesondere Syrien und die mittlere und untere Euphratregion
Alles auf, was 'aus anderen Klimaten dorthin kommt. Ent-
hält denn die Geschichte gar keine warnenden Lehren?
Für religiöse Schwärmer allerdings nicht, aber für Leute mit
gesundem Menschenverstand allerdings. Was ist z. B. in Sy-
rien und Palästina von Phöniciern, Assyrern, Aegyptern, We-
der n , Persern, Macedoniern und Griechen, Römern, Chalifen
und Kreuzfahrern übrig geblieben? Sie alle sind in Syrien
und Palästina bald erschlafft und gleichsam abgestanden. Nie
war dort eine compacte, einheitliche oder nur gleichartige Volks-
thümlichkeit; alle Eroberer und Nationalitäten haben sich dort
zu Grunde gerichtet, und jetzt leben hier ein Dutzend verschiede-
ner Volkstrümmer und Secten neben und durch einander, sich
gegenseitig entfremdet oder in unauslöschlicher Erbfehde. Syrien
und Palästina waren immer ein Chaos. Und in dieses Chaos
hinein und in ein Land mit solchem Klima und in die Nach-
barschast der buntscheckig durch einander gewürfelten Orientalen
soll und darf man keine deutschen Leute bringen. Auch sie wür-
den dort zu Grunde gehen, während sie mit dem Aufwände von
Geld, Arbeit und Entbehrungen, welcher in Palästina hinweg-
geworfen wäre, sich in Amerika oder Australien eine zusagende
Heimath schaffen könnten.
Das ist unsere Ansicht. Alle Eolonisationsversuche von Aus-
ländern sind gescheitert. In der „Allgemeinen Zeitung" wird
auf den kläglichen Ausgang hingewiesen, welchen die Nieder-
lassung puritanischer Yankees, aus dem Staate Maine, bei Beth-
lehem genommen hat; Deutsche, welche zuerst bei Smyrna sich
niedergelassen hatten, scheiterten dort kläglich und noch kläglicher,
als sie eine Ansiedelung bei Jassa gründen wollten. Auch die
vor zwei Jahren bei Jaffa gegründete Niederlassung „Adam's
City" war bald nach der Gründung völlig gesprengt und die
350 Aus allen
Niederlassung der „Tempelfreunde" in Galiläa ist in kläglichen
Umständen. — Was in Palästina an fruchtbaren Strecken vor-
Händen ist, möge man ruhig den Asiaten überlassen; die deut-
sehen Ansiedelungen, falls dergleichen überhaupt gedeihen könn-
ten, würden doch nur vereinzelt und von einander entfernt lie-
gen, und es versteht sich außerdem von selber, daß sie von den
Asiaten mit Widerwillen betrachtet werden würden. Die Frem-
den würde man als Eindringlinge hassen. Es ist, man verzeihe
den Ausdruck, eine Verrücktheit, wenn der Magnetiseur Kühl-
mann das brennend heiße Jordanthal als „trefflich
für Deutsche" bezeichnet! Selbst die Eingeborenen ziehen aus
vier Monate von dort weg, weil sogar für sie die Hitze uner-
träglich und das Klima zu ungesund ist. Wenn „den Christen
der Name Palästinas theuer ist", so haben wir dagegen nichts
einzuwenden, wir finden es aber von den Juden sehr verstän-
dig, daß sie nicht in ein der Anarchie verfallenes Land gehen,
sondern lieber in geordneten Staaten und in Ländern mit ge-
fnndem Klima wohnen. Die deutfche Auswanderung ist ohnehin
genug nach aller Weltgegend hin verzettelt; und nun will man
gar unsere Landsleute zwischen Drusen, Maroniten, Beduinen,
Türken :c. :r. hineinwerfen!
Wir lesen auch, daß der bekannte Missionär Ludwig Krapf
seinerseits die abyssinischen Hochebenen der Provinz
Amhara als „für deutsche Kolonisation trefflich ge-
eignet" hingestellt habe. Gesundes Klima haben dieselben aller-
dings. Aber wir wissen, was abyfsinifche Anarchie ist und daß
es tausend eben so gesunde Zielpunkte für deutsche Niederlassun-
gen giebt. Und nun ins Innere Abyssiniens! Man denke sich
den schwäbischen oder Psälzer Bauer zwischen die Abyssinier und
die Mohammedaner, zwischen Amharaleute und Gallas versetzt,
abgeschieden vom Oceane und den Landeseingeborenen verhaßt!
Wie lange wird die Quacksalberei des Unverstandes noch ihr
bornirtes oder gewissenloses Treiben fortsetzen?
Die Seete der Nichtbeter in Rußland. Im Reiche
des Czars tauchen fast in jedem Jahre neue Secten auf, welche
der heiligen orthodoxen Kirche den Rücken kehren und nach ihrer
eigenen, nicht selten wunderlichen Fa^on selig werden wollen.
Damit sind aber „Kirche und Staat" nicht einverstanden; sie
wenden gegen die „Irrgläubigen" specisische Mittel an, wie sich
aus folgenden Berichten der „Moskwa" ergiebt.
„In der Mostowinskischen Wolost des Kreises Ssarapul
(Gouvernement Wjatka) hat sich unter den Bauern eine sonder-
bare Ketzerei eingefunden, welche in der officiellen Mittheilung
als „Abfall von der Kirche" bezeichnet wird. Die Leute gehen
nicht in die Kirche, beten nicht, haben alle Heiligenbilder
zerstört und auf die Ermahnungen der Behörden und der
Geistlichkeit geantwortet: „Wir erkennen Niemand an, als den
himmlischen Vater; wir glauben Niemandem, als ihm; wir er-
warten von Niemand etwas', als von ihm. Er allein beschützt
uns :c." Die Sectirer nennen sich „Nichtbeter" und es ha-
ben sich ihnen bereits viele Dörfer angeschlossen. Die Behörde
entschloß sich endlich, zu dem stärksten Ueberzeugungsmit-
tel Zuflucht zu nehmen: sie begann die Hauptanstifter ins Ge-
fängniß zu setzen. Für dieselben traten alle Uebrigm ein;
sie verlangten in Masse, gleichfalls ins Gefängniß gesetzt zu
werden. Der Abtrünnigen waren so viele, daß zu Ende Octo-
bers vorigen Jahres bereits 170 Personen im Gefängnisse saßen
und viele wegen Mangels an Raum abgewiesen werden mußten.
Eine aus Geistlichen gebildete Kommission sollte die Verirrten
zurechtweisen, konnte aber nichts ausrichten. Inzwischen starben
die Menschen in Folge der Enge des Gesängnißlocals hinweg.
Man ließ die Ueberlebenden endlich hinaus und versuchte, sie
nun einzeln in ihren Häusern zu überzeugen. Dies gelang
auch. Alle aus dem Gesängniß Entlassenen haben Buße gethan
und sind in den Schooß der Kirche zurückgekehrt. Nur die eigent-
lichen Rädelsführer (etwa 50 an der Zahl) sitzen noch ini Ge-
fängniß, sind auf keine Weise zu überzeugen und erwarten die
Entscheidung ihres Schicksals."
Erdtheilen.
Neue Landkarten.
Es gereicht uns immer zu einer wahren Freude, wenn uns
neue Karten von Heinrich Kiepert oder August Peter-
mann zu Gesichte kommen. Der große Handatlas des erstern,
eine wahre Musterarbeit, geht in der zweiten Auslage (bei Dietrich
Reimer in Berlin) dem Abfchlufse entgegen, und wir empfehlen
dieses prächtige Werk den Lesern des „Globus" hier zu wieder-
holten Malen. Nicht minder vortrefflich sind die neuen Karten,
welche Hr. Petermann für den trefflichen Stieler'schenHand-
atlas (Gotha, Justus Perthes) neu bearbeitet hat. Uns sind
jüngst die Blätter 51 und 52 zugekommen; sie stellen den G r o ß e n
Oeean, dessen Küsten und die gesammte polynesische Inselwelt
dar. Die Südsee hat in unseren Tagen ganz ungeheuer an Be-
deutung gewonnen; das Handelsleben in ihr entfaltet sich immer
reicher; sie wird nach Vollendung der großen Bahn durch Ame-
rika in gesteigertem Maße eine Fahrbahn nach Europa bilden.
In ihr liegen der Eontinent Australien und die unzähligen Insel-
gruppen; an ihr aus der Westseite China, Japan und das Amur-
land; auf der Ostseite Alaska, Britisch Columbia, Washington,
Oregon, Kalifornien, Mexico, Centralamerika, Neugranada, Ecua-
dor, Peru und Chile. Der Verkehr in dem gewaltigen Wasser-
becken selber, das nun gleichsam zu einem asiatisch-amerikanischen
Golfe, zu einem intercontinentalen Mittelmeere geworden ist, wird
auch durch regelmäßige Dampferlinien vermittelt, welche auf Pe-
termann's trefflicher Karte eingetragen worden sind. Sie ist
die vollständigste und sie ist kritisch bearbeitet; sie wird Keinen,
der aus ihr etwas sucht, im Stiche lassen.
Beiläufig mag bemerkt werden, daß wir bedauern, auf die-
ser schönen Karte die durchaus irrige Schreibart Sidney für
die Hauptstadt von Neufüdwales zu finden. Als wir unfern
Freund Herrn Karl v. Scherzer darauf aufmerksam machten, daß
in seinem großen Werke über die commerciellen Ergebnisse der
Novara-Expedition die falsche Schreibart Sidney zu finden
sei, erhielten wir zur Antwort, daß dieselbe in der Brockhausi-
schen Buchdruckerei zu Leipzig einmal eingeführt worden, daß er
seinerseits jedoch an diesem Fehler unschuldig sei. Wir hoffen,
daß in den bei Brockhaus erscheinenden Werken künstig dieser
Fehler nicht mehr vorkomme. Die Bewohner einer Stadt müs-
sen am besten wissen, wie der Name derselben geschrieben wird,
und wir haben kein Recht, das richtige Sydney in das un-
richtige Sidney zu verfälschen. An sich selber ist die Sache eine
Kleinigkeit, aus einer kritisch bearbeiteten Karte soll aber ein
solcher Fehler vermieden werden.
Auf Kiepert's kleinem Handatlas steht richtig
Sydney. Dieser „kleine Handatlas der neuern Geographie für
Schule und Haus," zweite vermehrte und verbesserte Auflage,
Berlin 1863 (bei Dietrich Reimer), enthält 16 Karten in Hand-
lichem Format und kostet nur 2 Thaler. Wir können nur wün-
schen, daß jeder Leser des „Globus" denselben zum Nachschlagen
bei der Hand habe. Die Karten empfehlen sich insbesondere
auch dadurch, daß sie nicht überladen sind und nur das
Nöthigste in sehr sauberer Aussührung geben. So gewinnt der
Beschauer leicht eine Uebersicht.
Wir nehmen die Gelegenheit wahr, um uns in schärsster
Weise über die Sünden auszusprechen, welche neuerdings allzu-
häufig von ignoranten Subjecten verübt werden. Bei der gro-
ßen Theilnahme, welche die Länder- und Völkerkunde auch im
großen Publicum findet, wird von Krethi und Plethi auf die
Ausbeutung derselben speculirt und es kommen als „Landkarten"
unrichtige, erbärmliche Machwerke zum Vorschein, deren Fabri-
kanten nicht einmal die guten und richtigen Vorbilder wieder-
geben, sondern ins Blaue hinein, mit stupender Unwissenheit und
eben so stupender Dreistigkeit, allerlei Schund in die Welt schicken;
„wohlseil und billig", das versteht sich von selber, aber das Fa-
brikat ist auch danach! Durch solche Machwerke wird der Käu-
fer, dem man gute Maare anpreist, hinter das Licht geführt;
das ist schlimm, noch schlimmer ist aber die Liederlichkeit, mit
welcher solche Landkarten sabricirt werden, und die Versündigung
an der Wissenschaft. Man wird unsere etwas starke Ausdrucks-
Aus allen Erdth eilen.
351
weise gerechtfertigt finden, wenn wir unser Urtheil mit einem
abschreckenden Beispiele belegen, das sür heute genügen möge;
wir werden gelegentlich noch Andere, welche sich gegen Wissen-
schast, Kartographie und das kaufende oder lernende Publicum
versündigten, auf die Anklagebank führen.
Das abschreckende Beispiel wird dargeboten von folgendem
Fabrikate:
Vollständiger S ch u l a t l a s. Herausgegeben und mit
Profilen versehen von LouisThomas, ordentlichem Lehrer (!)
an der dritten Bürgerschule zu Leipzig. Entwurf und Zeich-
nung von H. Kunsch. Dritte, nach den neuesten politischen
Veränderungen verbesserte Auflage. Preis % Thlr. Leip-
zig, Verlag von Julius Kliukhardt (1868).
Wir rechnen die Herausgabe dieses Atlas unter die Sün-
den wider die Geographie und wider die Schule;
uns ist noch kein Atlas zu Gesicht gekommen, der, so leicht-
fertig gearbeitet, auf jeder Karte die totale Unfähigkeit
des Herausgebers documentirte. Warum einen Atlas für die
Schule veröffentlichen, der nichts Eigenartiges hat als s ch l e ch -
t e n Druck und haarsträubende Fehler? Manche Kar-
ten versetzen uns um mindestens zwanzig Jahre zurück und da-
bei tritt das Machwerk mit der Prätension auf, ein v o llftä n-
diger Schulatlas zu sein!
Betrachten wir die Blätter näher.
Das erste enthält neben den Planigloben die einzige Karte
von Australien; also ein ganzer Erdth eil wird mit
einer Nebenkarte abgefunden, welche weder die Colo-
nien Queensland und Victoria kennt, noch den seit mehr
als zehn Jahren eingeführten Namen Tasmania enthält!!
Auf der Karte von Europa, die doch wesentlich eine po-
litische Karte ist und wie der Titel zu erwarten berechtigt, nach
den neuesten politischen Veränderungen verbessert sein sollte,
suchen wir vergebens d i e U m r i s s e derGroßmächte:
Preußen,Oester reich und den Norddeutschen Bund.
Nicht einmal d e r N a m e O e st e r r e i ch ist z u f i n d e n.
Die Provinzen Preußen und Posen stehen außerhalb
Deutschlands und Schleswig gehört noch zu Däne-
mark!
Daß dagegen der Kirchenstaat bereits verschwunden
ist, dürfte vielleicht auf Rechnung politischer Divinationen der
beiden Leipziger Verfertiger zu fetzen sein.
In Asien ist die auf der Karte angegebene Grenze des
russifchen Reiches gänzlich veraltet; die mehr als 1000 Quadrat-
meilen große franzöfische Besitzung in Hinterindien
suchen wir vergebens. Dagegen erscheinen die Nikobe-
r e n noch als dänischer Besitz!
Doch weiter. Wenn an derOftküfte Asiens unter 50
für die Schule zum Theil indifferenten Benennungen die Städte
Yokohama, Nagasaki, Schanghai, Eanton und
Manila fehlen, wenn Macao als englische Besitzung
angegeben ist und Ceylon jedes Hafenplatz es entbehrt,
wenn in Vorderindien Benares und Karratschi, in
P e r s i e n T e b r i s, in T u r k e st a n S a m a r k a n d, in A r a -
bien Er-Riad, in Vorderasien Beirut vergebens
gesucht werden, so fragen wir erstaunt nach der Berechti-
gung der Existenz einer solchen Karte für Schulzwecke.
In den Bergprofilen fehlt hier wie in Afrika der höchste
Gipfel.
Die Karte von Afrika vollends ist ein wahres Mon-
strum. Es sollte uns nicht wundern, wenn auf Grund diefer
Karte nächstens die Sahara mit Dampfern befahren würde;
denn ein wundervoller,sab elhafterStrom durch-
schneidet die Wüste in südlicher Richtung von Rhat
(hier Chat geschrieben) bis über Kano hinaus und trägt im
untern Lause den bekannten Namen T s ch a d d a!!!
Livingstone's angebliche Entdeckungen in Südafrika werden
durch die Zeichnung des Zambe (foll heißen Zambesi) durch
die Bersertiger glänzend widerlegt; denn wo wir nach den An-
gaben des englischen Reisenden uns den Mittellauf des Stromes
dachten, finden wir ein großes unbekanntes Gebiet mit der Be-
zeichnung K a l a g a r i. Die Verfertiger haben wohl einmal von
der Kalaharisteppe gehört.
Wir müssen bekennen, wir haben zu viel von diesen Gegen-
den zu wissen gemeint, aber — die Wissenschaft, wir sehen es
hier, muß umkehren! Was Burton, Speke, Baker, Heuglin und
Andere geleistet, das zu merken ist, nach diesem Atlas zu urthei-
len, für die Jugend unnützer Ballast. Die Bauernrepubli-
ken in Südafrika und die Besitzungen d er Portu-
giesen in Guinea sind natürlich nicht minder unnöthig;
dagegen prägen wir uns die correcte Schreibweise: Sorotra,
Lag oa Bai, AlgovaBai und C o n g e ein!! Und daß
Lagos und Port Elisabeth fehlen, rechtfertigt sich wohl
durch den pädagogischen Zweck des Atlas; denn mit Recht sagt
ja Alexander V.Humboldt: „Nur leer scheinende Karten prägen
sich dem Gedächtnisse ein."
Wozu soll auch die Jugend das Neueste und das Wichtige
erfahren? Das ändert sich vielleicht bald. Rühmen und preisen
wir also, daß auf dem Atlas der Verfertiger Thomas und
.Kunsch in Nordamerika die Territorien Montana, Idaho,
Wyoming nicht stehen, und freuen wir uns mit Sou-
louque, daß Haiti noch ein Kaiserthum ist!
Aber wozu in die Ferne fchweifen, das Vaterland ist wich-
tiger. Da können wir es doch gewiß nur loben, daß der Her-
ausgeber dem stürmischen Fortschritte der Zeit gegenüber und
bei dem rastlosen Bau neuer Eisenbahnen sich conservativ ver-
hält und nicht gleich alle Bahnlinien einzeichnet, ehe sie etwa
durch wiederholte Unglücksfälle historisch merkwürdig geworden
sind. Zu viele Eisenbahnen würden die Reiselust der Jugend
zu mächtig anstacheln. In der Ferne, in Rußland, kann man
schon einige mehr zeichnen als existiren; dort reist schon unsere
Jugend auf der Karte von Moskau nach Odessa ans der
Thomas-Atlasbahn in d£r Phantasie.
Auch die politischen Grenzen haben ihre Wichtigkeit ver-
loren, seitdem die Paßscherereien aufgehört. Darum find auf
den Karten auch die beiden Theile des Fürstenthums Lübeck-
Eutin noch nicht mit einander verbunden; darum hat Baden
noch vier statt elf Kreife. Und in sehr geschickter Weise wird
die Urtheilskraft der Kinder geschärst, indem neckisch die Far-
ben der Kreise und Länder vertauscht sind. So
sind in dem uns vorliegenden Exemplare der Schwarzwald-
und Donaukreis vertauscht und Holland ist in die
Farbenscala Belgien getaucht, wie Belgien als
Holland bezeichnet ist. Dasselbe pädagogifche Verfahren
wird ja auch in manchen Schulgrammatiken angewendet, wo dem
Schüler falsch gebildete Sätze vorgelegt werden, die er zu ver-
bessern hat.
Zum Schlüsse sei noch erwähnt, daß der Meerbusen von
Lyon (statt du Lion oder Leon) uns lebhaft an die berühmte
„Seestadt Leipzig" erinnert, wo dieser Atlas unverdienterweise
das Licht der Welt erblickte. Er ist eine durch und durch lie-
derliche Arbeit, herausgegeben von dem „ordentlichen Leh-
r e r" Louis Thomas!
.fc * :f:
— Wie rücksichtslos das Ultramoskowiterthum ge-
gen die Deutschen in den Ostseeprovinzen zu Werke geht, er-
giebt sich auch daraus, daß die amtliche Zeitung für Livland
ihren bisherigen deutschen Titel: „Livländische Gouverne-
mentszeitung" vom September an hat russisch drucken müs-
sen. Der Text ist bis jetzt deutsch geblieben.
— Die jüdischen Gebetbücher werden jetzt ins Russische
übersetzt. Die Kinder Abrahams sollen vermoskowitert werden.
— Die Wittwe des Violinspielers Ernst besuchte während
ihrer Reise im Mittlern Frankreich eine Dorfkirche in der Au-
vergne. Zwei Heiligenbilder fchmückten den Altar: — Sta-
tuen Voltaire's und Rousseau's! Frau Ernst bemerkte
dem Geistlichen, daß diese beiden Philosophen doch wohl nicht
als Kirchenheilige betrachtet werden könnten. Der Pfarrer,
welcher nicht gewußt hatte, daß so arge „Heiden" in seiner Kirche
ständen, hatte nichts Eiligeres zu thun, als dieselben zu entfer-
352
Aus allen Erdtheilen.
nen. Aber am Tage nachher wurde die Dorfgemeinde von einem
Hagelwetter heimgesucht, das auf den Feldern entsetzliche Ver-
Wüstungen anrichtete. Es verstand sich nach Ansicht der Bauern
von selber, daß die beiden depossedirten Heiligen sich gerächt
hatten für die ihnen angethane Schmach. Der Pfarrer mußte
die Statuen von Rousseau und Voltaire wieder als Altarheilige
einsetzen. So geschehen in dem Lande, welches an der Spitze
der Civilisation marschirt, Anno 1868.
— Wir haben eine Anzahl Nummern des deutschen „Hun-
tingburgh Demokrat" erhalten. Dieses Huntingburgh liegt
in Dubois County, Staat Indiana; die deutschen Bewohner
dieser Stadt sind in weit überwiegender Mehrzahl „stramme
Demokraten und eisrige Freunde der von den Radicalen zu
Grunde gerichteten Bundesverfassung." Die genannte Zeitung
polemisirt mächtig gegen General Grant und dessen Partei. Wir
geben eine Probe, überlassen es jedoch dem Leser selber zu prü-
sen, ob das hier folgende Rechenexempel Stich hält:
„Die Bundesschuld von 2600,000,000 oder von 2523,534,480
Dollars ist das Monument der elenden radicalen Gewaltherr-
schast, Unerfahrenheit und Schurkerei, 'welches auf den Ruinen
der Constitution zwischen den gebrochenen Säulen der amerikani-
schen Republik errichtet ist, und es stellt unsere nationale Zurück-
fetzung und unfern Ruin dar; zur selben Zeit ist es ein fpre-
chender Zeuge des nationalen Bankerotts, der unerträglichen
und ewigen Besteuerung und der kriechenden Unterwürfigkeit der
Armen gegen die Neichen.
Die Steuereinnehmer sind jetzt in j?der Gasse und Straße
des Landes thätig, und der Wohlfahrt des Landes ebenso nach-
theilig, als es die sieben Plagen Aegyptens waren, welche Pharao
demüthigten. Diese Steuereinnehmer verlangen Taxen
für: den Hut auf deinem Kopfe; — die Schuhe an deinen
Füßen; — die Kleider an deinem Leibe; — die Speisen, welche
du issest; — den Thee und Kaffee, welchen du trinkst; — den
Topf, in welchem du ihn kochst; — die Tasse, aus der du ihn
trinkst; — die Ackergeräthe in deiner Wirthschast; — die Werk-
zeuge, mit welchen du arbeitest; — das Papier, auf welchem du
schreibst; — die Feder und Tinte, womit du schreibst; — die
Zeituugen und Bücher, welche du liesest; — die Einrichtung in
deinem Hause; — das Gas oder Oel, welches dir leuchtet; —
die Kohle, welche du gebrauchst; — den Ofen, worin du sie
brennst; — das Zündholz, womit du sie anzündest; — die Me-
dizinen, welche du einnimmst;— den Taback, welchen du rauchst;
— die Pfeife, worin du ihn rauchst; — die Teller auf deinem
Tifche und alle Speifen, die du hiervon issest.
Nachfolgende Darstellungen aus dem „Frankfurter Neoman"
dürften unseren Lesern angenehm sein: Der höchste Berg auf
Erden ist in dem Himalayagebirge in Ostindien, selber erreicht
eine Höhe von 23,173 Fuß oder etwas weniger als fünf und
eine halbe Meile. Die Schuld der Vereinigten Staaten
betrug nach officiellen Berichten des Schatzmeisters am I.August
d. I. 2,523,534,480 Dollars. Setzen wir nun voraus, daß
diese Schuld in Ein-Dollar-Noten vor uns liege und häu-
sen selbe eine über die andere auf. Glaubt Ihr, daß dieser
Hausen die Höhe eines Berges erreichen würde? Laßtuns sehen:
Sagen wir, daß ein huudert einzelne Noten aufeinander liegend
einen Zoll hoch sind, so haben wir folgende Höhe:
ES sind 25,235,344 Zoll!
oder 2,101,945 Fuß!
oder 700,981 Yards!
oder 393V2 Meilen!
oder wenn diefe Noten anstatt Ein-Dollar-, Einhundert-Dol-
lar-Noten wären, fo würde diese Pyramide beinahe vier Mei-
len hoch werden, daher höher als der höchste Berg in Nord-
amerika; der Berg St. Elias in Rufsifch-Amerika, welcher bloß
17,900 Fuß oder weniger als 3% Meilen hoch ist. Gehen wir
weiter und setzen voraus, die Staatsschuld wäre in Silber statt
in Greenbacks und rechnen wir 16 Dollars aufs Pfund, fo be-
trägt das Gewicht unserer Schuld gerade 157,720,905 Pfund!!
oder 9857 Eisenbahnwagenladungen (zu 16,000 Pfund den Wa-
gen), welches einen 56 Meilen langen Train bilden würde, wenn
wir bloß 30 Fuß Wagenlänge annehmen!!! — Wollen wir es
weiter betrachten und setzen voraus, daß diese Silber-Dollars
durch Menschen aus der Münze fortgeschafft werden follten; wir
miethen Lastträger zu diesem Zwecke und lassen jeden Mann
40 Pfund tragen. In diesem Falle brauchen wir 4,000,000
Träger, welche, wenn sie drei Fuß voneinander ständen, eine
Linie von 3000 Meilen Länge bilden würden, und wenn selbe
mit der Geschwindigkeit von drei Meilen per Stunde marschiren
würden, so würde diese mit der Staatsschuld beladene Armee
beinahe 40 Tage gebrauchen, um einen gegebenen Punkt zu pas-
siren. Die Arbeit, diese Schuld in Silber-Dollars zu zählen,
wäre beinahe von endloser Dauer. Z. B.: Ein Mann fing am
1. August 1863 diese Arbeit au, arbeitet täglich 10 Stunden
und zählt jede Minute sechzig Dollars. Im Jahre des Herrn
4363 würde er mit dieser Arbeit fertig sein. — Es giebt aber
auch noch andere Anschauungen von der Größe dieses großen
„Landessegen", welche sicher die Aufmerksamkeit der Farmer
in Anspruch nehmen werden: Zu 2 Dollars der Bushel, die
Staatsschuld würde 1,261,767,245 Bushel oder 37,853,017 Ton-
nen Weizen darstellen. Um diese Menge in zweispännigen Wa-
gen fortzuschaffen, würde man, jeden Wagen mit einer Tonne
beladen, 37,853,017 Wagen und 75,706,034 Pferde nöthig ha-
ben. Geben wir jedem Fuhrwerke 30 Fuß Raum, und wir
haben eine Cavalcade, welche die Erde umgürtelt!
Wir sind dieser Vergleiche ebenso müde, als wir alles dessen
müde sind, was von der radicalen Gewaltherrschaft kommt, welche
in einer kurzen Zeit das Wohl des Landes vernichtete und ihre
Arbeit mit der unsterblichen Infamie krönte, uns ein Monument
von Schulden zu errichten, welches wie die Pyramiden, der öden
Umgebung wegen, mehr ins Auge fällt."
— Wie sehr die wirtschaftlichen Verhältnisse in
einzelnen Südstaaten der amerikanischen Union zerrüttet sind,
ergiebt sich schon aus der Thatsache, daß Mitte November im
Staate Mississippi der siebente Theil des gesammten Grund-
besitzes subhastirt und zum Zwangsverkauf ausgeboten worden ist.
— Zur Charakteristik des rufsischen Beamten-
Wesens giebt die russische „St. Petersburger Zeitung" einen
interessanten Beitrag aus dem Gouvernement Ssimbirsk, das
an der Wolga liegt. Das nachstehende Schreiben des Kreis-
richters (Jsprawnik) ist an eine im Kreise Kurmysch woh-
nende Dame von Stande gerichtet und durchaus kennzeichnend.
„Geehrte Frau Olga Ssergejewna! Ich habe be-
merkt, daß Sie seit Ihrer Rückkehr aus Moskau auf
der Brust über Ihrem Kleide ein großes fchwarzes
Kreuz an einem langenBande von gleicher Farbe tra-
gen. Da nach dem Modenjournal ein folcher Schmuck
nicht ein Bestandtheil der Damentoilette ist und ich
außerdem noch bei Niemandem eine ähnliche Dccora-
tion gesehen habe, so sordere ich Sie auf, mir dieBe-
deutung diefes Emblems zu erklären. — Unter Ver-
sicherung meiner vollkommenen Hochachtung habe ich die Ehre,
mich als Ihr ergebener Diener zu unterzeichnen. Rudnew,
Jsprawnik des Kreises Kurmysch."
— Nützliche Verwendung gebrauchter Briefmarken.
Pastor Maurach in Oberpahlen in Livland bittet in der „Kurl.
Gouv.-Ztg.", ihm die alten abgestempelten Briefmarken
einzusenden. Die Chinesen, dieses eigenartige, sonderbare Volk,
haben nämlich eine besondere Leidenschaft dafür gefaßt, Schirme,
ja fogar ganze Zimmer mit solchen Briefmarken zu bekleben und
kaufen dieselben zu Tausenden und Millionen. Die rheinische
Mission, die ihren Vertreter in China hat, sammelt nun die
Marken, verkauft sie zu 1 Thaler das Taufend und läßt für
das daraus gelöste Geld die Kinder erziehen, welche die Chine-
sen ausgesetzt oder als Sklaven verkauft haben.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redactiou verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Ans dem Volksleben der Japaner.
ii.
Criminalprocesse. — Todesstrafe und Hinrichtungen. — Straßenleben in Heddo. — Blick in ein Familienzimmer. — Mittag-
essen. — Krankheiten; die Aerzte und ihre Heilmethoden. — Verdienste des holländischen Doctors van Meerdervoort. — Die
Universität zu Heddo und die Lehre des Confucius. — Das Colleginm der Dolmetscher. — Preßbureau und Literatur. —
Der amtliche Stil. — Neuere Vorgänge im Reiche.
Im vorigen Artikel wurde gesagt, daß jeder Missethäter,
der wegen Diebstahls vierundzwanzig Mal ein „Mark" er-
halten hat und dann noch einmal rückfällig wird, die To-
desstrase erleidet. Dieselbe trifft auch jeden, welcher einem
Andern Sachen im Werthe von mehr als 40 Jtzibus ent-
fremdet. Gewöhnlich wartet das Gericht mit der Hinrich-
tnng, bis drei oder vier Verurtheilte die Exemtion zu erlei-
den haben, und dann wird sie allemal im Hose des Ge-
richtsgebändes vorgenommen. Die Japaner besolgen also
ein Versahren, ans das man in Europa erst während unsern
Menschenalters gefallen ist; die scandalöse Art von Hinrich-
tungen, bei denen Pöbelmassen sich versammeln, sich an einem
blutigen Vorgange weiden und hinterher Branntweinorgien
feiern, wie das in unseren christlichen Ländern Jahrhunderte
lang herkömmlich war und in manchen Ländern noch ist, —
diese haben sie dafür nicht. Nur die Criminalrichter und über-
Haupt Gerichtspersonen sind Zeugen. Man verbindet dem
Vernrtheilten die Augen und wirft ihm seinen Kirimon (wei-
ten Rock mit langen,, weiten Aermeln) nach rückwärts über
die Schultern. So muß er niederknien; zwei oder vier Heu-
kersknechte halten ihm Hände und Füße und dann säbelt ihm
der in seinem Handwerk wohlerfahrene Scharfrichter den Kopf
vom Rumpfe. Dieser wird in einen Korb geworfen, abge-
waschen und dann vierundzwanzig Stunden lang auf einem
Marktplatz ausgestellt. Der Körper wird in einen Stroh-
sack verpackt und findet eine echt japanische Verwendung. Man
überläßt ihn nämlich dm Edelleuteu, welche sich schon im
Voraus gemeldet haben, um die Schärfe ihrer Säbel an der
Leiche zu Probiren!
Öffentlichen Hinrichtungen unterliegen nur Brand-
stiftet und Meuchelmörder; die ersteren werden verbrannt,
und zwar in der Art, daß man ihre Fesseln mit einer Lage
nassen Thons überzieht, denn bislang haben die Japaner
keine eisernen Ketten gekannt oder angewandt und ihre Stroh-
seile würden ohne jenen Ueberzug bald verbrennen. Vor
einiger Zeit wurde aus solche Weise in Nokohama ein Mensch
hingerichtet, der geschmoren hatte, das europäische Quartier
in Asche zu legen; er war aus frischer That ergriffen wor-
den. Der Diener des Schweizers Humbert schilderte dem-
selben die Hinrichtung zweier Vatermörder in Ueddo^ und
brachte ihm darüber ein fliegendes Blatt mit Illustrationen
in Holzschnitt, welchem unsere Illustration nachgebildet worden
Globus XIV. Nr. 12. (Deccmber 1868.)
ist. Also werden die „grausigen Morithaten" im Jnselreiche
des Sonnenausgangs zur Erbauung eines sensationslustigen
Pöbels ganz in derselben Weise ausgebeutet, wie im „civili-
firten" Europa, „comme on sait que cela se pratique
encore en pleine civilisation chretienne."
Dem Mörder wird der Hals abgeschlagen und man hul-
digt, wie das so lange in Europa und aus den Kathedern
bis in unser Jahrhundert hinein vorkam, der Abschrecknngs-
theorie. Man setzt den Verurtheilten aus einen hohen Holz-
sattel, hängt ihm einen Rosenkranz um den Hals und so
wird er zu Pferde durch die Straßen geführt. Vor ihm her
tragen Gerichtsdiener ein großes Placat, auf welchem seine
Missethat geschildert wird.
*
* *
Die freie Beweglichkeit des Bürgerstandes war bisher,
wenigstens in Ueddo, vielfach gehemmt, doch sind schon manche
Schranken durchbrochen worden, seitdem der Verkehr mit
den Ausländern eine immer größere Ausdehnung erhalten
hat. Innerhalb des Kreises aber, welcher ihm vorgezeichnet
war, bewegt er sich vollkommen ungehindert und in zwang-
loser Heiterkeit. Namentlich führen Gelehrte und Dichter,
Aerzte, Studenten, Maler und Comödianten ein lustiges
Leben.
Das Leben auf den Straßen in Aeddo ist ungemein
regfam und bunt, aber in den Sommermonaten wird es ge-
gen die Mittagsstunden sehr still in der Hauptstadt. Die
Barken und Boote aus den Cauälen liegen ruhig am Ufer,
denn die Schifsslente schlafen. Man hört kein Geräusch.
Dann nnd wann sieht man Wanderer, welche sich beeilen,
eine Mittagsherberge zu erreichen; der Bürger und Arbeits-
mann ist zu Hanse gegangen; manche Lente liegen in irgend
einem kühlen Winkel oder unter den schattenspendenden Bäu-
men und ruhen.
Wer um diese Zeit durch die Straßen schlendert, kann
sich ganz gemächlich einen Einblick in das Hauswesen der
Japaner verschaffen und mit Mnße zusehen, wie die Leute
ihr bescheidenes Mittagsmahl einnehmen. Die aus seinem
Stroh geflochtene Mcitte wird auf die Erde gelegt und dient
als Tischtuch. In der Mitte steht ein Napf aus lackirtem
Holz; er ist mit Reis gesüllt, welcher so zu sagen das täg-
liche Brot aller Stände bildet. Die Japaner verstehen sich
45
Aus dem Volks!
vortrefflich auf die Zubereitung desselben. Jeder am Tische
füllt sich aus dem Napf eine Tasse voll und verzehrt den
Inhalt, ohne sich der bekannten Stäbchen zu bedienen, welche
unsere Gabel ersetzen. Nur wenn er Fisch, Krabben, Fleisch
oder eine dergleichen Zuspeise genießt, nimmt er die Stäb-
chen. Die Speisen werden mit Seesalz, Piment und Soya
gewürzt. Die letztere wird bekanntlich aus einer schwarzen
Bohne bereitet, die man gähren läßt. Von Gemüsen hat
man weiße Rüben, Möhren und süße Kartoffeln; ein sehr
wohlschmeckendes Gericht ist ein Salat aus jungen Bambus-
sprossen mit Zwiebeln vom Lotns. Bei keiner Mahlzeit fehlt
Thee oder heißer Reisbranntwein (Sali); beide Getränke
werden ohne Zucker oder irgend eine andere Zuthat genossen.
Das Tafelgeschirr ist sehr mannichfaltig und besteht aus
allerlei Bowlen und Schalen, Untersätzen, Büchsen und Schüs-
seln, Alles von lackirtem Holze; dazn kommen Vasen, Tassen
und Flaschen aus Porcellan, Theetöpfe ans poröser Töpfer-
erde, die mit einem Firniß überzogen sind. Die Beweguu-
gen der Leute bei Tische sind graciös.
Sali wird, wie bei den Europäern Wein oder Brannt-
wein, von manchen Leuten in Ueberfülle genossen und hat
dann auch wohl Säuferwahnsinn zur Folge. Dysenterie
und Cholera haben einige Mal große Verheerungen ange-
richtet, und das ist auch kein Wunder, weil Kinder und Leute
aus dem Volke zu Ansang des Herbstes allerlei Früchte, die
noch nicht völlig reif sind, nnd namentlich Wassermelonen in
Menge genießen. Seltsam ist auch, daß bei einem sonst so
praktischen Volke keine Brunnen vorkommen; man behilft sich
mit Cisternenwasser selbst in Aeddo, wo doch wahrhaftig an
Quellen kein Mangel ist und wo man ohne Mühe oder Auf-
wand Springbrunnen in Menge herstellen könnte. Die schäd-
lichen Folgen des Cisternenwassers sind indessen nicht so
schlimm, weil die Japaner zu allen Jahreszeiten das Wasser
abgekocht und warm trinken.
Der Japaner nimmt, wenn es irgend angeht, täglich ein
warmes Bad.. Er liebt überhaupt die Reinlichkeit, seine
Nahrung ist ihm zuträglich, das Klima gesund, und dem-
gemäß sollte eigentlich das Volk nicht viel von Krankheiten
zu leiden haben. Aber Hautkrankheiten und andere von
schlechtem Ursprung sind doch keineswegs selten und die
Aerzte haben vollaus zu thun. Die Zahl der Heilkünstler
ist groß, namentlich in Aeddo. Die am Hofe des Taikun
angestellten gehören zur Classe der Hattamotos, dürfen zwei
Schwerter tragen, scheeren das Kopfhaar ab und haben, je
nach der Kategorie, welcher sie zugetheilt worden sind, einen
höhern oder geringer» Rang. Den höchsten nehmen jene
Doctoren ein, welche speciell zum Hofhalte des Taikun ge-
hören, und diese dürfen außerhalb des Palastes nicht prakti-
siren. Jeder von ihnen erhält theils in Natnrproducten
(Reis :c.), theils in Geld »in Jahreshonorar, das nach uu-
serm Oelde etwa 5000 Thaler beträgt. Die zweite Classe
besteht aus solchen Doctoren, welche zugleich Militärärzte
sind und mit den Truppen ins Feld rücken. Die am besten
bezahlten haben etwa 2500 Thaler Einkünfte, andere bezie-
hen weniger, alle aber dürfen auch in der Stadt Praxis
haben.
Alle übrigen Aerzte gehen aus dem Bürgerstande hervor.
Durchschnittlich habeu sie einige Jahre auf der Universität
zn Kioto oder auf jener in 2)eddo studirt; manche sind jedoch
auch Söhne von' Aerzten, welche die Praxis als Gehülfen
ihrer Väter gelernt haben. Staatsprüfungen giebt es nicht
und Jeder kann nach seiner eigenen Methode den Kranken
behandeln. Der eine ist Empiriker nach altem Herkommen,
ein anderer befolgt die Methode der chinesischen Aerzte, ein
dritter nimmt sich die Holländer zum Muster; eine wissen-
schaftliche Durchdringung ist nicht vorhanden und die Studien
>en der Japaner. 355
sind nur oberflächlich. Das erklärt sich leicht, wenn man
erwägt, daß die notwendigen Vorkenntnisse fehlen. In der
neuesten Zeit haben indeß die Dinge, in Folge häufigen Ver-
kehrs niit den Europäern, angefangen, eine günstigere Wen-
dung zu nehmen und man bahnt Reformen an.
Der japanifche Doctor beobachtet eine gravitätische
Haltung, er schreitet mit methodisch berechneter Würde ein-
her. Manche Aerzte lassen sich, gleich den Bonzen oder den
kaiserlichen Heilkünstlern, das ganze Kopshaar abscheeren,
obwohl sie nur der dritten Classe angehören. Andere lassen
das Haar lang wachsen und es bildet dann am Hinterkopf
einen dicken Chignon; noch andere tragen einen Bart. Zwei
Säbel dürfen sie nicht tragen, weil sie von bürgerlicher Ab-
kunst sind, aber sie verzichten doch nicht daraus, wenigstens
einen zutragen, der jedoch nur ganz klein ist und mit Seide
oder Sammt umhüllt im Gürtel getragen wird. Wer aber
ganz was Rechtes aus sich machen will, erscheint aus der
Straße nur von einem oder zwei Bedienten begleitet, welche
den Arzneikasten hinter ihm hertragen. Uebrigens hat das
Volk Vertrauen zu den Aerzten, deren Einnahmen indeß im
Allgemeinen spärlich genug sind; manche haben alle Mühe
und Noth, die Kosten eines leidlich anständigen Haushaltes
zu bestreiten. Es muß zum Lobe dieser Männer gesagt wer-
den, daß sie sich dabei mit philosophischer Würde benehmen
nnd daneben gar nicht selten uneigennützig zu Werke gehen.
Viele zeigen auch wissenschaftliche Beflissenheit, liegen eifrig
allerlei Untersuchungen ob, und stellen Naturbeobachtungen
an, die gewiß guten Erfolg hätten, wenn zuvor eine solide
Grundlage gelegt worden wäre.
Die Genossenschaft der Aerzte bildet in Japan
einen wichtigen Hebel für den Fortschritt der Civilisation.
Sie hat gleich anderen Gewerbsgenossenschasten amtlich an-
erkannte Satzungen und gewisse Privilegien, und ist durch
eine Verfügung des Mikado unter den Schutz des heiligen
Patrons Aakusi gestellt worden. Wir wissen aus den kai-
serlichen Jahrbüchern von Kioto, daß dort die erste Apo-
theke schon im Jahre 7 30 unserer Zeitrechnung gegrün-
det wurde. Im Jahre 808 veröffentlichte der Doctor Tiro
Sada eine Sammlung von Recepten in einhundert
Bänden, und im Jahre 825 wurde das erste Hos-
pital angelegt. Lange Zeit war Japan auch in Betreff
der Arzneiwissenschast von chinesischen Doctoren abhängig.
Sie lieserten Werke über AnatomiO nnd Botanik, Recept-
bücher, Professoren, praktische Aerzte und vollständig zuberei-
tete Arzneien. Wir erfahren aus den Annalen, daß im elf-
ten Jahrhundert der chinesische Kaufmann Wang man in
Japan durch seinen Handel mit Arzneien und — Papageien
viel Geld verdient hat.
Manche Heilkünstler haben sich auch mit Magie befaßt,
und noch heute ziehen in den Städten und in den Dörfern
Leute umher, welche Kirimous verkaufen, die mit kabbalisti-
schen Zeichen versehen sind. Diese Gewänder müssen den
Kranken sorgfältig nach Vorschrift und zu einer gewissen
günstigen Stunde auf den Leib gelegt werden. Die Bonzen
machen es genau so, wie die Kqpuziuer und manche andere
Mönche in Europa bis in unser Jahrhundert hinein zu thun
pflegten; sie haben gewisse Gebete und Besprechungen, durch
welche sie Blutflüsse aushalten und Wunden heilen; ja sie
exorcisiren ganz in derselben Weise, wie es im Mittelalter
mit päpstlicher Genehmigung geschah, z. B. am Bodensee,
die Insekten; sie Wersen auch Loose über die Seelen von Men-
schen und Thieren.
Das abergläubische Treiben der buddhistischen Mönche
war auch in Japan ein großes Hemmniß für die Wissen-
schasten, namentlich auch für die Arzneikunde. Sie hätten
ohne Zweifel noch viel mehr Unfug und Unheil angerichtet,
45*
356
Aus dem Volksleben der Japaner.
wenn nicht die Holländer ins Land gekommen wären.
Diesen wurde 1609 erlaubt, eine Factorei in Firando zu
errichten. Ein glücklicher Umstand war auch die Stiftung
der Universität zu Aeddo zu Engelbert Kämpser's
Zeit, unter dem Sjogun Tsuua Aosi, im Jahre 1690.
Thunberg, welcher in der Mitte des vorigen Jahrhunderts
als Arzt in der holländischen Factorei Decima angestellt war,
erhielt vom Kaiser in Aeddo selbst die Erlaubnis;, dort mit
fünf Leibmedicis und zwei Hofastronomen zu verkehren. Bei
den Unterhaltungen, welche er mit ihnen pflog, überzeugte er
sich, daß die erstereu eine Menge naturwissenschaftlicher Kennt-
nisse besaßen und in Physik, Medicin nnd Chirurgie vieler-
lei wußten. Sie hatten das theils aus chinesischen, theils
ans holländischen Quellen. Den Aerzten der chinesischen
Factorei wurde gestattet, Zöglinge anzunehmen, die denn auch
mit großem Eiser den Studien oblagen. Franz von Sie-
bold hatte in seinem Landhanse, das in dem lieblichen Thale
von Narutaki liegt, stets eine Anzahl junger Japaner bei
sich, denen er Unterricht in Naturwissenschaften und Arznei-
künde ertheilte. Er hat dort auch einen botanischen Garten
angelegt, der von japanischen Studenten in Ordnung gehal-
ten wurde. Ein anderer Deutscher, Dr. Mohuicke, hat,
allerdings nicht ohne Widerstand zu sinden, die Blattern-
impsuug eingeführt. Als Dr. Baudin bei den medicinischen
Facultäten zu Kioto und Aeddo Leichen seciren lassen und
Kliniken einrichten wollte, legte man ihm anfangs viele
Schwierigkeiten in den Weg. Aber zuletzt triumphirte er
doch. Sein Borgänger, Dr. Pompe van Meerdervoort,
hatte schon mancherlei Reformen angebahnt. Nachdem der
TaiikuN ihm ausdrücklich eine Ermächtigung gegeben, ver-
Typus eines Bürgers in Ä)eddo.
sammelte er am 9. September 1859 aus einem Vorgebirge
an der Bai von Nangasaki 45 japanische Aerzte und zog
auch eine Hebamme hinzu. Diese waren seine Schüler in
dem Hospitale, welches auf seine Veranlassung der Taikun
bei Nangafaki hatte bauen lassen und das auf Staatskosten
unterhalten wurde. Dort finden Kranke ohne Unterschied
der Nationalität und des Standes Aufnahme; nachdem es
am 20. September 1861 eröffnet worden war, fanden im
Laufe der nächsten zwölf Monate 930 Kranke beiderlei Ge-
fchlechts eine sorgfältige Behandlung, und durchschnittlich
wurde die Klinik von etwa 50 Studenten besucht, denen Dr.
Pompe, als Dirigent des Hospitals, Vorträge hielt.
Dieser holländische Arzt wird von Herrn Humbert als
ein „wahrhafter Sendbote der Menschenfreundlichkeit" ge-
rühmt. Er wirkte in Nangasaki von 1857 bis 1863. In
diese Zeit fallen zwei Choleraepidemien, und Pompe selber
erlitt einen bedenklichen Anfall. Während der ebengenann-
ten Jahre behandelte er 13,600 Personen neben jenen, die
im Hospital Aufnahme gefunden hatten. Fortwährend ka-
men aus allen Theilen Japans Studenten, um von ihm
unterrichtet zu werden*).
Die Universität zu Mddo ist unter dasSchutzpatro-
nat des Consncins gestellt und es ist eine ihrer Ausgaben,
die Lehren des chinesischen Moralphilosophen unter der wissen-
*) Der „Globus" hat schon in früheren Aufsätzen über Japan
Mitteilungen aus Dr. Pompe's Werke: Vyf jaren in Japan etc.
Leiden 1868, gegeben. Im zweiten Bande schildert der treffliche
Mann, Hoosdstuk VII. S. 159 bis 247, auch seine eigene Wirksam-
keit („myn eigen werkkring") und in der That man muß Respect
vor ihm haben. A.
Aus dem Volksl
schaftlich gebildeten Classe zu verbreiten. Sie verfährt dabei
nicht etwa so, wie die christlichen Missionäre zn thnn pflegen:
sie bildet und treibt keine aggressive Propaganda und tritt nicht
etwa offen gegen die anerkannten Culte auf. Sie verfährt
im Gegentheile mit großer Schonung; sie verkündet ganz
einfach die Lehren des Confncins. Wer dieselben annimmt,
kehrt natürlich allen buddhistischen Superstitionen den Rücken,
weil mit dessen Phantasmen der gesunde Menschenverstand
platterdings nicht zu vereinbaren ist.
Die japanische Geistlichkeit ihrerseits benimmt sich recht
verständig. Sie weiß, daß sie in ihrer äußern Stellung
durch die philosophisch gebildeten Männer der Wissenschaft
nicht gefährdet wird nnd beobachtet ihnen gegenüber eine wohl-
berechnete Bescheidenheit. Auch weiß sie, daß sie nicht im
Stande wäre, den Philosophen Eintrag zu thnn, weil das
en der Japaner. 357
Andenken des Confncins in Japan sehr populär ist. Unter
dem Namen K o o - c i widmet man ihm allgemeine Verehrung;
er ist aber erst um das Jahr 285 nach Christus in Japan
bekannt geworden. Damals betrübte es Osin, den sechszehn-
ten Mikado, sehr tief, daß die wohlwollenden Absichten seiner
Regierung in Folge der Unwissenheit seines Volkes auf so
vielfache Hindernisse trafen. Er fragte dann beim Könige
von Petfi (Pai'k-tse) in Korea an, wie er es zu machen habe,
daß die Japaner gebildeter würden. Jener König schickte
ihm darauf den Literaten Wang Dfchin, und dieser las
am Hofe des Mikado die Bücher des großen Weltweisen vor,
welchem China seit Jahrhunderten so viele und große Wohl-
thateu verdankte. Die Dienste, welche Wang Dschin solcher-
gestalt dem Reiche der Mikados leistete, wurden so hoch ge-
schätzt, daß man ihn unter die National-Kamis, d. h. die
c.^wfre-, £
Ein berühmter Arzt
verehrungswürdigen Heroen, versetzte, ihn also auf gleiche
Linie stellte mit den Gründern des Staates und den frühe-
ren Wohlthätern des Volkes.
In der That haben die Schriften des Confncins auf die
japanische Gesellschaft und deren EntWickelung einen tiefgrei-
fenden Einfluß geübt; das Land verdankt ihnen zu nicht ge-
ringem Theil seine Civilisation und seine feinen Umgangs-
formen. In der großen Masse des Volkes hat freilich der
später ins Land gekommene Buddhismus Wurzeln geschlagen,
aber alle gebildeten Leute ziehen eine Moralphilosophie vor,
welche die gesunde Vernunft, nicht phantastische Glaubens-
Vorstellungen zur Unterlage hat. •
*
*
Schon im Jahre 1844 suchte König Wilhelm der Zweite
von Holland die japanische Regierung dahin zu vermögen,
daß sie ihr bisheriges System der Absperrung fallen lasse.
In der Voraussicht, daß dasselbe doch nicht ferner aufrecht
zu erhalten sei, schrieb er an den Tai'kun und rieth ihm, das
Land für alle Nationen zu eröffnen. Zwar erfolgte eine
ablehnende Antwort; es war aber doch eine Folge diefes könig-
lichen Schreibens, daß fortan zwischen den holländischen Agen-
ten und den japanischen Behörden der Verkehr zwangloser
und vertraulicher wurde. Die Regierung des Tai'kun über-
zeugte sich schon nach Ablauf weniger Jahre, wie richtig die
Voraussetzungen des europäischen Königs gewesen waren.
Der Holländische Commissür Donker Cnrtins, der ein
Jahr vor dem Flottenzuge des amerikanischen Commodore
Perry in Japan anlangte, übte einen wohlthütigen Einfluß
auf die Behörden. Ihm verdanken z. B. die Portugiesen
Aus dem Volks!
die Zurücknahme des vor zweihundert Jahren speciell gegen
sie erlassenen Edictes, und die Mächte, welche in unseren Ta-
gen mit Japan Verträge geschlossen, haben dem holländischen
Bevollmächtigten manche ersprießliche Rathschläge und Winke
zu verdanken.
Den Japanern hat Holland wichtige Dienste geleistet;
durch sie ist das Reich des Taikun von dem, was sich in der
Außenwelt begab, in Kenntniß gesetzt worden. An der Uni-
versität zu Aeddo bildet das Collegium der Dolmetscher
eine besondere Abtheilung, eine Art von Facultät. Die zahl-
reichen, derselben angehörenden Studenten haben Offiziers-
rang und tragen zwei Schwerter. Alle erlernen das Hol-
ländische, die Sprache des diplomatischen Verkehrs; viele da-
neben auch entweder Russisch oder Deutsch, Englisch oder
Portugiesisch und Französisch, einige auch Dänisch und Jta-
lienisch. Somit sind die Sprachen aller Staaten, welche
mit Japan Verträge abgeschlossen haben, durch eine größere
oder geringere Anzahl von Dolmetschern vertreten. Diese
stehen jeden Augenblick zur Verfügung der Regierung und
sind in Rangclassen getheilt, denen gemäß man ihnen wich-
tigere oder unwichtigere Mandate giebt. Man wählt natür-
lich zu Dolmetschern nur die besten Köpfe und manche sind
schon zu hohen Staatswürden befördert worden. Eine An-
zahl derselben bildet eine Art von Preßbureau. Sie haben
im Auftrage des Geheimen Rathes (Gorogio) die ausländi-
schen Zeitungen zu lesen und aus denselben Auszüge zu macheu.
Andere haben wissenschaftliche und literarische Zeitschriften
zu excerpiren nnd über die Bücher :c., welche die verschiede-
neu Gesandtschaften der Regierung mitteilen, Berichte ab-
zufassen.
Das Alles wird iu der kaiserlichen Bibliothek aufbewahrt,
wo wieder andere Gelehrte sich damit beschästigen, aus dem
schätzbaren Material Werke zu bearbeiten, welche sowohl für
die Civil- wie für die Militärbeamten nützliche Dinge ent-
halten. Auch belehrende Bücher für das Volk werden auf
der kaiserlichen Bibliothek versaßt. Aus solche Weise kamen
unter Andern: ins Publicum: Abschnitte aus Humboldt's
Kosmos, eine kurzgefaßte Bearbeitung von Hnfeland's
Makrobiotik, der kleine Stieler'fche Atlas und
Manry's Abhandlung über die Meeresströmungen.
Ein japanischer Gouverneur richtete eiues Tages an ein
Mitglied der preußischen ostasiatischen Expedition, Herrn von
Brandt, die Frage: ob er Sohn des Generals von Brandt
sei, der ein treffliches Lehrbuch der Taktik versaßt habe?
Als eine bejahende Antwort erfolgte, schickte der Gouverneur
am andern Tage Herrn von Brandt eine schon vor Jahren
gedruckte Ueberfetzung jenes Lehrbuchs. Während des
großen amerikanischen Krieges wurden in Aeddo regelmäßig
Berichte über den Fortgang desselben und zwar allemal mit
Illustrationen veröffentlicht. Gar nicht felten find auch hol-
läudifche Handschriften in vielen Händen. Als das franzö-
fische Schiff „Sennramis" eine Festung des Fürsten von
Nagato am Eingange der Straße von Simonoseki bombar-
dirte und eine Redoute eingenommen worden war, fand der
Schiffscapitän Lecuriault de Quilio neben einer demontirten
Kanone ein aufgeschlagenes holländisches Buch über das Zie-
leu mit schwerem Geschütz. Der japanische Befehlshaber
hatte sich nach demselben gerichtet, um nach den Vorschriften
desselben seine Kanonen zu stellen.
Mit dem Conservatorium der Künste und Gewerbe in
Yeddo ist eine Ingenieurschule verbunden. Die meisten
Professoren derselben sind von holländischen Marineoffizieren
gebildet worden, welche die niederländische Regierung ans den
Wunsch des Taikun nach Japan geschickt hat. Zu diesen
gehörte auch der Fregattencapitän van Kattendyke, der nach-
her in Haag Marineminister wurde. Nach seinen Angaben
en der Japaner. 359
und unter seiner Aufsicht bauete der Ingenieur Hardes die
Maschiuenwerkstätte zu Akkanura bei Nangasaki, die
erste ihrer Art in Japan. Um dieselbe Zeit, 1857, wurde
in der eben genannten Stadt auch die Navigationsschule ge-
gründet. Die in derselben gebildeten Offiziere waren bald
im Stande, Dampfschiffe zu führen.
Bekanntlich haben in den letzten Jahren sowohl der Tai'knn
wie die mächtigen Daimios darin gewetteifert, sichDampfer-
flotten zu verschaffen. Die Regierung des erstem hat bei
Aokoska, einem am Golfe vonAeddo liegenden, fehr geeig-
neten Punkte, ein großes Seearsenal mit ausgedehnten Werf-
ten herstellen lassen. Eine Kriegsflotte muß uothweudig eine
Handelsmarine zur Unterlage haben, denn diese muß jener
die Matrosen liefern. —
An wissenschaftlichen Anlagen und Befähigungen fehlt es
den von der Natur nichts weniger als stiefmütterlich bedach-
ten Japanern keineswegs, und es ist keinem Zweifel unter-
worfen, daß sie durch die unablässigen Berührungen mit den
Europäern immer weiter gelangen werden. Der japanische
Gelehrte muß sehr fleißig sein, um vorwärts zu kommen.
Zunächst hat er seine eigene Sprache und deren Mundarten
aus dem Grunde zu studiren, und daneben hat er das Chi-
nesische zu lernen, damit er die Werke des Consncins und
des Mencius in der Ursprache lesen könne; dazu kommen
dann seine Fachstudien. Nachdem er das Alles absolvirt
hat, muß er sich mit allen Geboten der amtlichen Etikette
und den Höflichkeits- und Umgangsformen bekannt machen.
Wie in Deutschland Jeder, der zum Hofgesinde gehört, von
einem „allerhöchsten"Hofe und von einer „allerhöchstseligen"
Majestät sprechen muß, so hat auch der japanische Hofmann
oder Beamte Sprache und Schrift mit derartigen Floskeln
zu emailliren, nur kommt er nicht mit fo wenigen widerfin-
nigen Ausdrücken ab, weil das Ceremoniell verwickelter und
verflochtener ist. Das Ceremoniell hat manche Ausdrücke und
Redewendungen, einen befondern Stil, die nur angewandt wer-
den, wenn man mit einem Höhergestellten verkehrt. Je nach
Umständen und Erforderniß werden fogar verschiedene Schrift-
arten angewandt, wie früher bei uns die sogenannte Kanzlei-
schrift neben der gewöhnlichen.
In früheren Zeiten bildete Kioto den wissenschaftlichen
Mittelpunkt des Reiches; gegenwärtig hat sich diese alte Prie-
sterstadt der Mikados noch einige Specialitäten bewahrt. Sie
producirt Miniaturalbums, Hofkalender, Andachtsbücher, Ro-
mane und Poesien, die auf mit Goldblättchen verziertem Ve-
linpapier gedruckt werden. Aber die Pressen in Heddo sind
viel thätiger und die dortigen Buchhandlungen liesern
allerlei Werke in ungeheurer Menge. Die meisten Bücher
sind belehrenden Inhalts und für den Gebrauch im prak-
tischen Leben berechnet. Regelmäßig erscheint ein wissen-
schastliches Jahrbuch; dasselbe enthält Berichte über neue
Erfindungen und Entdeckungen, statistische Angaben über die
Staaten Europas und über Nordamerika; Angaben über die
neueste Geschichte. Die Hand- und Lehrbücher sind über die
meisten Zweige der Wissenschaften vorhanden. . „Real-En-
cyclopädien" oder „Conversations-Lexica", die bei uns Euro-
päern von so neuem Datum sind, hatte Japan, und zwar mit
Holzschnitten illustrirt, schon seit Jahrhunderten, und manche
derselben bestehen aus 100 und mehr Bänden. Neuerdings
hat man sie durch kleinere Conversationslexica ersetzt, zu wel-
chen jedes Jahr ein Ergänzungsband geliefert wird. Die
verschiedenen Völker werden in diesen Werken ganz objectiv
geschildert; nur die Portugiesen und Spanier kommen nicht
gut weg. Der Text sagt: sie hätten eine sehr schlechte
Religion.
Auf religiöse Zänkereien läßt sich gottlob die japanische
Literatur nicht ein, und von einer philosophischen Polemik
360 Die neuesten Ansichten über die Höhe der
ist keine Rede, weil die Lehre des Consncins eine solche
ausschließt.
*
Wir schließe» hier einige Notizen über die Verwirrung
an, durch welche Japan gegenwärtig zerrüttet wird. Die
Nachrichten sind aus der ersten Woche des Octobers und über
San Francisco zu uns gelangt; es ist aber kein rechter Zu-
sammenhang darin.
Die Regierung des Taiknn hatte völlig aufgehört; mau
wollte wissen, Stotsbaschi sei Priester geworden und habe
sein ganzes Haupt kahl geschoren; es sei von seiner Seite
zugestanden worden, daß seine Taiknn-Gewalt lediglich eine
usurpirte gewesen sei; daß er nur als Sjoguu, Generalis-
simus des Heeres unter Duldung des legitimen Herrschers,
des Mikado, zu betrachten sei. Die Dienstleute und Gesolg-
schasten des Taiknns sind alle entlassen und in ihre Heimath
gewiesen worden. Die meisten sind ohne Privatvermögen,
also nun, da keine Besoldung mehr erfolgte, ohne alle Mit-
tel. Diese Mißvergnügten zerstreneten sich über das Land;
sie sind Vakuums, Männer von Adel mit zwei Schwertern
und werden sicherlich nicht ruhig bleiben.
Alle Gesandten hatten ^cbbo verlassen und waren nach
Yokohama gegangen, wo sie ihre Marinesoldaten zur Ver-
sügnng haben.
Der Hasen von Niag ata, welcher im Jahre 1868 dem
auswärtigen Verkehr eröffnet wurde, war von mehreren enro-
päischen Schiffen besucht worden, welche dort Seidenwürmer
Erdatmosphäre und über den Himmelsüther.
kaufen wollten. Der Hafen ist im Besitz des Fürsten von
Aidziu; dieser ist unter den nördlichen Daimios der mäch-
tigste und war Anhänger des abgesetzten Taiknn. Am 16.
September ist aber Niagata von einer Dampferflotte der süd-
lichen Daimios bombardirt und theilweise zerstört worden.
Die ganze Besatzung wurde gefangen genommen, namentlich
auch ein Deutscher, Schnell, der in Aidziu's Armee als
Feldmarschall diente; er war früher Kaufmann in Nokohama.
Um die Verwirrung noch zu steigern, haben die nördlichen
Daimios einen zweiten Mikado aufgestellt, nnd nur diesen
erkennen sie an. So stehen zwei geistliche Kaiser einander
gegenüber. Der südliche hat seine Residenz nach Aeddo
verlegt, das fortan diesen Namen nicht mehr führen
foll; es wird von nun an amtlich als Higahi uo Kioto,
die östliche Hauptstadt, bezeichnet werden. Unter den
beiden einander bekämpfenden großen Parteien sind Spal-
tnngen ausgebrochen. Die Daimios Choisin und Toza sind
von den Südlichen abgefallen; die Nördlichen (die Tokawa-
gas) sind gleichfalls nnter sich uneinig. Der große Clan
der Mitos (zu welchem Stotsbaschi gehört) ist derart zer-
rüttet, daß ein Theil sich den Südlichen angeschlossen hat,
während der andere zu Aidziu's Fahne hält.
Seit 1853 ist das alte Japan völlig aus seinem alten
Gleichgewichte gedrängt worden. Es war mit Bestimmtheit
vorauszusehen, daß ihm die Jahre schwerer Prüfung nicht
erspart werden würden. Nun hat es längst den innern Krieg
und alle Verhältnisse sind ins Schwanken gerathen. Das
Ende ist nicht abzusehen.
Die neuesten Ansichten über die Höhe der Erdatmosphäre und über
den Himmelsäther.
Von Dr. Heinrich Birnbaum.
IV.
Von den gelehrten Fachmännern, welche in unseren Ta-
gen es unverholen als ihre entschiedene Ansicht ausgesprochen
haben, daß sie an den Aether nicht mehr glauben wollen,
sondern das ganze Weltall mit verdünnter irdischer Luft au-
gefüllt betrachte:?, ist ganz vorzugsweise Grove in England
zu nennen, und unter den Astronomen, welche diesen Stand-
pnnkt einnehmen, glänzt vor Allen der weltberühmte Airy
vor. Auch unser Dove, der große Meteorologe, ist in sei-
nen Forschungen zu der Ueberzeuguug gekommen, daß die
Bildung von Ton, Wärme, Licht gar nicht wesentlich von
einander unterschieden sei, daß ein elastischer Stab in der
untersten Stufe seiner Schwingungen töue, daß derselbe in
einer erhöheten Stufe der Schwingungen warm werde, und
daß derselbe in seiner höchsten Stufe der Schwingungen an-
fange zu leuchten. Der ganze Unterschied beruht also ledig-
lich in dem Grade der Schwinguugsgeschwindigkeit. Erach-
ten wir es also für ausreichend, daß für die erste Stufe, der
Tonbildung, unsere atmosphärische Lnft als Trägerin und
Vermittlerin ausreiche, so muß es für jeden unbefangenen
Denker sehr befremden, daß man für die beiden anderen Stn-
fen, da sie eigentlich nichts weiter als Steigerungen der ersten
sind, nicht bei derselben Luft bleiben will, sondern den hypotheti-
sehen Aether zu Hülfe ruft. Darin liegt eine kaum zu be-
greifende Jnconsequeuz, ein befangenes Vorurtheil vor unserer
alltäglichen Luft. Es sieht gerade so aus, als wenn man
die Untersuchung, ob unsere atmosphärische Luft wohl ausreiche
die Wärme und Lichtphänomene zu erklären, gescheut habe,
und daß man dabei lieber zu dem Aether gegriffen habe,
dem ohne Weiteres alle die Eigenschaften angedichtet waren,
welche eine leichte Erklärung möglich machten.
Wie ist man denn eigentlich zu der Annahme des Aethers
gekommen? — Die Geschichte der Naturwissenschaften giebt
darüber eine sehr zerstreut umherliegende Antwort, welche
aber nirgends offen und klar ist, sondern dunkel und halt-
los wie der Gegenstand selbst. Soviel scheint indeß gewiß
zu sein, daß man ihm erst da entschieden das Wort geredet
hat, wo man es für nöthighielt, Licht, Wärme, Elektri-
cität,Magnetismus ... als Materien, als Flüssigkeiten zu
betrachten, woraus die Schwerkraft keinen Einfluß ausübe,
— wo man die Stoffe der Natur in Pouderabilieu und
Imponderabilien theilte. Auch muß man Cartesius
— in seiner jetzt längst wieder vergessenen Wirbeltheorie der
Schöpfung und in feiner ebenso vergänglichen Philosophie
der Bezweiselung alles menschlichen Wissens — als den
ersten bezeichnen, der den Aether zu einem Begriff erhoben
und in die wissenschaftlichen Untersuchungen eingeführt hat.
So ausgezeichnete, ja sogar unsterbliche Verdienste dieser große
Denker nun auch als Mathematiker besitzt, so sind doch alle
Die neuesten Ansichten über die Höhe der
seine übrigen Forschungen schon längst wieder aufgegeben und
leben höchstens nur uoch als historische Wunderlichkeiten zur
Belustigung der Gegenwart fort. Aber gerade darum ist
es sehr schwer begreiflich, warum man so zähe an seinem
Aether festgehalten hat, warum man, wenn alle anderen
Imponderabilien für Unsinn erklärt worden sind, immer noch
diesen Aether, das einzig übrig gebliebene Jmponderabile,
beibehalten will. Ein solches Festhalten kann wohl nur als
Eigensinn bezeichnet werden.
Schon Newton erklärte ganz unverholen, daß er sich nie
entschließen könne, an den Aether zu glauben oder ihn in
seine Untersuchungen einzuführen, da die Luft in den ver-
dünnten Zuständen vollkommen ausreiche, die Phänomene zu
erklären. Da diese schon vor beinahe zwei Jahrhunderten
ausgesprochene Ansicht ganz genan mit der sich eben jetzt wie-
der Bahn brechenden übereinstimmt, so dürfen wir es nicht
unterlassen, ein näheres Wort darüber zur Mittheiluug zu
bringen. In der 10. Proposition des 3. Buchs der unsterb-
lichen „mathematischen Principien der Naturphilo-
sophie" zeigt er den Grund, warum die Himmelskörper in
dem mit irdischer Luft erfüllten Weltenranme keinen wahr-
nehmbaren Widerstand erleiden, und es daher gerade so wäre,
als bewegten sie sich in einem luftleeren Räume. Er geht
dabei vou der durch wiederholte Versuche festgestellten Ersah-
rnng aus, daß weuu das Quecksilber im Barometer unten
aus der Erde 30 englische Zoll hoch steht und man ersteigt
damit eine Höhe von 2280 Fuß, so ist der Barometerstand
nur noch 28 Zoll. Dann bezieht er sich auf die von Hal-
ley zuerst aufgefundene und im Wesentlichen noch jetzt für
recht gehaltene Formel zur Berechnung der Abnahme der
Dichtigkeit der Luft in größeren Regionen, und wählt beispiels-
weise eine Höhe von 200 englischen Meilen oder 1 056 000
Fuß. In einer solchen Lusthöhe würde das Barometer uur
noch O,000ooooooooo3998 ausmachen. Da sich nun die
Dichtigkeit der Luft unter übrigens gleichen Umständen gerade
wie der Barometerstand verhält, so würde sich die Dichtigkeit
der untern Luft zu der iu200 englischen Meilen Höhe wie 30
zu 0,000000000000399s oder wie 75000000000000
zu 1. Daraus folgt also, daß die Luft in 200 englischen
Meilen Höhe uur uoch deu 75milliousteu Theil von der
Dichtigkeit der untern Luft besitzt. Denkt man sich nun,
fügt Newton dann hinzu, daß in einer so stark verdünnten
Luft sich der Jupiter bewege, so könnte derselbe erst
eine ganze Million Jahre seine Umläufe machen,
bis der Widerstand der Luft seine Umlaufszeit
um eiu einziges Millionstel abgekürzt hätte. Da
nun der Jupiter nach dem heutigen Stande der Wissen-
schast seinen Umlauf in 4332,584s Erdetagen macht, so be-
trüge der millionste Theil davon 0,004332,5848 Tag', oder
etwa 6 Minuten; es würde also nach einem Zeiträume von
einer ganzen Million Jahren die etwa 4'/^ Tausend Tage
dauernde Umlaufszeit des Jupiter erst 6 Minute» Unter-
schied geben. Ist nun dies schou eine kaum in Rechnung
zu bringende kleine Größe des Widerstandes der Luft, so be-
geht man sicher keinen Fehler, wenn nian dieselbe für Null
ansieht in einer mehrere tausendmal größern Höhe, wo die
Verdünnung der Lust noch mehrere Millionen mal gesteigert
worden ist. Damit hat nun Newton für jeden verstäudi-
geil Beurtheiler den Beweis geliefert, daß man in den Re-
gionen der Himmelskörper die Luft für so verdünnt ansehen
kann, daß ihr Widerstand für Null zu achten ist; oder was
auf dasselbe hinausläuft, daß man ohne einen wahrnehmbaren
Fehler für alle Rechnung die Räume, in denen sich die Pla-
neten bewegen, für luftleer ansehen kann. Wer nur diese
einfache Schlnßfolge unbefangen zu seinem Bewußtsein bringt,
wird sicher nicht zu der dem großen Denker so leichtfertig
Globus xiv. Nr. 12. (Dcccmbcr 1868.)
Erdatmosphäre und über den Himmelsäther. 361
zum Vorwurf gemachten Ansicht kommen können, daß er-
den Weltenranm wirklich für luftleer halte. Im
Gegentheile geht aus der gegebenen Darstellung klar hervor,
daß er wirklich den ganzen Weltenraum mit derselben Lust
erfüllt ansieht, die wir hier auf der Erde athmeu.
Alles hat uus nun zu der Ueberzeugung geführt, daß
eigentlich gar nicht von einer obern Grenze nnsers Luftkrei-
ses die Rede sein sollte, und daß also die Frage nach der
Bestimmung ihrer Höhe ganz zur Seite geschoben werden muß,
weil sie etwas als wirklich vorhanden voraussetzt, das gar
uicht existirt. So wie der ganze Weltenraum unendlich, so
ist auch die ihu erfüllende Luft in sich selbst ohne alle Gren-
zen. Sie umschließt alle Himmelskörper, wie das Weltmeer
die Inseln und Continente, und wenn dadurch Grenzen aus-
trete», so gehören diese weniger dem Luftmeere des Weltalls
an als den betreffenden Himmelskörpern. Ueberall besitzt diese
Weltluft die allgemeinen und charakteristischen Eigenschaften
der Materie. Es fehlt ihr ganz besonders nirgends die Schwere
und ist daher dem Newton'schen Princip der allgemeinen
Gravitation unterworfen, so daß Laplace's Hypothese, wo-
uach jeder Weltkörper sich aus diesem unendlichen Lufträume
eine Atmosphäre bilde, welche nach seinem Attractionsverhält-
niß zu bemessen sei, und um so dichter werde, je näher sie
seiner Oberfläche komme, ihre volle Berechtigung erhält.
Und nur in diesem Laplace'schen Sinne kann denn auch
von einer obern Grenze der Erdatmosphäre die Rede sein,
so daß damit eigentlich das mechanische Gebiet im Lustmeere
bezeichnet wird, wo die Achsendrehung der Erde noch wir-
keu kauu.
Mit einer solchen Anschauung fällt daher die Hypothese
des Aethers in ein Nichts zusanimen. Dieses von allen
vorurteilsfreien großen Denkern aller Zeiten stets angezwei-
felte wesenlose Etwas wird auch gauz überflüssig, weil dafür
die vou Niemand bezweifelte atmosphärische Lust in allen
Graden der Verdünnung an den Platz tritt. Anch haben
die in dieser Hinsicht bereits begonnenen Untersuchungen schou
zu der Ueberzeugung geführt, daß unsere Erdenlust nicht
bloß einer solchen bis ins Unendliche getriebenen Verdünnung
fähig ist, sondern auch zur Erzeugung der Vibrationen für
Licht, Wärme n. s. w. die erforderlichen Eigenschaften besitzt,
oder doch begründete Hoffnung zum baldigen Nachweisen vor-
liegt. Für den Chemiker hat der Aether nie existirt, nach
seiner Anschauung war dies bloß eine Phantasiematerie, wel-
cher alle Eigenschaften oder doch wenigstens die der Wirklich-
keit fehlten, worauf sich feine Untersuchung stützen muß, wenn
er Thatsachen und die daraus gebauten Wahrheiten erlangen
will. Jetzt, wo dafür die von ihm schon vielfach erforschte
atmosphärische Luft au den Platz tritt, kann man sicher aus
seineu Beistand rechnen, und dies um so mehr, als er mit
Hülfe der Spectralanalyfe sich nun auch in das astrono-
mische Gebiet der Welten versteigen kann. Er wird diese
Gelegenheit sicher nicht ungenutzt vorübergehen lassen, und
vor Allem dahin streben, die Existenz der atmosphärischen
Luft im ganzen Weltenranme außer Zweifel zu stellen. Das
ist ein Wnnfch, eine wissenschaftliche Erwartung, zn deren
Befriedigung schou jetzt die Hand geboten wird.
Mit dieseu Ansichten stellen wir uns nun wieder aus den-
selben Standpunkt, welchen unsere großen Vorsahren Halley,
Newton, Laplace schon eingenommen hatten. DieMän-
ner des neuesten Fortschrittes der Naturkunde, welche die von
uns vertretene Anschauung zu der ihrigen machen, sind also
keine leichtfertigen Neuerer, sondern Anhänger des be-
währten guten Alten. Sie finden in diesem Znrückkeh-
reu den eigentlichen Fortschritt der Wissenschast. Das ist
eine von den gerechtfertigten Ausnahmen, der übrigens nnd
besonders iu der Gelehrtenwelt so bewährten goldenen Regel
40
362 Die Wirren i
— „Nunquam retrorsum!" —, die eigentlich nur für die
Kriegshelden erfunden war, aber dann überall eine passende
Anwendung fand, wo wissenschaftliche Kämpfe mit Mnth
und Ausdauer auszufechten waren. Und genan betrachtet,
weichen wir auch hier nicht davon ab, denn sie ist eine ge-
diegene reife Frucht der nenesten Fortschritte in unserm Wissen,
ein kühn erfochtener Sieg über einen veralteten Zopf, über
eine Gewohnheitshypothese, die sich nicht mehr halten lassen
will. Die Sache ist allerdings noch nicht ganz abgethan; es
fehlt nicht an allerlei möglichen Anknüpfungspunkten zu neuem
Kampfe; sie hat aber doch schon eine sehr solide erste Grund-
läge gewonnen und wird, wenn nicht alle guten Borbedentnn-
gen trügen, eine sehr ehrenvolle Zukunft haben. Diese ver-
jüngte alte Anschauung unseres Luftkreises paßt ganz
für den heutigen Stand der Wissenschaft, sie wird sicher mit
zu den schönsten Verherrlichungen unseres schon so ausgezeich-
neten neunzehnten Jahrhunderts zählen. Aber gerade aus
diesem Grunde war es dringend nöthig, den Gegenstand leicht-
faßlich in das volle Verstand»iß des denkenden großen Pu-
Afghanistan.
blicums zu bringen. Man muß hier genau wissen, um was
es sich handele, welchen Fortschritt die freimüthigen Männer
der heutigen Wissenschast zu erringen trachten, man mnß
wissen, daß man auch hier auf ihre verständige Hülfe rechne,
wenn es gilt, Aberglauben mit der Wurzel auszurotten. Wir
meinen damit den Glauben an den der Natur angedichteten
Aether, von dem weder das Dasein noch das Nichtsein
bewiesen werden kann. „Er ist ein sehr bequemes Mittel,"
sagt Meibauer, „das sich wunderbar für Hypothesen schickt,
und mau kann ihn nach Belieben elastischer oder dichter machen,
je nachdem es die Erklärung einer gegebenen Erscheinung
erheischt. Um die Erscheinungen zu erklären, greift man
zum Aether; um das Dasein des Aethers zu beweisen, stützt
man sich wieder auf die Erscheinungen!" — Das ist ein
Cirkel in der Beweisführung, welcher sich dem verständigen
Nachdenken sehr schwer anpassen will. — Wie es überhaupt
möglich gewesen ist, einer solchen unlogischen Phantasie-
materie de» Glanben zu schenken und so hartnäckig das
Wort zu reden, läßt sich in der That gar schwer begreifen!
Die Wirren i
Das afghanische Reich mit seinen paar Millionen Ein-
wohnern hat in unseren Tagen, gegenüber der Umwandlung
in den Verhältnissen Centralasiens, eine große Bedeutung
gewonnen. Es wird begrenzt von Persien, Tnrkestan und
dem britischen Nordiudieu und liegt mitten inne zwischen den
Besitzungen der Engländer und dem Gebiete der Russen.
Seitdem die letzteren thatsächlich Herren von Tnrkestan sind
und den: Emir von Buchara ihre Uebermacht so gründlich
fühlbar gemacht haben, bildet nur noch Afghanistan die tren-
nende Schranke zwischen den beiden europäisch-asiatischeu
Großniächteu. Es ist wegen seiner geographischen Lage, we-
gen seiner streitbaren Bevölkerung nnd wegen der Anarchie,
welche fast ununterbrochen herrscht, ein wichtiger politischer
Factor geworden, mit welchem die Engländer zu rechnen ha-
ben und der ihnen viele Sorge macht. Bor etwa 30 Iah-
ren unternahmen sie einen großen Kriegszug gegen Afgha-
nistan, in welchem sie schwere Niederlagen erlitten und den
sie schmerzlich bereut haben. Dann lebten sie lange Zeit
mit Dost Mohammed Chan, welchem es gelungen war, ganz
Afghanistan unter seine Herrschaft zu bringen und die süd-
liehen Chauate Turkestaus, namentlich Balch, dauernd zu
unterwerfen, in gutem Einvernehmen nnd konnten sich ihm
gegenüber sicher glauben.
Der Dost starb vor mehreren Jahren in hohem Alter,
nachdem er lange Zeit Snbsidien vom Generalstatthalter
Indiens bezogen hatte. Nach seinem Tode entbrannte ein
wilder Kampf um die Nachfolge, der eigentlich bis auf den
heutigen Tag fortdauert. Afghanistan ist wieder einmal eine
Beute der Anarchie und Alles schiebt sich dort hin und her.
Ueber die eigentlichen Sachverhältnisse und die gegenseitige
Stellung der einander Bekämpfenden fehlte uns bisher ein-
gehende Kunde; die Telegramme und Berichte, welche aus
Indien in unseren europäischen Zeitungen erschienen, waren
zumeist ohne Zusammenhang nnd oft unklar. Erst ganz
neuerdings wurde uns ein Einblick in diese verwirrten Zu-
stäude möglich, welche, ebeu in Hinsicht ans die Rivalität
der beiden Großmächte, von nicht unerheblichem Interesse sind.
Unter den verschiedenen Thronbewerbern, den feindlichen
Brüdern, ist es einem derselben, Schir Ali Chan, ge-
i Afghanistan.
lungert, sich bis auf Weiteres in der Kernprovinz Kabul zu
behaupten, aber er hat doch im October 1868 nicht wagen
dürfen, dieselbe zu verlassen. Wir erfahren ans einer iudi-
scheu Correspondenz iu der „Times Mail" (Calcutta 9. No-
vember), daß der Generalstatthalter Sir John Lawrence ihn
zn einer freundschaftlichen Zusammenkunft nach Peschawer
eingeladen hatte, offenbar zn dem Zweck, ihn völlig für die
englische Politik zn gewinnen. Es war ihm aber unmöglich,
von dort abzukommen.
Im Jahr 1856, zu der Zeit, als die persische Regierung,
wie man heute uoeh glaubt auf Rußlands Antrieb, sich der
afghanischen Provinz Herat, des „Schlüssels zu Indien",
bemächtigen wollte, schickte die indische Regierung den jetzigen
General Lumsden und dessen Bruder als Agenten nach
Kandahar und diese vermittelten, daß der Dost eine Snb-
sidie erhielt. Lumsden erstattete einen Bericht, den Lord Can-
ning geheim hielt; er wurde nur in 100 Abzügen gedruckt
und nicht einmal dem Parlamente mitgetheilt. Jetzt erst
wird der Inhalt bekannt.
Lumsden schätzt die Einwohnerzahl von Afghanistan auf
nur 1,456,000 Köpfe und jene der unterworfenen turkesta-
irischen Chanate auf etwa eine Million. Die Afghanen sind
in eine Anzahl von Stämmen zerklüftet, die nicht selten ein-
ander befehden und um die Herrschaft streiten. Diese ist
jetzt beim Stamme der Baruksei's, deren Hanpt DostMo-
hammed war. Derselbe hatte eine Streitmacht vou 16 In-
fanterie- und 3 Cavallerieregimentern, 1 Mörser, 5 Stück
schwerem Geschütz, 76 Feldkanonen und 1 Batterie Berg-
geschütze. Das Fußvolk ist ausgezeichnet, hat aber deu Feh-
ler, daß ihm langauhaltende Ausdauer maugelt. Die Leute
werden nicht etwa angeworben oder conscribirt, sondern man
nimmt jeden tauglich scheinenden Mann und reihet ihn ohne
Weiteres cht. Der Mann sollte für 10 Monate im Jahre
je 10 Schilling Sold bekommen; der Betrag der beiden übri-
gen Monate wurde ihm für Montirung abgezogen, aber schon
unter dem Dost erfolgte dieser geringe Sold unregelmäßig
und die Soldaten entschädigten sich durch Diebstahl und Rattb.
Während der Bürgerkriege unter seinen Söhnen hatte das
Land von diesen Soldatenräuberu viel zu erdulden, weil der
Die Wirren i
Cold immer rückständig war, und wenn ein Theil zur Zah-
lnng angewiesen wurde, zumeist in den Händen der Serdars
(Generäle) blieb. Lumsden hebt hervor, daß schon unter dem
alten Chan das Volk entsetzlich ausgepreßt wurde; nach sei-
nem Ableben haben sich jedoch die Dinge noch schlimmer
gestaltet.
Die Einnahmen bestehen in einer Grund- und einer Per-
sonalstener. Auf jeden Schessel Aussaat bekommt die Re-
gierung einen Schessel Getreide; dazu kommen noch Geldab-
gaben, die aber durch Naturallieseruugen ersetzt werden müssen,
weil Niemand Geld hat. Das Land ist verarmt und ver-
heert, es ist, als ob ein Fluch aus ihm laste. Jenseits des
Chaiber-Passes (der aus Indien nach Afghanistan führt) sieht
man kein Silbergeld mehr, außer bei den rivalisirenden Häupt-
lingen, welche ihre Schütze versteckeu, und bei den Karawa-
nenkanslenten.
Der gegenwärtige Herrscher von Kabul, Schir Ali,
war 1857 eiu jüngerer Bruder des damaligen Thronerben.
Lumsden schildert ihn als einen Mann von heftiger, grau-
samer Gemüthsart; er war ehemals den Engländern sehr
abgeneigt. Er hatte drei Söhne. Der älteste, Mohammed
Ali Chan, starb in einem Zweikampfe, welchen er in der
Schlacht bei Kandahar mit seinem eigenen Oheim aussocht;
der zweite, Ibrahim Chan, leiblicher Bruder, d. h. von der-
selben Mutter, jenes Mohammed, war ein Feigling. Der
dritte Brnder, Aakul Chan, Gouverneur von Herat, ist aus
Hermann Vambery's meisterhafter Schilderung näher bekannt
geworden. Von Herat schickte er seinem Bater Schir Ali,
der bei Schekabad eine Schlacht verloren hatte, Hülfstrnp-
Pen nach Kandahar; er wird von Lumsden als ganz tüchtig
geschildert.
Nach jener Schlacht von Schekabad wurde Aszul Chan,
Schir Ali's ältester Bruder, aus dem Gefängnisse befreit
und zum Emir erhoben; die wirkliche Gewalt war jedoch in
den Händen eines dritten Bruders, Azim Chan. Der Sieg
in jener Schlacht war aber eigentlich durch Abd ul Rah-
man, Afzul Chan's Sohn, gewonnen worden. Zu diesen
Personen kommt nun noch Scheris Chan (der einzige noch
vorhandene leibliche Bruder Schir Ali's), welcher so oft in
den Bruderfehden die Partei gewechselt hat, daß Niemand
ihm traut. Afzul Chan starb bald nachdem er zur Würde
des Emirs erhoben worden war, und ihm folgte Azim Chan,
während Abd ul Rahm an, der gegen seinen Oheim, von wel-
chem er sich benachtheiligt glaubte, uach Balch im afghanischen
Turkestan ging; dort ist er jetzt Gouverneur. Azim Chan
wollte Herrscher sein, wurde aber uach langen Kämpfen durch
Schir Ali aus der Stadt Kabul vertrieben und suchte Hülse
bei Abd ul Rahman. Dieser war dann von Balch her nach
Süden bis Bamian vorgerückt und wollte über den Hindu-
koh nach Kabul ziehen, als in seinem Rücken ein Aufstaud
ausbrach.
Man sieht, wie verwirrt die Verhältnisse sind und daß
es sich um Streit in einer und derselben Herrscherfamilie
handelt, der noch lange währen kann. Dem Namen nach
wird er zwischen dem gesetzmäßigen Emir, Schir Ali,
und dessen Halbbruder Azim Chan geführt, in der That aber
sind die Hauptpersonen Haknl Chan (Schir Ali's Sohn,
Gouverneur vou Herat) und dessen Vetter Abd ul Rahman.
Wahrscheinlich wird sich am Ende jeder von beiden mit dem
begnügen, was er im Besitz hat, also Schir Ali und sein
Sohn Aakul mit dem eigentlichen Afghanistan und Abd ul
Rahman mit Balch und dem übrigen, den Afghanen unter-
worfenen südlichen Turkestan *).
*) Ein Telegramm aus Indien meldete in der Mitte Deccmbers,
daß Abd ul Rahman in einer Schlacht bei Bamian von Schir Ali
Afghanistan. 363
Die Engländer haben bisher keine feste Politik in Betreff
Afghanistans befolgt; sie ließen die vollendeten Thatsachen
gelten und erkannten während des Bürgerkrieges jeden belie-
bigen Häuptling an, welcher zeitweilig die Macht in Händen
hatte. Dieses System hat sich als verfehlt erwiesen, und
deshalb wollen sie sich jetzt gern mit dem rechtmäßigen Nach-
folger des Dost, eben jenem Schir Ali, einlassen, der end-
lich, nach einer sechsjährigen Anarchie, in den Besitz von Ka-
bul gelangt ist. Aber er hat kein Geld und seine Streitmacht
beträgt nur etwa 7000 Köpfe; er wird von Azim Chan und
Abd ul Rahman bedroht, und dem Häuptling oder General,
welchem er die Einnahme seiner Hauptstadt vorzugsweise ver-
dankt, dem Ismail Chan, darf er nicht trauen.
Unter diesen Umständen fragen sich die Engländer: „Ist
nicht für uns die Zeit gekommen, ihm Beistand zn leisten,
damit er ganz Afghanistan, mit Einschluß vou Balch, als
unabhängiges Gebiet gegenüber Rußland behaupten könne?
Wir habe» ja doch seinen Vater Dost Mohammed zn dem-
selben Zwecke gegen Persien unterstützt!" Es werde ange-
messen sein, ihm eine kleine Snbsidie zu zahlen und diplo-
utatische Agenten bei ihm zu beglaubigen. Es werde sich
ferner empfehlen, den afghanischen Stämmen, welche das
Land von der englisch-indischen Grenze am rechten Ufer des
Indus bis nach Dschalalabad intte haben, ein Jahrgeld zu
zahlen und sie dadurch für England zu gewinnen. Schir
Ali ist noch nicht Herr über seine Feinde, welche Alles aus-
bieten, ihm Ungelegenheiten zu bereiten, Abd ul Rahman von
Balch her und Azim Chan, der jetzt kein Landgebiet hat, vom
Oxus her; er hat sich nach Turkestan gestüchtet. Sollen
die Engländer dem Schir Ali überhaupt Hülfe leisten gegen
jene Rivalen oder sich darauf beschränken, ihm nur das eigent-
liche Afghanistan, also das Land im Süden des Hinimkoh,
zu sichern? Darüber muß in der nächsten Zeit ein fester
Beschluß gefaßt werden und der neue Generalstatthalter, Lord
Mayo, findet schwierige Aufgaben vor sich.
In Indien wird allgemein behauptet, daß sowohl Schir
Ali wie dessen Nebenbuhler Geld von Rußland bekämen; es
liegt aber dafür nicht der geringste Beweis vor. Der elftere
hat über gar keine Summen zu verfügen; er rechnete 1867
auf Beistand von Seiten des persischen Schahs, der sich aber
nicht zu weit einlassen wollte, und hat mehrmals versichert,
daß er Freund und Bundesgenosse Englands sein und blei-
ben wolle. Er schickte zwei Bevollmächtigte nach Karratschi
und bat um den Beistand der Engländer. Man entgegnete
ihm, daß diese (der oben erwähnten Maxime zufolge) den
Afzul Chan, welcher sich damals im Besitze vou Kabul be-
fand, als Emir anerkannt hätten. Daraus erklärten jene
Bevollmächtigten, dann müßten sie nach Mekka gehen; Schir
Ali sei in Verzweiflung und wenn die Engländer ihm
keine Hülfe gewähren wollten, dann müsse er sich
an Persien oder Rußland wenden. Inzwischen bekam
er etwas Geld von seinem Sohn ans Herat, dann auch aus
Kandahar und von einem Häuptling Fyz Mohammed,
welcher für ihn in Balch Krieg führte und dort in einem
Treffen fiel. Die Wittwe des letztern gab ihm im October
1867 abermals eine beträchtliche Summe, fo daß er 17,000
Mann ins Feld stellen und 18 Kanonen bespannen konnte.
Dann überließ er bis ans Weiteres Balch-Tnrkestan seinem
Feind Abd ul Rahman, der von Kabul aus über den Hindu-
koh dorthin gezogen war, verstärkte sein Heer mit den Trup-
Pen, welche sein Sohn Uakul aus Herat ihm schickte, nahm
am 1. April 1868 Kandahar ein, wo er reiche Beute saud,
und bezahlte aus derselbe» den rückständigen Sold an seine
aufs Haupt geschlagen worden sei und sich nach Balch zurückgezogen
habe.
364 Gerhard Röhlss: Die christlichen A
Truppen. So war er neu gekräftigt und konnte erst Gasna
(Ghizni) und dann anch die Hauptstadt Kabul erobern. In
dieser hatte inzwischen Azim Chan so viel Geld als mög-
lich erpreßt, um sich eintretenden Falles damit aus dem
Staube zn machen. General Lnmsden schreibt: „Er der-
suchte die Russen gegen uns ins Spiel zu ziehen.
Wir unsererseits gaben nnserm Mnnschi (d. h. einem Hindu,
welcher als Ageut Englands wirksam war) einen Bericht
über die Erfolge der Russen in Buchara; es sei Absicht
derselben, über den Oxns zn gehen und durch Balch nach
Afghanistan vorzudringen. Schir Ali seinerseits erklärte,
die Engländer ihrerseits würden dem mit Dost Mohammed
abgeschlossenen Bertrage treu bleibe» und ihm behülflich sein,
den auswärtigen Feind (Rußland) von Afghanistan abzn-
halten."
Noch ein anderes Element spielt in diese Händel und
Wirren hinein. Die Engländer haben an ihrer Grenze, in
den Gebirgen aus dein rechten Ufer des Indus, erbitterte
Feinde au einigen mohammedanischen Völkern, die von wecha-
bitischem Fanatismus in wahrhaft grimmiger Weise durch-
drungen sind. Diese haben ihnen schon manche Ungelegen-
heit bereitet, namentlich die Swats oder Snats, deren reli-
giöses Oberhaupt, der Akhond, die afghanischen Bergbewoh-
ner zn mehr als einer blutigeu Fehde aufgereizt hat. Diesen
Akhond hatte Azim Chan 1865 besucht; der heilige Faua-
tiker hatte ihn gesegnet, und diesem Umstände schrieb jener es
zu, daß seine Waffen damals guten Erfolg hatten. Beide
verabredeten Krieg gegen die Engländer. Am 18. Juli
1866 erschien ein geheimer Abgesandter des Akhond zn Ka-
bnl (wo damals Azim Chan sich befand) im offenen Derbar
(Rathsversammlnng der Würdenträger) und verlangte, daß
der heilige Krieg gegen die Engländer begonnen
werde. Azim Chan unterstützte den Vorschlag, doch erklärte
sich Asznl Chan, der dem Namen nach herrschende Emir,
dagegen. Die indische Regierung begriff vollkommen, wie
kritisch die Lage war und schickte „einen eompetenten Agen-
ten" nach Kabul, deu Atta Mohammed Chan, welcher
am 20. Januar 1868 am Hose des Emirs sich vorstellte.
Inzwischen war Azim Chan Emir geworden; er empfing
den Agenten sehr freundlich und machte schon Anstalt, ihn
zn umarmen, als ein einflußreicher Höfling, Namens Ha-
fisdschi, ihn daran verhinderte. Azim Chan fühlte, daß es
mit seiner Macht zu Ende gehe und wußte dem Agenten
viel vou deu großeu Ersolgeu Rußlands in Tnr-
kestan zn erzählen. Er wisse, daß England dieser Macht
Gegenvorstellungen gemacht habe; die Russen wollten aber
nicht zurückweichen. Er, Azim Chan, habe indeß die Über-
zeugung, daß England nun wohl dafür sorgen werde, Asgha-
nistan gegen jenen Feind zu kräftigen.
mderbnuten zu Lalibala in Abyssinien.
Aber die Ränke nahmen ununterbrochen ihren Fortgang.
Um dieselbe Zeit empfing Azim Chan einen Mann aus
Konstantinopel, Hadschi Synd Runii, welcher angeblich
Vorschläge von Seiten Rußlands und auch Geld mit-
gebracht habe. Er war über Tislis, Buchara und Herat ge-
kommen und hatte einen Eingeborenen ans Tislis, Namens
Abutrab, bei sich. In Kabul trat er als Todfeind Eng-
lauds auf, rühmte in übertriebener Weise die Größe und
Macht Rußlands, das 18 Lacks Soldaten (1,800,000 Mann)
ins Feld stelle und seinen Verbündeten Treu imd Glauben
halte, während ans England sich Niemand verlassen könne.
Rußland sei ein gewaltiges Reich schon seit den Tagen Alexan-
ders deL Großen; England dagegen werde nur von einem
Parlamente regiert. NenaSahib, welcher während der gro-
ßeu indischen Meuterei eine so große Rolle gespielt, sei bei
den Rnssen. Der Mann aus Konstantinopel betrieb das
Aufwiegeln mit Methode.
„Wenn die Russen einen Vorwand zum Ueberschreiten
des oberu Oxns habeu und Herat, Kandahar und Kabnl be-
drohen wolle», so wird ihnen Azim Chan, der jetzt Flucht-
ling ist, einen solchen geben. Wenn wir unsererseits nicht
eine ähnliche Politik befolgen wie Rußland, fo müssen wir
darauf gefaßt sein, daß Abd nl Rahman in Balch, die Emire
von Audidschau und Badachschan und der Kusch Begi in
Ostturkestau tatsächlich Vasallen Rußlands werden, wie es
schon jetzt die Chauate Chiwa, Chokand und Buchara gewor-
deu sind."
In Obigem hat der Leser einen Faden, an welchem er
sich in diesem Gewirr zurechtfinden kann. Das Ganze trägt
einen echt asiatisch-mohammedanischen Charakter und hat in
der Geschichte nianche Nebenstücke. Aber es ist von nicht
geringem Belang auch für die europäische Politik und die
Stellung der beideu Weltmächte in Asien, die als natürliche
Nebenbuhler einander, namentlich seit 1849, seitdem England
das Pendschab eroberte, immer mehr auf den Leib rücken.
Die afghanischen Emire sind für den einen wie für den an-
dern Theil lediglich Figuren auf dem Schachbrette. Vam-
bery hat uns in umfassender Weise die innerasiatischen Ver-
Hältnisse geschildert nnd klar entwickelt, welche Interessen da-
bei in Betracht kommen. Durch ihn hat Europa die große
Bedeutung der halbbarbarischen Völker nnd Staaten in der
Region zwischen dem Jndns und der sibirischen Grenze ken-
nen gelernt. Die Verhältnisse in dem Zwischenland As-
ghanistan muß man kennen, um die Bewegungen in Inner-
ästen genauer würdigen zu können, nnd wir habeu sie hier
besonders deshalb geschildert, weil wir gelegentlich bei einer
Darstellung der innerasiatischen Wirren dann und wann
auch ans die Zustäude in Afghanistan Rücksicht nehmen
müssen.
Die christlichen Wunderbanten zu Lalibala in Abyssinien.
Von Gerhard Nohlfs.
Obgleich in einer reizenden Gegend, welche nicht des
Baumschmuckes entbehrt, gelegen, was im von hohen Bergen
und tiefen Klüften durchschnittenen Abyssinien so selten vor-
kommt, — obgleich mit den größten Wnnderbauteu geschmückt,
welche je von Christen in Afrika errichtet wurden, ist Lalibala
doch nur von wenigen Europäern besucht worden. Bloß Fran-
cesco Alväres, welcher der Gesandtschast des Don Rodrigo
im Ansänge des sechzehnten Jahrhunderts als Gelehrter
beigegeben war, besuchte die damals wohl noch viel glänzen-
dere Stadt; in der Neuzeit ist nur Abbadie in den vierziger
Jahren dort gewesen. Während Alväres eine genaue Be-
schreibung von den dortigen Kirchen, sogar mit Planzeich-
nungen, hinterlassen hat, ist von Abbadie bis jetzt leider noch
nichts veröffentlicht worden.
Rohlfs: Die christlichen Wunderbauten zu Lalibala in Abyssinien.
30^)
Wie die Bewunderung Alvares' wach gerufen wurde beim
Anblick dieser Kirchen-Monolithen ersehen wir Cap. 24-, S.
17G aus folgenden Worten:
„Ein "I'agreyLL von dieser Kirchen*) sihet man
solche gebew, dergleichen meines erachtens in der
gantzen Welt nit zu finden, Dann es hat Kirchen in
lebendigen fels, in einen zarten Taubenstein sehr ar-
tig und künstlich gebawen etc."
Und nachdem er dann eine gute Beschreibung jeder ein-
zelnen Kirche gegeben hat, glaubt er zum Schlüsse, nm nicht
der Uebertreibung und Unwahrheit beschuldigt zu werdeu,
sagen zu müssen:
„Ich muss auffhöien von diesen gewaltigen ge-
bewen zuschreiben, dann es bey mir kein zweiffei, Es
werde bey vielen vnglaublich seyn, die vermeinen
werden, ich habe ime einen zusatz geben, Nu wil ich
bei Gott schweren,
in dessen gewalt ich
vor und vor stehen
muss, das alles das
jenige so ich dauon
geschrieben die
lauter Wahrheit
ist on einigen Zu-
satz etc. etc."
Und ich muß ge-
stehen, daß Alvares
vor circa 350 Jahreu,
als er dies geschrieben,
nicht im Geringsten
übertrieben hat. Trotz
der Weichheit des Stei-
nes, ans dem die Kir-
chen gemeißelt sind,
haben sich dieselben im
Ganzen gnt erhalten,
nur einzelne Partien
sind vom Zahne der
Zeit angegriffen wor-
den, desto mehr aber
lassen die noch jetzt ste-
henden Bauten auf die
ursprüngliche Pracht
schließen. Die Haupt-
masse des Gesteins be-
steht nach einer ober-
flächlichen Untersn-
chnng des Dr. Schim-
per aus Dolorit; in
vielen Kirchen sah ich
in den Wänden breite Gänge reinen Salpeters. — Lali-
bala selbst, derzeit ein Ort von einigen Tausend Einwohnern,
liegt auf dem uordwestlicheu Abhauge des mächtigen Asche-
ten-Berges, welcher hinwieder von anderen gleich hohen
Bergriesen umgeben ist. Ungefähr 7000 Fuß über dem
Meere ist der Gipfel des Ascheten uoch einige Tausend
Fuß höher, aber bis auf die Spitze hiuauf bewaldet, und
ebenfalls von einer in Einem Steine ausgehaueuen Kirche
gekrönt. Etwas nördlich vom 12. nördlichen Breitengrade
gelegen, kann man sich denken, daß Lalibala das ganze Jahr
hindurch bei seiner hohen Lage das entzückendste Klima hat.
Alle Obstsorten gedeihen hier, alle Bäche haben zu jeder
Jahreszeit Wasser, weil die Bergrücken bewaldet siud; der
f :f
e
f —«SB—-<
N
A
") Er kam von Abugana, wo auch ähnliche aber nicht so präch-
tige Kirchen sich befinden. Alvilres, von Joachim Heller. Eisleben 1566.
Bodeu besteht aus fettem, dunklem Humus, die Aussicht auf
das uach Westen hin sich ausbreitende Takaze-Thal ist
entzückend schön, nnd nichts hemmt das Auge bis uach dem
fernliegenden Hochlande von Begeminder hinüberzuschwei-
sen, welches einladend und verlockend immer im blauen Schleier-
dufte des Tropenhimmels sich ausbreitet.
Ein solcher Ort mußte frühzeitig die Aufmerksamkeit auf
sich ziehen, und fo finden wir denn muH, daß mehrere der
berühmtesten abyssinischen Kaiser hier regiert haben, und daß
uach einem derselben, Lalibala, der Ort benannt worden ist.
Höchst wahrscheinlich war der Ort schon vor der Zeit dieses
Herrschers bewohnt, indeß ist dieser Kaiser als der Gründer
der Stadt anzusehen; die hauptsächlichsten Prachtbauten wer-
den von den jetzigen Bewohnern ihm zugeschrieben.
Obgleich uach deu abyssinischen Chroniken Lalibala nicht
direct von David und Salomon abstammt, wird er mit sei-
nem Vorgänger und
seinen zwei Nachfol-
gern dennoch zu den
größten Heiligen deö
Landes gezählt. Als
uach dem Tode Sbi-
nahami's im Jahre
933 n.Chr.*) dessen
Tochter Tredda-Gabez
gekrönt wurde, ver-
mählte sich diese mit
einem einheimischen
Fürsten, der nicht ans
dem Geschlechte der
salomonischen Familie
stammte. Den abyssi-
irischen Gesetzen zu-
wider wurde ihr Sohu
Nachfolger, der Regel
uach hätte ein männ-
licher Nachkomme Me-
nelek's **), des Grün-
ders der Dynastie, ans
den Thron kommen
müssen. Lalibala nun,
der Enkel der Königin
Tredda-Gabez, kam
ums Jahr 1100 au
die Regierung und
herrschte 60 Jahre.
Nach ihm folgten aus
dieser Dynastie noch
zwei, nämlich Jmra
n. Nahaknlotab, dann
kamen wieder die rechtmäßigen Fürsten an die Reihe. Jmra
soll indeß auch so heilig gewesen sein, daß ihm die Engel
vom Himmel Brot nnd Wein brachten, um die Messe ab-
zuhalten, ja durch sein Gebet konnte er den Strom des Nils
zuul Stillstände bringen.
Von den Wnnderthateu des Kaisers Lalibala wissen die
heutigen Bewohner noch viel zu erzählen, um so mehr als
um jene Zeit für Abyssinien noch kein geistliches Oberhaupt
oder Abuua aus Aegypten geholt wurde, sondern der Kaiser
selbst zugleich oberster Bischof des Landes war. Hier zeigt
mau uoch deu hohen vou einer Mimose überschatteten Hügel,
von dem herab Lalibala alle Tage seinen Unterthanen pre-
a. Umgebender Fels.
h. Freier Raum.
c. Eingang durch die Felswand.
d. Eingang zur Kirche.
e. Platz des Altars.
f. Fenster.
Grundriß der St. -Georg 's-Kir che.
*) Dappcr's Afrika. Amsterdam 1670.
") Dieser soll ein Sohn der Königin Saba nnd Salomon's ge-
Wesen sein.
366 Gerhard Rohlfs: Die christlichen Wunderbauten zu Lalibala in Wyssinien.
digte und lehrte, dort stehen die sieben Oelbäume, jetzt nach ob er erst gestern dahin geschieden wäre. Haben sie doch
700 Jahren mächtige Riesen, welche einst dieser fromme Kai- auch immer jene wunderbaren Bauten vor Auge, aus wel-
ser als kleine Schößlinge vom Oelbergs bei Jerusalem hier- chen Alterthumsforscher allem eine ganze Geschichte würden
her verpflanzen ließ. Das Volk spricht von Lalibala, als herauslesen können!
Besehen wir jetzt die Kirchen, wie wir sie heutzutage uoch
vorfinden, ohne uns an eine bestimmte Reihe, wie sie dem
Alter nach rangirt werden müßten, zu kehren, denn offenbar
sind nicht alle aus der Zeitperiode Lalibala's, uoch weniger
alle von ihm selbst gebaut. Im Gegentheil, einige mögen
bedeutend früher, andere später errichtet worden sein.
Am weitesten nach unten in der Stadt liegt die St.-
Georg 's-Kirche. Es ist dies vielleicht die neueste und in
Die Marien-Kirche (ist circa 25 Fuß hoch, die Ostwand des Hofes führt in den Hof der Medanheallenkirche, 20 Fuß breit, auf 30 Fuß Länge).
1. Marienkirche. 2. Großer Wasserbehälter. 3. Eingang zur Kirche. 4. Zellen in der Felswand für Mönche. 5. Begräbnißgruft. 6. Zugemauerte Thür. 7. Zugemauerte Thür.
6. Wasserbehälter. 9. Zugemauerte Thür. 10. Thür zum Kloster.
368 Gerhard Rohlfs: Die christlichen Wunderbauten zu Lalibala in AbyssiNien.
ihren Formen die vollendeteste. Von außen ist hier gar nichts 30 bis 35 Fuß Höhe und sagt- da drin liegt die Kirche,
von der Kirche zu bemerken; der Führer zeigt einem einen Aber wenn man näher kommt, ist man bald vor einein Fels-
von Olivenbäumen und Juniperen gekrönten Hügel vou circa gange, und einige Schritte durch diesen künstlich ausgehauenen
Weg bringen uns in eine weite, runde Oeffnnng int Felsen,
in welche von oben der Himmel hineinscheint, und in dieser
Oeffnnng hat man in der Mitte einen Block stehen lassen,
aus dem die St.-Georg's-Kirche in Form eines Kreuzes
ausgehauen ist. Das platte Dach der Kirche, mit dem Gan-
zen Ein Stein, hat mit der Höhe des Berges gleiches Ni-
Gerhard Rohlfs: Die christlichen M
veau, und zeigt obenhin erhabener Arbeit ein Kreuz. Vom
Berge aus brauchte man bloß Balken über deu Umgang zu legen,
um aufs Dach der Kirche zu gelangen. Die Kirche hat einen
Haupteingang, und der viereckige Raum, der von den vier
Flügeln, welche die Kirche bilden, umschlossen, und der von
gleicher Größe wie jeder der Flügel ist, dieut als Platz für
den Altar. Die Kirche ist nicht gewölbt, die steinerne Decke
bildet, wie angeführt, Ein Ganzes mit den Wänden. Als
Hauptmerkwürdigkeit bewahrt man hier den Mantel des
heiligen Georg auf, welcher vornehmen Besuchern nmge-
than wird, damit auch sie von der Heiligkeit Profitiren. Die
Seiten der Flügel haben kleine viereckige Fenster, die im
Baustil an den Obelisk von Axum erinnern; über dem Ein-
gangsthore befindet sich noch ein Fenster in venetianisch-mau-
rischem Stile. Der Grundriß der Kirche präsentirt sich
uns, wie Seite 365 veranschaulicht.
Weudeu wir uns jetzt zur oberu Stadt, so kommen wir
gleichfalls durch einen Tunnel zuerst in dieSt.-Emannel's-
Kirche; es ist diese, was Bau uud Stil anbetrifft, eine
ebenso vollendete, und in den Proportionen vielleicht noch
harmonischer als die St.-Georg's-Kirche. Ebensalls aus
einem einzigen Blocke, aus einem sie umgebenden
Fels herausgelöst, hat sie auf circa 48 Fuß Länge eine
Breite von 32 Fuß und Höhe von 40 Fuß. Der Haupt-
eingang, uach Westen, hat zur Seite zwei viereckige Fenster,
dann darüber noch zwei Reihen von je drei Fenstern, von
denen die mittelsten flach gewölbt sind. Die östliche oder
hintere Wand ist ebenso, mit Ausnahme daß die Thür fehlt.
Beide Längsseiten haben auch drei Reiheu Fenster, in jeder
Reihe indeß vier Fach. Im Innern ist die Kirche in ein Haupt-
schiff und zwei Seitenschiffe getheilt durch zwei Reihen von
je vier Säulen, welche die Decke tragen, die im Innern ganz
flach ist. Die beiden Seitenschiffe haben indeß nicht ganz
die Höhe des Hauptschiffes, da oben kleine Stübchen, welche
früher als Zellen für Mönche dienten, eine dritte Etage bil-
den, und durch die dritte Reihe Fenster Licht bekommen. Die
St.-Emannel's-Kirche ist noch vollkommen gut erhalten und
besitzt auch viele Reliquien, z. B. Stücke Holz vom wahren
Kreuz, ein Hemd von St. Emanuel, eiu Dorn von der
Dornenkrone, woran noch Blut klebt, und dergleichen mehr.
Mittelst eines Ganges durch deu Felsen kann man von
hier in die Salvator- oder Medanheallen-Airche kom-
men, welche die großartigste von allen ist. In ähnlicher
Weise wie die vorige gebaut, nur in größeren Dimensionen,
hat sie indeß namentlich äußerlich sehr gelitten. So ist ein
ganzer Säuleugang, welcher alle Seiten der Kirche umgab,
und mit derselben aus Einem Blocke gehauen war, bis ans
drei Pfeiler weggestürzt; der Schutt davon umgiebt die Kirche
fnßhoch, ohne daß Jemand daran denkt, ihn wegzuräumen.
Im Hofe der Kirche sind Wasserbehälter mit lebendigem
Wasser, in den Wandungen Zellen und Säle für Mönche.
Das Innere der Kirche hat dieselbe Einrichtung wie die vor-
hergenannte.
Wiederuni führt uns ein Gang durch den Fels in einen
andern ausgehauenen Platz, in welchem die Marienkirche
steht. Der Cultus für die „Mutter Gottes" wird bei den
abyfsinischen Christen ebenso gepflegt, wie bei den Katholiken,
und obschon die Marienkirche an uud für sich weit hinter der
Emanuel's-, Georg's- und Salvator-Kirche zurücksteht, fo
beweist andererseits der ausgedehnte Hof mit seinen groß-
artigen Einrichtungen, die vielen Mönchszellen, die Menge
der Begräbnisse in den Felswänden genugsam, wie empfang-
lich von Anbeginn des Christenthums her der Abyfsinier für
den Cultus der Maria gewesen uud noch ist. Ueberdies ist
diese Kirche die von allen am reichsten dotirte; im kleinen
Nebengebäude befinden sich sogar zwei kupferne Glocken, wäh-
Globus XIV. Nr. 12. (Decembcr 1868.)
lderbauten zu Lalibala in Abyssinien. 369
rend alle anderen Kirchen harte, längliche Steine, welche als
solche dienen, im Gebrauch haben. Meist hängen diese Steine
an Bastseilen in den Zweigen von Bäumen, welche sich bei
allen Kirchen finden, uud durch Anschlagen mit einem an-
dern Steine entlockt man ihnen einen Klang. Auch sonst
ist die Kirche sehr reich; täglich werden im Hose Hunderte
von Pilgern, armen Leuten und Bettleru gefpeist, welches
aus dem Ertrage des nicht unbedeutenden Grundbesitzes be-
stritten wird, zum Theil auch von den reichen Gaben, die
durch begüterte Pilger geopfert werden.
Im Westen der Marienkirche sind nnterirdifch die Gol-
gotha- und Lalibala-Kirche, welche refpective auch die
Namen Debra Siua und Gebra Selaffe führen, weil
Heilige dieses Namens von gleichfalls großem Rufe hier be-
graben liegen. Von einem Altan, der durch die westliche
Felswand, welche den Hof der Marienkirche einschließt, ge-
krochen ist, kann man aus den Hof der Lalibala-Kirche hin-
absehen. An beiden Seiten dieses Altans befinden sich offene
Todtengewölbe, und ich fand die Gebeine dieser Todten auf
dieselbe Art und mit eben den Kattunstreisen umwickelt, mit
denen die ägyptische« Mumien eingewickelt sind. Hier wa-
ren es jedoch keine Mumien, sondern bloß die Knochen der
Leichen waren noch vorhanden.
Der Kaiser Lalibala liegt nicht in der Kirche, die beson-
ders seinen Namen trägt, begraben, sondern in der Golga-
tha-Kirche. Es ist aber sicher, daß erstere von ihm selbst
erbaut ist, vielleicht auch die letztere. Die Gruft darin ist
durch einen einfachen Stein bezeichnet; auf demselben lag eine
silberne Krone wie eine Bischofskrone, welche er bei feierlichen
Gelegenheiten getragen haben soll. In dieser Kirche liegt
auch Gebra Selaffe begraben.
Die Lalibala-Kirche zeichnet sich besonders durch viele
Bildsäulen aus, die weuu auch roh gearbeitet, deunoch einen
gewissen Kunstsinn nicht verkennen lassen; Mathäns, St.
Peter und St. Paul, der heilige Georg, Johannes der Tän-
ser sind in Lebensgröße in Stein ausgehauen. Auch findet
man noch andere fpeciell abyffinifche Heilige. Es ist übri-
gens bemerkenswerth, daß, fo viele Heilige die Abyfsinier
haben, sie außer der Mutter Gottes keiue einzige weib-
liche Heilige, namentlich keine einheimische verehren, wäh-
rend es sast für jeden Tag im Jahre einen männlichen ein-
heimischen Heiligen giebt, außer denen, welche die alleinselig-
machende Kirche außerdem hat.
Man kann dnrch einen geheimen Gang, der von der
Marien-Kirche ausgeht, in die Lalibala-Kirche kommen, ohne
von Jemand bemerkt zu werden. Außerdem commuuiciren
die Kirchen noch mittelst eines Ganges durch die Felswand.
Der unterirdische Gang soll früher dazu gedient haben, damit
Mönche und Nonnen sich, ohne vom Publicum gesehen zu
werden, ungestört zusammen den heiligen Uebungen der Kirche
hingeben konnten. Ein späterer Kaiser ließ indeß den Ein-
gang mit einem so gewichtigen Steine verschließen, daß Nie-
mand im Stande war, denselben aufzuheben. Alvares schreibt
davon:
„auf dem pflaster dauor ist ein geuirt loch, dar-
durch man in die vnter Kirchen oder Krufft komen
kan; dasselbe ist mit einem breitten stein, gleich als
ob es ein grab stein were bedeckt vn gantz geheb
eingefüget, aber wie ich mich bedüncken lies, so kom et
niemand hinab, avs vrsachen das man den stein nicht
leichtlich auffheben kan etc."
Wahrscheinlich hat sich irgend ein Heiliger, oder gar die
gnadenreiche und ewig liebreizende Jungfrau ins Mittel ge-
legt; heutzutage ist das Loch bloß mit einem hölzernen Deckel
verschlossen, und mit einer kleinen Wachskerze in der Hand
stiegen wir selbst durch dasselbe in die untere Kirche hinab.
47
370 Julius Braun: Z
Die ältesten Kirchen und ganz von den vorigen getrennt,
unter sich jedoch verbunden, sind die Mercurius- undAba-
Libanos-Kirche. Erstere hat die kolossalsten Dimensionen
und ist doch in den Fels hineingehauen; es unterliegt jedoch
keinem Zweifel, daß auch diese von Christen angelegt worden
sind. Die Aba-Libanos-Kirche ebenfalls stellt sich nur von
außen als eine natürlich glatte Felswand dar, derart, daß
man einen Gang um einen Felsblock herum gehauen hat,
der jedoch nach oben noch mit dem Berge im Zusammen-
hange ist. Dieser stehengebliebene Felsblock ist dann inner-
lich zu einer Kirche ausgemeißelt worden.
In allen diesen Kirchen wird noch heute Gottesdienst
gehalten, und sicher schlage ich nicht zu hoch an, wenn ich
sage, daß die Zahl der kirchlichen Mitglieder, seien es nun
ordinirte Priester, Mönche oder Nonnen, sich auf etwa 500
Secten des Islam.
Personen belaufe. Lalibala ist der größte und be-
rühmteste Wallfahrtsort Abyssiniens und bei großen
Festen strömen Tausende von Menschen dort zusammen. Un-
erwähnt will ich übrigens nicht lassen, daß wenn allerorts
in Abyssinien die Pfaffen sich als fanatisch uud intolerant
erwiesen, wir doch hier die liebenswürdigste und zuvorkom-
mendste Aufnahme fanden; weder verlangte man, daß die
Schuhe ausgezogen werden sollten, noch war man irgend
ängstlich, vor uns etwas zu verbergen, und was sehr bemer-
kenswerth ist, in keiner dieser Kirchen, die ohne Zweifel zu
den ältesten in Abyssinien gehören, fand ich ein sogenanntes
Allerheiligstes oder einen abgeschlossenen Raum. In allen
übrigen abyssimschen Gotteshäusern findet sich diese jüdische
Einrichtung, und nur ein ordinirter Priester darf in den ge-
nannten Ort dringen, keineswegs ein Laie.
Die Secten des Islam.
Von Julius Braun in München.
III.
Die Jsmaelier und Nasairier.
Wir haben uns bemüht nachzuweisen, wie der in so man-
chen Theilen der mohammedanischen Welt mit Sehnsucht
erwartete göttliche Mahdi („Führer") nichts Anderes sei,
als ein Wiederauftaucheu der Vorstellung von einer derein-
stigen Wiederkehr Saturns. Saturn, der sterbliche Urkönig,
der sich gewaltsam des Throns im goldenen Alter bemächtigt
hatte, nachdem er zuerst das Weib seines Vorgängers zum
Abfall gebracht, — er wurde zuletzt durch den gemeinsamen
Ausstand der guten Götter überwältigt und von seinem eige-
nen Sohne Typhon (damals noch Vorkämpfer der gnten
Götter), wie es scheint aus hinterlistige Weise, getödtet*).
Bei der Tödtnng aber konnte es nicht bleiben, als man an-
fing, in diesem sageugeschichtlicheu Urkönig die innenweltliche
Intelligenz, den schöpferischen Zeitgott sich verkörpern zu las-
sen, sowie man seinen gestürzten uud verstümmelten, zuletzt
aber doch wieder siegreichen Vorgänger zum Urauos, Helios :c.
erhob. Man begnügte sich nun, den Götterfeind Saturn
(den gefallenen Gott, den gefallenen Engel) in mehr oder
minder strenger Haft zu denken.- in unterirdischem Bergver-
ließ, wie Zohak-Saturu (Zohak ist Urkönig und Gründer
von Babylon, also eins und dasselbe mit Bel-Saturu), im
Berge Demavend auf deul Süduser des Kaspischeu Meeres,
wo die Erde zittert, wenn er sich regt — oder selig wie der
Kronos „westlicher Barbaren" zwischen den goldenen Felsen
seiner von Wohlgeruch quellenden Grotte aus einer Insel des
Okeanos, wo der Schlaf die einzige Fessel des Gefangenen
ist **). Von all diesen im Berge gefangenen Göttern (vergl.
') Die ägyptische Urfage liegt durch griechische Ueberlieferung
(Diodor, Plntarch «.) in großen Stücken noch vor und ergänzt sich
aus dem Spiegelbild unzähliger Wiederholungen auf fremdem Boden
und unter fremdem Namen. Wer sich ihre Grundzüge nicht gemerkt
hat, mag darauf verzichteu, von der übrigen Religionswelt auch nur
das Mindeste zu verstehe».
**) Ein solcher gefangener Gott saß auch in germanischen Bergen
(dem Unterberg bei Salzburg, dem Kyffhäuser in Thüringen) und
wurde nachmals „Karl der Große" oder „Friedrich der Rothbart" ge-
nanut. Sonderbarerweise will man darin immer einen einstigen Wo-
den in den Abgrund verstoßenen Prometheus, der wie Bel-
Saturn zugleich sagengeschichtlicher Empörer uud innenwelt--
liche Intelligenz, Menschenschöpfer ist; den apokalyptischen
Satan :c.) weiß man, daß sie dereinst wieder losbrechen wer-
den, und je nach der Parteinahme der Völker wird dieses
Losbrechen mit Angst oder Hoffnung erwartet. Jni bayeri-
scheu Walde, in Tirol thut man Sonnabend Abends noch
einige Schläge anf den leeren Amboß, um die Ketten des
höllischen Ungeheuers wieder zu festigen; die Jesiden in
Kurdistan, wie wir gesehen, haben keinen höhern Wunsch,
als daß der Satan wieder erscheine, um seine Dankbarkeit
für die von ihnen niemals versäumte andachtsvolle Rücksichts-
nähme zu beweisen. Da nun Secten wie die Ali Jlahi,
die den Satan als Weltschöpfer verehren, ihn geradezu „Ali"
nennen; da der erwartete Führer und Erlöser (Mahdi) der
Ultra - Schiiten (der fanatischen Anhänger von Ali's Ge-
schlecht) angerufen wurde als „Herr der Jahre", „Herr der
Zeit" — also mit dem alten Saturunameu (Bel-Jtan, Nie-
lek-Olam, Baal-Chewan :c. — alles derselbe Begriff), kön-
nen wir nicht zweifeln, an wessen Stelle Ali und die Jmame
seines Geschlechts getreten sind. Im Stumpf der Belus-
grabpyramide, heute uoch „Babel" genannt (linkes Enphrat-
ufer), sind die Engel Harut und Marnt wegen Verführung
dan erkennen, weil die Raben Wodan's um den Berg fliegen. Aber
diese Raben sind ja feindliche Mächte, die für Wodan die Welt über-
wachen, und so lange sie fliegen, d. h. so lange Wodan an der Re-
gicrung ist, kann der Gefangene nicht heraus. Erst am Ende der
jetzigen Weltperiode, wenn der Baum auf dem Walserfeld (dem Teu-
felsfeld, denn „Wals" ist Teufel), d.h. der Weltbaum, wieder sproßt,
ist mit dem Ende von Wodan-Agathodämon's Regierung auch die
Haft des empörten, gefallenen Gottes zu Ende. Diefer ist alfo Sa-
turn, oder ein in den Saturnsohn Typhon (den Gotterfeind und Em-
pörer im zweiten Götterkrieg), wie es so unzählige Mal geschieht,
herabgerückter Saturn. Den Typhongehalt (zur Hälfte Urfeuergott
und unterirdische Triebkraft der Natur; zur Hälfte sagengeschichtlicher
Bösewicht) finden wir wenigstens im nordischen Loki, der gefesselt in
der Bergkluft sitzt und, wenn er sich regt, die Erde zittern macht,
wie Zohak im Demavend.
Julius Braun: Die Z
eines schönen Weibes an den Füßen ausgehängt*); im be-
nachbarten Hillah am Enphrat erwartete man die Wieder-
kehr des verschwundenen letzten Jmams aus einer Moschee;
zu Samarra (nördlich davon am Tigris) aus einer Höhle :c.
Nichts ist im Volksglauben (und auch sonst noch da und dort)
schwieriger einzuführen, als neue Ideen, und nichts schwieri-
ger auszurotten, als alte.
Ein solcher Volksglauben, der das Haus Ali's mit der
Göttlichkeit der alten Saturndynastie umkleidete, und anstatt
der Wiederkehr eines Gottes die Wiederkehr des siebenten
Jmams (Vertreter von Ali's Nachkommenschaft im siebenten
Geschlecht) erwartete, konnte natürlich Niemandem angeneh-
mer sein, als den Nachkommen Ali's selbst. Bereits nannte
sich eine Secte, die an jenen siebenten Jmam (Mohammed
ibn Jsmael) glaubte, „Jsmaelier". Ihren Glauben in Sy-
stem zu bringen, Missionäre zur Gründung eines furchtbaren
Geheimbundes heranzubilden, dazu fühlte sich Abdallah ibn
Ahmed berufen (mit Beinamen El Kaddah, der Augenarzt),
vierter Nachkomme oder Nachfolger jenes Mohammed ibn
Jsmael — ein Mann, der (nach Makrizi) „von allen Re-
ligionen und Secten vollkommene Kenntniß hatte". Aus
Basra flüchtig, eröffnete er zu Salamia in der syrischen
Wüste eine Schule für den Glauben ans Jmamat des Mo-
hammed ibn Jsmael und für den Glauben an die Jmame,
die (wie Abdallah selbst) bis zur Wiederkehr jenes Mahdi
ihn aus Erden zu vertreten haben **). Durch sinnverwirrende
Fragen, heißt es, und durch tiefsinnig scheinende Perspectiven
in eine allegorische Ausdeutung aller Koransütze wurde der
Proselyt unmerklich vom orthodoxen Jslamboden abgebracht,
bis er bereit war, sich mit Leib und Seele zu unbedingtem
Gehorsam gegen das gotterleuchtete Oberhaupt der Schule
(natürlich unter dem Schwur ewigen Geheimhaltens) zu ver-
pflichten. Dann weihte man ihn von Grad zu Grad, je
nachdem die Fassungskräfte, das Talent zur Unterwürfigkeit :c.
es rathsam erscheinen ließen, weiter in die Geheimlehre ein.
Erst auf siebenter und achter Stufe erhielt der bis dahin Zu-
gelassene anvertraut, daß es nicht ein, sondern zwei göttliche
Wesen gebe und geben müsse, welche die Weltordnnng ans-
recht halten. Das eine war früher und ist erhabener; das
zweite ist von ihm geschaffen, aber aus der eigenen Substanz;
das erste hat primitive Dinge hervorgebracht, das zweite giebt
ihnen die Gestalt und bildet Zusammengesetztes; das erste
(oder „Vorangegangene") ist das Licht des Schöpfers, aber
ein Licht, das mit menschlicher Gedankenkraft nicht erfaßt
werden kann; das zweite (oder „Nachfolgende") ist Quell
der Wärme und Bewegung :c. Aber auch jenes Erste ist
eigentlich das Erste nicht, sondern selber wieder bedingt von
einem noch Höhern; nur hat dieses Allerhöchste weder Na-
men noch Attribute, und darf Niemand weder von ihm spre-
chen, noch ihm irgend eine Anbetung erweise«***).
Daß' mit dieser ismaelischen Lehre von einer in drei Stn-
fen entwickelten Schöpferkraft weit abgewichen werde vom
Boden des monotheistischen Islam, wird nicht zu bezweifeln
*) „Harut" hieß nach moslimscher Überlieferung (wie bei den
Drusen) Jblis (der Satan) vor seinem Fall. Das Weib, um dessen-
willen jener große Engel fiel, war nach rabbinifcher Angabe Estehar
(Astarte); nach moslimscher Sahrah (Venus, Astartc, Rhea) — also
jene Gemahlin von Saturn's Vorgänger Agathodämon (Helios :e.).
die selber zu dessen Sturz die Hand bot (vergl. Eva und die Schlange,
d. h. den schlangengcstaltigen Saturn :c.).
"I Salamia (das alte Salaminias) ist eine griechisch-sarazenische
Ruinenstadt zwischen Hama und Palmyra. einst in reichen Gärten.
Dank den jetzt noch meilenweit zu verfolgenden Wasserleitungen. Auch
diesen Ort, wie so manchen andern, wollte Ibrahim Pascha wieder
beleben und besetzte ihn mit arabischen Colonisten. Mit der Rück-
kehr der Türken aber war hier, wie anderwärts, Alles wieder aus.
Die meisten Quellen finden sich in DeSacy'sWerk über die
Drusen; sehr zweckmäßige deutsche Bearbeitung von Ph. Wolff.
cten des Islam. 371
fein. Aber wohin? Das ist bisher unverständlich geblieben,
weil man die heidnischen, auf demselben Boden vorausgegau-
genen Systeme nicht zur Vergleichung hatte. Ziehen wir
diese aber zu Rath, dann wird unser Satz: „Die Jsmaelier
und die von ihnen abhängigen Systeme der Drusen, Nasai-
rier :c. seien nur eine Form des durch die moslimsche Hülle
wieder zu Tage gebrochenen chaldäischen Heidenthums" —
genugsam erwiesen sein.
Jene in drei Stufen entwickelte Schöpferkraft erscheint
nämlich von Aegypten an in allen Weltschöpfuugslehreu.
Mau wußte 1) von einem außerweltlichen Urgeist; 2) von
einer innenweltlichen Intelligenz, dem Lichtgott, Ordner im
Chaos; 3) von dem Urfeuergott, der die Einzeldinge kuust-
reich vollendet hat *). Der außeyveltliche Urgeist wird be-
reits in babylonischer Kosmogonie (nach Endemos) „mit
Stillschweiget übergangen". Um so bedeutsamer ist der erste
iunenweltliche Schöpsergeist.- Moymis, Memra, das Wort,
der Logos, daselbst geworden. Es war der Zeitgott, den die
chaldäische Lehre mit dieser Aufgabe betraute (Bel-Jtan, der
Herr der Ewigkeit, als Weltordner), und darum sehen auch
die phönikischen Systeme (Mochos, Sanchuniathon) in Ulo-
mos (Zeit, Ewigkeit) und Aeou Protogonos die innenwelt-
liche Intelligenz, aus welcher der Urfeuergott (Chusoros, He-
phästos) erst hervorging. Wenn also den Jsmaeliern mit-
getheilt wurde, es gebe eiu unnennbares höchstes Wesen, das
man nicht zu verehren brauche; sodann in der Binnenwelt
ein „Vorangegangenes" (das geistige Weltlicht) und ein
„Nachfolgendes", das der Quell der Wärme (d. h. Feuer-
gott) fei und das als Götterschmied die Einzeldinge zur Voll-
euduug bringe, so haben wir nichts als eine Wiederholung
jenes ägyptisch-babylonischen Systems, das für die ganze ge-
bildete Welt maßgebend geworden**).
Wenn die Wiedererweckung dieses Systems für passend
erachtet wurde, um den Glauben an den mohammedanischen
Allah zu beseitigen, so war sie doch nichts weniger als maß-
gebend für die Eingeweihten auf höchster (neunter) Stufe,
denn dort reichte es (nach Abdallah's Anweisung) aus, au-
statt an einen persönlichen Gott an die Ewigkeit des Welt-
alls zu glaube» uud vorauszusetzen, es habe niemals Engel
und Propheten, aber schon vor Adam viele Menschen gege-
*) Zum Nachweis aus ägyptischen Quellen ist hier nicht der
Raum. Wir wollen nur erinnern, daß die sogenannten „hermetischen
Schriften" in ihrer echt- und altägyptischen Theologie den innen-
weltlichen Schöpfergeist als das „Wort", den Logos, kennen (das
Wort des Urgeistes), und daß sie von diesem mit weltbildender Kraft
begabten, in die wogende Welt herabsteigenden Wort — diesem sicht-
baren Gott, den der Urgeist liebt als Theil von sich selbst, als eige-
nen Sohn — zunächst den Feuergott schaffen lassen.
") Bei den Pausen entspricht Ormuzd dem Urgeist; Bahman, der
von Ormuzd geschaffene erste Erzengel (der selber aber die übrigen
Erzengel oder Ämschaspands ins Dasein zu rufen hatte), dem ersten
innenweltlichen Schöpfergeist oder Logos; und dritte Kraft ist, wie
zu erwarten, der Genius des Feuers: Ardibehist, der den Menschen
heitern Sinn und Lebensmuth verleiht. Im Norden heißt dieselbe
Reih?:' Odin, Wili, We, oder: Odin, Hönir, Lodr — abermals
nur eine in drei Stufen entwickelte Schöpferkraft. Wo diese drei
gemeinsam zur Belebung der hinfälligen Mcnfchenpflanze schreiten,
giebt Odin, als UrHauch, die Seele; Hönir, als iunenweltliche In-
telligcnz. den Verstand, Lodr (Loki), als Feuer, Blut und blühende
Farbe (wie Ardibehist). Menschenschöpfer bei den Griechen sind Zeus,
Prometheus, Hephästos. Zeus enthält den Urgeist (Amun-Zeus);
Prometheus ist innenweltliche Intelligenz, aber, weil er auch die
sagcngeschichtliche Hälfte des Logos-Saturn in sich aufgenommen, ein
gefallener Gott und Empörer, der in den Abgrund verstoßen wurde
und erst am Ende der jetzigen Weltperiode wieder hervorgehen wird
(wie Zohak, der Satan :c.); den Hephästos kennen wir als Urseuer-
gott und kunstreichen Weltausbildner. Sind alle diese Uebereinstim-
münzen Zufall? Oder Naturnotwendigkeit? Oder hat sogar,
selbst über die bekannten Klüfte herüber, welche alles Semitische vom
Indogermanischen trennen, vielleicht ganz, im Verstohlenen, ein klein
wenig Zusammenhang stattgefunden?
47*
372 Julius Braun: Di
ben. Ganz ähnlich lehrte das orphische Gedicht (Pythago-
ras) eine Schöpfung der Welt aus derselben Folge von gött-
lichen Kräften: erst Urgottheit, dann Phanes oder Metis
(der Gott „Einsicht"), der leuchteude Erstgeborene:c., um
schließlich Alles, und zwar gleichfalls schon nach ägyptischem
Vorbild, in den einen Zeus (Sarapis) auszulösen — einen
Gott, dessen Haupt der Himmel, dessen Leib die Erde, dessen
Füße das Meer :c., d. h. einen Gott, der eigentlich keiner
mehr ist. Ein bezeichnender Unterschied von den Jsmaeliern
ist nur die untadelhaste Sittenstrenge der Pythagoräer, mäh-
rend bereits Abdallah auch jedes bürgerliche Gesetz für die
Wissenden in Allegorie auflöste, „denn bei Erkenntniß des
Herrn der Wahrheit hat man nichts mehr zu fürchten, weder
Sünde noch Strafe." Der Jsmaelier Hamdan al Karmat,
der durch einen von Salamia (von Ahmed, dem Sohn und
Nachfolger Abdallahs) kommenden Glaubensboten sich hatte
gewinnen lassen und selber in der Gegend von Knfa (südlich
von Babylon) einen Hauptherd ismaelischer Ideen gründete
— er führte bereits außer der Gütergemeinschaft auch die
Weibergemeinschaft als „die Vollkommenheit und den letzten
Grad der Freundschaft und brüderlichen Vereinigung" ein.
Auch diese Lebensform war schon im Heidenthum (mit der
Lehre des Mazdak unter dem Sassanidenkönig Kobad) ein-
mal Staatsgesetz geworden, und daß man sie niemals ver-
gessen hat, beweist heutigen Tags noch die weit verbreitete
und viel verfolgte Secte der Babis. Es ist ausfallend, wie
häufig die Gemüthserhebuug (auch christlicherfeits hat man
Erfahrungen gemacht) gerade dann, wenn die pietistische Secte
sich Gott am nächsten fühlt, in gemeinster Sinnlichkeit endet.
Aber nicht nur die eigenen Güter pflegt der von Glauben
und Sinnlichkeit trunkene Geheimbund zu theilen, sondern er
glaubt auch gerechte Ansprüche auf die Güter der Uugeweih-
teu, der „Todteu", machen zu dürfen. So thaten neuerdings
die Babis; so thaten einst die Rnschemier (die „Erleuchteten")
in Afghanistan, und so thaten bereits die Karmaten (Jsmae-
lier aus der Schule Karmat's) im dritten und vierten Jahr-
hundert der Hedschra. Die großen Mekka-Karawanen wnr-
den angegriffen, Tausende von Pilgern niedergemetzelt, und
von Bahrein (der nordostarabischen Landschaft am persischen
Golf) aus, wo die Karmaten sich ganz und gar der Herr-
schast bemächtigt hatten, endlich Mekka selber genommen, der
schwarze Stein (dieses von den Moslimen so innig verehrte
und geküßte alte Saturnbild) aus der Kaaba gebrochen und
der heilige Brunnen Zemzem mit Leichen gefüllt. In jener
Landschaft Bahrein foll (nach Palgrave) der altkarmatische
Haß gegen allen Islam heute noch offen zu Tage treten.
Ein anderer Rest des endlich durch die Truppen der Bag-
dader Chalisen zertrümmerten Karmatenbnndes sind die An-
sairier (Nasairier) in dem langgestreckten, vom Nordende des
Libanon durch eine kleine Ebene getrennten, nordsyrischen
Küstengebirge. Dort im Gebirge sollen sie etwa 64,000
Seelen stark sein, erstrecken sich aber weit darüber hinaus.
Den alten Schwurihre Lehre geheim halten zu wollen, er-
neuern und halten sie mit unwandelbarer Treue. Bei ihrem
Fest der Namensgebung weist nian sie an: „Bist Du uu-
ter dem Schwert, unter dem Strick, auf der Folter — lächle
und stirb, dann wirst Du selig." Selbst solche, die ihr Le-
ben lang bei europäischen Familien gedient haben, sind wie
versiegelt, wenn von Religion die Rede. „Schneide mein
Herz ans dem Leib und sieh, ob Du etwas findest," ist die
einzige Antwort. Doch weiß man , daß ihre Gebetformeln
lauten: „Ich erkläre es, ich verehre Ali, Sohn der Abu
Talib; er ist über Alles ein allmächtiger Gott," oder: „Es
ist kein Gott als Ali, und Mohammed, der Geliebte, ist der
Prophet von Gott." Fleißig und redlich, von den Türken hart
gedrückt und nur durch die Verzweiflung zuweilen ins Ränber-
Secten des Islam.
leben getrieben, bewohnen sie als Ackerbaner die Thäler ihres
Waldgebirges nnd verehren als unfehlbar ein geistliches Ober-
Haupt. Aber von Alters her weiß man auch, daß ihre religiöse
Feier im Dunkel unzüchtiger Gelage endet uud die Vereheli-
chnng keine gesetzliche Schranke für die Glaubensbrüder ist *).
Wenn diese Nasairier in ihren jetzigen Wohnsitzen schon
seit dem zehnten Jahrhundert nachzuweisen, so sind ihre Mit-
wohner im südlichen Theil desselben Gebirges, die „Jsmae-
lier" (wie sie jetzt noch heißen), erst später eingewandert oder
durch die Sendboten des im Osten zu neuem Aufschwung
gediehenen Jsmaelierthums gewonnen worden. In Persien
hatte ein alidischer Wühler, Hassan ibn Sabbah, sich der
Burg Alamut (in hoher und rauher Lage, nordwestlich von
Teheran) zu bemächtigen und sich selber mit dem Nimbus
des erwarteten Mahdi zu umkleiden gewußt (1090). Auch
dort übte man die allegorische Erklärung und Auflösung des
Koran uud erzog eine fanatische Jugend zu der Ueberzeu-
guug von der Notwendigkeit unbedingten Gehorsams gegen-
über dem verkörperten Gott, der in derselben Burg wohnte,
sich selber aber wohlweislich fast niemals sehen ließ. Es ist
bekannt, wie opferfreudig feine Blutbefehle vou den „Assas-
sinen" an rechtgläubigen Emiren, Sultanen, Chalisen voll-
zogen wurden, bis die Mongolen unter Hnlagn (1260) die-
ser Amamdynastie und ihrer Nation von Meuchelmördern
ein blutiges Ende machten. Aber Burgen desselben Ordens
standen bereits in Syrien (die gewaltigste das von Saladin
vergebens belagerte Masyiad, heute noch finster auf steilem
Fels über weitem Moorland am südöstlichen Fuß jenen Kü-
stengebirges), uud auch dort gab es eine Schule vou Meuch-
lern (in bester Freundschaft mit dem heiligen Ludwig und
den Templern) und blieb es, selbst nachdem der ägyptische
Sultan Beibars diese Burgen gebrochen hatte (1269). Was
jetzt noch unter dem Namen Jsmaelier in jenem Gebirge
lebt (ihr Häuptling in der Burg Cadmus), ist in ewigem
Blutrachekrieg mit den im Bekenntniß doch so nahe mit ihnen
verwandten Nasairiern begriffen. Zu erfahren giebt es auch
von ihnen nichts, da die Schweigsamkeit die gleiche ist. Doch
weiß man, daß auch die heutigen Jsmaelier den Ali, den
Schwiegersohn des Propheten, als Gott anerkennen, den Pro-
pheten selbst sammt seinem Koran, seinem Paradies :c. ver-
werfen. Rückhaltlose Sinnlichkeit, wie die Mystik sie groß-
zieht und erfinderisch mit den frömmsten Phrasen heiligt, war
und ist charakterbezeichnend auch für die Feste der Jsmaelier
(Niebuhr, Burckhardt, Thomson ?c.). Sie sollen jetzt noch
etwa 10,000 stark sein (Ney, 1864).
Nicht minder folgenreich war die Uebertragnng der ismae-
lifchen Lehre nach Afrika. Dort gelang es dem Obeidallah
ans Salamia, einem Urenkel des Gründers der Schule (des
Abdallah el Kaddah), sich als Mahdi ankennen zu lassen.
Seine Nachkommen (die „Fatimiden") wählten Kairo zur
Residenz und unterhielten dort ein „Hans der Wissenschast",
d. h. eine Schule des Jsmaelierthums, wo nachgewiesen wurde,
wie Ali's göttliche Natur in seiner (wirklichen oder vermeint-
lichen) Familie, den Fatimiden, ewig sich neu verkörpere. Ha-
kim, der fünfte Nachfolger des Mahdi Obeidallah, machte
Ernst mit dem Anspruch, ein Gott zu sein, und fand Pro-
pheten, denen es wenigstens in Syrien gelang, ein ganzes
Volk zur Anerkennung dieser Gottheit zu bringen. Es sind
die Drusen, die heute noch an die Gottheit Hakim's mit In-
nigkeit glanben. Von ihrem System ein andermal.
*) Ein Rest alten Heidenthums bei den Ansairicrn, aber nicht
mit Notwendigkeit zum ismaelischen System gehörig, ist ihre Ver-
ehrung von Sonne und Mond, die Heilighaltung hoher Berge, wo
sie im WaldeSdickicht ihre Betplätze haben und wo das Gebet guter
Greise die Sterne (jeder Stern ist die Seele eines Auserwählten)
herabzurufen vermag (vergl. Thomson, Walpole, Lyde, Rey :e.).
Die Landes.
373
D i e L
Ihr Boden, ihre Cultur und ihre Prodi
Die Landes der Gascogne nehmen die weite und ein-
feinte Gegend ein, welche sich in: Südwesten Frankreichs ans-
dehnt, von der Garonne bis zum Adonr und von der Gelise
bis an die Dünen des Oeeans. Es ist der westliche Theil
des alten Aquitaniens, welches unter den Römern den Na-
mm Novem populanuni erhielt, später jedoch unter dem
fränkischen Kaiserreich Vasconien oder Gascogne genannt
wurde. Man theilt diese Haiden ein:
1) iu Große Landes; dieses sind die unfruchtbarsten;
2) in Kleine Landes; sie sind angebaut und bilden
den westlichen Theil der Hochebene, zwischen einem kiesigen
Thale und deu Großen Landes;
3) in die Landes von Medoe.
Diese letzteren befinden sich einbegriffen zwischen der Straße
von Bordeaux uach Teste, dem Wasserbecken von Arcachon,
den Dünen und der Straße von Lesparre uach Bordeaux.
Die gesammten Haideflächen nehmen eine Strecke von
12,750,480 Quadratruthen ein, aus welchen die zu Ge-
meinden gehörigen 8,178,980 Quadratruthen betragen.
Die Landes bestehen aus mehreren Hochebenen. Die
größte von allen dehnt sich gegen Osten aus dem Wege vou
Bayonne nach Bordeaux aus, geht durch Laboulegre
und ist vou einer Seite begrenzt vom Adour, Midon,
der Do uze und dem Estampon; ans der andern vom Ci-
ron und der Garonne. Sie hat die Form eines Dreiecks
und liegt ungefähr 300 Fnß über der Meeresfläche. Die
durchgängig horizontale Lage aller dieser Plateaus ist nur
scheinbar. Schon Bremontier hatte diese bemerkeuswerthe
Thatsache vermuthet, welche durch Messungen eines der ge-
schicktesten neueren Ingenieure bestätigt wurde. Es ist in der
That erwiesen, daß von Osten nach Westen, wenn mau sich
eine senkrechte Linie zum Meere deukt, eine Neigung von min-
destens 0001 auf den Meter stattfindet, und diese Abdachung
ist so schwach, daß der geringste Znsall oder vielmehr die ge-
ringste Unregelmäßigkeit des Bodens, z. B. Fußtritte einer
Herde oder eine Haidekrautwurzel, die Neigung unterbricht
und das Wasser verhindert, ihr zu folgen. Von Westen nach
Osten ist das Gefäll vielleicht noch schwächer, aber es genügt
doch, um das Abfließen des Wassers zu gestatten. Aus die-
sem glücklichen Umstände, sagt mit Recht M. C. v. Sanl-
nier, geht hervor, daß, wenn man gleichviel an welchem
Ende der Landes eine Grube von höchstens 0,30 bis 0,40
Meter Tiefe unterhalb der Mittlern Terrainhöhe graben und
den Grund der Grube gauz parallel mit der allgemeinen
und regelmäßigen Abdachung richten würde, diese Grube nie
tiefer als 0,60 bis 0,70 Meter ausgegraben zn werden
braucht. Sie könnte fehr leicht und mit wenig Kosten her-
gestellt werden und durch die gleichmäßige Senkung alle Was-
ser des durchschnittenen Erdreichs zum Abfließen bringen.
Der Thon, welcher zum Ackerbau und den Wiesen in
gewisser Masse mit Sand vermischt nöthig ist, sehlt hier
überall und findet sich nur in den inneren Schichten. Damm-
erde gicbt es nur in geringer Quantität an sehr abgelegenen
Stellen. Diese Beschaffenheit des Bodens ist dem Ackerbau
ungünstig und deshalb sind viele Versuche zur Cultivirung
der Landes gescheitert. Den Wassern, welche, wie schon ge-
sagt, in den Ocean fließen könnten, fehlt gegenwärtig der
Abfluß, deshalb fiudet man fo oft kleine Lachen, deren ver-
derbliche Ausdünstungen den Menschen fern halten. Am
a n d e s.
'te. — Die Einwohner und ihre Sitten.
Meeresgestade bildet der durch deu Wind aufgehäufte Sand
eine Zone von Dünen, deren Breite zwischen circa 2 bis
8 Kilometer wechselt und die sich oft mehr als 50 Meter
über den Boden erheben.
Diese Dünen sind das entschiedene Hinderniß, warum
das Wasser nicht in das Meer abfließen kann. Daraus
entstehen die Teiche, welchen man unaufhörlich längs der Dü-
nenkette begegnet, und bei welchen gegenwärtig alles Mög=
liehe aufgeboten wird, um sie festzuhalten. Die eigentlichen
Landes, welche weiter zurückliegen, ruhen auf Tuffstein vou
30 Centimeter zu 1 Meter Dicke; sie werden in jenem Land-
striche mit dem Namen Alios bezeichnet. Dieses Tuffstein-
lager ist durchaus undurchdringlich, und weil die Oberfläche
des Erdbodens aus den vom Belieben der Winde auf das
Alioslager gewehten Sandmassen entsteht, so sind die weiten
Spiegel übersäet mit Sandbänken, deren hoher Rand trich-
tersörmige Löcher von mehreren Meter Tiefe bildet. Im
Innern dieser trichterförmigen Löcher liegt Torf, der ver-
mischt mit eisenhaltigen Stoffen ist, auch findet man eine be-
trächtliche Menge Düngererde, vermittelst welcher man die
Landes zu einer reichen, ackerbautreibenden Gegend umwan-
deln könnte, wenn nicht die Schärfe des Urstoffs die Frucht-
barkeit unmöglich machte.
Gleichsam als ob die Natur nicht schon Schwierigkeiten
genug böte, befleißigt sich auch noch der Mensch, Verwüstun-
gen anzurichten. Die zur Gemeinde gehörigen Steppen also,
ungesund und verlassen, sind ausschließlich dennoch für die
Nahrung magern Viehes bestimmt, und in der Hoffnung,
neues Gras wachsen zu sehen, haben die Schäfer das gefähr-
liche System Feuer anzulegen, welches die ganze Vegetation
vernichtet und manchmal erschreckliche Verheerungen anrichtet.
Die Jahre 1755, 1803 und 1822 haben jenes unglückliche
Land durch ihre Feuersbrünste leider berühmt gemacht.
Wenn die heiße Jahreszeit herannaht, verbreitet sich
der Anstecknngsstoss, den dieses schmutzige Lager einschließt.
Daraus entstehen Sumpssieber und alle möglichen Krank-
heiten — unter einem bleute» Himmel und in einer milden
Temperatur, welche zwei Ernten im Jahre gestatten würde,
wenn diese erbärmlichen Zustände geändert werden könnten.
Schon im Monat Juni wird die Hitze so heftig, daß die
Pflanzen verdorren. Ueberschwemmnng im Winter, Trocken-
heit im Sommer, das ist die unangenehme Folge der geolo-
gischen Beschaffenheit der Landes.
Die Steppe ist nur stellenweise etwas fruchtbar, oder
richtiger, der Boden ist weniger schlecht, trägt aber nur Kie-
fern, Eichen und Acacien. Von Agricnltnr kann hier keine
Rede sein, davon haben sich einige Gesellschaften der Teste,
der Landes von Arcachon :c. überzeugt, nachdem sie enorme
Summen nutzlos verwandt hatten.
Aber ein Segen ist dieser Haideregion gewährt in der
Seefichte, welche man mit gutem Recht als einen der kost-
barsten Bäume unter den Nadelholzarten bezeichnen kann.
Er ist im Süden Frankreichs sehr selten, und Linne selbst
kannte ihn nicht. Dieser Bannt entsteht ohne jedes Daztt-
thnn des Menschen. Wenn man seinen Samen flüchtig auf
den Erdboden wirft und nur während der ersten Zeit die be-
säete Stelle vor deu Fußtritten der Thiere hütet, so braucht
man sich um sein Wachsthum nicht mehr zu kümmern, selbst
auf Stellen, die für alles Andere untauglich sind. Die Na-
374 Die L
tur thut Alles allein. Im zehnten Jahre beginnt man diese
Bäume zu- lichten, und dadurch wird schon eine Einnahme
erzielt. In kurzen Unterbrechungen setzt man das fort, denn
der Baum wächst rasch uud ist im fünfzigsten oder sechzigsten
Jahre vollkommen. Die Ernte des Harzes fängt im zwan-
zigsten Jahre an nnd sie wird sortgesetzt bis zur vollen Ent-
Wickelung des Baumes, der, gefällt, uoch Theer und Kohle
giebt. Von dem Harz erhält man Terpentin nnd Ofenrnß.
Das Holz der Seefichte liefert Pfähle für die Weinreben,
Pflöcke zu Einzäunungen, Telegraphenstangen, Querstangen
und Langschwellen für die Eisenbahnstraßen, Balken und
Bretter und endlich Brennholz. Etwa 200 Quadratruthen,
welche mit dieser Fichte bepflanzt sind, tragen ungefähr 25
Francs jährlich ein.
Nächst der Seesichte ist die Korkeiche hervorzuheben,
die auf der kiesigen Steppenerde dieser südlichen Gegenden
ebenfalls gedeiht. Dieser kostbare Baum bedarf zum Wach-
fen etwas längerer Zeit als die harzigen Bäume, denn man
beginnt die Korkernte frühestens im funfzigsteu oder sechzig-
sten Jahre der Eichen, je nachdem sie gut gediehen sind, oder
ans einem mehr oder minder günstigen Boden stehen. Bon
jener Zeit an kann man die Korkrinde alle sieben oder acht
Jahre abschälen, und diese bequeme Einnahme, welche keine
andere Mühe als die des Erntens verursacht, dauert etwa
zweihundert Jahre. Die Korkeiche gewährt uoch eine andere
Ernte, welche nicht zu verachten ist, nämlich jene der Eichel,
welche eine für die Schafe und Schweine vortreffliche Nah-
rung giebt. Will man die Erde schneller mit Korkbäumen
bepflanzen, so mischt man unter ihren Samen Seefichten,
welche man dann schon nach 20 bis 25 Jahren verwenden
kann, und wodurch zugleich bewirkt wird, daß die Korkbäume
gerade emporwachsen und mehr in die Höhe schießen. Noch
ist zu bemerken, daß der Kork, den man in den Landes der
Gascogne erzielt, für den allerbesten gilt. Die Stöpselfabri-
kanten ziehen ihn allen anderen Sorten vor. Er hat eine
bemerkenswerte (Slasticität, ist feint gekörnt nnd es füllt we-
nig davon ab.
Zu Weinpfählen, Einzäunungen und Wagenhölzern liefert
die Acacie Holz. Ihr genügt ebenfalls der leichte Erdboden
der Landes. Auf den fruchtbaren Stellen hat man die vir-
ginifche Pappel, die weiße holländische Pappel, die
Weide, die Birke und die Erle angepflanzt.
Seit langer Zeit ist das Problem, wie diese unglückliche
Gegend zu cultivireu sei, von verschiedenen auf einander fol-
genden Regierungen in Erwägung gezogeu worden. Bis in
die jüngste Zeit waren die Haupthindernisse, welche sich der
Verbesserung entgegenstellten, die Gleichgültigkeit, das Elend,
die Unwissenheit und die Vorurtheile der Baueru, die übel
berechneten Speculationen der Besitzer und Commuuen oder
deren absoluter Mangel an Hülssquellen. Neuerdings scheint
man ernsthaft an Verbesserungen gehen zu wollen. Die
Gesammtarbeiten würden ungefähr 27,150,000 Francs kosten.
— Hier folgt die Berechnung:
300,000 Hectaren Fichtenfamen, ä 50 Fr.,
würden kosten............... 15,000,000 Fr.
25,000 Hectaren Eichensamen, ä 70 Fr. . 1,750,000 „
20,000 „ Korkeichensamen, ö. 70 Fr. 1,400,000 „
30,000 „ Urbarmachung für ver-
schiedene Cnltnren, ä 300 Fr...... 9,000,000 „
Summa: 27,125,000 Fr.
25,000 „
Nach den Berichten der Baumeister ist in diesen Preisen
die Urbarmachung des Erdbodens und die Garantie des Sa-
mens und der Pflanzen bis zum dreimaligen Wachsthum
inbegriffen. Die Wegearbeiteu würden von der Gemeinde
unternommen werden. Nach diesem Project, welches ausge-
führt werden soll, ist der größere Raum zu Herstellung von
Seefichtenwäldern bestimmt, und man sieht in der That, wie
diese Wälder bestimmt zu fein scheinen, zwischen dem gegen-
wärtigen Zustande der Entvölkerung der Steppen und ihrer
Colonisirung zu vermitteln.
Wenn auch angenommen zu werden pflegt, daß Wald
uud Einsamkeit gleichbedeutende Dinge sind, so trifft dies' doch
nicht bei den Fichtenpflanznngeu zu, da ihre EntWickelung
die beständige Gegenwart der Menschen erfordert, und ein
jeder Baum mindestens wöchentlich einmal befeheu, beschnitten
und vom Harze befreit werden muß. Bis ein juuges, dich-
tes Gehölz das Alter erreicht, um Harz zu liefern, muß eine
Familie sich in seiner Nähe aufhalten, welches wieder eine
Urbarmachung für die neuen Wohnplätze, die da zu schaffen
find, nach sich zieht. 300,000 Hectaren Seefichteu geben
ungefähr 5000 nene feste Wohnsitze, die eine Bevölkerung
von etwa 30,000 Seelen repräsentiren. Das ist das ratio-
nellste System, welches man sich denken kann, eine Colonie
zu gründen, welche künftig einmal den wirklichen Ackerbau
in den Landes befördert.
Die Bewohner der Landes bilden drei verschiedene
Clafsen: Eigenthümer, selbständige Ansiedler nnd Meier oder
Pächter. Der Eigenthümer ist so, wie er überall ist, was
man einen braven, guten Mann nennt, bequemen Handel
treibend, manchmal erwerbsam, Gemeinderath, Wahlmann,
guter Ehemann, guter Vater u. s. w., und dabei gastfrei und
freigebig. — Der Ansiedler ist eben so, hat aber weniger
Schliff. Seine Erziehung ist mangelhaft und er geht vor-
zugsweife nur mit den Bewohnern der Meierhöfe um, von
welchen er anch Tracht und Sprache angenommen hat. Uebri-
gens führen ihn auch Jnteresscu und Geschmacksrichtuug dort-
hin. Von dem Pächter zieht er Nutzen, von ihm erhält er
in kleinen Raten seine Einkünfte, die, beständig zusammen-
gescharrt, ein großes Vermögen ausmachen würben, wenn
Gott nicht vermittelst einer ganz patriarchalischen Fruchtbar-
keit dagegen Vorkehrung träfe.
Die dritte Classe ist der Meier, der Bauer, der Prole-
tarier des Orts. An ihm sind Revolutionen spurlos vor-
übergegangen. Wenn seine Rechte aus Freiheit und Gleich-
heit anerkannt worden sind, so denkt er sich kanni etwas dabei
und glaubt sich noch in der guten alten Zeit. Herr über
ihn ist der Eigenthümer der Pachtung, die er bebaut. Diese
moralische Knechtschaft ist theilweife Folge seiner mangelhaf-
ten Erziehung. Der dortige Bauer hat ein Bewußtsein,
untergeordnet zu sein. Er wagt es nicht, seine Angen zu
einer besser situirteu Classe der Gesellschaft zu erheben, und
lebt für sich allein, sorglos und mißtrauisch. Der Eigen-
thümer fühlt übrigens die moralische Verpflichtung, feinem
Meier zu helfen, wo es nöthig ist, uud in den Jahren des
Mangels kann dieser sich glücklich schätzen, einen Herrn zu
haben.
Der Bauer der Landes lebt ausschließlich in der Fa-
milie und zeigt im Umgang mit der Genossenschaft eine merk-
würdige Entsagung. Die Leitung ist gewöhnlich dem Aelte-
sten in der Familie und der Frau anvertraut, ihre Rath-
schlüge werden gehört und ihre Befehle mit passivem Gehör-
sam vollzogen. Kurz, es ist eine patriarchalische Familie
mit dem einzigen Unterschied, daß der Patriarch ein König
war uud dieses hier eine Art von Republik ist, wo, wie bei
den Bienen, unter der Leitung Eines Jeder sür die Gesammt-
heit arbeitet. Die Nahrung der Bauern ist sehr einfach:
Geflügel, felbstgezogene Schweine, Thiere, die er aus seiner
Herde nimmt, Producte aus seinem Garten, Brot von ziem-
lich grobem Korn und eine ganz besondere Speise, die sie
Escanton oder Eruchade nennen. Diese Speise ist keines-
Emil Schlagintweit: Die
Wegs die lacedämonische Kraftsuppe, wie einige wunderliche
Reisende wissen wollten. Sie ist aus Mehl, Wasser und
Salz zusammengesetzt; die Zubereitung ist jener der Polenta
ähnlich oder dem Kuskussu der Araber. Der Geschmack ist
nicht uuaugenehm, wenn man erst daran gewöhnt ist, und
Ludwig der Achtzehnte geruhte sogar ihn „deliciös" zu sin-
den! Unglücklicherweise hat aber der Bauer der Landes nicht
den Koch dieses Monarchen zu seiner Disposition.
Die Tracht ist im Allgemeinen jene der Leute, die zwi-
scheu den Pyrenäen und der Garonne wohnen. Einige Greise
haben noch Kniehosen und Gamaschen beibehalten, die An-
deren tragen „Pautalous", „Gilet", Kamisol und Baretts.
Die bevorzugten Farbeu siud blau und kastanienbraun. Im
Winter tragen die Schäfer einen Ueberwnrs ohne Aermel,
von Schafhaut, die wirklich undurchdringlich ist. Die Frauen-
trachten sind viel verschiedenartiger. Jede Ortschaft hat ihre
Unterscheidung. Als Kopfputz ist die „Capulette" sehr ver-
breitet. Im Innern des Landes tragen sie Strohhüte oder
Hüte von schwarzem Filz ä la Catalane. Dies ist der ein-
zige Kopsputz der Frauen an der Küste.
Die Wohnungen sind nichts weniger als luxuriös, aber
es sind doch weder Strohhütten noch Zelte. Im Ganzen
sind sie weniger erbärmlich, als die in einem großen Theile
Frankreichs besindlichen Bauernhütten. Trauriger Trost!
Der größte Theil dieser Bauern führt ein wahres No-
madenleben; z. B. die Schäfer, die Ochsenhirten und die
Harzsammler, welche drei verschiedene Classen unter den
Meiern und Ackerbauern bildeu.
Der Schäfer, in welchem man irrthümlicherweise die
Personisication des Landes finden wollte, wandert fast bestän-
dig mit seiner Herde. Er campirt jede Nacht in einer jener
Hütten, die man Parcs nennt, und mit denen die Landes
besäet sind, und kehrt, wenigstens in den Sommermonaten,
nur zu seiner Familie zurück, um seine Nahrungsmittel zu
erneuern. Auf dem Wege von Bordeaux nach Bayonne,
von der Eisenbahn aus, sieht man allemal eine große Menge
dieser Schäfer. Sie kommen von weither dem Zuge ent-
gegen, denn es ist dies ihre einzige Zerstreuung in dieser
Wüste, und setzen sich dann auf die festen Barrieren, die den
Weg einzäunen, um den Eisenbahnzug vorüberfahren zu sehen.
Die Meisten gehen auf Stelzen, die sie Chanqnes nennen
und mit denen sie sich ungefähr 6 Fnß über den Boden erheben.
Die Harzsammler führen fogar noch höhere. Sie be-
stehen aus einem Hauptstück, pale de la chanque geheißen,
aus einer Art Untersatz, About genannt, auf welchem der
Fuß ruht; endlich ans einem ledernen Band, Nonmere, wel-
ches am Abont befestigt ist und dazn dient, den Fuß festzn-
halten, den es gleichzeitig mit Pelitronn (dortiger Name
eines Stückes Schashant, woran die Wolle nach außen bleibt)
bedeckt. Das unterste Ende der Stelze, das die Erde be-
rührt, ist mit einem Wulst von Holz, Horn oder von Kno-
erwaltung Britisch-Indiens. 375
chen versehen und heißt „Cret" oder „Pedis". Ein mes-
singenes Knieband mit einer Schnalle, Baonc genannt,
schließt die Stelze leicht an den Stiefel, von dein eine mes-
singene Platte, Palegre geheißen, sie trennt. Das oberste
Ende der Stelze reicht nicht über das Knie.
Die Höhe des Haidekrautes, die weite Ausdehuuug und
Tiefe der Sümpfe, die große Zahl der Thiere und die Roth-
wendigkeit, sich gegen die Angriffe der Wölfe zu sichern,
nöthigt die Leute, dieser Art der Fortbewegung sich zu bedie-
nen. Sie gewöhnen sich von frühester Jugend daran und
erlangen eine so große Geschicklichkeit, daß sie fast immer in
gerader Richtung gehen, wie unregelmäßig auch der Erdboden
sei. Sie laufen fo fchnell, wie manches Pferd im Trab,
nnd tanzen und walzen nach den Tönen ihres Dndelsacks.
Der lange Stock, den sie in der Hand tragen, dient ihnen als
Balancirstange, wenn sie gehen, und als Stütze, falls sie sich
ausruhen wollen. Wenn sie stillstehen oder auch selbst im
Gehen stricken sie Fußbekleidungen von naturfarbeuer Wolle,
die sie selbst gesponnen haben. Dies und das Hüten ihrer
Herde ist ihre einzige Beschäftigung. Ungeachtet der Stille
nnd der Einförmigkeit, zu welcher ihre Existenz sie verdammt,
haben diese Lente der Haide einen ziemlich heitern Charakter.
Die wenigen Reisenden, welche ihre Einöde durchziehen, sin-
den sie immer gastfreundlich und gefällig. Die Race der
Schafe ist klein, ihre grobe Scheerwolle hat wenig Gewicht;
ihr Fleisch ist durchaus nicht von guter Qualität, deshalb ist
auch der Gewinn an den Schafen beinahe gleich Null und be-
schränkt sich hauptfächlich auf den Dünger. Schreckliche Krank-
Heitert verwüsten oft ganze Herden, weil man nicht daran ge-
dacht hat, die Gegend von den sumpfigen Gewässern zu befreien,
und weil man aus den Schafställen den Mist nicht entfernt.
Der Ochsen Hirt führt beinahe ein gleiches Nomadenleben
wie der Schäfer. Er schläft ebenfalls in seinem zweiräderi-
gen Wagen oder auf.bloßer Erde uuter freiem Himmel und
sieht nur zuweilen seine Familie. Er wird beauftragt, auf
schweren Karren, die man „Cros" nennt, von fern her Le-
bensbedürfniffe herbeizuholen oder überflüssige Producte der
eigenen Ernte zu verkaufen. Diefes Leben macht aus ihm
etwas Apartes. Die Einsamkeit flößt ihm eine starke Nei-
gnng zu seinen Ochsen ein, er isset erst, nachdem sie satt,
schläft, wenn sie eingeschlafen sind. Des Abends, wenn die
Familie bei ihrem gemeinschaftlichen Abendessen versammelt
sitzt, sehlt immer ein einziges Mitglied derselben, und das ist
der Ochsenhirt. Er-sitzt vor dem „Bayale", einer Luke,
durch welche die Ochsen ihre dicken Köpfe stecken und gravi-
tätisch das Futter erwarten, das er ihnen mit vollen Händen
in das Maul stopft. Diese Dienste werden auch dankbar
anerkannt, denn gewöhnlich nehmen die Ochsen nur ans der
Hand des Ochsenhirten oder seiner Kinder das Futter. —
Wir brechen hier ab, um gelegentlich eine kurze Schilderung
anderer Haidebewohner zu gebeu.
Die Verwaltung Britisch-Indiens.
Von Emil Schlagintweit.
II.
Grundsteuer. Die Regulirung der Grundsteuer ist in der frühern Vertheilung von Eigenthum und Grunddienst-
eine der schwierigsten Fragen indischer Administration. Die barkeiten hervorgerufen; die Verwaltung ist bei allen semiti-
Herrschaft der Muselmänner hatte eine völlige Umwälzung schen Völkern wesentlich eine siscalische geblieben, stets wurde
376 Emil Schlagintweit: Die
wenig regiert und dieses Wenige schlecht. Bei den Englän-
dern war einer der größten Fehler, daß sie die hohen Renten
der gnt gedüngten und mit Wässerungsanlagen versehenen
Grundstücke in den Umgebungen der Städte zum Maßstab
nahmen; es wurde ferner die hier so wichtige Theilung des
Ertrages zwischen Eigenthümer und Bebauer Ubersehen,
dabei ist der Inder viel indolenter, setzt sich selbst der Ge-
fahr des Hungertodes aus, ehe er den Gewohnheiten entsagt.
Fehler in der Anlage dieser so wichtigen Steuer mußten des-
wegen um so mehr gefühlt werden.
In den letzten Jahrzehnten sind die Arbeiten der Kata-
striruug für einen großen Theil des Landes vollendet worden,
so daß hierauf ein anderes Steuersystem basirt werden konnte.
Die Vermessung ist die weniger schwierige Ausgabe der Ka-
tastercommission; viel zeitraubender ist die Feststellung der
Reichnisse und der Nutzungsrechte an jedem Grundstücke; es
fehlt dazu meist an allen Anhaltspunkten. Die Beamten
beginnen mit Vermarkung der Dorffluren; schon hier geht
es meist stürmisch zu, weil dem außenliegenden Weidelande
wegen des gemeinschaftlichen Weideganges große Bedeutung zu-
kommt. Während der Detailvermessung der Privatgrundstücke
werden die sämmtlichen Ansprüche als Eigenthümer, Nutz-
meßer und die Reichnisse hierfür genau verzeichnet; bei derVer-
Messung werden schiese Winkel vermieden. Die Steuerkarten,
welche auf Grund dieser Vermessung angelegt werden, sind in
dem großen Maßstab von 16 englischen Zoll auf 1 englische
Meile, selbst die Zahl der Bäume kann markirt werden; die
schönen Karten der Revenue Survey basiren auf diesen Karten.
Die Ermittelung des Rohertrages, die Bonitirnng, er-
folgt zunächst auf Grund eigener Schätzung der Betheiligten;
bei der amtlichen Prüfung wird besonders beachtet, ob das
Land bewässert oder uicht bewässert sei; in der Provinz Ma-
dras waren 1865 nur 2,9 Mill. Acres bewässert gegen 13,1
Mill. nicht bewässert. Nur zu häusig wird auf die Entschei-
dung durch arge Täuschung einzuwirken versucht; es kam vor,
daß absichtlich Jahre hindurch Quellen überdeckt werden, um
das Land als nnbewüssertes erscheinen zu lassen. Zur Fest-
stellnng des Reinertrages wird auf die Zahl der Pflüge —
sie betrugen im Durchschnitt i/g der Einwohner — und des
Viehes Rücksicht genommen (5 Ziegen werden — 1 Rind,
1 Kameel oder Büffel — 1 y2 Rind genommen). Als Maß-
stab der Bewirthschastnngskosten hat sich die Kaste als richtig
erwiesen; Genügsamkeit und Trägheit zeigt sich gewissen Clas-
sen so eigenthümlich, daß weniger die Bodengüte als der
traditionelle Auswand an Arbeit den Ertrag regelt.
Auf die Bonitirnng folgt die Prüfung der Berechtigungs-
anspräche auf Land und Ertrag und Ausscheidung der Steuer-
einheit ans die Mehreren am Ertrage Teilnehmenden. In
der Rechtsfrage half man sich damit, daß zwölfjährigem Be-
sitzstande „einiger Anspruchs auf Fortdauer beigelegt wurde,
die Größeren gaben meistens nach, da ihre Rente nicht nn-
günstig normirt wurde; sie beträgt in den zweifelhaftesten
Fällen bis 50 Procent der Grundsteuer an den Staat, sonst
zwischen 12 bis 25 Procent. Sind alle Erhebungen gepslo-
gen, so wird der Kataster für die ganze Gemeinde geschlossen
und den Besitzern werden Copien ausgefertigt; mit ihrer Aus-
händigung tritt die neue Steuer in Kraft. Diefe Kataster
sind Muster in der Anordnung, nur die Umschreibung der
indischen Worte läßt zu wüuscheu übrig, da sie oft bis zur
Unkenntlichkeit entstellt sind.
Die Bedeutung dieser neuen Grundsteuer kann nicht hoch
genug angeschlagen werden; von der billigen Lösung der strei-
tigen Eigenthums- und Nutzungsansprüche ist allein zu Hof-
feu, das jetzt so drückende Verhältniß zwischen Eigenthümer
(Zemindar) nnd Bebauer (Reiot) zu besseru, ohne die eine
Partei zu Gunsten der andern zu bevorzugen.
Verwaltung Britisch-Indiens.
Bewässeruugswerke. In Indien ist der Ackerbau
an solchen Stellen begünstigt, denen aus Wasserreservoirs
während der heißen Jahreszeit Feuchtigkeit zugeführt werden
kann. Canäle, um Flüsse zu verzweigeu, oder Dämme,
welche den Uebersluß von Quellen oder kleinen Bächen während
der nassen Jahreszeit in künstlichen Teichen für die Zukunft
aufspeichern, gehen in die älteste Zeit indischen Cultnrlebens
zurück. Jede Regierung hat der Vermehrung dieser Ein-
richtnngen ihre Sorge zugewendet; in der Zeit der englischen
Herrschaft sind dann jene umfassenden Arbeiten ausgeführt
worden, welche das Wasser der Hauptflüsse durch großartige
Canäle verbreiten.
Im Nordwesten sind der Ganges- und der Dschamna-
Canal die bedeutendsten Werke; auf ihre erste Anlage wur-
den an 4 Millionen Pfund Sterling verwendet, die weitere
Verzweigung schreitet Jahr für Jahr fort. Der Ganges-
Caual, an dessen Anlage Sir Proby Canthy das wesent-
lichste Verdienst gebührt, hatte 1864 eine Länge von 3480
englischen Meilen an Haupt- und Nebencanälen. Der Was-
serzins ertrug 1865 98,641 Pf. St., um 28 Procent mehr
als im Vorjahr; für eine Eintheilung der Zweigcanäle und
Erweiterung wurde für 1866 die bedeutende Summe von y2
Million Pfund Sterling in das Budget eingestellt. Der
Dfchamna-Canal hat eine Länge von 740 englischen Meilen;
die Einnahme dafür hat zwischen 6 und 27 Procent zuge-
nommen.
In Bengalen hat die Regierung umfassende Arbeiten
vornehmen lassen, um die Mahauaddy, deren Schifffahrt durch
Stromschnellen sehr gehiudert ist, zu corrigiren; es ist ein
Canal projectirt von 152 Meilen Länge mit einem Kosten-
aufwände von 2789 Pf. St. per Meile, durch welchen ein
Areal, das bald zu 50,000, bald zu 100,000 Acres geschätzt
wird, bewässert werden soll. Dieses Werk käme der in den
letzten Jahren von Huugersuoth so schwer betroffenen Pro-
vinz Orissa zu Gute.
Großartige Werke sind in der Madras-Präsidentschaft
unternommen. Das Delta der Kistna wird regulirt und
durch Canäle verzweigt, 210,000 Pf. St. sind bereits dafür
verausgabt. Das Godavery-Delta ist zu gleichem Zwecke
in Angriff genommen; an der Schiffbarmachnng des obern
Flusses wird unter großen Schwierigkeiten gearbeitet; es
soll dadurch in trockener Zeit Schiffen von 2 Fuß, sonst
von 3 bis 5 Fuß Tiefgang bis in das Innere von Indien
hinein aus eine Länge von 250 englischen Meilen Fahrt-
räum verschafft werden; jetzt hindern drei große Bar-
rieren und ungleiche Tiefe selbst örtlichen Verkehr. Die
vorbereitenden Aufnahmen begannen 1854 und kosteten allein
fast 100,000 Pf. St.; die Ausführung ist zu 750,000 Pf.
St. veranschlagt und soll in drei Jahren vollendet sein.
Im Pendschab sind die Verzweignngs-Rinnsale des wichti-
gen Bari-Duab-Canals bedeutend vermehrt worden; das Land
zwischenTschenab und Nävi soll jetzt mitWasser versehen werden.
In Maissur und im Innern des Dekhan sind die früheren
Teichanlagen, in welche die kleineren Gewässer während der
Regenzeit geleitet werden, entsprechend vermehrt und erwei-
tert worden; hier ist aber Verbesserung der Verkehrswege
das Dringendste, um die Waaren aus die Handelsmittelpunkte
zu verbringen.
Eine Menge kleinerer Bewässerungsanstalten werden von
Vereinen ausgeführt.
Prodncte. Das Verhältniß zwischen Ausbau von Kör-
nerfrüchten und Handelsgewächsen hat sich in den letzten zehn
Jahren durch den stets größern Bedarf an Handelsfrüchten
für die Weltmärkte ungemein verändert. Im Ganzen ist
der Ausbau der Handelsfrüchte vorzüglich unter Beeinträch-
tigung des Waldbodens geschehen. Bauholz brachte zu ört-
Emil Schlagintweit: Die Verwaltung Britisch-Indiens.
377
lichen Zwecken und als Gegenstand des Begehrs für die See-
Häsen viel Gewinn, aus allen Gegenden wird Uber Verwü-
stung der Waldungen längs der Flüsse oder Verkehrsstraßen
geklagt. Die Regierung hat die Ausbeute nun beschränkt
und unbedingt den Waldboden in Controle gelegt, zum Theil
an sich gezogen. In Centralindicn gab es 1865 nur 11,000
nichtreservirte auf 79,000 reservirte Acres Wald; Teakbäume,
und in Maissur und Kurz Sandelholz sind die wichtigsten
Holzarten der Anpflanzung und Nachzucht.
Die Nahrung der Inder ist vorwiegend eine vegetabilische
aus Reis und Hülsenfrüchten; der Norden von Indien, ins-
besondere Beugaleu, und die westlichen Theile Centralindiens
sind die Kornkammern des Landes; Bengalen liefert den
Ueberfluß meist an den Seeexport ab; in Deinadschpnr wurde
1864 die Halste der Ernte nach Calcutta verführt; Central-
indien versorgt das südliche Indien.
Genaue Erhebungen haben hier zu demselben Ergebnisse
geführt wie iu europäischen Staaten, daß der Ausbau an
Körnerfrüchten etwas niedriger sich hält als die Zunahme
an Bevölkerung, daher die stets zunehmende Preissteigerung.
In Europa wirkt die gleichzeitige Entwickelnng der Viehzucht
wieder ausgleichend, in Indien ist dagegen für Veredelung
der Viehrace noch nichts geschehen, viele Kasten zeigen sogar
religiöses Vornrtheil gegen Fleischgennß und legen dies selbst
bei Mißernte nicht ab. Der Preis der Lebensmittel ist seit
25 Jahren stark gestiegen (verglichen mit Deutschland sind
die Preise allerdings noch sehr niedrig); im District Deinadsch-
pur in Bengalen erhielt man für 1 Rupie (= 20 Sgr.):
1840. 1865.
Gereinigten Reis. ... 2 Maunds *) 1 M.
Hülsenreis....... 67a „ 2^4 „
Hülsenfrüchte...... iy2 „ 7io „
Salz
Oel. .
Zucker
Hühner
Eier .
10
100
25/.
Vö „
10 Stück
120 „
2/l0 n
U/l0O n
Vi 4 „
3—4 Stück
64 „
Heu.......... 1600 Bündel 600 Bündel
Ein Zugochse kostete . . 7—8 Rs. 16—20 Rs.
Der Tagelohn war aber von 3 Annas (ä 1 Sgr. 2 Pf.)
nur auf 5 Annas gestiegen, der Gesindelohn von 12 auf
18 bis 20 Rupien.
Die Bodenpreise sind großen Schwankungen unterworfen;
in sehr hohem Grade ist dies bei Feldern für Handelsgewächse
der Fall; nach Beendigung des nordamerikanischen Bürger-
krieges fielen Baumwollenfelder im Pendschab von 1000 auf
300 Rupien.
Die Banmwollencultur hat große Strecken an sich gezogen.
Der Ausbau betrug in englischen Acres in den Provinzen:
Madras. Pendschab. Centralindicn.
1854 689,314 1860 467,513 1864 628,021
1861 1,060,558 1865 891,082 Zunahme
1864 1,821,573.
In Bengalen betrug iu Acres der Ausbau von:
Reis. Baumwolle. Indigo. Thee.
1863 27,177,196 160,916 540,725 74,860
1865 27,303,853 222,110 602,310 100,403
Baumwolle wurde in Indien von jeher gezogen; die Ver-
suche mit Nenorleans- und ägyptischen Samen an Stelle der
einheimischen Samen sind nicht überall geglückt. Von den
138 Proben, die auf der Londoner Ausstellung 1862 unter-
fucht wurden, erhielten 30 das Prädicat „vollkommen, gleich
gut wie Neuorleans-Waare, etwas kürzer wie Nenorleans-
Wolle, vortreffliche Wolle"; 50 wurden als mittlere Waare
*) 1 Maund — 80 Zollpfund.
Globus XIV. Nr. 12. (December 1868.)
bezeichnet, 30 als unrein, schlecht behandelt, 28 wurden als
nicht des Bauens Werth qnalificirt.
Für Kassee eignet sich hauptsächlich der Süden Indiens.
In Maissur und Kurg hemmt uoch der örtliche Aufschlag die
Ausbreitung; in Madras hat in den 10 Jahren 1853 bis
1863 Kaffee an Quantität dreifach, an Werth siebenfach zu-
genommen. Der Zuckerrohranbau hat in Madras und
Pendschab etwas abgenommen, Palmzucker ist für den Ex-
port nicht des Nennens Werth. Jndigo-Anban wird in
Bengalen den Bauern (Reiots) zur Pflicht gemacht; nur hier
hat er stark zugenommen. Taback gedeiht gut in Birma.
Von besonderem Interesse ist die Cnltur von Thee; sein
Gebiet ist der Nordrand von Indien und die Südabhänge
des Himalaya. Die erste Theecompagnie bildete sich 1839
in Assam; der Anbau blieb jedoch uicht nur auf Kurg und
Assam beschränkt, wir finden Theecnltnr jetzt anch auf dem
westlichen Ende von Indien, am Indus. Assam ist jedoch
noch das Hauptland; der Ertrag war 1865 2,5 Millionen
Pfund, um 10 Procent mehr als im Vorjahre; die Nord-
Westprovinzen lieferten 66,352 Pfund. Der Theecnltnr wird
mit Recht für die Zukunft eine sehr große Bedeutung beige-
legt. Die Berechnung, daß Nordindien Theeboden genug
habe, um in 30 bis 40 Jahren so viel wie jetzt China
zu erzeugen, mag ganz richtig sein, bedenklich scheint aber,
daß bei diesem Anschlage auch Districte mit hohem Ertrage
angesetzt sind, welchen es durch ihre hohe Lage im Himalaya
nicht möglich ist, die Lebensmittel für die große Arbeiter-
bevölkeruug hervorzubringen, welcher die Theecnltnr bedarf;
selbst die Beifuhr würde große Schwierigkeiten machen.
Handelsverkehr. Die Zunahme ersieht man am besten
aus folgender vergleichender Tabelle der Hauptgegenstände und
des Werthes der Ausfuhr für 1865 verglichen mit 1860:
1365. 1860.
Pf. St. Pf. St.
Totalwerth..... 69,471,791 — 30,583,073
Darunter:
Rohe Baumwolle . . . 37,573,637 — 7,339,862
Opium...... 9,911,804 — 10,184,713
Reis....... 5,573,537 — 2,673,340
Dfchute (Faser von Corcho-
rus olitorius und Cor-
chorus capsularis) . . 1,307,844 — 409,371
Indigo...... 1,860,141 — 1,886,376
Samen aller Art (meist Lein) 1,912,433 — 1,255,779
Rohe Seide..... 1,165,901 — 1,036,728
Schafwolle..... 1,151,092 — 478,144
Thierhäute..... 725,236 — 656,629
Zucker...... 765,110 — 1,032,416
Thee....... 301,022 — 127,771
Kaffee...... 801,908 — 337,436
Lack....... 297,394 — 171,646
Baumwollengespinnste und
-Gewebe..... 1,043,960 — 779,115
Seidenwaaren .... 106,612 — 112,785
Edelmetall..... 929,007 — 1,144,775
Die Begleichung mit 1860 ergiebt eine ungemeine Zu-
nähme in Baumwolle, Reis, Kaffee, Thee und Schafwolle,
dagegen Rückgang in Opium, Zucker und Seidenwaaren.
Baumwolle wird durch den wieder gesicherten Bezug aus
Nordamerika zurückgehen; dagegen hat Thee Aussicht, iin
Verhältniß zu den übrigen Waaren am meisten zuzunehmen.
Die Ein- und Ausfuhr wurde durch 12,666 Schiffe mit
6,3 Mill. Tonnenraum vermittelt. Davon waren Schiffe
im Eigenthum und befehligt von Engländern 5385 mit 2,7
Mill. Tonnengehalt; französische 299 mit 0,14 Mill. Ton-
nengehalt ; deutsche (mit Ausschluß der preußischen und öfter-
43
378 Aus allen
reichischen Schiffe) 203 mit 84,800, preußische 14 mit
6427, österreichische 11 mit 5257, amerikanische 137 mit
123,704 Tonnenraum. Ausgeladen wurden englische Schiffe
5526 mit 2,7 Mill. Tonnengehalt, franzöfifche 337 mit
158,848, deutsche 188 mit 89,897, preußische 14 mit 7570,
österreichische 12 mit 5318, amerikanische Schisse 142 mit
119,709 Tonnengehalt. Die Deutschen erscheinen sohin
in dritter Reihe hinsichtlich der Schiffszahl, in vierter Reihe
im Tonnengehalte. Bon besonderem Interesse ist, daß von
228 deutschen Schiffen nur 37 in die Häsen von Bengalen,
Madras und Bombay, dagegen 191 in die Häfen von Birma
einliefen. Birma, 1862 als selbständige Provinz constitnirt,
ist schon seit langer Zeit gesucht wegen seines vortrefflichen
Schiffbauholzes; die Ausfuhr an Reis, Thee und Taback ist
jetzt ebenfalls bedeutend, die Menge der urbar gemachten
Gründe ist überraschend: 1852 wurden 568 Acres in Cnl-
tnr genommen, 1862 kamen hinzn 83,673, im Jahre 1865
zählte die Steuerverwaltung, welche für jedes neuangebaute
Land fünfjährige Steuerfreiheit gewährt, 1,77 Mill. Acres.
Die Städtebevö.lkerung ist bedeutend; die Hauptstadt Rangun
hat 63,256 Einwohner, Mnlmett 69,386, außerdem giebt
es noch 15 Städte zwischen 30,000 und 35,000 Einwoh-
nern. Ju Rangun, seit 1864 mit Calcutta durch einen Te-
lcgraphen verbunden, erscheinen 3 englische Zeitungen, 1 Zei-
tnng monatlich in Bermese, 1 in Karensprache. Mit Ländern
von so großartiger Entwicklung ist der Handel immer am
lohnendsten; es zeigt von großer Einsicht unserer deutschen
Handelsherren, den Verkehr mit Birma zn Pflegen.
Erdtheilen.
Die mitgetheilten Zahlen sprechen schon durch ihre Größe
deutlich für die Wichtigkeit Indiens für England und zeigen
wesentliche Verbesserungen in den Grundlagen eines gut orga-
nisirten Staates. Dem Schulwesen wird eine stets steigende
Summe zugewiesen; im Postwesen wurde die wichtige Ein-
richtung eines gleichmäßigen niedrigen Portosatzes von 1 Anna
(1 Sgr. 2 Pf.) durchgeführt, die Postexpeditionen und die
Postcourfe sind vermehrt; an der Vervollständigung des Eisen-
bahnnetzes — alles Privatbahnen — wird mit größter Rüh-
rigkeit gearbeitet. Für öffentliche Ruhe ist durch die Mili-
tärmacht gesorgt; hier ist seit 1858 die wichtige Aendernng
vollzogen, daß das Verhältniß der europäischen Truppen zu
den aus Eingeborenen gebildeten Sipahi-Regimentern sich
völlig änderte. Es gab an Truppen:
Europäer. Inder. Im Ganzen.
1840 35,604 199,839 235,445
1865 71,880 118,315 190,195.
Die Gesammtstärke hat sohin abgenommen, die Zahl der
Europäer ist aber bedeutend vermehrt; die Kosten sind nicht
verringert. Das Budget schloß in den 25 Jahren 1840
bis 1865 nnr sechsmal mit einem lleberschuß ab, die Ver-
zinsung der indischen Schuld erfordert 10 Procent der Brutto-
einnähme — in England dagegen 36,4 Procent.
Deutschland hat allen Grund, sich über die Befestigung
nnd Erweiterung englischer Herrschaft in Asien zu freuen;
unsere Handelsmarine uuterhült einen regen Verkehr mit den
asiatischen Besitzungen und verdankt ihnen einen nicht geringen
Theil ihrer Erfolge.
Aus allen
Die russischen Eisenbahnen.
Mit einer ganz erstaunlichen Rührigkeit sucht Rußland neuer-
dings die jahrelangen Versäumnisse in der Förderung seiner
inneren Verkehrsmittel in kürzester Frist wieder gut zu machen.
Ein bedeutendes Verdienst darum ist dem gegenwärtigen Finanz-
minister wohl nicht abzusprechen; Herr von Reutern hat erkannt
und bekannt, daß nur durch, wenngleich mit augenblicklichen
Opfern erkaufte Vermehrung des Volkswohlstandes und Erhö-
hung der Steuerlast durch Eröffnung zahlreicher billiger Ab-
satzwege für die productenreichen weiten Länderstrecken der inne-
ren Gouvernements der herrschenden Finanzcalamität erfolgreich
und dauernd abgeholfen und gesteuert werden könne. Daher
diese kolossale Eilfertigkeit in dem Ausbau des russischen
Eisenbahnnetzes. Keine Woche vergeht, ohne daß die Zei-
tungen von Eoncessionirungen, Einweihungen, Eröffnungen neuer
Bahnen zu berichten hätten. Bei diesem Drängen und Ueber-
stürzen ist es in der That schwierig, den Ueberblick nicht zu ver-
wirren, indeß wollen wir versuchen, nach dem Vorgange der
„Rigaschen Zeitung", welche ihrerseits dabei der „Wiestj" gefolgt
ist, ein möglich genaues Bild über den gegenwärtigen Stand
des russischen Eisenbahnnetzes zu geben, indem wir die vollen-
deten, die im Bau begriffenen und diejenigen projec-
tirten Linien aufführen, deren Realisirung einigermaßen ge-
sichert erscheint.
1) Vollendet sind folgende Strecken:
Riga-Mitan und Witebsk-Orel im Anschlüsse an die
schon ältere Bahn Riga-Dünaburg-Witebsk.
Petersburg-Moskau (Nikolai-Bahn), Moskau-Tula-
Orel-Kursk und Moskau-Wladimir-Nischni-Nowgorod.
Moskau-Rjäsan-Koslow mit Abzweigung nach Mor-
schonsk-Kvslow-Woronesch und Jelez-Griasy.
Erdtheilen.
Petersburg-Warschau nebst Wilna-Kowno-Eydt-
kühnen und den von Warschau nach Wien (mit Zweigbahn
nach dem Fabrikorte Lodzj) und nach Bromberg führenden
Bahnen.
Ferner die Bahnen von der Hauptstadt nach den benach-
barten kaiserlichen Residenzorten Peterhof und Zarskoje-
Sselo.
Außer diesen ein zusammenhängendes Schienennetz bildenden
Strecken sind solgende mit demselben noch nicht verknüpfte Li-
nien bereits im Verkehr: Wolga-Don, Gruschewka-Rostow,
Odessa-Balta mit Abzweigung nach Tiraspol, Balta-
Krementschug, von der nur noch eine kleine Strecke in Arbeit
steht, und endlich in Finnland Helsingfors-Tawastehus.
Die Gesammtansdehnung aller dieser Linien belauft
sich auf 60291/2 Werst, also mehr als 860 deutsche Meilen.
Nicht minder zahlreich sind:
2) Diö im Bau begriffenen Eisenbahnen, mit deren bal-
diger Vollendung das europäische Rußland bis auf die an Flä-
chenraum freilich ein Drittheil davon ausmachende nordöstliche
Ecke von einem ziemlich dichten Schienennetz überzogen sein wird.
Zum Theil bereits fertig und über das Städtchen Sergiew-
Possad hinaus im Verkehr ist die Bahn Moskau-Jaros-
law; serner werden gebaut: Rybinsk - Ossietsch ensk;
Schuja-Jwanowo; Jelez-Orel; Griäsy-Borissoglebsk;
Koslow-Tambow-Saratow; Kursk-Asow, von der eine
Abzweigung die Gruschewka - Rostvwer Bahn berühren wird;
Kursk-Kiew; Kiew-Balta mit Abzweigung nach Berdy-
tschew und Wolotschinsk an der galizischen Grenze; Kre-
mentchug-Eharkow; Tiraspol-Kischenew; Poti-Tislis
und die finnische Bahn Helsingfors-St. Petersburg,
welche zusammen eine Länge von 4527 Werst, gegen 649 Meilen,
repräsentiren.
Aus all»
3) Ueber die projectirten Linien sind die Angaben na-
türlich schwankend und unsicher, indeß giebt die „Wiest)" folgende
Zusammenstellung:
Dwina-Wjatka; von Wologda nach Rybinsk oder Jaros-
law; Nischni-Nowgorod-Knsan; von Kasan nach Tjumen a.) über
Perm und Jrbit (Sibirien), b) über Sarapul und Jekotarin-
bürg; Nischni-Nowgorod-Simbirsk-Orenburg nebst Fortsetzung
ins turkestanische Gebiet; Morschansk-Pensa-Orenburg :c.; serner
Kamischin-Borissoglebsk-Zaryzin; Woronesch-Gruchewka. Nach der
Krim a) eine Zweigbahn vou der Kursk -Asower Bahn und
b) aus Krementschug über Berislaw und Perekop nach Seba-
stopol mit Abzweigungen nach Cherson und Nikolajew. Brest-
Litewsk-Bjalystok im Anschlüsse an die Königsberger Linie; ser-
ner Brest - Smolensk; Berdytschew-Brest; Witebsk-Mohilew;
Roslawl-Bachmatsch; Serpuchow-Brjansk; Rjaschsk-Wjasma;
Neschin-Tschernigow-Bobruisk- (oder Rogatschew) Witebsk-Wilna;
Libau-Kowno-Landwarowo-Minsk; Mitau-Windau und Mitau-
Libau; Baltischport-Reval-St. Petersburg; Tiflis-Baku und
mehrere andere Linien.
Am wichtigsten von diesen projectirten Bahnen sind jene,
welche die Verbindung des Schwärzen Meeres mit der
Ostsee und die Zugängigmachung der inneren Stromgebiete
(Wolga, Dou, Djnepr, Düna) und reichen Kornkammern
anstreben. Zunächst sollen die Strecken Moskau-Smolensk
und Kowno-Libau zur Ausführung gelangen, letztere mit der
Fortsetzung über Minsk und Bobruisk nach Odessa, Niko-
lajew und Sewastopol auch namentlich für Norddeutschland
von hervorragendem Interesse, weil durch eine directe Verbin-
dung des vorzüglichen Seehafens Libau, welcher binnen zehn
Jahren nur neun Tage zugefroren war, mit den westlichen
Gouvernements die reichen Producte derselben ihren Ausweg
nicht mehr über Memel und Pillau, die ihren Ausschwung
zum großen Theile dem russischen Exporthandel verdanken, son-
dern über den einheimischen Hafenort nehmen würden. Anderer-
seits werden die kurischen Bahnen für die Monate, wo die
Düna und der Rigasche Meerbusen unpassirbar find, dem Han-
del Rigas den ununterbrochenen Absatz über Windau und Li-
bau, deren Häsen äußerst selten zufrieren, vermitteln; Win-
dau soll zugleich zum russischen Kriegshafen ausersehen sein, um
die Flotte der Grenze näher und außerhalb des Eisgebietes hal-
teu zu können.
Schließlich wollen wir noch des großartigen Projects einer
sibirischen Eisenbahn gedenken, welche Oberst Bogdanowitsch
vom Ural ab führen will, um durch Verbindung des großen
nordasiatischen Wasserbassins mit dem russischen Wassersystem die
Reichthümer Sibiriens erfolgreicher ausbeuten zu können. Dann
werden nicht bloß solche Producte, welche fernen theuern Trans-
Port vertragen, wie Gold, Silber, Blei, Kupfer, Wachs, Honig,
Pelze :c., sondern auch die reichen Vorräthe an Fleisch, Fischen,
Steinkohlen, Marmor :c. für Europa zugängig gemacht werden.
Bei der enormen Ausdehnung und der dünnen Bevölkerung
der zu überschienenden Landstrecken erscheint dieses riesenhafte
Unternehmen allerdings kaum ausführbar. Den Einfluß der
übrigen vorerwähnten Eisenbahnen aus Rußlands materielle und
intellectuelle Entwickelung dürsten wir dagegen in wenigen Iah-
ren zu verspüren Gelegenheit finden. C. S.
Die Eisenbahn von Poti am Schwarzen Meere nach
Tiflis in Georgien ist auf der Strecke bis Kutais mit Schie-
nen belegt und die Strecke von dort bis Tiflis dermaßen in
Angriff genommen worden, daß die Erdarbeiten bis Ende des
laufenden Jahres vollendet fein müssen. Dieser Schienenweg,
dessen Eröffnung im Jahr 1869 stattfinden foll, wird von großer
Wichtigkeit sein; er vermittelt den Handel vom Schwarzen Meere
nach Persien und wird die schlechte Karawanenstraße zwischen
Trapezunt und Tebris entschieden lahm legen. Dann hat Ruß-
land alle Handelswege zwischen dem Mittlern und dem nörd-
^ichen Asien ohne Ausnahme unter feiner Eontrole.
Neue Einteilung des Kosackengebietes. Einem Edicte
Erdtheilen. 379
des russischen Kaisers vom 21. November zufolge sind aus dem
bisherigen Gebiete Semipalatinsk, aus jenem der orenburgi-
schen und sibirischen Kirgisen und den Ländern der uralischen
und sibirischen Kosacken die folgenden Gebiete gebildet worden:
1) Uralsk; dasselbe besteht aus dem Lande des uralischen Ko-
sackenheeres und dem westlichen und zum Theil Mittlern Stücke
des Gebietes der orenburgifchen Kirgisen; Hauptort Uralsk.
2) Turga'i; es-besteht aus dem übrigen Theile des eben ge-
nannten Gebietes mit einem noch zu bestimmenden Hauptort im
Innern der Steppe; bis auf Weiteres ist Orenburg Sitz der
Verwaltung. 3) Akmolinsk; dasselbe umfaßt die Bezirke Kok-
tschetaw, Atbassar und Akmolinsk im Lande der sibirischen Kir-
gisen und die Ländereien von etwa sechs Regimentsbezirken des
sibirischen Kosackenheeres, sodann die Städte Omsk und Pe-
tropawlowsk mit dem Hauptort Akmolinsk und Semi-
Palatinsk; ferner die Bezirke Semipalatinsk und Kokbetinsk;
einen Theil des Saisan-Landes, die Bezirke Bajan Aul und
Karkaralinsk und den siebenten und achten, theilweise auch dem
sechsten Regimentsbezirk des sibirischen Kosackenheeres; Haupt-
ort Semipalatinsk. — Das uralische Heer bleibt uuter der
Verwaltung seines Hetmans, das sibirische unter jener des Ge-
neralgouverneurs von Westsibirien, welcher den Titel eines Het-
man locum tenens dieses Heeres erhält. Im Hinblick auf die
Ereignisse in Turkeftan und die dortigen Operationen der Rus-
sen ist diese neue Eintheilung des Kosackenheeres nicht ohne
Belang.
' Ueber die Goldinduffrie in Sibirien bringt die „Jr-
kutsker Gouvernements-Zeitung" einige Nachrichten, aus welchen
sich ergiebt, daß diese Industrie im Allgemeinen fortfchreitet. Denn
wenn auch 60 unbearbeitet gebliebene Wäschen wieder an den
Staat zurückgefallen sind, fo sind doch ungefähr 100 andere neu
eröffnet und angemeldet worden. Man hofft, daß mit der Ver-
besserung der Lage Sibiriens in ökonomischer und administrati-
ver Hinsicht die Goldindustrie dem Lande noch für eine lange
Zeit eine sichere und gewinnreiche Beschäftigung gewähren werde.
In weniger als einem halben Jahrhundert hat sie sich über einen
ungeheuren Raum Sibiriens, von den nördlichsten Gegen-
den des Jenissei und der Lena bis zu den südlichsten
Kirgisensteppen, zur Altaigegend, nach Transbaika-
lien und zum Amur ausgedehnt. Welche Gegend der
Bearbeitung die meisten Vortheile verspricht, ist schwer zu be-
stimmen, da gelegentliche Entdeckungen beständig die Bedingun-
gen ändern. So ist früher die reichste Ausbeute an der Lena
gewesen. In diesem Jahre versprechen einige chinesische Gold-
wäschen guten Gewinn, und in Transbaikalien sind seit Gestat-
tung der Privatindustrie einige reiche Lager in solchen Gegenden
aufgefunden worden, die man für vollständig erforscht durch die
Leiter der Staatsarbeiten gehalten hatte.
Die Goldlager am Amur scheinen fortwährend eine gute
Ausbeute zu geben. Aus eiuer Nertschinsker Eorrespondenz der
Petersburger „Börsen-Zeitung" vom 19. Juli geht hervor, daß
allein die Goldwäsche des Herrn Benardaki bei Albasin ge-
gen 700 Arbeiter beschäftigt und so viel Gold gesunden wird,
daß man im nächsten Jahre 1000 Arbeiter zu verwenden ge-
denkt. In vier Privatwäschen hat man mehr als 52 Pud Gold
gewonnen. Besonders reich ist die Ausbeute auf dem rechten
Ufer des Flusses Unda, 7 Werst von der Niederlassung. Holz
und Wasser ist in Menge da und Getreide kann aus der Nähe
bezogen werden.__
Ein Gesandter aus Kaschgar in Ostturkestan beim
Czar in St. Petersburg. Wir werden in einer der nächsten
Nummern des „Globus" die Umwandlungen erörtern, welchen
in unseren Tagen die Verhältnisse in Centraiasien, namentlich
auch in Ostturkestan, der sogenannten kleinen Bucharei, unter-
liegen. Der Anstoß zu denselben ist durch die Siege der ruf-
fischen Waffen und durch den erfolgreichen Aufstand der Mo-
hammedaner gegen die chinesische Oberherrschaft gegeben worden.
48 *
380 Aus allen
In jenen fernen Gegenden prallen die Interessen dreier Welt-
mächte: Rußlands, Großbritanniens und Chinas, gegeneinander.
Tamerlan's Grab in Samarkand ist im Besitze des weißen Czars,
der Beherrscher der wichtigen Handelsstadt Kaschgar hat einen
Gesandten zu dem Kaiser an der Newa geschickt. Wir geben
darüber vorläufig nachstehenden Bericht aus der „Moskauer Zei-
tung", gleichsam als einen Vorläufer für das, was wir fpäter
über diese Verhältnisse zu sagen haben.
„Es weilt in Petersburg ein Nesse des Herrschers von Kasch-
gar, Jakub-Bek, Namens Schadi-Mirsa, um mit unserer Re-
gierung als Bevollmächtigter seines Onkels einen Traktat abzu-
schließen. Wir geben folgende interessante Details über den
Herrscher Kaschgars oder Altischars (das Land der sechs
Städte, wie es die Eingeborenen nennen) und über dies Land
selbst. Nach der Vertreibung der Chinesen aus dem westlichen
Turkestan befand sich Kaschgar in vollkommener Anarchie. Ja-
kub-Bek, ein Chokander von Geburt, war Commandant der
Festung Akmetfchet, die er erfolgreich gegen eine russische Be-
lagerung im Jahre 1853 vertheidigte. Er wurde jedoch von
Alimkul, bekannt durch seine kühnen Streifzüge gegen die ruf-
sifchen Truppen in den Jahren 1864 und 1865, angegriffen, be-
siegt und Vertrieben. In dem Kanipfe bei Taschkent gegen Ge-
neral Tschernajew fiel Alimkul. In Folge der Jntriguen am
Hofe von Chokand mußte aber auch Jakub-Bek mit einem klei-
nen Gefolge seiner Anhänger das Land verlassen und begab sich
nach Kaschgar, um in diesem Lande ^ohne Herrn sein Glück zu
machen. Er machte sich bald zum Besitzer der Stadt Kaschgar
und eroberte auch die übrigen Städte Altischars. Nach Walicha-
now's Mittheilungen zählt Kaschgar ungefähr 30 Millionen Ein-
wohner. (— Was eine widersinnige Behauptung ist; ganz Ost-
turkestan hat nicht drei Millionen. —) Es sind bisher keine
europäische und nur sehr wenige chinesische Manufacturartikel auf
den dortigen Markt gelangt. Die Wege sind im höchsten Grade
beschwerlich und gefährlich; der Thee wird nach Kaschgar über
Chokand oder Semiretschinsk eingeführt. Für Rußland würde
sich dort bei geordneteren Zuständen dieses Landes eine neue
und sehr ergiebige Absatzquelle von Jndustrieartikeln eröffnen.
In diesem Jahre ist die erste russische Karawane un-
ter Führung des Kaufmanns Perwuschin von Tasch-
kent aus über Chokand nach Kaschgar geschickt worden.
Die ganze Ladung dieser Karawane hat nun Jakub-Bek ausge-
kaust und nach ihrer Abschätzung durch eine Kommission Sach-
verständiger in baarem Gelde ausgezahlt, ebenso wurde der Chlu-
dow'sche über Semiretschinsk eingetroffene Waarentransport von
dem Herrscher selbst zu sehr vortheilhaften Preisen erworben.
Die Erfolge der russischen Waffen in Buchara, besonders aber
die Eroberung Samarkands, haben auf Jakub-Bek einen gewal-
tigen Eindruck gemacht und ihn bewogen, in freundschaftliche
Verhältnisse mit Rußland zu treten. Zu diesem Zwecke hat er
seinen Neffen Schadi-Mirsa abgesandt. Die Zukunft des Han-
dels Rußlands nach Kafchgar hängt von dem Resultate dieser
Verhandlungen ab."
Die neue Seete der Schelaputen in Kleinrußland.
In den Gouvernements, welche das sogenannte Kleinrußland
bilden, wohnt ein flavischer Volksschlag, welcher sich in mancher
Beziehung von dem großrussischen unterscheidet. Er stand früher
unter polnischer Herrschaft, bekennt sich aber zur orientalischen
Kirche. Bisher ist die Anzahl der „Seetirer" dort gering ge-
Wesen; sie betrug z. B. im Gouvernement Charkow nur etwa
4500 unter einer Gesammtbevölkerung von 1,681,000 Köpsen.
Da die Kleinrussen überhaupt weniger zur „Sectirerei" geneigt
sind als die Großrussen, so erscheint das Austauchen der Sche-.
laputen bemerkenswerth. Die „St. Petersburger Zeitung"
vom 29. November meint, daß sie diesen Namen nach ihrem
Stifter führen. Sie traten zuerst in den Kreifen Kupjansk und
Woltschansk auf und gelten für durchaus unschädlich: „Dem
Anscheine nach haben ihre Gebräuche Ähnlichkeit mit der Seete
der Molokanen, im Uebrigen scheinen sie sich der Chlysto wfch-
tschinn zu nähern, doch sind ihre Lehren noch wenig bekannt."
Erdth eilen.
So viel weiß man, daß die Anhänger der Seete k«in Fleisch
essen, ebenso wenig Krebse. Sie genießen Fische und ver-
schmähen nur den Wels. Sehr löblich ist, daß sie platterdings
keinen Branntwein trinken. Die Schelaputen meiden jeden Um-
gang mit Leuten, die nicht zu ihnen gehören. Viele Jünglinge
legen das Gelübde ab, sich nicht zu verheiratheu, geben aber
dasür keinen besondern Grund an. Die jungen Mädchen ver-
meiden allen Putz, tragen weder Ohrringe und Fingerringe noch
Halsbänder; sie tragen beständig den Kopf mit einem großen
Tuche verhüllt, fo daß nur eiu kleiner Theil des Gesichtes un-
bedeckt bleibt. Auch das große silberne Kreuz, welches vou den
Kleinrussinnen allgemein getragen wird, ist abgeschafft worden.
Der Welthandel Neuyorks. Der jährliche Umsatz von
Maaren in den Vereinigten Staaten wird auf 12,000 Millionen
Dollars angegeben. Jedenfalls beträgt er in Wirklichkeit bedeu-
tend mehr, da die Schätzung zum großen Theil auf der Höhe
der ausgetriebenen Steuerbeträge begründet ist und bekanntlich
die Steuerdefraudationen dort zu Laude einen fehr bedeutenden
Ausfall ergeben. Dieser Umsatz von 12,000 Millionen wird von
sast 40 Millionen Menschen, die in 46 Staaten und Territorien
leben und auf ein Areal von drei Millionen Quadratmeilen
zerstreut sind, in dem Zeitraum von 12 Monaten erzielt.
Der Staat Neuyork trägt zu diesem Umsatz jährlich allein
4000 von den 12,000 Millionen bei, also ein Drittel des Ge-
sammtumsatzes der ganzen Union, und von diesen 4000 Millio-
nen kommen auf die Stadt Neuyork 3300 Millionen, also über
ein Viertel des Gesammtumsatzes in der Union. Dabei ist zu
bemerken, daß in dieser Schätzung das persönliche und Grund-
cigenthum nicht mit einbegriffen ist, sondern daß sich dieselbe
nur auf Waareuverkäufe bezieht.
Die Stadt Neuyork ist somit jeder anderen Stadt der Union
soweit voraus, daß es offenbar für jede andere Stadt unmög-
lich ist, uns zu überholen. Lassen wir Zahlen sprechen.
Die Gesammtverkäuse in der Stadt Neuyork im vorigen
Jahre betrugen 3,313,618,058 Dlls., in Boston 928,173,020 Dlls.,
in Philadelphia 662,097,890 Dlls., in Neuorleans 536,795,400
Dlls., in Chicago 342,182,708 Dlls., in Baltimore 324,966,303
Dlls., in Cincinnati 213,253,051 Dlls., in St. Louis 213,034,368
Dlls., in San Francisco 151,367,720 Dlls., in Louisville
116,216,642 Dlls., in Milwaukie 110,675,054 Dlls. Keine der
anderen Städte erreicht die Höhe von 100 Millionen Dollars.
Diese Ziffern zeigen den Unterschied klarer, als ein langer
Commentar.
Von den verschiedenen Geschäftselaffen verkauften Engros-
Händler für 6250 Millionen und Detailhändler nahezu für 2500
Millionen, Auetionäre für 240 Millionen, Makler für 830 Mil-
lionen. Engrosverkäufer von Spirituosen machten einenUm-
satz von 609 Millionen, Detailverkäuser von Spirituosen einen
solchen von 1500 Millionen Dollars.
In der Stadt Neuyork allein verkauften die ersten für über
128, die letzteren für über 246% Millionen Dollars. In dem
kleinen „moralischen" Massachusetts betrug der Umsatz der En-
groshändler in Spirituosen 34 Millionen gegen nur 27% Mil-
lionen Dollars in dem großen Pennsylvanien; dagegen stellte sich
der Detailverkauf auf bezüglich 28 gegen 153 Millionen Dollars.
Dies ist aus der Thatsache zu erklären, daß in Massachusetts
dem Kleinverkauf von Spirituosen durch puritanische Gesetze
große Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden, während der
Großverkaus ungehindert betrieben werden darf. Die Schätzung
des Gesammtumsatzes aus 12,000 Millionen Dollars beruht, wie
bereits im Eingange erwähnt, auf den Steuerberichten, und
diefe geben aus den oben angeführten Gründen nicht den wirk-
lichen Betrag des Gesammtumsatzes an, können nur zum Maß-
stabe für die Feststellung der letzteren dienen. Man kann als
gewiß annehmen, daß der Gesammtumsatz in den Vereinigten
Staaten im vergangenen Jahr 18,000 Millionen betrug. Er-
reicht er diese enorme Höhe trotz der ungünstigen Zeiten und
dem fast gänzlichen Darniederliegen der Geschäfte, fo ist in der
That nicht abzusehen, wie hoch er steigen wird, wenn erst das
Aus allen
Atlantische mit dem Stillen Meer durch die Pacific-Eifenbahn ver-
Kunden ist.
Eine zweite Eisenbahn durch Nordamerika zum
Stillen Wettmeere. Die große „Pacific-Bahn", welche von
Omaha in Nebraska nach San Francisco in Californien
geht, wird ohne Zweifel im Laufe des Jahres 1869 vollendet
fein. Während mit einem bewundernswürdigen Kraftaufwand
an derselben gearbeitet wird, hat man schon eine zweite Pacific-
Bahn in Angriff. Es handelt sich dabei nicht etwa um eine
Verlängerung der sogenannten „östlichen Abtheilung der Union-
Pacific-Bahn" nach dem Großen Ocean. ^Dieser von Kansas
City nach Denver in Colorado führende Schienenstrang ist
nicht zu verwechseln mit der von Omaha nach Fort Brid-
ger führenden und sich dort an die Central-P acific anschlie-
ßenden Union-Pacific-Bahn.) Die Verlängerung dieser
Bahn reichte Ende Novembers schon bis Denver City. Auf
Antrieb der Handelskammer wurde eine Bahn von Memphis
in Tenuessee nach Los Angeles im südlichen Californien
fpeciell ins Auge gefaßt. Ein Blick auf eine Karte wird zeigen,
von welcher Bedeutung eine solche Straße werden muß. Die
Bahn zieht vom Mississippi ab ins Innere, dem Canadian
River im Jndian Territory, westlich bis Albuquerque am
Rio Grande in Neumexico, 40 Miles von Santa Fe, dann den
35. Grad nördlicher Breite entlang bis an den Coloradostrom.
Sie wird denselben an dem Punkte schneiden, an welchem der-
selbe für Dampfer schiffbar wird (— er mündet in den calisor-
nischen Meerbusen —). Von dort führt nian sie weiter bis
Los Angeles, das ihren westlichen Endpunkt bildet. Von
diefem aus sollen Zweiglinien nach San Francisco im Nor-
den, nach dem californischen Meerbusen im Süden ge-
hen; dabei wird der Hafenplatz San Diego berührt werden.
Den östlichen Endpunkt bildet eigentlich St. Louis, welches
durch die Miffouri-Süd-Pacific-Bahn mit Memphis
und Vicksburg, durch die Arkansasbahnen mit Texas
bis zum Hafen Galveston in Verbindung gebracht wird.
Man sieht, daß es sich uni Herstellung einer Linie handelt,
welche die großen Handelsplätze im Süden und Südwesten mit
der Küste des Stillen Weltmeeres in ähnlicher Weise verbinden
soll, wie der Westen und Nordwesten durch die Uuiou-Pacific-
und die Central-Pacific-Bahn erhält. Sie wird um etwa 500
Miles kürzer sein, als die über Omaha führende Pacific-Bahn.
Den Technikern zufolge wird der Bau mit nur wenigen Boden-
fchwierigkeiten zu kämpfen haben; ein großer Theil der Strecke
ist fruchtbares Land, die klimatifchen Verhältnisse sind günstiger
als im Norden.
St. Louis würde durch die südliche Bahn ähnliche Vortheile
erreichen, wie Chicago durch die uördliche. Nebenher ist aber
noch eine dritte Pacificlinie von Seiten der Handelskam-
mer zu St. Louis aufs Tapet gebracht worden: vom West-
ende des Obern Sees bis an den Pugetsuud im Gebiete
Washington. Doch ist das wohl für lange Zeit lediglich ein
Project, dagegen ist, amerikanischen Blättern zufolge, für die
Memphis-Los-Angeles-Bahn Aussicht auf Verwirklichung vor-
Händen.
Eine Revolution in Costa Rica. In den spanischen
Republiken hat man es im Fabriciren von Revolutionen zu einer
beneidenswerthen Fertigkeit gebracht. Das abgelaufene Jahr
1868 ist allerdings nicht fehr ergiebig ausgefallen, denn es hat
nur etwa ein Dutzend aufzuweisen, deren einige indeß munter
fortdauern. Im argentinischen Staate Santa Fl verjag-
ten die Pfaffen mit ihrem Anhang einen freisinnigen Gouver-
neur, welcher die Civilehe einführen wollte. In Corrientes
erhoben sich Baudensührer und machten eine Revolution. In
Montevideo wurde der Präsident auf offener Straße ermor-
det. — In Bolivia wird eben jetzt eine Revolution in Scene
gesetzt. — In Peru wurde der Präsident Prado von zwei Sol-
daten, Canseco und Balta, verjagt, und der letztere ist nun Prä-
sident. — Ecuador hat seine übliche Revolution schon 1867
Erdtheilen. 381
abgemacht. — In Venezuela wurde der Präsident verjagt.—
In Neugranada oder, wie der amtliche Titel lautet, in den
Vereinigten Staaten von Columbia brach im October die zweite
Revolution binnen Jahresfrist aus, und in dem zu diesem Staa-
tenbunde gehörenden Staate Panama zählen wir seit dem 5.
Juni 1868 nur drei Revolutionen. Wie viele Pronunciamien-
tos Mexico gehabt hat, das möge ein Anderer zusammenzäh-
len; im November war dort Revolution in landesüblichem Stile
nur im Staate Tamaulipas. — Auf Haiti dauert die Re-
volution gegen den Präsidenten Salnave nun schon seit Gessrard's
Vertreibung ins zweite Jahr; und in der dominicanischen
Republik auf derselben Insel wird der gleichfalls durch eine
Revolution ans Ruder gelangte Präsident Baöz seinerseits durch
eine Revolutiou beunruhigt, welche sich durch das ganze Jahr
hindurchzieht.
Das schlechteste Gesindel aus Gottes weiter Erde treibt sein
Unwesen im Staate Jstmo, d. h. Panama. Die Mehrzahl be-
steht aus halbverwilderten Jamaica-Negern, aus Zambos, d. h.
Mischlingen von Negern und Indianern, aus Indianern und
Mestizen in allen möglichen Farbenabstufungen. Natürlich er-
freuet sich dieses glückliche Land der „Wohlthat" des allge-
meinen Stimmrechtes; jeder braune Lotterbube, jeder schwarze
Bandit übt sein „unveräußerliches Menschen- und Bürgerrecht"
aus; aber dabei.macht er sich auch das Vergnügen, nach Her-
zenslust zu revolutioniren. Je nachdem ein Häuptling ihn be-
zahlt, ist er confervativ oder liberal. Im Anfange Novembers
rückte der Präsident der „Liberalen", Correoso, gegen den
Präsidenten der „Konservativen", Obaldia, der sich zu San-
tiago in der Provinz Veraguas verschanzt hatte. Der letztere
wurde in einem Gesechte verwundet und von den liberalen Sol-
daten Correoso's gefangen genommen. „Sie schlugen ihn mit
den Gewehrkolben ganz entsetzlich, durchbohrten ihn mit Bayon-
netten, banden ihn dann an den Schweif eines Pferdes und
fchleiften ihn zu Tode. Correoso mißbilligte das freilich und
ließ ihn anständig begraben."
Auch das sonst so friedliche Costa Rica muß doch dann
und wann ein bischen mitmachen und eine Revolution haben.
Da es aber nicht fo geübt ist, wie die Schwesterrepubliken, so
nimmt dort die Sache einen andern Verlauf, , nicht mit Blut und
Eisen, sondern so zu sagen mit Lavendelwasser und ganz ergötzlich,
wahrscheinlich weil in der Regel keine Säbelraßler die Hand im
Spiele haben. Man geht sein bürgerlich zu Werke. Präsident
Castro war ein rechtschaffener Kaffeehändler. Die Republik zählt
etwa so viele Einwohner wie das Großherzogthum Weimar. Ein
paar „gute" Familien bilden eine Art von Oligarchie; sie sind
eifersüchtig aus einander, weil jede einen der ihrigen auf dem
Präsidentenftuhle uud in den wichtigsten Staatsämtern haben
will. Nun ist Castro ein ganz ordentlicher Mann, gegen welchen
keine Klage laut geworden ist. Sein Amtstermin läuft nach
sieben Monaten zu Ende; diese Zeit wollte er benutzen, um einen
Verwandten Namens Volto zum Präsidenten wählen zu lassen.
Das gefiel aber den anderen „guten" Familien nicht; sie griffen
den Herrn Volto in der Presse ganz grimmig an und verleiteten
zwei „Generäle", Salazar und Blanco, zum Verrath. Als Prä-
sident Castro am ersten Sonntag im November mit diesen bei-
den die Miliz gemustert hatte, begleiteten sie ihn höflich nach
Haufe. Dann aber ritt Salazar zur Miliz zurück und führte
ihr zu Gemüthe, daß unter Castro „das Vaterland in Gefahr"
sei und daß es sich empfehle, den Vicepräsidenten und Licentia-
ten Jesus Jimenez zum Präsidenten zu machen. Kein Bei-
fall, aber auch kein Widerspruch von Seiten der Menge. Man
schickt Voten ins Land, um den neuen Präsidenten zu procla-
miren, giebt dem abgesetzten eine Wache vor sein Haus, „zum
Schutze", und das biedere republikanische Volk gab eine öffent-
liche Erklärung ab, in welcher gesagt wird: „es ist uns einerlei,
wer herrscht, wenn man uns nur in Ruhe läßt." Damit er-
klärte sich auch der Kaffeehändler und ExPräsident wohlweislich
einverstanden. Jimenez ist schon einmal Präsident gewesen und
man war mit ihm zufrieden. Nun herrscht er unumschränkt, hat
aber erklärt, daß Bevollmächtigte des Landes einberufen werden
382 Aus allen
sollen, um eine neue Verfassung zu entwerfen. Eine solche
darf nicht fehlen, denn es ist in Central- und Südamerika ein-
mal hergebracht, daß man nach jeder Revolution eine, neue an-
fertigt, welcher dann wieder eine neue folgt.
Die Lingua geral in Brasilien. Der jüngst in Mün-
chen verstorbene große Naturforscher R. F. Philipp von Mar-
tius giebt darüber in seinem vortrefflichen, ungemein inhaltrei-
chen Werke: „Zur Ethnographie Amerikas, zumal Brasiliens"
(Leipzig 1867. S. 364) einige Mittheilungen, die von allgemei-
nem Interesse find. Durch die „Lingua geral brazilica"
welche sich wie ein geistiges Band durch die vielzun-
gige Urbevölkerung hinfchlingt, wird der Verkehr der
Weißen mit den Indianern vermittelt. Selbst im Verkehre mit
freien Indianern, die ganz abweichende Idiome fprechen, gewäh-
ren einzelne ihrer Wörter die erste Handhabe des Verständnisses.
Wo aber der rothe Mensch dem europäischen Einwohner dienst-
bar geworden, und überhaupt in allen Clafsen und Abstufungen
der niedrigern ackerbautreibenden und bürgerlichen Gesellschaft
ist sie die herrschende Sprache. In der That möchten in
Para und Alto Amazonas die Häuser selten sein, in welchen
sich nicht wenigstens einige Bewohner dieser Sprache bedienen.
Sie ist das Vehikel für das Verständniß des Herrn mit dem
Diener indianischer und gemischter Abkunft. Auch der in den
nördlichsten Provinzen Brasiliens minder häufige Neger nimmt
sie ohne Schwierigkeit auf oder versetzt mit ihr das eigenthüm-
liche Patois, welches er entweder aus Asrika herübergebracht oder
sich in Amerika angeeignet hat. In Para namentlich, wo im
Arsenal, im Heere und in der Marine viele Indianer dienen,
ist man auf den Gebrauch der Lingua geral fortwährend ange-
wiefen. Wenn auch die Befehlenden ihrer nur felten vollständig
mächtig find, um sie als ausschließliches Organ zu gebrauchen,
so mischen sie doch zu leichterm und rafcherm Verständniß ein-
zelne Worte ein.
Je mehr man sich aber nach Westen wendet, um so häusi-
ger tritt sie in einzelnen Bruchstücken hervor und um so öfter
hört man sie; im Munde des gemeinen Volkes wird durch sie
das Portugiesische vollkommen ersetzt. Das zeigt sich schon West-
lich von Santarem (am Amazonas) und immer stärker in den
menschenarmen oberen Districten der Provinz Alto Amazonas,
wo sich der Brasilianer oft ausschließlich von Indianern umgeben
sieht. Auf die portugiesische Rede erfolgt hier oft die Antwort
in der „Tupi", denn der Indianer und alle Mifchlinge, der-
gleichen die meisten den geringeren Clafsen der Gesellschaft an-
gehören, verstehen zwar Portugiesisch, finden es aber bequemer,
in einer Sprache zu antworten, die weder Declination noch Eon-
jugation im Sinne der ausgebildeten europäischen Idiome hat,
und die nöthigen Begriffe, um welche es sich handelt, in energi-
scher Kürze ohne grammatische Abwandlung der Wörter an ein-
ander reiht. Allerdings mangeln hier, wie in allen agglutini-
renden oder polysynthetischen Sprachen, über welche sich die ame-
rikanifche Urbevölkerung gleich anderen culturlofen Völkern nicht
erhoben hat, die feinen Nuancirungen in der Satzbildung. Solche
Idiome vermögen nicht, eine Reihe von Begriffen zu einem orga-
nischen Ganzen zu gliedern, so daß sie als eine Verkörperung
des logischen Denkprocesses selber zu einer dem Schönheitsgefühl
entsprechenden Darstellung gelangten.
Gleichwie das Leben des Wilden sich in materiellen Be-
ziehungen erschöpft, fo ist auch seine Sprache einfach, ungelenk
und vom Idealen abgewendet. Aber den praktischen Bedürf-
nifsen und dem Verhältnisse zwischen einer höher gebildeten Herr-
schenden und einer niedrigern gehorchenden Race kann diese
Lingua geral vollkommen genügen, und ihre Grundelemente
empfehlen sich überdies durch die Leichtigkeit, mit welcher sie
ausgesprochen werden. Sie ist nämlich reich an Vocalen, die
meisten Silben bestehen nur aus zwei Buchstaben; ihre Diph-
thongen lassen -den Laut beider Vocale deutlich anklingen und
die Consonanten, niemals gehäuft, folgen sich in den zufammen-
gesetzten Wörtern oft nach dem Gesetz einer Apposition, welche
der Rede Weichheit und Wohllaut verleiht.
Erdth eilen.
Diese Vorzüge lassen sich übrigens nicht in gleichem Maße
von der ursprünglichen Tupi rühmen, aus welcher die Lin-
gua geral brazilica entwickelt worden und letztere trägt die
Spuren mehrfacher europäischer Einwirkungen an sich. Sowohl
der Dialekt der eigentlichen Guarani in Paraguay und in
Südbrasilien, als die Spuren der Sprache, welcher die alten Tu-
pinambas sich bedienten, weisen eine Häufung von Consonanten,
eine unlautere Vocalisation auf, denen die verfeinerte und wei-
chere Lingua geral im Munde der europäischen Ansiedler ent-
kleidet worden ist. Wir müssen sie uns daher als einen nicht
bloß aus dem innern indianischen Volksleben umgebildeten Dia-
lekt denken; sie ist vielmehr eine wahre Lingua franca,
aus den alten Tupi-Elementen unter der Herrschast einer ihr
ursprünglich fremden Reflexion aufgebaut und namentlich für
das Werk der Bekehrung und Civilifation festgestellt,
welches die Jesuiten und neben diesen auch andere geistliche Kör-
perfchaften und zwar ohne Zuthun der Regierungsgewalt in ihre
Hand genommen hatten. Sie glaubten ihre Zwecke mit den In-
dianern am besten zu erreichen, wenn sie den Verkehr mit der
portugiesischen Bevölkerung möglichst beschränkten. Deshalb be-
müheten sie sich, in den Niederlassungen ihre Neophyten aus-
schließlich mit der Lingua sranca bekannt zu machen, dagegen
die portugiesische Sprache zu verdrängen. Allerdings verbot
eine königliche Verfügung vom 12. October 1727 den Gebrauch
der Lingua geral in den Ortschaften mit gemischter Bevölkerung,
aber trotzdem war bis zur Aufhebung des Jefuitenordens und
der Abführung von 112 Jesuiten aus Maranhao und Para im
Jahr 1759 nach Portugal jene Lingua geral das ausschließliche
Mittel der Verständigung mit den Indianern geblieben, im Le-
ben, in der Schule und von der Kanzel. Während dieses Zeit-
raumes war sie von jenen thatkräftigen Geistlichen, den Car-
melitern und Anderen, in der einmal fixirten Redeweise eifrig
sestgehalten worden. Sie blieb, obgleich sich viele Indianer, die
andere „Girias" sprachen, sich derselben bedienen mußten, in
einer gewissen Reinheit und Gleichförmigkeit bestehen, denn die
Geistlichkeit bewahrte sie hierin mit Sorgfalt wenigstens inner-
halb des Ordens.
Es ist der Lingua geral — und im Vergleich mit den Ci-
vilisationsversuchen unter den Wilden Nordamerikas und Ocea-
niens wohl nicht mit Unrecht — vorgeworfen worden, daß sie
den Unterricht nicht bis zum Lesen von Büchern gebracht hat.
Die Folge war, daß die Sprache, lediglich von einer uncultivir-
ten, stets wechselnden Bevölkerung gebraucht, einer schrankenlosen
Abwandlung und Verderbniß preisgegeben wurde. In diesem
Stadium befindet sie sich in den Amazonasländern noch jetzt,
und da sie, als das allgemeinste Mittel des Gedankenaustausches,
in den nächsten Menschenaltern keineswegs gänzlich verlöschen
wird, so erscheint es im Interesse der Verwaltung, sie vor wei-
term Verfalle zu fchützen und ihre Reinheit durch den Schul-
Unterricht und durch literarische Bearbeitung herzustellen.
Wenn früher der Zeitgeist die Vereinigung der Indianer
zu „chriftlich-organisirten" Gemeinschaften verlangte, fo will die
Gegenwart sie in die „bürgerliche Gesellschaft" aufnehmen, um
auch von ihnen die Früchte der Industrie und des Handels zu
ernten. Diese aber reifen beim Indianer, der nur für die
Bevormundung durch eine höher entwickelte Race em-
fänglich ist, sehr langsam. Von diesem Gesichtspunkt aus
empfiehlt sich die Cultur der brasilianischen Lingua franca als
ein sicheres Mittel, den Indianer an die Kreife europäischer Ge-
sittung heranzuziehen (— so weit das bei ihm überhaupt mög-
lich ist —). Viele Brasilianer reden der Entwicklung dieser Tupi-
sprache auch deshalb das Wort, weil die Aufnahme des
Portugiesischen in den Gedankenkreis des Indianers
ihnen unmöglich zu sein scheint. Für ethnographische For-
schungen gewährt die Lingua geral mehrfachen Nutzen. Ja, ein
tieferes Eindringen in die schwierigsten, aber auch erfolgreichsten
ihrer Fragen dürfte ohne gründliche Kenntniß derselben unmög-
lich sein. Sie kann daher künftigen Reisenden nicht genug em-
psohlen werden.
Aus allt
Schwurringe in Mecklenburg. Herr C. W. Stuhl-
mann in Schwaan schreibt uns: Im Antiquarium zu Schwerin
befinden sich mehrere ausgezeichnet schöne, goldene Eid- oder
Schwurringe, die sämmtlich hier zu Lande während der letz-
ten Decennien gesunden worden sind. Einer derselben, welcher
in der Mitte der fünfziger Jahre zu Wohlenhagen bei Wis-
mar ausgegraben wurde, hat ovale Gestalt, ist in der Mitte
dicker als an beiden Enden, an denen zwei hohle Halbkugeln
sitzen; er ist mit Linien und Bändern verziert und wiegt fast
neun Loth. Er kam unter einem großen Granitblocke
zum Vorschein, in dessen Nähe sich keine alte Grabstätte be-
findet. Schon srüher wurde zu Woosten bei Goldberg ein
ganz ähnlicher, nur kleinerer und dünnerer Ring gefunden, der
nur 51/4 Loth wiegt.
Erinnerung an Wodan in Mecklenburg. Demselben
Briese des Herrn Stuhlmann entlehnen wir auch das Nach-
stehende: Seltsamer Weise erzählt von Swantewil (— dem
Hauptgotte der slavischen Obotriten —) die Volkssage bei uns
fast gar nichts mehr, — nur sehr spärlich auf dem Fischlande.
Dagegen ist Wode, auch de Ohle (der Alte) genannt, mit
feiner Jagd, seinem Schimmel und den Wölfen in den mei-
sten Gegenden noch wohl bekannt, nur nicht in dem fogenann-
ten stuerschen Winkel, zwischem dem Miiritz- und dem Plauer-
see, und in der großen süstwestlichen Haidegegend, wo Nachweis-
lich die Wenden sich als eigenes Volk hielten. Es möge bemerkt
werden, daß man im stuerschen Winkel ganz eigenthumliche
abergläubische Bräuche, namentlich bei der Leichenbe-
stattung, findet, die noch jetzt fo geheim gehalten werden, daß
ich selbst bei älteren Landpredigern völlige Unkenntniß derselben
gefunden habe.
# * #
— Das Asyl für Trunkenbolde im Staate Neu York
zählte, der deutschen Neuyorker „Abendzeitung" zufolge, in der
Mitte des Jahres 1863 2153 „Angemeldete". Davon waren:
Geistliche.......39
Richter........ g
Kaufleute .......340
Aerzte........226
„Gentlemen"......240
Töchter reich er Leute . . 1300.
Da§ genannte Blatt bemerkt: „Es ist sehr leicht möglich, daß das
Neuyorker Institut nicht alle Classen von Säufern und Säuferinnen
repräfentirt. Es geht aber unwiderlegbar aus jenen Zahlen
hervor, daß die Unmäßigkeit viel mehr unter den vornehmen
Classen grafsirt als unter den niederen Volksclassen; — weit
mehr bei denen, welche zu Hause poculiren, als bei denjenigen
Classen, welche im Wirthshause geistige Getränke zu sich nehmen.
Am ausfallendsten ist die Zunahme des Saufens bei den vor-
nehmen Damen. Man denke an jene dreizehnhundert Töchter
reicher Leute, welche dasselbe so weit treiben, daß ihre Versetzung
in eine Heilanstalt für Trunkenbolde unvermeidlich wird! Mit
verächtlichem Naserümpfen gehen solche Hankeeinnen an einem
deutschen Bierhause vorüber, aber zu Hause trinken sie in
einem versteckten Prunkgemache sich toll und voll, oder sie gehen
mit ihren Freundinnen in eine elegante, gemiethete Trinkstube,
um sich dort habituell durch den Genuß der stärksten Getränke zu
berauschen und zu Grunde zu richten. Auch die „Gentlemen",
Richter, Geistlichen tc. holen sich ihren Säuferwahnsinn weit öfter
zu Haufe oder in geheimen Clubs als in offenen Wirthfchaften.
Es sind unter ihnen viele — Wasserprediger."
— Amerikanische Kinder. „Wenn die Klage, daß
es heutzutage keine Kinder mehr gebe, irgendwo gerechtfertigt
erscheint, so ist dies in Amerika der Fall. Ein heiteres, unver-
dorbenes, kindlich fühlendes und denkendes Kind gehört hier
wirklich zu den großen Seltenheiten; es giebt junge „Gentlemen"
und „Ladies", junge Vengel und junge weibliche Affen in Un-
zahl— leider aber nur sehr wenige Kinder. Natürlich
liegt die Schuld nicht an der Jugend, sondern am Alter; die
t Erdtheilen. 383
eigentümlichen politischen und socialen Verhältnisse des Landes,
die Erziehungsmethode, die Sitten und Lebensgewohnheiten sind
es, denen wir den Mangel an einem ächten und rechten jugend-
lichen Geschlechte zuzuschreiben haben. Allen nach Amerika kom-
Menden Europäern fällt das eigenthümliche Wesen der amerika-
nischen Kinder auf, die von denen der alten Welt so außer-
ordentlich verschieden sind."
Die obigen Worte äußert die „Newyorker Staatszeitung".
Sie druckt dann aus dem „Scotsman" die Beobachtungen ab,
welche ein Schotte im ^ankeeland angestellt hat. Wir wollen
bemerken, daß die Unendlichkeit der Kinder vorzugsweise nur
bei den Anglo-Amerikanern der Städte, im Osten, in den mitt-
leren Staaten und im Westen dort austritt, wo das Hünkee-
element vorwiegt. In den südlichen Staaten und bei den Deut-
schen durchschnittlich ist die gegenseitige Stellung von Eltern und
Kindern viel besser und hat einen europäischen Zuschnitt; am
meisten ausgeartet ist das Verhältniß in den puritanischen Neu-
englandstaaten. Der Schotte bemerkt unter Anderm:
Amerikanische Kinder zeichnen sich durch ganz erstaunliche
Frühreise aus; manche werden^ vielleicht sagen, daß sie daran
leiden und haben damit sicher ebenso, recht. Diese Eigentümlich-
keit hat wohl ihren Hauptgrund in der amerikanischen Gewohn-
heit, die Kinder schon von srüher Jugend am Familientisch teil-
nehmen zu lassen. Eine Dame. in Neuengland, die Mutter von
elf Kindern — dort eine große Seltenheit — rühmte mir von
einem ihrer Sprossen, daß das Kind schon mit 7 Monaten
am Tisch mitgegessen und mit 13 Monaten Löffel, Messer und
Gabel so sicher wie ein Erwachsener gehandhabt habe. In so
zartem Alter in den Familienkreis eingeführt, an den Mahl-
zeiten der Erwachfenen teilnehmend und alle ihre Unterhal-
tungen — auch die sür Kinder schlechterdings nicht geeigne-
ten — mit anhörend, ist es wohl ein Wunder, wenn die von
Natur meist gut begabten Kinder bald ein Interesse an allge-
meinen Dingen zeigen, die Ideen, die Sprache und Manieren
Erwachsener annehmen? Ein bejahrter canadischer Geistlicher
erzählt, daß er einst in der Wohnung eines Freundes vorsprach,
wo man ein kleines Mädchen von vier Jahren zu seiner Un-
terhaltung in das Sprechzimmer schickte, bis die Dame des
Hauses sich für den Empfang des Befuches vorbereitet. Das
Kind knüpfte sofort mit dem Fremden ein für fein Alter un-
gewöhnlich ernstes Gespräch an und erzählte ihm unter An-
derm, daß es eine Parodie auf Kingsley's Lied von den „drei
Fischern" gedichtet, dann aber das Manuscript unvorsichtiger-
weise habe ins Feuer fallen lassen, vor welches es zum Trocknen
hingehalten worden. „Wie schade!" ries der Geistliche. „Wäre
ich das Feuer gewesen, ich würde so lange zu brennen aufgehört
haben, bis Du das Papier wieder herausgeholt hättest." „Ach
nein, Herr Pastor," versetzte das Kind sehr ernst, „das hätten
Sie nicht thun können. Die Natur, wissen Sie, bleibt im-
mer Natur und ihre Gesetze sind unabänderlich." Der
Geistliche war wie aus den Mund geschlagen und wußte kein
Wort weiter vorzubringen. — Am meisten staunte ich über die
Leichtigkeit, mit der sich Kinder über politische Gegenstände
unterhalten, da diese Erscheinung sür einen Europäer gänzlich
neu und ungewohnt ist. In der Unterhaltung mit einem klei-
nen achtjährigen Jungen mag es Einem leicht begegnen, daß
man sich plötzlich durch die Frage überrascht sieht: „Was denken
Sie wohl, Herr,'über den Zustand des Landes?" Nicht wenig
Spaß machte mir einst ein kleiner zehnjähriger Junge in Brooklyn.
Ich war bei seinen Aeltern zu Tische geladen und die Unterhal-
tung drehte sich um den damals gerade im Gange befindlichen
Anklageprozeß. „Papa, wie kannst Du nur noch ein Johnson-
mann sein?" hob unser kleiner Politiker plötzlich an. „Der
Johnson ist doch ein Verräther und in allen Zeitungen steht, er
müßte abgesetzt werden."
In einem Neuyorker Boardinghause waren am frühen Mor-
gen des Tages, an dem die Nachricht von der Ermordung
Abraham Lincoln's eingetroffen, die Gäste beim Frühstück ver-
sammelt. Eine gedrückte Stimmung hatte sich Aller bemächtigt;
statt der sonstigen muntern Unterhaltung herrschte düsteres Schwei-
384 Aus allen
gen. Jeder schien sich seinen eigenen Gedanken über die schreck-
liche Kalamität zu überlassen. Ein kleines Mädchen saß an der
Seite seiner Mutter, und nachdem es das drückende Schweigen
geraume Weile ertragen hatte, brach es plötzlich mit komischem
Pathos in die Worte aus: „Hat man je so etwas in Griechen-
land oder in Rom erlebt!"
In einer canadischen Gesellschaft, wo über politische Gegen-
stände verhandelt wurde, trat ein kleines Mädchen, das den Er-
wachsenen aufmerksam zugehört, plötzlich mit der Ansicht hervor,
der Staat Maine und die Hälfte New-Hampshires sollten von
Rechtswegen zu Canada gehören. Etwas Aehnliches begegnete
mir einst in Boston, wo ich im Hause eines Freundes mit einem
siebenjährigen Töchtcrchen auf dein Teppich umherspielte, als
mich das Kind Plötzlich fragte, was man wohl in England
zu der Erwerbung von Russisch-Amerika sagen werde?
Ich konnte mich des Lachens nicht erwehren, die Kleine aber
blickte mir so ernsthaft in die Augen, daß ich mich doch wohl
zu einer Antwort bequemen mußte. So sagte ich ihr denn, die
Sache sei bedenklich und würde wahrscheinlich zu einem tüchti-
gen Schneeballenkrieg zwischen England und Amerika führen.
Doch mein kleiner Politikus im Unterröckchen machte mir ein
böses Gesicht; vermuthlich fand es die Kleine durchaus nicht pas-
send, über so ernste Dinge im Scherz zu reden.
Diese Frühreife amerikanischer Kinder hat eine sehr un-
angenehme Beigabe: sie führt nicht selten zur Frechheit, zum
gänzlichen Mangel an Ehrerbietung gegen die Eltern.
„Papa, mache Dich doch nicht lächerlich!" hörte ich einst ein
kleines Mädchen sagen, dessen Vater die Rede eines Franzosen
nachahmte, die dieser in einer öffentlichen Versammlung ge-
halten. Nicht selten hört man von Kindern gegen ihre Eltern
Aeußerungen wie: „Geh Deiner Wege," „Bekümmere Dich um
Deine Sachen," „Laß mich jetzt in Ruhe" und ähnliche Redens-
arten. Und merkwürdigerweise — die Eltern scheinen das Un-
schickliche solcher Worte nur sehr selten zu empfinden.
Ich erinnere mich eines kleinen vierjährigen Burschen, der einst
bei Tisch in meiner Nähe auf seinem hohen Kinderstühlchen saß.
Nachdem der erste Gang vorüber war, wischte er sich ganz behag-
lich mit der Serviette den Mund ab und sagte zu seiner neben
ihm sitzenden Mutter: „Gieb mir etwas von dem Kuchen, Mama,
und klingele Emma, sie soll mir ein Glas frisches Wasser bringen."
Dies ist nur eines der Beispiele, die uns erklären mögen,
was eigentlich jene Dame aus den Neuenglandstaaten meinte,
wenn sie sagte: „Ich werde nachgerade eine sehr folgsame Mut-
ter." „Eltern, gehorcht in allen Dingen euren Kin-
dern," das ist der neue amerikanische Grundsatz. Es sollte mich
gar nicht wundern, wenn sich eines Tages irgendwo eine ame-
rikanische Firma etablirte: „John Smith und Vater."
Alle diese Erscheinungen treten im Süden weit we-
niger zu Tage. Dort besteht die elterliche Zucht noch zu Recht,
und das Verhältnis; zwischen Eltern und Kindern ist so ziemlich
dasselbe wie in europäischen Ländern. Der Norden hält an sei-
nen Grundsätzen der Unabhängigkeit und Gegenseitigkeit fest, er
läßt alte, wohl begründete und natürliche Unterschiede in der
demokratischen Gleichheit ausgehen. Behandle mich so, wie du
verlangst, daß ich dich behandele, ist eine Maxime, die sogar im
Verhältniß zwischen Eltern und Kindern, zwischen Lehrern und
Zöglingen aufrecht erhalten wird.
Damit soll nun durchaus nicht gefagt fein, daß amerikani-
fche Kinder absolut roh oder ungezogen seien. Im Gegentheil,
ich fand sie oft höflicher, gesitteter, ordnungsliebender als unsere
europäischen; aber sie verlangen eine ganz andere Behandlung
als die letzteren. Am besten wird man mit ihnen fahren, wenn
man sie als zurechnungsfähige Wefen behandelt, die ihren eige-
nen Willen und das Recht, ihn zu üben haben. Man muß an
ihre Vernunft und an ihren Sinn für das Rechte appelliren.
Beruft man sich lediglich auf die eigene Autorität, fo wird man
stets eine naseweise Antwort erhalten.
Erdtheilen.
„Weißt Du, mit wem Du sprichst?" sagte ein aufgebrachter
Vater zu seinem halsstarrigen Jungen. „Es ist Dein Vater,
den Du vor Dir hast." „Ja, und wessen Schuld ist das?"
versetzte der unbändige Range; „die meinige wahrhastig nicht."
— Die Volksmenge in nachbenannten französischen
Städten beträgt nach der neuesten Zählung: Paris 1,823,274;
— Lyon 329,954; — Marseille 300,031; — Bordeaux
194,241; — Lille 154,799; — Toulouse 126,936:— Nan-
tes 111,956; — Rouen 100,671; — St. Etienne 96,620;
— Straßburg 84,167.
— Die besseren englischen Zeitschriften klagen dann
und wann darüber, daß im Stil eine wahre Barbarei über-
Hand nehme; das fei um fo widerwärtiger, wenn diese Barbarei
obendrein geziert sei oder sich ein gelehrtes Ansehen gebe. Wir
sinden nun'in der „Westminster Review" folgende Probe „er-
habenen Stils". Der Reviewer will fagen: Wer allzustreng
arbeitet, nutzt frühzeitig seine Kräfte ab. Das drückt
er mit folgendem Gesalbader aus: „Eine wohl zu beachtende
und merkwürdige Wahrnehmung in Bezug auf philosophische
Thätigkeit besteht darin, daß die Koordination aller Verrichtun-
tungen, aus welcher die gesammte intellektuelle Energie philoso-
phischer Geister besteht, in ihrer Gesammtsülle nur für einen
kurzen Theil ihrer Lebensdauer vorhält. Gewöhnlich tritt fchon
zu einem frühen Punkt im Mittlern Lebensalter eine Epoche ein,
in welcher die Assimilation des wissenschaftlichen Materials und
dessen weitere Ausarbeitung mit einer kräftigern und anhal-
tendern Synergie wirksamer ist, als das in einer spätern Zeit
für denselben Geist möglich ist. Auf diese Phase philosophischer
Ueberanstrengung folgt dann allemal eine geistige Phase, welche
sich dadurch charakterisirt, daß sie an simultanen Kräften weit
weniger zu verausgaben hat, als während der vorigen Epoche."
— Ein Deutscher, der zu N eub err y in Südcarolina wohnt,
theilt als „trauriges Curiosum" folgende Thatsache mit. „Ein
Neger, welcher in dem deutschen Gasthofe jener Stadt als Haus-
knecht diente, wurde von seinen Stammgenossen zum Mitglieds
der Staatslegislatur von Südcarolina erwählt. Als der nun-
mehrige Gesetzgeber von seinem bisherigen Dienstherrn Abschied
nahm, empfahl er seinen Sohn, der dann auch als Hausknecht
eintrat, aber zu Anfang Novembers wegen Unbrauchbarkeit ent-
lassen wurde. Jedenfalls brauchen die beiden Hausknechte nicht
zu hungern, da der Papa als Gesetzgeber täglich 7 Dollars
Diäten bezieht."
— Auf Hawaii, Sandwichsinseln, wo die Missionen seit
einem halben Jahrhundert thätig sind, brach im September ein
Aufstand aus. Ein Scheriff wollte einen eingebornen Mann Na-
mens Kaoni verhaften, der sich sür einen Propheten erklärt
hatte und den Untergang der Welt verkündete. Die zahl-
reichen Anhänger des Propheten leisteten Widerstand, tödteten
den Scheriff, fchnitten ihm den Kopf ab und spießten denselben
auf einen Pfahl. Ein anderer Scheriff wurde lebensgefährlich
verwundet; mehrere Polizeileute, welche einschritten, blieben todt
auf dem Platze. Die neue Secte wird natürlich mit Gewalt
unterdrückt werden. In den aus Europa oder Nordamerika ge-
kommenen religiösen Dogmen kann der Sandwichsinsulaner sich
nicht zurecht finden; wenn er aber grübelt, verfällt er in Extra-
vaganzen, gleich seinem Stanimverwandten, dem Neuseeländer,
der zum Hauhau geworden ist, nachdem man ihn für einen
guten Christen gehalten hatte.
— Es ist für den Betrieb der großen pacififchen Eifen-
bahn ein fehr günstiger Umstand, daß in dem großen Binnen-
becken Kohlenlager von großer Mächtigkeit aufgefunden wor-
den sind, nicht nur an den Quellgewässern des Humboldt-
flufses, sondern auch am Wahsatschgebirge, gerade in der
Gegend, wo die westliche und die östliche Abtheilung der beiden
großen Schienenstränge sich mit einander vereinigen.
— Spanien hat 117 Seehäfen.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
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