Globiis.
Zltustrirte
Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde
mit
besonderer DerürKsichtigung der Anthropologie und Ethnologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern
herausgegeben von
Karl Andree.
Neunzehnter Band.
—--— ZsV".>(y^::-Cyt------
I • i *
\
HraunsrkweLg,
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn.
18 7 1.
Jnhaltsverzeichniß.
cSitropa und der hohe Korden.
Auf der Insel Rügen. Von Theodor
Zorn. 135. — Aberglauben in West-
preußen. 96. — Auswanderung der Men-
noniten aus Preußen. 80. — Der Leip-
ziger Dialekt. 45. — Verwälschte
Ortsnamen in Elsaß und Deutsch-
Lothringen. 153. — Bemerkungen
über Luxemburg. 375. — Nordame-
rikanische Stimmen über Deutschland
und Frankreich. 86.
Neue Arbeiten über die slawischen Orts-
namen in Deutschland. 39. 59. —
Slavische Annectirnngen, von Ri-
chard Andree. 298. 303. — Archäo-
logische Funde auf der cimbrischen
Halbinsel. 344.
Gletscherbilder aus den Alpen. 145. —
Schweizerbilder. 161.
Banderkindere über die Stellung der
Flamingen. 43.
Eine Kreuzfahrt auf dem Adriatifchen
Meere, von Oscar Schmidt. 107.
123.
Oesterreichs Kohlenproduction. 352.
Volksschullehrer in Ungarn. 192. 208.
Polonisirte Deutsche in Galizien. 206.
Zur Kennzeichnung der Leute in Frank-
reich, von Karl Andree. 222. 248.
— Eine Clubsitzung der Pariser Com-
munisten. 271.
Die geologische EntWickelung der italieni-
schen Halbinsel. 361.
Der Mont-Cenis-Tunnel. 44.
Römische Bilder von Franz Koppel. 17.
33. — Etruskische Gräber in Bologna.
96.
Aus Siciliens Kulturgeschichte. 241. 257.
Ein Blick in das Harem des türkischen
Sultans. 14.
Zahl der Osmanen in der europäischen
Türkei. 31.
Die Briganten in Griechenland. 80.
Rußland. Aus der Literatur des Nihi-
lismus, von D. K. Schedo-Ferroti. 140.
155. 171. 216. 230. — Nihilistische Auf-
rufe. 255. — Zur Würdigung der bäuer-
lichen Verhältnisse. 265. 281. — Volks-
jnstiz der Bauern. 32. — Wieder Skop-
zen entdeckt. 238. — Zustände in Mos-
kau. — Lettische Auswanderer in Süd-
rußland. 160. — Chinesen auf der Messe
von Nischni Nowgorod. 160.
Sidorow's Bericht über den Norden
des europäischen Rußlands. 95.
Das allmälige Aussterben der Samojeden.
367.
Goldwäschereien in Russisch-Lappland.
207. 335.
Die lappländische Ausstellung zu Tromsö
in Norwegen, von Fr. Mehwald.
108. 120. — Hummerfang. 335. —
Renthiere nach Nordengland ausgeführt.
335. — Geräthe aus dem hohen Norden
in Gothenburg. 203.
Nordenfkiöld über feine Wanderung auf
dem Inlandeise von Grönland im Som-
mer 1870. 363.
Gisli Brynjnlsson: Hatten die alten
Nordländer Kunde von einem offenen
Polarmeere? 188. 200. 213.
Die altgrönländische Religion und die reli-
giösen Begriffe der heutigen Grönländer,
vonJ. Mestorf. 11.23.33.55.70.
Luftreifen nach Spitzbergen. 384.
Aus dem nördlichen Polarmeere (Kolde-
wey's und Pansch's Berichte). 93.
Arktische Expeditionen im Jahre 1871. —
Capitän Hall's Polarfahrt. 336. 384.
Tyrwhitt Drake's Forschungsreise durch
die Wüste El Tih auf der Sinai-Halb-
insel. 314. 324. 345.
Radde's und Siewers' Streifzüge am
Kaspischen Meere. 227.
Unter den Nomaden Jnnerasiens. Die
Kirgisen. 129.
Die Uiguren. 166.
Volksmenge in Jrkntsk. 123.
Die russische Provinz Turkestan. 144.—
Kirgisische Zeitschrift inTaschkend. 240.
— Baumwollenbau in Taschkend. 16.
Forsyth' s Reise nach Yarkend, von H. Vam-
bery. 37. — Hayward's Ermordung. 32.
Drei afghanische Typen. 85.
Lejean's Wanderungen im nordwestlichen
Indien. 273. 290.
Asien.
Ostindien. Eingeborene Herrscher. Ver-
breitung europäischer Romane. Die
Frauen. Oöffentliche Arbeiten. 286. 287.
— Das Eisenbahnsystem. 163. — An-
bau und Aussuhr des Thees. 112. —
Abneigung zwischen Hindus und Mo-
hammedanern. 32. — Schrift eines Pan-
diten gegen die Verheirathung kleiner
Kinder. 208. — Mädchenschulen. 240.
Urtheil eines Hindu über die Frauen der
europäischen Völker. 144. — Verbrecher-
stämme und Missethaten. 31. — Krieg
gegen die wilden Thiere. 47. — Schlan-
genbisse. 31. — Gesundheitspflege. 31.
Megalithische Bauten der Gegenwart
bei den Khasias. 304.
! Alterthümer auf Ceylon. 48.
Die Engländer am obern Jrawaddy;
Capitän Strover in Bhamo. 64.
Birma. Buddhistische Mönche als Volks-
schnllehrer. 244.
Das Vorkommen alter Steingeräthe in
Birma. 157.
Die deutsche Herrenhnter-Mission in Tibet.
Von Emil Schlagintweit. 331.
China. Erläuterungen zu einem chinesi-
schen Mordfächer aus Tien tsin, von
Karl Andree. 7. 26.
Die chinesische Regierung gegen die Mis-
sionäre. 272.
Der Telegraph zwischen Hongkong und
Schanghai. 288.
Korea. Expedition der Nordamerikaner.
237. — Versolgung der Christen. 287.
VI
Beni-Hassan, von G. Kachel. 113. °
Die Benutzung und Zukunft des Suez-
Canals. 221.
Stellung der Franzosen gegenüber den Ein-
geborenen Algeriens, von H. v. Maltzan.
252. 262.
Afrika.
Schwarze Völker am Weißen Nil. 177.
Sklavenhandel im ägyptischen Sudan. 240.
Der Negerkönig von Onitscha im Niger-
delta. 239.
Leben und Treiben des Kasfervolkes in Süd-
ost-Afrika. 49. 65. 81. 97.
Höhlenmalereien der Buschmänner. 207.
Die geognostischen Verhältnisse der südasri-
kanischen Diamantfelder. 223.
Die Diamanten in Südafrika. 48. 96. 272.
Livingstone. 32. 288.
Die Canadian Dominion. 288.
Neuschottland. Ertrag der Goldfelder.
128. — Kohlengruben. 192.
Neufundland. Volksmenge, Fischerei,
Robbenschlag. 336.
Britisch-Columbia und die Vanconver-
Insel. 193.
Anthracitkohle auf der Königin-Charlotten-
Insel. 191.
-i- * *
Amerikanische Expedition für Tiefsee-For-
schungen. 351.
Marsh's wissenschaftliche Expedition im
Westen. 30. 41.
Die Cornell Universität im Staate Neuyork.
206.
Ein alter Mound bei St. Louis. 64.
Die hohen Berge an der Pacificküste. III.
Die Nordpacificbahn. 63. 224. — Die
pacifische Südbahn. 191.
Volksmenge in den einzelnen Staaten und
Gebieten der Union. III. — Flächen-
raum der organisirten Territorien. 30.
Neu-England. Volksmenge. 225. —
Eisernte bei Boston. 191. — Aberglaube.
287.
Neuyork. Staatsschuld. 47.
Pennfylvanien. Entdeckung einer Kno-
chenhöhle. 304.
Ohio. Volksmenge. 30.
Iowa. Jcarische Communisten. 191.
Minnesota. Ausschwung. Skandinavi-
sche Einwanderung. 366.
Missouri. Eisenbahnen. 191.
Kansas. Aufschwung, Kohlen. 47.
Nevada. Mordthaten und Brandstiftun-
gen. 256.
Kalifornien. Baumwolle. Sparcassen.
191.
Mississippi. Mordstatistik. 336.
Amerika.
Tennessee. Ertrag des Ackerbaues. 272.
Florida, Streifzüge in, 337. 353. 369. —
Alligator. 80.
Bedrückung der Südstaaten durch den
radicalen Eongreß. 366.
Negerherrschaft in Südcarolina; Racen-
kämpfe. 327.
Anzahl der Neger in der Union 366; —
in den Südstaaten 192; — in Louisiana
47. 255.
Die halbcivilisirten Indianer. 79. — Die
Indianer in Alaska. 143.
-i-
-i- -i-
Einwanderung seit dem Jahre 1820.
319. — Plan zu einer deutschen Massen-
einwanderung nach Oregon. 222.
Ausgaben und Schulden der Bundesregie-
rung. 256. 272.
Inländische Steuern. 30. 47.
Handelsmarine. 30.
Die Fischerei an den Küsten. 272.
* -5
Präfidentenmacherei. 271. — Nepotismus.
95. — Nohheit von Congreßinitgliedern.
256. — Hankeestil in Schrift und Rede. 160 .
Lynchjustiz in Nebraska. 352. — Brannt-
weinschänken in Massachusetts. 192. —
Ehescheidung. 47. 141.
Zur Kennzeichnung der Puritaner und
Anglikaner. 352. — Die Methodisten in
Westboro. 352. — Bewegliche Capelle
auf dem Friedhofe in Philadelphia. 352.
— Religion mit Theetrinken, Abendessen
und Plaisir in Templeton. 336. — Ta-
bernakel-Missionäre als Nomaden. 240.
— Eine spiritualistische Sybille. 256.
Die Hankeesoldaten in Alaska. 47.
Die Postmeisterinnen. 320.
Das Grabmal des letzten Mohikaners. 48.
Mexico. Eine Revolution in Zacatecas,
von Karl Eramer. 56. — Die Prote-
stanten. 48.
Euba. Freilassung schwarzer Lehrlinge.
48.
Zustände auf Haiti und St. Domingo. 222.
Selfridge's Erforschung der Landenge
von Darien. Mißlungene Eanal-
projecte. 16. 142. 224.
Neue Verkehrswege in Südamerika. 16.
Neugranada. Kohlen in Cauca. 32.
Venezuela. Die Deutschen. 112.
Britisch-Guyana. Der Kaieteur-Kata-
rakt am Potaroflusse. 112.
Ecuador. Ein Menschenhaupt als Göt-
terbild bei den Jivaros-Jndianern. 317.
— Straßenbau. 16.
Aus Dr. Abendroth's Reisen in Süd-
amerika; das Stromsystem des Ucayali
und die Indianer an diesen: Flusse. 377.
379.
Peru. Erforschung des Peneneflusses. 159.
In der peruanischen Küstencordillere (Tacna).
61. 71. 91.
Dampfer auf dem Titicaca-See. 176. —
Dampferlinie nach China. 304. — Eisen-
bahnen. 16.
Bolivia. Die Aymara-Jndianer. I.
— Straßenbau. 16.
Brasilien. Eisenbahnen. 16. — Briefe
einer deutschen Erzieherin aus Bahia und
Peyedo. 267. 279.
Wasserfluthen, Erdbeben und gelbes Fieber
in Südamerika. 300.
Argentinische Republiken. Die große
Seuche in Buenos Ayres. 320. — Die
Universität Cordova. 79. — Paß über
die Andes nach Chile und die Eisen-
bahnen. 16.
Australien und die Südsee.
Australien., Spuren von Leichhardt auf-
gefunden. 384.
Hinwegsterben der Eingeborenen. 367.
Neue Goldentdeckungen. 319. — Neue Ku-
pferentdeckungen in Südaustralien. 320;
in Queensland. 43.
Perlmutter in Westaustralien. 319.
Rübenzucker. 367.
Mormonen in Melbourne. 320.
Wilde Kinder weißer Leute. 350.
Buschklepper in Gippsland. 319.
Taggelder sür die Abgeordneten zum Par-
lament. 304.
Ein merkwürdiges Amphibium. 319.— Ein
bisher unbekannter Fisch. 367.
Neuseeland. Der Lavaausbruch des Ton-
gariro. 225. — Vertilgung des Unkrau-
tes. 191. — Die Maoris als Arbeiter.
,"84; als Branntweintrinker. 320. —
Neue Mittheilungen über die Thierwelt.
209. — Dampferlinie nach den Fidschi-
Inseln. 256.
Menschenraub und Sklavenhandel in der
Südsee. 239. — Die Fid sch i-Jnseln.
319. — Erlebnisse schwedischer Ansiedler
auf den Fidschi-Inseln. 284. 295. 312.
— Politische und commercielle Zustände
auf den Samoa-Jnseln (Navigatoren),
nachTH. Aube. 359. — Gold auf Neu-
caledonien. 256.
Vegetation auf den Salomons-Inseln.
190.
VII
Vermischte Mitteilungen.
Wissenschaft und Einbildungskraft. 202.
Wie sahen die Urmenschen aus? 125.
Verbreitung der Anthropophagie. 159.
Fordes Uber das Innere der Erde.
169. 184.
K. Vogt über die Eis- und Höhlenzeit.
305. 321.
Hat es in Brasilien eine Eiszeit gegeben?
138.
Gespinnste und Gewebe in den Pfahlbau-
ten. 304.
Archäologische Funde auf der ciinbrischen
Halbinsel. 344.
Eine Fabrik alter Steingeräthe in Ehas-
sey. 199.
Für und wider die Steinzeit inAegyp-
ten. 213.
Die bildlichen Darstellungen auf den nor-
dischen Goldbracteaten, erklärt von Wor-
s a a e. 347.
Ein alter Koran in russischer Schrift. 16.
*
Geographifche Verbreitung und Inhalt der
Krugpflanzen. 247.
Ueber tropische Aquarien, von Gustav Wal-
lis. 168.
Einbürgerung der Euphorbia prostrata
auf der Insel Madeira. 208.
Zur Beurtheilung des tropischen Klimas. 39.
Schützende Aehnlichkeiten in der Thierwelt.
379.
Lankester über die Lebensdauer verschie-
dener Thiere. 175.
Gräbt die Pampaseule ihre Höhlen selbst?
229.
Die Ohrenrobben aus den Pribyloff-Jnseln.
302.
Die Alligatoren in Florida. 80.
Wiedererscheinen der großen Trappe in Eng-
land. 203.
Eduard Mohr's gezähmte Strauße. 303.
Geographische Verbreitung der Wander-
Heuschrecke. 43.
Haisischfalle auf den Komoro-Jnseln. 192.
Wissenschaftliche Erlebnisse der Luftballon-
fahrten. 74.
Wie lange Zeit gebraucht ein Telegramm um
die Erde? 208.
Transatlantische Dampfschifffahrt. 245.
Immer mehr Kohlen und Gold. 336.
Geschichtlicher Ueberblick desTheehandels. 63.
Die Schuldenlast der civilisirten Staaten.
127.
Die Befestigung Londons und die englischen
Kriegsbeklemmungen. 334.
Französische Naturforscher und der Krieg. 175.
Eine Clubsitzung der Pariser Kommunisten.
27.
Was die Franzosen Alles aus dem Dorf-
namen Uebiga^l gemacht haben. 368.
Professor Huxley und eine Tabacks-Zeitung.
192.
Darf ein Geistlicher Taback rauchen? 224.
Diplomatischer Verkehr in Sachen von Men-
schenschädeln. 33 t.
Die Erfolge der Missionen und Missionäre.
152.
Die britische Bibelgesellschaft. 272.
Die englische Tractatengesellschaft. 304.
* * %
Das Journal der Londoner geographischen
Gesellschaft. 303.
Woher stammt das Wort Kazike? 288.
Verarbeitete palästinensische Hölzer, von
Oscar Schneider. 187.
Der Winter von 1870 aus 1871 in Ost-
europa. 176.
Europa.
Piazza Navona. 13.
Pantheon. 19.
San Lorenzo fnori le mura. 20.
Im Chor von San Lorenzo fuori le mura.
21.
Klosterhof von San Lorenzo fuori le mura.
22.
Foffor, Todtengräber. Nach einem alten
Gemälde in den Katakomben des heili-
gen Calixtus. 33.
Aus den Katakomben des Kirchhofs von
San Ageffe. 34.
Malerei ans dem ersten Jahrhundert (an-
geblich) in einer Capelle der Katakomben
von San Calixto. 34.
Muficirende Engel von Melozza da Forli. 35t
Die Fornarina im Palazzo Barberini. 35.
Montblanc und Chamouny. Die Jung-
frau. 146.
Quelle des Arveiron. Bepons-Gletscher.
147.
Mer de Glace du Dor. 143.
Aletsch-Gletscher. 149.
Matterhorn. Das Breithorn mit dem Gor-
ner-Gletscher. 150.
Roselaui-Gletscher. 151.
Mittlere Brücke der Via mala. 162.
Cascade der Sallenche im untern RHone-
thale. 163.
Teufelsbrücke. 164.
Der Eiger. 165.
Engelsberger Thal mit dem Titlis. 166.
Landschaft bei Segesta. Nach einer Zeich-
nung von Metzener. 242.
Illustrationen.
Die Tempelruinen von Selinunt. 244.
Tempel der Juno Lucina bei Girgenti. Nach
einer Zeichnung von Metzener. 253.
Das Amphitheater zu Syrakus. Nach einer
Zeichnung von Metzener. 259.
Termini auf Sicilien. Nach einer Zeich-
nung von Metzener. 260.
La Zisa, maurifcher Palast bei Palermo.
Nach einer Zeichnung von Metzener. 261.
Verbreitung der Alpenfindlinge in der
Schweiz. 306.
Cyclas amnica. Aus dem Löß. In der
Mitte die Schalen von Innen und Außen
in natürlicher Größe — zur Seite ver-
größert. Helix plebeja. Aus dem Löß.
Bulimus lubricus. Löß. Clausiiiabi-
dens. Löß. 307.
Gailenreuther Höhle in Franken. Durch-
schnitt der Hyänenhöhle (Trou des Hye-
nes) nach Dupont. 322.
Skelett des Mammuth (Elephas primi-
genius). Backenzahn von Elephas anti-
quus; Kaufläche. Backenzahn von Ele-
phas meridionalis; Kaufläche. Schädel
der Hyaena spelaea; von der Seite.
Schädel von Khinoceros tichorhinus;
aus dem sibirischen Sande. Schädel des
Ursus spelaeus; von der Seite. Der-
selbe von oben. 323.
Die bildlichen Darstellungen auf den Gold-
braeteaten. 348. 349.
Idealer Durchschnitt der italienischen Halb-
insel'in der Breite von Rom. 361.
Ideale Form der italienischen Halbinsel am
Schlüsse der Eoeenperiode. 362.
Asien.
Der Mordfächer aus Tientsin. 8.
Drei afghanische Typen: Kriegsminister.
Schir Ali. Mehemmed Nur. 85.
Linienkosack. 130.
Russischer Liniensoldat. Kosack als Drago-
ner. 131. «
Caseaden des Kopal. 132.
Ankunft bei einem Zeltlager der Buriäten.
133.
Bäuerin in Kaschmir. 274.
Haus in einer Vorstadt von Srinagar. 276.
Bergbewohner im N.-W. im Kampfe gegen
die Engländer. 277.
Dorf Dana im Gebirgslande bei Peschawar.
278.
Alter Sikh in Marri. Dost Mohammed,
Herrscher von Afghanistan; f1864. 290.
Schaam Singh, Staatsmann der Sikhs.
Tantia Topi, Hauptanführer während der
großen Meuterei von 1857. Scheng Ba-
hadnr, Herrscher von Nipal. Dinannal
ein berühmter Rechtsgelehrter. Akbar,
der Afghanenkönig, Sohn Dost Moham-
med's. Rena Sahib. 291.
Bayadere von Srinagar. 292.
Heiliger Baum am Teiche bei Sanga. 293.
Der Beto Faxiba. 311.
Afrika.
Kassertypen: Verheiratheter Mann. Ein
Vorsteher im Amte. Mädchen. Alte Frau.
Knabe. Junger Mann. Junge Frau mit
dem Kinde. 50.
Kassermädchen. 51.
VIII
Junger Kafferkrieger. 52.
Junger Kaffer im Staatsanzuge. 53.
Ein Kafferkraal. 66.
Eine Kafferhütte. 67.
Das Innere einer Kafferhütte. 63.
Häusliche Beschäftigung der Kaffern. 69.
Gerätschaften der Kaffern: Milchgelte. Bier-
gefäß. Bierseiher. Wasserrohr. Dicht-
geflochtener Korb. 82.
Kaffervieh. Verkünstelung der Hörner. 83.
Heimkehr von einem Raubzuge. 84.
Ein Kafferniädchen. 93.
Schürze einer Häuptlingsfrau. 99.
Brautzug bei den Kaffevn.- 100.
Verhöhnung des Bräutigams durch die Braut.
101.
Schwiegermutter und Schwiegersohn. 102.
Beni-Hassan. Baudenkmäler: 113. 114.
115. 116. 117. 118. 119.
Tanz der Heliab- und Bor-Frauen. 178.
Kitsch-Neger. 180.
Schilluck-Neger. 182.
Nuehr. 183.
Capra beden. 327.
Amerika.
Ein bolivianischer Aymära. 2.
Eine Gruppe bolivianischer Aymära-Jndia-
ner. 3.
Indianer auf der Wanderung. 4.
Hospital Point, bei Esquimalt, Vancouver-
Insel. 194.
Grenzlinie zwischen Britisch-Eolumbia und
den Vereinigten Staaten. 195.
Indianer-Nachen. 196.
Indianerin mit einem Kinde. Indianer-
Mädchen. 197.
Omagua - Indianer am Amazonenstrome.
198.
Flötenmaul. 215.
Die höhlengrabende Pampas- oder Prairie-
Eule. Nach den Exemplaren im Londo-
ner zoologischen Garten. 229.
Menawa, der Scalpirte. 338.
Negerhütte bei Jackfonville. 340.
Begräbnißstätte in Florida. 341.
Das Spectrum. Attacus Irma. 342.
Katzenvogel. Spottvogel. 343.
Haus eines Ansiedlers aus Hannover.
354.
Die Straße de la Merced in St. Augustin.
355.
Ein Jagdrennen im Urwalde. 356.
Schwammsischerei bei St. Augustin, Florida.
357.
Herauswinden des Guineawurmes. 358.
Parthenope horribilis. 370.
Operation des Punktirens. 371.
Seewolf. Das silberne Strumpfband. 372.
Cypreffenwald. 373.
Condylurus. 374.
Ein Kaiman in den Diegosümpfen Floridas.
Nach Poussielgue. 381.
Der sumatranische Laubschmetterling (Kai-
lima paralekta) ruhend und im Fluge.
Nach Wallace. 382.
Australien und die Südsee.
Der Huia-Vogel Neuseelands. (Männchen
mit dem kurzen, Weibchen mit dem lan-
gen Schnabel.) Nach den im Londoner
zoologischen Garten befindlichen Exempla-
ren gezeichnet. 210.
Der neuseeländische Kakapo oder Erdpapa-
gei. Nach dem im zoologischen Garten
zu London befindlichen Exemplare gezeich-
net. 211. ,
Die Tuatera-Eidechse Neuseelands. 212.
See auf dem Gipfel des eigentlichen Ton-
gariro. (Neufeeland.) Nach einer Skizze
von Dr. Hector. Der Ngauruhoe-Kegel
des Tongariro. (Neuseeland.) Nach einer
Skizze von Dr. Hector. 226.
Anwachsen der Lusttemperatur. Drei Ta-
bellen. 75. 76. 77.
Krugblumen. 247.
M-
Sk- r^l , / NN. \J/ A
vVL ~ yf <4V». ^
v/
Band XIX.
%
*4
J? 1.
lit besonderer Herürksicktigung der Anthropologie unä Gtlrnalogie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
Januar Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4Sgr. 1871.
Die Aymara-Indianer in Bolivia und Peru.
Die Aymaras sind ohne Frage eines der interessantesten
Jndianervölker Südamerikas. Sie haben ihre Sprache be-
wahrt, sowohl als sie von den peruanischen Jnkas bezwungen
worden waren, wie auch als Unterthanen der Spanier, bis
auf die Gegenwart. In ihrem ganz eigentümlichen Cha-
rakter liegt etwas ungemein Zähes, und derselbe ist sich gleich
geblieben bis auf diesen Tag. Von den alten Anschauungen,
Vorstellungen und Sitten ist Vieles ganz unverändert geblie-
den, Anderes nur schwach und theilweise umgestaltet worden.
Gegenüber den Weißen wie den Mischlingen bilden die Ayma-
ras einen scharfen Gegensatz, und sie sind beiden schon mehr
als einmal in hohem Grade gefährlich geworden. Aller-
dings spielen sie gegenwärtig nur erst eine passive Rolle im
Staatsleben, aber nichts desto weniger bilden sie einen wich-
tigen Factor, mit welchem man zu rechnen hat.
Die Aymaras bewohnen den nordwestlichen Theil von
Bolivia und das südliche Peru; ihr Land erstreckt sich
vom 15. bis 20. Grad südlicher Breite von Norden nach
Süden; von Westen gen Osten vom 67. bis 72. Grad West-
licher Länge von Greenwich. Dieses ganze Gebiet ist Hoch-
land; die Tafelebene hat eine Minimalhöhe von 10,000 Fuß
über dem Meere; von derselben steigen Riefenberge bis zu
20,000 Fuß Meereshöhe empor, z. B. der Sajama, Tacora,
Jllampu (das ist der Sorata), der Jllimani und manche
andere. In einer Höhe zwischen 16,000 und 17,000 Fuß
beginnt der ewige Schnee. In der trockenen Jahreszeit,
von April bis November, ist das Klima nicht gerade uuau-
genehm, aber die Hitze nicht selten drückend, und trockene
Winde, welche die Haut angreifen, werden lästig; Reisende
schützen ihr Gesicht gegen dieselben durch Masken.
Globus xix. Nr. 1. (Januar 1871.)
Am nördlichen Ende des Aymaragebietes liegt der be-
rühmte Titicaea-See (— titi, Zinn; caca, Stein —),
12,850 englische Fuß über dem Meere. Sein gestimmtes
Küstenland ist, so viel wir abnehmen können, seit den älte-
sten Zeiten eine Heimath der Aymaras gewesen. Man hat
sie deshalb wohl anch als „Titicaca-Race" bezeichnet. Bei
älteren spanischen Schriftstellern werden sie nicht selten Colla-
Indianer genannt, weil sie Bewohner der Colla suyo
waren, d. h. der südlichen Abtheilung des Jnkareiches. Die-
ses war nach den vier Himmelsgegenden abgetheilt in: Ch incha
suyo, Norden; Colla suyo, Süden; Anti suyo, Osten,
und Cuuti suyo, Westen.
Die Aymaras wurden von den Jnkas bezwungen, zahlten
Tribut, sind aber nicht, gleich vielen anderen Völkern, dem
Reich einverleibt worden. Sie nahmen die Sprache der
Quechuas, welche den anderen eroberten Nationen oder Stäm-
men aufgezwungen wurde, nicht an, hielten sich damals, wie
noch jetzt, so viel als möglich isolirt, trugen ihr Joch nur
widerwillig, doch wurden sie allemal geschlagen, wenn sie sich
gegen die Peruaner erhoben; die Aufstände wurden im Blut
erstickt und der Druck war empfindlich. Unter den Spaniern
aber war das Schicksal der Aymaras in hohem Grade be-
danernswürdig. Niemals sind Negersklaven so entsetzlich
tyrannisch behandelt worden, wie diese Aymaras. Man trieb
sie in Schaaren weg aus ihren Dörfern und von ihren Fa-
milien, entweder nach den Goldbergwerken oder in die Aun-
gas, diese heißen Thäler im Osten der Andes, wo sie auf den
Coca- oder in den Zuckerplantagen arbeiten mußten, und
wo sie zu Hunderttausenden hinweggestorben sind. Eine un-
zählige Menge erlag auch der übermäßigen Arbeitslast und
Die Mmara-Indianer in Bolivia und Peru.
der schlechten Behandlung in den Silbergruben von Potosi,
Ornro, Chayanta:c.
Kein Wunder, daß ihre Zahl zusammenschmolz. Noch
heute sieht man in ihrem Gebiete viele Spuren, welche be-
weisen, daß dasselbe einst eine sehr dichte Bevölkerung hatte.
Davon überzeugte sich David Forbes, dem wir bei unseren
Mittheilungen vorzugsweise folgen, aus eigener Anschauung *).
Er habe, sagt er, aus jedem Schritte verlassene Dörfer gesuu-
den; au den Bergabhängen, zum Theil bis hart an die Schnee-
grenze, sieht man Felder, die mit Erdwällen eingefriedigt
sind, und Terrassen; das Alles liegt nun unbestellt und ver-
ödet da. Die Grausamkeit der Spanier wurde am Ende
selbst für diese während einer Reihenfolge von Menschen-
altern geknickten und niedergebeugten Indianer zu arg. Im
Jahre 1780 brach ein Aufstand aus; die Aymaras, unter
ihrem Anführer Cataris, machten gemeinschaftliche Sache
mit den Quechuas, welche von Tupac Amaru befehligt
wurden und das Reich der Jnkas wieder herstellen wollten.
Dabei handelte es sich auch um die völlige Ausrottung
der Weißen, und mehr als 40,000 Spanier sind damals
von den Indianern hingeopfert worden. Diese wurden erst
bezwungen, als eine aus Buenos Ayres abgesandte Heeres-
Ein bolivianischer Aymärs..
macht angekommen war. Damals begann der Verfall
der Gold- und Silbergruben, und der Bergbau hat sich
von diesem Schlage noch hente nicht erholt.
Nach Vertreibung der Spanier, gegen welche Vorzugs-
weise nur Weiße oder Mischlinge im Felde standen, dauerten
die inneren Fehden und Kämpfe fort; in Peru und Bolivia
ist eine Revolution der andern gefolgt. Die überwiegende
Mehrzahl der reinen Indianer beteiligte sich dabei nicht,
diese blieben abseit als Zuschauer, welche Uber sich ergehen
*) On the Aymara Indians of Bolivia and Peru. Journal
of the Ethnological Society of London. Vol. II. p. 193 — 305.
ließen, was eben kam. Ihre Zahl wuchs an und allmälig
sind sie sich ihrer Macht bewußt geworden. Im Jahre 1854
waren ihrerseits alle Vorkehrungen zu einer allgemeinen Er-
Hebung gegen die Weißen und die ihnen nicht minder ver-
haßten Mischlinge getroffen worden, und wenn damals der
Ausbruch stattgefunden hätte, so wäre ein Erfolg sicher ge-
wesen. Zum Gliicke für die Bedroheten brach unter den
Indianern eine „Peste", eine typhusartige Seuche, aus, welche
die Weißen verschonte, während sie die braunen Leute zu
Tauseuden hiuwegraffte. Im Jahre 1860 erhoben sich die
Aymaras von Tiuquina und ermordeten alle Weißen, deren
sie habhast werden konnten; doch war dieser Ausstand nur
Die Aymara-Indianer in Bolivia und Peru.
örtlich und wurde von der bolivianischen Regierung rasch
unterdrückt.
Mau sieht, es handelt sich hier um einen Racenkamps.
Ganz richtig sagt Fordes: „Die Aymaras hegen einen in-
grimmigen, tief eingewurzelten Haß gegen ihre weißen Un-
terdrUcker; sie trösten sich mit der Hoffnung, daß sie über
kurz oder lang doch einmal wieder in den Besitz des Landes
kommen würden, das ihren Vorfahren gehörte/' Wir kom-
men gelegentlich auf diesen für ganz Amerika fo wichtigen Ge-
genstand, den Racenhaß, zurück; hier soll nur bemerkt wer-
den, daß die Lage dieser Indianer unter der Republik zwar
nicht so trostlos erscheint, wie zur Zeit der Spanier, daß sie
aber doch noch beklagenswerth genug ist. Die Verfassung
erklärt sie für frei, in der Wirklichkeit sind sie jedoch nicht
viel besser daran als Leibeigene; sie werden von den Behör-
den übervortheilt und von den Weißeu schlecht behandelt.
Wohl fühlen sie sich vorzugsweise nur in ihren Dörfern, wo
sie mit Anderen nichts zu schaffen haben. Sie müssen eine
Indianer auf der Wanderung.
Jahresabgabe zahlen, welche für die Familie 4 bis 10 boli-
Vianische Dollars beträgt. An der Spitze jeder Commune
steht als Schulze, Alcalde, ein Indianer, der als Amtszei-
chen eine starke Gerte führt, die er mit Silberringen oder
einem silbernen Knopfe schmückt. Die Gemeindeangelegen-
heiten werden von den Indianern selbständig geordnet; sie
vertheilen die Ländereien unter sich je nach dem Bedarf der
verschiedenen Familien, und auch Wittwen werden dabei
berücksichtigt. Die weiße Bevölkerung zahlt gar keinen „Tri-
lntto"; in Peru ist derselbe für die Indianer aufgehoben wor-
den. Welche Folgen das gehabt hat, darüber soll später-
hin Herr von Tschudi seine Ansicht äußern. An Straßen,
Brücken, Kirchen :c. muß der Indianer arbeiten, ohne daß
er dafür Bezahlung erhält.
Die Gefammtzahl der Aymaras wird etwa dreiviertel
Millionen Köpfe betragen. Davon kamen 1856 in Bolivia
auf die elf Provinzen, in welchen sie den Hanptstamm der
Bevölkerung bilden (La Paz, Omafuyos, Jngavi, Sicasica,
Die Aymara-Indianer in Bolivia und Pern.
Muüecas, Uungas, Larecaja, Jnquisivi, Oruro, Paria und
Carangas), 441,746 Aymaras, während die Zahl der
Weißen und Mischlinge dort sich auf nur 77,480
stellte, also nur etwa 15 Procent der Volksmenge betrug;
diese 15 Procent wohnten vorzugsweise in den Städten; das
platte Land ist wesentlich und vorzugsweise indianisch. Für
1864 nahm man 497,367 Aymaras an. Für Peru wur-
den angenommen (in den Provinzen Cuzco, Arequipa, Mo-
quegua und Puno) 379,884 Aymaras, so daß sich eine Ge-
sammtzisfer von 877,251 Kopsen herausstellen würde; doch
scheint es, als ob diese um 100,000 zu hoch gegriffen sei
und daß man Mischlinge mit eingerechnet habe.
Der Aymara hat einen kräftigen, massiven Körperbau;
durchschnittliche Größe 5 Fuß 3 Zoll englisch, selten bis
5 Fuß 4 Zoll; Augen klein, Schultern breit, Rumpf lang,
Beine kurz, Fuß klein, Brustkasten stark entwickelt. Forbes
erinnert sich nicht, unter den unvermischten Indianern auch
nur eine einzige stark beleibte, corpulente Person angetroffen zu
haben. Das Gesichtsprosil ist gut, die Nase zumeist gebogen
(aquilin), der Mund nicht übermäßig groß, die nicht sehr
stark aufgeworfenen, vollen Lippen haben eine gelblich- oder
brann-röthliche Farbe, die Zähne sind, wenn nicht durch Coca-
kauen angegriffen, hübsch und weiß, die Augen schwarz oder
tiefbraun und ein ganz klein wenig seitwärts nach Innen
gestellt. Das Haar tritt weit auf die Stirn herab und ist
bei Frauen wie bei Männern außerordentlich voll und üppig,
schwarz oder tief schwarzbraun und ganz straff, aber im Baue
fein, niemals fo grob wie jenes der Spanier oder Misch-
linge. Forbes hat niemals einen alten Mann oder eine
alte Frau mit grauem oder weißem Haare gesehen. Man
behauptet, daß dasselbe nie ausfalle, weil die Indianer es
mit Urin waschen; dieser widerwärtige Gebrauch herrscht
in jenen Theilen Südamerikas auch bei den Frauen spani-
scher Abkunft, welche auf ihr glänzend schwarzes Haar so
stolz sind.
Die Männer sind ganz bartlos; sie haben, von Augen-
brauen und Wimpern abgesehen, nicht eine Spur von Haar
im Gesichte; nur selten trifft man Leute, die ein paar ver-
einzelte Haare auf der Oberlippe auszuweisen haben, aber
niemals so viele, daß sie einem auch nur schwachen Schnauz-
bart ähnlich sähen. Unter den Armen oder überhaupt sonst
am ganzen Körper sind sie haarlos. — Die Haut ist bei
denen, welche nicht allzu sehr den Unbilden der Witterung
ausgesetzt sind, glatt, weich, sanft, wie polirt, nie kleberig;
sie fühlt sich kühl an; sie riecht bei gesunden Personen nicht
stärker als beim Europäer, der Indianer jedoch, dessen Ge-
ruchssinu scharf entwickelt ist, hat besondere Bezeichnungen
für den natürlichen Geruch der Haut des weißen, schwarzen
und braunen Menschen. Die Farbe des neugeborenen Aymara
ist röthlich und nicht viel dunkeler, wie bei einem weißen
Kinde, sie wird jedoch sehr schnell dunkel und nimmt jene
braune Nüance an, welche dem Aymara eigenthümlich ist.
Diese wechselt je uach Oertlichkeit und Beschäftigung; im
feuchten, kalten Hochlande ist sie Hellkupferbraun, wie beim
nordamerikanifchen Indianer; im trockeneren Hochlande und
den regenlofen Thälern der westlichen Cordillere ist die Farbe
weniger röthlich uud mehr schwärzlich-brauu; in den heißen,
feuchten Thälern östlich von den Andes, gegen Brasilien hin,
verschwindet das Röthliche ganz und statt desselben tritt eine
ins Gelbliche übergehende Nüance aus. Der Einfluß der
Sonne auf die Haut ist, wie beim Europäer, nur momentan.
Wenn spanische Schriftsteller behauptet haben, daß der In-
dianer nicht erröthen könne, so trifft das nicht zu, allerdings
tritt die Rothe nicht so sichtbar hervor, wie beim Weißen;
manche Aymarasraueu haben sogar andauernd eine röthliche
Färbung auf den Wangen.
An der Körpergestaltung ist namentlich bemerkenswerth,
einmal die schon erwähnte unverhältnißmäßige Länge des
Rumpfes im Vergleich zu Beinen und Schenkeln, sodann der
auffallend kleine Fuß (Forbes, S. 209 ff., giebt über Bei-
des ausführliche Mittheilungen), an welchem der Hacken kaum
bemerkbar hervortritt und der einen scharfeu Gegensatz zu
dem Fuße des Negers bildet, bei welchem bekanntlich der Ab-
fatz nach hinten weit vortritt. —
Der Aymara ist recht eigentlich für sein Hochland ge-
schaffen; er lebt in einer dünnen Luft und feine Lungen sind
sehr stark entwickelt; sein Brustkasten ist mächtig und er leidet
nicht an der Bergkrankheit (Pnna, Soroche, Marea, Veta),
welche den Europäer und selbst den weißen Südamerikaner
oftmals so stark befällt, ihm das Athmeu äußerst erschwert
und Unwohlsein verursacht. Am behaglichsten fühlt er sich,
wie fchon gesagt, in einer Höhe von über 8000 Fuß bis zur
Schneegrenze, also unter 17 Grad südlicher Breite, 16,500
Fuß Meereshöhe. Unterhalb einer Höhe von 8000 Fuß
geht es ihm wie dem Llama uud dem Alpaca; das Klima sagt
ihm dort nicht mehr zu; in den trockenen Gegenden am Stil-
len Weltmeer uud in den heißfeuchten Aungas wird er kränk-
lich, dauert nicht aus und stirbt bald hinweg. Allerdings
gehen jetzt manche Aymaras auch freiwillig in die Thäler,
in welchen Fieberrinde gewonnen wird, und wir haben neu-
lich in unseren Berichten über Marcoy's Wanderungen mit-
getheilt, daß die Cascarilleros jener Expedition Aymaras
waren. Wir schilderten die Beschwerden eines solchen Zu-
ges und unsere Illustration deutet an, in welcher Weise man
auf den jähen Pfaden hinabklettert, um an Bergströme zu
gelangen, auf deren anderm Ufer man an nicht minder ab-
fchüfsigen Pfaden emporklimmen muß.
Der Gesichtsausdruck des Aymara ist melancholisch, drückt
aber dabei große Entschlossenheit aus. Wer ihn längere Zeit
aufmerksam beobachtet, glaubt aus dieser Physiognomie ab-
nehmen zu können, daß im Innern des Mannes ein Kampf
fei, um starke geistige Bewegungen niederzuhalten; er sieht
wie stumpfsinnig aus, was er aber gar nicht ist; manchmal
stellt er sich absichtlich dumm. Er ist immer ernsthaft, lacht
nie, lächelt auch nicht und unterscheidet sich auch dadurch
vom Quechua; er bleibt immer schweigsam, nachdenklich, ist
nicht mittheilsam, wohl aber mißtrauisch und voll Argwohn,
uud steifuackig in hohem Grade; weder Marter noch Tod
können ihm ein Geheimniß abpressen, das er bewahren will.
Was die Tracht anbelangt, so ist der Poncho ohne
Zweifel ein uraltes Kleidungsstück, das weit über die Zeit
der spanischen Eroberung hinausreicht; er kommt in Südame-
rika von Neugranada im Norden bis zu den Araukaueru im
Süden vor. Im Hochlande trägt der Aymara einen Filzhut
mit breitem Rande, und unter demselben häusig eine gestrickte
wollene Kappe, manchmal auch mehr als eine. Der Fuß
wird allen Unbilden der Witterung ausgesetzt, der Kopf da-
gegen sorgfältig verwahrt. Jene Kappe bedeckt manchmal
das ganze Gesicht und hat Oeffnuugen nur für Auge, Nase
und Mund. Auf den Leib zieht er ein grobes Hemd aus -
ungebleichter Llama- oder Schafwolle, über die Beine zieht
er Hosen von demselben Stoffe; sie reichen bis ans Knie,
und das Unterbein ist bloß bis zum Fuße, der von einer
Ojota oder Usnta, Sandale, geschützt wird; diese wird aus
der Nackenhaut der Llama verfertigt. Strümpfe kommen
nur bei Wohlhabenderen vor und reichen dann nur bis an
den Knöchel. Die Frauen gehen im Haufe barhaupt uud
lassen das in zwei Zöpfe geflochtene Haar lang herabhängen;
sie tragen ein Hemde von Wolle oder Baumwolle, vom Gür-
tel abwärts darüber einen wollenen Rock, und über die Schul-
tern werfen sie ein dickes Stück Zeug von heller Farbe:
orangegelb, blau, roth, grün, gelb; dasselbe wird vor der
6 Die Aymara-Indianer
Stirn mit der Pichi befestigt, einem silbernen Schmucke,
der die Gestalt eines Löffels hat. Dergleichen Pichis trägt
die Frau auch auf jeder Seite der Brust, und diese Löffel
sind oftmals mächtig groß; der zugespitzte Stiel dient als
Nadel oder Spange, der Lössel zum Essen. Dieser zweck-
mäßige Schmuck kommt auch bei anderen Indianern des
westlichen Südamerika vor. Bei Festlichkeiten oder beim
Ausgehen trägt die Frau, welche fast immer barfuß geht und
nicht einmal Sandalen anlegt, eine Montera, d. h. einen
eigenthümlich geformten Hut aus schwarzem oder dunkel-
blauem Stoffe, der mit rothem Zeug eingefaßt ist. Leider
reinigen weder Männer noch Frauen ihre Kleider, welche
auch Nachts nicht abgelegt werden; man zieht auch wohl neue
Hosen über die alten, welche zerlumpt sind. Ein Bett ist
unbekannt; der Aymara schläft auf einer Erdbank und hüllt
sich in einige Häute und einen recht dicken Poncho von Llama-
wolle, in einen Ccanieri.
*
* *
Das, was man im spanischen Amerika als „Christen-
thum" bezeichnet, ist bei den Indianern nicht einmal bis
unter die Haut gedrungen. Bei den Aymaras ist die Re-
ligion ein consnses Durcheinander von altem Heidenglauben
und katholischen Ceremonien. Die Kinder müssen, den spa-
nischen Geboten znfolge, getauft werden und den Namen
irgend eines Kalenderheiligen bekommen; deshalb bezeichnet
man diese Indianer als christliche Indianer, sie wissen aber
blutwenig von dem, was überhaupt christlich ist.
Die Verehrung der Sonne, welche Lnpi genannt wird
(bei den Quechuas heißt sie Iuti), war den alten Aymaras
unbekannt; die Sonnentempel aus den Inseln des Titieaca-
Sees rühren von den peruanischen Jnkas her und dursten
von den Aymaras nicht besucht werden. Ihre Idole hatten
vorzugsweise eine locale Bedeutung und repräsentirten so zu
sagen ihre Schutzheiligen; sie brachten denselben Opser dar,
namentlich Cocablätter und Chicha, was auch heute noch in
abgelegenen Gegenden geschieht. Sie glauben an einen bösen
Geist, der als Aucca, Huantahnalla oder Supay be-
zeichnet wird und der von Zeit zu Zeit versöhnt werden muß.
Derselbe hat eine Anzahl von Engeln unter sich, und einer
von diesen Teufelsengeln ist Caricari; diesen schickt
Satan aus, um Menschen zu tobten und ihnen das Fett
aus dem Leibe zu nehmen, — zu welchem Zwecke wissen
wir nicht.
Die Seele dauert in einer andern Welt fort. In frü-
Heren Zeiten gab man den Todten Lebensmittel und Kleider
mit ins Grab, und in manchen Gegenden wird dieser Brauch
jetzt noch befolgt. Unter Umständen kann eine Seele auf
die Erde zurückkehren, und dieser Wahnglaube ist Schuld an
einem barbarischen Brauche. Es kommt vor, daß Indianer
auf der Puna irgend einem Verwandten ein Seil um den
Hals werfen und ihn erwürgen; dann kann er nicht wieder
auf die Erde zurückkehren, wo er seine Angehörigen doch nur
beunruhigen würde.
Das Zeichen des Kreuzes auf den alten Aymara-
rninen von Tiahuauaco ist allemal gleichseitig und rechtwiu-
kelig und hat zu dem christlichen Symbole keinerlei Beziehung.
Seit der spanischen Eroberung sind diese Indianer gezwnn-
gen worden, das christliche Kreuz auf ihren Hütten anzu-
bringen; ein Gleiches geschieht auch auf den Gräbern. Der
Aymara schwört bei jeder Gelegenheit bei Jesus, bei der Jung-
srau Maria und beim Kreuze, legt aber auf solchen Schwur
nicht den geringsten Werth und bricht ihn unbedenklich. Um
einen Eid bindend zu machen, legt der Dorfschulze (Alcalde)
seinen Amtsstab auf die Erde, und der Indianer muß über
in Bolivia und Peru.
denselben hinwegschreiten, bevor er seine Aussagen macht.
Ein dergestalt geleisteter Eid wird selten gebrochen.
Ans der Puna von La Paz herrscht unter den braunen
„Christen" der feste Glaube, daß man am Charfreitag
ungestraft jedes Verbrechen begehen könne, den Mord allein
ausgenommen. Fordes, der sich bei einem Aymara aus
Omasuyos näher erkundigte, erhielt als Auskunft: an jenem
Tage sei Gott ja tobt, und wenn er nachher wieder lebendig
werde, könne er ja nicht wissen, was vorgefallen sei!
Beim Ausbessern katholischer Kirchen haben weiße Ar-
beiter oftmals Götzenbilder gefunden, welche von den in-
dianischen Werkleuten in die Wände oder unter dem Altar
eingemauert worden waren; sie wollten das Gebäude unter
den Schutz ihrer alten, heimischen Götter stellen und die aus-
ländischen Heiligen unwirksam machen. Die kleinen Idole,
welche man in den Gräbern sindet, scheinen Haus- und Fa-
miliengötter, Laren und Penaten, gewesen zu sein.
Der Dorfpriester steht in großem Ansehen, hauptsächlich
weil der Aymara Furcht vor ihm hat. Fordes wollte einst
schwere Maschinenstücke über das Gebirge schaffen lassen; die
Wege jedoch waren so steil und die Arbeit war dermaßen
anstrengend, daß die Indianer Alles liegen ließen, wo es
war. Der Schotte wandte sich an den Priester, der auch
half. Er hielt in der Kirche eine donnernde Predigt in der
Aymarasprache, bedrohete seine Herde mit allen möglichen
Strafen in dieser und in jener Welt, und schüchterte die
Indianer dermaßen ein, daß sie flugs aus der Kirche fort-
rannten und Alles richtig an Ort und Stelle schaffte».
Zur Zeit der Jnkaherrschast feierten diese Indianer manche
religiöse Feste, welche sie dann auch unter den Spaniern und
bis auf den heutigen Tag beibehalten haben; nur hat man
von Seiteu der Geistlichkeit denselben einen christlichen An-
strich gegeben, der aber nur als Firniß erscheint; das Wesen
ist altheidnisch geblieben. Die Priester fanden bald heraus,
daß die Aymaras sich diese Feste nicht nehmen lassen wür-
den, und daß sich bei denselben Modisicationen anbringen
ließen; sie sorgten dafür, daß dieselben recht glänzend gefeiert
würden, und der sonst ungemein karge Indianer läßt es bei
solchen Gelegenheiten nicht an Geldausgaben fehlen, von
denen ein nicht unbeträchtlicher Theil dem Priester zu Gute
kommt.
Auf den Europäer macht ein Fest der Aymaras einen
eigentümlichen Eindruck. Fordes schildert denselben. Er
war nach einem andauernden siebentägigen Ritte nach La
Paz gekommen; diese Stadt ist die volkreichste in Bolivia,
denn sie zählt etwa 70,000 Einwohner. Von diesen sind
reichlich 40,000 nnvermischte Indianer, die übrigen sind
Mischlinge, Cholos; die Zahl der reinen Weißen ist ganz
unbedeutend. Im äußern Ansehen gleicht sie einer altspa-
nischen Stadt. Der Schotte kam Abends an und versank,
ermüdet wie er war, bald in tiefen Schlaf. Aus diesem
wurde er am srühen Morgen durch eiue wahre Höllenmusik
aufgestört. Ju den Straßen zogen Schaaren von Indianern
umher; Männer und Weiber tanzten, was das Zeug halten
wollte, nach dem Getöse und Geschrill von Trommeln, Pfei-
fen, Flöten und großen Trompeten; als Musik will er die-
ses monotone Geräusch nicht bezeichnen. Alle Leute waren
in phantastischer Weise aufgeputzt; manche Männer trugen
einen Kopfschmuck, in welchem bunt gefärbte Strauß- und
Condorfedern einen Hauptbestaudtheil bildeten, und deren
manche, das Gesicht verhüllend, aus Schultern und Brust
herabfielen. Andere hatten Masken, welche Thierköpfe dar-
stellten, oder waren in Ochsenhäute derart gehüllt, daß die
Hörner an der Stirn hervorragten; noch andere trugen Pan-
zer von Tigerfellen. Die Frauen und Mädchen waren fest-
täglich so zu sagen angeschirrt und mit einer Menge dicker
Karl Andree: Erläuterungen zu eine
Blumensträuße, Apfelsinen, Citronen, Pfesferschoten und —
Zuckerkuchen behängt.
Die einzelnen Züge halten vor den verschiedenen Kirchen
an und tanzen. Jene, welche aus den umliegenden Dörfern
gekommen sind, gehen früher oder später dorthin zurück und
setzen dort ihre Orgien fort. Denn die Festlichkeit dauert
mehrere Tage und Nächte ununterbrochen an und Jeder
tanzt, so viel und so lange er kann, das heißt bis er, toll
und voll betrunken, sinnlos zu Boden fällt. Es ist geradezu
uubegreislich, daß Männer und Frauen ungezählte Stunden
hinter einander ohne irgend eine Unterbrechung tanzen und
wie Besessene umherspringen können, ohne matt zu werden.
Dabei ist ein Umstand kennzeichnend für die Race. Die
Aymaras sind offenbar fröhlich und belustigen sich in ihrer
Weise, aber dabei kommt auch nicht eine Spur vou
Lächeln auf ihr Antlitz; man bemerkt auch uicht einen
Zug, welcher auf innere Heiterkeit gedeutet werden könnte;
sie Alle behalten von Anfang bis zu Ende durchaus den ern-
sten, tief melancholischen Gesichtsausdruck, welcher bei ihnen
stereotyp ist. Der Aymara belustigt sich, ohne heiter zu sein;
er tanzt, ohne daß er darum belebter würde; er ist in der
That ein Paradoxon.
Der Schutzpatron des Dorfes ist an die Stelle des frü-
Hern Ortsgötzen getreten und hat, wie sich vou selber ver-
steht, sein Jahressest, an welchem sich Jedermann berauscht.
In La Paz feiert man in den ersten Tagen des Maimona-
tes das Fest des heiligen Kreuzes, welches in der übrigen
katholischen Welt nicht'bekannt ist; dasselbe trat an die Stelle
des Aimorary, eines hohen Festes, welches die Indianer-
schön lange vor der spanischen Eroberung feierten. Joh an-
nisfener werden nicht bloß auf den Anhöhen, fondern auch
in den Straßen von La Paz angebrannt. — Zur Fastnacht-
chinesischen Mordfächer aus Tientsin. 7
zeit geht es hoch her; am Frohuleichuamstage schlagen die
Indianer auf den Marktplätzen und vor den Kirchen Altäre
auf, deren manche drei bis vier Stockwerke hoch sind; es
kommt nicht selten vor, daß sie, weil schlecht aus Holz zu-
sammengezimmert, einstürzen und Menschen beschädigen.
Der Indianer trennt sich nur im äußersten Nothsalle
vom Oelde; nur allein die Ausgaben für solche Festlichkeiten
machen eiue Ausnahme; für Schmuck und berauschende Ge-
tränke scheuet man keine Kosten. Es giebt Beispiele, daß
reiche Aymaras mehrere hundert Dollars allein für Feuer-
werk vergeudet haben; auch Strauß- und Condorfedern wer-
den thener bezahlt; eine Tigerhaut kostet neun Piaster.
An und für sich haben die Aymaras keinen Hang zu ge-
schlechtlichen Ausschweifungen, bei den Heiligenfesten finden
jedoch dergleichen statt. Wenn ein Mann und ein Weib
gegenseitig ihren Kopfschmuck austauschen, so will das besa-
gen, sie seien in Betreff einer Liebesangelegenheit einverstan-
den. Hin und wieder kommt es zu Schlägereien, die wohl
auch blutig ablaufen, dann aber erfolgt die Dazwifchenkunft
des Pfarrers, welcher vermittelst einer derben Karbatsche aus
Tapirhaut Frieden stiftet. Durch die Spanier sind Stier-
gefechte eingeführt worden, bei welchen es jedoch nicht in
andalusischer Weise hergeht. Man läßt die Bullen auf der
Plaza, dem großen Marktplatze, los, hetzt sie durch die Stra-
ßeu und versetzt ihnen so viele Wunden, daß sie am Ende
niederfallen. In Achecache und einigen anderen Ortschaf-
ten der bolivianischen Puna hetzt man auch Vicunas, Füchse,
wilde Kaninchen und Vizcachas; die kleineren dieser Thiere
werden in Löcher gesperrt, die man leicht mit Steinen über-
deckt; die Lustbarkeit besteht darin, daß der Bulle mit den
Hörnern oder mit den Füßen dieselben bei Seite wirft und
dann die befreiten Thiere davon laufen. A.
Erläuterungen zu einem chinesi
Von Karl
Schon feit längerer Zeit herrscht in einem großen Theile
Chinas unter dem Volk eine große Aufregung; Bitterkeit
und Haß gegen die Ausländer haben sich immer mehr ge-
steigert; die Symptome treten in bedenklicher Weise überall
im großen Blumenreiche der Mitte hervor, von den Grenzen
der Mandschurei im Norden bis Canton im Süden, von
Schanghai im Osten bis zu den Hochgebirgen, welche sich
als Scheidewand zwischen China und Tibet erheben.
Bekanntlich ist in China jeder Europäer als „westlicher
Barbar" ein Gast, den man nur ungern im Lande sieht.
Das erklärt sich leicht. Es waren die Ausländer, welche
Häfen des Kaiserreichs in Brand schössen, um demselben
das Opium aufzuzwingen, jenes verderbliche Reizmittel, von
welchem die Engländer durchschnittlich in jedem Jahre für
65,000,000 Thaler einführen. Die europäische Kriegskunst
war jener der Chinesen überlegen und diese fühlten sich durch
ihre Niederlagen gedemüthigt. Gleichviel, ob wir sie, von
unserm abendländischen Standpunkte ans, als ein stolzes
oder dünkelhaftes Volk bezeichnen, — ihr Selbstgefühl ward
auch gekränkt durch die Handelsverträge, welche man ihnen
auferlegte und die zu unaufhörlichen Weiterungen Veranlas-
snng bis auf den heutigen Tag geben. Sie sind ingrimmig
chen Mordfächer aus Tientsin.
Andree.
darüber, daß Franzosen und Engländer den Sommerpalast
des Kaisers bei Peking in wirklich barbarischer Weise erst
rein ausplünderten und dann einäscherten.
Der Hochmuth, mit welchem man ihnen häufig begegnet,
und die Art und Weise, in welcher man die fremde Civili-
sation, als eine höhere und vorzugsweise berechtigte, auch in
China geltend machen will, muß nothwendig kränkend sein
für eine Nation, die ihre Angehörigen nach einigen Hundert
Millionen zählt. JhreCivilisation hat eine ununterbrochene
Continnität von Jahrtausenden, ist aus der ethnischen An-
läge des ostasiatischen Volkes urwüchsig hervorgegangen und
entspricht seinen innersten Anschauungen und Bedürfnissen.
Ein Gleiches gilt auch sowohl von den religiösen Ansichten
und Überzeugungen, wie von den gesellschaftlichen Einrich-
tnngen. Und Alles in Allem genommen, kann man es den
Chinesen nicht verargen, daß sie zäh an dem halten, was sie
aus ihrem Geist und Naturell für sich aus sich selber her-
ausgearbeitet haben. Ihre Auffassungen sind eigenartig und
haben ihre Berechtigung: was die Fremden ihnen auszwin-
gen wollen, stört und verdrießt sie. Wie sie die Dinge sich
zurecht legeu, das geht aus der Denkschrift eines hohen Man-
darinen hervor, welche wir in der nächsten Nummer mitthei-
Karl Andree: Erläuterungen zu einem chinesischen Mordfächer aus Tientsin.
9
len. Wir Europäer sind im Allgemeinen daran gewöhnt,
die Dinge vorzugsweise von unserm sogenannten christlich-
europäischen Standpunkte aus zu benrtheilen, der doch ossen-
bar ein einseitiger und schon deshalb sehr häufig ein falscher
ist. Wir vergessen das Audiatur et altera pars nur allzu
oft, und erfahren insgemein nur, was die Diplomaten, Kauf-
leute und Missionäre sagen.
Mit den Kaufleuten haben die Chinesen seit langer Zeit
keine Irrungen gehabt; sie lassen sich dieselben gefallen; Han-
del und Wandel befördern eine friedliche Annäherung. Desto
mehr Aergerniß haben die Missionäre gegeben, und alle Con-
flicte, welche zwischen den Eingeborenen des Mittelreiches
und den Fremden während der letzten Jahre stattfanden,
lassen sich auf das, mild gesagt, wenig verständige Benehmen
der Missionäre, gleichviel ob der katholischen oder der prote-
stantischen, zurückführen.
Da kommt, um ein Beispiel anzuführen, vor zwei Jahren
ein Mann aus England in eine Stadt am tse kiang
und miethet einem Chinesen ein Haus ab. Nachdem er be-
hauptet hat, daß er die alleinige Wahrheit verkündige, Predigt
er auf Straßen und Plätzen, daß die chinesischen Gelehrten
allesammt Jrrlehrer seien; die Religion, welche sie lehren,
sei verdammungswürdiges Teufelswerk; seder, der vor den
Gedenktafeln der Vorfahren Opfer bringe und Räucherstäb-
cheu verbrenne, sei ein „Kind Belial's". Die geduldigen
Chinesen hören diesen Mann eine Zeitlang ruhig au; als
er dann sein Wesen mit gesteigerter Heftigkeit treibt und
alle Gefühle, welche den Leuten heilig sind, durch fortgesetzte
Schmähungen verwundet, ersuchen ihn die Behörden höflich,
seine Angriffe einzustellen, denn im Volke herrsche wegen
derselben große Aufregung. Der Mann Gottes in Aang
tscheu wird aber dann erst recht obstinat, er stellt sein Treiben
nicht ein und nun verlieren die Chinesen ihre Geduld. Sein
Hauswirth kündigt ihm die Wohnung und die Menge jagt
den unwillkommeuen Fremdling fort. Dieser aber wendet
sich als Schwergekränkter an den Consul in Schanghai, die-
ser läßt ein britisches Kanonenboot stroman fahren, drohet
die Stadt in Brand schießen zn lafsen, die Gesandtschaft
dringt auf Genugthuuug bei der Regierung in Peking und
treibt die Sache so weit, daß der Obermandarin der Stadt
seines Amtes entsetzt wird und daß der Missionär eine Geld-
entschädiguug erhält. Am schmerzlichsten war für die Chi-
nefen, daß eine eherne Tafel auf dem Marktplatze eingemauert
wurde, welche dem Missionär Genugthuuug gab. Wir haben
seiner Zeit diese Angelegenheit ausführlich im „Globus" er-
örtert und erinnern hier an dieselbe, um anzudeuten, wie
rücksichtslos man gegen die Chinesen verfährt. Die Sache
war übrigens der Londoner Regieruug unangenehm; sie ver-
öffentlichte einen Erlaß, dem zufolge künftig kein Missionär
und kein Consul das Recht haben soll, Kriegsschiffe zu ver-
wenden; beide müssen ihre Anliegen bei der Gesandtschaft in
Ecking anbringen. Die fromme Presse in London wollte
daraus abnehmen, daß man „die Verkündiger der Wahrheit
den bllmen Heiden preisgebe!" Sehr begreiflich, denn den
Missionaren war anempfohlen worden, künftig mit weniger
Rücksichtslosigkeit auszutreten.
In Folge der Verträge, welche man der chinesischen Re-
gierung aufgedrungen hat, genießen die Mifsionäre eine große
Freiheit. Sie können Kirchen bauen, Schulen anlegen, Klö-
ster errichten, auf offener Straße predigen und Profelyten
machen, ohne daß die kaiserlichen Behörden ihnen dabei ein
Hinderniß in den Weg legen dürfen. Der großen Menge
des Volkes sind sie verhaßt, und ihre gefährlichsten Feinde
haben sie an den „Gelehrten", jener wissenschaftlich gebilde-
ten, sehr zahlreichen Classe, welche ein Anrecht auf die Be-
amtenstellen hat. Gerade diese sind unklugerweise zu Ziel-
Globus XIX. Nr. 1. (Januar 1871.)
scheiden der Missionärpolemik auserkoren worden, und daß
diese „Söhne Belial's" sich der aufdringlichen Apostel einer
fremden Lehre zu entledigen suchen und dieselben nicht schonen,
ist begreiflich genug. Das Volk theilt, wie bemerkt, ihren
Widerwillen, und es bedurfte nur eines Winkes von Seiten
der Gelehrten, um Auftritte hervorzurufen, wie jene zu Tien-
tsin am 21. Juni 1870.
Diese Vorgänge siud durchaus charakteristisch für die
Dinge in China, uud deshalb gehen wir näher auf dieselben
ein.
In der Nordprovinz Pe tschi li liegt am Strome Pei ho,
etwa sechs deutsche Meilen oberhalb der Mündung desselben,
die wichtige Stadt Tientsin. Sie ist Hafenplatz für die
Reichshauptstadt Pekiug und hat eine vortreffliche Handels-
läge, weil die Erzeugnisse der beiden inneren Nordprovinzen
Schan si und Schen si dorthin auf deu Markt gebracht wer-
den. Aus der sibirischen Stadt Kiachta an der Grenze der
Mongolei kommen Karawanen nach diesem Tientsin, wo sich '
auch russische Kaufleute angesiedelt haben; diese treiben
directen Landhandel nachJrkutsk. Die Franzosen, welche
wegen ihres Hochsahrenden Wesens in China längst sehr uu-
beliebt sind, hatten dort ein Consnlat, eine katholische Kirche
uud ein Kloster der barmherzigen Schwestern; die Englän-
der und Nordamerikaner haben auch Missionen dort.
Am 21. Juni machte sich die Erbitterung gegen die srem-
den Eindringlinge in Tientsin Luft und das Volk verübte
blutige Barbareien. Die von zwei Mandarinen aufgestachelte
Menge ermordete fechszehu Franzosen, darunter den
wegen seines anmaßenden Benehmens höchst unbeliebten Consul,
neun barmherzige Schwestern und, aus Mißverstäud-
uiß, auch drei Russen, welche man für Franzosen hielt. So-
dann wurden das Consulatsgebäude und die katholische Kirche
in Brand gesteckt, auch das Kloster der barmherzigen Schwe-
stern wurde ein Raub der Flammen; die protestantischen
Capellen ließ man stehen, plünderte sie aber aus.
Dann wandte sich die Volkswuth gegen die Unglücklichen,
welche sich von den Katholiken hatten bekehren lassen. Mehr
als vierzig solcher Convertiten wurden erbarmungslos nie-
dergemetzelt. So grimmig wie in Tientsin hat jene Wuth
sich nie zuvor geäußert; bisher hatten die Chinesen sich da-
mit begnügt, Missionäre, welche ihre Religion uud ihre Ge-
fühle verletzt hatten, auszutreiben, aber das Leben derselben
ließen sie unangetastet. Eben deshalb erregte die Nachricht
von dem Blutbad in Tientsin überall unter den Euro-
päern große Besorgniß, denn in den für den Verkehr eröff-
neten Handelsplätzen und an vielen anderen Punkten haben
sich Missionäre festgesetzt und eine, wenn auch überall nur
geringe, Anzahl Chinesen bekehrt.
Die Aufregung war weit und breit stark genug; sie stei-
gerte sich noch, als ein bildlicher Aufruf durch das Land
ging, welcher eine für die Chinesen sehr verständliche Auf-
forderuug enthielt, das Tientsiner Blutbad auch anderwärts
zu wiederholen. Der Fächer spielt bekanntlich im Leben
der Chinesen eine wichtige Rolle; Jedermann trägt einen
solchen, er kommt in Aller Hände, und wer nun einen jener
Mord fächer öffnete, welche in alle Provinzen verschickt wor-
den sind, kannte die Bedeutung.
Wir geben die Abbildung eines solchen Mordfächers, den
wir wohl im eigentlichen Sinne des Wortes als einen Brand-
brief bezeichnen können; er ist ein echt chinesisches Product.
Nach Europa ist das Original durch den englischen Com-
mandenr A. C. May gekommen. Gleich nach dem Blut-
bade vom 21. Juni wurdeu solche Fächer in ungeheurer
Menge angefertigt und in alle Provinzen versandt. Die
Consnlate in Tientsin machten dem dortigen Gouverneur
Tschenghan (über welchen wir weiterhin mehr zu sagen haben)
10 Karl Andree: Erläuterungen zu ein!
Vorstellungen wegen der Verbreitung eines so gefährlichen
Bildes, und derselbe veröffentlichte auch ein Verbot, doch
waren inzwischen ungezählte Tausende solcher Fächer in die
Welt gegangen. Das Bild stellt die Einäscherung der katho-
lischen Kirche und des Consulates, sodann die Ermordung
der Ausländer dar. An der linken Seite fordert ein Man-
darin das Volk zu blutiger Rache auf; daneben wird die
Ermordung des französischen Consuls anschaulich gemacht.
Die Asiaten haben ihre eigenthümliche Art, einander auf
wichtige Begebenheiten vorzubereiten. Dieser Fächer erin-
nert unwillkürlich an die Tfchepattis, jene „heiligen Ku-
chen", welche vor dem Ausbruche der großen Sipahi-Meu-
terei in Indien auf geheimuißvolle Weise unter dem Volke
vertheilt wurden.
Was aber, so wird man fragen, war die besondere Ver-
anlassung, durch welche das Blutbad in Tientfin hervorgeru-
fen wurde? Erwägen wir den Inhalt der verschiedenen
uns vorliegenden Berichte, so scheint es, als ob Folgendes
das Nichtige sei.
Die „Gelehrten" sind, wie schon gesagt, die erbitterten
Feinde der Fremden und insbesondere, aus den weiter oben
angeführten Gründen, der Missionäre. Sie beobachten
das Thun und Treiben derselben genan, und in Tientsin ver-
breiteten sie die Kunde, daß aus dem Hospital, welches die
barmherzigen Schwestern dort unter ihrer Aussicht haben,
seit längerer Zeit Tag für Tag nicht weniger als zwanzig
Leichen fortgeschafft worden seien. Thatsache ist, daß die
barmherzigen Schwestern viele Chinesenkinder, auch solche,
die krank waren und bald dem Tode verfallen mußten, auf-
gekauft haben, um sie zu taufen und dadurch, wie sie wähn-
ten, die Seelen dieser bis dahin heidnischen Geschöpfe vor
ewiger Verdammniß zu bewahren. Unter den Kindern im
Spital war eine ansteckende Krankheit ausgebrochen und in
Folge derselben die Sterblichkeit sehr groß.
Die Nonnen meinten es in ihrer Weise gewiß recht gut,
es war aber im hohen Grade unklug, daß sie überhaupt Kin-
der in Menge ankauften und auch dann noch damit nicht
einhielten, als fchou das Volk unruhig war. Gerüchte, die
sicherlich von den Gelehrten erfunden und verbreitet wurden,
wollten von grauenhaften Bosheiten wissen. Die Nonnen,
so hieß es, lassen auch Kinder stehlen und reißen ihnen Her-
zen und Augen aus, um dieselben zu essen oder daraus Zau-
bertränke zu bereiten. Auch in Pekiug sei es bei den Aus-
läudern allgemeiner Brauch, Kinder lebendig in den Koch-
kessel zn werfen, das Fleisch von den Knochen abzukratzen,
dasselbe mit Mehl zu mischen nnd dann zu verzehren. Es
wurde eine Frau namhaft gemacht, welche man als Köchin
habe verwenden wollen, als sie aber den Greuel sah, lief sie
fort und erzählte, was sie gesehen habe.
Dergleichen haarsträubende Gerüchte waren in Tientsin
seit Wochen im Umlauf und täglich las man an den Mauern
Anschläge aufreizenden Inhalts. Einzelne Ausländer, welche
sich in die innere Stadt wagten, wurden vom Pöbel ver-
höhnt, nnd Alles deutete darauf hin, daß die Stimmung
eine höchst bedenkliche geworden war. Ganz offen wurden
Drohungen gegen die übermüthigen Franzosen und gegen
Tien tschu kiau, d. h. gegen die römische Religion, aus-
gestoßen, aber die anderen Fremden wurden gleichfalls ge-
fchmäht. Die Mandarinen thaten nichts, um die leichtgläu-
bige Menge aufzuklären; einer derselben erließ zwar eine
Proclamation, die aber aus Schrauben gestellt war und die
Gerüchte nicht als falsch und erfunden bezeichnete, wohl aber
das Verfahren der barmherzigen Schwestern als ein „ver-
abscheuenswerthes" hinstellte.
Am Morgen des 21. Juni erzählte eine chinesische Die-
nerin der Frau eines protestantischen Missionärs, daß Nach-
chinesischen Mordfücher aus Tientsin.
mittags um 2 Uhr Kirche, Cousulat und Kloster in Brand
gesteckt werden sollten. Das geschah auf den Punkt; in den
Straßen wurden Gongs (Metallbecken) geschlagen und die
Menge setzte sich in Bewegung. Sie begegneten dem Consul,
der eben beim Obermandarin Tscheng Heu zum Besuch gewesen
war, nm Schutz zu verlangen, und hieben oder stachen ihn
nieder. Unter der Menge befanden sich auch manche Soldaten,
die mit ausländischen Schießgewehren bewaffnet waren. Diese
drangen in das Consnlat, wohin die barmherzigen Schwestern
sich geflüchtet hatten, ermordeten so viele sie deren habhaft
werden konnten, verstümmelten die Leiber in abscheulicher Weise
und warfen sie in die Flammen. Drei Russen, welche in einem
neben dem Cmrsnlate liegenden Gebäude wohuten, suchten zu
entkommen; auch sie wurden ermordet und in den Fluß ge-
worfen. Dann kam die Reihe an die chinesischen Conver-
titen; gleichzeitig wurden die protestantischen Capellen in An-
griff genommen und einige protestantische Convertiten nach
dem Tjameu, d. h. dem Regierungspalaste, geschleppt. Als
man dort ermittelte, daß sie nicht zur Tieu tschu kiau gehör-
ten, sondern zum Hesu kiau, d. h. zur protestantischen Re-
ligion, ließ man sie laufen.
Man begreift, daß die Kunde von diesen abscheulichen
Vorgängen und in Anbetracht der äußerst gereizten Stim-
mnng unter den Ausländen: Schrecken verbreitete, und um
so mehr, da man zu wissen glaubte, daß die Mandarinen
ihre Hand im Spiele gehabt hätten. Gewiß ist, daß sie
nichts gethan haben, um das Volk aufzuklären und die Mord-
fcenen zu verhindern. Darüber herrscht indessen kein Zweifel,
daß das ganze Auftreten und Gebühren der barmherzigen
Schwestern, mild ausgedrückt, im höchsten Grade unbesonnen
war. Es ist Thatsache, daß aus ihrem Hospitale viele Särge
mit Kinderleichen fortgeschafft worden sind; daß sie sich ge-
weigert haben, den Mandarinen, welche den Zustand ihrer
Schule und der in derselben befindlichen Kinder untersuchen
wollten, um dem Volke darüber Rechenschaft zu geben, den
Einlaß zu gewähren nnd sie an der Thür zurückwiesen. Ein
notorischer Kinderdieb, Waug Sang, welcher Kinderhandel
mit den Nonnen trieb, fand Schutz beim Conful,zder barsch
erklärte, daß er ein Verhör dieses Mannes von Seiten der
Behörde nicht gestatten werde.
Dergleichen muß böses Blut machen. Es kam aber noch
Folgendes hinzu. Die Nonnen kauften eine Menge Kinder,
von denen sie wußten, daß sie ihren Eltern gestohlen waren.
Nun ist in China die Pietät in der Familie hauptsächlich das
Band, welches vorzugsweise den Staat zusammenhält, es ist
ein conservatives Element im besten Sinue des Wortes. Einer
der größten Moralphilosophen, welche die Welt gesehen,
Consucius, hat sechshundert Jahre vor Christus hauptsäch-
lich den Satz eingeschärft: „Ehre Vater und Mutter."
Der Kaiser gilt sür den Vater des Volkes, welches dem-
gemäß als eine einzige große Familie betrachtet wird. Aus
jenem Grundsatze ergiebt sich von selbst ein Cnltus der Vor-
fahren, und dieser wird angetastet nnd verletzt, sobald man
das Kind der Familie entzieht. Jedenfalls hätten die Ron-
nen sich darüber vergewissern sollen, ob die ihnen zum Ver-
kauf angestellten Kinder mit Vorwissen ihrer Eltern verhan-
delt wurden; das aber, fo wird behauptet, haben sie niemals
gethan; sie wollten so viele „Heidenkinder" taufen, wie sie
nur bekommen konnten.
China hat seit alten Zeiten Findelhäuser. Das in
Schanghai heißt „die Halle zur Ernährung von Kindern"
und ist vortrefflich eingerichtet. Ein Ehepaar, welches aus
dieser Anstalt ein Kind zuhaben und aufzuziehen wünscht, er-
hält ein solches, nachdem es derselben Bürgschaft für gute
Behandlung gegeben hat. Die Anffeher kommen alle Monat
zweimal in die Anstalt, verrichten eine Andacht und beanf-
I. Mestorf: Die altgrönländische Religion und
sichtigen das Ganze; sie sehen nach dein Rechten. DieNon- >
nen dagegen wollten sich keinerlei Untersuchung oder Ansticht
gefallen lassen. In Schanghai wird kein Kind, das noch
Vater oder Mutter hat, in die Anstalt aufgenommen, und
mit Kinderdieben lassen die chinesischen Aufseher sich nicht ein.
Noch ein anderer Umstand hat dazu beigetragen, die
Franzosen, die katholischen Missionäre und Nonnen verhaßt
zu machen. Die französischen Missionäre wurden 1724 aus
dem Reiche vertrieben nnd verloren selbstverständlich damit
auch das, was sie an Grund und Boden besessen hatten.
Nun hat sich durch den Vertrag von Nanking die kaiserliche
Negierung gezwungen gesehen, unterm 20. Februar 1846
ein Decret zu erlassen, welches die Rückgabe desselben an die
Katholiken verfügt. Dasselbe besagt: „Sämmtliche Häuser
in allen Provinzen, welche zur Zeit des Kaisers Kaug si
gebaut wurden und sich bis ans den heutigen Tag noch er-
halten haben, und welche nach einer von den Behörden an-
gestellten Prüfung den Katholiken wirklich gehörten, sollen
den Bekennern dieser Religion zurückgegeben werden, nur
mit Ausnahme solcher Kirchen, welche seitdem in Tempel
oder in Wohnungen für das Volk umgewandelt worden sind."
Die Gesandten und Consuln Frankreichs haben dann diese
Angelegenheit zu der ihrigen gemacht und die Erbauung neuer
Kirchen und Capellen begünstigt. —
Das Blutbad in Tientsin und die böse Stimmung im
Volke, durch welche, wie gesagt, alle Fremden sich bedroht sahen,
waren Veranlassung, daß die verschiedenen Gesandtschaften
in Peking gemeinschaftlich handelten, um der kaiserlichen Re-
gierung nachdrückliche Vorstellungen zu machen, Schutz gegen
Wiederholung solcher Austritte zu fordern und die Bestrafung
der Schuldigen zu verlangen. Die Regierung versprach Ge-
nugthuung, Bestrafung und Geldentschädigung, uud der Kai-
ser tadelte in einem Erlasse den „Tumult"; er erwarte, daß
die Tientsiner Mandarinen, insbesondere auch der Oberman-
darin Tscheng Heu, vor Gericht gestellt werden sollen und
daß Tseng kwo sau, Gouverneur der Provinz Petschili, die
Untersuchung zu führen habe. „Wenn aber," so schärst er
ein, „übelgesinnte Personen sich unter solchen verstecken, welche
die ausläudische Religion bekennen, und insgeheim Dinge
treiben, welche gegen das Gesetz verstoßen, dann müssen sie
aufgespürt und, nachdem sie überführt worden sind, auf das
Strengste bestraft werden."
Wir gehen aus die langwierigen Verhandlungen zwischen
den fremden Gesandten uud dem kaiserlichen Hofe nicht wei-
die religiösen Begriffe der heutigen Grönländer. 11
ter ein und bemerken nur, daß der letztere den eben genann-
ten Mandarin Tscheng heu nach Frankreich geschickt hat,
um dort das Bedanern der Regierung über die Vorgänge
in Tientsin auszusprechen. Dieser Mann war von Seiten
der Europäer beschuldigt, die Unruhen angestiftet zu haben,
aber das kaiserliche Decret, welches die Bestrafung der Schul-
digen anordnet, erwähnt seiner gar nicht. Dagegen wurden
zwei andere Mandarinen nach der Mandschurei verbannt.
Durch und durch charakteristisch ist die Hinrichtung
der Verbrecher, welche am 17.September 1370 in Tien-
tsin stattfand. Sie war auf halb sechs Uhr in der Frühe
anberaumt worden, weil man den Andrang des Volkes ver-
meiden wollte. Trotzdem fand sich eine zahllose Menschen-
menge an. Die Delinquenten wurden von ihren Freunden
und Verwandten aus dem Aamen bis zur Richtstätte geleitet
und vom Volke unter Wehklagen als Schlachtopfer der frem-
den Barbaren hochgepriesen. Sie selber fluchten gegen die
Mandarinen, von welchen sie verrathen und verkauft worden
seien. Sie trugen nicht den Anzng der Clafse, zu welcher
sie gehörten, sondern stattliche seidene Festgewänder
und Mandarinenhüte; man feierte sie als Patrioten, und
während der Henker ihnen die Köpfe abschlug, erhob die ver-
sammelte Menge lautes Iammergeheul.
Was dann weiter folgte, ist gleichfalls echt chinesisch.
JedemHingerichteten wurde der abgeschlagene Kopf
wieder fest an den Rumpf genäht. Alle Leichen wur-
den in der Wohnung ihrer eigenen Familie mit den besten
Prachtgewändern bekleidet und feierlich in Parade ausgestellt.
Das Volk verlangte, daß zu Ehren dieser Opfer ausläudi-
scher Barbarenteufel ein Tempel gebaut werden solle. Von
Seiten der Mandarinen wurden der Familie jedes Hingerich-
teten 500 Taels, d. h. mehr als 1000 Thaler Gold aus-
gezahlt uud von Amtwegen erklärt, daß durch die Hiurich-
tnng keine Schmach ans die Angehörigen falle. Einem
chinesischen Gesetze zufolge müssen die Köpfe enthaupteter
Verbrecher zur allgemeinen Warnung öffentlich ausgestellt
werden uud die Leiber sollen auf der für Hingerichtete be-
stimmten Leichenstätte eingescharrt werden. Von alle dem
geschah in dem vorliegenden Falle nichts.
Das Volk in Tientsin war so erbittert über das Urtheil,
daß kein Eingeborener der Stadt sich zum Abschlagen der
Köpfe hergeben wollte; man mußte dazu Leute aus der Pro-
viuz Hönau nehmen, und auch diese verrichteten das Henker-
amt nur widerwillig.
Die altgrönländische Religion und die religiösen Begriffe der
heutigen Grönländer.
Von I. Mestorf.
An literarischem Material zu einer grönländischen Cnl-
turgeschichte ist kein Mangel, und es sind anch bereits mehrere
glückliche Versuche zu einer Verarbeitung desselben gemacht
worden. Deutlicher aber als die trefflichsten Schriftwerke,
zeigt uns die grönländische Abtheilung des ethnographischen
Museums in Kopenhagen, wie die Bevölkerung dieses zweimal
in den Bereich europäischer Cultur gezogenen Landes doch im
Grunde noch heutigen Tages im reinen Eskimozustande verharrt,
I.
und es ist kein Zweifel, daß, wenn jetzt sämmtliche Europäer
das Land verließen oder, wie es früher geschehen, aller Ver-
kehr mit der civilisirten Welt vollständig aufhörte, nach Verlauf
von etwa 100 Jahren, nachdem die jetzt lebende Generation
ausgestorben, die Wohnungen der Colonisten verfallen, auch
die Erinnerung an den zweiten, mehrhundertjährigen Anfent-
halt der Europäer mythische Färbung annehmen würde. Wir
können uud wollen den Grönländern mit dieser Behauptung
12 I. Mestorf: Die altgrönländische Religion und
nicht alle Bildungsfähigkeit absprechen. Sie gründet sich
lediglich auf die bisherige Erfahrung, daß das Pfropfreis
einer ihnen zugeführten fremden Bildung nicht auf eskimoi-
fchem Stamme zu grünen vermochte. Eine wenngleich lang-
sam fortschreitende Cnltureutwickeluug von innen heraus giebt
sich dahingegen kund in den Producten ihres Kuustsleißes und
in ihren Sitten- und Religionsgesetzen, welche all ihrem Den-
ken und Handeln eine streng zu beachtende Richtschnur zogen.
Nunmehr sind die Grönländer zwar alle Christen. Sie
lassen ihre Kinder taufen, ihre Ehen kirchlich einsegnen, be-
suchen fleißig den Gottesdienst und schicken ihre Kinder in
die Missionsschule (d. h. die an den Handelsplätzen wohnen-
den); aber trotzdem ist ihr Christenthum ein äußerliches ge-
blieben. Und wie könnte es anders sein! Wie könnte man
z. B. Verständniß der morgenländischen Verhältnissen ange-
paßten Lebensregeln und Erzählungen erwarten von einem
Volke, welches nie über die Grenzen seiner hochnordischen
Jagdgebiete hinausgekommen ist; dessen Sprache es an Aus-
drücken fehlt für Gegenstände und Begriffe, die ihm fremd
waren und zum Theil auch fremd bleiben werden! Schon
die Uebertraguug der Bibel ins Grönländische mußte aus
sprachlichen Gründen eine mangelhafte bleiben. Es ist ein-
leuchtend, daß die ersten Europäer, welche gleichsam aus der
See vor ihren staunenden Blicken auftauchten, in Fahrzeugen,
wie sie solche nie zuvor gesehen, ausgerüstet mit einer Menge
von Dingen, deren Nutzen und Anwendung sie nicht einmal
kannten, den Grönländern als Wesen höherer Art erscheinen
mußten, und diese Anschauung hat sich bis in die Gegenwart
erhalten. Sie erkennen die tteberlegenheit der Fremden an,
erbitten und erhalten von ihnen häufig Rath und Hülfe, und
glauben aus innerster Ueberzeuguug an die Macht und Größe
einer Gottheit, vor der so kluge, weise Männer sich in De-
mnth beugen. Allein die Leute sehen andererseits auch sehr
wohl ein, daß es den Europäern trotz des Schutzes ihres
mächtigen Gottes, trotz all ihrer Weisheit und Geschicklich-
keit nimmer gelingen würde, in dem öden Lande dauernd ihr
Leben zn fristen ohne die Hülfe der Eingeborenen. Niemals
sahen sie einen Europäer sich im leichten Kajak auf die stür-
mische See hinauswagen und mit den einfachen grönländi-
fchen Waffen einen Eisbären oder Seehnnd angreifen, und
sie folgerten daraus, daß die Gefahren des grönländischen
Jagdlebens nur mit dem Beistande der alten Landesgötter
zu überwinden seien, die keine fremde Einmischungen in ihre
Rechte duldeten. Noch jetzt besteigt kein Grönländer jemals
den Kajak, ohne die Götter seiner Väter um ihren Schutz
anzurufen. Dieses Gemisch von kindlicher Abhängigkeit und
männlicher Selbstständigkeit spiegelt sich auch in seinen Reli-
gionsbegrissen wieder, hat das grönländische Christenthum
mit einer Menge altcskimoischer Elemente durchsetzt und eine
Mischreligion geschaffen, die zu durchschauen selbst für den
in Grönland lebenden gebildeten Europäer sehr schwer hält.
Es ist über die altgrönländische Religion viel geschrieben
worden; allein selbst bei der ausführlichsten, trefflichsten Dar-
stelluug bleibt mancher Punkt dunkel, und es beschleicht uns
der Argwohn, daß es dem Autor nicht besser ergangen sei,
vielleicht zufolge einer verkehrten oder mangelhaften Ausfas-
suug, die schon durch die sprachliche Schwierigkeit im persön-
lichen Verkehr mit dem Grönländer entschuldigt ist. Befrie-
digt hat uns zuerst eine unlängst über diesen Gegenstand
veröffentlichte Abhandlung von Dr. Rink. Der Name des
Verfassers bürgt für die Zuverlässigkeit seiner Mittheilungen.
Dr. Rink lebt seit Jahren in Grönland als Jnspector des
Südlandes und ist der gründlichste Kenner grönländischer
Zustände. Wir verdanken ihm außer einigen Schriften über
die dortigen Handelsverhältnisse eine schätzbare Sammlung
eskimoischer Sagen und Märchen, die sämmtlich nach münd-
die religiösen Begriffe der heutigen Grönländer.
lichen Erzählungen der Eingeborenen niedergeschrieben sind.
Seit der Herausgabe dieses Buches hat das Material des
fleißigen Sammlers sich um das Doppelte vermehrt, und
diesem Sichvertiefen in den Geist der grönländischen Tra-
dition verdankt der Autor erstens die Erkenntniß, daß zum
Verständniß derselben eine gründliche Bekanntschaft mit dem
heidnischen Glauben der Grönländer erforderlich sei und daß
dieser sich in den mythischen Überlieferungen am reinsten
offenbare, und zweitens eine Kenntniß der alt- und neugrön-
ländischen Gott- und Weltanschauung, wie sie unseres Wis-
sens keiner vor ihm besessen hat. Wir hoffen uns deshalb
nicht zu irren in der Voraussetzung, daß die Leser des „Glo-
bus" uns unter Dr. Rink's Führung gern begleiten werden
auf einer Wanderung durch die mythischen Labyrinthe eines
Eskimostammes, dessen Phantasiegebilde freilich neben den
idealen Schöpfungen südlicher Völker grotesk und ungeheuer-
lich erscheinen, aber dessenungeachtet nicht ohne Poesie sind
und nicht selten durch ihre wahrhast humane und moralische
Tendenz überraschen.
Die grönländischen Sagen zerfallen in zwei Classen:
a) in solche, welche allen Eskimostämmen gemeinschaftlich
find; diefe sind die ältesten, und ihre Zahl ist gering; b) in
solche, welche bestimmten Orten oder Geschlechtern anhaften.
Ihrer giebt es unzählige, und obgleich die ältesten kaum über
zweihundert Jahre in die Vergangenheit zurückgreifen, ver-
lieren sie sich doch in mythischen Nebel; ja selbst die neuesten
Tagesereignisse werden von dem erzählenden Grönländer ins
Gebiet der Wunder gezogen und seiner Auffassung gemäß
so fabelhaft dargestellt, daß Leute, welche dabei betheiligt ge-
wesen, ihre eigenen Erlebnisse nicht wieder erkennen. — Der
Eskimo kann sich so wenig in die Gedankenwelt des Euro-
päers hineinleben, wie dieser in den Jdeenkreis des Eskimo
einzudringen vermag. Die Kluft zwischen beiden ist unaus-
füllbar. Der Europäer bleibt trotz jahrelangen Aufenthaltes
ein Fremder im Lande, und der Grönländer ist unzugänglich
für alle Eindrücke, die der ihn umgebenden Wirklichkeit fern
liegen; deshalb sind auch seine Geschichten von rein localer
Färbung. Und so wenig wie der Europäer dem grönlän-
dischen Sagenerzähler zuhört (weil er ihn nicht versteht), so
wenig Lust bezeigt der Grönländer, den Erzählungen der
Europäer zu laufchen; selbst die Reiseerlebnisse in Kopen-
Hägen erzogener Landsleute iuteressiren ihn nicht, weil die
Schilderungen europäischen Treibens über seine Begriffssphäre
hinausliegen.
Die Welt, die in derselben befindlichen lebenden
und leblosen Dinge und die über sie waltenden
göttlichen Mächte.
Die Erde ruht auf starken Pfeilern. Der hohle Raum
unterhalb ist die Unterwelt, der Aufenthalt der Seelen. Ueber
das Meer hinaus, zwischen Felsenklüften ist der Eingang.
Nach einer fünftägigen Reife auf abfchüfsigen Wegen erreicht
man den Ort, wo das ganze Jahr behagliche Wärme und
Ueberfluß an Speise herrschen. Die höchsten Berge der Erde
bilden dieStützen des Himmels. Auch dieser ist ein See-
leulaud, wo Berge, Thäler und Gewässer drinnen sind. Aber
kalt ist es dort: frierend und hungernd stehen die Seelen an
den gefrorenen Gewässern. Vergnügen sie sich im Ballspiel
mit Walroßköpfen, so sieht man auf Erden ein Nordlicht.
Unbehagen und Mangel wohnen im Himmel, doch ist er kein
Ort der Qualen, kein Strafort. Der Weg dahin führt über
die See und an den Wolken hinauf.
Wenn die Stützen der Erde morsch werden und brechen,
müssen Erde und Himmel vergehen. Es giebt einige hoch-
begabte Menschen, welche sehen können, in welchem Zustande
sie sind.
I. Mestorf: Die altgrönländische Religion und
Ueber die Erschaffung der Welt und den Schöpfer aller
Dinge schweigt die grönländische Tradition. Sie weiß nur,
daß die Menschen und einige Thiere aus der Erde oder an-
deren schon vorhandenen Dingen hervorgegangen sind. Die
Erde war von Anbeginn beherrscht von wohl- und übel-
gesinnten Geistern, den Jnue.
Alle Dinge der sichtbaren Welt sind nämlich Eigenthum
eines ihnen innewohnenden Geistes (Jnua), welcher sich als
schützende oder schädigende Macht kuudgiebt. Gewisse Land-
striche, Wohnplätze, Werkzeuge!c. haben ihren Jnua; ja
man spricht sogar von dem Jnua der Eßlust, der Schlaflosig-
keit, des Tiefsinnes nnd anderer Seelen- oder Körperzustände.
Jnua des menschlichen Körpers ist die Seele. Sie ist theilbar,
denn obgleich sie gleich nach dem Tode auf- oder abwärts
fährt, haftet doch der Jnua an dem Leichnam uud selbst an den
Grabgaben, so lange noch Reste von denselben erhalten sind.
Alle lebendigen Geschöpfe haben eine Seele, die mit dem
Athem in Verbindung steht. Sie kann zeitweilig den Kör-
per verlassen und nach Belieben in denselben zurückkehren.
Sie kann verletzt und wieder geheilt werden. Eine auffällige
Ähnlichkeit in den Neigungen und Fähigkeiten eines leben-
den Menschen mit denen eines Verstorbenen zeigt an, daß
ein Stück von der Seele des Todten in ihn gefahren ist
und durch seine Anwesenheit diese Ähnlichkeit bewirkt. Ge-
wohnlichen Menschen sind die vom Körper abgelösten Seelen
nicht wahrnehmbar; sonderlich begabte Individuen, deren
Augen sich bisweilen die Geisterwelt öffnet, beschreiben ihre
Gestalt als dem Körper gleichend, doch von feinerer, luft-
artiger Beschaffenheit.
Ueber den Jnue und allen später zu nennenden unter-
geordneten Geistern steht Tornafuk, eine zwar persönlich
gedachte Macht, aber weder Mann noch Weib, die alle We-
sen zu ihrem Willen zwingt. Tornasuk ist die Quelle aller
Weisheit, seinem Auge bleibt nichts verborgen. Er verleiht
auch einzelnen Sterblichen von seinem Wissen, nämlich den
Ang akut oder Priestern. Nicht ein Jeder eignet sich zu die-
sem Beruf; denn es kostet große Selbstüberwindung und
schwere Kämpfe, bevor der große Geist sich dem Jünger offen-
bart und ihm einen Tornak (Schutzgeist) verleiht, der ihm
in allen Bedrängnissen schützend zur Seite steht. Tornasuk
wohnt in der Unterwelt, dem Aufenthalte der Seligen. Ueber
fein persönliches Wesen sind die Berichte verworren; denn
nur den Angakut ist er bekannt, und diese theilen den Men-
schen über ihn mit, was ihnen zu wissen frommt.
In der Unterwelt wohnt auch Arnakuagfak (die alte
Frau). Ihr persönliches Verhältniß zu Tornasuk läßt sich
nicht feststellen, da sie abwechselnd seine Mutter, Gattin und
Tochter genannt wird. Sie ist der Born alles organischen
Lebens und irdischer Wohlfahrt. Sie ist ein Muster der
Sparsamkeit und der Klugheit und sorgt wie das sterbliche
Weib für die leibliche Pflege der Menschen. Aus einem
Berge unter ihrer Lampe gehen die Seethiere hervor, welche
den Mensche« zur Nahrung und Kleidung dienen. Ver-
schwinden diese aus den Jagdrevieren, so hält Arnaknagsak
sie zurück, weil die Agdleritnt sich an ihren Kopf hängen
und sie in Zorn versetzen. Dies sind die Seelen heimlich
geborener, gemordeter Kinder. Die Menschen leiden Noth
uud gehen unvermeidlichem Hungertode entgegen. Aus die-
sem Elend kann nur ein Angakok sie retten, welcher den
Muth besitzt, die gefahrvolle Reife in die Unterwelt zu unter-
nehmen und die Alte von der Plage zu befreien. Gelingt
es ihm, das ekle Gewürm von ihrem Haupte zu reißen, so
zeigt sie sich sofort besänftigt uud sendet sette Thiere an die
Oberwelt *).
*) Aeltcre Schriftsteller zeichnen Arnakuagfak als grundböse und
die religiösen Begriffe der heutigen Grönländer. 13
Außer Tornasuk und Arnakuagsak giebt es noch eine
dritte Macht, welche mittelst Wortzaubers um Hülfe auge-
rufen wird, nicht von den Angakut, sondern von anderen
„klugen Leuten". Den Namen dieses dunklen Wesens kennt
Niemand; es wohnt im Himmel und zieht die Seelen der
Verstorbenen zu sich hinauf. Nach anderer Version steigen
alle Seelen aufwärts, wenn sie nicht durch gütige, stärkere
Mächte abwärts gezogen werden. Zur Anbetung dieses
Wesens bekennt sich Niemand, der Cnltus wird im Geheimen
geübt und gilt als Unrecht. — Darf man in dieser uuge-
nannten Macht eine ältere, entthronte und Halbvergesseue Gott-
heit ahnen, wie deren in allen Religionen zu spüren sind?
Der alte Grönländer wußte sehr wohl, was dem Men-
schen zur Zierde und zur Unzierde gereicht, ohne jedoch den
Begriff von Tugend und Laster zu generalisiren. In den
Sagen folgt jeder bösen That die verdiente Strafe, ein Be-
weis, daß man gut und bös unterschied. Kraft, Uner-
schrockenheit und Geschick zu seinem müh- und gefahrvollen
Beruf rühmte man an dem Manne, Sparsamkeit und kluges
Verwalten der Vorräthe zierten die Frau. Freigebigkeit und
Gastfreiheit waren Haupttugenden für beide Geschlechter. —
Wer im Dienste seiner Nebenmenschen, z. B. aus der Jagd,
das Leben einbüßte, kam in die Unterwelt; Zauberer und
böse Menschen gingen in den Himmel. Diese Lehre steht
mit der frühern, daß der Himmel kein Strafort sei, im Wi-
derspruch. Vielleicht ist diese Vorstellung eine jüngere. Auch
bei den Germanen war das Reich der Hel ursprünglich ge-
meinsamer Aufenthalt der Seelen; die Odiniten degradirten
es erst zur Wohnung der Siechtodten. Der Tod kam nach
grönländischem Glauben dadurch in die Welt, daß ein Mann,
Namens Kallat, den großen Geist anflehte, er möge feiner
Existenz ein Ende machen. Nach anderer Version bat eine
Frau, es möchten die Alten hinweggenommen werden, damit
es den Neugeborenen nicht an Platz mangele auf Erden.
Wie der christliche Grönländer über diese Glan-
benssätze seiner Väter denkt.
Dem großen Geiste Tornasuk erging es bei der Einfüh-
rnng des Christenthums nicht besser als anderen entthronten
Gottheiten: er wurde von den Missionären zum Teufel ge-
stempelt und zwar der bösesten Sorte. Noch jetzt erscheint
er dem abtrünnigen Grönländer als zitterndes Luftbild, das
plötzlich in den Erdboden verschwindet. Arnakuagsak, „des
Tenfels Großmutter", ist nicht bösartig. Sie übt noch im-
mer Einfluß auf die Seethiere, aber seit dem Aussterben der
Angakut ist aller Verkehr mit ihr unmöglich geworden. Die
christlichen Begriffe von gut und böse fanden bei den Grön-
ländern schwer Eingang. Das Wort Sünde fehlte ihrem
Sprachschatze und mußte aus dem Dänischen entlehnt wer-
den. Sünde war nach der Auffassung der Neubekehrten
Alles, was den europäischen Gemeinden zum Schaden ge-
reichte. Die Herrenhuter Missionäre erklärten das Wort
für gleichbedeutend mit Ungehorsam.
als Ursache des Todes. Daß mehrere jüngere Autoren diese Ansicht
adoptirten, ist um so eher zu entschuldigen, als in den meisten Re-
ligionen das Weib als Ursprung des Bösen gedacht wird. Wäre
Dr. Rink eine Sage bekannt, welche die Arnakuagsak als Feindin
der Menschen kennzeichnet, so würde er sie nicht verschwiegen haben.
Er macht aber im Gegentheil darauf aufmerksam, daß ihr Name
„die alte Frau" und ihre Fürsorge für die Menschen eher auf
Güte und Wohlwollen hindeuten, und wenn sie die Menschen der
Nahrung beraubte, so waren es die eigenen Qualen und nicht Lust
am Leide Anderer, welche sie zu der Maßregel trieben. Die Schön-
heit und tiefe Bedeutung dieses Mythus ist beachtenswert!): die Frucht
der bösen That führt eine Strafe herbei, welche nicht nur den Schul-
digen, sondern die Gesammtheit trifft; ein selbstloser, sich für das
Gemeinwohl opfernder Mensch allein vermag seine Brüder von dem
über sie verhängten Uebel zu erlösen (!).
14 Ein Blick in das Harem
In kosmographifcher Beziehung arrangirte der Grön-
länder sich dergestalt, daß er den christlichen Himmel über
den alten verlegte und die seligen Seelen aus dem Keller in
den obersten Stock umquartierte. Wandernde Seelen haben
beide Himmel besucht. Noch immer spielen die abgeschiedenen
Geister Ball im flackernden Nordlicht, und man scheut sich,
beim Nordlicht allein ins Freie zu gehen, weil leicht eine
Seele herabfahren könnte und den Einsamen mit sich empor-
des türkischen Sultans.
ziehen. Der alte Glanbe au deu Untergang der Welt ver-
schmilzt vortrefflich mit dem an das jüngste Gericht. Bei
Unwetter, besonders beim Witterungswechsel, hört man nicht
selten die ängstlich besorgte Aeußerung: „Wie mag es wohl
mit den Stützen beschaffen sein!" — Auch der Glaube an
die June und an das Berhältniß der Seele zum Körper
dauert fort.
Ein Blick in das Harem
Wir schilderten jüngst die Stellung, welche die tscherkes-
fischen Sklavinnen im Serail (Palaste) des ottomauischen
Sultans einnehmen („Globus" XVIII, S. 375)* Der
Complex von Gebäuden, welche denselben bilden, ist mit hohen
Manern umzogen, und er wird im pomphaften Hofstil als
Dari feda bezeichnet, das heißt als Auf enthalt der Glück-
seligkeit. Innerhalb desselben befindet sich anch das Harem,
die Behausung der Fraueu, dereu Anzahl sehr beträchtlich ist.
Es würde wohl bnnt genug in demselben hergehen, wenn sie
nicht so zu sagen einem Regierungssystem unterstellt wären
nnd sich einer hierarchischen Ordnung fügen müßten.
An der Spitze steht allemal die Walide-Sultaua,
die Mutter des jeweilig regierenden Großherrn, als eine Art
von allmächtiger Herrscherin. Daß sie das ist und nicht
etwa eine seiner Frauen, erklärt sich aus den Zuständen der
türkischen Gesellschaft. Ein Türke kann mehrere Frauen
haben, aber er hat doch immer nur Eine Mutter, und dieser
schuldet er Pietät.
Nächst der Walide-Sultaua finden wir als wichtigste
Dame die Hasnedar Ustah, die Obersückelmeisterin, welche
die Mittelsperson zwischen dem Sultan und den Frauen des
Harem ist. Sie übt großen Einfluß und tritt, falls die
Sultanin Mutter mit Tod abgeht, an die Spitze des Gan-
zen. Dann folgen die verschiedenen Kadins, Frauen des
Sultans, nach der Anciennetät, und weiter die Jkbals,
Favoritinnen, an deren Spitze die erste Kebsfrau steht.
Die Sultanin Mutter, die Säckelmeisteriu, die vier Ge-
mahlinnen und fechs Favoritinnen, im Ganzen ein Dutzend
Personen, stehen, je eine derselben, an der Spitze von zwölf
Daires, Höfen, deren jeder von einer zahlreichen Diener-
fchaft gebildet wird. Zu solch einem Hofe gehören zwölf
bis fünfzehn Frauen, theils junge, theils bejahrtere, und jeder
derselben ist eine bestimmte Beschäftigung übertragen; die
eine z. B. besorgt die Finanzen, eine zweite hat aus dem
Koran vorzulesen, eine dritte ist Secretär, eine vierte besorgt
den Kaffee und dergleichen mehr. Im Ganzen wird sich
die Anzahl auf etwa einhundertundzwanzig belaufen. Diese
Ziffer muß aber noch mit fünf mnltiplicirt werden, da jede
dieser Damen fünf oder sechs junge Sklavinnen als Zög-
linge zu überwachen, zu erziehen und für einen bestimmten
Beruf auszubilden hat. Sie dienen als Gehülfinnen, sind
demnach Secretariatsschülerinnen, Gehülfinnen beim Kaffee-
einschenken bei der Sultanin Mutter und so fort. Alles in
Allem genommen stellt sich die Zahl der Frauen, niedere
Dienerschaft mit eingerechnet, aus ungefähr sechshundert!
Außer jenen Beamten oder vielmehr Beamtinnen befindet
sich im Harem des Sultans noch ein ganzer Stab von fchwar-
zen und weißen Köchinnen, Tänzerinnen, Pantomimenspiele-
rinnen und Musikantinnen. Jene Höfe und diese Trupps
bilden einen wesentlichen Bestandtheil des kaiserlichen Hans-
des türkischen Sultans.
Haltes und sind einer strengen Zucht unterworfen, die man
in gewissem Sinn als klösterlich bezeichnen könnte.
Diese Einrichtungen findet man gleichermaßen in den
allerdings kleineren Harems des Thronerben und der übrigen
Söhne des verstorbenen Sultans; auch die Prinzessinnen
haben ihre Höfe, und das Alles befindet sich innerhalb dessel-
ben kolossalen Haremgebäudes. Die Gemahlinnen, Kebs-
sranen, Schwestern und verehelichten Töchter des verstorbenen
Snltans oder seines Vaters müssen hier in Abzug gebracht
werden, weil sie in besonderen Palästen oder Häusern woh-
nen, welche die Krone ihnen einräumt.
Das Harem mit seinem Zubehör bildet eine Welt für
sich, und diese hat ihr eigenartiges Leben und Treiben inner-
halb einer engen Begrenzung. Dies Leben kann aber nur
bestehen und gedeihen auf dem Boden der Sklaverei, ohne
dieselbe würde es sofort absterben. Der Sultan ist im Se-
rail der Angelpunkt, um welchen Alles sich dreht, der allein
Licht ausstrahlt, von welchem jeder Insasse etwas aus sich
zu lenken beflissen ist. Er ist gleichsam die Centralsonne;
die Prinzen und Snltanas erscheinen im Vergleich mit ihm
wie kleinere Planeten, deren jeder aber auch sein System hat.
Sklaverei und Herrscherthum vervollständigen hier einander
und tragen sich wechselseitig.
Das Harem des Sultans hat, wie Major Millingen
nachweist, seine eigenen Sklavenhändler, Kuuden, Tyrannen,
Opfer, nur keinerlei Production und deshalb muß es sich
seinen Bedarf an Sklavinnen auf den Märkten zu verschas-
fen suchen. Innerhalb der Manern des Serails jedoch sind
die Insassen sehr erpicht darauf, einander zu verkaufen. Wenn
die türkischen Stadtfrauen hübsche Sklavinnen von den Händ-
lern kaufen, so behalten sich dagegen die Sultauas und an-
dere große Damen des Serails ihrerseits in demselben ein
Monopol vor; denn es kann sich wohl treffen, daß sie ihre
Waare bei einem Prinzen von Geblüt oder wohl gar beim
Sultan selbst anbringen. Eine zu rechter Zeit dem Sultau
geschenkte oder verkaufte Tscherkessin, die eine Schönheit ersten
Ranges ist, hat schon oftmals dazu gedient, eine Rivaliu
aus dem Sattel zu heben oder irgend eine Jntrigne mit Er-
folg durchzusetzen.
Wie gestaltet sich nun der Lebenslauf einer hübschen
Sklavin, nachdem sie ihren Fuß in das Harem gesetzt hat?
Nehmen wir an, daß die Sultanin-Mutter oder eine der
vier Gemahlinnen ein Mädchen nöthig habe, um ihre Die-
nerschaft vollzählig zu machen. Diefe Sklavin wird zunächst
der Vorsteherin eines der oben erwähnten Höfe übergeben,
zum Beispiel der Kasseeschenkin; bei dieser hat sie eine Lehr-
zeit durchzumachen. Die Aufseherin, man kann sagen Er-
zieherin, vertritt Mutterstelle bei ihr, versorgt sie mit Klei-
dern, Geld, Schmucksachen, kurz mit allem Notwendigen.
Nicht selten entwickelt sich aus diesem Berhältniß eine auf-
Ein Blick in das Harem
richtige Freundschaft, welche das ganze Leben hindurch Stand
hält; die, man kann sagen, Vormünderin verläßt die ihr An-
vertranete nicht, theilt Leid und Freude mit ihr, und steht
ihr auch noch zur Seite, falls sie sich verheirathet hat. Die
Sultana ist die höchste Gebieterin, und nur mit Erlaubuiß
derselben kann die Kalsa, das heißt die Vormünderin, das
ihr anvertraute Mädchen oder überhaupt irgend eine Skla-
vin weggeben. Bei einer Heirath der Pflegebefohlenen legt
die Kalfa bei der Sultana eiu gutes Wort ein und bittet
dieselbe um eine angemessene Aussteuer, insbesondere um
hübsche Kleider und Schmucksachen. Nach einein Todesfalle
muß jedoch Alles wieder an die Sultana zurückgeliefert wer-
den, denn sie ist die gesetzliche Erbin aller Sklavinnen.
Wenn aber das Tscherkessenmädchen keinen Mann be-
kommt, dann wickelt sich das Leben in folgender Weife ab. Im
Secretariatsamte zum Beispiel steigt sie nach und nach von
einer Stufe zur andern empor und wird, falls ihr das Glück
günstig ist, Obersäckelmeisterin, und ähnlich gestalten sich die
Dinge in den übrigen Aemtern, deren wir weiter oben er-
wähnten.
Angenommen, daß die Tscherkessin das in ihren Augen
große Glück hat, Kebsweib oder wirkliche Gemahlin zu wer-
den, dann nehmen die Dinge folgenden Verlauf. Es trifft
sich, daß der Sultan feiner Mutter eiuen Besuch abstattet,
und während desselben fällt zufällig sein Auge auf die Skla-
vin. Er wirft ihr eiuen bezeichnenden Blick zu oder macht
einige Bemerkungen, welche für Zeichen der kaiserlichen Gunst
gelten können. Dann wird das Mädchen Gnsdeh und
steigt im Range. Dieses Wort bedeutet „im Auge" und
deutet an, daß der Herr sie seines Blickes gewürdigt habe.
Es ist selbstverständlich, daß die Beglückte fortan mit ihrer
bisherigen Beschäftigung nichts mehr zu thun hat; sie wird
von ihren Gefährtinnen getrennt uud bekommt im Harem
ihre eigenen Gemächer; sie weiß nun, daß sie zu gelegener
Zeit aufgefordert werden wird, vor dem Sultan zu erscheinen.
Nachdem das geschehen, ist sie eine Jkbal, d. h. eine derer,
welche „beglückt worden" sind. Von nun an hat sie einen
kleinen Hofstaat für sich, bekommt hohen Monatsgehalt und
hat Equipage uebst Dienerschaft. Es kann sich treffen, daß
sie zum Rang einer wirklichen Gemahlin emporgehoben wird,
aber es giebt Fälle, daß eine solche Ehre abgelehnt worden
ist. Manche dieser Favoritinnen ziehen es vor, sich nach
eigener Wahl mit einem Manne in der Stadt zu verheira-
then; iu anderen Fällen treten Neid oder Eifersucht in den
Weg. Manche Paschas betrachten es als eine große Ehre,
solch eine Jkbal zu Heirathen; eine solche wird ja im Serail
immerhin Einfluß zu Gunsten ihres Mannes geltend machen
können, und daran eben liegt ihm; er kommt dann nicht
außer Dienst und man sieht bei Manchem, was er thnt oder
"icht thut, durch die Finger.
Der Sultan, als oberster Jmam und Stellvertreter des
Propheten^ braucht sich, wenn er eine Frau nimmt, dabei
an keinerlei Ceremonien zu binden und thut es auch uicht.
Uls der gegenwärtige Großherr, Abd ül Asis, eine Reise in
Europa machte,^ wollte man ihm eine gewisse Popularität
dadurch verschaffen, daß behauptet wurde, er habe nur eine
einzige Frau. Das entsprach den Thatsachen nicht, denn er
hat drei Gemahlinnen. Die erste besaß er schon, bevor er
Sultan wurde, die zweite nahm er zum Angedenken seiner
des türkischen Sultans. 15
Thronbesteigung, die dritte auf den Wuufch seiner Schwester
Alideh Sultana, mit welcher er lange in Zwiespalt gelebt
hatte, zum Zeichen und zur Besiegeluug dafür, daß zwischen
Bruder und Schwester nun eine Aussöhnung stattgefunden
habe. Diefe drei Frauen heißen: Eda-Dil, Heirani-
Dil und Durney.
Man hört oft die Behauptung, daß die angesehensten
Paschas in Konstantinopel nur eine Frau haben. Buch-
stäblich genommen, ist das richtig, in der Wirklichkeit trifft
es nicht zu. Die eine Frau weiß nichts von der größern
oder geringer» Anzahl von Nebenfrauen, weil alle mögliche
Vorsicht angewandt wird, daß sie vom Dasein derselben keine
Kuude erhalte. Aber nach dem Tode eines solchen Pascha
kommt dann Alles ans Licht, und manchmal tritt eine
ganze Schaar Odalisken mit einem Zubehör von Sprößliu-
gen ans Tageslicht. Daß sie von der vermeintlich einen
Frau nicht gerade sanft angelassen werden, versteht sich von
selber. •—
Die Sklaverei also besteht nach wie vor im türkischen
Reiche. Die Aushebung derfelbeu würde allerdings die Fraueu
aus einer in unseren Augen unwürdigen, erniedrigenden Stel-
lnng befreien und sie wenigstens bis zu einem gewissen Grade
emancipiren. Aber für den Orient wäre das gleichbedeu-
teud mit dem Umstürze des gesellschaftlichen und Politischen
Gebäudes, das auf Grundlage sowohl der Religion wie der
Ueberlieserung ausgeführt worden ist. Die türkische Presse
behauptet, Europas halber, fortwährend mit großer Dreistig-
feit, daß die Sklaverei längst aus den Besitzungen des Groß-
Herrn verschwunden sei; dem ist aber keineswegs so. Die
Sklaverei ist, nach der Ansicht des Majors Millingen,
welcher der Sache große Aufmerksamkeit zugewandt hat, für
die Türken „eine sociale und politische Notwendigkeit". Die-
selbe, so bemerkt er, war bei Gründung und Ausdehnung
der osmanischen Herrfchaft ein mächtiges Agens, uud sie ist
nun ein eben so mächtiges Agens geworden, um dieselbe zu
untergraben. Sie ist jedoch- mit dem ganzen Bau der Ge-
sellschast und des Staates dermaßen verwachsen, daß das
ganze Gebäude zusammenstürzen muß, sobald man sie besei-
tigt. Wenn nun die Pforte das außer Augen ließe, sich
um den Koran nicht kümmerte und eiue Emancipation durch-
führen wollte, dann würde sie, fo preiswürdig an und für
sich ihr Verfahren auch wäre, deu Untergang der Türkei nur
beschleunigen. Entfernt man einmal die Wälle uud Grä-
ben, durch welche die Anhänger des Propheten von den Chri-
sten getrennt sind, dann ist fernerhin kein Widerstand mehr
möglich und der Mohammedauismns würde bei den Türken
zu Grunde gehen.
In früheren Zeiten konnte mau- die Einfuhr von Skla-
ven, welche dann den Islam annehmen mußten, als eine
Art von Einwanderung betrachten, welche den Mohamme-
danern ein Element der Kraft und Stärke zuführte. Die
Sklaven wurden zu freien Kriegern und verstärkten das Heer.
Aber die Tage der Eroberungen und des kriegerischen Ruh-
mes sind für die Osmanen längst vorüber, und was sie an
Sklaven kaufen, das sind Weiber und Knaben, welche zu
Werkzeugen ehrloser Ausschweifung dienen. Nun ist ein
großer Theil der herrlichsten, fruchtbaren Gegenden zu einer
Wüstenei geworden, und das Türkenthum muß, für Europa
weuigstens, als eiu Anachronismus betrachtet werden.
16
Aus allen Erdtheilen.
Aus allen Erdtheilen.
Neue Verkehrswege in Südamerika.
Der Provinzialsenat von Buenos Ayres hat seine Ge-
nehmigung zum Bau einer Eisenbahn gegeben, welche in Pa-
tagonien, am Rio Negro aufwärts bis zu den ungemein
reichhaltigen Salzlagern im Binnenlande geführt werden soll.
Argentinien bedarf einer großen Menge von Salz, zum Salzen
des Fleisches und der Häute in den Saladeros, und bezog das-
selbe bisher vorzugsweise von den Inseln des Grünen Vor-
gebirges.
Für Argentinien wird der Bau einer Bahn von Villa
Marda (das auch Villa Nueva genannt wird) bis zum Rio
Cuarto in der Provinz Cordova von großer Wichtigkeit sein.
Sie erscheint als eine Zweiglinie von der Centralbahn nach Men-
doza und der Cordillere hin und wird 82 Miles lang; Bau-
kosten 429,434 Pf. St.; sie ist Staatseigenthum und soll 1874
vollendet sein. Rio Cuarto ist ein Centralpunkt für den Han-
del mit den Cuyo-Provinzen. (— Im Jahre 1813 wurden
San Luis, Mendoza und San Juan für eine besondere
Provincia de Cuyo erklärt. Das Wort Cuyo soll in einer
der Jndianersprachen Sand bedeuten. Schon 1820 zerfiel die
Provinz in die eben genannten drei Provinzen. —) Den Bau
hat ein englisches Haus übernommen.
Mit dem Bau einer Eisenbahn in der brasilianischen Süd-
Provinz Rio Grande do Sul wird es nun Ernst. Sie wird
von der Hauptstadt Porto Alegre auslausen und zunächst bis
zum Kernpunkte der deutschen Niederlassungen, San Leopoldo,
und darüber hinaus bis Neu-Hamburg geführt werden, wo
zwei wichtige Verkehrsstraßen aus dem Innern zusammentreffen.
Der Handel von Porto Alegre wächst rasch an; seine Bewegung
stellte sich 1869 auf den Werth von etwa 10,000,000 Thaler.
Der Paß über die Andes, welcher aus Chile nach
Mendoza führt und welcher im Frühjahr 1870 zuerst befahren
wurde, ist sehr in Aufnahme gekommen und wird von zahl-
reichen Maulthierherden begangen. Die chilenische Regierung
läßt durch ihre Ingenieure noch einen Straßenzug vermessen,
welcher von der Hafenstadt La Serena über Vicuna und von
dort über das Hochgebirge gehen soll; durch denselben würde
die Provinz Coquimbo in nähere, directe Verbindung mit Ar-
gentinien kommen. Die Regierung hat ferner erklärt, daß sie
einer Bahn über die Andes allen möglichen Vorschub leisten
und zum Anschluß an dieselbe eine Zweigbahn bauen wolle, die
von Cu r i c o, einer Hauptstation der Südbahn über den Planchon-
Paß, bis an die argentinische Grenze zu führen sei.
Die Regierung von Bolivia ihrerseits hat den berühmten
Ingenieur Whelwright beauftragt, in den südlichen Theilen ihres
Gebietes eine für den Straßenbau geeignete Linie zur Ver-
bindung zwischen Potosi und Argentinien aussindig zu machen
und zu vermessen. — Ein Handelshaus in Tacna in Peru
wird gemeinschaftlich mit „Don Carlos Ochsenius", welcher das
Pariser Haus Emil Erlanger vertritt, eine Bahn von der perua-
nischen Grenze bis zu der wichtigen bolivianischen Handelsstadt
La Paz auf eigene Kosten bauen.
Auch in Ecuador, das gerade jetzt zufällig einmal ohne
Revolution ist, hat der Präsident den Ingenieur Mac Clellan
beauftragt, eine Straße von Otavolo nach dem Hafen
Esmeraldas zubauen. Dieselbe wird durch das an Kautschuk-
bäumen ungemein reiche Thal von Guaillacamba gesührt
werden.
In Peru wird an einer Bahn zwischen Jlo und Mo-
quegua gebaut.
Auch Guatemala will nicht zurückbleiben. Die Regierung
hat den Bau einer bequemen fahrbaren Straße nach dem
pacififchen Hafen San Jose in Angriff nehmen lassen. Es
zeugt für den Unverstand vieler Grundbesitzer, daß sie sich wei-
gerten, diese Straße über ihre Ländereien führen zu lassen; die
Regierung hat sich, um diesen Widerstand zu brechen, genöthigt
gesehen, am 2. October 1870 ein Expropriationsgesetz zu er-
lassen.
Als „bemerkenswert!)" wird gemeldet, daß in derselben Re-
publik an dem Punkte Patio de Bolas über den Fluß Sa-
mala eine Brücke gebaut worden ist. Für Süd- und Central-
amerika ist allerdings der Bau einer Brücke immerhin bemer-
kenswerth. Wir wollen nur die Thatsache hervorheben, daß
die Span'ier als Besitzer der ausgedehnten argenti-
nischen Länder binnen 270 Jahren dort auch nicht
eine einzige Brücke gebaut haben!
Ueber dem Bau der Eisenbahn in Honduras scheint
ein Unstern zu walten. Wir lesen, daß im November zwischen
der Compagnie und der Regierung Uneinigkeit darüber herrschte,
wo die Bahn am Stillen Ocean ausmünden solle. Bis aus
Weiteres sind die Arbeiten eingestellt worden.
* * #
— Man schreibt aus St. Petersburg: Eine werthvolle
Antiquität ist durch den Generalgouverneur von Turkestan, Ge-
neraladjutanten v. Kauffmann, der kaiserlichen Bibliothek zuge-
gangen: ein alter Koran in russischer Schrift, ohne
Punkte und Bocalzeichen, der lange Zeit hindurch in der Mo-
schee Chodsha-Aahrer in Samarkand aufbewahrt und nun als
Gegengeschenk für eine von dem Generalmajor Abramow dieser
Moschee zugewandte Geldspende dargebracht worden ist. Nach
der Tradition ist dieser Koran über 1200 Jahre alt und von
Othman eigenhändig geschrieben worden. Othman soll in dem-
selben gelesen haben, als er in seinem Palast ermordet wurde,
und lange Zeit sollen sich noch die Blutflecken auf dem jetzt
ganz verfallenen Deckel erhalten haben.
— Aus Taschkent schreibt die „Turkest. Ztg.": Herr N.
Rajewsky hat, seitdem er in Turkestan eine dienstliche Stellung
bekleidet, seine ganz besondere Aufmerksamkeit der Vervollkomm-
nung des Baumwollenbaues zugewendet. Um diefen Cultur-
zweig so zu entwickeln, daß die einheimische Baumwolle die aus
Amerika und Aegypten eingeführte ersetzen könne, hat er 350
Pud Samen von den besten Sorten Baumwollenstauden aus
Amerika verschrieben. Da Herr Rajewsky in der Krim bedeu-
tende Weingärten besitzt, beabsichtigt er auch, Versuche zur Ver-
vollkommnung des hiesigen Weinbaues zu machen.
— Eine neue Forschungsexpedition zur Unter-
suchung der Landenge von Darien ist am 1. December
1870 von Neuyork abgegangen, — ein Dampfer „Guard"zwei
andere Dampfer, „Nipsic" und „Saginaw", sind nach der Süd-
see beordert worden; die „Guard" bleibt auf der atlantischen
Seite. Auch diese Expedition zur Aufsuchung einer für die An-
läge eines Canals geeigneten Strecke wird, gleich der frühern,
vom Commodore Selfridge befehligt.
Inhalt: Die Aymara-Indianer in Bolivia und Peru. (Mit drei Abbildungen.) — Erläuterungen zu einem chinesischen
Mordfächer aus Tientsin. Von Karl Andree. (Mit einer Abbildung.) — Die 'altgrönländische Religion und die religiösen
Begriffe der heutigen Grönländer. Von I. Mestorf. — Ein Blick auf das Harem des türkischen Sultans. — Aus allen
Erdtheilen: Neue Verkehrswege in Südamerika. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H- Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
M-
t
llUÖ 3fr,
Band XIX.
%
JF 2.
Mit besonderer HerücksicktiZung iler Antkroyologie unck Gtknologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
Februar Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 18.11.
Römische Bilder.
Von Franz Koppel.
Nicht bloß durch alle möglichen Barbari und Barberiui,
sondern uicht weniger durch die Elemente, und ganz beson-
ders durch das Wasser wurden Roms Tempel und Paläste
im Laufe der Jahrhunderte häufig bedroht und verwüstet.
Vor wenig Wochen erst liefen durch die gesammte Presse er-
greifende Schilderungen von der Wassersnoth, die wie ein
Dieb in der Nacht die heilige Stadt überfiel, tagelang anhielt
und dann Jammer und Elend, über Wochen uud Monate
hinaus fühlbar, zurückließ.
Ein so furchtbares und zerstörendes Auftreten der elemen-
taren Naturkräfte wurde auf dem clafsischen Boden von Rom
un ^>inne einer wohlverstandenen und praktisch gehandhabten
Staatsreligion gar gern als Zeichen uud Wunder gedeutet.
Doch „wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen": ein
Blick in die Localpresse macht uus zu unserm Erstaunen klar,
daß die „Papalini" in der großen Ueberschwemmung vom
vorigen December nur den Ausguß der Zornschale des Hirn-
mels erkennen, welcher Rache nimmt für die uubußfertigen
Freudenausbrüche, mit denen Senatus populusque Roma-
nus den letzten italienischen Angliederuugsproceß vollzog und
Rom als Hauptstadt von Italien Proclamirte.
Die Juden wurden, wie gewöhnlich, dabei mitgefangen
und mitgehangen, denn sie wohnen — wahrscheinlich dazu
Prädestinirt — im Ghetto, und dahin kommt das Wasser
der tiefen Lage wegen zuerst und lauft am spätesten wieder
von dort ab.
Globus XIX. Nr. 2. (Februar 1871.)
Ein göttliches Strafgericht aber hat der Gläubige ge-
duldig über sich ergehen zu lassen, und während die Curie
sich im leoninifchen Stadttheile ruhig verhielt, war es darum
gewiß Sache des excommunicirten Königs, feinen neuen Un-
terthanen zu Hülfe zu eilen, und war es Aufgabe der Per-
horrescirten Juvasionstruppen, drei Tage und Nächte hin-
durch in heldenmüthigen Anstrengungen den Magistrat, der
wohl zum ersten Mal in seinem Leben (ich rede von der
jetzigen Generation) zum Wohl der Bürger eingriff, zu unter-
stützen. Lassen wir die Parallelen: es war ein hochwichtiger
Moment, das erste Auftreten Victor Emauuel's als König
in Rom, und zwar ohne Feuerwerk, ohne Galatheater, ohne
Festessen, gar nicht italienisch, nicht einmal römisch, aber sym-
pathieerweckend und herzgewinnend.
Sehen wir aber von der hier auch nur beiläufig berühr-
ten Gegenwart ab und werfen einen kurzen Rückblick auf
frühere Fälle von Ueberschwemmung der Stadt, so finden
wir ein sehr altes Zeugniß in der fränkischen Geschichte des
Bischofs Gregor von Tours, der einen aus Rom zurückkeh-
reuden Diaconns als Augenzeuge von der Verwüstung durch
die Tiber am Ende des Jahres 589 erzählen läßt.
Wir wollen dem biedern Gewährsmann gern glauben,
daß damals antike Monumente und Tempel in Masse zu-
sammenstürzten, aber wenn er von den Schlangen und
namentlich dem großen Drachen erzählt, der auf den wilden
Wogen der Tiber dahin geschwommen sei, so glauben wir
3
Franz Koppel: Römische Bilder.
19
darin nur ein schätzbares Material zur Mythenbildung von
der großen Seeschlange erblicken zu dürfen, trotz der zwei
aufgefundenen Nippen des Ungeheuers, von denen die eine
auf Ära coeli, die andere in S. Maria del popolo zu belie-
biger Verehrung aufgehaugen wurde.
Von einer weit furchtbarer» Tiberüberschwemmung wurde
die Stadt heimgesucht im Herbst des Jahres 716. Damals
stürzte das Wasser in anderthalb Mannshöhe zum Flamini-
schen Thor herein und blieb sieben Tage lang, aller Vitt-
gänge ungeachtet, auf seiner Höhe.
Auch nach dieser Calamität fiel es den Päpsten nicht ein,
für die Regelung des Flußbettes oder für den Schutz der
Ufer etwas zu thun, und so kann es uns nicht Wunder
nehmen, daß noch in demselben Jahrhundert, und zwar unter
der Regierung des ausgezeichneten Hadrian, nämlich im Jahre
791, die Stadt schon wieder das Opfer eiues Tiberaustritts
wurde. Diesmal war der ungestüme Fluß gar nicht damit
zufrieden, durch die weite Porta Flaminia seinen Einzug zu
halten, er riß, wie zum Hohn, das ganze Thor nieder und
wälzte die Trümmer hoch im Bogen auf der Via Lata fort.
Eine der schrecklichsten Ueberschwemmnngen aber, die Rom
jemals erduldet und der diesjährigen in mehr als einer Be-
ziehnng am ähnlichsten, bleibt die vom December 1495.
Damals trat der Strom gleichfalls fo rasch und massenhaft
aus und bedeckte die unteren Stadttheile in einem Augenblick
mit seinen Flnthen dergestalt, daß die ans dem Consistorium
zufällig heimkehrenden Cardinäle sich nur mit Mühe über
die Engelsbrücke flüchten konnten. Paläste stürzten ein, in
den Kirchen schwammen die Chorstühle umher, und durch die
Straßen fuhr man auf Barken, wie in den Lagunen von
Venedig.
Diese Wassersnoth fällt der Zeit nach mit einer andern
Calamität zusammen, die nicht bloß über Rom, sondern über
Italien, Frankreich und fast ganz Europa hereinbrach; ich
meine jenes kolossale epidemische Umsichgreifen der Lustseuche,
die damals zum ersten Mal so verheerend auftrat und in
Neapel Mal francese, bei den Franzosen aber Mal de Na-
ples genannt wurde. Zur Zeit des tiefsten sittlichen Verfalls
austretend, wurde diese damals allgemein für die schlimmste
Pestilenz angesehene Krankheit von den Chronisten gerade so,
Pantheon.
wie die Ueberschwemmnngen und anderes Unheil, als Act
des göttlichen Strafgerichts aufgefaßt, und die heutigen Chro-
nisten des alten Stils geben ihnen nichts nach, wenn sie in
dem gleichzeitigen Zusammentreffen von dem Sturze der
weltlichen Herrschaft des Papstes, dem Falle des dritten Buo-
uaparte, der Überschwemmung Roms und dem Bombarde-
ment von Paris die Schale des göttlichen Zorns erblicken,
der stch von Zeit zu Zeit über die Völker ergießt.
Unter denjenigen Plätzen Roms, welche der hereinbre-
chenden Wassersfluth ihrer Tieflage wegen am meisten aus-
gesetzt sind, ist die Piazza Navona der stattlichste und die
della Rotonda mit dem Pantheon der belebteste. Das
letztere ist wegen des offenen Ringes im Dache bei jedem
einigermaßen anhaltenden Regenwetter unter Wasser gesetzt.
Die Piazza Navona ist eben so sehr au das Element ge-
wohnt; sie wurde während des Mittelalters an heißen August-
tagen, wenn Rom mehr den Staub seiner Straßen als die
Wellen seines Flusses zn^ fürchten brauchte, zuweilen in einen
künstlichen See verwandelt, um die altüblichen Naumachieu
daselbst abzuhalten.
Doch wir wollen uns endlich aufs Trockene flüchten. Bei
einer dieser Ueberschwemmnngen, und zwar bei der zuerst er-
wähnten, scheint die alte Basilika von San Lorenzo
snori le mura stark gelitten zu haben; doch der Papst Pe-
lagius der Zweite sorgte noch vor seinem Tode für einen
erwähnenswerthen Neubau derselben. Der heilige Lorenz
genoß stets eine ganz besondere Verehrung von Seiten des
Clerus, er ist, so eigentlich in einem eminenten'Sinne des
Worts, der Schutzheilige der jungen Geistlichen. Seine Le-
gende ist einfach. Als der heilige Sixtus, von Geburt ein
Athener, zum Tode geführt wurde, rief ein junger Diacon
mit Namen Laurentius ihn an: „Willst Du ohne Dei-
nen Knecht dahin gehen?" Da antwortete ihm der Mär-
tyrer: „Ehe drei Tage herum siud, wirst Du jenseits mit
mir vereinigt sein."
Diese Prophezeiung sollte wirlich in Erfüllung gehen.
Kaum war das Haupt des Sixtus gefallen, fo ließ der Heid-
nifche Kaiser (Valerius, wenn ich nicht irre) den jungen
Diacoueu vor sich rufen und befahl ihm, die Schätze der
Christen auszuliefern. Laurentius erbat sich Frist und er-
Franz Koppel: Römische Bilder.
schien bald wieder an der Spitze von unzähligen Bettlern
vor dem Throne, indem er sagte, dies seien die verlangten
Schätze der Christen. Der Kaiser hielt solche ihm nnver-
ständliche symbolische Ausdrucksweise für Hohn und ver-
urtheilte den Diacou auf der Stelle zum Tode, den er auch,
es ist bekannt auf welche grausame Weise, erleiden mußte.
Die Christen aber stahlen die Gebeine und gaben ihnen eine
Ruhestätte im Dunkel der Erde, in einer Nische des unter-
irdischen Labyrinthes, das zu ihren heimlichen Zusammen-
küusteu diente.
Ueber diesem Grabe, auf dem Ager Vera Ms, weihte
Constantin ums Jahr 330 eine Kirche, welche der jetzigen,
die aus dem dreizehnten Jahrhundert stammt, nur noch als
Chor dient; denn der heute noch stehende Porticns mit sei-
nen sechs antiken ionischen Säulen wurde, wie die Wand-
Malereien mit des Papstes Bildniß andeuten, unter Honorius
dem Dritten im Jahre 1216 hinzugefügt.
Schon Sixtus der Dritte hatte im vierten Jahrhundert
das Grab des Märtyrers mit Porphyrsäuleu umstellt und
eine Capelle darüber errichtet; Pelagius aber begnügte sich
nicht mit den Reliquien des einen Heiligen, zu denen nach
und nach schon Pilger ans allen Weltgegenden strömten; er
sammelte die der Verehrung nicht minder empfohlenen Ueber-
reste des heiligen Stephan und legte sie in dasselbe Grab,
zu dem noch heute zwei Treppen hinabführen.
Die oben erwähnte Ueberschwemmuug nun scheint diese
San Lorenzo
alte Patriarchalbasilika mit Schutt und Schlamm bedeckt zu
haben, Pelagius der Zweite aber stellte sie wieder her und
Honorius der Dritte erweiterte und schmückte sie.
Ihm verdankt man die schöne Mosaik über dem Triumph-
bogen: die Figuren des heiligen Lorenz und des Papstes Pe-
lagins des Zweiten, welche von Petrus vor den Heiland ge-
führt werden; auf der andern Seite die Heiligen Paulus
und Hyppolyte in weißen Gewändern; Christus selbst erscheint
aus der Weltkugel sitzend; zu beiden Seiten sind Bethlehem
und Jerusalem, des Herrn Wiege und Grab, figürlich dar-
gestellt; das Ganze gehört nach Composition, Stimmung
und Totaleindruck zur allerbesten byzantinischen Arbeit.
Die ganze Kirche sowohl wie die einzelnen stark beschä-
digten Kunstwerke darin ließ der gegenwärtige Papst einer
gutgemeinten Restauration nach dem Plane des Grafen Ves-
pigniani unterwerfen.
fuori le mura.
Man kann leider nicht behaupten, daß sich die Leistungen
dieses römischen Architekten auf die Höhe der großen, aber
gerechten Ansprüche, die sich an dieses Denkmal knüpfen, hin-
aufgeschwungen hätten.
Die Kirche ohne Chor, also ohne den eigentlichen Bau
Constantin's, hat die gewöhnliche Eintheilnng in drei Schiffe
mit zweinndzwanzig antiken Säulen ionischer Ordnung von
Granit; das schöne Fries, welches sie früher trugen, mit
Reliefs, welche die Schifffahrt verherrlichten, wird jetzt im
Museum des Capitols aufbewahrt und zierte höchst wahr-
fcheinlich in Roms alten Tagen den Porticns der Octavia.
Auf den Ursprung der Säulen weist eine besondere Decora-
tion des Capitäls hin, die nach einer Stelle des Plinius zu
erklären ist. Derselbe erzählt, daß zur Zeit des Agrippa
zwei Künstler aus Korinth, deren Werke er bewundert, sich
gewissermaßen hieroglyphischer Schrift bedient hätten, um
Im Chor von San Lorenzo fuori le mura.
22 Franz Koppel:
ihre Namen zu verewigen. Der eine habe nämlich Sau-
ros(Eidechse) geheißen und der andere Batrachos (Frosch).
Da man ihnen nun nicht gestattet habe, ihre ehrlichen Na-
men mit einfachen Buchstaben einzumeißeln, so haben sie,
wo es immer nur anging, an den Werken ihres Meißels
eine Eidechse und einen Frosch angebracht. Diese beiden
Thiere nun kann man allerdings jetzt noch in dem Laub--
werk eines Capitäls erkennen, und somit wurde, da Plinins
sich glücklicherweise keiner solchen Bilderschrift zu bedienen
brauchte, der Wunsch der Künstler erreicht; ihre Säulen
stehen noch und ihr Monogramm ist kein Geheimniß mehr.
Der Fußboden der Kirche, welcher beträchtlich erhöht
wurde, ist eine wahre Perle des sogenannten opus Alexan-
Römische Bilder. •
drinum, aus Porphyr und Serpentin, Rosen nachbildend
und zu vielfarbigen Arabesken kunstreich verschlungen; ebenso
legen die Ambonen *) (steinerne Lehrpulte zur Absingung des
Evangeliums oder auch einfache Kanzeln) gleichfalls glän-
zendes Zeuguiß ab für die im dreizehnten Jahrhundert blü-
hende Kunst der Cosmaten.
Wir können uns von der Kirche San Lorenzo suori le
mura unmöglich trennen, ohne zuletzt noch eines eben so
künstlerischen wie historischen Monumentes Erwähnung ge-
than zu haben; ich meine das Grabmal des Cardinals
Wilhelm Fieschi (1-1236). Aus der ersten Hälfte des drei-
zehnten Jahrhunderts existirt, glaube ich, kein derartiges Mo-
nument berühmter Personen in Rom mehr, die Reihe der
Klosterhof von San !
wenigen noch erhaltenen wird von dem soeben erwähnten er-
öffnet. Bevor die Pisanen anfingen, ihren selbständigen
Grabmonumenten das volle Bürgerrecht zu erwerben, war
es herrschender Gebrauch der hohen Geistlichkeit, sich einen
antiken Sarkophag zur ewigen Ruhestätte auszuwählen.
Der des Cardinals Fieschi nun ist bekannt durch seine
Reliefs, welche, wunderlich genug für einen Cardinalssarg,
eine römische Hochzeitsseier darstellen: und zwar das Braut-
paar, vor demselben Hymen, und im Hintergrunde die um-
armende Juno pronuba, links der Opferpriester, die Mor-
gengabe, Männer mit Früchten und Thieren (den Besitzstand
des Mannes andeutend), und rechts Frauen mit allerlei Toi-
lettengegenständen für die Braut.
Während hier die sterbliche Hülle des Cardinals ruhig
in den Armen des lachendsten Heidenthums schlummert, winkt
drüben links im Chor hinter der Consession das „auf dem
cenzo fuori le mura.
ganzen Erdkreise berühmte Grab der heiligen Cyriaka,
an welchen! fromme Gebete für die Verstorbenen diese sicher
aus dem Fegefeuer befreien."
Aus solchen Gegensätzen drängt es uns, hinauszutreten
in den stillen Klosterhof, den ältesten von Rom, der unter
der Fürsorge naturliebender Franziskaner zn einem schönen
Garten voll seltener Blumen und Pflanzen geworden ist.
Doch ich kann diese Blätter nicht schließen, ohne noch
einmal auf die Überschwemmungen zurückzukommen; eine
derselben, welcher ich nicht erwähnte und die ins Jahr 1230
fällt, scheint mir doch besonders bemerkenswerth, namentlich
wegen der Parallele mit den heutigen Zuständen Roms.
Damals war Friedrich der Zweite plötzlich aus dem
*) Abbildung S. 22 deutet links in der perspektivischen Ansicht
der Säulenreihe des Mittelschiffes dieselben an.
I. Mestorf: Die altgrönländische Religion Uli
Orient zurückgekehrt und hatte die päpstlichen Truppen, die
Apulieu während seiner Abwesenheit besetzt hielten, wieder
hinausgeschlagen, wofür der Papst Gregor der Neunte von
seinem Exil in Perugia aus aufs Neue ihm fluchte. Da
trat am 1. Februar 1230 die Tiber mächtig aus, vernichtete
das Marsfeld und die Leonina, riß die Brücke der Seua-
toren (nachher Ponte roto) ein und verheerte Rom aufs
Schrecklichste. Das war der Zorn des Himmels, der die
gottlose Stadt geißelte, weil sie die Ketzer freundlich auf-
genommen und Abgesandte nach Arpino geschickt hatte, um
den excmnmunicirten Kaiser zu beglückwünschen. Jetzt, als
das Wasser den Römern au der Kehle saß, wurden sie klein-
laut und sandten flehende Boten nach Perugia: Nobili, Se-
die religiösen Begriffe der heutigen Grönländer. 23
natoren, die dem heiligen Bater zu Füßen fielen und um
Gnade baten für das irregeleitete Volk, fowie um seine Rück-
kehr in die verwaiste Stadt baten. Da zog Gregor unter
dem Jubelrufe des Volks wieder nach Rom, schloß einen dem
Papstthum außerordentlich günstigen Frieden mit dem Kaiser,
empfing ihn mit den Cardinälen zu Auagui, tafelte mit ihm
im Familienpalast der Conti und fuhr dann in Rom fort,
väterlich für die Stadt zu sorgen, indem er Geld unter das
Volk vertheilte, Armenhäuser bauen ließ, die Brücken her-
stellte, Getreide herbeischaffte, die Kloaken reinigte und das
„Unkraut der Häretiker" durch ein strenges Strafgericht aus-
zujäteu begann. Tempora mutantur et nos mutamur
in illis.
Die altgrönländische Religion und die religiösen Begriffe der
heutigen Grönländer.
Von I. Mestorf.
II.
Die Geisterwelt und das Verhältniß der über-
natürlichen Wesen zu den Menschen.
Die ganze sichtbare Welt ist erfüllt von Wesen, welche
allen Dingen innewohnen und als Geist oder richtiger als
Besitzer (Jnna) einen gewissen Einfluß nicht nur auf den
von ihm beherrschten Gegenstand, sondern durch diesen auch
auf den Menschen ausüben. Alle Eindrücke, die der Mensch
von der Außenwelt empfängt, rühren deshalb von dem Jnua
eines begrenzten Raumes her, wenngleich der Volksglaube
in seiner jetzigen Gestalt es nicht geradezu ausspricht. Diese
Geister sind entweder sichtbare Wesen in Menschen- oder
Thiergestalt oder von dem Körper entfesselte Seelen, und in
diesem Falle ist ihre Macht nur als Zuwachs ihrer natür-
lichen Eigenschaften zu betrachten, oder es sind wirklich über-
natürliche Wesen, denen man die Lebensweise natürlicher Ge-
schöpfe andichtet, oder endlich, es sind persönlich gedachte ab-
stracte Begriffe, wie Schlaf, Hunger, Durst, Enthaltsamkeit,
Wetter u. s. w. Die übernatürlichen Wesen haben einstmals
wirklich als Menschen gelebt. Die Vorfahren der heutigen
Grönländer kannten sie in ihrer alten Heimath oder fanden
sie bei ihrer Einwanderung in Grönland wohnhaft, — so-
Indianer und die alten nordmännischen Colonisten *).
tqelben wurden zuerst mit übernatürlichen Eigenschaften
au geratet, und einmal in mythische Gewandung gehüllt,
geneth lhre Menschliche Natur allmälig in Vergessenheit. Wir
stnden hierin eine Stutze unserer Eingangs gestellten Behanp-
*) Es sei hier daran erinnert, daß die heutigen Grönländer von
andern. Stamme sind als he, welche vor Erik dem Rothen das
Land bewohnten. Letztere verschwanden vor den Europäern / welche
nur selten einzelne „Zwergweiber in Lcderbooten" erblickten. Erst
im vierzehnten Jahrhundert drangen Eskimvstämme (Skrälina'e) vom
Lancastersnnd und der Baffinsbai südwärts und überfielen die ihrem
Schicksal überlassenen Colonisten. _ Daß mehrere Einwanderungen
verschiedener Stämme erfolgten, läßt sich daraus schließen, daß die
Individuen, welche Hall und Lindenow im Anfange des siebenzehnten
Jahrhunderts in Holsteinborg und Fredrikshaab raubten und nach
Kopenhagen führten, nicht bloß hinsichtlich der Kleidertracht, sondern
auch der Sprache so verschieden waren, daß sie sich nicht unter ein-
ander verständigen konnten.
tnng, daß auch die jetzt in Grönland ansässigen Europäer,
wenn die Colonien zu Grunde gingen, künftig als mythische
Geschöpfe in den Überlieferungen der Eingeborenen fortleben
würden.
Zur Wahrnehmung der Jnue bedarf es eines der Gei-
sterwelt geöffneten Auges. Sie erscheinen als Wetterlench-
ten oder Feuerschein, und ihr Anblick kann Tod und Starr-
krampf verursachen. Der Jnua des menschlichen Leichnams
hält sich in der Regel in der Nähe des Grabes auf; doch
besucht er bisweilen die Hinterbliebenen und giebt sich ihnen
durch Ohrenklingen oder Flötenton zu erkennen. Verursacht
er dem Menschen Ohrensausen, so ist das ein Zeichen, daß
ihn hungert und nach Speise verlangt. Noch jetzt pflegt der
Grönländer, wenn ihm das Ohr klingt, zu rufen: „Nimm
nach Belieben!" — Die Todten können ihren Angehörigen
vergelten, was sie ihnen im Leben Gutes gethau. Sie wer-
den Schutzgeister der Kiuder und Kindeskinder und bevor-
zugeu unter letzteren besonders diejenigen, welche ihren Na-
men tragen; aber der meuchlings Erschlagene rächt sich an
seinem Mörder dadurch, daß er in ihn fährt und ihn zu
allerlei Uuthaten treibt. An dem „Umgehen" hindert man
den Todten, wenn man den Leichnam zerstückelt und einen
Theil desselben in ein altes Grab legt. Alles was zu einer
Leiche in Beziehung gestanden oder bei der Begräbnißeere-
monie gebraucht worden, ist gefährlich für die Menschen und
die Jnue der Nachbarschaft. Selbst die Insassen des Sterbe-
Hauses gelten als unrein. Pnjortnt nennt man sie und
das Gesetz heischt, daß sie sich einige Tage in ihrer Behau-
snng verbergen, damit die June des Wassers und der Lust
nicht durch ihren Anblick erzürnt werden und Unwetter oder
Mißsang veranlassen.
Entzieht sich ein Mensch, dem Unrecht zugefügt worden,
allem Verkehr mit seinen Brüdern, so wird er Kivigtok.
Er stiehl ins Inland oder übers Meer, bisweilen in den
Mond. Der Kivigtok ähnelt in mancher Beziehung den
Geistern. Er ist vorschanend, gewandt und versteht die
Sprache der Thiere, lebt bis ans Ende der Welt und weiß
genau, in welchem Zustande die Stützen der Erde sich be-
finden.
24 I. Mestorf: Die altgrönländische Religion ttn
Ein heimlich geborenes und gleich danach gestorbenes Kind
wird Angiak. Es hält sich gewöhnlich in der Nähe der
Mutter auf, fährt aber bisweilen in einem aus dem Schädel
eines Hundes gemachten Kajak auf die See hinaus, um die
Kajakmänner zu verderben, richtet Unglück an, wo es kann,
und nimmt vor Allem Rache an denen, welche der Mutter
Unglück verschuldet. Wird diese vor der Geburt des Kindes
Kivigtok, so liegt ihr ob, sich und ihr Kind zu rächen, und
erst, nachdem dies geschehen, erblickt das Kind das Licht der
Welt.
Angerdlartngsiak sind Männer, denen durch beson-
dere Erziehung die Fähigkeit verliehen wird, zu den Ihrigen
zuriickzukehreu, nachdem sie auf der See ums Leben kamen.
Die vorbereitenden Uebungen beginnen in frühester Kindheit.
Der Knabe muß sich an die schlimmsten Gerüche gewöhnen,
ohne Ekel zu zeigen, er darf keinen Hund ueckeu, darf älteren
Leuten nicht widersprechen, sondern muß sich in Allem ihrem
Willen fügen. Wenn er zum ersten Mal den Kajak besteigt,
empfiehlt der Vater ihn im Gebet den Seelen der verstor-
benen Eltern und Großeltern. Wächst ein solcher Knabe
heran und verunglückt er wirklich als Mann ans einer Ka-
jakfahrt, so schwinden ihm die Sinne. In der Tiefe aber
erwacht er wieder und erblickt die Großeltern, welche ihn an
die Oberwelt zurückgeleiten. Sein Kops ist in eine Fang-
blase gehüllt, ein loses Fell ist sein Kajak. Erblickt er am
Strande einen Christen oder andere störende Dinge, so treibt
er wieder in die See hinaus und sucht eine andere Landnngs-
stelle. Kaum betritt sein Fuß den trockenen Boden, so um-
ringen ihn alle Hunde der Nachbarschaft und schützen ihn
vor der Gefahr, von bösen Jnue ins Meer zurückgezogen
zu werden. Tritt er ins Haus, so umfangen ihn die an-
wefenden Männer, und bei diesem Contact mit warmblütigen
Geschöpfen verliert er abermals das Bewußtsein und kann
nur dadurch ins Leben gerufen werden, daß man an seinem
Lager die Lieder singt, mit denen er als kleines Kind in
den Schlaf gelullt wurde. Hat man fünf Tage vergeblich
auf die Heimkehr eines Kajakmannes gewartet, so kommt er
nicht wieder. — So abenteuerlich dieser Glaube scheint, so
läßt er sich doch wie mancher andere aus natürlichen Vor-
gängen erklären. Dr. Rink, welcher dies im Allgemeinen
nicht zu berücksichtigen pflegt, erinnert doch hier daran, daß
der Grönländer auf seinen Jagdzügen oftmals in Folge
von Hunger, Ueberanstrengnng oder Kälte von tiefer Ohn-
macht befallen wird. Erwacht er aus der Erstarrung und
schleppt er sich bis an die nächste Hütte, da ist es selbstver-
ständlich, daß er erschöpft zusammenbricht und eines langen,
festen Schlafes bedarf, um die Folgeu der Strapazen zu
überwinden.
Wir sagten vorhin, daß nach grönländischem Glauben
alle lebendigen Geschöpfe eine Seele haben, uud da kann es
uns nicht befremden, daß auch iu den eskimoischen Sagen,
und zwar nicht nur in der Thierfabel, redende und mit
Ueberlegung handelnde Thiere auftreten. Von einigen
glaubt man zum wenigsten, daß sie in dieser Beziehung den
Menschen gleich begabt sind, aber diese gelten dann als über-
natürliche Wesen, und es sind sowohl beim Fange derselben
als beim Ausschlachten besondere Gebräuche zu beobachten.
Vielleicht gilt diese rücksichtsvolle Behandlung den Jnue be-
sonders nützlicher Thiere? Es gehört hierher die Sitte, daß
beim Schlachten eines Thieres Freunde und Nachbaren mit
Gaben bedacht werden. Freigebigkeit im Vertheilen der
Jagdbeute sichert den Erfolg für die nächste Jagd. Wer
im Uebersluß geizt, dem ist Jagdunglück gewiß *). Auch die
*) Es ist immerhin möglich, daß die noch jetzt in Holstein übliche
Sitte, beim Einfchlachten Wurst und Fleisch an die Nachbaren zu
die religiösen Begriffe der heutigen Grönländer.
Thiere üben Vergeltung. Der Hund ist vorschauend. Wird
er wohlgepslegt, so warnt er seinen Herrn vor Gefahr und
schützt ihn, hilft ihm in der Noth. Wie unentbehrlich dies
Thier dem Grönländer ist, ist allbekannt. Nenthiere und
Vögel rächeu sich an dem Jäger, der sie erbarmungslos
aller Jungen beraubt, dadurch, daß sie über seine Kinder
den Tod verhäugeu. Um die Gunst der Seehunde zu er-
halten, sind vielerlei Dinge beim Fang, Schlachten und Aus-
nutzen des Thieres zu beobachten. Fängt man zu viele See-
Hunde an einem Orte, so nehmen sie furchtbare Rache. Sie
nehmen Menschengestalt an, holen von der Ostküste ein Stück
Treibeis und fahren nach dem Hanfe des Feindes, den sie
bei Nacht im Schlaf überfallen. Umiarissat nennt man
dieses Gespenst, und eben so nennt man andere Feinde, welche
zur Nachtzeit schlafende Menschen überfallen*) und erschla-
gen. Sie sitzen quer im Boote und halten das Ruder außer-
halb, wie die Indianer, oder wie man zu thun Pflegt, wenn
man einen Wal beschleicht.
Als die bekanntesten der übernatürlichen Wesen seien noch
genannt:
Die Jgnersuit. Sie zerfallen in die oberen Jgnersnit
oder Kntdlik und die unteren Jgnersuit oder Atlit. Beide
wohnen zwischen den Klippen am Strande unter der Erde;
die erstgenannten in Fluthhöhe, letztere etwas tiefer. Der
Eingang zu ihren Wohnungen ist schwer zu entdecken. Oesf-
net sich ihr Wohnselfen, so erblickt man einen hübschen Strand,
ein Hans, die nöthigen Jagdgeräthe, aber Alles ist schöner
und zierlicher als bei den Grönländern. Die oberen Jgner-
suit haben menschliche Gestalt, weiße Hautfarbe, wie die Euro-
päer, kleine Nasen und rothe Augen. Sie sind den Men-
schen gewogen und unterstützen sie unbemerkt bei der Erlegung
der größeren Seethiere. Nur von fern sind sie sichtbar.
Wenn mehrere Genossen zusammen auf den Fang ausgehen,
sehen sie nicht selten, daß ein Kajakmann von einem zweiten
(einem Jgnersuit) bei seiner Arbeit unterstützt wird. Die
unteren Jgnersuit oder Atlit haben gar keine Nasen uud
kein Haar. Sie sind tückisch und fahren nur aus, um Män-
ner zu verderben. Von unwiderstehlicher Gewalt fühlen die
Kühnen sich in die Tiefe gezogen. Dort zerbricht man ihre
Geräthe, schneidet ihnen die Nasen ab und hält sie in Pein-
licher Gefangenschaft. So sehr die Atlit gefürchtet sind, so
trösten sich die Anverwandten eines ausgebliebenen Seehund-
fängers doch mit der Hoffnung, daß er nicht ertrunken, son-
deru von den Atlit geholt sei. Nach einigen Sagen sind
die Jgnersuit Menschen, die vor der großen Flnth gelebt
haben.
Kajarissat sind Seehnndsänger von übermenschlicher
Größe. Sie wohnen jenseits der entlegensten Jagdplätze im
Meere, verstehen sich auf Zauberei und können, wenn sie
eine Eisscholle besteigen und in ein kleines Rohr blasen,
Sturm und Unwetter erregen. Ihre Ruder haben nur
ein Blatt, wie die der indianischen Canoes. Bruch-
stücke von indianischen Rindenbooten, welche bisweilen an
der Küste antreiben, gelten als ihr Eigenthum.
Die Jnngpait sind gewaltige Leute, die iu Akilinek,
d. i. jenseits des Meeres, wohnen. Sie leben wie die Grön-
länder, aber ihre Kajake sind wie Berge groß und im Ver-
hältniß dazu auch ihre Jagdthiere und Fanggeräthe. Es
schicken und unter die Armen zu vertheilen, sowie der Brauch, den
letzten Teig im Troge zu einem Brote zu formen, das dem ersten
Bettler gereicht wird, und mancher ähnliche, auf gleichen Glanben
zurückzuführen ist, wenn auch die sprüchwörtliche Begründung dessel-
ben in Vergessenheit gerathen.
*) Dies erinnert unwillkürlich an die Erzählungen Hearne's und
anderer Reisenden von den Streifzügen der Indianer gegen die Es-
kimo, die sie bei Nacht im Schlaf überfielen und mit teuflischer Lust
marterten und hinmetzelten.
I. Mestorf: Die altgrönländische Religion ur
giebt Leute, welche sie aus der Ferne beobachtet haben. In
Akilinek wohnt ferner ein einäugiges Riesengeschlecht. Auch
fabelhafte Thiere giebt es dort: die Meerspinne und die
Meerlaus, welche früher den Sund zwischen Grönland und
Akilinek ausfüllten, und die Avingat, welche ein besonders
kräftiges Amulet gegen die Umiarissat abgeben. (In Labra-
dor heißt der in Westgrönland unbekannte Lemming Avingat.)
Unter den Jnue des Binnenlandes sind dieTornit
die gewaltigsten (Tunek, Plural Toruit, ist das ursprüngliche
Eskimowort für Indianer). Sie wohnen in Gegenden, die
bisweilen von Menschen besucht werden, doch ist der Eingang
zu ihren Wohnungen mit Erde und Gestrüpp bedeckt. An Ge-
stalt gleichen sie den Menschen, die sie „Küstenleute" nennen
und als Feinde betrachten. Nur ausnahmsweise nehmen sie
flüchtige Grönländer bei sich aus und verschwägern sich mit
ihnen. Sie sind zauberkundig, suchen ihren Lebensunterhalt
auf der See, die sie ohne Kajak im Nebel befahren, daher
der Nebel fprüchwörtlich „der Kajak der Tornit" heißt.
Klein wie die Zwerge sind die Jnuarudligkat, welche
in früheren Zeiten zu den „Küstenleuten" gehörten, sich aber
von diesen trennten und nordwärts zogeu. Sie besitzen, wie
alle Zwerge, manche Geschicklichkeiten. Die Europäer lehr-
ten sie Schießwassen machen. Sie selbst haben eine Waffe,
mit der man einen Menschen in weitester Ferne verwunden
und tödten kann, indem man auf ihn zielt (vergl. den Lappen-
schuß oder Hexenschuß). Den Menschen erweisen sie sich
freundlich, schenken ihnen wohl auch eine „Zielwaffe", doch
unter der Bedingung, daß sie sich derselben nicht zum Scha-
den ihrer Nebenmenschen bedienen. Ihre Wohnuugen sind
zierlich und von musterhafter Reinlichkeit, „wie die der
Europäer."
Garstige, verabscheute Wesen sind die Erkigdlit. Sie
sind schnellfüßig, wie alle Jnlandsbewohner, uud gewandte
Bogenschützen, haben aber bei einem menschlichen Oberkörper
den Unterkörper eines Hundes^und stammen vom Menschen
und Hunde ab. — Wenn Brinton (The Myths of the new
world) nach Richardson (Arctic Expedition) sagt, daß die
Eskimo an der Westküste von Grönland vom Hunde abzu-
stammen glauben, so muß diese Mittheilung auf eiuem Irr-
thum beruhen. Nach der von Dr. Nink mitgetheilten Ueber-
lieferung stammen aus einer Ehe zwischen Mensch und Hund,
wie wir deren auch in unseren Märchen kennen, die Erkigdlit
und — die Europäer.
Außer vorbenannten und noch vielen ähnlichen seltsamen
Wesen, die sich aus einer frühern oder flüchtigen Begegnung
mit fremden Eskimo- und Judiauerstämmen erklären, bevöl-
kert die grönländische Phantasie das Binnenland noch mit
fabelhaften Thieren. Da ist der Amarok (bei einigen
Eskimostämmen heißt so der Wolf), ein gewaltiges Thier,
welches die Seele aus dem Menschenkörper ziehen kann. Er
er ^msiend. Niemand kann sich vor ihm verbergen. Einem
tu e, welches zum Juua der Stärke betete, erschien Amarok
und verlieh ihm außerordentliche Körperkraft. Vögel, die
mtt ihren Schnäbeln Steine aushöhlen, Thiere, welche mit
ihren Zahnen Felsen zu Sand zermalmen und andere Schreck-
bilder halten die Furcht der Küstenbewohner vor dem Bin-
nenlande stets rege und wach.
Sind schon Erde und Meer von Geistern bewohnt, so
läßt sich denken, daß auch der Himmel mit seinen tausend
Sternen nicht unbevölkert ist. Außer den „Ballspielern"
finden wir dort die Jnue der Himmelskörper, die einst als
lebende Menschen von der Erde entsührt wurden, zeitweilig
aber dahin zurückkehren'können (Sternschnuppen?). An den
Jnue des Mondes und der Sonne haftet ein bekannter My-
thus. Aningaut, ein schöner Erdenjüngling, liebte seine
Schwester Malina. Sie floh vor ihm, beide wurden him-
Globus XIX. Nr. 2. (Februar 1871.)
die religiösen Begriffe der heutigen Grönländer. 25
melwärts entführt und in Gestirne verwandelt, und noch
jetzt flieht Malina, die Sonne, vor ihrem Bruder Aningaut,
dem Monde. Man warnt die grönländischen Jungfrauen,
nicht zu lauge in den Mond zu schauen und bei Vollmond
nicht allein draußen zu geheu. In Jngemann's anziehen-
der grönländischer Erzählung, Kunnnk und Naja, warnt
ein junges Mädchen die Freundin:
„Naja! Naja!
Sieh nicht nach dem Monde,
Aningaut ist falsch:
Er läuft ja hinter alle Schönen.
Er läuft hinter die Sonne
Den ganzen Tag —
Vom Berge im Osten
Zum Meere im Westen.
Er läuft hinter die Sonne
Die ganze Nacht
Und küßt unterwegs alle hübschen Mädchen."
Aningaut kommt, wann es ihm beliebt, zur Erde nieder.
Er ist eiu leidenschaftlicher Jäger. Seine Thiere sind ge-
zeichnet, und wehe dem, der in sein Revier kommt. Im
leichten Schlitten gleitet er pfeilschnell übers Eis. Er kann
die Seele aus dem Menschen ziehen und thut dies bei den
tüchtigsten Seehundfängern, um sie für seineu Dienst zu ge-
Winnen. Doch zeigt er sich mitunter auch gütig und schätzt
Muth uud Tapferkeit. Mondfiusterniß ist ein Beweis, daß
er zürnt. — Leute, welche den Mond (die Sonne?) besuch-
ten, sahen dort ein schönes Weib, das von hinten aber einem
Todtengerippe gleich sah. — Ob Aningaut und Malina als
Jnue des Mondes und der Sonne oder als die Gestirne
selbst gedacht werden, läßt sich nicht mit Klarheit ermitteln.
Ein gesürchtetes Wesen ist auch Erdlaveersissok (die
Eiugeweideausuehmerin), ein Weib, welches am Wege nach
dem Monde, in einem Berge wohnt. Durch närrische Ge-
berden reizt sie den Wanderer zum Lachen, sobald er aber
den Mund zum Lächeln verzieht, schlitzt sie ihm den Leib auf
uud reißt die Eingeweide heraus. Den Mond haßt sie. Wer
ihr gelobt, sie im Kampfe gegen ihn zu unterstützen, dem
verspricht sie ihren Schutz. Geräth sie in Zorn, so droht
sie die Erdstützen umzureißen. — Dr. Rink meint, dieses
Weib als Juua des Gelächters erklären zu dürfen. Uns
scheint die Auffassung als Jnua des Gewitters oder des
Sturmes vorzuziehen. Sturm und Donner sind in der
mythischen Ausdrucksweise das Lachen der Götter. Ahmt
man dem Lachen und Getöse des vorüberfahrenden Seelen-
Heeres nach, so straft der Seelenführer (der wilde Jäger) diese
Vermessenheit auf grausame Art. Diese Aehnlichkeit einer
mythischen Vorstellung bei den Eskimo und Germanen dars
uns nicht wundern; sie ist nicht die erste, die dem Mythen-
kundigen iu vorstehenden Mittheilungen aufgefallen sein wird.
Daß dieselbe nicht notwendigerweise aus einem frühen Ver-
kehr beider erklärt werden muß, beweist eine unlängst in die-
sem Blatte („Globus" XVIII, 15) gegebene Kennzeichnung
eines australischen Volksstammes, dessen wiewohl viel roherer
Geisterglaube in überraschender Weise an den Jnueglauben
der grönländischen Eskimo erinnert.
Was dem christlichen Grönländer von diesem
Geisterglauben anhaftet.
Im Allgemeinen glaubt der Grönländer noch jetzt an
alle im vorigen Abschnitte genannten übernatürlichen Wesen,
deren Existenz so wenig wie die Tornasnk's von den christ-
lichen Missionären abgeleugnet ist. Egede lehrte sogar, daß
die Jguersuit zum Teufelsgezücht gehörten, und daß er Gott
bitten wolle, er möge sie mit seinen Engelschaaren bekämpsen.
Vor deni Einfluß der bösen Mächte schützt die Taufe; die
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26 Karl Andree: Erläuterungen zu ein«
guten sucht man zu Freunde zu halten. Daß der Grön-
länder durch belehrende Lectüre in diesem Glauben erschüttert
werde, ist wenigstens fürs Erste nicht denkbar. Die weite
Einöde, die er täglich im Hundeschlitten oder Kajak einsam
durcheilt, die gewaltige Nervenspannung, langes Fasten :c.
sind ganz dazu angethau, Hallucinationen hervorzurufen, und
noch jetzt würde feine Phantasie Land und Luft mit unsicht-
baren Wesen bevölkern, wäre deren Existenz nicht schon als
Glaubenssatzung durch die Tradition bestätigt. Mit den
Pujortut (den Insassen eines Sterbehauses) wagt noch jetzt
Niemand zu verkehren. Selbst denPujortugsat vermeidet
man, d. i. ein Mann, dem durch Unglück auf der Jagd an-
gekündigt wird, daß einer seiner Angehörigen sterben werde.
Auch Kivigtut giebt es noch. Sie verkehren mit den Bin-
nenland-Jnue und den heidnischen Kivigtut, die bis ans Ende
der Welt leben. Man fürchtet sie; die Angiak (die Kinder-
seelen) gelten dahingegen als ungefährlich. An die Rache
der Thiere glaubt man allgemein. Vor nicht gar langer
Zeit wurde uoch auf erneu Umiarissat (Seehund in Men-
schengestalt) geschossen. Getaufte Kinder können nicht zu
Anger dlartugsiat erzogeuwerden. InJuliauehaab glaubt
t chinesischen Mordfächer aus Tientsin.
man noch an sie; es ist die Nähe der heidnischen Ostküste,
welche sich hierin wie in manchen anderen Dingen fühlbar
macht. In den Herrnhutercolonien weiß man, daß die Tod-
ten, die auf dem Missionskirchhofe begraben werden, nicht
umgehen; „sie können nicht einmal flöten". Am lebendig-
sten ist der Glaube an die Jgnerfnit. Der heimkehrende
Kajakmann entdeckt nicht selten an dem von ihm erlegten
Seehunde eine Wunde, die nicht von seiner Harpune herrührt:
sie wurde dem Thiere von einem Jgnersuit beigebracht, der
ihn unbemerkt beim Fang unterstützte. Die Furcht vor den
Bewohnern des Binnenlandes beherrscht den Grönländer
noch jetzt dergestalt, daß er gewisse Fjorde vermeidet und nur
in äußerster Roth sich allein aufs Binneneis wagt. In dem
Fjorde von Godthaab hat sich übrigens, wie die Eingeborenen
versichern, feit mehreren Jahren kein Amarok (mythischer
Wolf) mehr gezeigt. Den Mond anzublicken gilt für gefähr-
lich. Ob Auiugaut noch jetzt in den dänischen Districten
jagt, konnte Dr. Rink nicht erfragen. In den Herrnhuter-
colouieu wagt man den Mond zu lästern, weil die Mif-
fionäre lehren, daß man alles Weltliche verachten
soll.
Erläuterungen zu einem chinesischen Mordfächer aus Tientsin.
Von Karl Andree.
II.
Nach den von uns geschilderten Mordauftritten in Tien-
tsin benahmen sich die katholischen Missionäre und barm-
herzigen Schwestern in Peking und in anderen Städten darin
verständig, daß sie das Predigen einstellten und ihre Schulen
bis auf Weiteres schloffen. Dagegen waren manche angli-
kanifche Missionäre unvernünftig genug, nun erst recht her-
ausfordernd auszutreten. Jene in Canton erklärten, daß
sie „an einem götzendienerischen Compact mit den
Baalspriestern nicht Theil haben wollten!"
Alle Irrungen zwischen Europäern und Chinesen während
der letzten Jahre sind durch die rohe Aufdringlichkeit der angli-
kanifchen Sendlings hervorgerufen worden. Sie trieben ihr
Unwesen so arg, daß am Ende die englische Regierung scharf
gegen dasselbe auftreten und sie nachdrücklich warnen mußte.
Man behandelt in England jene „Apostel des wahren Glau-
beus" mit viel zu großer Rücksicht, aber jetzt muß doch auch
die „Times" eingestehen, „daß die Unruhen in Aang tscheu,
Schau tong, Tientsin und an vielen anderen Orten
durch den widersinnigen Eifer der Missionäre entstanden
seien" (have sprang from the imprudent zeal of Mis-
sionaires; „Mail", 22. November). Sie sagt weiter:
„Wenn wir nicht etwa recht bald in einen Krieg
mit China verwickelt werden, so wird das nicht die
Schuld der Missionäre in jenem Reiche sein, so-
wohl der englischen wie der französischen. Diese
irrepressibeln Ecclesiastiker scheinen zu glauben, daß
die Religion der Chinesen, welche sie götzendienerisch nennen,
gar keine Religion sei, und daß sie eine Invasion in das
Reich riskiren können, um Proselyten zu machen. Aber es
ist Thatsache, daß diese „umnachteten Götzenanbeter" ihrer
Religion sehr anhänglich sind, so sehr, daß die Missionär-
frage nun sehr ernsthaft geworden ist; sie allein ge-
fährdet die freundlichen Beziehungen zwischen der
chinesischen Regierung und den fremden Völkern.
Bei den Irrungen, welche durch die Missionäre hervorgerufen
wurden, haben die chinesischen Behörden sich im All-
gemeinen ganz vortrefflich benommen. . .
Wenige Wochen nach den Vorgängen in Tientsin, als
weit und breit in China große Aufregung herrschte, beliebte
es einem anglikanischen Sendling, zu zeigen, daß er auf Hei-
den, Götzendiener, Baalspriester für keinen Penny Werth
lege. Die Sache ist folgende. Unweit von Canton liegt
die Stadt Fatfchan, deren Einwohnerschaft für turbulent gilt.
Diesen Punkt erkoren sich die Missionäre, um „die Söhne
Belials" zu bekehren. Sie gewannen auch Anhänger und
wollten nun, um gegen die Götzentempel einen Trumpf aus-
zuspielen, für dieselben eine Capelle haben, zu welcher das
Geld in der üblichen Weise zusammengeschnurrt wurde. Die
Leute in Fatschan waren indeß so widerborstig, daß ein
methodistischer Missionär es für gerathen hielt, dort keine
Geschäfte mehr zu machen. Am 21. September sollte die
von den chinesischen Neuchristen aufgeführte Capelle „mit
einer großen Demonstration" eingeweiht werden, „in
großem Style"; eine ganze Schaar von Missionären und
Neuchristen wurde eingeladen, sie blieben jedoch klüglich aus.
Die Fatschaner hatten schon vorher laut erklärt, daß sie das
Gebäude niederreißen wollten, sobald dasselbe fertig fei, und
nun steckten sie es wirklich in Brand. Die Neubekehrten
wurden mit Prügeln und Steinwürfen bedacht, behielten aber
das Leben; der Anstifter der ganzen Angelegenheit, ein Re-
verend Chalmers, war fortgelaufen, als er sah, was nicht
ausbleiben konnte, und hatte seine Herde im Stiche gelassen.
Um die Warnungen, welche die englische Gesandtschaft in
Peking hatte ergehen lassen, bekümmerte sich dieser „Knecht
Jehovas" nicht. Man begreift, daß die Europäer in China
dieses Unfuges der Missionäre überdrüssig sind, weshalb
Karl Andree: Erläuterungen zu ein«
sie darauf dringen, daß „den widerwärtigen Stänkereien die-
ser aufdringlichen und zu nicht geringem Theil ungebildeten,
schlecht erzogenen Personen" ein Ende gemacht werde.
Wir lassen zur Erläuterung der Sachlage hier ein inter-
essantes Document folgen, das keines Commentars bedarf; es
ist schon an nnd für sich eine Auseinandersetzung, welche dar-
thut, wie gespannt die Verhältnisse sind. Es ist ein Brief,
welchen Tseng kwo fan, Gouverneur von Petschili und
einer der angesehensten Mandarinen im Reiche, an den engli-
schen Gesandten Thomas Wade in Peking gerichtet hat.
Schwerlich giebt es ein anderes Actenstück, das einen o
gründlichen Einblick in die gegenwärtige Anschauungsweise
der Chinesen gewährt.
Es gehört ein hoher Grad von Eigendünkel dazu, Män-
ner von solcher geistigen Begabung und praktischen Auffassung
der Verhältnisse als „Barbaren" hinzustellen. Daß der
Gouverneur in seinem Schreiben die Formeln der Höflichkeit
nach chinesischer Etikette beobachtet, versteht sich bei einem
Würdenträger so hohen Ranges von selber. Er redet des-
halb den Engländer an: „Erlauchter Prinz Wade"; den
Titel Prinz giebt er auch dem Herrn Hart, welcher als
Oberzolldirector der eröffneten Häfen in Diensten der chine-
sischen Regierung steht und ein von den Eingeborenen sehr
geachteter Mann ist. Den Styl kann man in seiner Art
als musterhaft bezeichnen. Tseng kwo fan schreibt:
„Seit wir vor nun acht Jahren von einander schieden, hat
es mich stets betrübt, daß wir getrennt leben. Sie-, mein
Herr, haben, gleich einem Vogel, Ihre Schwingen nach den
himmlischen Straßen (— der Haupt- und Kaiserstadt Pe-
king —) gelenkt, während ich armer Provinzbewohner gleich
einer zusammengewickelten Schlange auf die Meeresküste an-
gewiesen blieb. Dessenungeachtet habe ich mir oft vergegen-
wärtigt, wie glänzend Ihr Ruhm ist, obwohl ich keine Ge-
legenheit saud, persönlich mit Ihnen zu Verkehren.
Nun ist jüngst aus der Hauptstadt ein Mann bei mir
gewesen, welcher mir ausführlich entwickelte, daß Sie der Re-
gierung persönlich eine Abhandlung unter dem Titel: „Eine
kurze und klare Auseinandersetzung" eingereicht ha-
ben. Ich erfuhr ferner von jenem Manne, daß der Ober-
commissarius des Zollwesens, Prinz Hart, ein Schrift-
stück: „Ansichten eines Unbetheiligten" versaßt habe.
Beide Documente siud sehr lang; eine Sentenz ist ans die
andere gehäuft, Paragraph auf Paragraph, und jedes enthält
viele Tausend Schriftlichen. Sie handeln mit endloser Aus-
führlichkeit über chinesische und auswärtige Angelegenheiten.
Jedem verständigen Chinesen, der sie liest, müssen
dabei die Haare zu Berge stehen; er wird in Un-
willen entbrennen, er wird vor Scham erröthen
und nicht wissen, wo er seinHanpt verbergen solle.
Ambassadeur, Ambassadeur, wie tief und umfassend ist
die Liebe, welche ihr für unser Land hegt!!
3% gehorsamer Diener wagt es, privatim seine Ueber-
laschung darüber auszudrücken, daß Ihr, Gentlemen, so viel
Scharfsinn entwickelt, wenn es sich um Rathschläge handelt,
• ^n^even gebt, und doch gleichzeitig so viel Be-
schränktet des Ausfassungsvermögens in Bezug auf das be-
thätigt, was Euch selber angeht. Wo es sich um die An-
gelegenheiten Anderer handelt, da ist Euer Unterfcheidnngs-
vermögen klar wie die Sonne, aber indem, was Eure Sache
ist, so schwarz wie bic Finsterniß. Ihr behandelt die Be-
ziehungen zwischen China und fremden Ländern mit so gro-
ßem Scharfsinn; deshalb überrascht es mich, daß Ihr in
Eueren Ansichten über die Himmels lehre so weit vom Ziele
schießt, und daß dieselben unmöglich eine allgemeine An-
Wendung finden können.
Sie, mein Herr, haben viele Jahre im Reiche der Mitte
t chinesischen Mordfächer aus Tientsin. 27
gelebt und jüngst eine Rnhestätte in der Hauptstadt gefunden.
Dort ist Ihnen die Gelegenheit geboten, täglich die Reichs-
zeitnng einzusehen und mit Allem, was im Palaste vorgeht,
bekannt zu werden. Es giebt kein aus allen vier Theilen
des Reiches beim Thron einlaufendes Actenstück, von welchem
Sie nicht Kunde haben können.
Ihr gehorsamer Diener ist allzeit der Meinung gewesen,
daß der Mann, welcher an der Spitze des Reiches steht, in
seinen Handlungen mit den Gefühlen des Volkes überein-
stimmen und nach den Geboten der Himmelslehre handeln
müsse. Er darf nicht lediglich seine eigene Erhebung und
hohe Stellung ins Auge fassen. Aber aus Eueren Worten,
Gentlemen, scheint hervorzugehen, daß es für Euch noch
eine andere Lehre giebt, welche außerhalb der Lehre
des Universums steht. Um Euch das klar zu beweisen,
stelle ich die nachfolgenden Erörterungen an.
Nehmen Sie einmal an, daß ein Mann von erblichem
Adel ein stattliches Gnt besitze mit Gebänden, die so zahllos
aneinander hängen wie die Wolken. Er ist nicht im Stande,
dasselbe in allen einzelnen Theilen auszubessern, und deshalb
treten nach und nach Anzeichen des Verfalles zu Tage. Nun
kommt ein Nachbar, der schon seit Jahren nach dem Gute
begehrt hat, und spricht: „Sie, mein Herr, besitzen ein sehr
großes Haus, das an einer sehr belebten Fahrstraße liegt;
ich will Ihnen dasselbe abmiethen." Er wartet aber nicht,
bis man dazu Ja oder Nein gesagt hat, sondern zwingt dem
Edelmanns das Ja auf und nimmt mit Gewalt Besitz.
Nach einiger Zeit stellt er sich abermals ein und spricht:
„Die Maueru Ihres Hauses, mein Herr, bedürfen höchst
nothwendig der Ausbesserung; auf dem Gute treiben sich viele
Diebe und Räuber umher; weshalb halten Sie nicht Alles
in Ordnung? Wenn Sie das nicht können, will ich Ihnen
behülflich sein." Was war das Ende von der Sache? Der
Edelmann verlor sein Gut und dasselbe kam in die Hände
des Nachbars.
Nun, mein Herr, erlaube ich mir die Frage, was für
eine Lehre darin steckt? Sie 'sprechen von „Mangel an
gutem Willen und Unfähigkeit" und daß „der Mächtige den
Widerwilligen zwingen, dem Schwachen, Unvermögenden Bei-
stand leisten müsse." Ist ein Unterschied zwischen dem, was
ich gesagt habe, und dem, was Sie aufstellen? Uebrigens
wissen Sie sehr wohl, daß Fremde und Eingeborene über
den Stand der Angelegenheiten theils verschieden, theils über-
einstimmend denken.
Lassen Sie mich zunächst über die Handelsangelegen-
heiten reden.
Bislang haben die Kaiser von China die Wurzel stets
höher geachtet als die Zweige; sie haben den Ackersmann
geehrt, welcher den Boden bestellt, und den, welcher Seiden-
Würmer züchtet. Diejenigen Classen, welche Handel treiben,
sind von ihnen geringer geachtet worden. Die Verordnnn-
gen über Zollhäuser und Märkte sollten dazu dienen, daß
der Landmann möglichst in seinem Heimathorte bleibe. Han-
del über See und nach fremden Ländern wurde seit undenk-
licher Zeit streng verboten. Heutzutage jedoch werden Zehn-
tausende von Meilen auf dem gewaltigen Ocean hin und her
zurückgelegt, und zwar des Handels wegen. Menschen ans
fremden Gegenden zeigen großes Begehren, nach dem Reiche
der Mitte zu kommen, während Eingeborene des letztern kein
Verlangen äußern, nach anderen Ländern zu gehen. (— Hier
hat der Mandarin nicht an die Chinesen auf den Philip-
pinen, im Indischen Archipelagns, in Hinterindien gedacht,
wo sie nach Millionen zählen; auch hat er Australien und
Calisornien, überhaupt Amerika vergessen! ■ ) Hier ist
also im Verstände der Menschen eine verschiedene Auf-
faffung; jene des Eingeborenen ist durchaus ab-
4 *
28 Karl Andres: Erläuterungen zu ein>
weichend von der des Ausländers. Wir finden übri-
gens, daß alle Ausländer ohne Ausnahme einander gleich
sind: in sorgfältigem Abwägen von Capital und Zinsen, in
der Gier, so viel Geld als möglich herauszuschlagen, für ihre
Familien zu sorgen und ihren Hausstand so behäbig als
irgend angeht zu machen.
Von den ersten Tagen an, als die westlichen Völker an-
fingen, mit dem chinesischen Reiche Handel zu treiben, bis
herab auf den heutigen Tag, ist von ihrer Seite Alles dar-
auf berechnet worden, uns der Quellen unseres Wohlstandes
und Vortheils verlustig zu machen, und zu diesem BeHufe
haben sie Bestimmungen in die Verträge gebracht; nichts,
was darauf hinzielte, haben fie ausgelassen. Wenn aber die
westlichen Völker Alles bekommen, was bleibt dann den Ein-
geborenen Chinas übrig?
Ihr Herren verlangt, daß allemal nach Verlauf von
zehn Jahren die Verträge einer Revision unterworfen werden
sollen, das heißt: Wenn Ihr Leute aus dem Westen etwas
verlangt, so wollt Ihr das auch haben, und Ihr wollt nicht
nachlassen, bis Ihr es habt. Nun, überlegen wir einmal die
Sache und fällen wir ein unparteiisches Urtheil. Wenn Ihr
westlichen Leute etwas fordert, was China zu gewähren im
Stande ist, gut. Falls Ihr jedoch sagt: „Unsere Wagen-
räder und die Hufe unserer Rosse sollen sich der Länge und
Breite nach durch das ganze Land bewegen," dann müßten,
auf daß Enre Wünsche erfüllt würden, die fünf Gebirge und
die vier Meere Chinas, welche der Himmel geschaffen hat,
dem Boden gleich gemacht und ausgefüllt werden, um eine
Prächtige Fläche herzustellen, auf welcher Ihr Euch nach Be-
lieben hin nnd her bewegen und Alles, was Ihr begehrt,
haben könntet. Dann müßten Hunderte, Tanfende und Zehn-
tansende des chinesischen Volks Eure Sklaven werden; die
Hunderte, Tausende und Zehntausende von Waaren aller
Art, Gold und Edelsteine, würden in Euren Schatzkammern
aufgehäuft; die Hunderte, Tausende und Zehntausende von
Aeckern, Häusern und Gärten würden Euch Steuer zahlen
müssen; die Hunderte, Tausende und Zehutausende lebender
Weseu, Vögel, vierfüßiger Thiere und Fifche würden Eurer
gewärtig und Euch zu Willen sein müssen!
Wenn nun eins von alle dem nicht ausführbar wäre, so
würdet Ihr dennoch darauf bestehen. Laßt Euch indessen
sagen, daß, im Fall Ihr unverständigerweise auch nur eine
jener unthunlichen Sachen dem Volke des Mittelreiches ans-
dringen wollt, dasselbe sich in Masse erheben und Euch
seine Speere in den Bauch rennen wird. Dann wer-
den die Waaren, Gold und Edelsteine, die Ihr nur liebt und
nicht haßt, sein wie Fänlniß in Eurem Fleische, wie ein sres-
sender Krebs in Euren Knochen! Die Aecker, Hänser und
Gärten, welche Ihr so gierig ankauft und um keinen Preis
wieder verkaufen wollt, werden zu eben fo vielen Netzen und
Fallen, in denen Ihr zu Grunde gehen müßt. Die Vögel
nnd vierfüßigen Thiere und Fifche, an denen Ihr so großen
Gefallen habt, sie alle werden Eure erbittertsten Feinde sein.
Ueberall, wohin Ihr geht, selbst in Euren eigenen Wohnun-
geu, jederzeit, allüberall und unter allen Umständen werdet
Ihr Gegner finden. Und weshalb? Ganz einfach deshalb,
weil Ihr Euch nicht mit dem allgemeinen Bewußtsein des
Volkes in Uebereinstimmnng bringen wollt, und eben so we-
nig mit der Lehre des Himmels. Deshalb treten alle diese
Gewalten gegen Euch auf.
Lassen Sie mich nun von der Religion reden.
Die großen Lehrer des Mittelreiches sind die alten Kö-
nige Nyiao, Schen, Uü, Toug, Weng, Wi, Fürst Tsin und
Confucius. Diese heiligen Männer griffen nicht den ersten
besten Menschen, der vorüberging, auf, um ihm zu fageu:
„Höre, Du mußt meine Lehre annehmen." Doch vom
: chinesischen Mordfächer aus Tientsiu.
Kaiser angefangen und bis zum ärmsten Manne herab, und
von den ältesten Zeiten bis ans diesen Tag giebt es keinen
Einzigen, der nicht Bekenner ihrer Lehre wäre. Der Lehre
dieser großen Männer abzusagen und eine andere Religion
anzunehmen, das heißt so viel als unter das Vieh gehen und
freiwillig ein Vieh zu werden. Tatsächlich genommen ver-
steht es sich ganz von selber, daß alle Menschen, denen der
Verstand nicht abhanden gekommen ist, der Lehre der Könige
Nyiao, Schen, M, Tong, Weng, Wi, des Fürsten Tsin und
des Confucius folgen. Diese haben die Lehre über das Wohl-
wollen nnd die Rechtschassenheit bis zur Vollkommenheit aus-
gebildet; sie haben das Gesetz des Himmels und die Natur
des Menschen vollkommen ergründet, und in Allem, was sie
gesagt, steckt auch nicht die kleiuste Spur von Irrthum. Und
so kommt es, daß die Menschen, auch ohue daß ihnen allerlei
vorgepredigt wird und ohne daß man sie zu ermahnen brauchte,
ganz naturgemäß diese Lehre annehmen.
Nun aber drängen Lehrer ans dem Westen sich auf, und
laufen hierhin und dorthin nach allen vier Himmelsvierteln,
um die Religion des Himmelsherrn zn verbreiten; sie erler-
nen die örtlichen Mundarten, eröffnen Säle, in denen sie
Predigten halten, sprechen tausend Worte und zehntausend
Sentenzen, bis ihre Zunge nicht mehr weiter kann und ihre
Lippen trocken werden. Das Alles thnn sie, um Leute zum
Glauben an ihre Religion zu überreden, und das nennen
sie dann „Glauben an den Himmelsherrn". Nun giebt es
aber Dinge in dieser Religion, welche man unmöglich glan-
ben kann und welche selbst die, welche sie lehren, nicht glan-
ben können. Aber der gesunde Menschenverstand wird nicht
damit einverstanden sein, daß man Andere ermahnt, an das
zu glauben, was man selber nicht glaubeu kann, und noch
weniger damit, daß man Andere zu einem solchen Glanben
zwingen will. Falls sich aber trotzdem unter tausend oder
hundert ein paar finden, welche so etwas glauben, dann sind
es allemal Dienstleute, arme Schlucker, alte Bauerweiber,
das dümmste und schlechteste Volk; — möglicherweise auch
einige schlechte Subjeete, Unkraut aus dem Volke, verächt-
lichcs Gesindel, mit welchem rechtliche Leute uichts zu schaf-
fen haben mögen, Subjecte, die nichts zu beißen und zu bre-
cheu haben. Derlei Auswurf nimmt dann jene Religion
an, um Futter zu bekommen. Aber gerade Leute dieses Ge-
lichters sind es, die an Orten, wohin weder das Ohr noch
das Auge des Bischofs reicht, fortfahren, den Göttern
zu opfern nnd ihre Voreltern auf deren Gräbern zu ehren,
was doch den sogenannten zehn Geboten widerspricht. Das
kommt nicht etwa davon her, weil sie sich nicht davor fürch-
ten, „niederzufahren zur Hölle oder emporzusteigen zum Him-
mel", sondern sie thun es, weil der Himmel ihnen nnaus-
rottbar die Natur eingepflanzt hat, welche fie ein- für allemal
besitzen und welche möglicherweise durch keinerlei Geschwätz
über „Himmel oder Hölle" ausgetilgt werden kann. —
Der Mandarin erwähnt dann des Buddhismus und der
Lehre des Tao tse; beide seien zn jeder Zeit von den Kaisern
respectirt worden und man habe ihnen niemals Hindernisse
in den Weg gelegt. Buddha, sagt er, war ein geschickter,
intelligenter Mann, und seine Lehre ist durch chinesische Weise
verschönert worden; allerdings findet man in seiner Lehre
mysteriöse und unverständliche Dinge, durch welche uuwisseu-
schaftliche Leute sich haben hintergehen lassen. Was Tao tse
anbelangt, so schärst er Mitleid und Erbarmen ein, Mäßig-
keit, Reinheit; er warnt vor Selbstsucht. Der Gebieter der
Erde (d. h. der Kaiser) hat diesen Secten nichts in den Weg
gelegt nnd durch sie ist das Reich niemals beun-
ruhigt worden.
Die Religion des Himmelsherrn (die Lehre der Christen)
wurde beim Ausgange der Miug-Dyuastie in China ein-
Karl Andree: Erläuterungen zu ein-
geführt (— Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts —). Die
ersten, welche sie lehrten, waren in der Sternkunde, Geogra-
phie und Arithmetik wohl bewandert, und die Bücher, welche
sie über diese Gegenstände geschrieben haben, enthalten nnbe-
streitbare Wahrheiten, die mit den Ansichten unserer eige-
nm Gelehrten im Einklänge stehen. Deswegen gingen alle
hohen Würdenträger und Gelehrten jener Zeit gern mit
ihnen um. Nun möchte ich aber die Frage auswerfen, welche
von den heutigen Lehrern mit jenen Männern einen Ver-
gleich aushalten können? Keiner; nicht ein Einziger. Was
die heutigen Lehrer (— Missionäre —) über religiöse Sachen
vorbringen, das ist Alles qualmiges, geistloses Zeug, falsch,
seicht, roh. Sie beweisen, daß sie von dem, was im Reiche
der Mitte als Lehre gilt, rein nichts wissen. Trotzdem machen
sie es wie die Buddhisten, indem sie die Beihülfe intelligenter
chinesischer Gelehrten verschmähen und deren Erzeugnisse nicht
aufrichtig würdigen. Sie eröffnen Hallen, in denen sie pre-
digen, und geben mit unendlicher Weitschweifigkeit tolles Zeug
zum Bestm, so daß man zu träumen glaubt. Wer auch
nur ein Bischen gesunden Menschenverstand hat, kann diese
Leute (— die Missionäre —) nicht anhören, ohne daß ihm
vor Lachen der Bauch wackelt.
Der Buddhismus und die Lehre des Tao tse sind viel
umfassend und fein gedacht, doch haben beide nicht vermocht,
das chinesische Volk von den Lehren seiner alten Weisen und
Könige abwendig zu machen. Das wird noch viel weniger
die Religion des Himmelsherrn vermögen, welche ja auch so
unvergleichlich tiefer steht, als Buddhismus und Tao-tse-Lehre!
Erfolg ist unmöglich, aber trotzdem bestehen sie (— die Mis-
sionäre —) daraus, sie zu verbreiten. Ihre Absichten sind
augenfällig. Sie wissen recht wohl, daß die Chinesen ihre
Lehre niemals annehmen werden, aber sie wenden ansgedüs-
telte Mittel an, um ihre Zwecke zu erreichen. Sie zeigen
sich in Kleinigkeiten mitleidig, sie füllen Mund und Magen
armer Leute; sie thuu da und dort irgend etwas Verdienst-
liches, um Augen und Ohren der Menge zu kitzeln. Sie
schwatzen von einer herrlichen Seligkeit, von der Belohnung,
welche ihren Anhängern in einer zukünftigen Welt nicht
entgehen könne, und damit bethören sie das Gemüth der
Menschen, bringen in dem innern Wesen derselben eine ganz-
liche Umwandelung hervor und betäuben sie in einer Weise,
daß sie sich gar nicht wieder zurechtfinden können. So fal-
lm sie ihnen zum Opfer. Zu gleicher Zeit kümmern sie
sich aber nicht einen Strohhalm darum, ob es diesen Schü-
lern gut oder schlecht ergehe, ob sie leben oder sterben; ihnen
liegt lediglich daran, daß sie ihnen folgen und mit sich machen
lassen, was man will. So lange Ruhe im Reiche herrscht,
halten sie diese Kräfte im Grase verborgen, wenn sich aber
eine Gelegenheit darbietet, dann werden sie dieselben zusam-
menschaaren, zahlreich wie die Wolken, aus ihnen eine com-
pacte . Masse bilden uud sie dann gegen die Staatsgewalt
rebelliren lassen!
Wehe, wehe! Ich sehe wohl, daß in alle dem Unheil
gahrt für das Reich der Mitte. Unser Volk weiß das auch
sehr wohl, und deshalb ist es erst recht abgeneigt, jene Re-
ligiou anzunehmen; deshalb uud nicht etwa darum, daß
etwa von seinen Vorgesetzten Zwang ausgeübt würde. Ohne-
hin sind die Nehlen vom Wohlwollen nlld von der Recht-
schaffeuheit, welche von den alten Königen herrührten, ihm
tief ins Herz gedrungen. Die fünf Beziehungen: zwi-
schen Fürst und Unterthan, Eltern und Kind, Mann und
Frau, Bruder und Bruder, Freund und Freund sind der-
maßen unwandelbar mit dem Wesen der Dinge zusammen-
gewachsen, daß alles Geschwätz über Himmel und Hölle
daran nichts zu ändern vermag. Um das Ganze in Eins
zusammenzufassen: nie kann und wird der Tag kommen, an
l chinesischen Mordfächer aus Tientsin. 29
welchem die Lehren der Könige Nyiao, Scheu, M, Toug,
Weng, Wi, Fürst Tsin und Coufucius vernichtet würden,
und eben deshalb kann ailch kein Tag erscheinen, alt welchem
jene westliche Religio» im Reiche der Mitte empor zu kom-
men vermag. Wie entsetzlich albern und einfältig sind doch
die, welche jene Religion hier verbreiten wollen!
So viel über Handel uud Religio«. Es giebt aber
noch einen Gegenstand, in Betreff dessen Ihr gehorsamer
Diener sein Erstaunen ausdrücken möchte. Sie, Prinz Hart,
äußern in Ihrer Abhandlung über die Angelegenheiten des
chinesischen Reiches Folgendes: „Ich möchte die Frage auf-
werfen, ob das Reich der Mitte allzeit im Staude
feiu werde, seine sonveraine Unabhängigkeit zu be-
wahren?"
I ch möchte Sie daran erinnern, daß die sonveraine Un-
abhängigkeit des Mittelreiches allzeit durch Tugend, nicht
durch Gewalt aufrecht erhalten worden ist. Wenn es Böse
sind, welche die Zügel der Gewalt in Händen haben, dann
folgt sicherlich bald der Untergang, aber wenn die Recht-
schaffenen regieren, dann wird, trotz der Schwäche und Hilf-
losigkeit, doch Alles blühen und gedeihen. Dafür giebt es
in der Geschichte Chinas viele Belege. Nun hat der hohe
Himmel uns die Gunst erzeigt, daß die regierende Familie
China beherrscht; alls ihr sind in ununterbrochener Reihe-
folge Regenten hervorgegangen, deren Keiner feine Tugend
eingebüßt hat. Der gegenwärtige Kaiser, welcher als Knabe
den Thron bestieg, wird von seiner Mutter, unter dem Bei-
stände seiner Verwandten, liebevoll erzogen. Alle Beamten
seines Hofstaates stimmen mit einander überein; die Räuber
und Diebe im Reiche sind ausgerottet worden und alle Men-
schen innerhalb der vier Meere ersehnen ernstlich Frieden.
Weshalb sollte unter solchen Umständen das Mittelreich seine
souveraine Unabhängigkeit nicht bewahren können?
Ach, Prinz Hart! Ich besorge, daß Ihre Worte
eine ganz andere Bedeutung haben und daß Sie eigeut-
lich Folgendes sagen wollen: Die westlichen Länder beab-
sichtigen, mit vereinten Kräften einen Angriff auf das Mit-
telreich zu machen, um dann dasselbe in Stücke zu zerlegen,
wie eine Melone, oder in Scherben zu zerbrechen, wie einen
irdenen Topf. — Falls das Eure Absicht ist, dauu wird aller-
diugs das Mittelreich nicht allzeit seine souveraine Uuab-
häugigkeit aufrecht erhalten können. Aber, mein Herr, wes-
halb sprechen Sie so leichthin über einen so ernsten Gegen-
stand? Angenommen, das Mittelreich wäre unfähig, seine
souveraine Unabhängigkeit allzeit zu behaupten, — welch ein
Vortheil würde den westlichen Völkern daraus erwachsen?
Ich will nur zwei wichtige Dinge anführen: den Handels-
verkehr und die Verbreitung der Religion. Nun, wer war
es denn, welcher Euch diese Privilegien gewährt hat? War
es nicht etwa Seine kaiserliche Majestät? Das Volk, so
viel kann ich Sie versichern, war nicht im Allermindesten
erfreut über solche Zugeständnisse. Weil es jedoch des Kai-
sers Wille war und weil derselbe in diesem Betreff mit den
westlichen Nationen Verträge geschlossen hatte, wagte Nie-
mand sich zu widersetzen. Hier also ist ein großer Beweis
dafür, daß das Mittelreich im Stande ist, seine souveraine
Unabhängigkeit aufrecht zu erhalten.
Nehmen Sie aber einmal Folgendes an: Der Kaiser
veröffentlicht eines Tages einen Erlaß und sagt seinem Volke:
Wenn Ihr in jenen Verträgen Bestimmungen findet, welche
Ihr für ungeeignet erachtet, dann nehmt die Sache iu Eure
eigene Hand; ich, meinerseits, besitze keine souveraine Unab-
hängigkeit mehr. Was wird dann ersolgen? Das chine-
sische Volk fühlt sich längst belästigt und beschwert;
es hegt längst bittere Feindschaft gegen die Leute
aus dem Westen. Wenn es dann Kunde von einem sol-
30 Aus allen
chen Erlasse bekäme, dann würden selbst drei Fuß hohe Km-
der mit nackten Leibern und ungeordnetem Haar zu ihren
Speeren greisen und die vordersten im Kampfe gegen Euch
sein. Dann würde der Brand sich ausbreiten von Ort zu
Ort, wie ein Feuer iu der Wildniß, und nichts wäre ver-
mögend, ihn zu löschen. Dann würden alle gewaltigen Krie-
ger im chinesischen Reiche urplötzlich sich erheben; es wäre
keine sonveraine Gewalt da, sie zurückzuhalten, das Unheil
würde ganz ungeheuer werden, und — et, et! trotz alledem
wünscht Ihr westlichen Leute nicht, daß das Mittelreich all-
zeit seine souveraine Unabhängigkeit behaupte?
Ihr werdet freilich sagen, das sei die richtige Art, aus
der Verwirrung heraus Ordnung zu schassen." Ja wohl.
Für die Verwirrung in China hat China seine eigene Me-
thode; man gebraucht den Schwachen, um den Starken zu
bändigen. Ihr westlichen Völker seid in der That stark;
wenn Ihr aber auch nur ein einziges Mal einen Fehler
macht, dann wird der Schwache hervortreten und Euch zer-
malmen. Das ist es eben, was Euer gehorsamer Diener
meinte, als er äußerte: „er sei erstaunt, daß Ihr bei den
Erwägungen über Eure Angelegenheiten so einfältig seid und
so allen richtigen Verständnisses baar und ledig." —
Znm Schlüsse äußert der hohe Mandarin, er wolle noch
nicht alle Hoffnung aufgeben, daß man ein Einverständniß
erziele; die westlichen Leute brauchten nur aus den Verträgen
Erdtheilen.
zu eutfeructt, was Ungeeignetes in denselben enthalten sei;
alsdann würden Glück und Wohlfahrt sich einstellen. „Sollte
es jedoch so kommen, daß Ihr Euch aus Eure iu der That
nur geringe Weisheit stützen und eine Gelegenheit abwarten
wollt, noch mehr Concessionen zu erhalten, — daß Ihr
Sachen fordert, welche wir Euch unmöglich bewilligen können,
dann, seid dessen versichert, wird es den fremden Ländern so
wenig an Unruhen fehlen, wie dem Mittelreiche. Dann
wird ein Kampf sein zwischen dem Starken und dem Schwa-
chen, — um Krieg und um Frieden. Was aber dabei aus
dem chinesischen Reiche werden wird, das vermag Niemand
zu sagen!" —
Man sieht, wie in diesem merkwürdigen Schriftstück ein
concentrirter Ingrimm sich Luft macht. Es liegt kein Grund
vor zu der Annahme, daß nicht die bei weitem überwiegende
Mehrzahl der gebildeten Chinesen eben so dächte, wie Tseng
kwo fan. Mit seiner Logik darf man es nicht genau nehmen,
und Manches, was er vorbringt, ist übertrieben; die Wich-
tigkeit des Documentes liegt darin, daß es als ein Pro-
gramm der chinesischen Denknngsart angesehen wer-
den kann, und gerade deshalb haben wir geglaubt, es unver-
kürzt mittheilen zu müssen. Man ersieht aus demselben,
wie tief die Kluft ist, welche zwischen den Anschauungen der
Chinesen uud jener der Europäer liegt.
Aus allen
Aus Nordamerika.
Die organisirtenTerritorie Ii der Ver einigten Staa-
ten von Nordamerika nehmen einen größern Flächenraum
ein als sämmtliche Staaten der Union. Man hat berechnet/daß
die Territorien etwa 1000 Millionen Acres Land haben. Da-
von kommen auf
1) Washington .... 44/796,160 Acres
2) Neu-Mexico..... 77,668,640 „
3) Utah....... 54,065,013 „
4) Dacotah...... 96,596,128 „
5) Colorado..... 66,880,000 „
6) Montana..... 92,016,640 „
7) Arizona...... 72,906,240 „
8) Idaho...... 55,288,160 „
9) Wyoming..... 62,645,068 „
10) Jndianergebiet . . . 44,154,240 „
11) Alaska...... 369,529,600 „
In diesen elf Territorien leben im Ganzen höchstens eine
halbe Million weiße Menschen. Die organisirten Staaten haben
gegenwärtig etwa 39,000,000 Einwohner; in den Territorien ist
fruchtbarer Boden in Hülle und Fülle für weitere vierzig Mil-
lionen.
Die Handelsmarine der Vereinigten Staaten ist
während der Herrschaft der radical-republikanischen Partei um
mehr als eine Million Tonnen zurückgegangen. Sie bestand ani
30. Juni 1870, also am Schlüsse des Finanzjahres, aus 28,138
Fluß- und Seeschiffen aller Art mit zusammen 3,946,150 Ton-
nen Trächtigkeit. Die Zahl der Segelschiffe betrug 16,995 mit
2,135,268 Tonnen; Dampfer 3341 mit 1,015,075 Tonnen; ab-
getakelt lagen 7802 Fahrzeuge mit 795,805 Tonnen.
Die inländischen Steuern sind sehr drückend; sie haben
im verflossenen Finanzjahre (30. Juni 1869 bis dahin 1870)
die Summe von 168,560,107 Dollars eingetragen (gegen
143,027,988 im Jahre vorher). Davon entfallen auf den Staat
Erdtheilen.
Neuyork 36,381,550 Dollars, auf Ohio 19,563,763, Illinois
18,864,366, Pennsylvanien 16,748,704. Es ist kennzeichnend,
daß die Branntweinsteuer den höchsten Ertrag abwirft, fast
ein Drittel der ganzen Summe, nämlich 55,5 54,41 1 Dollars!
Auf die Tabackssteuer entfallen 31,335,967, auf Bank- und
Bankierabgaben 4,416,651, auf Eisenbahnen- und andere Eorpo-
rationen 6,868,912; Bier aller Art 6,318,326; Einkommen-
steuer 37,730,982; Steuer von Verkäufen 9,607,860; von Ver-
mächtnissen 1,671,543; Equipagen, Uhren, Silbergeschirr :c.
907,391, Gas 2,313,250, Stempel 16,544,043 Dollars. Be-
kanntlich sind auch die Schwefelhölzer besteuert.
Man hatte die Baum wollen ernte für 1870 auf 3,200,000
Ballen abgeschätzt; diese haben ein Durchschnittsgewicht von
465,72 Pfund, gegen 465,34 im Vorjahre. Der Verbrauch in
den Vereinigten Staaten hat 1870 sich auf 8,066,460 Pfund
höher gestellt als 1869. Es find gegenwärtig 847 Spinnereien
mit 7,114,000 Spindeln in Thätigkeit; sie verbrauchten 881,564
Ballen, gegen 844 Spinnereien mit 6,763,537 Spindeln im Vor-
jähre.. Auf die nördlichen Staaten kommen 738 Fabriken
mit 6,857,779 Spindeln und nur 109 mit 262,221 Spindeln
auf die südlichen Staaten; diese letzteren verbrauchten 69,067
Ballen, die ersteren 748,153. Massachusetts steht nach wie vor
in erster Linie; es hat 128 Spinnereien, 32,149 Stühle, 304,813
Spindeln und einen Jahresverbrauch von etwa 115,000,000
Pfund. In Folge der Waldverwüstung im Innern geben manche
Wasserläufe, die früher nicht versiechten, oftmals nicht mehr die
genügende Wasserkraft. — Andere, wohl zu hochgegriffene An-
gaben wollten die Ernte auf 3,800,000 Ballen annehmen; 3y3
Millionen wird sie wohl betragen haben.
Ohio hat 2,652,302 Seelen, was für das verflossene Jahr-
zehnt einen Zuwachs von nur 312,791 ergiebt. — Massachu-
setts hat 1,457,385 Seelen, Zuwachs 226,319.
Professor Marsh vom Aale College hat im September und
October 1870 eine wissenschaftliche Expedition in Wyo-
ming unternommen; er war am 15. October 1870 mit seinen
Aus allen
Begleitern wieder in Fort Bridger angelangt. Seine geognosti-
sche Erforschung der Uintahberge und der Gegend zwischen dem
GreenRiver und dem White River gab lohnende Resultate;
Marsh sand in einem ausgetrockneten Seebette viele Krokodile,
Schildkröten, Schlangen und Fische; sodann Ueberbleibsel von
Rhinoceronten und anderen tropischen Thieren, die zum Theil
neu sind.
Wie viele Osmanen giebt es in der europäischen
Türkei?
Daß der Turban nicht den Türken macht, weiß Jedermann.
Von den Slaven im osmanischen Reiche sind manche Mohamme-
daner geworden, um ihr Leben und ihre Güter zu retten; viele
derselben tragen allerdings einen religiösen Fanatismus zur
Schau, aber viele hängen, dem Islam zum Trotz, an den alten
christlichen Heiligen, die von ihnen gefeiert werden, behalten ihre
slavischen Familiennamen und bewahren ihre alten Adelsbriefe
auf, um dieselben vielleicht, unter veränderten Umständen, wie-
der zur Geltung zu bringen. Herr F. K anitz in Wien schickte
uns einen Vortrag über „die herrschende Race der Türkei auf
unseren ethnographischen Karten" zu, in welchem der gründliche
Kenner des illyrischen Dreiecks Folgendes hervorhebt: „Viele
Tausende sogenannter Türken im Sandschack Skopia sind im
Geheimen Katholiken, und sie warten>nur auf den geeigneten
Augenblick, um sich auch öffentlich als Christen zu bekennen."
Mit der amtlichen Statistik ist es in der Türkei schlimm
bestellt und über die Zahl der Türken asiatischer Abkunft ha-
ben wir gar keine irgend sichere Angabe. Darin hat Hr. Kanitz
ganz recht; wir unsererseits meinen, daß unter den, sagen wir
osmanischen Türken überhaupt nicht viel echtes türkisches Blut
zu finden ist. Das leuchtet sofort ein, wenn man bedenkt, daß
seit länger als drei Jahrhunderten ein ungemein großer Be-
standtheil der Frauen aus Georgien, Tscherkessien und früher in
nicht geringer Menge auch aus dem füdöstlichen Europa in die
Harems genommen worden sind. In den Adern der in Europa
lebenden Osmanen wird nicht viel Blut von den Vorfahren aus
der Steppe zu finden sein; selbst die Sultane sind Mischlinge.
Wir erwähnten dieses interessanten Gegenstandes kürzlich, als
wir des Obersten Millingen lehrreiche Bemerkungen über den
auch heute noch im Schwange gehenden Sklavenhandel in Kon-
stantinopel mittheilten. Heute wollen wir einige Notizen aus
dem Vortrage des Herrn Kanitz hervorheben.
Frühere Schätzungen nahmen 1,055,009 echte Osmanli an;
neuerdings hat man, ganz willkürlich, etwa 6 Millionen ange-
nommen; das wäre immerhin noch zu hoch, wenn man auch alle
Mohammedaner türkisch-tatarischen, tscherkessisch-gräkisch-albane-
fisch-slavischen Ursprungs zusammennimmt.
Alle objectiven Beobachter stimmen bezüglich der herrschen-
den Race in der Türkei darin überein, daß dieselbe in
fortwährender Abnahme begriffen sei. Das stetige Zu-
rückweichen des mohammedanischen Elements vor dem gebilde-
tern, haudelsthätigern Griechen- und Bulgarenthum in den
Städten Rumeliens ist eine unbestreitbare Thatsache. Die ver-
fallenden Minarete zahlreicher verlassener Moscheen zu Nifch,
Widin, Com, Florentin, Artscher, Rustschuk u. s. w.
sprechen dasür, daß die mohammedanische Bevölkerung
dieser Städte sich auf dem Aussterbe-Etat befindet.
Auf dem Lande geht es nicht viel besser. Eine Erklärung für
diese Erscheinung liegt darin, daß der Türke im Allgemeinen
einem reichen Kindersegen ebenso abhold, wie eine mit vielen
Kindern und besonders mit Knaben gesegnete Familie den Stolz
des christlichen Bewohners der Türkei bildet. Der Abortus ist
bei den Türken sehr in Schwung. Das■ türkische Haus zählte
deshalb selten mehr als zwei, das griechische und slavische aber
gewöhnlich fünf bis zehn Kinder. Andererseits hat auch die
ausschließlich zum Heeresdienste herangezogene mohammedanische
Bevölkerung durch die fortwährenden Kämpfe gegen Russen,
Griechen und Slaven sehr gelitten. Sie wird immer dünner.
Erdtheileu. 31
je mehr man sich von Varna westwärts gegen Serbien bewegt.
Im nordöstlichen Bulgarien fehlt sie beinahe gänzlich. Kanitz
fand dort die ehemals türkischen Gehöfte (Tschiftlik) größtentheils
verfallen oder in christlichen Händen.
Fällt es nach dem Angeführten schon schwer, das spärliche
mohammedanische Element mancher Gegend überhaupt auf ethno-
graphischen Karten ersichtlich zu machen, so wird es beinahe un-
möglich, aus diesem wieder den asiatisch-türkischen Bruchtheil be-
sonders auszuscheiden.
Aus Ostindien.
In Ostindien wendet die Regierung neuerdings der Gesund-
heitspslege der Eingeborenen eine preiswürdige Sorgfalt
zu, obwohl sie dabei auf vielfache Hindernisse stößt, weil die
einheimischen Ortsbehörden sich fchwer zu Reformen entschließen
und das Volk gleichgültig gegen sein Leben ist. In Bengalen
sind an alle Gemeinden Arzneikästen mit Quinin, Castoröl, Cho-
lerapillen und dergleichen mehr vertheilt worden. Intelligente
Eingeborene erhalten ärztliche Unterweisung, um sofort helfen
zu können, falls irgendwo eine Seuche ausbricht. Von den 145
„Dispensarien", welche man 1869 in Bengalen zählte, sind
367,757 Kranke behandelt worden, davon 85,995 weiblichen
Geschlechts. Für Hindufrauen sind Hebammenschulen ein-
gerichtet worden.
Zweierlei Arten von Ursachen des Todes, welche in Eu-
ropa selten vorkommen, sind in Ostindien sehr häufig. Schlan-
gen bisse kommen in Menge vor, und das ist auch gar kein
Wunder. In dem dichten, unbeschreiblich üppigen Waldgestrüpp,
den Dschengeln, liegen Dörfer, deren Hütten aus Bambus ge-
baut sind; zu denselben führen enge, vielfach überwachsene Pfade,
in welchen kein Europäer sich zurecht finden würde. Ueberall ist
„lebendiges Gift"; am Boden wimmelt es von Schlangen, und
die Hindu wissen das auch recht wohl. Aber trotzdem legen sich
Erwachsene und Kinder zum Schlafen auf den platten Boden
ihrer Hütte, zu welcher die Schlange ungehindert Zugang findet.
Roch immer kennen wir kein unbedingt sicheres Mittel gegen den
Biß einiger Schlangenarten; absolut zuverlässig ist kein einziges
von den Hunderten, welche man zur Anwendung gebracht hat.
Neuerdings soll die in Spiritus aufgelöste Galle der
Cobra capella (Kupferschlange) als wirksam erprobt worden
sein; doch wird dieser Behauptung widersprochen. Allein in den
nordwestlichen Provinzen sind im Jahre 1869 nicht weniger als
606 Fälle bekannt geworden, in welchen der Schlangenbiß einen
tödtlichen Ausgang genommen hat, und wie viele mögen unbe-
achtet geblieben sein! Ertrunken sind in demfelben Jahre
nicht weniger als 1302 Schiffer. Diese Elasse von Leuten ist
über alle Begriffe fahrlässig; wenn sie auch auf reißendem Wasser
fahren, binden sie, sobald sie schläferig werden, das Steuerruder
fest und schließen die Augen. Kein Wunder also, daß das Boot
aufrennt und umschlügt. —
Verbrechen und Missethaten gelten in anderen Ländern
für schimpflich und strafbar, aber in Indien, wo ja auch die
Mörderkaste der Thags aus religiösem Pflichtgefühl andere Leute
sirangulirte, giebt es ganze Stämme, deren Angehörige von
Haus aus Verbrecher find und fein müssen. Die Ein-
leitung zu der „Kriminal Tribes Bill" giebt darüber Aus-
kunft. In den nordwestlichen Provinzen, im Pendschab und in
Audh, wohnen Stämme, welche vermöge ihrer Kaste Verbrecher
sind, ähnlich wie andere Kasten dieses oder jenes Handwerk trei-
ben. Namentlich im östlichen Berar finden sie sich zeitweilig zu
Versammlungen ein, um sich über demnächst zu veranstaltende
Raub- und Plünderungszüge zu verständigen. Der Oberbeamte
jenes Diftrictes, ein Major Nembhard, ist über ihr Treiben ins
Klare gekommen. „Wenn ein Mann sagt, daß er ein Badhak
sei oder ein Sonoria, so sagt er damit auch, daß er ein Ver-
letzer der Gesetze sei, daß er stets ein solcher gewesen und daß
er es bis ans Ende seiner Tage bleiben wolle und werde. Dem
ist auch so; er kann unmöglich anders, denn er folgt nur
32 Aus allen
dem Gebote seiner Kaste; seine Religion gebietet ihm, ein
Verbrecher zu sein. Diese äußerst gefährliche Menschenclasse hat
ihre wohlgegliederte Organisation; jede einzelne Bande hat ihren
Bezirkshauptmann, der die Plünderungszüge leitet. Dem neuen
Gesetze zufolge sollen sie nun alle in eine Liste eingetragen und
streng beaufsichtigt werden; es ist ihnen geboten, ihre Ortschaf-
ten nicht mehr zu verlassen. Wer das Verbot übertritt, soll mit
unnachsichtlicher Strenge bestraft werden. —
Uns will bedünken, daß in keinem andern Lande der Welt
das Regieren und Verwalten schwieriger sei als gerade in In-
dien, wo die gesellschaftlichen und religiösen Verhältnisse so ver-
wickelt, die Völkerschaften so ungleich und mannichsaltig, die Ge-
gensätze so schroff sind. Bald bereiten die Hindu und bald die
Mohammedaner den Engländern Verlegenheit. Diesen wird in-
deß die Behauptung ihrer Herrschaft nur dadurch möglich, daß
sie die einander feindlichen Bestandteile gegenseitig balanciren.
Diese liegen einander vielfach in den Haaren und die Regierung
muß dann den dritten Mann abgeben. —
Vor einiger Zeit lasen wir einen Bericht, welcher die gegen-
seitige Stellung der Bekenner Brahmas und der Anhänger des
arabischen Propheten kennzeichnet. Die höheren Hindukasten ha-
ben dem Gouverneur der nordwestlichen Provinzen eine Denk-
schrift eingereicht, in welcher sie Klage führen. Im Jahre 1870
fiel dasNamna umi, ein hohes Fest der Hindu, auf denselben
Tag wie das mohammedanische Moh arrem. Dabei habe die
Regierung den Mohammedanern alle Vortheile eingeräumt. Man
muß nämlich, daniit sich keine Fehde entspinne, beide Theile
sorgfältig auseinander halten und dafür sorgen, daß sie bei ihren
Umzügen nicht zusammentreffen. Die Jslamiten hatten zu der-
selben acht Stunden bewilligt erhalten, die Hindus nur drei.
Man habe den ersteren ihre Procefsionen auch dann noch er-
laubt, als schon der Befehl gegeben worden fei, daß dergleichen
nicht mehr stattfinden dürften. Dadurch feien die Mohammeda-
ner um eine ganze Woche bevorzugt worden. Solche Dinge
machen dann sehr böses Blut. In den nordwestlichen Provin-
zen liegen manche Hindutempel in Trümmern; sie sind in den
häufig vorkommenden religiösen Fehden von den Mohammedanern
zerstört worden; wenn die Hindus die Oberhand behalten, rei-
ßen sie ihrerseits Moscheen nieder. —
Mil manchen indischen Radschas steht die Regierung auf
gutem Fuß, und der gegenwärtige Vicekönig, Lord Mayo, weiß
sehr wohl, daß Haupt- und Staatsactionen, bei welchen großer
Prunk und Pomp entfaltet wird', auf die Hindus nicht 'ohne
Wirkung bleiben. Wir wollen aus einem längern Berichte über
die Rundreise, welche Lord Mayo im September und Oetober
gemacht hat, Einiges hervorheben.
Der Vicekönig wurde vom Maharadscha von Dscheypur,
einem Radschpntensürsten, glänzend empfangen. Nicht weniger
als einhundert und fünfzig prachtvoll aufgeschirrte Elephanten
standen in einer Reihe; auf jedem dieser Thiere saß ein statt-
licher Reiter. Lord Mayo, der von einem zahlreichen Stab in
Gallanniform begleitet war, wurde vom Radscha mit Hände-
schütteln begrüßt, und dann bestiegen beide den britischen Staats-
elephanten, ein prächtiges Thier, und hielten auf demselben
ihren Einzug in die Stadt, während die Kanonen donnerten.
Die Handah, d. h. das Prachtzelt auf dem Elephanten, starrte
von Gold und Silber. In Dscheypur war alles Volk in Be-
wegung; die Stadt ist ohne Frage eine der hübschesten in ganz
Indien. Man gelangt durch das östliche Eingangsthor in eine
reichlich 80 Ellen breite Straße, die über eine Viertelstunde lang
ist; die Häuser sind hoch und lustig, von verschiedener Architek-
tur, und machen mit ihrem säubern Aussehen einen gefälligen
Erdtheilen.
Eindruck. Am Ende derselben liegt ein großer Platz, von wel-
chem mehrere andere Straßen nach verschiedenen Richtungen hin
auslaufen. Der Palast des Maharadscha ist von weißem Mar-
mor und liegt in der Mitte der Stadt; bis zu demselben bil-
deten vom Thore her Reiter und Fußvolk ein glänzendes Spalier.
Die Truppen präsentirten vor dem Staatselephanten das Gewehr.
Am Thore von Adschmir standen achttausend Ragakrieger in
Reihe und Glied. Die Nagas verheirathen sich niemals und
ergänzen ihre Reihen durch Adoptiren von Kindern anderer Leute.
Die Hälfte derselben marschirte dann mit dem Zuge, welchem
sie sich anschlössen, während mehrere von ihnen vor dem Ele-
phanten einherschritten und Kriegstänze aufführten. Der Vice-
könig konnte mit dem Empfange, welchen der Maharadscha ihm
bereitet hatte, zufrieden sein. Dieser ist ein Reformer; er hat
auf eigene Kosten und freiwillig gute Straßen in seinem Gebiete
angelegt, und es ist ihm hoch anzurechnen, daß er nicht bloß in
seiner Hauptstadt, sondern in allen übrigen Ortschaften streng
auf Sauberkeit hält.
q- * %
— Ein Brief des Dr. Kirk aus Sansibar vom 8. Decem-
ber an Roderich Murchison meldet, daß die nach Udschidschi am
Tanganyika-See abgesandte Karawane, welche Vorräthe für Li-
Vingstone dorthin bringen sollte, glücklich angelangt ist. Der
Araberscheich Said in Unganyembe meldete Herrn Kirk, daß
Livingstone noch nicht von Manimes (?) zurückgekommen sei,
man erwarte jedoch seine Ankunft in der nächsten Zeit. Wir
wissen nun, daß Livingstone ausgedehnte Wanderungen
in der westlich vom Tanganyika-See liegenden Region
gemacht hat. Briefe von ihm selber sind nicht nach Sansibar
gelangt; wahrscheinlich gingen sie mit den Karawanen verloren,
welche durch die Cholera hinweggerafft worden sind.
— Ueber Hayward's Ermordung sind durch einen
Herrn Drew, der in Diensten des Maharadscha von Kaschmir
steht, einige nähere Umstände bekannt geworden. Drew über-
zeugte sich durch den Augenschein, daß Hayward's Körper durch
Säbelhiebe verstümmelt worden war; es scheint, als ob man
ihn vorher durch Steinigung besinnungslos gemacht und zu Bo-
den geworfen habe. Die Leiche ist zu Gilgit, im dortigen
Fort, begraben worden.
— Im colombischen (d. h. neugranadinischen) Staate Eauca
find, außer Gold und Silber, auch Kohlenlager entdeckt
worden.
— Charakteristisch für die Sitten und Anschauungen der
russischen Landbevölkerung ist folgendes (in derSaratow'-
schen „Gouv.-Ztg." mitgetheiltes) Beispiel von Volksjustiz:
Eine Bauerssrau im Kirchdorfe Schuhany hatte unerlaubte Zu-
sammenkünfte mit dem Sotnik des Dorfes in dem Hause eines
verabschiedeten Soldaten gehabt. Der Mann hatte sie dafür
zuerst in seiner Hütte durchgeprügelt, dann brachte er sie noch
in die Bauernversammlung, wo man sie auf Befehl des Sstarosta
und zweier Alten entkleidete und ihr das Hemd über den Kopf zog,
während der Mann sie dreimal mit stets frischen Ruthen peitschte,
so daß das Blut in Bächen von ihr herunterlief. Jedesmal
stand die Unglückliche auf, fiel vor dem Manne auf die Knie
und bat um Verzeihung. Der Soldat, in dessen Hause die Zu-
sammenkünfte stattgefunden, mußte 3 Rubel Strafe zahlen,
welche sofort vertrunken wurden. Der Ssotnik kam
damit ab, daß er der Gemeinde einen Vierteleimer Brannt-
wein gab und sich verpflichtete, dem beleidigten Ehemanne fünf
Fuhren Holz anzufahren.
Inhalt: Römische Bilder. Von Franz Koppel. (Mit fünf Abbildungen.) — Die altgrönländische Religion und die
religiösen Begriffe der heutigen Grönländer. VonJ, Mestorf. (Fortsetzung.) — Erläuterungen zu einem chinesischen Mordfächer
aus Tientsin. Von Karl Andree. (Schluß.) — Aus allen Erdtheilen: Aus Nordamerika. — Wie viele Osmanen giebt es
in der europäischen Türkei? - Aus Ostindien. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Nedaction verantwortlich: H- Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vrannschweig.
Hierzu eine Beilage.
%v>
Band xix.
Jo 3.
lit besonderer Herücksiclltigung der Anthropologie unä Etbnologie.
ii fl
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1871. l
Römische Bilder.
Von Franz Koppel.
II.
Mehr als jemals sonst fühlen wir uns gerade jetzt an
die bescheidenen Anfänge des Papstthnms zurückerinnert.
Pins der Neunte, dessen Macht-
wort in weltlichen Dingen
heute kaum noch über die Höfe
des Vatican hinansreicht, mag
nicht vergessen, daß es eine
Zeit gab, wo der Statthalter
des Herrn nur im Schooß der
Erde, Stockwerke tief unter
dem schallenden Weltverkehr
von Rom, im Angesichte der
Todten die Anerkennung der
Lebenden genoß. Dort in der
stillen Stadt, in der jungen
Gemeinde der „Koma sotter-
ranea" war schon die ganze
hierarchische Rang- und Amts-
leiter fertig, aber ihre höchste
Sprosse reichte noch nicht zum
Lichte des Tages hinauf, wie
viel weniger führte sie zu hoch-
thronender Höhe des Lebens.
Es war wohl ein eigenthüm
gottergebener, je gefahrdrohender in dem Labyrinthe der Ka-
takomben, die nur durch wenige geheime, leicht verschließ-
bare Zugänge mit der Ober-
welt zusammenhingen.
Zu dem, ich darf nicht fagen,
belebten, wohl aber an Resten
des Lebens reichen Mittelpunkt
der unterirdischen Todtenstadt
einen directen Zugang erschlos-
sen zu haben, ist das Ver-
dienst des bekannten Archäo-
logen Cavaliere de Rossi.
Eine Inschrift, die ganz zu-
fällig in einer Mgne vor der
Porta Sebastiana, rechts von
der Appifchen Straße, seine
Aufmerksamkeit erregte, gab die
erste Veranlassung zu den Plan-
mäßigen Nachgrabungen, welche
noch im Jahre 1852 zu dem
längst gesuchten Grabe des hei-
ligen Calixtus führten, das heißt
in das Herz dieses von den
Frommen des vierten Jahr-
Hunderts sogenannten „Jeru-
lich Dasein derAndacht und des Todtengräber. Nach einem alten Gemälde in den Kata- Hunderts sogenannten n^eru-
Gottesdienstes, um so inniger, komben des heiligen Calixtus. salems der JJuuttyur des
Globus XIX. Nr. 3. sFcbniar 1871.)
34
Franz Koppel: Römische Bilder.
Malerei aus dem ersten Jahrhundert (angeblich) in einer Capelle der Katakomben von San Calixto.
Franz Koppel:
Herrn". Hier in diesen Katakomben wurden auch, wenn
man einer Inschrift an dem aufgefundenen Grabe des heili-
gen Cyprian Glauben schenken darf, die Leichname der Apo-
Römische Bilder. 35
stel Petrus und Paulus eine Zeitlang verwahrt. Im zwei-
ten und dritten Jahrhundert aber war dort unten in der
Untergrundbasilika von S. Calixto die Residenz des heiligen
' Musicirender Engel von Melozzo da Forli.
Stuhles und das Centrum der päpstlichen Verwaltung. Man
zeigt noch die — wir würden heute sagen bombensichere —
Zelle, welche dem berufenen geistlichen Herrn der Welt zum
Arbeitszimmer diente. — Statt
der Vorposten, Schweizer, Zuaveu
oder französischen Besatzung hatte
der damalige Papst nur eine Reihe
von Bettlern, die von Meilenstein
zu Meilenstein auf der Appischeu
Straße die Wache hielten. Die
Legende erzählt davon: Als die
heilige Cäcilia ihren heidnischen
Mann Baldrian dem Papste zur
Tause schicken wollte, sagte sie zu
ihm: Mache Dich aus und gehe
bis zum dritten Meilenstein der Via
Appia, dort werden Dich einige
Bettler um ein Almosen bitten, Du
aber sagst zu ihnen, Cäcilia grüßet
Euch, damit Ihr mich zum Greis
Urban führet u. s. w. Am 22.
November aber des Jahres 222
starb die fromme Frau selbst den
Märtyrertod, indem sie erst zur
Betäubung in ein heißes Bad ge-
setzt und dann hingerichtet wurde.
Aus den zahlreichen Katakomben-
inschristen, griechischer wie latei-
nischer Sprache, läßt sich leicht die
ganze Reihe der Christenversolgnn-
gen in der schweren Zeit der
ecclesia militans herauslesen.
Sonst enthalten diese Epitaphe, genau wie bei uns, gern
ein Lob des Verstorbenen, ein Wort der Gattenliebe, ein
Zeichen der Verehrung, den Stolz des Glaubens und den
Musicirender Engel von Melozza da Forli.
Trost des Wiedersehens. Sehr häusig auch tritt bildlicher
Schmuck hinzu und schriftliche Erwähnung des Standes, wie
das folgende Beispiel deutlich zeigt.
Die Ueberschrist sagt: „Dio-
genes, ein Todtengräber, ruht in
Frieden; am achten Tage vor den
Calenden desOctober." Das Bild
zeigt einen jungen Mann, der mit
einer bis über die Kuie reichenden
Tunika bekleidet und mit Sanda-
len beschuht ist, in der rechten Hand
die Hacke und in der linken die zu
seiner Maulwurssarbeit uuentbehr-
liche Lampe hält. Anderes auf seine
Arbeit bezügliches Handwerkszeug
umgiebt ihn.
Aus zahlreichen Inschriften geht
hervor, daß die Wittwen häufig das
Gelübde thaten, nicht mehr zu hei-
rathen, und dann viduae dei ge-
nannt wurden; sie führten als-
dann ein mehr ascetisches Leben,
besuchten Kranke und Gefangene,
hauptsächlich aber die Märtyrer.
Durch Händeanstegen wnrden sie zu
Diacouissiuueu geweiht und ge-
hörten nunmehr zum eigentlichen
Stande der Geistlichen. Selbst
Jungfrauen konnten diese Weihe er-
halten und hießen dann auch merk-
würdigerweise — Wittwen. Diese
Diaconissinnen hatten Hauptfach-
lich die Werke der Barmherzigkeit gegen Frauen zu üben; sie
unterrichteten aber auch die weiblichen Katechumeuen, entklei-
deten sie vor dem Taufact und behüteten den Eingang zum
Die Fornarina im Palazzo Barberim.
36 Franz Koppel:
Frauenraum in der Kirche. — Bei dieser Gelegenheit sei
darauf hingewiesen, daß sich mit Hülfe der Grabschriften
leicht die ganze schon bestehende Rangordnung der geistlichen
Hierarchie nachweisen läßt: Bischöfe, Priester, Diaconen,
Subdiaconen, Akolythen, Exorcisten, Lectoren, Grabschausler,
denn diese Fossores bilden in der That einen Niedern Orden.
In den Malereien von S. Calixto ist auch so recht die
symbolische Ausdrucksweise der Evangelien wieder zu erkeu-
nen; da bedeutet z. B. der Anker mit seiner unwillkürlich
an das Kreuz erinnernden Form stets Glaube und Hoffnung,
die allein festhält auf den Wegen des Lebens; die Taube,
die mit einem Oelzweig im Schnabel dahinfliegt, ist das
Symbol der christlichen Seele, die in Frieden von der Welt
scheidet; eben so das Schiff, das am Fuße eines Leuchtthurms
anlegt; der Fisch versinnbildlicht sogar den Sohn Gottes —
in Folge einer griechischen Wortspielerei, wonach IX&T2J
(das griechische Wort für Fisch) die Anfangsbuchstaben zu
dem heiligen Titel 'irjöovg Xqlötos ®sov 'Tiog 2^cotrjq
(Jesus Christus Gottes Sohn Heiland) zn einem Wort der-
bindet. Auch das Brot als Zeichen des heiligen Abendmahls
kommt häusig vor; Daniel z. B. in der Löwengrube als
Patron der Märtyrer; die drei Männer im feurigen Ofen,
fowie Jonas, als Bürge für die Wiedergeburt durch das
Wasser der Taufe und den Glauben, zeigt unsere Abbildung
zu beiden Seiten des betenden Menschensohnes.
Je nachdem diese sinnbildlichen Darstellungen in Grup-
Pen zusammenstehen, lassen sie sich wie eine hieroglyphische
Sprache übersetzen. Zum Beispiel ein Anker mit einem Fisch
verbunden heißt: hoffe auf Christus; der Fisch, der ein Brot
trägt, heißt: Christus opfert sich selbst, und so immer fort
an der Hand der bekannten Bibelstellen und Gleichnisse vom
guten Hirten, vom Fischer, dem Säemann, und wie sie alle
heißen.
Wohl die älteste erhaltene dieser Malereien, die sich in
einer gewölbten Capelle befindet, stellt mit rührender Naivetät
solche biblische Allegorien dar, die sich jedoch ganz auffallen-
derweife um die durchaus heidnische Figur eines Orpheus
gruppiren. Dieses merkwürdige Monument soll bis in das
erste Jahrhundert hinaufreichen. Die Symbolisirung des
Heilands in der Gestalt des Alles durch sein liebliches Sai-
tenspiel bezwingenden Orpheus ist jedenfalls bemerkenswerth,
als wäre die Kirche sich von Anfang an auch des großen
Einflusses, den sie auf die sinnliche Seite des Menschen aus-
zuüben später sich bestrebte, bewußt gewesen.
Doch lassen wir die Untersuchungen darüber, indem wir
aus der Katakombennacht wieder zum Tageslicht hinausstei-
gen, hinter uns, sie gehören auf ein anderes Gebiet: in der
Kunst aber, das können wir ini Vatican selbst bestätigt sin-
den, hat zur Zeit der höchsten Blüthe selbst das christliche
Element das heidnische nicht bezwingen können.
Nur in den Tagen des Cimabne, Duccio und Giotto
durchdrang der altchristliche Glaube tief und verklärungsselig
Römische Bilder.
die Künstler, denen die Unschuld der darzustellenden Engel
über Alles ging; in Fiesole noch ist der Glaube die Seele,
die Alles durchhaucht, dann aber faßt entsprechend der Idee
des Humanismus in den Wissenschaften und in der Poesie
ein weltlich heiterer, heidnischer Sinn immer mehr Platz im
Herzen der großen Meister, die berufen waren, das Höchste
in ihrer Kunst zu leisten. Perngino zum Beispiel, der Leh-
rer Raphael's, malte zwar exstatisch fromm dreinschauende
Bilder, war aber nichts desto weniger nach der Aussage Va-
saris in seinem Leben ein ganz gesunder Heide.
Filippo Lippi schenkte seinen Zeitgenossen Heiligenbilder,
die für die Vorsäle des Himmels gemalt erscheinen können,
so gottselig sehen sie aus, aber er entführte die Novize, welche
ihm als Modell faß, aus dem Kloster Prato. Pinturichio malte
über die Thür eines Zimmers im Appartamento Borgia,
dessen Ausschmückung Alexander der Sechste ihm übertrug,
die allerheiligste Jungfrau mit dem Antlitz der Signora Ginlia
Farnese, die doch, genau genommen, nur zu dem Bilde der
Ehebrecherin hätte sitzen dürfen.
Zu den Meistern, welche den Uebergang bilden vom alt-
christlichen Glaubens- zum natürlich-finnlichen Schönheits-
ideale der Renaissance, gehört auch Melozzo von Forli, aus
der Schule der Paduaner, welchen Sixtus der Vierte schon
nach Rom berief. Er schmückte das Grabmal des Cardinals
Pietro Riario und die Tribüne der Santi Apostoli mit
Fresken, welche leider im Jahre 1711 bis auf wenige Reste
zerstört wurden. Unsere Abbildungen zeigen einige der Engel,
mit denen das Deckengewölbe der Capelle bedeckt war, von
vollendeter Meisterschaft. Sie befinden sich heute in der
Stanza Capitolare der Sakristei zu St. Peter.
Sixtus der Vierte, dieser Gönner Melozzo's, berief über-
Haupt die besten Maler nach Rom zur Ausschmückung seiner
weltbekannten Capelle, welche später den Raum hergab für
die großartigste Schöpfung des größten Meisters unter Allen,
des Michel Angelo, bei welchem ein altes Wort Gregor's
des Großen in Erfüllung gegangen ist. Dieser hatte näm-
lich prophezeiet, die Zeit werde kommen, wo das Ideal des
Zeus und das Christi in des Künstlers Vorstellung ein-
trächtiglich neben einander wohnen. Michel Angelo hat in
zwei Jugendarbeiten die ergreifendste Gestalt des Christen-
thums und die tollste, ausgelassenste Figur der griechisch-
heidnischen Welt aus sich herausgeschaffen in der Gruppe
der Jungfrau mit dem todten Heiland auf den Knien (die
Pieta in St. Peter) und in der für den Römer Jacopo
Gallo kurz vorher gearbeiteten Statue des trunkenenDacchns.
Aber sein jugendlicher Rivale in der Meisterschaft, der
göttliche Raphael, gab ihm auch hierin nichts nach; er schuf
das reinste Ideal aller katholischen Kunst in der Mutter mit
dem Kinde, und hatte Laune genug, in der Fornarina des
Palazzo Barberini uns das Conterfei seiner eigenen sinn-
lichen Liebe zu ewigem Gedächtniß zn hinterlassen.
Hermann Vambery: Herrn Forsyth's Reise nach Jarkend.
37
Herrn Forsyth's Reise nach Jarkend.
Von Hermann Vambery.
In einem Berichte, den wir im Lause des verflossenen
Jahres über den Ausflug zweier englischer Reisenden nach
Jarkend in dieser Zeitschrift veröffentlicht haben, ist die An-
deutung gemacht worden, daß die englische Regierung die
Mission des Herrschers in Ostturkestau, Jakub Kuschbegi,
oder Atalik Gazi, wie er sich noch nennt, nach Calcutta
durch die Sendung einer ihrer diplomatischen Osficiere zu
erwiedern gesonnen sei. Dieses Vorhaben ist nun (wie Sie
im „Globus" schon mehrmals erwähnten) zur Thatsache ge-
worden. Der Carl of Mayo hat Herrn T. Forfyth, einen
in commerciellen Angelegenheiten erfahrenen Civilbeamten,
in Begleitung eines ansehnlichen Gesandtschaftspersonals,
nach Jarkend geschickt, um, wie es heißt, die Handelsinter-
essen beider Länder, welche in der Neuzeit ein regeres Leben
entfalteten, durch beiderseitiges Uebereiukommen zu stützen
und zu fördern.
Die Mission hatte wohlverstanden auch Nebenzwecke;
man wollte nämlich jenseit des Karakurnmpasses dasselbe
Freundschaftsverhältniß zu Stande bringen, welches seit eini-
ger Zeit zwischen Afghanistan und Indien besteht. Wie es
sich bis jetzt herausstellt, scheint die Mission in erster Rich-
tung nur wenig geleistet, in letzterer aber entschiedenes Fiasco
gemacht zu haben. Für die Erweiterung unserer Kenntnisse
über diese Gegend mag sie jedoch von einigem Erfolge sein,
da sich einige der mitgesandten Herren mit der Fauua und
Geologie beschäftigt und photographische Ausnahmen bewerk-
stelligt haben. Wir wollen daher unseren Lesern, bis der
ausführliche, officielle Bericht über die Reise zur Verössent-
lichnng gelangt, einige Mittheilungen über diese erste euro-
Püifche Mission jenseit des Karaknrnmpasses vorlegen.
Herr Forsyth reiste am 22. April 1870 ab; am 26.
war er in Dschelender und gegeu Ende in Srin Neger (Sri-
nagar), der Hauptstadt Kaschmirs. Hier erhielt er die Nach-
richt, daß der Herrscher von Ostturkestan in einen Krieg
verwickelt sei; doch da es sich nach eingeholter Erkundigung
herausstellte, daß keine besondere Gefahr vorhanden wäre, so
wurde letztgenannter Ort um die Mitte des Monates Juni
verlassen und der Weg auf der Straße durch Ladak und den
Karakurnmpaß angetreten. Anfangs Juli wurde Lih er-
reicht; hier schlössen sich Dr. Cayley und Mr. Shaw, ferner
der heimkehrende Gesandte des Atalik Gazi der Expedition
an, die nun ganz schlagfertig am 7. Juli ihren Weg fort-
setzte.
Es war dies keine unbedeutende Karawane, denn die
englische Partie allein bestand aus 60 Mann und 130 Ba-
gagethieren; außerdem hatten noch der erwähnte osttnrkestani-
sche Gesandte und ein heimkehrender Pilger, Kazi Seid Mu-
hammed Jakub, ein Neffe des Atalik Gazi, der in Beglei-
tung seines Harems reiste, auch ein großes Gefolge mit sich,
und wissend, daß die Strecke nicht besonders viel Futter für
die Thiere zu liefern im Stande ist, muß den Herren wohl
gleich im Anfange vor den bevorstehenden Strapazen recht
bange gewesen sein. Die Reise ging beinahe 30 Stationen
lang über eine mehr als zum dritten Theil unbewohnte und
unfruchtbare Strecke. Nur zwei Tage führte sie den Ufern
des Indus entlang, dann folgte ungefähr 12 Meilen lang
ein reizendes Thal bis an den Fuß des Tfchang-La-
Pasfes, der bei einer Höhe von 17,600 Fuß einen verhält-
nißmäßig guten Auf- und Abgang besitzt. Jenseits des ge-
nannten Passes stieß man noch auf einige Dörfer und bäum-
reiche Gegenden, dann aber zog man drei Wochen lang durch
leere Wüsteneien. Darauf folgte der Maffimik-Paß,
der 18,474 Fuß hoch, mit seinen wilden, kahlen Hügeln auf
die fernen schneebedeckten Bergesspitzen hin eine entzückende
Aussicht bot, bis die Reisenden endlich auf diese Art die
Mündung des großen Tschang-Tschen-mo-Thales er-
reichten, wo die Besitzungen des Maharadscha von Kaschmir
aufhören.
Jetzt aber begannen erst die eigentlichen Schwierigkeiten.
Die Karawane hatte den Tschang-Leng-La-Berg zu passiren,
wo sich kein Halm Gras vorfand, und da die mit dem Vor-
rathe beladenen Thiere noch nicht einmal in Sicht waren,
fo war die Gesellschaft keiner geringen Gefahr des Hunger-
todes ausgesetzt. Als eine Merkwürdigkeit in diesen nnge-
heuren Gebirgen erwähnen die Reisenden eines ganzen Sal-
Peterfeldes, das mit einem für Geschmack und Geruch nicht
unangenehmen Schaum bedeckt und dabei weiß schimmernd
wie frischgefallener Schnee war.
Was Herr Forsyth mit seinem Gefolge durch diese uu-
wegsamen Riesenberge bis zu den Ufern des Karakafch zu
leiden hatte, das wird ein interessantes Capitel in seinem
Berichte bilden. Auf Jarkeuder Territorium angelangt, eil-
ten seine zwei tatarischen Reisegefährten voraus, um seine
Ankunft anzuzeigen. Er wurde auch bald darauf bestens
empfangen, und der Dadschah *) (Gouverneur) von Jarkend
ließ ihm sagen, daß der Chef des Landes wohl im Norden
sich an einem Feldzuge gegen die rebellischen Tuugauis be-
theilige, er aber, nämlich Forsyth, demuugeachtet als will-
kommener Gast angesehen werde. Am 23. August hielten
die Engländer in diesen seiner Ausdehnung und Bevölkerung
zufolge größten Ort Osttnrkestans ihren Einzug und wurden
während ihres Aufenthaltes von sechs Wochen der Gegen-
stand ausnehmender Höflichkeit und Gastfreundschaft. Jar-
kend, eine Handelsstadt, die in Wichtigkeit selbst Taschkend
und Bochara nicht nachsteht, erfreut sich einer vorzüglichen
Polizei. Handel und Wandel gehen daselbst einer merklichen
Blüthe entgegen, und die Zuvorkommenheit, mit welcher die
Briten hier allseitig behandelt wurden, würde selbst manche
Etikette an europäischen Höfen beschämen.
Warum Herr Forsyth den Hauptgegenstand seiner Reise,
nämlich die Zusammenkunft mit dem Atalik Gazi, verfehlte,
ist uns noch immer ein Räthsel, das uns um so weniger
erklärlich ist, da der indische Correspondent der „Times",
dem wir bei diesem Berichte folgen, noch hinzufügt, daß der
Herrscher von Ostturkestan schon einige Tage nach Forsyth's
Abreise in Jarkend angelangt sei. Es heißt, die Mission
*) Dadschah ist ein persisches Wort und bedeutet eigentlich:
„Der Mann, von dem mau Gerechtigkeit fordert." 'st dies eine
uralte Benennung der Nichter und Ortsvorsteher bei Völkern irani-
scher Abkunft. Im heutigen Persien ist diese Benennung schon längst
verschwunden, im Osten aber lebt sie noch. Die Türken haben dieses
Wort, sowie viele andere, welche gesellschaftliche Einrichtungen be-
zeichnen, von den alten Jraniern übernommen.
38 I. Mestorf: Die altgrönländische Religion und
habe strenge Ordre von Seiten des Lord Mayo erhalten,
nicht Uber den Winter in Jarkend zn verweilen; da der Weg
im October gewiß schwieriger gewesen wäre, als im Juni
und Juli, so sollte der eilige Aufbruch selbst um einige Tage
nicht verzögert werden dürfen. Hierüber läßt sich, wie ge-
sagt, bis heute keine bestimmte Ursache angeben, aber ob es
die religiösen Begriffe der heutigen Grönländer.
der Wille der englischen Regierung gewesen ist oder nicht,
so werden dieses Mal unsere Kenntnisse über diesen fernen
Theil Asiens ans Kosten der Diplomatie sich bereichern. Wir
sehen daher den Pnblieationen, die Herr Forsyth, Dr. Hen-
derson und Herr Shaw erscheinen lassen werden, mit Un-
gednld entgegen.
Die altgrönländische Religion und die religiösen Begriffe der
heutigen Grönländer.
Von I. Mestorf.
III.
Vermittler zwischen den Menschen und den über-
sinnlichen Mächten.
Es ist einzelnen Sterblichen die Macht verliehen, ein
drohendes Unheil abzuwenden oder ein eifrig erstrebtes Gut
zu erlangen. Diese Macht gründet sich indessen ans ein
Wissen, das in gewissem Grade ein Jeder sich aneignen kann,
dessen höchster Grad aber das Anga-Knnek, die Weisheit
der Angakut oder Priester bildet. Diese Weisheit erlangt
man nur von Tornasuk, und deshalb werden alle aus ihr
hervorgehenden Glaubensmittel als erlaubt und gut betrachtet,
zum Gegensatze der von einer dunkeln, ungenannten Macht
erlangten Hexenkünste (Kusuiuek), die für böse und un-
erlaubt gelten.
Die Glaubensmittel sind: Lebensregeln, Opfer, Gebet
und geweihte Gegenstände (Amulet und Tupilek). Die
Lebens regeln zielen auf einen unbewußten Cultus gewisser
Jnue, z. B. der Jnue der Jagd, der Luft, der Witterung,
der Todten u. a. m. Sie bestehen in strengen Fasten und
gewissen Gebräuchen in der Kleidung, bei der Arbeit, beim
Aufenthalt in freier Luft u. s. w. — Die Opfer beschrän-
ken sich auf Gaben, mittelst derer man gewisse Local-Jnue
zu gewinnen fucht. Der Jnua der See liebt z. B. Fuchs-
fleisch und Fuchsschwänze, weshalb die Kajakmänner diesem
Füchse zu opfern pflegen. Nahrungsmittel, Geräthe und
andere beliebige Kleinigkeiten werden dem Jnua eines Fjor-
des, eines Vorgebirges im Vorüberfahren hingeworfen. Auch
die Beerenfammler versäumen nicht, dem Jnua des Distric-
tes Opfer zu bringen; doch bedarf es, um sich ihrer Freund-
fchaft zu versichern, noch anderer Rücksichten. Einige ver-
tragen nicht, daß man in ihrer Nähe lacht, andere, daß man
mit Fingern auf sie weist, noch andere gerathen in Zorn,
wenn ein Fremder zuerst den Ort besucht.
Das Gebet kennt zwei Formen: das Serranek
drückt einen Wunsch oder eine Bitte aus ohne Nennung des-
jenigen, von dem man Gewährung hofft, das Kernaiuek
ruft ein bestimmtes Wesen um Hülfe an. Ob im Serra-
nek selbstgewählte Worte wirksam sind, läßt sich nicht behaup-
ten. Gewöhnlich bedient man sich des Serrats, einer an-
gelernten Formel, die in besonderm Tonfall gesprochen wird.
Solcher Gebetformeln, die nur auf je eine besondere Sache
anwendbar sind, giebt es eine große Anzahl. Sie vererbten
sich von Vater aus Sohn, wurden demnach Familiengut und
als solches käuflich und verkäuflich. Der Missionär Mahn,
welcher diese verschiedenen Gebete zuerst unterschied, nennt
das Serrat, wenn es an die Seelen der Vorfahren gerichtet
ist, das Hausgebet oder das Gebet au die Hausgöt-
ter. Den Ursprung dieser Gebetsormelu kennt Niemand.
Man glaubt, sie seien zuerst von einem Angakok festgestellt,
doch verliert sich ihre Kenntniß in die graneste Vergangen-
heit. Nur vou einem Serrat, welches die Brandung des
Meeres stillt, heißt es, man habe es einer Mewe abgelernt.
Das Familiengebet wird gemeiniglich von einem alten Manne
verrichtet, welcher bei der Ceremonie das Haupt entblößt.
Amnlete (Arnnat) sind geweihte Gegenstände, die man
entweder beständig an sich trägt, oder seinen Geräthen und
Waffen einfügt, oder nur bei besonderen Gelegenheiten an-
legt. Sie bestehen in Gliedmaßen vom Menschen oder Thier,
oder in Dingen, welche einem angesehenen Manne, oder
einem überirdischen Wesen eigen gewesen sind, oder zu ihm
in Beziehung gestanden haben, und ist es offenbar der dem
Amulet innewohnende Jnua eines höher begabten Wesens,
welcher ihm Kraft verleiht. Ein Lachs z. B. macht den
Besitzer gewandt und ungreifbar; ein Riemen, mit dein ein
Angakok bei den Atlit gefesselt war, macht den Kajakmann
tüchtig; der Schleifstein eines Jnuarudligkat (Zwerges) macht
unverwundbar. Wirksam wird eiu Amulet erst, nachdem es
durch Serrat geweiht worden. Jeder Mensch besitzt deren
mehrere, die ihm schon als Kind von den Eltern angehängt
werden.
Tnpilek ist ein durch Kunst geschaffenes Thier, welches
auf Befehl seines Herrn die Gestalt wechselt, und dessen man
sich bedient, um einen Feind zu verderben. Man nimmt
zu dem Zwecke Knochen verschiedener Thiere, hüllt sie in
eine Thierhaut, spricht ein Serrat darüber und legt sie in
fließendes Wasser. Nach gewisser Zeit nimmt man das Bün-
del heraus und trägt es mit Wiederholung des Serrats ins
Meer, wo es liegt, bis der Zauber vollendet ist. Ist das
Thier nach Wunsch gelungen, sendet man es an den Ort
seiner Bestimmung. Das Tupilek wird im Geheimen ge-
stellt, mit dem Beistande jener mehrfach erwähnten unbe-
uamteu Macht. Es steht fonach den von Tornasuk erhal-
teueu Glaubensmitteln direct entgegen und dient nur bösen
Zwecken. Trotzdem wird es nicht zu den unerlaubten Kün-
sten gezählt, weil nach grönländischem Raisonnement auch
die von Tornasuk verliehenen Mittel bösen Zwecken dienen
können. Gefährlich ist das Tupilek aber, insofern es, wenn
bei dem Zauber ein Fehler begangen wurde, oder wenn das
Neue Arbeiten über die slavischen Ortsnamen in Deutschland.
39
Individuum, zu dem man es schickt, unter dem Schutze einer
stärkern Macht steht, sich gegen seinen Urheber wenden und
denselben auffressen kann.
Die Entfernung der Seele aus dem lebendigen Menschen
erfolgt theils durch äußere Gewalt, theils zufolge besonderer
Körper- oder Seelenzustände (Träume, Verzückung, Fieber).
Ohnmacht und Scheintod mögen diesem Wahn zu Grunde
liegen. Wird die Seele durch den Mond-Jnua geholt, so
durchreist sie die ganze Welt und weiß wie ein Angakok von
den verborgensten Dingen zu berichten. Je schwächer der
Verstand, je geringer die Urtheilskraft in weltlichen Dingen,
desto klarer blickt das Auge in das Verborgene und Znküuf-
tige. Die Gabe legt man deshalb allen Geisteskranken,
namentlich den Schwachsinnigen bei, die man als einen Se-
gen für die Gemeinde betrachtet.
Gelingt es einem Elternpaar, dem mehrere Kinder star-
ben, eines aufzuziehen, so gilt dieses für ein sonderlich be-
gabtes Geschöpf, dem kein böser Zauber schaden kann (in der
Voraussetzung nämlich, daß die älteren Kinder durch solchen
getödtet seien). Piarkusiak heißt ein solches Kind, welches
in allen Dingen seinen Launen folgen darf und durch befon-
dere Kleidung vor anderen Kindern ausgezeichnet wird. Ent-
hält sich eine Mutter der Speise und des Trankes in so
hohem Maße, daß sie täglich nur einen Bissen verschluckt
und aus einer Muschelschale trinkt, so sichert sie dadurch ihr
Kind vor bösem Zauber. Vorschauend wird ein Kind, das
ein Angakok während der Geisterbeschwörung aufs Knie setzt.
Auch solche Leute, welche sich dem Priesterstande hatten wid-
men wollen, aber die Prüfungszeit nicht beendet hatten, wuß-
ten mehr als gewöhnliche Leute und konnten verborgene und
zukünftige Dinge ergründen.
Den erlaubten Schutz- und Glaubensmitteln entgegen
steht das Knsninek, eine Kunst, welche anrüchig war, wie
der Sudzauber der Nordgermanen. Menschenleichen und
gewisse Thiere spielten dabei die Hauptrolle. Mischt man
Jemandem ein Stück von einem Leichnam unter seine Speise,
so verhängt man Wahnsinn oder Tod über ihn. Befestigt
man es an eine Harpune oder an eine Fangleine, so kann
der Eigenthümer derselben kein Thier wieder erlegen; steckt
man ein Stück Seehundfleisch in ein altes Grab, so hat der-
jenige, welcher den Seehund schoß, Unglück auf der nächsten
Jagd. Besonders geschickte Hexenmeister heißen Jliseetsut.
Sie können in den Leib derjenigen fahren, die sie verderben
wollen. Nur dem Angakok sind sie erkennbar, und zwar da-
durch, daß ihre Hände und Arme bis an den Ellenbogen
schwarz sind. Werden die Unthaten der Jliseetsut offen-
kundig, so sind sie der gesetzlichen Strafe verfallen.
Was dem christlichen Grönländer von diesem
Glauben geblieben.
Die christlichen Missionäre haben Alles, was wir unter
Hexenkünste verstehen, durch Serranek übersetzt und das Kn-
suinek ganz unberücksichtigt gelassen. Selbst diejenigen Le-
bensregeln, welche der Gesundheit förderlich waren, werden
als Zauberei bezeichnet und als unchristliche Handlung scharf
gerügt. Der Grönländer felbst hält die Glaubensregeln
seiner Väter für unverträglich mit dem Christenthum, allein
er glaubt an ihre Kraft und unterscheidet Serranek und
Kusuiuek wie gut und bös. Alle Lebensregeln, welche Ent-
haltsamkeit und Selbstüberwindung heischen, läßt er uube-
achtet, in der Zuversicht, daß die Taufe und andere kirchliche
Handlungen Ersatz dafür bieten, und was er früher von
dem Angakok beanspruchte, das muß jetzt der christliche Pre-
diger leisten. Dahingegen pflegt er auf Reisen den Jnne
zu opfern. Amnlete sind gleichfalls in Ehren gehalten, und
folglich muß auch das zu ihrer Weise nöthige Serrat nn-
vergessen sein. Ein Grönländer sah unlängst, daß sein Ka-
jak sich von selbst bewegte, und glaubte, daß ein Jliseetsuk
darin sitze. Er bat deshalb einen Piarkusiak, von vorn und
seitwärts in das Boot zu schießen. Dieser sprach bei jedem
Schuß leise Worte— das Serrat, welches das Geschoß wirk-
sam machte. Fast jeder Kajak trägt noch heute sein Amulet,
welches aber so versteckt angebracht ist, daß es schwer hält,
es zu entdecken. Kaffeebohnen, Zeitungspapier, Fetzen von
der Kleidung eines Europäers gelten als besonders kräftig.
Was zur christlichen Religion gehört, taugt nicht dazu; nur
das Zeichen des Kreuzes soll tobsüchtige Geisteskranke ver-
scheuchen, und bei der Verteidigung gegen einen Umiaris-
sak erweist sich nichts wirksamer, als ein Blatt aus dem
Gesangbuche als Vorladung benutzt. — Tupileke werden
noch heutigen Tages fabricirt, und in der Umgegend von
Julianehaab giebt man dem Piarkusiak noch immer ein be-
sonderes Kleid. Hat ein Familienvater Unglück auf der
Jagd, sterben ihm die Kinder, da ist dem Hause ein Kn-
suiuek angethan. Rink erlebte es, daß ein Mann, welcher
zufällig im Trinkwasser ein Jnseet verschluckte, sich dem Tode
versallen glaubte, in dem Wahn, daß mit dem Thiere ein
todtbringendes Kusuiuek in ihn gefahren sei.
Neue Arbeiten über die slavischen Ortsnamen in Deutschland.
R. A. Während wir mit der Erkenntniß unserer deutschen
Ortsnamen, zumal seit Förstemann's Arbeiten, so ziemlich
zum Abschluß gelangt waren, schwebte mehr oder minder ein
ungewisses Düster über den Ortsnamen im Osten unseres
Vaterlandes, in den ehemals slavischen Gegenden, welche
durch eine Linie, die sich vom Böhmerwald und dem Fichtel-
gebirge längs der Saale und Elbe erstreckt, von den rein
deutschen Gegenden des Westens geschieden sind. Hier und
da gehen die slavischen Ortsnamen noch über die bezeichnete
Linie hinaus, z. B. reichen sie bis weit in den Thüringer-
wald hinein. Weniger bekannt ist, daß die Slaven auch in
größerer oder geringerer Menge sich über die Inseln der
Ostsee erstreckten. Bei Rügen und Fehmarn, die nahe der
Küste liegen und von dieser nur durch einen schmalen Sund
getrennt sind, hat die ehemalige Anwesenheit der Slaven
nichts Auffallendes und ist historisch beglaubigt. Adam von
Bremen (11. Jahrhundert) schreibt (Buch IV, 18): „Von
jenen Inseln aber, welche den Slaven zugekehrt liegen,
heißt die erste Fembre (Fehmarn). Diese liegt den Wag-
rern gegenüber, so daß sie von Aldinbnrg (Oldenburg) aus
zu sehen ist, sowie die, welche Laland heißt. Die zweite ist
den Wilzen gegenüber gelegen; diese haben die Raner (Rü-
40 Neue Arbeiten über die slavis
gcner) inne, ein sehr tapferes Geschlecht der Slaven. —
Diese beiden Inseln sind nun voll von Seeräubern und den
blutigsten Banditen und verschonen keinen, der hinüberfährt."
Aber noch viel weiter haben die Slaven über die In-
seln der Ostsee sich ausgebreitet gehabt; ob in größeren
Mengen, muß freilich dahingestellt bleiben.
Sind die Slaven auch wesentlich ein continentales Volk,
so geht ihnen doch Befähigung zum Seewesen keineswegs
ab, wie allein schon die seetüchtigen Dalmatiner beweisen,
welche das Material zur Bemannung der österreichischen
Flotte liefern. Ja, sollte man dem nicht immer zurechuuugs-
fähigen Kollar glauben, so haben die übrigen seefahrenden
Völker Europas viele ihrer auf das Seewesen bezüglichen
technischen Ausdrücke den Slaven entlehnt^).
Wie dem auch sein möge, auf einigen dänischen Inseln
haben sicher Slaven gesessen, und zwar sprechen dafür, wo
historische Beweise mangeln, die Ortsnamen. Wir wollen
hier auf eine vergessene und in Deutschland wenig bekannt
gewordene kleine Schrift aufmerksam machen: Schiern,
om den slaviske oprindelse til nogle stedsnavne paa
de danske Smaaöer (lieber den slavischen Ursprung einiger
Ortsnamen auf den dänischen Inseln. 8. 37 S. Kopen-
hagen 1855). Es geht daraus mit Gewißheit hervor, daß
ans Laaland und Falster, vielleicht auch auf Langeland,
einst Slaven gewohnt haben. Der Wechselverkehr zwischen
den pommerschen, mecklenburgischeu und holsteinischen Slaven
und Dänemark war von je ein reger. Fanden nicht kriege-
rische Berührungen statt, dann trat der Handel in sein Recht.
Wie leicht konnten unter diesen Verhältnissen kleine slavische
Colonien auf den dänischen Inseln entstehen oder die wilden
Seeräuber Fehmarns siedelten sich dort an, hatten dort
Schlupfwinkel, die sie natürlich mit slavischen Namen bezeich-
neten, welche später von den Dänen beibehalten wurden.
Solche slavische Namen sind auf Laaland Kremnitze Gab,
in welchem vollständig das slavische Kremnice erhalten ist,
zu dem sich viele Parallelen in ganz Osteuropa finden; dann
an der Ostküste das Dorf Binitz, westlich davon Tillitz
und Knditz. Fehlen auch für diese Dorfnamen urkundliche
Bezeichnungen, so ist deren Slavicität doch außer allem
Zweifel. An der Küste Laalands liegt die kleine Insel B il-
lese Holm. Der Name läßt aus dem Skandinavischen sich
nicht erklären und deutet auf ein flavifches Bjelice — Weiß-
insel. Auf Falster liegt ein Koselitze, auf Langeland ein
gleichfalls ganz uuskaudinavisch klingendes Putselykke, das
auf ein slavisches Butschelitz (Wurzel buda, wie in Bautzen)
hinweist. — Ohne seine Ansicht näher zu begründen, giebt
Riuo Ouehl auch in seinem Buche „Aus Dänemark" an,
daß die südliche Hälfte Bornholms ehemals von Slaven
besiedelt gewesen sei. —
Die Gesichtspunkte, nach welchen die Slaven die Orte
und Oertlichkeiten benannten, sind die nämlichen, wie bei
den Deutschen. Zunächst hielt man sich an die ins Auge sal-
lenden Lagen, Höhen, Berge, Thäler u. s. w. Als Gruud-
Wörter dienten hier hora, Berg; werch, Hügel, Höhe;
chlum, Berg; dol, Thal. Dann griff man zu Farben-
*) Kollar hatte keine Ahnung von Sprachvergleichung und er
schrieb nach Bapp. In seiner italienischen Reise (S. 198 f.) hau-
delt er von den Wechselverhältnissen der italienischen und slavischen
Spracht. Nicht mehr und nicht minder wird da aus einander gesetzt,
als daß die wichtigsten Kultureinrichtungen der Italiener slavische
Benennungen führen I Wir wollen hier nur einiges hervorheben,
was auf die Schifffahrt Bezug hat. Barca, die Barke, kommt ihm
her vom slavischen l>ar oder war, Wohuuug, Haus auf dem Lande
oder Wasser. — Batello, Boot, vom slavischen buda, Hütte. —
Caravella und Corvettt, vom slavischen korba oder korab, Einbaum.
•— Flotta, Flotte, von plut.i 3 plytwati, fließen. Gondola von
kontina, Winkel. — Piloto, Lootft, von plt', Floß. — Siroceo von
zarko, glühend heiß u. s. w.
en Ortsnamen in Deutschland.
bezeichuuugen, die eben so oft angewandt wurden. Dahin
gehören bely, weiß; cerny, schwarz; zeleny, grün; cer-
weny, roth.
Auch Alles, was mit dem Walde und der Haide zusam-
menhing, lieferte den Slaven Stoff zu Ortsbenennungen.
Les, der Wald; hola, die Haide; drewo, Holz; jenk, der
Strunk. Von einzelnen Bäumen und Gewächsen buk, die
Büche (Bockwa); dub, die Eiche (Deubeu); briza, die
Birke (Brießnitz); lipa, die Linde (Leipzig); werba, die
Weide (Werben); grab oder hrab, die Weißbuche (Gra-
bow); jawor, der Ahorn (Jaueruik); woaa, die Espe
(Oschatz); jasen, die Esche (Jeßnitz); olsa, die Erle
(Oelsuitz); topol, die Pappel. Khojna, bor und smrek,
die Föhre oder Kiefer (Kaina, Bora, Schmeritz); ja-
blonka, Apfelbaum (Gablouz); kal das Weißkraut (Ka-
lau — Kohldorf); mvob, das Moos (M och au).
Beschaffenheit und Bestandteile des Bodens geben einen
weitern Gesichtspunkt ab. Zemja ist der allgemeine Begriff
für fruchtbaren Boden; mit dobry, gut, hängen zusammen
z. B. Dobra; Dobrilugk ist gute Aue oder Wiese. Die
Unfruchtbarkeit bezeichnet suchi (Suchomast), hluchi (Glau-
chau). Hierhin gehören noch folgende Begriffe: kamen,
Stein (Kamenz); glina oder lilina, Lehnt (Gleina,
Glien); ruda, rothe Erde, Eisenstein (Reudnitz); mokro,
naß, sumpfig (Möckern); bloto, Morast (Blatten,
Blotno). Kaum sollte man annehmen, daß in sogruudver-
schiedener Lage befindliche Städte wie Stolpe in Pommern
und Stolpen in Sachsen, einem gleichen Etymon, welches auf
eine gleiche Beschaffenheit hinweist, ihren Namen verdanken.
Und doch ist dem fo. Ltolp oder slonp heißt Pfahl, Säule. Das
niedrig, in sumpfiger Ebene gelegene Stolpe ward anf Pfäh-
len, die in den Sumpf gerammelt wurden, erbaut, und bei
Stolpen in Sachsen ist bekanntlich eine der ausgezeichnetsten
säulenförmigen Basaltabsonderungen, die zurNamengebnng
einlud.
Auch das Wasser in allen seinen Formen gab Anlaß zur
Ortsbenennung. Reka, Fluß (Regnitz, Regen, Rietschke);
prerow, Wassergraben (Prerau); broda, Furth (Deutsch -
Brod, Eisen-Brod). Ebenso die Eigenschaften des Wassers
haben zur Namengebnng dienen müssen, wie belo, weiß;
cerny, schwarz; bystry, reißend (daher Bist ritz und Weiß e-
ritz); teply, warm (Teplitz).
Auch Thiere wurden berücksichtigt, wie von ^elen, Hirsch,
Jelenan; von oder welk, Wolf, Welkau abzuleiten
ist. Lobr, der Biber, ist im Flußuameu Bober enthalten;
von koza, Ziege, und kosel, Ziegenbock, sind benannt Ko-
sel, Koslau; vou bolub, Taube, Golembin und Go-
lombki; von Lokvl, Falke, Sokol (in Böhmen und Ser-
bien); von ryba, Fisch, Ribnitz und Rybnik.
Ein weiterer Gesichtspunkt bezieht sich ans die Ansiede-
luug, Gebäude, Wohnungen. Hierhin sind zu rechnen wes,
das Dors, erhalten in Weske Nowawes; buda, die Hütte,
Bude, in Bautzen (wendisch Budischin); kolna, der auf
Pfählen (kol) erbaute^ Schuppen, daher Köln bei Meißen,
Köln in Berlin, öyrke^' und kostel, beides für Kirche,
daher Zerkwitz und Kostelitz. Nlyn, die Mühe, daher
Mlinek und Mlynsk. 6rvd, grad, hrad und bradek,
Schloß und Schlößchen, daher Groditz, Gratz.
Endlich nach Personennamen. Von Jan, Johann, stam-
men Janowitz, Jänisch, Jänkendors; von Domasch,
Thomas,Domsdorf; vonPietr,Peter,Pietzfch,Peitzfch,
Pietzke; von Knb, Jakob, Kubitz; von Wratislaw, Wro-
clav Breslau; von Boleslav Buuzlau.
Adjectiva und Adverbialbegriffe werden, wie bei uns
Deutschen, von den Slaven bei der Ortsbenennung in aus-
gedehnten! Maße augewandt. Nowy neu und stary alt in
C. O. Marsh's Reise ^
Nowgorod und Stargard, Alt- und Neuburg; welki
groß und maly klein in Welki und Malkwitz; dale fern
und blisko nah in Dahlen und Blieskau; deutsch und
serbisch, njemski und serbski, in Nimschen und Zerbst.
So viel möge über die allgemeinen Gesichtspunkte gesagt
sein, und diese bieten dem Forscher in Bezug auf Etymologie
selten oder gar keine Schwierigkeit. Im Volksmunde der
Deutschen sind die slavischen Ortsnamen aber oft so sehr
verstümmelt worden, daß, wenn die urkundlichen Formen
fehlen, eine Entzifferung manchmal kaum möglich wird. Oft
wurde dem slavischen Namen ein deutsches ähnlich klingendes
und für die deutsche Ausfassung einen gewissen Sinn gebendes
Wort untergeschoben. So machte man (Die slavischen Orts-
namen in der Oberlausitz und ihre Bedeutung. Festschrift
zum dreihundertjährigen Jubiläum des Gymnasiums zu Bu-
dissin. Von I. E. Schmaler. Bautzen 1867.) aus Lu-
boraz Liebrose; aus Miloraz Mühlrose; aus Stro-
zisco (b. i. Wachplatz) Strohschütz; aus Lichan Leich-
nam; aus Njebelcicy Nebelschütz; aus Nadzanecy
Nadelwitz; aus Sepsecy Schöpsdorf; aus Tranje
Thräue; aus Wysoka (Hoch) Weißig; aus Zahoii (herr-
schaftliches Feldstück) ist gar eine Flur Sauhahu geworden.
So in Sachsen. Wo der Deutsche mit Slaven zu-
sammentraf, er blieb sich in der Corrumpirnng der Orts-
namen stets gleich, denn auch in Böhmen entstellte er die-
selben entweder in Folge der Uukenntniß ihrer Bedeutung,
oder wegen der für ihn schwierigen Aussprache. In Böh-
men machte er aus Postpoloptry ein Postelberg, aus
Sobechleby ein Oberklee, aus Silove gar eine Eule.
Dort findet man übrigens auch solche zweiuamige Ort-
schasten, von denen der deutsche mit dem tschechischen Na-
men absolut nichts zu thun hat. So Wüüngau-TiVbon;
Taus-Ovlvazlioe; deichenbetg-Liberec it. a.
Wo, wie hier, die ursprünglichen slavischen Formen erhal-
tcn sind, wird natürlich die Erklärung des verballhornten
deutschen Ortsnamens leicht; ohne die urkundliche Form weiß
aber auch der tüchtigste Forscher mit einem Mühlrose oder
Sanhahn nichts anzufangen. Der Volksmund, der auch gern
etymologisirt, behilft sich dann in seiner Weise. An Kü-
strin (polnisch Kostschrin) knüpft er eine Geschichte von
„ich küsse Trin'", und bei Bautzen (weudisch Budischin)
nimmt er die wendische Sprache zu Hülfe und läßt den mit
dem Bau dieses Ortes beschäftigten Fürsten die Boten, welche
ihm die Nachricht von der Niederkunft seiner Frau bringen,
fragen: Bude syn? Ist's ein Sohn? (Eigentlich: Wird's
ein Sohn?)
Die Bewohner von B öh misch-Kamnitz, heute Deutsche,
kennen die ursprüngliche Bedeutung ihres von Kamen, Stein,
abgeleiteten Ortsnamens nicht mehr und leiten ihn gar von
„Ka' Mütz'", keine Mütze, ab, weil der erste Knabe, der
durch den neu aufgebauten Ort lief, keine Mütze hatte! In
diesen Erklärungen ist der Volksmnnd überall gleich naiv
im Westen Nordamerikas. 41
und leicht zufriedengestellt. Uebrigens sind diese Ableitungen
nicht schlechter als jene von Altona, welches mit „allzu nah"
(bei Hamburg) erläutert wird. Man vergleiche dazu Eldena
in Pommern, Altona in Sachsen, Ortschaften, für welche
flavischer Ursprung erwiesen ist.
Während so im deutschen Munde die slavischen Namen
abgeschliffen oder corrumpirt wurden, erhielten sich, nebenbei
bemerkt, bei den conservativeren Wenden die ursprünglichen
Formen sowohl ihrer eigenen als der deutschen Ortsnamen
viel reiner. Daß das deutsche Wehrsdorf in der Lausitz
ein Wernersdorf fei, erkennt man am leichtesten aus der
wendischen Form W ernarj ecy; Wolmsdors (Wolframsdorf),
röendtfd) Wolbramocy; Belmsdorf (Bellmannsdorf), wen-
disch Belmanecy; Markersdorf (Markwardtsdorf), wendisch
Markwarcicy. In allen diesen Fällen läßt die slavische
Form besser das Etymon erkennen als die deutsche.
Eben so zeigt sich, wie hier in der Lausitz, in Böhmen,
daß die slavische Form, die der deutschen Umbildung nicht
unterlag, häufig das Ursprünglichere oder doch eine Mahnung
daran bewahrte, gegenüber der umgebildeten deutschen Form.
SoKysberk(Geiersberg), in welchem das mittelhochdent-
sche Air, Geier, noch durchklingt. Eine Anzahl solcher sla-
vischer Ortsnamen finden wir in einer vorzüglichen AbHand-
lnng von Dr. Jgnaz Peters in Leitmeritz (Mittheilungen
des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen, VII,
S. 1. 1369). Eben so wird dort aber gezeigt, wie vorsich-
tig man in einem sprachlichen Grenzgebiete mit der {Er-
klärung von Ortsnamen sein muß: denn ganz deutsch klin-
gende Ortsnamen erweisen sich oft als gut flavifch und um-
gekehrt.
So ist der Dorfname Radelstein ein verkappter slavi-
scher Name, dessen UrtextHradist'any lautet; Wetterstein
bei Böhmisch-Aicha ist aus ve Trti (im Schilf) entstanden,
hat aber die slavische Präposition irrthümlich mit herüber-
genommen. Man sieht hieraus, wie genau man den Ortö-
namen auf den Grund nachgehen muß, denn Radelstein wie
Wetterstein hält ein Jeder auf den ersten Blick für gut deutsch.
Eine interessante Analogie bietet ein altberühmter, ursprüng-
lich lateinischer Name in der tschechischen Form: Aachen
heißt bei den Tschechen Cachy, worin noch die alte abge-
kürzte deutsche Präposition steckt (z'Achen, ze Achen; das tsche-
chifche c steht für unser z). Andere solche Grenzformen
finden wir in Böhmen noch häufig. So ist augenscheinlich
das tschechische Rozmital eine Umbildung des deutschen Ro-
senthal; das deutsche Bierloch bei Laun aber das slavische
brloh, Wildlager. Krummau, tschechisch Krumlov, haben
die Slaven für sich in Besitz genommen. Peters aber weist
ihnen nach, daß es feinen Namen von der Krümmung der
Moldau hat, wie Elbogen von der Krümmung der Eger.
Krummau liegt an der „Krnmben onwe". Dagegen ist
Schlackenwerth wieder slavischen Ursprungs; es wurde
von Slavek von Rosenberg begründet und nach ihm benannt.
C. O. Marsh^s Reise im Westen Nordamerikas.
Im „weiten Westen" Nordamerikas liegen ausgedehnte
Landstrecken, Gebirgszüge und Flußläufe, welche erst wenig
bekannt sind und in denen die Wissenschaft aus reichliche Aus-
beute hoffen darf. Die verschiedenen „Exploriug Expedi-
ttons" , die seit etwa fünfzehn Jahren unternommen worden
sind, um die verschiedenen, zur Anlage von Eisenbahnen ge-
Globus XIX. Nr. 3. (Februar 1871.)
eigneten Bodenverhältnisse zu ermitteln, haben große Resul-
täte in geographischer und naturwissenschaftlicher Hinsicht
erzielt; dafür liefert das große, aus uicht weniger als drei-
zehn Quartbäuden bestehende Werk, welches der Congreß
veröffentlichen ließ, vollgültige Beweise. Diesen großen For-
schungsexpeditionen sind dann manche andere in verschiedenen
42 , C. O. Marsh's Reise im
Landestheilen, insbesondere in Oregon, Californien, dem
Territorium Washington, in Utah und Arizona gefolgt. Aber
auch weiter uach Osten hin, zwischen dem obern Missouri
und den Felsengebirgen/ finden wir auch heute noch Regionen,
die sehr wenig bekannt, theilweise noch von keinem Weißen
Manne durchzogen worden sind. Einen Theil derselben hat
im Laufe des Sommers 1870 der Naturforscher C. O.
Marsh durchforscht, und seine Reise ist in Bezug auf geo-
graphische und geologische Resultate von großer Wichtigkeit.
Wir entnehmen einem längern Berichte Uber dieselbe („New-
york Herald", 31.December) die nachfolgenden Angaben.
Die Stadt New-Häven in Connecticut rühmt sich,
eilte der besten Hochschulen Nordamerikas zu besitzen, das
s2)ate College. An derselben ist Marsh Professor der Pa-
läontologie und Director des ungemein reichhaltigen geologi-
schen Museums. Schott im Jahre 1869 hatte er eine wis-
senschaftliche Reife nach wenig bekannten Gegenden des We-
stens unternommen, gleichsam zur Vorbereitung für die von
1870. Auf jener hatte er das vollständige Gerippe
eines nicht über zwei Fuß großen fofsilen Pferdes ge-
fnnden, und „unverkennbare Nachweife für den Uebergang
lebender Thiere von einem Genus zum andern". Auf der
neuesten Expedition begleiteten ihn zwölf junge, fachwiffeu-
schastlich gebildete Männer; Hauptzweck war die Erforschung
der tertiären und der Kreideformation. Das Unternehmen
war nicht ohne Gefahren, weil die Indianer der Union-Pa-
cific-Bahn entlang schwärmten und sich sehr feindlich zeigten;
auch waren die Beschwerlichkeiten auf der Wanderung sehr
angreifend, aber trotz alledem sind die sämmtlichen Mitglie-
der der Expedition im Decembermonate wohlbehalten in New-
Häven wieder eingetroffen.
Sie begannen ihren Zug am 30. Juni und reisten ohne
Aufenthalt nach der Militärstation (Fort) Mac Pherfon in
Nebraska an der Uuiou-Pacific-Bahn, welche sie als Basis
ihrer Unternehmung betrachteten und von welcher aus sie
in der Richtung nach den Rocky Mountains hin einige Hun-
dert Miles nach Norden und Süden hin Excursionen machen
wollten. Zunächst durchwanderten sie die Gegend am Lonp
Fork uud am Niobrarah, wo die Tertiärsormation nnge-
mein reichhaltig an fossilen Thieren ist. Dieses weite Ge-
biet war nie zuvor von Weißen besucht worden, es war im
Besitze feindlicher Indianer, und deshalb nahm Marsh von
Mac Pherson aus eine militärische Bedeckuug mit.
Der Loup Fork strömt durch eiue Einöde, welche von
hohen Sandhügeln durchzogen wird; das Wasser ist süß uud
klar, dem Ufer entlang wächst Gras, auch tritt dort ein aller-
dings spärlicher Baumwuchs auf, im Uebrigeu ist 5ie Gegend
so steril, wie die Sahara; hin und wieder findet man Boden-
Vertiefungen, die mit stark alkalinischem, ungenießbarem und
ungesundem Wasser angefüllt sind. Bemerkenswerth ist,
daß Antilopen, Hirsche nnd Elenuthiere dort in großer
Menge, oft in Rudeln bis zu 150 Stück, umherschwärmen;
deshalb hatten die Reifenden bei ergiebiger Ausbeute der Jagd
Ueberfluß au Fleisch. Unterwegs fand Marsh einige Sioux-
schädel, welche sich jetzt in dem Peabody-Museum des Uale
College befinden.
Die Sandhügel am Loup Fork lieferten reiche Ausbeute.
Dort ist im wahren Sinne des Wortes eine Region fos-
siler Pferde aus der Pliocenperiode. Marsh fand
dort imSande sechsSpecies an Pferden, zweiSpe-
cies des Rhinoceros, viele kleinere tropische Thiere
und einige neue Species fossiler Vögel. Diese Ent-
decknngen sind für die Wissenschaft von hohem Belang.
Zwischen Fort Mac Pherfon und dem Loup Fork waren
manche Strecken für Wagen nicht zu Passiren, und nur durch
Zufall fanden die Führer einen „Trail", welchen 1868 die
Westen Nordamerikas.
Sionx gebahnt hatten. Auf diesem gelangte man zum Nord-
Platte-Fluß an das gleichnamige Dorf, von dessen Be-
wohnern die allerdings wild genug aussehenden Männer der
Wissenschaft beim ersten Anblicke für räuberische Indianer
gehalten wurden. Von dort zogen sie im August gen We-
sten nach Fort D. H. Ruffel, das unweit der Stadt Cheyenne
liegt, um die zuvor uiemals genauer untersuchten geologischen
Verhältnisse des Landes zwischen dem Nord- und dem Süd-
Platte zu erforschen. Eine Partie ging vom Fort aus nach
Süden ins nördliche Colorado, wo Marsh einen Ausläufer
oder Ausbiß der M auv aifes Terres, dieses bösen Landes,
das am White River liegt, entdeckte, diese Stelle ist 200
Miles südlich von der Gegend, wo das Centrum dieser Mau-
vaises Terres liegt, entfernt. Diese Region bildet einen
Theil der interessanten tertiären Süßwasserablagerungen,
welche für die Paläontologie so wichtig sind; wahrscheinlich
bildet sie den südwestlichen Rand des großen miocenen See-
beckens, das sich einst im Osten der Rocky Mountains aus-
dehnte.
In den Manvaises Terres kommen ungemein viele Reste
vom Titanotherium Proutti vor; bisher hat man über
dieses Thier nur dürftige Kunde gehabt. Man behauptete,
dasselbe sei von kolossaler Größe gewesen, doch ist das Uber-
trieben, und Marsh hat Knochen genug, um ein Skelett zu-
sammeuzusetzeu; dieses Titanenthier war nur etwa halb so
groß, als bisher angenommen wurde.
Von den Manvaises Terres ging Marsh nach der An-
telope-Station, die an der Union-Pacisic-Bahn liegt;
er war dort schon einmal, 1868, gewesen. Jetzt untersuchte
er den sogenannten Antilopenbrunnen, in welchem man
in einer Tiefe von 68 Fuß fossile Meuscheukuocheu gefunden
haben wollte. Daran ist kein wahres Wort; wohl aber fand
der Naturforscher dort die fossile» Kuochen des Miniatnr-
pferdes, welches er Equus parvulus benannt hat. Er ließ
diesmal tiefer graben nnd fand Knochen in solcher Menge,
daß er nun im Stande ist, den Bau von vier verschie-
denen Pserdespecies herzustellen; „vom Equus parvu-
lus; vom dreizehigeu Pferde vom Typus Hippariou; ein
Thier, an welchem hinten zwei kleine Hufen baumeln; ein
Pferd, das größer ist als unsere heutige» Rosse."
Außerdem fand Marsh in diesem Brunnen noch zwei
Arten von Rhinoceros; ein Thier, das AeHnlichkeit mit dem
Schweine hat, eins oder zwei, die kameelartig sind, und einige
Fleischfresser; einer von diesen war größer als der Löwe.
Im Ganzen förderte er fünfzehn Species ausgestorbener
Thiere aus Licht, und zwar auf einem sehr engen Räume,
der nur 10 Fuß im Durchmesser und nicht mehr als 6 Fuß
Tiefe hat! Marsh meint, jene Stelle habe einst am Rande
eines großen Sees gelegen nnd die Thiere seien dort im
Schlamme untergesunken, wenn sie zur Tränke kamen.
Bon der Antelope-Station ging er nach Norden nach
dem Nord-Platte znmChimmey Rock, der bekanntlich eine
wichtige Landmarke für die nach Californien ziehenden Aus-
wauderer bildet. Derselbe hat Tertiärformation und ent-
hält dieselben Fossilien, wie die Manvaises Terres in Da-
kotah. Diese Bemerkung gilt von der ganzen Region am
Nord-Platte gen Westen hin bis Scotts Bluff. Au die-
fem fand er eine große Menge Fossilien, namentlich verschie-
deue Schildkröten, zum Theil von ganz ungemeiner Größe.
Nach einer beschwerlichen Wanderung von vier Wochen ging
Marsh von Scotts Bluff Uber den Horse Creek nach Fort
D. A. Ruffel zurück, uud dann nach Westen über das Ge-
birge nach Fort Bridger (im nordöstlichen Utah), und von
diesem aus weiter nach dem östlichen Uintah und in die
Gegend den White und den Green River entlaug, um
diese uud andere Zuflüsse des westlichen Colorado zu erfor-
Der Belgier Vanderkindere ü
schcn, wo er sich dann auf neuem Boden befand, von dessen
„Ungeheuern" die Trapper und Indianer so viele Ubertrie-
bene Geschichten erzählt haben. Diese Expedition fällt in
den Monat September; Alle waren beritten und hatten eine
Cavalleriebedeckung nebst Mexicanern als Führer. Anfangs
zogen sie nach Osten hin an den Green River, und wollten am
östlichen Ufer desselben hin mit Wagen weitergehen; das war
aber unmöglich, sie mußten dieselben zurücklassen, und selbst
mit Maulthiereu konnten sie auf dem schwierigen Terrain
nicht weiter; doch wurde ein passirbarer Weg aufgefunden,
auf welchem sie nach Südeu hin bis an die Stelle gelang-
ten, wo der Green und der White River sich vereinigen.
Jene ganze Gegend bildete in der mioeenen Periode einen
Süßwassersee, in welchem Krokodile, Schildkröten (elf Arten),
Schlangen und Fische in großer Menge lebten, am Lande
Rhinoceronten und andere tropische Thiere, deren Ueberreste
im Uferschlamme auf dem einstigen Seeboden begraben liegen.
Im Fort Uiutah (im östlichen Utah) nahm Marsh
einen Indianer zum Führer, welcher die Partie auf einem
verhältnißmäßig kurzen Wege über die U int ah -Berge
brachte, bis dahin, wo die Region der Canon es, der Co-
loradoschlnchten, beginnt, über welche wir durch Po-
well's Expedition genauere Kunde erhalten haben. Marsh
will diese Gegend im Sommer 1871 geologisch näher er-
forschen.
r die Stellung der Flammgen. 43
Von Utah aus machte er einen Abstecher nach Califor-
nien. Die Reisenden besuchten dort das Aosemitethal, die
Geyser und andere Oertlichkeiten, die in geologischer Hinsicht
bemerkenswert sind, uud auf seinen Steiszügen war er so
glücklich, einen versteinerten Wald zu entdecken. Der-
selbe liegt in der Nähe des Berges St. Helena nnd^besteht aus
mächtigen Coniferen. Die Bäume liegen unter vulcanischer
Asche und verdanken ihre Erhaltung wohl dem Umstände,
daß sie in Folge eines vulcauischen Ausbruches mit dersel-
ben überdeckt worden sind. Manche der daniederliegenden
Stämme sind mehr als 100 Fuß lang und manche von 5
bis zu 12 Fuß dick.
Zum Schlüsse ein Wort über die Seeschlange, welche
nun wenigstens in fossilem Zustande dem Bereiche der Fabel
entrückt sein soll. Die Reisenden verweilten aus der Heim-
reise aus Calisornien erst zu Denver in Colorado und dann
im Fort Wallace in Kansas; dort gehört die Umgegend der
Kreideformation an. Marsh spürte in dieser Region, welche
einst ein seichtes Seebecken gebildet hat, nach Mesosanriern,
welche dort ein ausgedehntes Revier gehabt haben. „Die
Nachforschungen der Partie hatten günstigen Erfolg; die im
Museum des 2)ale College befindlichen Rückenwirbel von
Seeschlangen liesern den augenscheinlichen Beweis dafür, und
Professor Marsh wird eine 60 Fuß lauge Seeschlange dar-
aus constrmren."
Der Belgier Vanderkindere ü
r. d. Falsch ist die Ansicht, daß im gegenwärtigen gro-
ßen Kriege die Belgier allgemein Sympathien für die Fran-
zosen hegten. Allerdings bei den jenen stammverwandten
Wallonen ist dieses der Fall, nicht so bei den Flamingen,
die von je gut deutsch gesinnt waren. Sind diese Flamin-
gen auch in Belgien numerisch den Wallonen überlegen, so
nehmen sie in Staat und Gesellschaft doch keineswegs die
ihnen gebührende Stellung ein.
Heute wollen wir die Ursachen, welche dieses Mißverhält-
uiß herbeiführen, nicht näher bezeichnen, doch glauben wir,
daß dem mit einem Schlage abzuhelfen sei, wenn die Fla-
mingen statt der niederdeutschen Sprache in der Literatur,
Kirche, Schule und im amtlichen Verkehr die so nahe ver-
wandte hochdeutsche einführten und damit in engere Be-
Ziehungen zu der großen Mutternation träten. Die Schwie-
rigkeit einer solchen Einführung ist keineswegs sehr bedeutend;
denn so wie im plattdeutschen Norden unseres Vaterlandes
das Hochdeutsche zur herrschenden Literatur- uud Amtssprache
werden konnte, ohne den Volksgeist zu schädige», genau
so kann dieses, falls der Wille dazu vorhanden ist, auch bei
den Flamingen geschehen.
Was die Frage betrifft, ob dadurch etwa die politische
Selbständigkeit Belgiens bedroht würde, so verweisen wir
einfach darauf, daß das Wallonische auch nur ein Patois
des Französischen ist und daß dadurch, daß Französisch für
die Wallonen Amts- und Literatursprache wurde, die Selb-
ständigkeit Belgiens nicht angetastet worden ist. Oder ver-
lor die politische Stellung der Schweiz etwa dadurch, daß
dort statt des „Schwyzerdütsch" das Hochdeutsche zur Schrift-
spräche erhoben wurde? Den deutschen Schweizern eröffne-
ten sich dadurch nur reichere Culturcauäle, und dasselbe würde
bei den Flamingen der Fall sein. Ähre, wenn anch schöne
und bildungsfähige niederdeutsche Sprache, ist an und für
er die Stellung der Flamingen.
sich der französischen mit ihrem großen Cultur- uud Litera-
turgebiet nicht gewachsen; sosort aber würden unsere slami-
schen Brüder in eine gedecktere, völlig widerstandsfähige uud
sichere Stellung kommen, wenn sie das Hochdeutsch zu ihrer
Schriftsprache erwählten. Die Vortheile liegen auf der
Hand. Das traute Flamisch würde immerhin in der Fa-
milie und im bürgerlichen Verkehr dem Hochdeutschen parallel
laufen können, wie das mit dem Platten in Norddeutschland
ja noch heute der Fall ist.
Jetzt, wo, astrologisch zu reden, die Germanen „im aus-
steigenden Hause" wohnen, wäre der geeignete Zeitpunkt ge-
geben. In den Flamingen selbst regt sich mächtig das Stam-
mesgefühl, und wer das flamische Blatt „de Zweep" (die
Geißel) gelesen, der wird wissen, wo die Sympathien der Fla-
mingen sind.
Einen höchst bemerkenswerthen Ausdruck des germani-
schen Nationalgefühls der Flaminge und ihrer Bestrebungen
in dieser Richtung giebt Dr. L. Vanderkindere in der
„Revue de Belgigne" vom 15.December 1870. Er schreibt:
„Das Jahr 1870 wird die wahre Revolution des neunzehn-
ten Jahrhunderts vollendet sehen; sie wird den Vorrang
Deutschlands zur Thatsache werden lassen, dessen nahes Ein-
treten nicht schwierig vorauszusagen war, und welchen den-
noch oberflächliche Geister nicht sehen wollten, weil er bis
dahin nur ein moralischer war. Fernerhin ist die Ein-
heit Deutschlands nicht mehr ein Traum, und wenn die-
ses Werk, welches schon so lange im Volksbewußtsein vor-
bereitet und durch den Genius einiger erleuchteten Denker
gereift war, leider nicht ohne Mitwirkung des Schwertes
vollendet werden konnte, so ist es doch ein gesundes und
natürliches Werk. Auch die Natur hat ihre schrecklichen
Krämpfe, sie bringt nichts ohne Schmerzen zur Welt. Die
Bildung eines mächtigen Deutschlands, welches Herr
6*
44 Aus allen
seiner Geschicke und berufen ist, der leuchtende Herd Europas
zu werden, ist nicht ein glücklicher Zufall der Gewalt, es ist
die Verwirklichung einer historischen Nothwendig-
keit. In dieser Hinsicht ist Deutschland seiner Zukunft
sicher und der Einfluß, den es auf die allgemeine Politik
ausüben wird, ist bedeutend. Belgien, wie klein es auch sei,
wird nicht zuletzt empfinden, daß ein neuer Hauch in die
Welt bläst. Ob man darüber erschrecke oder sich darüber
freue, bald kommt die Stunde, wo man sich entscheiden muß,
welchen Weg man einzuschlagen hat: hier eine erlöschende,
dort eine Civilisation voll Kraft und Glanz. Sind wir
verurtheilt, immerfort Frankreich zu folgen und der Zukunft
den Rücken zuzuwenden? Ach, ich müßte es sehr befürchten,
wenn ich mich nicht erinnerte, daß sich irgendwo noch ein
Opfer verbirgt, beinahe unkenntlich geworden durch sein Lei-
den, ein Schlachtopfer, welches bis heute weder leben noch
sterben konnte, ich meine unsere flämische Bevölke-
rung; auch sie ist germanisch. Soll dieser arme Zweig,
vom Mutterlande seit so lange abgerissen, denn nicht auch
wieder neu ergrünen?"
Die Klagen, welche Vanderkindere über die Lage der
Flamingen in Belgien ausstößt, sind uns allerdings nicht
neu, aber sie können nicht oft genug wiederholt werden. Helft
euch selbst! müssen wir rufen, — an moralischer Unter-
stützung soll es nicht fehlen; das Mittel, welches wir an-
führten, und das Vanderkindere auch anerkennt, ist probat.
Der wackere Fläming schreibt:
„Hat der das Recht eines Menschen, welcher nicht Theil
nehmen kann an dem öffentlichen Leben? Und das ist ge-
rade die Lage des Flämings in Belgien. Trotz aller Ver-
sprechungen der Constitution, welche ihm die Erhaltung sei-
ner Sprache zusichert, wird er nur in französischer Sprache
regiert, d. h. er wird in seinem Lande behandelt, wie anders-
wo durch Eroberung unterworfene Völkerschaften. Der König
und die Minister sprechen nur Französisch, Senat und Kam-
mer berathen französisch, die Verwaltung ist französisch, das
Recht wird auf Französisch gesprochen, auf Französisch wird
die Armee commandirt, auf Französisch wird der mittlere
und höhere Unterricht ertheilt — so zwar, daß der Fläming
keine juristische, administrative oder militärische Function
ausüben, keine Rolle in den politischen Körperschaften, im
Unterrichte, am Gerichte ausfüllen, daß er selbst nicht einmal
Erdtheilen.
gesetzlich seinen Herd und sein Vaterland vertheidigen kann,
ohne eine fremde Sprache zulernen, dieSprache derer,
welche seine entstehenden Freiheiten vernichtet und
seinem uralten Wohlstande den ersten Stoß gege-
ben haben."
Wie ist da zu Helsen? An anderer Stelle sagt er: „An-
statt der flämischen Sache günstig zu fein, ist der größte
Theil des Landes ihr feindlich. Wie viele widerspenstige
Elemente findet man nicht selbst unter den geborenen Fla-
mingen! Alle, welche einige Erziehung genossen haben, ver-
stehen Französisch und sprechen es, und so stark ist der Ein-
sluß der gewöhnlichen Umgebung, daß viele aufrichtige „Fla-
minganten" im öffentlichen Leben dieSprache der Verachtung
Preisgeben, deren sie sich doch innerhalb ihrer Familie be-
dienen. Personen, welche sich für wohlerzogen halten, setzen
eine Ehre darein, nur Französisch zu sprechen, selbst mit
ihrer Dienerschaft, und die Damen der guten Gesellschaft
würden sich für beschmutzt halten, wenn nur ein Wort dieser
gemeinen Volkssprache aus ihrem Munde ginge. . . . Was
ist die Lage eines namhaften Theiles der unteren Elasten?
Sie fühlen sich unglücklich in dem nebelhaften Horizonte, der
sie nmgiebt; sie sehen nicht das mindeste Licht, sie haben
keine Beziehung zu den Regionen des Wohlstandes und der
Aufklärung, und nicht wissend, wem dieses Unglück znzu-
schreiben, sind sie geneigt, die Ursache davon in ihrer Sprache
zu finden. Um sich her hören sie nur Französisch sprechen
von allen denen, welchen zu dienen oder zu beneiden sie
gewohnt sind, und durch eine sehr natürliche Verbindung
schließt sich für sie die Idee des Französischen an die Idee
der Achtbarkeit und des Wohlstandes. Das ist so wahr, daß
in dem gegenwärtigen Kriege alle Unwissenden in Belgien
die hitzigsten Freunde von Frankreich sind."
Diesen Uebelständen abzuhelfen, will Herr Vanderkindere,
daß die französische Lehr- und Umgangssprache allmälig durch
die deutsche Sprache ersetzt werde, die dem flämischen Idiome
so verwandt ist, daß jeder Fläming sie ohne Mühe in kür-
zester Zeit verstehen und selbst sprechen lernt, denn „Deutsch-
laud ist das natürliche Centrum für Flandern, die
Flamingen sind Germanen, ihre Sprache ist ein
germanischer Dialekt, am mütterlichen Busen muß
sie sich wieder erkräftigen und verjüngen."
Aus allen
Der Mont-Cents-Tunnel.
Der an der Scheide der beiden gewaltigen Jahre 1870 und
1871 vollendete Moni - Cenis - Tunnel ist einer der größten
Triumphe menschlicher Arbeit. Daß er hergestellt werden konnte,
verdankt man der Wahl der Kräfte, die dazu angewendet wur-
den. Die Bohrer wurden bekanntlich getrieben durch zusam-
mengepreßte Luft, und die Luft, welche nach vollendeter Arbeit
ihren Comprimirungsröhren entschlüpfte, sorgte zugleich für die
Ventilation des Tunnels, indem sie ihn von den schädlichen
Gasen befreite, die bei den Gesteinssprengungen entstanden. So
wurde mit der Bohrung selbst die Ventilation besorgt, welche
letztere immer bisher als ein unüberwindliches Hindernis; für
längere Tunnels betrachtet wurde.
Die Arbeiten dieses 12,229 Meter langen Tunnels wurden
anfangs nur langsam gefördert und schritten erst mit Vervoll-
kommnung der Bohrmaschine in höherm Grade vorwärts. In-
Erdtheilen.
teressant ist es, zu sehen, wie trotz der zunehmenden Tiefe und
Schwierigkeit der Arbeiten dennoch dieser Fortschritt jedes Jahr
zugenommen hat. Seit Einführung der Maschinenbohrung, bis
wohin bereits 1553 Meter gebohrt waren, sind die Ergebnisse
wie folgt gewesen: ,
1662 ....... 643 Meter
1863 ....... 802 „
1864 ....... 1087 „
1865 ...... . 1223 „
1866 ....... 1024 „
1867 ....... 1512 „
Die Fortschritte auf der Nordseite waren gegen diejenigen
auf der Südseite um ein volles Jahr zurück, was durch den
Widerstand, den eine Quarzschicht verursachte und aus dem
spätern Beginne der mechanischen Bohrung erklärbar ist. Gleich-
wohl war der jährliche Fortschritt schon auf 1512 Meter gestie-
gen, und da seit 1868 nur 4151 Meter zu bohren blieben, so
Aus allen
war die Vollendung dieses Riesenwerkes schon auf Ende 1870
vorauszusehen.
Die alte Mont-Eenis-Straße bleibt östlich vom Tunnel liegen,
doch hat man ihr zu Ehren und wegen der Berühmtheit des
Mont-Cenis-Passes die Durchbohrung nicht den Frejus-Tunnel
genannt, wie es, streng genommen, richtiger gewesen wäre. Von
Modena auf der savoyischen Seite hebt sich die Bahn mit
einer Steigung von 1 : 150 noch um 346 Fuß oder auf
3964 Fuß bei St. Michel, um den Bergrücken auf einer Strecke
von 12,220 Meter, d. i. 1% Meilen, zu durchsetzen. Die bei-
den Endpunkte des Tunnels haben einen Höhenunterschied von
435 Fuß, doch liegt die Steigung auf der französischen Strecke,
während die italienische beinahe eben verläuft. Die Mitte des
Tunnels liegt 4213 Fuß über der See, während das Observa-
torium auf der Frejusspitze darüber eine Höhe von 9676 Fuß
besitzt; folglich befindet man sich im Tunnel 5463 Fuß unter
der Erde und von beiden Ausgangspunkten 6110 Meter oder
% Meilen entfernt. Dies ist ganz gewaltig tief, denn felbst
unsere stolzesten Brunnen reichen nicht viel weiter als etwa
2000 Fuß. Die tiesste Grube der Erde ist die von Kuttenberg
in Böhmen, 3445 Fuß, und die nächsttiefe die von Kitzbüchel in
Tirol, 2910 Fuß. Wird erwogen, daß der Tunnel l2/3 Meilen
Länge besitzt und daß bisher aus jedem Mundloche nicht mehr
Wasser herausfloß, als 1 Liter in der Secunde, so darf man
erstaunen über die vergleichsweise Trockenheit des Frejusberges.
Nur wenn eines der versteckten Tunnelbecken angestochen wurde,
vermehrte sich zeitweilig der Erguß. Mitten im Tunnel bei
einer Tiefe von 5000 Fuß betrug die eigene Wärme der Felsen
nur 2iy3° R. Dies ist viel weniger als man erwarten durfte,
denn die Zunahme der Wärme, von der unveränderlichen Schicht
aufgefangen, wird in diefem Falle wahrscheinlich nur 1" R. auf
200 Fuß Tiefe betragen, während bei fehr tief erprobten Brun-
nen eine Zunahme von 1°®. auf je 90 bis 96 Fuß einzutreten
Pflegte. Die Beobachtungen in diefem Tunnel sind aber höchst
werthvoll, weil der Beobachtungsort über 10,000 Fuß vom
Mundloche entsernt lag, und ein Fall, der unter gleichen Um-
ständen noch normaler wäre, für die Beobachtung der Innen-
wärme unseres Planeten sich nicht leicht denken läßt.
Der Leipziger Dialekt.
„In Sachsen wird das beste Deutsch geredet," hört man
mit unberechtigter Selbstüberhebung oft von den Leuten aus
dem Lande Meißen fagen. Bei den anderen deutschen Stäm-
men erregt dieses gewöhnlich ein berechtigtes Lächeln, wozu jener
Dialekt, der keiner der ursprünglichen deutschen Mundarten sich
anschließt, in sich felbst die Veranlassung trägt. Richtig studirt
ward er noch wenig, um so mehr ist es anzuerkennen, daß Dr.
K. L. Merkel in Leipzig dem Dialekt seiner Mutterstadt rege Auf-
merksainkeit widmete und denselben zum ersten Male in einem
Vortrage des „Vereins für die Geschichte Leipzigs" gründlich er-
örtert. Einem längern Berichte des „Leipziger Tageblatts" ent-
nehmen wir darüber das Nachstehende.
Zu einer bestimmten Definition des Leipziger Dialektes ist
man noch nicht gelangt, man weiß auch die geographischen Gren-
zen desselben nicht scharf anzugeben. Dr. Merkel will diese
möglichst eng ziehen. Der Bienitz begrenzt diesen Localdialekt
im Westen; der merseburg-hallesche beginnt dort; im Süden
ist Zwenkau die Markscheide. Nach Norden und Osten läßt sich
die Grenze noch weniger leicht bestimmen, doch überschreitet sie
weder die preußische Grenze gen Norden, noch die Mulde gen
Osten. Das Gesammtgebiet der Leipziger Mundart umsaßt so-
mit etwa 12 bis 13 sächsische Geviertmeilen. —
Die Frage, wie weit dieselbe in der Geschichte zurück reiche,
läßt Dr. Merkel vorläufig noch offen und bescheidet sich auch,
untergegangene dialektische Formen und Wendungen hier bei
Seite zu lassen, da er sich nur mit den noch als gang und gebe
bekannten, also lebenden Formen befaßt habe.
Zur „Reinheit" des Leipziger Dialekts steht der Bildungs-
Erdtheilen. 45
grad der ihn sprechenden Individuen im umgekehrten Verhält-
nisse. Je „gebildeter" diese letzteren sind, desto mangelhafter ist
der Dialekt. Am reinsten und vollständigsten spricht den Leip-
ziger Dialekt derjenige Bruchtheil der Bevölkerung, welcher des
Schreibens ungewohnt ist, auch nur mit seines Gleichen verkehrt.
Das Alphabet des Leipziger Dialekts ist einfacher als das
des Schriftdeutschen, namentlich fehlen ihm das ö, ü und äu,
die Unterscheidungen zwischen b und p, d und t. Ziemlich deut-
lich macht der Leipziger das g und k vor a.
Dem Leipziger Dialekt besonders eigentümlich im allge-
meinen hochdeutschen Lautverzeichnisse nicht vorhandene Vocale
sind ein dumpfes a und ein eben solches breites ae.
Rechnet man zusammen, so erhält man 32 specififch Leip-
ziger Sprachlaute. Das normale hochdeutsche Alphabet hat 40
bis 42 Sprachlaute.
Die übrigen Eigenthümlichkeiten des Leipziger Dialekts
charakterisiren sich als Lautabweichungen und Lautverschiebun-
gen, Lautauswerfungen, Lautzusammenziehungen, Lauteinschie-
bungen, Aenderungen der Quantität oder des Accents, Flexions-
abweichungen, besondere Wortverbindungen und Satzbauarten
abweichender Gebrauch gewisser Wörteranwendung von fremden
oder entfremdeten Wörtern, Ausdrücken und Redensarten. Der
Leipziger Dialekt entbehrt außerdem principiell einer Menge
feinerer Ausdrucksmittel und gefällt sich in wirklichen gramma-
tischen Fehlern, Verdrehungen, Verkehrungen und Verstumme-
lungen von Fremdwörtern und aus anderen Sprachgebieten ent-
lehnter Ausdrücke Dr. Merkel unterschied bei der Betrachtung
der bei dem Leipziger mitwirkenden Verhältnisse und Einflüsse
zunächst innere, dann äußere Ursachen.
Jene fand er in dem physischen und psychischen Organis-
mus der Einzelwesen der specififch Leipziger Bevölkerung. Es
läßt sich nach den Ausführungen des Redners die Eigenart des
Leipziger Dialekts zunächst auf ein gewisses Ungeschick und eine
sich daraus ergebende Bequemlichkeit oder Trägheit der Sprach-
organe, namentlich der Zunge, zurückführen.
Sonderbar genug, der Leipziger Zunge fällt es schwerer,
einfache, offene, nur aus Consonant und Vocal bestehende Sil-
ben an einander zu reihen, als geschlossene, mit Konsonanten
schließende Silben. Es ist, als ob die Zunge dies „nicht fertig
bringen" könnte, da sie durch den zumal betonten Vocal der
offenen Silbe gleichsam in der Schwebe gehalten, schwindlig ge-
macht wird. Sie verlangt einen Ruhe-, einen Stützpunkt, einen
hülfreichen Consonant zum Silbenabschluß und zugleich zum
Anschluß an den Anlaut der nächsten Silbe. Recht auffällig
zeigt sich das bei mehrsilbigen Fremdwörtern. Aus Eocarde macht
sich so der Leipziger „Konngarde", aus Sacristei „Sannkristei".
Nach t und z wendet der Leipziger gern die dem Hoch-
deutschen sonst fehlende Mouillirung an, also die Anfügung von
j oder g moll an einen die erste oder zweite Wortsilbe anlau-
tenden Konsonanten. Er wird von „Hornzjen", nicht von Hor-
nissen gestochen, von „Wanzjen" gebissen, nimmt'„Pomeranzjen"
in die vielleicht mit „Warzjen" bedeckten Hände.
Wo die Silbengrenze von zwei Halbvocalen gebildet wird,
wie in „reinlich", wirds dem Leipziger bei dem so lange hinter
einander durch die Tonschwingungen der Stimmbänder sortge-
setzten Jnderschwebehalten der Organe schwindelig, und flugs
legt er sich einen strammen Eonsonanten als Stütze und Stab
zu: aus „reinlich" wird „rentlij".
Bei anderen Wörtern giebt er wieder Vocale zu. An das
Ende seines Ich setzt er, wenn es allein steht, gern ein e an, er
denkt aber großmüthig genug, um dies jedem Menschen zukom-
men zu lassen. Er sagt nämlich „Mensche", wie „iche".
Worte auf k macht er durch ein angefügtes s gleichsam
adspirirt, lauter. Er spricht von einem „Korks", von „Marks"
statt Kork und Mark. So verstärkt er nach seiner Art das z
und sz am Ende in „Erzt", „Harzt", „Rußt" statt Erz, Harz,
Ruß. Dasselbe t hängt er an „überall" und „eben" und macht
„ahmt" daraus und „überalt".
Mit dem Weglassen, Apokopiren ganzer Laute ist der Leip-
46 Aus allen
ziger gleich bei der Hand, um sich die Aussprache bequemer zu
machen. „Mai kutes Herrje" ist bekannt genug. Ebenso macht
er's mit „sein", „dein" „gleich", „hier", „mehr", „nun", „nach",
„noch": überall läßt er den Schlußconsonant weg. Am häufigsten
hört man dies bei „und". Bei dem Infinitiv der Zeitwörter
jedoch behält er das n bei, wo schon die Altenburger es über
Bord werfen.
Lautverschiebungen kommen auch vor. Solche sind „Schlunk"
statt Schlund, „Winkbeutel" statt Windbeutel, „runn'r" statt
runter; „Franell" statt Flanell, „Krystier" statt Klystier :c.
Die äußeren Einflüsse und Verhältnisse bei dem Leipziger-
Dialekt anlangend, hob Redner den nachweisbaren Zusammenhang
desselben mit dem Mittelhochdeutschen hervor, als der eigentlichen
classischen deutschen Volksmundart im Gegensatze zu dem seit
dem 14. Jahrhundert herrschend gewordenen Neuhochdeutschen,
welches „gar keine eigentliche deutsche Mundart mehr zu nen-
nen, von keinem deutschen Stamme je gesprochen worden ist."
Das Neuhochdeutsche hat sich im Gegensatze zu unserm
vaterländischen Dialekt von dem mittelhochdeutschen Idiom der-
artig entfernt, daß die Formen des letztern in der heutigen
Schrift- und Salonsprache geradezu umgebildet oder „verbildet"
erscheinen.
Der Leipziger Dialekt hat aber auch mit dem Niederdeut-
schen Gemeinschaft, und zwar in einzelnen Lautänderungen, wie
in Flexionseigenthümlichkeiten und ganzen neuen, dem Hoch-
deutschen fremden Wörtern. Niederdeutsch ist unser volksthüm-
liches „nedder" und „wedder" statt „nieder" und „wieder",
„Emer" statt „Eimer" (sassisch: „emmer"), „scheppen" statt
„schöpfen", „Appel" statt „Apfel". Niederdeutsch ist die eigen-
thUmliche Umschreibung des Genitivs, wie „dem Herrn sein Die-
ner" für „des Herrn Diener", sowie die Anwendung des Accu-
sativs statt des Dativs. Das Niederdeutsche hat eben nur eine
Form für beide genannte Casus. Das Präteritum von „rei-
ßen", „streichen", „schleisen" lautet Leipzigerisch „rss", „strsj",
„schlss". Ebenso im Niederdeutschen. Die Wörter „belemmern",
„beschuppen", „beschummeln", „krölen", „krakAen", „Ficke",
„batzig", „duttig", „fummeln", „happig", „lodderig", „pleite",
„ruppig", „Rekel" (holländisch ebenso, eigentlich der Bullenbei-
ßer), „schlampampen", „spuden", „stofen" ?c. sind alle nieder-
deutsch und holländisch.
Redner schließt mit dem Wunsche, daß ihm die Ehrenrettung
der Leipziger Mundart, daß es ihm besonders gelungen sein
möchte, den Hörern den Beweis zu führen, der Leipziger Dia-
lekt im Großen und Ganzen sei keine Ausartung der neuhoch-
deutschen Schrift- und Salonsprache, nein, ein traditionelles
Stück alter germanischer Volkssprache; seine grammatischen Fehler
rühren von der Treue her, mit der das VM sich noch immer
an den Überlieferungen der dem Niederdeutschen nahe verwand-
ten Formen sesthält. Freilich und trotz alledem und alledem ist
das Leipzigerische auf den Aussterbeetat gesetzt und wird ver-
schwinden. ___
Aus Moskau.
Die Sterblichkeit in Moskau ist, wie die statistischen Nach-
weise ergeben, eine ganz bedeutende. Und zwar wird sie hervor-
gerufen durch die unverantwortliche Nachlässigkeit, mit der die
Sanitätspolizei in diesem „Centralsitze der slavischen Eultur" ge-
handhabt wird. Ein Deutscher, welcher längere Zeit in Moskau
gelebt und die dortigen Verhältnisse sehr genau kennt, äußert
sich über die Zustände sehr scharf. Er bemerkt, daß namentlich
in der Periode der Fasten und kurz darauf die Sterblichkeit ganz
außerordentlich sich steigert. Ein nicht geringer Theil der Schuld
fällt hierbei aus die übermäßig strengen Fastengesetze der griechisch-
katholischen Kirche und deren Folgen. Er sagt: Daß bei der
gesunden, bergig freien Lage Moskaus und bei der weit ausge-
dehnten Bauart der Häuser, inmitten großer baumreicher Gär-
ten, dennoch alljährlich Cholera und Typhus zu Ansang
des Frühjahrs grassirend um sich greisen, kann nur solchen
Ursachen zugeschrieben werden, welche in den socialen Verhält-
Erdtheilen.
nissen der ärmeren Volksclassen ihren Entstehungsgrund finden.
Derselbe liegt hauptsächlich in der ungesunden und unregelmüßi-
gen Lebensweise, in dem Mangel einer vor Kälte und Nässe
schützenden Bekleidung und in der Entbehrung einer trockenen,
warmen und reinen Wohnung. Mehr als die beiden letzteren
Uebelstände ist der erste, die ungesunde und unregelmäßige Lebens-
weise, geeignet, dem von der mangelhasten und schlechten Nah-
rung geschwächten Körper den Krankheitsstosf dieser den Tod
beschleunigenden Krankheiten zu insiciren.
Das größte Uebel zur Hervorrufung aller möglichen Krank-
heiten ist nicht die Entbehrung, oder doch nur in zweiter Linie,
sondern die Völlerei namentlich der ärmernVolksclasse. Durch
das monatlange Fasten, dieses Entbehren kräftiger Speisen,
ist der Körper resp. Magen so sehr geschwächt, daß die eigent-
liche Ursache des Uebels darin besteht, wie das im Volke allge-
meiner Brauch ist, uach Beendigung der Fasten den Magen mit
allein Möglichen zu überladen, und daraus, daß sobald dieses
geschieht, der Magen ein solches Ueberladen nicht verträgt, ent-
stehen die meisten Krankheiten, was sich auch daraus ergiebt,
daß trotzdem ein großer Theil der Arbeiter zu >den Feiertagen
auss Land geht, die Krankenhäuser, namentlich auch das Arbeiter-
Krankenhaus, überfüllt bleiben.
Wenn man zu solchen Zeiten einige Stunden mit Beobach-
tung einer offenen Volksküche zubringt, wie in der Nähe
der Wladimir'schen Pforte (meistens fälfchlich Nikolski-Pforte ge-
nannt) auf dem sogenannten Lausemarkt (Trödelmarkt), so kann
man sehen, was hierin geleistet wird. In diesen offenen Küchen
wird Sommer und Winter ein Handel mit gebacken«: oder ge-
kochter Leber, Suppen aus Lungen, Köpfen und den Gedärmen
des Schlachtviehes, abgekochten Köpfen :c. getrieben, zur Fasten-
zeit natürlich auch mit Fischen :c., und kann sich hier Jeder sür
wenige Kopeken eine warme Suppe beschaffen. Ebenso ist warme
Grütze ein stehender Handelsartikel.
Der Mangel einer trockenen, warmen und reinen Wohnung
für arbeitslose Arme ist ein Gegenstand, über den im Stadt-
rathe (Duma) schon viel gesprochen worden, und dem durch Bau
oder doch Umbau mehrerer Häuser am Schweinemarkt in etwas
abgeholfen werden wird. Der Schweinemarkt ist nämlich ein
Platz, auf welchem sich Arbeitsuchende beiderlei Geschlechts in
großer Zahl zusammenfinden, ähnlich wie z. B. in Bremen früher
auf dem Domsplatz. Während in Moskau täglich mehr
als 6000Menschen auf den öffentlichen Plätzen arbeit-
suchend warten, treiben sich mindestens ebenso viele
frei vagabondirend in derStadt herum, die ihrLebeu
durch Betteln und gelegentliche Diebstähle fristen. Bei
den letzteren ist Trunk auch eine Hauptursache des Bettelns.
Daß wir, trotzdem Moskau recht weitläufig gebaut, jährlich
Typhus und andere grassirende Krankheiten haben, rührt nament-
lich auch von der unverantwortlichen Unreinlichkeit der mei-
sten Höfe her. Sobald im Winter eine Reinigung der Straßen
vom Schnee befohlen wird, führen die meisten Hausbesitzer Mos-
kaus den Befehl infofern aus, als Alles auf die Höfe gefahren
wird. Daß dabei außer Schnee auch noch manches Andere mit
dahin kommt, ist vorauszusehen; ebenso wandert der größte Theil
aller Küchenabfälle auf die Höfe, wo dieselben, ohne von dort
fortgeführt zu werden, in Verwesung übergehen und der Gesund-
heit schadende Ausdünstungen verursachen.
Auch die Pflasterung trägt ihr Theil zur Sterblichkeit bei.
Es herrscht die Gewohnheit, auf alle neu gepflasterten Stellen
recht viel Sand zu werfen, wahrscheinlich um die Mangelhaftig-
keit der Pflasterung zu verbergen. Da nun dieser Sand zur
Sommerzeit austrocknet und sich bei dem leisesten Winde in Be-
wegung setzt, so herrscht in der trockenen Jahreszeit fortwährend
ein solcher Staub, daß man factisch nicht mit den Augen sehen
kann, und ich glaube nicht, daß derselbe der Gesundheit zuträg-
lich sein kann.
Das Wohnen in der Altstadt Moskaus wird jetzt von vie-
len gemieden, namentlich deshalb, weil in dieselbe der Wind
keinen rechten Einlaß erlangen kann. Die Stadtmauer, welche
Aus allen
Erdtheilen.
47
die ganze Altstadt umgiebt, müßte geschleift werden, wie es in
den meisten größeren Städten Dentschlands geschehen. Moskau
würde dadurch, außer daß die Wohnungen in der Altstadt ge-
sünder würden, auch noch bedeutend an Schönheit gewinnen.
Aus Nordamerika.
Wir finden in den Blättern eine Menge von Nachweisen,
wie nachtheilig das übertriebene Schutzsystem wirkt und wie es
dem Verbraucher die allernothwendigsten Bedürfnisse vertheuert.
Im Kongresse zu Washington wurde folgende Thatsache nach-
gewiesen. In Neuyork lief eine Ladung Salz aus Liverpool
ein im Werthe von 1637 Dollars Papier; sie mußte an
Eingangszoll erlegen — 3291 Dollars! Eine zweite
Ladung von 680 Tonnen, Werth des Salzes 1526 Dollars,
hatte an Steuer zu zahlen 3043 Dollars, was gerade 199 Pro-
cent austrägt. Die Salzproducenten zu Onondaga im Staate
Neuyork find, wenn man Fracht und Eingangszölle, welche aus-
ländisches Salz zu tragen hat, hinzurechnet, mit nicht weniger
als 374 bis 384 Procent „geschützt".
Die Schulden des Staates Neuyork haben am 1. Ja-
nuar 1870 betragen 32,409,144 Dollars (6,445,304 Dollars
weniger als im Jahre vorher); — jene von Pennsylvanien
31,111,662 Dollars (1,702,879 weniger); die von Ohio 9,732,068
Dollars (123,860 weniger); — die von Virginien, mit Ein-
schluß der fälligen Zinsen, 41,391,000 Dollars.
Dem „Newyork Daybook" (26. November) zufolge waren
beim Obergerichte des Staates Massachusetts nahe an fünf-
zehnhundert Gefuche um Ehescheidungen eingegeben
worden.
Die gesetzgebende Versammlung des Staates Loui-
siana hat im Senate 4 schwarze Mitglieder und im Repräsen-
tantenhanse sitzen 40 Neger; einige von diesen haben erklärt,
daß sie sich bemühen wollen, Lesen und Schreiben zu lernen;
die übrigen halten das nicht für nothwendig. Südcarolina
hat einen schwarzen Untergouverneur, 11 schwarze Senato-
ren, 80 Schwarze im Repräsentantenhause, einen schwarzen
Staatssecretär und einen schwarzen Oberrichter; das ist selbst
den fanatischsten unter den Abolitionisten des Nordens zu viel.
Das Leben und Treiben der Yankee-Soldaten in
Alaska ist doch recht eigentümlich. Der zu Olympia im Ter-
ritorium Washington erscheinende „Standard" erwähnt, daß ein
Herr Murphy zu Sitka, der Hauptstadt von Alaska, ein Blatt,
die „Tiines", herausgegeben habe. Am 13. October 1870 gab
er die letzte Nummer heraus und nahm, weil er der „Gesell-
schaft" im Lande überdrüssig fei, mit folgendem Artikel Abschied:
„Während der letztverflossenen drei Jahre wurden in der Ortschaft
Sitka nicht weniger als acht Mordthaten verübt; sieben der
Mörder blieben unbestraft; der achte sitzt im Militärgefängniß,
wird aber sicherlich frei ausgehen, wenn wir nicht bald einen
Gerichtshof bekommen. Wir haben gesehen, daß Frauen und
Kinder auf offener Straße von einem Offizier der Armee und
einem Postbeamten niedergeschlagen worden find. Wir waren
Augenzeuge, daß an demfelben Tage zwei Offiziere einen armen,
ganz harmlosen Russen zu Boden schlugen; daß Armeeoffiziere
mit Gewalt in ein russisches Haus eindrangen, um sich mit den
in demselben wohnenden Frauen und Mädchen Dinge zu erlau-
ben, wofür man sie in jedem andern Lande auf der Stelle ums
Leben gebracht hätte. Oftmals sind Soldaten in russische Pri-
vathäuser eingebrochen, um sündhaften Unfug zu verüben. Was
ist die Folge eines folchen Betragens gewesen? Alle anständi-
gen Russen haben dieses Gebiet verlassen, und wer kann es ihnen
verdenken, wenn der bloße Name Amerikaner ihnen schon Ekel
einflößt. Wer wird nicht erröthen, wenn er die Thatsache liest,
daß unter den 500 bis 600 russischen Bewohnern Sitkas nicht
drei, über 13 Jahre alte Mädchen gefunden werden, die nicht
prostituirt wären. Niemand wird wagen, diese traurige That-
fache in Abrede zu stellen. Durch die Soldaten sind abscheuliche
Krankheiten allgemein verbreitet worden; nur in Sodom und
Gomorrha allein, die durch Gott vernichtet wurden, kann es so
arg hergegangen sein wie in Sitka. Zum Schlüsse bedauere ich,
hervorheben zu müssen, daß einige Offiziere der Armee sich mehr
wie Halunken und Schurken betragen haben wie als ehrenhafte
Soldaten."
Der Staat Kanfas gedeiht rasch. Er hatte 1860 erst
107,203 Einwohner; 1870 fchon 359,349. Der Ackerbau ist be-
trächtlich; Mais und Hafer liefern vom Acre mehr als in irgend
einem andern Staate, und nur allein in Kalifornien giebt an
Weizen, Roggen und Gerste der Acker höhern Ertrag. Doch
hat es mit dem Absätze des Getreides große Schwierigkeit, da
Kansas 1500 Miles von der atlantischen Meeresküste entfernt
liegt; deshalb fängt man an, sich auf die Industrie zu legen.
Kansas ist ein Prairieland und arm an Holz, aber beiLeaven-
Worth ist ein reiches Kohlenlager aufgeschlossen und geo-
gnostische Untersuchungen haben ergeben, daß auf Hunderten von
Miles Kohlen vorhanden sind. So fehlt es den großen Eisen-
gießereien nicht an Brennstoff; die Wagen- und Maschinenfabri-
ken vergrößern sich und in den Bezirken am Missouriflusse wird
Rind - und Schweinfleisch in großer Menge zur Ausfuhr verpackt.
Eben jetzt legt ein reicher französischer Philanthrop, V. deBois -
siere, in Franklin Eonnty, 60 Miles von Leavenworth ent-
fernt, eine große Sammetfabrik an, bei welcher „die Gefetze der
socialen Harmonie" zur Verwirklichung kommen sollen. Bisher
sind bekanntlich die verschiedenen Versuche von Seiten der Fran-
zosen, in Nordamerika Ackerbau- und Jndustrie-Associationen nach
kommunistischen Grundsätzen durchzuführen, gescheitert.
Die Stadt Reading, im County Berks, ist eine der älte-
sten Städte in Pennsylvanien. Sie zählt jetzt 33,976 Einwoh-
ner, zum großen Theile Deutsche. Dort erscheint auch , irren
wir nicht schon seit 1780 oder so, die älteste deutsche Zeitung in
den Vereinigten Staaten, der „Readinger Adler" mit dem
classischen Motto:
„Er kehrt bei Stadt- und Landmann ein
Und kräht: Ich will kein Sklave sein!"
Krieg gegen die wilden Thiere in Ostindien. Ein
solcher wird jahrein jahraus geführt und die Provinzialbehörden
sind angewiesen, Uber denselben Bericht zu erstatten. Wir ha-
ben vor Kurzem eine Mittheilung über diesen Gegenstand ge-
geben; jetzt lesen wir, daß in der Präsidentschaft Madras die
Leute ihre liebe Roth mit den Alligatoren (Gavials) haben.
Einer derselben ist ein gefährlicher Menschenfresser und man hat,
trotz aller Nachstellungen, seiner noch nicht habhaft werden kön-
nen. In einem einzigen Bezirke von Madras sind während des
Jahres 1870 von den Alligatoren verzehrt worden: 1 Mann,
13 Kühe und 14 Büffel. Die Regierung zahlt für jeden Alli-
gator, der an der Malabarküfte erlegt wird und über 8y2
Fuß lang ist, eine Prämie von 10 Rupien (zu 20 Silbergroschen).
Bengalen hat große Noth mit den giftigen Schlangen.
Allein im Bezirke von Bardw an sind binnen kurzer Zeit mehr
als 30,000 Rupien Prämie für getödtete Giftschlangen bezahlt
worden; wie groß die Zahl derselben ist, ergiebt sich daraus,
daß die Prämie für jede eingelieferte Schlange nur 2 Annas
(3 Silbergroschen) beträgt. In Behar richten die Wölfe ent-
schliche Verwüstungen an, aber die Ausrottung derfelben ist un-
gemein fchwierig, weil ein ganz widersinniger Wahnglaube des
Volkes hinderlich einwirkt. Die Hindu meinen, daß ein Dorf,
auf deffen Fluren man Wolfsblut vergießt, von Un-
glück heimgesucht werden müsse. Sie weigern sich ent-
schieden, einen Wolf auch nur zu verfolgen, geschweige denn zu
tobten, obwohl die Verheerungen, welche diese Thiere anrichten,
sehr arg sind. BeiTfcheng-Bakar wird nun fchon seit vollen
zwei Jahren die Umgegend weit und breit durch mehrere Her-
den wilder, sehr gefährlicher Elephanten verwüstet; diesel-
ben blieben unbehelligt, weil — die Behörden nicht einig darüber
werden konnten, welcher von ihnen die Pflicht obliege, die Ele-
phanten auszurotten! Die Tiger haben sich dermaßen ver-
48
Aus allen Erdtheilen.
mehrt, daß auch nur eine merkbare Verminderung derselben mit
nicht geringen Schwierigkeiten verbunden sein wird. Die Prä-
mien für jeden erlegten Tiger sollen auch 1371 fortbezahlt wer-
den und man will großartige Jagdexpeditionen veranstalten.
* #
— Ueber das Grab des letzten Mohikaners bringen
nordamerikanische Zeitungen eine Angabe von einem Deutschen,
welcher dasselbe besucht hat.
„Als ich eines Sonntags Nachmittags im Herbst 1869 auf
dem Kirchhofe der Herrenhutergemeinde zu Bethlehem in Penn-
sylvanien herumschlenderte, siel mir eine große Anzahl Grabsteine
von Indianern und Indianerinnen der Delaware-Shekomeko-
Mohikan aus, welche hier in Reih und Glied mit den ersten An-
siedlern der Gegend begraben lagen. (Das älteste Geburtsjahr,
das ich fand, war David Nitschmann, born in Nov. 1666,
d. 1758.) Zwischen halb verwitterten Steinen lag eine reno-
virte Marmorplatte, welche auch durch Umpflanzung einiger
Rosen- und Je-länger-je-lieber-Stöcke von ihren Nachbarn, ge-
kennzeichnet war. Die Inschrift lautete: „In rnernory of
Tschoop, a Mohiean, Indian, who in holy baptism April
16th 1742 reoeived name of „John'£. One of the first
fruit8 of the mission oi Shekomeko, and a remarkable
instance of the power of divine grace, whereby he be-
came a distinguished teacher among his natives. He de-
parted this life in füll assurance of faith, at Bethlehem
August 27th 1776. There shall be one fold and one slie-
perd. John X. 16." —
Ein zuvorkommender Bruder der Herrenhutergemeinde be-
eilte sich, ein Gespräch anzuknüpfen und den überraschenden Auf-
schluß zu geben, daß wir hier am Grabe von Cooper's „Letztem
Mohikaner" (Chingachgook) ständen. Er theilte mit, daß einer
der ältesten Herrenhuter-Missionäre, Heckewelder, Memoiren
veröffentlicht habe (in Transactions of the historical society
of Philadelphia), welche namentlich Abenteuer aus seiner Ju-
gend, unter den zu bekehrenden Indianern, behandelten. Diese
Memoiren beschäftigten sich viel mit dem fraglichen Tschoop,
welcher ein ungewöhnlicher Indianer gewesen, von Heckewälder,
der in hohem Alter aus dem Gedächtniß schrieb, aber vielleicht
doch zu sehr romantisirt zu sein scheint. Heckewelder's Bilder
aus dem Leben Tschoop's lieferten den Hauptstoff zu Cooper's
bekanntem Roman, dessen Schauplatz allerdings von Pennsylva-
nien nach dem Staate Neuyork, an den Lake George?c. verlegt
ist. Erst nachdem Tschoop oder Chingachgook durch Cooper be-
rühmt geworden war, wurde bei einer Renovation alter Grab-
steine die obenstehende Inschrift auf Tfchoop's Stein angebracht;
zarte Hände bepflanzten das Grab und erhalten seinen Blumen-
schmuck. Heckewelder's Tochter starb in Bethlehem vor wenigen
Jahren in hohem Alter."
— Alterthümer auf Ceylon. Auf dieser Jnfel ist
eine aus Gelehrten gebildete Kommission beauftragt worden, die
in Trümmern liegenden heiligen Städte und Stätten gründlich
zu durchforschen und alle Inschriften zu sammeln. Im Herbste
des verflossenen Jahres war das Waldgestrüpp, welches die Rui-
nen überwuchert, schon bei mehreren hinweggeräumt worden,
und es sind dabei manche bisher unbekannte Alterthümer zu
Tage gekommen. Die Photographie leistet dabei der Wissen-
schaft vortreffliche Dienste, so z. B. bei der Aufnahme der Rui-
nen von Anaradhapura, wo der Mahinda sich in tiefe Be-
trachtungen versenkte und predigte; bei jener des Bo-Baums,
wo Buddhagoscha seinen Wisuddhimagga vorlas :c. Im Novem-
ber sind abermals wichtige Alterthümer entdeckt worden. Unter
den Auspicien des Gouverneurs der Insel, Sir Hercules Ro-
binson, soll ein umfangreiches Werk über die ceylonesifchen Alter-
thümer ausgearbeitet werden. — Wir wollen hier beifügen,
daß ein ausgezeichneter Mann, General Cunningham (der-
selbe, welchem wir das treffliche Buch über Ladakh verdanken),
zum Surveyor-General der archäologischen Aufnahme Indiens
ernannt worden ist. Zunächst besteht seine Aufgabe darin, daß
er für die Erhaltung aller Denkmäler der indischen Architektur
sorgt und gründliche Berichte über dieselben verfassen läßt.
— In der Hauptstadt Mexico bilden die Protestanten
eine besondere Abtheilung der Nationalgarde. Die Zahl
derselben nimmt fortwährend zu und in mehreren großen Pro-
vinzialstädten wird regelmäßig protestantischer Gottesdienst ab-
gehalten.
— Die geographische Verbreitung der Wander-
Heuschrecken (Yedipoda rnigratoria) ist von F. Th. Köppen
in einem Vortrage in der Leipziger naturforschenden Gesellschaft
am 10. Januar 1871 festgestellt worden. Köppen unterschied
eine permanente und eine exclusive Verbreitung der Wander-
Heuschrecke in allen ihren Entwickelungsstusen; letztere Verbrei-
tung , die in besonders heißen und trockenen, der Entwicklung
der Heuschrecken günstigen Jahren stattfindet, erstreckt sich bis zu
den Breiten von Berlin, wo die Wanderheuschrecke sich zu wie-
derholten Malen (z. B. 1827 bis 1828) entwickelt hat. Die
nördliche Grenze der permanenten Verbreitung fällt ziemlich ge-
nau mit der Juni-Isotherme von 16» R. zusammen (in den
Juni fällt im Mittel die Zeit des Larvenlebens der Heuschrecken,
in welcher Periode ihre Existenz besonders von atmosphärischen
Einflüssen abhängig ist). In ganzen Wolken fliegt die Wander-
Heuschrecke noch viel weiter, so z. B. bis Edinburg und bis nach
Schweden; doch entwickelt sie sich dort nicht. Neben den klima-
tischen Einflüssen wird ihre Verbreitung in Europa auch von
den Alpen bedingt, die derselben hindernd in den Weg treten;
die Wanderheuschrecke kann über die Alpen nicht fliegen und
kommt auch nördlich von ihnen nirgends permanent vor. Die
Heuschrecken sind vorwiegend Steppenthiere und fliehen
das gebirgige und waldige Terrain. Ihre weite Ausbreitung
über einen großen Theil der alten Welt und bis hinüber auf
das australische Jnselgebiet verdankt die Wanderheuschrecke
hauptsächlich ihrer vorteilhaften Ausstattung und der dadurch be-
dingtenMöglichkeit weiter Wanderungen. Diese Wanderungen gehen
in Europa gewöhnlich von Osten nach Westen, d. h. sie nehmen
ihren Ursprung in Gegenden (wie z. B. Südrußland), welche als
Centra der größten Anhäufung der Heuschrecken gelten können.
— Die Diamantengräber am Vaalflusse in Südafrika
wurden am 23. und 24. October 1870 zwei Nächte hindurch durch
ein ungemein prächtiges Süd licht erfreut. So weit nach Norden
hin ist dieses Himmelsphänomen nie zuvor beobachtet worden.
— Auf Euba hat der spanische Generalcapitän Rodas im
October auf einmal zweitausend schwarze Lehrlinge frei-
gelassen. Es sind Neger, welche in den Jahren 1855 bis 1857
auf Sklavenschiffen mit Beschlag belegt worden waren und die
feitdem auf den Plantagen als Halbsklaven gearbeitet haben.
— In Südaustralien ist bei Berlin ein 888 Unzen schwe-
rer Klumpen nahezu gediegenen Goldes gefunden worden; in
Queensland hat man abermals einige neue Kupfergruben
entdeckt.
Inhalt: Römische Bilder. Von Franz Koppel. (Mit sechs Abbildungen.) (Schluß.) — Herrn Yth §
nach Jarkend. Von Hermann Vambery. — Die altgrönländische Religion und die religiösen Begriffe der heutigen Grönländer.
Von I. Mestorf. (Fortsetzung.) — Neue Arbeiten über die slavischen Ortsnamen in Deutschland.— C. D. Matlh s Reise
im Westen Nordamerikas. — Der Belgier Vanderkindere über die Stellung der Flamingen. — Aus allen Erdtheilen: Der
Mont-Cenis-Tunnel. — Der Leipziger Dialekt. — Aus Moskau. — Aus Nordamerika. — Krieg gegen die wilden Th?ere in Ost-
indien. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
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Band XJX.
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Mit trtfoiutcrtr Herülksiclitizunz dtr Intkroßologie und <ßilr«otogie.
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Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1871.
Aus dem Leben nnd Treiben des Kaffervolkes in Südost-Afrika.
i.
Verbreitung der Bantu-Völker in Afrika. — Die Kaffervölker und ihre Stämme. — Ihre physische und geistige Beschaffenheit. —
Das Natal-Land und dessen Verödung. — Verschiedene Häuptlinge; der gewaltige Krieger Tschaka. — Wie der Kannibalismus
unter den Kassern entstand. — Dingaan und Umpauda. — Wie das Natal-Land englische Colonie und durch Kaffern wieder be-
völkert wurde. — Heutige Zustände derselben. — Die Zulus als Nachbarn.
Der ganze südliche Theil des afrikanischen Festlandes
wird von Völkerschaften bewohnt, welche man, die Hotten-
toten allein ausgenommen, als Bantu-Völker bezeichnet,
weil dieselben eine gemeinschaftliche, obwohl in den Einzeln-
heiten sehr verschiedene Sprachgruppe bilden. Dieselbe er-
streckt sich nach Norden hin bis etwa zum vierten Grade
nördlicher Breite und weicht in Bezug aus körperlichen Typus
und die verschiedenen, ihrer Cultur zu Grunde liegenden
Elemente von den Negern vielfach ab.
Diese Gruppe umfaßt folgende ethnographische Jndivi-
dualitäten. Im Südosten zwischen den sogenannten Dra-
chenbergen (dem Kwahlambagebirgsznge) und dem indischen
Ocean, etwa von2?o bis 32° S., finden wir die fogenann-
ten Kaffervölker; — westlich von denselben im Innern,
28° bis 16° S., die Betschuanas, welche in 23 Stämme
zerfallen und über welche wir insbesondere durch Livingstone
eingehende Kunde erhielten; — westlich von ihnen die Da-
maras (Herero), 23° bis 19°30'S., und nordöstlich von
ihnen die Owampo. — Nördlich von den Kasiern leben
einige Stämme, die noch nicht näher bekannt sind, aber
sicherlich zu demselben Völkercomplexe gehören. — Nördlich
vom Sambesi haben die Makua mit ihren vielen Stäm-
men eine große Ausdehnung, und noch weiter nördlich die
Suaheli, welche das Küstengebiet vom Eap Delgado bis
Globus XIX. Nr. 4. (Februar 1871.)
an die Grenze der Somali inne haben und vielfach mit
arabischem Blute vermischt sind. Die westlich von ihnen
wohnenden Völker hängen, sprachlich genommen, innig mit
ihnen zusammen, z. B. die Wanika, Wadigo und manche
andere; — südwestlich von ihnen leben die Monyamnesi
uud weiter südlich Stämme, über die wir nur erst dürftige
Kunde haben. Am obern Sambesi nördlich von den Ma-
kololo sitzen die Barotse und um den Ngami-See die
Bayeye. Auch diese sind von Livingstone ausführlich
geschildert worden. — An der Westküste siudeu wir die
Congo-Völker, zu welchen alle die Schwarzen im portu-
giesischen Westafrika gehören. Weiter gegen Norden am
Gabun leben, gleichfalls als Bantu-Völker, die Mpongwe,
Benga, Bakele.und andere, über welche wir erst in den
beiden letztverflossenen Jahrzehnten Genaueres erfahren haben.
Man sieht, daß dieser Grnppirnng gemäß die Region,
welche die eigentlichen „Neger" bewohnen, sehr verengt
wird, und nur das Gebiet im Süden der Sahara, des Se-
negal, der Berber- und Nubavölker umfaßt.
Unter den sogenannten Bantn-Völkern nehmen die
Stämme, welche man als Kaffern zu bezeichnen Pflegt,
eine wichtige Stelle ein; sie sind, vom ethnographischen
Standpunkte aus betrachtet, eine in hohem Grade inter-
essante Menschengruppe. Wir wollen in einer Reihenfolge
7
Verheirateter Mann. Ein Vorsteher im Amte
Knabe. Junger Mann.
Expedition," Wien 1863, S. 99.) Der Kasfer uuterfchei-
det sich wesentlich vom Neger. Der Name ist ihm von den
Arabern beigelegt worden, und bezeichnet bekanntlich einen
Nichtmohammedaner, einen Ungläubigen. Schwerlich haben
die Hunderte von Stämmen, in welche jenes Volk zerfällt,
einen einheimischen Gesammtnamen für die ganze Gruppe.
Gegenwärtig kann man annehmen, daß dieselbe aus fünf
größeren Complexen besteht: — jener der Amatonga hat
den Norden der Kafferregion inne; südlich von ihnen
folgen die Amaswazi, Amazn ln, Amaponda und Ama-
kosa. Das Präfixum ama bildet den Pluralis, also:
von Ponda Mehrzahl Amaponda.
Unsere Illustrationen geben Typus und Physiognomie
Mädchen. Alte Frau.
Junge Frau mit dem Kinde.
der Kaffern genau wieder. Die dunkle Haut, auf welche
Jedermann stolz ist, läßt etwas Roth durchscheinen, und
während andere duukelhäutige Völker der Weißen Hautfarbe
den Vorzug einräumen, ist das beim Kasfer nicht der Fall.
Uebrigeus kommt bei ihm nicht-felten auch eine dunkle Oliven-
färbe vor. Wir wollen hier einen Punkt hervorheben, der
anthropologisch von Interesse ist. R. Ä. Mann („The
Kaffir Race of Natal; Transactions of the ethnological
Society," 1867, p. 287) will mit Bestimmtheit behaupten,
daß bei den Kaffern der Küstenregion auch Negerblut nn-
verkennbar fei. Er hat lange unter ihnen gelebt; er fand
viele mit Wollhaar, plattem Gesicht, geplätschter Nase, stark
vorstehenden Backenknochen und auch den specisischen Geruch,
50 Aus dem Leben und Treiben d
zwangloser Schilderungen ihr Leben und Treiben näher be-
trachten.
Die Kaffervölker find in die Gebiete, welche sie jetzt
inne haben, von Norden her eingewandert; man zieht diesen
Schluß aus dem Umstände, daß sich in ihrer Sprache viel-
fach Anklänge an die hamitischen Idiome nachweisen lassen.
Die Wanderung scheint anfangs der Ostküste entlang gen
Süden stattgefunden zu haben, bis sie aus die Hottentoten-
stämme stießen; eine zweite Wanderung scheint durch das
Drängen der Gallastämme veranlaßt worden zu sein; sie
ging von Osten nach Westen quer durch das afrikanische
Festland.
Wir finden alle Bantn-Völker, gleich den Negern, in
Kciffervolkes in Südost-Afrika.
eine großeMenge vonStämmen zerklüftet. Die Kaffer-
stämme weichen unter sich in manchen Einzelnheiten und
Nüancen von einander ab, im Großen und Ganzen jedoch
zeigen sie einen und denselben Typus. Ihre Haut ist dun-
kel, doch nicht so schwarz wie beim eigentlichen Neger, das
Haar kraus und kurz, aber nicht ganz so wollig, die Lippen
sind bei Weitem weniger aufgeworfen; der Körperwuchs ist
schlank, die Glieder sind gerade, die Stirn ist nicht niedrig,
der Ausdruck intelligent. Manche Kassergestalteu könnten
Malern und Bildhauern als Modelle dienen.
Der Hypothese, daß die Kassern Mischlinge aus Ära-
bern und Negern seien, fehlt jeder Halt und jede Begrün-
duug. (Friedrich Müller, „Ethnographie der Novara-
Aus dem Leben und Treiben des Kaffervolkes in Südost-Afrika.
welchen die Haut des Negers ausdünstet. Aber er sah an-
dererseits eine große Menge von Leuten mit feineren Gesichts-
zügen, dünnen Lippen, vorstehender Nase und hoher, gerader
Stirn; doch die einen wie die anderen sind schlank und eben-
mäßig gebant. „Je mehr ich mich unter den Kassern be-
wegte und die Verschiedenheit ihrer Gesichtsbildungen und
ihrer Organisation beobachtete, um so mehr drängte sich mir
und zwar ganz unwillkürlich die Ueberzeuguug auf, daß sie
auf keinen Fall von reinem Negerblute sind, daß
aber zwei verschiedene Elemente in ihrer Organisa-
tion auftreten, die fortwährend zum Vorschein kommen, und
zwar bald das eine, bald das andere, und auch in einer und
derselben Familie." Hier wäre also Atavismus. Auch in
Routledge („Natural history of man," I., p. 4.) wird
hervorgehoben, daß das Haar jenem des echten Negers sehr
ähnlich ,fet; „die Lippen sind immer breit, der Mund ist
groß, die Nasenflügel und Nasenlöcher sind weit. Diese
Eigentümlichkeiten hat der Kasser mit dem Neger gemein,
und es trifft sich wohl, daß bei irgend einem Individuum
alle diese Erscheinungen vereint so scharf hervortreten, daß
man dasselbe auf den ersten Blick für einen Neger halten
könnte."
Jntellectnell ssteht aber der Kasser viel höher als der
„Aethiopier". Er ist ein ehrlicher Mensch und verabscheut
den Diebstahl innerhalb seines Stammes; Europäern gegen-
über, die er ja als Eindringlinge betrachtet, wird es damit
Kaffermädchen.
nicht immer so genau genommen; aber von Natur ist er
keineswegs diebisch und lüstern nach fremdem Eigenthum.
Sein ganzes Trachten ist daraus gerichtet, einen Viehstand
zu erwerben oder denselben zu vermehren; er ist ein „Boo-
mane". Im Umgange zeigt er sich leutselig, gesprächig und
hat viele Worte der Liebkosung und Schmeichelei. Sein Selbst-
bewnßtsein tritt stark hervor und er wird handgreiflich gegen
den, welcher dasselbe verletzt. Er ist sorglos und denkt we-
mg'an den folgenden Tag, weil er weiß, daß er stets alle
seine Bedürfnisse befriedigen kann. Zum Ackerbauer hat
ihn die Natur nicht geschaffen; er ist am liebsten Viehzüchter
und Halbnomade; ein vortrefflicher Rinderhirt. Gesellig-
feit, unablässiger Verkehr mit Anderen, am liebsten bei der
Tabackspseise, ist ihm Bedürfniß; er kann nicht wohl allein
sein; seine Gastfreundschaft läßt nichts zu wünschen übrig,
und wer zu ihm kommt, wird reichlich mit Milch bewirthet.
Seinen Stammgenossen ist er gern zu allen Dingen behülf-
lich. Als Krieger zeigt er sich unerschrocken und tapfer; er
ist von Haus aus nicht etwa ein blutgieriger Barbar; wei-
ter unten soll gezeigt werden, wie es in Folge eigenthüm-
licher Verhältnisse geschah, daß in diese, sonst leutseligen
Menschen eine arge Verwilderung kam. Unter allen dunkel-
farbigen Leuten Afrikas hat er den feinsten Kopf; er ist
scharfsinnig bis zum Spitzfindigen, ein raisonnirender Dia-
lektiker und in hohem Grade zweifelsüchtig. Die Missio-
näre, welchen er oft überraschende Argumente entgegensetzt,
wissen davon zu erzählen, und haben vielfach darüber geklagt,
daß der Kaffer ein „haarspaltender Heide" sei, welchem man
7*
52
Aus dem Leben und Treiben des Kaffervolkes in Südost-Afrika.
nur schwer oder auch gar nicht beikomme. In Controversen
gefällt er sich und in seinen Fragestellungen geht er schlau
genug zu Werke, um den Gegner zu verwirren und zu ver-
wickeln.
In der Familie gehorchen alle Angehörigen dem Haus-
Vater unbedingt; ebenso ist der Häuptling innerhalb seines
Stammes unumschränkter Gebieter, und sein Wille gilt, so
lange derselbe den hergebrachten Überlieferungen und Ge-
wohnheiten entspricht. Der Mann nimmt so viele Frauen
als er kaufen und ernähren kann, doch muß er die Geueh-
miguug des Häuptlings einholen. Das Mädchen wird
nicht um die Einwilligung gefragt; der Bater der Braut er-
hält dafür, daß er seine Tochter einem Manne giebt, so und
so viel Kühe. Der Kaffer
ist in hohem Grade aber-
glänbisch; gegen böse Gei-
ster und Zauberpriester sollen
Amnlete ihn schützen. Bei
einzelnen Stämmen treten
auch Regenmacher auf.
Bevor wir diese allge-
meine Kennzeichnung durch
Einzelnheiten erläutern, wol-
len wir, gleichsam zur Ein-
sührung, einige Episoden aus
der Geschichte dieses Volkes
mittheilen. Dieselben knü-
psen sich an die Besiedelung
eines Theils der Kasferland-
fchasten durch die Europäer
und zeigen in charakteristi-
scher Weise die Zustände der-
jenigen Stämme, durch welche
die große Gruppe der Zulus
gebildet wird.
Unter den verschiedenen
Landschaften der fogenann-
ten Capregion nimmt die
Colonie Natal einen be-
merkenswerthen Aufschwung.
Sie liegt an der Ostküste
Südafrikas, wird vom drei-
ßigsten Grade südlicher Breite
durchschnitten, hat eine man-
nichsaltige Bodenbeschaffen-
heit, ist gut bewässert, eig-
net sich eben sowohl für
Ackerbau wie für Viehzucht
und das Klima ist gesund.
Dieses Natalland ist erst seit
Anfang unseres Jahrhunderts näher bekannt geworden; es
hat eine interessante Geschichte, durch welche wir einen Ein-
blick in das eigentümliche Leben und Treiben der Kasser-
stämme gewinnen.
Die Küste reicht vom Umzimkulustrom im Süden bis
zum Tugela im Norden. Dieser bildet die Grenzscheide ge-
gen das Land der Zulukaffern; weiter nach Norden hin stößt
Natal an die transvaalfche Bauerurepublik und im Westen
bilden die Drakenberge die Grenze. Als Vasco da Gama
am Weihnachtstage 1497 dieses Land in Sicht bekam, gab
er ihm den Namen, welchen es noch führt. Der Sinn der
Portugiesen war auf die Schätze Indiens gerichtet und sie
beachteten jene Gegend nicht. Im Jahre 1683 scheiterte
ein englisches Fahrzeug in der Delagoabai und etwa achtzig
Junger Kafferkrieger,
Seeleute zogen unter großen Beschwerden und Entbehrungen
zu Lande bis ans Vorgebirge der Guten Hoffnung. Drei
Jahre später strandete ein holländisches Schiff, dessen Be-
mannung viele Monate an der Natalküste zubrachte.
Als im Jahre 1823 der englische Marineoffizier Fare-
well Küstenvermessungen vornahm und an der Stelle landete,
wo jetzt Port d'Urban liegt, fand er die ganze Gegend südlich
vom Flusse Jtongati verödet und fast menschenleer; nördlich
von demselben herrschte ein sehr kriegerischer Häuptling, welcher
alles Land zwischen 26° und 32" südlicher Breite als sein Ge-
biet in Anspruch nahm. Jene verödete Landschaft, welche
jetzt die Colonie Natal bildet, war noch 1785 dicht bevölkert;
in derselben wohnten nicht weniger als neunzig verschie-
deneKasferstämme,sried-
liche Menschen, welche Vieh-
zucht und auch einigen Acker-
bau trieben. Die einzelnen
Stämme (Clans) redeten
dieselbe Sprache, aber jeder
hatte seinen besondern Hänpt-
ling, der patriarchalisch re-
gierte und an das Herkom-
men gebunden war. Fehde
kam selten vor und dauerte
immer nur wenige Tage;
Frauen und Kinder wurden
niemals getödtet, Gefangene
gaben ein Lösegeld, das in
Kühen bestand; eine Heeres-
einrichtuug war unbekannt
und kriegerisch waren die Kaf-
fern nicht. Damals hatte
man ein „goldenes Zeit-
alter", an dessen Stelle je-
doch bald ein eisernes trat.
Nördlich vom Tugela leb-
ten viele andere Stämme so
ziemlich in ähnlichen Ver-
Hältnissen; unter denselben
war jener der Umitetwa
der zahlreichste. Der Haupt-
ling desselben hießDschobe,
und dieser verlangte von eiui-
gen Stämmen, welche am
Schwarzen und am Weißen
Umsolozislusse wohnten, völ-
lige Unterwerfung. Gegen
ihn rebellirten feine beiden
Söhne und er wollte sie des-
halb tödten lassen. Der
eine, Namens Tana, wurde
bei Nacht erschlagen, der an-
dere, Godongwana, entkam mit einer tiefen Wunde im
Rücken und wanderte ruhelos von einem Stamme zum andern.
Diese Ereignisse fallen in das Jahr 1790.
Als Dschobe gestorben war, kam Godongwana zurück.
Er brachte zwei Thiere mit, welche man dort zuvor nie ge-
sehen hatte; es waren Pferde, und diese ritt er. Nachdem
er deu Häuptling, welcher an Dschobe's Stelle getreten war,
besiegt hatte, wurde er Herr; daß er der Sohn seines Vaters
sei, bewies er durch jene Wunde. Er nahm dann, nach
Landessitte, statt des Geburtsnamens einen bezeichnenden
Namen an und hieß von da ab Dingiswayo, d. h. der
Wanderer. Er war volle fünfzehn Jahre lang hin und her
gewandert, viel mit weißen Leuten in Berührung gekom-
men und hatte deren Thun und Treiben aufmerksam beob-
Aus dem Leben und Treiben des Kaffervolkes in Südost-Afrika.
achtet, namentlich auch ihr Soldatenwesen. — Nun
traf es sich, daß bei diesem „Wanderer" ein junger Zulu,
Namens Tschaka (Chaka), sich einfand. Er war Sohn
des Häuptlings Seuzugakona, welchem einer der oben er-
wähnten Zulustämme gehorchte, auf die Dschobe seine Herr-
schast hatte ausdehnen wollen. Tschaka war seines unruhi-
gen Treibens wegen verbannt worden; jetzt trat er in die
Soldateska ein, welche der Wanderer nach europäischem Mu-
ster gebildet hatte. Dingiswayo war zwar kriegerisch, aber
nicht grausam; er hielt noch an den alten lleberlieferungen
fest, verschonte Frauen und Kinder und nahm den Besiegten
nicht ihre ganzen Herden weg. Tschaka blieb von 1805
bis 1810 in seinem Dienste; dann folgte er seinem Vater in
der HäuptlingswUrde nach.
Etwa im Jahre 1818 wurden
die Umtetwas vom Amand-
wanda - Häuptling Z w i d e
bekriegt; sie suchten bei
Tschaka Schutz und vereinig-
ten sich mit dessen Stamme.
Wir müssen diese Ein-
zelnheiten anführen, weil sie
den Schlüssel zum Verstand-
nisse des Nachfolgenden bil-
den. Tschaka wurde mächtig
und grausam. Er schuf sich
ein stehendes Heer; jedes
Regiment erhielt Schilde mit
einem eigenen Farbenmuster;
statt des langen Wurfspeeres
führte er die kurze Hassa-
gaye ein; kein Soldat durfte
eine Frau nehmen, bevor er
nicht für einen Veteranen
erklärt worden war. Die
Trnppen marfchirten so, daß
sie ein dicht geschaartes Cen-
trnm mit zwei Flügeln bil-
deten. Wer ans dem Kam-
pse ohne Schild nnd Hassa-
gaye oder mit einer Wunde
im Ri'lcken kam, wurde ohne
Weiteres niedergemacht; eine
in die Flucht getriebene Hee-
resabtheilung wurde entweder
deeimirt oder bis auf den letz-
ten Mann getödtet.
So geschah es, daß
die bis dahin friedli-
chen und man kann sa-
gen harmlosen Kasser-
stämme wild und krie-
gerisch gemacht wurden; die Zulus bildeten eine furcht-
bare Macht. Tfchaka's Regimenter machten Weiber und
Kinder nieder, bezwangen einen Stamm nach dem andern,
und nach Verlauf einiger Jahre war ihm die ganze ein-
hundert deutsche Meilen lange Strecke von der Delagoa-
bai im Norden bis zum St. Johnsflusse im Süden unter-
worsen. Sein System bestand darin, so viel als möglich
zu vernichten. Die jungen Männer der besiegten Stämme
steckte er in seine Regimenter. Zuerst besiegte er den oben
erwähnten Zwide, dann alle Stämme am Büffelflusse;
manche leisteten zähen Widerstand, z. bie Amakabela,
welche in eine Waldeinöde flüchteten, in der sie von Wnrzeln
und vom Fleische wilder Thiere sich zu nähren suchten und
oftmals Hunger litten.
.Junger Kaffer im Staatsanzuge.
Dadurch ist es gekommen, daß die Kaffern Can-
nibalen wurden, und wir wissen genau, wie die Menschen-
frefserei unter ihnen entstand.
Der Mann, welcher zuerst seinen Abscheu überwand, hieß
Umdawa, und Leute aus nicht weniger als vier Stämmen
folgten feinem Beispiel. Noch jetzt lebt in der Natalcolonie
ein alter Kasser, Namens Fnnwayo, der aus den ersten Zei-
ten des Caunibalismus Erinnerungen als Augenzeuge hat.
Als er in der Zuluarmee diente, traf er plötzlich auf eine
Anzahl Leute aus dem Amakuuyao-Stamme, welche um Koch-
töpse herumhockten. Sie wurden von den Zulukriegern über-
fallen, und als diese sich den Inhalt der Kessel näher besahen,
fanden sie, daß derselbe aus Menschenfüßen bestand. Der
Häuptling Nomfomekwana,
welcher heute noch lebt, wurde
als Knabe von den Canni-
balen gefangen genommen,
nnd sie schleppten ihn mit
sich an dem Flusse hin, an
welchem nun Pieter-Moritz-
bürg, die Hauptstadt der Co-
louie, liegt. An Büffeln,
Elenantilopen und Seekühen
war dort kein Mangel. Der
Knabe entfloh und schwamm
dnrch den Fluß; keine der
Hassagayen, welche man hin-
ter ihm her warf, traf ihn.
Er hatte einen Topf tragen
müssen, mit welchem man
den Kessel, in welchen« er ge-
kocht werden sollte, hatte zu-
decken wollen. Seine Schwe-
stern, welche gleichfalls ge-
fangen waren, sind anfge-
fressen worden.
Ein anderer Mann, Na-
mens Unonibiba, erzählt Fol-
gendes. Als er vor Tscha-
ka's Kriegern sich geflüchtet
und längere Zeit in der Wild-
niß verborgen hatte, wagte
er sich nach seinem Heimath-
licheu Kraal zurück. Die
neben demselben liegenden
Felder waren unbeschädigt
und die Früchte reif, aber
die Schädel der Menschen,
welche das Getreide hätten
einheimsen sollen, waren oben
auf den Hütten befestigt; die
Knochen lagen zerstreut um-
her; die Cannibalen hatten dort ihr Mahl gehalten. Gleich
den Amadnngen sind auch die Amakunyad Menschenfresser
geworden. Das Hundefleisch war gleichfalls ein beliebtes
Gericht. Die Hyänen, welche damals sehr viele erschlagene
Leute verzehrten, wurden so wild und grimmig, daß sie
Männer und Fraueu anfielen und häufig auch Kinder weg-
schleppten.
Die größten Stämme, welche Tschaka zuerst angriff, such-
ten sich im Süden eine Heimath, wurden aber auch dorthin
verfolgt, unterjocht und theils niedergemacht, theils in die
Regimenter vertheilt. So geschah es, daß ein großer Theil
des heutigen Colonialgebietes zu jener menschenleeren Einöde
wurde, welche der Marineoffizier Farewell 1823 antraf.
Ein Jahr später kamen einige zwanzig englische Handels-
54 Aus dem Leben und Treiben d
leute nach der Natalbai, um dort eine Niederlassung zn
gründen. Sie setzten sich mit Tschaka, der gern in sried-
lichem Berkehr mit den Weißen stand, ins Einvernehmen;
der Unterhändler, ein Herr Fynn, berichtet, daß er südlich
vom Jntongati weder einen Kraal, noch Vieh oder Getreide
gesehen habe, wohl aber halbverhungerte Leute, die ihr Leben
mit Wurzeln und Schalthieren am Strande fristeten. Diese
Unglücklichen flüchteten sich dann unter den Schutz der Eng-
länder, sie bildeten den ersten Stamm der Eingeborenen,
und einige Jahre nachher fand sich eine Menge von Flücht-
lingen aus dem Zululande an der Bai ein. Tschaka erlaubte
den weißen Ansiedlern , sie dort zu behalten, und nach und
nach kam neuer Zuwachs.
Tschaka wurde im September 1828 von seinem Bruder
Dingaan ermordet. Dieser gerieth in mancherlei Streitig-
keiten mit den Engländern, schloß jedoch 1838 mit denselben
einen Vertrag ab, dem gemäß er auf die Herausgabe der bei
Port Natal angesiedelten Kaffern verzichtete, während sie ihrer-
seits versprachen, ferner keine Ausreißer aus Dingaan's Gebiet
aufzunehmen. Damals erhielt die Ansiedelung, in welcher
bereits mehr als eintausend Kassermänner lebten, den Na-
men Port d'Urban. Gleich nachher kamen die holländischen
Boers in großen Schaareu aus der Capcolonie ins Gebiet
der Kaffern, geriethen in Krieg mit Dingaan, welcher ihnen
unterlag; sie erhoben dessen Bruder Umpanda zur Herr-
schast und gründeten 1839 die Stadt Pieter-Maritzbnrg.
Ihr „Freund und Bundesgenosse" UmPanda niußte ihnen
einen Tribut vou 36,000 Kühen zahlen und die Grenze des
Gebietes der Zulus nach Norden hin bis über den Tngela
hinausrücken. Die Regiernng der Capcolonie ihrerseits wollte
nicht dulden, daß Natal in den dauernden Besitz der Hollän-
der gelange, nud verlangte deren Unterwerfung, weil sie ja
vormals Angehörige der Capcolonie gewesen seien! Die
Bauern gaben 1845 nach und zogen gen Westen, wo sie den
Oranjesreistaat gründeten. Natal wurde britische Colouie und
von da an bildete der Tugela die Südgrenze des Zululandes.
Seitdem Dingaan's Macht gebrochen war, strömten von
weit und breit her ununterbrochen schwarze Leute in die Co-
lonie, wo sie Schutz gegen Willkür und vollkommene Sicher-
heit sanden. Das einst verödete Land hatte 1862 bereits
eine Kafferbevölkernng von 180,000 Seelen, die nicht we-
niger als neunundfunfzig verschiedenen Stämmen
angehörten. Sie wohnen in ihren Hütten in Dörfern (Kraals),
theils auf Ländereien, welche die Regierung ihnen angewiesen
hat, theils auf Kronländereien zerstreut, oder auch aus dem
Grund uud Boden von Privateigenthümern. Sie halten Rind-
vieh, Schafe und Ziegen, bauen auch Kafferhirse und Mais.
Von Krieg und Fehde ist keine Rede mehr; jeder Stamm
hat seinen Aeltesten, sagen wir Patriarchen; Cannibalismus
kommt nicht vor. Der Aelteste schaltet und waltet in seinem
Stamme gemäß den alten Ueberliesernngen und Gebräuchen,
ist aber für sein Thun und Lassen der Colonialbehörde ver-
antwortlich, und wichtige Angelegenheiten müssen vor die
Gerichte oder ein anderes zuständiges Amt gebracht werden.
Die Regierung hat für die Angelegenheiten der Eingeborenen
einen besondern Beamten angestellt, welcher ihr und dem
Gouverneur Bericht erstattet.
So ist unter den Kassern in Natal Ruhe und Gedeihen;
sie leben in Wohlstand und sind zufrieden. An die Stelle
der einheimischen Karosse, d. h. Mäntel, sind zur Freude der
Engländer wollene Decken getreten, und die Felder werden
Kasfervolkes in Südost-Afrika.
mit eisernen Hacken aus Birmingham bestellt. Die Kaffern
sind gute „Kunden" geworden, und viele haben Gold- und
Silbergeld. Auch solche, die noch ganz in alter, nrthümlicher
Weise wild leben, sind ungefährlich. Solch ein wilder Na-
talkaffer bauet sich seiue Hütte am liebsten am Abhänge eines
Hügels, läßt sich von der lieben Sonne bescheinen und seine
Frau alle Arbeiten verrichten.
Jenseit der Grenze, im Zululande, sind die Verhältnisse
weniger befriedigend. Dort hat der Häuptling Umpanda
Gewalt über Leben und Tod, und auf seinen Befehl werden
keineswegs selten Leute ermordet. Eine gerichtliche Instanz
ist nicht vorhanden; wer eines Vergehens angeschuldigt wird,
muß vor dem Häuptling erscheinen, der nach Belieben über
ihn verfügt, und ihn, falls er ihn etwa für gefährlich hält,
ohne Weiteres hinrichten läßt; insgemein wird dasselbe Schick-
sal auch über seine Familienangehörigen verhängt. Schon der
bloße Verdacht, daß ein Mann das Zululaud verlassen und
ius britische Gebiet übertreten wolle, kann ihm den Unter-
gang bringen. Als der Regierungsbeamte, welcher in der
Natalcolonie die Angelegenheiten der Eingeborenen über-
wachte, den Zulukönig Umpanda besuchte, wollte er sein Zelt
neben dem Kraal des Königs aufschlagen, aber auf jener
Stelle war am Tage vorher zwei Männern auf Befehl des
Häuptlings der Schädel zerschmettert worden und das Zelt
wurde deshalb an einem andern Punkte aufgebaut. R. I.
Mann erzählt (Transactions of the Ethnological So-
ciety V, p, 291. 1867) Folgendes. Am 7. Juni 1864
befand er sich beinl Negieruugsagenten am Tngela; dieser
Fluß war bei Nacht von zwei jungen Männern, vier Frauen
und einem Knaben heimlich überschritten worden. Der letz-
tere hieß Matupa; Maun nahm ihn als Diener zu sich
und erfuhr Folgendes. Der Vater des Knaben war einem
Hauptmanne des Zuluhäuptlings Ketschwayo mißliebig ge-
worden; derselbe beschuldigte ihn, mehrere Menschen durch
Hexerei umgebracht zu haben. Daher wurde er hiugerich-
tet, und des Knaben Mutter und Zwillingsbruder verfielen
einige Tage später demselben Schicksal; die übrigen Ange-
hörigen der Familie retteten sich dann durch die Flucht.
Wir wissen nicht, ob Umpanda, der 1840 nach seines
Bruders Dingaan Tode zur Herrschaft gelangte, heute noch
lebt; 1866 war er noch am Ruder, hatte aber viel Uuge-
mach wegen feiner Söhne. Als diese herangewachsen waren,
schaarten sich die jungen Krieger um dieselben, und so ent-
standen verschiedene Parteien, die mit einander Krieg führten.
Umpauda's zweiter Sohn, Umbulazi, wurde von seinem altern
Bruder Ketschwayo in einer blutigen Schlacht vernichtet, und
einige andere seiner Brüder blieben aus dem Platze; noch
zwei andere, die erst halb erwachsen waren, flüchteten in die
Natalcolonie, wo sie unter britischem Schutze leben. Der
alte König galt für das „Haupt" des Volkes, Ketschwayo
aber für „Hände und Füße". Die Colonialregieruug sucht
mit den Zuluhäuptlingen in gutem Einvernehmen zubleiben;
sie giebt denselben alle Kühe zurück, welche die Flüchtlinge
etwa mitgebracht haben; sie registrirt diese letzteren in eine
Liste ein, und jeder, welcher in der Colonie Schutz sucht, muß
zunächst drei Jahre lang bei einem weißen Manne Dienste
thun. Auf solche Weise hemmt sie einigermaßen den Zu-
drang aus dem Zululande, in welchem offenbar das Bestre-
ben, sich der Willkür und Grausamkeit der Häuptlinge zu
entziehen, allgemein ist.
I. Mestorf: Die altgrönlandische Religion und die religiösen Begriffe der heutigen Grönländer. 55
Die altgrönlandische Religion und die religiösen Begriffe der
heutigen Grönländer.
Von I. Mestorf.
IV.
Das Angakunek oder Priesterthum.
Der Weihe des Angakunek konnten Männer und Frauen
theilhaftig werden, doch scheint es zwei, vielleicht mehrere
Grade desselben gegeben zu haben. Die Vorbereitung be-
gann schon in der Kindheit. Der Lehrer war darauf be-
dacht, das Kind furchtlos zu machen und sein Auge nach
und nach der Geisterwelt zu öffnen, damit es gegen die
Schrecken derselben unempfindlich werde. Später begann
die eigene Thätigkeit des Schülers, iudem er die Einsamkeit
suchte und durch Fasten und Beten und Anrufung des gro-
ßen Geistes so viel Gewalt über seine Seele erlangte, daß
sie es lernte, sich von dem Körper zu treunen uud fesselfrei
den Weltraum zu durchfliege». Endlich erschien ihm Tor-
nasnk und verlieh ihm einen Tornak (Schutz- und Hülfs-
geist). Bei diesem Acte, der auf verschiedene Weise geschil-
dert wird, verlor der Jünger das Bewußtsein; wenn er er-
wachte, kehrte er zu den Wohnungen der Menschen zurück.
Man zeigt noch jetzt einige Felsgrotten, wo auf einer grö-
ßern Steinplatte ein kleinerer Stein liegt. In diesen Höh-
len lebten die angehenden Angakut während der Prüsuugs-
zeit und rieben die Steine an einander, bis sie Tornasuks
Stimme vernahmen. Nach etlichen Sagen erlangte man
den höchsten Grad des Angakunek dadurch, daß man sich in
einem ausgetrockneten Binnensee von Schlangen das Blut
aussaugen ließ. Hatte der junge Angakok eine Zeitlang mit
Tornasuk verkehrt, so lag es ihm ob, Beweise von seiner
Gewalt über die Geister zu geben. Geschah dies nicht bin-
nen gesetzter Frist, so war er dem Tode verfallen. Die Nähe
eines Angakok verkündigte sich wie die der Jliseetsnt (Zau-
berer) durch einen hellen Schein.
Der Angakok war Lehrer des Volkes und Schiedsrichter
in allen Streitfragen, namentlich in Glaubeusfachen. Uud
weil das religiöse Leben so tief in das werktätige eingriff,
so war er einer weltlichen Behörde gleich zu achten, die bei
allen Verlegenheiten um Rath und Hülfe angesprochen wurde.
Seine Hülfsmittel waren theils solche, die allen Menschen
zugänglich sind, theils der Beistand seines Tornak, oftmals
auch eitel Blendwerk, denn er befaß die Klugheit, in der
Ausübung seines Berufes stets den Neigungen und dem Ge-
schmack des Pnblicums Rechnung zu tragen. Bei schwieri-
gen Operationen, wie z. B. das Reinigen und das Wieder-
einbringen des Magens eines Patienten oder das Ausflicken
einer beschädigten Seele, erforderte es keine geringe Geschick-
lichkeit, wenn er anders den Glauben seiner Kunden an
seine Macht ungeschwächt erhalten wollte. Bisweilen wur-
den diese Künste nur zur Belustigung der Zuschauer im
Wettstreit geübt. Zum eigentlichen Torninek bedurfte es
jedoch des größten Ernstes. Der Angakok rief in Gegen-
wart seiner Gemeinde den Tornak und verlangte Auskunst
über eine von den Anwesenden aufgeworfene Frage, oder er
begab sich selbst auf die Reise, um die Antwort zu holen.
Bei der Ceremonie herrschte völlige Finsterniß im Hanse.
Dem Angakok wurden die Arme auf deu Rücken und der
Kopf zwischen die Beine gebunden; man stellte eine Trom-
mel neben ihn und eine trockene Thierhaut. Die Anwesen-
den leiteten die Handlung ein durch Gesang. Alsdann be-
gann die Anrufung des Tornaks, und bald verkündigte ein
Geräufch oder ein Lichtschimmer dessen Nähe. Das Zwie-
gespräch begann, aber die Stimme des Geistes war gewöhn-
lich so leise und undeutlich, daß der Angakok seine Antwort
verdolmetschen mußte. Begab dieser sich selbst auf deu Weg,
so sah man ihn als einen lichten Schein verschwinden. Nach
einigen Stunden kehrte er wieder und erzählte, was er in
der Ober- und Unterwelt gesehen und erlebt. War das
Torninek zu Ende und die Lampe wieder angezündet, so sah
man zu Aller Erstaunen den gefesselten Mann seiner Bande
ledig. Manche Naturgeister konnten dem Torninek entgegen-
wirken. Ein Angakok, welcher seinen Tornak zehnmal ver-
geblich gerufen hatte, ward seines Amtes verlustig.
Die eigentlichen Pflichten und Obliegenheiten der An-
gakut waren folgende: Sie regelten und verwalteten alle
Glaubensangelegenheiten; sie riethen uud halfen bei Krank-
heit uud anderen Kümmernissen; sie suchten die Ursache
eines Unglückes zu ergründen, und wurde diese iudem Zauber
oder bösen Willen anderer Menschen entdeckt, so wurde die-
seu eine Strafe zuerkannt; sie suchten verschollene Kajak-
männer auf und bekämpften deren Feinde durch Serrat und
Torninek; sie machten Hexen und böse Geister unschädlich,
gaben gute Rathschläge beim Antritt einer Reise, machten
gutes Wetter u. s. w. Die schwerste Aufgabe war jedoch,
die aus dem Jagdreviere verschwundenen Seethiere wieder
herbeizuschaffen. Dazu bedurfte es jenes gefahrvollen Gan-
ges zu Arnakuagsak. Auf dem blutgetränkten Todtenpfade,
an dem Aufenthalte der Seelen vorüber, über gähnenden
Schlund, über einen schlüpfrigen Felsen, der sich wie ein
Kreisel unter ihm drehte, an einem tollen Hunde vorüber,
führte sein Weg zur Wohnung der Alten. An der Schwelle,
die so schmal wie ein Messerrücken, empfing sie ihn und
hielt ihm verbrannte Federn unter die Nase, um ihn be-
wußtlos zu machen. Er überwand indessen alle Schrecken,
begann, von seinem Tornak unterstützt, den Kampf mit den
Agdleritut uud nicht sobald hatte er das scheußliche Gewürm
von dem Haupte der Alten entfernt, so flammte die schwach-
glimmende Lampe auf, die Alte zeigte sich milde und freund-
lich, und sandte fette Seehunde an die Oberwelt. Der bissige
Hund drängte sich traulich schuopperud an ihn, und der
Heimweg wurde ohne Schrecknisse zurückgelegt.
Wurde der Angakok zu einem Sterbenden gerufen, so
setzte er sich an das Lager, rührte leise die Trommel und sang
mit gedämpfter Stimme ein Lied, welches die Glückseligkeit
jenseits des Grabes schilderte. Er bediente sich dabei, wie
bei allen Ceremonien, einer gewählten, bilderreichen Sprache,
von welcher die älteren Schriftsteller noch Proben geben, die
jetzigen Grönländer aber nichts mehr wissen. Bei dem Tode
eines Angakok geschahen Zeichen und Wunder. Es schien,
als ob seine Seele sich schwer von dem Körper löse. Mehr-
mals erwachte er aus laugen Ohnmächten wieder zum Leben,
und wenn endlich der Tod eintrat, so zeigte sich die Seele
nach fünf Tagen als umgehender Geist.
56 Karl Cramer: Eine
Der christliche Grönländer und das Angakunek.
War es schon ein Jrrthnm, wenn die ersten christlichen
Lehrer die Grönländer davon überzeugt zu haben wähnten,
daß die Angakut Betrüger feien*), so ist es ihnen auch jetzt
noch nicht gelungen, sie zu der Erkeuntniß zu führen. Und
der Grönländer hat Recht, wenn er den Glauben an seine
alten Lehrer festhält; denn ihren weisen Lebensregeln allein
verdankt er es, daß er an der öden Küste sein Leben fristet,
ja zeitweilig im Ueberfluß schwelgt und seines Daseins froh
ist. „Noch heute zehren Europäer und Grönländer von
den Früchten des Angakunek" (Rink). Bessern Eingang
fand die Lehre, daß auch die christlichen Geistlichen Angakut
seien, daß sie durch göttliche Macht, die grönländischen durch
Teufels Macht, Weisheit erlangen, und weil die christlichen
Lehrer als Vermittler zwischen Gott und den Menschen be-
trachtet werden, mit der Weihe und Ausübung des Anga-
kunek aber Enthaltsamkeit und Selbstverleugnung und steter
Kampf mit der Geisterwelt verknüpft war, so ist jegliches
Gelüste zur Aufrechthaltung desselben längst verschwunden.
Es ist, wie wir schon eingangs bemerkten, selbstverständlich,
daß die an Kenntnissen und Erfahrungen ihnen so weit über-
*) Gegen die Meinung gewisser Autoren, daß das Angakunek
auf eitel Gaukelei hinauslaufe, müssen wir entschieden Protest er-
heben. Zum Christcnthum bekehrte Angakut, und zwar solche, die
eifrige Anhänger der christlichen Kirche wurden, blieben von der
Wirklichkeit ihrer Visionen überzeugt, gewöhnten sich aber an den
Gedanken, daß sie ihnen durch Teuselsmacht zugesandt seien. Es ist
damit nicht gesagt, daß nicht unter den in frommem Wahn befan-
genen, oft sehr klugen Männern immerhin manche unwürdige Sub-
jecte und Betrüger gesteckt haben mögen, — welche Corporation ist
frei von solchen?
Revolution in Zacatecas.
legenen Europäer, welche in fremdartigen Fahrzeugen aus der
See vor ihnen auftauchten, fremd an Gestalt, Sprache, Klei-
dung und Ausrüstung, den Grönländern als Jnne, Tornit
oder Jgnersuit erscheinen mußten, und als solche wurden sie
und werden sie in der That noch jetzt betrachtet. Holländer
und Dänen, welche aus ihren Handelsreisen die Küste be-
suchten, wurden gebeten, durch Auflegung ihrer Hände Kranke
zu heilen und Fanggeräthe vor bösem Zauber zu schützen.
Fetzen von ihren Kleidern und andere Dinge aus ihrem Be-
sitze wurden als kräftige Amulete geschätzt, und die aufgeklär-
ten Angakut gestanden selbst, daß die Fremden sie an Wissen
und Weisheit überragten. Dieser Glaube au die überirdi-
sche Natur der Europäer beseelt den Grönländer noch heute.
Alle kirchlichen Handlungen: Taufe, Consirmation, Abend-
mahl, Trauungen, haben nur Kraft und Geltung, wenn sie
von einem Europäer verrichtet werden. Zu Unterlehrern
gebildete Landsleute, die in Grönland geborenen Kinder der
Europäer, haben nicht den Geist der aus der Ferne zu ihnen
gekommenen Männer und Frauen. Trotzdem hat es nicht
an Versuchen gefehlt, sich von dem christlichen Regiment zu
emancipiren. Denkende Grönländer stifteten Genossenschaf-
teu, welche eine.selbstständige Verwaltung organisirten. Allein
es zeigte sich bald, daß sie zu solchen Unternehmungen noch
nicht reif sind: die Abtrünnigen kehrten in blinder Unter-
würsigkeit unter den Schutz der Kirche zurück. Die wieder-
holten Versuche, sich von den dänischen Gemeinden loszu-
sagen, zeigen indessen, daß das Christenthum in der Form, in
welcher es ihm gereicht wird, den denkenden Grönländer nicht
befriedigt, feinen Bedürfnissen nicht angemessen ist und daß,
wenn die Colonien und mit ihnen die Mission zu Grunde gm-
gen, die von ihr ausgestreute Saat sich als nicht keimfähig
in dem arktischen Boden erweisen würde.
Eine Revol
Von
Matamoros um Rio Grande del Norte,
6. Januar 1871.
Ich habe das Vergnügen und das Mißgeschick gehabt,
eine echt mexicanische Revolution zu erleben und mit
durchzumachen. Es geht wunderlich genug bei einer solchen
her, und ich denke mir, daß es den Lesern des „Globus"
nicht unangenehm sein werde, von einem unbefangenen Augen-
zeugen zu vernehmen, wie solche Aufstände, deren Mexico in
jedem Jahre Dutzende zählt, entstehen, weiter verlaufen und
am Ende ausgehen wie das Hornberger Schießen. Ein
richtiger Mexicaner muß ab und zu seine kleinere Revolution
haben; er bedarf einer solchen zum Zeitvertreib.
Jetzt bin ich hier in Matamoros, einer ansehnlichen Han-
delsstadt in Tamaulipas, habe einige Mußestunden und will
Ihnen nun berichten, was ich gesehen.
Bis Ansang December 1869 war im benachbarten Staate
San Luis Potosi ein gewisser Bnstamante legitimer Gou-
verueur; derselbe wurde von einem revolutionären General,
Agnirre, angegriffen und gewaltsam abgesetzt. Aguirre's
Plan war, den Präsidenten der Republik, Juarez, zustürzen,
und er fand als Bundesgenossen den damaligen gesetzlichen
Gouverneur des Staates Zacatecas, Garcia de la Ca-
dena. Letzterer hielt anfangs seinen Plan geheim, bildete
im Stillen einige Truppenkörper und operirte öffentlich schein-
in Zacatecas.
Cram er.
bar zu Gunsten von Juarez. Als Aguirre die Stadt San
Luis Potosi angriff, gab Juarez an Cadena den Befehl, ge-
gen erstern auszurücken. Nichts konnte diesem erwünschter
sein, er hatte seine Truppen beisammen, doch fehlte es noch
an Geld.
Gerade zu dieser Zeit, am 3. Januar 1870, sollte eine
Geldcondncta nach der Hauptstadt Mexico abgehen, und Ina-
rez stellte dieselbe an Cadena zur Verfügung, mit der Be-
stimmnng, daß das Geld in Mexico an 'die betreffenden
Eigentümer zurückgezahlt werden sollte. Cadena nahm
zwar die Conducta in Beschlag und benutzte das Geld zur
völligen Ausrüstung einer kriegssähigen Truppe, zog aber,
anstatt gegen den Rebellen Aguirre, diesem zu Hülse, um
mit ihm die übrigen Staaten gutwillig oder mit Gewalt zum
Sturz des Juarez zu bewegen. Nach Empfang des Geldes,
etwa 80,000 Pesos in Silber, ging die bis dahin immer-
noch gesetzliche Recrutirung vor sich. Jedermann, der
militärfähig war (Ausländer ausgenommen), wurde von den
Polizisten auf der Straße aufgegriffen, nach der Citadelle
gebracht und eingekleidet, gleichviel ob er von Hause abkömm-
lich war oder nicht; nur wer den Polizisten oder Offizieren
hinlänglich Geld gab, wurde freigelassen, durfte sich aber auf
der Straße nicht mehr sehen lassen. Nach wenigen Tagen
sah man in den Gassen nur noch Kinder, Frauen und alte
Karl Crainer: Eine
Männer, denn jeder jüngere Mann versteckte sich in seinem
Hanse. Anfangs wurden die Leute selbst aus den Häusern
geholt. Von auswärts kamen täglich Recruten in die
Stadt Zacatecas, jedoch nicht wie in Deutschland jubelnd,
auf Leiterwagen, mit bunten Bändern am Hut, sondern zu
Fuß, je zwei und zwei an den Händen zusammen-
gebunden, und jedes Paar wieder mit dem folgenden zu-
sammengeknebelt. Das nennt man hier republikanische Frei-
heit und Volkswehr!
Am 8. Januar war Alles schlagfertig; am Morgen sah
ich an allen Straßenecken große Zettel angeschlagen, welche
anzeigten, daß der Gouverneur mit seinem Congresse dieRe-
gierung des Juarez ferner nicht mehr anerkenne; er forderte
die Bevölkerung auf, sich der nenen Ordnung unbedingt zu
fügen, uud es blieb derselben kein anderes Mittel, als sich
ruhig zu verhalten.
Cadena ließ nun die Hälfte seiner Truppen ausmarschiren,
und zwar über San Luis Potosi nach Agnas Calientes.
Nach einigen Tagen hörten wir plötzlich Glockengeläute und
Musik in den Straßen, und Placate besagten: „Unsere
tapferen Truppen sind heute in Aguas Calientes eingerückt."
Das Städtchen wurde nämlich bei Annäherung der Truppen
von Mann und Maus verlassen, — das war ein „siegrei-
cher" Einzug. Am 21. Januar zog dann Garcia de la
Cadena selbst mit dem Reste seiner Truppen aus, und ließ
nur einen Stellvertreter der Regierung und eine kleine Ab-
theilung Gendarmen zurück. Wir waren schon froh, daß
nun einige Ruhe bleiben würde, doch sie dauerte nicht lange;
denn plötzlich kam die Nachricht, es sei eiue Abtheilung Jua-
rez'scher Truppen im Anzüge. Nun entwickelte sich ein schö-
nes Bild. Die Polizisten, welche ja auch gegen Juarez Partei
genommen hatten, rannten mit Bündeln auf den Schultern
in den Straßen herum, machten Jagd auf Pferde und galo-
pirteu nach ihrem Versammlungsplatze. In gleicher Weise
annectirten die Regierungsbeamten Pferde, packten im Regie-
rungspalast alle Papiere und Werthfachen ein, und schlössen
sich theils zu Pferde, theils zu Wagen den Polizisten an.
Wir ließen diesen Zug, der eben so ernst als komisch
aussah, an uns vorüberziehen und dachten: Glück auf den
Weg! Gott sei Dank, daß die Bande fort ist; besser gar
keine Regierung, als solch eine traurige Gesellschaft!
Sehr bald erfuhren wir, daß das Gerücht von dem An-
rücken Juarez'scher Truppen nur ausgesprengt war, um diese
eleuden Reste einmal ganz loszuwerden, da man von den-
selben keinerlei Garantie für Ruhe und Ordnung erwarten
konnte. Die nächste Frage für die Bevölkerung war, nun
selbst auf Ordnung zu halten, da in solchen Fällen, wenn
keine Truppen und keine Regierung existiren, das Gesindel
und die Gefangenen am meisten zu fürchten sind; denn erste-
res sucht die letzteren zu befreien, um dann gemeinschaftlich
mit ihnen die Stadt zu plündern. Um dies zu verhüten,
ließen einige der ersten Geschäftshäuser sofort nach der Flucht
der Regierungsreste ein Circular herumgehen, in welchem sie
vorschlugen, daß alle Geschäfte sogleich geschlossen werden
und alle Principale und Commis nach der leeren Caserne
kommen sollten, mit allen nur irgend vorhandenen Waffen.
Nach Verlauf von einer halben Stunde sah man schon Pa-
tronillen von Kaufleuten zu Fuß und zu Pferde die Stra-
ßeu auf- und abziehen; Jedermann wurde nach Hanfe ge-
wiesen uud Niemand durfte auf der Straße stehen bleiben.
Mein Principal war auf einer Reise nach Neuyork begriffen
und ich daher mit dem Hausburschen allem. Letztern schickte
ich, nachdem die Läden fest verschlossen und die Thüren gut
verrammelt waren, in seine Wohnung. Neben unserm La-
den war, nur durch einen Hausgang getrennt, der eines Buch-
Händlers, und wir beide setzten uns durch die Seiteuthüreu
Globus XIX. Nr. 4. (Februar 1871.)
wolution in Zacatecas. 57
in Verbindung, stets mit den Pistolen in der Hand. Es
war Mittag, und als nach etwa einer Stunde Alles ruhig
geblieben, machten wir eine halbe Thür vorsichtig auf; nach
und nach wagte sich Einer oder der Andere auf die Straße.
Gegen Abend jedoch brachte ein Eilbote die Meldung, in der
Nähe von Guadalupe sei eine Guerilla angekommen, die in
der Nacht, und wahrscheinlich noch vor 3 Uhr, Zacatecas
plündern würde. Alle Nachbaren verständigten sich von
den Balcons aus, aus der Hut zu sein, Jeder möge zunächst
seine Thür schützen, dann aber anch nach Kräften dem be-
drängten Nachbar beistehen. Todtcnstille herrschte in den
Straßen; wir befanden uns — die Pistolen und Büchsen
zur Hand — im obern Stock, im Salon der Hausfrau, bei
geöffneten Salonthüren, der kommenden Dinge gewärtig.
Zwei lange unangenehme Stunden verbrachten wir so
in steter Aufregung, indeß Alles war ruhig; nach und nach
zogen wir uns zurück, legten uns vollständig angekleidet auf
die Betten, doch blieb ich die ganze Nacht wach, um die Uebri-
gen zu wecken, falls etwas vorfiele. Außer einigen Pa-
trouillenfcharmützeln aus der Straße mit widerspenstigem
Gesindel ging die Nacht ruhig vorüber.
Acht Tage verbrachten wir so, ohne daß die Geschäfte
geöffnet wurden. Wir in unserm Viertel bildeten eine Wache,
ans zwölf Mann bestehend, die jedoch nur des Nachts thätig
war, und hielten nnsern District gut in Ordnung.
Nach weiteren acht Tagen, in denen nichts Erhebliches
vorkam, kehrte urplötzlich der Stellvertreter des Garcia de
la Cadena mit seinen Polizisten wieder zurück und besetzte
alle Wachen. Da auch die reicheren Kaufleute collectirten,
um noch Hülssmannschaft für die Wachen zusammen zu
bringen, gingen wir, in dem Glauben, nunmehr überflüssig
zu sein, nach Hanse und ruhig unseren Geschäften nach.
Eines Sonntags Nachmittags, es war um 4 Uhr, fpa-
zierte ich mit einigen Bekannten die Hauptstraße entlang,
sorglos und ohne Waffen, als uns plötzlich eine Menge Men-
schen entgegenkommt mit den Rufen: „Die Gefangenen
sind ausgebrochen!" Vor diesem Gesindel hat in solchen
Zeiten Jedermann Respect; es befanden sich damals nicht
weniger als etwa fünfhundert, je zwei und zwei an einander
geschmiedet, im großen Staatsgefängniß! Alsbald fielen
Schüsse, und wir liefen in unsere Wohnungen, um Waffen
zu holen. Auf dein Wege nach dem Gefängnisse fanden
wir die Seitenstraßen nach demselben bereits gesperrt, und
die zunächst wohnenden Kaufleute hatten das Commando
schon in Händen. Wir Nachbaren begaben uns daher in
unser Viertel zurück und hüteten, die gespannte Pistole in
der Hand, unsere Häuser. Im Gefängnisse selbst spielte
unterdessen eine blutige Sceue. Ein großer Theil der Ge-
fangenen war schon am äußersten Thor des Gefängnisses,
also ganz nahe am Ausreißen; sie wurden von den Wachen
wie Fliegen zusammengeschossen, und zwar so rasch, daß die-
jenigen, welche nachkommen wollten, freiwillig Kehrt mach-
ten. Aber auch diese uud Alle überhaupt, welche außerhalb
ihrer Zellen waren, wurden ohne Gnade zusammengeschossen
und niedergehauen, und das mit Recht, denn es galt dies klei-
nere Blutbad oder ein allgemeines in der ganzm Stadt.
Nach zwei Stunden war Alles vorbei; man begann die
Straßen vou allem müßig umherlungernden Gesindel zu
säubern. Wir erhielten die Ordre, die Trottoirs frei zu hal-
ten, und bekamen zur Unterstützung einen Mann zu Pferde,
der mit Säbelhieben nachhalf, wenn unsere guten Worte
nicht fruchten wollten. Geschossen durfte nicht werden, da
die ganze Bevölkerung sich in einer fieberhaften Aufregung
befand. Um 7 Uhr Abends wurden die Todten und Ver-
wnudeten nach dem Hospital gebracht; es war ein langer
Zug, 20 Todte und 30 Verwundete, theilweise noch mit den
8
58 Karl Cramer: Eine
Ketten au den Fußen. Ein amerikanischer Arzt hatte das
Commando und ritt mit. mehreren jungen Leuten dem Zuge
vorauf. Gerade bei unserer Hausthür angekommen, schlich
sich ein Lump zwischen die Pferde, um dem Doctor einen
Messerstich beizubringen; doch einer der Gefährten war rascher
und hieb ihm mit dem Säbel eins über, worauf dann so
lange aus den Burschen gehauen wurde, bis er um Pardon
bat; es war dies Alles das Werk eines Augenblicks, der
Bursche wurde abgeführt und der Zug ging weiter nach dem
Hospital.
Des Abends wollte man sich nicht abermals auf die hohe
Obrigkeit verlassen, und es wurde bekannt gemacht, daß die
Wachen wieder in früherer Weise bezogen werden sollten.
Wir hatten die nnserige in der Nähe des Hospitals. Abends
II Uhr kam der Arzt zu uns mit der Ausforderung, uns
im Hospital einige nur leicht verwundete Sträflinge zu be-
sehen und dieselben im Auge zu behalten, da sie gefährliche
Brüder zu fein schienen. Die wenigen Leute von der Hos-
pitalwache freuten sich sehr, als wir kamen, denn sie fürchteten
das Schlimmste von den leicht Verwundeten. Wir marschir-
ten, möglichst viel Geräusch machend, in den weiten Höfen
auf und ab, und traten schließlich in den Saal, in welchem
die Verwundeten lagen; Alle waren Mischlinge, dunkelbraun
von Farbe und kräftige Gestalten. Einige waren dem Ster-
ben nahe uud rührten sich nicht, andere rauchten; es war
eine schöne Gesellschaft. Die Haupthähne merkten wir uns
und zogen wieder ab. Auch die Todten besahen wir; sie
lagen in Reihe und Glied, schrecklich zerschossen und zerhauen
in einer unbenutzten Capelle; man konnte noch sehen, daß
dies die schlimmsten Gesellen waren, von denen Jeder schon
wer weiß wie viele Menschenleben auf dem Gewissen hatte.
Es war Mitternacht, als wir das Hospital verließen, um
bis gegen 2 Uhr noch ans der Wache zn bleiben und dann,
da Alles still und ruhig blieb, uns nach Hause zu begeben.
In den nächsten Tagen siel nichts vor; wir brachten jeden
Abend einige Stunden auf unserer Wache zu, und als wir
einst zu Hause gehen wollten, begegneten wir dem Vicegon-
verneur, der sich mit seinen wenigen Mannschaften ganz still
aus dem Staube machte. Was sollte er auch in Zacatecas
machen, da er völlig unbeachtet geblieben war? Inzwischen
wurden begreiflicherweise die Wachen im Gefängnisse täglich
verstärkt, und schließlich wurde auch ich dorthin „eingeladen".
Wer nur irgend konnte, drückte sich von dieser höchst nnge-
müthlichen Wache fort; ich aber war gern bereit, und stellte
mich deshalb eines Abends um 9 Uhr, mit meinem Säbel
und Revolver bewaffnet, wozu ich mir dort noch einen Zwölf-
schüsser (Henry rifle) verschaffte. Wir waren unserer vier-
zehn Mann; sieben patrouillirteu in den Straßen (ganz ab-
gesondert von uns ritten noch fünfundzwanzig Mann zu
Pferde in denselben umher), während die anderen sieben Mann
im Gefängniß blieben. Es ist dies ein wahrhaft schauer-
liches Gebäude, zweistöckig, mit großen, weiten Gängen. Nach
dem Hosraume gehen die Zellen, nnd vor jeder derselben stand
einer der für Geld gemietheten Leute Wache; außer diesen
hatten wir noch weitere zwölf zur Ablösung bereit. In den
Evolution in Zacatecas.
oberen Räumen des Gebäudes war früher die Caferue, jetzt
stand Alles leer. Von den Gängen aus hatten wir die
Höfe zu bewachen, nebenbei auch die eigenen bezahlten Leute,
denen nicht gerade zu viel zu trauen war. Unsere Lage war
immerhin eine ziemlich riskante, denn im Grunde genommen,
was hätten wir sieben jungen Leute mit den wenigen Lan-
zenmännern, die wir noch hatten, ausrichten können, falls
eine solche böse Brut ausbrach? Wir machten es aber wie
die Preußen; wir sieben Mann verursachten ein Geräusch
und einen Spectakel für fünfzig Mann, so daß die Gesan-
genen doch immer nicht wußten, wie viel wir eigentlich an
der Zahl waren.
Nach Mitternacht meldete ein Posten am äußersten Thor,
daß großer Lärm auf der Straße fei; gleich darauf hörten wir
dicht beim Gefängniß ein wildes Geschrei und vernahmen
deutlich, wie es Säbelhiebe regnete; wir glaubten, das Stra-
ßengesindel wolle das Gefängniß stürmen und sei mit der
Patrouille im Handgemenge. Wir hatten schon zum Feuern
angelegt, als der Führer der reitenden Patrouille uns damit
beruhigte, daß er zwölf Aufwiegler, die nicht nach Hause
hatten gehen wollen, an uns ablieferte. Die sauberen Vögel
wurden in eine leere große Zelle gesperrt; dann machten
auch wir unsere Runde in den Straßen. Die Nacht ver-
ging ohne weitere Erlebnisse, doch waren wir bis zum hellen
Morgen auf den Beinen.
Es war dies meine letzte Wache, denn wenige Tage dar-
auf kam endlich der längst erwartete General Rocha mit
regulären Truppen; alle Geschäfte wurden wieder geöffnet,
und die Ruhe war vollständig hergestellt. Mitte März
machte Jnarez durch ein Beeret bekannt, daß Zacatecas bis
auf Weiteres in Belagerungszustand erklärt sei, d. h. daß
nun ein Militärcommando existire, und ernannte einen gewissen
Gabriel Garcia zum interimistischen Gouverneur. Dieser
wurde nachher durch freie Wahlen zum gesetzlichen Gouver-
nenr erwählt; er genießt bis jetzt die allgemeine Achtung.
Garcia de la Cadeua ist seitdem verschwunden, und man
glaubt, daß er sich im Staat Jalisco ins Privatleben zurück-
gezogen hat*).
So endete die letzte Revolution inZZacatecas, gleich vie-
len vorangegangenen; sie hatte weiter keinen Erfolg, als
daß alle friedlichen Bürger ein Vierteljahr lang in bestän-
diger Aufregung gehalten nnd daß Handel und Wandel gründ-
lich lahmgelegt wurden. Daß ein Techniker es unter die-
fen Verhältnissen in Zacatecas nicht weit bringen kann, be-
weisen häusige Ersahrungen; als Kaufmann mag es immer
noch gehen. Nach meiner Erfahrung frommt dem sonst an
Naturschätzen reichen Lande nur ein eisernes, strammes Re-
giment; eine Republik ist bei der Mischung der Bevölkerung
aus allen möglichen Elementen die allernnglücklichste Regie-
rungssorm.
*) Ich finde in einem mexicanischen Berichte („Newyork Herald"
18. Januar 1871), daß er amnestirt worden ist. „von Trini-
dad Garcia de la Gadena, chief of the revolution of Zaca-
tecas and San Luis Potosi, has presented himself to the autho-
rities, accepting the amnesty." A.
Neue Arbeiten über slavische Ortsnamen in Deutschland.
59
Neue Arbeiten über
Wo die Slaven ein Land in Besitz nahmen, suchten sie
zunächst nur die Gegenden mit leichtem Boden auf, um die-
sen zu bestellen, während sie alle Landstriche mit bindigem
Boden als Weideland liegen ließen. Das erklärt sich aus
der Art, wie sie den Ackerbau betrieben, die auf einen Haupt-
unterschied zwischen germanischer und slavischer Bodeubear-
beitung hinweist. Der Deutsche arbeitete nämlich mit einem
schweren Pfluge', der Slave mit einem leichten Haken. So
weit Deutschland und deutsches Leben sich erstreckte, war
der Pflug das Werkzeug zur Bearbeitung der Aecker. An
diesem befand sich eine eiserne Schar (in Urkunden: ferra-
menta aratri, quae vocantur scar), nur mit dieser konnte
der deutsche Bauer selbst den schwersten Boden bewältigen
und wenden, während der Slave mit seinem Haken nur leich-
ten Boden durchfurchen konnte. Schon hieraus ergiebt sich,
daß der Slave den Gebirgen fern blieb und lieber in der
Ebene siedelte. Der Held der Arbeit, der Meister im Be-
zwingen der Naturgewalten, blieb nun einmal der deutsche
Bauer, der das Gebirge urbar machte. Den Beweis dafür
hat er noch überall geliefert, und in Böhmen z. B. geben
heute noch drittehalbhundert auf „schlag", „reut" und
„grün" endigende Dorfnamen in den Grenzgebirgen den
Beleg, welche großartige Hinterwäldlerdienste der deutsche
Bauer diesem Lande geleistet hat. Je schärfer wir nun
die Ortsnamen in den Berggegenden ansehen, desto auf-
fallender wird das Zurücktreten slavischer Beueuuuu-
gen daselbst gegenüber der Ebene. So ist es auch aus der
sächsischen Seite des Erzgebirges.
Im misch (Die slavischen Ortsnamen im Erzgebirge.
Bautzen 1866), der mit großem Fleiße geforscht hat, muß
gestehen: „Fast alle Berge im Erzgebirge tragen deutsche
Namen; nur einzelne geben in der großen Zahl derselben
sich als slavische kund." Er führt dann nur den Biel-
berg, die Kolmbergs, Chemnitzberge und Bor- oder
Purberge (von bor, Kiefer) an, welche slavische Namen
tragen. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Flüssen
Sachsens, wenigstens die größeren haben keine slavischen, son-
dern altdeutsche oder keltische Namen erhalten, wie die Elbe,
Mulde, Flöha, Spree beweisen. Dagegen sind einige kleinere
Flüßchen und Bäche noch von den Sorben, meist nach der
Farbe, benannt worden.
Alles das spricht dafür, daß die Sorbenwenden erst
verhältnißmäßig spät in das eigentliche Erzgebirge ans der
Ebene vordrangen, und zwar meint Jmmisch, daß sie nament-
lich zur Zeit Kaiser Otto's des Ersten „die unfreundlichen,
aber doch sicheren und freien Wälder des Erzgebirges" auf-
gesucht hätten, um hier dem Schwert und dem Kreuz der
Deutschen zu entgehen. Sie flüchteten in die ungeheuren
Waldungen des Miriquidi. „Schon zu Ende des zehnten
Jahrhunderts wurden einzelne Orte im Erzgebirge gegründet,
obschon es denkbar ist, daß sich zu Anfang dieses Jahrhnn-
derts einzelne slavische Familien hier ansiedelten und eine
nähere Verbindung mit ihren gleichgesinnten böhmischen Nach-
baren anknüpften." Bon diesen Slaven nun stammen die
slavischen Ortsnamen in dem Gebiete, welches im Osten
von der Freiberger, im Westen von der Zwickauer Mulde
und im Süden vom Erzgebirge eingeschlossen wird. Einige
derselben, welchen sich allgemeinere Gesichtspunkte abgewinnen
Ortsnamen in Deutschland.
lassen, mögen unter Benutzung von Jmmisch's Arbeit hier
noch zum Schlüsse betrachtet werden.
Zunächst eine Bemerkung über die so häufig vorkommende
Endung —witz. Buttmann (Die deutschen Ortsnamen
mit besonderer Berücksichtigung der ursprünglich wendischen
in der Mittelmark und Niederlausitz. Berlin 1836) meint
von dieser Endung, daß sie in deutschen Ländern sehr wahr-
scheinlich von dem altgermanischen Worte weig (vicus), alt-
sächsisch wik (Bardowiek, Braunschweig) abzuleiten sei. Schon
ein Blick aus die geographische Verbreitung dieser mit —witz
endigenden Ortsnamen zeigt die UnHaltbarkeit dieser auch
linguistisch unzulässigen Ansicht. Mit Sicherheit läßt sich
dagegen annehmen, daß jeder Ortsname auf —witz entweder
wirklich slavisch oder, wenn sein erster Bestandteil deutsch,
durch diese Endung dem slavischen Verständniß angepaßt
worden ist. Auch ist angenommen worden, daß dieses Sus-
fix dem slavischen wes oder wjes — Dorf entspräche. Das
s wäre in c übergegangen, das im Slavischen wie das deut-
sche z gesprochen wird. Allein es gab und giebt keinen slavi-
schen Ortsnamen, welcher aus einem Grundworte und wjes
zusammengesetzt wäre. Znsammensetzungen aus einem Ad-
jectivum und diesem Substantivnm aber kommen vor, wie
Nowawes (Neudorf). Es bleibt nun die eine und wohl
richtige Erklärung übrig, daß die Endung —witz entstanden
ist aus owicy, verkürzt wicy, icy; sie bezeichnet die Ab-
stammung, die Zugehörigkeit, den Besitz. Daher
Bockwitz z.B., was zur Buche gehört, eigen ist (bukowicy,
das deutsche Buch-).
Vou der Birke, wendisch breza, tschechisch briza, sind
sehr viele Orte benannt worden. Dahin gehören Brösen,
Brößnitz, Brießnitz, Prießnitz und ähnliche Formen.
Auch der bekannte Fluß Rußlands, die Beresina, ist hier-
her zu rechnen, da die Birke russisch bereza heißt. Das
den Deutschen ungeläufige flavische e (sprich je) hat sich also
in ö und i, aber auch in ü verwandelt, wie Brüfan in
Mähren beweist, welches auf dieselbe Grundform znrückzn-
führen ist. Sehen wir im Anlaut die Verhärtung von b
in p (Prießnitz statt Brießnitz) im deutschen (meißnischen)
Munde, so ist auch umgekehrt eine Erweichung des b in f
erkennbar. Damit kommen wir einer ethnographischen
Frage auf die Sprünge und finden wiederum eine Unter-
stütznng bei den Sprachforschern, wo wir anderweitig im
Stiche gelassen werden. In Mähren nämlich begegnen
wir den Ortsnamen Friesen und Friesdorf, auch Frie-
feuhof, in Steiermark einem Friesach. Während wir
nun wissen, wie im deutschen Nordosten sehr häufig Friesen
als Ansiedler in die ehemals slavischen Gegenden überführt
wurden und dort Ortsnamen noch aus die Gründer hinwei-
fen, wie der Flemming, besser Fläming, bei Jüterbogk auf
die dort angesiedelten Flamingen, entbehren wir aller histo-
rischen Anhaltspunkte über eine Versetzung friesischer Colon-
nen nach dem Südosten, nach Mähren, Steiermark. In
der That erscheint eine Ansiedelung derselben hier sehr un-
wahrscheinlich, da an der Germanisirung des Südostens wohl
nur die zunächst gesessenen bayerisch-österreichischen und srän-
kischen Stämme, nicht aber die an der Nordsee gesessenen
deutschen sich betheiligten. Der Widerspruch löst sich nun
leicht durch die angenommene Erweichung des b in f und
8*
(50 Neue Arbeiten über die slavis
die Zurückführung jener mährischen und steierischen Friesen
auf eine slavische Birke. Friesendors in Mähren heißt
slavisch in der That brezina; Friesenhos breziny dwor;
Friesach in Steiermark brezow; ohne Zweifel dürfen wir
nnn wohl auch Friesack in der Mark Brandenburg hier-
herstellen, obgleich dort eine Ansiedelung von Friesen schon
denkbar wäre, — wenn nicht das slavische Suffix hier wie-
der einen Strich durch die Rechnung machte. Auch die Ort-
fchafteu Groß- und Kleinfriesen bei Plauen, Frießnitz
bei Weida sind auf briza zurückzuführen.
Bon dem altslavischen kholm, tschechisch chlum, Berg,
Hügel, haben die zahlreichen Kolm- undKnlmberge, deren
Ortschaften wie Cnlm, Chlum, Kolmitz, Golmitz,
Golm ihre Benennung. Der Uebergang der Gaumenlaute
in einander ist natürlich. Da aber die deutsche Sprache die
Verbindung chl nicht kennt, so stellt sie diese beiden Conso-
nanten um, so daß aus Chlum Kulm wird.
Das Thal, slavisch dol, giebt zu vielen Namen Veran-
lassung. In Sachsen allein findet man fünf Döhlen und
noch mehr andere Bildungen von demselben Stammworte.
Das o hat sich aber nicht nur in ö und e, sondern selbst in
a verwandelt, wofür der Ortsname Dahlen, urkundlich
dolen, den Beweis liefert. Andere Formen sind Delitz,
Delitzsch, beide auch mit ö geschrieben, und die vom Di-
minutiv dolk, dolik und dolck gebildeten Ortsnamen Döli-
sch en, Dölzig, Dolzen.
Sehr verbreitet ist der slavische Ortsname Gab lenz
mit seinen Nebenformen. In Sachsen liegen drei Dörfer
dieses Namens bei Chemnitz, Stollberg und Crimmitzschan,
eine große Zahl in der preußischen Lausitz, in Böhmen und
in anderen slavischen Ländern. Die verschiedenen Formen
lauten: Jablona, Jablonka, Jablonowo, Jablowken, Ja-
blunka, Jabluukau, Jablonez, Gablonz. Alle diese Orte sind
benannt von jablon, jablonca, der Apfelbaum. Gerade
diefer Baum ist der allgemeinste schon vor der Einführung
der veredelten Obstsorten in Europa gewesen und deshalb
konnten auch so viele slavische und deutsche Ortschaften nach
ihm benannt werden. Jenen slavischen Bezeichnungen ent-
sprechen nämlich auch zahlreiche deutsche. Althochdeutsch
heißt der Apfelbaum apholtra, aber schon im achten Jahr-
hundert veränderte sich dieses Wort in affaltra, nnd jetzt
findet nian nicht nur zahlreiche Ortsnamen mit diesem Worte
wie Absaltnr, Affaltur, Affolderbach, Effolderbach, Affalter-
thal, sondern auch mit dem neuhochdeutschen „Apfel" gebil-
dete, wie Apfelstädt, Apfeldorf, Apselfeld. —
Wir bemerkten schon, daß Ableitungen von Thiernamen
bei den Slaven häufig seien, sie werden für Berge, Flüsse,
Städte benutzt. Vou Flüssen finden wir in Böhmen die
Vydra (Otter), Orel (Adler), Bobr und Lobrana(Bie-
ber) ; Kohout (Hahn) heißt ein Berg bei Kaplitz, Vlkova
(Wolfsberg) bei Eule; Voll vrch (Ochsenhügel) bei
Blatna. Schwerin verdankt dem Wildpret (swerina) seine
Benennung. Zahlreich sind die Ableitungen von jelen,
Hirsch, Geleuau, ein Dorf bei Thum in Sachsen, Gel-
lenan bei Glatz, Gelenau bei Kameuz, Jeliuek und Je-
leny in Böhmen gehören hierhin und bezeichnen dasselbe,
was Hirschau, Hirschberg, Hirschfeld im Deutschen,
je nachdem man zum Adjectivum .jelenowy luka (Aue),
hora (Berg) oder polo (Feld) ergänzt.
Mit der Bodenbeschaffenheit zusammen hängt der Name
der Stadt Glauchau an der Zwickauer Mulde. In Ur-
künden des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts Gluch,
Gluckow, Glachaw u. s. w. Der Ort wurde von den Sor-
benweudeu auf einigen kahlen Hügeln des Nothtodtliegenden
erbaut und erhielt davon seinen Namen; denn glucke oder
hluche (scilicet hory, Berge) heißt kahle Berge, Hügel.
en Ortsnamen in Deutschland.
Es würde demnach dem deutschen Kahlenberg oder Lehde
(unfruchtbares, kahles Land) entsprechen. —
Zahllos sind die Ableitungen von gora, hora, Berg,
Hügel, Erhöhung, in substantivischer und adjectivischer Form,
in den verschiedensten Zusammensetzungen. Hierhin gehören
Gornau, die verschiedenen Göhren, Görsdorf. In Zu-
sammensetznugen Bilagore (bila hora, weißer Berg), ein
Dorf bei Kottbus, dann Belgern. Lifsahora bei Nesch-
witz ist Fuchsberg (lisahora). Es ist gora die Grundform
auch für Görlitz, slavisch zhorelica, d. h. za hinter, gro-
relica Berg, mit Rücksicht auf die Lage hinter der Lands-
kröne. Ferner Görfchen, Goricke, Görkau, Guhrau,
Gurig.
Vom Weißdorne, grab oder hrab, stammen Grabow,
Grabitz, Grabows, Grabowka, Grabowitz, Gröblitz, Gröb-
schütz. Von kamen, Stein, könnten wir eine seitenlange
Aufzählung von Ortsnamen anführen; sie ist eine der be-
kanntesten und gewöhnlichsten. Dahin gehören Chemnitz,
in den ältesten Urkunden Camenici, Lessing's Geburtsort
Kamenz iu der Lausitz, Kämmen in der Niederlausitz,
Kamin in Pommern, Kammenan, Kamminchen und
andere.
Kral, König, ist die slavische Umbildung des deutschen
Wortes Karl. Die Königswürde ist den Slaven ursprüng-
lich unbekannt, die ihre Wojewoden, Lechen, Knäsen, Wla-
diken, alles Bezeichnungen für Herzöge, Fürsten hatten, aber
keine Könige (und auch keine Grafen). Karl der Große
aber erschien ihnen so gewaltig und achtunggebietend, sie mach-
ten seine Bekanntschaft in so schlagender Weise, daß er ihnen
gleichsam unvergeßlich und sein Name zu jenem der Königs-
würde durch eine einfache Lautverschiebung wurde. Von den
Slaven haben dann die Magyaren ihr Kiral, die Rumänen
ihren Krojnl entlehnt. Vorzüglich häufig in Böhmen taucht
das Wort Kral in Ortsnamen auf: Kralup, Kralik, Kra-
litz, Kralowitz; Kralapp bei Kolditz in Sachsen.
Bei den Wenden heißt die Schenke korcma, ein Wort,
welches bei den Tschechen nicht im Gebrauch ist. Daher
stammt der in Ostdeutschland so häufige Personenname
Kretschmar, Kretschmer, aber auch der Ortsname Kr et-
schäm bei Annaberg. „Fast jeder größere Ort im Erz-
gebirge hat einen Kretscham, in welchem heutzutage eben so
wie früher Streitigkeiten geschlichtet und andere rechtliche An-
gelegenheiten zur Besprechung und zum endgültigen Abschluß
gelangen. Der in Frage stehende Ort ist nicht von den
Slaven gegründet und benannt worden, sondern er stammt
aus neuerer Zeit. Er soll von dem Köhler Georg Schmidt,
nachmals Triller genannt, welcher den Ritter Kunz von
Kaufsungeu gefangen nahm, nach 1455 angebaut worden
sein. Der Kurfürst Friedrich der Saustmüthige ertheilte die-
fem Köhler auf sein Ansuchen die Erlaubniß zum Bauen
eines freien Erbkretschams" (Jmmisch a. a. O. 19).
Lug oder luh, Aue, Waldwiese, Moorgrnnd, gab zu-
nächst Veranlassung der zahlreichen „Luchs" im Gebiete der
Havel und Spree und ist ein so bezeichnender Ausdruck, daß
Georg Schweinfurth sich veranlaßt fah, ihn auf die weiten
Sumpflandschaften auch am Weißen Nil, Nofee und Gazellen-
fluß zu übertragen. Ortsnamen, die zu dieser Form ge-
hören , lassen sich gewiß über hundert aufzählen. Auch die
Laufitz (Luzica) hat ihren Namen davon, der von der
sumpfigen, mit Wasseradern durchzogenen Niederlausitz auf
die Oberlausitz, die höher und trockener ist, später mit über-
ging. Es gehören zu luh die Ortsnamen Luga (bei Bautzen,
bei Meißen, bei Pirna), Lugau, Logau in Schlesien, Lie-
gau, Liegnitz (dieses von der polnischen Form leg für luh),
Laufa, Lausen, Lauscha, Lauschitz, Lauschka bei Leisnig
(urkundlich Luschke). Ferner Lautschen, Lutschen, Lützen
In der peruanische
(urkundlich Luzin), Loschwitz bei Dresden (urkundlich 1073
Lnzewice). Vom Adjectivum luöny (Wiesen-) Lukau, Lucca
in Altenburg, Luckenwalde.
Von Bor und Khojna, die Kiefer, stammen Bora,
Bohrau, Boritz, die Borberge, Borlas (Bor und les —
Wald) bei Dippoldiswalde, Sabor (za = hinter); Kaine,
Kaina, Loitsch, Kyhnitzsch und Kunitz.
Vom Grundworte lös, Diminutiv lesk, Busch, Wald,
Forst, und den Adjectivbilduugen lesowy und lesny stam-
men Lessa, Löschen, Leßko, Lieskau, Lissa (urkundlich lezzin);
auch gehört hierhin der Familienname Lessing, welcher
Waldmann bedeutet, wieLeisewitz, Waldessohn. Dann
Leisnig und Lößnitz (letzteres urkundlich Lißniz und Les-
seniz).
Plauen im Voigtland, Plauen bei Dresden, Plaue, ein
Dorf bei Flöha in Sachsen, urkundlich Plavia, Plave, Pla-
die bedeutet stets Schwemmplatz; alle drei liegen an Flüs-
sen, auf denen heute noch Holz geflößt wird; das flavische
Wort, welches zu Grunde liegt, ist plav, das Schwemmen,
plavny, was zum Flößen gehört. Dahin gehören noch
Küsten-Cordillere. 61
Planitz bei Zwickau (urkundlich Plawnitz), Plawa in Ga-
lizien, Plowce in Polen, Plaven bei Bndweis.
^ito ist Korn, Getreide, besonders Roggen, davon
das Adjectiv zitowy. Hiermit hängen zusammen: Zittau
(zitava) im Volksmunde „die Sitte", Schlettau (urkundlich
zetowe), Sitten, Seitschen, Zettan, Zetha.
Von trava, Gras: der Fluß Trave, Trawitz, Traw-
nik (Grasplatz), Zschanin bei Rochlitz.
Zwönitz endlich bietet die leichte Ableitung von zvon,
die Glocke, zvonica, Glockenthurm. Die Einführung
der Glocken in Deutschland erfolgte im elften Jahrhundert
und steht also vom culturhistorischen Standpunkte der Ablei-
tuug weiter kein Hinderniß im Wege.
Schon aus den wenigen mitgetheilten Beispielen, die leicht
hätten vermehrt werden können, ergiebt sich das trefflich be-
zeichnende und die Mannichfaltigkeit der slavischen Ortsnamen.
Sie sind aber überall dieselben, und so finden wir sie denn
von Griechenland an durch die Balkanhalbinsel nnd das illyri-
sche Dreieck bis nach Benetien und in die Alpenthäler, durch
Ungarn uud ganz Ostdeutschland bis zu den dänischen Inseln
in fast identischen Formen.
In der peruanischen
Den ersten Weihnachtsabend, fern von der Heimath, ver-
lebte ich im Kreise fröhlicher Landsleute, die um einen Tan-
nenbaum versammelt waren, den der deutsche Tischler aus
den Aesten der breiten, schönen australischen Tanne, wovon in
Tacna verschiedene Exemplare vorhanden sind, künstlich ge-
zimmert hatte, und dessen Lichter uns in freundlicher Weife
an den frohen Abend fern überm Ocean erinnerten.
Heute sollte es mir nicht so gut werden. Der Tag des
24. December 1861 war heiß gewesen, und schlaff und müde
stand ich in der Thür unseres Hauses, im Herzen wünschend,
daß die langweiligen Feiertage erst vorüber sein möchten. War
doch an Sonn- und Festtagen das sonst so geschäftige Tacna
wie ausgestorben. Die öden Straßen mit den geschlossenen
Läden, auf denen der helle Sonnenschein lag, durchrollte keine
güterbeladene Carreta; schweigend lag die Stadt in der stillen
Umgebung der Chacaras und dem braunen Sande der Wüste,
aus der zu beiden Seiten die nackten Hügelmauern, das Thal
umschließend, aufsteigen. In der Alameda rauschte das
Wasser durch den breiten Steingraben bergunter, über ihm
zitterten die feinen Blätter schlanker Weidenbäume, leise be-
wegt von dem Windeshauche, der während des Tages von
der See heraufkommt. Im Graben tummelte sich eine Schaar
nackter, lärmender, dunkler Gestalten, Kinder und Erwachsene
genossen das Bad. Bis zum Frühstück trug ich noch immer
das sonntägliche Gefühl mit mir herum, jene ans den Schul-
jähren bekannte, erwartungsvolle Festfreude eines freien Ta-
ges, — aber sie war bald verschwunden und machte der
Langeweile Platz. — In jenem verweichlichenden Klima hat
man nicht immer Lust zu geistiger Beschäftigung, und man
ist nicht so genügsam, wie der rothbrauue Sohn des Landes,
welcher das Spiel seiner Guitarre mit näselnder Stimme
begleitet, Agnardiente (Branntwein) trinkt und Cigarritos
raucht, derweil vor ihm ein erregtes Paar die Zam azneca tanzt.
*) Von einem deutschen Kaufmanne. Red.
Küsten-Cordillere *).
Ich verträumte, nachdem ich während des Morgens mich
am Claviere müde gespielt, den übrigen Theil des Tages in
der kühlen Sala des Hauses im süßen Nichtsthun, rauchte
eine Cigarre nach der andern, bis 6 Uhr, die Stunde des
Hauptmahles, heranrückte, bei welchem wir bis 7 Uhr saßen,
einen Spaziergang durch die dunkle Alameda machten, nach
Hause gingen, um den Thee zu nehmen, und bald ins Bett
stiegen, um den Montag mit seiner Arbeit als eine Erlösung
zu begrüßen.
Das war der Inhalt eines kirchlichen Festtages in Tacna,
und zwei solche lagen vor mir. In stiller Resignation sah
ich ihnen entgegen. Während ich mir noch die frohen See-
nen des Vaterlandes an diesem Abende, die heiteren Vereint-
guugeu in der eigenen und in befreundeten Familien aus-
malte, kam „Don Otto", ein junger Deutscher, und schlug
mir vor, die Feiertage mit ihm in Pachia, einem gegen die
Cordillere hin gelegenen, wenige Meilen von Tacna entfern-
ten Dorfe, zuzubringen. Standen uns dort auch nicht die
Genüsse eines Aufenthaltes in einer vegetationsreichen Ge-
gend in Aussicht, so war doch Aussicht, einmal aus der tag-
lichen Umgebung herauszukommen, die freiere Luft des höher
gelegenen Ortes zu athmeu und in größerer Nähe der Ge-
birgsmassen, die stets eine so große Anziehungskraft auf mich
ausgeübt, zu verweilen. Don Otto's Vorschlag kam mir
daher sehr erwünscht, um so mehr, als er die Freundlichkeit
hatte, mir ein Pferd zu dieser Excursion zur Verfügung zu
stellen. Ich begleitete ihn nach seinem Hanse, und wir be-
sprachen uns über die Ausrüstung für den morgigen Tag.
Noch eine Weile erheiterte ich mich an dem prächtigen Pleyel-
fchen Instrumente, welches sein Onkel besaß; dann verließ
ich ihn, um im Hause den Majordomo mit der Besorgung
der nöthigen Provisionen zu beauftragen.
Am Sonntag Morgen 7 Uhr brachen wir auf, unsere
Alsorjas (Satteltaschen, welche hinter dem Sattel quer über
dem Rücken des Pferdes hängeu) wohl gefüllt. Otto bestieg
62 In der peruanische
eine hübsche falbe Mula (Maulthier), in deren Gesellschaft
ich schon verschiedene Male mit ihm geritten war und deren
Capricen sowohl er wie ich kennen zu lernen Gelegenheit
gehabt hatten. Es geschah einst, daß dieser Mula der man-
gelhaft befestigte Sattel nach vorn rutschte — im Nu stand
das erschreckte Thier auf den Vorderbeinen und sein Reiter
schoß, glücklicherweise ohne sich zu beschädigen, in der Luft
einen Halbkreis beschreibend, auf das Straßenpflaster.
In der Morgenfrische ritten wir zur Stadt hinaus in
den öden Wüstensand der Pampa. Es sei mir hier ge-
stattet, in einer kurzen Schilderung vor den Augen des Lesers
das eigenthümliche landschaftliche Bild zu entrollen, welches
neben dem Thale von Tacna ein großer Theil des südlichen
Perus bietet. — Steige er auf den Schwingen seiner
Phantasie mit mir auf zur Höhe, aus welcher der Condor
nach Raub ausspäht, und schaue von dort herunter, wo sein
Blick ungefähr vom achtzehnten bis zum zwanzigsten Grade
südlicher Breite reicht. — Den Westen füllen die blauen ruhi-
gen Wasser des Stillen Oceans aus, das endlose Meer, wel-
ches gegen den Horizont anrollt. Den dritten Theil des Halb-
kreises nur, welchen sein Blick beherrscht, macht im Osten
die hier hohe Küste Südamerikas ans: ein langer, meist
steil aus dem Meere aufsteigender kahler Bergzug, ohne eine
Spur von Vegetation, an einigen Punkten bis zu Hügeln
von geringerer Höhe absteigend, an anderen zu Kuppen von
dreitausend Fuß Höhe sich authürmeud. Hier und da läuft
eine felsige Landzunge aus, deren Ende eine Reihe zerspül-
ter, schwarzer Klippen bilden. Zwischen den Bergen und
der Landzunge wälzen sich die Fluthen des Oceans hinein,
eine sichere Bucht schaffend. Auf solchen Landzungen lie-
gen manche Hasenstädte, so der Salpeterhafen Iquique,
Mejillones n. s. w. Es ist ein entsetzlich öder Anblick,
den die Häsen der Westküste dem Fremden bieten. Sand
und Fels — rothe, steil aufsteigende Bergmauern, die ihm
den Eintritt in das Land verbieten zu wollen scheinen, traurige
kleine Orte, welche die Physiognomie des Jnterimsmäßigen
an sich tragen uud keinen eigentlichen Charakter verrathen, wie
die Städte Europas, welche Hunderte von Jahren alt sind
und, auf festem Boden gebaut, Jahrhunderten trotzen konn-
ten. — Alle fünfzig Jahre durch ein Erdbeben zerstört
und wieder neu ausgebaut, die meisten von ihnen aber erst
in der neuesten Zeit entstanden, sieht man diesen Küsten-
Plätzen an, daß nur der Wunsch, hier die Erzeugnisse des
Bodens an Erz oder Salpeter auszubeuten, sie ins Leben
rief, und daß Niemand seinen Aufenthalt hier freiwillig neh-
men werde, den nicht die Noth oder der Wunsch, Geld zu
verdienen, dazu treibt. Die Hügelkette, an deren schmalem
Fuße Valparaiso liegt, überkleidet während der Regenzeit
wenigstens noch ein dünnes Kleid schwarzgrüner Moose, mit
der Minenstadt Coqnimbo oder eigentlich dem an der ge-
genüberliegenden Seite der Bucht dieses Hafens liegenden
La Serena, welches inmitten einer freundlichen Oase liegt,
hört alle Vegetation auf.
Der Wanderer, seinen Weg nach Norden verfolgend, er-
blickt jetzt eine Reihe jener eben geschilderten wüsten Plätze,
die sich im Charakter fast gleich bleiben. Eine wahrhaft er-
frischende Unterbrechung zwischen ihnen bildete dann der
Hafen von Arica, wo das bisher rein nördlich Verlan-
sende Land plötzlich eine im Winkel immer größer werdende
Richtung nach Nordwesten nimmt. Jäh abbrechend steigt
hier ein Felsen ins Meer, wie es scheint, ein in der Mitte
durchbrochener Berg, zu dessen anderer Hälfte die kleine mit-
ten in der Bucht gelegene Felfeninsel gehört, welche durch
Klippen unter dem Wasser mit ihm zusammenhängt. Das
braune Felsgestein ist mit großen weißen Flecken decorirt,
wie ein kalkbespritzter Meilenstein; sie rühren von Vogel-
Küsten-Cordillere.
dreck her. Am Fuße dieses Felsens lag die freundlichste Er-
scheinung unter den bisher genannten Häfen der Westküste,
das in der Katastrophe vom August 1868 zerstörte und jetzt
nur aus Holzbaracken bestehende Arica. Vor dem brau-
uen Wüstensands des ansteigenden Landes heben sich die brei-
ten grünen Blätter einer Bananenpflanzung; hier und da
ragte eine schlanke Palme oder eine breitastige, dunkle au-
stralische Tanne; weiter gen Norden leuchteten vor den trau-
rigen Sandfarben kahler Hügelreihen frische grüne Alfalfa-
felder (Luzerneklee), und dieser ganze Gürtel von Vegetation
umschloß die weißen Häuser der Stadt, welche vom Meere
aus einen recht freundlichen Anblick gewährten. Jetzt starrt
Einem auch dieser Punkt der Küste so wüst entgegen wie
der übrige Theil derselben, und nur wenige stattlicher aus-
schauende Holzhäuser der Fremden tauchen aus dem Gewirr
der rohen Baracken auf, welche das heutige Arica bilden, —
das dritte seit Gründung des Hafens. Lange Zeit wird
darüber hingehen, ehe die Stadt wieder das sein wird, was
sie war; aber sie wird, Dank der Thätigkeit der Fremden,
wieder aufblühen, wenn nicht das Terrain, auf dem es sich
erhebt, wie das des alten Callao, einst wieder vom Meere,
dessen Bett es einst gewesen, verschlungen werden sollte;
denn die ganze Breite der Küste, bis zum Fuße der
hohen Bergmauer der Cordillere im Osten, war
einst Meeresgrund. — Man sagt, daß vor der Zeit
der spanischen Eroberung die Thäler gut bewässert und srucht-
bar gewesen seien, und uoch jetzt sieht man im Wüstensande
der Pampa die ausgetrockneten Flußbetten sich hinwinden.
Bei Arica treten die Vorberge ins Land zurück, und es zeigt
sich eine breitere Strandfläche. Kahle Hügelreihen umfchlie-
ßen eben so wüste Thäler, und nur da, wo die Wasser eines
Gebirgsbaches rinnen, sieht man eine künstlich erweiterte
Oase, doch kein Tropfen dieses Baches erreicht das Meer;
sein Wasser wird vollständig von dem Boden, auf den man
es leitet, ausgesogen.
Bei Tacna liegt das Meer nur ungefähr zehn Leguas
vom Fuße der Cordilleren entfernt. Nördlich und südlich
verlaufen Hügelreihen, die aus dem Gebirge entspringen und
von denen die südliche ungefähr bei Tacna endet, während
sich die nördliche fast bis zum Meere hinzieht. Sie umfchlie-
ßen ein Thal von mehr als einer halben Legua Breite,
dessen Vegetation zu beiden Seiten ein Gürtel braunen Wü-
stensandes nmgiebt. Vom Meere bis zur Cordillere, bis
dreitausend Fuß allmälig ansteigend, zeigte sich dieser Theil
der Küste den Spaniern als der günstigste: einestheils, weil
sie schon Ansiedelungen der Indianer und Wasser dort vor-
fanden, anderntheils, weil der beste Weg, um durch die Berge
ins Innere zu gelangen, sich hier befand. Sie gründeten
also neben dem Hasen Arica hier die Stadt Tacna, den
Handelsplatz für die Ein- und Ausfuhr des jetzi-
gen Bolivien, der weit genug im Innern lag, um wie
die Hafenplätze den räuberischen Angriffen von Piraten nicht
ausgesetzt zu sein. Von diesem Punkte sind wir ausgebro-
cheu uud ich bitte den Leser, mir nun weiter zu folgen.
Die nächtlichen Nebel rauchten noch an den braunen Hü-
gelwänden, die das Thal aufschließen; schattengleich tauchten
aus ihm zu unserer Linken die Bäume und Häuser des Dor-
ses Pocollay hervor. Bald ging es durch tiefen Sand,
bald über felsigen, staubbedeckten Boden der Cordillere zu,
welche während des Rittes sich immer mehr aus dem weißen
Schleier löste, so daß wir bald ihre gewaltigen Formen in
einen klaren Morgenhimmel hineinragen sahen, voll von der
sich über den Bergen erhebenden Sonne beschienen, welche die
einzelnen Schneehäupter prächtig vergoldete. Das Dorf
Calaua hatten wir in weniger als einer halben Stunde
erreicht. Wir hörten die Töne einer Drehorgel und gewahr-
Alls allen
ten beim Näherkommen, daß sie einen Gottesdienst begleite-
ten, welcher in einem von hohen Lehmmauern umgebenen
Corral (umfriedigter Platz, welcher sowohl dem Last- wie
Schlachtvieh zum Aufenthalt diente) abgehalten wurde, da
sich dies Dorf vor Kurzem zu einer unabhängigen Pfarrei
erhoben hatte (während feine Einwohner bisher die Kirche
von Pachia besuchten), aber noch keine Kirche besaß. Bei
einer Visite am Sonntag vorher sahen wir hier die jüngere
Bevölkerung, Weiber und Männer, freiwillig am Bau der
Kirche arbeiten.
Bei einem braunen Mädchen, welches am Wege eine
Kuh melkte, versah ich mich zu mäßigem Preise mit einem
Glase Milch. Hier wie in Pachia macht man auch Butter;
sie ist schöu, aber sehr theuer, und kostet das Pfund von 8
bis 12 Real (gleich 30 bis 45 Silbergroschen).
Don Otto, mein Gefährte, ließ jetzt fröhliche Lieder er-
Erdtheilen. 63
schallen. Nebel und Wolken hatten sich zerstreut und die
Sonne schien warm hernieder. Die östlichen Berge ragten
so frisch in den Morgenhimmel hinein, Sträucher und Grä-
ser funkelten so neugeboren von den Wasserperlen des Nebels,
Pferd und Maulthier trippelten so selbstgenügsam dahin, daß
auch ich meiner freien, leichten Stimmung nicht bessern Aus-
druck zu geben wußte, als durch Gesang, und frisch mit ein-
stimmte.
Da tauchte schon zur Linken die Vilca auf, die in dieser
baumlosen Gegend so merkwürdige Erscheinung. Von den
wenigen Exemplaren dieser schönen Akazie, welche im Thal
von Tacna vorkommen, ist das von Pachia das schönste.
Seine wie ein Baldachin weit ausgebreiteten Aeste senken
sich wieder in den Erdboden nieder und bilden so eine große
Laubrotnnde, in der sich Lehmbänke befinden und welche
das Ziel der meisten Vergnüguugstouren von Tacna aus ist.
Aus allen
Historischer Ueberblick des Theehandels.
Die Firma Reinachs, Nephen und Comp., Great Tower
Street, London, hat eine mit vielem Fleiß zusammengestellte
„Statistische Generalübersicht des Theehandels" in London wäh-
rend der letzten 35 Jahre veröffentlicht. Aus der interessanten
und übersichtlichen Arbeit heben wir Folgendes hervor. Thee
wurde 1610 zuerst nach Europa eingeführt und behielt bis zum
Jahre 1707 den Preis von 3 Pfund Sterling pr. Pfd. Grü-
ner Thee kam 1715 zuerst in den Handel. 1745 war die Ge-
sammteinfuhr in allen Sorten zusammen 765,000 Pfd.; damals
war der Zoll 4 Schill, und 25 Proc. per Pfd.; 1801 war der
Consum in Großbritannien schon auf iy2 Pfd. Thee per Kopf
gestiegen, bei einem Durchschnittspreise von 3 Schill, per Pfd.,
der Zoll war damals 1 Schill. 2y2 Pence per Pfd. Von 1801,
wo die Einfuhr 23% Mill. Psd. betrug, stieg .solche bis 1825
nur auf 29% Mill. Pfd., und der Verbrauch hatte sich seitdem
von iy2 Pfd. per Kopf auf 15/16 Pfd. reducirt, in Folge der
Zollerhöhung von 1801 — 1 Schill. 2y2 Pence, auf 1825
— 2 Schill. 9 Pence per Pfd; 1834 am 22. April erlofch das
Privilegium der Ostindifchen Compagnie für den Theehandel,
der Zoll wurde auf 2 Schill. iy2 Pence per Pfd. Herabgesetzt;
der Durchschnittspreis für gewöhnlichen schwarzen Thee wich auf
1 Schill. 11 Pence per Pfd. und der Verbrauch steigerte sich
auf 36y2 Mill. Pfd. Die Uebersicht giebt nun speciellen Nach-
weis über: Einfuhr, Ablieferung, Ausfuhr und Vorräthe der
verschiedenen Theegattungen, der jährlichen Durchschnittspreise
und dergleichen mehr während 35 Jahren von 1836 bis 1870
inclusive. 1836 betrug die Einfuhr aller Sorten 50,151,000 Pfd.,
der Consum 38,707,000 Pfd., der Export 4,100,000 Pfd., der
Durchschnittspreis ohne Zoll 1 Schill. In wechselvollem Stei-
gen und Fallen erreichte der Theehandel im Jahre 1870 bis in
die letzte Hälfte des Decembermonats beim Import die Höhe
von 132,110,000 Pfd. Mit Hinzuziehung der vorjährigen Vor-
räthe betrug der Consum 119,280,000 Pfd. und der Export
30,600,000 Pfd., so daß die Vorräthe auf 70,730,000 Pfd.
herabsanken; unter diesem Ouantum befindet sich eine bedeu-
tende Menge schadhaften Thees, dessen Verkauf die Regierung
nicht gestattet, sondern ihn vernichtet. Eine solche Zerstörung
schlechten Thees, den die Regierung mit Beschlag belegt hatte,
fand im Jahre 1869 statt. Nach Abzug dieses aufs Neue an-
gesammelten schlechten Thees, sogenannten Maloo mixture,
reichen die Theevorräthe nur auf etwa 4 Monate. Ein Wissens-
werthes Moment für den Theehändler, da durch den französisch-
Erdtheilen.
deutschen Krieg große Unsicherheit in den chinesischen Häfen
herrscht. Der Durchschnittspreis im Jahre 1870 betrug iy4 Schill,
ohne Zoll per Pfd. Heben wir nun zum Schluß noch einige
für den Theehandel bedeutende Momente während der letzten 35
Jahre hervor. — 1839 wurden 20,283 Kisten Opium im Werthe
von 2,000,000 Pfd. St. durch die chinesische Regierung zerstört; —
1840 hob der Krieg mit China an; — 1841 wurde Canton
gebrandschntzt; den Preis (von 1 Schill., 1836) auf 3 Schill
per Pfd.; — 1842 Friedensschluß mit China in Nanking;
China zahlt 21,000,000 Dollar Kriegsentschädigung und öffnet
die nördlichen Häfen Chinas dem Handel; — 1847 große Han-
dels- und Finanzkrifis; — 1853 Nanking genommen von den
Tay-Pings; Schanghai von den Insurgenten besetzt; — 1854
erster von Futschau verschiffter Thee angekommen; — 1855 in
Folge des Krimkrieges die Theezölle erhöht; — 1857 große
amerikanische Handelskrisis, die sich auch auf Europa erstreckt;
Canton genommen; — 1858 Lord Elgin's Vertrag in Tientsin
unterschrieben, der Preis des Thees fällt unter 11 Pence per
Pfd.; — 1859 japanesische Häfen geöffnet; — 1860 die Di-
stricte des grünen Thees durch kaiserliche Truppen verwüstet.
Der Thee steigt im Preise über 2 Schill, per Psd. — 1864
Nanking genommen von den Kaiserlichen; Tay-Ping-Revolution
beendet, Handelskrisis; — 1865 in London verbrennen bei
einer Feuersbrunst iy> Mill. Pfd. Thee; — 1866 große Han-
delskrisis.
Die Nord-Pacific-Eisenbahn in Nordamerika.
Die große Bahn, welche Neuyork mit San Francisco ver-
bindet, vermittelt bekanntlich einen beträchtlichen Personen- und
Güterverkehr; die Befürchtungen, daß der hohe Schnee im Win-
ter dem Bahnkörper gefährlich werden und die Verbindungen
unterbrechen könne, haben sich nur in geringem Maße verwirk-
licht. So ist diese Centralbahn eine gelungene Thatsache.
Sie wird aber in den nächsten Jahren von zwei anderen
transcontinentalen Bahnen gleichsam flankirt werden. Die
südliche soll durch Texas und weiter bis San Diego in Ka-
lifornien geführt werden; der Bau ist seither auf vielfache
Hindernisse gestoßen, doch unterliegt es keinem Zweifel, daß
über kurz oder lang dieser Schienenweg vollendet wird. Da-
gegen wird an der Nord-Pacific-Bahn eifrig gebaut. Die
östliche Abtheilung beginnt bei Duluth am Obern-See, reicht
bis zum nördlichen Red River und durchschneidet den Staat
Minnesota auf einer Länge von 240 Miles. Mitten im
64 Aus allen
Winter sind im Durchschnitt täglich 2 Miles Schienen gelegt
worden; im Januar steckten die Ingenieure die Bahnstrecke nach
Westen hin durch den Mittlern Theil des Territoriums Dakotah
ab. Am pacifischen Ende sind die Vorbereitungen für die Bahn
im Januar vollendet worden und der Bau beginnt zu Anfang
des Märzmonats.
Die Nord-Pacisic-Eisenbahn-Compagnie hat kürzlich die
St. Paul- und Pacific-Eisenbahn angekauft und praktisch
mit ihrer eigenen Linie consolidirt. Diese Bahn ist auf einer
Strecke von 300 Meilen im Staate Minnesota bereits im
Betriebe und macht gute Geschäfte. Durch diesen Ankauf ist
alle Rivalität zwischen widerstrebenden Interessen beseitigt wor-
den und thatsächlich St. Paul zu einem der Endpunkte
der großen nördlichen Bahn gemacht. Die Gründer des
Unternehmens beabsichtigen nicht nur ein sicheres Geleise von
Osten nach Westen zu legen, und dann zu warten, bis ein pro-
sitabler Geschäftsverkehr sich einstellt. Im Gegentheil sichern sie
sich von Anbeginn solche Verbindungen mit der Haupt-
liuie der Wassercommunication und mit dem Eisen-
bahnsystem der Atlantic- und Pacisic-Staaten, daß
sie außer dem localen Geschäftsverkehr einen großen und stetig
zunehmenden Antheil an dem Frachtverkehr zwischen Ocean und
Ocean haben müssen. In Duluth nimmt ein Zweig der Bahn
den Handel der Seen und des St. Lorenz-Flusses auf;
in St. Paul stellt der östliche Zweig der Bahn die Verbindung
mit dem Handel auf dem Mississippi und seinen Neben-
flüssen, und mit den in Chicago endenden Eisenbahnen der
mittleren und der östlichen Staaten her. Diese beidenZweige
der Bahn verbinden sich im westlichen Theile von
Minnesota. Von diesem Verzweigungspunkte aus wird ein
dritter Zweig der Bahn nach Pembina an der britischen
Grenze gebaut und die Hauptlinie wird den Mittlern Theil von
Dakotah durchschneiden und dem jetzt berühmt gewordenen
Hellowstone-Thale in Montana folgen. Nahe der
Grenze von Idaho theilt sich die Bahn wieder; der
eine Arm läuft dem Eolumbia-Thal entlang bis nach
dem Seehafen von Portland, Oregon, und der andere Arm
läuftdirect nach dem Haupt-Terminus am Puget-Sund.
Eine nördlich und südlich lausende Bahn wird ferner die beiden
Endpunkte am Puget-Sund und in Portland direct mit ein-
ander verbinden und sich in Portland an die Küstenbah-
nen anschließen, welche in südlicher Richtung durch Oregon
und Calisornien sich erstrecken. Sowohl in Portland wie
am Puget-Sund wird die Bahn den Küstenhandel und den
auswärtigen Handel auf dem Pacific-Ocean für sich nutzbar
machen.
Die Hauptvortheile der Nördlichen Pacisic-Route
lassen sich wie folgt zusammenstellen: 1) Die Route kürzt den
Weg zwischen den Seen und dem Pacific-Ocean um etwa
600 Meilen ab. 2) Sie vermindert den Weg zwischen Neuyork
und dem Pacisic-Ocean um dieselbe Strecke. 3) Sie vermindert
die Strecke zwischen London und den chinesischen Häfen durch
Benutzung dieser Ueberlandroute um mindestens 1400 Meilen.
4) Sie durchschneidet einen Gürtel von Staaten und Terato-
rien, die sich durch Fruchtbarkeit des Bodens und des Klinias
und gleichmäßige Vertheilung des Regens ausgezeichnet für pro-
fitabeln Ackerbau eignen. 5) Die größte Elevation dieser Route
in den Gebirgsgegenden ist 3000 Fuß geringer als die der an-
deren Linien. Die Folgen davon sind geringerer Schneefall,
ein mildes Klima und geringere Steigungen der Bahn. 6) In
bequemen Zwischenräumen durchschneidet die Route zahlreiche
Erdth eilen.
schiffbare Ströme, wie z. B. den Columbia, den Cowlitz,
den Hellowstone, den Missouri, den Red River und den
Mississippi. Diese Ströme durchschneiden immense Territo-
rien und werden der Bahn viel Verkehr zubringen. 7) Die
Route wird den Charakter einer internationalen Route tra-
gen. Sie wird permanent den Frachtverkehr von Britisch-Ame-
rika controliren und die wichtigen Kolonien nördlich von der
Grenze und westlich vom Lake Superior in commercieller Be-
ziehung unseren nordwestlichen Staaten tributpflichtig machen.
Ein altamerikanischer Mound (Erdhügel, Tumulus)
wurde im December 1870 abgegraben und zwar im Beisein
einer wissenschaftlichen Commission (z. B. des Professors Marsh
vom Aale-College, Professor Briggs aus St. Louis :c.). Der
Mound liegt unweit von St. Louis in Missouri; er war
40 Fuß hoch, etwa 300 Fuß lang und von ovaler Gestalt.
Vor etwa 120 Jahren stand oben auf demselben ein Wohnhaus
und neben demselben lag ein Begräbnißplatz. Beim Abgraben
legten nun die Arbeiter die Gebeine dreier verschiedener
Racen bloß; oben jene der weißen Leute, in der Mitte die
von jener der heutigen Indianer und unten die Knochen der
alten „Moundbuilders", wie man in Nordamerika die Urein-
geborenen bezeichnet, von welchen diese Erdaufwürfe herrühren.
Die Gebeine der letzteren lagen in zwei Steinkammern; die
eine derselben war viereckig, die anderen halbmondförmig; beide
hatten etwa 50 Fuß in der Quere.
* * Jf:
— Die Engländer sind am obern Jrawaddy, in
Birma, sehr thätig, um den Handelsverkehr von dort nach dem
südwestlichen China in einen regelmäßigen Gang zu bringen.
Der politische Agent, welchen sie in dem Flußhafen Bhamo
haben, ist ein Capitän Strover; derselbe unterhält lebhaste
Verbindungen mit den Mohammedanern in Mnnan. Von Ta
san kon, dem Gouverneur von Mo mein, erfuhr er, daß die
Chinesen zwei Jahre lang diese Stadt belagert haben, aber nicht
im Stande gewesen sind, die Handelsroute zu verlegen. Strover
hat sich mit den Panthays (d. h. den Mohammedanern in'Zun-
nan) in das beste Einvernehmen gesetzt, und der eben erwähnte
Gouverneur von Momein war erbötig, ihm eine Schutzwache
von 1500 bis 2000 Mann zu schicken, falls er eine Karawane
von Bhamo nach Momein schicken wolle. Auch die Häuptlinge
in den Schan-Staaten jener Gegend sind geneigt, den Handel
zu fördern.
— Kautschuk ist bekanntlich zu vielen Dingen gut und
in Calcutta sogar gegen den Aberglauben nützlich. Die Re-
gierung hat dort Wasserleitungen angelegt, um den Einwoh-
nern, welche vorzugsweise das schlammige und höchst unreine
„Naß aus der Ganga heiliger Stromfluth" trinken, ein gesun-
des Getränk zu verschaffen. Die Hindu waren aber nicht dahin
zu bringen, dasselbe zu benutzen, weil — die Röhren und
Schläuche zum Theil aus Leder versertigt waren. Leder kommt
von der Kuh, die Kuh ist ein heiliges Thier, also, das ist
Hindulogik, wird das von demselben berührte Wasser unrein.
Nun hat man Röhren aus Kautschuk anstatt der ledernen ge-
legt, und ein Brahmine weist in einer Flugschrift nach, daß ein
frommer Mensch keine Sünde begehe, wenn er den Durst mit
Wasser lösche, das nicht aus dem Ganges komme und durch
Kautschukröhren laufe; für religiöse Zwecke sei jedoch Ganges-
wasser unbedingt erforderlich.
Inhalt: Aus dem Leben und Treiben des Kaffervolkes in Südost-Afrika. (Mit vier Abbildungen.) — Die altgrönlän-
dische Religion und die religiösen Begriffe der heutigen Grönländer. (Fortsetzung.) — Eine Revolution in Zacatecas. Von Karl
Cr am er. — Neue Arbeiten über slavische Ortsnamen in Deutschland. (Schluß.) — In der peruanischen Küsten-Cordillere. —
Aus allen Erdtheilen: Historischer Ueberblick des Theehandels. — Die Nord-Pacisic-Eisenbahn in Nordamerika. — Ein altamerika-
nischer Mound. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Perlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschwcig.
M-
&
Ajl A
Band XIX.
%
%
*4
J£ 5.
lit besonderer HerürksiclüLgung äer InikroVologie unck Gtknologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1871.
Aus dem Leben und Treiben des Kaffervolkes in Südost-Afrika.
ii.
Der Kaffer im Kraal. — Kreisrunder Bau der Hütten und der Jsibaya- — Architektur. — Das Innere einer Wohnung.
Hüttenpaläste des Königs Panda. — Die Haremhütten und die Damen. — Häusliches Leben der Kaffern.
Wir haben betont, daß der Kasfer ein Halbnomade sei,
ein vortrefflicher Viehzüchter; die Kuh ist bei ihm so zu
sagen Alles, und sein ganzes Leben und Treiben hat Bezug
auf die Herden. In Rücksicht auf diese bauet er auch feine
Wohnungen, deren Architektur eine sehr einfache und bei den
verschiedenen Stämmen im Wesentlichen dieselbe ist.
Beim Kasfer muß Alles zirkelrund fein: Hütte, Um-
zäunung, Feuerstätte ?e., es scheint, als ob ihm die Fähigkeit
mangele, eine gerade Linie herzustellen, und er bildet auch
in dieser Beziehung einen Gegensatz zu dem Europäer. Die-
ser bauet sein Haus mehr oder weniger viereckig mit geraden
Linien, er umzäunt seinen Garten viereckig; davon hat aber
ein Kaffer, falls er nicht unter weiße Leute gekommen ist,
gar keine Vorstellung; er kann sich kein Gebäude mit Giebel
nud schräg abfallendem Dache denken. Als man sich Mühe
gab, einem Häuptling _ einen Begriff von einem dreistöckigen
Hause mit Treppen, die aus einem Geschoß ins andere füh-
ren, zu geben, und ihm dauu die Sache durch eine Zeichnung
zu veranschaulichen suchte, hielt er dieselbe für ein Phantasie-
gebilde; solch ein Ding, wie ein europäisches Hans, erschien
ihm als eine Unmöglichkeit. Ein kuppelsörmiges Gebäude,
z. B. die Peterskirche in Rom, würde er dagegen einiger-
maßen begreifen können. Aber von den Stoffen, welche wir
zum Bau verwenden, weiß er nichts; er verfertigt seine Hütte
aus Pfosten, Zweigen und Binsen, manchmal verwendet er
Globus XIX. Nr. 5. (März 1871.)
auch Flechtwerk, das er mit Lehm bewirft. Steine zu Qua-
dern zu behaueu, aus Lehm viereckige Ziegelsteine zu brennen,
und daraus Behausungen für Menschen und Vieh zu machen,
— das übersteigt seine Begriffe.
Bei den dunkelfarbigen Leuten in Afrika herrscht an den
Wohuungen die Form des Bienenkorbes vor; wir finden
dieselbe bei allen Negervölkern und eben so bei den Kasfern;
doch hat sie bei diesen ein mehr kuppelsörmiges Dach und
auch im Innern eine andere Einrichtung. Wer eine Hütte
für deu gewöhnlichen Bedarf errichtet, giebt derselben einen
Durchmesser von etwa sieben bis acht Ellen, zieht einen Kreis
und steckt in diesen eine Anzahl von biegsamen Zweigen, die
oben zusammengebunden werden; dieses Gestell gleicht genau
unseren runden Mausefallen von Draht, und über dasselbe
legt er dann Binsen und Gras. Die Bedachung wird vermit-
telst sogenannter Affenseile befestigt, das heißt Ranken von
Schlinggewächsen, deren man in großer Menge haben kann,
von der Stärke eines Bindfadens bis zur Dicke eines Schiffs-
tanes. Man versteht die feineren Arten so geschickt znsam-
menznflechten, daß das Seil wie ein Werk der Natur, nicht
wie ein künstliches Fabrikat aussieht. Diese Stricke werden
dann in Zwischenräumen von etwa anderthalb Fuß um das
Dach geschnürt. Unsere Abbildungen geben von dem Allen
eine deutliche Vorstellung, und vielen unserer Leser wird es
nicht eutgeheu, daß diese Kafserhütten in ihrem Aeußeru eine
Ein Ki
eine Hütte, wenn über dem Eingange ein Ochsenschädel
prangt. Der Kaffer versteht sich nur ungern dazu, ein
Stück Rindvieh zu schlachten, er geizt mit Kuh, Kalb und
Ochs, unter Umständen jedoch liebt er den Prunk und er
giebt dauu seinen Nachbaren einen Schmaus. Dann wird
er für seine Freigebigkeit gelobt und als Vater, vielleicht gar
als Häuptling becomplimentirt, insbesondere wenn er auch
recht viel Hirsebier und Schnnpstaback zum Besten gegeben
hat.
Betrachten wir uns das Innere einer Kaffern-
Hütte, die einem Häuptlinge gehört. (S. 68.) Sie wird von
vier Pfosten gestützt, und es kommt nur selten vor, daß man
noch einige mehr anbringt. Zur Linken stehen zwei große
Vorrathskörbe/ in welchen Milch aufbewahrt wird, um zu
Amafi (wir sprechen darüber weiter unten) zu werden; neben
dem einen Korbe steht eine zusammengerollte Schlafmatte
an die Wand gelehnt. Am andern,Ende stehen einige irdene
Töpfe und eine Kalebasse. Unter dem Dache hängen Mais-
bündel, — seltsam genug, weil das Dach, zu welchem der
Ranch emporsteigt, immer sehr bald rußig wird. Alle Hüt-
ten sind, von dem größern oder geringer» Umfang abgesehen,
nach einem und demselben Plan gebaut und eingerichtet; auch
der mächtigste Häuptling hat keine andere. Ueber den Pso-
sten liegt ein Querbalken, an welchem Kürbisse, Körbe, Löffel,
Wurfspeere:c. aufgehängt werden. Die Töpfe mit Bier,
Milch und Hirse stehen da und dort umher; der Fußboden
66 Aus dem Leben und Treiben d
große Ähnlichkeit mit den Schneehütten der Eskimos haben.
Man wirft rings um dieselben einen Graben aus, damit der
Boden trocken bleibe. Den bei weitem größten Theil der
Arbeit beim Hüttenbau verrichten die Frauen. Der Eingang
ist, wie man sieht, so niedrig und schmal, daß Jeder hinein
oder heraus krieche» muß; Fenster, Rauchfang, Thür sind
unbekannte Dinge. Aber diese Wohnung entspricht ganz
und gar den Bedürfnissen und den Liebhabereien der Kasfern,
in ihr befinden sie sich wohl. Es liegen manche Fälle vor,
daß junge Kassern, welche eine Reihe von Jahren lang enro-
päisch erzogen und abgerichtet waren, die für civilisirt galten,
sofort ihre Kleider ablegten, als sie sich wieder in ihrem
s Kaffervolkes in Südost-Afrika.
heimathlichen Kraale befanden; sie warfen wieder den Kaffer-
mantel, den Karoß, um, uud waren glücklich in der Bienen-
korbhütte, in der mit Binfen überdeckten Mausefalle. Na-
tura usque recurrit, uud die Civilisationsfabrikanten können
das nicht ändern.
Solch eine Kasserhütte ist allerdings ein gebrechliches
Machwerk. Als ein Kraal vom Feinde überfallen wurde,
hatten mehrere Männer in einer solchen Zuflucht gesucht.
Als die Wurfspeere von draußen her durch das Flechtwerk
drangen, kletterten die Männer bis unter den obern Theil
des Daches, aber fofort stürzte das Ganze zusammen.
Es ist eine große Auszeichnung, ein wahrer Staat für
J
Aus dem Leben und Treiben des Kaffervolkes in Südost-Afrika.
67
wird mit der größten Sorgfalt rein erhalten; er ist steinhart
und wird aus einer Erdmasse verfertigt, die man von den
Termitenhügeln nimmt; derselbe wird in kleine Stücke zer-
schlagen und angefeuchtet, bis er einen Brei bildet; diesen
streicht man glatt auf und schlägt ihn, bis er ganz fest ist.
Die Frauen haben die Obliegenheit, ihn täglich mit einem
flachen Steine abzuscheuern, und nicht selten erscheint er wie
polirt.
Die Feuerstätte liegt nahe vom Eingange und auch
sie ist kreisförmig; der ans Erde verfertigte Kranz foll das
Feuer innerhalb des gebührenden Raumes halten. Uebri-
gens wird nicht täglich in der Hütte selber gekocht. Da,
wo der Kraal ein ständiger ist, errichtet man neben der Woh-
nung eine Küche, die man als eine halbe Hütte bezeichnen kann,
weil die Umzäunung, die natürlich auch kreisrund ist, eine Höhe
von nur etwa vier Fuß hat, was auch hinreicht, um den
Wind abzuhalten; die Wände sind mit Kuhdünger nnd Lehm
beworfen und so gegen das Anbrennen geschützt. In der
Hütte zieht der Nanch ab, wo er eben kann, durch die Thür
oder oben durch die Bedachung. Der Kaffer räuchert den
Schaft, welchen er für seinen Wurfspeer benutzt, gerade so
wie wir einen Schinken; darin besteht seine Methode, das Holz
zu trocknen und zu härten.
Nachts wird der Eingang zu-
gemacht mit einer Art von
Thür, die aus Flechtwerk, ähu-
lich jenem unserer Schashür-
den, besteht; am Tage stellt
man auch wohl einen Ver-
schlag vor den Eingang, nni
zu verhindern, daß der Wind
in die Hütte wehe.
Einzelne Hütten werden
mit so großer Sorgfalt ge-
baut, daß ihre Herstellung viel-
leicht einen Monat Zeit in
Anspruch nimmt. Manchmal
sind die Pfosten mit Schnitz-
werk verziert, das glatt ab-
gerieben wird, wenn es durch
Ruß schwarz geworden ist;
nicht selten behängt man sie
auch mit Glas- und Porcellau-
koralleu, die als Schmuck die-
nen. Als Retief, Anführer der holländischen Bauern, die Palast-
Hütte des großen Häuptlings Dingaan besuchte, fand er, daß
die zweiundzwanzig Pfosten in derselben von oben bis unten
mit solchem Zierrath behangen waren. In den Wohnungen
der gemeinen Leute befindet sich wenig Hausrath, der allemal
sehr einfach ist; derselbe besteht aus einigen Matten, Körben,
Töpfen, Milchgeschirr, einem Polster und Hassagayen. Es
ist dem Besitzer aber doch unangenehm, wenn solch eine ein-
fache Hütte unwillkommenen Besuch erhält, z. B. von einem
Elephanten. Ein solcher witterte z. B. aus, daß in der
Umzäunung ein Vorrath von Hirse liegt. Der ungebetene
Gast durchbrach die Umzäunung mit leichter Mühe und that
sich gütlich. Als er sahdaß in der Hütte Feuer brannte,
wurde er wüthend, riß dieselbe ein und trat eine schlafende
Frau todt; der Mann entkam mit genauer Noth, indem er
dem grimmigen Thiere zwischen den Beinen hindurch kroch.
Man bezeichnet eine Gruppe von Kasierhütten als
Kraal; das Wort gehört weder der Sprache der Hotten-
toten noch der Kaffern an und ist wahrscheinlich verderbt aus
dem spanischen corral, was eigentlich einen offenen, mit
Eine Kafferhütte.
Mauern, Brettern :e. umgebenen Platz bedeutet, eine Um-
zäunung, einen Pferch. Man bauet den Kraal am liebsten
ans einer geneigten Fläche, damit das Wasser ablaufen könne,
uud in der Nähe eines Gebüsches oder Waldes, um Bauholz
in der Nähe zu haben. Ringsum wird die Gegend gelichtet,
damit man die Bewegungen eines herandringenden Feindes
übersehen könne. Zunächst wird ein weiter Raum für das
geliebte Vieh mit einem etwa sieben Fuß hohen, recht starken
Zaun umfriedigt; die äußere Umzäunung, innerhalb welcher
die Hütten stehen, wird im Süden, wo Holz in Menge vor-
handen ist, aus diesem hergestellt, im Norden dagegen besteht
sie nur aus rohen, über und neben einander gelegten Steinen.
Man fällt Bäume und hauet den Stamm dort durch, wo
etwa einen Fuß höher die ersten Zweige vorhanden sind;
solche Stämme setzt man dann im Kreise dergestalt neben
einander, daß die Enden der abgetrennten Aeste nach ein-
wärts stehen und das Ganze mit den nach auswärts gerich-
teteu Zweigen eine Art von Besestignngswerk bildet. Es
kommen aber, wie unsere Illustration zeigt, auch Kraale vor,
wo die Umpfähluug sehr sauber und sorgfältig hergerichtet
wird. Man rammt starke Pfosten ein und zwar in zwei,
etwa drei Fuß von einander getrennten Reihen, die so gestellt
sind, daß sie am obern Ende
. sich berühren und an eiuan-
der befestigt sind. Solch ein
Zaun hält fest und bildet
oben mit seinen zugespitzten
Enden einen spanischen Reiter,
der für den barfüßigen Feind
sehr lästig wird. Manchmal
ist der Eingang, der Nachts
allemal durch Pfähle geschlos-
sen wird, so eng, daß nur
eben eine Kuh hindurch kann.
In der zweiten Umzäunung
befinden sich gewöhnlich noch
einige kleinere Abheilungen
für die größeren Kälber, denn
die kleineren werden manchmal
mit in die Hütten genommen,
so lange die Eingänge nicht zu
niedrig für sie werden. Die
innere Umzäunung wird als
Jsibaya bezeichnet. Rund-
um stehen die Hütten, deren gewöhnlich zehn bis vierzehn einen
Kraal bilden; die, welche dem Eingange zunächst stehen, wer-
den von den Dienern bewohnt, dem Eingange gegenüber-
stehen die Hütten des Häuptlings. Jeder Stamm hat eine
beträchtliche Anzahl von Kraals und manchmal werden einige
Nachbardörfer von Angehörigen einer und derselben Familie
bewohnt. Denn wenn zum Beispiel der Sohn eines Häupt-
lings sich eine Anzahl von Frauen angeschafft hat und eine
Herde für sich besitzt, dann trifft es sich wohl, daß im Kraal
des Vaters nicht so viel Raum vorhanden ist, daß der junge
Mann jeder einzelnen Frau, wie sich doch gebührt, ihre eigene
Hütte bauen kann. Er zieht also mit seiner Familie nach
einer andern Stelle in der Nähe und bauet sich seinen eige-
nen Kraal, der dann wohl mit jenem des Vaters durch einen
Zauugaug in unmittelbarer Verbindung steht. Im Kraal
ist für die unverheirateten jungen Männer immer eine be-
sondere Hütte vorhanden.
Manchmal hat der Kraal nnr eine einfache Umzäunung,
wo aber Holz in Menge zur Hand ist, noch eine zweite.
Solch ein Kafferdorf stellt unsere Abbildung dar.
Die Kraale der Häuptlinge, sogenannten Könige, sind
manchmal von großem Umfange. So enthält zum Beispiel
9 *
68
Aus bem Leben und Treiben des Kaffervolkes in Südost-Afrika.
jener des Zuln Panda eine innere Umzäunung, die wenig-
stens eine halbe Wegstunde iin Durchmesser hat. Sie ist
seine Jsibaya, und innerhalb derselben hat er einen Theil
seiner Herden, die in kleineren Abzäunungen untergebracht
sind, damit sie besser überwacht werden können. Der mitt-
lere Raum wird als Exercier- und Paradeplatz benutzt; dort
läßt der König seine Truppen aufziehen und manövriren;
manchmal wird auch große Rathsversammlung abgehalten,
weil Platz vollauf für das Volk vorhanden ist. Die HUt-
teu für die Soldaten und deren Familien sind in vier-, ja
auch in fünffachem Cirkel um des Königs Jsibaya herum
ausgebaut worden, und der Kraal bildet dann gewissermaßen
einen Flecken oder eine Stadt, denn er hat mehrere.Tansend
Einwohner und nimmt sich, aus der Ferne gesehen, recht
stattlich aus. Die Hütten des Königs befinden sich allemal
an den höchst gelegenen Stellen, und jene, welche er selber
bewohnt, sind von anderen umgeben, in welchen seine Frauen
wohnen. Diese königliche Abtheilung ist mit hohen, sehr
festen Zäunen umfriedigt uud die Eingänge werden Tag und
Nacht von Kriegern bewacht. Bei manchen Häuptlingen
dürfen dieselben keinerlei Art von Kleidung tragen; gleich-
viel wie kalt das Wetter auch sei, ihren Dienst müssen sie
splitternackt verrichten; nicht einmal den Karoß, welcher sie
doch vor Wind und Regen einigermaßen schützen könnte,
dürfen sie bei Nacht über die Schultern werfen.
Aber auch bei den Kaffern sind die jungen Damen schlau
und es gelingt ihnen nicht selten, die Wachsamkeit der Schild-
wachen zu täuschen. Der Schotte Angas, welcher dem Kö-
nig Panda einen Besuch abstattete, schreibt: „In der vorigen
Nacht schliefen wir im neuen Kriegerkraal Jndabakaumbi,
wohin der König kommen wollte, um uns zu empfangen.
Die Jukofikaui, d. h. die Königin des Kraals, schickte uns
einen Topf voll dicker Milch und einen andern, welcher Hirse
enthielt. Bald nachher erschien sie in eigener Person mit
Das Innere einer KafferhUtte.
zwei Kindern uud bat, daß man denselben Glaskorallen
schenken möchte. Die Kinder sahen ganz hübsch aus, sie
waren Uber und über eingeölt und mit Strängen von blauen
und scharlachrothen Perlen behängt. Die alte Dame ihrer-
seits war so außerordentlich wohlbeleibt, daß ihr das Gehen
nicht leicht wurde und daß es ihr einige Mühe kostete, bis
sie wieder nach oben hin gelangte, wo die Haremhütten stan-
den. Von dort hatten sich vierzig bis fünfzig junge Mnd-
chen fortznschleichen gewußt, und sie sahen dann zu, wie wir
fortritten. Alle waren äußerst flink auf den Beinen, sie
sprangen lustig von einem Steine auf den andern und wa-
reu gewiß weit früher wieder in ihren Hütten wie die schwer-
fällige Königin."
König Panda hatte gleichzeitig nicht weniger als drei-
zehn solcher großer Kriegerkraals, einen in jedem Bezirke,
in welchem derselbe gleichsam die Hauptstadt, den Lagerplatz,
bildete, und er war dabei, noch einen vierzehnten zu bauen.
Er residirt bald in dem einen, bald in dem andern, nnd
findet in jedem Alles, dessen er bedarf, weil alle ganz gleich-
mäßig gebaut und eingerichtet sind. Jeder solcher Kraale
bildet das Standquartier für ein Regiment, außerdem besitzt
aber der König noch manche Dörfer für friedliche Zwecke.
Die Hütten des Harems stehen mit dem Hauptgebäude
durch Gänge uud Pforten in Verbindung. Die letzteren
werden bei Nacht fest zugemacht. Als Wächter für seine
Schönen nimmt der Kafferdefpot mißgestaltete Leute, welche
für junge Frauen keinerlei Anziehungskraft haben können.
Eunuchen hat er nicht, wohl aber wählt er Klumpfüßige aus,
Triefäugige, Leute mit aufgetriebenem Bauche, überhaupt
solche, die häßlich uud widerwärtig sind.
Betrachten wir uns nun den Kasser, wie er friedlich bei
seiner Hütte lebt. Diese steht innerhalb der Jsibaya. Wü-
schen, wie das Vieh gemolken wird. Der Mann hält die
Kuh fest, damit sie ruhig stehe, und er thut es vermittelst
Aus dem Leben und Treiben i
eines Stabes, welcher derselben schon als Kalb durch die
Nase gesteckt worden war. Man sieht, daß der Mann viel
größer ist als das Thier, denn das Rindvieh des Kassers
ist klein und ein Ochs hat im Durchschnitt ein Gewicht von
nicht mehr als vierhundert Pfund. Unter der Kuh sitzt der
Mann, welcher sie melkt; er hat die eigenthümlich gestaltete
Gelte, von welcher wir in der nächsten Nummer eine Ab-
bildnng bringen, zwischen den Beinen. Weiter rechts schüt-
Kaffervolkes in Südost-Afrika. 69
tet ein anderer Mann Milch in einen großen, dicht gefloch-
tenen Aufbewahrungskorb und zwar so, daß dieselbe durch
seine halbgeschlossene Haud läuft und bei der engen Oesfnuug
nichts verschüttet wird. Trichter und Röhren hat man nicht.
Vorn sehen wir eine Frau, welche eben aufs Feld gehen
will, um dort zu arbeiten; sie hat auf der Schulter eine
Hacke und auf dem Rücken ein Kind. Unsere Abbildung
veranschaulicht die Höhe einer Hütte dadurch, daß ein junger
Häusliche Beschäft
Kasser neben einer derselben steht, während ein verheirathe-
ter Mann vor derselben sitzt, mit dem andern sich unterhält
und seine Pfeife Taback raucht. In der Umzäunung der
Jsibaya sieht man oben drei Stäbe zum Aufhängen der
Schilde; das Stück Haut, welches von der hohen Stange
herabflattert und gleichsam eine Fahne bildet, zeigt an, daß
der Häuptling des Kraals in demselben anwesend sei. Im
Vordergrunde sieht man einige sogenannte Cap-Schafe mit
lngen der Kasfern.
hohen Beinen und dicken Fettschwänzen. Die beiden charak-
teristischen Bäume sind eine Enphorbie, welche innerhalb
der Umzäunung steht, und außerhalb derselben eine Akazie.
Diese letztere wird von den Holländern als Kameeldorn
bezeichnet, weil die Giraffe ihre Blätter gern frißt nnd die
Boers nun einmal dabei bleiben, dieses Thier Kameel zu
nennen. Im Hintergrunde erheben sich Tafelberge, welche
für Südafrika charakteristisch sind.
70 I. Mestors: Die altgrönlündische Religion und die religiösen Begriffe der heutigen Grönländer.
Die altgrönländische Religion und die religiösen Begriffe der
heutigen Grönländer.
Von I. Mestorf.
V.
Der Einfluß des religiösen Glaubens auf das
bürgerliche Leben.
Die Tradition und der in derselben niedergelegte Glaube
war das einzige Band, welches die zerstreuten grönländischen
Eskimo umschlang, gleichwie der Glaubenslehrer (Augakok)
den Mittel- und Stützpunkt für kleinere Gemeinschaften bil-
dete. Es ist uns kaum ein Volk bekannt, dessen religiöses
Leben so lebendig in das bürgerliche eingriff, so sehr Nicht-
schnür der geringfügigsten Handlungen und Gewohnheiten
wurde, alle Familien- und Rechtsverhältnisse regelte. Das
Eigenthum zerfiel nach grönländischem Recht in sünf Classen.
Sie unterschieden 1) das Persönliche Eigenthnm. Es
bestand in den Kleidern und einigen Gerätheu und Werk-
zeugen, denen-der Jnua des Besitzers innewohnte, und die
deshalb mit ihm ins Grab gelegt wurden; 2) den
Familien besitz. Dazu gehörte Alles, was den Familien-
gliedern zu gemeinschaftlichem Brauch dieute, z. B. das Boot,
das Wohnzelt, die Jagdbeute zur Sommerzeit; 3) das
Eigenthum der Hausgenossen oder solche Dinge, welche
von den in einem Hause beisammen wohnenden Familien
benutzt wurden; 4) der Commuuebesitz. d. h. solche Ge-
genstände, welche den Einwohnern eines Winterdorfes zu ge-
meinfamem Brauch dienten, und die Jagdbeute während der
Wintersaison, und endlich 5) das gemeinsame Anrecht
an allen größeren Seethieren. Wir ersehen hieraus, daß
die Grenzen für den persönlichen Besitz sehr eng gezogen und
das Eigentumsrecht anf eommunistischen Principien bafirt
war. Das Gesetz war jedoch für dortige Verhältnisse sehr
weise, da nicht alle Gemeindemitglieder geschickt waren, auf
die Jagd zu gehen, wohl aber auf andere Weise sich nützlich
machen konnten und soüach ihren Antheil an den vorhan-
denen Lebensmitteln beanspruchen durften. Es folgt hier-
aus, daß Glück und Geschick auf der Jagd, persönliche Tüch-
tigkeit und Unerschrockenst allein bürgerliches Ansehen be-
gründeten, daß einem Genossen, welcher die beisammen Woh-
nenden am reichlichsten mit Speise versorgte — den Früchten
seiner mühevollen mit Lebensgefahr verbundenen Jagdzüge —,
auch die höchsten Ehren erwiesen wurden; ja, sein Verdienst
wurde unsterblich, weil mau nach seinem Tode noch seinen
Schntz für Kinder und Kindeskinder beanspruchte.
Todtschlag wurde durch Blutrache geahndet; nur in sol-
chen Fällen, wo nach einstimmigem Beschluß über einen
Missethäter die Todesstrafe verhängt worden, galt sie als un-
statthaft. Rechtsstreitigkeiten wurden dnrch die Angakut in
einem Singewettstreit oder Trommeltanz geschlichtet.
Summiren wir jetzt die Elemente der in vorstehenden
Blättern dargelegten Religionsbegriffe der grönländischen
Eskimo, so läßt sich nicht leugnen, daß sie sich in manchen
Punkten mit denen anderer nordamerikanischen Stämme be-
rühren. Es ist ein in der Furcht, sagen wir in der Ge-
spensterfurcht, wurzelnder Geisterglaube. Aus der Geister-
schaar hat sich aber ein oberster großer Geist potenzirt, der
als Herrscher der Welt, aber nicht als Schöpfer und Erhal-
ter derselben gedacht wird. Trotz der großen Wichtigkeit der
Amnlete hat sich die grönländische Religion doch von dem
rohen Fetischismus anderer Stämme längst emancipirt, und
wir müssen einräumen, daß ihren Gesetzen wahrhaft humane
und hochsittliche Principien zu Grunde liegen. Sie zielen
darauf hin, den Mann in seinem schweren Berufe zu ermu-
thigen, dem Hülflosen und Schwachen aber allen Schutz au-
gedeihen zu lassen, dessen er bedürftig ist. Der feste Glaube
au den Schutz der Naturgeister und an die Kraft der Amn-
lete flößten dem Manne inmitten der drohendsten Gefahren
Mnth und Zuversicht ein. Die Furcht vor der Rache ge-
mordeter Kinder, vor den Kivigtut (Menschen, die wegen
ihnen angethanen Unrechtes in die Einöde geflüchtet waren),
vor der Rache der Seehunde, Renthiere und Vögel, denen
schonungslos alle Jungen genommen waren, erzeugten grö-
ßere Scheu vor unmoralischen und unklugen Haudlungen,
als gesetzliche Verbote und Strafen. War ein Kind geboren,
fo wurde ihm mittelst Serrauek der Name eines angesehenen
verstorbenen Anverwandten beigelegt, in dem Glauben, daß
mit dem Namen die guten Eigenschaften des Pathen auf
das Kind übergingen. Das Kind war verpflichtet, dem Na-
men Ehre zu machen und sich vor Unfällen zu Hilten, welche
den Tod des Pathen verursacht hatten. Außer diesem Ehren-
namen, welcher nicht täglich genannt werden durfte, erhielt
das Kind einen zweiten sogenannten Rufnamen. Die Er-
ziehung der Kinder beschränkte sich auf die Unterweisung in
solchen Dingen, welche zum Erwerb des Lebensunterhaltes
für sich und die Ihrigen nnentbehrlich waren; sonst ließ man
ihnen ihren Willen, und hatte die Mutter ihre Tochter nicht
zu Fleiß und Gehorsam erzogen, so lag es dem Manne ob,
das Versäumte nachzuholen. In dem sittlichen Wandel der
Unverheirateten herrschte strenge Zucht. Die Ehe war ein
Privatübereinkommcn, doch scheint sie durch gewisse Cere-
mouien geweiht zu sein. Ueber die Begräbnißbräuche spra-
chen wir bereits. In einigen Districten wurde der Ster-
bende auf die Erde gelegt, damit er desto sicherer in die
Unterwelt fahre. An der Ostküste versenkte man die Leiche
aus demselben Grunde ins Meer.
Wie andernorts, so ist auch in Grönland die christliche
Religion zum Deckmantel für politische Zwecke gebraucht
worden, und wenn die grönländischen Eskimo mit mehr Scho-
nuug und Rücksicht behandelt wurden, als es fönst, wo die
Europäer sich als Colouisten einführen, zu geschehen pflegt,
so ist zu erwägen, daß die Bedürfnisse der letztgenannten mit
denjenigen der Eingeborenen zusammenfielen, ja daß der
Werth des Landes, die Existenz der Colonien von der Er-
werbsfähigkeit der Eingeborenen abhängig ist.
Die Einführung des Christenthums mußte desto größern
Einfluß auf ihre bürgerlichen Verhältnisse üben, als bei der
Abschaffung ihrer eigeueu alten Gesetze keine anderen zum
Ersatz gegeben wurden, sondern die kirchliche uud weltliche
Gewalt in einer Hand lag. Jeder Neuangekommene Mis-
sionär ergriff die ihm zweckmäßig scheinenden Maßregeln,
ohne das Volk, welches er bevormundete, zu kennen, ohne
von seinen Bedürfnissen, seiner Weltanschauung, seinen Got-
tes- und Rechtsbegrissen eine Ahnung zu habeu. Nur in
In der peruanisch
einem Punkte waren Alle einig: sie verboten die Zusammen-
künste der Eingeborenen, jene harmlosen Feste, welche bei
dem Fange eines Wals, bei der Wiederkehr der Sonne und
anderen frohen Ereignissen mit Sang und Tanz gefeiert wur-
den und die den Männern Gelegenheit gaben, ihre Körper-
stärke und Gewandtheit, von welcher sonst nur Eisbären und
Seehunde Kenntniß hatten, auch von ihren Genossen und
namentlich auch von den Frauen bewundern zu lassen. Fer-
ner wurde das persönliche Eigenthum gesondert und gesichert,
und hierin meinten die Missionäre einen starken Hebel an
die Erwerbsfähigkeit des Grönländers gelegt zu haben. Sie
irrten sich, denn ein Jagdvolk erwirbt nur, was es braucht,
legt sich nicht darauf, Reichthümer zu sammeln, am wenig-
sten da, wo ein Fremder sich das ihm allein zustehende Ver-
fügungsrecht anmaßt und ihm einredet, daß, wenn nach Heid-
nischen Begriffen zwei Kajake auf das persönliche Eigenthum
kommen, die christlichen ihm gebieten, einen davon einem
ärmern Bruder zu geben. Der einzige scheinbare Vortheil,
den der Grönländer aus der Anwesenheit der Europäer zieht,
besteht darin, daß er für den Erlös seiner Jagdbeute sich Ge-
nußmittel verschaffen kann, die er früher nicht kannte. Allein
diese reichen nur für einige Tage und machen ihn ärmer als
zuvor. Anstatt die Seehnndselle für die Anfertigung der
Kleider, Wohnzelte und Boote zu sparen, vertauscht die Frau
sie für Perlen und sonstigen Flitter, für Kaffee und Zucker,
der Manu für Taback, und kommt die Zeit, wo sie der ver-
kauften Waare benöthigt sind, dann leiden sie Mangel und
Roth.
Hat das Christenthum das Ausschreiten wilder Leiden-
schaften bezähmt, fo hat es dieselben nicht in bessere Geleise
zu führen gesucht. Das stolze Selbstbewußtsein des Volkes
ist gelähmt, seitdem man ihm die Kluft zeigte, die zwischen
dem Europäer und dem Eskimo gähnt — ein unchristlich
Verfahren, dessen nicht bloß die Missionäre, sondern alle Co-
lonisten sich beflissen haben. Zur Ehre gereicht den Grön-
ländern, daß kein weltliches Strafgericht an die Stelle ihres
Gerichtsverfahrens zn treten brauchte. Niemals hat sich einer
von ihnen an fremdem Eigenthum vergriffen, und geschah
es trotzdem, daß man sie des Diebstahls beschuldigte, so war
Küsten -Cordillere. 71
es in solchen Fällen, wo sie sich Sachen zum Gebrauch an-
eigneten, welche nach ihren Rechtsbegriffen nicht in die Classe
des persönlichen, sondern des gemeinschaftlichen Besitzes ge-
hörten.
Ein Mißgriff der Missionäre war auch die Weigerung,
auf gröuläudische Namen zu taufen. Die Kinder erhielten
in Folge dessen drei Namen: den Ehrennamen, den Tauf-
uamen (der nur im Taufregister ftgurirte) und den sogenann-
ten Rufnamen. Im Laufe der Zeit hat man sich die Chri-
stenuameu mundgerecht gemacht, Alfred z. B. lautet von
Gröuländerlippen Faffare, Leopoldns: Pustuse. Auch die
Kindererziehung, die Ehrfurcht vor deu Eltern ist durch die
Einmischung der Geistlichen in die häuslichen Angelegenheiten
eine schlechtere geworden.
Achtunggebietend ist die Ruhe, mit welcher der Grön-
länder dem Tode ins Auge sieht. Geräth er mit anderen
Jagdgenossen in. Lebensgefahr, so bieten sie die äußerste
Kraft auf, um sich selbauder zu retten. Fühlt ihrer einer
sich fo erschöpft, daß fein langsames Fortschreiten die Rettung
der Uebrigeu erschwert uud in Zweifel stellt, fo bittet er sie,
ihn seinem Schicksal zu überlassen, trägt ihnen Grüße auf
an Frau und Kinder und sieht sie mit Ruhe scheiden. Ans
einer Eisscholle oder im sinkenden Kajak sitzend, empfiehlt er
sich der Gunst aller guten Geister uud wartet gelassen, daß
die Kälte oder der Wogenschwall seinem Dasein ein Ende
mache. Stirbt er daheim auf seiner Pritsche, einem Lager,
vor dem der ärmste Europäer zurückschrecken würde, so hört
man auch da keine Klage von seinen Lippen. Gern hat er
es, wenn man in seiner Nähe ein geistliches Lied anhebt,
und wie seine Väter mit brechendem Auge dem Liede des
Angakok von den Freuden bei Toruasuk lauschten,
Wo in den stillen
Klaren Gewässern
Seehunde Massen
Warten des raschen
Kajakmannes,
so entschläft der christliche Grönländer in der Hoffnung, daß
Gottes Engel ihn hinaustragen werden in den lichten Ober-
Himmel, das Land der Seligen.
In der peruanischen Küsten-Cordillere.
ii.
Füuf Minuten später hielten wir vor dein „Hotel" in
Pachia. — Wahrlich, selbst der Reisende, welcher die elenden
Gasthäuser im Innern Spaniens kennt, wird noch mit zu
hohen Ansprüchen hierher kommen. Eine kunstlose Lehm-
Hütte, wie die übrigen, enthält dieses „Hotel" nichts als einen
alten Tisch, mit Sackleinen überzogene breite Erdbänke, welche
zum Schlafen dienen, und eine selbst nach peruanischen Begriffen
ungeheure Anzahl Flöhe. Doch ist die Bewirthnng nicht so
schlecht und theuer; man erhalt das Landesgericht, die Chnpe,
Butter, Eier und Hammelscarbonade sogar in vorzüglicher
Qualität.
Neben dem „Hotel" wohnt Don Julian Fernandez, ein
geborener Argentiner, der von dem Ertrage einer kleinen
Pulperia (Krämern und Schänke) lebt und iu Pachia unter
den Eingeborenen, wie in Tacna unter den Fremden gleich
bekannt und beliebt ist. Don Julian ist eine öffentliche Per-
son: er nützt dem Dorfe mehr als der Friedensrichter und
der Pfarrer, indem er den Arzt und Rathgeber unentgeltlich
macht, während der Fremde sicher ist, von ihm Auskunft und
selbst thätige Hülfe zu erlangen. Sein Aenßeres macht nicht
den günstigsten Eindruck; wer ihn mit seinem rothen Gesichte,
das Haupt mit einer abgetragenen Hausmütze bedeckt, hiuter
dem Ladentische stehen sieht, wird über die zierliche, den Süd-
ländern eigene Ausdrucksweise, über seine Höflichkeit und sein
liebenswürdiges Entgegenkommen staunen.
Auf dem Wege hatten Otto und ich gegenseitig den Wunsch
geäußert, endlich einmal die Berge in der Nähe kennen zn
lernen, und bald war unser Entschluß dahin gefaßt, anstatt
in Pachia zu bleiben, in die Cordillere bis zum Jngeuio de
Palca zu gehen, einem Etablissement im Gebirge, welches
die per Llama von Bolivien kommenden Güter auf Maul-
thieren nach Tacna und eben so die zu Maulthier von Tacna
kommenden zu Llama nach Bolivien weiter spedirt. — Das
Llama befindet sich nur in einer gewissen Höhe wohl; schon
72 In der peruanischen
in dem 1800 Fuß über dem Meeresspiegel liegenden Tacna
ist die Lust zu dicht für das'Thier, und wenn ein Indianer
mit seiner Herde aus deu Bergen herunterzukommen riskirt,
sterben ihm fast immer einige Thiere. Dieser Umftaub hat
die Speditionsgeschäfte, welche in der Höhe von 6000 Fuß
über dem Meeresspiegel liegen, ins Leben gerufen.
Während man im Hotel das dort bestellte Frühstück be-
reitete, verhandelten wir mit Don Julian die Frage wegen
eines zu beschaffenden Manlthieres. Mein Pferd, ein einst
edles, aber abgejagtes Thier, war zu schwach auf deu Füßen,
um die steilen, ungeebneten Bergpfade zu ersteigen, und so
hing die Ausführung unseres Planes von der Erlangung
eines guten Maulthieres ab. Don Julian ließ die disponi-
beln Mulas bei uus vorbeidesiliren. Die eine war zu wild,
die andere würde der Besitzer nicht hergeben, die dritte ein
prächtiges Thier, aber leider auf der Reife nach dem Innern.
„Aber der Macho von Villanueva, ein junges, frommes
Thier!" besann er sich plötzlich, und ich, der ich nie ein
Maulthier, wohl aber dessen Rücken kannte, die vorzüglich
einem Neuling gefährlich sind, hörte nicht sobald das Wort
„fromm", als ich Don Julian bat, danach zu schicken. —
Der Bote kam bald mit der Antwort zurück, daß der Be-
sitzer gewillt fei, es mir zu leihen, und die Forderung von
3 Dollars dafür mußte bei dem Umstände, daß sich kaum ein
anderes disponibeles Thier im Dorfe befand, als fehr billig
erscheinen.
Mittlerweile war unser Frühstück fertig geworden, wel-
ches ganz reichhaltig ansfiel. Chupe (Hammelfleifchsnppe
mit Gemüse uud Kräutern), Beefsteak von dem mitgebrach-
teu Fleisch, Hammelcotelettes und ein vortrefflicher Eierkucheu
machten unser Mahl ans, welches Don Julian mit uns
theilte. Wir schlürften dann den mir so unentbehrlichen
Kaffee, in meiner Kaffeemaschine aus der herrlichen Ann-
gasbohne bereitet, steckten eine Cigarrette an und brachen
auf. Don Otto ritt vorauf nach dem Hanse, wo mein Maul-
thier gesattelt stand, und ich folgte ihm, schwang mich in den
Sattel und wir trabten lustig durch deu von der Mittags-
sonne durchglühten Sand den Bergen zu. Zu unserer Lin-
ken lag die Schlucht von Calientes, deren grüne die Hügel-
wände bekleidende Alfalfafelder zu uns herüberleuchteten;
hinter uns die weite Pampa, durch die sich ein grüner Streif
wie eine langgestreckte Insel zog, den Lauf des Tacnastuffes
bezeichuend. Rechts uud liuks die Hügelketten, welche sich
aus der Cordillere abzweigen, deren ebene Linien ueptuuisches
Wirken bei ihrer Bildung verriethen. Von dem Gebirge,
dessen meilenweit hinter einander liegenden Kuppen uns von
Tacna aus in der dünnen Luft jener Breiten nur wie mäch-
tige Stufen der gewaltigen Bergmauer, die sich in den Schnee-
spitzen gipfelt, erschienen waren, sahen wir nur die vor uns
aufsteigende Reihe Höhen, während die von ihr ausspringen-
den Hügelketten uus seitlich deu Blick abschnitten, so daß wir
hier wie in einer breiten, öden Sackgasse dahinritten.
Selbst in der Einsamkeit des Meeres, wenn ich am Cap
Horn die weite Wasserrunde von rastlos dahinrollenden riesi-
gen Wellenbergen gefüllt sah, über die unser nur ein Sturm-
segel führendes Schiff dahintrieb, habe ich nicht fo stark den
Eindruck des Oede-Erhabenen gefühlt, wie in dieser Berg-
landschaft, vor und zwischen den erstarrten Erdwogen, die in
unheimlicher Stille vor mir standen. Stärker wie je em-
Pfand ich den Eindruck des Furchtbar-Schönen und kämpfte
mit dem Zweifel, ob das unerbittliche, ungeheure Walten
roher Naturkräfte, welche noch heute — eine schwache An-
spielung auf eine Wiederholung der Revolutionen, die unfern
Planeten zu wiederholten Malen heimsuchten — hier
die Erde erschütterten uud im August des Jahres noch nn-
sere blühende Hafenstadt Arica zerstört, — ob dieses er-
Küsten-Cordillere.
barmnngslose Walten roher Naturkräfte mit der Regierung
eines allgütigen Herrfchers vereinbar ist. Auch diese Ge-
geud war ein Stück vom Reiche des Dämonischen, nicht von
dem der Hölle, sondern dem des Todes.
Die Vegetation ist es, welche einer Landschaft ihren eigen-
thümlichen Charakter verleiht, und es wird mir schwer, eine
Landschaft zu schildern, deren Charakter das „Nichts" ist,
welche der Vegetation entbehrt. Wir reiten in eine glü-
hende, schweigende Wüste hinein. Dort, wo die Schlucht,
welche in die Berge führt, sich öffnet, stehen die brann-granen
Erdmauern eines einzelnen Hanfes und ein Feigenbaum mit
verdorrten Blättern, von einem runden Wall aus Erde eben-
falls umzogen. Jetzt umschließen uns zu beiden Seiten die
kahlen, breiten, mit Geröll bedeckten Bergrücken, an denen
der Pfad sich hinfchlängelt. Bis znm Tacora, dem Schnee-
gipfel, welcher an dem Wege nach Bolivien liegt, findet man
kaum steile Abgründe, selten liegt der Grund der Schlucht
in mehr wie 60 Fuß Tiefe unter uns. Alles ist öde, heiß
und still: kein Jnsect, keine Pflanze, kein Vogel zeigt sich;
kein Lüftchen kühlt die brennenden Sonnenstrahlen. Jetzt
geht der Weg bergauf, hier bergab; was man auf der einen
Seite erstiegen hat, scheint man auf der andern wieder ab-
zusteigeu. Bald haben wir einen Berg umgangen, die Aus-
ficht nach Westen auf das Thal von Tacna ist uns abge-
schnitten, während vor uns ein anderer steht, dem wir zu-
streben. Wie ist es so still, so unheimlich ruhig hier! Siud
diese Berge, die uns rings umschließen, wirklich riesige Grab-
mäler von Cyklopen, welche, gegen den Himmel stürmend,
vom Blitze Jupiter's getroffen wurden und nun hier liegen?
Bald auf dem Grunde der Schlucht, bald auf einem Pfade,
der in den Rücken des Berges hineingefchnitten ist, reitend,
hoffen wir nach Umgehung des breiten Bergrückens, der bei
der Krümmung des Weges die Aussicht absperrt uud uns
in eine Sackgasfe zu schließen scheint, in ein freieres Terrain
zu kommen, aber vergebens! Der Hintergrund wird zur
Coulisse. Die Bergwand, welche uns zur Seite lief, schließt
uns jetzt von hinten ein, während sich vorn bei neuer
Krümmung des Weges ein anderer wuchtiger Riegel zeigt.
Diese sich so gleichbleibende Scenerie ohne allen Wechsel der
Staffage läßt uns in der Täuschung, daß, während wir uns
vorwärts bewegen, nnsere Umgebung mit uns fortgleite. Bis
zu einem gewissen Punkte bleibt der Charakter des Weges
fast immer derselbe. So eintönig wie er hier ist, wie schöu
muß er da sein, wo ihn die reiche Staffage einer tropischen
Flora und Fauna belebt! Wie prächtig in der Montana
des nördlichen Peru oder in der gesegneten Provinz Cara-
vaya, wo eine üppige tropische Vegetation diese Berge ge-
schmückt, wo schlanke Chinarindenbäume, Kaffee- und Coca-
felder an den Hängen aufsteigen und majestätische Palmen
hoch oben ihre Fächerzweige im tiefblauen Aether wiegen;
das belebende Element des Wasfers, das alle diese Herrlich-
feit allein hervorgebracht, von steilen Felsenhäugen in ran-
schenden Silbercascaden herunterstürzt, und das Kreischen
eines ausfliegenden bnnten Papageienschwarmes und lang-
geschwänzter Halbaffen diesem Bilde Leben verleiht!
Doch hier in derOede der Tacna-Cordillere erfreut
es uns schon, den höchsten Grad derselben durch die Cactus-
pflanzen gemildert zu sehen, welche erscheinen, ehe noch ein
Tropfen Wasser sich zeigt: an den Hängen der Berge auf-
steigend und auf den Gipfeln unbeweglich und starr ragend.
Unter deu plumpen Gebilden diefer Pflanzengattung ist die
Art, wodurch sich dieselbe hier zum größten Theile repräsen-
tirt, wohl die schönste. Während im Laplatagebiete und vor-
züglich im Umkreise der Stadt Montevideo jene pfeilblätterige
in einen hornigen Stachel auslaufende Pflanze vorherrscht,
aus deren Mitte ein kerzengerader Stamm emporschießt, oben
In der peruanische
mit horizontal abstehenden bewimperten Zweigen versehenen,
trifft man hier fast nur die Candelaber-Cactus, jene
wie ein Armleuchter oder eine Orgelpfeife gestaltete Eactee,
die mit ihren cannelirten cylindrifchen Blättern, in ihren
schlanken, regelmäßigen Umrissen sogar einen recht ästhetischen
Eindruck macht.
Jetzt macht sich am Grunde der Schlucht auch schon hier
und da eine kärgliche Vegetation bemerkbar, von einer schma-
len Rinne erd- und metallhaltigen Quellwassers hervorge-
rufen. Nicht lange dauert es, und zu den graugrünen Grä-
fern gesellen sich Sträucher und verkrüppelte Bäume; ein
harzreiches Kraut, die Tola, zeigt sich, in dieser holzarmen
Gegend neben verdorrten, holzigen Cactus ein willkommenes
Brennmaterial.
Aber wie fröhlich lacht nicht den Reisenden zwischen
diesen matten Farben das frische Grün des ersten Alfalfa-,
feldes (Alfalfa, Perennirender Luzerneklee) an, welches ihm
zeigt, daß hier ein einsamer Indianer wohnt, der mit diesem
dem kargen Boden abgewonnenen Futter ein paar Hümmel
nährt und aus den krüppeligen Bäumen Holzkohle brennt,
die er nach Tacna zum Verkaufe trägt. Seine kleine, aus
unbehauenen, mit Erdmörtel zusammengefügten Steinen er-
baute und mit dem braunen Riedgrase, wovon sich dasLlama
nährt, gedeckte Hütte sticht kaum in ihrer Farbe von der des
Erdbodens ab, und liegt so im Gebüsche versteckt, daß man
sie ganz übersieht. Er tritt nicht heraus und bietet dem
Vorüberreitenden einen Gruß, er vermeidet vielmehr lieber
die Berührung mit einem Weißen, und wenn er Dich von
fern hat kommen sehen, wird er Dir aus dem Wege gehen.
Mehr wie seine Apathie mag seine Furcht, sein Mißtrauen
daran Schuld sein. Der Indianer steht auf einer ungleich
höheru Stufe, wie der Neger, er ist von Haus aus ein freies
„Naturkind" wie dieser, aber mit weit größerer Intelligenz.
Ich halte dafür, daß der göttliche Schmutz, in dem er sich
wohlbefindet und welcher uns Europäern so abstoßend er-
scheint, ihm wie allen „Naturkindern" eigentümlich ist, daß
aber sein Nationalcharakter, wie er sich heute zeigt, das
Werk langer, grausamer Unterdrückung ist. Wie entartet
zeigt sich nicht das heutige Volk der Griechen seinen Ahn-
Herren gegenüber, wie hat sich jede Nationaltugend jener in
ein Nationallaster verwandelt! Der Schönheitssinn in Be-
stialität, aQSTt] in feiges Räuberthum. So beim Indianer.
Seine verschlagene Schweigsamkeit und Unterwürfigkeit ist
sicher die Kehrseite einer zu großen Offenheit, welche er einst
den fremden Eroberern entgegenbrachte und für die er mehr
als ein Jahrhundert lang fchwer büßen mußte.
So begleitete uns auf unferm Wege diese kärgliche Ve-
getation unten, unser Pfad selber und die uns umschließen-
den Berge aber bleiben kahl. Im Anfange ging mir die
Pfeife nicht aus; aber als wir auf- und niederstiegen, eine
Stunde nach der andern verstrich uud der Weg kein Ende
nehmen wollte, stellte sich nach und nach die Ermüdung ein.
Von fern hörten wir Glöckchen läuten, welche uns das Nahen
einer Maulthierherde anzeigten. Der Klang der Glocke des
Leitthieres, der Madrina, tönte bald näher, bald ferner zu
uns herüber, vom Echo verzehnfacht. Dann begegnete uns
die von Bolivien zurückkehrende Recua (Maulthierherde),
geleitet von ihren Arrieros (Besitzer und Führer der den Gü-
tertransport beschaffenden Maulthierherden) mit den antrei-
benden Rufen Macho! Mnla! Wir erkundigten uns bei
diesen Frachtfuhrleuten des Gebirges, wie weit wir noch von
unferm Endziele entfernt seien, und uns ward die wenig
tröstliche Auskunft: sechs Leguas, zu Theil. _
Nachdem wir eine gute halbe Stunde weiter geritten wa-
ren, begegneten wir einer zweiten Recua, an.deren Führer
wir dieselbe Frage richteten und dieselbe Antwort von ihnen
Globus XIX. Nr. 5. (März 1871.)
Küsten-Cordillere. 73
empfingen. Und so erging es uns nach einer weitern halben
Stunde Rittes, als wir einen des Weges daher kommenden
Indianer fragten. „Sechs Leguas, mehr oder weniger,"
hieß es wieder, und die sich ewig gleichbleibende Auskunft
überzeugte uns, daß diese Gebirgswege wohl nie anders als
nach dem Gange des schnellsten und langsamsten Maulthie-
res gemessen seien.
Es kamen jetzt Stellen, wo die Vegetation im Thal-
gründe sich etwas reicher und hier und da von in bunten
Bayeta (grobwollenen) -Kleidern prangenden braunen Schön-
heiten belebt zeigte. An den Hängen der Berge wandelten
in gemessenen Schritten langwollige Llamas, die das hier
noch spärlich aufschießende Riedgras abweideten; dann und
wann sah man oben auf einem weniger hohen Bergrücken
ein einzelnes Thier unbeweglich stehen und sich gegen den
Hintergrund des tiefblauen Himmels so scharf abzeichnen, wie
die versteinerten dunkeln Cacteen, welche, auf diesen Höhen
vereinzelt stehend, ihre Arme in die Höhe reckten.
Jetzt ging unser Weg bergunter; wir gelangten in einen
engen Hohlweg, wo das Bett eines schmalen Flüßchens, des-
sen Wasser den Boden kaum einen Zoll hoch bedeckten, die
Straße bildete. Schwarze, nicht allzu hohe Felsen umschlos-
sen uns, an den Wänden schössen die geraden Candelaber-
Cactus auf und ringelten sich andere wie uuförmlich-wulstig
gestaltete Schlaugen hin. Hier und da lagen große Stein-
blocke, die sich wahrscheinlich bei den heftigen Erschütterungen
des Erdbebens vom 13. August gelöst hatten und herab-
gefallen waren. Doch, wenn diese Partie auch grotesk genug
war, sie bot durchaus nichts Gefährliches, und nur der Ge-
danke, daß eine solche schreckliche Naturerscheinung mir in
diesem Augenblicke einen dieser respectabeln Blöcke auf den
Kopf werfen könnte, trieb mich an, diefe Umgebung bald zu
verlassen.
In einer gewissen Höhe pflegt die Gebirgsreifenden (aus-
genommen die Arrieros, welche Jahr aus Jahr ein durchs
Gebirge reisen und an den Luftwechsel gewöhnt sind, wie der
Seemann an sein schwankendes Schiff) der So röche zu be-
fallen; ein Uebel, welches, einem hohen Grade von Seekrank-
heit ähnlich, mit heftigen Kopfschmerzen und totaler Zer-
schlagenheit verbunden ist. Als Reaction folgt ihm wie der
Seekrankheit ein Gefühl der Frische und des Wohlseins und
ein Appetit, den die reine, dünne Gebirgsluft noch stärker
schärft, wie die feuchte Seeluft.
Ich dachte dem Soroche vorzubeugen, indem ich dann
und wann einen Schluck Cognac nahm, nicht ahnend, daß
dies das beste Mittel sei, sich die Krankheit im höchsten Grade
zuzuziehen. Viele versehen sich mit Knoblauch, den sie kauen
und in die Achselhöhlen und Ohren legen. Andere rühmen
die Coca als Gegenmittel, und da dies Blatt höchst tonisch
wirkt, so glaube ich gern an seine Wirksamkeit, denn es leidet
keinen Zweifel, daß der Magen bei diesem Uebel die Haupt-
rolle spielt. Sein Ursprung wird ^sehr verschieden angegeben.
Während Einigen die dünnere Luft als eine genügende Er«
klärung scheint, schreiben manche Reisende, und wohl nicht
mit Unrecht, es der Wirkung von Antimondämpfen zu, welche
die Sonnenhitze des Tages aus au der Oberfläche der Berge
sich hinziehenden Gängen dieses Metalls verflüchtigt.
Schon neigte sich der Tag zu Ende, als wir müden Rei-
ter auf unseren noch müderen Thieren vor einer steilen
Cnesta standen, an welcher der Pfad sich aufwärts fchlän-
gelte. Jeden Augenblick standen unsere Mulas, welche schon
vom Soroche zu leiden schienen, still, um auf dem beschwer-
licheu Pfade auszuruhen. Oben angelangt, sahen wir in ein
enges Thal nieder, dessen frischgrüne Alfalsaselder an den
breiten Rücken mächtiger Berge hinaufstiegen. Wir hielten
es für das Ziel unserer Reise, aber wieder gefehlt; was wir
10
74
Wissenschaftliche Ergebnisse der Luftballonfahrten.
für den Jngenio ansahen, war die halbzerstörte Kirche des
Ortes Palca, welche bei der Katastrophe vom August des
Jahres zum Theil zusammenfiel.
Der Sonnenuntergang war bei der reinen Luft prächtig.
Die dunkeln Bergkolosse im Westen umglühte der Himmel wie
eine Glorie. Es war nicht das farbenprächtige Bild, wel-
ches das Gebirge von der Ebene aus bietet, wo seine Massen
in bunten transparenten Farben prangen, über denen die
Schneegipfel wie goldene Kronen aus dem dunkler werden-
den östlichen Himmel strahlen — nein, sondern auf allen
Seiten von ein paar riesigen Kegeln umschlossen, ritten wir
unten in einem rosig gefärbten Schatten dahin, während die
Berghäupter hoch über uns in östlicher Richtung in einem
sanften Feuer loderten, im Westen als dunkele Massen in den
hellen Hintergrund hineinragten. Die Schneegipfel erblickten
wir erst wieder, als wir in die Ebene zurückgekehrt waren.
Wiffenschaftliche Ergebnisse der Lustballonfahrten.
r. ä. Noch niemals ist der Luftballon in so ausgedehnter
Weise benutzt worden, wie während der Belagerung von Pa-
ris, wo er vier Monate lang das einzige Mittel der Be-
lagerten war, mit der Außenwelt zu verkehren. Es traf sich
glücklich für die Pariser, daß in ihren Mauern gerade jene
Männer weilten, die in den letzten Jahren die Ausbildung
der Luftschisferei sich zur Aufgabe gesetzt hatten, ein Nadar,
W. de Fonvielle, Gaston Tissandier, Flammarion und An-
dere. Sie Alle haben durch zahlreiche Versuche das Ihrige
dazu beigetragen gehabt, den Ballon und dessen Lenkung zu
vervollkommnen; indessen waren die erzielten Resultate in
dieser Beziehung nur geringe. Wohl liegt das Steigen und
Fallen des Ballons in der Hand des Luftschiffers, je nach-
dem er seinen Sandballast über Bord wirft oder das Gas
durch ein Ventil aus dem Ballon entweichen läßt, aber mit
der eigentlichen Lenkung des Ballons, mit der Fortbewegung
desselben in horizontaler Richtung ist man auch heute noch
nicht weiter als vor 90 Iahren, zur Zeit als die Gebrüder
Montgolfier den ersten Ballon steigen ließen oder Pilatre
de Rozieres als der erste Mensch sich in die Lüfte erhob.
Indessen bei den zahlreichen Luftfahrten der Franzosen ist
die Wissenschaft nicht leer ausgegangen, und in einem präch-
tig ausgestatteten Werke (Voyages aeriennes. Paris. Ha-
chette u. Comp. 1870) haben die obengenannten Aeronauten
es noch kurz vor Ausbruch des Krieges versucht, dem grö-
ßern Publicum „im Vaterlande des Luftballons" Geschmack
an der Sache einzuflößen.
Weit gründlicher als in Frankreich, wo immerhin ein
Gay-Lussac den Ballon schon zu meteorologischen Beobach-
tungen gebrauchte, ist man neuerdings in England vorge-
gangen. Namentlich war es hier der Director der magne-
tischen nnd meteorologischen Abtheilung der Sternwarte zu
Greeuwich, I. Glaisher, welcher den Luftballon zum Stu-
dium der Atmosphäre unseres Planeten benutzte. Glaisher
ist höher in die Luft gestiegen, als irgend ein Mensch vor
ihm. Ehe wir die wissenschaftlichen Ergebnisse aus den zahl-
reichen Luftreisen Glaisher's mittheilen, wollen wir dem Leser
einen kurzen Bericht der interessanten Ascension dieses engli-
schen Gelehrten geben, die ihn bis zu der Höhe von 11,000
Meter in die Lüfte führte, also bis zu einer Höhe, die unsere
höchsten Berggipfel im Himalaya noch weit hinter sich zu-
rückließ und fast doppelt so viel als die von Humboldt am
Chimborasso erreichte Höhe betrug.
Glaisher verließ 'bei einer Temperatur von 15° (£.
am 5. September 1862 Mittags 1 Uhr Wolverhampton.
Der Ballon stieg schnell; nach zehn Minuten schon hatte er
eine Höhe von 1609 Meter erreicht — er stieg also 160
Meter oder 492 Pariser Fuß in der Minute,
und befand sich in einer sehr dichten Wolke, in welcher eine
Temperatur von -f- 5° E. herrschte. Zehn Minuten der
verticaleu Erhebung hatten also genügt um eine Temperatur-
Verminderung von eben so vielen Centigraden herbeizuführen.
Die Wolke war so dicht, daß die Luftschisfer in völlige Fin-
sterniß eingehüllt waren. Allmälig lichtete sich die Finster-
niß, die Wolke lag unter den Luftschiffern und über ihnen
strahlte wieder heller Sonnenschein. Das Firmament zeigte
die reinste azurblaue Farbe ohne den geringsten Flecken —,
unten aber erhob sich ein von der Sonne bestrahltes Wolken-
gebirge von den mannichfaltigsten Formen, aus dem hohe
Wolkenberge hervorstanden, die wie Alpengipfel mit Schnee-
krönen erschienen. Glaisher versuchte diese Wolkenlandschaft
mit einem photographischen Apparate aufzunehmen, allein
der Ballon stieg zu rasch, als daß dieser Versuch hätte glücken
können. — Um 1 Uhr 21 Minuten hatte man eine Höhe
von 3218 Meter erreicht. Die Temperatur zeigte Null
Grad, und die Luftschiffer versahen sich mit wärmerer Klei-
dung. Um 1 Uhr 28 Minuten war man zu 4800 Meter,
ungefähr der Montblanchöhe, gelangt. Die Temperatur
sank regelmäßig, uud ein Eisüberzug begann sich auf den
Stricken des Ballons abzusetzen. Um 1 Uhr 39 Minuten
hatte man 6437 Meter, Chimborassohöhe, erreicht; die Tem«
peratur betrug — 13« C. Um noch höher zu gelangen,
warf man Sand aus, und zehn Minuten später schwebte bei
einer Temperatur von — 19° C. der Ballon in der Höhe
des Dawalagiri. Dreiviertel Stunden vorher aber war man
bei einer angenehmen Herbsttemperatur noch auf Altenglands
Boden umhergeschritten. Jetzt nahte aber die Katastrophe.
In einer Höhe von 8000 Meter machten sich die Eindrücke
der verdünnten Luft auf Glaisher und seinen Gefährten Cox-
well bemerkbar. Er konnte die Quecksilbersäule des Baro-
meters, die Zeiger der Uhr und die Grade am Thermometer
nicht mehr gehörig unterscheiden, und nur eine mit der äußer--
steu Anstrengung von Beiden abgelesene Barometerbeobach-
tung constatirt, daß der Ballon die ungeheure Höhe von
11,000 Meter oder 36,632 Pariser Fuß erreichte. (Höhe
des Gaurisaukar 8840 Meter — 27,213 Pariser Fuß.)
Hier verließen Glaisher seine Kräfte; er verlor die Gewalt
über seine Glieder und sank im Schiffchen des Ballons zu-
sammen; aber sein Gehirn blieb in voller Thätigkeit. Spre-
chen konnte er nicht. Auch die Sehnerven schienen ihre Thä-
tigkeit eingestellt zu haben, denn für einen Augenblick um-
hüllte Finsterniß den kühnen Luftschisfer, der glaubte, ein
Schlag habe ihn getroffen. Coxwell gelang es unterdessen
durch Oeffueu des Ventils den Ballon zum Sinken zu brin-
gen. In einer Höhe von 7000 Meter, wo eine Temperatur
von — 19° C. herrschte, wurden die ersten Beobachtungen
wieder angestellt. Bei 3000 Meter hatte man den Null-
Punkt der Temperatur erreicht. Als man bei Coldweston
in der Nähe Ludlows wieder den Boden betrat, herrschte eine
Temperatur von -f-13°(£. Das Minimalthermometer aber
Wissenschaftliche Ergebnis
ergab, daß die niedrigste Temperatur, in welcher sich der
Ballon befunden, — 24,4° C. war. Die ganze Tempera-
turdifferenz zwischen der Erde beim Aufsteigen und der nie-
drigsten erreichten Temperatur betrug also etwa 40° C.
Betrachten wir nun die allgemeinen Ergebnisse aus Glai-
sher's Luftfahrten. Es ist ihm zunächst gelungen zu zeigen,
daß die Temperaturabnahme in den hohen Luft-
schichten keineswegs eine regelmäßige ist. Es geht
daraus hervor, daß man die theoretische Annahme, wonach
auf je dreihundert englische Fuß Erhebung eine Temperatur-
erniedrignng von 1 Grad zu rechnen wäre, gänzlich auf-
geben muß; eine solche ideale Regelmäßigkeit, auf welche
man sich stützte, um die Temperatur des planetarischen Luft-
raumes zu bestimmen, existirt nicht. Es haben sich außer-
ordentlich große Verschiedenheiten gefunden, und selbst bei
klarem Himmel, welcher zur Erlangung eines Durchschnitts-
Tab e
? der Luftballonfahrten. 75
werthes am günstigsten ist, schwanken die Zahlen im Ver-
hältniß von 1 bis 6 Grad.
' Während in der Nähe der Erdoberfläche zuweilen eine
Erhebung von nur 100 Fuß englisch genügt, um ein Fallen
des Thermometers um 1° F. zu bewirken, ist in einer Höhe
von 5000 Meter und darüber eine Erhebung von minde-
stens 300 Metern zur Erlangung des gleichen Resultats
erforderlich. Die in der Erdnähe angestellten Versuche sind
zahlreich genug, um danach die bei klarem Himmel gemach-
ten ganz entschieden von den bei nebeligem Wetter angestell-
ten trennen zu können. Die Zahlenangaben sind so inter-
essant, daß wir sie in nachstehender Tabelle (Nr. 1) an-
schaulich machen, welche die Temperaturabnahmen in beiden
vorerwähnten Fällen darstellt. Man sieht, daß die den hei-
tern Himmel darstellende krumme Linie die bei Weitem regel-
mäßigere ist. Wie man sieht, zeigt die Curve der Tempe-
le 1.
Anwachsen der Lufttemperatur.
Grade Fahrenheit. |
0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62
16 14 12 10 8 6 4 +2 0 —2 4 6 8 10 12 14 16
Grade Celsius.
- Thermometrische Curve bei bedecktem Himmel.
..................... Thermometrische Curve bei klarem Himmel.
raturzunahme bei klarem Wetter in einer Höhe von 8000
Metern erst —16° C. Es ist also von dieser Temperatur
noch sehr weit bis zu den — 60° C., welche nach Arago die
Temperatur des unendlichen Raumes ausmachen.
Die vorstehenden Resultate ergeben sich aus der Zusam-
menstelluug der während der verschiedenen Tagesstunden ange-
stellten Beobachtungen. Bei der Berechnung hat Glaisher
die zur Nachtzeit gemachten Versuche nicht mit in Betracht
gezogen, weil da besondere Gesetze herrschen müssen. Aber
auch am Tage scheinen von den vorstehenden Gesetzen Aus-
nahmen stattzufinden, wie aus einigen Beispielen leicht ab-
zunehmen sein wird. Glaisher berichtet: „Während mei-
ner Aufsteigung vom 12. Januar 1864 traf ich, zum ersten
Male in meiner Erfahrung und ganz unerwarteter Weise,
einen Strom warmer Luft von fast 2000 Fuß Mächtigkeit,
welcher aus Südwest, d. h. aus der Richtung des Golf-
stromes, herkam. Im Innern dieses Stromes war die Luft
feucht, an der obern und untern Grenze dagegen sehr trocken.
Feine, gekörnte Schneekrystalle fielen beim Durchgange durch
den warmen Luststrom. Das Begegnen dieses südwestlichen
Stromes erscheint mir von höchster Wichtigkeit, weil es die
Thatsache zu erklären im Stande ist, daß England eine weit
höhere Temperatur besitzt als sie der schon ziemlich nördli-
chen Breite des britischen Archipels zu entsprechen scheint.
Bis jetzt ist die Milde unserer (englischen) Winter^lediglich
auf Rechnung des Golfstromes gesetzt worden. Ohne die
mächtige Einwirkung dieser Naturkraft zu verkennen, müssen
wir doch, glaube ich, die unterstützende Einwirkung
eines atmosphärischen, dem Meeresstrome parallel
laufenden und aus den gleichenGegenden stammen-
den Luftstromes, eines wahren Golfstromes der
Luft annehmen. Von keinem Gebirgszuge gehemmt, fließt
dieser mächtige Strom unstreitig nach Norden, und vereinigt
an der norwegischen Küste seine Einwirkung mit jener der
10*
76
Wissenschaftliche Ergebnisse der Luftballonfahrten.
aus dem Ocean kommenden bekannten warmen Meeres-
strömungen.
Bei dem oben besprochenen Aufsteigen vom 12. Januar
1864 war ich auf das Höchste überrascht zu finden, daß
die Temperatur mit der Erhebung zunahm. Diese
ausnahmsweise Erwärmung hielt indessen nicht bis zu Ende
der Excnrsion an. Von 1300 Meter Erhebung an nahm
die Temperatur ganz regelmäßig ab; sie betrug in einer
Höhe von 4000 Meter etwa 12 Grad unter Null. Im
Allgemeinen steht sest, daß mit der Höhe die Temperatur
abnimmt; indessen habe
ich mehrfach gefunden,
daß die Temperatur-
curve beim Aufsteigen
mit derjenigen beim
Niedergehennicht Uber-
einstimmte. Es mag das
wohl daher kommen, daß das
Niedergehen weit rafcher er-
folgt und der Thermometer
von dem Luftzuge beein-
slnßt wird. (Vergleiche Ta-
belle 2.)
„Noch muß ich hier über
die am 6. April 1864 sest-
gestellten ganz abnormen
Temperaturstände einige
Bemerkungen machen. Als
ich den Erdboden bei 7 bis
8 Grad Wärme verließ, fand
ich die unterste Luftschicht
in einer Mächtigkeit von 100
Metern ganz gleichmäßig er-
wärmt. Von diesem Punkte
ab zeigte sich eine ziemlich
langsame Wärmeabnahme,
denn erst bei einer Erhe-
bnng von 1200 Metern
fand ich eine Temperatur
vom Gefrierpunkte des Was-
sers. Ueber dieser Zone
abnehmender Wärme begeg-
nete ich einem neuen war-
men Luststrome, welcher mir
auf 2500 Meter Erhebung
wieder die gleiche Tempera-
tnr wie aus 1200 Meter
zuführte. Aus dieser ersten
warmen Zone gelangte ich
in eine zweite kalte Zone,
in welcher jedoch der Ther-
mometer sich beständig über
Null hielt. Auf diese zweite
kalte folgte eine zweite warme
Zone; und schließlich fand
ich auf fast 4000 Meter
Höhe wieder dieselbe Temperatur, wie ich sie 3300 Meter
tiefer notirt hatte. Sicherlich konnte dasGesetz regel-
mäßigerAbnahme eine beredtere Widerlegung nicht
erfahren."
Wie sehr veränderlich die Temperaturzustünde der Luft
in einem sehr kurzen Zeitunterschiede sind, kann man aus
den Beobachtungen ersehen, die Glaisher während des Auf-
und des Niedersteigens einer und derselben Ballonfahrt machte
und wobei wesentlich verschiedene Temperaturresultate an-
getroffen wurden. Die Temperatur begann anfänglich sehr
Tabelle 2
Engl.
Fuß.
23.000
22,000
21,000
20.000
19,000
18,000
17,000
16,000
15,000
14,000
13,000
12 000
11,000
10,000
9000
8000
7000
6000
5000
4000
3000
2000
1000
0
Anwachsen der Lusttemperatur.
Grade Fahren hei t.
0 4 8 12 16 20 24 28 32 36 40 44 48 50
18 16 14 12 10 8 6 4 —2 0+2 '4 6 8 10
rasch zu steigen; bald indessen stockte diese Bewegung, um
auf 1500 Meter einem beträchtlichen Fallen Platz zu machen,
während die Luftschiffer sich in einer Wolkenschicht befanden,
die den Ballon überlastete und die Schnelligkeit seiner Ab-
wärtsbewegung noch beschleunigte. Auf^ 1000 Meter etwa
hatten sie dann eine Art von Gleichgewicht, und schließlich
hob sich die Temperatur sehr rasch und zwar in eben der
Zone, in welcher man sie kurz zuvor coustant gefunden hatte.
„Am 13. Juni habe ich," schreibt Glaisher, „auf 2500
Meter bei Sonnenuntergang eine gleichmäßige Temperatur
gefunden, was sehr auffällig
erscheint. Am bemerkens-
Werthesten aber ist die von
mir genau beobachtete Stei-
gerung der Temperatur wäh-
rend der Nachtzeit. In der
That scheint diese Erschei-
nung, wie aus der hier re-
producirten Tabelle ersicht-
lich, durch die Vergleichs-
resultate von drei in Green-
wich beobachteten Thermo-
meiern festgestellt. Die von
mir aufgestellten und in
meinen Tabellen zusammen-
gefaßten Gesetze sind aller-
dings nur Provisorische, sie
haben aber, weil sie das
Resultat zahlreicher mit aller
Sorgfalt von mir angestell-
ter Versuche bieten, doch
einigen Werth. Bei der
Zusammenstellung meiner
Durchschnittszahlen habe ich
sorgfältig alle Beobachtun-
gen ausgeschlossen, wo ich
wachsende Temperaturen
und sonstige abnorme Um-
stände gefunden hatte. Ich
habe mich gehütet, diesen
falschen Weg zu betreten,
denn Alles spricht für die
Annahme, daß in den ver-
schiedenen Stunden des Ta-
ges verschiedene Gesetze der
Wärmevertheilung Herr-
schen."
Auch über die Tempe-
ratur des Thaupunk-
tes und den Grad der
Feuchtigkeit in ver-
schiedenen Höhen hat
Glaisher Beobachtungen an-
gestellt. Viele verschiedene
Umstände können aus die
Temperatur des Thaupunk-
tes Einfluß haben, dessen Beobachtung ganz gewiß eine der
denkbar feinsten Operationen bildet. Sie ist aber auch von
höchster Wichtigkeit. Man kann behaupten, daß die irdische
Meteorologie an dem Tage gegründet worden sei, an welchem
es Wells klar wurde, was die Ansammlung von Wassertröpf-
chen auf den Rosen unserer Blumenbeete zu bedeuten habe.
Die Meteorologie der Luftregion wird so lange im Stadium
der Kindheit bleiben, als sie nicht deutlich nachweisen kann,
wie der himmlische Thau sich auf den Flügeln der Winde
niederschlägt.
■——■
——
■nun
laniH
1500
Grade Celsius.
Temperatur beiin Aufsteigen
Temperatur Beim Absteigen.
Wissenschaftliche Ergebnisse der Luftballonfahrten.
77
„Ich habe, um den Feuchtigkeitsgrad der Luft zu besinn-
men, alle bekannten Versahrungsweisen angewendet. Ich
kann also mit einigem Recht behaupten, daß kein Apparat,
auch nicht der denkbar feinste, im Gebrauche dem trockenen
und dem feuchten Thermometer vorzuziehen sei, wenn beide
im Schatten aufgehängt sind und unter passenden Verhält-
nissen beobachtet werden. Alle anderen Apparate haben mir
Resultate ergeben, die mit denen der beiden Thermometer
ganz identisch waren oder richtiger: die ganz schwachen Ab-
Weichlingen fanden sich im Plus und Minus gleichmäßig
vertheilt. Es war also nicht nachzuweisen, daß ein höherer
Grad von Genauigkeit eine größere Belastung und größere
Umständlichkeit aufgewogen haben würde. Der Beobachter
im Ballon, welcher alle Erscheinungen erforschen soll, darf
keine Zeit mit unnützen Versuchen verschwenden. Was ihm
Noth thut, sind einfache, genaue, leicht ablesbare Instrumente.
„Ich habe niemals eine Luftfahrt ausgeführt, bei welcher
der Grad der Feuchtigkeit der Luft, während ich mich hob
oder fenkte, nicht bedeutend geschwankt hätte. Es ist unmög-
lich, a priori zu behaupten, daß man beim Austritt aus einer
trockenen Schicht nicht einige Tausend Fuß höher auf eine
mit Feuchtigkeit gesättigte treffe. Der regelmäßige Zu-
Tabelle 3.
Anwachsen der Lufttemperatur.
12 16 20 24
Grade Fahrenheit.
32 36 40 44 48 52 50 60 64 68 72 76 80 84
Grade Celsius.
- Variationen der Feuchtigkeit bei heitern Himmel.
- Variationen der Feuchtigkeit bei bedecktem Himmel.
stand der Atmosphäre scheint darin zu bestehen,
daß eine gewisse Anzahl abwechselnd trockener und
feuchter Schichten nach irgend einer Ordnung über
einander gelagert find. Man kann aber doch zu einer
gewissen Durchschnittsregel gelangen, indem man die bei be-
decktem Himmel gemachten Beobachtungen von den bei klarem
Himmel angestellten ausscheidet.
„Die Quantität der Feuchtigkeit wird eben so bedeu-
tenden Abwechselungen unterliegen, wie die der Tempe-
ratnr. Die Tabelle Nr. 3 zeigt die Abweichungen unter
jenen beiden Zuständen in genügender Weise. Ist es nich+
überraschend zu sehen, wie beide Linien sich um einander
winden? Jede von beiden zeigt tiefe und zahlreiche Aus-
beuguugeu. Wie kann man noch behaupten wollen, daß die
Feuchtigkeit der Luft mit der wachsenden Höhe unter allen
Umständen abnehme? Sieht man nicht im Gegentheil, daß
die Linie des bedeckten Himmels schroff bis zu bedeutenden
Höhen emporsteigt und daß sie die Neigung der Luft anzeigt,
sich mehr und mehr zu sättigen? Nun kann man sich aber
den Himmel in bedeutenden Höhen als bedeckt vorstellen. Ich
bin bis zu einer Höhe von mehr als 7000 Meter ausgestie-
gen, ohne die Sonne gesehen zu haben, und bei meinen hoch-
sten Ballonfahrten habe ich allezeit noch in großer Höhe über
meinem Kopfe Wolken hinziehen sehen.
78 Wissenschaftliche Ergebn
„Gewiß sind meine Beobachtungen zu wenig zahlreich,
als daß ich endgültige Schlußfolgerungen aus ihnen ableiten
könnte. Was mir aber unzweifelhaft erscheint, ist: daß sie
die so leichtfertig angenommene Theorie von der absoluten
Trockenheit der höchsten Regionen erschüttern. Es war wirk-
üch nicht nöthig, die Ballonfahrten abzuwarten, um dieser
Theorie zu entsagen. Wir müssen uns darüber wundern,
wie sie Platz greifen konnte beim Anblick der Anordnung der
den Azur des Himmels schmückenden Wolkengebilde. Schon
beim bloßen Anblick des glänzenden Himmels an einem schö-
nen Sommertage müßte man einer mit der Natur so wenig
harmonirenden Idee entsagen."
Was die physiologischen Beobachtungen während
einer Ballonfahrt betrifft, so kann man leicht bemerken, daß
die Zahl der Pulsschläge sowie die der Athemzüge in der
Minute mit der Höhe zunimmt. Die beobachteten Zahlen
sind indeß durchaus nicht gleichmäßig, weil eben die Erhe-
bung über den Boden keineswegs der einzige auf die Luft-
fchiffer einwirkende Umstand ist, und weil man das Tempe-
rament sowie die besondere Beschaffenheit jedes Individuums
in Rechnung bringen muß. Denn die an einem bestimmten
Tage gefundenen Zahlen können fehr erheblich von den bei
einem spätern Aufsteigen erhaltenen abweichen. Dies ver-
schiedene Verhalten in bedeutenden Höhen ist keineswegs über-
raschend, da eben so bedeutende Verschiedenheiten auch auf
der Oberfläche des Bodens vorkommen, je nach dem Gesund-
heitszustaude oder selbst der Charaktereigeuthümlichkeit der
verschiedenen Individuen. Das Studium über das Verhal-
ten des Menschen im Schiffchen eines Luftballons ist ein
überaus weiter und kaum noch in Angriff genommener Ge-
genstand.
Zum Schlüsse stellt Glaisher seine Beobachtungen über
die Schnelligkeit des Windes oberhalb der Erd-
oberfläche zusammen. Es ist wohl kaum eine Luftfahrt
unternommen worden, bei welcher der Ballon nicht Luftströ-
mungen aus verschiedenen Richtungen ausgesetzt gewesen wäre.
Wollten wir also zur Ermittelung der Schnelligkeit der Bal-
lonbewegung lediglich die Entfernung der beiden Endstationen
der Reise berechnen, so würden wir keineswegs ein richtiges
Maß der horizontalen Luftbewegung erhalten, wie es ein
Anemometer ergeben würde, der in günstiger Lage den Strö-
mungen der höheren Lustregionen ausgesetzt ist. Aber auch
bei Beobachtungen, die unter so wenig günstigen Bedingun-
gen gemacht sind, zeigt sich, daß die Schnelligkeit des Ballons
allezeit eine bedeutend größere gewesen sei, als die der Strö-
mungen an der Oberfläche, wie sie von den mit größter
Sorgfalt verfertigten Anemometern des Observatoriums von
Greenwich angegeben wurden. Die Thatsache ist wichtig
genug, um sie mit einigen Zahlenangaben zu belegen.
„Während meiner Reise vom 18. April 1863," berichtet
Glaisher, „durchflog der Ballon eine Strecke von 45 Mei-
len (engl.) in anderthalb Stunden, was eine mittlere Ge-
fchwindigkeit von 30 Meilen in der Stunde ergiebt; zu glei-
cher Zeit verzeichnete der Anemometer des Observatoriums
von Greenwich eine Strömungsschnelligkeit von nur 2 Meilen
in der Stunde.
„Am 21. Juli desselben Jahres verließ der Ballon den
Krystallpalast um 4 Uhr 53 Minuten und kam bei dem
etwa 70 Meilen entfernten Goodwood wieder zur Erde nie-
der, er hatte somit die Entfernung in der Luft mit einer
Mittlern Geschwindigkeit von 18 englischen Meilen in der
fe der Luftballonfahrten.
Stunde zurückgelegt. Auch in diesem Falle hatte der Ans-
mometer von Greenwich nur eine Schnelligkeit von weniger
als 2 Meilen nachgewiesen.
„Bei der Ballonfahrt vom 12. Januar 1864 stieg der
Ballon im Arsenal von Woolwich auf und legte den Weg
von da bis Lakenhealts, wo er' niederfiel, eine Entfernung
von 70 englischen Meilen, in 2 Stunden 28 Minuten zu-
rück. Während der ganzen Reise des Ballons hatten die
Anemometer von Greenwich eine horizontale Bewegung von
nur 6 Meilen in der Stunde angezeigt. Es entsteht nun
die Frage: Wo ist die Grenze dieser Verschiedenheiten und
bis zu welcher Schnelligkeit können die Winde in jenen hoch-
sten Regionen, die dem Menschen noch zugänglich sind, ge-
langen? Bei der UnVollkommenheit, an welcher die Theorie
der Versuche auf dem Gebiete der Luftschifffahrt noch labo-
rirt, ist eine Beantwortung eine sehr mißliche Sache. Es
scheint mir jedoch wahrscheinlich, daß die in jenen oberen Re-
gionen herrschenden Winde von astronomischen Ursachen ver-
anlaßt werden und daß sie zugleich beständigere und rascher
strömende sind, als die auf dem Trennungsgebiete der Luft
und der Gewässer herrschenden.
„Das sind die hauptsächlichen allgemeinen Resultate mei-
ner in England mittelst der Ballonreisen angestellten Ver-
suche. Ich muß dabei vor Allem constatiren, daß England
viel zu klein ist, als daß man sich gestatten könnte, auf irgend
längere Zeit berechnete asrostatische Versuchsreisen zu unter-
nehmen, selbst wenn man eine Binnenstadt wählt, wie das
mitten im Lande gelegene Wolverhampton, von wo aus ich
meine bedeutendsten Luftreifen unternommen habe. In der
That genügt auch bei jedwedem Staudorte des Ballons ein
nur etwa eine Stunde andauernder etwas heftiger Wind,
um denselben über den Ocean hinzujagen. Sobald man
sich oberhalb der Wolken befindet, weiß der Luftschiffer nicht
mehr, wo er sich befindet. Der Ballon kann möglicherweise
in einer Luftströmung schwimmen, die ihn mit einer Geschwin-
digkeit von 60 bis 80 englischen Meilen in der Stunde da-
hinführt, ohne daß der Lnftfchiffer es bemerkt oder auch selbst
nur die Mittel hätte, es zu bemerken. Man ist also ge-
nöthigt, von Zeit zu Zeit den Ballon sinken zu lassen, um
die Dunstschicht zu durchbrechen, welche das Erblicken der
Erde hindert. Aber damit verliert man bei jeder Reise min-
destens eine halbe Stunde. Findet sich der Aöronant in
mißlicher Lage, so bleibt ihm nichts weiter übrig, als das
Ventil zu öffnen und sich hinabzustürzen, auf die Gefahr,
sich die Beine oder mindestens die Instrumente zu zerbrechen;
entdeckt er aber, daß er bereits weit von der Küste ist, so
kann er das nicht einmal thnn, denn um sich orientiren zu
können, muß er eine beträchtliche Menge Gas ausströmen
lassen. Beim Wiederaufsteigen fehlen ihm dann sowohl Gas
als Ballast (Sand), und beim schließlichen Niedersteigen wird
er es nicht vermögen, den Fall hinreichend abzuschwächen.
Unter solchen Verhältnissen kann der Aöronaut den Ballon
nicht weiter lenken, derselbe wird einfach zu einem im Raum
fallenden Körper, dessen Fall er weder aufhalten noch lenken
kann, und so ist er immer in Gefahr, das Opfer eines jener
schrecklichen Zufälle zu werden, die das Publicum dann auf
die Rechnung der Luftschiffahrt und der Ballons setzt. Diese
Betrachtungen thun genügend dar, daß große aeronautische
Versuchsreihen mit Erfolg nur auf dem Continent unter-
uommeu werden können."
Aus allen Erdtheilen.
79
Aus allen Erdtheilen.
Die halbeivilisirten^Jndianer in den Vereinigten Staa-
ten von Nordamerika.
Unser Mitarbeiter, Herr Theodor Kirchhoff in San
Francisco, gab vor einiger Zeit nach eigener Anschauung einen
Bericht über die Zustände der Indianer, welche von Seiten der
Bundesregierung im „Jndian Territory" angesiedelt wor-
den sind („Globus" XVIII, S. 137). Dieses Territorium wird
begrenzt im Osten von den Staaten Arkansas und Missouri,
hat im Norden Kansas und im Süden Texas. In demselben
wohnen die Ueberreste von acht Völkern, welche sich jetzt eine
„civilisirte Regierung" geben wollen. Es sind die Semi-
nolen, Tschoktahs (Choktaws), Tschirokihs (Cherokees),
Krihks (Creeks), Tschikasahs (Chickafaws), Osagen, Peo-
rias und Ottawas. Gegen Ende des vorigen Jahres haben
sie 60 Bevollmächtigte gewählt, welche in Oakmulgee, der Haupt-
stadt des Territoriums, eine Berathung hielten; der Commissär
der indischen Angelegenheiten, General Parker, war bei dersel-
ben zugegen. Zunächst gab die Versammlung mehreren uncivi-
lisirten Indianervölkern, insbesondere den Scheyennes, Arrapahus,
Keiouäs und Komantsches, kund und zu wissen, daß die Tfchok-
tahs und deren Verbündete ihnen Freundschaft entbieten lassen;
auch wurde jenen Stämmen in dringender Weise und wohl-
gemeint angerathen, sie möchten unter einander und mit den
Vereinigten Staaten in Frieden leben. Die Versammlung der
Bevollmächtigten habe sich als Aufgabe gestellt, die Wohlfahrt
aller im Territorium ansässigen Indianer zu sördern und ihnen
und ihren Nachkommen die Ländereien zu sichern. Es stehe zu
wünschen und würde ganz angemessen sein, wenn auch jene (mt-
civilisirten) Indianer Bevollmächtigte ernennen würden, welche
das Friedenswerk zu fördern geeignet seien.
Einer annähernd richtigen Schätzung zufolge zählen die
Ehoctaws 17,000 Köpfe, die Cherokees gleichfalls 17,000, .die
Ereeks 13,000, die Seminolen 2500, die Chickafaws 5400, die
Osagen gegen 4000, die Peorias 1700; über die Ottawas fin-
den wir keine Angabe. Die Bevollmächtigten entwarfen eine
Verfassung für die neue Jndianer-Conföderation;
dieselbe wurde mit 52 Stimmen gegen 3 angenommen und ist
nun den einzelnen Völkern, welche darüber abzustimmen haben,
zur Genehmigung oder Verwerfung vorgelegt worden. Sie ent-
hält zunächst die Bestimmung, daß die Verträge mit den Ver-
einigten Staaten genau beobachtet werden sollen; jedem Stamme
wird seine Selbständigkeit gewährleistet und das Durchzugsrecht
für seinen Handel im ganzen Gebiete. Es versteht sich von
selbst, daß man in Betreff der Regierungsform die Vereinigten
Staaten zum Muster genommen hat. Das Volk erwählt allemal
auf ^wei Jahre einen Gouverneur; die Beamten des Obergerichts
und der drei Bezirksgerichte bekleiden ihr Amt sechs Jahre lang;
die gesetzgebende Versammlung besteht aus einem Senat und
einem Repräsentantenhause. Auf jede 2000 Seelen kommt ein
Senator; Stämme, welche nicht 2000 Köpfe stark sind, ver-
einigen sich bei der Wahl und werden in demselben Verhältniß
vertreten. Die Legislaturperiode ist zwei Jahre; jeder Senator
oder Repräsentant bezieht während der Session täglich 4 Dollars.
Wir wollen hier hinzufügen, daß das Jndianercomite im
Repräsentantenhause zu Washington einen Gesetzvorschlag ein-
bringen wird, dem gemäß das Jndianergebiet den Namen Oka-
hama annehmen und eine Territorialregierung erhalten soll.
Es wird alsdann einen Delegaten in den Congreß schicken.
Die Universität zu Cordova in der argentinischen
Republik hat, wie wir schon vor längerer Zeit im „Globus"
meldeten, eine völlige Umgestaltung erfahren. Während der
spanischen Herrschaft wurde sie von Jünglingen aus allen Thei-
len des Vicekönigreichs Buenos Ayres besucht und auch der
viel besprochene Dictator Francia von Paraguay machte aus
derselben seine Studien. Sie stand völlig unter Leitung der
Jesuiten, welche dort ihr Collegio maximo, ihr Hauptcollegium,
hatten. Sie besaßen ausgedehntes Grundeigenthum, bezogen
aus demselben beträchtliche Einkünfte und hatten eine ungemein
werthvolle Bibliothek. In dieser befanden sich handschriftliche
Werke über die verschiedenen Missionen, welche einst in jenen
Theilen Südamerikas von großer Bedeutung waren. Nach Ver-
treibung des Ordens schaffte man den bei Weitem größten Theil
der Bücher nach Buenos Ayres, aber Vieles ist seitdem ver-
schwunden. Das Vermögen der Jesuitenuniversität wurde ein-
gezogen und dasselbe theilweise zur Gründung einer Universität
in der Stadt Buenos Ayres verwandt; jene zu Cordova war
seitdem und bis in die jüngste Zeit sehr unbedeutend und eigent-
lich nur noch eine Provinzialschule.
Domingo Sarmiento, gegenwärtig Präsident der argen-
tinischen Republik, ist unbedingt einer der ausgezeichnetsten und
gebildetsten Männer, welche Südamerika hervorgebracht hat.
Er stammt aus der Gauchoprovinz San Juan, studirte die
Rechte, wurde vom Tyrannen Rosas geächtet, und entfloh unter
Lebensgefahr über die Cordilleren nach Chile. Dort war er
eine Reihe von Jahren als Lehrer thätig, verfaßte einige Lehr-
bücher, welche noch jetzt im Gebrauche sind, und schrieb das
classische Buch: Vida cle Facundo Quiroga; die Schilderun-
gen der Halbbarbarei des Gauchothums in demselben sind
meisterhaft. Nachdem Sarmiento von Santiago aus weite Reisen
gemacht und auch längere Zeit in Nordamerika verweilt hatte,
kehrte er nach des Dictators Rosas Sturz in seine Heimath zurück,
wurde argentinischer Gesandter in Washington und vor drei Iah-
ren zum Präsidenten erwählt. Er ist von der Ueberzeugung
durchdrungen, daß seinem Lande vor Allem zweierlei Noth thut:
eine möglichst zahlreiche Einwanderung fleißiger Leute aus
Nordeuropa, aus den germanischen Völkern, sodann ein gutes
Schulwesen. In dieser Beziehung hat er binnen Kurzem
Großes geleistet, und wir haben vor einiger Zeit in unserer
Zeitschrift nachgewiesen, daß nun alle Provinzen der Republik
Elementarschulen besitzen und daß deren Zahl sich beträchtlich
vermehrt.
Advocaten, die neben säbelrasselnden Generälen und unwis-
senden Priestern die dritte Landplage im ehemals spanischen
Amerika bilden, hat Argentinien mehr als zuviele. Herrn
Sarmiento kam es darauf an, die strebsame Jugend in eine
Bahn zu weisen, in welcher sie dem Lande ersprießliche Dienste
leisten könne; er will sie nicht zu rabulistischen, ehrgeizigen
Handwerkspolitikern heranziehen, sondern zu wissenschaftlich ge-
bildeten Praktikern. Zu diesem Zwecke hat er die Universität
Cordova ganz neu organisirt. Auf ihr sollen auch junge Leute
zu gründlich unterrichteten Gewerbsleuten, Landwirthen, Tech-
nikern :c. herangebildet werden, und die Anstalt ist außerdem
als ein Seminarium, als eine Art von Normalschule zu be-
trachten , aus welcher tüchtige Lehrer für die Realschulen und
Gymnasien hervorgehen.
Von der alten Lehrmethode der Jesuiten ist natürlich gar
keine Rede; die Wissenschaften werden nach dem Stande der
neuesten Forschungen gelehrt, und es bleibt absolut gleichgültig,
ob die Professoren protestantisch oder katholisch seien; man ist
tolerant in Argentinien.
Vorzugsweise sollen, im Hinblick auf den zu erreichenden
Zweck, Mathematik und Naturwissenschaften gelehrt
werden. Wie richtig Präsident Sarmiento begreift, worauf es an-
kommt, geht daraus hervor, daß er die Leitung und gleichsam
das Kuratorium der naturwissenschaftlichen Facultät
unserm ausgezeichneten Landsmann Professor Burmeister
übertragen hat. Mit Ausnahme des Astronomen Gould, der
Nordamerikaner ist, werden die übrigen Professoren jener Fa-
80 Aus allen
cultät deutsche Gelehrte sein. In Thätigkeit sind in Cordova
bereits: als Chemiker Professor Sie wert von der Universität
Halle, als Botaniker Professor Lorenz von der Münchener
Hochschule; wegen Uebernahme der Lehrstühle für Physik und
Zoologie sind in Deutschland Unterhandlungen angeknüpft, ebenso
mit einem Mathematiker; die Professur der Mineralogie, welche
für jenes Land von so erheblicher Wichtigkeit ist, hat Herr
Stelzner aus Freiburg übernommen, ein gründlicher und
tüchtiger Fachmann, der von Eifer für seine Mission durch-
drungen ist. Herr Stelzner ist im Februar von Liverpool aus
nach Buenos Ayres abgegangen, um noch rechtzeitig in Cor-
dova eintreffen, und über die mineralogische Abtheilung der
großen Industrieausstellung einen Bericht abzufassen. Sobald
Zeit und Gelegenheit günstig sind, wird er die Sierra de Cor-,
dova, welche sich neuerdings als goldreich erwiesen hat, gründ-
lich erforschen. Wir haben von ihm die freundliche Zusage, daß
er uns Beiträge für den „Globus" einfenden werde, insbefon-
dere solche, die sich auf Beobachtung des Volks und des Volks-
lebens gründen.
Auswanderung der Mennoniten in Ost- und West
preußen.
Am 10. Juni 1870 sind die Bedingungen vom Kaiser
Alexander bestätigt worden, unter denen preußischen Menno-
niten die Uebersiedelung nach Rußland gestattet werden soll.
Die hauptsächlichsten derselben sind: die Uebersiedler werden von
der persönlichen Recrutenpflicht befreit, müssen aber Loskaufs-
quittungen lösen und vom zweiten Jahre nach ihrer Einwände-
rung ebenso wie die übrigen Landbewohner Staats- und Ge-
meindeabgaben leisten. Sobald sie in Rußland angekommen
sind, stehen sie unter den allgemeinen Staatsgesetzen und wer-
den russische Unterthanen. Ihre Ansiedelung soll hauptsächlich
im taurischen Gouvernement bewerkstelligt werden, wo
ihnen auch das Recht, Land zu erwerben, freigestellt ist.
Auch diese Bedingungen sind noch im Stande, einige Men-
noniten zur Auswanderung nach dem südlichen Rußland, na-
mentlich nach Saratow und Samara an der untern Wolga, zu
veranlassen, weil sie sich nicht entschließen können, im preußi-
schen Heere Kriegsdienste zu leisten. Sie kommen endlich zur
Einsicht, daß ihre Vertrauensmänner in der preußischen Kam-
mer, Wantrup und v. Brauchitsch, ihnen nichts genützt ha-
ben, und kehren verdrießlich den preußischen Gauen den Rücken.
Die meisten Mennoniten, namentlich aus dem Weichseldelta,
fügen sich ins Unvermeidliche und machen sich allmälig mit dem
Wehrgesetz für alle preußischen Staatsbürger vertraut. So
kommt es denn, daß die sonst so häufige Auswanderung der
Mennoniten aus Ost- und Westpreußen seit dem Sommer 1870
sehr bedeutend nachgelassen hat: die jüngeren Mennoniten unter-
werfen sich der allgemeinen Wehrpflicht, in der sie mit möglich-
ster Schonung und Berücksichtigung behandelt werden, nicht ge-
rade ungern, sind nicht begeistert für die Aufnahmebedingungen,
welche ihnen jetzt die russische Regierung bietet, bedenken sich
sehr, aus dem civilisirten Preußen nach Rußland überzusiedeln,
kurz, sie bleiben im Lande.
* * #
— Die Briganten in Griechenland treiben auch nach
den bekannten Mordauftritten von Oropos ihr Franctireurwesen
lustig fort. Im September 1870 hat die Regierung zu Athen
eine Liste der ihr bekannten Raubmörder anfertigen lassen; sie ent-
hält mehr als 260 Namen; die Räuber hatten sich aber in ihren
Schlupfwinkeln verborgen, und die Zahl ihrer vertrauten An-
Erdtheilen.
Hänger war nicht gering. Dabei bemerkt der amtliche Bericht,
daß binnen kurzer Zeit sechs Personen geraubt und zwei andere
ermordet worden seien; außerdem hätten die Räuber einem
Manne Nase und Ohren abgeschnitten und noch einen andern
gegen Lösegeld freigelassen. In den Gefechten mit den Räubern
waren drei Soldaten und vier Bauern geblieben. Im Peloponnes
besteht die Bande des Kurkumba seit 1862, und sie hat
weite Verzweigungen.
— lieber die Alligatoren in Florida giebt ein Jagd-
liebhaber, welcher diesen Thieren seit einigen Jahren eifrig nach-
stellt und sie genau beobachtet hat, folgende Auskunft sin der
Decembernummer von „Lippicott's Magazine"): Das Weibchen
duldet nicht, daß das Männchen der Stelle, wohin es seine Eier
gelegt hat, nahe komme, denn er frißt sie sonst auf und Ma-
dame ist nicht geneigt, mit dem Eierlegen noch einmal von vorn
anzufangen. Falls er sich in die Nähe wagt, fährt sie wüthend
gegen ihn los, peitscht mit dem Schwanz auf ihn ein und jagt
ihn fort. Doch weiß er sich zu entschädigen, denn wenn die
Jungen auskriechen, lauert er ihnen auf und verschlingt alle,
deren er habhaft werden kann. — In Florida wurde.dem Jä-
ger nur ein einziger Fall bekannt, daß ein erwachsener Mann
von einem Alligator angegriffen worden sei; diese Ungeheuer
sehen es vorzugsweise auf Kinder ab. Als ein Mann durch
eine Fuhrt wollte, packte ein Alligator ihn am Beine, ließ jedoch
dasselbe los, als ein Hund ins Wasser sprang. In einem an-
dern Falle griff er ein Maulthier an, das vor einen Karren
gespannt war, schnappte aber fehl, denn er packte das Rad und
riß aus demselben zwei Speichen heraus; in einer derselben
brach er einen Zahn ab und machte sich dann so rasch als mög-
lich fort. Seine Lieblingsgerichte sind Hunde, kleine Neger und
Schweine; die elfteren scheinen sein Lieblingsfraß zu sein; sein
Wimmern gleicht dem der jungen Hunde, und ein noch nicht
abgerichteter Hund läßt sich leicht durch diese Locktöne irre füh-
ren. Aber ein richtiger Floridahund geht nicht geradezu nach
der Stelle, an welcher er trinken will, denn er weiß, wie gefähr-
lich das für ihn ist. Er stellt sich hin und bellt laut, um alle
Alligatoren der Gegend nach dem Punkte zu locken, an welchem
er sein Manöver macht, und wenn sie ankommen, läuft er in
aller Eile fort nach einer Stelle, die er nun als sicher erkannt
hat. In anderen Fällen kriecht er auf dem Bauche ganz leife
und vorsichtig, fchlappt das Wasser ein, ohne dabei das geringste
Geräusch zu machen, und schleicht auf dieselbe Weise wieder fort.
Auf dem Lande in Florida findet man in der Umgegend vieler
Wohnungen große Teiche, niedrige Stellen, die mit Wasser be-
deckt sind, und in jedem dieser „Swamps" halten sich Alligatoren
aüf. Eine Frau klagte dem Jäger: „Es thut mir sehr leid, daß
ein Fremder meinen Alligator getödtet hat. Er machte sich so
nützlich, weil er viele Schlangen, Frösche, junge Wildkatzen und
anderes derlei Ungeziefer verzehrte; er verdiente sich alfo ehrlich
fein Brot, und obendrein gingen die kleinen Kinder seinetwegen
nicht ans Wasser, in welchem sie hätten ertrinken können." —
Dem Alligator wird manche Missethat aufgebürdet, an welcher
er nicht schuld ist. Ein Dieb stiehlt ein Rind; — der Alligator
muß es gethan haben! Dieser hat seine Augen oben auf dem
Kopfe, und es nimmt sich eigenthümlich aus, wenn man sieht,
wie er schwimmt und nur ein Auge aus dem Wasser hervor-
ragt. Er schläft gern am Lande und sonnt sich; und dann
kann ein Dampfer ganz in der Nähe vorbeifahren, ohne daß
er sich auch nur rührt. Wenn er aber eine Kugel auf feinen
Panzer bekommt, wird er wach und wirft sich, so rasch er nur
kann, ins Wasser.
Inhalt: Aus dem Leben und Treiben des Kaffervolkes in Südost-Asrika. Mit vier Abbildungen. (Fortsetzung.) — Die
altgrönländische Religion und die religiösen Begriffe der heutigen Grönländer. Von I. Mestorf. (Schluß.) — In der perua-
nischen Küsten-Cordillere. (Fortsetzung.) — Wissenschaftliche Ergebnisse der Luftballonfahrten. Mit drei Tabellen. — Aus allen
Erdtheilen: Die halbcivilifirten Indianer in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. — Die Universität zu Cordova in der
argentinischen Republik. — Auswanderung der Mennoniten in Ost- und Westpreußen. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Brannschweig.
"8
M-
54^r- "nö
. jxy' ° yf /-.- 5WMvW^ 'lPhs>
Band XIX.
54
J! 6.
lit besonderer Jerücksirktigung äer Antkroyologie unä GtKnologie.
du
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
9J!fllr^ Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4Sgr. 1871.
Aus dem Leben und Treiben des Kaffervolkes in Südost-Afrika.
in.
Die Jsibaya und die Herden. — Das Melken des Viehes durch Männer. — Der Kaffer als Hirt und Viehtreiber. — Verzie-
rungen der Ochsen. — Die Kuh als Werthmesser. — Reiche Herdenbesitzer. — Ein kecker Viehdieb. •— Verkünstelung der
Hörner. — Sauere Milch als Hauptnahrungsmittel. — Der Ochs als Last- und als Reitthier.
Die Jsibaya gilt dem Kaffer für eine Art geheiligter
Stätte; bei manchen Stämmen ist es den Frauen auf das
Strengste verboten, diese Umzäunung zu betreten, und selbst
das Lieblingsweib eines Häuptlings würde eine Uebertretung
mit dem Tode zu büßen haben.
Den Tag über ist die Herde draußen auf der Weide und
wird dort von unverheiratheten Männern, „Jungen oder
Burschen", beaufsichtigt; Abends treibt man sie in die Um-
zäunuug, welche allemal geschlossen und gut bewacht wird.
Innerhalb derselben melkt man die Kühe, und diese Beschäf-
tigung ist eigentlich die einzige, welche dem Kaffer wahres
Vergnügen macht. Das Melken wird lediglich von Män-
nern besorgt. Etwa um 10 Uhr Morgens nimmt der Mann
das Michgesäß, welches von dem in Europa gebräuchlichen
ganz verschieden ist; man schnitzt dasselbe aus einem Klotze
und giebt ihm eine enge Oeffnnng. Unsere Illustration 1
zeigt, wie diese Milchgelte beschaffen ist; 17 Zoll lang, oben
4, unten 6 Zoll breit, der hohle Raum 14 Zoll tief, so
daß der Boden etwa 3 Zoll dick ist. Solch ein Gefäß kann
nicht viel Flüssigkeit aufnehmen, reicht aber vollkommen aus,
weil die Kafferkuh nicht so viel Milch giebt, wie eine gut-
genährte Bauernkuh bei uns. Das Aushöhlen des Klotzes
bewerkstelligt der Kaffer auf eine ganz sinnreiche Art. Er
steckt denselben in die Erde, so daß er feststeht, und kann
Globus XIX. Nr. 6. (März 1871.)
nun mit beiden Händen arbeiten; dabei befindet er sich in
sitzender Stellung, was er überhaupt immer thut, wenn es
irgend sein kann, z. B. auch wenn er der Gelte ihre äußere
Gestalt giebt und sie glättet.
Es ist für einen Europäer von Interesse, das Treiben
in der Jsibaya aufmerksam zu betrachten. Der melkende
Mann ist, bis aus einen sehr dürftigen Lendenschurz, völlig
unbekleidet, aber mit Strängen von Glasperlen behängt, die
sich ans seiner schwarzbraunen Haut scharf abheben. Sein
Kopfhaar ist in der Art abgeschoren, daß nur ein Kranz
stehen bleibt, und dieser zeigt, daß der Mann verheirathet
sei. Er sitzt niedergekauert und zwar so, daß sein Kinn fast
die Knie berührt, zwischen welchen er die mit zwei hervor-
stehenden Ohren versehene Gelte hält. Das Kalb giebt sich
alle Mühe, ihn zu verdrängen, wird aber von einem Knaben
zurückgezogen oder mit einem Stocke geschlagen. Ist die
Kuh unruhig und widerspenstig, dann hält ein Mann sie
mit der einen Hand am Hörne fest, während er mit der an-
dern den etwa anderthalb Fuß langen Stab bewegt, für wel-
chen man schon dem Kalbe die Löcher durch die Nase macht.
Die Kuh weiß aus Erfahrung, daß es ihr große Schmerzen
macht, wenn der Mann diesen Nasenstecken hin- und herdreht;
sie verhält sich deshalb in der Regel ganz fromm und wird
allemal schnell beruhigt, falls sie Miene macht, widerborstig
11
82
Aus dem Leben und Treiben des Kaffervolkes in Südost-Afrika.
zu sein. Sobald der Melker abtritt, wird das Kalb zuge-
lassen und darf eine Zeitlang saugen. Das zweite Melken
findet Abends statt.
Eigentümlich beim Kaffer ist es, daß er sich beim Mel-
ken niemals still verhält, sondern fast ohne Unterbrechung
eine Menge seltsamer Laute von sich giebt; diese hält er für
unbedingt nöthig bei der Arbeit. Auch in Europa haben
die Viehmägde und Knechte eine Art von „Kuhsprache",
aber sie hat mit der jenes Südafrikaners nichts gemein.
Dieser liebt überhaupt das Rufen, Schreien und Kreischen,
und das giebt er feiner Kuh zu hören; abwechselnd sagt er
ihr auch Schmeichelworte und pfeift laut. So gewöhnt sich
die Kuh von früh an, dieses Schreien und Pfeifen zu hören,
wenn sie gemolken wird, und deshalb können die weißen
Ansiedler nicht umhin, Kasferknechte zu verwenden; ein
Europäer ist gar nicht im Stande, jenes Schreien, Krei-
schen und Pfeifen hervorzubringen, und wenn dasselbe fehlt, ist
mit der Kuh nichts anzufangen.
Im Pfeifen sucht der Kas-
fer feinen Meister; er kann ver-
mittelst der Lippen allein ganz
außerordentliche Töne hervor-
bringen, und mit Hülfe feiner
Finger pfeift er so laut, daß
einem die Ohren gellen und
daß man solche Pfiffe, aus sehr
weiter Entfernung hören kann.
Er verfertigt sich aber auch
Pfeifen aus Knochen und El-
fenbein und bringt den Pfiff
in der Weise hervor, wie wir,
wenn wir in einen Schlüssel
blasen.
Die Häuptlinge legen gro-
ßen Werth auf zahlreiche Her-
den stattlicher Ochsen, jede ein-
zelne besteht aus Thieren von
einer und derselben Farbe. Aus
dem Ochsen weiß der Käffer
mehr zu machen, als irgend ein
anderer Sterblicher. Der schon
früher erwähnte Bauernanfüh-
rer Netief, welcher in einer
Schlacht gegen den Zulukönig
Dingaan fiel, war einst am
Hoflager jenes Tyrannen Zeuge
von mancherlei Festlichkeiten.
„Bei einem der Tänze, welche
Dingaan von feinen Kaffern aufführen ließ, bewegten sich
zwischen diesen nicht weniger als einhundertundsechsuud-
fiebeuzig Ochsen, alle ohne Horner und von einer-
lei Farbe. Vom Vorderkopfe, den Backen, den Schultern
und von der Kehle herab hängen lange Hautstreifen, welche
zu diesem Zweck ausgeschnitten werden, so lange die Thiere
noch Kälber sind. Diese Ochsen werden unter die Ba-
taillone der Krieger vertheilt und spielen dann beim Tanze eine
wichtige und eigentümliche Rolle, indem sie sich tanzend nebst
den Kriegern dem Könige nahen und dann, bevor sie in den
Kraal getrieben werden, vor ihm manövriren. Es ist geradezu
überraschend, daß sie so vortrefflich abgerichtet sind, denn
trotz allen Tumultes und Geschreies, unter welchen die Tänze
stattfinden, entsteht unter ihnen keine Unordnung und sie be-
halten ihren gemessenen Schritt."
„Dingaan zeigte mir seine, wie er sagte, kleinste Herde;
jedes Thier derselben hatte einen weißen Rücken. Zwei mei-
ner Leute nahmen eine Zählung vor, und dieselbe ergab 2424
1. Milchgelte. 2. Biergefäß. 3. Bierseiher.
5. Dichtgeflochtener Korb.
Häupter. Ich habe in Erfahrung gebracht, daß jede seiner
braunen und schwarzen Herden zwischen 3000 und 4000
Ochsen zählt."
Der Kasfer weiß sehr geschickt mit seinem Vieh nmzu-
gehen, und jedes Thier versteht, was irgend ein Schrei oder
Zuruf bedeuten soll. Die europäischen Soldaten haben es
häufig erfahren, wie ungemein schwierig es für sie ist, eine
Herde Kafferviehs fortzutreiben. Die Kaffern betrachten,
als eingefleischte Kuh- und Ochsendiebe, alle Thiere der wei-
ßen Leute gleichsam als ihr legitimes Eigenthum, und solche
Diebstähle haben dann Repressalien zur Folge; man hat
aber, wie gesagt, stets seine liebe Noth, solche Herde fortzu-
bringen , falls nicht etwa Kaffern aus eiuem befreundeten
Stamme dabei thätig sind.
Da, wo diese Halbnomaden noch nicht in nähere Berüh-
rnng mit den Ansiedlern getreten sind, hat gemünztes Geld
keinen Umlauf und die Kuh bildet den Werthmeffer.
Als ein großer Häuptling sich
erkundigte, wie viele Kühe die
Königin von England besitze,
und dann erfuhr, daß mancher
Unterthan einen größern Vieh-
stand halte als die Herrscherin,
verlor er vor dieser allen Re-
spect. Er bemerkte stolz, daß
er sein Vieh nach Tausenden
von Häuptern zähle und daß
keiner der ihm untergebenen
Häuptlinge es wagen werde,
so viele Kühe, Ochsen und
Kälber zu besitzen, als er sei-
nerseits; falls jedoch einer sich
so weit vergessen wolle, werde
er ihm alle Herden wegneh-
men und den seinigen einver-
leiben! Die Königin von Eng-
land werde wohl daran thnn,
in solcher Weise zu verfahren.
Die Kuh also ist Geld,
selbst die Frauen werden
nach diesem Werthmesser
abgeschätzt; ein Mädchen
ist so viel werth, wie acht
Kühe, ungefähr in derselben
Weise, wie bei uns 30 Silber-
groschen auf einen Thaler oder
10 auf einen halben Gulden
gehen. Bei uns Europäern
sind viele Leute habsüchtig auf Geld, bei den Kaffern da-
gegen auf Kühe, die ja auch so gut wie Geld sind, und
viele Fehden unter ihnen haben ihren Ursprung in unrecht-
mäßiger Aneignung des Viehs. Wenn die Europäer in den
Kriegen mit ihnen nachhaltigen Erfolg haben wollten, muß-
ten sie den Kaffern ans Leben, das heißt an die Kühe gehen.
General Blank zum Beispiel hatte einmal etwa 3000 Stück
eingebüßt; bald nachher trieb er seinerseits auf einmal mehr
als 5000 fort; der ganze Krieg drehete sich um Kühe. Unter
den obwaltenden Umständen konnte das gar nicht anders fein;
man mußte den Kaffern so zu sagen ihr Commissariat ab-
schneiden; hatte man ihre Kühe, so fehlte es den Kriegern
an Nahrungsmitteln, d. h. an Milch, welche bei ihnen unser
Brot ersetzt. Diese Praxis bewährte sich; sie kostete verhält-
nißmäßig wenig Blut; die Kasfern ließen mit sich reden,
wenn sie keine Kühe mehr hatten.
Ein Kaffer, der eine stattliche Herde sein nennt, hat unter
Seinesgleichen eine Stellung etwa wie bei uns ein Millionär
4. Wasserrohr.
Aus dem Leben und Treiben des Kaffervolkes in Südost-Afrika.
und ist im Stande, alle seine Wünsche zu befriedigen. Er
kann täglich Fleisch genießen und so viel saure Milch trin-
ken, wie ihm beliebt; er kann eine große Anzahl von Mäd-
chen kaufen, denn das Stück kostet ihm durchschnittlich acht
Kühe, und wenn es recht hübsch und prall ist, höchstens vier-
zehn. Er kann sich nach Herzenslust über und über mit
Rindsfett einreiben, hat Leder vollauf, um allerlei Geräth
daraus verfertigen zu lassen, und kann seine dunkelfarbige
Person mit einer Unzahl von Thierschwänzen zieren. Er
ist im Stande, den großen Mann zu spielen, und je mehr
seine Herde anwächst, um so höher steigt er auch in der all-
gemeinen Achtung. Er ist nun kein „Bursch" mehr, der
mit anderen „Jungen" in einer besondern Hütte wohnen
muß, sondern er ist Mann, scheert sein Haupt, der Haar-
kränz auf demselben zeigt, daß er Frauen besitzt und seine
eigene Wohnung hat. Er kauft eine Frau nach der andern,
bauet für jede eine Hütte, kann vielleicht auch seinen beson-
dern Kraal innehaben und ein Umnunzana, ein großer
Mann, werden, welchen die Bursche als Jnkosi, Häupt-
ling, begrüßen.
Was kann ein Kaffer sich mehr wünschen? Vielleicht
wächst überdies seine Herde so stark an, daß es ihm ange-
messen erscheint, junge, arme Leute um sich zu versammeln,
denn solche kommen gern zum Reichen, welcher sie auf seine
Kosten ernährt nnd ihnen in seinem Kraale Hütten giebt.
So bekommt er eine Leibwache und zugleich Hirten und Aus-
seher für sein Vieh. Er bedarf einer solchen Mannschaft,
denn auch in Afrika erweckt der Wohlstand großen Neid, und
die Herden müssen beschützt werden. In jedem Stamme
giebt es schlaue Viehdiebe, gegen deren List man auf der Hut
fein muß.
Einer der verwegensten und schlauesten Räuber war Du-
tulu, von dessen waghalsigen Thaten man vielerlei zu er-
zählen weiß. Gewöhnlich verübte er seine Streiche im Dun-
keln nach einem wohlangelegten Plane. Er vertheilte die
Rollen unter seinen Spießgesellen, und während er selber
mit einigen derselben die Eingänge zu den Hütten versperrte,
trieben andere das Vieh aus der Jsibaya fort. Wenn die
Insassen der Hütten aus dem engen und niedrigen Eingange
hervorkriechen wollten, wurden sie einer nach dem andern zu
Kaffervieh. Verkünstelung der Hörner.
Tode gespeert. So wurde ein Kraal ausgemordet, aber es
konnte sich ereignen, daß man in einem benachbarten Dorfe
Kunde von dem Vorgang erhielt und die Räuber verfolgte.
Man suchte ihre Spuren, aber Dutulu hatte die Vorsicht,
das gestohlene Vieh in der Art fortzutreiben, daß dergleichen
nicht mit Sicherheit zu erkennen waren.
Andere Stämme lernten ihm seine Schliche ab, und oft-
mals gerieth er selber in die größte Gefahr. Einst wurde
bei Nacht sein Kraal überfallen und der Feind lauerte vor
der Oessnung seiner Hütte auf, um ihn, sobald er zum Vor-
schein käme, mit der Hafsagaye zu durchbohren. Er aber
rollte seinen Ledermantel (Karoß) zusammen und steckte die-
sen aus dem Thürloch hervor. Seine Vermuthnng war
richtig; der Feind hielt das Lederbündel für den Mann, stach
nach jenem und dabei fand dieser Gelegenheit, zu entwischen.
Dann rief er seine Leute zusammen und vertrieb die Gegner.
Auch in seinen alten Tagen trat er noch keck und kühn aus,
und trieb zuweilen ganz allein ohne jeden Gehülfen eine An-
zahl Kühe fort; er ist hundertmal verfolgt worden, wußte
aber stets zu entkommen. Endlich jedoch bekam er sei-
nen Lohn. Ans seinem letzten Raubzuge wurde er durch
eine große Uebermacht iu die Flucht getrieben; da kein Wald
in der Nähe war, in welchem er hätte Schutz suchen können,
so sprang er in einen tiefen Morast, duckte sich tief und ver-
barg sich unter seinem Schilde. Die Gegner folgten ihm
nicht ins Wasser, warfen aber einen Speer nach dem andern
gegen ihn, und um nicht durchbohrt zu werden, mußte er in
seiner gefährlichen Lage verharren. Als ihm dieselbe uner-
träglich wurde, arbeitete er sich aus dem Morast hervor,
wollte durchbrechen, machte auch noch einige Feinde nieder,
fiel dann aber zu Boden und gab unter Hafsagayestichen sei-
nen Geist ans.
Der Kasser hängt, wie gesagt, mit ganzer Seele an sei-
nem Rindvieh, doch hindert ihn das nicht, dasselbe in einer
Art zu quälen, die uns abscheulich dünken muß. Er thut
es aber, damit das geliebte Vieh recht hübsch aussehen möge,
und darüber hat er seine eigenen Ansichten. Außerdem ist
es ja eine Erscheinung, welche wir überall bei den Wilden
beobachten können, daß sie sich nicht so viel aus physischem
Schmerze machen, wie die Weißen. Der Kaffer verziert
11*
84 Aus dem Leben und Treiben d
das Ohr der Kuh, indem er dasselbe zustutzt und durch Ein-
oder Ausschnitte demselben, verschiedene Gestalten giebt, zum
Beispiel jene eines tief ausgezackten Baumblattes. Er schnei-
det Streifen aus der lebendigen Haut, welche er in Stränge
zusammenflicht, welche dann vom Thiere herabhängen; auch
weiß er dicke Knoten und Knollen in und aus der Haut auf-
zutreiben. Es wurde schon früher gesagt, daß es für eine
große Zierde gilt, wenn von Kopf und Hals Hautlappen
herabhängen. Wenn er folcherlei Zierrath herstellt, fällt es
ihm gar nicht ein, daß er dadurch dem geliebten Thiere weh
thue.
Manche Stämme geben nichts auf Künsteleien, zu
welchen die Haut dienen muß, sind dagegen sinnreich in Be-
zug auf Verkünstelnng der Hörner und haben darin
eine große Geschicklichkeit. Wir Europäer wissen mit einem
Kuhhorne nichts anzufangen und lassen dasselbe so, wie der
liebe Gott es hat wachsen lassen. Der Kasser aber versteht
Kaffervolkes in Südost-Afrika.
es, der Kuh das eine Horn nach vorn, das andere nach hin-
ten überzubiegen; er richtet das eine kerzengerade in die Höhe,
das andere eben so gerade nach unten. Zuweilen befleißigt
er sich einer gewissen Symmetrie und biegt beide Hörner
gleichmäßig derart nach hinten über, daß die Spitzen die
Schultern berühren, oder er macht, daß die beiden Enden
oben an einander stoßen und einen Bogen über dem Kopfe
bilden. Manchmal sieht man Ochsen, an welchen die beiden
Hörner zusammengewachsen sind und in eine hohe Spitze
auslaufen. Diese Künstelei wird dadurch hervorgerufen, daß
man die Hörner, sobald sie bei den jungen Thieren hervor«
wachsen, nach und nach lang zieht und ihnen die gewünschte
Form giebt. Unsere Illustration giebt eine Vorstellung auch
von diesem seltsamen Kopfschmucke. Das Verfahren, wel-
ches die Kaffern beobachten, ist schon vor neunzig Jahren
von Le Vaillant beobachtet und beschrieben worden, insbe-
sondere auch jenes, vermittelst dessen sie die jungen Hörner
Heimkehr von
aus einander trennen, so daß das Thier deren vier bis acht
bekommt. Seitdem sie die Säge kennen, bedienen sie sich
derselben mit Geschicklichkeit. Die schäckige Kuh auf unserer
Illustration ist ein widerborstiges Thier, welches eben fromm
gemacht wird. Der eine Bursch hält sie an der Nase fest,
der andere hält das eine Hinterbein am Stricke und so muß
sie auf drei Beinen stehen, was ihr große Qual verursacht.
Sobald sie unruhig wird, giebt ihr der dritte Mann einen
derben Denkzettel mit dem Stocke. Diese Lection wird mehr-
mals wiederholt, und die Kuh ist dann fromm.
Der Kasfer nährt sich vorzugsweise von Milch, die er
oft mit Hirsemehl mischt, so daß sie einen Brei bildet. Süße
Milch gilt für unverdaulich; die frifche Milch wird aus der
Gelte in einen großen Korb gegossen, in welchem sich schon
sauere Milch befindet. Die Masse geräth bald in Gährung,
wird halbcousistent und ist nebenbei flüssig wie Molken. Diese
gießt man ab und sie wird von Erwachsenen und Kindern
teilt Raubzuge.
getrunken. Die dickere Masse heißt Amasi und bildet so
zu fageu das Brot der Kaffern. Europäern widersteht an-
fangs diese Speise, sie gewöhnen sich aber bald daran und
geuießeu sie lieber als die Milch in einer andern Gestalt;
sie schmeckt säuerlich und auch die Kinder der Weißen leckern
sehr nach dieser gesunden Nahrung.
Der Ochs wird uicht bloß als Zug- und Lastthier ver-
wandt, sondern auch zum Reiten benutzt. Einen Sattel
legt man ihm nicht aus; der Kasser balancirt auf dem scharf-
kantigen Rücken hin und her und lenkt das Thier vermittelst
des Nasensteckens, an dessen obern und untern Theil er einen
Strick befestigt hat. Ein eleganter Reiter ist er nun keines-
wegs, er schlenkert mit den Armen hin und her und bewegt
die Ellenbogen bei jedem Schritt und Tritt des Ochsen auf
und ab. Für den Europäer ist das Reiten auf diesen Thie-
ren unangenehm und beschwerlich. Unsere Illustration zeigt,
wie der Kaffer den Ochsen als Packthier und zum Reiten
Hermann Vambery:
verwendet. Der wohlbeleibte Häuptling kommt von einem
siegreichen Raubzuge gegen den Kraal eines Feindes zurück.
Er ist geschmückt, wie es einem Häuptling und Krieger zu-
kommt, und raucht, zufrieden über den Erfolg, seine Pfeife
Taback. Zum Reiten nimmt man gewöhnlich einen Ochsen,
welchem die Hörner abgesägt worden sind, damit der Reiter,
Drei afghanische Typen. 85
wenn er vornüber fällt, sich nicht an den Spitzen verwunde;
manchmal wählt man aber auch ein Thier, welchem beide
Hörner nach abwärts gebogen wurden, oder wo sie schlaff
an den Backen hinunter baumeln. Die Krieger im Hinter-
gründe treiben das erbeutete Vieh weg, nachdem sie den Kraal
in Brand gesteckt haben.
Drei afghanische Typen.
Der Afghanenherrscher Schir Ali Chan und sein Gefolge in Indien.
Durch meinen Freund und Landsmann, Dr. G. W. bilder, die einige Momente aus der wichtigen Begebenheit
Leitner, den bekannten Erforscher Dardistans und gegenwär- der Zusammenkunft Schir Ali Chan's, des gegenwärtigen
tigem Chef eines Collegs in Lahore, erhielt ich Original- Herrschers in Afghanistan, mit Earl of Mayo in Amballah
Kriegsminister. Schir Ali. Mehemmed Nur.
86 Nordamerikanische Stimmen ü
1869 darstellen. Es mögen daraus hier drei Typen dar-
gestellt werden.
Auf dem Bilde sitzt Schir Ali Chan in der Mitte;
hinter ihm befindet sich fein Vezir und sein erster Nathgeber
in militärischen Angelegenheiten, die eigentlichen Leiter jener
ganzen politischen Transaction. Der Vezir, Namens Me-
hemmed Nur, mit einem Turban bekleidet, soll mit tiefer
Einsicht begabt sein und Schir Ali, diesen Nachfolger Dost
Mohammed's, auch gänzlich beherrschen. Der militärische
Begleiter, ein höchst charakteristisches Gesicht zur Schau tra-
geud, läßt in jedem Zuge Spuren des afghanischen Hoch-
mnthes und militärischen Kastensinnes erkennen. Er lehnt
die linke Hand auf den Rücken seines Herrschers, was gar
nicht so wunderbar ist; pflegten sich doch sogar afghanische
Bauern mit dem verstorbenen Herrscher Dost Mohammed
Chan zu zanken und in heftigsten Wortstreit einzulassen, als
sie, um Gerechtigkeit zu erflehen, an den Stufen seines Thro-
nes erschienen.
Schir Ali zeigt in seinen Zügen einen Ausdruck von
Gelassenheit und Sanstmuth, stark untermischt mit den Spu-
ren, welche ewige Kämpfe und Sorgen in denselben zurück-
gelassen haben. Trotzdem daß er von Kindheit auf in Kampf
und Fehde, in Zank und Hader großgezogen worden, scheinen
doch die Zwistigkeiten in den letzten Jahren ihn am meisten
in Anspruch genommen zu haben. Einmal auf der Spitze
r Deutschland und Frankreich.
seines Glückes angelangt, stand er das andere Mal wieder,
seiner sämmtlichen Ländereien beraubt, au dem Rande des
Ruins seiner Größe. Daß er ein Herz voll edler Gefühle
besitzt, beweist am besten der Umstand, daß er seinen herbsten
Unglücksschlag in dem Verluste seines Sohnes fand, welcher
in der Schlacht bei Kedifch-baz neben Kelat-i-Ghilzi fiel.
Der arme Mann konnte von der Leiche seines Sohnes nur
mit Mühe entfernt werden. Drei Tage lang nahm er we-
der Speise noch Trank zu sich, und der Trübsinn, der das
Aergste befürchten ließ, wollte Monate lang nicht von ihm
weichen. Sein Anzug bildet das bunteste Gemisch von Na-
tionaltrachten. Sein Unterkleid ist streng afghanisch, das
Oberkleid heratisch, aber nach bocharischer Art mit Gallonen
verziert; das Schwert besitzt eine özbegische Form, während
seine Kopfbedeckung wie auch die seines Gefolges aus dem
turkomauischen kurzen Telpek (Pelzmütze) besteht. Diese
Kopfbedeckung ist die passendste für kriegerische Leute, ist we-
der schwer noch groß und verleiht dem Träger einen martia-
tischen Anblick.
Ohne unbescheiden sein zu wollen, wollen wir nur noch
die geehrten Leser darauf aufmerksam machen, daß dies die
ersten Bilder sind, welche von Mittelasiaten nach Original-
Photographien nach Europa gekommen sind.
H. Vambery.
Nordamerikanifche Stimmen ül
A. Die Stellung, welche man in England uns Deut-
schen gegenüber eingenommen hat, ist zum mindesten eine
zweideutige. Wir finden das ganze Benehmen der britischen
Regierung wie der meisten Tonangeber in der Londoner Presse
kleinlich, pfundsterling - einfältig und nicht einmal Pfennig-
klug. Dasselbe erregt überall im deutschen Volke Widerwil-
len und Abneigung gegen John Bull, dem doch nach und
nach viel von seinem vielgerühmten gesunden Menschenver-
stände abhanden gekommen ist; man bemerkt an ihm nichts
mehr von der einst gepriesenen „Erbweisheit ohne Gleichen".
Wir haben schon in einer frühern Nummer unserer Zeit-
schrist hervorgehoben, daß ihm der alte Geist abhanden ge-
kommen sei. „England slides downwards" ; es geht bergab
mit ihm, seitdem es seine alten Ueberlieferungen hat fallen
lassen.
Wir wollen an und für sich gegen das Profitmachen,
welches deu Engländern über Alles geht, nichts einwenden,
meinen aber, daß Ehrgefühl und Logik zwei Factoren
seien, welche gleichfalls ihre Berechtigung in sich tragen. In
England hat man beiden den Rücken zugewandt. Man war
„neutral", aber wie?
Da steht ein Abenteurer, ein eidbrüchiger Despot, an der
Spitze einer von ihm geknechteten Nation, die binnen achtzig
Jahren ein Dutzend verschiedene Regierungen und Regie-
ruugssormen ertragen und weggeworfen hat und unablässig
in Delirien hin und her taumelt. Der Abenteurer ist ein
systematischer Lügner, wie das Volk selber, welches vor ihm
sich beugt, unablässig in einem Ocean von Lügen schwimmt.
Jndeß, dieses Volk ist wankelmüthig; der Despot fängt an
zu begreifen, daß er ferner nicht auf sicheret Boden stehe;
er muß das Volk beschäftigen, der wilden Leidenschaft Nah-
rung geben, die Gährnngsstoffe nach außen hin ablenken.
>r Deutschland und Frankreich.
Deshalb setzt er zum dritten Male das lächerliche Gankel-
spiel einer allgemeinen Abstimmung in Scene, und das „Ple-
biscit" giebt ihm achthalb Millionen Stimmen. Die Geist-
lichkeit hat ja den Bauern verkündet, daß jener eidbrüchige
Abenteurer, welcher sich den Purpurmantel über die Schul-
ter geworfen, der „Netter und Heiland Frankreichs und der
Kirche" sei.
Der Abenteurer seinerseits ist den alten Ueberlieferungen
der Franzosen treu geblieben. Ihre Politik ist seit drei Jahr-
Hunderten eine Politik der Raubsucht. Mit nur weni-
gen Ausnahmen sind alle Kriege, von welchen Europa heim-
gesucht wurde, von Seiten Frankreichs angezettelt worden,
und jedesmal war es dabei aus Eroberung und Vergröße-
rung abgesehen. Der Abenteurer, welcher sich als einen
Hort des Friedens hingestellt, führte einen Krieg nach dem
andern und hielt ganz Europa in Spannung. Er löste
Nizza und Savoyen von Italien ab, nahm dem Kaiser von
Annam das cochinchinesische Gebiet, wollte sich zum Schutz-
Herrn des gesammten vormals spanischen Amerika aufwerfen,
zerrüttete Mexico, trachtete nach dem Besitze von Luxemburg
und Belgien, wollte die deutschen Rheinlande einverleiben und
begann unter den nichtigsten und frevelhaftesten Vorwänden
den Raubkrieg gegen Deutschland, um endlich „das enropäi-
sche Gleichgewicht" festzustellen!
Haben die „Neutralen", England voran, auch nur das
Mindeste gethau, dieses Raubattentat zu verhindern? Nun
sahen wir, wie dieser Terxes von der ^eine, der sich auf seine
Soldateska verließ, binnen wenigen Wochen zu Boden ge-
schlagen und ein Heer, welches sich für das beste und tapferste
der Welt hielt, in unfere Gefangenschaft abgeführt wurde.
Der Abenteurer sitzt in einem vergoldeten Käsich, und die
durch und durch corrumpirte Nation, die seiner würdig war,
Nordamerikanische Stimmen ü)
wie er derselben vollkommen würdig ist, überschüttet den
Abenteurer, vor welchem sie so lange hündisch im Staube
gekrochen, mit einer Fluth von Schmähungen. Aber die
Franzosen selber sind es, welche einen solchen Mann in einer
solchen Stellung möglich gemacht haben; sie waren in ihm
gleichsam Fleisch geworden. Als er den Krieg erklärte, jnbel-
ten sie ihm in wildem Taumel ihren Beifall zu, und wäre er
Sieger geblieben, kein Zweifel, sie würden eine Apotheose
für ihn veranstaltet und seine Willkürherrschaft, als corrum-
pirte Sklaven, die sie waren, mit Wonne ertragen haben.
Sie wären ja die grande Nation geblieben und er hätte sie
über und über vollgestopft mit Gloire. An hochtönenden
Lügen und Phrasen hätte auch kein Mangel sich verspüren
lassen, und was verlangt der civilisirte Durchschnittsfranzose
mehr? Nun aber ist das Glück dem Imperator abhold ge-
wesen und so treten sie denn ihn, der doch ihre eigentliche
Incarnation ist, mit lackirten Stiefeln, mit Ballschuhen und
mit Holzpantoffeln zu Boden; sie schmähen ihn und speien
ihn an. Mag sein, — aber sie sollten das Alles auch sich
selber thun.
Wer möchte Mitleid mit jenem verlogenen Abenteurer
oder seinem eben so durch und durch verlogenen Volke haben?
Der Dichter ist ein Prophet. Passen nicht buchstäblich die
Verse, welche Aeschylus in den Eumeniden (522 ff.) dem
Chor in den Mund legt, auf jenen Napoleon und seine Fran-
zosen?
„Wer in tollkühnem Trotz die Schranken sprengt
Und Alles wild umrüttelt ohne Fug und Recht,
Er muß wohl die Segel einziehn,
Wenn ihn des Sturmes Gewalt erfaßt.
Er ruft — kein Ohr hört ihn — aus dem Wirbelstrom,
Der wild ihn umfluthet.
Es lacht ein Gott ob des Mannes ttnmnth,
Sieht ihn in Mühn ungeahnten, schweren Kampfes
Ermatten, daß er nimmer die Höhen gewinnt.
Da bricht sein altes Glück in Trümmer
Endlich am Fels des Rechts; er sinkt.
Keiner beklagt und vermißt ihn!"
Ja, Posta vates. Das übermüthige Frankreich, wel-
chem das „conduire le monde" nicht aus dem Siuue zu
bringen war, welches wieder einmal einen längst geplanten
Raubkrieg gegen uns unternahm, es liegt in Trümmern.
Deutschland, das rühm- und siegreiche, will sich nun für alle
Zukunft gegen neue Raubüberfälle des zu Boden geworfenen
und racheschnaubenden Erbfeindes sicherstellen. Es hat da-
für ungeheure Opfer gebracht, es ist herausgefordert worden,
es hat sich gewehrt, es ist in seinem besten Rechte. Was
thut John Bull? Er klagt uns der Maßlosigkeit, des
Mangels an Großmnth an, er ballt ärgerlich die Faust,
weil wir einig und dadurch mächtig geworden sind; wir
bedrohen Europa, wir verrücken das Gleichgewicht, wir sind
danieder gedrückt durch feudale Zwangsherrschaft. John
Bull ist zu einem französirenden Sympathiemob geworden.
In seinem insular beschränkten Kopfe ist sein früherer com-
mon sense latent geworden. Daß der Mob auf den Lon-
doner Gassen den Pariser gentilhommes de la rue Beifall
ruft und — er, der Londoner Mob! — uns Deutsche als
rohe, erbarmungslose Barbaren hinstellt, berührt uns nicht
weiter, denn jenes Treiben ist absurd. Aber widerwärtig
erscheint die Heuchelei John Bull's. Er hat kein Wort des
Tadels für die, welche den Raubkrieg wollten, ihn ansingen
und die allein alle Schuld für das Unheil tragen, welches
sie heraufbeschworen. Seine Gier nach Prosit suchte er durch
eine Sentimentalität zu verdecken, die lächerlich erschiene,
wenn sie nicht so verächtlich wäre. Noch widerwärtiger ist
r Deutschland und Frankreich. 87
jedoch, wie er sich seiner Wohlthätigkeit gegen die ausgehun-
gerten Pariser rühmt. Die Waffenlieferungen haben ihm,
dem „Neutralen", viel Geld eingebracht; die Lieferungen an
Lebensmitteln haben neben der Wohlthätigkeit auch noch einen
andern Zweck. Seht, das sagt man den Franzosen, wir
springen Euch bei, wir senden Euch Butter und Fische, Käse
und Fleisch, Mehl und Kartoffeln. Nun werdet Ihr uns
doch nicht etwa den Handelsvertrag kündigen? Darin
liegt des Pudels Kern.
Auch in Nordamerika hat die Regierung eine seltsame
Neutralität uns gegenüber beobachtet. Bruder Jonathan ist
gleichfalls ein Mann des Profitmachens und in dieser Be-
ziehuug ein potenzirter John Bull; er hat noch viel weniger
Scrupel als dieser und berechnet schlauer. Also verkaufte
er an Waffen und Kriegsbedarf, was verfügbar war; der
biedere Präsident Grant ließ sein Kriegsministerium gewäh-
reu und stellte seinerseits den Schacher erst in der Mitte
Februars ein, als unsere deutschen Landsleute ihm mit Frac-
turschrift die Niederträchtigkeit einer solchen Art von „Neu-
tralität" klar machten. Naiv ist übrigens die Antwort eines
Aankee. Ein Deutscher machte ihm Vorwürfe wegen seiner
Waffenlieferung an die Franzosen. „Ereifern Sie sich doch
darüber nicht, die Waffen fallen ja doch den stets siegreichen
Deutschen in die Hände; ich liefere sie also eigentlich an Ihre
Landsleute, welche die Waare umsonst bekommen!"
Die deutsche Presse iu Nordamerika hat sich, ohne Aus-
nähme der Partei, seit Anbeginn des großen Krieges durch-
aus wacker und patriotisch gezeigt. Die Republikaner deut-
scher Nationalität sind nicht so gimpelhaft gewesen, der von
der Gasse aus improvisirteu französischen „Republik", welche
ja von vornherein ein Unding und ein Zerrbild ist, und deren
eigentlicher Repräsentant der aus Italien stammende semitische
Dictator Gambetta war, auch nur die Dauer eines Jahres
zuzutrauen. Sie ist ja tatsächlich ohnehin schon nach wenigen
Monaten wilder Willkür in Wasser zerronnen. Unsere Lands-
leute begreifen, daß dieser Kamps einen weltgeschichtlichen
Abschnitt bildet, daß durch ihn eine neue Eulturepoche eröffnet
wird, welche vorzugsweise durch das germanische Element ihr
Gepräge erhalten muß. Die deutsche Cultur wird be-
stimmend werden; die romanische Civilisation hat ihre
frühere Herrschaft eingebüßt, sie wird fernerhin nicht mehr
conduire le monde, sondern in die zweite Linie zurück-
treten.
Die eigentliche anglo-amerikanische Parteipresse, welche
weder das irische noch das teutonische „Votum" verletzen
wollte, lavirte, den großen Begebenheiten gegenüber, hin und
her und verwickelte sich in mancherlei, zum Theil komische
Widersprüche. Einzelne Blätter jedoch hatten sichere Fühl-
säden, z. B. der „Newyork Herald". Wir wollen zeigen,
wie er die Dinge auffaßt und daß er in mancher Beziehung
den richtigen Treffer hat. Auf keinen Fall verdient er den
Vorwurf, „franzosentoll" zu sein. Er macht den „Galliern"
ihren Standpunkt klar.
* *
„Frankreich," so schreibt der „Herald" (I.Februar), „ist
zermalmt, ist zu Boden geworfen worden. Es hat binnen
wenigen Monaten durch einen einzigen Feldzug härtere Ver-
luste und stärkere Demüthigungen erfahren, wie in allen
Kriegen der letztverflossenen zwei Jahrhuudete. Es giebt in
der Geschichte kaum ein anderes Beispiel von so arger Selbst-
bethörnng und einer so erstaunlichen Züchtigung dafür. Wie
Cleopatra, die Schlange vom Nil, durch ihre sirenenhaften
Schmeichelworte den Marcus Antonius zu Grunde richtete,
eben fo ist der Zauber, welchen der Rhein ausübt, Frank-
reichs Verderben. Im Juli zog Napoleon, in jener wahn-
88 Nordamerikanische Stimmen ül
witzigen Selbstbethörung, mit seiner Armee aus und verkün-
dete Eroberung und Glojre für die Franzosen, welchen er
den Rhein geben wollte. Paris jubelte ihm zu; die Heere
wurden geschlagen, die Pariser belagert, dem Hunger und
den Granaten preisgegeben, und nun ist die sogenannte Haupt-
stadt der Civilisation dem herausgeforderten Feinde überant-
wortet.
Ludwig Napoleon wollte keinen Hohenzoller aus dem
Throne Spaniens dulden. Hat es jemals einen so kahlen
nnd schalen Vorwand für eine so durch und durch verbreche-
rische Thorheit gegeben? Aber genau besehen, war es nicht
der Hohenzoller, es war der Rhein, wegen dessen Napo-
leon den Krieg begann; es ist Paris, es sind die Franzosen
gewesen, welche ihn zu demselben drängten. Da saß er so
stolz in den Tuilerien, dieser absolute Gebieter Frankreichs;
er thronte dort „kraft des Willens der souverainen Nation"
und galt für den Schiedsrichter über ganz Europa. Vier-
Malhunderttausend streitbare Soldaten konnte er ins Feld
stellen; diese hatten Chassepots und Kugelspritzen und hiel-
ten sich deshalb für unüberwindlich. Seine Zeughäuser und
Gießereien konnten jeden Bedarf befriedigen, seine Ostgrenze
starrte gleichsam von Festungen, seine Panzerslotte war fast
so stark wie jene Englands. Und da war obendrein die
grande Nation, welche nahezu vierzig Millionen Seelen zählt,
und da war auch das stolze, lebenslustige Paris, — das
Herz von Frankreich,, das Herz der Welt, wie es selber sagt.
Was konnte Deutschland gegen das Alles ausrichten? Frank-
reich wollte und mußte die Rheingrenze haben und ganz Pa-
ris rief im Siegestaumel: „Nach Berlin!"
Das war im Juli 1870. Und nun, Ende Januars
1871. — Wo ist Napoleon? — Was ist aus Paris, was
aus Frankreich geworden? Die „unnahbare, heilige Haupt-
stadt der Welt", — sie ist in der Gewalt der Deutschen; —
„die herrlichste Armee der Welt", — sie lebt noch, aber
diese weiland kaiserlichen Legionen sind gefangen in Deutsch-
laud; — die furchtbaren Grenzfestungen, sie sind in der Ge-
walt der Deutschen. Die eisergepanzerten Schisse konnten
gegen die deutsche Küste nichts ausrichten, denn alle Einfahr-
ten waren durch Höllenmaschinen unzugänglich gemacht. Und
die „erste Nation der Welt", die „große Nation", sie ist nun
demoralisirt, eingeschüchtert, niedergeschlagen, matt und er-
schöpft durch Niederlagen, Schläge und Verluste, die ihres
Gleichen nicht haben. Nun schmachtet sie nach Frieden;
nun wird sie doch genug haben vom Rhein? Von Wörth
an sahen wir bei Gravelotte, wo Bazaine 20,000 Mann
verlor, nachdem bei Wörth Mac Mahon in wilde Flucht
getrieben war, — bei Sedan, wo Mac Mahon's 'zweite
Armee sammt dem Kaiser gefangen wurden, eine ununter-
brochene Reihefolge von Niederlagen, die Uebergabe von Straß-
bürg und von Metz, die Capitulation von Paris.
Das waren die Folgen der vermessenen Selbst-
Uberhebung und Selbsttäuschung. Frankreich ist
durch sich selber zu Grunde gerichtet worden. Es
hat fruchtbaren Boden, gutes Klima, Eisenbahnen, Seeküsten
und industrielle Begabung, und so mag es sich wirthschast-
lich nach und nach wieder erholen können. Aber seine
tonangebende Rolle ist zu Ende; es ist nicht mehr
Schiedsrichter über Europa; die Deutschen haben
ihm einen Riegel vorgeschoben, und so wird es fortan
nicht mehr seine Grenznachbaren unablässig beunruhigen und
benachtheiligen können.
Die deutsche Volkssamilie ist nun eine Einheit ge-
worden. Das deutsche Kaiserreich ist viel mächtiger, als
Frankreich je gewesen. Deutschland hat nun die Stellung
errungen, welche Frankreich sich früher angemaßt, aber kein
Zweifel, — es wird seine Gewalt geltend machen
: Deutschland und Frankreich.
als ein Schirmer des europäischen Friedens, nicht,
wie jenes, als Störer des Friedens. Bismarck hat sein gro-
ßes Ziel erreicht; Deutschland steht einig da. Aber das
deutsche Volk ist nicht aggressiv und seine Heereseinrichtung
ist nicht auf den Angriff berechnet. Nun gewinnt Deutsch-
land seine Vertheidigungslinie wieder, die Vogesen mit ein-
geschlossen; es wird sie zu bewachen verstehen und die Frau-
zosen werden sich doppelt und dreifach besinnen, ehe sie wie-
der einen Angriff wagen.
Nun erst wird Frankreich wieder auf seine natürlichen
Grenzen angewiesen; das Rheinfieber wird ihm möglicher-
weise aus Leib und Knochen herausgefahren sein. Wenn
sein Volk verständig ist, so befleißigt es sich des Friedens
und entwickelt seine inneren Hilfsquellen. Eine neue Epoche
hat begonnen. Gleichviel ob Frankreich wieder Kaiserreich,
Königreich oder Republik wird, — es kann auf die Dauer
niemals wieder das Frankreich der Bonapartes, der Bonr-
bons oder der rothen Republik werden. Gegenwärtig ist es
in der Gewalt des Kaisers Wilhelm, nnd wir zollen An-
erkennuug der großartigen Auffassung des Grafen Bis-
marck, welcher den Franzosen so annehmbare Bedingungen
gestellt hat. Der deutsche Eroberer hätte die Bonapartes
oder die Bourbous zurückführen können, das stand in seiner
Macht, aber er läßt dem Volke freie Wahl; es darf eine
Nationalversammlung wählen und es kann sich selber die
Regierungsform geben, welche es für ersprießlich hält.
Die Deutschen haben einen Beweis von Klugheit und
Mäßigung gegeben, indem sie die Besatzung von Paris nur
entwaffneten und dieselbe nicht gefangen abführten. Wie sehr
sticht diese Mäßigung der Deutschen vor Paris ab gegen
das Verfahren, welches der erste Napoleon in Berlin, Wien
und anderen Hauptstädten beobachtete! Die Deutschen zei-
gen sich versöhnlich, und wenn die Franzosen Verstand haben,
so müssen sie das anerkennen und dann auch die Rothen zum
Schweigen bringen.
Frankreich wird ferner nicht im Stande sein, Deutsch-
land zu überfallen, denn es ist nun vom Rhein hinwegge-
schoben worden und weiß auch, daß es nicht auf eine Zer-
splitterung und Verkleinerung Deutschlands rechnen darf,
daß es vielmehr dessen Einheit respectiren muß. Hoffentlich
hat das letztere im Verlaufe des nächsten Vierteljahrhunderts
an den Franzosen ruhige Nachbaren. Bevor England mit
Napoleon ein „herzliches Einverständniß" schloß, riefen die
Franzosen i Rache für Waterloo! Sie werden nun wohl
um Rache schreien für Wörth, Sedan, Metz, Straßburg,
Paris :c. Bis auf Weiteres jedoch haben sie viele Schäden
auszubessern und viel Versäumtes nachzuholen; bei ihnen ist
Raum in Fülle für Reformen, namentlich in Betreff der
Volksbildung.
Das deutsche Reich bildet in seiner gewaltigen Macht
eine unantastbare Schranke. Die Politik der europäischen
Diplomaten wird künftig eine friedliche sein müssen, nicht
mehr dictatorisch, wie bisher jene Frankreichs, sondern in
Bezug auf die gegenseitige Stellung der Völker und Staaten
conservativ. Raub- und Eroberungskriege haben nun keine
Aussicht auf Erfolg. Frankreich hat eine derbe, wohlver-
diente Lehre erhalten; möge es für sich Nutzen aus derselben
ziehen.
Das neue Deutschland, wie es nun da steht, ist die stärkste
Macht in Europa, welche, falls sie wollte, allen ihren Nach-
baren Gesetze dictiren könnte. Es hat sich klar herausgestellt,
daß die Deutschen die kriegstüchtigste Nation sind,
aber wer ehrlich ist und die Wahrheit sagen will, muß zu-
geben, daß sie auch das friedlichste und verständigste
Volk Europas bilden. Getheilt waren sie Frankreichs Spiel-
ball und wurden von ihm beraubt. Ludwig Napoleon glaubte
Zur Beurtheilung eines
schlau zu Versahren, als er aus der Getrenntheit Vortheil zu
ziehen gedachte; aber er verrechnete sich und beförderte im
Nu die Einheit wider seinen Willen. Der Krieg kann unter
Umständen größern Nutzen bringen als der Frieden, und das
tropischen Klimas. 89
ist diesmal für Deutschland der Fall gewesen. Er hat den
Deutschen die so uothweudige und langersehnte Einheit ge-
bracht, und diese wird für Deutschland selber wie für ganz
Europa die wohltätigsten Folgen haben."
Zur Beurtheilung ei
Ueber wenige Dinge herrschen so unklare Vorstellungen,
als über das tropische Klima, und dies ist natürlich genug,
da die Wissenschaft noch keine festen Prindpien hat nieder-
legen können, seinen schädlichen Einfluß zu beurtheilen, und
die bei den einzelnen Localitäten dafür vorwaltenden Gründe
gegenseitig abzuschätzen. Im Allgemeinen steht es fest, daß
jede Menschenrace ihre volle Gesundheit nur innerhalb
desjenigen Klimas, für das die Natur sie geschasseu hat,
bewahren kann, und daß der Europäer in Afrika bis zur
Acclimatisatiou (soweit eine solche möglich ist) ebenso krän-
keln wird, als der nach dem Norden versetzte Neger, oder der
Serrano an der peruanischen Küste am Fieber, der Küsten-Jn-
dianer aus der Sierra an Brustkraukheiteu zu Grunde geht.
Für Manchen liegt das Ungesunde des Klimas vorwie-
gend in der Hitze, während die Temperatur doch nur Eins
der im Klima mitwirkenden Agentien ist, und der Gesammt-
essect des Klimas sich in weit complicirterer Weise aus einer
Menge von Factoren zusammensetzt. Das Tödtliche des
afrikanischen Klimas für den Europäer ist wahrscheinlich
der Hauptsache nach in der verschiedenen Vertheilung der
Luftelektricität zu suchen, und dem daraus folgenden Mangel
des,kfür jenen normalen, Reizes, der in der Heimath dessel-
ben die Haut beständig durch die Umgebung und die Lungen-
vesikel mit jedem Athemzuge trifft.
Besonders eingehend ist das Klima der Tropen in den-
jenigen Gegenden studirt worden, wo sich europäische Nieder-
lassungen in demselben finden, also Aerzte und sonst wissen-
schaftlich gebildete Männer Gelegenheit zu Beobachtungen
hatten, vor Allem deshalb in den beiden Indien. Im östlichen
wurde man zunächst auf die Malaria aufmerksam, d. h.
die Ausdünstungen der Dschengelwälder, die von den Ein-
geborenen selbst gefürchtet werden, und die sich am schädlich-
sten bei gleichzeitiger Feuchtigkeit zeigen, vorzugsweise am
Anfang und am Ende der Regenzeit, wenn der durchhitzte
Boden zuerst wieder Nässe empfängt oder wenn er die letzten
Reste derselben durch Austrocknen abgiebt. Zugleich trat
der bedeutende Unterschied hervor zwischen den Niederungen,
den tiefen, am Ufer des Meeres, außerdem auch vielleicht an
dem Delta der Flüsse gelegenen Strichen und den höheren
Berggegenden, in deren reinerer Luft man deshalb auch die
„Sauitarieu" von Kotagherry, Utacamand, Simla n. f. w.
anlegte, obwohl nicht die Höhe allein einen Ort schon gesund
macht, wie sich z. V. in Seringapatam, das trotz der Erhe-
bnng ungesund ist, zeigt.
Es folgt aus der Natur der Sache, daß die anfänglichen
Colonien der Europäer vielfach in den ungesundesten
Localitäten begründet wurden, und zum Thal auch jetzt
noch solcher nicht entrathen können, denn da ihr Zweck der
Handel, also Nähe des Meeres unumgänglich ist, sind
sie auf die diesem benachbarten Punkte hingewiesen, also mit
wenigen Ausnahmen auf tief gelegene Länder. Man
ist allmälig auf manche Vorsichtsmaßregeln aufmerksam ge-
worden. Indem man Batavia, so lange das weite „Grab
der Europäer", eine kleine Strecke zurück auf bereits sich er-
Globus XIX.Nr. 6. (März 1871.)
?s tropischen Klimas.
hebenden Grund verlegte, hat sich der Gesundheitszustand
dort seit Anfang dieses Jahrhunderts bedeutend gebessert,
und überhaupt wird jeder Platz durch längere Besiedelung
gesunder werden, da mit der Dauer derselben die Dschengel-
pflanzen mehr und mehr ausgerottet und ihr Nachwachsen
verhindert wird, wogegen die Malaria^) besonders dann
gefährlich wird, wenn der Boden wieder sich selbst überlassen
verwildert, wie in Ahmedabad. Die englischen Aerzte spre-
chen von einem „Haftender Malaria an der Belaubung der
Bäume", und es tritt jedenfalls mit Ausrodung der
Wälder in der dann ossnern Gegend eine Besserung des
Gesundheitszustandes ein, während das Ansroden noch
stattfindet dagegen eine Verschlechterung, da dann dem
aufgewühlten Boden die Miasmen in voller Kraft entströ-
men. Aus unrichtiger Deutung dieser Beobachtung hat
sich ein sonderbares Mißverständniß in Bezug aus die Ge-
geudeu des Reisbaues gebildet, und wegen des ungesunden
Charakters, den man denselben glaubte beilegen zu müssen,
ist den Jndicrn selbst der Rath gegeben worden, statt Reis
doch lieber Korn oder Mais zu bauen, während der Reis
(mit Ausnahme des Hügelreis) eben große Nässe verlangt,
und diese Nässe selbst die Möglichkeit eines andern Anbaues
ausschließt. Insofern der Reis hohe Feuchtigkeitsgrade für
seine Cultur voraussetzt, wächst er allerdings in Gegenden,
die als ungesunde zu bezeichnen sind, insofern er indessen
dort jetzt angepflanzt werden kann, müssen dieselben fiir ver-
hältnißmäßig gesunder gelten, als damals, ehe noch die sie
früher bedeckenden Wälder für Culturzwecke gelichtet waren.
Um das besondere Klima eines Ortes und seinen Effect
zu beurtheilen, kommen nun noch verschiedene andere Gesichts-
punkte in Betracht, die von der geographischen Lagerung
abhängen: ob die Regenzeit mit den östlichen oder westlichen
Winden (je nach dem Streichen der Bergketten) eintritt, ob
sie darnach mit dem Sommer oder Winter zusammenfällt,
ob, wenn periodische Flußüberschwemmungen stattfinden, das
Zurücktreten derselben in die Dauer der größten Hitze
fällt u. s. w. Das letztere ist z. B. bei Calcutta der Fall,
und das Ungesunde seines Klimas wird noch dadurch ver-
mehrt, daß die östlichen Winde über die Sanderbands hin-
streichen, sich also mit den Miasmen dieser undurchdringlichen
Dschengelwälder schwängern. Ueberhaupt können alle Plätze
rings der eingeschlossenen Bucht von Bengalen, als frischer
Luftströmungen entbehrend, zu den mehr oder weniger nnge-
snnden gerechnet werden, obwohl die früher unverdienter-
maßen verrufenen an der hinterindischen Küste jedenfalls nicht
mehr (zum Theil weniger), als die gegenüberliegenden.
Sehr viel ist in letzter Zeit über das Klima Saigongs
gesprochen worden, eines Platzes, der allerdings nicht zu den
gesundesten aus der Erde gehört, der aber jedenfalls weit
*) Malaria is lessened by cultivation (nach Morehead), increased
when lands have been deserted and allowed to run waste, UUd
so hat die europäische Occupatio» eines Tropenplatzes auch immer
dazu beigetragen, seinen Gesundheitszustand zu verbessern, wogegen
erste Ausiedlungen verderblich zu sein pflegten.
12
90 Zur Beurtheilung ei
besser ist, als sein Ruf.- Das Klima Saigongs wurde kürz-
lich in einer Broschüre berührt, die auch im „Globus" eine
freundliche Beachtung erhalten hat, welche indeß, weil sie die
deutschen Interessen in Ostasien als ihr Ziel betrachtete, und
die Saigongsrage nur nachträglich in Beobachtung nahm, sich
auf Anführung einiger Autoritäten beschränkte, ohne eine
selbständige Ansicht auszusprechen. Käme es darauf an,
so würde nichts leichter sein, als die Sache Saigongs in ein
gutes Licht zu setzen. Allerdings liegt Saigong in den Tro-
pen, allerdings liegt es in einer Niederung, allerdings im
Delta eines Flusses, und es theilt also alle Nachtheile, die
den Tropengegenden im Allgemeinen und denen der Niede-
rnngen sowie der Delta-Länder noch im Besonderen znkom-
men. Aber unter den durch sonstige geographische Lage
Saigon gleichgestellten Orten ist jenes durch vielerlei Vorzüge
begünstigt, indem es bereits von den frischen Passaten des
großen Oceans prositirt und die lleberfluthuugeu des Mek-
hong unter den vorteilhaftesten Verhältnissen verlaufen,
weil in dem großen See Kambodias ein natürliches Abzugs-
becken findend, wie es Moeris für Aegypten herstellen wollte.
Die schon seit Jahrhunderten (seit Verlegung der kambodi-
schen Hauptstadt) angebaute Umgebung Saigongs ist in
weite Reisfelder verwandelt, ähnlich der Bangkoks, einer
Stadt, deren günstiger Gesundheitszustand durch Dr. Brad-
ley's langjährige Beobachtungen und Anderer genugsam be-
kannt ist, obwohl sie in der innersten Ecke der siamesischen
Bucht gelegen, von einer weit dichtern Luftatmosphäre um-
geben ist, als das dem vorspringenden Cap St. James ge-
näherte Saigong. Die relativen Vorzüge *) des cochinchinesi-
schen Klimas sind früher auch stets anerkannt worden, von
Köster und White bis auf Bissachsre, Crawfurd und seine
Nachfolger, und bei einiger Ueberleguug erklärt es sich leicht,
warum Saigong neuerdings zu so unverdientem schlechten
Ruf gelangt ist. Als die Franzosen, die damals durchaus
keine realen Interessen in Ostasien zu vertreten hatten, ihren
zwecklos durch Missionsstreitigkeiten angeregten Krieg mit
Annam beendeten und Saigong besetzten, wollte sich Niemand
recht mit dieser neuen Besitzung befreunden, weder die Steuer-
zahler in der Heimath, noch die nach diesem für französische
Lebenslust sehr langweiligen Winkel der Erde geschickten
Beamten. Mit Ausnahme einiger von der kaiserlichen Ne-
gierung besoldeten Schreibern machte deshalb Jeder gern
seinem Unmuth über diese lästige Bürde durch Klagen Luft,
und da die Engländer sich gleichfalls bemühten, Saigon, das
sie nur ungern in fremden Händen sahen, als saure Trau-
ben zu verschreien, so kamen die Angriffe von allen Sei-
ten, von Freund und Feind, ohne daß Jemand besonderes
Interesse darin hätte finden können, sich zum Vertheidiger
dieses Prügeljuden aufzuwerfen. Dazn kam, daß die Ver-
luste der Franzosen bei der Belagerung Saigongs allerdings
ganz enorme gewesen waren, und die Länge der Todten-
listen einen bleibenden Eindruck zurücklassen mußte. Die
außergewöhnlichen Verhältnisse bei einem Feldzuge in einem
vorher nicht besetzten Lande können indeß nicht als Maß-
st ab dienen, denn in ähnlicher Weise litten die Engländer
auf das Entsetzlichste im birmanischen Kriege, wo bei Ran-
gnn campirende Regimenter 260 pr. Mille verloren, ohne
daß deshalb dem Klima Ranguns ein specieller Vorwurf zu
*) Es ist zu beachten (sagt Mühry), daß das ganze Gebiet öst-
lich vom 120° östl. L., wenn durch diesen Meridian geschieden,
eine große Umwandlung zur Salubrität zeigt, einbegriffen Siam,
Cochinchina, der indische Archipel (außer Sumatra, Java, Timor:c.),
die Philippinen (weniger Süd-China). — Im Jahre 1856 fanden
die (englischen) Schiffe, die längs der Küsten von Cambodja und
Cochinchina segelten, aus diesen zwar ebenfalls Malaria, aber milder
in ihren Wirkungen (C. Friedel).
!s tropischen Klimas.
machen wäre, da es sich vielmehr seitdem als ein unter den
Tropen besonders erträgliches erwiesen hat. In
Saigong trug die genüge Vertrautheit der französischen Ma-
rineärzte mit den Tropenkrankheiten (besonders den ostindi-
schen) dazu bei, das Klima Saigongs in Verruf zu bringen,
indem sie verschiedene in den dortigen Breitengraden ganz
gewöhnliche Krankheitserscheinungen durch seltsame Beschrei-
bungen ansstafsirten und mit schreckbaren Namen belegten.
Professor Hartmann machte in einer Sitzung der geogra-
phischen Gesellschaft in Berlin darüber einige interessante
Mittheilungen. Die französischen Soldaten sind überhaupt
wenig geeignet, die Garnison einer Tropenstation zu bilden,
mehr wie das Klima tobtet sie l'ennui *), wieThsveuot bemerkt,
und da Frankreich in der ersten Zeit seiner Besetzung eine
ungewöhnlich starke Besatzung in Saigong zu unterhalten
hatte, erklärt sich leicht, daß statistische Aufnahmen ein sehr
ungünstiges Mortalitätsverhältniß zeigen würden. Das
Unbedenkliche des Saigong-Klima ergiebt sich am besten aus
der allgemeinen Stimmung, die über dasselbe in Ostasien
herrscht, indem man selten Jemand Anstand nehmen sieht,
Saigong zu besuchen, wogegen bei Plätzen wie Batavia, Cal-
cutta (wenigstens vom August bis November, wenn unter
der Malaria-Jntoxication stehend), Molmein u. s. w. oft
noch die Frage nach dem Klima aufgeworfen wird. — Auch
das Klima Saigongs ist keineswegs ein angenehmes,
da es eine Menge kleiner Unbequemlichkeiten mit sich
bringt, und den davon geplagten Europäer oft darüber stöh-
nen läßt. Dagegen schließt es kein direct tödtliches
Element aus endemischen Krankheitsursachen ein und wird
auch von Epidemien nur selten heimgesucht. Kurz zusani-
mengefaßt ließe sich das Urtheil über Saigong dahin ans-
sprechen, daß es als im Tropenklima gelegen, an allen all-
gemeinen Nachtheilen eines solchen natürlich participire, aber
von den oft noch besonders damit verknüpften frei fei. Da
nun ferner eine Flottenstation für richtige Erfüllung ihres
Zweckes wahrscheinlich immer in den Tropen, und
jedenfalls immer am Meere anzulegen wäre, so würde eine
Erwcrbnng Saigongs, wenn durch andere Umstände ermög-
licht, vortheilhaft zu nennen sein, da die meisten der beson-
ders Geld und Gesundheit kostenden Anlagen erster Begrün-
dung durch die Franzosen schon vollendet sind. Selbst die
aus den Niederungen und dem Flußdelta erwachsenden Nach-
theile sind in diesem Falle nicht so schlimm, wie sie a priori
scheinen möchten, indem uns noch der eigentliche Einblick in
den primus motor klimatischer Erkrankungen sehlt und aus
theoretischem Demonstrationseifer die traurigsten Fehlgriffe
gemacht werden mögen. Die Mortalität, die anfangs in
Hongkong**) und während der englischen Besetzung des Tschu-
san-Archipel wüthete, ist fast ohne Beispiel, obwohl es sich
in beiden Fällen nicht um Niederungen, fondern um hohe
Stationen, nicht um überschwemmte Flußufer, sondern um
trocknen Felsgrund handelt, und noch der vermeintliche Vor-
theil insularer Lage hinzukam. Alle diese Verhältnisse
sind bis jetzt noch wenig verstanden, die klimatischen Fragen
*) Ce qui tue les soldats, c'est l'ennui, et ce sont les exces,
qui en derivent, de mauvaise nourriture, le service trop penible
(am Senegal). Unter genügenden Vorsichtsmaßregeln läßt sich bei
kurzem Aufenthalte jedes Klima ertragen. Die Dienstzeit darf
deshalb nicht zu lang sein.
**) In Hongkong starben 21 Proc. europäischer Soldaten, 71/2
Proc. Hindu, 10 Proc. Civilpersonen. In Bedras betrug die
Sterblichkeit (1862 bis 1868) 35 Prvc., in Masulipatam 60 Proc.
Im Jahre 1821 betrugen die Ausnahmen im Hospital zu Madras
(aus einem Bestand von 9553 Mann) 17,429, also 182 Prvc.
(s. Annesley). — Von 800 Mann in Tschnsan wurden die Hälfte
dienstunfähig und 3 Monate nach der Ankunft waren nur noch 70
gesund.
In der peruanischen Küsten-Cordittere.
91
Ostasiens sowohl, wie (wenigstens in Deutschland) die com-
merciellen Interessen dort, und die oben erwähnte Broschüre
hatte nur beabsichtigt, die Aufmerksamkeit des Publicums
darauf hinzulenken bei einer durch die politischen Verhältnisse
gebotenen Gelegenheit. Nichtige Benutzung derselben darf
freilich erst dann erwartet werden, wenn die wiederholt wach-
gerufene Aufmerksamkeit sich mit dem ihr vorgehaltenen Ge-
genstand bereits vertraut gemacht hat. Augenblicklich ist die
allgemeine Stimmung noch nicht genügend vorbereitet, um
den engern Zusammenhang unserer politischen Interessen mit
außereuropäischen, mit denen des fernen Ostasiens heranszn-
fühlen, da ja selbst der eng gezogene Horizont unserer söge-
nannten Weltgeschichte noch immer 7/8 des Globus von sei-
ner Betrachtung ausschließt. Es bleibt deshalb Wünschens-
Werth, so oft ein Anlaß gegeben wird, derartige Fragen zu
erörtern, um (wenn auch zunächst kein praktischer Erfolg ge-
hofft werden darf), die bei denselben notwendigen Gesichts-
punkte zu geläufigen zu machen und dadurch allmälig ein
deutlicheres Verständniß anzubahnen. Schließlich sei noch
bemerkt, daß bei etwaigen Verhandlungen über Flottenstatio-
nen nur Ostasien in Frage kommen kann, wo es in Gegen-
den, die außerhalb des europäischen Völkerrechtes stehen, ma-
terielle Interessen von weiter Ausdehnung zu schützen giebt,
während sie in Amerika durch den diplomatischen Verkehr
mit gleichgestellten Regierungen gesichert sind und in Afrika
ebenso unnütz oder selbst hinderlich sein würden, wie An-
legung neuer Colonien, für welche die Zeit längst vorüber ist.
B.
I« der peruanischen Küsten-Cordillere.
iii.
Von Palca an begannen die Berge mächtig an Umfang
und Höhe zuzunehmen, wenn auch die höchsten Gipfel, welche
wir bis zum Jugenio sahen, nicht über 9000 bis 10,000
Fuß haben mochten. Wir ritten vorüber an einer Reihe
von Erdhäusern, vor denen braune Gestalten sich hier und
da um Feuer geschäftig zeigten. Es war ein Theil des Or-
tes Palca, den wir rasch passirt hatten. Die Nacht war in-
zwischen herabgesunken. Der Mond warf seine blassen Strah-
len aus einem hellen, lichten Himmel über die dunkeln Berg-
mauern, in deren Schatten zu unserer Rechten ein klares
Bergflüßchen bergunter rauschte, dessen Ufer eine dünne, aber
in dieser Oede recht vollkommene Vegetation von Sträuchern
und Gräsern umkränzte. Zweimal sahen wir die dunkeln
Umrisse eines Gebäudes in einiger Ferne vor uns und glaub-
ten jedes Mal, endlich am Ziele zu sein, bis wir beim Näher-
kommen gewahrten, daß es einsame Tambos seien; jene
Hütten im Gebirge, in denen der Reisende gegen ein Villi-
ges übernachtet und Futter für seine Thiere findet.
„Aber jetzt sind wir wirklich da! Sehen Sie dort das
Calamina-(Zinkblech-)Dach. Das muß der Jngenio sein!"
rief mir Otto zu. Ja, wir waren endlich da; erschöpft und
matt. Wir erblickten einen an den Fuß des breiten Cerro
(Berg) de Palca gelehnten kleinen Gebäudecomplex; er war
von einer niedrigen Mauer aus unbehauenen Steinen um-
schlössen, welchem sich die Umhegung, die zur Unterbringung
der Maulthiere und Llamas dient, anschloß. In der Mitte
der „Store", welcher, aus Zinkblechplatten erbaut, gegen
Erderschütterungen vollkommene Sicherheit bietet; links ein
weiß angestrichener niedriger Flügel von ihm auslaufend:
die Wohnung. Das Ganze lag so still und ruhig im hellen
Mondlichte da, während kein Laut, kein Lichtschimmer uns
die Anwesenheit von menschlichen Wesen verrieth, daß wir
die Bewohner des Jngenio im tiefen Schlafe glaubten. Auf
unsere Rufe erfolgte keine Antwort; selbst als ich mich der
bekannten Erkennungszeichen der Söhne Hamburgs bediente,
ließ sich nicht das Echo des Wortes „Hummel" hören. Un-
sere Thiere wollten um keinen Preis in die Umfriedigung
hineinreiten. Otto's Mula hielt sich dicht hinter meinem
Macho, und der war weder im Guten noch im Bösen zum
Vorwärtsgehen zu bewegen. Von meinen Liebkosungen nahm
er keine Notiz und auf Peitschenhiebe antwortete er mit Bocks-
sprüngen.
Als ich umherblickte, sah ich hinter der Steinwand zwei
Jndianergestalten auftauchen, welche mit großer Ruhe unsere
Anstrengungen beobachteten. Auf unsere Frage, ob M.,
unser Freund, zu Hause sei, folgte ein langgedehntes, apa-
thisches „Si, Seuor", ohne daß sich der Kopf, welcher diese
Worte aussprach, bewegte. Otto gab mir den Zügel seines
Thieres, stieg ab und ging auf die dunkeln Gestalten zu.
Gleich darauf kamen Beide hinter der Umfriedigung hervor
und gingen ins Hans, aus dem sie, von unserm Freunde M.
begleitet, zurückkehrten. Auch ich stieg jetzt ab, übergab M.
meinen Macho, der das widerstrebende Thier in den Corral
führte, wohin Otto's Mula von selbst folgte, als sie zuerst
ihren Begleiter hatte eintreten sehen. Jetzt erschien auch
M's. Theilhaber, ein alter biederer Indianer, und half nach
wenigen Begrüßungen zuerst für unsere Thiere sorgen, welche
abgezäumt und mit Futter versehen wurden. Da von dem
Zustande der Thiere die Weiterreise abhäugt, bilden sie die
erste Sorge des Reisenden, sobald er sein Absteigequartier
erreicht; erst wenn sie untergebracht sind, kann er an sich
selbst denken.
M. sagte uns, daß wir seinen Associ«, den alten In-
dianer, verbinden würden, wenn wir mit ihm eine Copita
Cognac auf seine Gesundheit tränken, und obgleich wir beide
uns in einem Zustande befanden, wo wir wenig Neigung
zu geistigen Getränken fühlten, folgten wir doch diesem Winke;
wir holten den Alten herein und stießen auf fein Wohl an.
Ich zwang diese Copita schon mit Widerstreben hinunter;
mich durchströmte ein unnennbares ahnungsvolles Gefühl,
und beim Scheine des Talglichtes gewahrte ich auf Otto's
Gesicht eine Leichenblässe. „Aber Sie sehen ja schreck-
lich elend aus!" hatte ich noch eben Zeit zu rufen, als ich
fühlte, daß ich selber noch viel elender aussehen müsse. Man
rief uns zum Essen und meinte, daß eine mit Aji (einer Art
rothen spanischen Pseffers) tüchtig durchwürzte Suppe mir
Wohlthun werde; aber kaum hatte ich wenige Löffel genossen,
als ich elend aufstehen mußte, hinauseilte und in der mond-
beglänzten Zaubernacht mit blassen Mienen den Geistern
des Gebirges ein Opfer brachte. Rasender Kopfschmerz und
ein quälender Reiz zum Erbrechen, der aus dem leeren Ma-
gen nur Galle hervorbrachte, waren die Symptome des So-
röche bei mir. M. stand hinter mir und betrachtete mit
großer Gelassenheit den Ausbruch des von ihm so wohl ge-
12*
92 In der peruaniscl
kannten Uebels. „Jetzt schnell eine Tasse Kaffee," meinte
er, „nichts Besseres giebt es, als eine Tasse Kaffee!" Ver-
tranensselig schluckte ich den braunen Trank hinunter, aber
er machte mich nur noch elender und revoltirte meinen Ma-
gen aufs Neue. Mit zerschlagenen Gliedern, unbeschreib-
lichen Gefühlen in Herz und Magen und peinigendem Kopf-
weh schlich ich mich auf mein Lager, welches ich diese Nacht
mit Otto theilen sollte.
Lange lag ich in unerquicklichem Halbschlummer da; kaum
aber schlief ich ein wenig fester, als der alte wohlbekannte
Schreckenston, das unterirdische Brummen und Rasseln mich
aufweckte. Ein heftiger Temblor (Erdstoß) kam ange-
rollt. Die Wände wankten und zitterten und unter der Erde
grollte es stark. Erschreckt sprang ich auf und eilte zur
Thür; sie war verschlossen. Aus dem Schrecken, der mich
gepackt hatte, fühlte ich mich in eine wahrhafte Wnth ver-
fetzt; ich eilte auf M. zu, der halb aufgerichtet im Bette lag,
und forderte ihm in wenig gewählten Worten den Schlüssel
ab. Der Erdstoß dauerte nur etwa zwanzig Secunden, doch
hatte mich der Schrecken wieder so krank gemacht, daß ich
in die kalte Gebirgsnacht hinausging und mich erst in der
frischen Luft erleichtert fühlte.
Morgens zu früher Stunde erwachte ich gestärkt und
wohl und ging hinüber zu dem klaren Bergflüßchen, aus des-
sen klaren Finthen ich mich erquickte. Wer wie die Ein-
wohner von Tacna aus das metallhaltige Wasser eines Flüß-
chens angewiesen ist, welches, ehe es in die Tropfsteine ge-
langt, zu manchem Bade benutzt wird, mag begreifen, wie
wohl mir der reine Quell mundete, und daß ich der Ver-
suchung nicht widerstehen konnte, Gesicht und Hände darin
zu baden; ein Bad, welches ich später zu bereuen Ursache
hatte.
Wir hatten lange auf unser Frühstück zu warten, und
als es endlich erschien, sielen wir wie die Wölfe darüber her.
Wir bestiegen unsere Thiere und ritten weiter in die Berge
hinein, deren Dimensionen von hier bis zur Portada immer
bedeutender wurden. Unser Ritt ging durch eine Bergland-
schast, welche sich wenig von der am vorigen Tage gesehenen
unterschied. Tola, harzige Sträucher, Cactus und Riedgras
waren die hauptsächlichen Repräsentanten der sich am Thal-
gründe immer nur spärlich zeigenden Flora. Hier und da
sahen wir Llamas, Futter suchend, an den Berghängen gra-
vitätisch einherschreiten. Nach längerm Ritte bergauf, bergab
gelangten wir in eine Sackgasse: es war ein enges, tiefes
Thal zwischen mächtigen Kegeln, die sich zu beiden Seiten
steil aufschrägten und das vor uns eine höhere und steilere
Wand verschloß, als wir bis dahin überschritten hatten. An
dem steil sich an ihr hinausschlängelnden Pfade kletterte ein
Trupp beladener Maulthiere im Schneckenzuge dahin, durch
das Glöckchen der sicher auf dem holperigen Wege dahin-
schreitenden Madrina geleitet. Wie oft ließen wir uns auch
jetzt durch die reine Luft dieser Breiten täuschen; wir brauch-
ten volle zehn Minuten, ehe wir den Rücken der Cuesta er-
reicht hatten, wo ein einsam stehendes, dünn belaubtes Bäum-
chen die Mitte bezeichnete. Jetzt erst, als wir in die Tiefe
hinunterblickten, aus der wir aufgestiegen waren, und sahen,
wie klein sich Menschen und Thiere des Zuges, der inzwischen
den Thalgrund erreicht hatte, ausnahmen, gewannen wir
einen Maßstab für die Höhe, die wir soeben erstiegen hatten.
Dort, wo wir hergekommen waren, senkten zur Linken
eine Anzahl einander ähnlich gestalteter, mächtiger, spitzge-
gipfelter Berge ihre breiten Rücken in die fchmale Straße
nieder; über ihnen, in weiter Ferne sah man die blaueu
gigantischen Massen der Cordillere von Tarata ragen. Von
ihnen bis zu den zur Rechten sich austhürmenden runden
Kuppen zog sich die Cuesta hin, auf deren Rücken wir stan-
i Küsten-Cordillere.
den. Vor uns aber stand in weitem Halbkreise eine Reihe
mächtiger brauner Gesellen, über deren zwei (einem im Osten
und dem andern in nordwestlicher Richtung) sich der hellere
Streifen eines ausgetretenen Pfades durch die dunkle Erd-
färbe zog. Es waren die refp. 14,000 und 15,000 Fuß
über dem Meeresspiegel liegenden Engpässe nach Cochabamba
und La Paz, welche in eine mit dürrem Riedgrase bewachsene
endlose Hochebene führen.
Aber leider gewahrten wir schon jetzt, daß wir von der
Majestät des ehrwürdigen, schneebedeckten Tacora nichts er-
blicken würden. Während hinter uns die Berge in einen
blauen, reinen Himmel ragten, lag das Gebirge vor uns in
Wolken gehüllt da, und was wir zuerst für das Rollen von
Erdstößen hielten, erkannten wir bald als den lange nicht
vernommenen Laut des Donners, der von einem weiter oben
sich entladenden Gewitter herrührte. Nachdem wir unsere
Thiere an dem Stamme des dünnen Bäumchens, das unsere
Höhe krönte, festgebunden hatten, zogen wir aus den Alforjas
Brot, Bier und eine Dose Sardinen, und setzten uns zu
ebener Erde zum Imbiß nieder. Ei, wie schmeckte das Früh-
stück auf 12,000 Fuß Höhe, in der Reactiou des eben Uber-
standenen Soroche! Eine majestätische Ruhe und Oede um-
gab uns; der Wind strich kühl herüber, und die mächtigen
Berghäupter, welche uns umgaben, sahen würdevoll ans uns
Pygmäen hernieder, die wir dort oben mit wahrem Berg-
steigerappetit schmausten.
Ein von Indianern geleiteter Llamatrupp stieg zu uns
hinan. Wir boten einem der braunen Burschen, der ähnlich
gekleidet war, wie die slovakischen Mausefallen - Verkäufer,
welche man bei uus keuut, ein Stück Brot, und er, der wohl
an nichts wie Kartoffeln und die anderen unzähligen Knollen-
früchte der Cordillere und höchstens ein Stückchen Charqui
(gesalzenes und getrocknetes Fleisch) gewöhnt sein mochte,
nahm es dankend an. Unser Frühstück war beendet; man
steckte eine frische Pfeife an und bestieg sein Thier. Ein
breiter, schöner, in den Rücken des Berges hineingeschnittener
Weg führte uns abwärts und gab uns zu erbaulichen Be-
trachtungen Anlaß. So gut wie diese Strecke müßte der
ganze Weg gehalten sein, wenn das zu seiner Erhaltung und
Verbesserung ausgesetzte Geld wirklich darauf verwandt würde,
anstatt von den Beamten unterschlagen zu sein.
Im Grunde vor uns lag ein Tambo, in dessen Corral
Llamatrupps ihre langen, steifen Hälse neugierig und miß-
trauisch-erstaunt reckten, von Alfalfablmdeln zehrten, würde-
voll einherstelzten oder mit langen Sprüngen hin- und her-
setzten. Wir passirten dies Etablissement und erreichten bald
nachher eine schwarze Felsenwand, an deren Fuß ein dem
Jngenio ähnliches, aus Ziukblechplatten zusammengefügtes
Gebäude sich zeigte; zu demselben führte ein natürliches Fel-
fenthor, welches demselben den Namen der „Portada" (von
Puerta, Thür) verschafft hat. Die quikeudeu Laute von eiser-
nen Schiebkarren, mit welchen sich Jndianergestalten dort
unten hin und her bewegten, tönten zu uns herauf, die ein-
zigen, welche hier die tiefe Stille unterbrachen. Wir befan-
den uns auf einer Anhöhe; da wo wir standen, hatten die
durchs Gebirge reisenden Indianer gerade einen jener Stein-
Haufen zu bilden angefangen, wie sie solche, obwohl dem
Namen nach römisch-katholische Christen, ihrem Hauptgotte
Viracocha errichten. Jeder Vorbeipassirende wirft einen
Stein dazu und spritzt die Coca, welche er gerade im Munde
hat, darauf, so daß bald ein mit grünen getrockneten Coca-
primchen übersäeter Steinhügel sich bildet. Was sich der
braune Sohn des Gebirges bei diesem Acte denkt, weiß ich
nicht. „Fragst Du ihn, so wird er Dir mit einem blödsin-
nigen Lächeln antworten, oder Dir eine schlau angelegte,
nichtssagende Erklärung geben/' Sie haben mancherlei Ge-
Aus alten
Heimnisse unter sich, diese gemißhandelten Cordillerenbewohner,
welche sie um keinen Preis verrathen, und gebrauchen oft
die Miene der Dummheit als den Deckmantel derselben. Es
ist kein Märchen, wenn man von vergrabenen Schätzen er-
zählt, die hier in der Erde vor den Augen der goldgierigen
Fremdlinge verborgen ruhen, deren Fundorte unter den In-
dianern bekannt sind, indeß nie von ihnen verrathen werden.
Der Abschiedsblick, den wir auf die uns umgebende stille,
majestätische Berglandschaft warfen, ließ uns im Grunde die
Zinkblechwände und Dächer der Portada und nicht weit da-
von den Eingang einer unter Wasser gesetzten, den Besitzern
dieses Etablissements gehörigen Mine sehen, während uns
die in das Gebirge hineinstreichenden dunkeln Wolkenschauer
die Aussicht auf den Tacora abschnitten, dessen weiße Schnee-
selder nur hier und da durch die Dunstmassen hindurchschim-
Merten.
Leider gestattete unsere Zeit nicht, noch weiter vorzudrin-
gen, und ich mußte mein Vorhaben, die Höhe des Engpasses
zu ersteigen, aufgeben; da unser Freund uns versicherte, daß
dies wenigstens zwei Stunden in Anspruch nehmen werde
und wir aus dem langsamen Vorwärtskommen einer berg-
anstrebenden Jndianergestalt auf die Wahrheit seiner Be-
hauptung schließen konnten.
Wir schlugen unsern Rückweg ein. Als wir die vor-
erwähnte Cuesta hinabstiegen, saß ich mit einem Male auf
dem Halse meines Maulthieres, uud indem ich, zur Erde
springend, ans dieser unhaltbaren Position mich befreite, rief
ich aus: „Nein, hier wird es aber zu steil! Ich kann nicht
weiter!" Die Sache war aber die, daß mein Maulthier
keinen Schwanzriemen hatte und der Sattel ihm beim Nie-
dersteigen auf den Hals gerutscht war. Ich befestigte den
Sattel mit einem Ende Strick, bis ich später im Jngenio
eine „Barticola" zur Rückreise geliehen bekam.
Mit der untergehenden Sonne langten wir, nicht zu sehr
Erdtheilen. 93
ermüdet, im Jngenio an, wo wir uns bald zur Ruhe be-
gaben.
Der nächste Morgen war für unsere Rückkehr bestimmt.
Wir machten einen Spaziergang mit M., auf welchem uns
derselbe verschiedene Arten nützlicher Cactus zeigte: eine,
deren Saft eine vortreffliche weiße Farbe zum Anstreichen
liefert, eine andere, welche eine erfrischende, limonadenähn-
liche Flüssigkeit enthielt. Wir trabten frisch davon. Es
war ein heißer Tag, und mein Gesicht wie meine Hände,
welche ich uuklugerweise oben mehrmals gewaschen, hatten
von der vereinigten Wirkung der Bergluft und der Sonne
viel zu leiden.
In einem engen Hohlwege begegneten wir der beladenen
Recna eines bolivianischen Kunden, der von Tacna zurück-
kehrte, und mnßen warten, bis dieselbe den durch sie ganz
gesperrten Weg passirt hatte. Den Eigentümer selbst nebst
seinem Sohne trafen wir eine Strecke darnach und begrüßten
Beide mit dem üblichen Händedruck.
Bergab ging es natürlich schneller als bergauf. Wir
beabsichtigten Beide, uns durch ein warmes Bad in den Ther-
men von Ealientes zu stärken, waren aber, ehe wir uns des-
sen versahen, vor dem Hotel in Pachia angelangt.
Mein guter Don Julian beschenkte mich zum Abschiede
mit zwei Flaschen vortrefflicher Apfelchicha (Chicha, das aus
Mais und Früchten bereitete Nationalgetränk der Bewohner
von Chile, Bolivien und Peru), die ich sehr gern trinke und
deshalb in meine Alforgas steckte, um sie in Tacna in Ruhe
zu leeren. Aber als ich meinem Pferde, das ich jetzt wieder
bestiegen hatte, die Sporen gab und dasselbe Galop ansetzte,
sagte es plötzlich „piff, Paff", zwei Korke flogen und die
schäumende Chicha (sprich Tschitscha) sauste mir ins Gesicht.
Um Mittag langten wir in Tacna an; ich „mit Blasen
auf den Händen und auf der Nase," roth wie ein gesottener
Krebs.
Aus allen
Aus dem nördlichen Pokarmeere.
Koldewey's Bericht über seine Expedition von 1668. — Dr.
Pansch über verlassene Eskimo-Dörfer in Ostgrönland.
Der langerwartete Bericht der Herren Koldewey und A.
Petermann über „die erste deutsche Nordpolar-Expe-
dition 1863" ist soeben als Ergänzungsheft Nr. 23 der „Mit-
theilungen" in Gotha bei I. Perthes erschienen. Alle, welche
sich sür die Fahrten nach dem hohen Norden interessiren, wer-
den diesen Bericht mit Genuß und Befriedigung lesen und sich
über den Muth, die Ausdauer und die praktische Tüchtigkeit
unserer Seeleute freuen. Dr. Petermann giebt in seinem Vor-
wort eine Uebersicht feiner vieljährigen Bemühungen, eine Ex-
pedition nach dem arktischen Meere ins Leben zu rufen, und
stellt die Gesichtspunkte fest, von welchen er dabei ausging. Die
Energie und Beharrlichkeit, womit er dabei zu Werke ging, ver-
dienen alle Anerkennung; sie haben wesentlich dazu beigetragen,
die Wissenschaft zu bereichern. — Capitän Koldewey erzählt
schlicht, einfach und doch anziehend; derselbe versetzt uns lebhaft
in die klimatischen Verhältnisse, in die Meeresströmungen, in
das Eis, dessen verschiedene Formen gekennzeichnet werden. Auch
der Thierwelt im Wasser und auf dem Lande wird Aufmerk-
samkeit zugewandt, und die Schilderung der Persönlichen Erleb-
nisse nimmt unsere Theilnahme in Anspruch.
Koldewey kam bei Spitzbergen bis 810 5' Nord. Sein Cours
Erdtheilen.
ist auf den beiden von Dr. Petermann bearbeiteten Karten sorg-
fältig eingetragen. Wir finden auf der einen derselben, welche
Küstenstrecken von West-Spitzbergen und Nordostland, — beide
werden durch die Hinlopen-Straße von einander getrennt —,
eine Menge von Oertlichkeiten mit deutschen Namen bezeichnet.
Zwischen der Wilhelms-Jnsel, deren südlichster Theil vom
79° N. durchschnitten wird, und dem Gestade von Westspitzber-
gen, liegt die Bismarck-Straße und in derselben die Roon-
Insel. Den Südpunkt der Wilhelms-Jnsel bildet Eap Raven-
stein; südöstlich und östlich vom Eap Ule, so benannt nach dem
getreuen Adjutanten der Bestrebungen Petermann's, liegen die
Inseln Peschel, Lange (wohl Henry L.), Dove, Ehren-
berg, Koner, Klöden, Kiepert und die Bastian-Inseln.
So sind jene Männer der Wissenschaft, welche Dr. Petermann's
Bestrebungen Vorschub leisteten, mit, wie einer derselben uns schrieb,
„sehr frostigen Domänen" beschenkt worden, so wie früher
einmal Alexander v. Humboldt mit dem berühmten Gletscher von
Elisha Kent Kane. „Frostig" mögen diese Regionen allerdings
sein, denn östlich von denselben zieht sich vomHochstetter-Glet-
scher in Westspitzbergen bis zum Rosenthal-Gletscher, an
welchem der Stenograph Herr Lindemann in Bremen nun ein
Eap besitzt, 2 bis 3 Fuß Eis, Ende August und Anfang Sep-
tember 1868, und westlich davon „dünnes Treibeis", dessen Ver-
breitung die Karte veranschaulicht. Dasselbe reicht bis zu der
Insel, welche man dem Großherzoge von Mecklenburg, „Friedrich
94 Aus allen
Franz", geschenkt hat. Eine andere hat der Großherzog von
Weimar, „Karl Alexander", bekommen. Eine Alexander-
Ziegler-Jnsel vermissen wir, und doch hat Ziegler sich für
Dr. Petermann's Bestrebungen so zu sagen mehr ins Zeug ge-
legt als sonst Jemand. Der Kasseler Politiker Oetker hat un-
weit vom Marie-Gletscher, welcher bis an die Augusta-Bai
herabreicht, ein Cap bekommen: westlich von demselben haben
Perthes und Berghaus jeder eine Insel erhalten, und so ist
denn nach Gebühr für manche Freunde und Beförderer der
arktischen Bestrebungen gesorgt worden. Wir wollen nicht ver-
gessen, daß auch Behm, der geistvolle und fleißige Herausgeber
des „Geographischen Jahrbuches", ein südwestlich vom Cap Oetker
liegendes, vom 21° W. durchschnittenes Eiland sein nennen
darf.
Es ist uns eine Art von Trost, daß wir auf den Karten
die Bezeichnungen mancher deutschen Notabilitäten finden; das
verstand sich bei einer deutschen Expedition von selber. Wenn
man auf den Weltkarten die ewigen Wellington-, .Victoria- :c.
liest, womit die Engländer den Erdball überschwemmt haben,
dann wird einem oft ärgerlich zu Muthe.
Wir sagen dem Capitän Koldewey unfern Dank für seinen
nterefsanten Bericht. Seine zweite Expedition, die in wis-
senschastlicher Beziehung ganz anders und mit großer Sorgsalt
ausgerüstet war, hat natürlich viel umfangreichere Ergebnisse ge-
bracht. Während der Verein in Bremen mit Eifer sich für die
Veröffentlichung derselben bemüht, sind die Gelehrten rüstig am
Werke, und wir können es nur loben, daß manche derselben
durch anziehende Episoden das größere Publicum erfreuen. So
lesen wir, daß jüngst der Zoolog Pansch in Kiel im dortigen
geographischen Verein Vorträge über die Fauna und Flora
Ostgrönlands gehalten hat. Für uns war es von besonderm
Interesse, was er über die von der Expedition untersuchten,
längst verlassenen Eskimo-Dörfer mitgetheilt hat. Wir
entnehmen darüber einem Berichte der „Allgemeinen Zeitung"
Folgendes.
„An sieben Stellen der von der Expedition durchforschten
Küste fanden sich die Spuren einer frühern Eskimo-Niederlafsung,
die von den Mitgliedern der Expedition genauer untersucht wur-
den. Es bietet diese kleine Eskimo-Colonie darum ein besonderes
Interesse, weil dieselbe schon seit sehr langer Zeit von den übrigen
Stammesgenossen getrennt gewesen sein muß, überhaupt wohl den
am weitesten nach Norden vorgeschobenen menschlichen
Wohnsitz auf dieser Ostküste darstellte. Eine Verbindung
nach Süden dürfte wenigstens schon seit Jahrhunderten wegen
der an der dortigen Küste vorhandenen Eismassen nicht möglich
gewesen sein. Ob die bis jetzt ja noch unbekannten Wasser- und
Bodenformationen des Innern es gestatteten, eine Communica-
tion mit den an der gegenüberliegenden Westküste lebenden zahl-
reichen Eskimos zu unterhalten, ist mindestens sehr fraglich.
Der Eskimo ist für seinen Unterhalt auf die Jagd der Wasser-
thiere vorzugsweise angewiesen, er kann sich also nicht lange weit
von der See entfernen. Die hier lebende kleine Eskimo-Colonie
war also wahrscheinlich ganz auf sich selbst beschränkt, und scheint,
endlich indemKampse mit den immer ungünstiger sich gestaltenden
Naturverhältnissen erlegen zu sein. Ein englisches Schiff, wel-
ches vor 40 Jahren hier an der Küste gewesen, hatte die Be-
wohner noch am Leben getroffen, doch dürfte wohl schon ein
Zeitraum von 25 bis 30 Jahren verflossen sein seit die letzten
Bewohner ihre Hütten verlassen haben oder ausgestorben sind.
Auf der Kohlen-, Shannon-, Pendulum-, Sabine-, Clavering-
Jnsel, auf dem Cap Broer Ruys und Franklin fand man kleine
Ansiedelungen, aus 2 bis 7 Winterhütten bestehend. Dieselben
zeigten sich nach vollkommen gleichem Plan angelegt; in einer
Breite von etwa 6 und einer Länge von 11 Fuß waren sie aus
aufeinander gelegten Steinen aufgeführt, deren Zwischenräume mit
Rasenstücken und Erde ausgefüllt ist. Die Höhe betrug höchstens
5 Fuß, die Decke war mit Treibholzstämmen gebildet, die quer-
über gelegt und mit Steinen, Rasen und Erde vollends dicht
gemacht waren. Weder das Dach noch die Wände haben irgend
eine Oessnung; als Eingang dient vielmehr ein etwa 10 Fuß
langer Tunnel, welcher unter einer der Umfassungsmauern hin-
durch in das Freie führt, aber nur iy2 Fuß breit und 2 Fuß
hoch ist. Da die Hütten immer auf einer stark geneigten Bo-
denfläche aufgeführt sind, so ist es möglich, diesem auf einem
tiefer liegenden Punkt ins Freie ausmündenden Tunnel, ob-
wohl er unterhalb der Vordermauer hindurchführt, noch eine
geneigte Sohle zu geben. Bei allen untersuchten Hütten
war dieser Ausgang nach Süden und gegen das Meer
gerichtet.
Diese engen, gegen Luft und Licht vollständig abgeschlosse-
nen Höhlen, bei welchen ein Fuchsbau als Modell gedient zu
haben scheint, mußten den ganzen Winter über für eine Familie
und deren Habe zum Aufenthalt dienen. Im Sommer dagegen
wohnten sie in Zelten, mit denen sie wanderten, wie die Rück-
sichten auf die Jagd, von der sie ausschließlich leben mußten,
dies geboten. Große Steine, die zur Befestigung dieser Zelte
gedient hatten und deshalb in Kreisen von 10 bis 12 Fuß
Durchmesser aufgesetzt waren, zeigten jetzt noch die Stellen an,
wo solche Sommerhütten gestanden. Uebrigens waren diese ehe-
maligen Wohnplätze leicht aus der Ferne schon zu erkennen an
der lebhastern Vegetation, welche die vielen rings um die Hüt-
ten ausgestreuten animalischen Ueberreste dort hervorgerufen hat-
ten, und die selbst jetzt nach so langer Zeit noch fortdauert.
Besonders aber zogen die zahlreich umherliegenden, schön ge-
bleichten, aus dem frischen Grün scharf sich hervorhebenden Thier-
knochen die Blicke auf sich, und lieferten willkommenen Fund
für die Sammlungen. Die in ziemlicher Anzahl aufgefundenen
Ueberreste von Geräthen, Waffen u. f. w. sind von sehr ein-
facher Arbeit, wie sie der Kulturstufe eines solchen nur aus we-
nigen Familien bestehenden, von aller Verbindung abgeschnitte-
nen Bevölkerungsbruchtheils entsprechen. Die Zähne und Kno-
chen der erlegten Thiere, das nur spärlich vorhandene Treib-
holz, Feuersteine und eine Schieferart lieferten Materia-
lien dazu.
Doch beweisen eben die um die Hütten angehäuften Kno-
chen, daß die Eskimos trotz ihrer einfachen Waffen den Kampf
mit dem Eisbären nicht scheuten. Ein noch aufgefundener Schlit-
ten war aus Treibholzstämmen angefertigt und hatte statt des
Eisenbeschlages glattgeschlisfene Knochen unter den Laufbäumen
befestigt. Es stand diesen Eskimos ja weder Eisen noch ein an-
deres Material zur Versügung. Ruder und Holzstücke, die un-
verkennbar als Bootsrippen gedient hatten, deuten an, daß sie
auch der in dem Norden Amerikas gebräuchlichen, aus Holzrip-
Pen und Fellen angefertigten Eskimo-Boote sich bedienten. Diese
bieten bekanntlich nur Raum für eine Person, die nur mit dem
Oberkörper aus dem wasserdicht den Leib umschließenden Fell-
verdeck hervorragt, sich aber dennoch mit diesem winzigen Fahr-
zeug auf das Meer hinauswagt und selbst den Walsisch angreist.
Die ziemlich zahlreich vorhandenen, aus großen Steinen
über der Erde aufgebauten, theilweise kunstreich gewölbten Grä-
ber enthielten vollständige Skelette, aber keine Waffen und nur
wenige sonstige Geräthe. Nach diesen Ueberresten waren die
Verstorbenen von beträchtlicherer Größe als gewöhnlich für die
Eskimos angenommen wird. Die Schädel deuten in ihrer gro-
ßen Seitenfläche und bedeutenden Weite des Jochbein-Bogens
auf eine starke Entwickelung der Kauwerkzeuge, welche ja auch
für ein Volk, das ausschließlich auf den Genuß von hartem
Fleisch angewiesen ist, gewiß sehr nothwendig war.
Daß schon eine geraume Reihe von Jahren seit dem Ver-
schwinden dieser kleinen Colonie verflossen sein mußte, dafür
zeugte auch die anfängliche völlige Furchtlosigkeit der hier
vorhandenen Thiere, welche offenbar den Menschen und die
von ihm drohenden Gefahren nicht kannten. Welches Ende diese
kleine Gemeinde genommen, ließ sich nicht mehr mit Bestimmt-
heit ermitteln. Wahrscheinlich mögen mehrere auf einander fol-
gende ungünstige Jahre, in denen die? Küste nicht eisfrei wurde,
den Ertrag der Jagd geschmälert haben, so daß Hunger eine
größere Anzahl der Mitglieder hinwegrasfte. Die letzt Ueber-
Aus allen
lebenden haben sich dann vielleicht unter Mitnehmen aller noch
brauchbaren Gerätschaften aufgemacht, um bessere Wohnplätze
aufzusuchen. Daß ihnen dies gelungen, ist nach den oben er-
wähnten Verhältnissen der umliegenden Region nicht sehr wahr-
scheinlich. Europäer würden, nach Dr. Pansch's Ausspruch, nicht
im Stande sein, ohne Hülse von außen auch nur einige Jahre
hindurch hier auszuhalten. Die Kürze des Sommers macht
jeden Anbau von Nahrungspflanzen unmöglich. Die anfänglich
so ergiebige Jagd würde bald aufhören, dies zu sein, wenn die
Thiere den Menschen und seine Feuerwaffen kennen gelernt.
Schon während der letzten Zeit des Aufenthalts der Expedition
waren sie scheu geworden."
Sidorow's Bericht über den Norden des europäischen
Rußlands.
Wir erwähnten vor einiger Zeit, daß Sidorow eine Er-
forschungsreise im Norden des europäischen Rußlands unternom-
men habe. Er hat über dieselbe einen Bericht erstattet, welcher
jüngst veröffentlicht worden ist. Die „Russische St. Petersburger
Zeitung" sagt:
Viele Einzelheiten des Berichts aus der Statistik und Ethno-
graphie unserer nördlichen Gouvernements sind von dem leben-
digsten Interesse. Wenn man von unserm europäischen Norden
zu sprechen beginnt, so malt sich die Phantasie sofort das un-
erfreulichste Bild aus: ewiges Eis an den Ufern des Oceans,
die Schwierigkeit der Kolonisation des murmanischen Ufers, die
ewig von Eis verschlossene Mündung des Petschora, von ande-
ren Flüssen schon gar nicht zu reden. Und wie ist es in der
That? Aus der unseren Besitzungen am nördlichen Eismeer
benachbarten Stadt Wadsöe gehen Schiffe mit Ladungen selbst
noch während des December und Januar, d. h. fast während
des ganzen Jahres, nach Europa. Die Vortheile solcher Schiff-
fahrt genießen unsere Nachbarn, die Norweger, während wir
unter dieselben Bedingungen gestellt, d. h. gleichfalls im Besitz
eines eissreien Hafens, bisher diefem Umstände gar keine Auf-
merkfamkeit zugewandt haben. Es ist vorgekommen, daß
die Norweger im März bei unserer Insel Nowaja
Semlja hin und her segelten, ins Karische Meer suh-
ren und bis zum Obischen Busen gelangten, während
sich bei uns die Meinung festgesetzt hat, daß die Schifffahrt in
jenen Gegenden des undurchdringlichen Eises wegen unmöglich
sei. Bei uns versichern noch immer Viele, daß die Mündung
der Petschora mit ewigem Eis bedeckt sei, inzwischen aber ent-
sendete die Petschora-Gesellschaft bereits Schiffe mit Holzladun-
gm nach England, Frankreich und selbst nach Kronstadt. Noch
vor Kurzem bezeichnete das „Journal des Domänen-Ministe-
riums" und der ehemalige Gouverneur von Archangel diejenigen
als Unwissende', welche auf die Möglichkeit und die Nützlichkeit
der Cultivirung des Walfischfanges im nördlichen Eismeer-
Hinweisen , inzwischen aber hat der Großfürst Alexei Alexandro-
witsch am 21. Juli 1870 in der Stadt Wadsöe am Ufer 30
Walfische gesehen, die von dem Norweger Foin in unseren Ge-
wässern gefangen waren, wobei es sich nach der Aussage des
Herrn Foin ergab, daß er von jedem verarbeiteten Walfisch eine
Reineinnahme von 3000 bis 5000 Rubel erziele. In einzelnen
einflußreichen Kreisen hat man noch jetzt die Ueberzeugung, daß
im archangelfchen Gouvernement nur der Ackerbau als Grund-
läge des Wohlergehens der Bewohner betrachtet werden könne;
inzwischen geht aus einem officiellen Bericht hervor, daß eine
Gesellschaft von 5 Norwegern 19 Tage lang durch die Gewin-
nung von Haifischsthran jeder 300 Rubel während 24
Stunden gewonnen. Andererseits bringt der Ackerbau nur eine
jährliche Reineinnahme von 6 Rubel auf die Seele, wyhrend
die Gesammtsumme der Abgaben jährlich 15 Rubel beträgt.
Der Walroßfang kann vielleicht nicht fo Vortheilhaft fein wie
die Gewinnung von Haififchthran, nichtsdestoweniger aber müßte
man demselben die Aufmerksamkeit zuwenden. Im vorigen Jahre
erarbeitete hiermit der norwegische Capitän Karlsen im Laufe
rdtheilen. 95
eines Monats im Karifchen Meere 900 Rubel auf jeden Arbeiter.
Auch andere Industriezweige lohnen gut. Im Jahre 1860 be-
fanden sich gegen 1000 norwegische Fahrzeuge in unserm Meere,
und die Menschen verdienten an unseren Küsten, nach einer osfi-
ciellen norwegischen Angabe, 135 Rubel per Mann nur durch
Fischfang; ihr ganzer Fang wird nach vollständiger Zuberei-
tung der Fische zum Verkauf officiell auf 1,700,000 Rubel ge-
schätzt. Für Personen, die unsere nördliche Kälte sürchten, kön-
nen wir folgende wunderbare Angaben des Berichts mittheilen:
In Finnmarken, im Norden Lapplands, waren im Winter 1867
auf 1868 außergewöhnlich starke Fröste, sie erreichten 15 Grad,
worauf vom 26. Januar schönes Wetter und heitere, sonnige
Tage folgten. Der norwegische Professor Kielau hat gedruckt
erklärt, daß er in der Nähe des Nordcaps Bienen ge-
sehen, um Neujahr Donner gehört habe, und daß das
Klima im nördlichen Norwegen weit wärmer und gesunder sei,
als in den inneren südlichen Theilen des Landes.
Nepotismus in Nordamerika.
Die „Newyork Sun" giebt als Beleg sür das, was sie
(beiläufig bemerkt, ein Blatt der herrschenden republikanischen
Partei) als „das schamlose System der persönlichen und Fami-
lienregierung des Generals Grant" bezeichnet, eine Liste, in
welcher sie den Nepotismus des Präsidenten, das „Hof-
register" durch Thatfachen zu belegen sucht. Nicht weniger als
dreiundzwanzig Mitglieder der Familie Grant haben „fette
Aemter", und Folgendes ist der Eatalog:
I. Ulysses Simpson Grant, Präsident der Vereinigten
Staaten. — 2. Jesse Root Grant, Vater des Präsidenten,
Postmeister zu Codrington in Kentucky. — 3. Frederick Dent
Grant, Sohn des Präsidenten, Eadet in Westpoint. —
4. Orvill L. Grant, Bruder des Präsidenten, Partner des
Hafencollectors in Chicago. — 5. Frederick I. Dent, Schwie-
gervater des Präsidenten, Comniisfarius des Ländereien-
büreaus zu Carondelet in Missouri. — 6. Der Reverend
M. I. Cramer, Schwager des Präsidenten, Ministerresi-
dent in Kopenhagen. (Dieser Cramer ist feines Zeichens Pastor,
gab aber seine Predigerstelle auf und wurde von Grant als
Conful nach Leipzig geschickt, von dort nach Dänemark als —
Diplomat.) — 7. Abel Rathbone Corbin, Schwager des
Präsidenten, Gold- und Grundstücksspeculant und in die be-
rüchtigte Goldkatastrophe von 1869 verwickelt. — 8. F. I. Dent,
Grant's Schwager, Brigadegeneral und Chief Usher (d. h.
eine Art von Ceremonienmeister, dessen Obliegenheit es ist, die
Leute einzuführen und vorzustellen, welche beim Präsidenten
etwas anzubringen haben). — 9. Richter Louis Dent, Schwa-
ger des Präsidenten, Anwalt und Rechtsbeistand für die
„Claimants", alfo die Leute, welche Gesuche:c. beim Präsiden-
ten anzubringen haben; diese Stelle bringt jährlich etwa 40,000
Dollars ein. — 10. George W. Dent, Schwager Grant's,
Taxator im Zollhause zu San Francisco. — 11. John Dent,
Schwager des Präsidenten, ist „Jndianerhändler" in Neu-
Mexico, d. h. der einzige Handelsmann, welcher vom Indianer-
bureau in Washington ermächtigt ist, mit den Indianern jenes
Gebietes Handel zu treiben. Dieses Monopol bringt jährlich
etwa 100,000Dollars ein. — 12. Alexander ©Harpe, Grant's
Schwager, Marschall des Districts Columbia. — 13. James
5. Casey, Grant's Schwager, Hasencollector in Neu-
orleans; die Stelle trägt im Jahre reichlich 30,000 Dollars ein. —
14. James Longstreet, Grant's Schwager, Haseninspec-
tor in Neuorleans. — 15. Silas Hudson, Cousin Grant's,
Ministerresident in Guatemala. — 16. George K. Leet,
Cousin eines der Schwäger, Director der Public stores,
also sämmtlicher Vorrathsmagazine der Bundesregierung in
Neuyork; diese Stelle wirft jährlich nahezu 100,000 Dollars
ab. — 17. Orlando H. Roß, Grant's Vetter, Clerk in der
Auditors Office (Rechnungs-Controlamt) zu Washington. —
18. Dr. Addison Dent, Cousin der Schwäger, angestellt
96
Aus allen Erdtheilen.
im Schatzamt. — 19. I. F. Simpson, Vetter Grant's,
Officier im vierten Artillerieregimente. — 21. George C.
Johnson, Cousin, Assessor in der Steuerdirection in
Ohio. — 22. B. L. Wymans, mit einer Cousine Grant's ver-
heirathet, Postmeister zu Newport, Kentucky. — 23. Fräulein
E. A. Mag rüder, Cousine Grant's, als Clerk im Schatz-
departement angestellt.
Die „Sun" fügt dieser Liste die Notiz hinzu, daß doch ein
Verwandter des Präsidenten noch nicht mit einer einträglichen
Stelle bedacht sei, nämlich „Capitän" Peter T.Hudson, Bru-
der des Ministerresidenten in Guatemala; derselbe sei früher
Grant's Adjutant gewesen, habe Bundesmarschall in Kalifor-
nien werden wollen, aber die Fachpolitiker hätten ihn aus dem
Felde geschlagen. „Peter ist ein ungeschliffener Diamant, und
war manches lange liebe Jahr hindurch Viehtreiber in Ore-
gon, für irgend ein beliebiges Amt eignet er sich indessen min-
destens ebensogut, wie die meisten der oben Namhaftgemachten.
Aber ernsthaft gesprochen; was denkt das amerikanische Volk
von solchen Thatfachen? Jpat es etwa dieserhalb Herrn Grant
zu seinem Präsidenten gewählt? Wir wissen freilich, daß er
den Erwartungen nicht entsprochen hat, welche wir hegten, als
wir seine Erwählung befürworteten. Hätten wir ahnen können,
was da gekommen ist, — wir würden uns lieber die rechte
Hand verbrannt, als auch nur ein Dutzend Bürger aufgefordert
haben, für diesen Mann zu stimmen."
Aberglaube in Westpreußen. Die Sitte des Kopfab-
schneidens vor der Verbrennung der Leichname — weil die
Seele im Kopfe wohnend gedacht wurde — finden wir durch
die vielen kopflosen Gerippe und wieder durch die Köpfe ohne
Leiber in aufgedeckten heidnischen Gräbern bestätigt.
Wer Ausführlicheres darüber nachlesen will, vergleiche: Theo-
phil Rupp, „Aus der Vorzeit Reutlingens und seiner Um-
gegend." 2. Auflage. Stuttgart 1869. S. 24. Sitzungs-
bericht der philosophisch - historischen Classe der Akademie der
Wissenschaften in Wien, 29. B., Jahrgang 1858. Karl Wein-
hold, „Die heidnische Todtenbestattung in Deutschland." S.
155 u. folgg. Ferdinand Keller, „Pfahlbauten," 6. Bericht,
S. 295. Zürich 1866.
Daß aber jene altheidnische Sitte bis in unsere Tage sich
erhalten, klingt ziemlich unglaublich, ist aber nichtsdestoweniger
vollkommen wahr und verbürgt. Aus dem Kreife Schwetz in
Westpreußen wird folgender Vorfall berichtet: Die Frau des
Waldwärts Gehrke zu Pniewno im Kreife Schwetz war im Fe-
brnar 1870 gestorben und auf dem Kirchhofe zu Biechowo be-
erdigt. Gleich darauf erkrankte ihr Ehemann fehr heftig und
ebenso seine Kinder. Es herrscht in dortiger (von katholi-
schen, meist polnisch redenden Leuten bewohnten) Gegend der
Aberglaube, daß wenn nach dem Tode eines Familiengliedes
plötzliche Krankheiten in der Familie auftreten, dies der Ver-
storbene verschulde, indem er alle seine Verwandten nach-
hole, um sich mit ihnen im Grabe wieder zu vereini-
gen. Verschiedene Mittel sind im Gebrauch, um dieser Cala-
mität zu begegnen. Der Bruder des erkrankten Gehrke, der
Käthner Gehrke, wählte Folgendes: In Gemeinschaft mit einem
Einwohner Jahnke schaufelte er zur Nachtzeit das Grab auf,
öffnete den Sarg und legte Leinsamen und ein Fischer-
netz hinein. Die hinzugekommene Frau des Jahnke meinte aber,
das werde nicht helfen,, da die Verstorbene ja eine auffallend
rothe Gesichtsfarbe habe und in Wirklichkeit wohl noch nicht
todt sei, obwohl sie schon vor vier Wochen beerdigt war. Man
griff daher zu einem drastischer» Mittel. Der Leiche wurde
der Kopf abgetrennt und der Verstorbenen unter den
Arm gelegt. Das Abschlagen des Kopfes geschah in der Art,
daß Jahnke der Leiche den Spaten auf den Hals fetzte und
Gehrke mit einer Hacke darauf schlug. Darauf warfen sie das
Grab wieder zu. Sie wurden von dem Kreisgerichte zu Schwetz
wegen Beschädigung eines Grabes unter beschimpfendem Unfug
aus §. 137 des Strafgesetzbuches Jeder zu drei Monaten Ge-
fängniß verurtheilt, indem auf ihre Behauptung, daß der er-
krankte Gehrke in Folge der stattgefundenen Operation in kurzer
Zeit wieder gesund geworden sei, keine Rücksicht genommen wurde.
Da sie jedoch die That unter dem Einflüsse eines abergläubischen
Vorurtheils begangen hatten, so wurde ihre Strafe in zweiter
Instanz auf einen Monat Gefängniß herabgesetzt.
— Ueber die südafrikanischen Diamanten bringen die
Blätter der Kapstadt (6. Januar) folgende Angaben. Im Jahre
1869 wurden aus Südafrika exportirt 141 Diamanten, Geld-
Werth 7405 Pf. St. — 1670: 5661 Steine, Geldwerth 124,910
Pf. St. Dazu kommen noch andere, z. B. der „Stern von
Südafrika", zusammen im Werthe von etwa 15,000 Pf. St.
Aus London wird dieser Notiz beigefügt, daß viele der dort
befindlichen Capdiamanten von geringer Qualität seien und daß
kein einziger sich mit den alten Steinen aus Golkonda in In-
dien messen könne.
— Im Januar 1870 sind auf dem Campo santo in Bo-
logna Ausgrabungen veranstaltet worden. Man fand unter-
halb der Gräber aus der neuern Zeit und aus dem Mittelalter
eine Schicht etruskischer Begräbnisse. Auch am leukadi-
schen Vorgebirge hat man Ausgrabungen veranstaltet; Pro-
fessor Capelini berichtet, daß er dort Beweise für den Kanni-
balismus der uralten Bewohner angetroffen habe.
— Die erste Sendung Baumwolle, die in Califor-
nien gebaut worden ist, wurde am 17. Januar von San Fran-
cisco auf der Eisenbahn nach Neuyork verladen. Diese Probe-
sendung füllte zwei große Waggons.
— Es ist richtig, daß die Zahl der Büffel auf den
großen Prairien Nordamerikas sich wesentlich vermindert hat;
indessen ziehen immerhin noch viele Hunderttausende von Nor-
den nach Süden und umgekehrt. Der Berichterstatter eines
Bostoner Blattes fand im December unabsehbare Heerden auf
der Prairie. Mit den Stangen der Telegraphenleitung be-
freundeten die Büffel sich sehr bald ungemein nahe; diese Pfähle
waren ihnen in der baumlosen Steppe ganz recht; sie rieben
sich an denselben die Haut und rissen dadurch Tausende von
Stangen um. Mit den Eisenbahnschienen ist dies anders; sie
betrachten die in langer Linie laufende Bahn wie eine Schranke,
welche sie nicht überschreiten. Viele Tausende zumal gehen oder
laufen meilenweit der Bahn entlang, bis sie endlich einen Durch-
laß unter irgend einer Brücke finden; dieser dient ihnen als
Passage; die Bahn bleibt frei.
— „Das leuchtende Siebengestirn wahrhaft deut-
scher Männer" ist in Brüssel von einem französischen Arzte,
Dr. Legrette, entdeckt worden. Die „sieben einzig vernünf-
tigen Männer in Deutschland", welche nicht den Fluch der Bar-
barei auf sich geladen haben, sind ihm zufolge: „Bebel, Karl
Vogt, Johann Jacoby, Liebknecht, Mende, Hasen-
clever und Simon von Trier/ Wir begreifen den Aus-
fpruch Legrette's vollkommen, — der Mann ist Irrenarzt!
Inhalt: Aus dem Leben und Treiben des Kaffervolkes in'Südoft-Afrika. Mit drei Abbildungen.) (Fortsetzung.) — Drei
afghanische Typen. Der Afghanenherrscher Ali Chan und sein Gefolge in jJndien. Von H. Vambery. (Mit einer Abbildung.) —
Nordamerikanische Stimmen Uber Deutschland und Frankreich. — Zur Beurtheilung eines tropischen Klimas. — In der perua-
nischen Küsten-Cordillere. (Schluß.) — Aus allen Erdtheilen: Aus dem nördlichen Polarmeere. — Sidorow's Bericht über den
Norden des europäischen Rußlands. — Nepotismus in Nordamerika. — Aberglaube in Westpreußen. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H- Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
8*
^ ^£nön- "«0
Band XIX.
Jo 7.
Iii besonderer HericlisiclitigunA der Antliroxologie und (gthnelojic.
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
Ä^är^ Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1811.
Aus dem Leben und Treiben des Kaffervolkes in Südost-Afrika.
IV.
Die Polygamie und ihre Eigenthümlichkeiten. — Die Theilung der Arbeit. — Was den Frauen obliegt. — Der Kaufpreis
für die Braut. — Ceremonien bei der Bewerbung und beim Abschlüsse der Ehe. — Liebesgcschichten. — Die Verhöhnung des
Bräutigams. — Die Hochzeitsochsen. — Ehescheidungen und deren Gründe. — Schwiegersohn und Schwiegermutter.
Bei den Kaffern herrscht Vielweiberei, und der Ab-
schluß der Ehe findet allemal unter mancherlei, zum Theil
seltsamen Ceremonien statt. Die vielfach wiederholte Be-
Häuptling, daß beim Abschluß einer Heirath „das Mädchen
um seine Neigung und seinen Willen gar nicht gefragt"
werde, trifft nicht allgemein zu, und wir werden weiter unten
Beispiele dafür beibringen.
Der Kaffer ist insgemein ein hübscher, schlank und kräf-
tig gebaueter Mensch, muskelstark und in seinem ganzen
Auftreten liegt etwas Elastisches. Dagegen sind die Frauen,
sobald die Jugendblüthe vorüber ist, nichts weniger als
hübsch; sie verlieren in Folge der vielen und schweren Arbei-
ten nach und nach das prächtige Ebenmaß ihrer Formen
und werden im höhern Alter geradezu häßlich. Ausnahmen
finden nur bei den Töchtern sehr reicher Leute statt, deren
Vater bei der Verheirathuug ausbediugt, daß sie immer
Hauptfrau eines Mannes bleiben und als solche nicht mit
schwerer Arbeit belastet werden sollen.
Der Mann hat das Recht, so viele Frauen zu heirathen
wie ihm beliebt, und je reicher er ist, um so mehr verstärkt
er seinen „Weiberstand". Der Zuluhäuptling Goza hat
gegeuwärtig etliche Dutzend Lebensgefährtinnen, und der Kö-
nig eine solche Menge, daß er sie nicht zählen kann. Denn
sehr häusig kommen Eltern und bieten ihm ihre Tochter ohne
Glvbus XIX. Nr. 7. (März 1871.)
Kanfgeld cut; sie sind glücklich und zufrieden, wenn er das
Geschenk nur annimmt. Der König hat zwanzig bis dreißig
große Kraals in verschiedenen Theilen des Landes und in
jedem derselben besindet sich ein Harem; er ist also immer
völlig daheim, wenn er seine Residenz aus einem Dorfe in
ein anderes verlegt. Er weiß nicht, ob er ein halbes Huu-
dert Frauen mehr oder weniger sein nennt, er kennt nicht
einmal alle ordentlich von Ansehen, läßt sie aber streng
überwachen; sie würden sonst vielleicht Liebschaften anfangen
oder wohl gar fortlaufen, um sich anderwärts einen Mann
nach ihrer Wahl zu suchen. Wenn eine Insassin des Ha-
rem ihre Hütte verläßt und ausgeht, wird sie streng beobachtet,
und in der Umgegend liegen allzeit Späher auf der Lauer,
welche dem König Alles berichten. Es ist für einen Kafser
nicht gerathen, mit einerHaremsschönheit auch nur zureden;
dadurch erweckt er das Mißtrauen des Königs und dasselbe
kann schlimme Folgen für ihn haben.
Der früher erwähnte blutdürstige König Tschaka bildete
eine Ausnahme von der Regel. Er nahm alle Mädchen,
welche ihm von den Eltern geschenkt wurden, erhob jedoch
kein einziges zum Range einer Frau, weil er einen Abscheu
davor hatte, einen Thronerben um sich zu sehen. Ein hoch-
gestellter Kafser wird niemals von seinem Tode sprechen und
eben so wenig gestatten, daß ein Anderer es thne. Geschähe
13
Aus dem Leben uitb Treiben des Kaffervolkes in Südost-Afrika.
es doch, so würde dadurch der Anstand verletzt, und die Aeuße-
rnng, daß der König einmal sterben könne, als eine Hand-
lnng des Verraths betrachtet werden, welchem die Todes-
strafe unmittelbar folgt. Europäer, welche mit den An-
schauungen und Vornrtheilen des Volkes vertraut sind, ver-
meiden es, von Tod und Sterben zu sprechen. Nachfolge
auf dem Throne setzt voraus, daß der gegenwärtige Inhaber
desselben sterben könne und werde; der Sohn ist Feind des
Vaters schon deshalb, weil er überhaupt da ist. Tschaka
ging so weit, daß er jede Insassin seines Harem, welche die
Hoffnung hatte, Mutter zu werden, unter irgend einem Vor-
wände umbringen ließ! Niemand nahm daran Anstoß;
ein Kafferhäuptling hat ganz uneingeschränkte Gewalt über
seine Unterthanen und je-
der seiner Befehle wird voll-
zogen. Ein Sohn tödtet den
Vater, der Vater den Sohn
ohne Murren, wenn der
Häuptling es befiehlt, und
es ist vorgekommen, daß ein
Mann dem Könige Worte
des Dankes zurief, wäh-
reud er auf Befehl des
letztern zu Tode gepeitscht
wurde!
Man wird fragen, wel-
chen Einfluß die Polyga-
mie auf die Frauen habe?
Eine Kafferin findet es
ganz selbstverständlich, daß
der Mann mehr als eine
Frau haben müsse; das ist
seiner Würde augemessen,
und auf diese halten die
Frauen etwas, weil doch
ein Theil davon auch auf
sie übergeht. Die Viel-
weiberei ermöglicht zu-
dem die Theiluug der
Arbeit. Der Kaffer wird
sich niemals dazu herab-
lassen, irgend welche Hand-
arbeit zu verrichten. Er
melkt die Kuh und ist Krie-
ger; für alles Andere müs-
sen die Frauen sorgen. Der
Mann wird sich nicht ein-
mal dazu verstehen, seiner
Lieblingsfrau einen mit
Hirse gefüllten Korb auf
den Kopf zu heben, sondern
wird ruhig sitzen bleiben.
Als ein Reisender einen
Kaffer, dessen Frauen sehr schwere Arbeiten verrichteten, die
Znmuthung stellte, doch ihnen durch Zugreifen dieselben
zu erleichtern, fing der Mann zu lachen an und entgegnete:
„Die Frauen arbeiten; der Mann bleibt sitzen und raucht
Taback!"
Die Frau bauet die Hütte, hat alle häuslichen Arbeiten
zu verrichten, muß kochen, Brot backen, das Feld bestellen,
Hirse säen, Unkraut ausjäten, das Korn schneiden, dreschen
und zwischen den Steinen zerquetschen. Dann und wann
bringt der Mann wohl ein Stück Wild, das dann in Töpfen
gekocht wird, welche gleichfalls von der Frau verfertigt wor-
den sind. Sie hat auch das Brennholz herbeizuschleppen,
und zu ihren beschwerlichsten Obliegenheiten gehört es, daß
Ein Kaffermädchen.
sie Tag für Tag die Kafferhirfe zwischen zwei Steinen zu
Mehl zerquetschen muß; denn einen Vorrath von Mehl hält
man nicht. Dasselbe wird zu Kuchen verbacken oder dient
zur Bereitung eines Breies. Ferner muß sie Bier brauen,
und im Ganzen genommen hat sie mindestens doppelt so
viel zu arbeiten wie eine recht fleißige Bauerfrau bei den
europäischen Völkern.
Die erste Frau behält ihre hervorragende Stellung, bis
sie wegen irgend eines dem Manne mißliebigen Verfahrens
abgesetzt wird und eine andere an ihre Stelle tritt. Je
mehr Frauen, um so mehr vertheilt sich, wie schon gesagt,
auch die Arbeit, aber Streit und Eisersucht bleiben darum
doch nicht aus und an unerbaulichen Auftritten fehlt es kei-
neswegs. Dergleichen wür-
den noch viel häusiger vor-
kommen, wenn nicht jede
Frau ihre besondere Hütte
bewohnte; jene der Hans-
sran steht zunächst der Hütte
des Mannes au der rech-
ten Seite. Einst hatte ein
Mann eine junge, sehr hüb-
sche Frau an die Stelle der
abgesetzten Hausfrau gesetzt.
Diese beschloß mit der ihr
befreundeten dritten Frau,
die verhaßte Nebenbuhlerin
aus dem Wege zu schaffen.
Eines Tages war jene ver-
fchwnnden und Niemand
wußte, wohin sie gekom-
men sei; alle Nachsuchun-
gen waren vergeblich; da
wandte sich der Mann an
einen Zanberdoctor, und
dieser Prophet erklärte rund
heraus, daß die junge Frau
von den beiden anderen ums
Leben gebracht worden sei.
Nach einigen Tagen fand
dann ein Hirtenbube die
Leiche im Walde an einem
Baume hängen. Nicht sel-
ten kommt es vor, daß
einige Frauen über eine
hübsche Nebenbuhlerin her-
sallen, um sie häßlich zu
machen. Zuerst wird sie uu-
barmherzig geprügelt und
dabei reißt man ihr Glas-
perlen und Schürze vom
Leibe, dann zerrt man ihr
die Ohrläppchen hinweg
und zerkratzt ihr Gesicht nnd Busen dermaßen, daß sie nie
wieder „hübsch" werden kann. Es versteht sich, daß die
Miffethäterinnen für solchen Unfug büßen müssen; der Mann
prügelt sie mehr als einmal windelweich, aber die Schmer-
zen vergehen und die Rache bleibt süß; die Nebenbuhlerin
hat ja ein- für allemal aufgehört hübsch zu sein.
Jede Frau wird durch Kauf erworben, aber das findet
man gauz in der Ordnung, und es ist damit gar kein Be-
griff von Entwürdigung verbunden, die Frau ist im Gegen-
theil stolz daraus, und je mehr Kühe sie gekostet hat, um so
mehr hält sie sich Werth. Auch mag der Mann gar keine
Frau haben, für welche er nicht den geeigneten Preis ge-
zahlt hat; das würde ja so viel bedeuten, als ob sie nichts
Aus dem Lebeil und Treibeil des Kaffervolkes iu Südost-Afrika.
99
Werth sei und daß er nicht wohlhabend genug wäre, die
übliche Kaufsumme auszubringen. Ohnehin wird ein Hei-
rathsvertrag erst dadurch gültig, daß einerseits das Vieh,
andererseits das Mädchen abgeliefert wird. Darin besteht
das, was wir bei uns als Wechseln des Trauringes bezeich-
nen würden; die Ehe wird dadurch, so zu sagen, erst rechts-
kräftig.
Der Kaufpreis wechselt, je nachdem die Braut mehr oder
weniger hübsch ist und auch nach dem Range ihres Vaters.
Der Durchschnittspreis für ein Mädchen stellt sich
auf acht bis zehn Kühe, doch geht er unter Umständen wohl
auf fünfzehn hinauf und in einzelnen Ausnahmefällen sind
bis zu vierzig und fünfzig bezahlt worden. Der Preis ist
pränumerando zu erlegen, indessen kommt es auch wohl vor,
daß der Vater das Mädchen verabfolgt, nachdem er eine
Abschlagssumme erhalten und für den Rest Bürgschaft er-
halten hat.
Sobald die Verhandlungen zu einem Abschlüsse gekom-
men siud, muß der Bewerber sich der Braut vorstellen. Dann
und wann kommt es allerdings vor, daß dieselbe ihm ohne
Weiteres ausgehändigt wird, ohne gefragt zu werden, ob der
Bräutigam ihr genehm sei, in der Regel nimmt indeß die
Angelegenheit den nachfolgenden Ver-
lauf. Der Vater sagt .seiner Tochter
etwa einen Monat vor dem Erschei-
nen des Bräutigams, daß derselbe
ein sehr annehmbarer Mann sei und
spricht viel Gutes von ihm; auch sorgt
er dafür,' daß die Nachbaren im Kraal
dasselbe thun. Nicht bloß er selbst
wird gelobt, auch seine Kühe und
Ochsen werden über alle Maßen ge-
priesen; er ist eine gute, eine annehm-
bare Partie. Ihr wird gesagt, daß
sie wohl daran thun werde, ihn zu
sehen, und sie ist auch nicht abgeneigt,
ihn genau zu betrachten. Nun geht
ein Bote an ihn ab und beraumt Tag
und Stunde an. Sosort nimmt er
ein Bad, reibt hinterher seine dunkle
Hant niit Fett ein nnd macht sich zu
einem in der That glänzenden Manne.
Dann schmückt er sich, als ob er zum
Tanze gehen wolle; einen Spiegel hat
er freilich nicht, aber als solchen be-
nutzt er das Wasser in einer Schüssel. Er putzt sich das
Haupt mit Federn, legt einen Lendenschurz von Thierfellen
um, nimmt Schild und Wurfspeer uebst einem Streitkolben
zur Hand und der Stutzer ist fertig.
Sichern Trittes und Schrittes stellt er sich im Kraale
vor, wird freundlich empfangen, kauert im Kreise der Fa-
milie nieder — diese bildet allemal einen Kreis — und
wartet ruhig ab, bis die Schöne sich blicken läßt. Sie läßt
ihn, anstandshalber, ein Weilchen warten, kriecht dann aus
der Hütte hervor, setzt sich neben das Eingangsloch hin und
schauet ihn an. Sie spricht kein Wort; nach Ablauf von
vielleicht einer Viertelstunde läßt sie ihm durch ihren Bruder
oder einen andern Verwandten zu wissen thun, daß er nun
aufstehen möge, damit sie sich überzeuge, wie er gewachsen
sei. Er stellt sich etwas verlegen, aber die Mutter der Braut
spricht ihm Muth ein, und während die jungen Mädchen
lachen und scherzen, faßt er sich ein Herz und steht aus. Sie
betrachtet ihn aufmerksam und läßt ihm sagen, er möge sich
auch einmal umdrehen, damit sie ihn von einer andern Seite
mustern könne. Nachdem das geschehen ist, darf er nieder-
hocken und sie ihrerseits kriecht, ohne ein Wort gesprochen
Schürze einer Häuptlmgsfrau
zu haben, wieder in die Hütte. Ein Gleiches thun die An-
gehörigen ihrer Familie, die gern wissen wollen, ob und wie
er ihr gefallen habe. Sie aber erklärt, daß sich darüber
noch nichts sagen lasse; zuvor müsse sie sich überzeugt haben,
wie er gehe; es könne ja wohl sein, daß er hinke! So muß
er denn am nächsten Morgen sich wieder vorstellen, und dies-
mal ist die Versammlung viel zahlreicher als am Tage vor-
her. Während er dann auf- und abgeht, ruft man ihm Lob
und Preis zu, und auch das Mädchen erklärt, daß sie an
ihm nichts auszusetzen habe. Also kann nun das Weitere
vor sich gehen.
Es kommt vor, daß ein junger Mann, der sein Auge
aus ein hübsches Mädchen geworfen hat, nicht Selbstvertrauen
genug zeigt, die Bewerbung auf übliche Weife einzuleiten.
Er geht zu einem Hexenmeister und kaust sich einen Zauber,
welcher die Schöne für ihn günstig stimmen soll. Derselbe
besteht in einer Wurzel oder in einem Stück Holz, einem
Knochen und dergleichen, oft aber auch in einem Zauber-
Pulver, das von einein Freunde heimlich unter die Speise
des Mädchens, oder in dessen Schuupstabacksdose, oder auch
in ihren Lendenschurz gestreut werden muß. Manchmal ent-
läuft eine Tochter, welcher die Eltern einen mißliebigen Bräu-
tigam aufbürden wollen, zu einem an-
dern Stamme. Die Familie stellt ihr
dann nach und sucht sie wieder ein-
zufangen. Es ist vorgekommen, daß
man solch eine Widerspenstige gebunden
dem Bewerber überliefert hat. Aber
nach wenigen Stunden entlief sie ihm
und fand anderwärts einen Mann nach
ihrem Herzen.
Amor lex solus est sibi, und
auch bei den Kaffern ist der Eigen-
sinn eines Vaters ohnmächtig, wenn
das Mädchen standhaft bleibt; er macht
sich Grillen, Aerger und Verdruß, und
sie setzt am Ende ihren Willen durch.
Bei den Mädchen unter den Wilden
giebt es Naturen von unbeugsamer
Energie. Eine Schöne wurde von
Liebe zu einem jungen Häuptling er-
griffen, als derselbe einen Tanz auf-
führte. Er hatte sie nie zuvor gesehen.
Sie überwand alle Schüchternheit, ging
in seinen Kraal nnd gestand ihm ihre
Gefühle, welche der Barbar nicht erwiederte. Er ließ ihren
Bruder holen und sie fortschaffen. Aber sie ging wieder zu
ihm, wurde abermals ausgeliefert und für ihre Hartnäckigkeit
mit Schlägen bestraft; das Blut rann ihr vom Rücken herab.
Nach Verlaus einiger Tage erschien sie noch einmal im Kraal
des hartherzigen Häuptlings. Dieser empfand ob solcher
Beharrlichkeit ein menschliches Rühren; nun gewann er das
Mädchen sehr lieb und zahlte gern einen Kaufpreis, der
höher war, als der gewöhnliche. Sie hat ihn gehegt und
gepflegt, und er hat sie gut gehalten, sie hat niemals Schläge
bekommen; als er selber Häuptling wurde, ist sie ihm eine
verständige Rathgeberin geworden, welche er hochhält.
Am Heirathstage schmückt sich die Braut mit allem Zier-
rath, über welchen sie verfügen kann. Ihr wird ein Theil
des Haupthaars mit der Schneide einer Wurslanze abgefcho-
reu und der Schopf, welcher stehen bleibt, mit rother Farbe
und Fett eingerieben, so daß er auswärts steht. Dann wird
sie von den nach Kräften aufgeputzten Mädchen und Frauen
des Kraals herausgeführt, auch Männer schließen sich dem
Brautzuge an, und mehrere derselben ziehen vorauf, voll-
ständig bewaffnet, um anzudeuten, daß sie jeden Feind zu-
13*
den Kaffern.
gehören, treten vor die Braut hin und schelten diese auf alle
mögliche Weise aus; sie wird gründlich schlecht gemacht.
„Dein Mann/' so heißt es, „hat viel zu viel Kühe für Dich
gegeben; Du bist eines so hohen Kaufpreises gar nicht Werth;
Du wirst Deiue Arbeiten sehr schlecht verrichten, und Du
magst Dich nur freuen, daß er sich so weit herabläßt, Dich
zu Heirathen." Man sagt ihr das, damit sie nicht zu über-
müthig werde.
Brautzug bei
ihre Behendigkeit und Gewandtheit zur Schau stelle«. Zu-
erst setzt sich der Bräutigam sammt seinen Gefährten nieder;
sie trinken Bier und die Partie der Braut führt Tänze vor
ihnen auf; nach einiger Zeit findet dann das Umgekehrte
statt. Dabei wird unablässig gesungen.
Nachdem dieses geschehen, beginnen einige Ceremonien,
die allerdings eigenthümlich sind.
Die alleren Frauen, welche zur Partie des Bräutigams
100 Aus dem Leben und Treiben i
rückschlagen würden, falls ein solcher sich etwa blicken lassen
wollte.
Bei dieser Ceremonie spielen wieder die Ochsen eine
große Nolle; Vater uud Bräutigam haben dergleichen zum
Besten zu geben. Jener, welchen der junge Mann spenden
muß, heißt Ukutu; er wird der Mutter der Braut verab-
folgt. Das Wort bezeichnet eigentlich die ledernen Stränge,
welche man, als vermeintlichen Zauber, den Kindern anhängt,
s Kaffervolkes in Südost-Afrika.
und die Mutter bekommt den Ochsen gleichsam als Entschä-
dignng für die Ausgaben, welche durch jene Lederstränge ver-
ursacht worden sind. Sie läßt das Thier schlachten und
das Fleisch zum Hochzeitsmahl auftragen. Einen andern
Ochsen bezeichnet man als Umquolibwa, er wird feierlich
unter eintönigem Gefang umhergeführt und hinterher ge-
schlachtet.
Dann beginnen die Tänze, bei welchen die jungen Leute
Aus dem Leben und Treiben
Dann folgt jedoch das Gegenstück, weil nun die Franen
der Partie der Braut zu tanzen und zu singen beginnen.
Sie wenden sich zunächst an die Eltern des Mannes und
wünschen ihnen Glück, daß sie eine so ausgezeichnete Schwie-
gertochter bekommen; die Zahl der Kühe, für welche dieselbe
gekauft worden sei, erscheine viel zu gering für ein so vor-
treffliches Geschöpf. Die Braut ist ja das lieblichste und
hübscheste Mädchen im ganzen Kraal; sie hat sich stets tadel-
los aufgeführt und ist viel zu gut für den Bräutigam. Die-
ser müsse sich schämen, daß er sie um einen so geringen Preis
gekauft habe.
Natürlich glaubt weder die eine noch die andere Partie
ein Wort von Allem, was da gesagt wird, aber gesagt muß
es werden, so will es der Brauch. Nach jedem Tanze wird
eine Rede an das Paar gehalten und dem Bräutigam, falls
derselbe zum ersten Male eine Frau nimmt, ein guter Rath
o Kaffervolkes in Südost-Afrika. 101
über den andern gegeben. Man sagt ihm, wie der Mann
mit der Frau umzugehen habe; er solle, um Gehorsam zu
erzwingen, nicht sofort zum Stocke greifen. Ein Manu, der
sich aus die Sache verstehe, könne eine ganze Anzahl'von
Frauen ohne Beihülfe des Knüttels lenken und leiten, aber
junge Leute seien manchmal zu rasch damit bei der Hand,
und das thue nicht gut. Es giebt aber auch Frauen, welche,
so zu sagen, den Spieß umkehren. So hat der Mann eines
hübschen Mädchens, die Uzinto heißt, beim Abschluß der Hei-
rath ausdrücklich versprochen, er wolle sie nicht prügeln,
außer wenn sie ihn vorher geprügelt habe!
Nach Beendigung der verschiedenen Präliminarien setzt
sich der Bräutigam auf die Erde; die Braut führt einen
Tanz vor ihm auf und während desselben wird er von ihr
mit einer wahren Fluth von Schimpfwörtern überschüttet.
Sie wirft ihm Staub ins Gesicht, bringt seinen Kopfputz
' Verhöhnung des Bräi
in Unordnung und verhöhnt ihn. Das Alles geschieht, da-
mit er wisse, daß er bis jetzt ihr noch gar nichts zu befehlen
habe. Einige Tage später würde es ihr freilich schlecht be-
kommen, wenn sie sich dann noch solche Freiheiten heraus-
nehmen wollte.
Nun wird noch einmal ein Ochs vorgeführt, der letzte,
aber der wichtigste von Allen; er ist „der Ochse des Mäd-
cheus" und muß vom Bräutigam gestellt werden. Sobald
er geschlachtet worden ist, hat die Heirath bindende Kraft;
nun kann der Vater feine Tochter nicht mehr zurücknehmen
und der Mann bringt seine Frau fort nach der Hütte, in
welcher sie wohnen soll. Das junge Paar richtet sich ein,
und nach einigen Tagen schickt nun der Vater des jungen
Weibes seinerseits ein Thier, den „Zugabe-Ochsen", an wel-
chen sich verschiedene Gedanken und Begriffe knüpfen. Mit
demselben soll augedeutet werden, daß das Mädchen einen
viel höhern Werth habe, als den für sie gezahlten; sodann
gams durch die Braut.
soll der Ochse dem Bräutigam kund thun, daß er ja keine
allzu hohe Meinung von sich selber haben möge. Es soll
aber auch durch Übersendung desselben gesagt sein, daß der
Vater im Grunde doch mit der ganzen Sache einverstanden
sei und daß er nach seinem Ableben seiner Tochter Hütte
nicht durch Rückkehr seiner Seele beunruhigen und verhexen
werde. Uebrigens sind die Sitten und Bräuche so sehr bis
in alle Kleinigkeiten hinein gleichsam ausgearbeitet, daß die-
ser Ochse des Überschusses, sobald er in den Kraal des
Bräutigams eintritt, sofort eine andere Benennung erhält;
er heißt nun „der Ochs, welcher die Viehumzäunung
öffnet". Die Bedeutung soll sein, daß der Mann, theore-
tisch genommen, seine ganze Habe an Ochsen für den Braut-
kauf hinweggegeben habe, daß also seine Umzäunung, sein
Viehgehöft, leer stehe. Jener Ueberschnßochs öffnet dasselbe
wieder, damit es sich fülle.
Solch eine Heirath ist eben so bindend, wie der Abschluß
102
Aus dem Leben und Treiben des Kaffervolkes in Südost-Afrika.
einer Ehe bei uns in Europa, und sie kann nur gelöst wer-
den, wenn die vorgebrachten Scheiduugsgrüude von den Rath-
Männern des Stammes für ausreichend erklärt werden. Un-
treue wird mindestens durch sofortige Verstoßung, beiHänpt-
lingsfrauen mit dem Tode bestrast. Anhaltende Widerspen-
stigkeit und unverbesserliche Trägheit rechtfertigen die Schei-
dung. Der Mann hat ja die Frau gekauft, damit sie für
ihn Arbeiten verrichte; thut sie es nicht, so ist klar, daß er
sein Geld (die Kühe) für einen werthlosen Gegenstand be-
zahlt hat, welchen er in die Hände des Verkäufers zurück-
liefert, um wenigstens einen Theil seiner Ausgaben wieder
zn bekommen. Manchmal geht eine Frau wegen schlechter
Behandlung in den Kraal ih-
res Vaters zurück, der sie
dann bei sich behalten kann,
wenn er das Kaufgeld zurück-
erstattet; sobald das geschehen
ist, verabfolgt der Mann die
etwa vorhandenen Kinder an
die Mutter, welcher sie von
Rechts wegen gehören.
Unfruchtbarkeit ist ein voll-
gültiger Grund zur Schei-
dung, weil eine kinderlose
Frau ja den Vermögensstand
des Mannes nicht befördert.
Insgemein schickt er dieselbe
dem Vater zurück, welcher die
Geister der Vorfahren durch
Opfern eines Ochsen gnädig
zn stimmen sucht, damit sie
dem Ilebelstande abhelfen.
Ist das aber nicht der Fall,
nachdem sie wieder zn ihrem
Manne gegangen ist, dann
muß der Vater sie aufnehmen und den Kaufpreis zurück-
zahlen; manchmal giebt er jedoch, um das letztere zu vermei-
den, eine uoch uuverheirathete Tochter in den Kauf, und in
diesem Falle bleibt die Frau beim Manne.
Der Mann ist Herr über Leben und Tod einer Frau,
und wenn er sie in einer leidenschaftlichen Wallung ums
Leben bringt, hat ihn Niemand dafür zur Verantwortung
zu ziehen. Die Frau war ja sein Eigenthum, das er gc-
kauft und wofür er gezahlt hat; er kaun ja auch, wenn es
ihm beliebt, eine Ziege oder eine Kuh tobten! Der Vater
hat nichts zn sagen und kein Anrecht mehr auf die Tochter,
welche er für so und so viel Kühe verkauft hat. Ohnehin
hat ja der Manu sich selber geschädigt, indem er werthvolles
Eigenthum zerstörte, das für Kühe hatte verkauft werden
können, das Arbeit für ihn verrichtete uud Mädcheu gebären
konnte, deren jedes eine Anzahl von Kühen Werth gewesen
Schwiegermutter und Schwiegersohn.
wäre. Dann und wann nimmt freilich der Häuptling ein
Einsehen und läßt den Mann eine Brüche von zwei Kühen
zahlen, die er selber sich aneignet. Die Logik dafür ist, daß
der Mann den Stamm um eine Person verringert hat und
der Häuptling, als Vater des Stammes, darf doch so etwas
nicht ungeahnt lassen! Nun sage man noch, daß man unter
den sogenannten Naturvölkern sich nicht auf das Rassine-
ment verstehe!
Auch das, was wir als Etikette bezeichnen, ist unter
den Kaffern fehr scharf ausgebildet. Kein Mann darf ein
Mädchen aus seiner Blutsverwandtschaft Heirathen, wohl
aber zwei Schwestern aus einer andern Familie, eben so
die Frauen eines verstorbe-
nen Bruders. Böse, bissige
„Tanten", welche keinen
Manu bekommen haben nnd
Zankteufel für die jungen
Mädchen sind, giebt es
möglicherweise auch unter den
Kassern, — gewiß ist, daß
der verheirathete Mann mit
seiner Schwiegermutter
niemals ein familiäres Wort
spricht; er darf sie nicht ciu<
mal ansehen. Dieser selt-
same Brauch, der aber deu
Segen in sich trügt, daß die-
selbe sich nicht in die eheli-
chen Angelegenheiten mischen
darf, wird als „sich vor der
Schwiegermutter schämen"
bezeichnet. Will aber der
Mann etwas mit ihr reden,
so muß er in einiger Ent-
sernung von ihr ein lautes
Geschrei erheben, und das versteht er ja, als echter Kaffer,
aus dem Gnuide. Will er aber etwas sagen, das kein
Dritter hören soll, dann stellen beide Theile sich hinter einen
Zaun, der so hoch ist, daß sie einander nicht sehen können.
Aber es trifft sich wohl, daß der junge Mann und die
Schwiegermutter sich in einem der engen Psade begegnen,
welche ans dem Kraal zn den Hirseseldern führen. Dann
sind beide verpflichtet, einander nicht zu sehen; unsere Jllu-
stratiou zeigt, wie sie das anstellen. Die Frau kriecht au
oder hinter den ersten, besten Busch, der Maun seinerseits
hält seiuen Schild vor das abgewandte Gesicht. Diese Eti-
kette geht so weit, daß Schwiegermutter uud Schwiegersohn
ihre beiderseitigen Namen nicht aussprechen dürfen. Wir
werden in unseren fpäter folgenden Mittheilungen über die
Kaffern aus diese Eigenthümlichkeit näher eingehen.
Adolf Ott: Der Sutro - Tunnel in Nevada.
103
Der Sutro-Tunnel in Nevada.
Ein nordamerikanisches Bergbauunternehmen. Von Adolf Ott in Neuyork.
Schon über 20 Jahre sind verflossen, seitdem die Ent-
decknng der ergiebigen Goldlager in Californien dem Handel
und Geldverkehr eine ganz neue Richtung und einen überaus
mächtigen Impuls verlieh. Diese Wirkung wurde noch be-
deutend erhöht, als 1851 die Knude von der Entdeckung
eben so reicher Goldminen im südöstlichen Theile Australiens
nach de« großen Geldmärkten und Börsen drang. Neben
Gold fanden sich, wie gewöhnlich, Silber, an vielen Orten
auch Quecksilber, Platin und andere technisch verwerthbare
Metalle vor, doch nahmen diese Minen schon nach den ersten
Jahren an absolutem Prodnctionswerthe wieder bedeutend ab.
Das leichter auszubeutende Terrain in den Thalsohlen und
Geschieben der Flüsse war nämlich in dieser knrzen Zeit theil-
weise erschöpft, und es zeigte sich immer deutlicher, daß in
nicht allzu ferner Zeit die Handelswelt ihren Bedarf an
edlen Metallen größtentheils wieder, wie früher, aus den
gold- und silberhaltigen Erzen auf bergmännische Weise ge-
Winnen müsse.
Kurz nach der Goldaufregung des Jahres 1848 hatten
sich nämlich abenteuernde Goldsucher und Emigranten auch
in das Innere des Landes, in die Sierra Nevada und dar-
über hinaus in die Hochebenen zwischen letzterer und den
Rocky Mountains (Felsengebirgen), sowie auf die östlichen
Abhänge dieses Plateaus begeben und daselbst reichhaltige
Erze entdeckt. Es zeigte sich bald, daß die Gebiete, die jetzt
die Namen Idaho, Montana. Nevada, Colorado,
Dakotah, Nebraska, Utah, Neumexico, Arizona,
Washington und Oregon tragen, einen höchst bedeutenden
Reichthnm an edlen Metallen enthalten, daß aber wegen des
fühlbaren Mangels an Brennmaterial und Wasserkräften
ihrer Ausbeutung nicht geringe Schwierigkeiten entgegen-
stehen.
Solche Schwierigkeiten sind indessen nicht bedeutend ge-
nng, um den amerikanischen Unternehmungsgeist abzuschrecken.
Als die calisornische und australische Alluvialausbeute (in
den sogenannten Placers) nachließ und der Geldverkehr der
ganzen civilisirten Welt nichtsdestoweniger stets erneuerter
Zufuhren an edlen Metallen bedurfte, wurden die Lagerstät-
ten des westlichen Hochlandes der Union untersucht und in
Angriff genommen. Dabei erhob sich aber eine neue Frage,
welche leicht alle dortigen, äußerst kostspieligen Bergban-Un-
ternehmungen hätte lähmen oder aufheben können. Diese
Frage war: „Werden die edlen Metalle wegen Ueberpro-
dnction im Werthe so weit sinken, daß es sich nicht mehr
lohnt, thenre Maschinen in diesen Eiuödeu zu errichten und
die noch höheren Betriebskosten aufzuwenden?" Diese Be-
sorgniß zeigte sich aber bald als ungegründet, da jetzt auf
lauge Zeit hinaus, vielleicht für immer, eine Ueberproduction
von Gold und Silber zu den Dingen der Unmöglichkeit ge-
hört. Wenn auch kurz nach 1848 eine folche stattgefunden
hat, so haben sich doch seit dieser Zeit die Haudelsverbin-
düngen Europas und Amerikas so sehr ausgedehnt, daß das
Bedürfniß nach edleu Metallen wiederum entsprechend gestie-
gen ist. Während man die Menge des auf der ganzen Erde
1848 vorhandenen Goldes und Silbers auf 6000 Millionen
Dollars veranschlagte, stieg dieselbe bis 1868 trotz der nn-
geheuern Prodnction nur aus 8000 Millionen Dollars an;
so wenigstens sprechen sich die besten Autoritäten über diesen
Punkt aus. Die Hauptursachen, welche einer allzu großen
Anhäufung von edlen Metallen im Handel und Verkehr ent-
gegenwirken, sind namentlich das Abschleifen des gemüuzten
Geldes und der Export von Gold und Silber nach den Hä-
fen Ostasiens.
Auch der in Amerika allgemein gehörte Einwurf, daß
für jeden bergmännisch gewonnenen Golddollar ein anderer
Golddollar auf die Arbeit verwendet werden müsse (beim
Silber ist dieses Verhältniß noch ungünstiger), vermochte die
Bergleute und Specnlanten nicht von den Bergbaudistricten
des Innern abzuhalten. Nachdem Colorado fast allein
in Folge von aufgefundenen Metallfchätzen sich seit 1858
besiedelt hatte, wurde 1859 in dem damaligen Territorium
Utah die Washoe-Regiou durchforscht. In diesem Lan-
destheile, der jetzt zu Nevada gehört, waren im Juni 1859
zwei Jrläuder, Peter O'Reilly und Patrik Mac Langhlin,
mit Goldwaschen beschäftigt. Sie entdeckten an einer Stelle,
die jetzt der Ophir-Compagnie gehört, ein schwarzes Erz,
welches sich bald als eine Verbindung von Silber und Schwe-
fcl herausstellte, und damit war das Comstock-Lode ent-
deckt! Nach californischem Gebrauche wurde der Erzgang
(englisch locke) nach seiner mnthmaßlichen Erstreckung sofort
vermessen und jedem anwesenden Bergmanne 200 Fuß von
dessen Länge angewiesen. Diese Loose gingen später an Ge-
sellschaften über, unter denen sich befinden: die Bergwerks-
compagnien Ophir, Gould und Curry, Savage, Hall und
Norcroß, Aellow Jacket u. f. w. In kurzer Zeit erhoben
sich daselbst die zwei Städte Virginia City und Gold
Hill, 6200 englische Fuß über dem Meere.
Das Comstock-Lode erstreckt sich quer über eine Hügel-
formation, etwa 4 englische Meilen lang vom Gotd Canon
bis zum Six Mile Canon, beides Zuflüsse des nahen,
bei der Stadt Dayton vorüberfließenden Carfon River.
Seiue Richtung ist die des magnetischen Meridians (15 Grad
östlich) und geht parallel mit mehreren anderen nahe gelege-
nen Lodes, welche aber uicht so ergiebig sind. Das nmge-
bende Gestein ist vorherrschend Syenit, enthält aber auch
Propylit, ein Eruptivgestein aus der Tertiärzeit, das sich
auch in vielen mexicanischen Minen vorfindet. Sein Net»
gnngswinkel mit dem Horizonte variirt von 42 bis 60 Grad,
und feine Mächtigkeit in der Tiefe wird auf 100 bis 200
Fuß geschätzt. Der Gang ist vorherrschend ein Silbergang
und enthält nur wenige krystallisirte Erze; die vorkommen-
den Erze sind Stephanit, Glaserz, gediegenes Silber und
silberreicher Bleiglauz; außerdem findet sich gediegenes Gold,
Kupferkies und Weißbleierz. Die Lagerungsweise des Erzes
ist eine zweifache: theils langgestreckte, schlauchförmige Stöcke
(sogenannte Essen), theils fast zusammenhängende, ziemlich
parallel mit einander verlaufende Lager von fehr beträchtlicher
Länge. Auf die Beobachtung dieser Lagerungsweise gründet
sich die jetzt zur Gewißheit gewordene Ansicht, daß das Lode
ein Spaltengang (fissure-vein) sei, d. h. ein von unten
ausgefüllter Erzgang, der bis in unendliche Tiefen hinab-
dringt.
Das Comstock-Lode ist bezüglich seiner Ergiebigkeit jetzt
unstreitig der vornehmste Erzgang der ganzen bewohnten
Welt. Dasselbe lieferte bis 1867 an edlen Metallen 75
Millionen Dollars (etwas über 26 Millonen Dollars Gold,
das übrige Silber). In sechs Jahren hat also diese einzige
Silberader an Ergiebigkeit nicht nur den Ertrag aller Erz-
104 Adolf Ott: Der Su
lagerstätten Europas übertreffen, sondern ihr gegenwärtiger
jährlicher Ertrag, 16 Millionen Dollars, ist sogar größer
als derjenige aller jetzt ansgebenteten mexicanischen Silber-
minen, nnd bildet ein Drittel des Jahresertrages aller Sil-
berbergwerke der Erde.
Vergleichungen des Comstock-Lode mit den mexicanischen
und südamerikanischen Minen geben folgende Resultate: Die«
bedeutenden Erzlagerstätten von Pasco in Peru, von Potosi
in Bolivia und von Chanarcillo in Chile sind unzweifelhaft
Silberspaltengänge, gleichwie das in Rede stehende Comstock-
Lode, und in der That ist noch nie ein Silbergang entdeckt
worden, der nicht zu dieser Classe gehört hätte. Die Va-
lenciana-Mine in der Veta-Madre-Region von Gnanajuato
(Mexico) lieferte von 1768 bis 1788 jährlich l'/2 Millio-
nen Dollars, von 1788 bis 1810 jährlich 1,383,195 Dol-
lars an Silbererzen, und mußte dann wegen Zuströmens von
Wasser eine Zeitlang aufgegeben werden. Die Beta-Madre-
Region lieferte im Ganzen in 300 Jahren ungefähr 800
Millionen Dollars; die Veta Grande in Zacatecas, welche
wie das Comstock-Lode in Propylit verläuft und einen Nei-
gungswinkel von 45 Grad hat, ergab von 1548 bis 1832
an edlen Metallen 666 Millionen Dollars und liefert auch
gegenwärtig sehr hohe Erträge. In mehreren dieser Gänge
hat sich gezeigt, daß der Silbergehalt des Erzes mit der Tiefe
abnahm, daß darum aber die Gänge doch nicht weniger Sil-
ber lieferten, weil der Gesammtwerth des edlen Metalles in
jedem Tiefenabschnitt ungefähr derselbe bleibt. Kongs-
berg in Norwegen lieferte die größten Erträge in einer
Tiefe von 1800 Fuß, und Catorce in Mexico besitzt noch
sehr bauwürdige Erze in Tiefen von 1800 bis 2000 Fuß.
Der Schluß, der sich aus allen diesen Thatsachen auf das
Comstock-Lode ziehen läßt, ist, daß dasselbe in größeren Tie-
sen nicht auf einmal aufhören, sondern sich unbeschränkt fort-
setzen wird. Es wird auch nicht an Silber- oder Goldgehalt
abnehmen, sondern eher zunehmen oder doch wenigstens den-
selben hohen Ertrag liefern.
Doch wie jedes große Unternehmen, so hat auch dieses
mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Bergbaugesellschaften
am Comstockgange machen jetzt so schlechte Geschäfte, daß
viele von ihnen an Arbeitseinstellung denken. Die Gründe
dafür sind : Der Andrang von Wasser in die Schachte, der
hohe Preis des Brennmaterials, wie auch der Förderungs-
kosten des Metalles und des Herauspumpens des Wassers,
und namentlich die mit der Tiefe zunehmende hohe Tempe-
ratnr in den Bergwerken. Einzelne Schachte haben nämlich
schon die Tiefe von 1000 Fuß erreicht, und die Bergleute
vermögen bei der dafelbst herrschenden hohen Temperatur-
bloß drei Viertel der Arbeit zu leisten, welche sie in Schach-
ten unweit der Erdoberfläche zu verrichten gewohnt sind.
Was den Andrang des Wassers betrifft, so ist bekannt ge-
nug, daß derselbe schon häufig die Ausbeutung von berg-
männischen Anlagen gerade dann verhindert hat, wenn die-
selben am einträglichsten geworden waren.
Alle diese Factoren bewirkten, daß die gesammten Zechen
am Comstockgange trotz eines Ertrages von 16 Millionen
Dollars an edlen Metallen doch nur eine halbe Million
an reinem Prosit abwarfen. Obwohl immer noch in den
Schachten gearbeitet wird, so ist doch jetzt der Reingewinn
so spärlich, daß man jedes neue Vierteljahr mit dem Tiefer-
werden derselben positiven Verlusten entgegensehen muß.
Der einzig wirksame Vorschlag, diesen Uebelständen ab-
zuhelfen, scheiterte stets au dem Eigensinne der Compagnien,
welche den Profit vom ausgelegten Gelde augenblicklich ein-
ziehen wollten.
Adolf Sntro, ein Deutscher, und aus langjähriger An-
schauung mit allen amerikanischen Bergbauverhältnissen be-
:o-Tunnel in Nevada.
kannt, hielt sich zuerst in Calisornien auf, wo er auf der
Straße einen Cigarrenhandel trieb. Mit großen natürlichen
Gaben ausgerüstet, schwang er sich bald zu höheren Lebens-
stellungen empor, besuchte die Grubenreviere Nevadas, und
als die Wasseruoth im Comstockgange zunahm, war er sofort
mit sich einig, was da zu thuu sei. Wie schon in mexicani-
schen uud europäischen Grubenräumen vielfach mit Erfolg
geschehen ist, mußte auch hier von unten ein Stollen
bis an denErzgang getrieben und dadnrchdasWas-
fer abgelassen, den Arbeitern durch kräftige Ven-
tilation Luft und Kühlung zugeführt werden.
Die Anlage eines solchen Werkes war beim Comstock-
gange von Natur aus begünstigt. Die Lagerstätten ziehen
sich von einem Thalgrunde zum andern über eine Hügelreihe,
und östlich davon, in einer Entfernung von höchstens 8 eng-
tischen Meilen fließt 2000 Fuß tiefer der Carson River.
Von diesem aus will Sutro den Abzugstunnel in Angriff
nehmen. Die wenn auch sehr unbedeutende Senkung dessel-
ben wird dem Wasser, wovon insgesammt aus allen Minen
jetzt nach der niedrigsten Schätzung 79,200 Cubiksuß per
Stunde ausgepumpt werden, eine genügende Geschwindigkeit
zum Ausfließen verschaffen. Der Tunnel soll etwa 7 Miles
lang werden und wird von vier fast gleichweit aus einander
liegenden Punkten aus in kurzer Zeit vollendet werden kön-
nen. Da wo er die Erzader erreicht, wird ein Seitenstollen
links und einer rechts rechtwinkelig zum Tunnel getrieben
werden, um die Ausbeutung der Minen zu ermöglichen. Die
Kosten hierfür wurden wenigstens auf 4 Millionen Dollars
angeschlagen. Sutro, der eine Gesellschaft zu diesem Unter-
nehmen zu bilden beabsichtigte, holte das Gutachten der be-
rühmtesten europäischen Fachmänner ein. Seiner Zuversicht-
lich ausgesprochenen Ansicht, daß das Unternehmen gelingen
werde, hielt man immer den Einwand entgegen, daß man
unmöglich wissen könne, ob sich das Lode in der Tiefe fort-
setze oder nicht.
Ein berühmter Geolog, Dr. Phil. Ferd. Baron Nicht-
hosen, der die Washoe-Minenregion mehrfach besuchte, gab
am 22. November 1865 ein wissenschaftliches Gutachten an
den Verwaltungsrath der Sntro-Tnnnelgesellschast, woraus
wir das Folgende entnehmen: „Die Länge des Comstock-
ganges an der Erdoberfläche des Landes wurde bis jetzt erst
auf 19,000 Fuß genau bestimmt und gemessen, erstreckt sich
aber höchst wahrscheinlich wenigstens ans 24,000 Fuß. Die
Metallader füllt eine Gebirgsspalte, deren Breite von 100
zu 130 und 200 Fuß wechselt, die sich aber an anderen
Orten wieder ganz zusammenzieht, so daß die beiden Wände
des umgebenden Gesteins sich unmittelbar berühren. Bon
der Tiefe von 500 Fuß aufwärts dehnt sich die Ader an
Breite aus und spaltet sich zum Theil in mehrere Aeste^
diese Erscheinung wurde hervorgebracht durch große Bruch-
stücke des Laudesgesteins, welche die Metallader zu Umwegen
zwangen; westlich vom Lode siuden sich einige unbedeutende
„Gangzüge" am Cedar Hill, Monnt Davidson u. s. w.,
die vermuthlich im Innern mit dem Comstock-Lode znsam-
menhängen. Nördlich von der Mine Gold Hill findet sich
das Erz in schlauchförmigen Gängen, die stark in südlicher
Richtung geneigt sind; südlich von diesem Punkte bilden die
einzelnen Metalladern schmale, plattenförmige, zusammen-
hängende Lagen. Das Comstock-Lode ist ein wirklicher Spal-
tengang, denn er geht durch Felsarten verschiedenen Ursprungs
gleichmäßig hindurch, zeigt deutliche Merkmale dynamischer
Wirkungen (z. B. die Ostseite des die Ader erfüllenden Ge-
steins hat sich über die Westseite desselben gesenkt), steht in
Verbindung mit Eruptivgestein, das gleichzeitig mit dem Erz-
gange an der Oberfläche erschien, und ist von unten her
größtenteils in Folge chemischer Actio» gebildet worden.
Adolf Ott: Der Sut
Es kann demnach nicht bezweifelt werden, daß sich der Com-
stockgang in Folge vulcanischer Hebung gebildet hat, womit
gleichzeitig Trachytgesteine aufgestiegen sind. Sowohl die
Spalte als die Ader, welche die Spalte erfüllt, muß sich also
in der Tiefe fortsetzen. Die Frage nach dem Wie dieser
Fortsetzung ist freilich schwer zu beautworten, doch läßt sich
als wahrscheinlich Folgendes aufstellen: Der Gang wird
in jedem Stadium der Tiefe metallhaltig und silberhaltig
sein; so reiche Silberlagerstätten, als an der Oberfläche, wer-
den sich kaum finden, doch werden die hochgradigen Stätten
an Ausdehnung eher zu- als abnehmen. Silbererze werden
sich vermnthlich eher in der Nähe der östlichen Begrenznngs-
wand finden, in welcher auch wichtige Seitenadern einge-
sprengt sein können. Das bis jetzt aus dem Lode gewon-
nene edle Metall ist nur ein sehr kleiner Theil dessen, was
noch in der Tiefe sich befindet, denn da die ganze Gegend
aus demselben Gestein besteht, so ist es nicht wahrscheinlich,
daß in der Tiefe andere Formationen vorkommen, welche
(wie bei der Beta Madre von Guauajuato) ein plötzliches,
fast gänzliches Unterbrechen des Metallertrages voraussehen
ließen."
„Da die Bergwerlsarbeiten am Comstock-Lode sich wegen
allzu großer Betriebskosten bald nicht mehr bezahlen werden,
so ist der Nutzen des Sntro-Tnnnels dahin festzustel-
len: Das unterirdische Gewässer wird dadurch auf die leich-
teste Weise entfernt; die Minen werden bis in eine Tiefe
von 2400 Fuß bearbeitet werden können; das ausfließende
Wasser wird eine beträchtliche, constante, bewegende Kraft
zum Pochen der Erze an der Mündung des Tunnels liefern
nnd so die theure Dampskrast ersetzen; die Ventilation der
Erzgänge wird erreicht und das Faulen der Zimmergerüfte
int Grubengebäude verhindert; die bis jetzt uuproductiven
Theile des Lobes können näher untersucht werden, wie z. B.
das American Flat, in welchem so viele Gesellschaften ihr
Geld verloren haben; die den Tunnel durchschneidenden Lodes,
wie Monte Christo, St. John u. s. w., werden sich mög-
licherweise in der Tiefe als ertragbar erweisen*)."
Um dem Unternehmen Notorietät zu verschaffen, bereiste
Sntro ganz Westeuropa und traf mit vielen der genannten
Männer zusammen, die ihm für sein Unternehmen ermun-
ternden Beifall aussprachen. Er hatte indeß schon früher
eine Gesellschaft zur Ausführung des Tuuuels gebildet, deren
Statuten am 4. April 1865 von der Gesetzgebung des Staa-
tes Nevada genehmigt worden sind. Die Gesellschaft besitzt
ein Capital von 5 Millionen Dollars und macht sich ver-
Kindlich, den Tunnel in den vorgeschriebenen Dimensionen
*) In ganz ähnlicher Weise sprachen sich über die weitere Pro-
ductivnssähigkeit des Erzganges nnd die Wünschbarkeit des Sntro-
Tnnncls folgende Männer aus: Francis Bowcn, Professor am
Harvard College, Cambridge, im Staate Mafsachnssets. Bernhard
v. Cotta, Professor der Geologie an derBergwerksakademie in Frei-
berg. Julius Weißbach, Bergrath und Professor zu Freiberg.
Dr. H. v. Dechen, Geheimrath und ehemaliger Obcrbergwerksdircc-
tor, Bonn. H. Koch, Bergrath in Clausthal. Bruno Kerl, Pro-
fcssor an der Berliner Vergwerksschule. C. Borchers, Oberiuten-
dant der Bergbaureviere des obern Harzgebirges, Clausthal. M.
Braun, Obcriugeuieur der Ztnkbergwerke- der Vieille Montagne bei
Aachen. A.Daubröe, Qbcriuspector der französischen Deinen, Paris.
John Day, Cvunty-Vermesstr inDayton, Nevada. Guido Küstel,
Bergingenieur in San Francisco, California. Dr. phil. Bnrkart,
Bergrath in Bonn.
o-Tunnel in Nevada. 105
(7 Fuß Höhe, 8 Fuß Weite) mit zwei Rollbahnen vor Ab-
lauf von 8 Jahren, vom I.August 1867 au gerechnet, aus-
zuführen. Der Coutraet der Gesellschaft mit den einzelnen
Bergbaugesellschaften am Comstock-Lode giebt dafür ersterer
das Recht, von jeder mittels des Tunnels ausgeführten Tonne
gold- oder silberhaltigen Erzes 2 Dollars zu beziehen. An
Grundeigenthum und Rechten ist ihr ferner durch die Be-
Hörden bestätigt: 1) Der Besitz eines Landstriches von 7
Meilen Länge und 5080 Acres Oberfläche oberhalb des
Tunnels gelegen. 2) Ein Bauplatz für eine Ansiedelung
oder Stadt an der Tunnelmündung von 1280 Acres Grund-
fläche. 3) Der ausschließliche Besitz aller in Folge des
Tunnelbaues eindeckten Erzlagerstätte«. 4) Das Beuutzungs-
recht alles durch den Tunnel abfließenden Wassers.
Die Privilegien der Gesellschaft wurden vom Congreß
der Vereinigten Staaten am 25. Juli 1866 in allen ihren
näheren Bestimmungen bestätigt. Die erstere Bestimmung
sichert der Compagnie, wenn der Tunnel einmal fertig ist,
eine tägliche Einnahme von mindestens 2000 Dollars, in-
dem schon jetzt bei der umständlichen Förderung täglich 1000
Tonnen Erze aus den vielen bestehenden Schachten ausge-
beutet werden. Der Verlans von Bauplätzen, Minerallaud
und Ackerfeld an Private muß außerdem die Einnahmen der
Compagnie noch bedeutend erhöhen.
Es ist begreiflich, daß dieser Plan Sntro's nicht sogleich
allgemein verstanden und gebilligt wurde, indem das Wesen
desselben nur durch sachwissenschastliche Erörterungen klar-
gemacht werden kann. Die Hauptfrage: Ist das Lode
ein Spaltengang nnd ist dieser auch in der Tiefe
des Tunnels erzführend? läßt sich nämlich nur durch
Analogien beantworten, und in Bergwerkssachen siud Ana-
logien nie völlig conclusiv. Dagegen haben sich Tausende
von Analogien als richtig berechnet erwiesen. Gelingt das
Unternehmen, so kann der Tunnel noch in die Tiefen des
erzführenden Mouut Davidson in gerader Linie fortgesetzt
werden, da derselbe reichen Ertrag verspricht; man wird die
Seitenstollen, da alsdann für Ventilation gesorgt sein wird,
1000 Fuß tiefer austeufen können, und sie gewähren also
die Aussicht auf uueudliche Reichtümer.
Die Hauptursache, warum Sutro anfangs auf Schwie-
rigkeiten stieß, glaubte er in dem Umstände zu finden, daß
die Bergwerksgebiete des Westens meist arm sind und daher
das zum Bergbau uothweudige Capital uicht auftreiben kön-
nen, daß aber der Osten der Vereinigten Staaten, der Ueber-
sluß au Capital besitzt, dieses nicht gern hergiebt, weil mit
dem Miniren im Westen so viel Schwindel getrieben wurde.
Eiue andere Ursache ist die Neuheit des Unternehmens. In
Mexico wurden zwar schon Draiuirtunnels gebaut, in den
Bereinigten Staaten freilich noch nicht, und sind daher unter'
dem Volke noch unbekannt. Neuerungen aber, sogar die
besten, sind überall schwer einzuführen, namentlich wenn sie
von einem Ausländer vorgeschlagen werden uud nicht sofort
Geld abwerfen *).
*) Am Schlüsse des obigen Aussatzes finden wir eine Mitlhei-
lnng, in welcher Herr Sutro den finauzicllcn Nutzen des Tunnels
für die Regierung der Vereinigten Staaten darzuthun sucht. Er
wünscht, daß die Bundesregierung das Wer? ausführen lasse und
meint, daß der Ertrag desselben hinreichen werde, binnen 46 Jahren
die ungeheuren Staatsschulden zu tilgen. N ed.
Globus XIX. Nr. 7. (März 1871.)
14
106
Oscar Schmidt: Eine Kreuzfahrt auf dem Adriatischen Meere.
Eine Kreuzfahrt auf
Von Professor Dr. i
Die Erforschung der Tiefen der Meere ist zwar schon
seit Jahrzehnten gepflegt worden, hat aber einen ganz be-
sondern Aufschwung genommen, seit sie eine der wesentlich-
sten Borbereitungen für die Kabellegung wurde. Von da
her rUhren alle die Vervollkommnungen für das Lothen, na-
mentlich auch jene Maschinen, welche voluminösere Proben
des Grundes heraufbringen, während man sich bis dahin
mit den geringen Mengen begnUgte, die in der mit Talg aus-
geschmierten Vertiefung des Lothes haften bleiben. Mit dem
Schleppnetz hatte man sich kaum in größere Tiefen als
100 bis 200 Faden gewagt.
Das ist nun, wie gesagt, ganz anders geworden. Die
Zeit des Lothens wird durch Abfallen des Gewichtes beim
Berühren des Bodens um wenigstens die Hälfte bis zu zwei
Dritteln der Zeit verkürzt, zugleich faßt der an der Leine
bleibende Apparat einen tüchtigen Klumpen Sand oder
Schlamm, und endlich lassen sich auch die Schleppnetze ein
paar Tausend Faden tief senken. Es hat sich um nichts
anderes gehandelt, als sie schwerer zu machen, wie ich bei-
spielsweise mit größter Sicherheit bis 630 Faden Tiefe mit
einem Schleppnetz operirt habe, dessen Gestelle durch zweck-
mäßig angebrachtes Blei ein Gewicht von nur etwa 90
Pfund hatte. Damit ist die Erkenntniß des Meeresgrundes
und seiner Bewohner in ein ganz neues Stadium getreten,
die überraschendsten Gesichtspunkte sind eröffnet, wobei Geo-
logie und Zoologie zn gleichen Theilen gewinnen. Am frühe-
sten dürfte der leider im vorigen Jahre verstorbene ältere
Sars an der norwegischen Küste in größerer Tiefe, bis
300 Faden, gedredscht haben, — wir müssen dieses Wort
einführen (drague, draguer, dredge). In großartigem
Maßstab wurde aber das Schleppnetz bei der Küstenver-
Messung der Vereinigten Staaten angewendet. Aus verschie-
denen Berichten theils vouv. Ponrtales, welcher dieExPedi-
tioncn als Zoolog begleitete, theils von L. Agassiz, welcher
auch einer Expedition beiwohnte, sind die Resultate vorläufig
bekannt geworden. Von besonderer Wichtigkeit sind die Un-
tersuchungen über den Boden des Golfstromes zwischen Flo-
rida und Euba, sowohl was das eigentliche Golfstrombett
angeht, als in Betreff der Beschaffenheit des von der seichten
Küste ausgehenden Abfalles. Die Resultate stimmen mit
den ebenfalls ganz vorzüglich ausgeführten Untersuchungen
überein, welche Carpenter und W. Thomson auf einem
von der Admiralität gestellten Dampfer zwischen Schottland
und den Faröern und etwas östlich und westlich von diesem
Striche angestellt. Zu den wichtigen Ergebnissen gehört
die Constatirung von Leben überhaupt in allen Tiefen und
einer Anzahl von Thierformen in den größeren Tiefen unter
300 Faden, welche sich, wenn wir uns so ausdrücken dürfen,
durch „vorweltliche" Charaktere auszeichnen. Wir finden
zu unserer größten Ueberraschnng Perioden noch activ in die
Gegenwart ragen, wie namentlich die Kreide, welche wir
längst für abgeschlossen hielten, und wenn der treffliche
Scheffel singt, daß es mit den Sauriern vorbei gewesen,
als sie zu tief in die Kreide kamen, so gilt dies von man-
chen Genossen der Saurier nicht. Ganz besonderes Auf-
sehen erregte die Beobachtung, daß der eigentliche Tiefsee-
schlämm, der „mud" der Engländer, durch und durch er-
füllt sei von einer lebenden Materie, dem sogenannten Ba-
thybius, ein Lebendiges von unübersehbarer Ausdehnung.
u Adriatischen Meere.
t Schmidt in Graz.
In diesem organischen Urschlamme sind ferner mikroskopische,
kalkhaltige Körperchen, die Coccolithen, enthalten, welche, wie
sich in neuester Zeit herausgestellt hat, durch ihre Anhänsun-
gen zur Bildung der Erdrinde mehr beigetragen zu haben
scheinen, als alle übrigen organischen Wesen zusammen.
Ich habe diese Bemerkungen vorausgeschickt, um in ihnen
die Gründe zu zeigen, welche den lebhaften Wunsch in mir
wachriefen, die Grundverhältnisse des Adriatischen
Meeres näher, als es mir bisher möglich gewesen, kennen
zu lernen und ergänzende Untersuchungen zu liefern zu den
im Oeeane angestellten. Dazu bot sich im verflossenen
Sommer eine vorzügliche Gelegenheit. Die Schifffahrt im
Adriatischen Meere hat keine anderen Karten, als die in dem
schon vor mehr als 50 Jahren herausgegebenen und für seine
Zeit sehr guten „Portolano" :c. Ich habe mich selbst im
Jahre 1863 auf einem kleinen mir zur Dispositiou gestell-
ten Kriegsdampfer überzeugen können, wie manche, fast im
Küstenfahrwasser liegende Secca oder Untiefe im Portolano
nicht verzeichnet ist, ganz abgesehen von der Ungenauigkeit
der die Schisffahrt nicht mehr fpeciell interefsirenden Tiefen--
linien und der vielfach ungenauen Peilungen.
Es war daher ein sehr zeitgemäßes Unternehmen, als
vor einigen Jahren das kaiserliche Marineobereommando eine
ganz neue Küsten auf nähme ins Werk setzte, mit deren
Durchführung L. S. Capitän Oesterreicher mit einer be-
deutenden Anzahl von Offizieren betraut ist. Hand in Hand
mit der eigentlichen Küstenvermessung geht die Triangn-
lirnng des dalmatinisch-albanesischen Festlandes,
und an den österreichischen Theil der Vermessung schließt
sich, ein Werk des Friedens, derjenige an, welchen das Kö-
nigreich Italien für seine adriatische Küste übernommen hat.
Ich wendete mich also, da ich wußte, daß die Legung mehre-
rer Linien zwischen Albanien und Apulien bevorstand, an
den oben genannten Herrn Commandanten des Dampfers
„Trieft" und an Herrn Viceadmiral v. Tegetthof, und
bekam bereitwillig die Erlaubniß und Einladung, mit mei-
nem Freunde, dem durch feine vorzügliche Höhenkarte von
Steiermark bekannten Professor Gobanz, einige Wochen den
Vermessungen auf dem „Trieft" beizuwohnen. Zugleich
wurde mir die Zusicherung gegeben, wie sie auch in ansge-
zeichneter Weise gehalten wurde, daß meine eigenen Arbeiten
in jeder Art gefördert werden sollten.
Diese hier ausführlich zu schildern, ist nicht meine Ab-
ficht. Dagegen will ich die äußeren Reiseerlebnisse und Be-
obachtnngen an Land und Leuten, weniger an Meer und
Gethier, skizziren. Betreffen sie doch Gegenden, welche den
meisten Lesern des „Globus" aus eigener Anschauung ganz
unbekannt sind, Gegenden, welche jetzt zwar abseits von dem
allgemeinern Jnteresfe liegen, zur Zeit der römischen Blüthe
aber den regsten Völkerverkehr sahen.
Ich hatte ein Telegramm erhalten, daß am 20. Juni
mich der „Trieft" auf der Rhede von Dnrazzo erwarte.
Bis dorthin waren die Lloyddampfer zu benutzen, und wir
hatten uns darnach eingerichtet, in Ragusa ein paar Tage
zu rasten. Die von Trieft abfahrenden Dampfer, soweit sie
nicht für Italien, Griechenland, Aegypten und die Levante be-
stimmt sind, halten sich an der istrifchen Küste und alle für
Dalmatien und Albanien bestimmten berühren wenigstens
Pola. Zara, Scbenico, Spalato sind dann die nächsten
Oscar Schmidt: Eine Kreuzs>
Hauptstationen, und wer sie, wie ich, im Laufe von 18 Jahren
wenigstens zwanzig Mal berührt hat, wird schließlich mit
den stereotypen Bettlern, Lastträgern und anderen typischen
Gestalten so vertraut, als wenn er in seiner Heimath alten
Bekannten begegnet.
Interessant war diesmal die Scene der Frohnleich-
namsprocession in Spalato, der Umzug der phanta-
stisch geschmückten städtischen und ländlichen morlakischen Be-
völkernng unter Vortritt der Priesterschaft, die ihre Uniform
seit den ersten Jahrhunderten der Christenheit beibehalten
hat, und der Stadtmagistrate im schwarzen Frack. Diese
ganze unglaublich bunte Menge drängte sich dann in die
Hauptkirche, den fast unversehrt gebliebenen Jupitertempel
des Palastes von Diocletian. An Curzola, der alten Corcyra
nigra, ging es bei Nacht vorüber, und so sah ich diesmal
auch nichts von den vor sieben Jahren von mir besuchten
außergewöhnlich grünen Inseln Lagosta und Weleda. Sie
allein mit Curzola haben noch einigen Waldbestand der
Strandkiefer, der sonst an der ganzen Küste seit Jahrhun-
derten, theilweise wohl auch seit einigen Jahrtausenden ver-
wüstet ist. Wie man noch jetzt auf alle ersiunliche bar-
barische Weise gegen die letzten Reste des dalmatinischen Wald-
bestandes wüthet, hat mein verstorbener Freund und Reise-
genösse Unger drastisch geschildert.
Bis Ragusa und Cattaro pflegt die Gesellschaft auf
den Dampfern einen gewissen stereotypen Anstrich zu haben.
Man wird nie ohne Offiziere fahren, die man sich in Oester-
reich in der Regel sehr gern als Reisegefährten gefallen
lassen kann. Selten fehlen weltliche und Klostergeistliche,
und diesmal hatten wir einen sehr liebenswürdigen und ge-
wandten, vieler Sprachen kundigen Mann an Bord, den
Erzbischos von Alexandrien, welcher vom römischen Unfehl-
barkeitscongreß aus einen Abstecher nach seiner Heimath
Ragusa machte. Häufig bin ich auch auf den Lloydschiffen
mit montenegrinischen Großen zusammen gewesen, entweder
auf der Reife nach oder von Petersburg, uud im letztern
Falle mit vollem Beutel, als im erstern. Auf den
Dampfern der albanefifchen Route fehlen natürlich die alba-
nesischen theils christlichen, theils mohammedanischen Kauf-
leute nicht.
Die nächste Umgebung von Ragusa und seinen? Hasen,
der eine halbe Stunde entfernten Bai von Gravofa, ist ent-
zückend schön. Wir hatten es diesmal ganz besonders auf
einen Besuch von Lacroma abgesehen, dem kleinen, Ragusa
gegenüber liegenden Eilande, welches sich zu einem Ruhe-
sitze ausersehen zu haben dem Geschmack des unglücklichen
Kaisers Max alle Ehre macht. Er hat mit dem Um - und
Ausbau eines Klosters begonnen, und würde nach und
nach die Insel zu einem wahren Paradies gemacht haben.
Der größte Theil ist von einem dichten und hochstämmigen
Strandkieferhaine bedeckt, in welchem man die köstlichste, von
balsamischen Düften erfüllte Luft athmet. Mit Geschick an-
gelegte und bis jetzt noch ziemlich erhaltene Gänge führen
zu den Aussichten theils aus das nahe Festland, theils über
das unbegrenzte blaue Meer. Die zerrissene pittoreske Küste
bietet viele Berstecke zum Baden, und namentlich verlockend
hierzuist eine kleine, fast ganz abgeschlossene Bucht, in welcher
man sich den Wellen ohne jegliche Furcht vor den seit einigen
Jahren gefährlich werdenden Haien überlassen kann. Die Insel
war auf dem besten Wege, zu einem Parke sondergleichen
umgeschaffen zu werden, und ich weiß es aus unmittelbarster
Quelle, mit welcher Sehnsucht der arme Maximilian in
Mexico an sein Lacroma zurückdachte. Dorthin wollte er sich
zurückziehen. Und jetzt! Es ist an einen pensionirten Militär
für 30,000 Gulden verkauft. Was der Mann damit ma-
chen will, ist noch nicht klar.
rt auf dem Adriatischen Meere. 107
Am 19. früh gingen wir an Bord des unterdeß ange-
langten Waarendampfers der albanefifchen Linie. Man hat
auf diesen schnell segelnden Schranbenschifsen nicht die Be-
quemlichkeiteu und die reichliche Kost, wie auf den Passagier-
dampsern, z.B. auch kein Bett. Ich befinde mich aber wohler
auf ihnen wegen der geringen Anzahl der Passagiere. So
fanden wir diesmal nur einen Franziskanermönch mit einem
intelligenten jungen Ragusaner, der von jenem in ein alba-
nesisches Kloster geleitet werden sollte, und einen mohamme-
danischen Kaufmann, der seine Andacht in Mekka verrichtet
hatte und über Alexandrien und Trieft nach Scutari zurück-
kehrte. Auch er, wie gewöhnlich die Orientalen auf den
christlichen Dampfern, führte seine Menage selbst, und die
wiederholte sorgfältige Zubereitung eines trefflichen Kaffees
sowie das andachtsvolle Schlürfen des heißen Trankes
machte den Eindruck einer fortgesetzten gottesdienstlichen
Handlung. Schon Nachmittag gegen 3 Uhr wurde auf der
Rhede von Antivari Anker geworfen. Sie ist ganz offen
und bei Süd- und Westwinden sehr gefährlich. Die Stadt
liegt anderthalb Stunden vom Strande entfernt hart am
Fuße oder vielmehr auf den Vorhügeln des steilen Gebirges,
dessen östliche Seite vom See von Scutari bespült wird.
Dagegen erheben sich hart am Ufer mehrere Häuser amtlicher
Bestimmung, eine kleine Caserne, welche mit einer Compag-
nie ziemlich zerlumpter und offenbar sehr gelangweilter Sol-
daten besetzt war, ein Post- und Mauthhaus und eine dürf-
tige, aber guten Kaffee bereitende Schenke. Ich glaubte in
dem Postexpeditor einen Vollbluttürken vor mir zu haben.
Der kühne Schnitt des Gesichtes, das geläufige Albanesisch,
was er sprach, n. s. w. schien mir nicht anders ausgelegt
werden zu können, als der Herr auf einmal in einem sehr
gemüthlichen schleichen Dialekte sich mir als Dr. med. W.
vorstellte. Seit Langem in türkischen Diensten, ist er jetzt
der oberste Sanitätsbeamte des Districts von Antivari und
reitet nebenbei, so oft der Dampfer kommt, von der Stadt
heraus, um mit preußischer Pünktlichkeit die Briese zu expe-
direu. Wir mußten leider auf den Besuch der Stadt ver-
zichten, durchstrichen das angeschwemmte flache Vorland und
ergötzten uns an den zahlreichen, das kleine Flüßchen be-
völkernden Schildkröten (wahrscheinlich Emys lutaria), ohne
eine derselben erbeuten zu können. In der Dämmerung an
Bord zurückgekehrt, lagen wir noch eine Stunde dem Haifisch-
sänge ob. Die 1 bis 2 X/2 Fuß langen Dornhaie (Acan-
thia vulgaris) bevölkern die Rhede in großen Mengen, und
sie bissen so gut an, daß in kurzer Zeit einige dreißig auf
Deck lagen, um am folgenden Tage von der Mannschaft als
ein zwar nicht ausnehmend leckeres, aber doch willkommenes
Mahl verspeist zu werden.
Am Morgen des 20. Juni sielen die Anker vor Du-
razzo, wiederum aus einer ganz offenen, allen Winden aus-
gesetzten Rhede, welche noch dazu so flach ist, daß Schiffe
von einigem Tiefgange über eine viertel Stunde weit dran-
ßen liegen müssen. Ich werde weiter unten einige Mitthei-
lungen über den gegenwärtigen Zustand des einst so be-
rühmten und wichtigen Dyrrhachion geben. Meine Blicke
waren zunächst weniger auf die nicht einladenden Ufer, als
auf den „Trieft" gerichtet, der unfern vom Lloyddampfer lag
und wohin mich und meinen Begleiter, als kaum die Kette
gerasselt hatte, ein herübergeschicktes Boot holte. Noch in
der Nacht sollte aufgebrochen werden, um am andern Mor-
gen von der Höhe von Sasano aus nach Brindisi hinüber-
zugehen. Da galt es denn, sich rasch einzurichten, Netze,
Gesäße und Mikroskop in Ordnung zu bringen. Wir er-
reichten auf der Fahrt nach Brindisi die größte ^.iese mit
430 Faden, und das Resultat dieser und aller späteren
Sondirungen war, daß die Tiefen des Adriatischen Meeres
14*
108 Fr. Mehwald: Bericht über Lappla
alles höhern Lebens fast bar sind, also in dieser Hinsicht
einen Vergleich mit den von den Amerikanern, Engländern
und neuerdings von den Schweden durchforschten Strecken
des Atlantischen Oceans gar nicht zulassen. Ich bin geneigt,
diese Oede auf Rechnung des Mangels stärkerer Strömun-
gen im Adriatischen Meere zu bringen. Höchst überraschend
war aber die Entdeckung, daß der lebendige Schlamm, der
Bathybius des Oceans, der nur in größeren Tiefen von
5000 Faden an vorkommen und diese Tiefen charakterisiren
sollte, in allen Tiefen des Adriatischen Meeres sich vorfand.
Gleichzeitig mit mir hat Oberbergrath Gümbel in Mün-
chen diese Entdeckung verallgemeinert, indem er den Bathy-
biusschlamm und die ihm eigenthümlichen organisirten Kalk-
körperchen, die Coccolithen, als verbreitet über alle Meere
der Gegenwart, in allen Tiefen, und als Bestandtheile viel-
leicht aller sedimentären Gesteine nachwies. Meine Unter-
suchungen über diese Coccolithen und einen andern Kalk-
Organismus, die Rhabdolitheu, welche sich in ihrer Begleitung
finden, habe ich soeben in den Sitzungsberichten der Wiener-
Akademie veröffentlicht. Von Brindisi nach Dnrazzo, rich-
tiger von Bruudusium nach Dyrrhachium, fuhr, wie man als
Schulknabe mit Stannen hört, Cäsar in einem offenen
Boote. Zwar ist die Verbindung gerade dieser Linie jetzt
nicht mehr ini Schwünge, dagegen aber, wo die Küsten durch
das Vortreten des Monte Gargano sich abermals einander
etwas nähern, zwischen Nagusa und Apnlien, findet fort-
während in der guten Jahreszeit ein reger Verkehr statt, in-
dem ebenfalls dnrch offene Boote die apulischen Gemüse auf
den Markt von Nagnfa gebracht werden. Die Abends drü-
ben in See stechenden Fahrzeuge Pflegen zur richtigen Zeit
in Ragusa zrnn Frühmarkte zu sein. So waren denn
auch wir trotz der stundenlangen Verzögerungen wegen des
!s allgemeine Ausstellung in Tromsö.
Lathens und des Schleppens schon Dienstag, 21. Juni, gegen
Abend im Hafen von Brindisi. Er ist der einzige auf der
ganzen italienischen Ostküste von wirklicher Bedeutung, und
man hat seit der Errichtung des einigen Italiens große An-
strengungen gemacht, ihn zweckmäßig auszudehnen und zu
vertiefen. Riesige Erdarbeiten sind im Südosten der Stadt
im Gange zur Gewinnung von Docks und zur Herstellung
der unmittelbaren Verbindung des Hafens mit der Eisenbahn.
So hofft man, ein Emporinm für den levantinifchen, ägyp-
tischen und ostindischen Handel zu schaffen. Einstweilen ver-
kehren nur wenige Dampfer mit der englisch-indischen Post
zwischen Brindisi nnd Alexandrien; die Route ist aber jeden-
falls die kürzeste, und mithin der gefährlichste Concnrrent
für Marseille und noch mehr für Trieft. Auf die Stadt
selbst, ein elendes Nest, hat diese Aussicht bis jetzt uoch kei-
nen erheblichen Einfluß ausgeübt, abgesehen von einigen
nenen Gebäuden am Ouai, darunter ein anständiges Hotel.
Bekanntlich ist ein großer Theil der italienischen Küsten,
namentlich der Ostküsten, in einer säcnlaren Hebung begriffen,
so daß eine Reihe von Städten, die noch in der Kaiserzeit
hart am Strande lagen, nach und uach Binnenstädte ge-
worden sind. In Norditalien ist allerdings diese Hebung
zum Theil nur scheinbar und auf Rechnung der Flußalln-
vionen zu bringen. Nicht so an der apulischen Küste. Hier,
wie z. B. bei Brindisi, ist das Heraussteigen aus dem
Meere sehr deutlich, und es ließ sich der ehemalige Meeres-
boden mit seinen massenhaften Einschlüssen sehr schön bei
den oben erwähnten Hafenarbeiten stndiren. Es ergab sich
auch, daß die eigenthümlichen Körperchen des Bathybius-
schlammes, die Coccolithen, einen nicht geringen Theil dieses
Küstenmaterials bildeu.
Bericht über Lapplands allgemeine Ausstellung in Tromsö
im August und September 1870.
Von Dr. Fr. Mehwald.
Als ich im Beginn des Jahres 1870 von norwegischen
Freunden ein umfassendes Programm über eine Ausstellung
in Lappland zugesendet erhielt und dasselbe im „Globus"
veröffentlichte, schüttelten Viele ungläubig die Köpfe und
meinten, was kann aus Lappland Gutes kommen? Unten-
folgendes wird die Antwort auf diese Frage geben.
Schon seit längerer Zeit hatte man eine Ausstellung in
Tromsö vorbereitet, und der König von Schweden hatte
diese Idee nicht nur dnrch baare Mittel, durch Anschaffung
der Prämien, sondern auch dnrch unten genannte schwedische
Ausstellungsgegenstände gefördert. Am Eröffnungstage feu-
dete der König ein höchst freundliches Telegramm uach
Tromsö und trug zugleich den Beamten auf, den Act so
feierlich als möglich zu machen, weshalb die Procession von
der Stadt nach den Ansstellungsgebanden eben so zahlreich
war als festtäglich erschien.
Die Stadt Tromsö mit 3000 Einwohnern liegt nahe
dem 70. Breitengrade ans einer kleinen Insel gleiches Na-
mens, ist gut gebaut und hat einen vortrefflichen Hafen. In
der Mitte hebt sich die Insel etwas und hat auf dieser Er-
höhung ein schönes Birkenwäldchen, worin sich der Gottes-
acker und die Promenaden befinden: gemäß der allgemeinen
Sitte ini Norden. Die ganze Südwestspitze der Insel zeigt
im Sommer Gerste- und Kartoffelfelder und ausgedehnte
schöne Wiesen. Fährt man über den schmalen Tromssnnd
nach Tromsödalen, so findet nian am Eingange des Thales
Thranfiedereien. Das lange, schöne Thal ist an beiden
Seiten mit hohen, schneebedeckten, senkrechten Felsen einge-
faßt und reicht bis an den Fnß des Tromstind, eines 4000
Fuß hohen, schön geformten Berges , an dessen Fuße im
Sommer in einer Erdgamme Lappen wohnen, welche ihre
Renthiere pflegen nnd ausnützen.
Wendet man sich in Tromsödalen und wirft den Blick
Uber Tromsö hinüber, so erscheint die bunt aussehende Tromsö-
insel wie ein schönes Bouqnet auf einem weißen Teller,
denn ringsum ist Alles in tiefen Schnee gehüllt. —
In der Stadt war für die Ausstellung Alles aufs Beste
hergerichtet und hier hatte, wie oft im Leben, der Zufall
fleißig mitgeholfen. Vor längerer Zeit hatte man nämlich
auf der Südseite der Stadt ein großes dreistöckiges Gebäude
aufgeführt, welches das Theater, die Ressource, Tanz- und
Festsäle, kurz alle Localitäten für das Vergnügen der Städter
Fr. Mehwald: Bericht über Lapplm
enthielt. Und diesem großen Gebäude gegenüber, auf der
andern Seite der Straße, war ein kleineres Hans, welches
als „Hotel" für die Reisenden dienen sollte. Die Sache
war gut gemeint und auch zweckmäßig angelegt; allein das
Berhängniß wollte nicht, daß die Tromsöer ein Vergnügen
genössen; denn es führte die sogenannten Erwecker nach
Tromsö und diese Pioniere der Jesuiten hatten dort
binnen kurzer Zeit alle Fröhlichkeit vertrieben und die Teu-
fels- und Höllen furcht dafür eingeführt. Natürlich wur-
den die gedachten fchönen Gebäude bald als „Höhlen der
Sünde" verschrien, vor denen man sich bekreuzen müsse, und
die Jesuiten ans Altengaard vollendeten, was die Erwecker
begonnen. In Folge dessen verödeten die schönen Gebäude,
da nur befiederte und behaarte Bewohner in denselben hau-
seten.
Für die Ausstellung aber schienen diese Gebäude wie ge-
niacht, weshalb sie im Innern und Aeußern restaurirt, an-
gestrichen und elegant gemalt, auch mit der großen norwegisch-
schwedischen Flagge, welche des Königs Wahlspruch: das
Land wird durch das Gesetz erbaut, zeigt, geziert wurden.
Sowohl in diesen sehr freundlich aussehenden Häusern,
wie in den dazu gehörigen Höfen war Alles vollgesetzt,
-gehängt und -gestellt.
Da es nicht angeht, jeden einzelnen Ausstellungsgegeu-
stand besonders zu beschreiben, so sollen der bessern Uebersicht
wegen die zusammengehörigen Sachen so weit möglich in
Gruppen geordnet werden.
1) Fische und Fischerei. Am Haupteingange waren
die verschiedenen Fischernetze, Note, Taue, Leinen, Schnn-
ren :c. gardinensörmig an allen Wänden aufgehängt, und
die verschiedenen Rundfische, Raaskjäre, Klippfische, Hysen,
Lange, Titlinge, Brosmen, Stor- uud Mittelfeie, gesalzene
Lodden, russisch geräucherte Häringe — kurz, alle Fischgat-
tuugen, welche man in der Handelswelt kennt, in Bündel
zusammengebunden als Verzierungen in den Netzgardinen
angebracht. Auf gleiche Weise hatte man die vielen kleineren
Fischereigeräthe aus passende und anziehende Weise ausgestellt.
Da nur die Fischerei jene nördlichen Gegenden bewohn-
bar macht, auch je nach Umständen den Neichthnm des Lan-
des bildet, so ist es natürlich, daß bei der Ausstellung
die Fische und Fischereigeräthe sehr stark vertreten waren.
Auch einen Fisch läppen in ganzer Positur, wie er auf der
See während der Arbeit erscheint, hatte man ausgestellt,
nämlich mit sehr weiter Jacke, oder einem Kaftan von ge-
gerbtem Leder, wasserdicht genäht, so daß der ganze Kerl,
wenn er die Kapuze über den Kopf zieht, trocken bleibt, da
er auch Seestiefeln, große dicklederue Handschuh, Seeweste und
Zubehör an sich trägt. In der einen Hand hatte er einen
Dorsch, in der andern ein Tiesködergeräth. Neben ihm stand
die Figur eines Knaben in derselben seerechten Kleidung und
mit denselben Fischereigeräthen, um zu zeigen, daß das Fi-
scherleben schon mit der Kindheit beginnt und dem Kna-
ben praktisch der Spruch gelehrt wird: im Schweiße des
Angesichts sollst Du Dem Brot essen.
Von besonderm Interesse war eine ausgestellte Unter-
masserlaterne. Dieselbe soll durch ihr Licht unter dem
Wasser die verschiedenen Fische anlocken und es dem Fischer
möglich machen, dann mit seinen Fanggeräthschaften die
Fische massenweise aus dem Meere heraufzuziehen. Da diese
Laterne während der Ausstellung sich auf eiue Tiefe von
30 Fuß als praktisch bewährte, so ist an ihrer Brauchbarkeit
nicht zu zweifeln.
Auch ein ausgestelltes Wasserteleskop, durch welches
man die Fischbeute schon auf dem Seegrunde sehen konnte,
war für Viele eine interessante Neuigkeit.
Alle aus de« Mord der unterseeischen Bewohner berech-
ds allgemeine Ausstellung in Tromsö. 109
neten Geräthe hier aufzuzählen, dürfte diesen Bericht sehr
lang werden lassen. Denn Bootsanker, Eisenhaken für Be-
festigung der Fischerkähne in Felsrisseu, Harpuueu, Lanzen,
Lachs- und Aalgabeln, Angeln, unverwüstliche Taue von Wal-
roßhaut, sowie gewöhnliche von Hans :c. waren in allen Grö-
ßen und Formen ausgestellt, darunter auch eine Art Fuchs-
eisen mit sinnreichem Mechanismus zum Fangen der Fische
auf dem Meeresgrunde. Eine Trockenfischpresse, Segeltücher,
Fischgerichte vou gehackten und gesottenen kleinen Fischen,
alle Arten zubereiteter Fische; Maschinen zum Auslegen der
Schwimmhölzer auf die Fifchleiuen, Fischguano und derglei-
chen wurden mit großem Interesse betrachtet. Aber beson-
ders anziehend war ein geschmackvoll decorirter Saal mit
gefüllten Flaschen von allen Größen uud Formen und mit
Inhalt vom reinsten Weiß bis zum dunkelsten Braun. Die-
ser Inhalt verhieß den Besuchern eine willkommene Labung
und Erquickung, wenn die scheinbar geistreichen Flaschen ge-
öffnet würden; allein da stand auf den vielen Flaschen.-
Medicinthran, brauner, halbbrauner Dorschthran, dampfge-
reinigter Medicinthran, weißer Thran, Heller Walroßthran,
brauner Seithran, raffinirter Medicinthran, Häringsthran,
roher Haakjäringthran, roher Medicinthran, luftgebleichter
Thran, dampfgekochter Seithran, dampfgekochter Lampen-
thran von Haakjäringsleber, weißer Seithran, natureller
Medicinthran, Seekatzenthran, Walsischthran u. s. w. Diese
vielen Vignetten zeigten, welche Reichthümer die Meerbewoh-
ner den Menschen zu bieten haben.
Ebenso interessant waren die zu Dutzenden ausgestellten
Schiffe und Boote von allen Formen. Außerdem war eine
Fischraucherei und eine Mediciuthranbrennerei zu sehen, und
letztere war um so interessanter, als sie in Thätigkeit gehal-
teu wurde, so daß jeder Besucher die Bereitung des Thranes
vom Ausfüllen der Lebern in die Kessel bis zum Ausfluß
des Weißesten, klarsten recht einladenden Trankes beobachten
konnte. Nebenbei sah man einen sechs Ellen langen Haak-
järing und andere Riesenfische; Walroßhänte, Robben-,
Weißfisch- und Eisbärfelle, Ober- und Unterkiefer von Wal-
fischen, letztere von einer Größe, daß eine Schiffsjolle bequem
Platz saud in einem solchen Kopfe. Ferner Walroßköpfe
mit ihren schweren Elfenbeinzähnen. Dann Häute ausge-
wachsener Walrosse, ä 200 Pfund schwer, und einzelne Rück-
gratsstücke in der Dicke eines gewaltigen Holzklotzes.
Zur Süßwasserfischerei gehörten Modelle von Lachstrep-
Pen und Lachsansbrütnngsapparaten. Letztere waren, so
einfach sie erschienen, oft im Gebrauch gewesen und hatten
schon sechs fischleere Flüsse mit Lachsbrut versehen.
2) Haus- und Hofgegenstände. Zunächst war zu
sehen eine Art Haussicherung mittelst eines auszuziehenden
Kastens, welcher in der Nacht vor unwillkommenen Gästen
warnen sollte; es war aber nicht angegeben, woher der War-
ner wußte, welche Gäste dem Hause angenehm oder unan-
genehm sein würden.
Dann waren eine Menge Fuhrwerke aller Art ausge-
stellt, von dem elegantesten Carriol bis zur plumpsten Holz-
kärre. Danebett Pflüge, Eggett und andere landwirthfchaft-
liche Geräthe aus den ältesten Zeiten, wie mit den neuesten
Verbesserungen versehen. Die ersteren sind wahrscheinlich
von deu Uraltvordern, wer weiß woher? mit herabge-
bracht uud bestehen nur aus Holz, sind dabei sehr leicht,
damit sie der Pflüger beqnem den Berg hinaustragen kann,
weil immer nur bergab gepflügt wird.
Auch war ein ausgestopftes vor eiue Kärre gespanntes
Renthier zu sehen. In der Kärre saß ein Berglappe im
vollen Reisecostüm. — Die Kärren sind theils offen, theils
halb, theils ganz gedeckt und letztere dienen meist als Reise-
stabur.
110 Fr. Meh Wald: Bericht über Lappl
Die Südländer waren sehr verwundert, eine Turnips-
säemaschine sowie eine große und eine kleine Dreschmaschine,
erftere durch Pferde, letztere durch Handkraft in Bewegung
gesetzt, in Lappland zu sehen.
Drainröhren, Ziegeln, Dachschiefer und würfelförmige
Schlacken aus den lappländischen Kupferwerken fehlten auch
nicht, letztere werden zu Treppenstufen und Grundsteinen bei
Häuserbauten verwendet.
Eine Dampfsäge nebst Planken und Brettern in allen
Dicken, sowie Dauben und andere Sägeproducte interessirten
die Beschauer; besonders anziehend aber waren die Quer-
schnitte von wildwachsenden Bäumen am Altenfjord, welche
zum Theil einige dreißig Zoll Durchmesser zeigten: die größte
Merkwürdigkeit unter dem 70. bis 71. Breitengrade! —
Ein Schuhmacher aus Tromsö zeigte eine von ihm er-
sundeue Maschine, mittelst welcher er durch Ebbe
und Fluth andere Maschinen in Bewegung setzte.
Ein Bauer aus Lappisch-Senjen hatte einen von ihm
erfundenen Webstuhl ausgestellt, welchen er mittelst Hand-
umdrehen eines Schwungrades iu Bewegung fetzte, so daß
der Webschütze ganz allein arbeitete, bis das Gewebe fertig
war.
Ein anderer Webstuhl, welcher fortwährend arbeitete,
trieb das Schiffchen hin und her mittelst eines Ruckes der
bewegten Webelade.
Außerdem war großer Reichthum zu sehen an Gegen-
ständen, welche theils dein Vergnügen, theils der Annehm-
lichkeit dienen. Denn es waren schön gestickte Fußteppiche,
ans deren einem ein großer ausgestopfter Eisbär stand; dann
große Massen von Linnenarbeiten; Mützen von norwegischen
Biberfellen; bunte Bänder; weiße und bunte, feine und starke
Strohhüte aus inländischem Stroh gefertigt; feines Pelzwerk,
darunter auch welches von Renthierkälbern, das mit dem
besten Hermelin an Weiche und Schönheit wetteiferte; viele
künstliche Blumen; eine große in Vadsö gearbeitete silberne
Vase mit eingravirter lappländischer Winterlandschaft, Ren-
thierfahrt und Fischerei außerhalb Vardö, ausgestellt. Von
Alten waren Blumenkörbe von ausgeschnittenem Leder, äußerst
zierliche in der langen Winternacht von Landleuten zur Zer-
streuung gefertigte Schuppenarbeiten, künstliche Haararbeiten
und Perlen-, Strick- und Stickarbeiten aller Art eingesendet
worden.
Bewundert wurde auch die Mannichsaltigkeit wollener
Stoffe, für welche die Landweiber die Schafe ziehen, fcheeren,
die Wolle färben, spinnen und wirken, da diese Stosse eben
so echt iu der Farbe als dauerhaft beim Gebrauche sind.
Eben so zeigten die Leinenwebereien, daß der Hausfleiß in
jenen fernen Gegenden größer ist, als man bisher geglaubt
hat.
Ein Handelsmann hatte der Berglappen gewöhnliche
Kleidertracht, Putzgegenstände und Fahrgeräthe sowie das
Hausgeräth, bestehend in Töpsen, Kesseln und Holztassen
und -Tellern, ausgestellt. Die Kleidertracht ist durch die
Kopfbedeckung beider Geschlechter merkwürdig. Die Männer
tragen eine Mütze, welche sich nach oben zu einem großen
Viereck erweitert und aus rothem oder blauem Wollzeuge
besteht. Die Weiber tragen eine Mütze, welche von hinten
hinaus ein krummes, in der Regel aus einem ausgehöhlten
gebogenen Stücke Holz geformtes Horn hat und einem baie-
rifchen Helme nicht unähnlich ist. Die letztere Hornmütze
ist von der religiösen Bewegung in Lappland fast zu Falle
gebracht worden, da es heißt: der Teufel sitze in dem hohlen
Hörne.
Die Handarbeitsschule in Vardö hatte eine Menge Hand-
arbeiten gesendet, darunter Strümpfe von Menschenhaar,
Handschuhe von allen Größen und Stoffen, darunter auch
ids allgemeine Ausstellung in Tromsö.
welche von Hasenhaar, sowie grobe Seehandschuh von rauher
Wolle, welche sich in der fortwährenden Nässe beim Fisch-
fange filzen. Auch ein Kopfkissen, gefüllt mit der bekannten
Torfmoorpflanze Eriophorum (Wollgras), welche einen sei-
denhaarigen, weißen Kopf hat, dessen weiße Wolle sich nicht
wie Baumwolle, Seegras, Kälberhaare zusammendrückt und
viel billiger ist als diese Stoffe.
Filirte und Häkelarbeiten fanden sich in Masse.
Unter den vielen ausgestellten Kleidungsstücken inter-
essirte besonders ein 150 Jahre altes blaues, hemdartiges,
ringsum mit bunten Blumen gesticktes Frauenkleid, welches
sich nach norwegischer Gewohnheit von Mutter auf Tochter,
Enkelin und Urenkelin fortgeerbt hatte. Dazu gehörte eine
stark mit Metall beschlagene, an Ketten am Leibgürtel hän-
gende Tasche.
Männliche Handarbeiten hatten Böttcher, Schreiner,
Schuhmacher, Schmiede, Kürschner, Uhrmacher und Andere
eingesendet. Die Lappen fanden es sehr behaglich, sich in
dem von einem Schmiede ausgestellten Schaukelstuhle zu wie-
gen und die ausgestellten Gegenstände zu bewundern. Diese
Gegenstände waren sämmtlich von Holz, zum Theil sehr
hübsch geschnitzt, und bestanden aus Spahn-, Bast- und Rinde-
körben, Tonnen, Bottichen, Kisten, Lausern, Stampfen, Holz-
schalen, Bänken, Tischen, Stühlen, Wiegen, Kardätschen :c.
Namentlich zogen die Spazierstöcke und Pfeifenröhre von
Birkenrinde mit Walroßzahngriffen, sowie Tabackspseisen
und Schnupftabacksdofeu von Renthiergeweihen alle Anwe-
senden zu denselben. t
Auch ein Silberkästchen, ringsum mit buntem Stroh
schachbrettähnlich ausgelegt, erregte als einzige Mosaikarbeit
viel Aufmerksamkeit.
Großes Aufsehen erregte auch eine von einem Lappen
mit seinem Tollekniv aus einem Stücke Kieferholz geschnitzte
Violine, welche für den Gebrauch Ole Bull's bestimmt
ist. Und die Holzschlösser nebst Holzschlüsseln erfreuten
sich als norwegische Eigentümlichkeit der besondern Gunst
der ausländischen Besucher.
Von den ausgestellten Kaffeemühlen der Lappen bestand
die gebräuchlichste in einem Holzklotz, welcher der Länge nach
etwas ansgetieft war. In diese Vertiefung kam der Kaffee.
Eine Holzwalze oder Holzkugel wurde über denselben hinge-
rollt und dadurch gemahlen.
Das Bettzeug, wie es der gemeine Mann täglich ge-
braucht, bildete eine besondere Abtheilung und bestand aus
Fellen vou Schafen, Renthieren, Kälbern und Hafen, sowie
aus znsammengenäheten Decken von Fnchs-, Bären-, Wolfs-,
Lnchs-, Marder-, Hafen-, Eichhorn-, Fischotter-, Seehund-,
Eisbär- und anderen Fellen. Als Wächter lagen an den
Bettstellen zwei große ausgestopfte Seehunde.
3) Naturproducte. Seepflanzen aus dem Eismeer,
zum Theil so hoch wie hohe Gebüsche und niedrige Bäume.
Ferner eine Masse Fischschuppen und Schalen von Conchi-
lien; seltene Fische aus den lappländischen Districten, theils
in Spiritus, theils getrocknet; die in Lappland vorkommen-
den Jnsecten auf Nadeln gesteckt; ebenso die lappländischen
Vögel mit ihren Nestern und Eiern; gereinigte und unge-
reinigte Eiderdunen; Proben von Nutzhölzern und Farbe-
stofsen; Nester der lappländischen gefährlichen Wespe; Eis-
bär- und Walroßköpfe; Eier in Spiritus, welche so weit
ausgebrütet waren, daß der Vogel ein Loch in die Eierschalen
gehackt und den Schnabel durch die Oessuung gesteckt hatte.
Ferner: lebende Vögel, als Rypen, d. h. Schneehühner, Ad-
ler, Eulen und andere. — Dann Steinkohlen, Sandstein,
Brandschiefer, Thonschiefer mit Pflanzenresten und Ueber-
bleibseln von Weichthieren, Ammoniten und dergleichen. Na-
mentlich aber waren eine große Menge Proben von Kupfer-
Aus allen
erzen, Kalkspathen, Grünsteinen, Htittenprodncten aus den
reichen Kupferwerken Kaafjords, Raipas und Quänangans,
Magneteisen mit Nickel, Bleiglanz mit Silber, Gold mit
Platina, reinem feinkörnigen Schwefelkies, Marmor, Gröt-
stein, Schleifstein, Wetzstein, Torf aus den baumlosen Kü-
Erdtheilen. III
stengegenden und eine große Granitkugel, welche durch Ein-
Wirkung des Wassers unter einem großen Wasserfalle durch
einiges Drehen ihre kugelrunde Gestalt erhalten hat, ausge-
stellt, welches die Besucher im hohen Grade zu interessiren
schien.
Aus allen
Die Berge der Pacisie-Küste.
Die verschiedenen Höhenpunkte der Gebirgsketten unserer
Küste sind schon mehreren Vermessungen unterworfen worden,
ohne daß man jedoch bis jetzt entschieden sichere Resultate in
jeder Beziehung erreicht hätte. Bis jetzt hatte man allgemein
angenommen, daß Kalifornien imShasta den höchsten Berg-
gipfel an der Paeific-Küste aufzuweisen habe, doch hat Professor
Davison kürzlich in seinem Bericht an die wissenschaftliche Aka-
demie durch seine Mittheiluug, daß Mount Rainier im Wa-
shington-Territorium 14,444 Fuß hoch sei, die bisherige
Annahme widerlegt. Californien ist somit durch das Washington-
Territorium überflügelt worden, denn Mount Shasta ist unse-
ren Staatsvermessungen gemäß nur 14,440 Fuß hoch.
Eigenthümlich ist übrigens der große Unterschied zwischen
der bis jetzt angenommenen Höhe des Mount Rainier und der
jetzt festgestellten Höhe, man glaubte denselben früher nur 12,330
Fuß hoch. Dieser Umstand hat feinen Grund darin, daß der
Berg einen abgeplatteten Gipfel hat und so weit niedriger scheint,
als wenn er eine steil aufsteigende Spitze hätte; außerdem sind es
eigentlich drei Gipfel, welche den Berg bilden, und dieselben
sind so gleich in Form und Lage, daß, von der einen Seite ge-
sehen, sie ein Gipfel zu sein scheinen. Auch die geographische
Lage des Berges ist anders als früher festgestellt worden.
Der Mount Baker, ein in der Nähe liegender Berg,
wurde früher auf 11,900 Fuß geschätzt, ist aber nach der neuer-
dings angestellten Vermessung nur 10,760 Fuß hoch.
Noch ist übrigens mit eben erwähnten Zahlen nicht bewie-
sen, daß wirklich Washington-Territorium den höchsten Berg
unserer Küste besitzt, denn noch fehlen genauere Vermessungen
vieler jedenfalls mit in Concurrenz tretenden Höhen, und eben-
so, wie einst Oregon mit seinem Mount Ho od, welcher auf
15,000 bis 17,000 Fuß geschätzt wurde, glaubte den höchsten
Berg zu besitzen und jetzt, nachdem die wahre Höhe sich auf
13,000 Fuß reducirt hat, dem Washington-Territorium weichen
muß, ebenso gut können spätere Vermessungen wieder Califor-
nien den ihm als Bannerstaat der pacifischen Küste gebührenden
Rang auch in den Gebirgshöhen verschaffen. So hat man sehr
triftige Gründe zu glauben, daß sich in den Alpenregionen
Kaliforniens in der Sierra vom Castle Peak bis zum Kern
River, welche sich 200 Meilen lang im südlichen Theile un-
seres Staates hinzieht, ein Gipfel befindet, welcher den Mount
Rainier weit hinter sich läßt. Der Name dieses Berges ist
Mount Whitney. Im ersten Bande von Professor Whitney's
Bericht wird dieser Berg als 14,730 Fuß über dem Meeres-
spiegel angegeben, doch soll eine Spitze existiren, die sich noch 300
bis 400 Fuß höher in die Wolken versteigt. Außerdem soll auch
noch ein anderer Berg daselbst existiren, welcher 14,500 Fuß
hoch ist, und hätte, wenn diese Angaben exact sind, Californien
zwei „Peaks", welche höher sind als Mount Shasta und Mount
Rainier. Diese ganze Gebirgskette am Kern River ist von
imponirender Höhe. 200 Meilen entlang findet sich kein Paß
unter 10,000 Fuß hoch, und keiner der Berge hat weniger als
13,000 Fuß.
Alle größeren Berge der Sierra Nevada und der Cascade
Range (letztere ist nur eine Fortsetzung der erstern) waren früher
Erdtheilen.
Vulcane und es find sogar mehrere davon, z. B. Shasta, Ho od ,
Rainierund Baker, noch zeitweilig thätig, während Ho od
und Rainier von Zeit zu Zeit große Rauchsäulen zum Himmel
senden. Die Krater der letzten beiden sind kürzlich vermessen
worden. (California Staatszeitung.)
Die Volksmenge in den Staaten und Gebieten der
nordamerikanischen Union.
Die Ergebnisse des neunten Census sind, insoweit sie sich
auf die Ziffern der Volksmenge in den Staaten und Territorien
beziehen, vom Censusbureau in Washington am 30. Januar
zusammengestellt worden. Wir theilen diese anitlichen Angaben
mit; sie zeigen, daß überall eine Zunahme der Bevölkerung
stattgefunden hat; nur die zwei mit Sternchen bezeichneten
Staaten Maine und Neuhampshire machen eine Ausnahme:
Staaten. 1870. 1800. Zuwachs Proc.
Alabama. . . 964,201 3.5
Arkansas. . . 435,450 11
California . . 379,994 47.5
Connecticut. . . . . 537,413 460,147 16.8
Delaware . . . . . 125,015 112,216 11.5
Florida . . . . . . 187,756 140,424 33.8
Georgia . . . 1,057,286 13.6
Illinois . . . . . . 2,539,638 1,711,951 48.4
Indiana . . . 1,350,428 23.9
Iowa . . . . 674,913 76.6
Kansas . . . 107,206 238,5
Kentucky . . . . . . 1,321,001 1,155,684 14.4
Louisiana . . . . . 732,731 708,002 3.5
Maine. . . . . . . 626,463 628,279 *.29
Maryland . . . . . 780,806 687,049 13.7
Massachusetts . . . . 1,457,351 1,231,066 18.4
Michigan. . . 749,113 58.1
Minnesota . . 172,023 153.2
Mississippi . . 791,305 5.5
Missouri . . . . . . 1,715,000 1,182,012 45.1
Nebraska. . . 28,841 326.5
Nevada . . . . . . 42,491 6,857 519.7
Neuhampshire . . . 318,300 326,073 *2.4
Neujersey . . . . . 905,794 672,035 34.8
Neuyork . . . . . . 4,364,411 3,880,735 12.5
Nordcarolina . . . . 1,069,614 992,622 7.8
Ohio . . . . 2,339,511 13.8
Oregon . . . . . . 90,922 52,465 73.4
Pennsylvania . . . . 3,515,993 2,906,215 21
Rhode Island - . . 217,356 174,620 24.5
Südcarolina . . . . 726,000 703,708 3.5
Tennessee. . . 1,109,801 13.4
Texas . . . . 604,215 32
Vermont. . . 315,098 5
Virginia . . . 1,219,630 .43
Westvirginia . . . . 445,616 376,688 18.3
Wisconsin . . . . . 1,055,167 775,881 36
Total 38,095,680 31,183,744 21.1
112
Aus allen Erdtheilen.
District Columbia . . 131,706 75,080 75.5
Territorien.
Arizona...... 9,658 — —
Colorado...... 39,706 34,277 15.9
Dacota ..... 14,181 4,837 193.2
Idaho....... 14,998 — —
Montana...... 20,594 — —
Neu-Mexico .... 91.852 93,516 ---1.8
Utah ....... 86,786 40,273 115.6
Washington .... 23,901 11,594 106.2
Wyoming..... 9,118 — —
Total District und
Territorien . . . 442,500 259,577
Total in den Staaten 38,095,680 31,183,794 21.1
Total in den Ver-
einigten Staaten 38,538,180 31,443,321 22.6
Wir fügen hier die Angaben über die Volksmenge in
den am stärksten bevölkerten 20 Städten der Union
nach den nun amtlich festgestellten Ziffern bei:
Städte. 1870. 1800. Procent.
1. Neuyork .... 922,531 805,658 14.6
2. Philadelphia . . 674,022 565,529 19.2
3. Brooklyn .... 396,200 266,661 48.7
4. St. Louis . . . 310,864 160,773 93.4
5. Chicago .... 298,983 109,260 173.7
6. Baltimore . . . 267,354 212,418 25.9
7. Boston..... 250,525 177,840 40.9
8. Cincinnati . . . 216,239 161,044 34.3
9. Neuorleans . . . 191,322 168,675 13.5
10. San Francisco . 149,482 56,802 163.2
11. Buffalo..... 117,715 81,129 45.1
12. Washington . . 109,204 61,122 78.8
13. Newark..... 105,078 71,941 46.1
14. Louisville.... 100,753 68,033 48.1
15. Cleveland .... 92,846 43,417 113.9
16. Pittsburgh . . . 86,235 49,217 75.3
17. Jersey City . . . 81,744 29,226 179.7
18. Detroit .... 79,580 45,619 74.5
19. Milwaukee . . . 71,499 45,246 58.1
20. Albany..... 69,422 62,367 11.4
Nach der Zählung von 1360 ist die relative Stellung jener
Städte die nachfolgende gewesen:
1. Neuyork. 8. St. Louis. 15. San Francisco.
2. Philadelphia. 9. Chicago. 16. Pittsburgh.
3. Brooklyn. 10. Buffalo. 17. Detroit.
4. Baltimore. 11. Newark 18. Milwaukee.
5. Boston. 12. Louisville. 19. Cleveland.
6. Neuorleans. 13. Albany. 20. Jersey City.
7. Cincinnati. 14. Washington.
Anbau und Ausfuhr des TKees in Ostindien. Thee
aus Indien kam zuerst 1862 nach London. Damals veran-
schlagte man die Gesanimtproduction jenes Landes auf etwa
zwei Millionen Pfund, aber 1870 wurden fchon 11,000,000
Pfund aus Unterbengalen exportirt. Gegenwärtig zählt man
in Assam nicht weniger als 290 Theepflanzungen, in Dard-
schiling 44 Theegärten; in Sylhet 22, in Kaschar 118
Plantagen. Aus Calcutta wurden 1870 verschifft 18,434,000
Pfund Thee, etwa 3 Millionen Pfund mehr als im Vorjahre.
Man ersieht daraus, daß der indische Thee dem chinesischen
Concurrenz zu machen anfängt. England führte 1869 aus
China 139,223,298 Pfund im Werthe von etwa 5 Millionen
Pfund Sterling ein.
# * *
— Ein wackerer deutscher Patriot in Venezuela.
Als solchen können wir Herrn Adolf Ernst in Caracas be-
zeichnen. Derselbe ist als ausgezeichneter Naturforscher bekannt;
er vermittelt den gebildeten Männern in seiner transatlantischen
Heimath die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungen Deutsch-
lands; er ist ein thätiges Mitglied der Vargasia, des einzi-
hen wifsenschastlichen Vereins in Venezuela. In dieser Gesell-
schast entfaltet er eine anregende Wirksamkeit; in der gleich-
namigen Zeitschrift, welche naturwissenschaftliche und geographi-
sche Arbeiten enthält, theilt er manche, allemal gründliche und
gediegene Abhandlungen mit, welche für die nähere Kunde Ve-
nezuelas von Belang erscheinen. Die Deutschen in jener Repu-
blik wohnen zumeist in der Hauptstadt Caracas und in den
beiden Hafenplätzen Puerto Cabello und LaGuayra. Ihre
Zahl beträgt vielleicht im Ganzen noch keine tausend Köpfe,
aber an Betätigung ihrer patriotischen Gesinnung und ihrer
warmen Theilnahme für die Geschicke und den Aufschwung des
alten Vaterlandes sind sie hinter unseren Landsleuten in ande-
ren transatlantischen Ländern nicht zurückgeblieben. Die Fran-
zosen sind längst bemüht gewesen, in dem alberner Weise von
ihnen als „lateinisch" bezeichneten Südamerika für sich Sym-
pathie zu erwerben und dabei ist ihre Presse planmäßig zu
Werke gegangen. Das war auch während des großen Krieges
der Falf; die Lügen, in welchen sie bekanntlich nur in Fallstafs
einen ebenbürtigen Nebenbuhler aufzuweisen haben, wurden auch
in Südamerika verbreitet; die Deutschen seien es gewesen, welche
den heiligen Boden Frankreichs in raubsüchtiger Absicht mit
Krieg überzogen hätten, sie seien ein rohes, wildes, aller Gesit-
hing entfremdetes Barbarenvolk, welches keine menschlicheil Ge-
fühle in sich trage. Sie hätten es aus Frankreichs Zerstückelung
und Vernichtung abgesehen und was dergleichen mehr ist. Darob
ist nun, wie billig, unser wackerer Landsmann Adolf Ernst er-
grimmt und er hat in einer Flugschrift: „Francia, Alsacia y
Lorena, Caracas 1871", 22 Seiten, seinen Venezuelanern den
wahren Standpunkt klar gemacht. Das Durchlesen dieser Schrift
hat uns mit wahrer Genugthuung erfüllt. Als Motto hat A.
Ernst den Satz des bekannten Preßbuben E. About vorange-
stellt: „An unserer Ostgrenze müssen wir ein getheil-
tes, zu Grunde gerichtetes, geknebeltes Deutschland
haben." Dann geht er auf eine geschichtliche Darstellung ein
und giebt die Thatsachen wie sie waren und sind. Damit ver-
nichtet er die Lügen der Franzosen; er zeigt, was der Rhein ist,
und welche Bewandtniß es mit der sogenannten Rheingrenze
habe. Für uns im alten Vaterlande sind alle diese Argumente,
welche Ernst vorbringt, nicht neu, es ist aber verdienstlich, ver-
mittelst derselben die Südamerikaner aufzuklären. Er weist
ihnen auch nach, wie es sich mit der vielgerühmten „Civilisa-
tion" von drei Viertheilen der Bevölkerung Frankreichs verhält,
und auch damit hat er ein gutes Werk gethan.
— Der große Kaieteur-Katarakt in Britisch Gu-
yana ist im April 1870 von einem Herrn C. V. Brown ent-
deckt worden, als derselbe auf einer geognostifchen Forschungs-
reise begriffen war. Derselbe liegt im Potaro, einem westli-
chen Zuflüsse des obern Efsequibo. Der Potaro fällt über ein
Sandstein-Tafelland; die Höhe des Kataraktes betrügt 822 Fuß,
die Breite des Flusses am Rande des Falles 123 Haids; die
Tiefe des Flusses am Rande des Falles fand Brown 15 Fuß
2 Zoll.
Inhalt: Aus dem Leben und Treiben des Kasservolkes in Südost-Afrika. (Mit fünf Abbildungen.) (Schluß.) — Der Sutro-
Tunnel in Nevada. Ein nordamerikanisches Bergbauuntcrnehmen. Von Adolf Ott. — Eine Kreuzfahrt aus dem Adriatischen Meere.
Von Dr. Oscar Schmidt. — Bericht über Lapplands allgemeine Ausstellung inTromsö im August und September 1870. Von
Fr. MeHwald. -- Aus allen Erdtheilen: Die Berge der Pacific-Küste. — Die Volksmenge in den Staaten und Gebieten der
nordamerikanischen Union. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andrer in Diesten. — Für die Redaktion verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
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Vi WWMWMMKMMKMNMKMKMi r
Band xix.
8.
[ti befondcrer HerürksiclitiZung der Antlii-oxoloJic und Ethnologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
März Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1871.
B e n i - H a s s a n.
Nachdem wir Nachmittags gegen 4 Uhr am 4. Februar
1866 die Stadt Minieh verlassen hatten und nilauf gefah-
reu waren, erblickten wir nach kurzer Frist in der Ferne,
auf hoher Gebirgsterrasse liegend, die berühmten nördlichen
Felshallen von Beni-Hassan, d. h. Söhne des Hassan; und
bald lag unser Boot beim Dorfe vor Anker.
Nordhallen.
Beni-Hassan liegt am rechten Ufer des Nils, nur wenig
südlicher, als 28 Grad nördlicher Breite. Wir stiegen ans
Land und gelangten, Uber Weizenfelder schreitend, in einen
Globus XIX. Nr. 8. (März 1871.)
wogenden Palmwald, der schon die gelben Blüthenranken
zeigte; die Kronen der Stämme rauschten, vom Nordwinde
gepeitscht. Das Gebell der wilden Hunde empfing uns, als
15
114
Beni-Hassan.
wir dem kleinen, grauen Belled, d. h. Dorf^. uns näherten,
welches hinter Feldern nnd fruchtbringendem Dctttelhciin dicht
am Rande der arabischen Wüste erbaut ist.
I. Das östliche Felsenthal.
Ein weites, sandiges Blachseld, von versteinerten Eon-
chylienschalen vielfach bedeckt, dehnt sich parallel mit dem
Flusse vor den malerischen und kühn geformten Gebirgs-
zügen aus. Ein einsames Schechengrab erhebt hier seine
graue Kuppel inmitten der Wüste. Da für uns die Zeit schon
zu weit vorgeschritten war, um noch am Tage auf die entfernte
Gebirgsterrasse zu gelangen, so wandten wir unsere Schritte
gen Osten, wo sich inmitten des horizontalschichtigen, viel-
fach durchlöcherten Gebirges ein schattiges, kleines Felsthal
öffnet. Zackig und terrassenartig steigen seine Wände empor,
deren Felsmassen zum Theil das Aussehen riesiger Schwämme
haben, welche seit Jahrtausenden hier auswittern.
Sackartige Löcher sind in den Fels gemeißelt, einige am
Nordabhange, mehr aber amSüdabhange des Thals. Wei-
terhin auf der Südseite erscheinen an der goldschimmernden
Felswand kleine, portalartige Oeffnnngen, so groß etwa, daß
ein mäßig gewachsener Mensch ohne Beugung hindurchkann,
lieber jeglicher Thür ist eiu Hohlkehlgesims, darüber das
verticale Plättchen, die ursprünglichste Gesimsbildung, an-
gebracht, die ersten Vorklänge architektonischer Gliederung,
einer künftig zu gewaltiger Größe sich entfaltenden Baukunst.
Weiterhin folgt ein fchon mehr
gegliedertes Portal; Thürpfosten
sind in den Fels gehauen, dar-
über ein horizontaler Sturz. Als
Randglied der Rundstab; Hiero-
glyphen bedecken die Flächen der
Pfosten; die des Sturzes überzieht
eine figuralische Darstellung, Opfer
nnd Anbetung vor dem Könige.
Die Hohlkehle erfüllen die hiero-
glyphischen Zeichen der Königs-
namen in ihrer Umfassung, jeglicher mit der Krone überdeckt.
Durch die reich geschmückte Thür gelangt man in die ge-
räumige, felsgehauene Kammer von qnadrati-
scher Grundfläche und etwa 18 bis 20 Fuß
Seitenlänge. Einige tiefe Schachte oder Brun-
neu gehen vom Boden senkrecht hinunter. Spu-
reu von Bemalung zeigen die Wände, inson-
derheit die grünen Stengel nnd Blüthen des
Lotos. Neben dieser befindet sich eine größere
Höhle; die übrigen sind von nur geringer Aus-
dehnuug. So reiht sich Thür an Thür, Kam-
mer an Kammer.
Am Schluß der Grabkammern aber er-
regt ein felsgehauener Tempelraum größere
Aufmerksamkeit. Es ist der Felsentempel der Pacht, der
ägyptischen Artemis, von den Griechen Spsos Artemidos
genannt; eiu Werk
der neunzehnten Kö-
nigsdynastie, welche
nach Manetho 174
Jahre von 1462 bis
1280 vor Christi
Geburt die Herr-
schaft zu Theben be-
saß. — Fünf Ein-
gänge, durch vier an
ihrer Vorderseite dreifach gegliederte Felspseiler getrennt,
führen in das Innere der Vorhalle A, welche bei 44 Fuß
Breite eine Tiefe von 22 Fuß besitzt. Der erste der Pfeiler,
2» so 40 50 60
gegen Westen zn, ist zertrümmert; nur die Ansätze desselben
oben und unten sind erhalten.
Die breiten Seitenwandungen der vierkantigen Pfeiler
bedecken hieroglyphi-
sche Inschriften. At-
lantenartige Figuren
scheinen an den Rück-
feiten ausgehaueu ge-
wesen zu sein, sind
aber jetzt verstüm-
melt. Eine abacus-
ähnliche Kopfgliede-
rung schließt die Pfei-
ler nach oben; dar-
über ein scheinbarer
Architrav, welcher
an der Vorderfläche
hoch hinauf reicht und zahlreiche Hieroglyphenstreifen enthält.
Eine zweite Reihe Pfeiler von vierkantiger Grundfläche
zog sich der Breite nach durch die Mitte des Raumes, die
Achsen auf diejenigen der vorderen Pfeiler gerichtet. Sie
sind zerstört, nur noch ihre Basis und der Felsarchitrav
sind sichtbar.
Die Decke des Raumes ist flach gemeißelter, dichter Kalk-
fels, und sie bedürfte der Pfeiler wohl nicht; denn der Ge-
gensatz zwischen der Decke als lastendem und den Pfeilern
als tragendem Element kann da, wo Alles aus einem ge-
wachsenen Felsen gehauen ist, nicht von großer Geltung sein.
Die Entfernung der Decke vom Boden beträgt etwa 20
Fuß. Die Seitenwände der Vorhalle zeigen den rohen und
nackten Fels, zum Theil durchlöchert. Die Rückwand ist
mit farbigen koilanaglyphischen Darstellungen und hierogly-
phischen Inschriften bedeckt.
Die Figureudarstelluugen enthalten Opfer uud Huldi-
guugen vor dem König. Die männlichen Figuren haben
eine brauurothe Hautfarbe und tragen den bekannten ägyp-
tischen Schurz um die Lenden. Die Frauen haben sämmt-
lich eine gelbe Hautfarbe und sind von langen, faltenreichen
Gewändern umhüllt, doch so, daß die Formen des Körpers
nicht verdeckt werden. Alle Figuren sind von der Seite,
mit typisch steifem Schritt, eben solchen Arm- und Hand-
bewegungen, mit nach vorn gewandter Brust und ernsten
Gesichtern gebildet. Die Farbe der Hieroglyphen ist ein
guterhaltenes Kobaltblau.
In der Mitte der Rückwand führt ein als Portal ge-
gliederter 12 Fuß breiter, 13 Fuß tiefer Durchgang B zur
Zelle C. Die Wandungen desselben bedecken Hieroglyphen.
Die Cella ist von quadratischer Grundfläche und hat 22 Fuß
Seitenlänge; ihre Höhe harmonirt mit der der Vorhalle. Im
Hintergrunde derselben befindet sich, etwa 10 Fuß über dem
Boden, eine kleine Nische mit sculpirter Portalumfassung,
beiderseitig sieht man die Spuren reliesirter Götterbilder.
Nur spärliches Licht dringt einzig vom Eingange her in den
seiner Zeit wahrscheinlich künstlich uud magisch beleuchteten
Raum.
Wohl zeigt sich an der symmetrischen Anordnung dieses
Höhlentempels, an der Gliederung der Pfeiler uud Archi-
trave ein Streben nach architektonischer Anlage und Wir-
kung, ein ausgesprochener architektonischer Wille, aber noch
ist es nur ein schwerer, ungeschickter Anfang. Noch kleben
die rohen Formen zu sehr an dem Felsen , aus dem sie er-
standen, noch ist es kein Bau, vielmehr ein architektonisches
Sculpturwerk; noch erhebt sich kein einziger Stein frei, uu-
abhängig von seinem ursprünglichen Lagerort, Alles ist ge-
wachsener Fels. Die schwere Felsdecke drückt von oben ge-
waltig herab; man fühlt sich unsicher und unheimlich in dem
Veni-H
düstern Räume. Es fehlt die Sicherheit gewährende Wech-
selwirkung des Widerstandes zwischen Kraft und Last, zwi-
scheu stützendem und gestütztem Element. Die Scheinpfeiler
streben nicht empor, Architrav und Decke lasten nicht wirk-
lich auf denselben. Bon architektonischer Wirkung kann
noch nicht die Rede sein; nur die unsägliche Mühe und Ar-
beit, womit die Räume dem Felsgebirg abgerungen sind,
fallen in die Augen.
Neben dem Tempel, noch weiter nach Osten, befindet sich
issan. 115
eine portalartige Oesfnnng, von welcher eine Felstreppe zu
einem kleinen Raum emporführt, aus dessen Fensterluke man
in die Vorhalle des Pachttempels herabblicken kann.
Ziegel und Gesäßscherbeu bedecken den Sandboden Vör-
den Felshöhlen, welche sich zum Theil wohl 12 bis 15 Fuß
hoch über der Thalsohle auf einer Niedern Terrasse hinziehen.
Mächtige Felsblöcke und kleineres Geröll sind vom Gebirge
herabgestürzt. Alles ist wild, öde und pflanzenlos. Aus
den Lüften tönt das Kreischen der Geier und Falken, die in
demselben aufgepflanzt, und bald fah man da, wo noch eben
Leben und Bewegung herrschte, nur Schutt und Trümmer,
über welche die Stille des Todes sich gelagert hatte.
Das alte Beui-Hassan erstand nimmer ans dem Schutt;
die Wenigen, welche bei der grausamen Zerstörung entkom-
men waren, wanderten entweder weiter, oder siedelten sich
in der Nähe an und erbauten den jetzigen Ort.
Nahe bei dem Trümmerdorf stieg unser Weg jetzt östlich
empor über Stein und Geröll; manch umgewandelte Con-
chilienschale lag hier im Sande. Nach mühsamem Empor-
klimmen erreichten wir die Terrasse, die sich etwa in der
Mittlern Höhe des gelben Gebirges vor den Felshallen hin-
zieht; sie hat etwa eine Breite zwischen 8 bis 10 Fuß.
Hier rasteten wir ein wenig, ehe wir eintraten in die
kühlen Hallen und genossen den Blick auf das fruchtbargrü-
ueude Nilthal, welches beiderseitig der gelbe Wüstensaum be-
grenzte. In blauem Duft entschwand die Landschaft in der
Ferne.
Die Felshallen und Gräber, welche sich, 35 im Ganzen,
längs der Nordterrasse in verschiedenen Gruppen an einan-
der reihen, sind wohl hinsichtlich ihrer architektonischen An-
läge und EntWickelung in drei Hauptabtheilungen zu unter-
scheiden, und zwar: 1) in die einfachen Grabkammern, welche
nur durch ein gegliedertes Portal sich bemerklich machen, ganz
übereinstimmend mit den gewöhnlichen Felsengräbern des
übrigen Aegyptens; 2) in die Hallen mit Säulen aus vier-
fach gekuppelten Lotosstengeln gebildet; 3) in die Hallen mit
den protodorifchen Säulen.
Von den ersten genügt es wohl, anzuführen, daß sie sich,
am Südende der Reihe beginnend, gegen Norden hinziehen
und daß die größte Zahl der Felskammern ihr Gepräge
trägt. Mitunter einige Hieroglyphen in Gewänd und Thür-
stürz, wenn man diese Ausdrücke bei gehauenem Fels anwen-
den darf; mitunter im kleinen Raum (etwa 8 Fuß auf 10 Fuß
oder auch 12 Fuß auf 15 Fuß) geringe Spuren von Ma-
lerei, oftmals sargartige Aushöhlungen und tiefgehende Schachte
am Boden.
Durch mächtige und wildzerklüstete Felswände von dieser
ersten Reihe und unter einander getrennt, folgen die drei
15 *
den Felslöchern treffliche Wohnungen finden und daselbst
ungestört nisten. —
Wir kehrten aus dem einsamen Thal zu uuserm Schiff
zurück; schon hatte die Sonne sich gesenkt, am Himmel rothe,
zauberische Gluth zurückgelassen und einen unbeschreiblichen
Duft über die ganze Landschaft ausgebreitet.
Später, als es dunkel geworden, erfreuten wir uns an
den lichten Feuersäulen, welche von einem Ofen, woselbst
Zuckerrohr ausgesotten wurde, in die Sternennacht strahlten
und die Palmen geisterhast erleuchteten.
II. Die nördliche Felsterrasse.
In der Morgenfrühe des 5. Februar trieb uns das kläg-
liche Geschrei der Abends znvor mit ihren Treibern ans Ufer
bestellten Esel aus dem Schiss, um nach den nördlich von
Beni-Hassan auf hoher Felsterrasse gelegenen Felsengräbern
zu reiten, welche durch die sogenannten protodorischen Säulen
berühmt sind.
Die Thiere waren schlecht genug; jung, nicht stark auf
den Beinen, statt des Sattels mit einer Decke umgürtet; an
Zaum und Steigbügel war gar nicht zu denken. Unser Weg
führte zunächst wieder in den Palmenwald; dann wandte er
sich gen Norden und erstreckte sich am Saume der Felder,
auf denen zahlreiche Taubenschwärme hin- und wiederslogen,
und am steilen Abhang des Gebirges hin.
Nach kurzer Frist hatten wir die Trümmerstätte von
Beni-Hassan-el-Cherab, d. h. das zerstörte Beni-Hassan, er-
reicht. Gran und düster erhoben sich die dachlosen Mauern
der Häuser, die Kuppeln der heiligen Gräber und der Mo-
schee aus den hohen Schutthügeln von Sand, von Gefäß-
scherben nnd Ziegelbrocken.
Es war einst ein mächtiges, großes Dorf, weit bedeuten-
der, als die jetzt südlich davon am Rande der Wüste erbaute
neue Ansiedelung. Aber die Bewohner waren wild und auf-
rührerisch gegen die Regierung, welche ihnen wohl Steuern
über Gebühr auferlegte. Deshalb über den Ungehorsam
empört, beschloß Ibrahim Pascha, der zweite Regent der jetzi-
gen Dynastie und Sohn Mohammed Ali's, Beni-Hassan
der Erde gleich zu machen. Seine Kanonen wurden vor
Beni-Hassan.
Hallen mit den gekuppelten Lotosstengeln. Es sind größere
Räume, in welche von außen eine einfache Thür ohne be-
sondern Schmuck führt.
Nur zwei dieser Hallen, welche neben einander in den
Fels gehauen sind, mögen zu näherer Betrachtung herange-
zogen werden. Die erste kleinere erstreckt sich bei einer Breite
von 35 Fuß aus 48 Fuß in das Innere des Felsens. Zwei
Säulenreihen aus Lotossten-
geln erheben sich der Breite
nach im Hintergrunde; die
erste ist 28 Fuß von der
Eingangswand entfernt; die
Säulenreihen unter sich 7
Fuß, eben so weit von der
Rückwand abstehend. Drei
Säulen zählt jede Reihe;
seitlich springen Wandpfeiler
vor. Nur drei Säulen, die
beiden äußeren der ersten und
die Mittelsäule der zweiten
Reihe haben die Unbilden der
Zeit und der rohen Men-
schenhand überdauert.
Uebcr den Säulen er-
hebt sich ein giebelsörmiger
Scheinarchitrav, denn die Decke ist sparrensörmig aus dem
Fels gehauen. Die Höhe bis zum Architrav beträgt gegen
14 Fuß; verschüttete Schachte gingen vom Boden in die Tiefe;
ob sie zu geheimuiß-
lltA
\
voll angelegten Grä-
bern, ob zu Schatz-
kammern führten,
bleibt dahingestellt. II j II| II i 1 II11 f1 III | II 11 II < |
An den Wänden zieht hj n 1 fn I 11 II I 1111f |
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Decke ein etwa 13 ^ W %4 Vf Vf W W W
Zoll bis 2 Fuß ho- M m M ffl M M M M
her aufgemalter und -tsA~ ll!iiiil-M_M_JiL ---Mj
eigeuthümlicherFries IW
hin, welchen man
fast in allen Felsgräbern wiederholt findet. Die Wände be-
decken bildliche Darstellungen.
Die zweite Halle hat eine Breite von 44 Fuß bei einer
Tiefe von 55 Fuß und eine
Höhe von etwa 15 Fuß bis
zum Architrav. Drei Sau-
lenreihen, jede zu drei Säu-
leu, erheben sich in ihr; aber
nur zwei, die erste der vor-
dersten Reihe vom Eingange
ans zur Rechten und die
erste der zweiten Reihe sind
erhalten, von den übrigen
nur die Ansätze noch vor-
Händen. Die erste Säulen-
reihe ist 23 Fuß von der
Vorderwand entfernt, die
Reihen unter sich 10 Fuß,
eben so viel beträgt der Ab-
stand von der Wand.
Im Uebrigen trägt die
Halle ganz den Charakter
der vorhergehenden. Vorn
rechts vom Eingange ist sie nicht völlig fertig geworden;
ein mächtiger Felspfeiler blieb stehen. Die Säulen sind in
beiden Räumen dieselben.
Auf einer etwa 2 Fuß 5 Zoll hohen runden und
tellerartigen Basis, welche wahrscheinlich grün gefärbt war,
steigt der Schaft empor, gebildet von vier runden, geknp-
Pelten Lotosstengeln. Er hat eine sehr bedeutende Schwel-
lnng (Entasis) uud Verjüngung nach oben, wodurch das
Emporsprießende, Pflanzenhafte sehr gut gekennzeichnet wird.
In je 1 Fuß hohen Schichten ist der Stamm grünblau uud
oraugegelb bemalt,
und zwar ist die IM.
terste Schicht grün;
wahrscheinlich besan-
den sich auch aus ihr
die Keimblätter an-
gegeben, doch lassen
Verstümmelung und
Staub dies nicht
mehr erkennen. Die
oberste Schicht hat
Orangefarbe. Un-
mittelbar unter dem
Capitäl werden die
vier Stengel von fünf
Bändern zusammen-
gehalten, welche so-
mit einen Säulen-
hals bilden. Sie tra-
gen verschiedene noch
sehr gut und frisch
erhaltene Farben, und
zwar: das unterste
Band purpurroth,
hieraus folgt ein
blaugrünes, das
mittlere hat Orange-
färbe, hierauf wieder
ein blaugrünes Band
uud znmSchlnß aber-
mals ein purpurfar-
biges.
Das Capitäl ist
aus den vollen, kräf-
tig ausladenden,aber
noch geschlossenen
Blüthenknospen ge-
bildet. Zwischen den
vier großen Knospen
sind unten in den
Ecken noch vier kleine
eingeschoben, deren
grüne Stengel durch
die Bänder hindurch bis zur zweiten Schicht des Stammes
reichen.
Die Blüthenknospen sind blaugrün bemalt nnd senkrecht
von weißen Streifen durchzogen Ein vierkantiger Abacus
von meergrüner Farbe, welchen die Knospen nahezu tan-
giren, bedeckt sie; derselbe geht bündig mit dem giebelförmi-
gen Architrav.
Es zeigt diese Hallengruppe doch schon weit mehr archi-
tektonische Durchbildung, als dies beiden gewöhnlichen Grab-
gemächern der Fall, ja den Säulen ist eine gewisse Leichtig-
keit nnd Zierlichkeit nicht abzusprechen.
Jndeß eine klar ausgesprochene und consequent durchge-
bildete architektonische Anlage finden wir erst bei der dritten
Gruppe uud bei dieser auch nur in den beiden nördlichen
Hallen.
Die am weitesten gegen Norden gelegene Halle unter-
Beni-Hassan.
117
scheidet sich bei ziemlich gleichen Raumverhältnissen von der
zweitfolgenden nur dadurch, daß ihre Vorhalle von zwei acht-
kantigen Pfeilern getragen wird und nur im Innern proto-
dorische Säulen stehen, während bei der zweiten Halle fo-
wohl Vor- als Jnnenraum von solchen gestützt ist.
Wir beginnen deshalb mit dieser zweiten Halle. Sie
behauptet ohne Zweifel unter sämmtlichen der Terrasse den
ersten Platz hinsichtlich architektonischer Anlage und Bedeu-
tung und, wenn auch immer noch nur ein großes und müh-
sames Sculpturwerk, so wird doch bei ihr Alles leichter,
freier und strebender, und der unangenehme Eindruck des
Mühevollen schwindet.
Zwei Säulen von Achse zu Achse 17 Fuß entfernt, stützen
die offene Vorhalle, welche eine Tiefe von 10 Fuß bei einer
Breite von 40 Fuß besitzt. Die Säulen tangiren den
Abacus; dieser ist bündig mit dem etwa 3 Fuß hohen Archi-
trav, an dessen Oberkante ein sparrenartiges, an Holzbau
erinnerndes Gesims vorragt; über diesem eine ebenfalls noch
flach gearbeitete Felsplatte.
Es ist dies der einzige Fall, wo in der ägyptischen Archi-
tektnr eine so ganz von der üblichen abweichende, freilich noch
etwas ursprüngliche Gesimsbildung vorkommt.
Die Vorhalle, aus welcher ein einfaches Portal mit
scnlpirten Hieroglyphen wirkungsvoll in das mysteriöse Zwie-
licht des Jnnenraumes leitet, ist über dem Architrav der
Breite nach von einem scheinbaren Tonnengewölbe im Stich-
bogen überdeckt.
Der innere Raum ist von quadratischer Grundfläche, die
Quadratseite 40 Fuß lang. Durch vier protodorische, eben-
falls im Quadrat angeordnete Säulen, welchen an der Vor-
der- und Rückwand Pilaster entsprechen, wird derselbe in
drei Abtheilungen getrennt; Felsarchitrave ziehen sich über
Säulen und Pilaster hin. Die Decken sind gleich derjenigen
der Vorhalle scheinbar gewölbt der Breite nach.
An diesen Raum schließt sich eine kleine Cella, in wel-
cher man drei sitzende scnlpirte Statuen gewahrt, leider zur
Unkenntlichkeit verstümmelt.
Die Vorhalle und der große Raum haben eine beiläufige
Höhe von 17 Fuß bis zum Architrav; der Cellenraum ist
niedriger. Die beiden Säulenreihen des innern Raumes
haben mit den Säulen der Vorhalle die gleiche Achse nnd
sind sämmtlich erhalten.
Capitäl.
Querschnitt der proto-
dorischen Säule.
Die berühmte protodorische Säule, so genannt, weil sie
vielfach als Vorbild der griechifch-dorischen Säule bezeichnet
wird, ist ein sich nach
oben verjüngender
Stamm, mit flach
tellerartiger Basis,
ohne Capitäl; die
Schwellung beträgt
jedenfalls nur sehr
wenig. Ein vierkan-
tiger mit dem Archi-
trav bündiger Aba-
cus bedeckt ohne je-
des Mittelglied den
IKfeitigen Stamm;
15 dieser Seiten-
flächen sind cannelirt
ohne Steg zwischen
den einzelnen Riesen;
die 16. nach innen,
der Hauptachse der
Cella zugewandte, ist
flach und bündig mit
dem Abacus; wahr-
scheinlich sollten Hie-
roglyphen auf derfel-
beu angebracht wer-
den. — Wie schon erwähnt, hat die erste der nördlichen
Hallen nur im Innern vier 16seitige an der Innenfläche
dem Mittelgange zu nicht cannelirte Säulen; in der Borhalle
dagegen stehen zwei achtkantige Pfeiler.
Außer dieser und der zweiten Halle reihen sich gen Sü-
den zu noch sechs kleinere vorhallenartige Räume, welche
ebenfalls von dorisirenden Säulen gestützt sind.
Die dritte Halle hat ebenfalls geriefelte Säulen; drei
Hallen zeigen Säulen mit 16 ebenen Flächen; die von zwei
Hallen haben einen achtkantigen Querschnitt.
Sämmtlich sind sie von mit den Architraven bündig
laufenden Abaken überdeckt. Bis zu zwei Drittel Säulen-
höhe vom Boden ist ein Theil der kleinen Hallen noch in
Sand, Geröll und Felsstücken begraben; erst die neuere Zeit
hat bei den wesentlicheren Monumenten diesen Schutt weg-
geräumt. Die Säulen haben leider in der angegebenen Höhe
sämmtlich Sprünge und manchmal sind große Stücke aus-
gebrochen. Zwei Säulen in den kleinen Hallen fehlen gäuz-
lich; eine hängt, unten abgeschlagen, am Architrav.
Die lange als einzige Seltenheit im ägyptischen Baustil
berühmten protodorischen Säulen von Beni-Hassan stehen
übrigens nicht mehr allein, seit Mariette Bey, der Leiter der
ägyptischen Ausgrabungen, die Trümmer von Deir-el-Bahari
aufgedeckt hat. Der kleine Tempel, aus weichem, weißem
Kalk erbaut, liegt nicht fehr hoch am Rücken des thebani-
schen Gebirges, etwa x/4 bis V2 Stunde nördlich vom Tem-
pelpalast zu Medinet-Abu entfernt, und enthält in seinen
Hallenanlagen gegen 20 und mehr protodorische Säulen,
welche noch aufrecht stehen. Doch sind sie lange nicht von
so großem Umfang, wie die zu Beui-Hafsan, dagegen im
Verhältniß zu denselben schlanker.
Ob die protodorische Säule von Beni-Hassan wirklich die
Mutter der hellenisch-dorischen geworden, ob der sagenhafte
Aegypter Kekrops bei seinem Auszüge aus Sai's das Pro-
totyp der Säule mit nach Attika gebracht, oder ob die Grie-
chen selbständig nnd ohne fremde Zuthat ihre dorische Säule
erfanden, — über diesen Punkt laßt sich wohl eben so viel
hin und wieder streiten, als darüber, ob die jonische Säule
118
Beni-Hassan.
thatsächlich aus den verschnörkelten Säulen zu Persepolis sich
entwickelt hat.
Man möchte glauben, es sei nichts so sehr Großes, einen
Sänlenstamm in 16 oder 20 gleiche Flächen zu theilen und
diese zu canneliren, und ich würde dies als selbständige Er-
findung sowohl den Aegyptern, wie den Griechen und ande-
ren Völkern zutrauen, oder sollten vielleicht die Assyrer erst
von den Aegyptern gelernt haben, ihre Säulen zu riefeln?
Viel wesentlicher erscheint mir die Bildung des Capitäls
bei der dorischen Säule, und hierbei konnten die Hellenen
bei den Aegyptern nichts absehen. Die ersten und ältesten
uns überkommenen dorischen Säulen in Griechenland (Ko-
rinth, Aegina, Theseion in Athen) zeigen die völlige Capitäl-
gliederung. Den Einschnitt unter dem Halse des Hypotra-
chelion, die drei über einander vorspringenden Ringe und
den voll und kräftig ausladenden Echinns.
Auch der Abacus ist verändert; er läuft weder mit Säule,
noch mit Architrav mehr bündig, sondern er lädt bündig mit
dem ihn zunächst stützenden Echinns weit über den Umfang
der Säule aus und tritt vor dem Architrav hervor.
Diese ganze Bildung ist ein neues, speciell hellenisches
Element, und erst hierdurch wird die Säule zur dorischen,
daß sie die Capitälgliederung erhält.
Man sollte daher den Hallen von Beni-Hassan der pro-
todorischen Säulen halber nicht, diefe ihnen bisher gezollte
Bedeutung zuerkennen.
Viel wichtiger erscheinen die zahlreichen gemalten Dar-
stellungen, welche die Wände der zweiten und dritten Hallen-
grnppe bedecken, und welche das öffentliche und häusliche Le-
ben der alten Aegypter, ihre Freuden und Vergnügungen
veranschaulichen. In den kleinen Hallen zeigen sich nur
wenige Spuren von Malerei.
Ehe ich indeß den Inhalt einiger Bilder anführe, sei in
Kurzem noch der ornamentalen Ausschmückung gedacht.
Die Decken der beiden nördlichen Hallen sind in Qua-
dratfelder von je 2 Zoll Seite eingeteilt. Schwarz sind
die Trennungslinien, die
Felder abwechselnd weiß
und gelb. In dem Felde
befindet sich eine Kreuz-
blume, und zwar von
blauer Farbe in dem wei-
ßen, von brannrother in
dem gelben. Die Schein-
architrave tragen ansge-
hanene und himmelblau bemalte Hieroglyphenstreifen. Der
Grund des Architravs, die Säuleu und Pfeiler sind getüncht
in der Farbe des rothen Granits von Syene. Also verstan-
den schon die alten Aegypter drei Jahrtausende vor unserer
Zeitrechnung architektonisch zu lügen, indem sie aus gelbem,
weichem Kalk den harten Syeniter Granit nachahmten, ganz
in der Weise, wie heutzutage mittelst bequemer Uebertünchnng
aus Sand- oder Kalkstein, aus Verputz, Holz oder Eisen mit
geringen Kosten die herrlichsten Marmorbauten aufgeführt
werden.
Jener schon erwähnte eigenthümliche Fries umzieht die
Wände an ihrer Oberkante. Unter demselben sind in ver-
schiedenen Reihen über einander die Figurendarstellungeu an-
geordnet. Ein dunkelfarbiger Sockel, von dem überdies nicht
mehr viel zu erkennen ist, schloß die Wand gegen unten. In
den Vorhallen der beiden Nordhallen hat nur die Decke die
Quadrateintheilung. Sonst feine Farbespuren.
Leider sind die Bilder nicht koilanaglyphisch gearbeitet
und dann bemalt, wobei ans weit größere Dauerhaftigkeit zu
hoffen gewesen wäre, sondern die Zeichnung ist nur leicht
iu den Kalk eingeritzt und hierauf mit eintönigen, typischen
X X W X X X x
X X X X X X X
X X X X X X X
X > X > X W X
Farben ausgefüllt. Vielfach sind Stellen im Laufe der Zeit
unkenntlich geworden, mehr noch aber hat die rohe Hand der
eingeborenen, bilderfeindlichen Moslems und die Rücksichts-
losigkeit Fremder den Darstellungen geschadet. Man sieht
Flächen, wo Stücke von ganz anständiger Größe aus der
Wand losgesägt sind, so daß der Zusammenhang mit den
nachbarlichen Darstellungen grausam zerstört ist.
Aus den Sammlungen des britischen und anderer Mn-
seen Europas, welche erbarmungslos ihrer Begierde nach
Schätzen das Ganze opferten, läßt manches Stück sich recon-
struiren und gewinnt so wieder die alte Bedeutung, während
das losgerissene Original sinnlos und vereinzelt derselben
ermangelt. Ein Glück ist es zu nennen, daß jetzt endlich
der schamlosen Räuberei, mit welcher die ägyptischen Tempel-
räume, ihre Statuen und Malereien seit Jahrhunderten ge-
plündert wurden, und zwar von allen den Nationen, die so
sehr über Vandalismns und'Barbarei schreien und an die Cnl-
tur appellireu, — daß endlich dieser Verschlepperei einiger-
maßen dnrch die ägyptische Regierung ein Ziel gesetzt ist.
Die Figuren sind natürlich, wie immer, in steif typischer
Ruhe und Bewegung dargestellt, die Brust nach vorn gekehrt,
während Gesicht und der übrige Körper im Profil gebildet
ist. Nichts kennzeichnet eine Individualität.
Sie reihen sich reliefartig an einander; wo mehrere der
Tiefe nach neben einander stehende Gestalten vorgestellt wer-
den, sieht man die Profile derselben je ein wenig um die vor-
deren vorgeschoben; natürlich erscheint die doppelte Anzahl
Beine.
Wo aber der Gestalten zu viele wären, wie bei einem
schlachtgewappneten Kriegsheer, da wurden solche in Reihen
ober- und unterhalb der Hauptreihe angeordnet.
Fast alle Lebenskreise zeigen sich an den Wänden von
Beni-Hassan in bunten Farben.
Feld-, Garten- und Weinbau. Hier sieht man an
einer der Wände die brauurothen Aegypter mit dem Pfluge
das Feld bestellen; noch heute ackern die Fellachen mit dem-
selben ursprünglichen Geräth. Hier wird in weitem Bogen
die Saat ausgeworfen; dort werden von den Wasserträgern
die emporschießenden Aehren getränkt. Da wird geerntet
und die Frncht in Scheuern aufbewahrt. Hier füttert man
das Vieh und die Gänse werden, wie in jetzigen Zeiten, ge-
waltfam gemästet.
Von einem Baume, reich mit Goldfrüchten beladen, ans
welchem drei Hundsaffen sitzen, bricht ein steifer Aegypter
die Früchte in einen Korb.
Dort sieht man Trauben in Bütten aufgestellt. Mit
einer Presse aus Palmmatten und Stricken bestehend, welche
in einem Gerüst befestigt ist, wird der Weinsaft in der Weife
ausgepreßt, daß man die Presse an den beiden Enden nach
entgegengesetzten Seiten herumwindet in Richtung ihrer Längs-
achse.
Viele Männer siud mit dieser Arbeit beschäftigt; in der
Nähe werden andere, die vom süßen Nebensafte zu viel ge-
kostet, vom Schauplatze getragen.
Jagd nnd Fischfang. Zahlreiche Bilder sind der
Darstellung von Jagdscenen gewidmet. Gazellen und An-
tilopen werden theils mit Hunden gejagt oder mit Schlingen
gefangen, theils mit Pfeil und Bogen oder mit dem Wurf-
speer erlegt. Auch auf den Löwen richtet sich der geflügelte
Pfeil; den Hippopotanius trifft im Wasser der Speerwurf.
Leider ist die Jagd auf den Schrecken des Nils, das ge-
fürchtete Crocodil, nicht veranschaulicht, wahrscheinlich weil
dasselbe als eines der gottgeheiligten Thiere nicht getödtet
werden durfte.
Deu Jagdscenen folgt eine Darstellung fast aller jagd-
Bern-Hassan.
119
baren und einiger nicht jagdbaren Säugethiere; darunter
der Steinbock, welcher jetzt auf die öden Gebirgszüge der
sinaitischen Halbinsel sich zurückgezogen hat; ferner Antilopen,
der Zebu, Gazellen, der Hase, das Stachelschwein, Wolf,
Fuchs, Schakal und Hyäne, Panther und Leopard. Den Schluß
bildet die Katze, welche nachdenklich vor einer Ratte sitzt.
Hierauf folgt die Bogeljagd. Theils erlegt der Pfeil die
Thiere im Flug, theils werden sie, wie besonders Tauben, wie
Enten und andere Wasservögel in Netzen lebendig gefangen.
Diesen Jagdbildern folgt ein Stück Naturgeschichte des
Vogelreichs. Da sieht man die wilde Taube, die Turtel-
taube, kleine Singvögel, die großen und kleinen Nilmöven.
Die verschiedenen Arten der Strandlüufer, darunter der so-
genannte Spion von schwarzweißer Farbe, der feine Nähe
stets durch einen harten, schrillen Ton zu erkennen giebt und
sehr schwer zu erlegen ist. Dann das Geschlecht der weißen
und grauen Reiher, die großen Kraniche; diese sind besonders
gut gegeben; lange Reihen stehen neben und durch einander
in stummer Betrachtung, und es ist ein großes Gewirr von
Schnäbeln, Hälsen und Stelzfüßen. Auch der nachdenkliche
schwarze Storch, der Kibitz, der freche Wiedehopf und andere
Vögel sind abgebildet.
Von geheiligten nur der schwarze Ibis, welcher längst
im oberu Nubien seinen Wohnsitz hat, in Aegypten aber
ausgestorben ist. Von den
Raubvögeln, Adler, Geier,
Falke und Sperber, ist unter
der langen Reihe kein ein-
ziger dargestellt. Dagegen
trifft man den Geier und den
königlichen Sperber sehr oft
unter den Hieroglyphen und
Sculptureu.
Die meisten Vögel zeigen
eine ruhige Profilstellung,
nur wenige sind im Flug ge-
zeichnet. Sämmtliche Thiere
sind in Farbe wie Zeichnung
von ganz vortrefflicher Cha-
rakteristik. Auch fabelhafte
Thiere, wie Greife, Sphinxe
u. f. w., gewahrt man.
Die verschiedenen Fische des Nils werden theils vom
Ufer, theils vom Boote aus geangelt, theils werden von dem
letztern Netze zu ihrem Fang ausgeworfen.
Die Schifffahrt der alten Aegypter war nach der ge-
gebenen Abbildung von der der heutigen in etwas Wesent-
lichem nicht verschieden. Es sind dieselben Nilboote mit
einem Mast, mit Segel und mit einer Anzahl Ruderer.
Nur die Form des Segels ist eine andere. Bei den alten
Aegyptern viereckig mit zwei horizontalen Stangen, bei den
jetzigen dreieckig mit schräggestellter Stange.
Auch Boote mit Cabinen gewahrt man, ebenso die hei-
ligen Boote, auf welchen in verschlossenen und gemalten Sär-
gen die Mumien der Verstorbenen über den heiligen Fluß
gebracht wurden.
Verschiedene Gewerke. Hier sei zunächst ein Bild
erwähnt, auf welchem bei einem Kasten eine Figur kauert
und Thiere auf denselben malt; nebenan wird von einem
andern eine Statue mit Farben überzogen.
Hier werden Töpfe auf der Scheibe geformt, dann im
hohen Ofen gebrannt und die fertigen Maaren fortgeschafft.
Dort sind bei einem Feuer zwei Gestalten gekauert, welche
Glas blasen.
In einem andern Bilde ist die Arbeit des Goldschmieds
von Ansang bis zu Ende dargestellt.
Sparrengcsims.
Gelbe Frauen spinnen mit der Spindel; Frauen und
Männer arbeiten am Webstuhl. Die Seiler drehen ihre
Taue und Schnüre. Hier sieht man die Walker arbeiten.
Auch Barbier und Heilkünstler fehlen nicht.
Als Mittel, stets Gehorsam zn erhalten, dient die noch
heute in Aegypten übliche und viel angewandte Prügelstrafe.
Heerwesen. Reihen schild- und speerbewassneter Krie-
ger, Bogenschützen und Schleuderer zeigen sich an den Wän-
den. Auch die Belagerung einer mit Zinnen gekrönten
Festung ist abgebildet und die Belagerten schütten Steine
und dergleichen auf die Feinde herab und schießen mit Pfci-
len. Die Belagerer sind gegen diese Angriffe durch Schutz-
dächer, sogenannte Testndines, geschützt und senden ihre Pseile
und Wurfspeere aus gesicherter Stellung.
Spiele und öffentliche Schaustellungen. Den
Reisenden, welcher aus Italien kommt, wird es wohl über-
raschen, an den Felswänden von Beni-Hassan unter deu
Spielen der alten Aegypter die in jenem Lande so sehr be-
liebte Morra, das schnelle Fingerspiel, anzutreffen. Außer-
dem sieht man Figuren an dem im ganzen Oriente auch jetzt
noch sehr viel gespielten Schach- oder Dambrett sitzen. An-
dere unterhalten sich mit Reifwerfen und dergleichen.
Harfen werden von Frauen und Mädchen gespielt. Weib-
liche Gestalten in enger Ge-
wandnng, mit langem Schci-
telzopf, Chinesinnen ähn-
lich, spielen Ball mit mehre-
ren Kugeln zugleich; weibliche
Jongleurs, bald stehend, bald
schreitend, bald emporsprin-
gend. Tänzer und Gaukler
zeigeu ihre Kunst in Stel-
lnngen, Verdrehungen und
Verrenkungen, gegen welche
die Kautschukmänner des
neunzehnten Jahrhunderts
gar nichts in diesem Fache
leisten.
Und nun denke man sich
in allen diesen gymnastischen
Uebnngen, bei den athleti-
schen Stellungen n. s. w. die typisch ägyptische Steifheit, das
Pathos der Figuren, so ist bei dem Inhalt der Bilder selbst
die Wirkung des Lächerlichen in hohem Grade unvermeid-
lich. Auch Ringer sieht man kämpfen und fechten, und
eine Darstellung zeigt, daß die Aegypter sich sogar dem Ver-
gnügen des Stierkampfes nicht verschlossen. —
Die Hallen der Nordterrasse von Beni-Hassan gehören
einer viel frühern Zeit an, als der Pachttempel und die des
östlichen Felsenthals. Man führt sie an als ein Werk der
zwölften Dynastie, welche laut Mauetho mit der elften zu-
fammen während des Mittlern Reiches 213 Jahre zu The-
ben herrschte, und zwar von 3O64 bis 2851 vor unserer
Zeitrechnung. Sie sind nach den verschiedenen Pyramiden-
gruppen von Gizeh, Sakarah, Abusir und Dashur die ersten
Monumente, welche man bei der Fahrt nach Assuau, dem
alten Syene, nilaus gewahr wird und welche somit einführen
in die ägyptische Architektur.
Gegen ein Uhr am Nachmittage, als die afrikanische
Sonne kraftvoll auf die helle Gebirgswand zu wirken be-
gann, kletterten wir den steilen Pfad wieder hinab zn den
kühlen Flutheu des Nils und erreichten noch am selben Abend
Gerf-Sarhad, woselbst wir übernachteten.
)
120
Fr. Mehwald: Bericht über Lapplands allgemeine Ausstellung in Tromsö.
Bericht über Lapplands allgemeine Ausstellung in Tromsö
iin August und September 1870.
Von Dr. Fr. Mehwald.
II.
4) Alterthümer. Davon waren ausgestellt: ein an-
spruchslos aussehendes altes Kästchen, in dessen Innerm
es ansiug zu rasseln, sobald man das Kästchen in die Höhe
hob und wendete. Jeder war begierig, den verborgenen Schatz
zu sehen; allein da war weder Schloß noch Riegel zu be-
merken und der Deckel schieu unbeweglich. Endlich, nachdem
ein Paar Plättchen in dem geschnitzten Deckel etwas gedreht
und am Boden ein Paar Holzfüßchen weggenommen waren,
ging der Deckel ans und der Eröffner sah zwei schöne Stücke
Schwefelkies uud einen Zettel mit einem witzigen Epigramm
auf den Erössner.
Ferner eine im vorigen Jahrhundert aus Birkenwurzeln
künstlich geschnitzte Holzschale.
Ferner zwei alte von einer nordischen Frau gemalte Oel-
gemälde, das eine ein Blumenstück, das andere eine nordische
Landschaft vorstellend.
Ferner alte aber wohlerhaltene, werthvolle Frauenkleider.
Ferner alte Angelhaken von Knochen; Pfriemen, Pfeil-
spitzen, schneidende Instrumente u. s. w.; Messingsässer mit
getriebener Arbeit, ungeheuer große Büsselhörner, Schatullen,
Kästchen und dergleichen.
Ferner ein zweihundert Jahre alter Kasten aus massiver
Eiche. Deckel und Seiten waren mit kunstreichem Schnitz-
werk übersäet, welches biblische Geschichten versinnlichte, z. B.
Esaias in der Wüste unter einer Eiche sitzend, von Raben
mit Brot und Fleisch bedient und die Hände nach diesen
fliegenden Dienern ausstreckend.
Ferner mehre wunderbar gearbeitete Schränke, um und
um mit alten werthvollen Schnitzereien und dazwischen an-
gebrachten alten Malereien, sämmtlich Bilder aus der bibli-
schen Geschichte vorstellend, geziert. Daneben eine alte Stange
mit einem großen Holzhammer am obern Ende, womit in
der Kirche die schlafenden Kirchenbefncher anfgepocht wurden.
Ferner ein mit alter Schrift über Christian des Vierten
Besuch 1599 in Bardöhuus — der nördlichsten Festung auf
der Erde — versehener Balken.
Ferner in Lappland gefundene Pfeilspitzen von Stein;
eiserne Lanzen, Spießspitzen von Flint, Bärenspieße, Bajo-
nette und andere Massen, alte Münzen, Goldmedaillen, ver-
schiedene alte Silbersachen, Werkzeuge, Trink- uud Schnupf-
hörner, Stühle, Haken, Lauser, Schalen, Schnallen und
Schmucksachen.
Ferner alte Bücher, darunter eine gegen 300 Jahre alte
Postille, in welcher man sehen konnte, wie weit die Sprache
seit jener Zeit fortgeschritten ist.
5) Landwirtschaftliche Gegenstände. Sehr sau-
ber gearbeitete Pslüge, Eggen, Ackerwalzen, Heu- und Getreide-
schütten, Modelle von Sägewerken, Theerbrennereien, Garn-
Haspel mit Uhrwerk, Bauentwürfe und dergleichen.
Ferner waren ausgestellt von echt lappländischen Arbei-
ten Messer und Dolche von ausgezeichneter Messerschmiede-
arbeit mit den kunstvollsten Schnitzarbeiten an den Griffen.
Letztere waren von Walroßzähnen, bei den Säbeln von Horn
mit Messingbeschlügen.
Ferner lebende Thiere, als Berg- und Waldeulen, Adler
und andere Vögel; Schafe von allen Altern, Größen, Far-
ben, Feinheiten, mit und ohne Hörner; kleine nordische
Schweinchen, auch einige Stücke Rindvieh und Pferde sowie
eine kleine Herde' Renthiere.
Ferner landwirthschastliche Erzeugnisse, als alle Sorten
Käse, wie er in Lappland bereitet wird; dann getrocknetes
Fleisch, Rauchwürste und dergleichen. Viele Bntterproben
und eben so zahlreiche Proben von Gerste, Hafer, Roggen,
Erbsen und Weizen, darunter eine eigene Sorte Gerste ohne
Schale. Mehlproben von vorgenannten Getreidearten zeig-
ten, was für Brot der gemeine Mann essen muß. Auch
Rindenbrot war ausgestellt; es wollte aber Keinem behagen,
weil der Kiefergeschmack widerlich ist. Doch wird bei Huu-
gersnoth diefes Brot gesucht.
Ferner Knollen- und Wurzelgewächse, als Kartoffeln,
worunter eine weiße feine Sorte aus Alten; Rüben, Mohr-
rüben, Sellerie, Pastinak und andere; dann eingelegte Sa-
chen, als: Pilze, Augelicawurzeln und alle Arten Garten-
und Waldbeeren, wie Johannisbeeren und Wein von den-
selben; Birkensaft, Häg, d. i. Branntwein aus Prunus pa-
dus u. s. w.
6) Königliche Ausstellung. Der allbeliebte König
von Schweden hatte nicht nur die Ausstellung persönlich ge-
fördert durch Einsendung baarer Mittel sowie der Preis-
Medaillen, sondern auch durch Schenkung folgender Ansstel-
lnngsgegenstände, welche nach beendeter Ausstellung dem
Lehrerseminarium in Tromsö gehören sollten: zweckmäßige
Katheder nebst Schulpulten und Bänken nach norwegischen
und schwedischen Modellen. Sieben Abtheilungen Gemälde
für den Gebrauch beim Unterricht in der biblischen Geschichte.
Für den Geschichts- und geographischen Unterricht Lesebücher
und Karten von allen Theilen der Erde, darunter auch pla-
stisch erhöhete von Palästina, Europa, Skandinavien :c. Die
Geschichte Skandinaviens mit tausend Jullustratiouen. Nor-
Wegens Sagen und Denkmäler. Bücher und Zeichnungen
über Schulbauten. Für den Unterricht in der Astronomie
Erd- und Himmelsgloben, große Dreh- und Stellteleskope
und bewegliche Instrumente zur Darstellung unseres Sonnen-
und Planetensystems, deren Umläufe uud Lichtfälle und An-
deres. Für den Unterricht in der Naturgeschichte eine große
Masse Zeichnungen von Sängethieren, Vögeln, Fischen, Am-
phibien, Jnsecten, Würmern, Pflanzen, Steinen; menschliche
Skelette für den ethnographischen Unterricht; Jnsectensamm-
lungen auf Nadeln; Proben der verschiedenen Holzarten :e.
Für den Unterricht in der Mechanik, Optik, Elektrieität, Che-
mie, den Magnetismus :c. schiefe Ebenen, Camera obscnra,
Elektrisirmaschine, Luftpumpe, Turbine, Locomotive; ein voll-
ständiges chemisches Laboratorium, kurz gesagt, eine so reiche
Sammlung von allen Arten Unterrichtsmitteln, wie man sie
wohl kaum bei einem deutschen Seminarinm finden dürfte.
7) Allerlei. Die Lappen theilen sich ihrer Beschästi-
gnng nach in Berglappen und Fischlappen. Beide sind
Nomaden, weshalb (mit Ausschluß einzelner) ihre Werkzeuge
und Gerätschaften sehr primitiv sind. Denn wenn die Na-
tur an einem Gegenstande eine Idee von einem Geräthe
Fr. Mehwald: Bericht über Lapplc
zeigt, so nimmt der Lappe denselben auf und gebraucht ihn
ohne weitere Bearbeitung. Findet er z. B. einen Ast,
welcher in zwei Theile gespalten ist, so ergreift er ihn und
gebraucht ihn als — Feuerzange. Ist der gespaltene Ge-
genstand ein ganzer Banm, so haut er ihn unter dem Ast-
stände ab, schlägt ein paar Holzstücke zwischen die beiden
Spaltstücke und — der Lappe hat eine Leiter, welche zwar
an dem einen Ende etwas schmaler ist, als an dem andern;
aber sie ist doch zu gebrauchen, und das ist ihm genug. —
Braucht er bei seiner Beschäftigung im Freien ein Schild
an seine Mütze, so schneidet er einen Streifen Birkenrinde
vom ersten besten Baume, bindet denselben um die Mütze —
und das Schild ist fertig. — Bedarf er einen Trinkbecher,
so biegt er ein Stück Birkenrinde trichterförmig zusammen
und hat dann zugleich einen Trichter, wenn er an der untern
Spitze eine kleine Oeffnnng läßt. — Fehlt ihm eine
Pfeife, so ist es wieder die Birkenrinde, aus welcher er sich
eine massive Cigarrette bildet. — Wenn er als Renthier-
Wächter auf dem Berge liegt und genöthigt ist, Eiswasser zu
trinken, so schadet er seinen Lippen. Um diesem Uebel zu
entgehen, nimmt er einen Röhrknochen von einem Schwane
und benutzt ihn als Saugrohr. So weiß der Lappe durch
allerlei kleine Hülfsmittel die Hindernisse zu überwinden,
welche ihm Natur und Umstände in den Weg legen.
Auf der Tromsöer Ausstellung war das Naturleben die-
ser Menschen auf die deutlichste Weise zu sehen, denn es
waren auf freiem Platze zwei Sommerzelte der Berg-
läppen und eine Wintererdgamme für Fisch- wie
für Berg läppen aufgestellt. Man hatte eine ganze Lap-
penfamilie vom Varangerfjord geholt mit dem Ruthenwerk
der Gamme, welche sie in Varanger bewohnt, nndinTromsö
mußte sie dieErdgamme wieder bauen und dann darin woh-
neu. Für die Zelte — ein Sommer- und ein Winterzelt —
hatte man zwei Lappenfamilien von der Senjeninsel geholt,
welche auch ihre Renthiere mitgebracht, damit sie den Be-
snchern das Schlachten sowie das Zubereiten des Fleisches
zeigen konnten. Zugleich war die Beschäftigung der Lappen
zu jeder Tagesstunde zu beobachten. Die Weiber näheten
Schuhwerk und Kleider und wirkten, wie sie immer zu thuu
pflegen, und die Männer führten ihr nomadisches Bummler-
leben auch mitten im Gewühle der vielen Ausstellungsbesucher.
Die Lappenwohnungen sind noch so, wie sie in der
Urzeit gewesen sind, nämlich runde Kegel, selten viereckige
Gebäude, von Grund aus mit gewölbter Böschung, welche
sich bis zum Rauchloche hinaufschrägt. Starke Ruthen oder
dünne Latten werden in einem Kreise so gestellt, daß die
Spitzen von allen oben um das Rauchloch zusammenlaufen.
Je nach der Sommer- oder Winterzeit umzieht man die
Ruthenpyramide mit starker getheerter Leinwand, oder mit
Vadmel (einem sehr dichten groben Wollstoffe), oder mit
Torfrasen, dessen Grasseite nach innen gekehrt ist, wenn nicht
eine Doppellage gemacht wird, von denen die eine den Rasen
nach innen, die andere nach außen zeigt. Ist die Gamme
fertig, so wird der innere Fußbodenraum durch gelegte Stöcke
iu neun Räume getheilt und alle neun Räume sind mit
feinen Birkenreisern belegt. Fast alle Gammen haben für
Mann, Weib, Kind und Vieh nur einen Saal oder eine
Stube; nur wenn ein Lappe besonders reich wird, baut er
an seine Wohnung noch eine Gamme für das Vieh, aber
mit gemeinschaftlichem Eingange. Eine solche Doppelgamme
hat in der Regel die Form eines langen Vierecks und besitzt
in der Mitte ein kleines Fenster, während in allen Rund-
gammen Rauchlöcher und Lichtlöcher dasselbe sind. — Die
Feuerstätte ist in allen Gammen in der Mitte ^ des Woh-
nungsraumes und besteht in weiter nichts, als einem Fleck-
chen Erde, welches mit Steinstücken umlegt ist, damit das
Globus XIX. Nr. 8. (März 1871.)
vs allgemeine Ausstellung in Tromsö. 121
Feuer nicht die Birkenreiser auf dem Fußboden ergreife. —
Von den abgetheilten neun Räumen der Gamme hat jeder
seine Bestimmung. Der innerste hinter der Feuerstätte, dem
Eingänge gegenüber, ist bestimmt für das Hansgeräth, als:
ein Kochtopf, ein Schöpflöffel und dergleichen. Zur Linken
davon ist der Schlafraum für die Leute des Hausherrn; die
Kinder haben ihren besondern Schlafraum; eben so der
Dienstbote, wenn einer vorhanden ist; die Hunde haben ihren
Platz an der Thür, d. h. an dem Kriechloche, welches im Som-
mer offen, im Winter mit Fellen verhangen ist. Keins von
Allen wird über seinen Stock hinansgreisen oder schreiten.
Im Sommer sind die Gammen durch das Thürloch und das
Rauchloch, und in der langen Winternacht mit Thran er-
leuchtet. Als Lampe dient eine große Seemuschel, als Docht
irgend ein Zeuglappen.
Der Kleiderschnitt ist bei den Berglappen und Fischlap-
Pen gleich; aber als Stoff verwenden die ersteren Renthier-
felle, die letzteren Schaffelle oder Vadmel (ein Wollstoff);
auf Reisen tragen aber beide einen mit vielen bunten Litzen
besetzten Mantel von dickem Wollstoff. Die Pariser Moden
sind noch nicht nach Lappland gedrungen; vielmehr ist bei den
Lappen heute noch Mode, was vor Jahrhunderten Mode war.
Für gewöhnlich tragen die Lappen zwei Kaftane von
Fellen, den untern mit der Wolle nach innen gekehrt, wie
an zwei ausgestopften Figuren (Mann und Weib) in Na-
tionaltracht aus der Ausstellung zu sehen war. Bei den
Beinkleidern werden beide Beine in einem Stücke znge-
schnitten, was unsere Schneider wohl nicht fertig kriegen
dürften. Die Lappenbeinkleider sind zugleich Strümpfe und
sind immer von gegerbtem starken Leder. Die Schuhe sind
unbeschreiblich. Die Hanpttheile derselben bestehen aus der
Oberhälfte eines Renthierkopfes und aus Renthierhaut, deren
eine Hälfte die Haare nach vorn, die andere nach hinten
stehen hat, um das Ausgleiten beim Gehen zu verhindern.
Die Füße wickelt der Lappe täglich in Sennegras, ein wei-
ches Schilf, welches den Fnß immer warm und trocken hält,
und also bequem und gesund ist. Das Vadmel und die
dicken Wolldecken weben die Weiber auf deu abgedachten Pri-
mitiven Webstühlen. Ueberhaupt müssen die Lappinnen nicht
nur für alle Kleider, sondern auch für das Schuhzeug der
Familie sorgen.
Jeder Lappe trägt stets den Tollekniv — ein sehr scharfes
Messer, meist mit kunstreich geschnitztem Griffe — und den
Löffel aus Renthiergeweih mit breiter, schauselartiger Kelle
bei sich. Eben so tragen die Frauen in einer Tasche, welche
am Gürtel hängt, Messer, Löffel und Nähezeug bei sich.
Gleich dem normannischen Fischer nährt sich auch der
Fischlappe hauptsächlich von Fischen, letzterer auch von Speck
und Thran. Da nun Fische und Thran zusammen genos-
sen werden, so hat sich der Lappe eine eigenthümliche Art
Teller gemacht. Es ist dies ein länglicher Holznapf, au
dessen einer Seite eine kleinere Art Tasse oder ein Näpfchen
ausgeschnitzt ist, in welchem sich der Thran, welcher als Sauce
genossen wird, befindet. Auf dem großen Teller zerlegt der
Lappe den Fisch und taucht dann jeden Bissen in Thran,
ehe er ihn genießt. Dabei ist zu bemerken, daß der Berg-
läppe nicht das Geringste von Speck genießt, während der-
selbe für den Fischlappen eine Delieatesse ist. Dies gründet
sich vielleicht auf die Hauptnahrungsmittel von beiden: diese
sind für den Einen Fleisch, für den Andern Fisch.
Von den eingewanderten Qnänen haben die norwegischen
Lappen den Gebrauch des sogenannten Knäkkebrotes und der
Ouänkucheu angenommen. Ersteres läßt sich viele Jahre
ausbewahren und muß vor dem Genüsse erst heiß gemacht
werden; letzteres dagegen wird sogleich nach dem Backen ver-
zehrt.
16
122 Fr. Mehwald: Bericht über Lapplo
Der Fischlappe theilt seine Zeit in Fischen, Heusammeln
(denn darin besteht seine ganze landwirtschaftliche Beschäf-
tigung) , Jagd und Viehzucht. Die Objecte für letztere be-
stehen nur in Kleinvieh. Mit besonderer Begierde geht der
Fischlappe dem Lachse nach, welcher sich in den großen lapp-
ländischen Flüssen in Masse findet, und schwelgt förmlich in
dem Genüsse dieses delicaten Fisches.
Zn den Kunstarbeiten der Fischlappen gehört ein
dauerhaftes, haltbares Tau von Kieferwurzeln, welche ge-
spalten, in Lauge gekocht und dann zu einem Tau verarbeitet
werden, welches glatter und hübscher aussieht, als die ge-
wöhnlichen Hanftaue. Dann ein ganz flacher, leichter, lan-
ger Spitzkahn, welcher von zwei Menschen geführt wird, alle
Stromschnellen überwindet, dem in der Mitte des Kahnes
liegenden Reisenden aber die Notwendigkeit auflegt, eben so
genau wie auf deui Lappeuschlitteu zu balanciren, wenn er
nicht käntern will.
Die Sense des Berglappen hat am untern Ende eine
Art Schaufel, auf welche das geschnittene Gras (welches sich
nur stengelweis findet) fällt. Auch gebraucht der Lappe die
Sense zweiseitig, indem er sie bei jedem Hiebe wendet. Nach
Hanse wird das Heu aus breite», leichten Schlitten gefahren,
weil nur in wenigen Gegenden zweiräderige Karreu äuge-
wendet werden können. — Viehtröge werden in Lappland
von ellendicken Kieferstämmen, welche man aushöhlt, gemacht,
uud zu dem andern Geräth gebraucht man Birkenstämme.
Als Jagdthier ist der Seehund sehr gesucht, sowohl des
Fleisches wie der Haut wegen. Auch wissen die Lappen-
weiber die Sehnen des Walfifches, Seehundes und Renthiers
sehr gut beim Nähen der Lederkleider zu gebrauchen. — Zum
Färben des Leders wie der Wollsachen werden verschiedene
Pflanzen gebraucht.
Zur Aufbewahrung der-besten Sachen dient den Berg-
läppen das sogenannte Stabnr, welches in der Regel ein
kleines von der Gaimne etwas abstehendes Holzhäuschen,
oft aber auch nur ein Gestänge ist, welches die Sachen unter
Lederdecken enthält. — Das Renthierfleisch wird theils ge-
räuchert, indem man es in der Gamme unter das Rauch-
loch, oder gedörrt, indem man es etwas entfernt vom Rauch-
loche an der innern Seite der Bedachung aufhängt. Die
geräucherten Reuthierzungen sind bekanntlich eine Delikatesse;
aber der Geruch in einer solchen Gamme ist nichts weniger
als augenehm, und sich in einer solchen primitiven Wohnung
etwas niederzulassen, ist wegen der springenden und kriechen-
den Gesellschaft auf dem Fußboden nicht räthlich.
Für den Berglappen ist das Renthier beinahe sein Alles,
weil er vom Renthiere fast Alles benutzt. Der Lappe belegt
es daher nicht nur mit allen möglichen Schmeichelnamen,
sondern hat auch von Halbjahr zu Halbjahr immer andere
Bezeichnungen für dasselbe. Und eine Renthiermutter erhält
bei jedem Kalbe, welches sie wirft, eiueu auderu Zärtlichkeit-
namen. Zu bewundern ist des Lappen scharfes Auge, wo-
mit er jedes Renthier sofort erkennt; und fein Gedächtniß,
vermöge dessen er beim Anblick jedes Thieres auch sofort
seine Namen und seine Verhältnisse in der Herde weiß.
Auf der Ausstellung war ein ausgestopftes Renthier mit
Tragsattel sowie mit Zugzeug, da das Renthier mehr ein
Zug- als ein Lastthier ist, zu sehen.
Schrecklich für das Renthier ist die lappländische große
Renthierbremse, welche ihre Eier um die Nasenlöcher uud
längs des Rückgrates in die Haut des Thieres legt und zu
diesem BeHufe die Haut durchsticht. Ist dieses schon für das
Renthier sehr schmerzhaft, so wird das Uebel täglich schlim-
mer, weil die jungen Bremsen (in der Lappensprache Gorm
genannt) sich unter der Haut entwickeln, die Haut durchfressen
und das Thier so lange quälen, bis sie flugreif sind und das
)s allgemeine Ausstellung in Tromsö.
Renthier verlassen. Wie arg die Pein für die Renthiere
sein muß, dürfte daraus erhellen, daß das Renthier, wenn
der Lappe Feuer und Rauch macht, von selbst sich in den
erstickenden Rauchzug legt, um von Bremsenstichen befreit zu
werden, während sonst im Allgemeinen die Thiere den Rauch
fliehen. Für den Lappen ist ein gegormtes, d. h. von Brem-
senlarven dnrchfreffenes Fell verloren.
Etwas sehr Eigenthümliches in Lappland sind die söge-
nannten Kinderkumse. Dies siud ausgehöhlte, mit weichem
Moose ausgelegte, in der Regel an dem einen Ende mit
einer Art Verdeck versehene Holzstücke, worin sich die kleinen
Kinder die meiste Zeit aufhalten und welche Kumse die Müt-
ter auf dem Rücken tragen.
Dann ist die Eitelkeit des Lappen sehr auffällig. Alles
was glänzt, hat für ihn große Anziehungskraft und versetzt
ihn in die heiterste Stimmung. Daher besteht das Höchste
seines Strebens in breiten mit bracteatähnlichen goldenen,
silbernen oder messingenen Figuren oder Zierrathen ringsum
besetzte« Gürteln. Kann er es haben, so schnürt er jeden
seiner Kastans mit einem solchen Gürtel, und wenn die Zier-
rathen auf feinen Gürteln von gediegenem Golde oder Silber
sind und nicht bloß vergoldet oder versilbert, so wird er bei
dem Besuche Fremder gewiß mit seinem scharfen Messer ein
Bracteat ankratzen und dem Fremden zeigen, daß seine Gür-
telverzierungen echt sind.
Auch aus dem säubern Ausnähen der Kleidungsstücke in
Roth, Blau, Grün kann man der Lappen Eitelkeit ersehen.
Eben so zeugt dafür des Lappen Sucht, Bücher in seiner
Sprache zu lesen, obschon er sehr gut norwegisch versteht.
Es war daher eine kleine lappische Bibliothek in Tromsö
ausgestellt. Dagegen hat der Lappe bisher die Luxusgegeu-
stände, als Tische, Stühle uud dergleichen, noch nicht kennen
gelernt: er sitzt auf Birkenzweigen, wo und wie vor Jahr-
Hunderten seine Urahnen gesessen haben. Und sein Kochtops
oder Kessel hängt vom Rauchloche im Dache nach dem Herde
herab, wie seit undenklichen Zeiten immer.
Das Eiderentensangen geschieht in Lappland ans
zweierlei Weise. Theils befestigt man am Strande ein lan-
ges, starkes Tau, zieht das lose Ende auf das Meer hinaus,
bindet dort an dasselbe eine Menge lange Schnuren mit Speck-
ködern und legt dieselben in einem Halbkreise auf das Meer.
Sobald die Eiderenten kommen, schlucken sie mit Begier das
Speckstückchen (und natürlich auch den in demselben steckenden
Angelhaken) hinab und siud gefangen. — Oder es wird eine
vierkantige Holzplatte an einer Flußmündung aufs Wasser
gelegt, an jeder Ecke ein Pflock eingeschlagen, auf die Platte
Rasen oder Moos befestigt, von Holzpslock zu Holzpflock kreuz-
weis Schnuren gezogen, von denen Schlingen ins Wasser
herabhängen, und die Enten in den Schlingen gefangen, wenn
sie das hübsche grüne und bequeme Plätzchen besuchen, um
Eier darauf zu legen und auszubrüten.
Der Tromsöer Ansstellungscatalog, welcher 82 Octav-
feiten stark ist und angiebt, daß 9000 Eintrittskarten aus-
gegeben worden, besagt auch, daß der russische Großsürst
Alexis die Tromsöer Ausstellung besuchte und einen von
einem Lappen ganz neu construirten Spitzschlitten, ein äußerst
elegant gebautes und höchst zweckmäßiges Eismeerfaugboot,
sowie ein Modell zu einer neuen Dampfthrankocherei. kaufte.
und diese Gegenstände als Neuigkeiten aus Lappland in Pe-
tersburg ausstellen wollte.
Nun noch eine Bemerkung Uber den Namen Lappe!
Das unter drei Herren — Rußland, Schweden und Nor-
wegen — getheilte, im hohen Norden Europas liegende Län-
dergebiet heißt in Schweden Lapplaud, in Norwegen Fin-
marken und in Rußland Lappland und Finland. Auf
Oscar Schmidt: Eine Kreuzfahrt auf dem Adriatischen Meere. 123
diesem Gebiete wohnen in Rußland Lappen, Quänen, Fin- gegen werden sie von den Schweden und allen südlicher woh-
nen, Tavasteu uud Karelen; in Schweden Lappen und in neuden Völkern Lappen genannt. Wogegen Finlands Ein-
Norwegen nennen sich die Lappen Sam; in der Rechts-, wohner von den Schweden Finnen, von den Normannen
Kirchen- und Unterrichtssprache aber heißen sie Fin. Da- aber Quänen und Karelen genannt werden.
Eine Kreuzfahrt ans
Von Professor Dr. S
Da wir erst in der Nacht zum 23. zur Legung der Linie
Bari-Dnrazzo aufbrechen sollten, so wurde die freie Zeit zu
einem Ausflnge auf der Eisenbahn nach Lecce, der Haupt-
stadt von Apulien, benutzt. Das theils ebene, theils gestreckt-
wellige Land macht nebst seinen Bewohnern einen höchst
prosaischen, aber guten Eindruck. Es ist fleißig bebaut, der
Oelbaum besetzt Raine und Wege, und Überall war man
rege beschäftigt mit dem Einbringen der Ernte. Bon Lecce
ist nicht viel zu sagen. Die Stadt hat recht ansehnliche
Palazzi, jedoch kaum eine architektonische oder sonst eine
Merkwürdigkeit, die einen Umweg verlohnte. Mit fast
allen ihren Landsleuten halten auch die Leccaner eine mehr-
stündige Mittagsrast, während welcher Alles, was auf
den mäßigsten Comfort Anspruch macht, sich in optima
forma zu Bett legt. Die Straßen sind daher bis gegen
3 und 4 Uhr wie ausgestorben, und selbst die Maccaroni-
fabriken feierten. Unsere Gesellschaft war daher herzlich
froh, sich endlich zum vorher bestellten Mittagsmahl im
ersten Hotel von Lecce versammeln zu können. Es verlief
unter der Oberleitung des Wirths zur allgemeinen Znfrie-
denheit.
Ohne mich bei den Einzelnheiten der Fahrt aufzuhalten,
führe ich den Leser wieder vor Durazzo, wo wir in der Nacht
zum Freitag ankamen, und lade ihn ein, sich mit mir in
die kleine, aber ganz fremdartige Welt zu begeben, die uns
bei einem Gange durch und um den Schatten des Dyrrha-
chium erwartete. Das heutige Durazzo, von dem Umfang
eines mäßigen Landstädtchens, liegt am Fuße eiues nach dem
Meere in südwestlicher Richtung vorgeschobenen Hügels, dem
Ausläufer einer beträchtlichen Hügelreihe, welche theilweise
ganz steil gegen das Meer abfallen. Aus ihm befindet sich
in einem größern Gebäude die Telegraphenstation, und man
sieht massives altes Mauerwerk, die Reste der Arx, welche
offenbar weit über die Römerzeiten hinausreichen. Durazzo
ist noch im Mittelalter von einiger Bedeutung gewesen, und
von daher datiren die verfallenden Mauern nnd Thore, in
welchen wir harmlose türkische Soldaten auf Wache fanden.
Eine Hauptstraße führt von einem Thore zum andern, ge-
bildet aus kleinen, unansehnlichen Häusern und Bazars.
Diese Verkaufs- und Arbeitshallen gewähren dem Vorüber-
gehenden einen Einblick in das Leben und die Thätigkeit der
männlichen mohammedanischen Bevölkerung, und sie zeugen
von Ordnung und Fleiß, die allerdings durch mancherlei
Geschwätz hinüber und herüber, durch Besuchen und Kassee-
kochen im Hintergrunde dieser Straßenzimmer angenehm
unterbrochen werden. Ausfallend war die Nettigkeit und
Reinlichkeit der Kinder, besonders der Mädchen. Von er-
wachsenen Frauen sieht man nur einzelne Gestalten vorüber-
huschen, vermummt iu ein schweres braunes, schlafrockähn-
liches Gewand. Indem wir das dem Strande abgewandte
in Adriatischen Meere.
t Schmidt in Graz.
zweite Thor verlassen und rechts schwenken, finden wir uns
nach einigen Schritten einem Urzustände gegenüber, wie man
ihn kaum in der größten Wildniß erwarten kann. Hier
sind nämlich die Hütten von vielleicht 1000 bis 1500 Zi-
gennern, den Parias von Durazzo, denen der Aufenthalt
innerhalb der Mauern nicht erlaubt ist. Welche Anhäufung
von Unrath, welches Durcheinander von nackten Kindern,
Hunden, Hühnern, gräßlichen alten Weibern und feurig
blickenden, aber höchst schmutzigen Dirnen in und zwischen
diesen aus zerlumpten Matten und Flechtwerk zusammen-
gesetzten Wohnungen sich Nase und Augen aufdrängen, das
spottet aller Beschreibung. Je weiter wir, uns möglichst
ans der Mitte des Weges haltend, vorschreiten, desto mehr
schwillt der Troß der uns begleitenden Zigeunersprößlinge
an, die nicht müde werden, zu schreien: Para, Capitän!
Para! Endlich versucht ein halbwüchsiger Junge in der Hitze
des Gefechtes meine Taschen zu untersuchen, was eine energische
Reaction von meiner Seite und ein Zerstieben der Rotte zur
Folge hat. Mittlerweile sind wir wieder ins Freie gelangt
bei einer Niederung, welche in alten Zeiten ohne Zweifel
zum Hafen gehörte und von wo aus wir das nördlich vom
heutigen Durazzo gelegene Trümmerfeld der alten Stadt er-
reichen. Es ist eine Viehweide, von zahlreichen, zwei bis
fünf Fuß tiefen Gräben durchfurcht. Der Zweck dieser Grä-
ben ist, sich der Trümmer der ehemaligen Stadt für die
jämmerlichen modernen Bauten zu bemächtigen, denn Alles
ist unter die Erde gebracht mit Ausnahme zahlreicher Säulen-
stümpse vou einem festen, weißen Marmor. Es sollen in
neuerer Zeit einige schöne Torsos hier ausgegraben sein, so
daß sich eine Bloßlegung in größerm Maßstabe wohl ver-
lohnen möchte.
Beim Rückwege zur Stadt vom Ruinenfelde kommt man
durch eine unser Interesse mehrfach fesselnde Vorstadt. Sie
enthält mehrere Einkehrhänser und große, für die Bedürf-
nisse der ländlichen Bevölkerung reichlich ausgestattete Ba-
zars. Wir traten auch in ein Eafs und labten uns an dem
reinlich und appetitlich zubereiteten und fervirten, nach orien-
talischer Weise suppenähnlichen Getränk, während die Alba-
nesen dem welterobernden Triester und Gratzer Biere zu-
sprachen. Am anziehendsten waren mir aber die neben dem
Kasfeehanse befindlichen Töpfereien, wo wir die, die antike
Form bewahrenden, Krüge auf der Scheibe unter den Hän-
den der emsigen Arbeiter entstehen sahen. Einen wahrhaft
classischen Anblick gewährten fünf Minuten davon die Zi-
geunermädchen, wie sie am Brunnen die großen Amphora
füllten und sie über die Schulter gelegt davontrugen. ^ Es
waren die verkörperten Vasen- und Wandgemälde unserer
Museen. Keine Form des Gefäßes ist so praktisch als diese
enghalsigen, mit schön gebogenen Henkeln versehenen Ampho-
ren. Es drängte sich mir bei dieser Gelegenheit wiederum
16 *
124 Oscar Schmidt: Eine Kreuzf
die Beobachtung aus, die ich- sehr häusig in Dalmatien und
aus den ionischen Inseln gemacht, daß nämlich trotz der
tausendjährigen Völkerstürme in jenen Landstrichen eine
Menge Vorkommnisse des täglichen Lebens, Gerätschaften,
Kleidungsstücke, Art der Hantierung, sich in directester
Weise vom Alterthum bis heute vererbt hat. Der Reisesack
der Dalmatiner und Jouier, aus bunter, grober Schafwolle
verfertigt, gehört beispielsweise hierher. Unsere Philologen
und Schulmänner scheinen mir dieses lebendige Feld der Er-
kenntniß des Alterthums viel zu wenig auszubeuten.
Doch wir sind in Durazzo und besteigen gegen Abend
die Hügelreihen am Meere. Sie sind von Gärten, Feldern
und Buschwerk bedeckt und haben zahlreiche Quellen. Der
Blick über die Ebene und die jenseits aufsteigende Bergkette,
zur Rechten die golfartige Einbuchtung, ist ganz prächtig.
Setzt man an die Stelle der heutigen Hütten auf diesen
Hügeln wohlgepflegte Villen, läßt aus dem Ruinenfelde die
Säuleuhallen, Tempel und das Gewühl der römischen Hafen-
stadt erstehen, so begreift man leicht die Wichtigkeit und auch
Annehmlichkeit, welche dieser Platz haben mußte. Am Abend,
wo ich diese Betrachtungen anstellte, sammelte sich das Volk
von Dyrrhachium nicht im Circns, sondern Groß und Klein
um — ein Caroussel; und die kleinen Gläubigen — die
Zigeunerwelt war ausgeschlossen — nahmen sehr gern das
Fahrgeld aus unseren Händen, um unter den Klängen einer
Pauke und eines Leierkastens sich, wie auf einem deutschen
Jahrmarkte, zu erlustigen.
Ungünstigem Wetter und Wind verdankten wir es, daß
wir die schon von oberhalb Durazzo angetretene zweite Fahrt
nach Apulien abbrachen und Zuflucht in der Bocca di Cat-
taro suchen mußten. Wir legten eine Stunde unterhalb
Casteluuovo in Meligne an und hatten, da die Kohleuvor-
räthe ergänzt wurden, volle drei Tage Zeit zu Ausslügen.
Der großartigste Theil des tiefen und viel gewundenen Meer-
buseus von Cattaro ist unstreitig der Hintergrund, in wel-
chem Cattaro selbst liegt und von wo aus man zurückgebo-
genen Hauptes die Straße nach den schwarzen Bergen hin-
auf verfolgt. Ich habe dort vor Jahren einen Markttag
mitgemacht, wo die Montenegriner schaarenweise sich auf
einem Platze vor der Stadt einfinden und gegen ihre Schafe
und Hühner und gegen Holzbündel, welche die armen Wei-
der mühsam heranschleppen, während der Herr Gemahl
schmauchend nebenherreitet, wo, sage ich, gegen die wenigen
montenegrinischen Erzeugnisse allerhand Waaren der Civili-
sation in Empsaug genommen werden. Das ist ein nnans-
löschliches Bild, obgleich es mit einigem, von den montenegri-
nischen Damen und Räubern mitgetheilten Ungeziefer bezahlt
werden mußte. Dagegen ist die Umgebung von Castelnnovo
gleich gegenüber dem Eingange der Bucht zwar etwas minder
grandios, aber immer noch großartig genug, um zu imponiren,
und nebenbei wegen der Ueppigkeit des Pflanzenwuchses von
ansprechendster Lieblichkeit. Ein sehr guter Reitweg führt
läugs des steilen Gestades und sich hebend und senkend von
Meligne nach Castelnuovo. Ungefähr halbwegs liegt einige
hundert Fuß hoch ein Kloster, von dessen Kirchhof aus man
eine entzückende Aussicht hat, welche sich landeinwärts bis
zu den über Cattaro aussteigenden Höhen erstreckt. Zwischen
dem Kloster und der Stadt ist ein hochstämmiger Eichwald,
welcher reizende Durchblicke auf die Bai und weiter hinaus
auf das offene Meer gewährt. Castelnuovo ist au die Fel-
seu an- und hineingeklebt, und wiederum war es die Aussicht
aus einem von den Offizieren der Garnison mit Beschlag
belegten Kaffeehause, von der wir uns nicht trennen zu kön-
nen meinten. Anders diese Herren, welche keinen sehnlichern
Wunsch kannten, als endlich aus dem Neste erlöst zu werden,
wo sie mit der Bevölkerung in gar keiner Verbindung stehen
rt auf dem Adriatischen Meere.
und wo jeder einsame Spaziergang in die Berge über das
Weichbild des Städtchens hinans mit Gefahr verbunden ist.
Schon bei der Einfahrt hatten wir links von Castelnuovo in
dem schmalen, in den Meerbusen auslaufenden Thale der
Snttorina das türkische Zeltlager gesehen. Es ist von der
Stadt aus in einer halben Stunde zu erreichen, und wir
durchwandelten es, ohne von den Schildwachen angerufen
oder sonst behindert zu werden. Die Mannschaft war größ-
tentheils damit beschäftigt, in den brakigen, unreinen Tüm-
peln ihre Wäsche zu besorgen, aus denen auch das Wasser
zum Kochen des Mittagsmahles in die'Kessel gefüllt wurde.
Man fah den armen Kerlen an, daß sie schon monatelang
hier lagen, und der untere Theil der Zeltleinwand war von
dem Einfluß der Nässe schon völlig zerlumpt. Rencoutres
zwischen unseren Soldaten und den Türken kommen kaum
vor, und der Verkehr der Offiziere verbietet sich schon darum,
weil sie fast ausnahmslos bloß türkisch sprechen. Wir wa-
ren auch bald von dem Lagerschauspiel befriedigt und schlos-
sen uns dem Mittagsmahle der Offiziere in Castelnuovo an.
An dem Tage, wo ich diese Zeilen schreibe, wird ein so-
genannter deutscher Parteitag in Marburg in der Steier-
mark abgehalten und auf demselben eine Resolution über die
Ausscheidung der Provinz Dalmatien aus dem Verbände des
cisleithanifchen Ländercomplexes eingebracht. In der That,
Heterogeneres als die dalmatinische Bevölkerung und die-
jenige der deutsch-österreichischen Kronländer kann kaum ge-
dacht werden. Man sagt, daß diese Verbindung im speciellen
Interesse der österreichischen Monarchie liege. Ich muß das,
auf langjährige Persönliche Anschauungen gestützt, verneinen.
Selbst die am öftersten gehörte Phrase, die dalmatinische Be-
völkernng sei Cisleithanien für die Bemannung der Flotte
unumgänglich uothweudig, ist nicht stichhaltig. Warum?
Weil höchstens der zehnte Theil unserer dalmatinischen Ma-
trosenrecrnten wirklich seegewohnt ist. Man muß nur einem
Transporte dieser armen Teufel zu Schiffe bei schlechtem
Wetter beigewohnt haben, wie sie die bittersten Leiden der
Seekrankheit auskosten, um über jene Behauptung zu lächeln.
Ein verschwindend kleiner Brnchtheil der italienisch gebilde-
ten Städtebewohner Dalniatiens ist gegen den Anschluß an
Ungarn-Croatien. Weitaus der größte Theil der politisch
Zurechnungsfähigen ist slavisch-national gesinnt, und sie
suchen ihre Stärke und Zukunft vor der Hand im Znsam-
mengehen mit Croatien. Dabei wird auf den Zerfall der
Türkei gerechnet und auf die Annexion des reichen bosnischen
Hinterlandes. Die morlakische Landbevölkerung steht auf
der Stufe reiner Barbarei. Es ist daher begreiflich , daß
die Deutschösterreicher auch mit Veranschlagung der politischen
Verhältnisse auf diese Brüderschaft nicht sonderlich viel geben
dürfen. Uebrigens ist die Landesautonomie auch in Dal-
matien schou so weit gediehen, daß die Entfremdung von
deutscher Sprache und Cnltnr von Jahr zu Jahr überhand
nimmt. Als ich vor 18 Jahren Dalmatien zum ersten
Male besuchte, war der deutsche Sprachunterricht an allen
Mittelschulen obligat und Gegenstand der Maturitätsprüfung.
Die zu den deutschen Universitäten und polytechnichen An-
stalten abgehenden jungen Leute waren sehr bald im Stande,
die deutschen Vorträge zu verstehen und zu verwerthen. Seit
einigen Jahre» wird aber das Deutsche so ganz hintenan-
gesetzt, ja von der jungen Generation geradezu verachtet, daß
der Besuch unserer Universitäten von Seiten der jungen
Dalmatiner mehr als unnatürlich erscheint. Es ist ihnen
gestattet, die Prüfungen in italienischer Sprache abzulegen,
und durch dieses Medium unterhalten wir Professoren und
Examinatoren uus mit ihnen! Der Anschluß an Italien
wird mit Ausnahme einer numerisch gar nicht ins Gewicht
fallenden Partei der Jtalianifsimi von Dalmatien verab-
Wie haben die Un
scheut. Das Land würde auch sehr schlecht dabei fahren.
Dagegen ist die italienische Partei in Jstrien weit mächtiger.
Hier aber erheischt die politische Klugheit, feste Hand auf den
Besitz zu halten. Von solchen und ähnlichen Erwägungen
wird die deutsche Partei in Oesterreich Dalmatien gegenüber
geleitet, und als wir am letzten herrlichen Abende unter Ca-
stelnnovo promenirten, am Strande in Sicherheit, aber auf
die Berge blickend, wo unsere verehrten kopfabschneiderischen
Monarchiegenossen hausen, überkam mich gewaltig das Ge-
fühl der UnNatürlichkeit solchen Staatsverbandes.
Wir dampften also wieder ab und erreichten am zweit-
nächsten Mittag, vom Vorgebirge Gargauo südlich abschwen-
kend, die Rhede von Barletta. Unser Schiff mußte weit
nschen ausgesehen? 125
vor dem nur für kleine Fahrzeuge zugänglichen Nothhafen
Anker werfen, und hier verließen meine Genossen und ich den
gastfreien „Trieft". Wir hatten bis zum späten Abend Zeit,
Stadt und nächste Umgebung zu durchstreifen und ungefähr
dieselben Beobachtungen wie inLecce zu macheu. Die Heim-
reise auf der Küsteubahn über Bologna verlief ohne be-
merkenswerten Zwischenfall.
lieber* die Küstenvermessung sei noch erwähnt, daß sie
im Laufe des September vollständig beendet wurde, und daß
das ausgezeichnete Material im Laufe der nächsten Jahre
feiner endgültigen Verarbeitung zur Ehre der nautifchen
Wissenschaft und der österreichischen Marine entgegensieht.
Wie haben die llrv
Es ist uns ein Stein vom Herzen gefallen, seitdem wir
endlich darüber ins Klare gekommen sind. Was so lange
für ein großes Geheimniß galt, ist es nun nicht mehr; von
Zweifel und Ungewißheit kann fernerhin gar keine Rede
sein; der Ausspruch: daß ins Innere der Natur kein erschaf-
fener Geist dringe, hat seine Gültigkeit verloren; heutzutage
kann einer Alles wissen, erklären, demonstriren, wenn er nur
will. Es bedarf dazu nur einer Kleinigkeit; man braucht
nur nach Herzenslust zu „transmntiren"; mit dem Ilm-
wandeln und dem „Entwickeln" hält man es nach Belieben,
und aus so oder so viel mehr Hypothesen kommt ja weiter
nichts an; transeant cum ceteris!
Doch wie sah denn eigentlich der Urmensch aus?
„DieUrerzeuger desMenfchen waren ohne allen
Zweifel einstmals mitHaar bedeckt; beideGeschlech-
ter hatten Bärte; ihre Ohren waren spitzig und
konnten bewegt werden, und die Körper waren mit
einem Schwänze versehen, welcher die geeigneten
Muskeln besaß. Leiber und Glieder hatten damals noch
viele Muskeln, welche gegenwärtig nur gelegentlich angetrof-
fen werden, die aber bei den Vierhänderu noch vorhanden
sind. Die große Arterie und der Nerv des Hnmerus liefen
durch ein fnpracondyloides Loch. In jener Zeit oder auch
in einer frühern hatten die Eingeweide ein viel größeres Di-
verticnlum oder Coecnm als in unserer Zeit. Der Fuß war,
nach der Stellung zn schließen, welche die große Zehe im Fötus
einnimmt, prehensil, konnte fassen und greifen. Unsere
Vorfahren haben ohne Zweifel auch auf deu Bäu-
men gelebt und hielten sich in warmen, waldbedeckten Ge-
genden auf. Die Männer hatten große Hundszähne und
bedienten sich derselben als einer furchtbaren Waffe. In
einer noch früh ern Periode war der Uterus ein doppelter;
das Auge war durch ein drittes Augenlid, eine Blinzhaut,
geschützt. In einer noch frühern Periode müssen die Ur-
erzenger des Menschen im Wasser gelebt haben (must
have been aquatic in their habits), denn die Morpho-
logie zeigt uns klar, daß unsere Lungen ans einer mo-
dificirten Schwimmblase bestehen, welche einst als Floß
diente. Die Vertiefungen am Nacken des menschlichen Em-
bryo zeigen, wo sich einst die Kiemen befanden. Die Nieren
wurden in jener Zeit durch die Corpora wolfiaua ersetzt.
Das Herz war einfach ein pulfireudes Gefäß; statt der Rücken-
wirbelfäule war die Chorda dorfalis vorhanden. Die frü-
heften Vorläufer des Menschen, welche im Düster der
Zeit sich verlieren, waren so niedrig organistrt, wie.der
enschen ausgesehen?
Amphiochus und vielleicht noch niedriger. Es ist noch auf
einen andern Punkt hinzuweisen. Man weiß längst, daß
bei den Wirbelthieren ein Geschlecht die Ansätze verschiedener
accessorischer Theile aufweist, welche eigentlich dem andern
Gefchlecht angehören, und es ist als sicher festgestellt wor-
den, daß in einer sehr frühen embryonischen Periode beide
Geschlechter sowohl männliche als weibliche Drüsen zeigen.
Es scheint demnach, daß ein ungemein weit in die
Urzeiten hinaufreichender Urerzenger des Reiches der
Wirbelthiere ein Hermaphrodit, daß er androgyn, zugleich
männlich und weiblich, gewesen sei je."
Das Vorstehende ist nicht etwa aus Nikolaus Klint's
Unterirdischen Reisen entlehnt, in welchen nnsLente ge-
schildert werden, welche ihren Kopf unter dem Arme tragen,
sondern Darwin sagt es. In seinem jüngst erschienenen
Werke über die Abstammung der Menschen (The descent
of man, and selection in relation te sex) hat er seilte
früheren Hypothesen noch einmal zusammengefaßt uud mit
einer Anzahl neuer vermehrt. Auch diese letzteren sind „selt-
sam und wunderlich" genug und werden zu mancher Eon-
troverse Anlaß geben. Wir unsererseits haben über diese
Hypothesen, welche auch uns allerdings exorbitant erscheinen,
kein Urtheil. Wir wissen nicht, ob jener Naturforscher Recht
behält, der in Bezug auf dieselben uud namentlich in Hin-
blick auf manche Verfechter derselben in Deutschland das
Wort sprach: „Diese Darwinerei wird einst in der Ge-
schichte der Naturwissenschaften als eine wüste Episode von
Verirrnngen betrachtet werden."
Ein Ausspruch Darwin's erscheint widersinnig. Der
Mann stellt sich auf einen teleologischen Standpunkt; die
ganze Welt erscheint ihm als eine Zweckmäßigkeitsmaschine,
die überhaupt da ist und da war, damit der Mensch in ihr
auftreten könne. Darwin schreibt: „Es ist schon oftmals
die Ansicht ausgesprochen worden, es scheine als ob die Welt
von lange her darauf zubereitet worden fei, daß der Mensch
in ihr auftreten könne, und in einer Hinsicht trifft das genau
zu, denn er verdankt seine Geburt (sein Dasein) einer langen
Reihe von Vorgängern (progenitors). Wenn auch nur
ein einziges Glied in dieser Kette nicht vorhanden gewesen
wäre, dann würde der Mensch nie das geworden sein, was
er nun ist. Weuu wir nicht vorsätzlich unsere Augen ver-
schließen, dann können wir, nach dem heutigen Stande un-
seres Wissens, annähernd unsere Verwandtschaft erkennen
und wir brauchen uns ja derselben auch nicht zn schämen."
Nämlich nicht unseres Urahns, des Affen, denn der ist
126 Wie haben die Urn
es, kein anderer. Viele Affen haben Schwänze, viele haben
keine Schwänze, geschwänzte Menschen kennen wir bisher
nicht; die Urschwänze sind durch Transmutation und natür-
liche Auswahl verschwunden. Es bleibt zu bedauern, daß
Darwin, welcher die behaarten Urahnen so speciell kennt und
schildert, sie nicht auch durch bildliche Illustrationen anschau-
lich macht, und den ganzen Stammbaum vom Amphiochns
an bis zum heutigen Menschen giebt. Vielleicht hilft Pro-
sessor Höckel in Jena nach; der versteht sich auf die Stamm-
bäume vom Atom an.
Wir unsererseits sind, wie gesagt, nicht in der Lage, ein
Urtheil über Darwin's Hypothesen zu fällen. In England
wie in Nordamerika ist man gegen das neue Buch bereits
sehr scharf aufgetreten. Das „Athenäum" (4. März) kann
sich selbst der Ironie über manche Behauptungen nicht ent-
halten. Es hebt zuerst mit einiger Schadenfreude hervor,
daß Darwin jetzt selber eingestehe: er habe wahrscheinlich
zu vielGewicht auf feinPrincip der „natürlichenAus-
wähl" gelegt und das Vorhandensein mancher Structuren
nicht genug beobachtet. Das neue Buch enthalte, wie Dar-
win selber sage, „kaum irgend ein originales Factum in Be-
zug auf den Menschen." Dasselbe bringe eine Zusammen-
stellung vou Mittheilungen aus einer großen Anzahl von
Werken, welche Darwin benutzt habe, um auf denselben seinen
„Hypothesenbau" aufzuführen. Er sage: „es werde binnen
Kurzem eine Zeit kommen, wo man sich darüber wundern
müsse, daß Naturforscher, welche in der vergleichenden Ana-
tomie des Menschen und anderer Säugethiere bewandert sind,
annehmen konnten, daß beide das Werk einer besoudern
Schöpfung seien." Dagegen wird ihm eingewandt, daß der
Unterschied zwischen den geistigen Begabungen der Men-
schen und der Thiere als ein ganz enormer auch dann er-
scheine, wenn man den allerrohesten Wilden mit den am
höchsten organisirten Affen vergleiche. Um diesen „sormi-
dabeln" Einwand wo möglich abzuschwächen, habe Darwin
ein ganzes Capitel dem Versuche gewidmet, zu zeigen, daß
in Bezug aus geistige Fähigkeiten kein fundamentaler Un-
terfchied zwischen dem Menschen und den höheren Thieren
vorhanden sei. Er bemüht sich, diesen Satz, welchen ihm
schwerlich Viele als begründet zugeben werden, plausibel zu
machen, sobald er jedoch ans die articulirte Sprache
kommt, sitzt er fest und sucht sich mit den Worten zu trösten:
„Die Fähigkeit einer articulirten Rede bietet keine unüber-
windlichen Hindernisse dar gegen die Annahme, daß der Mensch
ans irgend einer niedrigem Form entwickelt worden sei."
Man fragt ihn, ob er auch annehme, daß die Thiere religio-
ses Bewußtsein haben, ob sie abstracter Gedanken und Be-
griffe fähig feien :c., und sagt ihm, daß er dafür weder That-
fachen noch Beweise vorbringen könne. Man fragt weiter:
ob er den Thieren moralische Gefühle beilege? Darwin
meint, „es sei in hohem Grade wahrscheinlich, daß irgend
ein Thier, welches mit offen hervortretenden socialen Jnstinc-
ten begabt sei, unvermeidlich moralisches Bewußtsein oder
Gewissen sich aneignen werde, im Fall seine intellectuelleu
Kräfte so gut oder fast eben fo gut entwickelt würden, wie
beim Menschen der Fall ist."
Darwin hantirt mit „wahrscheinlich", was ein Mann
der Wissenschaft gar nicht thnn soll, und die ganze Bemer-
kung schwebt in der Lust, läuft auf nichts hinaus, weil ein
derart begabtes Thier eben nicht vorhanden ist; von den
Affen aber wird doch Niemand behaupten wollen, daß sie
moralische Thiere seien? Um seine Liebhabereien plausibel
zn machen, werde Darwin geradezu „kindisch". Die Thiere
seien sympathisch, gesellig, moralisch; als Beweis dafür wird
Folgendes vorgebracht: „Ich selber habe einen Hund ge-
sehen, der vor einer mit ihm sehr befreundeten Katze, welche
mschen ausgesehen?
krank in einem Korbe lag, niemals vorüberging, ohne sie
einige Male mit seiner Zunge zu belecken. Das ist das
sicherste Zeichen für das Gefühl des Hundes."
Am allerfchwächsten sei Darwin, wenn er von Entwicke-
lung durch Evolution, natürlicher Auswahl, moralischen und
intellectnellen Eigenschaften und Emotionen rede. „Er giebt
sich dabei alle mögliche Mühe, aber er rudert gegen Wind
und Fluth." Uebrigeus giebt er selber zu, daß die Psycho-
logie nicht in sein Bereich gehöre!
Auf das, was er über „geschlechtliche Auswahl" sagt,
können wir hier nicht näher eingehen und müssen uns mit
Anführung einiger Hypothesen begnügen. „Mangel an
Haar auf dem Körper ist bis zu einer gewissen Ausdehnung
ein secuudäres sexuelles Merkmal, denn in der ganzen Welt
sind die Frauen weniger stark behaart als die Männer.
Deshalb müssen wir vernünftigerweise vermnthen, daß dieses
Merkmal durch geschlechtliche Auswahl erworben worden sei!
Wir wissen, daß das Antlitz bei einigen Affenarten und das
Hintere Ende des Körpers bei anderen Affenarten vom Haar
entblößt ist. Das rührt sicherlich von geschlechtlicher Ans-
wähl her; denn diese Oberflächen sind nicht bloß lebhaft ge-
färbt, sondern manchmal, z. B. beim männlichen Mandrill
nnd beim weiblichen Rhesus, lebhafter bei dem eine« Ge-
schlechte wie beim andern." — „Unsere weiblichen, halb-
menschlichen UrVorfahren seien wahrscheinlich (!) zuerst
theilweise unbehaart gewesen, und als sie dann allmälig,
nach und nach, dieses neue Merkmal der Nacktheit bekamen,
übertrugen sie dasselbe in gleichem Grade auf ihre jungen
Sprößlinge beiderlei Geschlechts. Es liegt nichts Ueber-
raschendes darin, daß die affengleichen Vorfahren des Men-
schen einen theilweisen Verlust des Haares als ein Orna-
ment betrachtet haben." Wallace, der ein Hauptverfechter
der Hypothese von der natürlichen Auswahl ist, ruft sogar
eine Art von lieben Gott zu Hülse, denn er sieht „in der
haarlosen Beschaffenheit der Hant den Beweis, daß irgend
eine mit Intelligenz begabte Macht die EntWickelung
des Menschen geleitet oder bestimmt hat."
Daß es sich auch in Betreff der „geschlechtlichen Aus-
wähl" wieder nur um Hypothesen handelt, giebt Darwin
selber ausdrücklich zu; er schreibt: „Die hier aufgestellten
Ansichten ermangeln der wissenschaftlichenGenanig-
keit." Das „Athenäum" sagt, das sei richtig, aber eben
deshalb hatte er, welcher so stark übertreibe, und dessen Ar-
gumentation ganz ungesund nnd ohne Zusammenhang sei,
mit jener „sexuellen Selection" nicht so viel eitle Parade
machen sollen! —
So das „Athenäum". In Amerika findet Darwin eine
noch weit strengere Benrtheilung. Es wird ihm zur Last
gelegt, daß er mit Thatsachen häufig ganz sorglos und leicht-
fertig umgehe, und feine Werke müsse man viel mehr als
Romane betrachten, denn als wissenschaftliche Arbeiten
(„New Jork Weekly Daybook" vom 11. Februar). Seine
Behauptung, daß der Mensch vom Affen abstamme, wird
sehr scharf kritisirt. Darwin sagt: „Es ist allbekannt, daß
der Mensch demselben Typus oder Modell gemäß gebaut ist,
wie andere Säugethiere. Alle Knochen seines Gerippes
können mit correspondirenden Knochen des Affen, der Fleder-
maus, des Seehundes verglichen werden. So verhält es sich
gleichfalls mit seinen Muskeln, Nerven, Blutgefäßen und
Eingeweiden. Das Gehirn, das wichtigste aller Organe,
folgt demselben Gesetze; das ist durch Huxley und andere
Anatomen gezeigt worden."
Der amerikanische Anatom bemerkt dazu Folgendes: Im
Allgemeinen stellt sich allerdings eine Ähnlichkeit zwischen
dem physischen Organismus der Menschen und der Assen
heraus, gleichzeitig sind aber auch so viele scharf hervortre-
Aus allen <
tenbe und specifische Verschiedenheiten vorhanden, daß die I
Annahme, der Mensch sei aus dem Affen entwickelt worden,
allen bisher beobachteten und festgestellten Naturgesetzen wi-
derspricht. Das äußere Gerüst beider ähnelt sich, wie'gesagt,
im Allgemeinen allerdings, sobald wir aber die einzelnen
Theile prüfen, finden wir die Unterschiede so groß, daß
kein Anatom oder Phyfiolog das eine mit dem andern ver-
wechseln kann. Namentlich sind die inneren Theile, die Vis-
cera, gründlich verschieden. Bei vielen Thieren, welche nie-
driger stehen als der Asfe, gleichen die inneren Theile jenen
des Menschen viel mehr, als beim Affen der Fall ist, und
diese Thatfache ist ein harter Schlag für die Hypothese, daß
der Mensch seinen Ursprung den Affen verdanke.
Schon Albertus Magnus hat darauf hingewiesen, „daß
Menschen und Affen in ihrer innern Organisation weit mehr
von einander abweichen, als in ihrem äußern Van; in der
That sind die Eingeweide bei wenigen Thieren so verschieden
von jenen der Menschen, wie gerade die der Affen."
Die Akademie der Wissenschaften in Paris ließ 1688
eine Anzahl Affen zergliedern und eine genaue Vergleichung
mit secirten Menschen anstellen. Als Resultat wurde fest-
gestellt: Diese Affen gleichen den Menschen weit mehr in
der äußern Structur als im innern Bau; viele andere Thiere
stehen in Betreff des letztern den Menschen näher als die
Affen. Der Bericht der Akademiker weist dann mehr als
siebenzig Verschiedenheiten zwischen beiden Organis-
men nach. Es heißt unter Anderm: „Die Leber der Affen
war sehr verschieden von jener des Menschen, denn sie hat
fünf Flügel, wie beim Hunde, nämlich zwei an der rechten
und zwei an der linken Seite, und dann noch einen fünften
an der rechten Seite der Vertebra. Die Lungen haben sie-
ben Flügel, drei an jeder Seite uud den siebenten in der
Höhle des Mediastinums (Scheidewand der Brust), so wie
bei anderen Thieren. Auch hierin tritt wieder eine bemer-
kenswerthe Verschiedenheit zwischen den inneren Theilen des
Assen und jenen des Menschen hervor." —
Bei den Affen sind Darmnetz. Grimmdarm, Milz, Nie-
ren, Herz:c. allesammt durch solche besondere Merkmale ge-
kennzeichnet, daß der Anatom sie auf den ersten Blick von
jenen des Menschen unterscheiden kann. Der letztere hat
Dinge, welche dem Assen ganz fehlen. Der Kopf des letz-
tern hat z. B. keinen zitzenförmigen Fortsatz (Apophysis um-
stoides), in welchem die Beugemuskeln liegen; beim Affen
Erdtheilen. 127
sind die letzteren an der Seite oder am hintern Theile des
Hinterkopfes befestigt.
Weder Geschichte noch Erfahrung gestatten uns die An-
nähme, daß diefe Unterschiede jenials größer oder geringer
waren, als sie nun sind. Die Natur hält mit Zäh ig-
keit au den einmal vorhandenen Typen sest. So
viel wir heute wissen, ist sie ohne „Variabilität". Die Er-
fahrung lehrt uns kein Gesetz kennen, vermöge des-
sen eine Species in eine andere umgewandelt wor-
den wäre. Die sogenannte Entwickelungstheorie
ist ohne all uud jede wissenschaftliche Basis; sie
stammt aus den Regionen der Phantasie und gehört der
Speculation an, nicht der Wissenschaft. Die Fürsprecher
dieser bodenlosen Theorie fabriciren für sich den größten Theil
der Facta, auf welche sie ihr sogenanntes System gründen
wollen.
Die ganze organische oder thierische Welt ist zusammen-
gesetzt aus verschiedenen Ordnungen oder Schichten, eine
über der andern; alle sind separat uud verschieden; alle wei-
sen im Allgemeinen viele Ähnlichkeiten aus, aber jede ist
von der andern gesondert durch Verschiedenheiten, die nn-
veränderlich sind und jeder ein- für allemal ihre Stelle
in der Natur auweisen. So viel die Wissenschaft weiß,
hat die Natur keine Vorkehrungen getroffen, um Strahlen-
thiere in Gliederthiere, Mollusken in Wirbelthiere, Vierfüßer
in Vierhänder umzuwandeln. Auf Vcrmnthungen und Phan-
tasten läßt aber die Wissenschaft sich nicht ein. Die Ver-
schiedenheiten, welche wir heute beobachten, sind so alt, wie
die Kunde von der Natur überhaupt. Noch ist kein Gesetz
entdeckt worden, vermittelst dessen eine Form in eine andere
umgewandelt werden konnte.
Der Mensch ist eben so wenig jenials ein Asfe gewesen,
wie der weiße Mensch ein Neger, wie die Eiche eine Diestel,
oder unser Kopf einst ein Fuß. Darwin und Hnxley
haben auch nicht einen Schatten von Beweis beigebracht für
ihre, buchstäblich brutale, Theorie über den Ursprung des
Menschen. Jeder wissenschaftlich raisonnirende Mann muß
dieselbe als einen Traum ansehen. Die Wissenschaft giebt
nur zu, was bewiesen worden ist. —
Man sieht, der Affenstreit wird wieder heftig; die An-
Hänger der Transmutation ihrerseits werden gewiß auch das
Wort nehmen.
Aus allen
Wie hoch belauft sich die Schuldenlast der civilisirten
Staaten?
„Kein Menschenhirn vermag das auszudenken!" Aber zäh-
len kann man jede Summe, möge dieselbe auch noch so kolossal
sein. Es gab eine Zeit, in welcher man sogenannten Staats-
Ökonomisten gläubig den Satz nachsprach: „Ein Land befindet
sich in um so blühenderen Umständen, je höher der Betrag sei-
ner Staatsschulden sich stellt!" Nun, wenn dem so wäre, dann
müßten gegenwärtig Staaten und Völker, man kann wohl sagen,
ungeheuer glücklich sein, denn die Schulden sind in der That
ungeheuer. Die Engländer sind vorzugsweise prosaische Leute
des Messens, Wägens und Zählens, und so hat denn ein Herr
R. Dudley Baxter sich der Mühe unterzogen, das negative
Vermögen der civilisirten Völker zusammenzurechnen. (Times-
Mail, 7. März.)
Erdtheilen.
Unter den 52 „civilisirten Staaten und größeren Kolonien"
sind nur drei ohne Schulden: Serbien in Europa, Bo-
livia in Südamerika uud in Afrika die sogenannte Republik
der Neger in Liberia; der Civilisationswerth der letztern ist
freilich ein mehr als zweifelhafter.
Die 52 Staaten:c. haben eine Gesammtbevölkerung
von etwa 606,000,000 Köpfen; sie sind von ihren Regierungen
besteuert mit 596,000,000 Pfund Sterling, so daß auf den
Kopf durchschnittlich zwischen 6 und 7 Thaler entfallen.
Ihre Nationalschulden stellten sich zu Anfang des Jah-
res 1871 auf etwa 3900,000,000 Pf. St.
Die Verzinsung beträgt 157,000,000 Pf. St.; sie nimmt
ein Viertel aller durch Besteuerung aufgebrachten Summen in
Anspruch. _
Im Jahre 1793 betrug die Schuldenlast in:
128
Aus allen Erdtheilen.
Großbritannien..............270,000,000 Pf. St.
Europas Continent .... 203,000,000 „
Nordamerikanische Freistaaten 15,000,000 „
Britifch-Jndien....... 8,000,000 „
Total '. . . 496,000^000 Pf. St.
Nach Beendigung der durch Napoleon hervorgerufenen Kriege
und Abschluß der Rechnung in Betreff von Entschädigungen :c.,
1815 bis 1820, hatten sich die Schulden verdreifacht; sie be-
trugen in:
Großbritannien..... 902,000,000 Pf. St.
Europas Continent . . . 570.000,000 „
Nordamerika ...... 29,000,000
Britisch-Jndien..... 29,000,000 „
Total . . . 1530,000,000 Pf. St.
Damals hatte England allein eine größere Schuldenlast als
alle übrigen Staaten zusammengenommen (228,000,000 Pf. St.
mehr). Die Jahre von 1820 bis 1848 waren im Allgemeinen
eine friedliche Zeit; die Schulden stiegen nicht in so gewaltigen
Massen und stellten sich 1848 auf:
Großbritannien..... 820,000,000 Pf. St.
Europas Continent . . . 746,000.000 „
Amerika......... 114,000,000 „
Britisch-Jndien..... 50,000,000 „
Total . . . 1731,000,000 Pf. St.
Nach 1848 begannen die Ungeheuern Rüstungen; die Fran-
zosen waren die unablässigen Ruhestörer und zwangen andere
Staaten, auf ihre Sicherheit Bedacht zu nehnien. Als ihr Kaiser-
reich September 1870 zusammenbrach, betrugen die Schulden in:
Großbritannien...... 800,000,000 Pf. St.
Europas Continent . . . 2165,430,000 „
Amerika ......... 765,000,000
Asien........... 104,716,000
Afrika........... 39,655,000
Australien u. Neuseeland 35,744,000 „
Total . . . 3845,000,000 Pf. St.
Dazu sind in Folge des Unverstandes der Franzosen noch
etwa 300,000,000 Pf. St. (seit September 1870) gekommen,
eine erkleckliche Summe, mit welcher sie allein sich belastet haben.
Livingstone.
Neuerdings sind wieder Nachrichten aus Sansibar einge-
troffen, welche nun offen eingestehen, daß man dort über das
Verbleiben des Reisenden gar nichts wisse; die vor einiger Zeit
von arabischen Kaufleuten mitgetheilten Angaben über seinen
Aufenthalt im Westen des Tanganyika-Sees haben keine Bestä-
tigung gefunden. Es wird in der That nach und nach gerade
langweilig, mit so ungewissen Angaben und Berichten behelligt
zu werden. Was Livingstone während der vier Jahre seiner
gegenwärtigen Reise von sich hat verlauten lassen, ist für die
Wissenschaft von keiner Bedeutung. Wir gestanden seiner Zeit
in diesen Blättern, daß wir aus seinen Berichten über die Strom-
läufe im Westen des Tanganyika-Sees nicht klug zu werden ver-
möchten, daß dieselben ungenügend, verwirrt, gang und gar
nicht präeis seien. Es ist anderen Leuten ebenso gegangen.
Die Engländer wollten das nicht gern eingestehen, Murchison lobte
seinen „Freund" sehr; die Sache bleibt aber wie sie ist, und
jetzt fällt Desborough Cooley ein scharfes Urtheil. Der
Mann ist freilich was man einen Krakehler nennt; er betrachtet
das Innere Ostafrikas gleichfam als seine Domäne, und liegt
eben wieder im Streite, gegenwärtig mitBeke, der seinerseits die
Nilquellen und deren vermeintliche Lage so zu sagen gepach-
tet hat. Diesmal handelt es sich um das Land Manemas,
in welchem, Dr. Kirfs Berichten zufolge und nach Aussagen
der arabischen Kaufleute, Livingstone zuletzt gesehen worden sei.
Cooley sagt nun, Manemas sei nur eine andere Lesart für
Unyamuesi, das sogenannte Land des Mondes, aber diese
letztere Bezeichnung fei den Ostafrikanern völlig unbekannt; die-
selbe sei durch unsern Landsmann Dr. Krapf aufgebracht wor-
den. Dann habe Richard Burton, mit welchem Cooley vor
etwa vier oder fünf Jahren eine Fehde über ostafrikanische Geo-
graphie hatte, dieselbe angenommen. Es wird ihm auch jetzt
ein Wischer nicht erspart und Beke gleichfalls scharf angelassen.
Es wäre zu nichts nütze, wenn wir auf die Controverse über
Livingstone's Luviri, Luapuka, Lualaba, Luengue, Riam-
bigi, Ulenge und den „nicht besuchten großen See" näher
eingehen wollten, weil ja Livingstone's Angaben über alle Ge-
Wässer im Westen des Tanganyika-Sees fo sehr dürftig und ver-
schwömmen erscheinen; aber richtig will uns bedünken, was Coo-
ley über den Reisenden, dessen Mnth und Ausdauer allerdings
in hohem Grade preiswürdig sind, verlauten läßt. Man müsse
nicht vergessen, daß Livingstone redseliges Geschwätz liebe. „Er
verschniäht, genaue Einzelnheiten zu geben, und wenn ihm
das Mißgeschick zu Theil würde, von dem Manyema
aufgefressen zu werden, so würden wir zu beklagen
haben, daß seine nun fünfjährige Wanderung inCen-
tralafrika uns auch nicht ein einziges Partikelchen ge-
nauer und folider Kunde gebracht hat. Er steigt über
das Niveau der vulgären Wirklichkeit empor, und liebt es, sich
über die Abzugswege der Gewässer des Continentes, über die
Quellen des Nils und des Congo, über Ptolemäus und Xeno-
Phon und über das afrikanische Paradies auszulassen. Der ge-
riebene Schottländer weiß recht gut, wie viel gediegene Kunde
Werth ist, aber der Herde seiner Anbeter wirft er wortreiche All-
gemeinheiten, große Dunkelheiten und andere dergleichen Perlen
vor." Man sieht, wie bissig dieser Herr Desborough Cooley
(„Athenäum", 25. Februar) ist, aber in der Sache selbst hat er
gar nicht so unrecht.
H * #
— Die Goldfelder in Neuschottland ergaben im
Jahre 1869 eine Ausbeute von 17,868 Unzen, und 1870 etwa
2000 Unzen mehr. Die Albion-Mine lieferte 2582, die Wel-
lington-Mine 2033 Unzen.
— Beim Gerichte zu Columbus im Staate Ohio hat eine
Frau anf Ehescheidung angetragen, weil ihr Mann so
gottlos sei, nicht an die ewige Berdammniß todtge-
borener Kinder zu glauben. Die „ewige Berdammniß"
spielt bekanntlich unter den Angloamerikanern als ein zur ewi-
gen Seligkeit unbedingt nothwendiges Dogma eine hervorragende
Rolle.
— John Sullivan, Farmer zu Canaan im Staate Neu-
Hampshire, gab seinen beiden Jungen, von denen der eine 11,
der andere 14 Jahre alt ist, einige Hiebe, weil sie wiederholt
argen Unsug getrieben und die Nachbarn arg belästigt hatten.
Die wackeren Knaben nahmen das sehr übel. Sie verabredeten
sich, ihren Bater unschädlich zu machen, überfielen ihn, indem
sie ihm mit einem Stricke die Arme auf den Rücken zusammen-
banden, steckten ihm ein Taschentuch als Knebel in den Mund,
schleiften ihn in die Scheune, warfen ihm ein Seil um den Hals
und hingen ihn auf. (Newyork Daybook, 14. Januar.)
— Im sibirischen Gouvernement Jrkutsk beträgt die
nichtrussische Bevölkerung 118,797 Köpfe; davon gehören26,381
der griechischen Kirche an; die übrigen sind theils lamaitische
Buddhisten, theils schamanische Heiden.
Inhalt: Beni-Hafsan. (Mit siebenzehn Abbildungen.) — Bericht über Lapplands allgemeine Ausstellung in Tromsö im
August und September 1870. Bon Dr. Fr. Mehwald. (Schluß.) — Eine Kreuzfahrt auf dem Adriatischen Meere. Von Dr
Oscar Schmidt. (Schluß.) — Wie haben die Urmenschen ausgesehen? — Aus allen Erdtheilen: Wie hoch beläuft sich die
Schuldenlast der civilisirten Staaten? — Livingstone. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Vrannschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
&
sm Länöer-
Band XIX.
Jß 9.
it bcfoiulercr Herirl! sirlitiZung cker Antkrogologie unck Ethnologie.
an
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl A n d r e e.
Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1871.
Unter den Nomaden Jnnerasiens.
Der bei weitem größte Thcil Jnnerasiens, von den Ost-
grenzen Europas an, ist Gebiet der Wanderhirten und wird
es bleiben auf der ganzen Strecke vom Ural und vom Kas-
pischen Meere bis nach dem eigentlichen China hin, und vom
Eismeere bis zu den Hochgebirgen, welche dem Süden Asiens
als eine trennende Schranke dienen. Im hohen Norden sin-
den wir Fischernomaden, in den ausgedehnten Wäldern Si-
biriens Jagdnomaden, in den Steppen und aus den Hoch-
ebenen treiben Wanderhirten ihre Herden hin und her: Ka-
meele nnd Pferde, Rindvieh, Schafe und Ziegen in ewigem
Einerlei, weil Klima, Bodenverhältnisse nnd Lebensweise be-
dingend einwirken.
Dem Beobachter bieten die verschiedenen Nomadenvölker
viele anziehende Seiten dar; ihr ganzes Gepräge ist ein
eigenthümliches, aber nach den verschiedenen Gegenden und
der Bodenbeschaffenheit modificirt. Der ganze Norden Asiens,
das sogenannte Sibirien, bildet bekanntlich einen Theil des
russischen Reiches. In demselben sind das wichtigste und
zahlreichste Nomadenvolk die sogenannten Kirgisen, welche
in drei großen Abtheilungen: der kleinen, der Mittlern und
der großen Horde, sich über das weite Gebiet von der Wolga
uud dem Ural nach Osten hin bis in die chinesische Dsnn-
garei verbreiten, und einen Flächenraum von mehr als 40,000
Geviertmeilen als ihr Gebiet betrachten. _ .
Man bezeichnet die Kirgisen der drei Horden richtiger
als Kasaken, und so nennen sie selber sich. Die kleine
Horde, die westliche, steht unter der Gerichtsbarkeit des oren-
burgischen Gouvernements und wurde bis in die jüngste Zeit
vom russischen Beamtenthum ziemlich unbehelligt gelassen;
sie konnte sich ihre eigenen Vorsteher wählen und wurde auch
Givbus XJX. Nr. 9. (März 1871.J
nicht von Abgaben gedrückt. Deshalb waren die Kirgisen
ruhig und fügsam; seit 1869 jedoch sind sie mißvergnügt,
weil man ihnen einen bureaukratifchen Mechanismus auf-
zwingt; manche Stämme haben sich zur Wehre gesetzt und
man hat sie durch Waffengewalt fügsam machen wollen.
Jedenfalls sind sie benachteiligt worden, und nicht wenige haben
die neuen Verhältnisse unerträglich gefunden; sie wanderten
nach dem Chanate Chiwa aus, und viele machen nun die
Handelswege unsicher.
Diese kleine Horde reicht vom Uralflusse(Jaik) bis an
den Jaxartes, und mag etwa zwischen 600,000 und 700,000
Sehlen zählen; die mittlere Horde, jene der sogenannten
sibirischen Kirgisen, 350,000 Köpfe, wohnt im Gebiete von
Semipalatinsk, am obern Jrtyfch, am Saifanfee, an den
Südabhängen des Tarbagatai-Gebirges, und nomadisirt thcil-
weis auch auf chinesischem Gebiete. Die große Horde
zieht umher in der Richtung von Nordwest nach Südost,
zwischen dem Balchaschsee nnd der chinesischen (dsungarischen)
Grenze; unterhalb dieses Sees reichen ihre Weideplätze bis
zum Gebiete der Mittlern Horde, bis an die Grenzen des
Chanates Chokand. Etwa 100,000 Köpfe sind den Russen
unterworfen, der Rest lebt so gut wie vollfrei auf dsungari-
schem Gebiete, unter seinen Sultanen nach der Weise der
Väter. Sie ziehen, sobald der Sommer beginnt, aus der
Steppe ins Gebirge, wo sie für ihre zahlreichen Herden fri-
fche, saftige Weide finden, namentlich am Alatau, dein
„bunten Gebirge". Dorthin begleitete der britische Reisende
Atkinson eine Abtheilung der Nomaden, und wir geben aus
seinen Schilderungen die nachfolgende Episode.
17
130
Unter den Nomaden Jnnerasiens.
Für die Völkerkunde bieten die Kirgisen manches inter-
essante Moment dar. Sie sind Nomaden in vollem Sinne
des Wortes, ein Wandervolk, welches seine Zelthtitten, Jur-
ten, von einer Stelle zur andern bewegt, und in den ver-
schiedenen Jahreszeiten verschiedene Weidegründe aussucht,
bald die Steppe durchzieht, bald das Vieh aus die grasreichen
Ebenen im Hochgebirge treibt.
Unter den Reisenden, welche dieses Volk näher beobachtet
haben und längere Zeit unter demselben lebten, nimmt At-
kinson eine hervorragende
Stelle ein. Er schildert
dasselbe in allen Lebens-
Verhältnissen, er hat die
Kirgisen als Krieger, Kauf-
leute, Frachtfahrer und
Viehzüchter kennen gelernt,
und hat sie aus manchem
Zuge und unter mannich-
fachen Gefahren begleitet;
namentlich hat er mit ihnen
ihre Weidegründe im Ala-
tau besucht, jenem Hochge-
birge, das im Norden den
Balchaschsee hat und die
Grenze gegen die Dsnnga-
rei bildet. Es zieht von
Nordost nach Südwest und
ist im Norden durch die
Seen, im Süden durch
das Thal des in den Bal-
chasch mündenden Jliflnsses
scharf abgegrenzt. Etwa
unter 45° N. zweigt sich
von ihm die kurze Kopal-
kette ab, welche von dem
gleichnamigen Flusse durch-
brochen wird. Der Alatau
hat Gipfel bis zu 12,000
Fuß Höhe; er ist vielfach
wild durchrissen und hat
eine große Menge malen-
scher Thäler mit reißenden
Gebirgsströmen, welche dem
eben genannten großen
Steppensee zufließen.
In dieser Gegend no-
madisirte Atkinson uiit den
Kirgis-Kaisaken. Zu Au-
fang des Juni langte er,
von einigen rnssischenKo-
sacken begleitet, Abends
bei einem Aul, d. h. Zelt-
lager, an und trat in eine
Jurte, wo er, wie immer,
freundlichen Empfang fand. Linienkosack.
Es sieht wunderlich genug
aus in einer solchen Behausung. Zwei Frauen rollten sich
eben aus den Filzdecken hervor, welche ihnen als Deckbett
dienen. Die Atmosphäre ist in einer solchen Jurte, wenn sie
seit einigen Stunden keinen Zugang von frischer Lust erhal-
ten hat, geradezu unerträglich für einen Europäer; die Ko-
sacken schlugen deshalb die Filzthür zurück, öffneten auch die
Filzplatte, mit welcher das Zelt oben verdeckt ist und zün-
deteu ohne Weiteres ein Feuer an.
Nun setzten die Kirgisen einen großen Kessel auf einen
Dreifuß und bereiteten ihr Abendessen. Dasselbe besteht aus
Ziegelthee, geronnener Milch, Salz und Hirsemehl; der Eng-
länder bereitete sich seinen Karawanenthee in einem Samo-
war. Kairan, der Inhaber des Zeltes und Haupt der Fa-
milie, war ein kräftig gebaneter Mann von etwa fünfzig
Jahren, ziemlich dunkler, nicht gerade fanberer Haut, breitem
Gesicht, großem Mund, tiesliegenden Augen, aber wohlge-
stalteter Nase. Auf dem kahlgeschorenen Haupte trug er
eiue eng anliegende, blaue, mit Silber und bunter Seide
gestickte Kappe; sein Rock war von gelb, roth und grün ge-
streifter Baumwolle; diese
Kleiderstoffe werden im Cha-
nate Chokand verfertigt.
Die Frauen waren in Schaf-
pelze gehüllt, welche sie auch
Nachts nicht ablegen; diese
Damen der Steppe sahen
keineswegs appetitlich aus.
Vier Kinder guckteu mit
den Köpfen aus deu Fellen
hervor, in welche man sie
gewickelt hatte; ein sieben-
jähriges Mädchen kroch her-
vor und bewegte sich im
Zelte, wie der liebe Gott
es geschaffen hatte. Die
Schlafstelle der Kinder war
dicht neben einem Verschlag,
in welchem junge Ziegen
und Lämmer ihr Lager hat-
ten. Das Zelt hatte höch-
stens 25 Fuß im Durch-
messer und war uoch durch
allerlei Hausrath beengt:
Kosfer, Kisten, Filzteppiche
und dergleichen.
Die Frauen habeu bei
den Kirgisen eine sehr nn-
tergeordnete Stellung. Als
der Reisende zweien dersel-
ben Thee darreichte, blickten
die Männer ihn verwundert
an und hielten ihn für einen
schlecht erzogenen Barba-
ren, denn bei ihnen würde
kein Mann gestatten, daß
die Frauen trinken dürften,
bevor alle männlichen An-
gehörigen der Familie, die
Knaben mit eingeschlossen,
getrunken haben. „Ich
glaube, wenn ich auch
zwanzig Jahre laug, Tag
für Tag, den Frauen Vör-
den Männern Thee gereicht
hätte, daß ich diese eben so
wenig zu einer andern An-
ficht bekehrt haben würde, wie die Missionäre einen Buriä-
ten zu bekehren vermochten, obwohl sie doch lange, liebe
Jahre bei und unter denselben sich abgemüht haben."
Am folgenden Morgen war Atkinson Zeuge einer echt
nomadischen Scene. Der Aul bestand aus 13 Jurten; er-
zählte 29 Männer, 34 Frauen und 26 Kinder; in der
Nähe standen noch einige andere Aule, und nun hielt Kairan
mit den Vorstehern derselben eine Berathnng. Die Frauen
melkten Kühe, Ziegen und Schafe, während die Männer
allerlei Vorkehrungen trafen, um die Herden aus die Weide
TRICHON.I
Unter den Nomaden Jnnerasiens.
zu treiben. Als dieselben sich in Bewegung setzten, war
weit und breit auf der Steppe ein unbeschreibliches Gewim-
mel von allerlei Vieh, und die Hirten sprengten, hoch zu
Rosse, nach allen Seiten hin, um die
verschiedenen Abteilungen aus einan-
der zu halten. Am fernen Horizonte
bewegten sich lange Linien hin und
her; es waren Pferde, Kameele und
Ochsen anderer Stämme, welche sich
nach dem Gebirgspässe hinbewegten.
Im Süden erglänzten die schneebe-
deckten Gipsel des Aktu im Sonnen-
scheine, während die niedrigeren Berg-
höhen des Alatan in ganz verschiede-
neu Färbungen spielten.
Eben kamen drei Kirgisen ans dem
Gebirge zurück, wo sie die höheren
Pässe untersucht hatten; sie meldeten,
daß dieselben für das Vieh gangbar
seien. Plötzlich erhob sich in der Ferne
eine Staubwolke, welche vou einer
Reiterschaar aufgewirbelt wurde. Sie
hielt vor dem Zelte eines mit Atkinson
befreundeten, angesehenen Kirgisen,
Namens Syrdak, an, von welchem
sie sehr freundlich empfangen wurde.
Der Führer jener Schaar war ein
junger Häuptling eines andern Stam-
mes und jetzt erschienen, um Syr-
dak's Tochter, mit welcher man ihn
verlobt hatte, nun zum ersten Male
von Angesicht zu Angesicht zu sehen.
Er wurde in die Jurte geführt, setzte
sich auf den Boden und trank mit vie-
lem Behagen einen großen chinesi-
schen Napf Knmyß aus. Dann erst erkundigte er sich nachl
dem Wohlbefinden seines Schwiegervaters, nach dem seiner
Söhne, der Kameele, Ochsen, Pferde, Schafe und Zie-
gen, — zu allerletzt fragte er dann
auch, ob Mutter und Tochter ge-
fund und munter feien. Das ist so
Brauch bei allen Nomadenstämmen
Jnnerasiens.
Bei den Kirgisen hat das Mäd-
chen in Betreff seiner Berheira-
thnng gar nichts zu fageu; der Ba-
ter verlangt für seine Tochter so und
so viel, und wer den Preis zahlt, mag
sie holen. Zuerst verständigt man sich
wegen des Kalym, d. h. des Kauf-
Preises, der aus einer vereinbarten An-
zahl von Kameelen, Pferden, Ochsen
und Schafen besteht. All das Vieh
muß dem Vater übergeben werden;
dieser behält dasselbe, und es wird Ei-
genthum seiner Tochter, falls diese
etwa von ihrem Manne wieder sortge-
schickt wird. Dergleichen kommt dann
und wann vor. Nachdem man sich
geeinigt hat, kommt der Mullah (mo-
hammedanische Geistliche) und bestätigt
den Ehevertrag, dessen Abschluß nun den
beiderseitigen Verwandten kundgethan wird. Er liest einige
Gebete und flehet Allahs Segen auf das Paar herab. Der
Vater des Bräutigams zahlt jetzt die Hälfte des Kalym, und
erst von nun an darf der junge Mann seine Braut besuchen.
Russischer Liniensoldat.
Kosack als Dragoner
Syrdak's Schwiegersohn ritt einen prächtigen Grau-
schimmel und nahm sich auf demselben ganz stattlich aus in
seinem gelben, rothgestreiften seidenen Kalat (Oberrocke);
sein Gürtel bestand aus eiuem grünen
Shawl, seine Stiesel mit hohen Ab-
sätzen waren von rothem Leder und
seine carmoisinrothe Kappe war mit
Fuchspelz verbrämt. Dazu kamen Mes-
ser, Tabackspseise und eine Peitsche.
Zaum, Sattel und alles Lederwerk war
mit silbereingelegten, eisernen Platten
verziert und ein Gleiches war der Fall
mit der Streitaxt.
Dem Gaste zu Ehren schlachtet man
zwei Hümmel; aber beim Mahle darf
geräuchertes Pferdefleisch nicht fehlen;
Knmyß sowohl wie Branntwein wird
in großer Menge getrunken und bald
geht es sehr lärmend zu bei solch einem
kirgisischen Schmause, der bis zum
späten Abend dauert. In der Nacht
aber war Alles still; nur die Wäch-
ter mit ihren treuen Hunden waren
auf den Beinen. Mit Tagesanbruch
wurde es im Aul lebendig; die Stiere
brüllten, als wollten sie die Herde zu-
sammen ruseu; die Hengste wieherten
der Sonne entgegen und schlugen hin-
ten aus. Rosse und Kameele zogen
gen Südwesten; hinter ihnen ging das
Rindvieh; die Schaf- und Ziegen-
Herden breiteten sich meilenweit aus
und schlössen den Zug. Jede Ab-
theilung wurde von einer Anzahl Rei-
ter überwacht und geleitet. Jnzwi-
schen hatten die'Frauen alle Jurten abgeschlagen und sowohl
diese Zelthütten wie alle fahrende Habe auf Kameele, Ochsen
und Kühe geladen. Diese Arbeit erforderte kaum drei Stun-
den Zeit. Das aus Weidenholz ge-
fertigte Gestell der Jurte hängt von
den Kameelen herab und reicht auf
beiden Seiten so weit hervor, daß es
aus der Ferne aussieht, als hätten die
Thiere mächtige Flügel; andere tragen
die zusammengerollten Filzdecken hoch-
ausgethürmt auf dem Rücken und wan-
ken und schwanken hin und her unter
der nicht unbeträchtlichen Last. Da
und dort rennt ein wild gewordener
Bulle in die Kreuz und Quere; er
wirst einige Kessel ab oder auch bu-
charische Teppiche und ein paar Kisten,
mit denen er beladen war. Für die
Lederbeutel, in welchen Kumyß (ge-
gohreue Stutenmilch), das Lieblings-
getränk der Kirgisen, enthalten ist,
wählt man ruhige, zuverlässige Thiere,
denn ein so werthvoller Schatz darf
nicht in Gefahr kommen. Kinder be-
fördert man auf solch einer nomadi-
schen Wanderung derart, daß man
einer Kuh zwei Säcke auferlegt, so
daß einer auf jeder Seite hängt; in jedem sitzt dann ein
kleiner Kirgisensprößling. In dem wirren Gedränge sieht
man manche Frauen, die mit kostbaren chinesischen Gewän-
dern bekleidet sind; der seidene Stoff ist bald karmoisinroth,
17*
132
Unter den Nomaden Jnnerasiens.
Hellroth, gelb oder grün;
ältere Frauen tragen Sam-
metröcke, manche jungeMäd-
chen Mützen von Fuchsfell.
Das Kopftuch der Matro-
nen ist von weißer, bunt
gestickter Leinwand, welche
bis auf die Schultern her-
abhängt. Alles reitet, und
manche Frauen und Mäd-
chen geben dem gewand-
testen Reiter nichts nach.
Mädchen und Knaben sitzen,
je nach ihrem Alter, auf
verschiedenen Thieren, die
älteren auf Rossen, andere
auf jungen Ochsen, manche
kleine Jungen sogar auf
Kälbern, in Filzstiefeln,
welche am Sattel befestigt
sind; sie leiten das Kalb
an einem durch die Nase
gezogenen Riemen.
Solch ein Zng nimmt
sich ungemein malerisch aus
nnd hat in keiner andern
Region der Erde seines
Gleichen.
Nach Verlauf einiger
Stunden befand der Rei-
sende mit seinen Begleitern
sich an der Mündung des
Bergpasses, in welchem
schon unzählige Thiers sich
langsam nach der Höhe be-
wegten. Ein Blick von dort
auf die Steppe zeigte, daß
dieselbe bis an den äußer-
steu Horizont mit Vieh be-
deckt war, nnd alle diese
Herden sollten auf die Hoch-
ebene im Gebirge getrie-
ben werden. Die lebendige
Thierwoge wälzte sich lang-
sam vorwärts, eine Welle
drängte die andere.
Die Mündung des Pas-
ses, der auf beiden Seiten
von grünen, sehr steilen Bö-
schnngen eingefaßt war,
mochte etwa dreihundert Fuß
Breite haben und war ganz
und gar angefüllt mit Ka-
nieelen, Pferden, Ochsen und
berittenen Treibern, welche
Ordnung in das Chaos zu
bringen suchten. Atkinson
schildert ausführlich, welche
Anstrengungen es erfor-
derte, in und mit dieser
dichtgedrängten, lebendigen
Masse vorwärts zu kom-
men; die Pferde namentlich
preßten sich alle so dicht
aneinander, daß sie nicht
ausschlagen konnten; dafür
aber bissen viele um sich
und die Reisenden mußten
unablässig ihre Peitschen
gebrauchen, um sich ihrer
zu erwehren. An manchen
Stellen war die Scenerie
großartig, namentlich an
einer Stelle, wo eine Fels-
wand in der Höhe von etwa
900 Fuß weit über die tief
eingerissene Schlucht hin-
überragte und dieselbe zu
nicht geringem Theile gleich-
sam überdachte. Unten er-
tönte ein Concert, das man
sich nicht wilder denken kann.
Die Treiber riefen laut, die
Kameele schrien, die Pferde
wieherten oder schnoben ge-
waltig, wenn sie von an-
deren gebissen wurden, das
Rindvieh blökte und das in-
fernalische Getöse fand sei-
nen Wiederhall aus jeder
Seitenschlucht.
Der Reisende war glück-
licherweise eine ziemlich
steile Anhöhe hinanfgerit-
ten, als eine Phalanx von
etwa fünfzig oder sechzig
Bullen wie rasend durch
alles andere Gethier hin-
durchbrach, Alles vor sich
nieder oder zur Seite wer-
send. Weiterhin mnßte man
durch einen mit Felsmassen
gleichfam übersäeten Wild-
dach reiten; er war so ge-
fährlich, daß es um den
Reiter geschehen war, wenn
das Pferd ausglitt. Manche
Thiere, welche von einem
Felsblock auf den andern
springen wollten, traten fehl
und waren verloren, denn
die reißende Flnth nahm sie
mit sich fort. Die Kirgi-
sen ziehen in jedem Jahre
durch diesen Engpaß und
über dieses Wasser, aber nie-
mals ist es ihnen auch nur
entfernt eingefallen, einen
einzigen Stein aus dem
Wege zu räumen. Was
an Thieren zu Grunde geht,
wird abgeledert und dann
verzehrt; man ist der Mühe
des Schlachtens überhoben!
Atkinson gebrauchte volle
vier Stunden, um durch die
Schlucht zu reiten und
dann aus ein weniger durch«
rissenes Gelände zu kom-
men. Dort oben war er
nun außerhalb des Gedrän-
ges und konnte unbehindert,
Kaskaden des Kopal.
134 Unter den Nom
unter Leitung eines kirgisischen Führers, durch mehrere Steil-
schlnchten reiten, oder vielmehr nicht reiten, denn an manchen
Stellen mußte abgestiegen werden, und es verging eine gute
Stunde, bevor auch diese Schlucht überwunden und endlich die
Hochebene erreicht war; hier weideten schon Pferde und Ka-
meele in üppigem Grase, dicht unter der Schneegrenze, in etwa
7000 Fnß Höhe Uber dem Meeresspiegel. Jetzt fiel Regen
und die Berge waren von Nebelwolken umzogen. Da und
dort hatten die Kirgisen schon einzelne Jurten aufgeschlagen,
in welchen die Reisenden Unterkommen und Schutz gegen den
Regen suchten, welcher längere Zeit anhielt. Sie sahen,
wie unzählige Herden vorüberzogen und nach einer Vertie-
fuug in der Hochebene getrieben wurden, wo sie die Nacht
über lagern sollten.
Der Reisende wurde in jener Höhe von einem Hagel-
stürm überrascht, der mit wilder Gewalt von den schneebe-
deckten Bergen und den Gletschern auf die Hochebene herab-
brauste. Seine Führer wollten ihn nach einem Aul gelei-
ten, der etwa eine Stunde weit entfernt an einer geschützten
Stelle lag; als aber der Sturm nachließ, senkte sich ein dich-
ter Nebel herab und nun wurde der Ritt gefährlich, weil
zur linken Seite die Hochebene steil abfiel und ein Sturz in
den Abgrund unbedingt verderblich geworden wäre. So
stand Atkinfon da, in der kalten Nacht, auf einer Hochsteppe,
auf welcher auch nicht ein Strauch wuchs und wo Alles kahl
war. Selbst wenn Brennstoff vorhanden gewesen wäre,
hätte man kein Feuer unterhalten können, denn nach Verlauf
von etwa einer Stunde brach der Sturm wieder los und Re-
gengüfse wechselten mit Hagelschlag ab. Aber man mußte
vorwärts, aus jede Gefahr hin. Der Weg führte an einem
steilen Abhänge hinunter, manchmal durch Schnee, der fuß-
hoch da lag, nnd nach mancherlei Beschwerden kam man zn
einigen Jurten, die am Tage vorher dort aufgeschlagen wor-
den waren. In diesen fanden die Reisenden Schutz gegen
das Unwetter, welches immer ärger wurde. So ging die
dunkle Nacht leidlich vorüber. Diese Zelte standen in einem
engen Thale, an dessen Südseite das Gelände wohl ein-
tausend Fnß ganz jäh abfiel; die ganze Gegend war wild
zerklüftet, nach allen Seiten hin war der Boden tief durch-
rissen.
Einige Zeit nach Sonnenaufgang wurde dort oben das
Wetter klar und die Luft völlig rein. Atkinfon hatte von
seinem Standpunkte aus einen weiten Blick über die aus-
gedehnte Steppe, welche auch jetzt noch nach allen Richtnn-
gen hin mit zahlreichen Herden gleichsam bedeckt war, obschon
Tausende uud aber Tausende Stück Vieh den Paß hinauf-
gegangen waren. Das Gebirge im Südeu wurde nach und
nach wolkenfrei, ein Gipfel nach dem andern trat hervor
und die Schneekette des Aktau war nun sichtbar; einzelne
Höhen waren noch von einem Nebelschleier umzogen. Jetzt
konnte der Reisende sich überzeugen, auf welchem gefährlichen
Wege er im Dunkel des vorigen Abends gewandelt war;
derselbe führte hart am Abgrunde eines steilen Abfalles hin.
Von eiuem andern Standpunkte hatte er einen Blick auf die
westlichen Gebirgshöhen nnd auf das prächtige Thal, welches
sich zwischen dem Karatan nnd dem Alatan hinzieht; auch
in diesem wimmelte es von Herden, welche sich, von dem
hohen Standpunkte aus gesehen, wie Fliegeuschwärme aus-
en Jnnerasiens.
nahmen. Er konnte deutlich den Lauf einiger Flüsse ver-
folgen, welche sich zuletzt im Sande verloren oder große Mo-
rüste bilden. Ganz hinten am Horizont erglänzte der Bal-
chaschsee hell wie ein Spiegel.
Es wurde schon gesagt, daß auf den Zügen der Kirgisen
aus der Steppe nach den Weideplätzen im Hochgebirge viel
Vieh verloren geht. Als der Reifende seinen Weg fortsetzte,
überzeugte er sich, daß Kameele und Pferde in Menge da
und dort in einen Abgrund gestürzt waren; jene, bis zu wel-
chen die Kirgisen gelangen konnten, wurden zerlegt, und man
trug ihr Fleisch nach den Auls; an manchen Punkten lag
verunglücktes Vieh in großer Menge, und auch eine Anzahl
von Menschen war ums Leben gekommen. In diesem Hoch-
lande, 7000 Fuß über dem Meere, ist, wie schon gesagt, in
den Sommermonaten reichlich Futter vorhanden; diese Stel-
len im Aktn liegen schon auf der chiuesischeu Seite der
Dsuugarei.
Die Sceuerie in diesen innerasiatischen Alpengebirgen ist,
wie schon bemerkt, großartig und gewaltig. Während der
untere Lauf der Flüsse sich im Sande und im Moraste der
Ebene oder iu einem der vielen größeren Steppenseen ver-
liert, bricht der obere Laus sich durch wild zerrissenes Gebirge
seine Bahn und bildet oft eine Reihenfolge von stürmischen
Kaskaden. Wir geben, nach Atkinfon (Oriental ancl Western
Sibiria, London 1858, S. 575), die Ansicht einer Schlucht,
durch welche der Kop al sich Bahn bricht und ein gewaltiges
Getöse verursacht. Die Gestaltung der Felsmassen, die eine
glänzende Färbung haben, ist ganz eigenthümlich wild. Der
Reisende versuchte bis an das Ende der Katarakte zn ge-
langen, der Boden war jedoch überall dermaßen schlüpfrig,
daß er sein Vorhaben nicht ausführen konnte. In der Nähe
war eine Arafan oder warme Quelle, welche in einer von
gelbem und purpurfarbigem Marmor gebildeten Schlucht
emporsprang; sie hat sowohl im Winter wie im Sommer
eine Temperatur von 29° R. und wird häufig von Chine-
sen, Kirgisen, Tataren und kalmückischen Buriäteu besucht
und gilt für eine „geheiligte Stätte", weil sie gegen Haut-
krankheiten wirksam ist.
Aus manchen seiner Streifzüge war Atkinfon von Ko-
sacken und auch von kalmückischen Buriäten begleitet, die
sich als kundige Führer im Steppenlande erwiesen nnd eine
große Ausdauer betätigten. Auch sie sind Nomaden, aber
von entschieden mongolischem Gepräge, wohnen in Jurten,
bekennen sich zum Lamaismus, esseu vorzugsweise gern Pferde-
fleisch, halten wenig Rindvieh, dagegen desto mehr Rosse,
Schafe und Kameele. Unsere Abbildung zeigt, wie ein Trupp
Buriäten, die vou einem Wanderznge zu ihrem Jurtendorfe
heimkehren, dasselbe freudig begrüßt. Sie sind vortreffliche
Reiter, tragen über den eng anliegenden Jacken einen Mantel
mit weiten Aermeln, auf dem bis auf einen Haarbüschel
am Scheitel kahl geschorenen Kopfe eine gelbe Mütze mit
einer Quaste, und führen als Waffen lieber Lanze und Bo-
gen, als ein Feuergewehr. Die Steppe bietet ihnen weiten
Raum dar; sie ziehen im südlichen Sibirien umher, der mon-
gotischen Grenze entlang, am obern Laufe des Jenissei, an
der Angara, der Lena und auch an den südlichen Ufern des
Backalsee, als Unterthanen Rußlands, welchem sie sich schon
in der Mitte des sechszehnten Jahrhunderts unterwarfen.
Theodor Zorn: Auf der Insel Rügen.
135
Auf der I
Von Theo!
Ein Besuch auf diesem schönen Eilande ist allemal er-
frischend und lohnend, und wer einmal dort gewesen ist, sehnt
sich wieder nach den schattigen Hainen und an die von hoch-
wogender See umbrandeten Küsten.
Ich habe den Lesern des „Globus" (Band XVIII, S.
86 ff.) einige Mitteilungen Uber die wackeren Bewohner
von Mönchgut gegeben und insbesondere geschildert, was
sich an „Aberglauben" aus alten Zeiten bis auf diesen Tag
herab bei ihnen erhalten hat. Es ist vielleicht nicht ohne
Interesse, auch anderer Eigentümlichkeiten zu erwähnen.
Ich trat diesmal meine Wanderung von Middelhagen
aus an, zum Nordstrande, durch die saftgrünen Wiesen, die
üppigen Weizen- und Roggenfelder der Domäne Philipps-
Hägen. Der Blick schweift über die theils bewaldeten, theils
mit Getreide bestandenen Höhen des Nordperds, und aus
der Ferne her vernehme ich das Brausen des Meeres. So
gelange ich in das hochgelegene Dorf Göhren, das nur
aus einer einzigen von Nord nach Süd ziehenden Straße
besteht.
Man weiß, daß Rangunterschiede und gesellschaftliche
Abstufungen nirgend strenger beobachtet werden, als in flei-
nen Gemeinwesen, und diese Standessonderung ist in Göhren
selbst auch räumlich vollzogen. Während die nördliche Hälfte
des Ortes, von der Dorfaristokratie bewohnt und Baüern-
seite genannt, gleichsam das Westend großer Städte ver-
tritt, stellt der südliche Theil die Büdnerseite, das Ostende
dar; in ihr wohnen die Büdner, Häusler und Taglöhner.
Nach einigen freundlichen Begrüßungen und Händedrucken,
welche ich ausgetauscht mit zwei bis drei Koos, eben fo viel
Loocks und etlichen Wittmis (fast jeder fünfte Mann auf
dem Mönchgnt führt nämlich einen dieser Namen), steige ich
durch den tiefen, mit hohen Eschen und mächtigen Buchen
beschatteten Hohlweg, am Dorfquellbrunnen vorüber, hinab
zum Strande.
Der Nordost hat wacker gearbeitet. In mächtigen Wellen
treibt die See direet zu Laude. So weit nur das Auge die
mächtige Wasserfläche zu überschauen vermag, die allein zur
Linken durch die hohen, waldbestandenen Felfennfer Jas-
munds, „des blaueu Lännekens" begrenzt wird, ist sie mit
Schaumkronen bedeckt. Wie zorniges Aufblitzen eines finster-
drohenden Auges nehmen sich diese beweglichen, leuchtenden
Schaumwellen auf dem tief-, fast schwarzblauen Wasserspiegel
aus. Die Brandung zu unseren Füßen ist beinahe eine
einzige, große Schaummasse.. In dem weißen, reinen Sande,
welcher den Meeresgrund an diesem Strande ausmacht, hat
das Meer die Gestalt der Welle nachgebildet. Parallel der
Küste liegen drei bis vier solcher Bodenwellen dem Strande
vorgelagert und bilden eben so viele Tiefen und Untiefen.
Gelangt nun die Wasserwoge in solche Thalsenkung des
Meeresgrundes, so slnthet sie in mächtiger Breite ungehemmt
und majestätisch daher. Bald aber hemmt ihren Fuß die
ansteigende Saudbank. Die Woge bäumt und überstürzt
sich. In Schaum zerschlagen, kracht sie nieder. Mit wie-
dergesammelten Wassern durchzieht sie die nächste Thalfen-
knng, um an der folgenden Bodenanschwellung aufs Neue zu
zerschellen. Dem Donner vergleichbar ist das krachende Zu-
sammenstürzen der Welle an ihrem letzten Hemmniß, dem
aufsteigenden Strande. Zornig sendet sie schließlich eine
sel Rügen.
r Zorn.
Spülwelle von 10 bis 15 Fuß den Strand hinauf, welche
die Füße des achtlosen, in Betrachtung versunkenen Be-
schauers netzt. Am stärksten wüthet die Brandung zwischen
den riesigen Steinen, welche, nach und nach vom schroffen
Göhrener Vorgebirge abgestürzt, weit in die See hinein-
lagern.
Auch der Büß kam (bogis camien, d. h. Göttersteiu),
nach Anschauung der ehemals Rügen und Mönchgut bewoh-
nenden Slaveu Sitz des Meeresgottes, einer Art wendischen
Neptuns, wird heute übersluthet, wenngleich er bei ruhigerer
See über 4 Fuß aus dem Wasser hervorragt, das am Stand-
orte des Steines gegen 18 Fuß tief ist.
Beim Anblick der mächtig erregten See, die in rastlos
erneuertem Anstürme ihre Wogenkämpfer gegen das Land
schickt, kann man sich des Gedankens nicht erwehren, sie werde
die Grundfesten der Insel unterwühlen und dies Hinderniß
ihrer Bahn hinwegreißen.
Wird auch das Mönchgut wie ganz Rügen seinem ein-
stigen Schicksal, vom Meere in eine Anzahl kleinerer Jnselu
zerstückelt zu werden nicht entgehen, so ist es zur Zeit doch
nicht die Außensee, welche diese Gefahr merklich näher führt.
Die Binnensee vielmehr, für Möuchgut speciell der Greifs-
walder uud Rügener Bodden, sind es, welche hinter-
rücks das Eiland anfallen nnd dies Schicksal sichtlich beschlen-
nigen. In den waldbewachsenen, hohen Uferbergen, welche
amphitheatralifch die weitbauchigen Buchten der Ostküste
Rügens umsäumen, hat das Land, in den davorgelagerten
Dünenbergen aber die Außensee selbst, allzn schneller Zer-
störuug Schranken gesetzt. Die flachen westlichen Theile
der Insel dagegen entbehren dieser natürlichen Schntzdämme
gegen die zerstörenden Eingriffe des Binnenwassers.
Halbwegs zwischen Babe und Middelhagen, da wo die
großenteils aus Laubwalduug bestehende Göhrener Forst mit
der ansehnlichen Nadelwaldschonung der Baber Haide zu-
sammenstößt, lenkt der Waldweg wieder in die Hauptland-
straße des Mönchguts ein. Bevor die letzte ebene Wegstrecke
nach Middelhagen erreicht wird, steigt die Straße den „dum-
men Stieg" hinan.
Rechts vom Eingänge dieses tiefen Hohlweges, den eine
Spalte der das Middelhagener Plateau im Norden begren-
zenden Berge bildet, steht eine riesige Buche mit schönem,
regelmäßigem Blätterdach.
Noch rechtzeitig traf ich im Dorfe Göhren wieder ein,
um die Kirchgänger aus den zum Kirchspiel Middelhagen
gehörigen Dörfern Babe, Göhren, Lobbe, Reddevitz und Ma-
riendorf allmälig herankommen zu sehen. Kein schönerer
Platz zur Beobachtung des eigentümlichen Völkchens in sei-
nem Sonntagsstaate, als die Bank vor dem Gasthause, das
mit anderen öffentlichen Gebäuden, wie Kirchlein, Schule,
Back- und Spritzenhaus, den Dorfplatz nmgiebt. Alle vier
nach Middelhagen führenden Straßen münden hier ein.
Nur durch wichtigste Abhaltung läßt sich der fromme,
stren>gkirchliche Mönchguter am Kirchgang behindern. Ueber-
dies weiß der würdige Seelenhirt von Middelhagen, durch
eindringliche Predigt, Kinderlehre, Lesestunde nnd sonstige
Seelsorge seine kleine Herde von etwa 1000 Seelen — das
zweite Pfarrdorf Groß-Zicker zählt nur 700 Zugehörige —
136 Theodor Zorn: 5
gar trefflich zusammen zu halten. Das kleine Kirchlein ist
daher fast alle Sonntage dicht gefüllt.
In Gruppen vertheilt und in eifriger Unterhaltung stehen
die Männer auf dem Dorfplatz umher. Die großen, breit-
fchnlterigen, markigen Gestalten, die scharf ausgeprägten,
wettergebräunten Gesichtszuge, welche von harten Mühen zur
See und auf dem Lande erzählen, das blaue Auge und das
bloude Haar, wie so manche Eigentümlichkeit in Wohnung,
Lebensweise, Sitte und Gebrauch, welche die Mönchguter mit
den Einwohnern Westphalens und Holsteins gemeinsam haben,
sind eben so viel Widerlegungen der Ansicht, die Mönchguter
feien der letzte Nest des von den Germanen zurückgedrängten
Wendenthums auf Rügen. Sie bestätigen vielmehr ihre
niederfächfisch-westphälische Abkunft. Der Eindruck
des Mannhaften und Ernsten in der Erscheinung der Man-
ner wird noch verstärkt durch den dunkeln Grundton ihrer
Bekleidung.
Die kurze, leinene, sehr weite Schifferhose, unter der noch
zwei andere enganliegende Beinkleider getragen werden, ist
für den Zweck des Kirchganges von schwarzer Farbe.
Für den Tanz am Abend werden die schwarzen „Büch-
fett" (Hosen) mit eben so weiten weißleinenen vertauscht,
während für die Arbeit auf Feld uud See grobe, grauleinene
Beinkleider bestimmt sind.
Die mit fchwarzwollenen Strümpfen bekleideten Füße
stecken in derben, flachen, mit Lederriemen geschnürten Schn-
hen. Eine rothstreifige Weste mit zwei Reihen messingener
Knöpfe, darüber eine kurze, schwarzwollene Jacke von selbst-
gewebtem Zeuge, mit aufstehendem Kragen, bedeckt den Ober-
körper. Bei feierlichen Gelegenheiten, wie Abendmahl und
Hochzeit, wird über die Jacke auch noch ein langer Rock ge-
zogen.
Bis zu den neun über einander getragenen Jacken des
westphälifchen Hofschulzen, den uns Jmmermann so anschau-
lich schildert, haben es die Mönchguter jedoch noch nicht ge-
bracht, oder die Sitte ist ihnen schon verloren gegangen.
Das Eigentümlichste im Anzüge mönchgutischer Weiber
ist die Mütze (Hülle).
Twee Aehl Rasch un een Puud Wulle
Gifft eene gaude Paddenhnlle (Pathenmütze).
Aus diesem mönchgutischeu Verslein schon ersieht man,
daß eine mönchgutische Weibermütze ein Ding von Gewicht
und Größe sein müsse.
Kegelförmig, wohl 10 Zoll hoch, dick mit Wolle gefüt-
tert, schwarz überzogen und am untern Rande mit breitem,
fchwarzfeidenem Bande umsäumt, der hinten in drei schleifen-
artig gelegten Enden über den Nacken herabfällt, kommt solche
Mütze in der Regel auf zwei bis drittehalb Thaler zu stehen.
Darunter wird eine weiße Unterhaube getragen, von der jedoch
nur der meist mit zierlichen Kanten besetzte untere Rand zu
sehen ist. Bei Ausgängen wird über die Hülle noch ein
großer Strohhut von althergebrachter Form gestülpt. Das
Haar, welches die Mönchgnterin in einem einzigen Zopf
nach oben kämmt und in einem Knauf auf dem Scheitel be-
festigt, ist bei dieser Kopfbedeckung nicht sichtbar, ansgenom-
men ein kleines, zierlich gekräuseltes Löckchen mitten auf der
Stirn, das den wenig galanten Namen „Bullenbrett"
führt.
Noch ist zu erwähnen, daß die Mütze der Frauen sich
von der der Mädchen durch ein breites, fchwarzseidenes Band
unterscheidet, welches von vorn nach hinten quer über die
Mützenspitze fortgeht und das Franenband heißt.
JmMönchgut herrscht kein entwickeltes Wirthshauslebeu.
Mit Ausnahme der nur in längeren Zwischenräumen vom
Landrath gestatteten Tanzvergnügen wird die Gaststube von
eigentlichen Mönchgutern wenig besucht.
f der Insel Rügen.
„He süpt woll! He is woll een Süper?!" sagten noch
vor einem Jahrzehnt die Mönchguter von dem, welcher ge-
legentlich seinen Pegel (etwa Achtelmaß) im Wirthshause
trank. Die meisten der Eintretenden führt ein Kaufgeschäft
in deu bei der Gaststube gelegenen Kramladen, der wie alle
Kramläden auf Dörfern ein Waarenlager aller nur mög-
lichen und heterogensten Dinge vorstellt.
Politischer Sinn, selbst nur einiges politische Verständniß,
ist auf dem Mönchgut wenig vorhanden. Die ereignißvollen
Jahre 1864 uud 1866, welche in den entlegensten Landes-
theilen die Gemüther anfs Lebhafteste erregten, und überall
ein erhöhteres Interesse an den allgemeinen Geschicken des Va-
terlandes wachriefen, sind natürlich auch auf der Halbinsel
nicht spurlos vorübergegangen; stand doch das Mönchgut,
besonders im dänischen Kriege, als einer der äußersten Bor-
Posten des Landes dem Kampfe sehr nahe. Aber die hoch-
gehenden Wellen patriotischer Erregung hatten sich wieder
geebnet. Nur der Hirt des breitstirnigen Hornviehs auf dem
Domänenhofe macht eine Ausnahme von der allgemeinen
politischen Enthaltsamkeit. Dieser „gebildete Kuhhirt" hält
für sein Theil allein vier periodische Blätter.
Gleich rühmlich sind noch vier Reddevitzer Bauern zu
erwähnen, welche seit Jahren die „Stralsunder Zeitung"
gemeinschaftlich halten. Aber auch dieser Viermännerbnnd
ist jetzt zerfallen, das Schicksal der Stralsnnderin aus dem
Mönchgut höchst zweifelhaft geworden, und zwar, wie die
Betheiligten erzählen, durch eigene Schuld des fraglichen Blat-
tes. Wich doch der von ihr verzeichnete Roggenpreis,
zum Schaden der zu Markte nach Greifswald ziehenden Redde-
vitzer, um zehn Groschen vom wirklich erzielten Preise ab.
-i-
-i- -i-
Ich unternahm einen Ausflug nach dem Beckenberge,
welcher deu höchsten Punkt der Groß-Zickerschen Berge bildet.
Wir begaben uns nach Kleinhagen, um ein Boot zur
Ueberfahrt über die Hagensche Wiek zu erlangen, und traten
in das Haus eines mir bekannten Fischers. Derselbe be-
wohnt noch eins der wenigen Häuser auf der Halbinsel,
welche den echten Baustil altmöuchgutischer Häuser bewahrt
haben. Merkwürdigerweise sind es gerade nicht die Woh-
nungen, die doch für Jahrhunderte gebaut werden, welche
dem Neuen am längsten widerstanden. Etwa nur 7 bis 8
Häuser, in den einzelnen Dörfern vertheilt, geben noch eine
Anschauung, wie vor Alters alle Mönchguter wohnten. Das
Gebäude steht mit seiner Giebelseite, die auch den Eingang
des Hauses enthält, zur Straße gekehrt. Das tief herab-
gehende Strohdach ohne Schornstein ist an der hintern Gie-
belwand kaum mannshoch vom Erdboden entfernt. Je zwei
in Holz geschnitzte Pferdeköpfe zieren die beiden Giebel-
spitzen. Einer durch wagerechte Theilung gehälsteten Vor-
derthür steht eine eben solche an der hintern Giebelwand ge-
genüber.
Bei der höchst mangelhaften Schließfähigkeit besagter
Thüren streicht beständig ein überaus erfrischender Luftstrom
durch die ganze Länge des Hauses und rief bei uns Städtern
die Ahnung schrecklicher Rheumatismen wach, wovon jedoch
die Insassen des Hauses auf unsere spätere Erkundigung
nichts wissen wollten.
Auf die untere Hälfte der Thür sich lehnend, die obere
war zurückgeschlagen, schmauchte der Eigentümer des Hauses
in sonntäglicher Ruhe fein Pfeifchen.
Ohne Erstaunen und lächelnd sah er uns, deren Anliegen
er zu errathen schien, herankommen. Die ehemalige, über-
große Scheu dieser Halbinsulaner bei dem Anblick eines Frem-
den oder eines Köllen, d. h. eines Bewohners des übrigen
Rügens, hat sich bedeutend verloren.
Theodor Zorn: Ai
Noch vor einem Menschenalter, so erzählte mir ein Göh-
rener Fischer, wäre jeder Mönchguter von Thür und Fenster
zurückgetreten, sobald der unliebsame Anblick eines „Köllen"
sein Auge traf.
Nicht geringe Mühe jedoch haben noch immer die von
Zeit zu Zeit im Mönchgut verweilenden Maler, bevor sie
die guten Leutchen zum Sitzen bewegen können.
Wir unterschieden bei nnserm Eintritte in dem rauch-
erfüllten Räume nur einige gackernde Hühner und eine kleine,
auf dem Estrich herumkrabbelnde Mönchguterin mit grellen,
blauen Augen, denen der Rauch ersichtlich nichts hatte au-
haben können. Noch nicht zwei Jahre alt, schmückte ihr
Köpfchen doch schon die nationale Hülle, welche jedoch nicht
mit schwarzem Zeuge, sondern mit einem bunten, blaßrothen
Stoff überzogen war. Zur linken Seite der Diele liegen
in einer Reihe neben einander die kleinen Stuben und Kam-
mern, deren immer wenigstens eine den unvermeidliche Web-
stuhl enthält. Bestehen doch alle Theile der mönchgutischen
Kleidung, so männlicher wie weiblicher, aus selbstgefertigten
Stoffen, welche die Mönchguter auch selbst zu nähen pflegen,
weshalb Schneider in nur spärlicher Anzahl auf der Halb-
infel sich vorfinden. Schuster sind zahlreicher vertreten.
Da Schuhwerk einen Theil des Lohnes für Knechte und
Mägde ausmacht, so ist der Verbrauch an diesem Artikel in
einer großen Haushaltung nicht gering. Im Spätherbst
oder im Winter wird der Schuster ins Haus genommen und
fertigt aus dem im Ganzen gekauften Leder die nöthige Fuß-
bekleidnng der Hausbewohner aufs ganze Jahr.
Den Stuben gegenüber, auf der andern Seite der Diele,
befinden sich die Ställe für Kühe, Schafe und Schweine,
mitten zwischen den Ställen liegt die dunkle Küche mit Räu-
chervorrichtnng, doch ohne Schornstein. Der Raum unter
dem Dache dient als Korn- und Futterboden.
In kurzer Zeit setzte uns unser freundliche Wirth über
die Hageufche Wiek, welche die langgestreckte Reddevitz und
das Hagener Land von der Halbinsel Groß-Zicker trennt.
Beiläufig bemerke ich hier, daß das mehrfache Vorkommen
des Wortes Hagen ein weiterer Beweis der westphälischen
Herkunft der Mönchguter ist.
In noch kürzerer Zeit war vom Landungsorte Gager
aus die Höhe des Bakenberges erreicht. Vor unseren Augen
lag das wunderlich zerrissene Ländchen, dem das Meer, als
zerstörendes Princip, diese Gestalt gegeben hat, welche Wasser
und Land im ausfallendsten Wechsel zur Erscheinung bringt.
Während der Blick nach Ost und Nordost allein dem blauen
Spiegel der Ostsee begegnet, unterbrechen nach Südost und
Süd nur die Inseln Oie und Rüden die gewaltige Wasser-
fläche. Hinter Rudeu säumt die Küste von Usedom den
Horizont. Den Anblick größerer Laudmassen bietet die Aus-
sicht nur nach Nord und Nordwest, wo das Mönchgut mit
deni übrigen Rügen zusammenhängt. In nördlicher Rich-
tung zeigen sich die Göhrener Berge mit dem Hagenschen
Lande, der compacteste Theil des Mönchguts, und die wald-
reiche Granitz, aus welcher das fürstlich Putbussche Jagd-
schloß, von der Sonne beschienen, hervorleuchtet. Die weiß-
schimmernden Häuser im Westen, an den dunkeln, tarnten-
bestandenen Berg gelehnt, sind der hochgelegene Ring des
Städtchens Putbus.
Das Schloß in der Granitz wie das Städtchen Putbus
sind übrigens die beiden Punkte, welche sich von allen Aus-
sichtspuukteu des Mönchgutes den Blicken darstellen, mag
man auf dem Göhrener, Thieffower oder Reddevitzer Höwt,
auf dem Schafberge bei Kleinhagen, oder auf dem Kiekewwer
am schlimmen Weg stehen. Das Anziehendste der Betrach-
tung von diesem Standorte aus bleibt jedoch immer die durch
den gefräßigen Zahn des Meeres bewirkte Zerrissenheit und
Globus XIX. Nr. 9. (März 1871.)
der Insel Rügen. 137
seltsame Gestaltung des Landes. Die zahlreichen, bergigen
Halbinseln, geschieden durch tiefe Einschnitte der See, welche
der Mönchguter Inwieke nennt, hängen wiederum durch
flache, theils sandige, theils wiesen- und kornfeldbedeckte Land-
strecken und Landengen zusammen, welche häusigen Ueber-
schwemmungen des Meeres ausgesetzt sind.
Der Haken, eine sandige, an einzelnen Stellen kaum
wegbreite Laudverbinduug, zwischen Thiessow und Klein-Zicker
besonders, steht mehrmals im Jahre, im Frühjahr und Herbst,
unter Wasser. Selbst im Sommer, wenn nach anhaltendem
West der Wind plötzlich nach Nordost umspringt, sind Ueber-
sluthungen des Hakens und anderer flachgelegener Theile
des Mönchguts nichts Ungewöhnliches. Ueberreste großer
Überschwemmungen zeigen sich noch in den Seen von Lobbe
nnd Sellin, welche beide salziges Wasser enthalten.
In einigen Jahrhunderten, das ist hier auch dem blö-
desten Auge klar, wird die See die flachen Verbindungen der
einzelnen Halbinseln hinweggerissen haben, uud das Mönch-
gut wird alsdann nur noch eine Anzahl kleiner Berginseln
darstellen. Nicht unbewußt den Bewohnern geht das Länd-
chen diesem einstigen Schicksal entgegen. Eine mönchgutische
Sage erzählt: In grauer Vorzeit bedurften die Mönchguter
keines Bootes, um nach Pommerns Küste zu gelangen. Thies-
sow, Rüden, die Oie und Usedom waren noch eins. Nur
Thiessow und Rüden trennte die See. Doch war die Wasser-
straße so schmal, daß ein hineingeworfener Pferdeschädel ge-
nngte, sie trocken zu überschreiten. Die Frevel der damaligen
Bewohner jedoch zogen Gottes Strafgericht auf sie herab,
und eine gewaltige Stnrmfluth (die historisch festgestellte von
1309) riß die sündhaften Landstriche mit ihren Bewohnern
hinweg. Seitdem fluthet nun Meer, wo einst Wohnungen
der Menschen standen.
Die gleiche Sage wird vom Eingange der Having-Wiek
berichtet.
„Aller Sage Grund ist nur Mythus, wie er von Volk
zu Volk in unendlicher Abstufung wurzelt. Ohne mythische
Unterlage läßt sich die Sage nicht fassen, so wenig, wie ohne
geschehene Dinge die Geschichte." Dieser Ausspruch I. Grimm's
dient mir als weitere Bestätigung der germanischen Ab-
kuuft unseres in Rede stehenden Völkchens.
Außer in jenen beiden Sagen, und in der Verzierung
der Giebelspitzen altmönchgutischer Häuser mit dem uralten
Wahrzeichen des Sachsenstammes, spielt der Pferdekopf
auch , noch anderweit eine Rolle in den Vorstellungen der
Mönchguter: die hohen, steil zum Meere abfallenden Aus-
läufer der Bergrücken von Thiessow und Göhren werden
„Perde", jenes das kleine, letzteres das große Perd genannt.
Worauf deutet das häufige Vorkommen des Pferdes in den
Vorstellungen des Möuchguters wohl anders, als auf die
vorchristliche Verehrung des Wodan, dem bei allen nordi-
schen und germanischen Völkern das Pferd geheiligt und als
wichtigstes Attribut beigegeben war. Waren die durch Fa-
remar den Ersten, Fürsten der Ranen, nach Rügen gezogenen
niedersächsischen Ansiedler auch Christen, so waren doch nicht
schon alle heidnischen Erinnerungen bei ihnen ausgerottet;
leben ja viele derselben noch heute, wenn auch den Eignern
unbewußt, sast überall im Landvolke fort, und sind allein im
Stande, so manchen abergläubischen Gebrauch zu erklären.
Um nur Einschlägliches hier anzuführen, erinnere ich an
den Gebrauch in mehreren Gegenden Deutschlands, besonders
im Niedersächsischen, bei der Ernte einige Büschel Ge-
treibe für Sleipnir, Wodan's Schimmel, stehen zu las-
fen. Auch die Sprache, diefer wichtige Factor zur Be-
stimmung der Abstammung, liefert keinen Anhalt für die
slavische Abkunft der Mönchguter. Außer Orts- und wem-
13
138 Hat es in Brasilien
gen Eigennamen enthält das Plattdeutsch der Mönchguter
wendische Ausdrücke in sehr geringer Anzahl.
Ihr Vorhandensein erklärt sich leicht durch das Neben-
einanderleben beider Volksstäuune, bis zu Anfang des fünf-
zehnten Jahrhunderts*) der unabwendbare Schritt germa-
*) Die letzte Wendin auf Rügen, eine Frau Gülzin, starb 1404.
eine Eiszeit gegeben?
nischer Civilisirung wendische Bevölkerung und wendische
Sprache auf Rügen vollständig vernichtet hatte, so daß jetzt
nur uoch der stumme Mund der Gräber in den über ganz
Rügen zahlreich zerstreuten, sogenannten Hünengräbern
und Weudenkirchhösen vom untergegangenen Slaven-
stamme Zeuguiß giebt.
Hat es in Brasilien
r. d. Die Thayer-Expedition der Nordamerikaner nach
Brasilien unter der Leitung von Professor Agassiz veröffentlicht
immer neue werthvolle Berichte. Auch der geologische Theil,
bearbeitet von Hartt, liegt nun vor*). Ueber die Gestal-
tnng Brasiliens in physikalischer und geologischer Beziehung
erhalten wir hier die eingehendsten Mitteilungen. Zunächst
tritt uns, als der wichtigste geologische Zug des ganzen tro-
pischen Südamerika im Osten der Anden, die gewaltige Aus-
dehnung des Gneißes entgegen, der die ganze Äasis und
einen großen Theil der Oberfläche des Landes zu bilden
scheint, und sich von den Katarakten des Orinoeo bis Para-
guay und bis an die Siidgrenze Brasiliens erstreckt. Alle
die großen Gebirgszüge von Brasilien und Guyana, eben so
die weite Ebene zwischen den Wasserscheiden des Orinoco
und Amazonas, bestehen aus dieser Felsart, die von Lauren-
tianischem Alter zu sein scheint. Ihre charakteristischen For-
men sind große, domartige Massen und kegelförmige Piks
oder Pfeiler, mit mehr oder minder glatten und abgerundeten
Umrissen. Die großen, halbkugelförmigen Kuppeln sind
Zeuge einer Zersetzung, die hier stattgefunden hat, von einer
Abschälung concentrischer Lagen von Gestein. Noch auffal-
lender als die Kuppeln erscheinen die senkrechten Felssäulen,
welche in Zwischenräumen Hunderte von Fuß hoch in den
Wäldern sich erheben oder, wie bei Pedra lisa in der Pro-
vinz Rio de Janeiro, gar über 3000 Fuß hoch sind. Aehn-
liche steile Felspiks zeigen die Inseln Fernando Noronha
und St. Helena, doch hier wurden sie durch Ausbrüche feld-
spathischer Lava gebildet, in Brasilien dagegen durch Ent-
blößung oder Deeomposition der ganzen umliegenden Masse,
und nur jene gigantischen Reste von bizarrer Form blieben
übrig.
In Südbrasilien sind einzelne Lager der silurischen
und Kohleuformation nachgewiesen worden; indessen sie
sind nicht von großer Ausdehnung. Die Kreideformation
dagegen, aus gehobenen und gebrochenen Sandsteinschichten
bestehend, ist weiter verbreitet. Andere Sandsteinlager, die
einen großen Theil des Landes bedecken und Ketten von
slachgipfeligen Bergen bis zu 3000 Fuß Höhe bilden, söge-
nannte Taboleiros, zeigen eine ganz horizontale Schich-
tnng. Sie lagern unconform mit den eben erwähnten Kreide-
schichten und gehören wahrscheinlich derTertiärformation
an, obgleich Bersteinerungen, nach denen ihr geologisches Al-
ter hätte bestimmt werden können, noch nicht in ihnen auf-
gefunden wurden.
In geologischer Beziehung am interessantesten ist aber
*) Tliaver Expedition Scientific Results of a Journey in Era-
xil by Louis Agassiz and his travelling Companions. Geology
and Physical Geography of* Brazil. By Ch. tred. Hartt, Pro-
fessor of Geology in Cornell University. With Illustrations and
Maps. (London, Trübner and Comp.).
eine Eiszeit gegeben?
jedenfalls das ungemein weit verbreitete Lager von Lehm
oder Thon, welches zwischen wenigen und hundert Fuß
Mächtigkeit schwankt, Hügel und Thal wie mit einem Man-
tel bedeckt, und selbst auf den steilen Abhängen und Gipfeln
einiger hohen Gebirge nachgewiesen wurde. Man hat es
in Minas Geraes und San Paulo gefunden; Agassiz hat
es in den nördlichen Provinzen bis zum Amazonenstromthale
verfolgt. Gleichmäßig bedeckt es den Gneiß wie die Ter-
tiärformation. Dieser Lehm ist von rother Farbe und ganz
entschieden aus dem Material der anstoßenden oder unter-
lagernden Felsarten gebildet. Doch ist er wohl dnrchge-
quirlt und zu einer gleichartigen Masse umgebildet. Nicht
die leiseste Spur von Schichtung ist in diesem Lehme zu er-
kennen, obgleich er sehr oft auf einem dünnen Lager von
Quarzgeröll ruht. Er enthält zerstreute, eckige und abge-
rundete Quarzblöcke und Gneißstücke, und die Oberfläche,
auf welcher er aufsitzt, ist stets mehr oder weniger glatt und
abgerundet. Hartt bezeichnet dieses Lehmlager stets als
„Drift" und läßt es, gleich Agassiz, in der Eiszeit ent-
standen sein.
Eiszeit und Brasilien, diese Begriffe erscheinen so
heterogener Natur, daß deren Verbindung mit einander nn-
willkürlich Staunen erregen mußte. Es ist schon Manches
für und wider in dieser Sache geschrieben worden, und jüngst
hat auch der bekannte englische Naturforscher A. R. Wal-
lace, der ja selbst den Amazonenstrom sehr genau kennt,
sein Urtheil in dieser Frage abgegeben und dieses verdient
sicher gehört zu werden.
Man hat Agassiz vorgeworfen, so beginnt Wallace, er
sei „gletschertoll"; doch wenn wir seine Theorien von den
durch ihn beigebrachten Thatsachen sondern und letzteren die
von Hartt in seinem geologischen Werke über Brasilien mit-
getheilten Facta anschließen, so ergiebt sich überraschend, aber
unzweifelhaft, daß die Theorie von einer Eiszeit in
Brafiliendnrch eineMengeThatfachengestützt wird,
die kein Maun der Wissenschaft übersehen darf, wenngleich
sie gegen seine einmal vorgefaßte Meinung verstoßen. Na-
mentlich ist auf Hartt's Auseinandersetzungen großes Gewicht
zu legen, da er nicht so enthusiastisch für die Eiszeit einsteht,
wie Agassiz. Hartt zeigt, daß in einigen Fällen der zersetzte
Gneiß nicht vom „Drift" unterschieden werden kann; aber
er weist nach, daß bei ersterm die Materialien in ihrer
ursprünglichen Lagerstätte verbleiben, namentlich btc Quarz-
adern , während bei letztem alle Bestandtheile innig durch
einander gemischt sind. Wo beide, der zersetzte Gneiß und
der Drift, zusammen vorkommen, ist es unmöglich, sie mit
einander zu verwechseln, wozu namentlich die Quarzadern
als unterscheidendes Merknial beitragen.
Sehr bezeichnend für das Vorhandensein einer Eiszeit
in Brasilien sind nach Hartt folgende Thatsachen. Sowohl
Hat es in Brasilien
in den Orgelbergen als in Bahia giebt es Thäler ohne
Ausgang, und in Alagoas findet man viele tiefe Seen in
Felsbecken. In der Provinz Bahia dehnen sich nackte, felsige
Hochebenen aus, die dicht mit Steinblöcken Ubersäet sind,
unter denen einige erratischen Charakter zeigen, und die ge-
nau den dristbedeckten Ebenen Nordamerikas gleichen. Auf
ganz ähnlichen Hochebenen, die fern von jedem andern Hoch-
lande liegen, fand ein anderes Mitglied der Thayer-Expe-
bitton, I. A. Allen, zahlreiche tiefe und glatte Höhlungen
(pol-holes) im soliden Gneiß ausgearbeitet. Sie sind von
verschiedener Größe, die größten von elliptischer Form, etwa
18 Fuß lang, 10 Fuß breit und 27 Fuß ties. Aehnliche
Höhlungen werden von Gletscherwasserfällen gebildet; in
Neubraunschweig und Neuschottland sind sie häufig. Schutt-
und Geröllhaufen, genau den Gletschermoränen gleichend,
sind in Nord- wie in Südbrasilien gefunden worden. Hartt
weist sie im Thale von Tijuca bei Rio de Janeiro nach und
Agassi; hat eine noch vollständigere Moräne in Ceara, nur
41/2 Grad südlich vom Aegnator, gefunden. Nachdem er
sie genau beschrieben, schließt er Folgendes: „Ich darf be-
haupten, daß im ganzen Haslithale keine Anhäufung von
Moränenmaterial besteht, welche charakteristischer wäre, als
die hier von mir aufgefundene; selbst nicht über dem Kirchel;
auch iu den Thälern des Mount Defert im Staate Maine,
wo die Gletscherphänomene so deutlich sind, finden sich keine
so bezeichnenden Ueberreste; eben so wenig in den Thälern
des Loch Fine, Loch Awe und Loch Long in Schottland, wo
man die Spuren alter Gletscher so genau unterscheiden kann."
Mau darf nun dem Manne, der zuerst die Eisperiode iu
Großbritannien nachwies, der in der Schweiz geboren wurde
und in einem so hervorragenden ehemaligen Eisdistricte, wie
dem Norden der Vereinigten Staaten, lebt, nicht absprechen,
daß er ein competenter Beurtheiler im vorliegenden Falle
sei. Wenn die ganze Reihe von Erscheinungen, die hier er-
wähnt wurden, ohne die Beihülfe von Eis hervorgebracht
wurde, daun müssen wir auch alles Vertrauen in die bisher
in der Geologie geltende Methode verlieren, nämlich die, von
gleichen Wirkungen auf gleiche Ursachen zu schließen. Der
einzige Einwurf von Gewicht, welcher bisher gegen ein ehe-
maliges Vorkommen der Eiszeit in Brasilien erhoben wurde,
ist die Abwesenheit der durch die Gletscher an den Felsen
hervorgebrachten Polituren, Risse und Streifungen; selbst im
südlichen Brasilien, wo uubezweiselt Gletscherwirkungen vor-
Händen waren, sind diese Polituren nicht nachgewiesen wor-
den. Aber hier liegt nur ein negatives Argument vor, wel-
ches die positiven Beweise nicht zu entkrästigen vermag. Auch
haben wir, sagt Wallace, keinen AnHaltepunkt für das Alter
der brasilischen oder südlichen Eiszeit; sie kann weit früher
dagewesen sein, als ihre Schwester auf der nördlichen Halb-
kugel, und der größere Zeitraum, der feit ihrem Dasein ver-
strich, verbunden mit dem mächtig zersetzend wirkenden Agens
der tropischen Regen, mag die meisten der in Rede stehen-
den Polituren und Abschleifnngen an den Felsen verwischt
haben.
Die physikalische Schwierigkeit der Annahme von tropi-
schen Gletschern kann durch die Frage beleuchtet oder gelöst
eine Eiszeit gegeben? 139
werden, ob Brasilien nicht einer Senkung von 10,000 bis
12,000 Fuß unterworfen gewesen ist, nachdem die Eiszeit
dort geherrscht habe. Geologisch steht dieser Annahme nichts
entgegen. Noch wäre das biologische Moment zu berück-
sichtigen. Wenn die ganze Oberfläche des heutigen Bra-
filiert mit einem Eismantel überzogen war, woher stammt
denn die so wunderbar reiche, in mancher Beziehung ganz
eigenthümliche Flora und Fauna des Landes? Nach der
Karte des Atlantischen Oceans, die in Maury's Physikali-
scher Geographie des Meeres enthalten ist, würde ein Em-
porsteigen Brasiliens aus dem Meere um 12,000 Fuß nur
einen Gürtel von etwa 400 englischen Meilen Breite diesem
Lande hinzufügen; aber ein großer Theil dieses jetzt unter
dem Oceau gelegenen Landes würde sich eines tropischen Kli-
mas erfreut haben, genau so wie die Thäler der Schweiz
heute einen warmen Sommer in unmittelbarer Nachbarschaft
der Gletscher haben. Es ist wahrscheinlich, daß die Ver-
gletschernng nur eine südliche war und sich nördlich nicht
über den Aequator erstreckte, wenn sie überhaupt so weit
ging, so daß ganz Venezuela und Guyana mit dem angren-
zenden, jetzt im Atlantischen Ocean begrabenen, damals aber
emporgehobenen Landstriche, ein reiches Thier- und Pflanzen-
leben besitzen konnten. Hier wäre demnach der weite Raum
vorhanden gewesen, aus dem die Stammformen der heutigen
tropischen Fauna und Flora Brasiliens lebten, genau so wie
in Europa genügend Raum noch übrig geblieben war, auf
dem die Vorfahren der gegenwärtig vorhandenen europäischen
Thiere und Pflanzen ihr Dasein fristeten, als ein so großer
Theil unseres Erdtheils mit einem dicken Eismantel bedeckt
war.
Es muß hervorgehoben werden, daß Hartt nicht mit
Professor Agassiz' außergewöhnlicher Hypothese eines großen
Amazonenstromgletschers übereinstimmt. Er glaubt, daß die
weit ausgedehnten Lager von Lehm und Sandsteinen, die
Agassiz als glaciale ansieht, Meeresbildungen sind und be-
weist, daß sie vollkommen mit den tertiären Schichten in an-
deren Theilen Brasiliens übereinstimmen. Die Driftablage-
rungen mit erratischen Blöcken im Amazonenthale können
wohl durch abgelöste Massen von den Gletschern der Anden
und brasilianischen Hochlande entstanden sein, welche schmol-
zen und ihre Lasten von Drift in den warmen Wassern des
alten Amazonenstromes absetzten.
Wir wollen dem hinzufügen, daß gauz neuerdings eiu
wichtiger Beweis gegen die glaciale Entstehung der Lehm-
ablageruugen des Amazonenthales hinzugekommen ist. Eine
von der Smithsonian Institution 1867 ausgesandte Expe-
dition unter James Orton*) ging quer durch Ecuador
nach dem Rio Napo und fuhr diesen hinab bis zum Ama-
zonas, der bis Para verfolgt wurde. Bei Pebas am Ama-
zonenstrome entdeckte nun Orton zwischen den buuteu „gla-
cialeu" Lehmen eine versteinerungsreiche Schicht mit
Meeresconchylien. Hiermit war natürlich die Theorie von
Agassiz, daß eine Süßwasserbildung von Gletscherlehm im
Amazonasthale bestehe, sofort umgestoßen.
*) The Andes and the Amazon. London 1870.
18*
140
D. K. Schedo-Ferroti: Aus der Literatur des Nihilismus.
Aus der Literatur des Nihilismus.
Kritische Beleuchtung des Tschernyschefsky'schen Romans: „Was thun?"
Vou D. K. Schedo-Ferroti.
I.
Einleitung.
Im russischen literarisch gebildeten Publicum giebt es ge-
wiß nur wenige, die den Namen Tschernyschessky nicht
kennen, einen Namen, dem verschiedene, vom Willen des
Trägers absolut unabhängige Umstände eine Notorietät ge-
geben, die er in gewöhnlichen Verhältnissen nie erlangt hätte.
In ausländischen, besonders belesenen Kreisen weiß man nur
wenig, die Mehrzahl aber gar nichts vom Inhalte der Schris-
ten dieses zu einer besondern Species von Berühmtheit hin-
aufgeschobenen Mannes, weil Alles, was dazn beigetra-
gen, ihn auf eine Art von Piedestal zu erheben, im Innern
Rußlands verhallte, und in Westeuropa weder der Lobgesang
der Freunde des „Apostels der socialen Wiedergeburt
der Menschheit", noch das Verdammungsnrtheil seiner
Gegner Wiederklang fand.
Bei dem täglich wachsenden Interesse, das man im Aus-
lande an der innern Entwicklung unserer gesellschaftlichen
Zustände nimmt, hat es mir zeitgemäß geschienen, mich der
undankbaren Mühe zu unterziehen, das deutsche Publicum mit
der bedeutendsten Schrift unseres „Reformators" bekannt
zu machen; nicht daß mir das vorliegende Werk als wirklich
inhaltsschwer erscheint, sondern weil es mir wie eine Miß-
gebnrt, ein literarisches Mondkalb vorkommt, das aber da-
durch wichtig wird, daß es von Einigen für den Gott Apis
erkannt und angebetet, von Anderen für ein gefährliches Raub-
thier gehalten und auf den Tod bekämpft worden.
Was die Notorietät betrifft, zu der der Autor gelangte,
fo ist ihre Entstehnngsweife eine „alte Geschichte", die aber
bei uns, bis dato, noch „immer neu" bleibt. Tscherny-
schefsky wäre ein obfcnrer Scribent geblieben, wenn die
Presse ihn nicht mit blinder Wuth angegriffen, und die Re-
gierung ihn nicht nach Sibirien verschickt hätte. Ob seine
Exilirnng einen andern politischen Grund hat, oder ob er
wegen seiner Schriften verschickt worden, weiß ich nicht, möchte
aber wohl das erstere annehmen, denn wenn man alle die-
jenigen nach Sibirien abführen wollte, die ungereimte oder
langweilige Bücher schreiben, so würden sich in Tomsk und
Jrkuzk literarische Cirkel bilden, so zahlreich, wie sie weder
Paris noch London aufzuweisen haben.
Wie dem anch sein möge, ist es jedenfalls zu bedauern,
daß zu dem Titel eines „fanatisch verfolgten Schriftstellers"
sich für Herrn Tschernyschessky noch der Titel eines „Po-
Mischen Märtyrers" gesellte, denn nur dem Nimbus, der
ihn als „Ritter der Wahrheit", als „Opfer des Obfcuran-
tismus" umstrahlt, ist es zuzuschreiben, daß er jetzt noch in
gewissen Kreisen Anerkennung findet und von Vielen hoch
verehrt wird, die nur von ihm gehört, aber keine feiner Schrif-
ten gelesen haben, und sie auch jetzt nicht lesen können, weil
sie bei uns streng verpönt sind. Zur Zahl dieser Verehrer
des Unbekannten, die den Herrn Tschernyschessky gleichsam
aus Widerspruchsgeist lieben und weil Andere so schlecht
von ihm sprechen, gehört leider eine nicht unbedeutende Frac-
tion unserer (— russischen —) Jugend im Alter von 17
bis 23 Jahren, d. h. in einem Alter, das ihnen die Schrif-
tenTschernyschefsky's zurZeit, als sie öffentlich cursiren
durften, also bis 1863, noch unzugänglich machte.
Wie groß die Zahl derer sein muß, die den Wunsch
hegen, mit den Schriften Tschernyschefky's bekannt zu
werden und sich um die wenigen der Cenfnr entschlüpften
Exemplare reißen, läßt sich daraus ersehen, daß ein auslän-
bischer Buchhändler, Herr Benda in Vevey, sich entschlossen
hat, eine neue Auflage dieser Schriften zu unternehmen. —
Der erste Band dieser Auflage enthält den Roman: „Was
thun?" (*Ito A^aTb?), welcher, wie ausdrücklich im Vor-
Worte gesagt, deshalb den anderen Schriften desselben Autors
vorangeschickt worden, „weil er besonders geeignet ist, das
Interesse für die Anfchaunngs- uud Darlegungsweise des
Schriftstellers zu erwecken, dessen Theorien und Borschläge
nirgends so leicht faßlich dargelegt sind, als gerade in die-
fem Werke."
Tschernyschessky — erklärt die Vorrede weiter — hat
vor allen übrigen Autoren derselben Richtung den nnschätz-
baren Vorzug, daß er sich nicht damit begnügt, die gegen-
wärtig verbreiteten Anschauungen und die daraus entsprin-
genden gesellschaftlichen Verhältnisse zu verwerfen. Er hat
den großen Gedanken der gesellschaftlichen Wiedergeburt voll-
kommen durchgedacht und stellt ein sorgfältig ausgearbeitetes
System hin, das die neuen Grundsätze und die neue Ord-
uung der Dinge bezeichnet, durch welche das jetzt Bestehende
zu ersetzen ist. —
So empfohlen, durch das Exil des Autors zum Nachlaß
eines Märtyrers gemacht, und dnrch das Cenfnrverbot mit
dem Reize der verbotenen Frucht begabt, konnte das Buch
nicht ermangeln, reißenden Abgang zn finden.
Ich will mich nicht vermessen, die Anzahl von Exem-
plaren zu schätzen, die nach Rußland eingepascht worden. Es
sind deren gewiß recht viele gewesen, aber doch lange nicht
genug, um die künstlich geweckte Neugier unserer Jugend zu
befriedigen, wovon ich mich vor Kurzem überzeugen konnte,
indem einer meiner jungen Freunde aus Rußland mir schrieb,
ich möchte ihm aus Vevey das dort erschienene Werk
Tschernyfchefsky's schicken.
Da ich den Roman nicht kannte, und viel zu gewissen-
Haft bin, um ein Werk, das für so gefährlich gilt, in so
junge Hände zu legen, so ließ ich den Brief unbeantwortet
und fing damit an, daß ich das Buch kaufte um es durch-
zulefen, worauf ich — mit allem Refpect vor dem Ober-
censnrcomite sei es hier gesagt — dasselbe einpackte und an
meinen jungen Freund schickte.
Habe ich Recht oder Unrecht gehabt, indem ich der An-
ficht war, daß in jenem Buche kein ätzendes Gift, wohl aber
ein vortreffliches Gegengift gegen alle nihilistischen Anwand-
lnngen enthalten sind?
Darüber mögen meine verehrten Leser entscheiden, nach-
dem sie nachstehende kurze Darlegung des gedachten Romanes
gelesen.
D. K. Schedo-Ferroti: Aus
1.
Wsra Pavlovna, die Heldin des vorliegenden Ro-
manes, ist die Tochter eines kleinen Beamten in Peters-
bürg, der, um das Unzureichende seines geringen Gehaltes
durch einen Nebenerwerb zu decken, die Stelle eines Verwal-
ters im Hause des weiland Staatsrathes Storsschnikosf
angenommen hatte.
In diesem Hause, einem stattlichen Gebäude mit drei
Höseu und einer Menge Wohnnngeu, die vermiethet wurden,
hatte sich die Besitzerin einen Theil der Belletage vorbehal-
ten, wo sie mit ihrem Sohne, Offizier in einem Garde-
regimente, wohnte, während dem Verwalter ein paar Stn-
ben im Hinterhofe angewiesen waren, in denen er mit seiner
Frau und zwei Kindern lebte, der schon genannten Tochter
und einem Söhnchen von neun Jahren.
Zufällig und iu Geschäften in die Wohnung des Ver-
Walters gekommen, machte Storeschnikoff die Bekannt-
schast des jungen Mädchens, welches ihn durch ihren Liebreiz
derart fesselt, daß er seine Besuche fast täglich wiederholt,
was der Mutter die Hoffnung giebt, ihr Töchterchen eine
reiche und vornehme Heirath machen zu feheu.
Indessen denkt der goldbetreßte Gardeoffizier an nichts
weniger als an Heirathen, und prahlt vor seinen Cameraden
mit seiner „nenen Eroberung", die er ihnen vorzuführen ver-
spricht. — Um dies zu ermöglichen, bringt er der alten
Verwaltersfrau ein Billet zur Oper, und benutzt ihr Erschei-
neu in der Loge, um daselbst zwei seiner Freunde einzusüh-
reu. — Der Ton in der Unterhaltung der jungen Leute
und die Art und Weise, wie sie unter einander flüstern, ver-
mehrt den Widerwillen, den Wera Pavlovna gegen die
Bewerbungen des reichen Hausbesitzers hegte, während die
Mutter entzückt von dessen Artigkeit nach Hanse kommt, und
die Tochter ausschilt, ja beinahe ausprügelt, weil sie nicht
zuvorkommend genug gewesen ist.
Indessen hat die ruhige, gemessene Haltung Wera's den
beiden Freunden Storeschnikoss's so sehr imponirt, daß
sie ihm keinen Glauben schenken, als er sie zu wiederholten
Malen versichert, das junge Mädchen sei seine Geliebte. —
Diese verleumderische Prahlerei wiederholt der Gardeoffizier
bei Gelegenheit eines Diners in einem der modischen Gast-
Häuser Petersburgs, an welchem mehrere seiner Freunde und
die Geliebte eines derselben, Demoiselle Julie, Theil nehmen.
Obgleich die jungen Leute sich über die Großthuerei ihres Tisch-
genossen lustig machen und einer von ihnen ihm sogar ins
Gesicht sagt: Du lügst (Lpeii.), so ist doch Niemand über
die Schändlichkeit seiner Handlungsweise empört, und nur
Julie, die französische Cocotte, fühlt sichberufeu, Einsprache
zu thun, als Storsschnikoff die Wette eingeht, der Ge-
sellschaft bei einem nächsten Zechgelage „seine Geliebte" vor-
zuführen. — „Abscheuliche Menschen! niederträchtige Men-
scheu!" ruft sie aus. — „Ich bin in Paris zwei Jahre
Straßendirne gewesen, ich habe sechs Monate in einem Hause
gewohnt, wo Diebe und Spitzbuben zusammenkamen, und
sogar dort habe ich nie so schändliche Menschen gesehen!"
Um das junge Mädchen vor der ihr drohenden Schmach
zu bewahren, überredet Julie ihren Liebhaber, den Garde-
offizier Serge, mit ihr zu Wsra's Mutter zu fahren, um
sie zu warnen. Das geschieht denn auch den folgenden Tag;
doch ist die Gefahr bereits vorüber, da Wsra den Vor-
schlag einer Schlittenpartie, den Storgschnikoff ihr ge-
macht, entschieden zurückgewiesen, so daß der Besuch von
Demoiselle Julie nur die Folge hat, daß die alte Maria
Alexsewna, Wera's Mutter, sich in wüthenden Schimpf-
reden gegen Storsfchnikoff ergeht, als sie erfährt, die
Schlittenpartie sei nur ein Manöver gewesen, um ihre Toch-
der Literatur des Nihilismus. 141
ter aus dem Hause zu locken und sie unter irgend einem
Vorwande in jene Gesellschaft zu führen, wo ihr Erscheinen
die Wette zu Gunsten Storeschnikosf's entschieden hätte.
In seiner Hoffnung, der Liebhaber Wsra's zu werden,
getäuscht, und durch einige Aenßernngen von Demoiselle
Julie in seiner Eigenliebe gekränkt, nimmt Storsschni-
koff sich vor, Alles anzuwenden, um in Wera's Besitz zu ge-
langen, und entschließt sich zuletzt, förmlich um deren Hand
anzuhalten. — Trotz seines Reichthums und seiner gesell-
schaftlichen Stellung giebt ihm Wsra eine abschlägige Ant-
wort, was Maria Alex«ewna so in Wuth bringt, daß
sie ausruft: „Ist das ein Vieh, diese Wer«! Wenn er sie
nicht um ihres glatten Gesichtes willen lieb hätte, würde ich
sie tüchtig zusammenhauen, so aber darf ich sie freilich nicht
anrühren."
Trotz der Drohungen der Mutter beharrt W6ra in
ihrem Entschlüsse und spricht ihn persönlich gegen Storvsch-
nikosf aus, in einer Unterreduug, in der er sich so ehrer-
bietig und fügsam zeigt, daß sie ihm die Bitte gewährt, sie
noch ferner besuchen zu dürfen.
Von da an tritt Storeschnikosf allmälig in den Hin-
tergrnnd und verschwindet zuletzt ganz aus der Erzählung,
wo er nur deshalb eingeschaltet worden, um, als Typus der
„Jugend wie sie jetzt ist", die Folie zu bilden für die
aufzustellenden Typen der „Jugend wie sie sein sollte",
und so als Gegenstück zu dienen zu dem zuletzt vorgeführ-
ten Urbilde, der „Jugend wie sie einst sein wird".
Der Student Lopnchosf (erstes Exemplar des zweiten
Typus) wird im Haufe von Wera's Eltern bekannt, in-
dem er den kleinen Fedia, Wera's Bruder, zum Eintritt
in ein Gymnasium präparirt. — Ausschließlich mit ern-
sten Dingen und seinem Zöglinge beschäftigt, bemerkt Lo-
Puch off das junge Mädchen kaum, zumal die von ihr still-
schweigend tolerirten und von der Mutter sichtlich unter-
stützten Bewerbungen Storefchnikoff's ihm eine ziemlich
geringe Meinung von ihrem Charakter geben.
Ein kleines Familienfest wird die Ursache, daß die juu-
gen Leute nähere Bekanntschast machen. Sie fühlen für-
einander die aufrichtigste Freundschaft, aber nichts, was der
Liebe ähnlich sieht. — Wera gesteht ihrem Freunde die
tiefe Verachtung, die sie gegen ihre rohe uud eigennützige Mut-
ter und ihren willenlosen Vater hegt, und bittet ihn, ihr
behülslich zu werden in ihrem Vorhaben, „aus dieser Höhle"
zu entkommen. — Anfangs denkt sie Schauspielerin zu
werden, giebt aber dieseu Plan bald wieder auf und ersucht
Lopuchosf, ihr einen Platz als Gouvernante zu verschaffen.
Bei Gelegenheit der hieraus für Lo Puch off entstehenden
zeitraubenden Gänge wird zum ersten Male seines Freundes
Kirsanoff erwähnt, in welchem wir das zweite Exemplar
vom Urbilde der „Jugend wie sie sein sollte" kennen
lernen.
Beide dem Studium der Mediciu obliegend, wohnen Lo-
puchoss und Kirsanoff zusammen, haben sich aber derart
eingerichtet, daß ihre persönliche Freiheit durchaus unbe-
schränkt bleibt. — Außer einer gemeinschaftlichen „neu-
traten" Stube hat jeder eine besondere Kammer, in die
dem Andern der Eintritt nicht gestattet ist, ohne besondere
Aufforderung des Inhabers. — Nur die Thee- und Mit-
tagsstunden vereinigen sie obligatorisch, sonst sehen sie sich
nur wie es Beiden beliebt, d. h. wenn Beide ans ihren
reservirten Stuben in die „neutrale" kommen.
In gleicher Weise wie die Behausung ist das innere Le-
ben jedes der beiden Freunde dem andern nur bedingungs-
weise zugänglich. Keiner darf den andern ausfragen nach
dem, was er thut oder läßt, noch nach den Gründen for-
schen, warum er etwas gethan oder gelassen, und jeder muß
142 . , Aus allen
abwarten, ob und was dem andern belieben wird, ihm über
sich und den Gebrauch seiner Zeit mitzntheilen. — Von
streng rechtlichen Grundsätzen, sind beide Repräsentanten der
„Jugend wie sie sein sollte" zu der Ansicht gelangt,
daß es Unrecht ist, sich fremdes Gut anzueignen, ^weshalb
sie denn auch beide davon leben, daß sie Privatunterricht
geben; vorzugsweise ausgebildet ist aber bei ihnen die Idee
der Gleichberechtigung Aller uud die Achtung vor der Men-
fchenwürde, was der Autor durch zwei schlagende Beispiele
belegt, indem er (S. 198) ausführlich erzählt, wie Lopu-
choss einen besonders wohlgekleideten Mann ausprügelt, weil
jener ihn aus der Straße angestoßen hatte, und wie Kirsa-
noff einen jungen Menschen aus vornehmem Hanse zusam-
menhaut, weil dessen Mutter ihm 10 Rubel geboten für
eine Arbeit, die 41 Rubel Werth war!
Den vereinten Bemühungen der beiden Freunde ist es
gelungen, unter vielen unannehmbaren Stellen eine zu fin-
den, die allen Anforderungen Wera's zu entsprechen scheint.
LoPuch off begiebt sich sofort zu der Dame, die eine Gou-
vernaute für ihre Kinder sucht, und Alles ist zu beiderseiti-
ger Zufriedenheit abgemacht, als sich ein letztes, nuüber-
steigliches Hiudermß zeigt. Auf die Einwilligung der Eltern
Wära's ist durchaus uicht zu rechnen, uud ohne diese Ein-
willigung kann die Dame sich nicht entschließen, das junge
Mädchen m ihr Haus zu nehmen.
Die Aufgabe wird hierdurch eine sehr schwierige. Im
Hause ihrer Eltern will Wvra auf keinen Fall bleiben;
eine Stellung als Gouvernante ist nicht zu hoffen, so lange
Erdth eilen.
die Einwilligung der Eltern sehlt; es muß also ein Mittel
gefunden werden, ihr den Anstritt aus dem Vaterhause zu
ermöglichen, ohne sich an irgend Jemandes Einspruch zu
kehren, und so proponirt ihrLopnchoff — sie zu Heirathen,
natürlich ohne Einwilligung oder Wissen der Eltern.
Wsra Pavlovna nimmt den Borschlag sofort an und
benutzt diese Gelegenheit, um ihrem „Holden" (MHieHbKin)
ihre Ansichten über die wahren Vorzüge der Ehe darzulegen,
indem sie ihm erklärt, daß das, was man gewöhnlich die
Weiblichkeit nennt, eine große Dummheit und Albernheit sei
(rjiynocTb u noMoexb, S. 123), und daß Eheleute ge-
rade so zusammen leben müßten, wie er mit seinem Freunde
Kirsauosf, d. h. iu zwei besonderen, dem Andern uuzu-
gänglichen Räumen, mit einem „neutralen" Orte, in wel-
chem sie sich begegnen können, wenn es gerade Beiden ein-
fällt, sich sehen zu wollen.
Dieses Bild erscheint dem „Jünglinge wie er sein
sollte" in so hohem Grade anziehend, daß er die 73 Tage,
die noch bis zu seinem Abiturienten-Examen bleiben, nicht
abwarten kann. Er entschließt sich also, seine medicinischen
Studien zu unterbrechen, und läßt sich von einem befreunde-
ten Geistlichen traue«, wovon die Eltern der jungen Frau
aus recht originelle Weise instruirt werden, indem Wsra
während einer Promenade mit ihrer Mutter sich in eine
herbeigewinkte Droschke setzt, uud auf ihre Frage, was ihr
einfällt? ganz gelassen antwortet.- „ich bin seit drei Tagen
verheirathet, liebe Mama, und fahre nach Hause zu meinem
Manne."
Aus alle»
Erforschung der Landenge von Darien.
Die nordamerikanische Negierung hatte im vorigen Jahre
eine Expedition ausgerüstet, welche eine prakticable Route für
einen Schifssahrtscanal auf der Laudenge von Darien ausfindig
machen sollte. Der Führer derselben, Capitän Selfridge,
faiit) jedoch eine solche nicht und kehrte unverrichteter Dinge
zurück. Das Ergebniß seiner Forschungen ging dahin: ein Ca-
nal wird ungeheure Kosten erfordern und auch nur dann her-
zustellen sein, wenn man für ihn einen Tunnel gräbt, der eine
Länge von reichlich einer deutschen Meile haben müßte. („Glo-
bus" XVIII, S. 48.)
Man hat jedoch die Hoffnung nicht aufgegeben, nach so
vielen Versuchen, die bisher allesammt ungünstig ausgefallen
sind, doch endlich einen Punkt ausfindig zu machen, an welchem
eine Durchstechung möglich sei. Schon am 4. December 1870
wurde abermals eine Erforschungsexpedition von Neuyork aus
abgeschickt, gleichfalls unter Selfridge's Leitung, um die Ar-
beit wieder aufzunehmen. Die Dampfer „Guard", „Nipsic"
und „Saginaw" (der letztere ist seitdem in der Südsee verun-
glückt, wir sprechen darüber an einer andern Stelle) wurden nach
der pacisischen Seite abgesandt; das eine Schiss, die „Guard",
blieb an den atlantischen Gestaden („Globus" XIX, S. 16).
Nun sind im Februar die Berichte Selfridge's eingegangen,
denen zufolge derselbe eine für die Herstellung des Ca-
nals geeignete Strecke gefunden haben will; der Höhe-
Punkt derselben liege nur 300 Fuß über dem Meere.
Wir müssen ruhig abwarten, ob diesmal eine Bestätigung
der Nachricht erfolgt und die Sache nicht, wie früher schon oft-
mals, auf eine Täuschung hinausläuft. Specielle Angaben feh-
len noch; was wir in den Berichten aus Panama (vom 29.
Januar) finden, läuft im Wesentlichen auf Folgendes hinaus.
E r d t h e i l e n.
Das Borrathsschisf „Guard" war am 24. December in
Carlhagena und fuhr von dort bis an die Mündung des
Rio Atrato (im Golfe von Nord-Darien), welche etwa 280
Seemeilen östlich von Colon-Aspinwall liegt, ging vor Anker
und landete den Kommandeur, einige Offiziere, Marinesoldaten
und Matrosen. Diese steuerten in einer Schaluppe deu Atrato
aufwärts; der Strom ist tief, fließt langsam und hat etwa zwei
deutsche Meilen aufwärts sehr sumpfiges Uferland. Dann wird
der Boden fester, bald nachher wird er jedoch abermals sumpfig
und das Fortkommen war sehr beschwerlich. Nachts bildeten
die Stechmücken eine arge Plage.
Die Partie drang aus dem Pfade nach Paya vor, das
eine kleine Strecke jenseit Parisa liegt, am Tuyra; dieser
fällt in den Golf von San Miguel, gehört also der pacisischen
Seite an. In Paya wurde Halt gemacht und Selfridge schickte
von dort einen erkrankten Seemann unter Begleitung einiger
Indianer nach Chapinga und von dort nach Panama. Dieser
Matrose beförderte Depeschen an die Regierung zu Washington
und einen Brief an Consul Long in Panama. Die Partie ging
dann wieder zurück, Atrato abwärts, bis an die atlantische
Küste; sie hatte gefunden, daß die Wasserscheide nur 300 Fuß
über dem Meeresspiegel liege und für die Anlage eines Canals
nicht jene unüberwindlichen Hindernisse darbiete, welche man
befürchtet hatte.
Selfridge wollte nun „eine ganz genaue Erforschung" vor-
nehmen, um alle etwaigen Zweifel zu beseitigen. Die Indianer
waren friedlich und freundlich. Selfridge selber meldet aus
„Paya im Innern von Darien, 13. Januar" : „die Linie ist
sehr günstig." Paya liegt oberhalb Bavisa an der Tuyra, und
dieser mündet in denDarien-Hafen. Der Matrose Emerson ging
von diesem letztern, also vom Golfe von San Miguel, der Küste
entlang nach Panama, eine Strecke von etwa 75 deutschen Meilen.
Aus allen
Die Erforschung des Golfes von San Miguel follte durch die
oben genannten Dampfer im Februar beginnen. Das ist Alles,
was wir bisher erfuhren; jede nähere Angabe fehlt. Wir wol-
len wünschen, daß Selfridge sich nicht täusche, wie einst der groß-
prahlerische Speke, der mit einer durchaus ungerechtfertigten
Dreistigkeit behauptete, er habe das Problem der Nilquellen ge-
löst. („The Nile is settled.")
Noch eine Bemerkung: Der Isthmus von Darien und
jener von Panama werden auch in geographischen Werken
manchmal zusammen oder durch einander geworfen, als ob beide
einerlei feien. Das ist jedoch nicht der Fall. Beide find ge-
trennt durch eine Linie, welche man vom Cap San
Blas bis zur Mündung des Rio Chepo zieht; dieser
mündet östlich von Panama in den Großen Oeean. Der Isthmus
von Darien ist also die nach Osten liegende Landenge; er ist
mit Wald bedeckt und wird von der Cordillere durchzogen, welche
etwa 3 bis 6 englische Meilen von der atlantischen Küste ent-
fernt, mit dieser parallel läuft. Die atlantische Küste Dariens
reicht von der Boca Tarena, dem westlichsten Mündungs-
arme des Atrato, bis zum Cap San Blas, 157 englische Mei-
len; an ihr und im Innern leben unabhängige Indianer.
Die Indianer von Alaska.
M. Der von der Regierung der Vereinigten Staaten zur
Erforschung der Verhältnisse in Alaska abgesandte Generalmajor
Halleck giebt in seinem Bericht die folgenden Mittheilungen über
die Jndianerstämme in dem neuerworbenen Gebiete, das bisher
den Namen des russischen Anicrika führte und jetzt Alaska
genannt wird. So dürftig im Ganzen die eingezogenen Nach-
richten auch sind, so verdienen sie doch als die für jetzt zuver-
lässigsten Beachtung.
Man theilt die Indianer des Gebietes, deren Zahl auf
60,000 (ohne Zweifel jedoch viel zu hoch) geschätzt wird, in vier
große Abtheilungen, die wieder jede in eine Menge kleiner, theils
nach ihren Wohnsitzen, theils nach anderen Umständen benannter
Stämme zerfallen. Jene vier Hauptabtheilungen sind die Ko-
loschen, die Kenaier, die Aleuten und die Eskimos.
1) Die Koloschen. Mit diesem Namen belegen die Russen
alle Jndianervölker, welche das Küstenland von 54°30' N. Br.
bis zur Mündung des Flusses Ätna (des Kupferflusses) bewoh-
nen, während sie im britischen Columbien mit dem Namen
Stikin bezeichnet! werden; wenigstens find die Indianer, welchen
die Bewohner Columbiens diesen Namen geben (im nördlichen
Theil des DistricteS und auf den davorliegenden Jnfeln), gleichen
Stammes mit den Koloschen. Alle diese Stämme sprechen dieselbe
Sprache oder doch nahe verwandte Dialekte. Man schätzt ihre
Zahl auf 25,000, von denen jedoch nur 12,000 bis 15,000 in
Alaska wohnen. Sie zerfallen in die folgenden Unterabthei-
lungen:
a) Die Hyda im südlichen Theil des Archipel des Prinzen
von Wales, derenZahl gegen 600 beträgt; sie heißen auch Kai-
gani und Kliavakan, von dem Hafen Kaigan und dem
Golf Kliavakan, an denen ihre Wohnfitze liegen. Fortwährend
gegen die Weißen höchst feindselig gesinnt, haben sie noch in der
neuesten Zeit Schisse überfallen, ausgeplündert, selbst die Mann-
schasten gemordet.
b) Die Hennaga in demselben Archipel in der Gegend
von Ci Pole, 500 stark, gelten für friedlich.
e) Die Chatsina, Nachbaren der vorigen, im nördlichen
Theile jenes Archipels, die ebensalls 500 zählen.
d) Die Jongaß auf der Insel gleichen Namens und an
der Nordküste des Portland-Canals. Ein Theil derselben, der
in der Nähe des C. Fox wohnt und unter einem besondern
Häuptling steht, wird mit dem Namen der Fuchsindianer be-
legt. Beide zusammen zählen 1000 Menschen.
e) Die Stikin, an der Mündung des Flusses gleichen
Namens und auf den davor liegenden Inseln, zusammen etwa
1000 Menschen. Sie gelten zwar sür sriedlich, haben aber noch
vor nicht langer Zeit Handelsschisse überfallen.
rdtheilen. 143
f) Die Kako (oder Kake) auf der Insel Kuprinoff, an deren
Nordwestspitze ihr Hauptdorf liegt; im Ganzen etwa 1200 Men-
fchen. Sie gelten für höchst feindselig und haben öfter Raub-
züge in ihren Booten felbst bis zum Pugetfunde hin unternom-
men und 1857 den Zolleinnehmer des Hafens Townfend dafelbst
ermordet.
g) Die Ku besitzen mehrere Dörfer auf der Insel gleichen
Namens zwischen C. Decision und dem Prinz-Friedrich-Sunde,
zusammen gegen 8000. Sie sind Feinde der Weißen, allein nur
für die kleinen unbewaffneten Küstenfahrer gefährlich.
h) Die Kutznu (Kuschnu) wohnen bei dem Cap gleichen
Namens, am Eingang der Hoodbai auf der Admiralitätsinsel.
Jetzt sind diese früher sehr feindlichen Indianer, deren Zahl etwa
800 beträgt, friedlich gesinnt.
i) Die Awk längs des Jonglas-Canals und an der Mün-
dung des Flusses Tako, gegen 800 stark. Sie stehen in üblem
Ruf.
k) und 1) Die Sundaun und die Torko auf dem Fest-
lande zwischen dem Tako und dem Hafen Houghton, zusammen
gegen 500, feindselig und verräterisch.
m) Die Tschilkah (Ch ilkat), am Flusse Chilkat und längs
der Ufer des Cynecanals, zusammen etwa 2000 stark, ein krie-
gerischer Stamm, der jetzt den Weißen feindlich gesinnt ist.
n) Die Hoodsuahoo am Eingange in die Chathamstraße
und in der Umgegend, zusammen gegen 1000, gefährlich und
verrätherifch.
o) Die Hunna (oder Honne-ask), leben zerstreut an der
Küste des Festlandes vom Cyncanal bis zum Cap Spinier und
zählen etwa 1000 Menschen. Den Russen waren sie früher sehr
feindlich gesinnt, allein seit der Abtretung des Gebietes an die
Vereinigten Staaten haben sie sich friedlich verhalten.
p) Die Sitka sind die Indianer der Insel Baranoff, deren
Zahl man auf gegen 1200 fchätzt. Bei der Abtretung machten
sie den Versuch, sich der Besitznahme durch die Amerikaner zu
widersetzen, haben sich aber bald wieder beruhigt.
q) Die Kyack bewohnen das Land im Süden des Ätna-
fluffes.
Außerdem wohnen noch hier und da einzelne Familien und
kleine Stämme zerstreut, welche diesen größeren Abtheilungen
nicht zugerechnet werden.
2) Die Kenaier. Sie führen ihren Namen von der Halb-
insel Konay zwischen dem Cook- und Prinz-Williams-Sunde,
allein man versteht darunter alle Indianer zwischen dein Flusse
Ätna und dem Cooksunde bis an das Gebirge im Innern. Sie
sind kriegerisch, stolz und unerschrocken, bereit, jede ihnen zuge-
fügte Beleidigung zu strafen, allein sie haben sich gegen die Rus-
sen wie bis jetzt gegen die Amerikaner stets friedfertig verhalten.
Im Einzelnen sind ihre Wohnsitze wenig bekannt; ihre Zahl
schätzt man auf 25,000.
3) Die Aleuten. Unter diesem eigentlich bloß den Be-
wohnern der gleichnamigen Inselgruppe zukommenden Namen
versteht man auch die Bewohner der Inselgruppen Schumagin
uud Kodiak, wie die südlichen Eskimostämme, die mit den Aleu-
ten nahe verwandt sind. Sie sind freundlich, wohlgesinnt und
nicht ganz ohne Industrie; auch haben die Russen durch Grün-
dung von Schulen und Kirchen viel für ihre EntWickelung ge-
than. Da sich die Grenzen gegen die Eskimo nicht bestimmt
bezeichnen lassen, so schwanken die Angaben über ihre Zahl von
4000 bis 10,000. Die kleinere Hahl umschließt wahrscheinlich
die Bewohner der Aleutischen Inseln allein, die größere wird
die richtige sein, wenn man die Einwohner der Halbinsel Alaska
und die Küsten der Bristolbai hinzurechnet.
4) Die Eskimo bewohnen den nordwestlichen Theil des
Gebietes an den Ufern des Behrings- und des Polarmeeres, wie
die Thäler der nördlichen Zuflüsse des Jukon, dessen südliche
Nebenflüsse von Kenaiern bewohnt sein sollen. Sie stehen in
der Bildung unter allen Indianern Alaskas am tiefsten und
sind gewöhnlich harmlos und friedfertig, wenn sie sich gleich gegen
einzelne oder wenige Weiße zu Zeiten feindselig und verrätherifch
144 Aus allen
betragen haben. Ueber ihre Zahl ist nichts Sicheres bekannt,
die Angaben schwanken zwischen 10,000 und 20,000; indessen
sind darunter wohl auch die im englischen Gebiete im Westen
des Mackenzieslusses lebenden Eskimo mit einbegriffen, die manch-
mal in das amerikanische Gebiet zu kommen scheinen.
Bis jetzt sind feindselige Verwickelungen nur mit den Ko-
loschen zu besorgen; denn wenn auch ein großer Theil derselben
sich friedlich und den Amerikanern geneigt zeigt, so verdienen
sie doch bei ihrer bekannten verrätherischen Gesinnung geringes
Vertrauen, und bei der Art und Weise, mit der die Händler
die Ureinwohner zu behandeln Pflegen, werden Streitigkeiten
und Angriffe schwerlich lange ausbleiben. Die Kenaier gelten
fllr friedlicher; von den Meuten und Eskimo scheint wenig Ge-
fahr zu drohen.
Die russische Provinz Turkestan. Das Areal der 1367
aus den Gebieten Ssemipalatinsk und Syr-Darja und dem Be-
zirk Sarjawschan gebildeten Provinz beträgt 15,000 Quadrat-
Meilen, welche (mit Ausschluß der Truppen und der russischen
Bevölkerung) von 1,540,000 Menschen bewohnt werden; davon
sind nur 375,000 ansässig, während die anderen nomadisiren.
Die Dichtigkeit der Bevölkerung ist sehr ungleich; die Kreise
Kuraminsk, Tschemkent und Wjernoje sind ziemlich dicht, dafür
aber die Kreise Jssyk-Kul und Kasalinsk sehr schwach bevölkert.
Im Dnrschschnitt kommen 105 Einwohner auf die
Quadratmeile. Die Zahl der russischen Bewohner ist schwer
zu bestimmen, da dieselbe sich beständig ändert. Mit den Trup-
Pen (in der Stärke von 25- bis 30,000 Mann) dürste sie erwäh-
nungsweise auf 55- bis 60,000 Individuen zu schätzen sein. Eine
dauerhafte Ansiedlung von Russen hat sich im Gebiet
Ssemiretschensk gebildet, und von der sibirischen Seite her ist
dieselbe bis Pischpek, d. h. bis zur Grenze des Gebiets Syr-
Darja, vorgedrungen. Die Kreise Aulieta und Tschemkent sind
dagegen noch gar nicht von der russischen Kolonisation berührt.
Von der einheimischen Bevölkerung kommt das stärkste Procent
auf die Kirgisen (1,028,000), dann folgen die Sarten
(123,000), die Tadschiker und Galtschiker (71,000), die
Usbeken (51,000) und die Turkmenen (3500). Außerdem
sind daselbst noch Tataren, Juden, Afghanen und Hindus an-
zutreffen.
# * *
— Urtheil eines Hindu über die Frauen europäi-
scher Völker. Garem de Tassy, Professor der orientalischen
Sprachen in Paris, veröffentlicht alljährlich eine Uebersicht der Fort-
fchritte, welche die Literatur der Hindu macht. In dem Berichte,
welchen er jüngst zu Eaen in der Normandie hat drucken lassen,
giebt er Auszüge aus der in Hindustani gedruckten Zeitschrift
„Akb ar i Alam", welche zu Mirat in Bengalen erscheint. Wir
lesen darin Folgendes: „Die Französinnen Heirathen am lieb-
sten einen Mann mit offener Stirn und lächelndem Angesicht.—
Die Deutsche zieht einen Mann vor, der angenehm im Um-
gang ist und vor allen Dingen treulich sein Wort hält. — Die
Holländerin einen, der sich friedlich verhält und von Streit
und Krieg nichts wissen mag. — Die Spanierin einen, der
ihre und feine eigene Ehre zu rächen versteht. — Die Italie-
nerin einen, der träumerisch nachsinnt. — Die Russinnen
heirathen am liebsten einen ihrer eigenen Landsleute; von diesen
letzteren werden alle westlichen Völker als Barbaren betrachtet.—
Die Däninnen bleiben gern daheim und mögen vom Reisen
nicht viel wissen. — Die Engländerinnen lieben Gentlemen,
welche sich bei den Hochstehenden und Mächtigen Aufmerksamkeit
ertanzen können und sich bei ihnen einschmeicheln. — Die ame-
Erdtheilen.
rikanischen Ladies heirathen den ersten besten, der sie eben
heirathen will, kümmern sich nicht um dessen Rang und gesell-
schaftliche Stellung; es ist ihnen einerlei, ob er verstümmelt oder
ein Krüppel, taub oder blind ist, — wenn er nur viel Geld
hat." So sieht sich ein Hindu die „westlichen Damen" an.
— Ein „äußerst verständiger Mann" starb am 10. Februar
in St. Louis. In seinem Testamente vermachte er die Summe
von 1000 Dollars „aus tiefgefühlter Dankbarkeit" einem vor-
maligen Dandy, weil derfelbe die Güte gehabt habe, ihn von
feiner Frau, welche er entführte, zu befreien. Für diese Wohl-
that wolle er sich nun einigermaßen erkenntlich beweisen.
— Der verflossene Winter ist auch in Rußland sehr
streng gewesen. Allein im Gouvernement Orel sind in den
10 Tagen vom 10. bis 20. December nicht weniger als 46 er-
frorene Menschen, darunter 5 Frauen, aufgefunden worden.
— Die Mündungen der Wolga sind bekanntlich arg
verschlammt und die bisherigen Versuche, dieselben wieder schiff-
bar zu machen, haben noch zu keinem günstigen Resultate geführt.
Neuerdings wollen nun die Ingenieure den Kamyrjakaren
durch Schleusen abdämmen, um das Eindringen des Treibsandes
aus der Wolga zu verhindern; sie hoffen auf solche Art eine
angemessene Tiefe herstellen zu können.
— Lange, Dr. H., Neuer Volks-Schulatlas über
alle Theile der Erde. Zweiunddreißig Karten in Farbendruck.
Braunschweig, Druck und Verlag von George Westermann.
Preis 7% Sgr., 27 kr. Sd. W.
Verfasser und Verleger haben sich durch diesen Atlas ein
großes Verdienst um die Volksschulen erworben, denen die übri-
gen guten Schulatlanten von Kiepert, Stieler, Sydow u. s. w.
zu theuer sind. Der vorliegende Atlas liefert in der That Er-
staunliches, wenn man bedenkt, daß trotz der lobenswerthen
Ausstattung und des festen schönen Kartenpapiers jede einzelne
Karte nur ein paar Pfennige kostet. Es giebt auch andere bil-
lige Schulatlanten; aber sie halten mit diefem in keiner Bezie-
hung, weder in der Zuverlässigkeit und geschmackvollen Ausfüh-
rung, noch in der geschickten Auswahl des Stoffes, oder in der
enormen Billigkeit einen Vergleich aus. Daß Deutschland vor
Allem bedacht ist, finden wir durchaus zweckentsprechend; auch
sind hier allein, durch den größern Maßstab der einzelnen Kar-
ten ermöglicht, die Eisenbahnen eingetragen. Für Deutschland
sind bereits die neuen Westgrenzen gegen Frankreich gezeichnet,
der Atlas stellt also in dieser Beziehung den neuesten Stand der
politischen Verhältnisse dar. Wir wollen auf Einiges aufmerk-
fam machen. Ostturkestan ist (Karte 21) noch zum chinesischen
Reiche gerechnet. In Arabien vermissen wir die Hauptstadt
des Wahhabitenreiches e'Riad, in Birma die Hauptstadt Man-
dalay, im Eaplande den wichtigsten Ausfuhrhafen Port
Elizabeth. Aufgefallen ist uns auch, warum die alten Pro-
vinzen in Frankreich (statt der Departementseintheilung) mit be-
sonderen Farben hervorgehoben sind, während die Provinzen
Italiens nicht einmal durch punktirte Linien abgegrenzt sind
wie in Spanien oder Rußland. Wir sind der festen Ueberzeu-
gung, daß, wenn in einem Supplementhefte die außereuropäi-
fchen Erdtheile, z. B. durch Specialkarten von Aegypten, Vorder-
ästen, Berberei, Westindien u. s. w., ausführlicher dargestellt
würden, der Atlas sich auch über die Volksschule hinaus in hö-
heren Schulen einbürgern würde. — Auf der Karte von Süd-
amerika steht Araucaria statt Araucania.
Vor allen Dingen loben wir auch, daß diefe Karten nicht
mit Namen überfüllt worden find; dadurch wird Anschauung
und Uebersicht erleichtert.
Inhalt: Unter den Nomaden Jnnerasiens. (Mit fünf Abbildungen.) — Auf der Insel Rügen. Von Theodor Zorn.—
Hat es in Brasilien eine Eiszeit gegeben? — Aus der Literatur des Nihilismus. Von D. K. Schedo-Ferroti. — Aus
allen Erdtheilen: Erforschung der Landenge von Darien. — Die Indianer in Alaska. — Die russische Provinz Turkestan. —
Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: H- Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
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8^
&
■*" *a'löer- und
Band xix.
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%
J£ 10.
lit besonäercr Herücksiclüllzung üer IntkroVologie unck Gtknologie.
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
Ä^rll Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, i Sgr. 1871*
Gletscherbilder aus den Alpen.
Die Lauine und der Gletscher haben in der Oekouo-
mie des Hochgebirges (falls dieser Ausdruck erlaubt ist) die
gleiche Aufgabe, die nämlich, das Hochgebirge von der dro-
heuden Schneeüberlastung zu befreien nud einer sonst nach
und nach eintretenden Totalerkältung des Alpengebäudes und
seines Anlandes vorzubeugen. Beide sind ausgleichende Fac-
toren, vermittelnde Ableitungscanäle, jedoch auf verschiedene»
Wegen. Die Lawine wirft ihren erst in der Bildung be-
griffenen Schneekörper, der noch zusammenhanglos ist, in
irgend einen GebirgswinM des Thales; — der Gletscher
steht scheinbar unbeweglich, aber er ist doch in unuuterbroche-
ner Thätigkeit. Er sammelt das Uebermaß des lockern Hoch-
gebirgsschnees, verdichtet diesen zu festem, körperhaftem Eis
und befördert ihn langsam ins Thal hinab.
Die Gletscher sind entweder in den Thälern der Hoch-
gebirge eingebettet oder bekleiden die Abhänge derselben. Jene,
welche die großen Alpenthäler erfüllen, reichen im Allge-
meinen von den höchsten Spitzen in ununterbrochener Linie
herab. Es giebt Gletscher von sechs Stunden Länge und
von einer Viertelstunde bis zu einer Stunde und mehr noch
Breite.
L. Agassi; unterscheidet bei den Gletschern drei Re-
gionen: 1) den eigentlichen Gletscher, wo der im Win-
ter gefallene Schnee im Sommer vollständig zerschmilzt;
2) den Firn, welcher die Hochthäler ausfüllt und dessen
Globus XIX. Nr. 10. (April 1871.)
Oberfläche aus gekörntem Schnee gebildet wird; 3) die
Schneefelder oder den Hochschuec. Dieser bedeckt die
hohen Gräte, bleibt oft in pulverigem Zustande und ver-
bindet meist die großen Gletscher, indem seine Gehänge in
mehrere Thäler zugleich hinabsteigen.
Jede dieser verschiedenen Regionen hat ihr eigenthüm-
liches Ansehen. Der Gletscher ist aus compactem Eise
gebildet, seine Oberfläche meist convex nud theilweise mit
Felstrümmern bedeckt. Der Firn dagegen bietet eine concave,
muldenförmig vertiefte und sehr einförmige Oberfläche dar, auf
welcher keine Felstrümmer liegen. Die Schneefelder zeich-
nen sich schon aus der Ferne durch ihr glänzendes Weiß aus,
welches mit der Färbung des mehr oder weniger schmutzigen
Firns sehr contrastirt; auch bekleiden sie nur die hohen Fir-
sten und füllen nur selten Thäler aus.
Die Schnee- und Firnfelder zusammen bilden die Eis-
meere, deren Ausflüsse die eigentlichen Gletscher sind. Die
Grenze zwischen dem Gletscher und dem Firn oscillirt in
den Alpen (nach Agassiz) um etwa 8000 Fuß; die Grenze
zwischen Schnee und Firn ist weit veränderlicher und kann
zwischen 9000 und 10,000 Fuß angenommen werden.
Der Uebergang aus einer dieser Regionen zur andern
geht folgendermaßen vor sich. In den Hochgebirgen fällt
eine große Menge Schnee; derselbe wird zum ^heil durch
Lawinen und Winde von den Hochkämmen weggekehrt und
19
Montblanc und Chamouny.
unterhalb der Alpengipfel. Kurz nachdem der Schnee ge-
fallen ist, verliert er seine krystallinische Gestalt und wird
körnig; die anfangs sehr kleinen Körner werden allmälig
größer, je mehr von dem Schmelzwasser der oberen Schichten
Die Jungfrau.
in das Innere der Masse einsickert. In einer gewissen Tiefe, ! wechselt, backen die Körner zusammen und bilden ein anfangs
welche je nach der Oertlichkeit und Jahreszeit beträchtlich | nur erst lockeres Eis, das aber bald fester wird. Das in
146 Gletscherbilder
in die Thäler geschleudert, wo er sich dann in gewaltigen
Massen ansammelt. Die Sonne hat nicht Kraft genug, ihn
aus den Alpen.
in den Sommermonaten hinwegznschmelzen, und so sammelt
er sich von Jahr zu Jahr mehr und mehr in den Hochthcüern
Gletscherbilder aus den Alpen.
147
dieWnffp eindringende Wasser backt dieselbe derart zusammen, gewandelt. Dieses Gletschereis ist von dem Eise unserer
daß sie wie ein Mörtel erscheint. So wird Schnee in Eis um- Seen und Flüsse völlig verschieden; es ist matter, eisiger, seine
Quelle des Arveiron.
Oberfläche nicht glatt und eben, sondern rauh und höckerig,
man kann deshalb aus den nicht allzu steilen oder allzu sehr
zerklüfteten Stellen bequem und ohne Gefahr umhergehen.
Diese Bildung der Eisoberfläche wird durch eine Menge von
Bepons-Gletscher.
sogenannten Haarspalten bedingt, welche die Masse nach
allen Richtungen hin durchziehen und ste m eme Stenge
kleiner Fragmente zerlegen Diese schmelzen ungleich ab
und so wird die GletscherMche rauh und uneben; sie steht,
19 *
Gletscherbilder aus den Alpen.
in der Nähe betrachtet, wie grauer Bimsstein aus. Dagegen
hat die Eismasse im Innern, wo sie gegen das Verwittern
geschützt ist, eine schöne blaue Farbe.
Die Oberfläche wird von unzähligen größeren und klei-
neren Rinnen durchfurcht, welche sich in allen möglichen Win-
düngen, in der Kreuz und Quer ihren Lauf bilden. Diese
kleinen, krystallklaren Wasseräderchen halten kaum einen Grad
Wärme und sie eilen größeren, bachartigen Wasserläusen zn,
deren Bett aus durchsichtigem, Hellem Gletschereise besteht.
Diese stürzen dann nach kurzem Laufe in tiefe, trichterför-
mige Löcher, die so-
genannten „Müh-
len" (Monlins), und
verschwinden in den-
selben. Diese Müh-
len sind geheime Ca-
näle, welche in aller-
lei Windungen und
Verzweigungen bis
auf den Felsengrund
des Gletschers hinab-
reichen und den aus
dem Gletscherthor
hervorquellenden
Gletscherbächen Nah-
rung zuführen. Die
sanft gewölbte Ober-
fläche des Gletschers
leuchtet und glitzert
vom Reflex der Son-
nenstrahlen auf dem
blanken, neuen Eise;
über die ganze Eis-
Halde ist eine uueud-
lich sieberhaft-zitteru-
de Beweglichkeit aus-
gegossen und Alles
flimmert. Es ist eine
unheimliche Leheudig-
keit, ein singendes
und glurrendes Nie-
seln in den Rinnen,
welche netzförmig diese
Spiegelfläche über-
spinnen. Das dau-
ert so lange die
Sonnenstrahlen ein-
wirken; sobald das
Tagesgestirn hinter
die Berge tritt, ver- Mer de Glace
stummt allgemach
Alles; der kalte Hauch, welcher nun über die Eiswüste streicht,
bindet die rieselnden Tropfen wieder zu Krystallen, und noch
bevor es Nacht geworden, ist Alles still.
Wer auf dem Gletscher wandert, trifft nicht selten ans
Querspalten, Crevafses, welche denselben oft bis zu be-
deutender Höhe durchziehen. Manche dieser tiefen Einrisse
sind dermaßen durchsetzt und zerborsten, daß sie gar nicht
passirt werden können; andere dagegen können, weil sie nur
schmal sind, übersprungen werden. Die Gestalt dieser
Schründe ist eben so verschieden wie ihre Größe. Meist
laufen sie quer, in rechten! Winkel, zur Gletscherachse; einige
zeigen sich nur an den Rändern, andere durchsetzen deu Glet-
scher zum großen Theile; Längsschründe trifft man nur am
Thalende der Gletscher. Je geueigter ein Gletscher ist, nm
so mphr Schründe bat er. aber sie reichen selten bis auf den
Boden. Sie entstehen unter bedeutendem Krachen, wahr-
fcheinlich aus verschiedenen Ursachen. Solche, die in einem
Augenblicke einen ganzen Gletscher quer durchsetzen, ohne sich
bedeutend zu erweitern, scheinen durch innere Spannung be-
dingt zu sein und dieser liegt vielleicht eine Temperatur-
schwaukung im Innern der Masse zu Grunde.
Mit den Schründen stehen die Gletscher nadeln in
innigster Beziehung. Bei einem stark zerklüfteten Gletscher
theilt sich oft die ganze Masse in abgesonderte Stücke; diese
sind dann von allen Seiten den Einwirkungen der Atmo-
fphäre ausgesetzt, ver-
wittern pyramida-
lisch und erhalten in
Folge des Schmel-
zeus oft ganz selt-
same Gestalten. Die
Nadeln kommen nur
bei sehr starker Nei-
gung des Gletscher-
bettes vor. Manche
Gletscher starren da
und dort förmlich
von dergleichen Na-
deln, während sie
weiter abwärts, wo
das Thal ebener
wird, wieder eine
ebene Oberfläche an-
nehmen. Es giebt
aber auch stark ge-
neigte Gletscher, die
ganz eben sind. Oft-
mals find die Glet-
schernadeln sehr spi-
tzig und bis zu 40
oder 50 Fuß hoch,
so z. B. am Gorner-
Gletscher, oberhalb
Zermatt im Canton
Wallis, bei jenen im
Chamonny - Thale,
beim Rhone - und
beim Grindelwald-
Gletscher und manch-
mal nehmen sie eine
Fläche von einer Vier-
telstuude Größe ein.
Die Gletscher sind
in ihrer ganzen Aus-
dehnuug geschich-
tet und jede Schicht
entspricht ursprünglich einer während einer bestimmten
Zeit, z. B. eines Jahres, in den Hochregionen gefallenen
Schneemenge. Außer den Schichten zeigt sich dann noch
im eigentlichen Gletscher ein mehr oder minder compli-
cirtes System von parallelen Bändern und Blättern, welche
oberflächlichen Rissen entsprechen und welche aus hellerm,
blanerm Eise gebildet sind als die übrige Masse; man be-
zeichnet sie deshalb als blaue Bänder, und sie sind in
der Mittelregion der Gletscher am deutlichsten. Gegen das
Ende des Gletschers hin verwischen sie sich allmälig; dort
wird das gesammte Eis durchsichtiger, compacter und blauer.
Alle hohen Alpenthäler wären schon längst völlig mit
Eis ausgefüllt, wenn nicht durch eine langsame, aber stetige
Bewegung die in den hohen Regionen abgelagerten Schnee-
Massen in tieferliegende Gegenden vorrückten, wo sie dann un-
du Dor.
Gletscherbilder aus den Alpen.
149
ter Einwirkung einer höhern Temperatur zerschmelzen. Diese
Bewegung geht in der Richtung des stärksten Falles nach
den Gesetzen der Schwere vor sich, aber diese Bewegung ver-
langsamt sich von oben nach unten. Sie ist durch die Ab-
dachungsverhältnisse der Gletscherbetten bedingt und deshalb
sehr verschieden. Im Allgemeinen bewegt sich der Gletscher
in der Mitte seines Körpers rascher als an beiden Ufersei-
ten, in der Höhe stärker als in der Tiefe. Agassiz schreibt:
„Die Verschiedenheit in der Schnelligkeit der Bewegung von
Gletschermassen, welche in querer oder Längsrichtung in einer
Linie liegen, verbnn-
den mit der Form
der Thäler und den
Temperaturverhält-
nissen, in denen ein
Gletscher sich findet,
sind die Ursachen
aller jener Mannich-
faltigkeiten, welche die
Gletscher in Hinsicht
der Bewegung zei-
gen. Die anfangs
in den Schneesel-
dern fast horizontal
liegenden und quer
begrenzten Schichten
nehmen in Folge des
Zurückbleibens der
Ränder eine gebogene
Form an; zugleich
richten sie sich, be-
sonders an den Rän-
dern, in die Höhe, so
daß man sie unter
mehr oder minder
spitzem Winkel ins
Innere des Gletschers
einfallen sieht, wäh-
rend ihr unterer Rand
als Bogen oder Spitz-
bogen auf dem Glet-
scher sich abzeichnet.
Andererseits wird
das Eis stets fester,
verliert seine Elasti-
cität und splittert
deshalb in der Rich-
tung der Bewegung.
Die dadurch ent-
standenen Risse fül-
len sich mit gefrie-
rendem Wasser und bedingen so die blauen Bänder, welche
nur deshalb blau sind, weil sie von einem Wassereise gebildet
werden."
Das Fortrücken auf dem großen Aargletscher, wo
Agassiz zu verschiedenen Malen in den Monaten Juli bis
September Messungen und Beobachtungen anstellte, betrug
täglich etwa 8 Zoll; Fordes sand bei einigen Gletschern des
Montblanc eine noch raschere Bewegung. Es läßt sich je-
doch keine normale Durchschnittszahl aufstellen, weil der Ein-
sluß der mittler« Jahrestemperatur stark einwirkt. Nach
den von Ziegler am Grindelwaldgletschcr angestellten Beob-
achtungen über die Bewegung im Winter zeigte sich dieselbe
im Januar am schwächsten, etwas entschiedener im Decem-
ber, bedeutend lebhafter im Februar und mit gesteigerter Zu-
nähme im März und April. Es scheint, als ob jeder Glet-
Aletsch-Gletscher.
scher im Winter ziemlich ruhe und dann im Frühjahr seine
Thätigkeit wieder aufnehme. Aber nicht bloß im Allgemei-
nen an der Oberfläche ist die Bewegungsfähigkeit der Gletscher
eine verschiedene, sondern auch nach der senkrechten Tiefe hin,
so daß die größte Bewegung an der Oberfläche sich zeigt,
eine verminderte in der Mitte und die geringste in der dem
Felsboden ausliegenden Tiefe.
Nach den bisher angestellten Untersuchungen scheint vor-
zugsweise die vou oben herab drängende, drückende Schwere
der hinter dem Gletscher lagernden ungeheuer» Schneemassen
die vorzugsweise und
unaufhörlich wirkende
Triebkraft zu sein,
welche den Eisstrom
in Bewegung erhält.
Demnächst mag das
Weichen der Massen
an den Sturzschwel-
len und an der Front
weitere Ursache zum
leichtern Nachrücken
geben. Auch die durch
die Haarspalten be-
dingte größere Nach-
giebigkeit des Eises
mag zu der aussal-
leuden Erscheinung
der Gletscherwan-
dernngen das Jh-
rige beitragen.
Die Eisströme,
denn so kann man
die Gletscher bezeich-
nen, sind für die Al-
Penbewohner überall
nicht gefährlich, wo
sie in geneigten Ge-
birgsrinnen sich fort-
bewegen. Ganz an-
ders mit solchen, wel-
che aus der Höhe her-
ab eine Zeit lang
ihren Weg normal
fortsetzen, aber dann
plötzlich ihren Weg
verlieren, weil das
Gestein, aus welchem
sie ruhen, jäh ab-
fallt. Dann wird
der Gletscher „han-
gend", er bricht an
der Sturzwand trümmerweise los und stürzt als Gletscher-
law ine ins Thal.
Durch Verwitterung, Lawinen und die Bewegung der
Gletscher selbst werden beständig von den Thalwänden Fels-
stücke abgelöst. Sie rollen auf die Gletscherfläche und bil-
den dort den Rändern entlang, indem sie durch die Bewe-
gung fortgeschafft werden, lange Wälle. Das sind die söge-
nannten Moränen. Firn und Gletscher haben eine ans-
stoßende Kraft und leiden keine fremden Stoffe in ihrem
Körper; was Jahre lang in Firnschründen begraben lag,
wird durch die Abschmelznug der Oberfläche und den gleich-
sam hebenden Druck im Fortrücken nach und nach aus den
Rücken des Eiskörpers gebracht; so auch die Felsenbrocken.
Man unterscheidet dreierlei Arten von Moränen: Seiten-
moränen oder Gandecken; Mittelmoränen oder Guffer-
WM
W
150 Gletscherbilder
liniert; Endmoränen oder Stirnwälle. So lange ein
Gletscher einfach ist, hat er nur zwei Gandecken und einen Stirn-
wall; wo aber zwei Gletscher mit ihren Gandecken in einem ge-
meinschastlichen Thale zusammentreffen, dort mischen sich am
Vereinignngspnnkte die zugewandten Gandecken mit einander
und bilden eine Gnsferlinie, welche dann über die Mitte des
Gletscherrückeus hinabläuft. Dasselbe Verhältniß wiederholt
sich, sobald ein zweiter, ein dritter Gletscher hinzukommt; es
bildet sich dann eine zweite, eine dritte Gusserlinie, und
manche große Gletscher haben deren fünf bis fechs. Die
Mächtigkeit dieser Wälle hängt ab von der Ausdehnung des
Gletschers, welcher sie trägt, von der Höhe der Berge und
Matterhorn.
des Gletschertisches, welcher von letzterm gegen Sonne
und Regen geschützt wird. Solch ein Tisch sieht aus wie
ein kolossaler Pilz. Auf dem Unteraargletscher maß Agassiz
solche Fußgestelle von 8 Fuß Höhe; Berlepsch, auf dem Theo-
dulgletscher, unterhalb des Matterhorns („Globus" XVII,
S. 323), Platten von 20 Fuß Länge und 6 Fuß Breite.
Manchmal ist das Eisgestell so dünn, daß man glaubt, diesen
„Fnß des Tisches" umstürzen zu köuueu.
Die Gletscherbäche führen feinen Sand mit sich. Wenn
derselbe sich in einer Vertiefung ansammelt und dort eine
zusammenhängende Schicht bildet, dann wirkt dieser Sand,
sobald der Bach seinen Lauf ändert, ganz so wie ein Glet-
schertisch, d. h. er beschützt die Gletscherfläche, so weit er liegt,
gegen Schmelzen und Verdunsten. Solch eine anfangs ver-
tiefte Fläche erhebt sich dann über das umliegende Eis, wird
u§ den Alpen.
der Beschaffenheit des Gesteins der Thalwände. Die Mo-
ränen sind in der Nähe des Gletscherendes breiter als in
der Höhe, weil sie, wenn die Bewegung langsamer wird, sich
zusammenstauchen und seitlich ausbreiten.
Die vereinzelt auf der Gletscherfläche liegenden Trüm-
mer bieten merkwürdige Erscheinungen dar. Sobald sie eine
gewisse Höhe haben, beschützen sie das unter ihnen liegende
Eis gegen Sonne, Regen, Schmelzen und Verdunsten. Durch
diese nimmt dagegen die umliegende Gletscherfläche ab und
so geschieht es, daß solch ein Steinblock, eine Gneis- oder
Schieferplatte über die Fläche erhaben ist, indem sie auf
einer Eissäule, einem Eispfeiler, ruht; dieser bildet den Fuß
Das Breithorn mit dem Gorner-Gletscher.
convex und bildet zuletzt sogenannte Sandkegel, welche
Maulwurfshügeln gleichen und manchmal eine Höhe bis zu
12 Fuß haben. Dort hingegen, wo der Sand keine zufam-
menhängende Schicht bildet, beschleunigt er die Schmelzung,
und deshalb zeigt auch häufig der Gletscher in der Nähe der
Moränen eine Einsenkung.
Manche von den Trümmern, welche auf die Oberfläche
des Gletschers fallen, bleiben nicht auf derselben liegen, son-
dern fallen in Seitenfpalten, Oeffnungen und Höhlungen,
und es kommt vor, daß ganze Moränen auf folche Weise
verschwinden. Derartige Trümmer werden zumeist durch
die Reibung unter dem Gletscher zermalmt und bilden eine
Schlammschicht, welche mau fast unter allen Gletschern
zwischen dem Eis und dem Felsboden findet.
Die Gletscher üben ans die Wände und den Boden des
Gletscherbilder aus den Alpen.
151
Thales, welches sie einnehmen, eine starke Einwirkung. Sie
schleifen Felsen glatt und kratzen in dieselben eine Menge
gerader, feiner, meist paralleler Linien ein. Die „Strei-
fen" folgen immer der Richtung, welche der Gletscher, der
Beschaffenheit des Bodens gemäß, in seiner Fortbewegung
nehmen mußte. Sodann bemerkt man am Gestein weite
Längsfurchen, welche aussehen, als ob sie mit einem Hobel
gestoßen wären; ihre Oberfläche ist gleichfalls geschliffen und
glatt. Andere gewundene Furchen, welche man nur aus
Kalkgestein antrifft, sind die Schratten- oder Karren-
selder; sie sind entstanden durch Erosion des Gesteins, welche
durch Regen- und Schneewasser bedingt sind.
Das wirkliche
Wesen und Ausse-
hen eines Gletschers
ist bildlich sehr schwer
auch nur annähernd
wieder zu geben, und
Berlepsch hat ganz
recht, wenn er sagt:
„ Immer ist der
Raum selbst der
größten gemalten
oder gezeichneten Ge-
birgslandschaft zn
klein, um selbst eut-
sernt die gigantische
Größe eines Glet-
schers in seinem er-
schreckenden Maße
anzudeuten; die Ver-
Hältnisse werden im-
mer kleinlich, nichts-
sagend. Höchstens
vermag das Stereo-
skop, wenn recht
vorzügliche Partial-
aufnahmen einge-
schoben werden, theil-
weise eine Idee von
der Großartigkeit die-
ses Phänomens zu
geben." Aber die
Zeichnungen, welche
wir von Gletschern
haben, zeigen doch
die charakteristischen
Formen der Eis-
ströme und der Ge-
birgsriesen mit ihren
Zinken und Nadeln,
Riffen und Käm-
men. Ausgebildete,
alle kennzeichnenden Merkmale an sich tragende Gletscher sin-
det man vorzugsweise in den Centralstöcken der Alpen, und
die größten und umfangreichsten Gletscherreviere sind die
Centralmassen des Mont Blauc, der Walliser und Berner
Alpen, der Bernina in Graubünden und die Oetzthaler
Gruppe in Tirol. Bedeutende Gletscher ersten Ranges
treten außerdem auf in den grajifchen Alpen Savoyens, in
der Tödi-Gruppe auf der Grenze von Uri, Glarus und
Graubünden, in der Eentralmasse des Adula oder Rhein-
Waldhornes, in der Silvretta-Gruppe im Unter-Engadin, in
der Ortler-Gruppe und den Tauern der Salzburger und
Kärnthner Alpen. Bergzüge, welche in ihrer Mittlern Er-
Hebung die Schneegrenze (7000 bis 8000 Fuß) nicht über-
schreiten, sind ohne Gletscher. Die Gletscher in der Gruppe
des Mont Blanc können sich mit denen der Berner oder
der Penninischen Alpen nicht messen. Am Fuße liegt das
tiefe, schmale und enge Hochthal von Chamonny. Aus
den verschiedenen Bächen der Gletscher, welche einander
folgen, bildet sich die Arve, welche das Thal durchströmt.
Eine Hauptgletschermasse wird als Eismeer, Mer de
Glace, bezeichnet; der untere Theil derselben wird als
Glacier des Bois bezeichnet, und aus ihm entspringt
der Arveyron, dessen Quelle meist ein hohes Eisgewölbe
bildet. Das Gewölbe, in welchem derselbe entspringt, ist wnn-
derbar schön. Als Agassiz dasselbe besuchte, war es Herr-
licher als je, da nur
wenige Tage zuvor
ein Eissturz im In-
nern die Wände er-
höht und ihre Ober-
fläche aufgefrischt
hatte. Der Bach,
welcher dem Eisge-
wölbe entströmt, ist
sehr mächtig und,
wie alle Gletscher-
bäche des Mont
Blanc, blendend
weiß, weil sie alle
über Granit rinnen
und weißen Quarz-
sand mit sich führen.
Der Aletsch-
Gletscher ist der ge-
waltigste in den Ber-
ner Alpen. Im Sü-
den steht, als Thor-
Pfeiler des weiten
Firnthales, das rie-
sige, 12,874 Fuß
hohe Aletfchhorn, der
Jungfrau gegenüber,
und feine fast ge-
nan von Nord nach
Süd streichende Kette
trennt den Gletscher
von dem westlicher
gelegenen Mittel-
Aletsch - Gletscher.
Agassiz bezeichnet den
Aletsch-Gletscher, so-
wohl seiner ganzen
physischen Beschas-
fenheit wegen, als
-..... auch seiner Größe und
Roselam-Gletscher. Verbindungen halber
als einen der wichtigsten Gletscher in der Schweiz; Berlepsch
bezeichnet denselben als den größten und ausgebildet-
sten Gletscher Europas.
Das Matterhorn, der große Mont Cervin („Glo-
bus" XVII, S. 324) gehört zur Gruppe des Monte
Rosa, jener gewaltigen Gebirgskette, welche sich als Scheide-
mauer im Süden des Wallis, zwischen dem Simplon-Paß
östlich und dem St.-Bernhard-Passe westlich ausdehnt,
ein ungeheurer, vergletscherter Wall, dessen Hauptpunkte der
Monte Rosa mit 14,220 Fuß und das Matterhorn (13,850,
nach anderen Messungen 13,901 Fuß) hervorleuchten. Das-
selbe bildet die schönste, kühnste und imposanteste Felsenpyra-
mide, welche die Alpen überhaupt aufzuweisen haben. Dieser
iiif
,
152 Die Erfolge der Missii
riesige Felsenthurm überragt die umliegenden Höhen um min-
bestens 5000 Fuß. Seine steilen, scharfkantigen Wände
fallen fast senkrecht ab, und deshalb ist der Gipfel nicht zu
ersteigen. Oestlich von diesem Bergriesen steht das kleine
Matter Horn, welches eine Höhe von etwa 12,000 Fuß
hat. Dieser kleine Mont Cervin sendet zwei durch eiueu
Kamm getrennte Gletscherznslitchte zum großeu Gorner-Glet-
scher. Sein östlicher Nachbar ist das Prächtige Breithorn,
eine der großartigsten Hochgebirgssormationen, welche über-
Haupt vorhanden sind, 12,766 Fuß hoch. Zwei von ihm
herabkommende Gletscher senken sich als Zuflucht zum Gor-
ner- oderZerniatt-Gletscher herab. Dieser ist uach seiner
horizontalen Ausdehnung über vier Stunden lang und gehört
zu den großartigsten Erscheinungen der Alpenwelt. Aus
seinem Gletscherthore strömt die Visp hervor. Eine so un-
geheure Eismasse, welche in ein bebanetes Thal, in Aecker
und Wiesen vordringt, hat etwas Imposantes. Winter und
Sommer scheiueu hier ihrem ewigen Streit entsagt und sich
brüderlich die Hand gereicht zu haben. Der Gletscher endet
etwa eine halbe Stunde Wegs oberhalb Zermatt in einer
Thalerweiterung. Er hat dort noch eine Breite von etwa
en und der Missionare.
zehn Minuten und ist von Blöcken verschiedener Gesteine
überdeckt; an vielen Stellen ist das Eis bis zu 80 und mehr
Fuß mächtig. Das Hauptthor, aus welchem dieVisp strömt,
ist weit, geräumig und von prächtig blauer Farbe.
Der Roserlaui-Gletscher iu den Berner Alpen liegt
an seinen! Fußende 4688 Fuß hoch. Er dringt aus den
Firnanhäufungen zwischen dem Dossen-, Well- und Gstelli-
Horn hervor und hängt in seiner Tiefe mit dem Gauli-
Gletscher zusammen. Man rechnet ihn zu den schönsten
Gletschern, weil seine Formen außerordentlich zerklüftet sind
und sein reines Eis schön gefärbt ist. Er wird von keiner
Moräne verunreinigt und seine Spalten prangen im schön-
sten Ultramarin *).
*) Agassi;, Geologische Alpenreise, versaßt von Desor. — Die
Schweiz in Natur und Lebensbildern. Dargestellt von H. Ver-
lepsch. Jena. Costenoble. — Nicht minder empfchlcnswerth ist die
„Schweizerkunde; Land, Volk und Staat, geographisch-statistisch,
übersichtlich vergleichend dargestellt," von H. A. Berlepsch, Braun-
schweig bei Vruhn. Das Buch ist ein reiches Arsenal zur Kunde
der Schweiz in ihren allseitigen Verhältnissen. Reisenden empfehlen
wir angelegentlich desselben Verfassers „Neuestes Reisehandbuch für
die Schweiz", Hildburghaufen im Bibliographischen Institut.
Die Erfolge der Missio
Haben die Missionen unter Heiden, Juden und „Na-
meuchristeu" gründliche und wirkliche, nicht bloß scheinbare
Erfolge aufzuweisen? Ueber diese Frage wird seit längerer
Zeit sehr eifrig hin und her gestritten, und die Missions-
blätter der verschiedenen Kirchen und Secten sehen sich oft-
mals veranlaßt, gegen die mancherlei Angriffe sich zu ver-
theidigeu.
Ihre Gegner werfen ihnen Mancherlei vor, namentlich
auch Mangel an anthropologischem Verständniß der verschie-
denen, seelisch uud geistig sehr verschieden angelegten nud
begabten Menschengruppen. Ihr scheert, so sagt man ihnen,
Alles über einen und denselben Kamm; Ihr verfahrt, als
ob Ihr mit einem uniformen, abstraeten Menschen zu schaf-
fen hättet und muthet Allen ohne Ausnahme dasselbe zu.
Was Ihr lehrt, ist vielen Völkerstämmen unverständlich, weil
sie es nicht begreifen können; Ihr bringt nur Irrung und
Ungewißheit in das Hirn solcher Leute; sie sind anßer Stande,
das, was Ihr ihnen vorpredigt, sich geistig zu assimiliren, es
zu verdauen. Was Ihr als Erfolg rühmt, ist zum großen
Theil rein äußerlich; Ihr seid nur allzu geneigt, Euch in
salbungsvollen Phrasen und einem Ench eigenthümlichen
Jargon zu ergehen und Scheinerfolge für wirkliche Erfolge
auszugeben. Ihr habt für Alles stereotype Redensarten;
wenn Ihr vermeint Seelen gewonnen, Heiden bekehrt zu
haben, fo hat Gott der Herr Großes gethau und die Wege
der Vorsehung sind uuverkennbar; sind aber die Heiden hart-
näckig, dann ist lediglich „Satan, der Herr dieser Welt"
daran schuld; der Böse durchkreuzt und vereitelt den Willen
des allmächtigen Gottes. Im Ganzen genommen habt Ihr
seit einem Jahrhundert herzlich wenig Reelles ausgerichtet;
Eure Bekehrungen bei den Indianern sind im Grunde nur
nominell, und wenn einmal die unmittelbaren Einwirkungen
fehlen, bleibt ein Rückschlag nicht aus. Auf einen Schwar-
zen, deu Ihr in Afrika unter Eure Commnnkanten auf-
nehmt , gewinnen die Mohammedaner mindestens einhundert
Köpfe. Unter den Anhängern des Propheten von Mekka
habt Ihr, trotz aller Bemühungen, wenn es hoch kommt,
en nnd der Missionäre.
überhaupt kaum eintausend Seelen in der weiten Welt für
Euch gewonnen. Was an Juden zum Christenthum über-
tritt, ist nur ausnahmsweise durch Eure Judenmissionäre
dazu veranlaßt worden und verläßt den alten Jehovah aus
sehr verschiedeneu Beweggründen. In der Südsee habt Ihr
nominell zahlreiche Bekehrungen auszuweisen, aber das Volk
stirbt hinweg, und auf mehr als einer Insel haben protestan-
tische Neubekehrte mit katholischen und umgekehrt blutige Feh-
den geführt über Dogmen, welche überhaupt für Jedermann
unbegreiflich sind, und am allerwenigsten verständlich für
Wilde, welchen Ihr sie als zur Seligkeit unbedingt nöthig
dem Wortlaut nach eingelernt habt. Unter den Anhängern
Brahma's richtet Ihr wenig aus, uud jede Hiudufeele,
die Ihr zu den Enrigen rechnet, hat einen Kostenaufwand
von 10,000 Pfund Sterling verursacht. In Ostafrika
habt Ihr unter den Wanika binnen dreißig Jahren kaum
einige Dutzend Schwarze vermocht, in Euer Bethaus zu Ki-
suludiui bei Mombas zu kommen. Bei den Kaffern, die
Euch viel zu rationalistisch entgegentreten, richtet Ihr für
vieles Geld herzlich wenig ans; die Hottentoten reden Euch
uach, was Ihr wollt, und glauben nebenher an die Götter
und Teufel ihrer Vorfahren. In Südamerika werden die
Bilder der alten Volksgötter unter den christlichen Altar ge-
legt und hoch verehrt. Das Christenthum ist überall nur
nominell, ist nicht einmal bis in die Oberhaut gedrungen
und beschränkt sich auf das Mitmachen der Gebräuche des
Cultus. Wer überhaupt näher zusieht und den Dingen auf
den Grund geht, wer Eure stereotypen Floskeln und salbnngs-
vollen Redensarten für das nimmt, was sie werth sind, ge-
laugt zu der Ueberzengnng, daß man die Erfolge, welcher
Ihr Euch rühmt, um reichlich 90 Procent rednciren muß,
um ein reelles Facit zu erhalten. Schlimm ist auch, daß
Ihr, Katholiken und Protestanten, einander in den Haaren
liegt und Euch, wo Ihr könnt, gegenseitig das Spiel ver-
derbt, daß „Ketzer" und „papistische Römlinge" eifrig be-
flissen sind, einander Heiden- und Judenseelen abzujagen.
In dem ganzen Treiben herrscht überhaupt viel frömmeln-
Die Erfolge der Miss
der Humbug. Seit Anfang dieses Jahrhunderts sind mehr als
100,000,000 Thaler Missionsgelder verausgabt wor-
den zur „Bekehrung" von allerlei Heiden, Juden, Moham-
medanern, Nestoriauern und Armeniern, als welche letztere
beiden nicht den „wahren" Christenglauben hätten. Ihr
schweift in die weite Ferne, legt allerlei Sprüche der Bibel
aus, wie es Euch gerade paßt, und vernachlässigt darüber
Eure eigenen Laudslente, bei welchen doch so Vieles zu thun
wäre. Ihr seid zwar sofort bei der Hand, Jeden, der mit
Eurem Verfahren nicht einverstanden ist, als einen Unglän-
bigen und Spötter hinzustellen, aber damit legt Ihr die Kritik
nicht lahm, beseitigt Ihr die Thatsachen nicht. Das ganze
Missionswesen, wie es nun geworden ist, bietet auch viele
pathologische Erscheinungen dar und ist von Manchen sogar
als eine psychologische Verirruug hingestellt worden. —
Das Hauptorgan der Missionen, welche von Seiten der
anglikanischen Hochkirche unterhalten werden, der „Church
Misfionary Intelligenter" (Februar 1871), sieht sich verau-
laßt, diesen Vorwürfen zu begegnen. Seinen Aufsatz über-
schreibt er: „Die letztverflossenen fünfzig Jahre.
Hat die große Sache der wahren Religion Fort-
schritte oder Rückschritte gemacht?" Auf das innere
Wesen geht er freilich nicht ein und die „papistischen" Mis-
sionen bleiben völlig unerwähnt, da sie ja, anglikanischen
Vorstellungen zufolge, mit der „wahren" Religion nichts zu
schaffen haben, wie denn auch die Anglikaner von Seiten der
„Römer" als Irrgläubige betrachtet werden. Erbaulich ist
das freilich nicht, aber es ist einmal.
Der „Intelligenter" mischt viel Redensarten des bekann-
ten Schlages ein; er spricht von Jezebel und Elijah, von
Jsaschar, Zebnlon uud Naphthali; von Satans Usurpation
und von Immanuels Suprematie, von Brot, das auf Eseln
gebracht wurde, auf Kameelen, Maulthieren und Ochsen,
von Fleisch und Mehl und Feigenknchen, von Trauben, Wein,
Oel, Ochsen und Schafen in großer Menge, und daß der
Herr Herr große Dinge gethan, darob wir fröhlich sein kön-
nen. Er spricht von den Kindern Jsaschar, als welche ihre
Zeit verstanden und gewußt hätten, was gut war für Js-
rael :c. Wir müssen dergleichen Dinge mit hinnehmen, um
auf die Zahlenangaben zu kommen. Der „Intelligenter"
hat eine Uebersicht der protestantischen Missionen und der
Missionäre gegeben, und aus dieser wollen wir das Haupt-
sächliche zusammenstellen. Manchem, der sie näher betrach-
tet, drängt sich vielleicht die Ueberzenguug auf, daß mit einem
geradezu Ungeheuern Geldaufwands ein ungemein dürftiges
Resultat erzielt worden sei, namentlich wenn man erwägt,
„daß die Kirche Christi es auf eine Eroberung der ganzen
Welt abgesehen hat, in welcher der Herr als Universalkönig
herrschen soll."
Die Schule der Zweifler, sagt der „Intelligenter", Prahlt
groß und ist arrogant; die evangelische Christenheit sei ent-
mannt und habe ihre Kraft verloren. Wir aber wollen uns
erheben, wie einst Josua gethan.
Die Bewegung begann 1792, als die englischen Bap-
tisten ihre Mission gründeten; es folgten 1795 die englischen
Jndependenten; die Londoner Missionsgesellschaft; 1796 die
schottische und gleichzeitig die Glasgower; die holländische
1797; die evangelischen englischen Episcopalen mit der
Church Misfionary Society 1800; die Baseler 1816; jene
der englischen Wesleyaner 1817; jene der Kirche von Schott-
land 1824. Seitdem sind in England noch 5 kleinere Mis-
sionsvereine gegründet worden, 5 in Schottland, 1 in Irland,
8 in Deutschland und der Schweiz, 1 in Holland, 1 in
Norwegen, 2 in Schweden.
Diese dreiunddreißig europäischen Missions-
gesellschaften hatten im Jahre 1866, nach des Nord-
Globus XIX. Nr. 10. (April 1871.)
len und der Missionäre. 153
amerikaners Anderson Zusammenstellung, eine Einnahme
von viertehalb Millionen Dollars, sage fünf Mil-
lionen Thaler.
Eine Missionsgesellschaft hat Zahlenangaben über die
Anzahl der Bekenner verschiedener Religionen mitgetheilt;
sie nimmt die Ziffer 1263,574,000 für die gesammte Men-
schenmenge an. Davon sind
Heiden....... 816,915,000 Seelen
Christen aller Art. 334,754,000 „
Mohammedaner. . 105,688,000 „
Juden........ 6,216,000 „
Das „Bulletin du Monde chretien" zählt 48 Prote-
stantische Missionsgesellschaften auf mit 8600, oder
nach anderen Angaben 9415 Missionären, Katecheten und
Missionsgehülfen.
Die Zahl der „Bekehrten" (sogenannter Heiden, In-
den, Mohammedaner und Namenchristen), also unter etwa 950
Millionen Seelen, beträgt nach einigen Angaben 319,000,
nach anderen 318,000, nach wieder anderen 419,000 See-
len; 235,000 oder 250,000 Schüler und Katechumenen.
Jahreseinnahme 4,464,000 Dollars.
Von diesen Gesellschaften entfallen 16 auf Amerika.
Diese haben 2388 amerikanische und eingeborene Missionäre,
54,000 Bekehrte, 220,000 Schüler und Katechumenen;
Einkünfte jährlich 1,100,000 Dollars.
Auf England und das europäische Festland kommen
32 Gesellschaften mit 7027 europäischen und eingeborenen
Missionären, 264,000 Bekehrten, 213,000 Schülern und
Katechumenen; Jahreseinnahme 3,361,000 Dollars.
Die gesammteu Jahreseinnahmen werden etwa
4,470,000 Dollars, also zwischen 6 bis 7 Millionen Thaler
betragen.
Im Verlaufe der letztverflossenen 20 Jahre ist die Zahl
der Missionäre um ein Drittel, jene der Vereine um ein
Viertel, die der Einnahmen um ein Sechstel gestiegen.
England trägt zu denselben ein Drittel bei, Amerika ein
Sechstel, auf die übrigen oben genannten Länder entfällt
gleichfalls ein Sechstel. England bezieht einen nicht uube-
trächtlichen Vorrath an Missionären aus Deutschland.
Nicht weniger als 7 Missionsvereine haben es auf die
Rettung der Judenseelen abgesehen. Ihre Bemühungen
haben einen äußerst geringen Erfolg, eigentlich fo gut wie
gar keinen. Sie verwenden zumeist getaufte Juden als Mis-
sionäre, die sehr gut bezahlt werden und wenigstens für sich
selber gute Geschäfte machen. Die Gläubigen geben zum
Zwecke der Judenbekehrung jährlich mehr als 350,000
Thaler, während in manchen Jahren nicht ein halbes Dutzend
Bekehrungen und diese obendrein zum Theil von zweifelhaftem
Charakter bewerkstelligt werden. Die Londoner Judeubekeh-
ruugsgesellschaft hat 14 ordinirte und 20 nicht ordinirte
Missionäre, Ausgaben 33,879 Pf. St.; — die britische
Judengesellschaft 12, Ausgaben 7621; es entfallen also auf
jeden ihrer Missionäre etwa 4000 Thaler jährlich. — Die
Church of Scotland Jewisch scheine 10, mit 4660 Pf. St.
— Free Church of Scotland Jewisch scheme 6, mit 4159
Pf. St.; — die Judengesellschaft der irischenPresbyterianer
7, mit 2358 Pf. St. Dazu kommen die holländischen mit
3 und die Berliner gleichfalls mit 3 Missionären.
Diese sieben Jndenbekehruugsvereiue haben binnen zehn
Jahren viertehalb Millionen Thaler verausgabt. Es
wäre von Interesse zu erfahren, wie viele Bekehrungen sie
gemacht haben, wie viel an Geld und äußeren Vortheilen
den Übergetretenen zu gute gekommen ist, und wie große
Summen in die Tafchen derjenigen getauften Juden geflossen
sind, welche als Bekehrer ihrer vormaligen Glaubensgenossen
verwandt werden. Der Bericht vergißt mitzutheileu, wie
20
154 Die Erfolge der Misi
viele Juden „an die Lagerfeuer von Immanuels Armee"
gekommen sind.
Auch das weibliche Geschlecht hat Missionsvereine ge-
gründet. Die Ladies Association für Frauenerziehung in
Indien und Afrika hat 6 Missionärinnen, 34 eingeborene
Gehülsinnen und 2595 Schülerinnen; Einkünfte 3088
Pf. St. Diese hat ihren Sitz in London; andere in Eng-
land wirken in China, Westindien :c. Auch Berlin hat eine
solche Frauenmission für den Osten und für China. Alle
zusammen haben eine Jahreseinnahme von mehr als
60,000 Thaler. Jene in Amerika sammeln gleichfalls
viel Geld. Sie wirken zumeist mit den Missionären gemein-
schastlich, aber jene in Neuyork wirkt für sich und verans-
gabt jährlich etwa 90,000 Dollars; sie unterhielt 1869 schon
19 Missionärinnen.
Die nachfolgende Tabelle umfaßt 41 europäische und 17
amerikanische Missionsgesellschaften. Die ersteren haben 1841,
die letzteren 463 Missionäre in Thätigkeit; dazu kommen
339 und 223 ordinirte Eingeborene. Im Ganzen wirken
für die protestantischen Vereine 2866 ordinirte Personen als
Missionäre.
Vereine. Europäische Missionäre. Einnahme 1869.
Church Missionary Society . 203 155,193 Pf. St.
Society sor thePropagation
os the Gospel..... 70 106,435 „
London Missionary Society 156 101,369 „
Wesleyanische Missionsgesell-
schaft........ 543 89,000 „
Baptisten-Missionsgesellschaft 48 30,556 „
Schottische Kirche..... 3 9,993 „
Freie schottische Kirche . . . 25 15,352 „
Vereinigte schottische Presby-
terianer....... 40 27,540 „
Herrnhuter....... 134 90,750 Dollars.
Baseler evangelischer Mis-
sionsverein ...... 71 190,236 „
Rheinische Missionsgesellschaft 56 59,563 „
Französischer evangel. Mis-
sionsverein...... 21 214,390 Francs.
Leipziger lutherischer Missions-
verein ........ 16 49,500 Dollars.
Berliner Missionsgesellschaft 33 54,513 „
Amerikanische
Missionäre.
American Board..... 145 525,251 Dollars.
Presbyterian Board . . . 84 338,361
Südliche Presbyterianer. . 11 29,045
Vereinigte Presbyterianer . 18 50/624
Episcopal Board..... 13 88,342
Method. Episcopal Board . 58 187,863
Baptisten-Union..... 45 200,963
Resormed Dutch Board . . 16 81,410
Aus der „Statistik der neun Missionsfelder"
wollen wir das Nachstehende mittheilen.
1) Das westliche Asien und die Türkei. Dort
„arbeiten" nur Amerikaner: 59 Missionäre mit 43 einhei-
mischen Gehülfen, zusammen 107; sie besorgen 72 Kirchen
und haben 3923 Communicanten. Bei den Mohammeda-
nern richten sie gar nichts aus; sie wollen armenische Chri-
sten zum „wahren" Christenglauben bekehren. Außer diesen
Arbeitern des American Board haben auch die Presbyterian-
men und der Missionäre.
und die Episcopalmethodisten 6 „Arbeiter" in jenen Gegen-
den, „aber sie haben äußerst geringe Resultate aufzuweisen."
2) Indien, Birma, Siam, Ceylon. Diese Gegen-
den sind ein Hauptfeld für die anglikanischen Missionäre.
Diese haben dort 125 europäische Missionäre, 67 ordinirte
Eingeborene, 1571 eingeborene Helfer, 12,621 Communi-
canten, 25,515 Kinder besuchen ihre Schulen. Die ameri-
kanischen Baptisten arbeiten mit 36 europäischen Missionären
und 79 ordinirten Eingeborenen; sie haben 19,838 Com-
muuicanten und 4737 Schüler, beide zumeist unter denKa-
rens, im nördlichen Hinterindien. — Wir übergehen die ein-
zelnen Vereine und bemerken nur, daß auf die Baseler Mis-
sion 39 europäische Missionäre mit 1866 Communicanten,
auf die Leipziger 16 mit 9291', auf die Berliner Goßner-
sche Mission 9 mit 4700 Commnnicanten kommen.
In diesen beiden „Feldern" sind nicht weniger als 5 03
europäische Missionäre thätig; sie hatten es bis zu 87,472
Communicanten gebracht unter den etwa 250 Millionen
Seelen, welche in jenen Gegenden leben.
3) Für den Indischen Archipelagus entfallen auf
59 europäische Missionäre 558 Communicanten. (— Hier
sind die Angaben offenbar zu gering; die Zahl der Bekehr-
ten auf Nias und in Minahassa auf Celebes ist sicherlich
etwas beträchtlicher. —)
4) China und Japan. 83 amerikanische Missionäre
haben 2680 Communicanten, die der europäischen Vereine
85 und 3498 Communicanten.
5) Afrika, Madagaskar und Mauritius. Die
Londoner Gesellschaft hat dort 46 Missionäre und 12,932
Communicanten; die Wesleyaner haben 68 mit 18,319,
die Herrnhuter 23 mit 2042, die Baseler 18 mit 805, die
chinesische Mission 33 mit 1800, die evangelische der Fran-
zosen 19 mit 1670 Communicanten. „Man darf noch nicht
sagen, daß das Werk in jenem Boden Wurzel geschlagen habe."
6) Die Inseln im Großen Ocean. Diese sind von
vier Vereinen in Arbeit genommen worden. Sie rühmen
sich, zusammen 85,065 Insulaner bekehrt zu haben. Rei-
sende und Beobachter, welche außerhalb der Missionen stehen,
behaupten seit Jahren, daß die vielgepriesene Christianisirung
dort eine zum großen Theil nur scheinbare und ganz ober-
stächliche sei. Da die braunen Polynesier ohnehin durch den
Contact mit der Civilisation nach und nach aussterben, wird
das „Feld" bei ihnen auf die Dauer unfruchtbar werden.
Vier Vereine unterhalten dort 305 Missionäre. Dazu kom-
men noch 15, welche von kleineren Gesellschaften ausgesandt
worden sind.
7) Nordamerika, Grönland und Labrador. In
diesen weiten Regionen arbeiten 109 Missionäre, sie haben
es im Ganzen bis zu 16,600 Commuuicanten gebracht.
8) Westindien und die Küsten. Die Europäer haben
dort 172 Missionäre mit 67,004 Communicanten, zumeist
Neger; die Amerikaner 9 mit höchstens 500.
9) Südamerika. Auf 278 Communicanten in die-
fem Erdtheile kommen 15 amerikanische Missionäre.
_ In Summa entfallen in diesen Regionen auf 1699 euro-
Päische und 907 eingeborene Missionäre 291,449 Bekehrte.
Von jenen kommen auf Asien 837, Afrika 410, Amerika
und Südsee 652.
In jedem Jahrzehnt erfordern diese Missionen
einen Kostenauswand von 60 bis 70 Millionen
Thalern, und in Bezug auf die Geldsammlungen bleibt
der Erfolg unbestreitbar.
K. D. Schedo-Ferroti: Aus der Literatur des Nihilismus.
155
Aus der Literatur des Nihilismus.
Kritische Beleuchtung des Tschernyschefsky'schen Romans: „Was thun?" (^to 4^iart?)
Von K. D. Schedo-Ferroti.
II.
2.
Das Programm der „Jungfrau wie sie sein sollte"
streng einhaltend, leben Madame Lopnchofs und ihr Ge-
mahl wie Bruder und Schwester, was vom Autor in beson-
ders eingehender Weise beschrieben .wird, indem er erzählt,
wie sie sich nur in der „neutralen" Stube begegnen, wie
sie Abends von einander Abschied nehmen und des Morgens
nie anders als sorgfältig gewaschen und gekämmt
zum Thee zusammenkommen.
Da Lopnchoff seine medicinische Carriere aufgegeben,
so muß das junge Ehepaar vom Ertrage der Privatstunden
leben, die der dimittirte Stndent in der Stadt giebt, wobei
ihm seine Frau durch Musikunterricht nachhilft, so daß sie
ein ziemlich hinreichendes Einkommen von ungefähr 80 Rubel
monatlich haben. — Diese Beschäftigung genügte aber dem
thätigen unternehmenden Geiste Wära's durchaus nicht, nnd
darum faßt sie den Entschluß, eine Nähewerkstatt zu grün-
den. — Durch die Protection ihrer Freundin, der früher
erwähnten Demoifelle Julia, gelingt es ihr, eine Menge
Kunden zu erlangen, uud fo sehen wir die Nähewerkstatt bald
in voller Thätigkeit.
Ganz selbstverständlich ist das Unternehmen nicht aus
dem abscheulichen Principe der Exploitation der Arbeitskraft
durch das Capital, sondern auf rein communistischer Basis
und der Idee einer vollkommenen Gleichberechtigung begrün-
det. — Die jungen Mädchen, die als Arbeiterinnen in den
Verband treten, bringen natürlich nichts mit als ihre zwei
Hände, und so bestreitet Wera Pavlovna sämmtlicheAns-
lagen für Miethe des Arbeitslocales, Möbel, Hansgeräth,
Wäsche n. s. w., was alles unerläßlich ist, da die Mitglie-
der des „Phalanstere" gemeinschaftlich wohnen.
Trotz dieser Geldopfer und dem selbstverständlich damit
verbundeneu Risico im Falle, daß das Unternehmen miß-
länge, respectirt die Gründerin das PrinciP der Gleichbe-
rechtigung zu sehr, als daß sie irgend etwas vor den ande-
ren Arbeiterinnen voraus hätte. — Jede, und Wära gleich
den anderen, bekommt einen dem Grade ihrer Geschicklichkeit
und ihres Fleißes entsprechenden fixen Gehalt, und erhält
außerdem, am Ende jeden Monates, ihren Antheil an dem
Nettogewinne des Geschäftes. Anfangs konnten die Arbei-
terinnen sich in diese Einrichtung nicht recht finden, und
meinten sogar, es solle der Gewinnantheil nach Proportion
der Gehalte vertheilt werden, so daß die geschickteste und
steißigste, die am meisten zum Gesammterwerbe beiträgt,
auch die stärkste Prämie zu erhalten hätte; das wird ihnen
aber von W^ra Pavlovna als völlig unvereinbar mit den
Principien der Gleichberechtigung erklärt, nach welchem die
Fleißigen wie die Faulen, die Geschickten wie die Ungeschick-
ten völlig gleiche Rechte an dem zu erzielenden Gewinne
haben. — Auf die offenbar unerläßliche Frage: wie es mit
den etwaigen Verlusten im Fallendes Mißlingens der Un-
ternehmnng zuhalten ist? wird natürlich hier eben so wenig
geantwortet wie in allen ähnlichen Projecten commnnisti-
scher Arbeitervereine.
Gleich in den ersten Tagen bringt W6ra ein Buch in
den Arbeitssaal und liest ihren Colleginnen vor, während
jene fleißig die Nadel schwingen, was denn auch gleich zum
Usus in der Werkstatt wird, und allmälig sich in mündliche
sreie Vorträge über Geschichte, Geographie, Mathematik:c.
umgestaltet. — Diese Vorträge werden von verschiedenen,
dem jungen Ehepaare befreundeten Studenten gehalten, was
die Nähestube zu einer Art von Gymnasium erhebt.
Trotz der Sorgfalt, mit der Wsra Pavlovna ihre
Arbeiterinnen oder vielmehr ihre Freundinnen aussucht, hat
sich in diese weiße Herde doch manches, wenn auch nicht
mehr räudige, so doch ehemals räudig gewesene Schäfchen
eingeschlichen. Ein solches, etwas stark angeschmutztes, aber
durch die Sonnenstrahlen des Commnnismus zur schönsten
Weiße ausgebleichtes Schäfchen wird dem Leser in der Per-
son der Näherin Nathalie vorgeführt. Besonders vor
allen übrigen dnrch ihren Fleiß und ihr bescheidenes Wesen
ausgezeichnet, fühlt sich Nathalie eines Tages gedrungen,
ihrer Freundin Wsra ein eingehendesGeständniß über ihre
frühere Lebensweise zu machen. Die Gelegenheit zu dieser
Herzeusergießung giebt ein zufälliger Besuch, den der unter-
dessen zum Doctor der Medicin promovirte Kirsanoss in
der Nähewerkstatt macht, und ist die ganze Episode bloß dazu
in den Roman eingeschoben, um als Apologie des besagten
Doctors zu dienen.
Nach Nathalien's Selbstgeständniß war sie noch vor
wenigen Jahren absolut liederlich und dabei stark dem Trünke
ergeben. Eines Abends begegnet Kirsanoff ihr auf der
Straße und sie hängt sich an ihn mit solcher Beharrlichkeit,
daß er ihr endlich erlaubt, mit ihm in seine Wohnung zu
kommen. — Dort bittet sie ihn zu wiederholten Malen, er
möge nach Wein schicken, was er aber rund abschlägt und
ihr nur Thee, und auch den sogar ohne Rum, giebt, wobei
er die Charakterstärke so weit treibt, daß er kalt bleibt bei
allen ihren Verführungsversuchen, die um so energischer aus-
sielen, als sie den Abend schon tüchtig angetrunken war.
Eine so seltene Seelengröße imponirt der jungen Sün-
derin in dem Grade, daß sie sich sterblich in Kirsanoff
verliebt, dem Trünke entsagt und höchst anständig in ihren
Manieren wird, wofür sie sich denn auch durch die Gegen-
liebe ihres Retters belohnt sieht.
So zart das hieraus entstandene Verhältniß auch war,
so hielt Kirsanoff es doch für seine Pflicht, dasselbe wie-
der aufzulösen, da er bei seiner Freundin einige Anlagen
zur Schwindsucht entdeckt hatte, und deshalb Alles vermei-
den wollte, was sie zu sehr aufregen und reizen konnte. —
So kam Nathalie in die Nähewerkstatt, wo Kirsanoff
sie unverhofft und nach mehr als einjähriger Trennung wie-
derfindet. — Die freudige Ueberrafchnng des Wiedersehens
giebt sich durch die lauten Ausrufungen: Alexanders —
Nathalie! kund; doch leider sieht der erfahrene Medianer,
daß unterdessen die Schwindsucht reißende Fortschritte ge-
macht hat, uud so entschließt er sich, das frühere Liebesver-
hältniß wieder anzuknüpfen, „weil es nunmehr zwecklos ist,
sie zu schonen. Zu retten ist sie doch nicht mehr, und so
20*
156 K. D. Schedo-Ferroti: Aus
mag sie sich des Lebens freuen" (nycTi nopa/iyeTca, S.
222).
Die Richtigkeit der Diagnose des Doctors bestätigt sich
nur zu bald. Vier Monate später ist Nathalie tobt, und
Kirsanoss überzeugt sich, daß die Beschäftigung mit ihr
und die Sorge um sie ihn nur zeitweise zerstreut, nicht aber
von dem immer wiederkehrenden Gedanken an W6ra abge-
bracht haben. —
Diese Leidenschaft für die Frau seines Freundes war
gleich in der ersten Zeit nach der Verehelichung desselben
entstanden, wo Kirsanoss fast täglich in dessen Haus kam.
Aus Gewissenhaftigkeit stellte er bald seine Besuche ganz ein,
so daß es einer ernsten Krankheit Lopnchosf's bedurfte,
um ihn zu bewegen, denselben, als Arzt, aufzusuchen, — doch
kaum war Lopuchoff hergestellt, so verschwand Kirsanoss
wieder aus seinem Kreise, was sich theilweise durch das unter-
dessen erneuerte Verhältniß mit Nathalie erklärte und noch
länger hätte dauern können, wenn nicht ein besonderer Um-
stand eingetreten wäre.
Dieser besondere Umstand ist ein Traum, den W6ra
hat, und in welchem eine gespensterhafte Gestalt sie zwingt,
die Blätter eines Tagebuches zu lesen, in dem ihre eigenen,
noch ungedachten Gedanken verzeichnet sind. Sie ersieht
daraus, daß sie ihren Mann nicht um seinetwillen liebt, son-
dern ihm zugethan ist, weil er sie aus dem unerträglichen
Elternhause befreit hat, und bleibt voll Entsetzen vor einem
letzten, erst halb verzeichneten Gedanken stehen, dem Gedan-
ken, daß sie bereits im Begriffe ist, einen Andern zu lieben.
Vor Schreck erwachend springt Wera aus ihrem Bette
und läuft, in höchster Aufregung, zu ihrem Manne, in dessen
Arme sie sich stürzt mit dem Ausrufe: „Umarme mich, mein
Lieber, beschütze mich! ich habe einen schrecklichen Traum gehabt!
Mein Theurer, sei zärtlich mit mir, beschütze mich, denn es
hat mir geträumt, ich liebte Dich nicht mehr!" (S. 238.)
Seit diesem Auftritt ist das Verhältniß zwischen den
beiden Eheleuten vollkommen verändert, aber nach ganz kur-
zer Zeit (gerade 44 Tage, S. 241) bemerkt Lopuchoff,
daß seine Frau nicht glücklich ist, und sagt sich mit recht
lobenswerther Freimüthigkeit: das ist denn doch nicht das,
das ist nicht die wahre Liebe!
Daß der Gegenstand der Liebe seiner Frau Niemand
- anders als Kirsanoss sein kann, wird ihm nach kurzem
Nachdenken klar, und darum faßt er den Entschluß, W6ra
seinem Freunde abzutreten. — Allein vorgängig begiebt
er sich zu Kirsanoss und sucht ihn zu überreden, wie ehe-
mals täglich in sein Hans zu kommen, worauf jeuer an-
fangs nicht eingehen will, sich aber zuletzt doch überreden
läßt. — Nachdem Lopuchoff dies erlangt, versucht er seine
Frau zu bewegen, Kirsanoss ganz ins Haus zu nehmen
und alle drei zusammen zu wohnen, wovon aber Wsra
durchaus nichts hören will. — Das giebt ihm den Beweis,
daß nur seine Gegenwart die beiden Liebenden genirt, und
bestimmt ihn, auf einige Zeit zu verreisen, um ihnen Ge-
legenheit zu geben, sich zu verständigen. — Er fährt denn
auch wirklich auf sechs Wochen nach Riazan zu seinen Eltern,
und kann bei seiner Heimkehr sich überzeugen, daß seine Frau
und fein Freund sich vollkommen verständigt haben. Da
der Plan einer Häuslichkeit zu dreien mit Bestimmtheit
abgelehnt worden, so bleibt ihm, um das Glück Wsra's und
seines Freundes zu gründen, kein anderes Mittel übrig, als
„von der Scene abzutreten".
Die Katastrophe dieses „Verschwindens von der
Scene" ist, um des größern Effectes halber, vom Autor
gleich im ersten Capitel erzählt; ich habe sie aber hierher,
d. h. an den Ort verlegt, den ihr die chronologische Folge
der Begebenheiten anweist.
der Literatur des Nihilismus.
In einem der größeren Petersburger Gasthäuser stieg
eines Abends ein aus Moskau angekommener Reisender ab
und bestellte, nachdem er Thee getrunken hatte, daß man ihn
den andern Morgen um 8 Uhr wecken solle. — Da, nach
längerm Klopfen, die Stube des Reisenden verschlossen bleibt,
wird, in Gegenwart der Polizei, die Thür erbrochen, wo sich
denn ein Zettel aus dem Schreibtische findet mit folgender
Erklärung: „Es ist 11 Uhr Abends, ich gehe fort und werde
nicht wiederkommen. Zwischen 2 und 3 Uhr in der Nacht
wird man mich auf der Newabrücke hören."
Der Sinn dieser dunkeln Worte wird dem bestürzten
Dienstpersonal des Gasthauses von dem Polizeibeamten da-
durch erklärt, daß er ihnen mittheilt, man habe gegen 3 Uhr
auf der Newabrücke den Knall einer Pistole gehört und eine
durchschossene Mütze gefunden, was die Vermuthung auf-
kommen läßt, der Träger jener Mütze habe sich, hart am
Brückengeländer, erschossen und sein Leichnam sei vom Flusse
fortgetragen worden.
Als Besitzer jener Mütze wurde der aus dem Gasthause
verschwundene Reisende erkannt, der Niemand anders war
als der Gemahl Wsra's, der unglückliche Lopnchoss.
3.
Als Wora Pavlovna den Selbstmord ihres Mannes
erfuhr, gerieth sie in große Verzweiflung. Sie machte sich
Vorwürfe, an dem Unglücke schuld zu sein, stieß den sich trö-
stend nähernden Kirfanoff zurück und beschließt, sofort Pe-
tersburg für immer zu verlassen. Während sie damit be-
schästigt ist, ihre Sachen einzupacken und einen Käufer zu
suchen für die Garderobe des Verewigten, die denn auch für
450 Rubel losgeschlagen wird, kommt ein Freund Lopu-
choff's, der Student Rachmstoff, zu ihr und bietet ihr
seine Dienste an für den Fall, daß sie deren bedürste. Sie
braucht im Augenblicke nichts, und so begiebt sich Rächm6-
tosf in die Arbeitsstube Lopuchoss's, wo er bis zum Abend
ausdauert, weil er Wsra etwas besonders Wichtiges mitzu-
theilen hat.
Bevor wir auf diese Mittheilung zurückkommen, machen
wir es wie der Autor, und schicken derselben eine etwas ein-
gehende Charakterschilderung der genannten Persönlichkeit
voraus.
Rachmstoss ist der eigentliche Held des Romanes, ob-
gleich er in den Begebenheiten desselben keine active Rolle
spielt. Er ist der Typus der „Jugend wie sie einst sein
wird", ein „ganz besonderer Mensch" (ocoöeHHHft
aeiOBHaa), wie ihn der Autor S. 273 nennt, und bloß
deshalb dem Leser vorführt, um die schwindelnde Höhe zu
bezeichnen, zu der sich unsere Jugend einst erheben wird, um
als Maßstab zu dienen, damit man die bisher geschilderten
Figuren nicht für zu riesenhaft groß halte: „wie man Je-
mandem, der nie einen Palast gesehen hat, neben dem Bilde
eines großen Hauses wohl ein Eckchen eines Palastes hin-
zeichnet, damit er das Haus nicht schon für einen Palast
halte."
Dieser „palastartige" Rachmätoff gehört einem der
ältesten Geschlechter Rußlands an, da seine Vorfahren schon
im dreizehnten Jahrhundert historisch bekannt waren. Bon
seinem Erbe, an 7000 Dessätinen Land, schenkt er seinen
400 Bauern 5500 Dessätinen, und behält deren nur 1500,
die er für jährlich 3000 Rubel verpachtet. Hiervon giebt
er für sich nicht mehr als 400 Rubel aus, und vertheilt das
Uebrige an arme junge Leute, die er studiren läßt, wovon
aber, außer seinen Stipendiaten selbst, Niemand etwas er-
fährt.
Fünf Jahre bevor der Leser ihn kennen lernt, und nach-
dem er ein Jahr studirt, verläßt er plötzlich die Universität,
Das Vorkommen alter
macht eine Rundreise bis in die entlegensten Theile Ruß-
lands, wo er bald zu Fuß, bald zu Pferde, bald zu Boote
weiter kommt, um, nach beinahe dreijähriger Unterbrechung,
seine Studien wieder aufzunehmen. Was ihm unter seinen
verschiedenartigen Reiseeindrücken die meiste Genugthuung
gewährt, ist die Erinnerung an seine Fahrten zu Wasser,
denn da hat er sich als „Bnrlak" verdungen und mit den
anderen Burlaken an den Tauen gezogen, mittelst derer die
Barken längs der Wolga hinaufgeschleppt werden. Seine
von Natur bedeutende Leibeskraft hat sich durch dieses Exer-
citium so ungewöhnlich entwickelt, daß er allein im Stande
ist, so viel zu ziehen, als drei gewöhnliche Arbeiter, weshalb
man ihm den Beinamen Nikita Lomovoi gegeben, einen
Namen, der einst einem berühmt starken Strusenkerl gehörte,
und mit dem Rachmstoff sich gern bezeichnet sieht, zumal er,
bis aus den Punkt seiner Körperkraft, von aller Eitelkeit frei ist.
Aus Princip alle feineren Speisen vermeidend, genießt
er nichts, als was den Bauern ebenfalls zugänglich ist; von
dieser groben Nahrung aber ißt er viel, ungewöhnlich viel.
Der einzige Luxus, den er sich erlaubt, das Einzige, was er
sich von Genüssen gönnt, die das Volk sich nicht geben kann,
besteht darin, daß er gute Cigarren raucht, worüber er sich
jedoch gar oft ernste Vorwürfe macht.
„Solcher Leute wie Rachmstoss," sagt der Autor
S. 275, „giebt es nicht viele; ich habe ihrer im Ganzen
nicht mehr als acht gekannt, darunter zwei Frauenzimmer,"
was darauf schließen läßt, daß Herr Tschernyschessky
den pyramidalen oder vielmehr palastartigen Jüngling Per-
sönlich gekannt hatte. Diese persönliche Bekanntschaft leuchtet
übrigens noch aus einem Passus der S. 286 heraus, wo
der Autor eine Unterredung anführt, die er mit Rachm«-
toff gehabt, in welcher aber, recht seltsamerweise, der Held
als bis zur Insolenz aufdringlich und als „phänomenal
grob" (<i>eT0MeHaibH0n rpyöocTH) geschildert wird.
So war der „ungewöhnliche Mensch", der im Ca-
binet des seligen Lopuchoff saß, während die Wittwe des
Selbstmörders ihre Effecten einpackte, um des andern Mor-
gens Petersburg zu verlassen.
Als Alles geordnet und zur Reise bereit, läßt dann Räch-
m stosf sie um eine Unterredung bitten. Er hat einen Auftrag
auszurichten vonLopnchoff und einen Zettel von ihm vor-
zuzeigen, aber durchaus nicht in Wsra's Hände zu über-
geben, und eben darum ist er und Niemand anders mit die-
sem Auftrage betraut worden, da Lopuchoff sich nur auf
seine Seelenstärke Verlasien konnte, daß jener Zettel vorge-
zeigt, ihr aber nicht überlassen werden würde.
Steingeräthe in Birma. 157
Mit siebrischer Eile durchfliegt Wsra den Zettel, den
Rachmstoff ihr vorhält, ohne ihn aus den Händen zu geben,
und ruft mit Thränen der Rührung ans: „Wie gut er ist!
O, wie er gut und aufopfernd ist!"
Der Zettel, den Nachmotoff sofort verbrennt, hat er-
stannlich zur Beruhigung der Wittwe Lopuchoff's beige-
tragen, denn sie entschließt sich nicht nur ihr Mittagsmahl
einzunehmen, das sie bis spät Abends unberührt stehen lassen,
sondern fühlt sich fogar aufgelegt, mitRachmvtoff in recht
harmloser Weise zu discurireu, wobei er ihr beweist, daß die
Ansprüche aus eheliche Treue und die daraus entspringende
Eifersucht grenzenlos dumme nnd der fortschreitenden Mensch-
heit unwürdige Vorurtheile sind, weil ja darin die Idee liegt,
von dem Rechte eines Menschen die freie Willensäußerung
eines andern zu begrenzen.
Den persönlichen Fall Wsra's betreffend, ruft Räch-
meto ff voller Ueberzeuguug aus: „Warum in aller Welt
haben Sie sich so lange gequält! Wozu wegen einer solchen
Bagatelle (npn-pa TaKHKT> nyoTHKOBt, S. 311) all dieser
Lärm? Welche Weitläufigkeiten hat Ihnen das allen dreien
und besonders Ihnen selbst gemacht! Wie leicht wäre es
doch gewesen, ruhig weiter zu leben, wie Sie bereits ange-
fangen hatten, oder alle drei in dieselbe Wohnung zu ziehen
und, statt zu zweien, Ihren Thee zu dreien zu trinken. Und,
bei Lichte betrachtet, warum diese Aufregungen, diese unnütze
Katastrophe? Alles nur darum, weil Ihr Mann Sie nicht
gehörig vorbereitet hatte, und Sie, in Ihren alten irrthüm-
lichen Ansichten verharrend, zu sich selbst sagten: „es würde
ihn zu Tode kränken!" — Glauben Sie mir, Wsra Pav-
lovna, so gut er ist, hat Lopuchoss Ihnen gegenüber nicht
recht gehandelt, denn er hat Ihnen viel unnützen Kummer
bereitet, und Alles hätte ohne melodramatische Auftritte endi-
gen können."
Mit diesem siegreichen Satze nimmt Rachmotoss Ab-
schied vonWsra und zugleich vom Leser, denn er hat seiner
Aufgabe als blendendes Meteor der Zukunft, als Maßstab
für die Höhe der einstigen Entwicklung unserer Jugend ge-
nügt und kommt weiter in der Erzählung nicht vor.
Was Wsra Pavlovna betrifft, so reist sie wirklich den
folgenden Morgen ab, aber nicht nach Moskau, wie sie an-
fangs beabsichtigte. Sie bleibt in Novgorod, wo sieKir-
sanoff abwartet, der ihr mit den gerichtlichen Zeugnissen
über den Tod ihres Mannes nachfolgt, und mit dem sie —
gerade acht Tage nach der Katastrophe aus der Newabrücke —
sich trauen läßt.
Das Vorkommen alter
r. ä. Die große Aufmerksamkeit, welche Archäologen wie
Ethnologen den alten Steingeräthschasten untergegangener
Völkerschaften zuwenden, erstreckt sich seit Langem schon nicht
mehr auf unsern Erdtheil allein. Die merkwürdigsten Pa-
rallelen zwischen europäischen und asiatischen Funden sind
bereits nachgewiesen worden, und immer weiter dehnt sich
das Gebiet ans, in dem jene Urzeugeu menschlicher Thätig-
keit aufgefunden werden. Jetzt ist auch Britisch-Birma, das
untere Land des Jrawaddy, zu den Ländern hinzugekommen,
in denen alte Steingeräthe entdeckt worden sind.
Wo der Engländer von einem fernen Lande Besitz er-
greift, geht die Wissenschaft niemals leer aus, und mit preis-
Steingeräthe in Birma.
würdiger Schnelligkeit werden dann sofort geologische Auf-
nahmen veranstaltet. So auch seit einigen Jahren in Birma.
Eines der Aufnahmemitglieder, W. Theobald jun., hat bei
seinen geologischen Arbeiten auch dem Vorkommen alter Stein-
geräthe sein besonderes Augenmerk zugewandt und dabei in-
teressante Thatsachen zu Tage gefördert, die er im Juliheft
1369 der Proceedings of the Asiatic Society of Bengal
mittheilt. Die Ergebnisse seiner Forschungen aus diesem
Gebiete werden den Lesern des „Globus" willkommen sein.
Nicht nur die Form, sondern auch das Material der
alten birmanischen Steingeräthe ist, nach Theobald, sehr be-
merkenswerth, denn sie bestehen entweder aus Basalt oder
158 , Aus allen
einem gneißartigen Gestein. Dies ist auffallend, denn in
dem Gebiete, wo die Geräthe selbst gefunden werden, kommt
weder das eine noch das andere dieser Gesteine vor. Sie
sind daher wahrscheinlich aus Oberbirma eingeführt worden,
wo jene Felsarten sich finden. Auch in Birma herrscht,
gleichwie in verschiedenen europäischen Ländern, der Aber-
glaube, daß diese Stemgeräthe Donnerkeile seien. Die
Birmanen nennen sie auch so, nämlich Mo-gio, und brin-
gen sie mit dem Blitze in Verbindung. Wenn sie sehen,
daß ein Blitzstrahl irgend wo in den Boden einschlägt, stellen
sie einen irdenen Topf über die Stelle, von dem Wahne be-
fangen, daß im Laufe eines Jahres der Mo-gio durch eigene
Kraft aus dem Boden sich wieder herausarbeite und so in
den Topf gelange. Man schätzt diese Geräthe in Birma
sehr hoch, denn sie dienen dazu, um die Echtheit oder Güte
einer Waare, die verkauft werden soll, zu erproben. Ein
Stück Stoff zum Beispiel, dessen Güte man erproben will,
wird rund um den Mo-gio gewickelt und dann mit einer
Flinte darauf gefeuert. Bleiben Stoff und Steingeräth uu-
verletzt, so ist die Waare echt und gut.-' Indessen wird hier-
bei nicht bemerkt, ob Käufer oder Verkäufer den Schuß ab-
feuern. Ferner glaubt man, daß der Besitz eines Mo-gio
unverletzlich mache; er dient also als Amulet. Um die Echt-
heit des Mo-gio selbst und seinen himmlischen Ursprung
nachzuweisen, haben die Birmanen ein besonderes Verfahren.
Man legt ihn nämlich, von Reis umgeben, auf eine Matte.
Ist er echt, so wagt kein Geflügel oder anderes Thier von
dem Reis zu fressen. Ferner, wenn man mit dem Stein-
geräth eine Banane fällt, so wird sie, falls das Geräth echt
ist, absterben und nicht, wie gewöhnlich, frische Schößlinge
treiben. Ein echter Mo-gio bewahrt vor Feuersbrunst und
besitzt große medicinische Eigenschaften, denn ein kleines ab-
geschlagenes und pulverisirtes Stückchen davon heilt, innerlich
eingenommen, alle Entzündungen der Eingeweide, eben so
Augenkrankheiten. Wer denkt dabei nicht an den deutschen
Aberglauben, daß der Besitz von Donnerkeilen vor dem Ein-
schlagen des Blitzes bewahrt, daß sie den herannahenden
Sturm anzukündigen vermögen, daß sie gut gegen Krankheiten
bei Menschen und Thier sind, eingegeben die Milch der Kühe
vermehren und der Kreisenden die Geburt erleichtern?
Theobald — wohl ein Sohn des 1869 verstorbenen hes-
fischen Geologen — unterscheidet verschiedene Arten von
Steingeräthen in Birma. 1) Ein rohes, starkes, keilsörmi-
gcs Instrument, das den Feuersteinäxten der dänischen Kjök-
kenmöddinger gleicht. Diese Form ist sehr selten. 2) Ein
Beil mit flachen Seiten, die nach der viereckigen Basis hin
stärker werden. Die Schneide ist halbkreisförmig. Diese
sehr häufige Form gleicht den deutschen Aexten. 3) Eine
lange Axt mit viereckigen, leicht couvergirenden Seiten und
einer schief abgeschnittenen, halbkreisförmigen Schneide. Die-
fes Geräth gleicht sehr den auf Java, Borneo und Sumatra
gefundenen Steininstrumenten. 4) Geräthe von demselben
Charakter, was die Seiten und die Schneide betrifft, doch
am dicken Ende mit einem Vorsprung beiderseits versehen,
der kürzer oder länger hervortritt und dem ganzen Jnstru-
meut dann ein ^förmiges Ansehen giebt. Die Geräthe mit
kürzeren Vorsprüngen sind die häufigsten; sie sind Birma
eigentümlich.
In einigen Fällen waren an diesen Gerätschaften noch
die Stelleu zu erkennen, an welchen die Bänder angebracht
waren, mit denen man sie an die Stiele befestigt hatte. Was
den Fundort anbetrifft, so hat man sie bisher auf der Ober-
fläche der Hügel, in den Feldern, in Rodungen, niemals in
den Alluvialebenen entdeckt. Theobald zweifelt daran, daß
diese Instrumente zur Ausrodung der Urwälder gedient hät-
ten, zu deren Beseitigung man wohl Feuer angewandt haben
dürfte. Haben die Instrumente also nicht zum Fällen von
Bäumen gedient, so sind sie, nach Theobald, als Handacker-
Werkzeuge benutzt worden, vielleicht um damit die Löcher zu
graben, die bei derCultur des „Bergreises" ausgehöhlt wer-
den. Indessen dem widerspricht, daß sie fein abgeschliffen
und polirt sind, was für ein einfaches Erdwerkzeug nicht
nöthig war. An die Jagd zu denken, erlaubt die Form
nicht; eher könnte man sich mit dem Gedanken befreunden,
eine Kriegswaffe vor sich zu haben. Theobald will übrigens
mit seiner neuen und höchst dankenswerthen Mittheilung nur
anregen. Seine Bemerkungen sind, wie er schreibt, „merely
tentative and designed to elicit additional infor-
mation."
Aus allen
Verwälschte Ortsnamen im Elsaß und Deutsch-
Lothringen.
(Von einem Elsässer.)
Bereits vor mehreren Jahren habe ich in einer deutschen
Zeitschrift die Behauptung aufgestellt, daß „jede gewaltsame Ro-
manisirung des Rheinthales jener Kürbisstaude gleiche, die in
einer Nacht sich entfaltete, aber schon den Keim des Verderbens
in sich trug." So oft sich das deutsche Volk mit vereinten
Kräften erhob, wurden die Zwingburgen wie mit eisernem Besen
hinweggefegt, und der Einfluß der Muttersprache vollendete die
geistige Eroberung des wiedergewonnenen Grenzlandes. Auch
die fremdklingenden Ortsnamen mußten sich unter das Joch des
Siegers beugen, und so wurden Caesaris Castellum in Käs-
kastel, Möns Calvus in Mondkalb, Tabernae in Zabern
verwandelt. 1
In dem Sprachenkampfe, der sich zwischen den germanischen
und den romanisirten Stämmen erhob und sich von den Mün-
dungen der Schelde bis zu den „wälschen Konfinien" Südtyrols
Erdtheilen.
ausdehnte, wurde das deutsche Wesen während dreier Jahrhun-
derte zurückgedrängt. Viele Ortschaften im Wasgau und im
Moselthale tragen den Stempel der französischen Herrschaft, und
man muß sich oft auf die altdeutschen Chroniken und Urkunden
berufen, um den Abkömmlingen der Allemannen sagen zu kön-
nen: „Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist."
Die französische Verwaltung suchte sich die deutschen Orts-
namen mundrecht zu machen, indem sie dieselben übersetzte oder
verstümmelte. Ortsnamen, die in der deutschen Geschichte einen
guten Klang haben, wie Staufen und Bretten, mußten im
oberrheinischen Departemente Bretagne und Etueffont heißen.
So erschuf sich die Beamtenwelt im schönen Elsaß eine Basse-
Suisse (Nieder-Sulzbach), eine Bourgogne, eine Cham-
pagne u. s. w. Oft erinnert ein charakteristischer Beiname an
den deutschen Ursprung eines Dorfes, wie zum Beispiel Au-
dun-le-Tiche (Ditsch-Altheim), Meix-le-Tige, Allemand-
Rombach. Im Munde des Volkes heißen die Dörfer Eteim-
bes und Gronne noch immer Wälsch-Steinbach und Wäl-
schengrün. Wir wissen nicht, ob in dem Namen Plaine-des
Aus allen
Velches (Plintenwald oder Blindenwald) sich ein Spiel
des Zufalls oder die neckische Stammeseifersucht kundgiebt.
Das seit der Schlacht von Wörth so oft genannte und in
den französischen Zeitungen so wunderlich verstümmelte Dorf
Reichshoffen durfte seinen ehrlichen Namen beibehalten, wäh-
rend die lothringische Namensschwester Rechicourt. getaust wurde.
So verschonte man die Stadt Thann, während die westwärts
gelegenen Ortschaften Tännchen und Tannenkirch (Sanct-
Annenkirch) Tenquin und Danville heißen mußten. Pfeffin-
gen und Pfeffershausen standen als Phafi'ans und Perouse
von diesem Prokustesbette auf, während Pfaffenhoffen im
Unterelsaß jeder Verstümmelung entging. Neuweiler wurde
durch leise Striche in Neuviller und jenseits der Vogesen in
Novillard verwandelt. Die deutsche Endung Weyer läßt sich
noch in Riquevir (im Volksdialekte Richewihr) erkennen, ver-
schwindet aber in Aubure (Altweier) und Yoyer.
Dieselben Abstufungen finden sich in den Namen La Bro-
que (Vorbrück), Brechaumont (Bruckenweiler) und Pon-
tigny (Nidbrück),- in den Ortschaften Netzerwisse (Wiese),
Wezet utü> Yezelois (Wieswald). Die Endung stadt blieb
in Seiestadt unversehrt, während Lünstadt in Luneville um-
gewandelt wurde. Schönberg hieß man im Elsasse Schoen-
bourg, im Steinthale Belmont.
In den Hochthälern des Wasgaus und auf der lothringi-
fchen Hochebene wohnt eine romanisirte Bevölkerung, welche nicht
zu den germanischen Tribokkern, sondern zu den keltischen Se-
quanern und Mediomatrikern, nicht zur Germama prima, son-
dern zur Gallia lugdunensis gehörte. Hier wurde dem Ein-
flusse der allemannischen Einwanderung, der oberdeutschen Reichs-
städte, der Reformation und der deutschen Schriftsprache ein
passiver Widerstand entgegengesetzt. Hier herrschte eine babylo-
nische Sprachverwirrung, bei welcher die deutsche Endung bach
den eigentümlichen (heckenwälschen) Formen rupt und goutte
weichen mußte, z. B. Fertrupt statt Fortelbach, Renrupt
statt Roschbach, Foru statt Starkenbach, Riangoutte statt
Ringelsb ach, Guirligoutte statt Wagenbach, was uns auch
den wunderlichen Namen des Dorfes Meisengott erklärt.
Die methodische Romanisirung der deutschen Ortsnamen
wurde durch die zunehmende Verschlechterung des allemannischen
Dialekts befördert. Die Endsilbe dorf ist noch in Albestroff
zu erkennen, verschwindet aber völlig in Bouzonville (Busen-
dorf), Levancourt (Lubendors) und Courtelevant (Hebst-
dorf). Durch ein Mißverständniß wurden Ammersweiler
(Amalrichsweiler) in Mariville, Leberthal in Yal de Lie-
pvre, Hanf in Lehang verwandelt, während Gerütte und
Lützelstein ganz richtig^durch Neubois und La-Petite-Pierre
übersetzt wurden.
Die Endung in gen findet sich noch in den Ortsnamen
Heining, Lorquin (Lörchingen), Huningue, Eguenigue
(Egelingen), Creange (Kriechingen), Hayange (Hagen-
ding en); sie verliert aber gänzlich ihre deutsche Physiognomie
in Besoncourt (Bussingen), Meroux (Mörlingen) und
Vetreigne (Würteringen). Wer würde noch das trauliche
Wort heim in Bouquenom, Wasselonne, Obernai und
Cernay (Sennheim) erkennen?
Einzelne Dörser, wie Besenmühle (Besemille) und Stei-
gen (Steige), entgingen ziemlich glücklich der Alles nivellirenden
Eensur. Aber die rauhklingenden Gutturallaute Zyllhardt,
Miserach und Waibelskirchen mußten in den weicheren
Formen Surlatte, Mesire und Varize eine sranzösische Fär-
bung annehmen. Ein oberrheinisches Gebirgsdorf hieß im Mit-
telalter Sanct-Acherich, nach der Reformation Eckkirch und
unter der französifchen Herrschast Echery. Es wird nun wohl
im deutschen Reiche den Namen Escherich erhalten, welchen ihm
der Volksmund schon gegeben hat.
Man sieht, daß die Elsässer in alter, ehrlicher Anhänglich-
keit für ihre bisherige Herrschaft sich bemüht haben, ihren Orts-
namen wie ihrem deutschen Gesichte eine fremde Maske anzu-
passen. Man lasse immerhin unsere Landsleute unter dem Da-
Erdtheilen. ' 159
moklesschwerte des Belagerungszustandes begeistert für „den
Schulfaber" (Jules Favre) stimmen und unsere Jünglinge Ber-
trand's Abschiedslied in deutschem Accente absingen. Untreue
gegen den gedemüthigten Heerführer wäre ja ein „Nidingswerk"
in den Augen unserer allemannischen Vorfahren gewesen. Wer
als Deutscher ein so guter Franzose werden konnte, hat auch
das Zeug, wieder ein guter Deutscher zu werden.
S —d.
Verbreitung der Anthropophagie.
Richard Andree giebt in den „Ergänzungsblättern" eine sehr
ausführliche Zusammenstellung über diesen Gegenstand. Das
Resultat feiner Untersuchung ist folgendes:
„Die Beweggründe, welche wir als eine der scheußlichsten
Verirrungen kennen lernten, sind nach dem Gesagten sehr ver-
schiedener Natur. Neben rein sinnlichem Genuß, neben Hunger,
veranlaßt durch Mangel anderweitiger Fleischnahrung, spielen aufs
Höchste entflammte Leidenschaften, Rache und Haß, dann reli-
giöse Vorstellungen und finsterer Aberglaube ihre Rolle. Tröst-
lich aber ist es zu sehen, daß in geschichtlicher Zeit die Anthro-
pophagie mehr und mehr verschwunden ist?, während wir nur
einen einzigen Fall von einem neuen Austauchen derselben bei
einem Volke (den Bassuto) zu verzeichnen hätten, dem sie bisher
unbekannt gewesen war. Verschwunden ist sie mit diesen selbst
bei den Irokesen und Algonkinern, verschwunden bei dem Volke
der Hochebenen von Anahuac und den Indianern Perus, ver-
schwunden bei den meisten brasilianischen Stämmen. Endlich
wird sie in der Südsee mehr und mehr verdrängt, wo sowohl
das Aussterben der Eannibalen selbst, als auch das Vordringen
der weißen Ansiedler die Anthropophagie wesentlich beschränken.
Noch immer aber ist die Zahl der Eannibalen eine ganz
ansehnliche. Die folgenden Ziffern können natürlich nur an-
nähernde sein, aber immerhin geben sie einen AnHaltepunkt sür
die Kopfzahl der Anthropophagen überhaupt. Es zählen näm-
lich die Battas (nach Friedmann) 200,000 Seelen, die Eanni-
balen im Nigerdelta etwa 100,000, die Fan (nach Fleuriot
de Langle) 80,000, die Höhlencannibalen im Bassuto-
lande (der zehnte Theil der Gesammtbevölkerung) 10,000, die
Niam-Niam etwa 500,000, die Miranhas und Mesayas
(nach Marcoy) 2000, die anderen südamerikanischen Eannibalen
1000, die Eingeborenen Australiens 30,000, dieMelanesier
(Neuguinea nicht inbegriffen) 1 Million. Danach ergiebt sich
1,943,000 als Gesammtzahl der heute noch der Anthropophagie
ergebenen Menschen, eine Zahl, die keineswegs übertrieben ist,
die aber immerhin noch den 690. Theil der Gesammtbevölkerung
unseres Planeten oder 0,14 Procent darstellt."
Die Erforschung des Pereneffusses in Peru.
r. d. Der Perene entspringt in der Nähe der Stadt Tarma
im peruanischen Departement Junin, fließt in nordöstlicher Rich-
tung und bildet vereinigt mit dem Pangoa den Unini, einen
linken Nebenfluß des Ucayali. Im verflossenen Jahre nun hat
die peruanische Regierung eine Expedition ausgesandt, um den
Perene in Bezug auf seine Schiffbarkeit, das umliegende Land
auf feine Hülfsquellen zu untersuchen. Man fand den Fluß 3
bis 5 Faden tief und 100 Ellen breit. Das Flußthal ist be-
wohnt von den wilden und feindlichen Chunchamayo-Jn-
dianern, die, nach den Padres Amich und Sobrevista, zum
Stamme der Amayos gehören. Sie gebrauchen Bogen und
Pfeile und waren über die Wirkungen der Feuergewehre sehr
entsetzt. Ihre Dörfer sind sehr zahlreich. Hauptsächlich beschäf-
tigte die Expedition sich mit der Ausfindung des Cerro del Sal,
des Salzberges, von dem die Indianer ihr Salz holen. Man
fand im Sandstein eine angeblich zehn englische Meilen lange
Salzader, die an der Oberfläche mit Quarz vermischt war,
beim Tiefergraben aber an Reinheit zunahm. Man beobachtete
Cacao- und Maispflanzungen, dann Fifcherhütten und Geräthe
160
Aus allen Erdtheilen.
zum Fangen und Einsalzen der Fische. Sonst trocknen die
Indianer im Amazonasgebiete gewöhnlich nur ihre Fischvorräthe.
Höchst auffallend war ein Eifenschmelzofen von quadratischer
Form, der zwei Ellen hoch war, fünf Fuß im Durchmesser hatte
und aus 18zölligen Ziegeln erbaut war. Er wurde mit dop-
pelten Blasebälgen, mit Kohlen, Holz und zerstampftem Erze
betrieben. Man fand 20 bis 30 Centner Gußeisen. Jedenfalls
ist hier ein europäisches Vorbild anzunehmen, denn von selbst
sind bekanntlich die amerikanischen Indianer nie auf den Ge-
brauch des Eisens verfallen, obwohl die alten Azteken ein Wort
für dasselbe besessen haben sollen. Wir berichten das Vorstehende
nach einem kurzen Artikel von Hyde Clarke in der englischen
Zeitschrift „Nature".
Aankeestil in Schrift und Rede.
Nordamerika hat Schriftsteller, deren guter Stil gelobt wer-
den muß, z. B. Bancroft, Prescott, Bayard Taylor, Motley
und manche Andere. Andererseits aber finden wir sehr oft eine
merkwürdige Geschmacklosigkeit; man sucht etwas in neuen, zu-
meist sehr unglücklichen Wortbildungen, welche man für erhaben
hält, die aber manchmal einen widerwärtigen, manchmal einen
geradezu komischen Eindruck machen. Wir könnten eine reiche
Aehrenlese wunderlicher Stilproben geben, wollen aber hier nur
zwei Schreib- und Redeblumen mittheilen, welche wir in der
eben vor uns liegenden Nummer der „Newyork Tribüne" vom
15. Februar finden.
Das Blatt erwähnt eines „Sehers des Spiritualisten", wel-
cher in einer der vielen „spirituellen" Zeitschriften, mit welchen
Amerika gesegnet ist, der Welt verkündet, was sortan die „große
Ausgabe" sei. Sie bestehe darin, die „gesammte Menschheit ver-
mittelst einer neuen religiösen Andacht zu enthusiasmiren, die
Wahrheit zu entdecken, und wenn der Weg dazu nicht bekannt
sei, diesen Weg zu entdecken. Wir unsererseits widmen uns der
Entdeckung des Entdeckers der Entdeckung (to the discovery
of the discovery of the discovery). Ja, die hieroph an-
tischen Seelen werden hinabfahren auf den pittores-
ken Vistas des Protoplasm (Urbildes) nach der Küste
der Anagogien" (der Extafen).
Die Anzahl der „Spiritualisten" in Nordamerika wird auf
mehr als .800,000 „hirnverbrannte Schädel" 'angenommen.
Unsere Leser werden mit uns darüber einverstanden sein,
daß nachstehendes Probestück parlamentarischer Beredtsamkeit in
seiner Art geradezu meisterhaft ist. Zu Indianapolis im Staate
Indiana wurde in der gesetzgebenden Versammlung über den
Bau einer Landstraße verhandelt und ob dieselbe mac-
adamisirt oder mit Kies beschottert werden solle. Ein
junges Mitglied benutzte diesen großartigen Vorwurf, um seine
Jungfernrede zu halten. In derselben heißt es:
„Das amerikanische Volk, — und wahrlich, wir sind stolz
darauf, daß wir uns amerikanisches Volk nennen, — ist wie
ein Fels hingestellt in den Busen der beiden gewaltigen Oceane,
deren granitstarrende Küsten angeweißt werden mit den wallen-
den Segeln der Handelswelt. Dieses Volk reicht von den durch
Eis überfesselten Seen des Nordens bis zu den fieberschwangeren
Wellen der australischen Meere und umfaßt den weiten Zwi-
schenraum (the vast interim) von fünf Billionen Acres, deren
alluviale Ebenen, romantische Berge und geheimnißvolle Ströme
Trotz bieten den wildesten utopischen Träumen, welche jemals
einen begeisterten Barden umwallten, wenn er auf den ama-
ranthinen Promenaden der hesperifchen Gärten fpazieren ging.
So ist Columbia, das stolze, das Land der Freien und die Hei-
math der Braven!"
Im Englischen liest sich dieser Bombast gar erheiternd:
„Reaching from the ice-fettered lakes of the North, to
the febrile waves of Australian seas, comprising the vast
interim of five billions of acres, whose alluvial plains,
romantic mountains and mystic rivers rival the -wildest
Utopian dreams that ever gathered around the inspired
bard, as he walked the Amaranthine promenades of Hes-
perian gardens etc." Zu solcher sublimen Höhe der Begei-
sterung kann der Bau eines Kiesweges einen Redner aus den
Prairien des Westens emporreißen!
Das Eisenbahnsystem in Ostindien.
Dasselbe umfaßt gegenwärtig etwa 5000 Miles. Die East-
Jndiabahn zieht am Ganges aufwärts von Calcutta nach
Delhi, etwa 1000 Miles. — Die „Great Jndia Peninsular"
steht mit derselben bei Allahabad in Verbindung, etwa 500 Mi-
les oberhalb Calcutta, durchzieht das Plateau des Dekhan, geht
abwärts durch Concan und weiter nach Bombay. Dieses steht
also mit Madras in Verbindung; Länge 1266 Miles. Es war
sehr schwierig, diese Bahn von Bombay nach Madras über das
Ghatsgebirge zu führen und die Arbeit nahm volle sieben Jahre
in Anspruch. — Die Madras-Bahn zieht quer durchs Land
von der Coromandelküste nach Beypur an der Malabarküste,
825 Miles. — Die Bombay-, Baroda - und Central-Jn-
dia-Bahn geht nördlich von Bombay nach Guzerat hinein,
312 Miles; soll andererseits durch Radschputana nach Delhi
fortgeführt werden. — Die Pendschab-Bahn, 566 Miles,
geht von Delhi nach Lahore und von dort westlich bis Multan,
von wo die Dampffchifffahrt beginnt. Unten am Indus läuft
die Scinde-Bahn nach dem Seehafen Karratschi, 109 Miles.—
Von Calcutta ab geht die Ostbengalische Bahn nordöstlich,
159 Miles, und die Südostbahn, 29 Miles. — Die süd-
indische Bahn, 168 Miles, verbindet Madras mit Negapa-
tam; sie soll über Madura und Tinnevelly bis Travancore wei-
ter geführt werden.
q- * *
— Durch Aufhetzungen der altmoskowitifchen Partei ist eine
Anzahl von Letten beredet worden, ihre Heimath in den bal-
tischen Herzogtümern zu verlassen und ins Innere Rußlands
zu ziehen. Sie ließen sich im Gouvernement Simbirsk nieder,
wo sie sich nun in der unerquicklichsten Lage befinden, zu wel-
cher die nichtswürdige Zwangsproselytenmacherei der Baptisten
viel beiträgt. Die zu Simbirsk erscheinende Zeitung schreibt:
„Das Unglück der Letten rührt nicht von den Russen her, die
ihnen nach Kräften beigestanden haben, sondern von den Bap-
tisten, welche das Gut verwalten, und vom Aeltesten. Sie
nöthigen die Letten, Wiedertäufer zu werden und die-
Wenigen, welche das nicht thun wollen, setzen sie ins
Gefängniß und peitschen sie mit Ruthen. Von den
Punkten des in Mitau abgeschlossenen Contractes wird kein ein-
ziger ausgeführt; das ganze Inventar ist ihnen fortgenommen
worden. Wenn man die Letten wegen des Getreides in das
Wolostgericht ruft, peitscht man sie mit Umgehung jedes Ge-
richts ohne Ende. Es sind unerhörte Grausamkeiten, und es
wäre sehr zu wünschen, daß die schriftlich angeklagten Personen
officiell gerechtfertigt würden."
— Wir erfahren, daß auf der Messe zu Nischni Nowgo-
rod 1870 zum ersten Male auch Chinesen erschienen sind. Es
waren ihrer fünf und sie kauften von einem russischen Handels-
hause für mehr als 200,000 Rubel Wollentuch, außerdem aber
noch eine beträchtliche Quantität Plüsch.
Inhalt: Gletscherbilder aus den Alpen. (Mit neun Abbildungen.) — Der Erfolg der Missionen und der Missionäre. —
Aus der Literatur des Nihilismus. Von K. D. Schedo-Ferroti. (Fortsetzung.) — Das Vorkommen alter Steingeräthe in
Birma. — Aus allen Erdtheilen: Verwälschte Ortsnamen im Elsaß und Deutsch-Lothringen. — Verbreitung der Anthropophagie —
Die Erforschung des Pereneflufses in Peru. — Yankeestil in Schrift und Rede. — Das Eisenbahnsystem in Ostindien. — Verschiedenes
Hcr.iusgcgeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
^ »w« n
Band XIX.
'^i,
j? 11.
MLt besonderer Herücksicktigung äer Antkroyologie unä Gtknologie.
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von'
Karl Andres.
Äpnl Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1871.
Wir machen die geehrten Abonnenten des Globus darauf aufmerksam, daß wenn ihnen unsere Zeitschrift
in der lehtvergangenen Zeit hin und wieder unregelmäßig zugegangen ist, der Grund lediglich in den noch immer
andauernden Störungen des Eisenbahnbetriebes liegt, Verzögerungen in der Expedition haben niemals stattgefunden.
Nach Wiederherstellung des regelmäßigen Betriebes der Eisenbahnen wird die Zusendung mit der frühern
Promptheit wieder erfolgen können.
Braunschweig, im April 1871. Friedrich Vieweg und Sohn.
Schweizer Bilder.
Vor nun einhundert Jahren konnnte der Dichter Haller
mit Recht sagen, „daß kein Rad über die schweizer
Alpen gehe". Die Heerführer wie die Kaufleute in den
Zeiten des Alterthnms überschritten das Hochgebirge nur mit
großen Anstrengungen und Gefahren auf engen, steilen Pfa-
den. Was würde heute Marius sagen, wenn er mit seinen
Legionen über den Mont Cenis zöge, was Jnlius Cäsar,
wenn er über den großen Sanet Bernhard ginge? Die
Pässe, welche wir gegenwärtig in den Alpen überschreiten,
wurden auch im Mittelalter allesanuut benutzt; über sie führte
der Weg zwischen Wälschland und Deutschland, über sie gin-
gen die Römerzüge der deutschen Kaiser, wanderten die
Mönche und die Handelsleute, deren Güter nur aus Saum-
thieren befördert werden konnten. Namentlich ist der Splü-
gen auch heute noch eine „Lombardenstraße"; der Weg über
ihn führt nach Mailand. Die Straße über den Brenner
konnte mit Mühe uud Noth befahren werden, seit 1726 auch
jene über den Semmering. Damit war der Verkehr nach
dem Venetianischen und zum Adriatischen Meer einigermaßen
erleichtert; in den weiter nach Westen sich erhebenden Alpen-
Globus XIX. Nr. II. (April 1871.»
zügen verfloß aber noch eine geraume Zeit, bevor man daran
ging, die Gebirgspässe wegsamer zu machen; man blieb bei
dem alten, herkömmlichen Brauche, die Wagen dort, wo der
Pfad nicht ferner zu befahreu war, aus einander zu nehmen
und sie auf dem Rücken von Saumthieren auf die andere
Seite des Gebirges hinüber zu schaffen.
Zur Herstellung guter, fahrbarer Wege gab aber nicht
der Handel, sondern der Krieg den Anstoß. Als Bonaparte
deu Simplon für Fuhrwerk wegsam machen ließ (1801),
drang er auf die äußerste Beschleunigung, und fragte mehr
als einmal ungeduldig, wann die erste Kanone über die
Alpen geschafft werden könne? Als der großartige Bau
vollendet war, ließ Napoleon auf mehreren anderen Alpen-
Pässen Wege herstellen; andere Regieruugeu folgten, und
heute sind mehr als ein Dutzend Straßen zu benutzen (Sem-
meriug, Brenner, Stilsser Joch, St. Julier, Septimer, Gott-
hard, Splügeu, Simplon, Mont Cenis :c.), und einige
derselben bereits mit Schienenwegen versehen: Semmering,
Brenner, Mont Cenis, während die Eisenbahn über den
Gotthard demnächst in Angriff genommen werden soll. Ueber
21
Schweizer Bilder.
den Mont Cenis gingen vor Eröffnung der Bahn jährlich
an 20,000 Wagen und mehr als 30,000 Pferde und Maul-
thiere auf der fahrbaren Chaussee. Auch diese war wesent-
lief) zu Kriegszwecken schon durch Marschall Catinat 1691,
allerdings mangelhaft, angelegt worden; Napoleon ließ sie
1802 in eine regelrechte Kunststraße von 13 Fuß Breite
verwandeln.
Die Straßen über die Alpen sind Triumphe des Unter-
nehmnngsgeistes und der Baukunst, „des menschlichen Ber-
standes und eiserner Ausdauer". Siesteigen insgemein dem
Laufe der Flüsse entgegen, z. B. jene über den St. Gotthard
der Reuß und dem
Ticino; die über den
Bernhardin dem
Rhein und der Mos-
sa; über dasStilfser
Joch der Etsch und
der Adda :c. Sie
führen durch enge
Felsenschluchten, über
Abgründe, welche
überbrückt werden
müssen, an vorsprin-
genden Felsen hin,
welche man hinweg-
zusprengen hat, ma-
chen zahlreiche Zick-
zacke und haben hau-
sige Windungen, so-
genannte Kehren,
welche wie Etagen
über einander liegen.
Bemerkenswerth sind
unter diesen nament-
lich jene auf der süd-
lichen Abdachung der
Gotthardstraße im
Val Tremola, das
einen sehr steilen Ab-
fall hat. Wer von
Airolo hinaufsteigt,
dem kommt es so vor,
als ob er das Ende
dieser Windungen gar
nicht werde erreichen
können; denn unauf-
hörlich wachsen neue
mit Schutzsteinen ver-
sehene Mauervor-
sprünge aus der steil
emporsteigenden Hal-
de heraus, und man
hat nicht weniger als
sechsundvierzig sol- Mittlere Brücke
cher Windungen zu-
rückzulegen, bevor man dos Hospiz erreicht. Derartige Keh-
ren hat in beträchtlicher Menge auch der Bernhardin gegen
das Dorf Hinterrhein zu, das Stilsser Joch vom Dorfe
Trafoi abwärts und der Splügen auf beiden Seiten.
Nicht selten stellt sich der Straße auch ein Querthal als
Hinderniß entgegen, welches nicht zu überbrücken ist und des-
halb umgangen werden muß. So hat z. B. bei der Ganther
Schlucht am Simplon die Straße wenigstens eine Stunde
weit nach Osten hin einzubiegen, um den Uebergangspunkt
der Ganther Brücke zu gewinnen. Sehr nothwendig war
an vielen gefährlichen Stellen die Errichtung von Zuslnchts-
Häusern, in welchen die sogenannten Rutner oder Canton-
niers wohnen, um erforderlichen Falles den Reisenden Hülse
zu bringen. Diese Häuser sind namentlich in solchen Ge-
genden erbaut worden, welche durch Schneestürme und La-
wüten Gefahr bringen. Der Wanderer findet in ihnen Holz,
um sich an einem Feuer die erstarrten Glieder erwärmen zu
können, vielleicht auch Brot, und Heu für seine Thiere.
Manche Alpenstraßen wären im Winter und Frühjahr
kaum zu Passiren, wenn nicht die Gallerten Schutz böten.
Manche derselben sind eigentliche Tunnels, andere dagegen
künstlich ausgemauerte, gewölbte Gänge mit Oeffnnngen, die
man mit Schießschar-
ten vergleichen kann.
Sie schützen an nn-
sicheren Stellen den
Wanderer vor Ver-
schütten durch die
Grundlawinen, weil
diese über den festen
Bau mit ihren, wenn
auch noch so furcht-
baren Sturzschlägen
hinab in die Tiefe
wettern. Falls die
Gallerien an ihren
Ausgängen etwa
durch Schneewehen
verstopft werden,
bringen die Rutner
Hülfe; sie dnrchbre-
chen den Schnee und
eröffnen so Gänge.
Manche Gallerien,
z. B. die Kaltwasser-
gallerie auf dem
Simplon, sind ange-
legt worden, um die
Verggewässer abzu-
lenken, welche ohne
sie auf die Straße
herabschießen wür-
den, anch schützeu sie
im Frühjahr gegen
die Eiszapfen, welche
sich während des
Winters gebildet ha-
ben und oft eine ko-
lossale Mächtigkeit
erreichen; sobald das
Wetter warm wird,
lösen sie sich ab und
schmettern mit gewal-
tiger Kraft in die
der Via mala. Tiefe. Unter den
Schutzgallerien ist
die All' aque rosse genannte die längste. Sie befindet sich auf
der Splügenstraße und hat eine Ausdehnung von 1530 Fuß.
Die Anhäufungen des Schnees werden mit der wachsen-
den Höhe des Berges immer ungleicher. Während einzelne
Stellen ganz kahl sind oder eine nur leichte Decke haben,
werden an anderen Stellen ungeheure Massen zusammen-
geweht. Gegen Ende des Winters trifft es sich oft, daß der
Weg, welcher über Schneelagen von 6 bis 10 Fuß führt,
dennoch zwischen 20 bis 30 Fuß hohen Schneemauern hin-
durchläuft. Die Rutner brechen dann nicht selten Gallerien
oder auch Tunnels durch solche Schueemassen. Diese bilden
Schweizer Bilder.
an manchen Punkten Uberhangende Vorsprünge, welche „gleich
kolossalen Dachtraufen" über das eigentliche Fundament oder
die Stützmauern frei hinausragen. Man muß sich hüten,
den scheinbar bequemern Weg zu wählen, welcher am äußer-
sten Rande hinführt, denn dort hat man buchstäblich keinen
Boden unter den Füßen und ist unrettbar verloren, wenn
Mann, Saumthier oder Wagen durchbricht. Alle solche
Schneebahnen sind gefährlich und treulos. Im Winter ist
der Weg bei tiefem Schnee nur für eine Schlittenbreite zwi-
schen den hohen Schneewällen, welche als Wände an bei-
den Seiten hinlaufen, geöffnet; aber man bringt die nöthi-
gen Ausweichestatio-
nen an, wo die von
der Höhe herabkom-
Menden Schlitten so
lange warten, bis die
von unten her kom-
Menden sich mit ih-
nen gekreuzt haben.
Manchmal wird aber
solch eine Schnee-
straße dermaßen auf
weiten Strecken ans-
gefüllt, daß selbst der
leichte Postschlitten
nicht weiter kann und
in irgend einem Hos-
piz oder Berghanse
so lange warten muß,
bis jene Strecken wie-
der fahrbar gemacht
worden sind. Ber-
lepsch erwähnt, daß
um Weihnachten
1859 vier Postschaff-
ner volle vier Tage
lang auf dem Gott-
hardhospiz die Oeff-
nung des Val Tre-
mola (Thal des
Zitterns) abwarten
mußten. Die fchwei-
zerische Eidgenossen-
schaft zahlt jährlich
mehr als 50,000
Francs allein dafür,
daß der „Schnee-
bruch" auf dem St.
Gotthard die Passage
nicht hemme; die
Rntner sind zu die-
sem Zwecke in nn-
unterbrochener Thä-
tigkeit. Cascade der Sallenche
Ihre Arbeit wird
in zwei große Hälften getheilt. Die erstere oder sogenannte
Fürleite hat nach starkem Schneefalle den ersten Durch-
bruch zu erzwingen. Der Fürleiter dringt mit einer An-
zahl starker Zugochsen vor dem Bahnschlitten in die Schnee-
masse hinein und zwar so, daß ein Thier vor das andere
gespannt wird; Pferde kann man nicht verwenden, weil sie
weit eher ermüden als Ochsen. Durch die auf beiden Sei-
ten in Angriff genommene Arbeit entsteht nur ein schmaler
Pfad, aber die Nutner gehen hinter dem Schlitten her und
schaufeln ans; eine andere Abteilung erweitert den Weg
und erhält ihn in fahrbarem Zustande. Die „Weger", mit
dem „Hauptweger" an der Spitze, haben eine allerdings
anstrengende und auch gefährliche Arbeit, sie kennen jedoch
alle Oertlichkeiten des Berges ganz genau, achten vorsichtig
auf Wind und Wetter und wissen den Lawinen fast instinct-
mäßig auszuweichen. Jedermann, ohne Ausnahme, wer-
den Berg überschreitet, beachtet genau die Rathschläge und
Mahnungen der Rutner.
Eine der frequeutesten Alpenstraßen ist jene über den
Splügen, welche von Chnr in Graubünden nach Chiavenna
führt, und auch im Mittelalter ist sie unaufhörlich stark benutzt
worden, doch ist sie bis zum Jahre 1818 nur Saumpfad
gewesen. Bei Thu-
sis am Hinterrhein,
2182 Fuß über dem
Meere, schiebt sich
ein mächtiger Ge-
birgswall vor, wel-
chen der Rhein in
einer fast meilenlan-
gen Spalte durch-
sägt hat. Am Ein-
gange der Schlucht
stehen die Ruinen
der Burg Realt
(Hohenrhätien). Am
Strom entlaug ist
der Weg höchst ge-
fährlich, deshalb ver-
ließ der eigentliche
Straßenzug dort das
Rheinthal und ging
über die Höhen, und
nur so konnten Men-
schen uud Waaren
zu den oberen Thä-
lern gelangen. Dies
war der sogenannte
gute Weg, jener nn-
ten im Thale, der
nur von geübten
Berggängern uud
Gemsenjügern betre-
ten wurde, der
schlechte Weg, und
der ganze Spalt: das
verlorene Loch. Man
machte übrigens im
Fortgange der Zeit
mehrere Versuche,
einzelne Theile des
Thalbodens wegbar
zu machen, aber eine
eigentliche Straße ist
im untern Rhonethale. erst seit 1822 dort
vorhanden und sie
führt heute noch auf den wildesten Strecken die Bezeichnung
der Via mala. An manchen Stellen liegt das Bett des
Rheins so tief und ist dermaßen zwischen steile und enge
Wände eingeklemmt, daß er unter diesen völlig verschwindet.
Bei solcher Bodenbeschaffenheit konnte man natürlich die
Straße nicht in der Tiefe anlegen, fondern nur den Wän-
den des Spaltes entlang; sie läuft bald auf der einen, bald
auf der andern Seite des Flusses, durch Höhlengänge, an
Vorsprüngen und Absätzen und am Abhang aus künstlichen
Manergewölben, dann auch über Brücken, unter Welchen der
Rhein in einer Tiefe von drei- bis vierhundert Fuß rauscht.
21*
Schweizer Bilder.
Nachdem man etwa zwei Stunden weit aufwärts gefahren
ist, erweitert sich die Schlucht zu beiden Seiten.
Unmittelbar hinter Thusis erheben sich die Felsenwände,
durch welche die Straße zieht, etwa eintausend Fuß hoch.
Das eben erwähnte verlorene Loch ist eine 216 Fuß lange,
durch das Gestein getriebene Gallerie. Weiterhin Uberwölbt
die erste Brücke den etwa 130 Fuß tiefen Riß im Gebirge.
Jenseit derselben läuft der Weg an Felsenwänden hin und
durchbricht das Gestein. So gelangt man zur Mittlern
Brücke der Via mala (siehe unsere Abbildung), unter
welcher der Rhein in einer Tiefe von nahe vierhundert Fuß
hinrauscht. (S. 162.) Die Leute in Graubünden erzählen und
die Reisehandbücher melden, daß am 27. August 1834 nach
einem heftigen Ge-
witter der Fluß der-
maßen angeschwellt
worden sei, daß sein
Wasser bis dicht nn-
ter den Brückenbogen
reichte; das noch jetzt
in der obern Fels-
spalte steckende Holz
bezeichnet die Wasser-
höhe. Bald nachher
gelangt man an die
dritte Brücke und da-
mit ans Ende der
eigentlichen Via ma-
la; die Entfernung
von Thusis bis dort-
hin beträgt, wie
schon gesagt, gegen
zwei Stunden. Die
Straße führt dann
weiter durch das
Schamser- und das
Rheinwaldthal nach
dem Dorfe Splü-
gen (4448 Fuß),
wo sich zwei große Al-
penstraßen trennen;
nur die eine Straße
führt über den Splü-
gen nach Chiavenna
'(Paßhöhe 6510 Fuß
über dem Meere),
die andere über den
Bernhardin nach Bel-
linzona.
Unter den Was-
sersällen der
Schweiz wird jener
der sogenannten Pisse Bache alljährlich von vielen Tausend
Wanderern besucht. Diese Cascade liegt im untern Rhonethale
und wird von der S allen che gebildet. (S. 163.) Der Felsen-
körper, über welchen er herabrauscht, ist zackig-zersprengt uud
bildet mehrere Terrassen; über diese ergießt er sich in wollig
runder Masse. Er bildet mit den vielen kleinen Neben-
cascaden, welche in unzähligen Strahlen plätschernd, hüpsend
oder steil abfallend den Katarakt umgeben, ein bewegtes Bild,
welchem jedoch eine bunt geschmückte Umgebung fehlt. Ber-
lepfch, welcher auch von deu Wasserfällen der Schweiz eine
vortreffliche Schilderung entworfen hat, rechnet ihn unter die
„garnirten". Es giebt nämlich eine vollständige „For-
menscala von Alpenwasserfällen". So bildet der Fall des
„Hinterrheins in der Roffla, zwischen Via mala und
Splügen in Graubünden, welcher steil -treppensörmig sich
herabsenkt, eine „Iäh-Cascade"; — der Fall derReuß
unter der Teusels brücke auf der Gotthard-Straße eine
„flach-geneigte Cascade".
Diese Brücke wölbt sich in einer Höhe von 95 Fuß über
der Reuß in einem kühn gespannten Bogen; sie ist im Jahre
1830 nengebaut worden. Das Felsenbett ist so eigenthüm-
lich abgebrochen und ausgewaschen, daß der im Fallen zer-
spritzende Fluß fortwährend große wässerige Staubwolken über
die gleichsam jagenden Massen dahin sendet. Als durch-
sichtige Nebelkugeln wallen sie auf und ab und gewähren bei
Sonnenschein ein herrliches, prismatisches Farbenspiel. Der
Fall erzeugt eine
starke Luftbewegung,
einen Windstrom,
welcher alle Gebirgs-
wände berührt, zu-
rückprallt, sich über-
schlägt und den aus
dem Sturz ausdam-
pfeuden Wasserstaub
hoch aufwirbelt, hin-
abdrückt oder gegen
die Felsen schleudert.
So erhalten diese nn-
ablässig einenSchlag-
regen, triefen un-
anfhörlich und er-
glänzen bei heiterm
Himmel wie geschlis-
sene Flächen. „Wenn
nnn der Sonnen-
schein in diese dämo-
nisch in der Lust her-
umgeworfenen Was-
serdämpse fällt, dann
ist es, als ob die
Farben einen lnfti-
gen Reigentanz hiel-
ten; Regenbogen
schlingen Ketten in
einander, übersprin-
gen sich, zerfließen
in einen großen, ge-
meinsamen, Prisma-
tischen Knäuel. Aber
im nächsten Augen-
blicke entwirren sie
sich wieder und wo-
gen auf und ab wie
eufelsbrücke. Mückenschwärme."
Unter den „Staub-
bächen" ist am berühmtesten der Lanterbrnnner im
Berner Oberlande; er erscheint als der vornehmste Re-
Präsentant jener weit verbreiteten Gattung von Wasser-
fällen, welche in Folge ihrer außerordentlichen Sturzhöhe
sich fast ganz zu verflüchtigen scheinen, bevor sie die Sohle
ihres neuen Strombettes erreichen. Der Lanterbrnnner
Staubbach wird gerade dadurch zum Proteus, wie wenig
andere, denn er bietet in den verschiedenen Tages- und Iah-
reszeiten so wunderbare Metamorphosen dar, daß er fort-
während ein anderer zu fem scheint. In einer Höhe von fast
900 Fuß springen zwei Stromarme über die senkrecht ab-
fallende Felsenwand hinaus und vereinigen sich rasch zu einer
beweglichen Wassersäule, von der nur ein kleiner Theil an
Schweizer Bilder.
einer Klippe zerschellt, alles Uebrige aber in freier Luft sich
in Millionen Perlen auflöst und zuletzt in schimmernden
Regenstaub verdünnt.
Einen „Schichten-Katarakt" bildet der Bergstrom,
wenn er, voll und wassermächtig, in seinem Bette durch Fel-
sentreppen oder senkrechte Abfälle einen plötzlichen Sprung
in die Tiefe macht. Er bildet dann ein großartiges, ein-
heitlich massenhaftes Schauspiel. So fällt der Buffalora
im Graubündner Mifoeco-Thale über eine beinahe lothrechte
Wand herab, mit voller Gewalt als compacte Säule, weit
über den Felsenrand hinaus; er fährt als runder, geschlosse-
ner Körper in die Tiefe nieder ohne die Felswand zu be-
rühren. Manche Fälle ricochettiren, z. B. der Piu-
megna bei Taido.
Er kommt über die
Alpenterrassen von
Pian delLago, wel-
che die westliche Thal-
wand des Val Leven-
tina in Tessin bil-
den. Als kräftig
genährter Bergbach
rauscht er in Cas-
cadellen herab, hat
aber kein Flußbett
mehr und füllt ins
Unbestimmte über
eine kahle Glimmer-
wand, stürzt nicht in
einen Kessel, son-
dern staucht sich
gleichsam auf einer
Felsenplatte, spritzt
von derselben gleich
einer Fontäne im
Fächer empor und
macht Bogensätze
weit umher. Aehn-
lich verhält es sich
mit der Cascade
des Pelerins im
Chamonnythale.
Wir erwähnten
in unserer vorigen
Nummer mehrerer
Gletscher und spra-
chen über das Vor-
rücken derselben. In
der allerneuesten Zeit
nun tritt die auf-
fallende Erscheinung
ein, daß die Gletschermassen in den Alpen abschmel-
zen. Es liegen viele Angaben über das bedeutende Zurück-
treten der Gletscherzungen vor und zwar in der gan-
zen Alpenkette, vom Dachstein angefangen. Die Mitglieder
der verschiedenen Alpenvereine haben das Abschmelzen auch
der Firnspitzen, welches im Verlaufe der letztverflossenen
Jahre vielfach beobachtet worden ist, nachgewiesen. Ein aus-
gezeichneter Alpenkundiger, Professor Pfaundler, hat im
Sommer 1870 trigonometrische Messungen in den Tyroler
Centralalpen und zwar in der Stnbaier-Gebirgsgruppe vor-
genommen; er weist nach, daß die gegen 11.000 Wiener Fuß
hohen Firngipfel dieser Gegend seit sechs Iahren im Mittel
17,57 Fuß (5,56 Meter)'niedriger geworden, also abge-
Der
schmolzen sind. Dadurch ist im Stubaier Gebiete die Zahl
der Gipfel, welche 11,000 Fuß Höhe überstiegen, von 4
auf 3 gesunken. Einzelne Gipfel, welche früher mit einer
blendend weißen Firnkappe bedeckt waren, zeigen jetzt nur
noch ihr duukles Felsgerüst, und in der Habichtskette sind
einige kleinere Hängegletscher gänzlich verschwunden. Es
wäre von Interesse, zu erfahren, ob bei den Gletschern der
Schweizeralpen sich dieselbe Erscheinung in demselben Maße
zeigt.
Sehr bequem würde sie sich zum Beispiel im Berner
Oberlande am Eiger-Gletscher beobachten lassen, der am
Fuße des Zäseuberges in den berühmten Griudelwaldgletscher
einmündet, und der eigentlich aus zwei Gletschern besteht, wel-
chen die schwarze Lüt-
schine als Abfluß
dieut. Als Agassi;
den Eiger bestieg,
wurde er in der groß-
artigen Einöde durch
das helle Jauchzen
eines Aelplers über-
rascht. Dieser war
der Hirt vom Ei-
ger, welcher die
Wanderer von einem
Felsen aus gesehen
hatte; seine Hütte
stand in dem Winkel
zwischen zwei Glet-
schern. Der Mann
bringt die Sommer-
monate ganz allein
mitten unter den
Gletschern zu, und
es ist für ihn ein
Ereigniß, wenn ein
Bergbesucher sich bis
zu ihm verliert. Der
Zäsenberg bildet auf
dem linken Ufer ein
breites Vorgebirge,
welches den Gletscher
stark zwischen sich
und dem gegenüber-
stehenden Metteuberg
einengt. Die Wie-
senmatten, welche
diese beiden von Eis
umgebenen Berge be-
decken, scheinen an
einzelnen Stellen sehr
Eiger. kräftigen Graswuchs
zu haben; dort wei-
den Schaf- und Ziegenherden, welchen im Herbste die Gem-
sen folgen; diese weiden genügsam die letzten Gräser ab.
Das Thal erweitert sich unterhalb des Zäsenberges von
Neuem und der Gletscher dehnt sich, nach Ausuahme des
Kalli, in ein weiteres Becken aus, welches das Grindel-
walder Eismeer heißt.
Der Eiger-Gletscher oder das Kalli, welcher am
östlichen AbHange des Berges hängt, dessen Namen er trägt,
ist auf seiner ganzen Länge sehr stark geneigt, und sieht des-
halb auch sehr zerrissen aus. Bei seinem Zusammenslnsse
mit dem Grindelwaldgletscher bildet er eine sehr breite Mit-
telmoräne, welche man in weite Ferne verfolgen kann. In
der Mitte dieses Gletschers liegt eine unbedeckte Felsen-
stelle, die sogenannte heiße Platte. Bemerkenswerth sind
die Eiswürfel oder Gletscherkäse (die Seracs, wie
Saussure sie genannt hat), welche den steilen Gletschern
eigentümlich zu sein scheinen. Am Eiger-Gletfcher sind sie
an mehreren Stellen so regelmäßig, daß man sie für recht-
winkelig an einander gefügte Bausteine halten könnte.
Der Eiger (auch Außen-Eiger oder Heigers-Schnee-
berg genannt) tritt, nördlich vom Mönch, in breiter Felsen-
Engelsberger Tl
masse, schneidend und scharfkantig in das Thal von Grindel-
wald hinaus; sein scharfer Gipfelkamm hat 12,240 Fuß.
Gegen Nordwesten fällt der Eiger-Gletscher nach der Wen-
gern-Alp und gegen Nordosten der Mittellegi-Gletscher
nach dem Thal von Grindelwald hinab.
Von der Wengern-Alp im Berner Oberlande hat man
einen prächtigen Blick ans die Schneeriesen dieses Gebirgs-
zuges, namentlich aus das Silberhorn, 11,359 Fuß, die
Jungfrau, 12,828 Fuß, den Eiger, den Mönch und viele
mit dem Titlis.
andere. Der Reisende versäumt eben so wenig, diesen Punkt
zu besuchen, wie das Eugelsberger Thal in den sogenann-
ten Vierwaldstätter Alpen, von welchem aus man den Tit-
lis in seiner Majestät vor sich hat. Derselbe hat 9970
Fuß Höhe und wird vom Dorfe Engelsberg, das 3085 Fuß
über dem Meere liegt, verhältnißmäßig leicht bestiegen.
Doch ist die Firnhalde, zu welcher man zum Gipfel, dem
sogenannten Rollen, hinaufsteigt, ziemlich steil und ermü-
dend, aber die Aussicht dort oben in hohem Grade lohnend.
Die U i
lieber dem Ursprung der Türken liegt, wie über
dem Ursprung so mancher asiatischer Völker, noch immer
ein dichter Schleier, der nur in der Neuzeit sich allmälig zu
lüften beginnt. Woher die Türken gekommen feien, darüber
haben wir wohl einige Nachrichte»; im Ganzen genommen
aber datirt sich alles Verläßliche nur von dem Zeitpunkte
des arabischen Einfalles in Mittelasien her. Die fanatischen
Krieger des arabischen Propheten kamen damals zum ersten
Mal mit den Türken in Berührung; später hatten arabische
Reisende, natürlich in einer höchst oberflächlichen Weise, von
türkischen Nomaden im Norden des Kaspischen Meeres, an
dem obern Laufe des Jaxartes und Oxus und im Norden
Chokands gesprochen. In derNomenclatnr der verschiedenen
g u r e n.
Stämme und Zweige herrscht die wildeste Consnsion: zuerst
werden Türken und Ghnsen erwähnt, später kommen erst
Turkomanen; und erst nachdem einige Jahrhunderte später
ans der Mitte des türkischen Volkes selbst Geschichtschreiber
auftauchten, fängt endlich der Kreis unserer Bekanntschaft
mit diesem gigantischen Stamme sich einigermaßen zu erwei-
tern an.
Sicheres und Zuverlässiges jedoch hat hierin, wie in
vielen anderen Fällen, nur die europäische Wissenschaft ge-
bracht. Es war im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts,
daß der Gelehrte Julius Klaproth die Aufmerksamkeit der
gebildeten Welt auf jenen Fehler hinlenkte, nach welchem
man die llgoren am llral mit den Uiguren im fernen Osten,
Die l
nämlich in der chinesischen Tatarei, identisicirte. Was die
Ugoren sind, davon werden wir ein anderes Mal reden; für
unsere jetzige Besprechung genüge zu bemerken, daß wir eben
durch diese Forschungen Klaproth's mit den Uiguren, diesem
ältesten Volksstamme der Türken, näher vertraut wurden,
ja sogar erfuhren, daß diese Türken schon damals sich ge-
regelter staatlicher uud geselliger Zustände erfreuten, und im
Besitze einer Literatursprache waren, als unser Europa zum
großen Theil noch Wildniß war.
Zum Unglück für die Wissenschaft sind eben von diesem
türkischen Volksstamme, dem Stamme der Uiguren, nur we-
nig geschriebene Sprachmonumente zurückgeblieben; noch wem-
ger aber hat die Geschichte von ihnen ausgezeichnet. Durch
letztere werden wir nur insofern benachrichtigt, daß die Mon-
golen, namentlich unter Dschingis Chan, zum ersten Nieder-
schreiben ihrer Sprache eben von den Uigureu sich die Schrift-
zeichen erborgten. Ja wir wissen sogar, daß die große Zahl
der Schreiber, Rechnungsführer und sonstiger Civilbeamten
unter Dschingis und einigen seiner Nachfolger Uiguren wa-
ren. Es ist daher leicht erklärlich, daß nach Bekanntwerden
dieser Thatsachen die europäische Gelehrtenwelt mit lebhafter
Gier nach nigurifchen Sprachmonumeuten forschte. Ein
Buch besitzt die bodleianische Bibliothek in Oxford, ein an-
deres existirt in Paris; auch Petersburg hat einige Kleinig-
keiten aufzuweisen; doch stellte es sich in der neuen Zeit her-
aus, daß diese uigurischen Literaturüberreste höchstens vom
fünfzehnten Jahrhundert herrühren; ja die Sprache selbst
der eigentlichen Kennzeichen der alten nigurischen Mundart
schon qänzlich vermissen lassen.
Dieses erhellt aus der neuesten Arbeit unseres Mitarbei-
ters, des Herrn Professors H. Bambery, welche den Titel
führt: „Uignrische Sprachmonumente und das Kudatku
Bilik", welche mit der Unterstützung der ungarischen Akademie
gedruckt worden ist und von der Sprache der Uiguren die
erste sichere Kunde bringt. Die Arbeit des Herrn Bambery
beruht auf einer äußerst interessanten Handschrift im Besitze
der kaiserlichen Hofbibliothek von Wien, die Hammer-Pnrg-
stall im Anfange dieses Jahrhunderts in der Türkei gekauft
und nach Europa gebracht hat. Hammer selbst vermochte
die sibyllinischen Zeichen des cnriosen Schriftstückes nicht
zu entziffern. Ein gelehrter Franzose, Janbert, machte sich
mit mehr Glück an die Arbeit; er ahnte, daß diese Hand-
schrist interessante Ausklärungen verberge, und lenkte die Auf-
merksamkeit der gelehrten Welt auf dieselbe. Judessen lag
das Buch doch mehr als 40 Jahre in der kaiserlichen Hos-
bibliothek zu Wien, ohne daß es Jemand gewagt hätte, den
Zauber zu brechen. Es war hierzu 1) eiue vorzügliche Ge-
duld, 2) Vertrautheit mit orientalischen Schriftgattungen,
3) die möglichst volle Keuntniß der heutigen Dialekte Een-
tralasiens von Nöthen. Daß Herr Vambery diesen Postn-
laten mehr denn jeder Andere entsprach, ist leicht verständlich;
er machte sich nach seiner Rückkehr ans Werk und verösfent-
licht nun seine ersten Versuche auf diesem Felde.
Die uigurische Handschrift, welche den Namen Kudatku
Bilik, d. h. „glückliches Wissen", führt, ist im fünften Jahr-
hundert der Hedschra geschrieben worden. Dem Inhalte nach
ist es ein Gedicht politischer und moralischer Tendenz; be-
spricht die Pslichten des Volkes zum Herrscher und vice versa
guten. 167
in einer solch liberalen Weise, die selbst vielen Denkern des
aufgeklärten neunzehnten Jahrhunderts nicht zur Schande
gereichen würde, und mit so mehr befremdet, als sie im tiefen
Asien auf dem alten Sitze der Despotie und Autokratie er-
stand. Die Vorschriften, was für Minister der König sich
wählen, wie der König mit allen Claffen der Bevölkerung
umgehen soll, und wie die Beamten sich dem Fürsten gegen-
über zu verhalten haben, sind würdig, an die Mauern so
mancher sich constitutione dünkender europäischen Staaten
angeschlagen zu werden. Auf die Lebeusanschauuugeu des
Individuums zum Schicksal und zur jenseitigen Welt können
wir uicht die ähnliche Bemerkung machen, da dieselben zu
stark den Stempel einerseits des Buddhismus, andererseits
des Islam tragen, im Ganzen genommen aber für den
Ethnologen Asiens von hohem Interesse sind. Was das
sprachliche Interesse der vorliegenden uigurischen Handschrift
betrifft, so erhalten wir zunächst durch den vorliegenden Wort-
und Formenschatz das älteste Specimen türkischer Mundart:
einen Schatz, der um so wichtiger wird, wenn wir in Erwä-
guug ziehen, daß die sprachlichen Eigenheiten, welche in der
uigurischen Sprache gesammelt vorliegen, heute bei den ver-
schiedenen Stämmen und Zweigen der großen Turksamilie,
sei dies im Norden, Osten und Westen Asiens, vereinzelt
anzutreffen sind; woraus sich schließen läßt, daß wenngleich
das Uigurische nicht die Quelle der verschiedenen türkischen
Dialekte der Neuzeit ist, die Uigureu dennoch zu einer solchen
Zeit von dem Gros des Stammes sich trennten, als dieser,
in verhältnißmäßig engerm Kreise lebend, eine noch uicht
dialektisch verschieden Sprache hatte. Ferner ist nicht zu
vergessen, daß der Autor des Kudatku Bilik ausdrücklich an-
sührt, er habe das erstgeschriebene türkische Buch zur Welt
gebracht, was dessen Recht auf den Namen eines ältesten
und ersten Sprachmonumentes am meisten begründet.
Dem Leser im Allgemeinen wird es nicht ohne Interesse
sein, zu wissen, daß die Uiguren ungefähr schon im vierten
Jahrhundert unserer Zeitrechnung zur christlichen Religion
sich bekannten und daher die östlichen Vorposten der Lehre
Christi in Asien waren. Ihre Bekehrer und Lehrer waren
die Nestorianer, die der griechische Sectenhaß in die weite
Ferne jagte, nnd die an solchen Punkten Asiens Bisthümer
errichtet hatten, die selbst die kühnste Phantasie des heutigen
Missionärs nicht zu erreichen wagt. Herat, Samarkand,
Otrar, Kaschgar, Chotem, ja sogar das fernere Uschtursau
waren allesammt Sitze einer Diöcese, und die Nestorianer
waren es auch, die für die Uiguren die Schriftsprache erfan-
den; letztere stammt vom Labbäischen ab, paßt natürlich eben
so wenig für die türkische Lautlehre, wie das Arabische, uud
hat auch den Kampf mit dem letztern bis zur Zeit Timur's
fortgesetzt, wo mit der Zunahme des islamitischen Fanatis-
mus diese fremden und aus der Zeit des Unglaubens her-
rührenden Charaktere verschwinden mußten.
Herr Professor Vambery liefert in genanntem Buche den
ersten bis jetzt in der Welt gedruckten uigurischen Text. Die
typographische Rarität, die in Innsbruck erschien, verdankt ihr
Entstehen deutschem Fleiße, und es ist merkwürdig, daß eine
Schriftsprache, die vor mehr als tausend Jahren in den Thal-
gegenden des Thien Schan blühte, nun in einem Thale der
süddeutschen Alpen wieder aufleben mußte.
168
Gustav Wallis: lieber tropische Aquarien.
Ueber tropis
Von Gustl
Zu den interessantesten Pflanzen unseres Erdballes ge-
hört gewiß jene Reihe wechselvoller Gestalten, mit denen die
Gewässer tropischer Landstriche, zumal des äquatorialen Ame-
rika, so mannichsaltig wie anmuthig belebt sind. Sie
schmücken in eigener Weise Flüsse, Gräben und Seen; isolirt
und verschieden von allen übrigen Gewächsen bilden sie ein
besonderes, für sich abgeschlossenes Reich. Je näher dem
Aequator, um so üppiger und formenreicher in ihrem Wesen,
um so bestimmter ihr Ausdruck, ihr Antheil selbst, den sie
an den landschaftlichen Physiognomien ganzer Provinzen haben.
Hatte Flora die bloße atmosphärische Luft zum Nährvater so
vieler Baumbewohner, der seltsamen Orchideen, gemacht, so
sollte auch das flüssige Element des Wassers zum Sammel-
platze einer phantasiereichen Schöpfung werden.
Abweichend, wie das Lebens- und Erhaltungsprincip war,
das sie hierbei in Anwendung brachte, mußten es auch ihrer-
seits wieder die Formen sein, unter denen die Wasserbewoh-
ner auftreten. Zum Ernährnngs- und Assimiliruugsvermögen
gesellt sich nun eine weitere Anforderung mehr mechanischer
Natur hinzu: das Bedürfniß specisischer Leichtigkeit, mittelst
welcher die Pflanzen befähigt sind, sich in ihrem Elemente
zu tragen uud zu stützen, und woraus sich als letzte wesent-
liche Eigenschaft das Schwimmvermögen ergiebt. In Nach-
stehendem werden wir durch mehrere Beispiele aus den
Binnengewässern des tropischen Amerika erläutert
sehen, ans welch sinnreiche Art Mutter Natur diese Organ-
bildnng in den verschiedensten Richtungen gleich zweckentspre-
chend auszuführen vermochte, und daß die Bildnerin in Er-
reichung dieser Absichten nicht bei einem einzigen Principe
stehen geblieben ist, vermögen wir aus der Mannichfaltigkeit
von Erscheinungen zu schließen, mit denen sie den Ungeheuern
Abstand zwischen der unscheinbaren Wasserlinse und der stol-
zen Victoria Regia nicht allein ausfüllte, sondern selbst
hierzu die verschiedensten Formenträger zu qualificireu ver-
mochte.
Wir gewinnen in dieser anziehenden Beobachtung eine
Ueberzengnng mehr, wie die Natur in ihrem geheimen Wir-
keu nirgend eine Lücke entstehen läßt, sondern vielmehr stets
bemüht ist, das Schroffe mit dem Milden durch Gegensätze
zu vermitteln und auszusöhnen. Aeußere mechanische Trag-
mittel sind aber nicht allein bestimmt', das Wefen der Selb-
ständigkeit bei Wasserbewohnern zu begründen: Umgestaltung
des innern Baues der Elementarorgane spielt hierbei eine
weit größere, ja eine Hauptrolle, und selbst elftere, die mecha-
nischen Bildungen, machen sich zu großem Theile von ihnen
abhängig. Das Gefäßsystem aller im Wasser lebenden
Pflanzen ist lockerer, die Gefäße und Zellen sind gedehnter,
folglich geringzähliger und mit Gasen erfüllt. Dieses
Princip seheu wir auch so hervorragend selbst bei den auf
dem Laude lebenden Monocotyledonen ausgeprägt, und
zeigt sich von sehr praktischem Werthe für unsere Wasser-
bewohn er.
Allen im Wasser vegetirenden, besonders den monocotyle-
donischen Gewächsen, ist eine auf priucipiell durchgeführten
anatomischen Bau begründete Durchsichtigkeit und Zartheit
eigen, wie wir sie auf dem Festlande, mit Ausnahme einiger
weniger niedriger Kryptoganien, nicht antreffen. In vie-
len Fällen sind die Pslanzen dimorphen Eharakters, oder es
kann selbst die eine Form in der andern ausgehen. Man
je Aquarien.
> Wallis.
unterscheidet an einer und derselben Pflanze zwei ganz ver-
schiedene, die im Wasser und die an der Luft (der Oberfläche)
gebildeten Blätter, wovon uns neben mehreren anderen
Arten Ranunculus' aquatilis eilt so schönes, naheliegendes
Beispiel giebt.
Die Pslanzen sind meist gesellig wachsende, gleichsam um
sich einander dnrch die Masse und Gegenseitigkeit zu stärken.
Wir beobachten das ähnlich in den Gewässern unserer nor-
dischen Zone mit Lemna, Potamogeton, Hottonia, Hy-
drocharis, Hippuris u. s. w. In den Tropen aber sehen wir
durch diese Geselligkeit Pflanzendecken in solcher Ausdehnung
entstehen, daß sie endlosen Wiesen oder Inseln gleichen. Oft
anch sieht man sie dort, durch Ströinung fortgerissen, treibend,
wie ihres Heimathsrechtes verlustig, in andere Regionen ver-
setzt. Die ungleich größere Vegetations- und Erhaltnngs-
kraft tropischer Gewächse stellt indessen diesen Mangel nicht
allein nur scheinbar hin, sondern auch sie gestattet die Auwen-
ung des waltenden Princips unter den verschiedensten, nur
eben denkbaren Gestaltungen; ja man kann bei dem Reiche
thume tropischer Formen sagen, daß die Natur sich mit ihnen
niemals erschöpfe. Weniger selbständig im Norden, wo die
Winterkälte größern Schutz erheischt, sehen wir daher auch
meist die pereunirenden Gewächse mit tiefgehenden Wurzeln
au den Boden geheftet. Stirbt das an die Oberfläche des
Wassers tretende Kraut auch ab, so schlummert doch im
Grnnde desselben, unter dem Schutze der Eisdecke, der Keim
neuem Leben entgegen.
Anders unter den Tropen, wo bei der stärkeren Wachs-
thumskraft die Pflanzen weniger ängstlich des Schutzes be-
dürfen. Ohne an den Boden geheftet zu sein, drängt der
weit größere Theil, Luft und Wärme zu genießen, sich des
Lebens zu freuen, an die Oberfläche, ändert auch mit Wind
und Wogen unbeschadet seine Lage, und hat somit das Ver-
guügen, spazieren zu fahren; Heimathlos uud doch überall
zu Hanse. Gewaltsame Theiluug scheint hier nur willkom-
meu, denn aus jedem Bruchstückcheu sproßt freudig ein neues
Pflänzchen. Schon dieser Umstand von Ungebnndenheit ist
geeignet, sie von klein auf gegen äußere Einflüsse abzuhärten
und sicherzustellen. Aus dem Gesagten ergiebt sich, daß
die Pflanzen kalter Zonen, als lichtscheu, mehr gallertartiger
Natur, die der Tropen dagegen, als an Licht und Luft ge-
wöhut und gebildet, im Ganzen freundlichere Farben und
größern Wechsel überhaupt repräsentiren.
Gehen wir nach dieser allgemeinen Beobachtung zu den
Einzelnheiten über, die sich bei Lüftung der Gliederung einer
auf tropischem Gewässer treibenden Pflanzendecke uns ent-
gegenstellen. Wir finden da viel Belehrendes, Interessantes
eingeschlossen. Als die Hauptformen ihres Reiches treten
die Pontederien und Pistien auf, die in unglaublichen
Mengen große Wasserflächen überziehen, eine einzige znsam-
menhängende Decke bilden und der Schisffahrt auf den Bin-
nengewäfsern ein großes Hinderniß bereiten. Bahnt man
sich eben mit Säbeln und Stangen mühsam seinen Weg
hindurch, so schließt sich auch sogleich hinter dem Fahrzeuge
die Decke wieder, um nach wie vor ein einziges zusammen-
hängendes Ganze zu bilden. Ruder und Segel werden ein-
gezogen, und anch^der Dampf läuft Gefahr, sich mit den
abgerissenen Ballen und Trümmern zu verschlucken; nur
langsam quält und drängt man sich durch die gleichsam ver-
Fordes über das
filzte Masse hindurch, und kommt man endlich wieder aufs
Fahrwasser, so ist einem zu Muthe, wie dem Seemann, der
nach längerer Reise Land erblickt.
Unwillkürlich tauchten mir bei solchen kaum zu bewälti-
geudeu Massen in der Erinnerung unsere bescheidenen Aqua-
rien auf, von denen sich das erste Bekanntwerden mit diesen
Gewächsen herleitet! Bau und Structur bei Pontederien
und Pistieu specieller prüfend, finden wir bei diesen so eng
vergesellschafteten Pflanzen zwei ganz abweichende Principien
vergegenwärtigt; die erstere mit blasig aufgetriebenen, schwamm-
gefüllten Stengeln, die andere mit einem fettigen Ueberzuge
bekleidet, der sie das Wasser feindlich abstoßen läßt.
Die durch die Schüssel- oder Scheibenformen der Nym-
phaeen bedingte Tragfähigkeit steht in dieser Familie bei
dem außerordentlichen Formenreichthum der Tropen nicht
allein; das schwere Blatt der Victoria wurde bekanntlich
durch ein Netz markiger Leisten gestützt, während bei den
Nelnmbien, von denen auch eine Art am untern Magda-
lenenstrome vorkommt, das Blatt durch seine Tntenform sich
zu tragen bestimmt ist.
Neben diesen mit großen schildartigen Blattflächen ge-
zierten Pflanzen nehmen sich gewisse Gräser, Cyperns, Mi-
mosen, Farrn, Marsilea, Jnssieua:c., als gleichberechtigte
Wasserbewohner um so seltsamer aus, und jedes repräsentirt
sein besonderes Schwimmorgan. Am Grase sehen wir,
höchst originell und sinnreich, die Blattscheiden bauchig auf-
getrieben und einander fest umschließen, wodurch Lust eiuge-
schlössen und das Wasser abgehalten wird. Eine andere
Grasart wurde zum Zwecke specisischer Leichtigkeit mit dich-
tem Haargewaude umgeben. Der Cyperns trägt sich durch
die zu Ballen geformten schwammigen Wurzeln, die in Be-
tracht zu der obern Masse ein entsprechend umfangreiches
Volumen annehmen. Dieser wie auch die genannten Gräser
bildeten häufig geschlossene Gruppen, die ihnen das Ansehen
von Inseln gaben.
Bei den Mimosen, Desmanthus natans, und anderen
wahren Zierden tropischer Aquarien sehen wir die wagerecht
umhertreibenden Stengel - oder Stammglieder in einen
lockern, schwammigen Mantel gehüllt, der sich selbst sogar
auf die Basis der Blattstiele erstreckt.
Bei vielen Pflanzen sind die Wurzeln und nntergetauch-
teil Theile mit Lustblasen versehen, wovon wir ein bekanntes
Beispiel in den Utricnlarien haben. In einigen Fällen ist
das Blatt mit cylindrischen Rippen durchzogen, oder auch
federartig zerschlitzt, wie wir das an dem schon erwähnten
Ranunculus aquatilis sehen. Gewisse Pflanzen sind mit
einer schleimigen Masse, wieder andere mit hochliegenden
Schuppen umkleidet :c.
Auch der bloße Luftdruck ist berufen, als Organ der
innere unserer Erde. 169
Tragkraft zu dienen, wie sich an mehreren zierlichen Gewäch-
sen bestätigt. In einem Falle war das Blatt in unzählige
faltige Kammern getheilt, und bei der andern noch interessan-
tern Pflanze ruhte das zierliche, herzförmige Blatt mit flachem
Rande auf der Oberfläche des Wassers, indem es durch zwei
Erhabenheiten Lnft eingeschlossen hielt; es erinnerte dies an
die Fruchtkapseln des Pfaffenhütchens. Nicht ohne Entzücken
konnte ich dies reizende Pflänzchen ansehen.
Von Jussieua beobachtete ich, außer der durch Humboldt
bekannt gewordenen vatans, mindestens noch drei schwim-
mende Formen, deren eine durch bandartig verbreiterte Blatt-
stiele getragen wurde. Die zweite war mit blasenartigen,
schwammigen Jnternodien versehen, und ließ, hierin dem
Zwecke vollkommen entsprechend, in den Blättern selbst nicht
jene Abweichung errathen, die sonst den Wasserpflanzen eigen
ist; denn ohne saftig zu sein, hatten sie dasselbe regelmäßige
Aussehen ihrer terrestrischen Verwandten. Die dritte Art
endlich bot ein wahres Schaustück, und ohne ihre Blüthen
oder Kapseln würde Niemand sicher auf ihre Abstammung
schließen, so seltsam unterschied sie sich an allem Aenßern
vom allgemeinen Familiencharakter.
Man denke sich eine flach ausgebreitete, schwimmende
Rosette aus Hunderten zierlicher, rautenförmiger Blättchen
gebildet, deren äußere auf stets längeren Stielen gehoben,
der ganzen Anordnung genaue, ich möchte sagen mathema-
tische Rechnung tragen. Wie jede Wasserpflanze in ihrer
Art zu sinniger Betrachtung, zum Nachdenken über die weisen
Natureinrichtungen ausfordert, fo liegt hier zumal ein Bei-
spiel vor, das den Laien sowohl wie den Kenner anzieht und
entzückt. Diese überaus reizende Erscheinung ist eine der
wenigen tropischen Wasserpflanzen, die mit den Wurzeln an
den Boden geheftet sind. Auch diese erregen unsere Auf-
merkfamkeit iu befonderm Grade. Der Wnrzelcomplex ist
in Uebereinstimmung mit dem leicht erfolgenden Steigen der
äquatorialen Flüsse von mehr als ausreichender Länge, dabei
elastisch und zäh, um bei jedem Höhestande nachzu-
geben und das Haupt im Niveau des Wassers zu erhalten.
Die gelben Blumen erscheinen hier und da eingestreut, aus
den verschiedenen Blattachseln über die Oberfläche empor-
ragend. Mit Recht würde diese eigentümliche Pflanze eine
Zierde unserer Aquarien bilden, und sei daher noch erwähnt,
daß sie auf mehreren Stellen des Amazonenstromgebietes von
mir angetroffen wurde, namentlich aber an der Ausmündung
des Tapajozflusses bei Santarem.
Ich schließe diese kurzen Aufzeichnungen mit dem Wunsche,
daß sie Anregung geben möchten zu weiteren ähnlichen Mit-
theiluugeu über ein Floragebiet, von dem, vielseitiger Reize
ungeachtet, noch verhältnißmäßig wenig zu unserer Kunde
gelangt ist.
Fordes über das Innere unserer Erde.
i.
r. d. In einem Vortrage der Snnday Lectnre Society am
29. Januar 1871 in London hat der bekannte britische Natur-
forscher David Forbes in geistvoller Weise Alles zusam-
mengefaßt, was wir über das Innere unseres Planeten
wissen. Ohne uns genau an den Wortlaut seiner Darstel-
lung zu binden, geben wir im Nachstehenden das Wesentliche
des Vortrages wieder.
Globus XIX. Nr. 11. (April 1871.)
Woraus, so fragt Forbes, besteht der Centralkern nnse-
rer Erde? Die Antwort, welche die natürlichste scheint und
die dem unwissenschaftlichen Beobachter sofort sich aufdrängt,
lautet natürlich: Aus festem Gestein, wie der Boden unter
unseren Füßen. Aber der Glaube an eine solche Hypothese
wird sofort zerstört, wenn derjenige, welcher sie aufstellt, nur
einmal den Erschütterungen eines Erdbebens, dem Ausbruche
22
170 Fordes über das S
eines Vulcans beiwohnt, oder die gewaltigen Falten nnd Bre-
chnngen beobachtet, die in den Schichten der Gebirge sich so
leicht verfolgen lassen. Damit schon wurde die Vorstellung
einer terra firma, wie die Alten sie hatten, hinfällig und
andere Hypothesen mußten aufgestellt werden. Immerhin
aber ist es schwer, an der Hand der Thatsachen hier Auf-
schlüsse zu geben, denn es wird wohl niemals gelingen, wirk-
lich bis in das Innerste unseres Planeten vorzudringen und
dort zu schauen; uns Aufklärung über dasselbe zu verschaffen,
ist daher nur au der Hand von Schlüssen möglich.
Außerordentlich wenig ist verhültnißmäßig noch geschehen,
um uns dem Innern des Weltkörpers, den wir bewohnen,
zu nähern. Man bedenke nur, daß der Durchmesser unserer
Erde 1718 Meilen beträgt, die größte Tiefe aber unserer
Bergwerke noch keine Viertelmeile erreicht. Und mit wel-
chem Aufwände an Zeit und Mühe wurden unsere tiefsten
Schachte hergestellt! Schon daraus erhellt, daß wir, mit
unseren heutigen Hülssnütteln wenigstens, nicht daran den-
ken können, direct gegen das Erdinnere vorzudringen. Nichts-
destoweniger haben wir schon durch das geringe Bordringen
in das Innere unseres Planeten wichtige Thatsachen kennen
gelernt, aus denen sich Schlüsse über den Centralkern ablei-
ten lassen.
Wir schicken, ehe wir auf die Sache felbst eingehen, einige
bekannte Thatsachen voraus. Die Gesteine, die wir an der
Oberfläche unserer Erde kennen gelernt haben und die den
größten bisher bekannten Theil derselben zusammensetzen,
zerfallen in zweiClassen. Zunächst die vulcanischen oder
e ndogenen Felsarten, d. h. jene^, welche innerhalb uu-
serer Erde geschaffen wurden, und dann die geschichteten
oder exogenen Gesteine, die Flötzgebirge, welche auf der
Oberfläche selbst aus den Ueberresten zerstörter Felsarten
gebildet und mit Hülse der mechanischen Wirkung des Was-
sers zu Schichten und Lagern angeordnet wurden.
Lange haben die Geologen als feststehend angenommen,
daß die tiefste Lage der geschichteten Gesteine unmittelbar ans
dem Granit aufruhe, den man als die Urgrnndlage, als die
älteste Felsart unserer Erde ansah, auf der alles Uebrige
ruhte. Spätere Untersuchungen haben das Unhaltbare dieser
Hypothese indessen dargethan und gezeigt, wie auch der Gra-
nit geschichtete Gesteine durchbrochen hat, wie er also jünger
als einzelne Glieder der letzteren sein muß. Beim gegen-
wärtigen Zustande unseres geologischen Wissens ist es ganz
unmöglich, eine Felsart zu bezeichnen, von der man sagen
könnte, sie sei die älteste, ursprüngliche, und diene als Unter-
läge aller späteren Gesteine. Ja, die älteste Felsart, die
wir überhaupt jetzt kennen, gehört zu den geschichteten; es ist
dies das sogenannte Lanrentianische System in Canada und
den Vereinigten Staaten, das vom Granit und Syenit durch-
setzt wird, jedenfalls also älter als diese beiden ist. Worauf
aber diese Lanrentianische Formation ruht, was unter ihr liegt,
davon haben wir gar keine Ahnnng.
Da es uns nun unmöglich gewesen ist, direct in das
Erdinnere vorzudringen nnd ältere Gesteine als die geschich-
teten Laurentianischen kennen zu lernen, wenden wir uns den
Vnlcanen zu, um die Producte zu untersuchen, welche sie
aus dem Erdinnern zu Tage fördern, aus Tiefen, die weit
jenseit der Grenze liegen, die wir je mit künstlichen Mitteln
zu erreichen hoffen dürfen. Die Vnlcane aber lehren uns
bezüglich des Innern unserer Erde und der mineralischen
Substanzen, welche dort vorkommen, etwa das Folgende.
In der Tiefe, aus welcher die Vulcane ihre Ergüsse zu
Tage fördern, besteht die Erde aus Substanzen von vollkom-
men feuerflüssiger Natur, die im Charakter den Eruptiv-
gesteinen analog sind, welche in früherer Zeit die Erdrinde
durchbrachen. Zweitens erkennen wir, daß die von den Vul-
lnere unserer Erde.
cauen ausgeworfenen nüneralifchen Producte, ihrer chenij-
fchen wie mineralogischen Constitution nach, sich außerordeut-
lich ähnlich sind, gleichviel aus welchem Vulcane unserer
Erde sie stammen. Die Producte des Hecla, Aetna oder
Vesuv stimmen wesentlich überein mit jenen der amerikani-
schen Vulcane, mit denen der feuerspeienden Berge Javas
oder Kamtschatkas. Drittens hat sich ergeben, daß aus
demselben vnlcanischen Schlünde und während desselben Aus-
bruchs Laven von zweierlei, durchaus verschiedener Art aus-
gestoßen werden, nämlich die leichte, sanre oder trachytische
Lava, die ihrer chemischen Zusammensetzung nach den Gra-
niten und Felsiten analog ist, und die schwere, basische oder
pyroxenische Lava, die mit unseren Basalt- nnd Trappfelsen
fast identisch ist. Jene repräsentirt gleichsam die älteren,
diese die jüngeren aus dem Erdinnern früher emporgedrnn-
genen Felsarten.
Eine zweite Schlußfolgerung, die aus dem Studium der
vnlcanischen Phänomene gezogen wird und die anzeigt, daß
in einer gewissen Tiese unter ihrer Oberfläche die Vulcane
mit einem beständigen See von geschmolzener Lava in Ver-
bindnng stehen müssen, gründet sich auf den Einfluß, wel-
chen der Mond auf vnlcanische Ausbrüche zu haben
scheint. Diese Ansicht dürfte dnrch die Beobachtungen des
Professor Palmieri während der letzten Eruption des Vesuv
fest begründet fein. Er berichtet nämlich, daß man dabei
bestimmte Flnthbewegnngen der Lava erkannte, welche
andeuten, daß die Anziehungskraft des Mondes in der Cen-
tralzone der geschmolzenen Lava ganz ähnliche Gezeiten ver-
ursachte wie im Ocean. Eine weitere Bestätigung dieser
Ansicht wird in den Resultaten gefunden, die aus den Prü-
fuugen und Zusammenstellungen von etwa 7000 Erdbeben-
berichten während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts
sich ergeben, die Perry mit einander verglich und aus denen
nach ihm hervorgeht, daß die Erdbeben weit häufiger
zur Zeit derConjnnction und Opposition desMon-
des, als zu anderen Mondzeiten sind. Am häufigsten
sind sie zur Zeit der größten Erdnähe des Mondes, besonders
häusig in der Stunde seines Durchganges durch den Meridian.
Wenden wir uns wieder der directen Durchforschung der
Erdkruste zu, so finden wir, daß die Bergbauarbeiten, so
wenig sie auch dem Centralkern sich zu nähern vermochten,
doch aus die physikalischen Verhältnisse unseres Planeten ein
beträchtliches Licht geworfen haben. Eine lange Reihe von
Beobachtungen, die in den tiefsten Bergwerken in verschiede-
nen Theilen der Erde gemacht wurden, hat unzweifelhaft
dargethan, daß die Temperatur unseres Planeten, we-
nigstens in den von Menschen durchwühlten Theilen, im
directen Verhältniß mit dem Vordringen nach der
Tiefe znnimmt. Bestätigt wird diese Thatsache durch
die Temperaturverhältnisse der heißen Quellen und artesi-
schen Brunnen, deren Wasser um so wärmer erscheint, je
größer die Tiese ist, aus der sie hervorkommen. Unter den
Deutschen waren es namentlich Bischof und Bnff, welche
die Lehre von der Wärme unseres Erdkörpers ausbildeten.
Es hat sich ergeben, daß die Temperatur in einer gewissen
Tiefe des Erdinnern für jeden Ort völlig constant ist. Noch
tiefer hinein findet dann eine überall ziemlich gleichmäßige Zu-
nahme der Wärme statt, die durchschnittlich etwa 1" C. auf
100 Fuß beträgt. Darf man nun voraussetzen, daß die
Zunahme an Wärme eine gleichmäßige und ununterbrochene
ist, so ergiebt sich daraus, daß in einer gewissen, noch nicht
genauer bestimmbaren Tiefe von etwa 12 deutschen Meilen
alle Substanzen sich im feuerflüssigen Zustande befinden, daß
dort eine Hitze herrscht, bei der Eisen schmilzt, eine Hitze,
genügend groß, um die an die Erdoberfläche gelangende Lava
im feuerflüssigen Zustande zu erhalten. Hierbei ist jedoch
D. K. Schedo-Ferroti: Ai
Eines noch mit in Rechnung zn ziehen. In der angeben-
teten Tiefe von etwa 12 deutschen Meilen ist die Erdsubstanz
dem Drucke der über ihr lagernden Masse ausgesetzt, und
da durch Experimente der Beweis geliefert wurde, daß viele
Substanzen bei starker Pressung mehr resractorisch werden,
d. h. einen größern Grad von Hitze, um sie zu schmelzen,
verlangen, so wird die obige Angabe mit Rücksicht hieraus
zu verringern sein. Leider besitzen wir jetzt noch nicht ge-
nügende Daten, die uns erlaubten, das wahre Verhältniß
zu bestimmen, wieweit der Schmelzpunkt solcher Gesteins-
arten durch Druck erhöht wird; doch können wir immerhin
als sicher annehmen, daß wir nicht allzutief in das Erdinnere
einzudringen brauchen, um dort eine Temperatur zu finden,
welche die Lava im geschmolzenen Znstande erhält, oder daß
die solide Kruste unseres Planeten, der einen Durchmesser
von 1718 Meilen hat, nur etwa 12 Meilen stark ist. Das
ist eine ungemein dünne Schale!
der Literatur des Nihilismus. 171
Gehen wir nun von dem Gesagten weiter aus, so ergiebt
sich als Folgeruug, daß unsere Erde in der That eine Kugel
von geschmolzener Masse ist, die von einer äußern Schale
oder Kruste von fester Masse bedeckt wird, und daß diese
Kruste, im Vergleich zum ganzen Durchmesser des Globus,
eine außerordentlich dünne ist. Es ist eine Kugel aus seuer-
flüssiger Masse, deren Aenßeres sich durch die Abkühlung in
der Atmosphäre verdichtete. Daraus weist auch die Gestalt
der Erde selbst hin, die ein Ellipsoid darstellt, eine an den
Polen etwas abgeplattete Kugel, die sich am Äquator aus-
buchtet, genau so wie eine plastische, um ihre Achse gedrehte
Masse diese Form annimmt. Aus allen ausgeführten Grün-
den ist denn früher von den Naturforschern allgemein bisher
angenommen worden, daß die Erde in der frühesten Periode
ihres Daseins sich in einem flüssigen Zustande befunden haben
müffe.
Aus der Literatur des Nihilismus.
Kritische Beleuchtung des Tschernyschefsky'schen Romans: „Was thun?" (Mto 4'tiaTi,?)
Von D. K. Schedo-Ferroti.
4.
Daß Lopuchoss nicht todt ist und der Auftritt im Gast-
Hofe uud auf der Brücke nur in Scene gesetzt war, um den
Vorurtheilen der Welt zu genügen uud Wsra vor dem Ge-
setze zur Wittwe zu machen, hat der geneigte Leser gewiß
schon errathen, ohne daß wir es ihm sagen, wie auch der
Autor es nicht gleich ausspricht, sondern errathen läßt. Den
Tag nach seinem Selbstmorde ist Lopnchosf mit einem fal-
fchen Passe, den ihm Rachm«tofs verschafft, ins Ausland
gereist, und schreibt von Berlin aus einen langen Brief an
seine Wittwe und deren Mann, wobei er aus Zartgesnhl
nicht seinen Namen, sondern „ein dimittirter Student"
unterzeichnet.
Das junge Ehepaar, das unterdessen nach Petersburg
zurückgekehrt ist, wo Kirsanoff eine Professur an der Aka-
demie erhalten, antwortet dem „dimittirten Studenten",
den es als „Stifter seines wahren idealen Glückes"
erkennt; doch dauert diefer Briefwechsel nicht lange, und der
Leser würde in Ungewißheit über das fernere Schicksal Lo-
puch off's bleiben, wenn er hierüber nicht durch die episodi-
sche Einschaltung der Lebensgeschichte einer zweiten Heldin,
der Katherine Polosoff, belehrt würde.
Um mein schon recht langes Referat nicht langweilig zu
machen, wie es der Roman an vielen Stellen ist, übergehe
ich hier absichtlich einige Details aus der zweiten EheWe-
ra's. Es sei nur noch erwähnt, daß sie, im Drange nach
Selbständigkeit, sich entschließt, Median zu studiren und
deshalb anfängt, Latein zu lernen, aber „nur ganz ober-
slächlich", weil „zum Examen" in der Akademie der
Medtcrn davon „nur wenig, sehr wenig (orenr, orenr
neMHoro, S. 370) verlangt wird."
Was das Fräulein Kat herine Polosoff betrifft, so
ist sie die Tochter eines dimittirten Capitäns, der Kaufmann
geworden ist und viel Geld erworben hat. Kat herine ver- !
III.
liebt sich in einen jungen „Elegant" aus den Kreisen, in
denen wir den Gardeofsizier Storvschnikoff gesehen haben.
Da der Vater die Heirath nicht zngiebt, legt sich Katherine
ins Bett und will sterben, woran aber Kirsanoff, als Arzt
an ihr Lager gerufen, sie verhindert, indem er den Vater
überredet, scheinbar in die Heirath zu willigen. Der ele-
gante Anbeter kommt nun täglich in das Haus des reichen
Kaufmanns, was Katherinen Gelegenheit giebt, sich von
seiner Oberflächlichkeit und Niedern Denknngsweise zu über-
zeugeu und sie bestimmt, ihm den Abschied zu geben. Unter-
dessen haben sich die Verhältnisse des alten Polosoff aber
plötzlich geändert. Er ist dem Bankerotte nahe und kann
sich nur retten, wenn es ihm gelingt, eine große Stearin-
fabrik vortheilhaft zu verkaufen.
Als Käufer meldet sich ein Amerikaner, Mr. Charles
Beanmont, der im Namen einer großen englischen Firma
verhandelt. Die täglichen Geschäftsbesuche im Hause des
alten Polosoff bringen den Amerikaner mit dessen Tochter
in Berührung und bald zeigt sich zwischen ihnen eine gegen-
fettige Neigung. Hier beurkundet Katherine die außer-
gewöhnliche Selbständigkeit ihres Charakters, indem sie den
Amerikaner, der einige Tage ausbleibt, in seiner Wohnuug
aufsucht, wo sie die Freude hat zu erfahren, daß er weder
zürnte noch krank ist, und nur durch eine unbedeutende Ver-
letzung am Arm verhindert war auszugehen.
Eben so vorsichtig und zurückhaltend als Katherine
rasch uud unternehmend ist, vermeidet Mr. Charles, das
junge Mädchen sich durch Ueberredung zu gewinnen, und
treibt die Gewissenhaftigkeit so weit, daß er sie beständig
warnt, sich ja nicht zu übereilen und Alles reiflich zu über-
legen, bevor sie eine Wahl trifft. „Auch für uns Männer,"
fagt er unter Anderm, „ist es sehr riskant, ein junges Mäd-
chen zu Heirathen, das noch keine Erfahrung hat über die
Verhältnisse, die aus ihrer Einwilligung zn entstehen haben.
22*
172 D. K. Schedo-Ferroti: Aus
Sie kann unmöglich ermessen, ob ihr das Zusammenleben
mit einem Manne wie ihr Bräutigam ist zusagen wird oder
nicht."
„Wenn aber," entgegneteKatherine, „dies jungeMäd-
chen den Mann ihrer Wahl längere Zeit und im Alltags-
leben gesehen, so giebt das doch ihr und ihm einige Garan-
tie, daß sie mit einander zufrieden sein werden."
„Einige, — freilich wohl," erwiederte Mr. Char-
les, „es wäre aber gewiß viel zweckmäßiger, wenn die
gegenseitigen Prüfungen eingehender und vielseitiger wären
(nomie h WHorocropoHHte, S. 452), denn das junge
Mädchen kennt die Verhältnisse, in die es eintritt, doch noch
nicht aus Erfahrung, und so viel man auch nachdenken und
überlegen möge, nichts kann die eigene Erfahrung ersetzen."
„Dann müßten also wohl nur Wittwen Heirathen dür-
sen," bemerkte lächelnd Katherine.
„Ihre Bemerkung ist sehr zutreffend. Nur Wittwen.
Den jungen Mädchen müßte das Heirathen ganz verboten
sein."
„Ich glaube wirklich, Sie haben Recht," entgegnete
Katherine nach einigem Nachdenken und brach das Ge-
sprach ab, doch muß sie wohl nicht ganz überzeugt gewesen
sein, denn — obgleich noch nicht Wittwe — entschließt sie
sich wenige Tage darauf, den Amerikaner zu heirathen.
Seit ihrer Rettung durch die Kunst und die tiefe Men-
fchenkenntniß Kirsanoff's mit dessen Frau befreundet, eilt
Katherine, dem Ehepaar ihre bevorstehende Vermählung
anzuzeigen und ihren Freunden zugleich ein wichtiges Ge-
heimniß mitzutheileu, das Mr. Charles Beaumont ihr
anvertraut hat. Dieses Geheimniß, das darin besteht, daß
der amerikanische Bräutigam niemand anders ist als der
verschollene Lopuchoss, erfüllt Kirfanoff und seine Frau
mit der aufrichtigsten Freude. Sie umarmen die Bringerin
dieser frohen Kunde, empfangen den „neuen Bekannten",
den ihnen Katherine zuführt, auf das Herzlichste, wohnen
der Trauung der glücklich Liebenden als erbetene Zeugen bei
und alle beschließen einstimmig, daß hinfort beide Paare in
ein und demselben Hause wohnen sollen.
Nach einigem Suchen findet sich denn auch eine passende
Wohnung, wo die Familie Kirsanosf die eine nnd der Ame-
rikaner mit seiner jungen Frau die andere Hälfte der Etage
beziehen, während ein großer Saal in der Mitte der Be-
hausung von beiden Ehepaaren gemeinschaftlich benutzt wird.
Das Zusammenleben dieser so hervorragenden, der ärm-
lichen Alltagswelt so überlegenen Menschen wird vom Autor
mit besonderer Vorliebe geschildert und dem Leser als locken-
des Vorbild hingestellt, um ihm zu zeigen, welche Genüsse
für Geist und Gemüth denjenigen zugänglich werden, die sich
auf solche Höhe moralischer Selbständigkeit und Vorurtheils-
losigkeit zu erheben vermögen.
Durch das Schwunghafte im Wesen der beiden idealen
Frauen angezogen, haben sich eine Menge Studenten, die
Zuhörer Kirsanoff's, und Andere um dieselben geschaart.
Es sind ihrer bis fünfzehn und mehr, die sich desMbends
zum Thee einfinden und dem Treiben im Hanfe der beiden
Ehepaare eine besondere jugendliche Frische verleihen. Aller
Zwang und Etikette sind dabei streng verbannt. Jeder
kommt und geht, wann er will, Jeder thnt und spricht, was
ihm einfällt. Bald bildet sich ein Kreis in der einen, bald
in der andern Abtheilung der Wohnung, bald werden die
Thüren zum gemeinschaftlichen Saale geöffnet und die Gäste
aus beiden Enden vereinigen sich zu einem einzigen großen
Cirkel. Hier unterhalten sich einige mit Kirsanosf über
medicinifche Fragen, dort lassen sich andere von Mr. Beau-
mont erzählen, was er in Amerika gesehen, während noch
andere die beiden Frauen umschwärmen, die durch ihre lie-
der Literatur des Nihilismus.
benswürdige, scherzende Unterhaltung den Zuhörerkreis ihrer
Männer bisweilen auf Null reduciren.
Bei schönem Wetter werden gemeinschaftliche Schlitten-
fahrten arrangirt, deren eine vom Autor ausführlich befchrie-
ben ist, und bei welcher Demoiselle Julie, als auch zu den
Intimen der Musterwirtschaft gehörig, wiederum vorgeführt
wird. Die Schlitten, in denen die Gesellschaft vertheilt ist,
suchen sich zn überjagen, wobei die Jnnensitzenden im Augen-
blicke des Vorbeifahrens einander mit Schneebällen überschüt-
ten, deren sie ganze Ladungen bereit halten.
Doch nicht aus das lustige Ballwerfen allein beschränkt
sich der Ausdruck der Freude dieser Glücklichen. Frohe, harm-
lose Menschen bedürfen des Liedes, um ihrem Gefühle Luft
zu schaffen, und so stimmt die Gesellschaft im Schlitten, den
Demoiselle Julie anführt, folgendes Liedchen im Chor an:
Leise schlüpft ein junges Weibchen
Durch das Thor, das neuerbaute,
Reich geschnitzte Eichenthor:
„Ob mir gleich der Vater zürnet,
Scheel mich ansieht und mir grollt,
Daß ich mit dem hübschen Knaben
Spät des Abends scherz' und spiele,
Acht' ich nicht des Vaters Reden,
Will den Jüngling hoch beglücken."
Das Ende des Liedes, das der Autor, gleich uns, mit
einer Reihe von Punkten schließt, verhallte, während die San-
ger in den Hof der Stearinfabrik hineinfuhren, wo der alte
Schwiegervater des Mr. Beaumont der Gesellschaft eine
gastliche Aufnahme bereitet hatte.
Ueberhanpt scheint im Kreise der „vereinten Familien
Kirsanosf und Beaumont", wie bei allen geistig durch-
gebildeten Menschen, das Bedürsniß musikalischer Genüsse
ein besonders lebhaftes gewesen zu sein. Nicht nur während
der lustigen Schlittenfahrten, sondern auch an gewöhnlichen
Abenden wurde oft Musik gemacht.
Dazu rollte man die Claviere aus den beiden Abtheilun-
gen der Wohnung in den gemeinschaftlichen Saal und stellte
sie so, daß Wera und Katherine, die an denselben Platz
nahmen, einander gerade gegenüber saßen. Darauf wurden
die Anwesenden, meistens Studenten oder sehr intime Be-
kannte, durch das Loos in zwei Chöre getheilt, von denen
sich das eine hinter Katherine's, das andere hinterW6-
ra's Stuhl aufstellte. Nun begannen beide Chöre gleich-
zeitig zu singen, aber nicht dasselbe Lied. So stimmte W er a
mit ihrem Chor die Arie an: La donna e mobila, wäh-
rend Katherine's Chor eine melancholische Weise vortrug,
oder die eine Partie sang ein Liedchen von Beranger, wäh-
rend die andere ein russisches Volkslied anschlug.
Diese jedenfalls ungewöhnliche Art von musikalischer
Aufführung gewährte den Betheiligten einen so großen Ge-
nuß, daß sie, wie der Autor S. 462 sagt, sich „recht oft"
(4öbojii>ho qacTo) daran ergötzten; die größte Freude aber
hatten sie an den Solovorträgen der „beiden Primadon-
nen", die in folgender Weise arrangirt waren:
Die beiden Frauen setzen sich, immer einander gerade gegen-
über, jede an ihr Clavier, während die Gäste nicht als Chor
hinter ihnen, sondern zu beiden Seiten in schweigender Er-
Wartung stehen. Jetzt beginnt Katherine, indem sie die
Augen zum Himmel erhebt und in tragischer Weise seufzt:
„O göttlicher Schiller, Entzücken meiner Seele!" — worauf
Wera mit dem größten Ernste erwiederte: „Die Prünell-
stiefelchen aus dem Laden vonKorolsff sind aber doch auch
recht schön," und dabei ganz schnell den Fuß vorstreckte. —
Wer von den jungen Leuten bei diesem Wettgesange lachte,
wurde sofort in den Winkel gestellt, und so geschah es bis-
D. K. Schedo-Ferroti: Ar
weilen, daß von zehn bis zwölf Studenten nur zwei oder
drei noch blieben, die dem Gesänge nicht aus den Ecken der
Stube zuhörten. Unbegrenzter Jubel aber erhob sich jedes-
mal, wenn es gelungen war, den ernsten Hausherrn, Mr.
Charles Beaumout (alias Lopuchosf), in den Saal zu
locken und ihn ebenfalls in den Winkel zu stellen.
Mit der Schilderung dieses genußreichen und sinnigen
Zusammenlebens schließt der Roman, und man fühlt es dem
Autor an, daß er die Feder mit einiger Genugthuuug weg-
legt und dem freudigen Gefühle, ein Lebensbild geschaffen zu
haben, das der männlichen, besonders aber der weiblichen
Jugend, für die er vorzugsweise zu schreiben scheint, in dem
Grade anziehend erscheinen muß, daß sie sich beeilen wird,
jegliche Vornrtheile abzustreifen, indem sie sich sagt: nur wer
es so weit gebracht, wie Wsra, kann hoffen, eines Glückes
theilhaftig zu werden, wie das, welches ihr beschieden, und
das sie im eigenen Hanse, im Kreise so harmloser und doch
so hoch entwickelter Menschen genießt.
5.
Wie verführerisch dem Autor auch die Beschreibung ge-
schienen haben mochte, die er von dem Glücke macht, das
denjenigen beschieden, die er als Typen der „Menschen wie
sie sein sollten" hinstellt, so war seine Aufgabe doch nicht
vollkommen gelöst, in so weit sie darin bestand, dem Leser
zu verdeutlichen, wie weitgreifend und wohlthätig die Folgen
der von ihm empfohlenen Principien einst sein werden. Hier-
zu mußte ein Bild entworfen werden von dem Leben, wie
es dann sein wird, wenn die Mehrzahl der Menschen den
Typen gleichen wird, von denen er nur acht Exemplaren (dar-
unter zwei Frauenzimmern) begegnet/dem Typus des kraft-
begabten Barkenziehers, des Studenten Rachmetoff, der
„Menschen wie sie einst sein werden/'
Die glücklichste Form für die Beschreibung einer noch so
entfernten Zukunft ist gewiß die eines Traumes, und diese
wählt denn auch der Autor.
Wsra Pavlovna träumt:
Eine blendend schöne Frau nimmt sie bei der Hand und
erhebt sich mit ihr in schnellem Fluge; und diese Frau ist
Niemand anders als „die Liebe", was der Träumende«
sofort dadurch klar wird, daß unsichtbare Sängerchöre —
und zwar wunderbarerweise in deutscher Mundart —
ihrer Führerin entgegenjubeln:
„O Lieb, o Liebe
So goldenschön,
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höh'»!"
Nächst den deutschen Sängern stoßen sie auf einen russi-
schen Dichter, „dessen Haupt von Begeisterung erglänzt, dem
die Natur ihre Geheimnisse und die Weltgeschichte ihre Be-
dentnng enthüllten — offenbar der Autor selbst —, bei dessen
Liedern die Bilder von Jahrtausenden vorüberrollen."
Des Dichters Worte ertönen und es erscheint das erste
Bild:
Lange Reihen von Nomadenzelten in einer fruchtbaren
Ebene, wo Herden von Schafen und Kameelen weiden. Im
Schatten der Oliven- und Feigenwälder lustwandeln schöne
Männer mit noch schöneren Frauen. Ihre einzige Beschäs-
tignng ist — dieLiebe, und sie verbringen ihr Leben „Tag
für Tag", indem sie sich lieb haben oder die Liebe besingen.
„Nein! — ruft die Führerin Wära's aus —, das ist nicht
mein Reich, nicht das Reich der wahren Liebe. Die Frauen
jener Zeit waren Sklavinnen ihrer Männer, und wo keine
Freiheit herrscht, da giebt es auch keine Liebe."
Und wiederum ertönen die Worte des Dichters, und es
erscheint ein anderes Bild:
der Literatur des Nihilismus. 173
Eine prachtvolle Stadt auf hoher Klippe am Meeres-
nfer erbaut. In die marmorglänzenden Tempel eilen fchöne
Jünglinge und Jungfrauen, um der dort thronenden Gott-
heit zu opfern, und diese Gottheit ist Aphrodyte, die Schaum-
geborene, die Allbezwingerin, deren Cnltus so in Ehren ge-
halten wird, daß der Areopagus es nicht wagt, die schuld-
beladene Afpafia zu verurtheilen. „Nein! — sagt auch
hier die Begleiterin Wera's —, dies ist auch nicht die
wahre Liebe. Hier betete man wohl die Schönheit an, aber
man erkannte nicht die Rechte der Frauen, die nur die Sinn-
lichkeit der Männer beherrschten, ihnen aber nicht in Allem
gleichgestellt waren."
Und abermals ertönen die Worte des Dichters, und es
entrollt sich ein drittes Bild:
Ein weiter Turnierplatz von hohen Schranken umgebeu,
in denen sich die bunte Menge der Zuschauer drängt. Aus
dem Platze tummeln eisengepanzerte Ritter ihre mnthigen
Rosse, und auf dem Ehrensitze des Balcons sieht man eine
Jungfrau, die eine Schärpe in der Hand hält. Der Sieger
soll diese Schärpe erhalten nebst der Ermächtigung, dem
Fräulein die Hand zu küssen. Die Kämpen fechten auf Tod
und Leben, und der Sieg verbleibt — dem Ritter Toggen-
burg!
So fremd der Anfang dieser Erzählung dem deutschen
Leser vorkommen dürfte, so bekannt wird ihm das Ende er-
scheinen. Toggenburg bringt den Handschuh, oder viel-
mehr die Schärpe der Jungfrau und erhält, diesmal in rus-
sischer Mundart, die bekannte decouragirende Antwort:
„Ritter, treue Schwesterliebe
Widmet Euch dies Herz.
Fordert keine and're Liebe" n. s. w.,
was von der Führerin Wsra's von vornherein für absolut
ungenügend erklärt wird, zumal sie der Ueberzeugung lebt,
daß Toggenburg das Fräulein nur deshalb so lieb gehabt,
weil er sie nicht bekam. Hätte er sie gekriegt, so wäre sie
wahrscheinlich eingesperrt nnd wohl gar vernachlässigt wor-
den. „Was man damals verehrte, war nicht das Weib selbst,
sondern die Unbescholtenheit desselben (HenoporHOCTb). Das
ist aber bei weitem nicht die wahre Liebe."
In einer sehr verzeihlichen Anwandlung von Neugier
bittet Wsra ihre Begleiterin, sie möge ihr doch endlich sagen,
wie denn die wahre Liebe eigentlich beschaffen ist und ans
welche Weise deren Reich den Menschen zugängig werden
kann?
Die wahre Liebe, lautet die Antwort, wird sich dann offen-
baren, wenn die völlige Freiheit der Frauen und das nnver-
jährbare Recht eines Jeden, über sich selbst zu verfügen, allge-
mein, anerkannt sein werden. Bis dahin, bis für beide, die
Männer sowohl als die Frauen, die Gesetze abgeschafft worden,
nach welchen Einer irgend ein Besitzrecht über den Andern
ausübt, bis dahin werden die wahre Liebe und ihre himm-
tischen Genüsse (cbiuioe ynoeme) der Welt unbekannt
bleiben, denn wenn Du mein innerstes Wesen in ein einziges
Wort zusammenfassen willst, so nenne mich — die Gleich-
berechtigung. Ohne Gleichberechtigung keine unumschränkte
Wahlfreiheit, und ohne Wahlfreiheit keine Liebe! Ich habe
Dir, fährt W«ra's Lehrerin fort, jetzt Alles gesagt, was
die Welt hören darf und was Du wiederholen magst. Das
Geheimniß meiner zukünftigen Herrschaft kann ich Allen noch
nicht sagen, Dir aber, die Du schon nach meinen Grund-
sätzen gehandelt, Dir will ich es entdecken. „Schwöre, daß
Du schweigen wirst."
Es steht zu vermutheu, daß Wera geschworen und, ob-
gleich im Traum geleistet, den Schwur treulich gehalten hat,
denn was die Erscheinung ihr mitgetheilt, hat Niemand er-
fahren, selbst der Autor nicht, der den oben citirten Worte«
174 D. K. Schedo-Ferroti: Aus
ein Capitel folgen läßt, das nichts als eine Reihe von Punk- >
ten enthält. Was Wsra betrifft, so scheint sie von der ihr
gewordenen geheimen Mittheilnng tief ergriffen, denn sie ruft
begeistert aus: O, Liebe, jetzt kenne ich Deinen Willen, setzt
aber ziemlich indiscreterweise hinzu: aber sage mir nur, wie
die Menschen zur Zeit Deiner Herrfchaft leben werden?
Auf diese Frage, erwiedert die Liebe, kann ich allein nicht !
antworten, aber ich will meine ältere Schwester rufen, die
meine Herrin und zugleich meine Dienerin ist. — Feierlich
angerufen erscheint besagte Schwester (wahrscheinlich ist da-
mit die Natur gemeint), und auf ihren Wink ersteht folgen-
des Bild, das die Lebensweise der Menschen darstellt zur
Zeit, wo sie Alle der „freien Liebe" huldigen werden:
Wera sieht ein kolossales Gebäude, so riesengroß, wie
keines noch existirt. Rings umher sind Kornfelder und Wie-
fen, Gärten und Wälder. Was dort wächst, sind unsere
Kornarten, unsere Bäume, doch so hoch, so fruchtreich, wie
man sie noch nie da gesehen. In den Gärten stehen Citro-
nen-und Apfelsinenbäume; wie kommen denn die unter freiem
Himmel fort? Ja so, da stehen Colonnen rings umher,
das sind kolossale Treibhäuser, die im Sommer abgetragen
werden. Doch welche seltsame Architektur hat das Gebäude!
Sollte es -wirklich bloß aus Eisen und Glas bestehen?
O, nein, im Innern ist ein Hans aus Stein erbaut, ein
großes, wohnliches Haus, das jener Riesenbau von Eisen
und Krystall wie ein Futteral einschließt. Woraus mö-
gen nur die Fußböden, die Thüren, ja sogar die Möbel ge-
macht sein? Sollte das Silber sein oder Platina? Es
glänzt so hell und ist doch so leicht, daß sich ein Stuhl nicht
schwerer aufhebt, als unsere Nußbaumstühle. Das ist Alles
aus Alumin gemacht, einem Metalle, das man jetzt zu Bro-
schen und Ohrringen verwendet und das einst als Bau-
Material dienen wird. Wer wohnt denn aber in diesem
palastartigen Gebäude? Viele, sehr viele, wovon W<zra
sich überzeugen kann, indem sie auf die Zinne des „Futte-
rals" hinaustritt. Da sind, aus den Feldern und Wiesen,
Gruppen verstreut, wo man Männer und Frauen, Greise
und Kinder vereint sieht, doch im Ganzen wenig Greise uud
noch weniger alte Frauen. Der Kinder sieht man mehr als
der Alten, doch auch dieser giebt es nicht viele; die Mehrzahl
besteht aus Jungfrauen und Jünglingen. Von jener Gruppe,
die ein Feld bestellt, erschallt ein freudiger Gesang. Wie
können sie nur bei der schweren Arbeit singen? Schwer,
ja, das war früher so, jetzt aber wird Alles von Maschinen
verrichtet, und die Menschen gehen oder fahren nur hin und
her und dirigiren die Maschinen, die selbständig mähen, das
Korn in Garben binden und einführen. Und wie bequem
sie sich die Arbeit gemacht haben. Ueber das Feld, das sie
bestellen, ist ein riesiges Zelt ausgespannt, welches derart
eingerichtet, daß es den vorschreitenden Schnittern immer
nachrückt und sie beständig im Schatten arbeiten.
Nun ist die Arbeitszeit vorüber und Alles strömt dem
Hause zu, um das Mittagsmahl einzunehmen. An langen
Tafeln haben mehr als Taufende von Menschen Platz ge-
nommen, und eben so vielen wird in ihren Zimmern servirt.
Welch prächtiger Tischaufsatz! Alles erglänzt von Alumin
und Krystall, und duftet von Blumen, die in herrlichen Va-
sen prangen. Wer bedient denn aber bei Tafel ? Niemand,
denn das Diner besteht aus nicht mehr als fünf bis sechs
Speisen, nnd Alles ist bereits auf den Tisch gestellt, so daß
Jeder nur zuzugreiseu hat. Wvra erstaunt über das schmack-
hafte Mittagsmahl und fragt ihre Begleiterinnen: Sollten
wirklich wir das fein? Ich hörte bekannte Lieder und mir
schien, als ob man russisch spräche. — „Jawohl/ erwiedern
die Natur und die Liebe, „sind das Russen; das ist russisches
Land und der Fluß, den Du dort siehst, ist die Oka."
der Literatur des Nihilismus.
Doch plötzlich verändert sich das Bild. Die Bäume sind
entblättert, der Schnee liegt auf den Feldern, die herrlichen
Säle des Palastes stehen leer, und nur wenige verweilen
hier noch, um sich das Vergnügen winterlicher Spazierfahr-
ten zu gönnen. Wo sind sie nur Alle hingezogen? Dort-
hin, wo es auch im Winter warm ist. Also wohl nach
Odessa oder Kherson? Ja, so nannte man diese Orte zu
Deiner Zeit, doch schaue hin, wie es jetzt dort aussieht, schaue
hin auf das neue Rußland.
Eine herrliche Landschaft. Ueber fruchtbare Thäler ragen
mächtige Berge hervor, die bis zu ihren höchsten Spitzen mit
Laub- und Fruchtbäumen geschmückt sind. Am Fuße der
Abhänge sieht man Kaffeebäume, höher erscheinen Dattel-
palmen uud Feigenbäume, oder Weinberge, von Zuckerrohr-
aupslauzuugen unterbrochen, während in den Ebenen Weizen
nnd besonders Reis gebaut wird. Wie ist das Alles ent-
standen, fragt Wera; hier war ja fönst eine wahre Wüstenei,
und die baumlosen Berge zeigten nichts als nacktes Gestein?
Wie das entstanden, lautet die Antwort, was findest Du
darin Erstaunliches! Von den Ufern jenes großen Flusses,
der im Nordosten fließt (offenbar die Wolga), und vom
Meeresufer im Nordwesten (doch wohl die Baltica) haben
sie mit ihren mächtigen Maschinen eine solche Menge von
Lehm (raHHa) hergebracht, daß sie die Berge bis oben hinauf
damit bedeckten, und so ein Paradies schufen, wo früher eine
Wüstenei war.
Doch lassen wir dieses so einfache und so praktische Ver-
fahren, und sehen uns nach den Menschen um, die hier woh-
nen. Es sind dieselben, die wir am Ufer der Oka gesehen,
denn wie hier das Winterquartier, so ist dort der Sommer-
ausenthalt der großen Mehrzahl der Einwohner, die alljähr-
lich nach dem Süden ziehen, wenn der Schnee den Norden
unwirklich gemacht hat.
Die Wohnungen, die hier stehen, sind ganz nach dem
Modell der früher gesehenen erbaut, nur daß die Colonnen
blendend weiß sind.
Hier wird der Autor zum Opfer einer argen Distraction,
denn er vergißt, daß der Ort ja nur im Winter bewohnt
wird, „wo die Bäume blattlos dastehen," es mithin
ziemlich kalt ist, uud fährt in folgender Weise fort:
Die weiße Farbe bietet den Vortheil, daß sie die Sonnen-
strahlen zurückwirft, und deshalb sind die Colonnen des Ge-
bändes sämmtlich aus Alumin, was um etwas (utcKOJibKo)
theurer ist als Gußeisen, aber den klimatischen Verhältnissen
mehr entspricht. Doch damit sind ihre Vorsichtsmaßregeln,
um sich gegen die glühende Hitze zu schützen, noch nicht er-
schöpft. In weitem Abstände von den äußeren Wänden des
Krystallpalastes stehen dünne, erstaunlich hohe Säuleu, au
denen hoch über dem Palast und dem Hofraum, und über
eine halbe Werst im Umkreise, ein weißes Leinwandzelt aus-
gehängt ist. Jede dieser Säulen ist durchbohrt, und aus
jeder steigt ein seiner Wasserstrahl empor, der sich in Staub-
regen über die Leinwand ergießt, die drückende Hitze mildert,
und dadurch gestattet, die Lufttemperatur nach Belieben zu
regeln (S. 396).
Unterdessen ist die Sonne untergegangen und Alle eilen
nach Hause, um an den Vergnügungen Theil zu nehmen,
big sie jeden Abend erwarten. Ein großer, reichverzierter
Saal ist auf das Prachtvollste erleuchtet, uud doch sieht man
keine Krone noch Wandleuchter. Was ihn erhellt, ist ein
elektrisches Licht, das von der Oberlage herab durch lnattge-
schliffene Glasscheiben scheint. Im Saale bewegen sich au
tausend Menschen, doch könnte er wohl die doppelte Anzahl
fassen. Was geht denn da vor, sollte das ein Ball sein?
O nein, das ist ein ganz gewöhnlicher Verein, wie er jeden
Abend vorkommt, und doch würde man es, nach jetzigen Be-
Aus allen
griffen, für einen Hofball gehalten haben, so prachtvoll ist
der Anzug der Damen. Einige tragen sich nach der heutigen
Mode, doch nur zum Scherz, wie man ein Maskenkleid an-
legt; andere erscheinen in der Tracht verschiedener Nationen;
noch andere, und zwar die meisten, haben ein Costüm nach
dem Modell der griechischen Frauen aus der Blüthezeit Athens.
Welche Naschheit in ihren Bewegungen, welche Energie in
ihrer Freude! Ja, wie sollte das auch anders sein, haben
sie doch den ganzen Tag über gearbeitet, und nur wer arbei-
tet, stählt feine Nerven zum vollen Genüsse der Freude. Die
Hälfte der Glücklichen tummelt sich noch im Tanzsaale, doch
wo ist die andere Hälfte? „Wo die andere Hälfte geblie-
ben," entgegnete die Liebe, „die hat sich vielfach zerstreut.
Einige sind im Theater, andere in den Alleen der Gärten,
die meisten — uuu, das ist mein Geheimniß. Du hast im
Saale gesehen, wie ihre Wangen brannten, wie ihre Augen
leuchteten; Du hast gesehen, wie sie verschwanden und wie
sie wiederkamen. Sie verschwanden, weil ich sie entführte,
Erdtheilen. 175
denn eines Jeden und einer Jeden Stube ist mein Tempel,
.wo meine Mysterien gefeiert werden; sie kamen wieder, weil
ich sie aus dem Reiche meiner Geheimnisse zurückschickte zum
scherzenden Lebensgenuß. Denn hier ist mein Reich. Hier
bin ich der Endzweck des Lebens. Hier ist das Reich der
gleichberechtigten und freien Liebe!" —
Nicht ohne Widerwillen gebe ich diesem wörtlichen
Citate aus der Schrift des Herrn Tschernyschessky
einen Platz in meinem Berichte. Ich hätte meinen Lesern
diesen Schmutz und die nothwendige Erörterung gern erspart,
wenn nicht dadurch einer der bezeichnendsten Charakterzüge
der neuen Reformationslehre verwischt worden wäre. Wer
das Laster malen will oder dessen Jünger, die es empfehlend
verbreiten, kann die gehässigen Farben nicht vermeiden, und
so wögen mir meine Leser verzeihen, wenn ich nicht alle
derartigen Stellen übersprungen und ihnen eine derselben
als Probestück der Schreibart des großen Weltverbesserers
vorgeführt habe.
Erdtheilen.
Aus allen
Französische Naturforscher und der Krieg.
Die Logik der Franzosen ist bekanntlich eine andere als die
der Deutschen, namentlich da, wo es sich um die Logik der Ka-
nonenkugeln handelt. Bei ihnen gilt der wahnsinnige Satz, daß
sie berechtigt seien zu schießen, zu zerstören, daß dieses aber
ihren Gegnern nicht erlaubt sei. Während in Deutschland jede
Stadt, jedes Museum, jede Kunstsammlung vom rohesten ab-
sichtlichen Vandalismus unserer Nachbarn über der Mosel er-
zählen können, verlangen sie von den Deutschen mit Glanzhand-
schuhen angefaßt zu werden, und gerathen in eine nicht gelinde
Raserei, wenn die unerbittliche Nothwendigkeit des von ihnen
selbst frevelhaft heraufbeschworenen Krieges an ihren wissen-
schaftlichen Sammlungen unabsichtlich Schaden stiftet. Die
Republik der Gelehrten sollte über dem Kriege stehen und ge-
lehrte Dinge nicht unnützerweise in die Fragen der Politik her-
abziehen. Auch hierin sündigen die Franzosen, wie das Schrei-
ben des sonst so vielsach verdienten Physiologen Pasteur an
die Bonner Universität beweist, in dem er das von derselben
ihm verliehene Ehrendoctordiplom zurücksendet und sich gleich-
zeitig in gemeinen Schimpfworten über unsern Kaiser ergeht.
Er ist Gelehrter — leider aber auch Franzose. Zu einer ähn-
lichen Manifestation hat die Zerstörung des schönen Orchideen-
Hauses im Pariser Jardin des Plantes durch eine deutsche
Granate geführt, welche unglücklicherweise am 9. Januar in
dasselbe einschlug und die Glasdächer zertrümmerte. Die zarten
Orchideen, namentlich die herrlichen von den Franzosen während
des mexicanischen Krieges gesammelten Exemplare, gingen bei
der herrschenden Kälte sofort zu Grunde. Der Director der
Sammlung, Chevrcuil, richtete an die französische Akademie
in Folge dessen nachstehenden Protest: „Der Garten medieini-
scher Pflanzen, durch ein Edict König Ludwig's XIII. am 3. Ja-
nuar 1626 begründet, wurde am 23. Mai 1794 in ein Museum
für Naturgeschichte umgewandelt. Es wurde von der preußischen
Armee unter der Negierung Wilhelm's I.. Königs von Preußen,
während Graf Bismarck Kanzler war, in der Nacht vom 8. zum
9. Januar 1871 bombardirt. Bis dahin war es von allen Par-
teien, von allen nationalen und fremden Autoritäten respeetirt
worden. Paris, am 9. Januar 1871." Die Akademie der
Wissenschaften beschloß, daß dieser Protest Chevreuil's an der
Spitze aller ihrer Berichte abgedruckt werden solle, und das Pro-
sessorencollegium des Museums entschied, daß im Museum ein
Marmormonument errichtet werden solle, welches in goldenen
Lettern jenen Protest trägt. Ringsum werden als Zierrath
deutsche Granatsplitter aufgestellt, welche in das Orchideenhaus
einschlugen. Die Franzosen setzen ihrem Mangel an Logik da-
mit das bedauerlichste Denkmal. Uebrigens hat sich dieser selbe
Mangel an Logik auch bei einigen fremden Gelehrten in beun-
ruhigender Weise bemerkbar gemacht; der Tscheche Franz Pa-
lazky beging die Lächerlichkeit seinerseits, gegen ein Bombarde-
ment von Paris zu Protestiren.
Lebensdauer verschiedener Tliierarten.
r. cl. Ein Engländer, E. Ray Lankester, hat sich mit
der Frage beschäftigt, wie lange die Lebensdauer verschiedener
Thierspecies und des Menschen sei. Seine Erfahrungen hat er
in einer kleinen Schrift: On comparative longevity in man
ancl the lower animals (London, Macmillan and Comp.
1870) niedergelegt, welche manche interessante Daten enthält.
Er beginnt mit den Protozoen, jenen niedrigen Organismen,
die auf der Markscheide zwischen Thier- und Pflanzenreich
stehen, und wählt als Beispiel den Süßwasserschwamm
(Spongilla fluviatilis), über den Lieberkühn viel geschrieben
hat. Dieses Geschöpf stirbt jährlich ab und hinterläßt zur Fort-
Pflanzung sogenannte Gemmulä, Körperchen, aus denen neue
Spongillen entstehen.
Unter den Eoelenteraten (das sind nach Leuckart Thiere,
bei denen Verdauungsapparat und Leibeshöhle zusammenfallen
und zu denen Polypen und Quallen gehören) pflanzt sich der
grüne Wasserpolyp (Hydra viridis) im Herbste geschlechtlich
fort und stirbt dann. Eine Actinia Mesembryanthemum, «
also eine Seeanemone od,er Fleischpolyp, wurde in einem Aqua-
rium 42 Jahre lang am Leben erhalten und lebte, als Lan-
kester im verflossenen Jahre diese Thatsache niederschrieb, noch.
Unter den Erustaeeen, den Krebsthieren, erlangen einige
Krabben und Krebse ganz gewiß ein vergleichweise hohes Alter;
eine Art aber, der Cheirocephalus diaphanus, stirbt schon
nach zwei bis drei Monaten, nachdem er sich vorher fortgepflanzt
hat. Unter den Jnsecten gilt als Regel, daß das vollkommen
entwickelte Thier nur kurze Zeit überhaupt lebt und nach der
176 Aus allen
Fortpflanzung stirbt; bei manchen Arten dauert dieses Leben
nur wenige Stunden und der Volksmund macht schon durch die
Bezeichnung der „Eintagsfliegen" hierauf aufmerksam. Das
Leben der Larve dagegen ist sehr verschieden, meistens länger
als dasjenige des völlig entwickelten Jnsectes. Flöhe leben bis
zu neun Monaten.
Ueber die Lebensdauer der Mollusken liegen wohl kaum
Beobachtungen vor. Von den Fischen dagegen weiß man, daß
sie ein hohes Alter erreichen und „bemooste Karpsen" sind so-
gar sprichwörtlich geworden. Was den Hecht betrifft, so wird
er auch sehr alt und hierbei erzählt Lankester, ohne Kritik zu
üben, die zuerst von Gesner gegebene Mittheilung von einem
Hechte, der 1497 bei Heilbronn, oder wie Andere sagen, bei
Kaiserslautern gefangen wurde und im Kiemdeckel einen golde-
nen Ring trug. Die Inschrift desselben besagte, jener Hecht sei
am 12. October 1230 „von dem Beherrscher des Erdkreises,
Friedrich II., als erster Fisch in einen Teich gesetzt worden."
Dieser Hecht wäre sonach 267 Jahre alt geworden; er soll
19 Fuß gemessen, 350 Pfund gewogen haben und auf einem
um 1602 noch vorhandenen Bilde im Schlosse von Kaiserslau-
tern abgebildet gewesen sein. Cuvier und Oken haben indessen
mit vieler Gelehrsamkeit diese Geschichte kritisch untersucht und
mehrere Unsicherheiten nachgewiesen; der letztere zumal hat dar-
auf aufmerkfam gemacht, daß Friedrich II. im Jahre 1230 gar
nicht in Deutschland, sondern in Italien gelebt habe. Die größ-
ten und ältesten Hechte werden gegenwärtig in Südrußland ge-
fangen, namentlich in der Wolga, wo 30 bis 40 Pfund schwere
gar nicht zu den Seltenheiten gehören. Jedenfalls «werden
Karpfen und Hechte sehr alt. Unter den Amphibien lebt die
Kröte durchschnittlich 36, der Frosch 12 bis 16 Jahre; die
Schildkröten erreichen ein hohes Alter. Was die Vögel betrifft,
so liegen für deren Lebensdauer sehr zahlreiche Beobachtungen
vor. Der Papagei, die Gans, der Falke und Rabe sind wohl
die langlebigsten, die ersteren zwei können 100 bis 120 Jahre
erreichen, die letzteren beiden über 150 Jahre. Zaunkönige leben
nur 2 bis 3 Jahre. Unter den Säugethieren erreichen der
Walfisch und der Elephant das höchste Alter; beide überdauern
im normalen Zustande 100 Jahre und erreichen möglicherweise
200. Mittlere Dauer eines Pferdelebens ist 25 Jahre; Fälle
von einem Alter von 40 Jahren sind jedoch vorgekommen. Für
das Rind rechnet man im Durchschnitt 15 bis 20, für Schafe
und Ziegen 12, für die Löwen 20 bis 50, für die Katze 9 bis
13 Jahre. Was den Menschen betrifft, so gilt für dessen
Lebensdauer der Spruch der Bibel; es ist aber ausfallend, wie
gerade geistig hoch begabte Männer das gewöhnliche Ziel oft
überschreiten und ein sehr hohes Alter erreichen. Unter uns
Deutschen brauchen wir in den letzten Jahren bloß an Arndt
und Rauch, Cornelius und Humboldt, Grimm und
Ritter zu erinnern.
Rußlands Thee Einfuhr. Das „Reichsarchiv" hat dar-
über folgende Angaben:
Rußland lernte den Thee im Jahre 1633 kennen, wo die
nach der Mongolei geschickte russische Gesandtschaft unter an-
deren Gegenständen auch 200 Päckchen Thee erhielt. Anfangs
wurde der Thee wohl nur als Arznei gebraucht, aber 1674 er-
schien er in Moskau bereits im Handel; die eigentliche Einfuhr
begann jedoch erst 1630 nach Abschließung des Handelstractats
mit China. Nachdem der kiachtasche Theehandel verschiedene
Phasen durchlaufen, gelangte er zuletzt dahin, daß er von allen
Beschränkungen befreit wurde; aber trotzdem ist in den letz-
ten Jahren der Import des Karawanenthees mit je-
dem Jahre gefallen und der des zur See eingeführ-
Erdth eilen.
ten, sogenannten cantonschen Thees gestiegen. Inden
19 Jahren von 1351 bis 1369 incl. sind überhaupt 9,397,311
Pud Thee in Rußland eingeführt worden. Von 1351 bis 1361
stieg die Einfuhr nur von 332,379 auf 494,927 Pud; im Jahre
1362, wo der Import cantonschen Thees gestattet wurde, stieg
sie jedoch auf 693,794 Pud und erreichte 1369 eine Höhe von
934,305 Pud, darunter allein 573,939 Pud cantonscher Thee.
q- ' * q-
— Der Winter 1870 bis 1871 in Osteuropa. Das
Wetter im Januar hat bestätigt, daß der laufende Winter zu
den strengsten gehört, welche seit 1740 vorgekommen sind. Am
1. Januar wurde der schon im letzten Drittel des December an-
dauernde Frost sehr intensiv. Bis zum 6. Januar hielt die
Kälte über einem großen Theile von Europa an. Die Mitte
der Kältezone und die höchsten Kältegrade lagen natürlich wie-
der auf rufsischem Gebiete, am 5. in Catherinenburg — 34°
dagegen in Petersburg, Helsingfors und Reval nur — 5° bis
— 6°. Am 6. Januar änderte sich die Temperatur in West-
europa plötzlich; es wurde milder: Frost und Thauwetter wech-
selten ab; dies dauerte bis zum 22.; in Rußland blieb es aber
noch sehr kalt, in Catherinenburg — 33°, in Kasan — 29°, in
Moskau — 25°. Am 21. hat der Frost auch in Rußland Plötz-
lich nachgelassen, Catherinenburg nur — 14«. Am 22. stellt
sich die Kälte in Westeuropa auf's Neue ein; sie verbreitet sich
jetzt aber von Nordost, vom Weißen Meere, dem Bottnischen und
Finnischen Busen her, über Centraleuropa bis ins westliche
Frankreich, und über den Canal und die Nordfee hin bis zu
den britischen Inseln, am 23. in Archangel 32°. In Folge des
anhaltenden Frostes waren nicht bloß die Flüsse, sondern auch
die Ufer, Buchten und Bufen längs der Ost- und Nordsee und
des Canals mit Eis belegt. — In den dänischen Gewässern ist
seit langer Zeit nicht so viel Eis vorgekommen, als in diesem
Winter. Schon um Neujahr war im Kattegat starker Eisgang
und der Sund zwischen Seeland und Schweden so zugefroren,
daß er von Fußgängern und Fuhrwerken überschritten werden
konnte. So früh im Winter ist dieses seit 40 Jahren nicht vor-
gekommen. Im Jahre 1323 fror der Sund erst im Februar
zu. Auch damals ging man zu Fuß von Helsingfors nach Hel-
singör hinüber. Auch 1355 war der Sund zwischen Seeland
und Schoonen zugefroren und das Eis stand noch im April.
— Die Pariser Trottoirs als Feuerungsmaterial.
Als im verflossenen harten Winter während der Belagerung
ihrer Stadt den Parisern das Brennmaterial ausgegangen war,
griff man, abgesehen vom Holze des Boulogner Wäldchens, zu
einem eigentümlichen Feuerungsmaterial. Man benutzte dazu
den Asphalt der Trottoirs. In der ganzen Stadt haben diese
eine Länge von 2 Millionen Ellen und eine durchgängige Breite
von 2 Ellen bei einer Stärke von Vs Zoll; das giebt eine Masse
von 555,550 Cubikellen, wovon die Hälfte für beigemischten
Sand abzuziehen ist. Ohne Gebläse brennt indessen der Asphalt
nicht. Auch dem wußte man abzuhelfen. Le Troost, der Di-
rector der Grenelle-Gaswerke, erfand einen Ofen, in welchem
der Asphalt vortrefflich brannte. Schon im November 1870
wurden diese Oesen in Thätigkeit gesetzt. Man geht nun mit
dem Gedanken um, Asphalt überhaupt als Brennmaterial zu
benutzen. So hatte die Belagerung auch ihre guten Seiten.
— Auf dem Titicaca-See, welcher theils zu Peru,
theils zu Bolivia gehört und etwa 11,000 Fuß über dem Was-
serspiegel der Südsee liegt, arbeitet gegenwärtig ein Dampf-
boot. Was würden Manco Kapak und seine Nachfolger im
Reiche der Jnkas sagen, wenn sie statt der aus Rohr zusammen-
gesetzten Flöße, der Balsas, solch ein Rauchschisf in Bewegung sähen!
Inhalt: Schweizer Bilder. (Mit fünf Abbildungen.) — Die Uiguren. — Ueber tropische Aquarien. Von Gustav
Wallis. — Forbes über das Innere unserer Erde. — Aus der Literatur des Nihilismus. Von D. K. Schedo-Ferroti.
(Schluß) — Aus allen Erdtheilen: Französische Naturforscher und der Krieg. — Lebensdauer verschiedener Thierarten. —
Rußlands Thee-Einfuhr. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
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Band XIX.
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J£ 12.
Iii besonäerer HerücksirktiZung ller Antkroxologie unä Gtknologie.
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
Äprll Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4Sgr. 1871.
Schwarze Völker am Weißen Nil.
Bis vor etwa dreißig Jahren hatten wir nur die aller-
dürftigste Kunde iibcr den Lauf des sogenannten Weißen
Nil und die das Uferland bewohnenden Stämme. Nach
und nach wurde der Schleier gehoben. Aegyptens BeHerr-
scher, Mehemed Ali, gründete auf der Landspitze zwischen
der Vereinigung des Blauen Nils mit dem Weißen Strome
(dem Bahr el Äbiad) im Jahre 1823 die Ortschaft Char-
tum, einen wichtigen Handelsplatz, der zugleich eine große
Handelsbedentnng gewonnen hat; er ist die Hauptstadt des
ägyptischen Sudan. Von diesem Punkte aus (etwa 15° 16'
Nord) wurden in jedem Jahre Handelsreisen sowohl in das
innere Land als auf dem Strome unternommen, aber diese
Züge waren gleichbedeutend mit Raub und Mord. Char-
tum wurde bald eine „Hölle", in welcher sich ein Abschaum
weißer Menschen aus dem Orient und auch aus Europa
ansammelte: Syrer, Kopten, Türken, Tscherkessen, Italic-
ner und Franzosen. Sie rüsteten Fahrzeuge aus, welche
im December von Chartum nach dem obern Weißen Nil
fuhren, angeblich um Elfenbein bei den verschiedenen schwar-
zeu Völkern einzukaufen, es war aber dabei allemal weseut-
lich auf Menschenraub abgesehen, der, wie wir in einem Be-
richte vom Februar 1871 lesen, auch heute noch fortdauert,
wenn er auch nicht mehr in der fächern, unverschleierten
Weise ausgeübt wird. Pascha Samuel Baker, welcher
auf seiner Expedition nach den Aequatorialseeu bis zum De-
cember des vorigen Jahres zu Taufikiya Aufenthalt neh-
men mußte, weil die Seichtigkeit des Wassers ihm ein wei-
teres Vordringen nicht gestattete, konnte sich überzeugen, daß
der Sklavenhandel fortwährend im Schwange geht. Seine
Globus XIX. Nr. 12. (April 1871.)
Station war am Weißen Nil unter 9° 26' Nord, im Ge-
biete der Schilluks; im Juni 1870 caperte er zwei Boote,
welche 305 Sklaven an Bord hatten, zumeist Frauen, Mäd-
chen und Kuabeu. So lange bei den Mohammedanern in
Afrika und Asien die Sklaverei besteht, ist auch an ein Auf-
hören des Sklavenhandels nicht zu denken. Der Vicekönig
von Aegypten hat jenem unternehmenden Engländer reich-
liche Mittel zur Verfügung gestellt, um die ganze Region
am Weißen Nil bis zu den großen Binnenseen zu unterwer-
feu und die Bewohner zum Anbau von Baumwolle und zu
einem Tribute zu zwingen. Darauf ist es abgesehen; für
das leichtgläubige europäische Publicum, welches an salbungs-
volle Redensarten glaubt und sich durch solche nur allzu gern
täuschen läßt, hat man dann als einen Hauptzweck des aben-
teuerlichen Unternehmens auch die Lahmlegung des Sklaven-
Handels und ein Verhindern aller Raubzüge in den Vorder-
grund geschoben. Wir zweifeln nicht, daß Baker seinerseits
es damit ganz ernsthaft meint, zweifeln aber eben fo wenig
daran, daß er Täuschungen genug erfahren werde. Ein red-
lich betriebener Einkauf von Elfenbein lohnt an und für sich
nicht; ohnehin sind in keinem Jahre mehr als für etwa
300,000 Maria-Theresia-Thaler Elephantenzähne aus der
ganzen Region des Weißen Flusses nach Chartum gekom-
men; Vieh- und Menschenraub mußten den Prosit der Un-
ternehmungen bringen. Bei diesen Expeditionen sind bisher
die Handelsgehülfeu, Matrosen und Soldaten für ihre Arbeit
nicht mit Geld, sondern mit Sklaven bezahlt worden. Von
den ausgerüsteten Schiffen bleiben einige an passend gelegenen
Punkten in den Uferlandschaften des Weißen Nils und seiner
23
Tanz der Heliab- und Bor-Frauen.
Schwarze Völker
Zuflüsse zurück, während andere mit ihren Ladungen nach
Chartum abwärts segeln. Jene haben ein Standlager, ein
mit Dornicht eingefriedigtes Dorf, eine sogenannte Seriba.
Von dieser Burg aus ziehen sie in größeren oder kleineren
Abtheilungen weit uud breit im Lande umher, um einzukau-
seu, wie sie es nennen, in Wahrheit jedoch, um zu plündern
und zu rauben. Sie stacheln die Feindschaft zwischen ver-
schiedenen Häuptlingen aus, deren einige sie durch Spenden
von Zeug, Glasperlen, Eisenwaaren zc. zu ihren Verbüu-
beten machen und denen sie auch einen gewissen Antheil am
Raube zubilligen. So trieben das die Türken, als sie
bis zum zweiten Grade Nord vordrangen und in Farajoke
solch ein Ranbguartier hatten; so sind andere „Kausleute"
in den verschiedenen Zuflüssen des Weißen Nils, der ober-
halb der Mündung des Sobat richtiger als Bahr Dschebel,
Gebirgsstrom, bezeichnet wird, vorgedrungen bis weit nach
Südwesten hin, wo sie mit den braunhäutigen Niamniam
zusammentrafen.
Für die Wissenschaft sind jene bösen Unternehmungen
allerdings ersprießlich geworden; sie brachten uns nähere
Kunde über Gegenden, auf denen früher völliges Dunkel
lag. Nach und nach drang man immer weiter nach Süden
uud Westen vor; die ägyptischen Expeditionen, welche in den
Jahren 1840 bis 1843 von Chartum aus nilaus unter-
nommen wurden, gelangten bis 4° 42' Nord; schon 1839
mar eine derselben bis gegen den sechsten Grad hin, an die
Grenzen der Heliabs gelangt. Die zuverlässigsten Schilde-
rungen der neuen Regionen erhielten wir durch unsern Lands-
mann F. Werne. Von Oesterreich aus wurde bei Gondo-
koro, etwa 4° 65' N., im Lande der Bari eine Mission ge-
gründet, welcher Pater Knoblecher vorstand; in religiöser
Beziehung blieb sie, wie sich von selbst verstand, ganz un-
fruchtbar, aber die Missiouäre berichteten auch über Land
uud Leute. Wir haben hier nicht alle einzelnen Expeditionen
aufzuführen, und wollen nur erwähnen, daß insbesondere die
Gegend am linken Ufer des Stromes nach und nach uns
weithin bekannt geworden ist, und daß es Graut uud Speke
gelang, von Sansibar im Südosten bis nach Gondokoro vor-
zudringen und damit eine Lücke auszufüllen. Ueber die
eigentliche Quellregion des Nils sind wir jedoch heute noch
eben so sehr im Ungewissen, wie je zuvor, aber wir kennen
den Lanf des „Bergstromes" bis zu den Aequatorialseen hin
uud eine wahre Musterkarte echt afrikanischer Völkertypen,
über deren einige wir reden wollen.
Es ist eine interessante Erscheinung, daß diese schwarzen
Stämme bis zu dem Tage, da sie jüngst mit der Außenwelt,
mit weißen Leuten, in Berührung kamen, geuau so geblieben
sind und so leben, wie vor Jahrtausenden in den Tagen des
Sesostris und jener römischen Centurioneu, welche unter
Kaiser Claudius oder Nero bis iu die Sumpf- und Morast-
gegenden des Weißen Nils gelangten, als sie die Quellen
des geheimnißvollen Stromes aussuchen wollten. Auf den
Denkmälern der alten Aegypter sind sie in Gestalt und Ge-
sichtsausdruck genau so dargestellt, wie sie uns heute erschei-
nen; nichts hat sich geändert*).
*) In den Types of Mankind, by Nott and Gliddon, Phila-
delphia, sechste Auflage 1854, S. 249 ff., sind Negertypen nach
ägyptischen Denkmälern vortrefflich wiedergegeben. Die ägyptischen
Könige haben ohne Zweifel schon um etwa 2300 vor Christus, als
Sesurtcsen der Erste von der zwölften Dynastie bis nach Obernnbien
vordrang, Neger vom Weißen Nil gekannt. Die Abbildungen erschei-
neu so, als ob heute ein Zeichner Schillucks oder Nuehrs nach dem
Leben darstellte. Die Figur 166 gicbt, wie Gliddon, der viele Jahre
in Aegypten gelebt hat, besonders hervorhebt, Kopf und Physiogno-
mie genau so, wie man sie als Durchlchnittstypus bei etwa zwei
Dritteln aller in Aegypten vorhandenen Neger antreffe. Jener Kopf ist
einem Basrelief aus der Zeit Nhamfes des Dritten (zwanzigste Dy-
am Weißen Nil. 179
Am Blauen Nil, dem Bahr el Asrek, finden wir Spuren
einer Cultur, die ins hohe Alterthnm hinaufreicht, aber am
Bahr el Abiad, diesem Weißen Nil, ist von Uranbeginn der
Tage Alles so barbarisch gewesen, wie noch heute. Iu der
wecken Region zwischen dem 15. Breitengrade und dem Aequa-
tor hat niemals ein Gebäude gestanden, das wir als ein
Hans bezeichnen könnten; nie ist dort auch nur ein schwa-
cher Ansatz zu dem gemacht worden, was wir als Gesell-
schast und als Staat betrachten dürften. Es ist Alles ver-
einzelt, zerklüftet, roh und wild. Und die Menschen, wie sie
stets waren und noch sind, stehen in Harmonie zu dem Lande,
welches sie bewohnen. Es ist Alles weit uud breit nur
Wildniß, in welche die Civilisation nicht einzudringen ver-
mochte. Die brennend heißen Sandwüsten wären kein un-
überwindliches Hinderniß für ein Vordringen gewesen, uud
die Araber, welche auch im nordöstlichen Afrika so zahlreich
sind, liefern den Beweis, was mit Beihülfe schnellfüßiger
Rosse und geduldiger Kameele auszurichten ist. Aber auch
sie haben sich fern gehalten von der Region der Sümpfe
und Moräste am Weißen Strome, aus welchen sieberschwan-
gere Dünste emporsteigen. Vor dem Gluthwinde Simum
haben sie keine Fnrcht, aber das Gebiet der Pestilenz ist von
ihnen stets nur gestreift worden, und anch das nur iu den
nördlichen Theilen. Der Araber zieht den trocknen Sand
und grüne Oasen, auf welchen er seine Herden weiden kann,
dem Wasserlabyrinthe vor, in welchem er namentlich in der
nassen Jahreszeit keinen festen Boden unter dem Fuße hat,
in welchem seine Kameele nicht ausdaueru könnten, wo er
unübersehbares Röhricht findet, wo die Stechmücken ihn qua-
len und wo die Malaria brütet. Er meidet die paludes
immensae, vor welchen die römischen Centnrionen zurück-
bebten; daß aber diese bis etwa zu 10° Nord nach Süden
hin gelangten, beweist dieser Ausdruck: „ungeheuere Mo-
raste".
Als Baker sich 1865 am Weißen Nil befand, war der
Strom in seiner ganzen Breite durch einen gewaltigen Damm
versperrt, der von einem Ufer zum andern reichte und sich
aus gewaltigen Massen von Sumpspslanzen gebildet hatte,
die von oben herabgeschwemnit worden waren und ein dicht
verfitztes Gewirr bildeten; das Wasser mußte sich seinen
Weg unter demselben hindurch bahnen. Auch im Girafen-
slusse, der nun als eine Abzweigung des Hauptstromes er-
kannt worden ist, fand er unter etwa 704g/ N. einen solchen
Damm; durch diesen ließ er eine Wasserbahn hauen, als ob
er eine Eisfläche vor sich gehabt hätte. Solch eine morastige
Wildniß mag ein Paradies für Krokodil, Hippopotamus und
Stechmücke sein, der civilisirte Mensch kann in demselben
nicht ausdaueru; deshalb ist hier der Barbarei ihre Zukunft
für immer gesichert. Die schwarzen Menschen in derselben
werden stets auf sich angewiesen bleiben, bis heute wenigstens
nastie, dreizehntes Jahrhundert vor Christus) entnommen. In reich-
lich 4000 Jahren ist hier von einer „Transmutation" nicht das Aller-
mindeste zu bemerken; der Typus ist sich absolut gleich geblieben.—
Nott hat (Figur 177, S. 255) die Abbildung einer Negerin aus
dem vierzehnten Jahrhundert vor Christus gegeben; sie trägt einen
Lendenschurz von Leopardenfell, ganz ähnlich dem, welchen unsere
Illustration bei den Heliab- und Bor-Frauen zeigt. Er fügt die Verse
eines römischen Dichters aus dem zweiten Jahrhundert unserer Zeit-
rechnung hinzu, die anatomisch vollkommen zutreffen und jenes alt-
ägyptische Bild so zu sagen handgreiflich erläutern. Diese Frau:
Afra genus tota patriam testante figura,
Torta comam, labroque tumens, et fusca colorem;
Pectore lata, jaeens mammis, compressior alvo,
Cruribus exilis, spatiosa prodiga planta;
Oontinuis rimis, calcanea scissa rigebant. ^
Ich meine, selbst Linne, der doch Meister in der Charakteristik
war uud dessen lateinischer Lapidarstil nichts zu wünschen übrig ließ,
hätte die äußere Erscheinung einer alten Negerin nicht plastischer ge-
kennzeichnet. A.
23*
180 Schwarze Vö
hat ihnen die Berührung mit den Weißen lediglich neue Bar-
barei zu der schon vorhandenen gebracht und der Handel sich
mit Nichten als „Civilisationsträger" gezeigt.
Die nördlichsten unter den Stämmen am Weißen Nil
sind die Dinka, Schillucks, Nuehr oder besser Nuwehr, die
Kitsch, Bor, Heliab und Schihr. Wir können sie allesammt
als Wilde bezeichnen; sie haben sich nicht einmal zum Fetisch-
dienst der westafrikanischen Neger erhoben, zu keinerlei Art
von Idolatrie; wenn sie eine Vorstellung von einem höchsten
Wesen haben, so ist dieselbe doch völlig roh und unentwickelt;
was wir als religiöse Gefühle bezeichnen könnten, mangelt
?r am Weißen Nil.
ihnen. „Ihr Geist ist so stagnirend wie der Morast." Die
Männer gehen theils gar nicht, theils nur äußerst dürftig
bekleidet; die Mädchen tragen erst, wenn sie mannbar gewor-
den sind, einen schmalen Hüftenschurz oder ein Stück Thier-
sell. Mit Ausnahme der Kitsch sind alle diese Völker hoch
gewachsen und kräftig gebaut. Sie bauen kleine Hütten, die
rund und kegelförmig sind, sie säen auf den trockenen Stel-
len etwas Durrah und haben zahlreiche Herden von Rind-
vieh. Sie schlachten nur selten ein Stück, wohl aber öffnen
sie dem Vieh eine Ader, um das Blut entweder roh oder
gekocht zu genießen. Ihre Lieblingsnahrung besteht in Milch,
Kitsch -
welche mit Kuhurin gemischt wird. Wild wird in Fallen
gefangen, Fische harpunirt man. Nur ausnahmsweise herrscht
Ruhe und Friede; insgemein folgt eine Fehde der andern,
weil der Viehraub kaum ein Ende nimmt. Ein eigentliches
Eheverhältniß ist unbekannt; ein Mann nimmt so viele
Frauen, wie er haben will; er kauft sie sich sür so und so viel
Stück Vieh.
Das hier Gesagte gilt im Wesentlichen von sämmtlichen
Uferstämmen. Lieblingswaffe ist eine lange Lanze oder auch
eine Keule von Eisenholz; manche führen auch Bogen und
Pfeile. Die Häuptlinge üben eine nur sehr beschränkte Ge-
walt aus; nur die Schillucks hatten früher eine Art von
Neger.
König, einen Meck; seit einiger Zeit ist aber diese Würde in
Abgang gekommen. Alle sind in ihrer Weise putzsüchtig;
Glasperlen, Ringe von Eisen und Kupfer, Hacken und Lan-
zenfpitzen bilden die Artikel des Tauschhandels. Sie ver-
stehen Eisen zu schmieden und verfertigen Lanzen- und ein-
gezackte Pfeilspitzen; auch brennen sie Kohlen für ihre höchst
primitive Schmiede. Bei den Schihr, in deren Gebiete kein
Eisen vorkommt, verfertigt man die Pfeilspitzen aus Eisen-
holz.
Die Kitsch nehmen eine Ausnahmestellung ein; sie bil-
den „das allerelendeste Volk, das man sich nur denken kann".
Wilhelm von Harnier (Reise am obern Nil, Darmstadt
Schwarze Völker a
1866, dessen Zeichnungen, Platte 6, unsere Illustration nach-
gebildet ist) bezeichnet sie als „ein im Allgemeinen hnnge-
riges Volk", das aber sein Elend lediglich seiner eigenen
Trägheit zu verdanken habe. Die Kitsch-Neger gehören zu
den Denka-Stämmen und bewohnen das westliche User unter
dem 7. und 8. Breitengrade. Allerdings gehen sie aus den
Fischsang aus und treiben Viehzucht, aber sie sind viel zu
trag, den Boden regelmäßig anzubauen. Die weiter nörd-
lich wohnenden Stämme bringen einige Lebensmittel zu den
anlegenden Schiffen, um dagegen Glasperlen einzutauschen;
die Kitsch dagegen verschmäheten diesen Luxusartikel, gaben aber
willig ihre Waffen gegen einige Handvoll Getreide her. In
der trocknen Jahreszeit herrscht bei ihnen manchmal Hungers-
noth. Männer wie Frauen gehen durchschnittlich ganz nn-
bekleidet; die letzteren rauchen leidenschaftlich gern Taback ans
plumpen Pfeifen. Andere Berichte behaupten, sie trieben
nur deshalb keinen Feldbau, weil ihr ganzes Gebiet allzu
sumpfig fei; das ist offenbar nicht der Fall, wie die genaue
Zeichnung Harnier's zeigt, wenigstens gilt das nicht von allen
ihren Stämmen. Bei einzelnen derselben mag es indessen zu-
treffend sein, daß sie, wie Baker, der auch bei ihnen war,
sich ausdrückt: „für ihre Lebensmittel vom Fifchfang und
vom Fallenstellen abhängig sind. Sie erscheinen äußerst
abgemagert und wandern wie die Störche über das Land, um
Eidechsen, Mäuse, Schlangen, Heuschrecken und weiße Amei-
sen zu suchen. Sie verwenden Stunden darauf, um Feld-
mause aus den Löchern herauszuholen." Baker hat nicht
bedacht, daß Feldmäuse uicht im Sumpfe leben, und er über-
treibt, wenn er die Kitfch als „eine Race von Gerip-
Pen" bezeichnet.
Die Kitsch gehören, wie schon gesagt, zu den Denka-
Stämmen, welche südlich von den Schillucks sich ausdeh-
nen; sie sind von Robert Hartmann (Naturgeschichtlich-me-
dicinische Skizze der Nilländer. Berlin 1865. S. 292 ff.)
sehr gut charakterisirt worden. Er bezeichnet den Denkawi
als Prototyp eines echten centralafrikanifchen Negers; er sei
durchschnittlich 5 ^/z bis 6 Fuß hoch und von äußerst schlau-
kein Körperbau, der im Allgemeinen sehr proportionirt sei.
„Merkwürdig ist die außerordentliche Magerkeit aller
Denka-Neger. Von Fettpolster ist bei ihnen sast gar keine
Spur zu finden, und unter ihrer dunkeln, fammetartigen,
kühl anzufühlenden Haut treten die sich spannenden Mus-
keln und Sehnen wie Drahtstränge hervor. Die Knochen-
symphysen, Leisten, Fortsätze nnd Höcker der Knochen sind
als kantige, eckige und spitzige Theile sichtbar. Die fleisch-
losen, anscheinend fast nur aus Haut und Knochen bestehen-
den Lenden machen den Eindruck, als feien sie stark einwärts
zu einem X-Beine gekrümmt, und doch ist dies, bei sast im-
mer normaler Stellung des Beines, nur eine durch die Ma-
gerkeit hervorgebrachte Täuschung. Diese dürren Lenden so-
wie die wadenlosen Unterschenkel verleihen dem Denkawi etwas
Storchähnliches; man kann seine Extremitäten als Spinnen-
glieder bezeichnen. Erhöht wird der sonderbare Eindruck,
wenn diese Neger, was häufig der Fall ist, das eine Bein
krümmen, und Reihervögeln gleich, stundenlang auf ihrem
andern Beine stehen."
Jedenfalls sind die Kitsch, und die Denka überhaupt,
wohl der magerste Menschenstamm auf Erden. Die Män-
ner färben das Haupthaar roth, indem sie dasselbe mit einer
dicken Lage von Kuhmist und Holzasche überziehen. „Wenn,"
sagt Baker, „ein alter Mann unkräftig wird, gehen feine
Frauen an den ältesten Sohn über." Das Mädchen wird
verheirathet, sobald es etwa vierzehn Jahre zählt. Wenn
Baker hervorhebt, daß die Kitsch auf der alleruiedrigsten
Stufe sich befinden und kaum „höher stehen als der Tschim-
panse", so ist das eine starke Übertreibung, und es ist tröst-
Weißen Nil. 181
lich, von anderer Seite zu erfahren, daß es bei ihnen weder
an Eltern- noch au Kindesliebe fehle.
Zu den Denka-Stämmeu gehören auch die Heliab und
die Bor. Die ersteren sind die südlichen Nachbarn der
Kitsch, am Westuser, zwischen 6 und 7° Nord. Die Bor
bewohnen ihnen gegenüber das Ostufer. Auch diese beiden
Völker sind mehr ernst als heiter und haben nur wenige
Lustbarkeiten. Die hauptsächlichsten sind plumpe Tänze zur
Feier einer Hochzeit, einer glücklichen Jagd, eines siegreichen
Feldzuges und nach der Durrahernte. Harnier war Zeuge
eines festlichen Tanzes, welcher aufgeführt wurde, nachdem
die Jäger einen Elephanten erlegt hatten; jetzt waren gute
Tage, weil man Fleisch nach Herzenslust schmausen konnte.
Der Tanz wird nur allein von Weibern aufgeführt; sie
entfalten dabei großen Aufwand von Schmuck und absonder-
lichen Zierrathen. Die Hüften sind, wie unsere Jllustra-
tiou zeigt, mit einem langhaarigen Ziegen- oder Leopardenfelle
umgürtet; um Brust und Rücken werden eiserne Ketten ge-
schlnngen und eben dergleichen Ringe in großer Anzahl an
Beinen und Armen getragen; dazu kommen Perlschnüre um
Hals und Leib. Das in dünnen Strängen feingelockte, oft
roth gefärbte Haupthaar ist mit Perlenschnüren zusammen-
gebunden und mit kleinen Federn geziert; an Hals nnd Ar-
men bringt man feingeflochtene Schnüre mit zierlichen Haar-
quasten und anderen kleinen Gehängen an. Jede Frau trägt
in der Hand einen Rohrstab; alle bewegen sich, im Tact
hüpfend, gleichmäßig im Kreife herum; während sie den
Oberkörper ruckweis erschüttern, schlagen sie abwechselnd mit
Armen und Beinen zusammen, damit die eisernen Ketten und
Ringe klirren.
Die religiösen Ansichten aller dieser Stämme sind, wie
schon gesagt, sehr roh. Es wird behauptet, daß sie an einen
Weltschöpfer glauben, den sie Dendj-Deth nennen; dann auch
an gute und böse Geister, gleichsam verkörperte Natnrgewal-
ten. „Tvdt ist tobt," sagen sie. Zur Beschwörung der
bösen Geister, Dijok, haben sie Zauberer, Ti-it, welche auch
Regenwetter verkündigen und Bauchredner sind. EinTi-it
wird hoch geehrt, wenn seine Prophezeiung sich erfüllt, wenn
nicht, steht sein Leben auf dem Spiele. Allgeniein ist bei
den Denka das Ausreißen der vier unteren Schneidezähne;
in Folge desselben schwinden allmälig die Zahnfächer und
der horizontale Ast des Unterkiefers tritt gegen den Ober-
kiefer stark zurück. Daun wird die Unterlippe von der Ober-
lippe in fast rüsselartiger Weise überragt. — Die verschie-
denen Dorfschaften haben kein gemeinsames Oberhaupt und
dem Dorfältesten stehen nur sehr genüge Befugnisse zu. Die
Männer sind kriegslustig, die einzelnen Horden befehden sich
ohne Unterlaß und setzen sich auch gegen die ruchlosen wei-
ßen Menschenräuber tapfer zur Wehr. Als die Türken und
Franken zuerst bei ihnen erschienen, zeigten diese Wilden sich
offen, gastfrei, voll Vertrauen; sie fahen in den Fremdlingen
gleichsam höhere Wesen. Das Alles änderte sich rasch, als
die Weißen die Hetzjagden auf Menschen systematisch betrie-
ben, und die Dörfer überfallen, geplündert und eingeäschert
wurden. Nun beschuldigt man diese mißhandelten, schwer
heimgesuchten Schwarzen, daß sie heimtückisch, grausam, ver*
rätherisch und rachsüchtig seien! Als ob das Wunder neh-
men könnte. Der Menschenraub hatte eine Zeit lang so
großen Umfang angenommen, daß dadurch die Zahl der
Uferbewohner sich beträchtlich vermindert hat, und ein großer
Theil derer, welche verschont blieben, weiter ins Innere ge-
zogen ist, wo er sicher vor weißen Räubern zu sein glanbt.
Einen scharfen Gegensatz zu den Denka bilden die Nuehr
oder Nuwehr, welche an^beiden Ufern des Stromes, etwa
unter 9« N., verbreitet sind. Sie haben einen zwar schlan-
ken, aber kräftigen Körperbau, oft von 6 Fuß Höhe, und
182 Schwarze Vi
nehmen sich ganz stattlich aus. Ihre Hautfarbe schillert nicht
so entschieden ins Blauschwarze, wie jenes der Denka; aber
sie pudern, eben so wie die Schillucks, den Leib häufig mit
weißer Asche ein, und dann erhält ihre schwarze Haut ein
•• hellgraues, sammetartiges Ansehen. Ihre Züge sind zwar
auch stumpf, aber nicht gerade unangenehm. Der Kopfputz
ist eigenthümlich. Durch einen 3 bis 4 Zoll dicken, auf das
Haupthaar aufgetragenen Teig, dessen Hauptbestandtheil Kuh-
mist bildet, bringen sie nach Verlauf längerer Zeit bei ihrem
von Natur kurzen und wolligen schwarzen Haare (—nicht
wie R. Hartmann S. 299 irrthümlich angiebt, „langem,
ix am Weißen Nil.
weichem Haupthaar"; ein solches ist von Haus aus bei Ne-
gern eine Sache der Unmöglichkeit —) eine rothe Farbe,
größere Länge und seidenartige Weichheit hervor, und solch
eine rothe, nach hinten zurückgestrichene Haarmasse gilt für
einen großen Schmuck des Mannes. Bisweilen tragen sie
Panther- oder Affenfelle, welche um den Hals geknüpft wer-
den und über die Brust bis auf die Schenkel herabhängen.
Manche zieren ihr Haupt mit einer runden, aus Glas ge-
flochteuen Mütze, die mit Glasperlen dicht besetzt ist und
einen dicken Haarbüschel hat. Der Schmuck der Frauen ist
in der That originell. Sie stecken in die durchbohrte Ober-
lippe einen dünnen Grasstengel, ans welchen kleine blaue
Perlen gereiht sind. Dergleichen Grasstengel stehen über-
Haupt in Gunst, denn sie werden auch, in Ringform gebogen,
am Ohrläppchen und am Hinterhaupte getragen; der Rand
der Ohrmuscheln wird mit kleinen Kupferringen behangen.
Aus der Ferne gesehen, erscheint eine Nuehrfrau wie ein „ge-
schwänzter Mensch", wenn sie ein Thierfell, welches nach
hinten uud vorn spitz zulaufend herabhängt, um die Hüften
geschlagen hat; gewöhnlich trägt sie aber statt desselben einen
Kranz von etwa zwei Fuß langem Schilfgrase. — Jedes
Dors der Nuehr hat einen Bengdid, Aeltesten, Häuptling;
-Neger.
jede einzelne Gemeinde ist von der andern unabhängig, aber
in Kriegszeiten vereinigen sie sich. Hnngersnoth kommt bei
ihnen nicht vor, da sie Durrah, Erdnüsse und Sesam bauen,
auch Rindvieh halten.
Ein sehr zahlreiches Volk bilden die Schillucks; sie sind
am westlichen Ufer des Stromes zwischen 9° und 10° Nord,
nach dem Innern hin weit verbreitet und haben das ganze
Gewirr von Inseln inne, welches auch auf jener Strecke der
Weiße Nil aufweist. Der Boden dieser Eilande ist von
üppig wachsenden Sträuchern völlig bedeckt, und sie sind
rings von Wasserpflanzen umsäumt. Au seichteu Stellen
Schwarze Völker am
schießt in unabsehbaren Mengen und massenweisAmbadsch
hervor (Herminiera elaphroxylon), jenes „seltsame Kork-
Holz" , das federleicht ist; die geflügelten Blüthen dieser Le-
gummöse sind dunkelgelb. Auf sehr vielen Inseln bildet der
Ambadsch undurchdringliche Wälle oder grüne Mauern, welche
nur an solchen Stellen eine Unterbrechung erfahren, wo Kro-
Weißen Nil. 183
kodile ihre Lagerplätze haben oder die Nilpferde mit ihren
plumpen Füßen sich jene Pfade getreten haben, welche sie
allnächtlich benutzen, wenn sie zu ihren Weideplätzen gehen.
Diese Pfade werden auch wohl von Löwen und Leoparden
benutzt, wenn diese zur Tränke gehen. Hinter dem schwim-
Menden und wogenden Saume vou Laub und Blüthen tre-
Nuehr.
ten höhere Gewächse auf, namentlich auch Schlinggewächse,
welche häusig ein, man kann wohl sagen, Mattenwerk bilden.
Sie ranken sich auch bis hoch hinauf au den mächtigen
Sonthakazien, diesen Mimosen, deren Stämme manchmal
drei Fuß Durchmesser haben und namentlich int nördlichen
Theile der Schilluckregion finstere Wälder bilden, gleich der
Seyalakazie, welche weiter südlich auftritt. Abwechselnd mit
dem niedrigen Schilfgras und Ambadfchwäldern treten ostnn-
geheure Schilfrohr- und Papyrusdickichte auf; sie fesseln
durch ihr verschiedenes Grün und den anmuthigen Wuchs;
das Schilsrohr schießt gewaltig empor und überragt weit die
etwa 13 Fuß hohen Papyrussteugel, an deren Spitze ein
184 Fordes über das
zierlicher Wedel hängt. Von den Schlingpflanzen hat eine
Winde herrlich rothe Blüthen, und sie sowohl wie eine Kür-
bisart schlingt sich an den schlanken Papyrus- und Schilf-
stengeln empor.
Auf dem Wasserspiegel bildet ein merkwürdiges Gewächs,
Pistia stratiotes, ausgedehnte grüne Teppiche. Jede ein-
zelne Pflanze besteht aus einer vielfachen Rose von grünen
Blättern; sie schwimmt frei auf der Oberfläche und senkt
feine Wurzelfasern ins Wasser hinab, ohne sich auf dem
Grunde festzuwurzeln. Wilhelm von Harnier sah häufig,
daß sie von Wind und Strömung in großen Massen an den
Ufern zusammengetrieben wurden, und daß andere Massen in
Gesellschaft den Fluß herabtrieben. Wo sie sich dann sest-
legen und verstauen, tragen sie wesentlich dazn bei, jene vege-
tabilifchen Dämme zu bilden, welcher wir fchon oben erwähn-
ten und deren einer den Schiffen Baker's die Weiterfahrt
stroman unmöglich machte. Solch eine nilotische Landschaft
macht einen eigenthümlichen Eindruck und ist nicht ohne Reiz.
Der nordamerikanische Reisende Bayard Taylor vergleicht
manche der kleineren Inseln mit schwimmenden Pflanzen-
bergen. Die Thierwelt in diesen Gegenden wird schon vor
Sonnenaufgang munter. Die wilden Vögel verlassen ihre
Ruheplätze; die sogenannten Zickzacks fliegen zwitschernd über
die Wellen und rufen ihre Gefährten, die noch fchläferigerd
Krokodile, wach; der Reiher streckt seine Flügel dem Zuge
der Morgenluft entgegen; die Affen springen von einem
Aste zum andern oder klettern auf und ab. Dann erscheinen
auch in größerer oder geringerer Zahl neben einander die
Nilpferde und spritzen Wasser in die Luft.
In solchen Gegenden wohnen die Schillucks; sie gehören
zn den Fnnki-. oder Fnndj-Völkern, die auch den Blauen Fluß
zum großen Theil inne haben. Unsere Illustration zeigt
ihre äußere Erscheinung. Die Lippen sind nicht eigentlich
wnlstig, der Mund aber ragt, bei stark ausgeprägter Nasen-
lippenlinie, bei manchen Individuen schnauzenartig hervor.
Der Gliederbau ist schlank, aber nicht unkräftig, die Beine
sind in den Knien manchmal schwach einwärts gebogen;
die dunkelschwarze Haut zeigt den blänlich-graueu Schiller
der echten centralafrikanischen Neger. Diese geben alle-
sammt viel auf eiueu Kopfputz, der uns wunderlich genug
vorkommt, als Ersatz gleichsam für den mangelnden Kleider-
putz, von dem ja bei Leuten, welche fast ganz nackt gehen,
keine Rede sein kann. Der Schilkawi (Singular von Schil-
luck) scheert sein wolliges Haar auf die maunichfaltigste Weise
und klebt dasselbe mit Fett und rother Erde zu einer Masse
Innere unserer Erde.
zusammen. So bildet er große Kämme und kleine Quer-
leisten oder kegelförmige Spitzen am Hinterkopfe; manchmal
erhöhet er diesen Schmuck, indem er eine Strauß- oder Ma-
rabutfeder hinzufügt. Als Waffe führt er eine 4 Fuß lange
Keule von hartem Holze und eine mit lanzettförmiger Spitze
versehene, bis 10 Fuß lange Lanze, an deren unterm Schaft-
ende ein Büschel Girafenhaare nicht fehlen darf. Um den
Hals trägt er große venetianische Glasperlen, sogenannte
Taubeneier (Berrete Gesasi); die Frau schmückt sich auch
mit blauen, vielseitig geschliffenen Guriol-Glasperlen. Ganz
nothwcndig für den Mann ist ein scharfkantiger Elfenbein-
ring am Oberarm. Was er als Hülle etwa am Leibe trägt,
ist nicht der Rede Werth; die Frau hängt ein Kalbfell um,
jedoch so, daß Oberkörper und Arme frei bleiben; sie scheert
das Haupthaar völlig ab und trägt an den Fußknöcheln
Kupferringe. Sie raucht Taback aus kolossalen Pfeifen,
deren Mundstück durch einen kleinen Kürbis gebildet wird.
Die Schilluck treiben Ackerbau; sie ernten Dochn, Dur-
rah, Sesamkürbisse, Taback uud etwas Baumwolle, sammeln
auch wilden Reis, züchten Buckelrinder, haben Schafe und
Ziegen und halten Hühner. Die Nachen, in welchen sie den
Fischfang betreiben, sind Einbäume, die aus einem Akazien-
stamme bestehen. Der Strom gilt ihnen in gewissem Sinne
für heilig; ihr Stammvater, Njekom, erscheint ihnen manch-
mal in der Gestalt eines Ichneumon, einer Ratte oder irgend
eines andern Thieres unter den ihm geheiligten Bäumen.
Wir sagten schon weiter oben, daß die Schillucks bis vor
etwa zehn Jahren unter einem despotisch herrschenden Ober-
Haupte, einem Könige (Med; oder Bondu), standen, welcher
die Dorfhänptlinge ernannte uud welchem alles Elfenbein
abgeliefert werden mußte. Im Jahre 1861 wurde er von
den Baggara-Arabern besiegt, vertrieben und seitdem macht
Aegypten Anspruch auf einen großen Theil des Schilluck-
gebietes; der gegenwärtige Bondu muß nach Chartnm Tribut
zahlen. Es ist, wie schon gesagt, die Absicht der ägyptischen
Regierung, den ganzen innern Sudan bis zu den Aeqnatorialseen
zu unterwerfen, die Bewohner zum Anbau der Baumwolle zu
zwingen, Tribut von ihnen zu erheben und solchergestalt „der
Zivilisation neue Gebiete zu erobern". Der Tribut, so mei-
nen wir unsererseits, wird spärlich genug ausfallen, die Civi-
lisation, oder das, was der ägyptische Khedive so benennen
läßt, um iu Europa „Sympathien" der Baumwollenphilan-
thropen zu kapern, wird in jenen Gegenden keine Wurzeln
schlagen, aber die Länder- nnd Völkerkunde hat auf eine reiche
Ernte zu hoffen.
Fordes über das Innere unserer Erde.
ii.
Obgleich die Lehre, daß die Erde eine geschmolzene Kugel,
bedeckt von einer dünnen festen Kruste, sei, fast allgemein von
den Geologen angenommen war, so sind doch in den letzten
Jahren einige Argumente dagegen aufgebracht worden, welche
sich zu Gunsten der Ansicht aussprechen, daß unser Pla-
net ganz oder doch fast ganz aus solider Masse be-
stehe. Diese Argumente müssen hier, um der Wahrheit so
nahe wie möglich zu kommen, in Betracht gezogen werden.
Zunächst wäre da die Frage zu beantworten, wie es
denn überhaupt möglich sei, daß eine so dünne Kruste fest
bliebe und nicht gleich wieder von der Ungeheuern geschmol-
zenen Masse unter ihr aufgesaugt und wieder geschmolzen
werde? Dieses würde unzweifelhaft der Fall sein, wenn die
geschmolzene Centralmasse die Befähigung besäße, ihre nr-
sprüngliche Hitzemenge beizubehalten, die sie besaß, als sie
die Form eines fenerflüssigen Balles annahm. Dieser Ein-
wurf ist indessen leicht beseitigt, da überhaupt eine erste Kruste
sich gar nicht bilden konnte, wenn nicht die Kugel selbst von
ihrer äußern Fläche der umgebenden Atmosphäre mehr Hitze
abgegeben hätte, als sie aus ihrem Innern wieder ersetzt er-
hielt, um sich gauz iiu flüssigen Zustande zu erhalten. Es
leuchtet daher ein, daß wenn einmal eine solche Kruste, auch
Forbes über das
noch so dünn, gebildet war, sie nicht wieder geschmolzen oder
absorbirt werden konnte.
Dieser äußere Proceß des Festwerdens in Folge von
Abkühlung wird dann von außen nach innen zu sich so lange
fortgesetzt haben, bis eine solche Dicke der Kruste erlangt war,
die durch ihre schlechte Wärmeleitung hinreichte, sowohl die
abkühlende Thätigkeit der umgebenden Luft als auch den
Verlust von mehr Hitze aus dem Innern der geschmolzenen
Masse zu hindern oder zu ueutralisireu. So wurde ein Zu-
stand herbeigeführt, in welchem beide Thätigkeiten, die er-
Hitzende und die abkühlende, sich die Wage hielten. Dieser
Zustand herrscht gegenwärtig; denn die Erdoberfläche erhält
keine, oder nur eine kaum wahrnehmbare Menge Wärme
aus dem Innern, und ist in dieser Beziehung jetzt ganz von
den Sonnenstrahlen abhängig.
Ein anderer Einwurf meint: Wenn das Aeußere unfe-
rer Erde in der That nur eine so dünne Kruste besitzt wie
die Schale auf dem Ei ist, wie kann sie dann die Festigkeit
haben, welche sie zeigt, und das enorme Gewicht der Gebirgs-
massen, wie der Alpen, des Himalaya, der Anden, tragen,
Felsengebirge, die weit über der durchschnittlichen Erhebung
emporragen? Aber auch dieser Einwurf, der Manchem, ohne
näher auf die Sache einzugehen, plausibel erscheinen konnte,
steht auf schwachen Füßen. Es ist nur nöthig, sich eine
Vorstellung von dem relativen Verhältniß zu machen, in dem
selbst die höchsten Gebirge zum ganzen Globus stehen, und
man wird erkennen, daß wenn die Erdkruste überhaupt sich
selbst zu tragen vermag, sie auch die höchsten Gebirge mit
Leichtigkeit tragen kann.
Die bedeutendsten Spitzen des Himalaya erreichen eine
Höhe von 28,000 Fuß; sie sind mehr als eine deutsche Meile
über dem Meeresspiegel gelegen. Könnte man die Erde mit
ihren Oberflächenunebenheiten genau auf die Größe einer
Orange reducireu, so würde sie fast wie ein glatter Ball
aussehen; denn im Verhältniß zum Ganzen erschienen Hi-
malaya und Anden kaum so bedeutend wie die Wärzchen auf
der Schale einer Orange. Wenn diese dünne Erdkruste sich
selbst tragen kann, so ist sie auch nicht von einem Vergleichs-
weise so unbedeutenden Gewichte wie jenem des Himalaya
oder der Anden zu durchdrücken. Es wäre so, als wenn die
Schale eines Eies dadurch zerquetscht würde, wenn man ein
Stückchen Schale eines andern Eies auf dieselbe legte.
Daß eine so dünne sphäroidische Kruste oder Schale, die
einen Körper von flüssigem Stoff einschließt, wie das Hüh-
nerei, in sich selbst einen ungemein hohen Grad von Festig-
keit und Kraft besitzt, um dem Drucke von außen zu wider-
stehen, kann man leicht erproben, indem man kleine Gewichte
auf die Schale legt, die allmälig vermehrt schon ein ziem-
liches Gewicht erreichen müssen, um das Ei zu zerquetschen.
Selbst wenn man die Gewichte aus die Seite, den schwäch-
sten Theil des Eies, legt, so trägt dort noch ein Raum von
einem Viertelquadratzoll mehrere Pfunde, ohne zu zerbrechen.
Mit anderen Worten: dieses einfache Experiment zeigt, daß
wenn die solide Kruste unseres Planeten im Verhältniß nur
so dick und stark wie die Schale eines Eies ist, sie auch im
Stande ist, recht gut viele aufeinander gehäufte Himalayas
zu tragen, ohne eingedrückt zu werden.
Ein weiterer Einwurf dagegen, daß das Innere unseres
Planeten ganz aus feuerflüssiger Masse bestehe, wird aus
Betrachtungen rein astronomischer Art abgeleitet. Setzt
man zwei Uhren in Gang, deren Pendel vollkommen unter-
einander gleich sind, mit Ausnahme der Scheibe oder des
Gewichtes daran, von denen das eine Gewicht aus fester
Masse, das andere aus einer mit Oueckfilber gefüllten Hülfe
besteht, so wird sich zwischen ihrem Gang ein Unterschied
ergeben; die Uhr mit dem Onecksilberpendel wird der andern
Globus XIX. Nr. 12. (April 1871.)
innere unserer Erde. 185
vorgehen, da ihr Pendel rascher schwingt. Pros. Hopkins
von Cambridge wandte diese Beobachtung auf die Bewe-
gungeu der Erde im Räume an, und bewies durch eine un-
gemein weitläufige und gelehrte mathematische Berechnung,
daß die Erde wenn auch nicht ganz, doch annähernd aus
einer festen Masse bestehen müsse, da nach seinen Resultaten,
wenn sie eine flüssige, nur von dünner Kruste überzogene
Masse sei, die Summe gewisser ihrer Bewegungen (die Pre-
cession) bedeutend von den thatsächlich bekannten Beweguu-
geu unseres Planeten abweichen müsse. Durch nachfolgende
Berechnungen von W. Thomson und Pratt wurde die An-
sicht von Hopkins bestätigt. Wenn nun auch schwere Zweifel
über die Correctheit der bei diesen Berechnungen angewand-
ten Methode laut wurden (da von den Astronomen die con-
densirende Thätigkeit des Druckes und die ausdehnende Thä-
tigkeit der hohen Temperatur innerhalb der Erde außer Acht ge-
lassen war, und da ferner ein schwingendes Pendelgewicht aus
polirtem Glas, gefüllt mit Quecksilber, nicht vollkommen snb-
stituireud einem Sphäroid mit geschmolzener Lava, das um
seine eigene Achse sich bewegt, erachtet werden konnte), so
fühlten die Geologen sich doch selbst nicht im Stande, den
Argumenten der Mathematiker und Astronomen genügend
zu antworten, da keiner in den betreffenden Wissenschaften
so bewandert war, um die Rechnungsmethoden einer Prüfung
unterziehen zu können.
So stand die Controverse bis zur Mitte des Jahres 1863,
als der Director des Observatoriums von Paris, Del au-
uay, das Problem einer neuen Betrachtung unterzog. Seine
mit vielem Scharfsinn und erstaunlicher Mühe durchgeführte
Arbeit, bei der die verschiedensten Momente in Erwägung
gezogen wurden, zeigte nun auf das Deutlichste, daß die An-
ficht von Hopkins durchaus unhaltbar sei, ja daß — wie
er durch Experimente zeigte — eine mit flüssiger Masse ge-
füllte Kugel unter Umständen, wie sie gegenwärtig bei un-
serer Erde vorliegen, genau sich so verhalten muß wie eine
ganz solide Kugel. Er folgerte daraus, daß die Frage, ob
unsere Erde in ihrem Innern solide oder seuerflüssig sei,
durch die von Hopkins in diese Frage hereingezogene Pre-
cession oder Nutatiou nicht gelöst werden könne; ebenso sei
diese nicht geeignet, Aufschlüsse über die tatsächliche oder an-
nähernde Dicke der Erdkruste zu geben.
In Deutschland hatte der große Physiker Helmholtz
schon früher sich ganz entschieden gegen die Schlußfolgerungen
von Hopkins, Thomson und Pratt ausgesprochen. Auch
Henessey in England wies manches Unrichtige in der astro-
nomischen Betrachtung zurück, die jetzt, insofern als aus ihr
der vollkommen solide Zustand unserer Erde gegenüber der
Anschauung vom feuerflüssigen Innern derselben dargethan
werden soll, als ein überwundener Standpunkt betrachtet wer-
den muß.
Ein weiterer Einwurf gegen die Annahme eines fever-
flüssigen Innern unseres Planeten gründet sich aus das Ge-
setz, daß die Schmelzpunkte von Körpern sich, wenn sie dem
Drucke unterworfen sind, bedeutend erhöhen oder, was dasselbe
sagen will, daß Körper unter Druck mehr Hitze zum Schmel-
zen erfordern, als ohne Druck. Hiervon ausgehend suchte
Professor Bunsen nachzuweisen, daß die Erde einen festen
Kern besitzen müsse, da der ungeheure Druck, welcher auf
das Centrum wirke, die innere Substanz unseres Planeten
so unschmelzbar mache, daß er sich nicht in einem seuerflüs-
sigen Zustande befinden könne. Bis zu einem gewissen Grade
wurde diese Annahme auch durch Experimente unterstützt;
Bunsen und Hopkins machten nämlich mit leicht schmelz-
baren Substanzen, wie Wachs, Walrath, Paraffin und
Schwefel, Versuche, die ein ihnen günstiges Resultat liefer-
teu. Allein woraus es hier ankommt, mit metallischen Kör-
24
186 Fordes über das
Peru machten sie keinerlei Versuche; auch ist der Beweis von
ihnen nur für ganz leichtflüssige Stoffe hergestellt worden.
Bezüglich unserer Erde können die Schlüsse von Bunsen
nicht angenommen werden, da hier Stoffe in Frage kommen,
die er seinen Experimenten nicht unterworfen hat. Ist nun
auch anzunehmen, daß die Stoffe, welche das Innere unserer
Erde zusammensetzen, bis zu einem gewissen Grade mehr
und mehr schwer schmelzbar werden, je näher sie dem Cen-
trum liegen, so muß andererseits auch wieder berücksichtigt
werden, daß diese Schwerschmelzbarkeit wieder durch die Ex-
pansion, welcher die Stoffe in Folge der innern Hitze unter-
liegen, mehr oder minder neutralisirt wird. Da nun ganz
unzweifelhaft durch die Erfahrung dargethan ist, daß die
Temperatur nach dem Erdinnern zu im directen Verhältniß
mit der Tiefe zunimmt, so erscheint es höchst wahrscheinlich,
daß durch das Gesammtwirken der Expansion und erhöhter
Temperatur die Tendenz, durch den Druck ein solides Erd-
innere festzuhalten oder herzustellen, mehr als aufgewogen
wird.
So wären denn die Gründe für und wider aufgezählt
und erwogen worden. Während wir nun aber sehen, daß
die Gründe, welche für das Vorhandensein eines feuerslüssi-
geu Erdinnern aufgezählt wurden, sich auf Thatfachen stützen,
die aus dem unmittelbaren Stndium unserer Erde hervor-
gehen, haben andererseits die Gegner dieser Ansicht, welche an-
nehmen, unser Planet bestehe aus einer einzigen festen Masse,
sich damit begnügt, nur negative Beweise aufzustellen, indem
sie darzuthun suchten, die Erde könne nicht flüssig in ihrem
Innern sein.
Rein geologische Erwägungen führen allemal zu der An-
sicht vom seuerslüssigen Innern unserer Erde. Wie ist es
denn möglich zu sagen, daß dieselbe ganz aus fester Masse
besteht, wenn man die großartigen Hebungen und Senkungen
vor Augen hat, welchen ganz bedeutende Theile der Fels-
sormationen unterworfen gewesen sind, welche die äußere
Schale bilden. Führen diese Erscheinungen nicht zu dem
directen Schlüsse, daß die Erdkruste unmöglich in der Tiefe
anf einer Masse aus festem Stoffe ruhen kann? Ergiebt
sich daraus nicht, daß sie nothwendig aus einer mehr oder
minder flüssigen Materie auflagert, die bei ihrer Beweglich-
keit verdrängt werden kann, wenn ein Theil der Kruste über
ihr einsinkt nnd so Raum für diefe macht, während sie an-
dere Theile derselben emporhebt oder selbst übersluthet?
Nimmt man ferner an, die Erde bestehe wesentlich aus
einer festen Masse, so muß die Erscheinung der Vnlcane an-
ders als bisher erklärt werden. Man gelangt dann zu der
Voraussetzung, daß sie ihre Quellen in zahlreichen vereinzel-
ten Localbeckeu von geschmolzener Felsmasse haben, die über
den ganzen Erdball zerstreut sind. Diese Ansicht ist aber
völlig unvereinbar mit den chemischen und mineralogischen
Erfahrungen, die bisher an den Vulcaueu gemacht wurden,
und aus denen sich ergiebt, daß die Answnrssproducte der-
selben selbst von den am weitesten von einander entfernten
Vulcaueu völlig identisch sind; auch wird dadurch das schon
früher erwähnte Fluthphäuomen bei vulcanischen Ausbrüchen
und Erdbeben nicht im geringsten erklärt. Nach allen bisher
gegen einander abgewogenen Betrachtungen müssen wir immer
noch annehmen, daß in einer Tiefe von etwa 12 Meilen
unter der Oberstäche eine beständige Zone von geschmolze-
nem Fels oder Lava existirt, wie sie bei vulcanischen Aus-
brüchen zu Tage gefördert wird. Es ist nun noch in Er-
wägung zu ziehen, wie tief diese Zone oder Schicht von ge-
schmolzener Materie ist und woraus der eigentliche Central-
kern der Erde innerhalb jener Zone besteht.
Bei Beantwortung dieser Fragen stehen uns directe Er-
sahruugeu nicht zu Gebote. Um aber auf sie Uberhaupt ein-
nnere unserer Erde.
gehen zu können, müssen wir die mittlere Dichtigkeit oder
das tatsächliche Gewicht der Erde selbst kennen lernen. Die
Betrachtung der Anziehung, welche Körper auf einander im
Verhältniß ihrer Größe ausüben, hat den Physikern möglich
gemacht, die anfangs nnlösbar scheinende Aufgabe, das Ge-
wicht unserer Erde zu bestimmen, zu lösen. Es liegt anßer-
halb der Grenzen der hier zu besprechenden Frage, wie diese
Aufgabe gelöst wurde; wir begnügen uns daher mit dem Re-
sultate derselben und berichten, daß das Gesammtgewicht nn-
seres Planeten etwa 51/2 mal so groß ist wie das Gewicht
einer gleich großen Kugel Wasser. Da wir nun wissen, daß
die mittlere Dichtigkeit oder das sogenannte specisische Ge-
wicht unserer Erde 5Vs ist, und da directe Versuche ergeben
haben, daß das specisische Gewicht der ganzen festen Gesteins-
masse, welche die äußere Kruste bildet, nicht höher als 2 V2
oder nicht so groß wie die Hälfte des ganzen Planeten ist,
so folgert ganz naturgemäß hieraus, daß die Centraltheile
ein weit höheres specistsches Gewicht haben müssen, damit
eine so hohe mittlere Dichtigkeit für das Ganze, wie 51/2,
vorhanden sein könne. Man hat nun berechnet, daß, wenn
die Erde aus drei coucentrischen Lagen oder Schalen von
gleicher Dicke besteht, jede derselben in arithmetischer Pro-
gression nach dem Centrum zu an Dichtigkeit zunimmt, daß
eine äußere Schale von 2 V2 fpecisifchem Gewicht, jenem der
Felsarten, eine mittlere Schale von 12 specisischem Gewicht,
dem des Quecksilbers, und ein Centralkern bestehen müsse,
der etwa 20 mal so dicht wie Wasser ist, d. h. der das speci-
sische Gewicht des Goldes hat.
Jrrthümlich ist die Zunahme der Dichtigkeit zuweilen
dem Ungeheuern Drucke der überlagernden Massen zngeschrie-
ben worden; aber diese Annahme ist völlig unhaltbar, da
das Ergebniß all der zahlreichen in dieser Richtung gemach-
ten Versuche deu Beweis geliefert hat, daß die Substanzen
nicht bis zu einer unbestimmbaren Ausdehnung condensirt
oder zusammengepreßt werden können, sondern daß ihr an-
näherndes Dichtigkeitsmaximum bald erreicht ist. Jenseits
desselben werden die Einwirkungen des Druckes so viel ge-
riuger und geringer im Verhältniß zu der angewandten Kraft,
daß zuletzt eine weitere Condensation durch noch größern
Druck absolut unwirksam bleibt. Außerdem darf dabei nicht
vergessen werden, daß die Erdkruste eine Art Kuppel ist,
gleich der Schale des Eies, welche sich selbst trägt, ohne ans
dem flüssigen Innern aufzusitzen oder zu ruhen; ferner ist
in Erwägung zu ziehen, daß die hohe innere Wärme der
Erde gleichfalls den Wirkungen eines Druckes von außen
entgegenarbeitet. Faßt man nun alle diese Thatsacheu zu-
sammeu, so erscheint es völlig evident, daß die Stoffe, welche
gegenwärtig das Innere bilden, unendlich dichter als alle
auf der Oberfläche vorkommenden Gesteinsarten sein, daß sie
metallischer Natur sein müssen, da wir andere Stoffe
nicht kennen, welchen die Bedingung eines gleich hohen speci-
sischen Gewichts innewohnt.
Nehmen wir also an, daß das Innere unserer Erde aus
einer Anzahl von concentrischen Zonen oder Schichten besteht,
die aus Stoffen zusammengesetzt sind, welche dichterer Natur
werden, je mehr wir uns dem Mittelpunkt nähern, und daß
die äußere aus Gestein von 21/2 specisischem Gewicht besteht, so
ergiebt eine Berechnung, daß das Centrum oder der Kern eine
Dichtigkeit von 10, gleich Silber, hat. Wenn wir nun ferner
annehmen, daß die Zone von geschmolzener Lava, die, wie
oben geschlossen wurde, etwa 12 Meilen unter der Oberfläche
beginnen muß, eine Dichtigkeit von 3 oder selbst 4 besitzt, so
ergiebt sich durch Berechnung, daß diese Zone sich nicht tiefer
als etwa 80 deutsche Meilen erstrecken kann, weil unter
dieser Tiefe die Materie so schwer wird, daß ihre Dichtigkeit
nur dadurch erklärt werden kann, daß man sie als aus Me-
Oscar Schneider: Heber ver
tallverbindnngen bestehend a»lnimmt. Was also etwa jenseit
100 deutschen Meilen Tiefe im Innern unserer Erde vor-
Händen ist, besteht aus Metall.
Ist nun dieser große metallische Kern, die Hauptmasse
unseres Planeten, flüssiger oder fester Natur? Nach Buu-
sen's vorhin erwähnter Theorie, die vom Drucke ausgeht, ist
er fest. Die Ansicht würde richtig sein, bestände die Erde
aus sehr zusammenpreßbaren, nicht metallischen Stoffen.
Da aber dieses nicht der Fall und da die schon erwähnten
Experimente darthun, daß weder die Metalle noch die wem-
ger compressiblen Stoffe mehr refractorifch im Verhältnisse
zur Zunahme des Druckes werden (einen größern Grad von
Hitze zu ihrem Schmelzen verlangen), so sind wir berechtigt
beitete palästinensische Hölzer. 187
anzunehmen, daß der Eentralkern flüssiger Natur ist, um so
mehr, als wir nicht allein wissen, daß Metallvcrbindnugen
in der Regel unendlich leichter schmelzbar als Felssilicate
sind, sondern auch, daß auch die hohe Temperatur des Erd-
innern durch ihre Expansionsthätigkeit den Wirkungen des
Druckes entgegenwirkt.
Alles zusammenfassend senkt sich die Wage sehr zu Guu-
steu der Hypothese, daß das Innere unserer Erde aus einer
Masse von geschmolzener Materie besteht, die in concentri-
schen Zonen oder Lagern je nach ihrer Dichtigkeit angeord-
net ist, welche von einer vergleichsweise nur dünnen Kruste
bedeckt sind.
Ueber verarbeitete p
Von Dr. O>
Seit alter Zeit leben in Palästina Hunderte von Men-
schen voil der Verarbeitung einheimischer Materialien und
dem Verkaufe der aus diesen gefertigten Waaren an die Frem-
den, die das gelobte Land bereisen, vornehmlich an die christ-
lichen Pilger. Besonders die Einwohner von Bethlehem
haben sich durch Verarbeitung des Hadfchar Mufa, d. i. des
Asphaltmergels vom Todten Meere, verschiedener Holzarten
und Früchte, von Kameelskuocheu und Perlmutter zu Scha-
len, Kaffeetassen, Crncisixen, Platten mit biblischen Darstel-
luugeu, Rosenkränzen :c. bekannt gemacht und bieten jedem
Fremden in Bethlehem selbst, wie auf dem Platze vor der
Grabeskirche zu Jerusalem ihre Waare mit unermüdlichen
Empfehlungen an. Eben so breiten auch die griechischen
Mönche des romantischen Felsenklosters Marsaba im nntern
Kidronthale, wenn Fremde bei ihnen übernachtet haben, grob
gearbeitete Holzgegenstände auf dem Felsboden aus, um den
Reisenden ein Andenken und sich ein gutes Trinkgeld zu ver-
schaffen. Zu dieser alten, nationalen Industrie ist aber seit
kurzer Zeit nun eine fremde getreten, die, von einem dent-
schen Gewerbtreibenden ausgehend, schon mehrfache Nach-
ahmung gefunden hat, in der Hauptsache aber doch noch in
der Hand des Begründers ruht. Das ist die Verwerthung der
palästinensischen Hölzer zu Producten der feinen Kunst-
tischlerei.
Der, wie alle orientalischen Verkaufsräume, kleine Laden
des deutschen Tischlers, in der Straße gelegen, die vom Jo-
hanniterhospize nach dem Jafsathore hinführt, ist erfüllt mit
schön Polirten und sehr sauber gearbeiteten Holzgegenständen,
die durchweg einen sehr anlockenden Eindruck auf den Be-
schauer machen, weil das schön gemaserte Olivenholz bei
ihneu vorherrscht. Stöcke von Oliven- und Balsamholz,
erstere wunderschön, aber wegen der Sprödigkeit des Holzes
unpraktisch, Briefbeschwerer aus Durchschnitten von Oel-
oder Eicheustämmcn gefertigt, Bucheinbände, theils nur aus
Oliveuholz, theils aus mehreren Hölzern zusammengesetzt,
Schalen und Kartenkörbchen, Lineale und Papiermesser ver-
schiedener Form, Streichhölzchen- und Nadelbüchsen und zahl-
reiche andere kleine Gegenstände, dann aber auch größere
Arbeiten, besonders prächtige, aus verschiedenen Holzarten
zusammengesetzte Tischplatten schweben mir noch vor Augen
und befinden sich zum Theil in meinem Besitze. Alles das
ist so schön und durch den Ort, wo man es kauft, so auzie-
lästinensische Hölzer.
ar Schneider.
heud, daß wohl kaum ein Fremder den Laden verläßt, ohne
seine Reisecasse mehr oder weniger erleichtert zu haben. Um
den Gegenständen noch höhern Werth zu verleihen, ist ge-
wöhnlich jedem Holzstücke in hebräischer oder lateinischer
Schrift der Name eines biblisch wichtigen Ortes ansgeschrie-
ben, von dem dasselbe stammt oder vielleicht — stammen
soll; denn ich fürchte, daß wie überall, so auch hier die In-
dnstrie sich nicht allzu sehr von Regungen des Gemüths wird
leiten lassen; es mögen z. B. wohl so manche der Oliven-
Holzstücke, die den Namen Jerusalem, Bethlehem, Bethanien
und Oelberg tragen, von einem und demselben Baume
stammen.
Das Holz, das verarbeitet wird, ist theils Oliven-, theils
Eichen-, theils Balsamholz. Zu diesen Holzarten gesellt sich
aber bisweilen noch ein schwarzes Material, das wie Ebenholz
aussieht, seine Farbe aber wohl durch Beizung erhalten hat.
Der Oel bäum findet sich an vielen Stellen des nörd-
lichen wie des südlichen Palästina, so z. B. auch in oft großen
Pflanzungen in der Nähe der Dörfer, in den Thalschluchten
des Gebirges Juda und an den Bergabhängen am Wege,
der von Jaffa nach Jerusalem führt, ebenso, wenn auch recht
vereinzelt, am Oelbergs und an dem Steilgehänge des Ber-
ges, auf dem Bethlehem liegt, und an anderen Orten. Die
ältesten Olivenbäume, die ich gesehen, birgt der kleine, von
einer Mauer umschlossene Gethsemanegarten am Westfuße
des Oelberges; sie haben völlig die Gestalt mächtiger, uralter
Weiden, und haben, wenn auch uicht bereits zu Christi Zeit,
so doch sicher weit früher als vor einem Jahrtausend die
Stelle eingenommen, wo wir sie jetzt finden. Das Holz
muß, wie mir scheint, einer besondern Behandlung unter-
worsen werden, wenn es nicht reißen soll.
Eichen, deren ja die heilige Schrift so häufig erwähnt,
finden sich noch heute au verschiedenen Orten besonders des
nördlichen Palästina, wie im Norden der Saronebene, am
Tabor wie an dem obern Jordan, in der Gegend von Has-
beya und am großen Hermon. Das verarbeitete Holz kommt
angeblich aus dem heiligen Haine von Mamreh, in dem schon
Abraham seine Zelte ausgeschlagen haben soll, oder aus He-
brou; wir dürfen, wie schon oben erwähnt, mit diesen Hei-
mathsscheinen nicht allzn kritisch verfahren. Es scheint, als
ob das Holz nicht durchweg einer Eichenart angehöre, wie
denn auch in Palästina verschiedene Species des Baumes,
24*
188 Gisli Brynjulfson:^ Hatten die alten Nm
z. B. die Aeglopseiche am Tabor und die Balluteiche im
Gebirge Gilead, nachgewiesen sind.
Der Balsamstrauch (Opobalsamum declaratum L.)
wurde in alter Zeit eben so an den Ufern des Sees Gene-
zareth, wie in der fruchtbaren Oase von Jericho gehegt.
Burkhardt will ihn in den Gärten von Tiberias noch gesehen
haben, v. Schubert konnte ihn jedoch daselbst bereits nicht
mehr auffinden, und so beruht vielleicht die Angabe Burk-
hardt's wie die alte gleichlautende Notiz Strabo's auf einem
Jrrthume. Bei Jericho aber ist der edle Baum sicher in
großer Menge angepflanzt gewesen, wie die ältesten Schriften
des Alten Testamentes, später Josephus und die Schriftsteller
der Griechen und Römer versichern. Diese „Palmenstadt"
pries Josephus als einen in paradiesischer Landschaft gele-
genen Göttersitz; um sie herum lagen zu Christi Zeit die
ausgedehnten, Üppig prangenden Gärten der Herodianer,
und noch während der Kreuzzüge war dort nach Wilhelm's
von Tyrus Zeugniß ein blühendes Gartenland. Ist des
Plinius Angabe richtig, so ließ sich bereits Alexander der
Große von hier täglich eine Muschel voll des köstlichen Bal-
sams bringen; Pompejus schaffte zuerst den Baum nach Rom
und führte ihn in seinem Triumphzuge den Römern vor,
eben so brachten ihn Vespasian und Titus nach Italien. Außer
Plinius weist besonders Strabo auf den Balsamgarten Je-
richos hin, versichernd, daß die schlauen Judäer den edlen
Baum deshalb nicht an mehreren Orten angepflanzt hätten,
weil sie den Preis des Balsams nicht hätten sinken lassen
wollen; Josephus nennt den Opobalsamum Jerichos köst-
lichstes Product, und in ähnlicher Weise erwähnt auch noch
Dioscorides desselben. Heutzutage nun liegen die großarti-
gen Aquaducte, welche die Elisaquelle speiste, in Trüm-
mern, und deshalb ist der größte Theil der Jericho-Oase
der Wüste anheimgefallen. Nur da, wo das klare Wasser
der Ain es Sultan in mehreren Armen durch die Ebene zieht,
da bedeckt üppige, oft undurchdringliche, aber verwilderte
Vegetation die Fläche bis dahin, wo auch diese lebenerweckeude
Wasserader sich im Wüstensande verliert, und in diesem ver-
wahrlosten Paradiese lebt eine Araberbevölkerung, armselig,
kümmerlich und schmutzig, wie ich sie nirgends sonst gesehen,
ander Kunde von einem offenen Polarmeer.
in Hütten, die zum größten Theil nur aus Dornengeflecht
bestehen. Von dem echten Balsamstrauche ist demgemäß
heute auch nicht eine Spur mehr bei Jericho vorhanden; der
heutige Balsam von Jericho wird vielmehr beut Zukkum oder
Zakknm Murha der heutigen Araber, d. i. nach Wilson dem
Myrobalsamnm, einer Myrobalene, entnommen, und diesem
Baume entstammt wohl auch unser Balsamholz.
Es ist merkwürdig, daß auch an mehreren anderen Or-
ten die Anpflanzungen des echten Balsamstrauches, des Abu-
schau Jemens, ein gleiches Geschick des Aussterbens getroffen
hat. Plinius behauptete zwar, daß nirgends als in Jericho
das Opobalsamum zu finden sei, doch constatirt Josephus,
daß schon in Palästina selbst noch an anderer Stelle, bei
Engaddi am Westufer des Todten Meeres, ein Balsamgar-
ten gewesen sei; dieser wurde nach Brocardus von Cleopatra
nach Aegypten verlegt, und allerdings finden wir auch in
diesem Lande in alter Zeit zwei Anpflanzungen des hoch-
geschätzten Strauches, deren berühmteste sich bei Heliopolis,
dem alten On der Bibel und dem Ain schemesch der Araber,
befand, dessen Trümmer sich bei dem heutigen Dorfe Ma-
tarieh befinden. Scherif Edrisi, der berühmte Geographus
Nubiensis, der 1099 geboren war, berichtet über diese Bal-
samgärten und behauptet, daß sie die einzigen der Welt seien.
Der gewonnene Balsam wurde zu dem Salböl genommen,
das die Kopten bei der Taufe der Kinder verwendeten. Nach
Heinrich Rantzow's Angaben ist der letzte Baum 1615 durch
die Ueberfchwemmung des Nil ausgegangen, und so fand
denn Carsten Niebuhr in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr-
Hunderts keine Spur des Baumes bei Heliopolis.
Die andere Pflanzung auf ägyptischem Gebiete befand
sich bei Cairo, doch auch sie war zu Zeiten des Quaresmius,
d. i. um 1625, bereits seit mehreren Jahrhunderten ansge-
storben. Nicht uninteressant scheint mir schließlich die That-
sache, daß, nach Unger's Bestimmung, die kolossalen Massen
verkieselter Stämme, die östlich von Cairo in dem sogenann-
ten „versteinerten Walde" meilenweit die Wüstenoberfläche
bedecken, einer Baumart augehören, die nach dem ausgezeich-
neten Botaniker Nicolia genannt worden ist und sich dem
Balsambaume eng anschließt.
Hatten die alten Nordländer Kunde von einem offenen Polarmeer?
Von Gisli Brynjulfson.
I.
Herr Brynjulfson, ein gelehrter Isländer, der in Ko-
penhagen lebt, war so freundlich, uns eine Abhandlung zu
übersenden, welche den Titel führt: „Have de gamleNord-
boer havt Kjendskap til et aabent Polarhav imod
Nord?" Sie steht in dänischer Sprache in Nr. 51 bis 53
der „Berlingske politiske og Avertissements-Tidende". Herr
Dr. Friedrich Mehwald in Dresden, ein gründlicher Ken-
ner Skandinaviens und der nordischen Sprachen, ist so freund-
lich gewesen, dieselbe für den „Globus" ins Deutsche zu
übertragen, und wir hoffen, daß sie vielen unserer Leser will-
kommen sein werde. Im Eingange der Abhandlung erwähnt
Herr B. der sorgfältigen Arbeiten Dr. Petermann's über
das-vermeintliche „offene Polarmeer", der Ansichten Sherard
Osborne's und der beiden deutschen Expeditionen nach dem
nördlichen Eismeere. Er berührt dann die Angaben von
Kane und Hayes, welche vom Smith-Suude aus ein offenes
Polarmeer gesehen zu haben meinten. Sie glaubten anneh-
men zu dürfen, daß sich das (hypothetische) offene Polarmeer
zur Sommerzeit mit Leichtigkeit werde befahren lassen, wenn
man im Stande sei, mit einem Eisschläger-Dampfschiffe das
Eis im Smith-Snnde zu durchbrechen und dann weiter nach
Norden durch den Kennedy-Canal hinauf vordringen zu kön-
nen. Wir unsererseits theilen diese Meinung Osborne's :c.
nicht; Herr Brynjulssou seinerseits meint, „daß es sich mit
der Sache auch so verhalte." Zum Beweise könnte mög-
licherweise ein isländischer Bericht ans dem dreizehn-
ten Jahrhundert dienen. Diesen theilt er nun mit, da
derselbe selbst dem fleißig sammelnden Dr. Petermann ent-
gangen sei.
Gisli Brynjulfson: Hatten die alten Nor!!
Um die Bedeutung des alten isländischen Berichtes im
vollen Maße würdigen zu können, muß ich bemerken, daß
Grönland gegen Ende des zehnten Jahrhunderts von Island
aus unter Anführung Eirik des Rothen entdeckt und bevöl-
kert wurde. Außer Eirik (Erich) selbst ließen sich im Ost-
bezirk, ungefähr im 60. bis 61. Grade, im gegenwärtigen
Südgrönland, zehn andere angesehene Isländer nieder, von
denen Jeder die Ueberfahrt in seinem eigenen Schiffe machte.
Auf einem solchen Auswandererschiffe waren meistens 20 bis
30 erwachsene Männer und außerdem Weiber und Kinder.
Später wurden in diesem Ostdistricte 12 Kirchen und 190
Bezirke (oder Sammlungen von Höfen), d. h. Dörfer gefuu-
den, woraus hervorgeht, daß sich hier, wie früher in Island,
die Höfe zu Kirchspielen zusammengethan haben. Im West-
districte, welcher einige Fjorde unterm 64. Breitengrade und
eine unbewohnte Küstengegend von 30 bis 40 Meilen um-
faßte, die vom südlichen Ostbezirk abgetrennt worden war,
ließen sich ebenfalls sogleich im Beginn der Besiedeluug
mehrere Einwanderer von Island nieder, deren Namen aber
nicht aufgezeichnet worden sind, wie jene der neuen Colonisten
im südlichen District. Auch soll später dieser Nordbezirk
nicht mehr als 4 Kirchen, also 4 Kirchspiele umsaßt und
etwa 90 Gutsbezirke gehabt haben. Rechnet man nun auf
jeden Gutsbezirk 20 bis 30 Menschen, so würde die nor-
dische Bevölkerung Grönlands im Alterthum im
Ganzen etwa 5600 bis 8400 Köpfe gezählt haben, von
denen 3800 bis 5700 auf den Ostdistrict und 1800 bis
2700 auf den Westdistrict entfallen sein dürften.
Diese Handvoll Menschen entwickelten, wie die Geschichte
der europäischen Staaten beweist, durch mehrere Jahrhun-
derte, nämlich vom Ende des zehnten bis zur Vereinigung
mit Norwegen im dreizehnten Jahrhundert, unter dem von
neueren norwegischen Geschichtsschreibern und Dichtern ver-
götterten, in Wirklichkeit aber höchst mittelmäßigen und allen
nordischen Geist ertödtenden Haakon Haakonsön dem Alten,
ein Leben und eine Thätigkeit, welche Alles übertraf, was
man von einer so geringzähligen Bevölkerung erwarten konnte.
Wie bekannt, wurde Amerika zuerst von Grönland aus
besucht; die gegenwärtigen Neu-England-Staaten bekamen
den Namen „Weinland", und die unabsehbaren Waldstrecken
an der Mündung des Lorenzstromes (vielleicht auch Neu-
sundland) wurden Markland genannt. Von diesem letztern,
meinte man, komme das Treibholz nach Grönland und
schwimme wohl auch bis in den nördlichsten Theil der Baf-
sinsbai hinauf.
Die Verbindung Grönlands und Amerikas hat sich bis
in die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts erhalten, wenn
auch vielleicht mehr zufällig, nachdem die norwegischen Könige
der Seefahrt der Grönländer den Todesstoß dadurch versetzten,
daß sie deren Handel zum Vortheil der Bergenschen Kauf-
leute, welche wieder nur für die hanseatischen Handelsherren
arbeiteten, monopolisirten. Mit Island wurde die Verbin-
duug in allen Zeiten ununterbrochen unterhalten, weshalb
zuverlässige Nachrichten über das Thun und Treiben der
alten Grönländer nur aus den isländischen Schriften geholt
werden können.
Grönlands Landbau brachte nicht viel; es war mithin
hauptsächlich das Meer, von welchem die Bewohner sowohl
ihre Nahrung als die Handelswaaren für das Ausland holen
mußten. Einen Hauptartikel dieser Handelswaaren bildeten
die kostbaren Walroßzähne *), sowie die Haut dieses Thieres,
*) Im Jahre 1327 bezahlte Grönland den Papstzehnten mit 127
Lispfund (ä 20 Pfund) Walroßzähnen, ein Beweis, welcher Ueber-
fluß von diesem Artikel vorhanden wt'r, und an Peterspfennigen
wurden 3 Lispfund zusammengebracht.
inder Kunde von einem offenen Polarmeer? 189
aus welcher die stärksten Schissstaue bereitet wurden, deren
Festigkeit weltberühmt ist.
Die Hauptbeschäftigung der alten Grönländer war im
Sommer die Fischerei um die ganzen Küsten. Sie wurde
auf die Weife betrieben, daß jeder Großgutsbesitzer (in der
besten Zeit wahrscheinlich nur einer aus jedem Kirchspiel)
große Boote nach Norden ausschickte, welche theils dem Fisch-
fange, theils der Anffammluug von Treibholz obliegen muß-
ten. Alle diese Verhältnisse sind in den isländischen Schrif-
ten klar und ausführlich beschrieben.
Von den südlichsten Höfen Grönlands ging man längs
der Küste östlich um das gegenwärtige Cap Farewell,
welches damals Hvarf genannt wurde und welches nicht
mit dem westlicher gelegenen Hvarfsgrypa zu verwechseln
ist, dessen Name nun Cap Egede ist. Von dort ging man
längs der Ostküste nordwärts hinauf bis zum Gletscher
Hvitserkr, welcher auf Graah's Karte uuterm 62. Grade
liegt.
Auf dieser Strecke unbewohnten Landes gab es viele be-
kannte Fangplätze, welche schon in den frühesten Zeiten er-
wähnt werden, wie z. B. Oellumlengri, Seleyrar, Finsbüdir,
Krossoyjar u. s. w. Letzterer Faugplatz gehörte später dem
Bischofstuhle in Gardar am Einarsfjord (Jgalikko); denn
die Grönländer hatten schon im Anfange des zwölften Jahr-
Hunderts ihren eigenen Bischof, welcher auf dem Hofe ganz
nahe bei Eirik des Rothen alten Haupthofe Brattahlid
residirte.
Zu einer Tagesreise oder Tagesroning (wie es gewöhn-
lich genannt wird) auf einem Boote mit sechs Ruderern wer-
den durchschnittlich fünf Meilen gerechnet. Da nun von
dem südlichsten Bezirk bis Hvitserkr sechs bis sieben Tage,
und von dort bis zum nächsten Gletscher Blaserkr eben so
viel Zeit nöthig war, so muß derselbe auf Graah's Karte
entweder im Gletscher bei Colbergerheide oder im Cap Lö-
venörn gesucht werden. In der Nähe von Bläserkr lagen
und liegen unbewohnte Inseln, welche ab und zu von Island
besucht wurden, und deren erste Entdeckung Eirik den Rothen
veranlaßte, weiter nach Grönland zu ziehen. Auf diesem
Zuge fand man einen dritten Gletscher, längs welchem man
die Küste nicht untersuchen konnte, weshalb dieselbe auch kei-
nen Namen erhielt. Allein es ist wohl sicher anzunehmen,
daß unter dieser namenlosen Küste nur die jetzt noch uube-
kannte Küstenstrecke zwischen dem 65. und 69. Grade ge-
meint sein kann, welcher sich weder Graah (welcher von Sü-
den kam), noch Scoresby und Andere (die von Norden kamen)
nähern konnten.
Dagegen war die von Letztgenannten und mehreren an-
deren neueren Nordpolfahrern besuchte Küste zwischen dem
69. und 73. Grade schon im Alterthum bekannt, da sie von
Island aus bereits im Jahre 1194 entdeckt nndSvalbard
oder Svalbardi (Svalkant oder die Svalkantede) genannt
wurde*). Hieraus ist zu ersehen, daß die alten Jslän-
der und Grönländer die Ostküste Grönlands und
namentlich die Küstenstrecken, welche gegenwärtig wieder von
verschiedenen Nationen besucht und untersucht werden, ganz
und gar kannten und sicherlich mit dem südlichen Theile
dieser Küste vertrauter waren, als unsere neueren Seefahrer,
weil damals das Eis bei weitem nicht so mächtig war als
gegenwärtig. Dagegen hatten die Alten von den Ländern,
welche nördlich von Svalbard lagen, keine zuverlässige Kunde,
sondern nur Vermuthungen und unsichere, fabelhafte Erzäh-
lungen, aus denen jedoch hervorgeht, mit welchem regen In-
') Man rechnet drei Segellage vom nördlichen Island nach Sval-
bard; aber von Irland nach Island sechs Segeltage.
190 Aus
teresse die nordwestlichsten Nordländer im Alterthum diese Fra-
gen behandelten und welch großes Vergnügen es ihnen machte,
die Landbildung und den richtigen Zusammenhang der sich
ihnen überall entgegenstreckenden Vorgebirge, Landnasen und
Gletscherlünse näher kennen zu lernen. Besonders interes-
sirte sie die Frage: wie hoch nach Norden wohl das
Land hinauslaufen möge; denn unter ihnen herrschte die
allgemeine Meinung, daß von Grönlands unbewohnbaren
Gegenden eine buchtenreiche Küste weit nach Norden hinans-
laufe und sich dann ganz östlich nach Bjarmeland ziehe, d. h.
in der Richtung von Spitzbergen über Gillis Land bis nach
Novaja-Semlja, wenn nicht noch weiter nördlich. Die gro-
ßen Meerbusen, welche von Süden herauf sich in die ver-
meintliche Küstenstrecke einkeilten, nannte man daher Hass-
botnar (Havsender, eigentlich Havsbunde), und das meist
mit Eis erfüllte Südmeer hieß Dumbshaf, oder kurzweg:
das todte Meer. Die vorhistorischen und gänzlich mythi-
schen Sagas erzählen, daß in diesem Meere eine von lauter
Riesen bewohnte Insel liege, welche Dnmsland (sicherlich
Spitzbergen) heiße und stets unter Königen gestanden habe,
die den Namen Dumbr führten. Das eigentliche Risaland
dachte man sich noch weiter nach Norden gelegen, wo derselbe
König über des alten Nordens glückliche Hyperboräer, Gnd-
numd von Glasisvold, allezeit herrschte, über seine sünfhnn-
dert Riesen auf dem Hofe Grund in der Herrschaft Glasis-
vellir. In seinem Reiche, wo im Sommer die Sonne nie-
mals unterging, lag das Feld der Unsterblichkeit
(Odäinsakr).
Es ist leicht einzusehen, daß dies Alles nur Fabeln sind,
wenn auch uralte und recht ansprechende; denn die allgemeine
Ansicht unter den denkenden Männern war, daß die ganze
lange Küstenstrecke öde und unbewohnt sei, gegen welche Mei-
nung sich aber die Grönländer sträuben. Sie glauben das
Entgegengesetzte dadurch beweisen zu können, daß sie als
Thatsache anführen: bisweilen kommt Treibholz vom Nord-
pol herab, welches deutlich zeigt, daß es von Menschen zu-
gehauen ist; ebenso sind Renthiere mit Zeichen in den Ohren,
oder Bändern um die Geweihe, ja sogar Schafe, welche man
dahin getrieben haben muß, vou Norden herabgekommen.
Ein Schafkopf hängt in Drontheims, ein anderer in Ber-
l Erdtheilen.
gens Museum. Außer diesen haben die Grönländer noch
mehr angebliche Beweise für ihre Meinung.
Diesen Nachweis hat der bekannte isländische Annalist
Björn Jonsson von Skardsaa im Anfange des siebenzehnten
Jahrhunderts in der noch aufbewahrten isländischen Perga-
menthandschrist Hauksbog (vom Anfange des vierzehnten
Jahrhunderts) aufgezeichnet gefunden. Diese Handschrift
sagt, daß sie selbst einer noch altern Schrift, welche Gripla
geheißen, entnommen sei, die wahrscheinlich in einer Samm-
lung von verschiedenen historischen und geographischen No-
tizen und Auszeichnungen vom dreizehnten, ja vielleicht vom
zwölften Jahrhundert bestanden habe. Aus derselbe» Quelle
hat Björn Jonsson sicherlich auch folgenden kurzen, aber nicht
uninteressanten Bericht geschöpft. In unserm alten Buche,
sagt er, wird auch Grönlands und dessen Natur erwähnt, so
weit nämlich Menschen daselbst wohnen. Aber wo die un-
bewohnten Gegenden anfangen, da sind nur Gletscher, öde
Felsgebirge, Meerbuchten und Wüsten bis zum äußersten
Osten gen Gandvik (das weiße Meer). Ferner steht in dem
Buche geschrieben, daß daselbst ein Mann gewesen, welcher
Haller geheißen und den Zunamen Hallr geit (Gede-Hall)
geführt habe. Ihm allein soll es geglückt sein, zu Laude
und zu Fuß über Felsen und Gletscher, durch alle Wüsten
und um alle Meerbuchten bis Gandvik und von da nach Nor-
wegen zu kommen. Er reiste in Gesellschaft einer Ziege,
von deren Milch er lebte. Denn er suchte meistens solche
Thäler und schmale Wege zwischen den Gletschern, wo einige
Vegetation war, so daß seine Ziege ihre Nahrung theils im
Grase, theils in Baumzweigen finden konnte.
Diese durch ihre hervorspringende Einfachheit ansprechende
Erzählung, welche, wie unglaublich sie auch klingen mag,
doch in ihrem Tone nicht den mythischen Sagas von Berg-
geistern und allerlei übernatürlichen Wesen aus vorhistorischer
Zeit gleicht, wenn sie auch unter die Sagas gezählt werden
muß, gründet sich möglicherweise ans eine Wirklichkeit aus
späterer Zeit. Unter allen Umständen dient sie als Beweis
dafür, daß man schon vor und seit Jahrhunderten im Norden
über dieselben Probleme der Land- und Wasservertheilnng
am Nordpole gegrübelt hat, welche heute noch die Wissen-
schaft lebhaft beschäftigen.
Aus allen
Die Vegetation der Salomonsinseln.
r. d. lieber diesen Gegenstand hielt I. Atkin am 19. Ja-
nuar einen Vortrag in der Linnean Society, der manches Neue
über diese noch wenig durchforschten Inseln im Stillen Ocean
enthält. Atkin brachte mehrere Monate auf den Inseln zu,
namentlich auf Christoval oder Bauro, dem südlichsten Eilande,
zwischen 10 und 11° s. Br. und 162 und 163° ö. L. V. Gr.
gelegen. Wie die übrigen Salomonen ist auch Christoval vul-
canischer Natur; Erdbeben, wenn auch nicht stark, sind dort
häufig und wiederholen sich fast in jedem Monate. Der nächste
active Vulcan ist der 200 engl. Meilen weiter westlich gelegene
Tinkalu. Die nasse Jahreszeit fällt in den Winter, nament-
lich in den Anfang des Juli; alsdann fällt außerordentlich viel
Regen. Die Temperatur ist sehr einförmig. Atkin hat den
Thermometer nie unter 75 und über 88« F. im Schatten oder
132» F. in der Sonne gesehen, also resp. 24, 31 und 551/2°
Celsius. Die Luft ist sehr feucht. Während der Jnselrand aus
Korallen besteht, erhebt sich das wahrscheinlich granitische Hoch-
Erdtheilen.
land von Christoval bis zu 4000 Fuß. Die ganze Insel ist, die
Gestade ausgenommen, dicht mit Vegetation bedeckt. Gräser
sind selten. In den Wäldern erreichen nur wenige Bäume einen
Durchmesser von 5 Fuß; das Unterholz ist sehr dicht und Schling-
pflanzen sind zahlreich; Atkin fand eine Aroidee und neun Or-
chideen, sämmtlich Schmarotzer; Zingiberarten, darunter der echte
Ingwer, giebt es verschiedene; von Pandanus wurden vier Species
beobachtet. Die Kokos- und die Sagopalme sind einheimisch;
die letztere erreicht eine Höhe von acht Fuß; die Eingeborenen
benutzen ihre Wedel zum Dachdecken. Auch die Arecapalme und
die Betelrebe kommen vor; Betel wird allgemein gekaut. Hains
wird cultivirt; die Brotfrucht ist häufig; bittere Orangen und
Mangos wachsen wild. Atkin beobachtete eine Cycas, die bis
40 Fuß hoch wird und zuweilen Zweige hat. Von Farrn wa-
ren die Geschlechter Asplenium und Acrostichum am häufigsten;
Baumsarrn wurden keine gefunden, obgleich sie auf den benach-
barten Banksinfeln häufig sind. Die übrigen beobachteten Ge-
wächse waren: zwei Convolvuli, eine Jpomöa, zwei Hibisci,
zwei Kasuarinen, zwei Akazien, ein Baum und ein Strauch,
Aus allen
eine Begonia, dieselbe Art, welche auf den Banksinseln vorkommt,
eine Nessel.
Atkin gab auch kurze Mittheilungen über die Bewohner und
die Thier Welt der Salomonen. Die letztere ist, wie auf allen
Inseln des Stillen Oceans, nicht stark vertreten, immerhin aber
bedeutender als auf den weiter östlich gelegenen Eilanden. Hunde
und Schweine sind häufig, beide, wie Atkin sagt, scheinbar ein-
heimisch; Opossums und eine kleine Ratte kommen vor. Schöne
Vögel sind nicht selten, doch fehlt der weiße Kakadu, obgleich er
auf benachbarten Inseln, die nur durch eine 15 engl. Meilen
breite Straße getrennt sind, häusig ist. Die Jnsecten sind reich-
lich vertreten, Land- und Wasserfchlangen in Menge vorhanden,
doch ist keine von ihnen giftig. Kleine Scorpione sind häufig;
Alligatoren dagegen selten. Frösche sindet man sehr viele, Ei-
dechsen sind in ungeheurer Masse auf den Inseln; auch fand
Atkin eine vier Fuß lange Jguana. Bei der Seltenheit von
Reptilien auf den Inseln der Südsee sind namentlich die letz-
teren Bemerkungen von Bedeutung.
Unkrautvertilgung in Neuseeland.
In Schottland bestand früher ein Gesetz, welches ähnlich in
Dänemark heute noch gilt, daß nämlich die Feldbesitzer bei Strafe
gehalten waren, die wuchernde gelbe Sternblume (Chrysanthe-
mum segetum) auszurotten. Eine Parallele hierzu finden wir
in Neuseeland. Im verflossenen Jahre stand ein Grundbesitzer
dort vor dem Gerichte in Lyttelton, angeklagt, die so sehr über-
Hand nehmenden Disteln auf seinem Felde nicht ausgerottet zu
haben, trotzdem er dazu aufgefordert worden war. Zur Ver-
theidigung bemerkte der Angeklagte, daß er sich zehn Tage lang
bemüht habe, das Unkraut aus dem Felde zu vertilgen und daß
er zehn Esel nur zu diesem Zwecke gehalten habe, die Distel-
köpfe abzufressen? allein Alles sei umsonst gewesen. Der Ge-
richtshof indessen war der Meinung, daß ein solches Uebergreifen
des Unkrautes, welches den Nachbarfeldern gefährlich würde,
nicht habe stattfinden können, wenn der Angeklagte von vorn-
herein, dem Gesetze gemäß, die nöthige Vorsicht beobachtet haben
würde. Er ward zu fünf Schilling Strafe verurtheilt. — Ein
anderes Unkraut, bekannt als Eape-Weed, eine Eompofitee
(Hypochaeris radiata), hat sich in der Umgebung Dunedins
auf der Südinsel in beforgnißerregender Weise vermehrt. Als
Eape-Weed bezeichnet man auf dem australischen Continente da-
gegen die lästige Cryptostemma calendulaceum; diese Pflanze
hat dort viel Schaden gestiftet; aus einem Berichte unseres
Landsmannes Dr. Müller über den botanischen Garten in Mel-
bourne geht jedoch hervor, daß durch die Einführung der Klee-,
Luzern- und Grascultur dieses schädliche Unkraut mehr und
mehr verdrängt wird. Europäische Pflanzen bleiben dort Sie-
ger, wie der europäische Mensch.
Aus Nordamerika.
Die große pacisische Südbahn soll ihren Ausgangs-
Punkt inShreveport haben und über Marshall in Texas, mög-
lichst nahe dem 32° N., bis nach San Diego in Kalifornien ge-
führt werden. In verschiedenen Theilen des Südens sind gegen-
wärtig Bahnen im Bau, welche bei Vicksburg zusammenlaufen;
vermittelst derselben werden die sämmtlichen Schienenwege des
Südens mit der großen Ostwestbahn in Verbindung kommen.
_ Der Eisenbahnbau im Staate Missouri macht
große Fortschritte. Zu Ende des Jahres 1870 waren 417 Miles
neu vollendet und die Länge der Schienenwege betrug 2055
Miles. Gegenwärtig sind 1182 Miles in Bau begriffen.
— In Delaware County, Staat Iowa, hat der Land-
wirth Mallory von 40 Acres nicht weniger als 3000 Büschel
Mais geerntet; also 75 auf den Acre; ferner von 2 Acres
etwa 100 Büschel Hafer. Iowa hat sich zu einem der wichtig-
sten Ackerbaustaaten emporgeschwungen.
— Boston und Umgegend hat im verflossenen Winter eine
Erdtheilen. 191
Eisernte von 500,000 Tonnen gehalten, die zur Ausfuhr be-
reit liegen.
— Anthracitkohle ist nun auch an der Küste des Großen
Oceans gefunden worden. Die Regierung der Colonie Bri-
tisch Columbia hatte einen Preis von 2500 Dollars für die
ersten 250 Tons Kohlen versprochen, welche nach einein aus-
wärtigen Hasen exportirt wurden. Man entdeckte auf der Kö-
nigin Charlotte Insel ein Kohlenlager, das von einer Com-
pagnie ausgebeutet wird. Am 12. Februar ist uns von dort
in San Francisco ein Schiff mit 450 Tonnen der besten An-
thracitkohlen eingelaufen. Man wird künftig dort die Kohlen
nicht mehr aus Australien, Philadelphia oder England zu be-
ziehen haben, sondern hat sie billiger und von eben so guter
Qualität für Dampfschiffe und Gasanstalten in der Nähe.
— Die Sparcaffen in San Francisco. Kalifornien
hatte am 1. Januar 1871 Einlagen im Betrage von nicht wem-
ger als 31,289,550 Dollars Gold. Die Anzahl der Einleger
betrug 36,862 und auf jeden kommen durchschnittlich 848 Dollars
83 Cents. Von den Depositen hatten die Sparcaffen nahe an
30,000,000 Dollars ausgeborgt.
— Vor etwa 30 Jahren gründete bekanntlich der franzö-
sische Communist Cabet aus Dijon eine sogenannte icarische
Colonie in Texas. Sie mißlang eben so wohl, wie jene zu
Nauvoo in Illinois, wohin die Jcarier gezogen waren, nachdem
man von dort die Mormonen vertrieben hatte. Seit langer Zeit
hat man nichts wieder von ihnen gehört; jetzt aber finden wir
die Angaben, daß sie in Nähe von Corning, in Adams County,
Iowa, feit 1854 eine „Kommunität" bilden. Sie haben etwa
2000 Morgen Land in Betrieb, leben friedlich, bekennen sich
zum Urchristenthume und verwerfen alle im Verlaufe von Jahr-
hunderten durch die Geistlichkeit aufgestellten Dogmen.
— Von Raritäten haben die Blätter wieder allerlei zu
berichten. So hat in Sheboygan County, Wisconsin, ein Pastor,
welcher als Gefangenenprediger angestellt ist, eine ins Zuchthaus
gefperrte Dirne geheirathet; die dortige Zeitung schreibt: „Die
Verwandten der Braut sind mit einer solchen Verbindung nicht
recht zufrieden." — Zu Bennington in Vermont haben die Yankee-
demoifellen dem Taback Krieg auf Tod und Leben erklärt. Alle
Mitglieder ihres Vereins haben jedes männliche Individuum,
welches Taback kauet, fchnupft oder raucht, für unfähig erklärt,
mit einer Lady gesellschaftlich zu verkehren oder sich von ihr
Heirathen zu lassen. Gewürznelken zu kauen, bleibt den Herren
unbenommen.
— Ehescheidungen werden immer wohlfeiler. Zu Shu-
buta im Staate Miffiffippi sind von den Radicalen auch
manche Neger zu Richterämtern befördert worden. Zu einem
derselben, Namens Clay, kam ein Neger mit seiner Geliebten,
Miß Linda, und bat von seiner bisherigen Frau Jenny geschie-
den zu werden; sie sei ihm nicht mehr hübsch genug. „Warum
nicht?" sprach der schwarze Richter, „es kostet aber 5 Dollars."
Sie wurden richtig bezahlt, und Jenny hatte das Nachsehen. —
Mit dem Eheschließen geht es überhaupt wunderlich zu. In
Iowa wurde (dem „Des Moines Register", 18. December, zu-
folge) ein Brautpaar nicht im Haufe oder in der Kirche ge-
traut, sondern während der Fahrt in einem Eisenbahn-
wagen. Dasselbe hatte den willfährigen Eivilbeamten gleich mit-
genommen, er gab Sarah Rotenbaugh mit Herrn Madifon Pace
zusanimen. Demnächst sind Trauungen zu Roß zu erwarten,
jene auf Dampfbooten kamen bereits wieder aus der Mode.
Die „Revolution", das Organ der Frauenrechtlerinnen in
Neuyork, ist bitterböfe darüber, daß man weiße Ladies ver-
achtet, die mit ihren schwarzen Liebhabern Arm in Arm
auf der Straße sich zeigen. „Eine junge Dame ist in Sche-
nectady (Staat Neuyork) dasür mit 20 Dollars Strafe belegt
worden, und weil sie diese Summe nicht zahlen kann, hat man
sie ins Gesängniß gesteckt! Abscheulich!" — Das „Womens
Journal", ein zu Boston erscheinendes Blatt der Weiberrecht-
lerinnen, wird von einer Madame Livermore herausgegeben.
Sie ist mit einem Geistlichen verheirathet. Die starkgeistige
102
Aus allen Erdtheilen.
Pastorsfrau schreibt: „Man sollte den Heirathsvertrag
auf ein bis drei Jahr abschließen, je nach Wunsch der
contrahirenden Parteien."
— Die Stadt Westfield in Massachusetts hat etwa 6000
Einwohner und nicht weniger als zweiundfunfzig Brannt-
weinschänken, deren alfo auf je 125 Leute eine kommt. In
North Attleborough findet ein ähnliches Verhältnitz statt.
Dort haben 125 Frauen einen Bund geschlossen, um die „Gift-
Höllen" zu zerstören. Der Angloamerikaner weiß im Trinken
kein Maß zu halten; er bewegt sich im Extrem, ist Säufer
oder absoluter Nüchternheitsmensch; für das „gemüthliche Knei-
pen" der Deutschen beim Lagerbier oder Wein hat er kein Ver-
ständniß.
— Die schwarzen Gesetzgeber des Staates Südcarolina,
welche zusammengenommen noch nicht 500 Dollars Steuern im
Jahre zahlen, haben sich als Diäten für die letztverflossene
Session der Legislatur die Kleinigkeit von nur 260,000 Dollars
zugebilligt. Die Nigger verstehen sich in der Musterrepublik
nicht minder gut auf smarte Job's, wie die weißen Legisla-
toren im Congresse zu Washington. Nebenbei haben sie die
zinstragende Schuld des Staates um etwas mehr als 2 Millio-
nen Dollars erhöht.
— In den nördlichen Staaten vermindert sich die Zahl
der Neger. In Neujersey z. B. betrug sie 1360 noch 25,318
Köpfe; 1870 nur 24,671. In diesen zehn Jahren ist die weiße
Bevölkerung des Staates von 465,500 auf beinahe 1,000,000
Seelen angewachsen.
— Bescheiden sind die Neger in den Südstaaten nicht.
Eine Anzahl derselben, welche sich zum Arbeiten nicht aufgelegt
fühlt, hielt am 10. Februar zu Atlanta in Georgien eine Eon-
vention. Diese beschloß von der Bundesregierung die Summe
von 1 Million Dollars als „Vorschuß" zu verlangen; dafür
wollen die fchwarzen Herren sich Heimstätten anschaffen.
— Dem Berichte derLeichenbeschauer(Coroners) inNeu-
York zufolge hat man 1870 todtgeborene und todt in den Stra-
ßen gefundene Kinder 169 gezählt; verbrannt sind 60 Menschen;
durch die Straßeneisenbahnen umgekommen 42, 33 und 22;
durch Maschinen zerquetscht 24; dem Sonnenstiche erlegen 176;
Selbstmorde 112, davon 23 weiblich. Von den Selbstmördern
waren 23 Amerikaner, 55 Deutsche, 15 Jrländer, 9 Englän-
der, 4 Schotten, 3 Franzosen. Ermordet oder todtgeschla-
gen wurden 41 Personen, also jeden neunten Tag eine. Ver-
haftet wurden 82,768, also täglich 229 Personen. Zahl der
Heirathen 8519, der Geburten 14,763, der Sterbefälle 27,144.
— In der Stadt Neu York, wo aus Parteizwecken die
Zählungslisten gefälscht worden waren, hat nun eine letzte Zäh-
lung 942,252 Köpfe ergeben; die frühere war auf 925,485 fest-
gestellt worden.
— Der verflossene Winter ist in Nordamerika einer der
strengsten im Lause dieses Jahrhunderts gewesen, und die Wölfe
kamen in großen Rudeln auch in solche Gegenden, wo man sie
früher nicht beobachtet hatte. Sie zerrissen z. V. einem Land-
wirthe in Warren Eounty, Illinois, 41 Stück Schafe; in Wis-
consin waren sie in so großer Zahl, daß sie die Straßen gefähr-
lich machten, und Fußreisende wie Reiter nur in Gesellschaf-
ten und wohl bewaffnet ihre Wanderungen wagen konnten.
* * *
— Wir haben den Tod Wilhelm Lejean's anzuzeigen'
Er starb im März (wir finden das Datum nicht angegeben) zu
Plouegat-Guerande bei Morlaix, und war erst vor Kurzem aus
den unteren Donaugegenden zurückgekommen, wo er sich mit
Inhalt: Schwarze Völker am Weißen Nil. (Mit vi>
(Schluß.) — lieber verarbeitete palästinensische Hölzer. Von T
von einem offenen Polarmeer? Von Gisli Brynjulfson. —
Unkrautvertilgung in Neuseeland. — Aus Nordamerika. — Vi
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für I
Druck und Verlag von Friedrich V
kartographischen Arbeiten beschäftigt hatte. Lejean war ein eifri-
ger Geograph und hatte viele weite Reifen gemacht. Eine Zeit
lang war er französischer Eonsul, wenn wir nicht irren in Mon-
tenegro, und entwarf dort eine von Dr. Petermann veröffent-
lichte ethnographische Karte der südslavischen Länder und der
Verbreitung der Albanesen. Im Auftrage der französischen Ne-
gierung unternahm er eine Reise nach Mesopotamien; er be-
suchte auch Kaschmir, Sindh und das Pendschab. Als
Eonsul in Massawah unternahm er eine Wanderung zu König
Theodor von Abyssinien, der ihn eine Zeitlang gefangen hielt.
Die Leser des „Globus" erinnern sich, daß unsere Zeitschrift
ausführliche Schilderungen aller dieser Reisen nebst einer großen
Anzahl von Illustrationen mitgetheilt hat. Wir hoffen, dem-
nächst noch einige seiner Berichte über Kaschmir und die Völker
im Gebirgsland am obern Indus mit bildlichen Erläuterungen
geben zu können.
— Politiker und Advocaten giebt es im Lande der Ma-
gyaren zu vielen Tausenden, aber für den Volksunterricht ge-
schieht wenig. Pesther Blätter melden, daß in der zempliner
Gespanschaft siebenzehn Lehrer, welche an Volksschu-
len unterrichten, nicht schreiben können. Was in Un-
garn möglich ist, würde in China, Siam, Japan ?e. unmög-
lich fein.
— Eine Tabackszeitung und Professor Huxley'.
In Liverpool erscheint eine Zeitschrift unter dem Titel Coper
Tobacco Plant, a monthly periodical, interesting the ma-
nufacturer, the dealer and the Smober; in der Januar-
nummer 1871 enthält sie wörtlich Folgendes: „Huxley und
Genossen! Aufgepaßt! Ein amerikanisches Blatt sagt: Pro-
fefsor Huxley ist auf dem Wege ein guter Christ zu werden;
denn er raucht nun, nachdem er 40 Jahre lang ein Feind des
Tabacks gewesen ist. Auf diesen Ausspruch gestützt fragen wir
nun Prof. Huxley und Genossen: Wollen sie es zugeben, daß
der bezeichnete Gentleman kein Christ war während der vierzig
Jahre, daß er nicht rauchte? Und daß der erste Schritt zum
Heile — das Rauchen ist? Wir erwarten eine Antwort; denn
sollten wir in die Lage gerathen, den Argumenten der eifrigen
Tabacksfeinde weichen zu müssen, so könnten wir in die unfehl-
barste Argumentenstopferei, das religiöfe Gefühl, zurück-
verfallen."
— r. d. Haifischfalle auf den Comoroinseln. Lieu-
tenant C. H. Taylor, vom englischen Kriegsschiffe Cossack, kreuzte
1869 bis 1870 im Mosambikcanal. Er berichtet, daß nament-
lich in der Umgebung der Comoroinseln die Haifische sehr häusig
seien und von den Eingeborenen der Insel Johanna oder An-
juan wegen des Fleisches, das jene essen, und des Oels, das sie
aus dem Fische bereiten, vielfach gefangen würden. Zu faul
jedoch auf gewöhnliche Art zu fischen, bedienen sie sich hierzu
einer eigenen schwimmenden Falle, die aus einem kleinen
Floß besteht, an dem die Fangleine und der Angelhaken nebst
Köder angebracht sind. Durch eine Leine steht letzterer noch mit
einem Signalpfahle in Verbindung, der über dem Floß empor-
steht und durch einen an der Spitze angebrachten Korb weithin
kenntlich ist. Hat der Haififch den Köder verschluckt, so fällt,
durch das Anziehen der Leine, der Signalpfahl um. Die auf-
passenden Johannamänner kommen herangefahren und bemäch-
tigen sich der Beute. So zeigt der Hai selbst seinen Fang an.
— Die Kohlengruben in Neuschottland hatten von
1827 bis 1869 eine Ausbeute von 9,023,701 Tonnen geliefert.
In dem erstgenannten Jahre ergaben sie nur 11,491 Tonnen,
im letztgenannten dagegen 578,062 Tonnen.
Abbildungen.). — Forbes über das Innere unserer Erde.
Oscar Schneider. — Hatten die alten Nordländer Kunde
Aus allen Erdtheilen: Die Vegetation der Salomonsinseln. —
>ie Nedactivn verantwortlich: H- Vieweg in Nraunsckweig.
ieweg und Soh» in Braunschweig.
l\^
it besonderer Herücksicktigung äer Antkrogologie unä Gtknologie.
ün
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
ÄPrlI Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1871.
t
Vanconver-Jnsel und Britisch-Colmnbia.
Die ganze Nordwestküste Amerikas hat binnen einem
Menschenalter eine völlige Umwandelnng erfahren. Sie
war früher „am Ende der Welt" und war von Mexico bis
zur Behringsstraße eine Wildniß, in welcher kleine Ortschaf-
ten und vereinzelte Stationen der Pelzhändler zerstreut lagen.
Die reichen Hülssqnellen dieser Region blieben unbekannt
und unbenutzt; nur die Hudsonsbai-Compagnie und die ruf-
fische Handelsgesellschaft sandten dann und wann ein Schiff,
um die Ausbeute der Jagd zu holen. Alles dort war öde und
unbelebt.
Seit der Entdeckung dieser Küstenländer find mehr als
dreihundert Jahre verflossen, bevor man den Werth und die
Bedeutung derselben schützen lernte. Bis 1532 kam von
Aeapulco in Mexico aus kein spanisches Fahrzeug höher hin-
auf, als bis Culiacan, im heutigen Sinaloa, am Eingange
zum califoruifcheu Meerbusen; 1635 nahmen die Spanier-
Besitz von der Halbinsel Calisornien, aber erst 1540 wurde
die Mündung des Colorado entdeckt und eine Expedition in
das heutige Sonora unternommen*). Zwei Jahre später
gelangte man bis etwa zum Cap Meudociuo in Obercali-
formen, vielleicht auch schon weiter nach Norden hin. Franz
Drake, einer der kühnsten Freibeuter und intelligentesten See-
fahre/, welche jemals auf den Oceanen geschifft sind, wird
') Eigentlich sollte man Senora sagen. Antonio de Mendoza
war Vicekonig von Mexico; Coronado, welcher den Zug anführte,
benannte diese Gegend Senora, weil der Viceköiug in seinem Wap-
pen ein Bild der „Nuchra Senora de Vuena Guida", Unserer lie-
ben Frau der sichern Leitung, führte. Für Entdecker war eine solche
Schutzheilige allerdings keine üble Patronin. A.
Globus XIX. Nr. 13. (April 1871.)
1579 wohl bis 48"N. gelangt sein. DurchBehring's dritte
Reise, 1741, wurde festgestellt, daß Asien und Amerika durch
einen Meeressund von einander getrennt sind, und die Küste
wurde vom Norden her bis zu 56° N. bekannt. Zwischen
diesem Punkt und Calisornien blieb dann noch eine weite
Lücke auszufüllen. Die Jnan-de-Fuca-Straße, etwas uörd-
lich von 48<> N., war allerdings schon 1592 von Fnca ent-
deckt worden; Juan Perez kam 1774 bis an den Nutkafund
und zur Köuigiu-Charlotten-Jnsel, und Heceta ist im August
1775 vor der Mündung des Columbia vorübergefahren,
welche er für eine Meeresbucht hielt. Es unterliegt keinem
Zweifel, daß spanische Seefahrer die ganze Strecke vom Cap
Mendocino bis über 48 0 N. hinaus eher als die Engländer
befahren haben. Cook kam 1778 an die Westküste, besuchte
auch deu Nutkafund auf der Vancouver-Jusel und erforschte
die Westküste bis 59° Nord. Seit jener Zeit ist dieselbe
dann häufig befahren worden; Grey ankerte im Mai 1792
in der Mündung des Columbiastromes, welche auf dem
Landwege im September 1806 von Lewis und Clarke er-
reicht wurde.
Seitdem das Land im Westen der Felsengebirge bekannt
geworden, gründete die Hudsonsbai-Compagnie eine Anzahl
von Handelsfactoreien; ihre Nebenbuhlerin, die Montreal-
oder Nordwest-Compagnie, legte Pelzhandelsstationen an den
nördlichen Zuflüssen des Columbia an, und Fräser bauete
das nach ihm benannte Fort am Fraserslufse im Jahre 1806,
die erste Pelzstation im heutigen Britisch-Colnmbia. Die
Montreal- und die Hudsonsbai-Gesellschaft waren lange
Zeit erbitterte Rivalen; nachdem sie sich 1821 vereinigt,
25
Vancouver-
Jnsel
und Britisch-Columbia.
war die letztere Compagnie Gebieterin über
das britische Amerika von der canadischen Grenze
bis zum Großen Ocean; sie erwarb 1849 noch
die Insel Vancouver unter der Bedingung, die-
selbe zu colouisireu. Sie banete ein Fort am
Südende der Insel, wo jetzt Victoria liegt,
und gründete die kleinen Stationen Nonauno
irad Fort Rupert. Victoria wurde bald ein
wichtiger Niederlageplatz für den Pelzhandel,
aber mit der Besiedelnng beeilte die Compagnie
sich so wenig, daß 1853 kanm 450 weiße Leute,
und diese zumeist Angestellte der Compagnie,
ans Vancouver lebten. Das gegenüberliegende
Festland blieb beinahe unbeachtet; es lag nicht
im Interesse der Gesellschaft, Colonisten dort-
hin zu ziehen, durch welche ihr Pelzhandel hätte
beeinträchtigt werden können. Glücklicherweise
wurde ihr Monopol 1859 beseitigt; Insel und
Festland erhielten einen Gouverneur von der
Reichsregierung, und fortan war für Jeder-
mann freie Beweglichkeit gestattet. Im Jahre
1858 waren die Goldgruben am Fraserstrome
bekannt geworden, und nun strömten Tau-
sende von Abenteurern ins Land, denen betrieb-
^ same Gewerbsleute, Ackerbauer und Kaufleute
•£r folgten. Victoria wurde zur Hauptstadt der
^ Jusel erklärt, das iu der Nähe liegende Es-
I qutntalt erhielt ein Marinespital und wurde
I Flottenstation für das Geschwader; unsere Jllu-
Z stratiou zeigt die Anfänge der jetzt so rasch auf-
^ blühenden Stadt.
H Ein Blick auf die Karte zeigt, daß die
-| ganze Westküste Amerikas, vom südlichen Chile
^ an nach Norden hin bis zu 48° N., fast ganz
® ohne vorliegende Inseln ist. Dagegen erscheint
M sie von hier, von der Fucastraße ab, auf einer
Strecke von zehn Breitengraden mit Eiland-
fluren förmlich übersäet; doch liegt keine dieser
w Inseln in beträchtlicher Entfernung vom festen
.j| Lande. Alle sind länglich gestaltet und bilden
<2 gleichsam eine Fortsetzung der Sierra Nevada
^ und der Cascadenkette. Ihre Gestade sind,
gleich jenen des gegenüberliegenden Festlandes,
zerrissen und zerklüftet; sie bieten eine unzähl-
bare Menge von Buchten uud Einfahrten mit
Ankerplätzen, aber die Fahrt zwischen ihnen in
den engen Straßen ist insbesondere für Segel-
schiffe wegen der heftigen Strömungen und der
häusigen Nebel gefährlich; selbst die Dampfer
müssen in jenem Felfenlabyrinthe mit großer
Vorsicht zu Werke gehen.
Was wir heute als Britisch-Columbia be-
zeichnen, wurde wegen der an Schottland erin-
nernden Küstengestaltung Neu - Caledonien
benannt; Neu-Georgia umfaßte, «ach Van-
couver, die Strecken zwischen 45 und 50° N.;
was zwischen 50 und 54 Grad liegt, war Neu-
Hannover. Die Südgrenze gegen die Ver-
einigten Staaten wird, gemäß dem sogenannten
Oregonvertrage von 1846, durch den 49° N.
gebildet.
Zwischen Cap Flattert) im Territorium
Washington und der gegenüber liegenden Küste
von Vancouver liegt der Eingang zur Juan-
de-Fuca-Straße; an der südöstlichen Spitze
der Insel, da wo die nach Norden ziehende, in
Vancouver-Insel
und
Britisch-Columbia. 195
den Golf von Georgia führende Haro-Straße
beginnt, liegen die beiden schon genannten
Haupthäfen. Jene Einfahrt hat eine Breite
von etwa 13 bis 14 Seemeilen; auf der
amerikanischen Seite erhebt sich ein Leucht-
thurm. DerHafen vonEsqnimalt ist ge-
räumig, sicher und tief, in allen Jahreszei-
ten bequem und sicher zugänglich; er gehört
zu den besten in Amerika und die Schisse
können dicht am Ufer anlegen. Dagegen ist
der Hafen des benachbarten Victoria klein,
gewunden und hat nur eine schmale Ein-
fahrt; er hat einige Felsen und Sandbänke,
ist deshalb nicht sicher und für Schiffe von
mehr als 15 Fuß Tiefgang nicht zu be-
nutzen. Uebrigens hat die Stadt eine gute
Lage; sie ist mit Esquimalt durch eine Eisen-
bahn verbunden. Neu- West min st er,
Hauptstadt von Britisch-Columbia, liegt aus
dem Festlande, drei deutsche Meilen von der
Mündung des Fräser, am rechten User; sie
g hat einen guten Hafen, aber die Fahrt in
« den Strom hinein ist an der Mündung we-
Z gen der Sandbänke beschwerlich,
s Britisch-Columbia hat in jüngster
H Zeit Schritte gethau, um iu den Bund der
•| übrigen nordamerikanischen Colonien, in die
^ sogenannte Canadian Dominion, einzu-
e treten. Es wird denselben durch die große
^ Nordbahn, an deren Bau kaum noch ge-
zweifelt werden darf und welche das Innere
" der vormaligen Besitzungen der Hudsonsbai
£ erschließen soll, nahe gerückt werden. Schon
J jetzt ist die Einwanderung beträchtlich, der
I Aufschwung rasch und Victoria bereits eine
^ bedeutende Handelsstadt geworden. Ihr Pelz-
Handel übertrifft bereits jenen von San
N Francisco. Ehemals lief im Jahre nur ein
g einziges Fahrzeug der Hudsonsbaigesellschaft
ein, welches den nöthigen Waarenbedarf
Z zum Tauschhandel mit den Indianern und
.s- für die Indianer brachte, und mit den auf-
gespeicherten Pelzen zurücksegelte. Gegen-
L wärtig lausen einige Hundert Schiffe ein
S und aus und Victoria wird wöchentlich mehr-
mals von Dampfern besucht. Es war und
ist ein Hauptsammelplatz für die Goldgrä-
ber und Händler geworden; die Einwände-
rer strömen in beträchtlicher Zahl herbei,
und der Handel ist belebt, die Ausfuhr von
geräuchertem Lachs und Häringen beträcht-
lich. Die Umgegend von Esquimalt ist weit
und breit von Ackerbauern unter den Pflug
genommen; die Stadt selbst vergrößert sich
rasch und ist auch ein Anziehungspunkt für
deutsche Ansiedler geworden, welche dort,
wie sich eigentlich von selber versteht, meh-
rere Lagerbierbrauereien, einen Turnverein
und eine Liedertafel haben. Auch ein Schau-
spielhaus, eine Handelsbank und einige See-
assecurauzeu sind vorhanden; die Engländer
haben einen Jockeyclub.
Die Vanconver-Jnsel hat insbesondere
dadurch au Bedeutung gewonnen, daß bei
Nanaimo vortreffliche Kohlen gegraben
werden; die Ausfuhr derselben nach San
25*
Vancouver-Insel
und Britisch-Columbia.
Francisco wird sehr beträchtlich werden.
Ein großer Theil ist mit Wald bestanden,
deshalb werden viele Bau- und Nutzhölzer
exportirt, namentlich vom Barclay Sund,
wo Dampfsägemühlen arbeiten.
So hat sich in diesen Gegenden ein sri-
sches, thätiges Leben entwickelt, vor welchem
die Ureingeborenen zurückweichen. Die In-
dianer sind Jagd- und Fischernomaden, und
alle Versuche, sie zu einem seßhaften Leben
anzuhalten, sind gescheitert. Ihre Zahl ver-
mindert sich rasch, nnd es wird den braunen
Leuten im Westen der Felsengebirge und
an den Küsten des Großen Weltmeeres das
Schicksal nicht erspart bleiben, welches jene
im Osten der Rocky Mountains ereilt, — sie
werden verschwinden!
* *
Manche Jndianerstämme im nördlichen
Oregon nnd in Britisch - Columbia haben
seit uralter Zeit den Brauch, ihren Kin-
dern den Schädel in der Art zu ver-
künsteln, daß derselbe eine kegelförmige
Gestalt erhält. Vorzugsweise geschieht das
bei dem im Küstengebiete weit verbreiteten
Stamme der Tschinucks, dann auch bei
den Comlitz-Indianern am Columbia :c.
Man hat eine ganze Gruppe von Stämmen,
bei welchen diese Gewohnheit im Schwange
g geht, als Plattköpfe, Flatheads, bezeich-
H net; wir wollen aber hier erwähnen, daß
^ dasjenige Volk, welches speciell als „Platt-
^ köpfe" bezeichnet wird, nämlich die Se-
-j~ lisch, am obern Columbia, am Spokane
A und am Okanagan, jenen Brauch nicht
hat.
Die Indianerin bindet ihren Säugling
auf ein Brett, das mit Moos oder den fei-
nen Fasern der Cedernrinde bedeckt ist, und
so hat das Kind eine ganz gemächliche Lage.
Zum BeHufe des Abplattens wird ein Pol-
ster auf deu Vorderkops gelegt nebst einem
Stückchen weicher Baumrinde, und diese
wird festgedrückt vermittelst eines ledernen
Riemens, der durch zwei in dem Brette be-
findliche Löcher geht. So kann man ihn
fester anziehen und den angemessenen Druck
auf deu Kindskopf herstellen. Nacken nnd
Rücken des Säuglings ruhen auf einer Un-
terlage von Gras, Moos oder Fasern von
Cederrinde.
Dieses Drücken beginnt gleich nach der
Geburt des Kindes und wird acht bis zwölf
Monate laug fortgesetzt. Nach Verlaus die-
ser Zeit hat der Schädel seine natürliche
Gestalt verloren, er bekam eine keilartige
Form; die Vorderseite ist flach und der Kopf
läuft spitz zu, genau so, wie unsere Illu-
stration es zeigt. Man könnte meinen, daß
ein solches Versahren dem Kinde Schmerz
bereiten müsse, das ist jedoch keineswegs der
Fall. Paul Kane, der als Zeichner und
Maler die verschiedenen Ändianertypen ge-
nau beobachtet hat, äußert ausdrücklich,
daß er niemals solch ein Jndianerkind habe
Vancouver-Insel m
schreien ober ächzen hören, wenn auch in Folge des starken
Druckes die Augen weit aus ihren Höhlen heraustraten.
(Wanderings of an artist among the Indians of North
America etc. London 1859, p. 181.) Er bemerkte im
Gegentheil, daß die Kinder schrien und unruhig waren, wenn
der Riemen gelöst wurde, und daß sie sich erst wieder wohl
zu befinden schienen, nachdem die Rinde fest angedrückt wor-
den war. Vielleicht gerathen die Kinder eben in Folge des
Druckes in eine gewisse Betäubung oder Unempfindlichkeit,
und verspüren dann eine Art von Schmerz oder Unbehagen,
sobald der Druck aufhört. Die Operation schadet offenbar
der Gesundheit nicht; die Sterblichkeit ist unter den Kindern
der Tschinucks und der übrigen Plattköpfe nicht beträchtlicher
als bei anderen Jndianerstämmen. Auch leiden die geistigen
Fähigkeiten dadurch nicht im mindesten; die Tschinucks sind
reichlich eben so intelligent als die „ruudköpsigen" Indianer,
und aus diesen nehmen sie ihre Sklaven. Der Plattkopf ist
Indianerin mit einem Kinde.
Schädels ursprünglich eine Uebertreibung der unterscheiden-
den Merkmale einer Race, welche dieselbe bei sich einführt.
Manches Volk, civilifirt oder nicht, pflegt eine hohe Mei-
nnng von sich selber zu haben; es hält die Züge, durch
welche es sich von Anderen unterscheidet, für besonders schön,
und die Mütter wenden mechanische Vorkehrungen an, um
den Kindern eine conventionelle Schönheit zu verleihen.
Uns erscheint ein keilförmig entstellter Schädel als etwas
Verzerrtes; aber die Uebertreibung charakteristischer Züge
zerstört doch die Ähnlichkeit nicht; das Antlitz bleibt
menschlich.
In Amerika will man füns verschiedene Arten von Schä-
delentstellnngen nachweisen. Die Kraniologen haben sich in
Betreff des Ursprungs jener Entstellung wieder einmal ins
Weite und Breite verloren. Statt der so natürlichen und
nahe liegenden Annahme, daß der Brauch bei Völkern, die
tausend Meilen weit aus einander wohnen und ganz ver-
schiedenen Typus haben, selbständig und unabhängig entstan-
Britisch-Columbia. 197
Zeichen des freien Menschen; nicht einmal Kinder, deren
Mutter einem ruudköpfigen Stamme angehört, dürfen einen
platten Kopf bekommen, wenn auch der Vater ein Tschinuck
ist. Die Sklaven werden sehr hart und streng behandelt;
ihr Herr hat Gewalt über Leben und Tod.
Der Brauch, den Kopf platt zu drücken, ist in Amerika
weit verbreitet, von Britisch-Columbia bis an den Amazonen-
ström und Peru. Weshalb sind ganz verschiedene Völker-
unter ganz verschiedenen Himmelsstrichen auf denselben ver-
fallen? Eine und dieselbe Veranlassung von außen her kann
man unmöglich dafür bei Allen annehmen. Manche Stämme
meinen, dadurch ihren Kriegern einen besondern Anblick oder
Charakter zu geben; andere wollen durch diese Einstellung
zeigen, daß sie Freie, nicht Sklaven seien, und so ist der
Plattkopf ein aristokratisches Abzeichen. Wieder andere wol-
len sich dadurch von Nachbarvölkern unterscheiden. In man-
chen Füllen sind gewiß diese künstlichen Entstellungen des
Jndianermädchen.
den sei, greifen sie frisch weg zu der so höchst bequemen Wan-
derungstheorie. Sie nehmen Wanderungen von Stämmen
an, die platterdings unmöglich sind, und weil man in Peru
oder bei den Omagna-Jndianern am Amazonenstrom und
bei den Karaiben Schädelentstellungen fand, soll ein Zu-
sammeuhaug zwischen ihnen und den Stämmen an der
Nordwestküste Amerikas stattgefunden haben! Wanderungen
aus Strecken von ein paar tausend Stunden zu Lande, durch
hundert Völker und Stämme hindurch, die den Kopf lassen,
wie die Natur ihn bildet, durch Wüsten über Hochgebirge,
mächtige Ströme, von Neucaledonien, vom Fraser-River bis
nach Euba!! Oder bis an die brasilianische Grenze, und
dann sechshundert deutsche Meilen weit den Amazonenstrom
hinauf! Oder vom 54. Grade nördlicher Breite zur See
gegen Wind und Strömung bis zum 20. Grade südlicher
Breite, und das, ohne im Verfertigen von Schiffen über
den Einbaum hinausgekommen zu fein und ohne ein Segel
zu kennen! Wir haben hier wieder eine offenbare Verirrung
198 Vancouver-Insel und
der Entlehnungstheorie. Man stelle einmal einem Tschinuck
die Aufgabe, mit den Hülfsmitteln, über welche dieser wilde
Jagd- und Fischernomade verfügt, bis in die bolivianischen
Cordilleren zn „wandern" oder mit seinem ausgehöhlten
Cederstannne von der pacisischen Seite Amerikas nach der
atlantischen, nach den Antillen und in den Amazonenstrom
zn gelangen!
Wilde Völker halten bekanntlich mit der größten Zähig-
fett an alten Bräuchen, besonders wenn dieselben zu den
unterscheidenden Stammeseigenthümlichkeiten gehören. Nun
Omagua- Indianer
rikas (östlich von den Felsengebirgen kommt im Norden die Ver-
unstaltuug nicht vor) zum Abplatten des Kopfes Moos, Ceder-
fasern und ein Stück Rinde; auf Euba verwendete man
dazn zwei Lagen von Thon, eine auf dem Vorderkopse, eine
andere auf dem Hinterkopfe; das wissen wir aus den Be-
richten des Columbns. Und wie will man einen Zusammenhang
zwischen den Natches am untern Mississippi und den Jndia-
nern in Florida nachweisen, welche den Schädel abplatteten,
aber in anderer Weise und mit anderen Vorkehrungen, wie
die Indianer am Columbiastrom und am Pugetsuude? Und
weshalb tritt der Brauch an so weit aus einander liegenden
l Amazonenstrome.
Punkten aus, während sich dazwischen Lücken von manchen
hundert Meilen finden? Auch liegt nicht ein Schatten von
Beweis für Wanderungen vor, die Uber Strecken von meh-
reren tausend Wegstunden „vor vielen Jahrhunderten" statt-
gefunden haben sollen. Es ist uns unbegreiflich, wie ein
sonst so gediegener Kopf, wie Paul Broca, irgend welchen
Werth legen konnte anf die ganz und gar unkritischen Phan-
tastereien des Abbs Brasseur de Bourbourg, der „ein Volk"
von den großen Antillen nach Mexico hiniiberschiffen und
bei Tampico landen läßt; von dort muß es dann nach Sü-
den ziehen bis an die Terminoslaguue, wird (174 nach
Britisch-Columbia.
wissen wir, daß die Tschinucks genau bei dem überkommenen
Verfahren beim Plattdrücken des Schädels verharren. Da-
gegen hatte im alten Peru jede verschiedene Völkerschaft eine
besondere Art der Schädelentstellung. Die Peruaner, gleich-
viel welcher Völkerschaft, waren niemals Schiffer und See-
fahrer; die Tschinucks sind Fischernomaden auf der niedrig-
sten Stufe; beide wohnen 50 bis 70 Breitengrade aus ein-
ander, beide wanderten nicht, aber den Gedanken und die
Praxis der Schädelentstellung sollen sie einander abgeborgt
haben! Nun verwenden die Indianer der Nordwestküste Ame-
Die Fabrik alter St
Christus!) von dort vertrieben, muß andere Wohnsitze suchen,
die es dann 500 Meilen weiter im Süden findet, indem es
über die Landenge von Panama geht und weiter nach Peru!
Welch ein wunderbares Volk, das solcher Leistungen fähig
gewesen wäre! Aber, der phantastische Abbv weiß genau
Folgendes: „Dieses Volk, die Nahoas, hat auf seinen suc-
cessiven Wanderungen alle Regionen inne gehabt, wo die
keilförmige Entstellung des Kopfes im Gebrauche war."
Broca hat das nachgeschrieben! Aber wenn die „Nahoas"
nach Süden gezogen sind, woher kommen die Plattschädel
der Natchez und der Tschinucks, die nördlich wohnten? Und
woher, da der Zug nach Peru gegangen sein soll, kommen
die Plattschädel der Omagnas, im Flachlande, am Ama-
zonenstrom? Diese Wandernngstheorie ist widersinnig und
bodenlos.
Was die Omaguas betrifft, so finden wir diese Wald-
indianer am Amazonas etwas unterhalb Tabatinga, wo das,
was noch von ihnen übrig ist, im Dorfe San Pablo de Oli-
venxa lebt; dort haben sich römische Missionäre ihrer ange-
nommen. Sie unterschieden sich von den umwohnenden
Stämmen dadurch, daß sie dem Kopf durch Druck eine kegel-
ligerüthe in Chassey. 199
förmige Gestalt gaben. Die Methode dabei war, daß die
Mutter den Kopf des neugeborenen Kindes mit Baumwolle
umwickelte, zwei kleine, flache Holzstückchen über demselben
befestigte und mit dem Drücken so lange fortfuhr, bis das
Kind laufen konnte. Durch die Art des Druckes erhielten
die Augen eine eigenthümliche Stellung und zugleich einen
merkwürdigen Ausdruck. Auch bei den Omaguas habe» die
Geisteskräfte durch ein solches Verfahren nicht gelitten. Der
Brauch ist vor nun etwa neunzig Jahren bei ihnen in Ab-
gang gekommen; die Mönche gaben sich Mühe, denselben
zu beseitigen. Als aber das geschehen war, trat ein großes
Sterben ein, wie das Volk meinte, als Strafe dafür, daß
man die Sitte der Väter verlassen habe. Es waren die
Blattern, welche eine grauenvolle Verheerung anrichteten.
Wir wollen hier bemerken, daß die Omaguas es gewesen
sind, welche den Milchsaft des Kautschukbaumes nutzbar
zu verwenden verstanden haben. Sie nannten diesen Saft
Kahetfchn und verfertigten aus demselben Klystierspritzen,
Sandalen und Armringe. Gewiß konnten sie nicht ahnen,
welche Wichtigkeit einst dieses Kahetschu gewinnen würde.
Die Fabrik alter
r.cl. Wir haben es hier mit einer echten alten Fabrik zu thun,
nicht mit einer modernen Fälscheanstalt, die nach Belieben
altägyptische Statuetten, Keilschristcyliuder oder anch Feuer-
steingeräthe für wohlhabende britische Reisende fabricirt. Wo
der geeignete Stoff vorhanden war, da schlugen die Menschen
der Steinzeit ihre Werkstatt auf und fertigten ihre Geräthe,
jeder zum eigenen Gebrauch, denn an eine Theiluug der Arbeit
war damals wohl schwerlich schon zu denken. Eine solche alte
Steingeräthefabrik hat Ernst Perrault, ein gelehrter Fran-
zose, im Lager von Chassey entdeckt und kürzlich in der
Schrift Uote sur un foyer de l'age de la pierre polie
decouvert au camp de Chassey en Septembre 1869
(Chalons sur Saone. Landa 1870) beschrieben. Das La-
ger dehnt sich zwischen den Thälern der Bas Roches und
der Dhenne nahe der Saone aus; es ist etwa 800 Schritt
lang und 100 bis 200 Schritt breit. Es liegt auf einem
hervorragenden Punkte, deshalb hatten die Römer hier ein
Castell angelegt, ans dem dann ein gallischer Ort erwuchs;
aber schon vor beiden Völkern war dort ein Ansiedelungs-
centrum, wie die Funde von Perrault beweisen. Eine durch
Felswände gegen Nord- uud Ostwinde geschützte Terrasse
war hier der Ort, an welchem die Menschen der Steinzeit
sich niedergelassen hatten; denn an diesem Platze lag das
„Foyer" der polirten Steingeräthe. Unter der nur wenige
Zoll dicken Humusschicht fand Perrault ein über zwei Fuß
starkes Lager von Asche, Knochen, Topfscherben, in dem zahl-
reiche Geräthe verschiedener Art eingebettet waren. Das
Ganze ruhte auf einer Unterlage von rohen Steinplatten,
die gleich dem benachbarten Boden vom Feuer geschwärzt
waren. Nicht eine Spur von Metall wurde entdeckt; die
sämmtlichen ausgesundenen Geräthe bestanden nur aus Stein,
Knochen oder Thon.
Abgesehen von Bruchstücken, wurden etwa 130 Stein-
geräthschasten zu Tage gefördert. Es waren Beile, Pfeil-
spitzen, Borer, Hämmer, Mahl- und Polirsteine. Acht
vollständige Steinbeile fand man, unter diesen zwei, welche
ingeräthe in Chassey.
in Hirschhorn gefaßt waren, ähnlich wie das auch bei Stein-
beilen aus den Pfahlbauten vorkommt. Zwei Beile waren
nur aus Feuerstein, eins aus Fibrolit verfertigt; das Ma-
terial der übrigen bestand aus Chromomelanit, Serpentin-
basalt, Diorit. Es scheint, als wären sie aus Geschieben
fabricirt worden, welche die Saone mit sich brachte, und es
ist von Interesse, zu beobachten, wie dieselbe Art der Fabri-
kation dieser Geräthschasten hier in Burguud wie in der
Schweiz beobachtet wurde, nämlich durch das Durchsägen der
Steine. Mahlsteine fand Perrault etwa 60; die Pfeilspitzen,
23 an der Zahl, waren sämmtlich aus Feuerstein und sehr
mannichsach in der Form; es gab dreieckige, rautenförmige
und mit Widerhaken versehene, überhaupt uicht abweichend
von ähnlichen Pfeilspitzen aus anderen Gegenden. Was die
Mahlsteine betrifft, so haben sie eine ausfallende Ähnlichkeit
mit der primitiven afrikanischen Mühle, wie sie in Abysstnien
gebräuchlich und, wie Livingstone sie uns vom Sambesi beschreibt
und abbildet: auf einem größern, etwas ausgehöhlten Grund-
steine bewegt sich ein Läufer aus härterm Gestein. Beide
fanden sich in sehr abgeriebenem Zustande vor und ohne
Zweifel hatten die alten Steinzeitmenschen von Chassey neben
ihrem Mahl viel Sand mit zu verzehren, wie heute die Be-
wohner Ostasrikas. Den Zähnen ist das übrigens nicht
schädlich. Spnren von Getreide wurden in Chassey nicht
entdeckt.
So viel von den Steingeräthen. Die aus Knochen und
Horn stimmen mit jenen der frühesten Pfahlbautenbewohner
überein; es sind Ahlen, Meißel, Nadeln u. f. w. Auch die
Jrdenwaare stimmt mit jener der Pfahlbauten überein; sie
ist durch Punktirung und eingekratzte Linien verziert. In
einem Falle hat der alte Steinzeitkünstler versucht, in den
noch weichen Thon die rohen Umrisse eines Ebers einzuzeich-
uen; es fehlte also nicht aller Kunstsinn in jener fern liegen-
den Zeit: auch zeigen einige aus Dreiecken zusammengesetzte
Bänder, wie der Sinn für Ornamentik damals schon sich
entwickelte. Die Töpfe waren meist zum Aufhängen einge-
200 Gisli Brynjulfson: Hatten die alten Nor
richtet. Man fand Spindelsteine und Perlen, doch nur in
geringer Anzahl. Am interessantesten sind jedenfalls die
Löffel, die doch schon ein vorgeschrittenes Cultnrbedltrfniß
bezeichnen; in der Form gleichen sie genan den langgestielten,
rohen Holzlöffeln, die man bei uns noch auf dem Laude oder
in deu Kücheu zum Umrühren der Speisen findet, doch sind
sie aus Thon gebildet. Allerdings wurden auch einige höl-
zerne Kochlöffel nnd ein irdener Löffel in den Pfahlbauten
von Robenhausen entdeckt; immerhin bleibt aber das Vor-
mder Kunde von einem offenen Polarmeer?
kommen dieses Instrumentes in einer Zeit, welche von Me-
tallgerätheu keine Ahnung hatte, höchst bemerkenswerth.
Die thierischen Ueberreste aus dem Lager von Chassey
hat Perranlt nicht näher untersucht. Er erwähnt Knochen
von Rind, Schwein, Hirsch, Schaf, der Ziege und vom
Pferde; letzteres war selten. Die Knochen sind nicht immer
zerbrochen und die Wirbelsäulen der verschiedenen Thiers sind
nicht zerstört, um etwa das Mark herauszuholen. Der Hund
wird nicht erwähnt.
Hatten die alten Nordländer Kunde von einem offenen Polarmeer?
Von Gisli Brynjulfson.
II.
Die bisher gegebene Mittheilung über der alten Grön-
länder und Isländer Kenntniß und Vorstellungen von der
Beschaffenheit der grönländischen Ostküste weicht nur sehr
wenig ab von den Darstellungen in dem fönst so verdienst-
vollen Werke „Grönlands geschichtliche Denkmäler", worin
fast alles dahin gehörige mit größtem Fleiße gesammelt,
gesichtet und aufgenommen ist. Der Fehler in der ältern
Darstellung, welche ursprünglich von Eggers herzurühren
und von Graah mitgetheilt worden zu sein scheint, liegt vor-
nehmlich darin, daß bei der Erwähnung von drei Gletschern,
Hvidsärk, Blaasärk und des nördlichsten unbenannten,
man von der Voraussetzung ausgegangen ist, man müsse bei
Berechnung der Abstände und Lage derselben die Entfernung
von Island messen und nach Segeltagen rechnen, während
es allbekannt ist, daß die alte Schrift, welcher der Bericht
entnommen wurde, die Abstände von dem südlichsten Bezirke
in Grönland und nur nach den gewöhnlichen Rudertagen
angiebt. Dies ist sicher nicht ohne Bedeutung, denn der
fehlerhafte Ausgangspunkt führt nicht bloß dahin, daß der
nördliche Gletscher auf Spitzbergen gesucht worden ist, sou-
dern Hvidsärk ist auch zu „Cap Farewell" gemacht und das
Hvarf der Alten, welches gewiß gerade dieses Vorgebirge ist,
rückte weiter gegen Westen vor und wurde mit Hvarfguppe
verwechselt, welches unzweifelhaft westlich vor dem eigent-
lichen Hvarf lag und jetzt gerade im Vorgebirge Kangek
(Cap Egede) auf der Jusel Sermersok, welche keineswegs
Hvarf selbst ist, gesucht werden muß.
Aber man wird dadurch auch verleitet, anzunehmen, daß
im Alterthum die Eisverhältuisse an Grönlands Ostküste
unendlich verschiedener gewesen seien, als die älteren und
neueren Berichte im Ganzen genommen angegeben und wie
sie in Wirklichkeit stattfinden, wenn man nämlich die alten
Schriften richtig versteht und benrtheilt. Denn der ganze Un-
terschied scheint dann hauptsächlich darin zu bestehen, daß das
sogenannte Großeis (Flächeneis) wahrscheinlich erst im vier-
zehnten oder fünfzehnten Jahrhundert auf der Strecke von
Hvidsärk nach Cap Farewell mächtiger geworden ist und auf
diese Weise den alten Segelcours längs der Ostküste vom
südlichsten Theile nach Norden unmöglich gemacht hat. Dies
ist nun ganz gewiß eine nicht unwesentliche Veränderung
mit Rücksicht aus Grönlands Umfegeluug in der Gegenwart;
aber sie hat' doch mit Rücksicht auf das Gauze uicht so viel
zu bedeuten, daß eine Darstellung derselben Anlaß geben
könnte, zu glauben, Björn Jousfon's Auszug aus den alten
Schriften sei nicht überall richtig aufgefaßt und stehe nicht
im natürlichsten und rechten Zusammenhange, denn dadurch
würde das Bild im Ganzen ab und zu etwas gestört wer-
den. — So viel über die Ostküste Grönlands!
Indem ich nun zur Westküste übergehe, will ich vorweg
bemerken, daß es durchaus nicht richtig ist, die Ruinen des
alten Bischofhofes Gardar am Einarsfjord an irgend
einer andern Stelle als in Jgalikko zu suchen, denn dies
ist nicht, wie jetzt fast allgemein angenommen wird, Eirik
des Rothen alter Hof und der spätere Kreisrichtersitz Brat-
tahlid, sondern gerade der alte Bischofssitz. Brattahlid
war sicherlich der nächste Hos von demselben, lag aber doch
auf der Nordseite des Felsgebirges am Eiriksfjord selbst und
nicht am Einarsfjord (Jgalikkofjord). Dieses Mißverständ-
niß rührt einzig und allem her von einer Ungenauigkeit im
Ausdruck in Jvar Baardsön's Beschreibung der Wohnstätten
auf Grönland von ungefähr der Mitte des vierzehnten Jahr-
Hunderts an. Die Erzählungen von Thorwod Kolbruus-
fkjald und Einar Sokkesön dagegen machen es vollständig
klar, daß Gardar gerade auf der schmalen Landzunge zwischen
dem Eiriks- und Einarsfjord lag; und erst wenn man an-
nimmt, daß es dieselbe Stelle war, wo die Domkirche stand,
wird es zugleich vollständig klar, warum mau gerade in Jga-
likko die erste Kirchenruine auf Grönland finden
mußte, eine Ruine ungefähr zweimal so groß, als irgend
eine andere, denn das war just die Ruine der Domkirche.
So wie man von den südlichsten Wohnplätzen Grön-
lands östlich um das Land zu gehen pflegte, um gute Fisch-
Plätze zu suchen, so ging man ebenso aus dem größten Theile
der Ostbezirke und aus allen Westkreisen in derselben Absicht
längs der Westküste so hoch nach Norden hinaus, als man
irgend kommen konnte, und dort oben fand und sammelte
man das meiste Treibholz. Es war also die Bassinsbai,
welche die alten Grönländer jedes Jahr mit ihren Fischer-
booten hinauffuhren, dort zwei bekannte Plätze besuchten und
sich als abgehärtete Seemänner den ganzen Sommer herum-
tummelten. Mithin dürfte nicht zu bezweifeln sein, daß jene
alten Wasserratten mit jenen Fahrwassern im höchsten Nor-
den wohlbekannt waren.
Die Stellen, wohin man alljährlich segelte uud ruderte,
wurden mit dem gemeinschaftlichenNamen Nordrseta (d.h.
Nordsitze) belegt, hießen aber einzeln Greipar und Kröks-
sjardarheidi (Krogsfjordshaide). Die ziemlich gewöhn-
lichen Fahrten dahin scheinen für männliche Großthaten ge-
gölten zu haben; keineswegs aber hat man sie für so sürch-
terlich gehalten, als es bei neueren Nordpolfahrern öfters
Gisli Brynjulfson: Hatten die alten Nm
geschah. Der Skalde Sveinn (wahrscheinlich ums Jahr
1100) hatte in einem Gedichte, welches den Namen Nordr-
setudrapa führte und wovon heute noch Bruchstücke Vorhan-
den sind, eine solche Nordfahrt der grönländischen Fischer
und Holzsammler beschriebe». Er erzählt, wie Fornjots
häßliche Söhne (See und Wind) begannen zu wellen und
zu fegen, damals als die scharfen Stoßwinde von den Felsen,
wo sie der Frost genährt und stark gemacht, herniederfuhren,
um die sturmfrohen Wogen zn peitschen und zu zerreißen.
Man kommt hierbei schnell auf den Gedanken an die Mel-
villebucht, und sicher ist es unter allen Umständen, daß die
erwähnten Punkte nördlich von der Disco-Insel gesucht
werden müssen, welche von den alten Grönländern Bjarney
(Bäreninsel) genannt wurde, und deren Entfernung von dem
Westdistricte zu 15 Rudertagen berechnet und angegeben
wurde; denn es heißt ausdrücklich, daß die früher erwähnten
Hafsbotnar östlich von Svalbard lagen, d. h. sie begannen
Greipar gegenüber; Greipar war aber der südlichste von
den beiden nördlichsten Fischerplätzen. Dies entspricht einer
Lage, wie ungefähr bei Upernavik. Und daß die alten
Grönländer auch so hoch oben im Norden gewesen sind, geht
nnwidersprechlich daraus hervor, daß auf der Jusel Kiu-
giktorsoak, ungefähr vier Meilen nordwestlich von Uper-
navik, ein alter Runenstein mit folgender Inschrift ge-
fuuden worden ist: „Erling Sigvatssön und BjarneThords-
sön und Endride Oddssön haben diese Warte aufgeführt
Sonnabend vor dem Gaugtage (den 25. April 1135) und
diese Inschrift eingeritzt."
In dieser Gegend muß also Greipar gelegen haben.
Es kann mithin die Meinung der Herausgeber von „Grön-
lands geschichtlichen Denkmälern", welche diesen Platz viel
weiter nach Süden verlegt haben, nämlich südlich von der
Disco-Jnsel, nicht für richtig anerkannt werden.
Es bleibt nur noch übrig, den nördlichsten Platz, Krogs-
fjordshaide, zu suchen. Diesen haben dieselben Gelehrten
auf der westlichen Seite der Baffinsbai am Lancastersunde
finden wollen. (Dieser Sund war nämlich damals durch
Roß' und Parry's Expeditionen erst näher bekannt geworden.)
Allein hierbei ist diesen Gelehrten nicht zu folgen, wenn es
anch damals, wo der nördlichste Theil der Baffinsbai noch
seltener besprochen wurde, ganz natürlich schien, hauptsächlich
den Blick auf die kurz vorher gemachten Entdeckungen auf
der Westseite zu richten. Denn wenn es anch entschieden
ist, daß die alten Grönländer diese Küste, welche in den
isländischen Schriften Fnrdustrandir (Wunderstrande*)
genannt wurde, eben so gut kannten und eben so oft besuch-
ten, als ihre eigenen Nordküsten, so erzählten sie doch, die
Kälte wäre dort so außerordentlich stark, daß es unmöglich
sei, dort zu wohnen, und erschien es ihnen daher viel natür-
licher, sich bei ihren jährlichen Fahrten nach den nördlichsten
Fischfangplätzen an der Ostseite zu halten, wenn sich dies
eben so gut macheu ließ. Und daß dies das Gefahrlosere
war, darüber dürfte wohl kaum eiu Zweifel obwalten, da
das Mitteleis wohl damals wie heute das Segeln über die
Baffinsbai viel mehr erschwerte, als die Fahrt längs Grön-
lands Küste nach Norden hinauf. Es muß daher Krogs-
') Möge man sich nicht verwirren lassen, daß Thorfinn Karlsefne
auch der Küste von Cap Cod im Weinlande denselben Namen ge-
geben! Die nördlichen Fnrdustrandir westlich von der Baffinsbai hatten
wahrscheinlich ihren Namen von den vielen wunderbaren optischen Tau-
schlinge», denen man in dem fürchterlich kalten Klima ausgesetzt war und
welche John Roß „Crokerfelsen" entdecken ließen, da wo später Parry
nur offenes Wasser fand. Das Land südlich von Fnrdustrandir nann-
ten die Isländer Hellnland (Labrador u. s. w.). Dann kam Mark-
land, dann Weinland und endlich Hvitramannaland. Das Meer zwi-
schcn Grönland und Weinland (vielleicht auch die Baffinsbai) nann-
ten sie Ginnungagar.
Globus XIX. Nr. 13. (April 1871.)
länder Kunde von einem offenen Polarmeer? 201
jordshaide im nördlichsten Theile der Baffinsbai, d. h.
im Smithssunde selbst gesucht werden. Und es wird
hoffentlich aus dem Folgenden noch das Weitere hervorgehen,
daß es gerade an denselben Stellen gesucht werde» müsse,
welche in der jüngsten Zeit von den beiden Amerikanern
Dr. Kane und Dr. Hayes wieder besucht wurden und wo
Beide überwintert haben. Wenn der hier folgende Bericht,
auf welchen die Aufmerksamkeit besonders hingelenkt werden
möge, zuverlässig ist — und es ist nicht der geringste Gruuh
vorhanden, etwas Anderes zu glauben —, so müssen die
alten nordischen Grönländer in jenen Gegenden sogar viel
weiter nach Norden vorgedrungen sein, als irgend einer unter
den neueren Nordfahrern im Stande gewesen ist; ja sie
haben sogar zeitweilig das so viel genannte offene
Meer nördlich vom Smithssunde umsegelt, mag
dies nun ein offenes Polarmeer gewesen sein oder nicht.
Auch dieser wichtige Bericht ist von dem oben genannten
Björn Jonsson in seinen handschriftlichen Annalen Grön-
lands, und ist gedruckt zu finden in „Grönlands historischen
Denkmälern". Björn Jonsson hatte, wie er selbst sagt, den-
selben aus der oben erwähnten, wohlbekannten isländischen
Handschrift „Hauksbogen" genommen, welche sich in den
Hauptsachen noch aufbewahrt findet in der Arnamagasamm-
luug, welche zu seiner Zeit vollständiger als jetzt gewesen
sein muß, da außer verschiedenem Andern, von dem man
weiß, daß es in der Sammlung vorhanden gewesen, gerade
dieses Stück auch fehlt. — Seinen Namen hat das Buch
von dem gelehrten isländischen Richter Hauk Erleudssön,
welcher 1334 als norwegischer Richter am Gnlathiug starb.
Er hat das Buch zum Theil selbst geschrieben, zum Theil schrei-
ben lassen, und enthielt und enthält dasselbe außer der aus-
sührlichsten Reeension des „Laudukma" und mehreren isländi-
schen Sagas durchweg nur Abschriften oder Bearbeitungen älte-
rer Schriften, sowie verschiedene geographische und andere Auf-
Zeichnungen, namentlich über die nordischen Länder und Grön-
land, für welche Lagman Hauk ein besonderes Interesse ge-
habt zu haben scheint. — Das hier behandelte Stück ist
eigentlich nur ein Privatbrief, welchen der grönländische Pric-
st er Halldor (auf dem Bischoshkse Gardar) in einem der
Jahre zwischen 1266 uud 1271 an einen frühern grönlän-
dischen College», welcher im erstgenannten Jahre auf der
Reise von Grönland bei Hitarnes in Island Schiffbruch
gelitten, aber jetzt bei dem norwegischen Könige Magnus
Haakonssön als Hofeaplan angestellt war, geschrieben hatte.
Der Richter (Lagman) Hauk, welcher gewiß viel und mehrere
andere von dieser Art Berichten gekannt — jedenfalls mehr,
als wir zur Zeit uoch besitzen —, hat offenbar diesen Brief
nur in seine Sammlung aufgenommen, weil er den Inhalt
desselben für vollständig zuverlässig uud wahrheitsgetreu hielt,
ihm also eine große und besondere Bedeutung beilegte.
Dieser Brief lautet in der Uebersetznng ungefähr so:
„Diese Nachrichten schrieb der Priester Halldor von Grön-
land an den grönländischen Priester Arnald, welcher inzwi-
schen Hofeaplan (Hirdpräst) des (norwegischen) Königs Mag-
nns Haakonssön geworden, mit dem Schiffe, worauf 1271
der Bischof Olaf nach Grönland reiste. In dem Sommer,
in welchem der Priester Arnald von Grönland abreiste und
bei Island am Strande Hitarnes Schiffbruch litt (es war
1266), fanden er und seine Begleiter weit draußen im Meere
einige Balken Treibholz, welche nnt kleinen Aexten oder
Schlägeln (Reishamniern, wahrscheinlich von Flintstein) be-
arbeitet waren, und darunter ein Stück Holz, in welchem
Zahnkeile und Knochenkeile saßen. In demselben Sommer
kamen auch Leute von Norderseta (d.h. von den Nord-
sitzen), welche weiter oben im Norden gewesen, als
irgend Einer, und über welche Gegenden man bis-
26
202 Wissenschaft und
her noch keinerlei Nachrichten erhalten hatte. . Man
fand nichts, was gezeigt hätte, daß sich außerhalb Krogs-
fjordshaide jemals Nordbewohner (Skrälingerne, d. h.
Eskimos) aufgehalten hätten, weshalb man auch glaubt, daß
dies der kürzeste Weg für sie gewesen fem müsse, dem sie
folgen konnten, mochten sie auch herkommen, woher sie woll-
ten *). Darauf (dies soll wahrscheinlich heißen im nächsten
Sommer, nachdem die Nachricht von dem bearbeiteten Treib--
holze sich herab bis zu den südlichen Wohnplätzen verbreitet
hatte, also im Jahre 1267) rüsteten die Priester ein Schiff
aus, welches eine Nordfahrt unternehmen sollte, um genau
zu untersuchen, wie es nördlich von den am weitesten abge-
legenen Gegenden, welche noch Niemand besucht hatte, aus-
sehe und mit deren Bewohnern stehe. Die Expedition
segelte von Krogsfjordsheden nur so weit, bis
*) Hier fügt Björn JonSson und zwar mit Recht bei: „Hieraus
kann man sehen, wie genau die Grönländer in jener Zeit auf die
Eskimos Achtung gaben und ihre Aufenthaltsorte zu erkunden such-
ten." Es begann nämlich zu jener Zeit die Einwanderung
der Eskimos von Norden her nach Grönland allgemein und
immer zahlreicher zu werden , während sie auch schon früher gerade
nicht ganz unbekannt gewesen waren; und der Smiths-Suud war
da unleugbar der natürlichste Uebergangspunkt für sie, „mochten sie
herkommen, woher sie wollten." — Sind die Eskimos wirklich von
Norden in Grönland und Amerika eingewandert, so muß in der
Nähe vom Nordpol selbst entweder ein bewohntes Land sein oder
gewesen sein, und die Fabel würde sich da insoweit wahr zeigen.
Denken wir aber an den russischen Admiral Baron Wrangel, wel-
cher die nordsibirische Sage von einer Auswanderung vom nördlich-
sten Asien über das gefrorene Meer in ein noch nördlicheres Land
mittheilt, so bekommt die oben mitgetheilte Erzählung vom Gede-
Hall Leben. Nur muß man nicht denken, daß diese Wanderung
erst nach Dschingis-Khans Zeit stattgefunden habe; denn es ist un-
zweifelhaft, daß schon Eirik der Rothe Spuren von Eskimos in
Grönland vorfand.
Einbildungskraft.
ihnen die Küste aus dem Gesicht zu kommen be-
gann. Darauf (dies soll wohl heißen: da sie wollten um-
kehren und südlich gegen das Land steuerten) kam der Süd-
wind und stand ihnen entgegen; zugleich wurde es
so dunkel, daß sie genöthigt waren, das Schiff vor
dem Winde gehen zu lafsen. Als sich aber das Uuwet-
ter zertheilt hatte und es wieder völlig hell geworden war,
sahen sie viele Inseln und allerlei Fang als: See-
Hunde, Walfische (Walrosse?) und eine große Menge
Eisbären. Sie kamen gerade in den Meerbusen hinein,
so daß ihnen das ganze Land nach und nach außer Sicht
kam, das will sagen die Südküste mit ihren Eisbergen; denn
so weit sie sehen konnten, waren südlich von ihnen nur Glet-
scher zu sehen. An dieser Seebucht fanden sie einige alte
Nachlässe von Eskimos, aber weit ins Land konnten sie sich
nicht wagen wegen der vielen Eisbären. Hernach segel-
ten sie drei Tage rückwärts und fanden dann an der
Landestelle wieder Ueberbleibsel von Eskimos. Auch lernten
sie hier südlichvon den Schneegebirgen (Snäfell) einige
Inseln kennen. Darauf zogen sie gegen Süden nach
Krogsfjordshaide, eine lange Dagsroning, es war Ja-
cobsmessetag (den 25. Juli). Dort oben fror es in den
Nächten, obschon die Sonne Tag und Nacht schien und nicht
höher war, wenn sie im Süden stand, als daß wenn sich ein
Mann in einem fechsrnderigen Boote quer überlegte und
sich gegen den Schiffsrand ausstreckte, ihm der Schatten von
dem Bord, welches am nächsten gegen die Sonne stand,
ins Angesicht siel; aber um Mitternacht stand sie nur so
hoch, wie zu Hause in den Höfen, wenn sie in Nordwesten
steht. — Darauf zogen sie wieder in die Heimath nach Garde
(Gardar) zurück."
Wissenschaft und Einbildungskraft.
Unter den Physikern Englands nimmt Professor T y n d a l l
eine hervorragende Stellung ein. Sein Werk über den
Schall ist epochemachend gewesen; Männer ersten Ranges
unter uns, wie Helmholtz und Wiedemann, haben ein-
zelne von Tyndall's Arbeiten ins Deutsche übertragen *).
Tyndall's Werke bezeichnen stets einen Fortschritt in der
Wissenschaft; der bedeutende Mann versteht es aber, nicht
bloß für Gelehrte zu schreiben, er stellt auch die gewonnenen
Ergebnisse in so klarer und anschaulicher Weise dar, daß sie
allgemein verständlich werden. Dafür spricht unter Anderm
seine Abhandlung: „On the Scientific Use of the Imagi-
nation" **), die er am 16. September 1870 der British Asso-
ciation in Liverpool vortrug und mit der wir uns hier be-
*) Tyndall, John, „Die Wärme betrachtet als eine Art der
Bewegung." Autorisirte deutsche Ausgabe. Herausgegeben durch H.
Helmholtz und G. Wiedemann nach der vierten Auflage des
Originals. Mit zahlreichen in den Text eingedruckten Holzstichen
und einer Tafel. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. —
Tyndall, John, „Der Schall." Acht Vorlesungen gehalten in der
Royal Institution von Großbritannien. Autorisirte deutsche Ausgabe
herausgegeben durch H. Helmholtz und G. Wiedemann. Mit
169 in den TM eingedruckten Holzstichen. — Tyndall, John,
„Famday und seine Entdeckungen." Eine, Gedenkschrift. Autorisirte
deutsche Ausgabe, herausgegeben durch H. Helmholtz. Vraunschweig,
Friedrich Vieweg und Sohn.
**) Eine Uebersetzung einer Sammlung von Essays und Professor
Tyndall, „Fragmente of Science", welche diese Abhandlung enthält,
befindet sich unter der Presse. Friedrich Vieweg und Sohn.
schäftigen wollen, ohne an den Wortlaut Tyndall's selbst
anzuknüpfen.
Daß die Phantasie in der Wissenschaft eine Rolle spielt,
ist sicher. Wenn wir von einer wichtigen Entdeckung reden,
so sagen wir: Es war ein glücklicher Griff, ein kühner Wurf,
ein schöner Gedanke, eine Eingabe des Genius. Schon hier-
in liegt ein Eingeständniß, daß die Phantasie unser Gehülfe
bei wissenschaftlichen Entdeckungen ist, und jedenfalls hat ein
geistiger Sprung bei der Arbeit auch sein Gutes; oft führt
er weiter als noch so viel logische Schlüsse oder eine ganze
Reihe von „deshalb" und „weil". Wissenschaftliche Experi-
mente find überhaupt meistens glänzende Aeußeruugen der
Einbildungskraft. „Ich bilde mir ein, daß unter den und
den Umständen das und das der Fall sein wird. Ich weiß
es nicht, aber ich will es versuchen." So sprechen viele Ent-
decker, und Tyndall selbst hat mehr als einmal durch solche
kühue Versuche Erfolge erzielt. Er will z. B. wissen, ob
reines Wasser völlig farblos sei. Das gewöhnliche
Auge nimmt dieses unbedingt an und in kleinen Mengen ist
es auch in der That der Fall; doch eine ganz kleine Portion
Helles Bier erscheint gleichfalls farblos. Tyndall aber bildet
sich ein, selbst das reinste destillirte Wasser besitze eine Farbe
und er beweist es uns; es kommt nur darauf an, eine mög-
lichst dicke Schicht desselben herzustellen, und die Farbe tritt
in Erscheinung.
„Hier," so sagt er, »sehen Sie eine fünfzehn Fuß lange
Wissenschaft und
Röhre, die horizontal festgelegt und an beiden Enden mit
einer Glasscheibe verschlossen ist. An dem einen Ende der
Röhre steht eine elektrische Lampe, deren Licht durch die Röhre
von einem Ende zum andern hindurchscheint. Sie ist nur
zur Hälfte mit ganz reinem, destillirtem Wasser gefüllt, des-
sen Oberfläche oder Spiegel die Röhre in zwei Theile scheidet.
Ueber dem Wasser ist Luft. Nun fällt das Licht der Lampe
in der untern Hälfte durch Wasser, in der obern durch Lust.
Jetzt halte ich an das zweite, der Lampe entgegengesetzte Röh-
renende ein Vergrößerungsglas; das Bild des Röhrendnrch-
schnitts fällt auf diesen Schirm. Sie sehen, daß es aus
zwei Halbkreisen besteht; einer entstanden durch das Licht,
welches durch das Wasser, der zweite gebildet durch das Licht,
welches durch die Luft ging. Neben einander können sie
deutlich verglichen werden. Der Lufthalbkreis ist rein weiß,
der Wasser halb kreis zeigt eine feine blaugrüne
Farbe." So ist der Beweis hergestellt, daß das destillirte
Wasser in der That eine Farbe besitzt.
Ein anderes Beispiel.- Irgend Jemand hat sich einmal
eingebildet, daß der Schall durch Bewegungen irgend einer
Art in der Luft entstehe und daß also die Luft für die Fort-
fetzung des Schalles nothwendig sei. Keine Luft, kein Schall;
so vermnthete man. Konnte man aber einen luftleeren
Raum finden, um durch den Gegenbeweis die Richtigkeit
jener Meinung festzustellen? Da ward die Luftpumpe ent-
deckt. Ein berühmtes Experiment, welches die Wahrheit
jener Ansicht darthat, wurde 1705 von Hawksbee vor der
Royal Society gemacht. Er brachte eine Klingel solcher-
gestalt in der Glasglocke einer Luftpumpe an, daß man sie
länten konnte, wenn die Glocke von Luft entleert war. Ehe
die Luft ausgepumpt war, vernahm man deutlich den Ton
der Klingel; nach Entfernung der Luft jedoch wurde der
Laut so schwach, daß er kaum zu hören war. Tyndall führte
dieses Experiment nun weiter aus. Nachdem er die Glas-
glocke so stark, als irgend möglich ist, ausgepumpt hat, läßt
er Wasserstosfgas, welches 14 mal leichter als Luft ist, in
dieselbe einströmen. Die Lust wird dadurch verdrängt. Der
Ton der Klingel wird nicht merkbar durch die Gegenwart
dieses verdünnten Gases vermehrt, selbst wenn die Glocke
ganz damit erfüllt ist. Setzt man nun die Luftpumpe in
Bewegung und entfernt das Gas, so wird die Atmosphäre
um die Klingel herum noch mehr verdünnt. Auf diese Weise
wird ein Vacuum erzielt, welches weit vollständiger als das
von Hawksbee hergestellte ist. Das ist wichtig, denn bei
diesem Experimente kommt es vorzugsweise auf die letzten
Spuren von Luft an. Man sieht nun den Hammer auf
die Klingel fallen, aber nicht der leiseste Ton ist hörbar;
selbst das an die Glasglocke gelegte Ohr vernimmt nicht den
geringsten Laut, so eifrig der Hammer auch arbeitet. Läßt
man nun aber langsam Luft in die Glocke einströmen, so
wird bei der kleinsten Menge derselben schon ein schwacher
Ton hörbar, der zunimmt in dem Grade, als Luft eintritt,
bis endlich die Laute der Klingel ihre gewöhnliche Stärke
erreicht haben, wenn die Glocke wieder ganz mit Lust er-
füllt ist.
Tyndall geht noch weiter. In großen Höhen in der
Atmosphäre, wo die Luft dünner wird, ist der Schall nnge-
mein abgestumpft. Tyndall stellt sich nun vor, wie in den
allerhöchsten Regionen dieses aus das Sprechen wirken muß.
„Die Stimme," so belehrt er uns, „wird gebildet durch das
Herausstoßen der Luft aus den Lungen durch den Kehlkopf.
Bei ihrem Hervortreten wird sie durch die Stimmritzenbänder
in Schwingungen versetzt und so der Laut gebildet. Wenn
ich aber meine Lungen mit Wasserstosfgas fülle und zu fpre-
cheu versuche, so ist der Laut in einer bemerkenswerthen
Weise abgeschwächt. Die Folge davon ist eine höchst merk-
Einbildungskraft. 203
würdige. Sie haben sich bereits einen Begriff von der Stärke
und Qualität meiner Stimme gemacht. Ich entleere nun
durch Ausathmen meine Lungen von Luft und fülle dieselben
mit Wasserstoff aus diesem Gasometer. Ich versuche, kräs-
tig zu sprechen, aber meine Stimme hat ganz wunderbar an
Kraft verloren und die Qualität eigeuthümlich sich geändert.
Sie hören sie hohl, herbe, überirdisch; anders kann ich es
nicht beschreiben."
Fälle wie dieser rechtfertigen den sonderbaren Ausspruch,
daß die Wissenschaft eine zur Praxis reducirte Romantik sei.
Man kann leicht begreifen, daß wissenschaftliche Vorstellun-
gen etwas mehr als bloße Phantasie sind. Eine eingebildete
Sache braucht noch nicht eine Erdichtung zu sein; das Ding,
welches nicht existirt, ist noch keine Lüge. Seine Wahr-
heit oder Falschheit wird durch das Experiment dargethan,
aus dem dann die Entdeckung der Thatsache hervorgeht. Aus
Tyndall's Experiment, das Wasserstoffgas statt der gewöhn-
lichen Luft als Sprechmittel zu benutzen, geht der Satz her-
vor, daß die Intensität des Schalles von der Dichtigkeit der
Luft abhängt, in welcher er erzeugt wird, und nicht von
jener der Luft, in der man ihn hört.
Welche Wichtigkeit die Einbildungskraft als ein Hülfs-
mittel für die Wissenschaft besitzt, wird namentlich durch den
Schaden oder das Zukurzkommen der Wissenschaft selbst dar-
gethan, wo ein Entdecker nicht mit der nöthigen Phantasie
ausgerüstet war und vor dem entscheidenden Schritte stehen
blieb. Nur um eines Haares Breite dürste mancher Mann
der Wissenschaft bei oft wiederholten Experimenten weiter-
gegangen sein und er stand vor der glänzendsten Entdeckung,
die ein Anderer, mit mehr Phantasie begabt, nach ihm machte.
Beispiele hierfür liegen so zahlreich vor, daß man eine eigene
Abhandlung darüber schreiben könnte. Seit Urzeiten ist es
bekannt, daß die Wärme durch Bewegung entsteht, nament-
lich durch Reibungs- und Pressungsbewegung. Niemand
vermag zu sagen, wann die Menschen zuerst ihre Hände er-
wärmten, indem sie dieselben aneinander rieben, oder welcher
Wilde zuerst Feuer machte, indem er zwei Stückchen Holz
aneinander rieb. Eine Gewehrkugel, die abgeschossen wird,
erwärmt sich durch die Reibung der Lust; mau hat davon
gesprochen, Eier durch Reibung zu kochen, indem man sie in
einer Schlinge in der Luft herumwirbelte, etwa am Schwung-
rade einer Maschine. Ein Stückchen kaltes Eisen läßt sich
schnell erhitzen, wenn man es mit einem kalten Hammer auf
einem kalten Ambos bearbeitet. Ein Hufeisen wird wärmer
als der Fuß des Pferdes, wenn dieses schnell über ein kaltes
Pflaster dahiugalloppirt. Alle diese so entstandene Hitze
glaubte man durch eine Anhäufung des calorifchen Flnidums
entstanden.
Graf Rumford war 1793 der erste, welcher die heute
noch gültige Theorie von der Natur der Wärme aufstellte.
Die Thatsache, welche ihn dazu führte — wie der fallende
Apfel Newton zur Entdeckung der Schwerkraft — war der
Proceß des Kanonenbohrens in München. Um seine Idee
zu prüfen, ersann er einen Apparat zur Erzeugung der
Wärme durch Reibung, und mit diesem vermochte er Wasser
in 2V2 Stunden zum Kochen zu bringen. „Schwer würde
es sein," schreibt Rumford, „das Erstaunen und die Ueber-
raschung zu schildern, die sich aus den Gesichtern der Zu-
schauer abmalte, als ich eine große Wassermenge ohne Feuer
zum Kochen brachte." Dr. Tyndall, der 70 Jahre später
experimentirt als Rumford, vermag nun schon mit seinem
verbesserten Reibungsapparate eine Portion Wasser in 2 J/2
Minuten zum Kochen zu bringen.
Das beste Beispiel, um zu zeigen, wie nahe Mancher
einer großen Entdeckung war, die er mit etwas mehr Ein-
bildnngskraft gemacht haben müßte, ist der elektrische Tele-
26*
204 Wissenschaft und
graph. Schon 1732 ward er vorausempfunden, wie der
fliegende Teppich in Tausend und Eine Nacht eine Art Bor-
ansempfindung unserer Schnellzüge ist. Pater Lebrun näm-
lich empfiehlt in seiner „Histoire critique des Pratiques
superstitieuses qui ont seduit les Peuples et embarrasse
les savants" den Magnet als ein Mittel, um sich aus Ent-
fernungen hin zu verständigen. „Ich habe zu verschiedenen
Malen sagen hören, daß gewisse Personen mittelst zweier
Magnetnadeln geheime Mittheilungen unter einander ausge-
wechselt haben. Zwei Freunde nahmen jeder einen Compaß,
auf dessen Umkreis die Buchstaben des Alphabets eingravirt
waren, und sie wähnten, daß wenn der eine Freund die Na-
del auf einen der Buchstaben hinweisen ließ, die andere, ob-
gleich mehrere Meilen entfernte Nadel sofort sich auf den-
selben Buchstaben hinwandte. Für die Thatsache vermag
ich nicht einzustehen; ich weiß nur, daß verschiedene Leute
dieses für möglich gehalten haben, andere aber als einen
Jrrthum zurückweisen.'"
Dieser „Jrrthum" ist nun nichts Anderes als der elek-
trische Telegraph, aber ohne die Batterien und die Leituugs-
drähte.
Aldini dagegen beschreibt 1804 in seinem „Essai theo-
rique et experimentale sur le Gralvanisme" einen echten
elektrischen Telegraphen, doch ohne es zu wissen. Er wollte
untersuchen, ob ein galvanischer Schlag anch durch das
Meer geleitet werden könne. Durch den Gensersee und die
Themse war er schon von schweizer und englischen Gelehr-
ten geführt worden. Aldini legte nun einen Draht von
einer galvanischen Batterie am westlichen Hasendamme zu
Calais nach dem damals noch bestehenden Fort rouge. Die
Wirkungen der auf dem Damme aufgestellten Batterie wnr-
den nicht allein von den Menschen im Fort gespürt, sondern
auch an frisch geschlachteten Thieren erprobt, die in Folge
der galvanischen Schläge zusammenzuckten. Bei diesem Ex-
perimente fehlten nur die beiden Zeigerplatten an beiden
Enden des Drahtes, und der elektrische Telegraph war 1804
schon erfunden. Ein wenig mehr Einbildungskraft und eine
der wichtigsten Erfindungen trat 40 Jahre früher in die
Öffentlichkeit.
Indessen Tyndall wendet in seiner Abhandlung sich mehr
der Theorie als ihrer praktischen Anwendung zu. Eine cor-
recte Theorie ist der Schlüssel zur Weisheit; geht man von
ihr aus, so sind die Folgen sicher. Aber ohne Einbildungs-
kraft ist keine Theorie möglich; eine wissenschaftliche Erzie-
hnng muß nach Tyndall uns sowohl das Unsichtbare wie
Sichtbare in der Natnr sehen lehren; sie muß uns lehren,
mit dem geistigen Auge uns jene Operationen vorzustellen,
welche das körperliche Auge ganz ausschließen; uns die Atome
der Materie im ruhenden wie im bewegten Zustande erschauen
lassen, sie, ohne sie aus deu Augen zu verlieren, weiter in
die Welt der Sinne verfolgen lehren und zeigen, wie sie dort
sich zu natürlichen Phänomenen ausbilden.
Die Schwingungen, welche die ganze Natur durchzucken,
müssen gleichsam aus der Netzhaut des geistigen Auges ab-
gebildet werden. Vermittelst der Schwingungen im Aether
sehen wir; durch Schwingungen der Luft hören wir; durch
Schwingungen der Nerven schmecken, riechen und fühlen wir;
durch Schwingungen des Herzens leben wir. Um seinen
„wissenschaftlichen Gebrauch der Einbildungskraft" recht zu
illustriren, wählt Professor Tyndall als Beispiel die Undn-
lationstheorie des Lichtes. Licht, das Synonym von
Empfindungsvermögen und Mittheilung, ist das Ergebniß
eines Mechanismus, der durchaus und absolut unbemerkbar
für unsere Sinne ist. Es ist das Resultat der Schwingnn-
gen oder Wogen in einem feinen Aether, der den ganzen
Raum durchdringt. Aber wir kennen den Aether nicht sinn-
Einbildungskraft.
lich, nur geistig.' Es ist noch nie gelungen, ihn zn verdich-
ten, so daß er fühlbar geworden wäre, oder ihn mit chemi-
schen Reagentien nachzuweisen. Noch nie hat man sein
Wesen an der Wange gefühlt oder den leichtesten Thau, den
er etwa absetzen könnte, wahrgenommen. Der Aether selbst
liegt fern jenseits aller unserer Kenntniß, und dennoch wissen
wir, daß er vorhanden sein muß, weil wir sehen und die
Phänomene des Lichtes und der Erscheinung beobachten, die
in manchen Fällen, doch in anderer Form, nur eine Wieder-
holnng der Phänomene des Schalles sind.
Es ist schwer, dieses aus einander zu setzen, ohne Tyn-
dall's eigene Worte zu gebrauchen. Der Schall geht durch
verschiedene Media mit verschiedener Geschwindigkeit. Im
Wasser wird er mit einer Schnelligkeit von 4700 Fuß in
einer Secunde fortgesetzt, während die Wellenbewegung im
Wasser — die Wellen, die durch das Fallen eines schweren
Tropfens in einem ruhigen Teiche erzeugt werden — nur
im Verhältniß von einem Fuß auf eine^ecnnde sich fort-
setzt. Schwerkraft und Beharrungsvermögen sind die Agen-
tien, durch welche die Wellenbewegung erzeugt wird, während
bei der Schallwelle die Elasticität des Wassers die sortbewe-
gende Krast ist.
Allein Wasser ist nicht nöthig, um den Schall fortzn-
pflanzen; das gewöhnlichste Tragmittel desselben ist die Lust.
Wenn die Lust die eigentümliche Dichtigkeit und Elasticität
besitzt, welche mit der Temperatur des gefrierenden Wassers
correspondirt, so ist die Schnelligkeit des Schalles in ihr
1090 Fuß iu der Secunde, fast genau der Schnelligkeit
des Schalls im Wasser. Der Grund hierfür ist, daß, ob-
gleich das größere Gewicht des Wassers die Schnelligkeit zu
mindern strebt, doch die ungeheure Molecularelasticität des
Flüssigen den Nachtheil des Gewichtes mehr als ausgleicht.
So erhalten wir eine leidlich klare Vorstellung vom Schall.
Durch verschiedene Kunstgriffe können wir die Schwingungen
der Luft zwingen, sich selbst uns zu zeigen; wir kennen
die Länge und die Häufigkeit der Schallwellen. Wir können
einen Schall durch den andern vernichten. Wir kennen die
physikalische Bedeutung von Musik und Lärm, von Harmo-
nie und Disharmonie, kurz, was den Schall betrifft, so haben
wir bestimmte Begriffe von dem physikalischen Vorgang,
durch welchen specielle Gefühle in unseren Ohren hervorge-
bracht werden.
Nachdem wir uns in Gedanken die Schallwellen con-
struirt haben, welche wir mit uuferm körperlichen Auge nicht
sehen können, dennoch aber fest an deren Dasein glauben,
versuchen wir es, die Ursache und den Mechanismus des
Lichts kennen zu lernen. Hier nun kommt nns Vorzugs-
weise die Einbildungskraft zn Hülfe.
Wovon die Schnelligkeit des Schalls abhängt, haben
wir aus einander gesetzt. Wenn wir nun die Dichtigkeit
eines Mediums vermindern, aber dessen Elasticität aufrecht
erhalten, so vermehren wir die Geschwindigkeit. Erhöhen
wir die Elasticität und erhalten die Dichtigkeit, wie sie ge-
Wesen, so vermehren wir gleichfalls die Geschwindigkeit. Eine
geringe Dichtigkeit und eine bedeutende Elasticität sind daher
die beiden notwendigen Bedingungen, um eine schnelle Fort-
bewegung zu erzielen.
Man weiß nun, daß das Licht sich mit der erstaunlichen
Geschwindigkeit von 185,000 englischen oder 42,000 deut-
schen Meilen sortbewegt, so daß es, um von der Sonne zur
Erde zn gelangen, nur 87* Minute und, um vom Monde
zur Erde zu gelangen, nnr wenig mehr als eine Secunde
Zeit gebraucht. Wie kann eine so ungeheure Geschwindig-
keit erreicht werden? Nur dadurch, daß man im Räume
ein Medium von der nöthigen, ganz außerordentlichen Dünn-
Wissenschaft und
heit undElasticität annimmt. Das ist die zuerst vonHny-
ghens aufgestellte Theorie.
Verschiedene Gelehrte haben nun ein so ungewöhnlich
dünnes und elastisches Medium angenommen, es noch mit
einigen anderen nothwendigen Eigenschaften ausgestattet, es
mit bestimmten mechanischen Gesetzen versehen und auf diese
Weise es aus der Welt der Einbildung in jene der Realität
versetzt. So haben sie den Versuch gemacht, ob sich denn als
Endergebniß nicht die Erscheinung des Lichtes, wie es sich
dem gemeinen Wissen darstellt, offenbare. Wenn bei all
den gehäuften wechselvollen Erscheinungen dieser Phänomene
diese Gruudvorstellung uns stets der Wahrheit nahe bringt,
wenn in der äußern Natur kein Widerspruch gegen unsere
Deductionen gefunden wird; wenn ferner uns die Aufmerk-
samkeit auf Phänomene gelenkt hat, von denen wir früher
keinen Begriff hatten; wenn wir dadurch uus mit einer Gabe
der Wahrschanung begabt sinden, die durch das nachfolgende
Experiment ihre Bestätigung fand, solch eine Vorstellung, die
niemals täuschte, sondern zum festen Boden der Thatfache
führte, so muß hier sicher etwas mehr als bloße Phantasie
vorliegen. Es ist unmöglich, zu einem andern Schlüsse zu
gelangen, als daß Vernunft und Einbildungskraft im Ver-
ein in eine unsichtbare Welt uns geleitet haben, die jedoch
nicht um einen Dent weniger real als die Welt unserer
Sinne ist.
So hat die Einbildungskraft in diesem schlageudeu Bei-
spiele uus zur Erkenntniß einer der wichtigsten physikalischen
Thatsachen verholfen. Die Theorie von Huygheus, fchon im
vorigen Jahrhundert von Euler vertheidigt, wurde daun von
Uoung, Fraunhofer, Fresnel, Ampöre, Neumann und An-
deren weiter ausgebildet, und sie allein zeigt sich im Stande,
über alle Erscheinungen, welche das Licht darbietet, vollstän-
digen Aufschluß zu geben, und ist daher mit Recht jetzt die
allgemein geltende, während Newton's Emanationstheorie
verworfen ist. Er hatte angenommen, daß das Licht aus
materiellen, wiewohl äußerst feinen Theilchen bestehe, welche
von jedem selbstleuchtenden oder erleuchteten Körper ausgehen
und in das Auge gelangen. Der sogenannte Lichtäther, die-
ses universelle Medium, ist nicht die Quelle, sondern nur
der Träger der Undnlation. Er empfängt uud führt fort,
aber er schafft nicht. Die Bewegung, welche er fortsetzt,
geht in den meisten Fällen von leuchtenden Körperu aus.
Die wissenschaftliche Vorstellung, welche hier entscheidend ist,
verlangt als den Ursprung und die Ursache eine Reihenfolge
von Aetherwogen, ein Theilchen einer vibrirenden Materie,
genau so bestimmbar, obgleich unvergleichlich kleiner, als
jenes, welches dem musikalischen Klange den Ursprung giebt.
Solch ein Theilchen wird als Atom oder Molecül bezeichnet.
Eine Vorstellung davon zu gewinnen, erscheint nicht schwer.
Durch Einwirkung auf uufere Netzhaut erzeugen die
Aetherschwingungen die Farben, und zwar entsteht durch die
verschiedenartige Dauer oder Schnelligkeit derselben die Ver-
schiedenartigkeit der Farben. Der violetten Farbe entspre-
chen die schnellsten, der rothen die langsamsten Schwingungen.
Nach Fresnel's Berechnung kommen auf eine Secunde beim
violetten Lichte 764 Billionen, beim rothen 488 Billionen
Schwingungen. Blau und Grün liegen dazwischen. Die
Einbildungskraft. 205
Schwingungsverschiedenheit können wir etwa mit den Wogen
des Oceans und den Wellen eines Teiches vergleichen. Das
Steingeschiebe am User, welches die einen bricht, wird auf
die anderen keinen merkbaren Einfluß üben. Nun stelle
man sich eine Menge feine Partikel gleich Sonnenstäubchen in
der Atmosphäre suspendirt vor. Gleich dem Geröll am Ufer
werden sie auf die schwächeren Lichtwellen Einfluß ausüben.
Der Himmel ist blau; hierdurch wird ein Mangel an
größeren Lichtwellen angezeigt. Bei Betrachtung der Him-
melsfarbe wird man zunächst zu der Frage veranlaßt: Ist
nicht die Luft blau? Und in der That hat man die Him-
melsbläne von der blauen Farbe der Luft ableiten wollen.
Aber die Gegenantwort lautet: Wenn die Luft blau ist,
wie kann das Licht bei Sonnenauf- und Sonnenuntergang,
welches durch ungeheure Entfernungen zu uus kommt, denn
gelb, orange und selbst roth sein? Der Durchgang des wei-
ßen Sonnenlichtes durch ein blaues Medium kann nnmög-
lich ein rothes Licht erzeugen. Die Hypothese einer blauen
Luft ist daher unhaltbar. In der That iibt das Agens,
welches uns das Himmelslicht sendet, gleichviel welcher Art
es auch sei, eine zweifache Wirkung aus. Das reflectirte
Licht ist blau, das durchgehende orange oder roth. Aber
man weiß, daß unendlich kleine Partikel, die in einem Me-
dinm suspendirt sind, diesem eine blaue Farbe ertheilen, wenn
sie bei reflectirtem Licht gesehen werden. Man hat Gläser,
welche bei durchfallendem Licht eine glänzend gelbe, bei reflec-
tirtem eine schön blaue Farbe zeigen. Eine Spur Seife
dem Wasser zugesetzt, giebt diesem eine bläuliche Farbe; eben
so erscheiut dieses, wenn man etwas frische Rinde der Roß-
kastanie hineinlegt, und Helmholtz hat die Thatsache festge-
stellt, daß ein blaues Auge ein trübes Medium ist.
Die winzige Kleinheit der Partikel sich vorzustellen,
welche unfern Azurhimmel erzeugen, muß ganz der Einbil-
duugskraft überlassen bleiben. Ans ihrer Durchdringlichkeit
durch Sternenlicht und durch andere Betrachtungen schloß
Sir John Herschel auf die Dichtigkeit und das Gewicht der
Kometen. Wir wissen, daß ihre Schweife oft kolossale Räume,
weit größer als unser Planet, einnehmen. Man presse nun
die ganze Kometenmasse zusammen, vereinige sie zu einer
Menge, wie groß wird das Volumen derselben sein, wenn
der Komet nur einen Umfang gleich unserer Erde sammt
ihrer Atmosphäre hatte? Nach Sir Johu Herschel würde
die ganze Masse von einem Pferde gemächlich forttransportirt
werden können.
Hiernach können wir leicht Tyndall's Bemerkung über
die Quantität der Materie unseres Himmels verstehen. Man
nehme an, eine Schale umgebe die Erde etwa in der Höhe
des Montblanc; die dichtere Materie, welche in der Nähe
unseres Planeten die Luft erfüllt, wird dadurch eingeschlossen.
Außerhalb der Schale liegt das tiefblaue Firmament. Nun
sammle man die Himmelsmaterie innerhalb der Schale. Wie
groß wird sie sein, welches Gewicht hat sie? Nach Tyndall
so viel, um in die Reisetasche einer Dame, in die Schnupf-
tabacksdose eines Mannes gesteckt werden zu können. Danach
mag also „der Himmel einstürzen", ohne uns Schaden zu
thun. R. A.
206
Aus allen Erdth eilen.
Aus allen
Polonisirte Deutsche in Gasizien.
Wir finden folgende Schilderung in einer polnischen Zeit-
schrift, die von Interesse ist, da sie uns die vollständige Poloni-
sirung eines ehemals d eutfcheu Städtchens vor Augen führt.
„Die Bereisung des Kreises von Jaslo begann ich da, wo er
mit dein von Sanok grenzt, indem ich die Umgebung von Krosno
und Dukla besichtigte. Dieses Stückchen Land ist reizend und
reich an malerischen Scenerien; die Kirchlein sind meistens von
Lärchenholz erbaut, aber hinsichtlich ihrer alten Bauart bereits
sehr umgestaltet. Wenige derselben haben sich fo gut erhalten,
daß sie durch ihr äußeres Gepräge die Zeit ihrer Gründung an-
deuten könnten. An Documenten giebt es auch nicht viel. Die
Einfälle der Tataren, Schweden und Ungarn, die hier bis ins
achtzehnte Jahrhundert mehrfach stattfanden, find Ursache, daß
auch die kirchlichen Denkmäler zerstört und die Archive zu Grunde
gerichtet wurden. Fast alle Ortschaften um^Krosno sind deut-
sche Ansiedlungen aus den Zeiten Kasimir's des Großen und
Wladislaw Jagiello's. Beinahe jede Kirche giebt hiervon un-
zweifelhaftes Zeugniß. Die deutschen Ansiedler waren meisten-
theils Weber, und hiervon pflegt man daher auch den Namen
Krosno, d. i. Webstuhl, abzuleiten. Noch bis jetzt heißen viele
Familien: Bachmann, Bergel, Frickel, Gems, Glaser, Heusner jc.,
und sagen bruslik (der Brustlatz) statt gorset, manta (der
Mantel) statt plaszcz, szesterka (Schwester) statt siostra, Geis-
tag (Pfingsten, Geisttag) statt ziolone swieta u. f. w. Trotz-
dem spricht das Volk gut polnisch. Manche wollen diese Be-
wohner noch aus älterer Zeit herstammen lassen und sehen in
ihren blonden Haaren die flavi capilli Germanorum des Tacitus,
in der Stirnbinde der Frauen und ihren kurzen Röcken (Ka-
tanka) aber eine deutsche Tracht und möchten Krosno von Grossau
herleiten. Es ist aber die Sache hier sehr klar, denn fast immer
ist es in den Urkunden angegeben, es wären, um das von den
Tataren verwüstete Land wieder zu bevölkern, Kolonisten dort-
hin berufen worden. Die meisten hat Kasimir der Große an-
gesiedelt und er hat in Kleinpolen wohl an 300 solcher Dörfer
gegründet.
Krosno, einst eine wohlhabende und glanzvolle Stadt,
zählt jetzt wenig über 1000 Einwohner, und erinnert uns in
seinen Ruinen an die vergangenen besseren Zeiten. Den Markt-
platz (Ring, rynek) umgeben gewölbte, einfache Lauben. Es
war bis zum siebenzehnten Jahrhundert die Residenz der Bi-
schöfe von Przemysl und mit sechs Kirchen geschmückt; doch heute
schleppen kaum drei ihr Leben dahin. Außer mehreren hübschen
Bildern der altdeutschen Schule und dem höchst ansehnlichen
Altar in der Capelle derer von Oswiecim, dessen Malereien man
van Dyk zuschreibt (?), erinnern noch viele Marmordenkmäler
an jene glanzvolle Zeit."
Die Cornell-Universität im Staate Neuyork.
—a— Die Universitäten in den Vereinigten Staaten sind be-
kanntlich wesentlich nach dem Muster derer in England eingerichtet
und leiden auch an denselben Mängeln und Nachtheilen. Da und
dort hat man allerdings Verbesserungen eingeführt, im Großen
und Ganzen ist man jedoch bei dem einmal überkommenen Sy-
steme geblieben.
Eine Ausnahme bildet die Staatsuniversität zu Jthaca, bei
welcher man nicht ohne günstigen Erfolg den Versuch machte,
das Wesen der deutschen Hochschulen zum Vorbilde zu neh-
men, den Lehrzwang zu beseitigen und den Studirenden freie
Bewegung zu gestatten. Daneben hat man allerdings dem prak-
tischen Bedürfnisse des amerikanischen Lebens Rechnung getragen,
und die Cornell-Universität weist deshalb einige Eigenthümlich-
E r d t h e i l e».
keiten auf, welche auf unseren deutschen Hochschulen kein Neben-
stück haben.
Die Anstalt ist reichlich mit Mitteln ausgestattet. Anfangs
scheint man einen Mißgriff gemacht zu haben, indem man für
die Lage der Universitätsgebäude einen steilen, etwa 400 Fuß
über der Stadt Jthaca liegenden Hügel wählte. Dieselbe ist
allerdings in hohem Grade malerisch und die Aussicht von oben
herab entzückend auf ein Thal, das etwa dreimal so breit ist
wie jenes des Neckar bei Heidelberg. Man hat einen Blick auf
den Cayuga-See und auf mehrere Wasserfälle, aber der Weg
zum Hügel hinan ist sehr beschwerlich.
An Zweckmäßigkeit läßt der Bau des Häusercomplexes nichts
zu wünschen übrig. Das Hauptgebäude hat 180 Fuß Vorder-
seite und 100 Fuß Tiefe, Wohnungen für eine Anzahl von Pro-
fessoren und deren Familien, für eine Anzahl von Studenten
und Beamten, sechs Hörsäle und eine Aula. Eine geräumige
Halle ist mit fünfzig Kupferstichen nach Kaulbach's Gemälden des
Berliner Museums und mehreren Broncestatuen geschmückt. Die-
ses Gebäude ist durch eine Parkanlage getrennt von zwei großen
dreistöckigen Häusern, in welchen sich Schlafzimmer, Hörsäle, ver-
schiedene Eabinette befinden; ein 100 Fuß langer Anbau enthält
das Laboratorium. Außerdem sind vorhanden einige Farm-
gebäude und ein 260 Fuß langes „Centralgebäude" mit einem
130 Fuß hohen Thurme. Dasselbe enthält die Bibliotheksräume
und die verschiedenen Museen. Das Ganze macht einen sehr
ansprechenden Eindruck.
Die Anzahl der Hörsäle beträgt 43 und bei der innern
Ausstattung ist auf die Bequemlichkeit der Studirenden alle
Rücksicht genommen worden, ein Gleiches gilt auch von den ver-
schiedenen Laboratorien, welche mit wissenschaftlichen Jnstrumen-
ten reichlich versehen sind. Für die Chemie allein sind nicht
weniger als fünf Laboratorien hergerichtet worden; in dem
größten derselben können 50 Schüler zumal arbeiten. Im Nord-
gebäude ist für die verschiedenen wissenschaftlichen Vereine der
Universität eine große Halle vorbehalten worden; sie ist mit
30 großen historischen Bildern und neun lebensgroßen Bronce-
statuen geschmückt.
Die Sammlungen sind für eine noch so junge Anstalt schon
sehr beträchtlich in einer Anzahl von größeren und kleineren
Räumen untergebracht, und diese sind täglich von früh bis spät
geöffnet. Die Universitätsbibliothek enthält bereits mehr als
30,000 Bände, und einen Hauptbestandtheil derselben bildet die
Büchersammlung unseres berühmten Linguisten Franz Bopp
aus Berlin, welche von der Cornell-Universität erworben wurde.
Auch die alten Klassiker sind reich vertreten, und die Zahl der
wissenschaftlichen Blätter, welche regelmäßig gehalten werden, ist
sehr beträchtlich. Auch die Bibliothek ist den ganzen Tag über
geöffnet. Unter den naturwissenschaftlichen Sammlungen ist die
conchyoliologische ungemein reichhaltig; sodann jene der amerika-
nischen Vögel, die mineralogische und geologische, welche die
Sammlungen Silliman's und Jewett's enthält. Das Ackerbau-
museum enthält unter Anderm eine Sammlung von etwa drei-
hundert verschiedenen Pflügen, deren Modelle von der Hand
einiger deutscher Künstler meisterhaft hergestellt worden sind.
Die Zahl der Studirenden hat während des jüngsten Cur-
sus 571 betragen. Von diesen wa^en mehr als fünfhundert be-
flissen, neuere Sprachen zu erlernen: Deutsch, Französisch, Spa-
nisch, Italienisch, Portugiesisch und Schwedisch; etwa 100 trie-
ben Griechisch und Lateinisch. Die Abtheilungen für Botanik,
Thierarzneikunde und Agricultur wurden von etwa 300 Zuhö-
rern besucht; ziemlich eben so viele hörten Collegia über ange-
wandte Chemie, Jngenieurwissenschaften und verschiedene Zweige
der Mechanik. Das, was wir als Polytechnische Schule bezeich-
nen, ist aufs Innigste mit der Universität verbunden; fast neun
Aus allen
Zehntel aller Studenten besuchten irgend ein mathematisches
Kollegium, und alle kirchlichen Secten, mit alleiniger Ausnahme
der Mormonen, sind unter den Studenten vertreten. Theologie
ist gottlob ausgeschlossen; die Andachten bestehen im Vorlesen
des Vaterunser und irgend einer Bibelstelle.
Zwei Einrichtungen dieser Universität sind ihr eigenthüm-
lich. Etwa der fünste Theil der Studirenden ist mit irgend
einer Handarbeit beschäftigt, entweder für die Anstalt selbst oder
in gewerblichen Anstalten in Jthaca. Sodann wird die zur
Universität gehörende Buchdruckerei völlig durch Studirende be-
sorgt; sie sind Setzer und Drucker und etwa fünf Stunden an
jedem Tage beschäftigt. So erwerben sie ihren Lebensunterhalt,
und Manche sind auch Buchbinder. In dieser Druckerei er-
scheint, neben manchen Lehrbüchern, auch eine von den Studen-
ten herausgegebene Zeitschrift, die „Cornell Era", wöchentlich
einmal; sie hat ungefähr tausend Abnehmer. Manche Zöglinge
find als Arbeiter auf der mit der Universität verbundenen Land-
wirthschaft beschäftigt, und noch andere betreiben ein Handwerk
in den Werkstätten der Schlosser, Tischler, Schmiede, Zimmer-
leute :c.
Die Zah'l der Professoren beträgt 31, ist also für eine
amerikanische Hochschule sehr beträchtlich. Man hat eine sehr
zweckmäßige Einrichtung darin getrosten, daß auch „nicht residi-
rende Professoren" Vorträge halten, und diese können auch von
Damen besucht werden. Die Zahl solcher auswärtigen Pro-
festeren beträgt sieben; sie kommen auf vier bis sechs Wochen
nach Jthaca. So hat z. B. Hartt, der, wie unsere Leser
wissen, der Begleiter von Agassiz auf dessen Reise in Brasilien
war und jüngst selbständig als Gelehrter Wanderungen in Süd-
amerika unternahm, zwanzig Vorträge über Geologie gehalten,
und Bayard Taylor eben so viele über deutsche Literatur
von 1770 an. Dieselben waren von mehr als 500 Zuhörern
besucht, von denen etwas mehr als 300 anderweite Collegia
über deutsche Sprache und Wissenschaft bei verschiedenen Pro-
fessoren hörten. Bayard Taylor ist nicht nur ein ausgezeich-
neter Reisender und Reiseschriftsteller, der ganz Europa von
Lappland bis Sicilien und Morea kennt; er war auch in Japan
und Ealifornien und hat das Nilland bis Chartum hinauf er-
forfcht, sondern zugleich Dichter in deutscher wie in englischer
Sprache; er ist in Thüringen so heimisch wie auf seinem schönen
Landgute am Delaware. Jüngst hat er Goethe's Faust Meister-
Haft übersetzt und alle seine Vorgänger weit hinter sich gelassen.
Von seinen Vorträgen widmete er zwei der Erläuterung des
großartigen Dichterwerkes; in den übrigen besprach er Lessing,
Klopstock, Herder, Wieland, Schiller, Humboldt, und gab Ana-
lysen ihrer wichtigsten Werke. An der Cornell-Universität sindet
das Studium des Deutschen unter den amerikanischen Studen-
ten viele eifrige Freunde, und es ist ein wesentliches Verdienst
Bayard Taylor's, dort die Liebe zu unserer Muttersprache und
unserer Literatur geweckt zu haben.
Die Goldwäschereien in Lappland.
Ein Bericht über dieselben enthält Folgendes:
Das im verflossenen Jahre in Finlands Lappmarken ent-
deckte Gold erregte das allgemeine Interesse des Publicums,
nachdem dieser Gegenstand in verschiedenen Zeitungen vielfältig
besprochen worden; hierdurch war die Sucht, Gold zu erbeuten,
mannichfach erweckt, ein Jeder hoffte, Gold ohne Mühe, näher
und mit weniger Gefahr zu erhalten, als dieses in Ealifornien
geschieht; Gerüchte aller Art kamen in Umlauf, dadurch steiger-
ten sich die Erwartungen, und in Finland bereiteten sich Masten
von Arbeitern zum Abzüge auf die Goldausbeute. Da erschien
ein Reglement vom 8. April v. I., welches die Menge in etwas
ernüchterte, denn aus demselben ging hervor, daß um Gold zu
erbeuten auch Geld erforderlich sei und polizeiliche Maßregeln
zur Aufrechterhaltung der Ordnung bedingt wurden, um cali-
fornifchen Verhältnissen vorzubeugen. Die Folge war, daß sich
geschlossene Gesellschaften bildeten, die sich statutenmäßig
das Land gegen Entrichtung der gesetzlichen Abgabe zuweisen
irdtheilen. 207
ließen. Zu gleicher Zeit ward von der finländischen Regierung
eine namhafte Summe ausgesetzt zur Einrichtung einer Polizei-
Verwaltung, für diese die nöthigen Baulichkeiten aufgeführt,
durch Wälder und Wüsteneien Fußwege gelichtet, die gefährlichen
Stellen der Moräste gangbar gemacht, die nöthigen Lebensmittel
wurden auf Renthieren hingeschasst, eine Beförderung der Brief-
post mit Boten einmal wöchentlich zu Stande gebracht, und end-
lich mit Beginn des Frühjahrs, im Monat Juni, das Verwal-
tungspersonal mit vieler Mühe in die Einöde besördert. Zu
derselben Zeit langten 20 Eompagnien, meist aus Unländern
verschiedener Stände bestehend, mit ihren Arbeitern zum regel-
mäßigen Betriebe der Goldwäscherei am Jwalo-Flusse, etwa
50 Werst von dessen Ausfluß in den Enari-See, an, während
Eompagnien der sibirischen Goldwäscher ihre Leute nur zur Un-
tersuchung der verschiedenen Flüsse verwandten, da ihnen das
bisher entdeckte Terrain nicht ausgedehnt genug schien, um sich
auf diesem mit größerer Arbeiterzahl ausdehnen zu können. Mit »
der Reise und den Vorbereitungen verfloß der Monat Juni; iil
der zweiten Hälfte des Juli wurden von den in Arbeit begriffe-
nen Eompagnien der sinnischen Regierung 20 Pfund Gold zu-
gesandt, und mit dem Schlüsse des August n. St., wo die
Witterung das Arbeiten nicht mehr gestattete, war die ganze
Ausbeute gegen 60 Pfund der feinsten Probe, wie auch ein
wenig Platina. Das Resultat ist mithin ein günstiges zu nen-
nen. Der Goldgehalt war auf den bisher entdeckten Stellen
reichhaltig, doch das Terrain beschränkt; diejenigen, denen das
Glück wohl will, machen ein vortheilhaftes Geschäft, doch sind
auch Manche, die kaum ihre Unkosten decken.
Es stellt sich heraus, daß das Gold mehr oder
weniger in den Flüssen Lappmarkens gefunden, im
Jahre 1870 aber nur an den Ufern des Jwalojöggi, auf
einer Ausdehnung von 26 Werst gewaschen worden ist; daß
solches in den Felsenklüften daselbst reichlicher vorhanden, als
an dem ebenen Uferboden, gewiß aber am ergiebigsten im Fluß-
bette selbst gesunden werden wird, wozu großartigere Arbeiten (Ab-
dämmungen) als die bisherigen erforderlich find. Dem Urtheile
der Fachmänner gemäß ist das Goldlager in dem Peldo-
niemigebirge, wo die beiden Flüsse Jwalo und Tana ent-
springen, enthalten. Letzterer bildet die Grenze zwischen
Finnland und Norwegen und ist im vorigen Sommer auch
von der norwegischen Regierung untersucht und Gold gefunden
worden. Am Jwalo wird an den Stellen, wo Wasser aus dem
Gebirge zugeleitet werden kann, die Wäscherei vermittelst Rin-
nen, anderweitig aber mit californischen Wiegen betrieben. Das
Terrain ist dem des Sacramento-Flusses sehr ähnlich, von dem
Sibiriens jedoch ganz verschieden, was gleichfalls ein Grund sein
kann, weswegen die sibirischen Goldwäscher hier nicht die Arbeit
in Angriff genommen haben mögen.
Die Höhlenmalereien der Buschmänner.
Georg W. Stow, wohnhaft zu Queenstown in der Eap-
colonie, berichtet in einem in der Zeitschrift „Nature" kürzlich
abgedruckten Briefe: „In den letzten drei Jahren habe ich wie-
derholt Wanderungen nach den verschiedenen alten Buschmanns-
höhlen in dieser Gegend der Colonie und in Kasfraria unter-
nommen. Da die Malereien in denselben sehr schnell ihrem Un-
tergang entgegengehen, so versuchte ich Copien dieser interessan-
ten Reliquien eines untergehenden Volkes aufzunehmen, und da-
bei entstand wieder in mir die Idee, Materialien zu einer G e -
schichte der Sitten und Gebräuche der Buschmänner
zu sammeln, wie sie sich in ihren eigenen Gemälden darstellt.
Ich bin fo glücklich gewesen, mir eine Anzahl Copien von Jagd-
scenen, Tänzen, Gefechten u. s. w. zu verschaffen, welche
die Art der Kriegführung, der Jagd, der Waffen u. f. w. dar-
stellen. Es ist dieses eine Sammlung von großem Interesse. An
einigen Punkten ist es geradezu staunenerregend, bis zu welchem
Grade von Vollkommenheit die wilden Künstler gelangt sind.
Ich fand drei verschiedene Arten von Malereien, eine über
der andern, und da die jüngste über fünfzig Jahre alt sein
208
Aus allen Erdtheilen.
mußte, so war die unterste gewiß vergleichsweise sehr alt. Die
Farben sind sehr dauerhaft und würden sicher Jahrhunderte
überdauert haben, hätte man sie nicht muthwillig zerstört. Aber
unglücklicherweise werden sie von den Kaffern beständig beschä-
digt, und wenn noch eine Generation vergangen ist, wird nichts
mehr von ihnen übrig sein. Die Farben, welche man in den
Höhlen benutzte, sind ocherhaltige Concretionen, die in einigen
Sandsteinen der Karuschichten, z. B. am Rhenosterberg, Storm-
berg und anderswo, vorkommen. Diese Concretionen sind von
gelber, brauner und rother Farbe. Die menschlichen Körper
stellte man in den Höhlen chocolatenbraun dar."
Wie lange Zeit braucht ein Telegramm um die Erde?
Der „Engmeer" stellt folgende Erwägung auf, die That-
fache werden kann, wenn der russisch-amerikanische Telegraph
einmal vollendet sein wird. Ein Telegramm von Alaska nach
Neuyork, welches Sitka z. B. um 6 Uhr 40 Minuten an einem
Montag Morgen verläßt, wird am darauf folgenden Dienstag
1 Uhr 6 Minuten Mittags in Nikolajewsk an der Amurmündung
anlangen. In Petersburg wird es aber um 6 Uhr 3 Minuten
am Montag Abend sein; in London 4 Uhr 22 Minuten am
Montag Nachmittag und endlich in Neuyork II Uhr 6 Mi-
nuten am Montag Vormittag. So kann eine Nachricht am
Morgen des einen Tages abgesandt abgehen, sie wird empfan-
gen und weiter geschickt am nächsten Tage, wieder empfangen
und abgesandt ani Nachmittag des Tages, an dem sie zuerst
abging, und erreicht schließlich den Ort ihrer Bestimmung am
Vormittage des ersten Tages. Zu der ganzen Operation wurde
also eine Stunde Zeit verbraucht, wenn man für jede Ueber-
tragung 20 Minuten rechnet.
q- * $
— Professor Nordenskjold hat der Stadt Gothenburg
in Schweden, deren Bewohner ihm die Mittel zu seiner jung-
sten Reise nach denl nördlichen Eismeere lieferten, eine reichhal-
tige Sammlung von Geräthen für das städtifche Museum
geschenkt. Sie besteht in nicht weniger als 5423 verschiedenen
Stücken. Darunter befinden sich 429 von Stein, 83 von Kno-
chen, 5 von Holz, 21 sogenannte Stlinkernen, wovon Stein-
messer abgeschlagen worden sind. Dazu kommen 6 Sammlun-
gen von Splittern und Scherben, welche bei der Zubereitung
der Steingeräthe abgeschlagen worden sind; diese Abfälle sind
an verschiedenen Stellen gesammelt worden, auch in einem Kjök-
kenmödding. Unter den Steingeräthen befinden sich Messer von
Bergkrystall und Feuerstein, Meißel, Drillbohrer, Spitzen zu
Pfeilen, Harpunen, Löffel, Nadeln und Amulette.
— Wir erwähnten neulich (S. 192), wie traurig es mit
dem Volksschulwesen in Ungarn bestellt sei und daß es
dort Lehrer gebe, welche — nicht schreiben können. Jetzt lie-
gen amtliche Nachweise des Cultusministeriums vor, aus welchen
sich Folgendes ergiebt: Die Hälfte aller Kinder in Ungarn ist
ohne all und jeden Unterricht; — 1217 Gemeinden besitzen gar
keine Schule. Sehr viele Schulhäuser sind elende Spelunken,
Ställe, in welchen die Gesundheit der Kinder zu Grunde geht;
vielen mangeln alle Schulmittel. Etwas weniger große und
hohe Politik und sehr viel Sorgfalt für die Erziehung der Ju-
gend wäre doch den Magyaren dringend anzuempfehlen.
— Wiedererscheinen der großen Trappe in Eng-
land. Schon hielt man die große Trappe (Otis Tarda) seit
Langem in England ausgerottet und nahm an, daß dieser weit
durch Mitteleuropa verbreitete, aber immerhin nicht häufige
große Vogel dort nur eine archäologische Merkwürdigkeit sei.
Da trat er auf einmal Ende Januars im nördlichen Devonfhire bei
Braunton in der Nähe von Barnstaple in größerer Menge wie-
der auf; aber so unbekannt war dieser stattliche Vogel in Eng-
land geworden, daß das North Devon Journal folgende Notiz
bringen konnte: „Wildes Geflügel. Während der Weihnachts-
woche kam ein Trupp von acht wilden Truthähnen in un-
sere Gegend und ließ sich auf einem Felde bei Croyde nieder.
Sie wurden von Mr. William Nuich gesehen; er verfolgte sie
und erlegte einen, der neun Pfund wog und sehr angestaunt
wurde. Die anderen entflohen in westlicher Richtung." Im
Februar wurden dann noch Trappen in den Grasschaften Middle-
sex, Northumberland, Wilts und Somerset gesehen und theil-
weise erlegt. Die englischen Naturforscher zerbrachen sich nun
den Kopf darüber, woher der Vogel plötzlich gekommen fei und
bringen den harten Winter, ja selbst den Krieg damit in Ver-
bindung. Wenn auch schon seit langer Zeit ausgerottet, ist die
Trappe doch immer von Zeit zu Zeit wieder jenfeit des Eanals
aufgetreten. So 1798 und 1364 in der Nähe von Plymouth,
1351 bei Elovelly in Devon.
— Einbürgerung der Euphorbia prostrata auf
Madeira. Diese kleine einjährige, auf Jamaica und Trinidad
einheimische Pflanze wurde vor etwa zehn Jahren durch Zufall
in einen 400 Fuß über dem Meere gelegenen Garten in Madeira
eingeführt, und verbreitete sich von hier, da Boden und Klima
ihr zusagten, schnell abwärts nach der Stadt Funchal, während
auf den anderen Bergen, die von jenem, auf welchem die Eu-
phorbia zuerst wuchs, durch tiefe Schluchten getrennt waren, das
Unkraut gar nicht zu bemerken war. Unten in Funchal ange-
kommen begann die Euphorbia ihren Rücklauf aufwärts auch
an den anderen Bergen, und zwar schritt sie im Jahre durch-
schnittlich zehn Fuß vorwärts. Die scharfen spitzen Samen des
Krautes heften sich leicht an die Kleider der Vorübergehenden
und werden so weiter verschleppt. Jetzt ist die Euphorbia pro-
strata überall auf Madeira bis zu 500 Fuß Meereshöhe zu
finden.
— Ein Pandit (Schriftgelehrter), Som Nath Makhard-
schya, Professor des Sanskrit, hat zu Dakka, in Bengalisprache
eine Schrift drucken lassen, in welcher er gegen einen grundver-
derblichen Brauch seiner Landsleute eifert, nämlich gegen die Ver-
heirathung der Kinder. Er weist nach, daß eine solche in
den heiligen Büchern durchaus nicht geboten sei und eine große
Menge von Uebelständen im Gefolge habe. Er sagt unter An-
derm: „Zwei Drittel der jungen Leute, welche mit etwa sechs-
zehn Jahren sich zur Prüfung für die Aufnahme an der Uni-
versität melden, sind verheirathet. Manche Knaben erhalten
schon mit sieben oder acht Jahren eine Frau." Wie solle nun der
junge Studiosus mit Eifer sich der Wissenschaft widmen können,
wenn er für den Lebensunterhalt einer Familie forgen muffe?
Es fei dringend nothwendig, Reformen eintreten zu lassen.
— In Neuorleans sind 1870 am gelben Fieber 537
Menschen gestorben; die Gesammtzahl der Sterbefälle belief sich
auf 7391; von den Gestorbenen haben 12 ein Alter von über
100 Jahren erreicht.
— Zu Eanton im Staate Massachusetts ist die zwanzig-
jährige Lehrerin Etta Barston v o n v i e r hoffnungsvollen Yankee-
knaben zu Tode gesteinigt worden. Die Blätter bezeich-
nen als „Mörder" James Eogswell, Jeremiah und Daniel Keil-
ker und John Eoffee.
Inhalt: Vanconver-Jnsel und Britisch-Columbia. Mit sechs Abbildungen.) — Die Fabrik alter Steingeräthe in
©ftaffel). — Hatten die alten Nordländer Kunde von einem offenen Polarmeer? Von Gisli Brynjulfson. (Fortsetzung.) —
Wissenschaft und Einbildungskraft. — Aus allen Erdtheilen: Polonifirte Deutsche in Galizien. — Die Cornell-Universität im
Staate Neuyork. — Die Goldwäschereien in Lappland. — Die Höhlenmalereien der Buschmänner. — Wie lange Zeit braucht
ein Telegramm um die Erde? — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Nedaction verantwortlich: H- Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
Hierzu eine Beilage: Literarischer Anzeiger. Nr. 1.
Mit besonderer HerücksicWgung Äer Intkroxologie unä Gtknologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
2D?ftt Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1811.
Wir machen die geehrten Abonnenten des Globus darauf aufmerksam, daß wenn ihnen unsere Zeitschrift
in der letztvergangenen Zeit hin und wieder unregelmäßig zugegangen ist, der Grund lediglich in den noch immer
andauernden Störungen des Eisenbahnbetriebes liegt, Verzögerungen in der Expedition haben niemals stattgefunden.
Nach Wiederherstellung des regelmäßigen Betriebes der Eisenbahnen wird die Zusendung mit der frühern
Promptheit wieder erfolgen können.
Braunschweig, im April 1871. Friedrich Vieweg und Sohn.
Neue Mittheilungen über die Thierwelt Neuseelands.
Die Fauna einer Insel zu betrachten, bietet ein ganz
besonderes Interesse dar. Will man nicht annehmen, daß
die auf derselben vorkommenden Thier- (und auch Pflanzen-
arten) von allem Ursprung an dort heimisch waren, also als
wirkliche Abonginer auftreten, so kann man nur an eine
Einwanderung glauben. Nur aus dem Wege des Gehens,
des Fliegens oder Schwimmens können dann die Thiere von
einem Verbreitungscentrum aus nach der Insel gelangt sein.
Je älter, geologisch genommen, eine Insel ist, um so mehr
Arten kann man auf ihr antreffen, da die Zeit vorhanden
war, daß allmälig auf dem Wege der Einwanderung mehr
und mehr Arten sich auf ihr ansammelten. Je ferner von
einem Continente gelegen, desto schwieriger wird aber die
Besiedelnng einer Insel mit neuen Arten sein, während an-
dererseits durch diese Entfernung die einmal auf der Insel
vorhandenen alten Arten, geschützt vor einwandernden, sie
bedrohenden Feinden, um so länger ansdanern können. Eine
solche Insel zeigt dadurch einen, so zu sagen, antediluviaui-
schen Charakter, sie gemahnt im Habitus ihrer Thier- und
Pflanzenwelt an vergangene geologische Epochen, wie denn
Globus XIX. Nr. 14. (Mai 1871.)
z. B. Oswald Heer ans Madeira sich mitten hinein in die
Tertiärzeit versetzt glaubte. Auch Neuseeland, das nur vor
sehr langer Zeit einmal mit Australien vereinigt gewesen
sein kann, zeigt einen solchen vorweltlichen Charakter. Es
erinnert an eine geologische Vergangenheit auch in seinem
landschaftlichen Charakter. „Im Innern der neuseeläudi-
schen Wälder/' schreibt F. v. Hochstetter, „ist es düster und
todt, weder bunte Schmetterlinge noch Vögel erfreuen das
Auge oder geben Abwechselung; alles Thierleben scheint er-
storben, und so sehr mau sich auch nach dem Walde gesehnt,
so begrüßt man doch mit wahrem Wonnegefühl nach tage-
langer Wanderung durch diese düsteren und öden Wälder
wieder das Tageslicht der offenen Landschaft."
Neuseelands Pflanzenwelt ist eine durchaus eigen geartete.
Ist fie auch der des australischen Continents verwandt, so
fehlen doch gerade dessen Charaktererscheinungen, während
einzelne Pslanzengeschlechter an südamerikanische Typen er-
innern. Aber noch eigenartiger ist die Thierwelt. Der
Mangel an großen Vierfüßlern wird durch die insulare Lage
zumTheil erklärt; auffallend ist nur, daß die wenigen Arten
27
210
Neue Mittheilungen über die Thierwelt Neuseelands.
auch in einer sehr geringen Anzahl von Individuen anftre-
ten, so daß bisher die Naturforscher noch nicht einmal alle
jene Thiere einsammeln konnten, welche die Maoris in ihrer
Sprache mit besonderen Namen bezeichnen. Erst 1861 hat
der Frankfurter Haast ein Thier aus dem Ottergeschlecht aus
der Südinsel nachgewiesen, welches die Eingeborenen Wai-
toreke nennen. Von einheimischen Säugethiereu besitzt außer-
dem Neuseeland noch zwei Fledermausarten, ferner die ein-
heimische Ratte oder Kiore, welche von der aus Europa
eingeführten Wanderratte allmälig vernichtet wird, und einen
Hund, den Kararehe, von dem es überdies zweifelhaft, ob er
ursprünglich eingeboren ist. Robben und Delphine, als
schwimmende Sängethiere, kommen.bei der Besprechung der
heimischen Fauna nicht in Betracht. Sie finden sich in ge-
nügender Anzahl an den Küsten.
Anders ist es mit den Vögeln Neuseelands bestellt, die
nicht nur verhältnißmäßig artenreich vertreten sind, sondern
auch höchst merkwürdige, in ihrer Erscheinung einzige Typen
hier aufweisen. Es kann nicht unser Zweck sein, das nahezu
erschöpfte Capitel von den ausgerotteten Moaarten hier wie-
der zu besprechen; schon Hochstetter hat dasselbe ziemlich ab-
geschlossen. Aber die übrige Vogelwelt Neuseelands bietet
noch Interessantes genug.
Nach einer Zusammenstellung von Dr. Otto Finsch in
Bremen (Journal für Ornithologie 1870, S. 241) giebt
es auf Neuseeland 155 Arten Vögel, davon sind über ein
Drittel der Insel eigentümlich. Aber was die Ornithologie
Neuseelands noch besonders anziehend macht, ist, daß der
größere Theil dieser 50 Arten zu 17 oder 18 anderweitig
völlig Unbekannten Geschlechtern gehört. Solche eigen-
thümliche Geschlechter sind z. B. Heteralocha, Strigops,
Apteryx, Anarhynchus.
Durchaus eigentümlich in seiner Art ist der Hnia-
Vogel (Heteralocha Gouldi). Es giebt kein anderesVo-
gelgeschlecht, bei welchem der Unterschied in der Bildung des
Schnabels beider Geschlechter so groß ist, wie bei diesem,
Der Huia-Vogel Neuseelands. Männchen mit dem kurzen, Weibchen mit dem langen Schnabel.)
Nach den im Londoner zoologischen Garten befindlichen Exemplaren gezeichnet.
wenn anch bei einigen Kolibrigeschlechtern, wie Grypus und
Androdon, etwas Aehnliches eintritt. Beim Huia-Vogel
ist das Männchen nämlich mit einem kurzen, das
Weibchen dagegen mit einem über doppelt so lan-
gen, gekrümmten Schnabel versehen. Ein genügen-
der Grund für diese eigenthümliche Abweichung von dem
gewöhnlichen Gesetze, nach dem die Schnäbel beider Geschlech-
ter gleichgestaltet sind, hat noch nicht aufgefuuden werden
können, und die bisher angenommene Erklärungsweise, daß
das Männchen mit dem kurzen, stärkern Schnabel die Baum-
rinde entferne, unter welcher Larven und Jnfecten verborgen
sind, während das Weibchen letztere mit dem langen Schna-
bel dann herausziehe, scheint doch zu gesucht. Im Londoner
zoologischen Garten beobachtete man wenigstens, wie das
Männchen sich die Larven selbst aus verfaulten Holzstücken
hervorzog und sie verzehrte. Nach dem dort befindlichen
Exemplare ist unsere Abbildung gezeichnet.
Ueberhaupt hat man im Londoner zoologischen Garten,
dem reichsten in seiner Art, gute Gelegenheit gehabt, die
seltenen neuseeländischen Vögel zu beobachten. P.L.Scla-
ter, der bekannte englische Naturforscher, hat vou Zeit zu
Zeit über die dort vorhandenen neuseeländischen Thiere Be-
richte erstattet, denen wir die nachfolgenden Mittheilungen
verdanken.
Längere Zeit hindurch war ein Erdpapagei oder Ka-
kapo, wie die Maori ihn nennen, ans dem Districte Ho-
katika eine der größten Zierden des zoologischen Gartens.
Dieser Strigops habroptilus ist ein nächtliches Thier; er
hat in seiner ganzen Erscheinung etwas eulenartiges, wozn
namentlich das breite Gesicht beiträgt; auch fliegt er kaum,
da er nur kurze rudimentäre Flügel hat und, was damit im
Zusammenhange steht, das Brustbein keiue Kielentwickelung
zeigt. Uebrigens ist er, wie auch die Abbildung nach dem
Londoner Exemplare zeigt, ein echter Papagei in den wichtig-
sten Theilen seiner Strnctur; seine Nahrung ist rein vegeta-
bilischer Art. Die Farbe des Kakapo ist glänzend grün,
Neue Mittheilungen über die Thierwelt Neuseelands.
211
mit Schwarz gesprenkelt, wodurch er der Moosdecke der neu-
seeländischen Wälder, in denen er lebt, außerordentlich ähn-
lich wird. Das schützt ihn denn vor Verfolgungen, und
in der That wird dieser Vogel nur äußerst selten ansge-
snnden.
Ueber den Kiwi oder Apteryx, den „Schnepfenstrauß"
Neuseelands, ist schon viel geschrieben worden, und wir wür-
den hier nicht auf ihn zurückkommen, hätten wir nicht, nach
Sclater, einiges Neue mitzntheilen. Im December 1857
kam der erste lebende Kiwi nach London; es ist dies ein noch
lebendes Weibchen, welches mehrere Jahre hinter einander
außergewöhnlich große Eier legte. Das erste Ei wurde im
Juni 1859 gelegt, und seitdem prodncirte dieser Kiwi regel-
niäßig im Frühjahr zwei Eier, eins einen Monat später als
das andere. Das zuerst gelegte Ei des Apteryx wog 141/2
Unzen, also beinahe ein Pfund; es war glatt, schmutzig weiß
von Farbe uud hatte bei 4% Zoll (engl.) Länge 29/io
Zoll Breite. Da nun das Gewicht des ganzen Vogels nur
60 Unzen beträgt, so geht hieraus hervor, daß das Ei fast
ein Viertel so viel wie der Kiwi selbst wiegt, ein
Beispiel, welches im ganzen Thierreich ohne Pa-
rallele ist. In den Jahren 1864 und 1865 erwarb man
zn diesem Weibchen zwei Männchen. Das Weibchen fuhr,
nachdem die Männchen zu ihm gebracht waren, mit Eier-
legen fort, und man glaubte schou, eine junge Kiwigeneration
in London züchten zu können, um so mehr, als das Männ-
chen, wie dies ja bei Straußenvögeln üblich ist, zu brüten
begann. Dieses Geschäft besorgte es, indem es sich rittlings
über das große Ei hinwegsetzte, so daß dessen Länge mit der
Achse seines Körpers parallel lief. Aber kein einziges Inn-
ges hat bisher in London das Licht erblickt; die Eier erschie-
nen nämlich sämmtlich, wenn man sie später untersuchte,
nicht befruchtet. Das einzige übrig gebliebene Männchen
hatte sechs Wochen lang mit rühmlichem Eifer das Brüt-
geschäft besorgt und starb schließlich vor Erschöpfung, so daß
gegenwärtig das alte Weibchen, welches 1857 nach London
gebracht wurde, der einzige lebende Repräsentant seiner Art
in Europa ist. Es gehört zu der Spedes Apteryx Man-
telli. Im Jahre 1869 kam dazu noch ein Apteryx Oweni,
welcher vom vorigen leicht durch geringere Größe, gefleckte
Der neuseeländische Kakapo oder Erdpapngei.
Nach dem int zoglvgischen Garten zu London befindlichen Exemplare gezeichnet.
Federn und ein weicheres, flaumigeres Gefieder unterschieden
werden kann, sonst aber mit dem vorigen übereinstimmt.
Neben diesen neuseeländischen Vögeln zeichnet sich ein
eigenthümlicher Strandläufer oder Watvogel, Anarhynchus
frontalis, aus. Das Ende seines Schnabels ist näm-
lich stets nach rechts gekrümmt. Diese Verkrümmung
findet nicht etwa erst im spätern Alter beim ausgewachsenen
Vogel statt, sondern ist bereits bei dem eben ausgekrochenen
Thiere und selbst schon im Ei beim Embryo zn beobachten.
Beispiele von dieser Unsymmetrie sind bei höher organisirten
Thieren außerordentlich selten.
Was die Reptilien Neuseelands angeht, so fehlen Schild-
kröten, Krokodile und Schlangen gänzlich. Die am Wan-
ganni aufgefundenen Landschildkröten sind unzweifelhaft von
irgend einem Seefahrer an jenem Platze ausgesetzt worden.
Den Eingeborenen waren die Thiere völlig fremd. Her-
vorragend unter den Reptilien ist die riesenhafte Tnatera-
Eidechse (Sphenodon punctatum), die durch besondere
zoologische Merkmale von allen anderen Eidechsen sich we-
sentlich unterscheidet, und die der Zoolog Dr. Günther des-
halb auch zum Repräsentanten einer besondern Ordnung
erhoben hat. Außer dieser riesigen Eidechse sind noch ein
halbes Dutzend kleinere, welche zu den Familien der Scin-
cidae und Greccotidae gehören, auf Neuseeland heimisch.
Einige zeigen australischen Charakter, die meisten aber sind
Neuseeland eigenthümlich.
Es giebt auf Neuseeland nur einen einzigen Frosch
(Leiopelrna Hochstetten), und dieser vertritt gleichzeitig
die ganze Classe der Batrachier. Noch auf den Fidschi-Jn-
seln leben mehrere Frösche, weiter nach Osten in Polynesien
sind sie aber gänzlich unbekannt.
Ist auch das umgebende Meer Neuseelands reich an
Fischen, so sind diese doch in den Süßwasserseen nnd den
Flüssen um so seltener. Zwei Formen verdienen indessen
eine besondere Erwähnung, da sie auf einen Landzusammen-
hang, weuu auch in sehr früher Zeit, zwischen Südamerika
und Australien vermittelst Neuseeland hindeuten. Diese sind
Protrotoctes, ein Geschlecht, das zu einer Gruppe gehört,
welches die Salmoniden unserer nördlichen Halbtnsel reprä-
sentirt, und Galaxias, zu einer den Hechten verwandten Fa-
27*
6) Bis in unsere Zeit hinein war die neuseeländische
Fauna noch durch die jetzt ausgerotteten riesenhaften Moas
(Dinornithidae) ausgezeichnet, welche gleichsam den Kasuar
und Emu Nenhollands und Neuguineas auf Neuseeland ver-
treten.
An der Thier- und Pflanzenwelt Neuseelands erfüllt sich
ein eigeues Verhängniß. Der Kampf ums Dasein ist dort
lebhaft entbrannt, und die Ruhe, welche Thiere, Menschen
und Pflanzen dort genossen, sie ist gestört, seit der europäische
Mensch mit dem, was ihm aus dem Thier- und Pflanzen-
reiche anhängt, seinen Fuß aus den bis dahin jungfräulichen,
gleichsam vorweltlichen Boden setzte. Unerbittlich geht der
Vertilgungskampf feinen Weg; vor der jugendlichen Aus-
breitungskraft europäischer Gewächse verschwinden die heimi-
schen Pflanzen. Wie in dem Reiche der Pflanzen wird auch
im Gebiete der Thierwelt der Racenkrieg geführt; eine Art
nach der andern schwindet und macht neuen Platz; schon die
Maoris, von denen wir wissen, daß sie in vergleichsweise
neuer Zeit erst in Neuseeland auftraten, haben der Fauna
ihres Landes ein verändertes Gepräge gegeben. Vieles rot-
teten sie aus, Anderes wurde erst durch sie eingeführt; der
Typus der neuseeländischen Pflanzenwelt blieb dagegen in
seinen Grundzügen ungeschmälert und unvermischt erhalten.
„Die großen und jähen Wechsel," sagt Peschel, „erfolgten erst
mit dem Erscheinen einer besondern Spielart des Menschen-
geschlechtes, des Homo europaeus, wenn man so sagen darf.
Wie seine Cnltur- und Schmarotzerpflanzen die einheimifchen
Gewächse verdrängen, wie feinen Zucht- und Schmarotzer-
thieren die einheimifche Thierwelt weicht, so sterben auch die
Spielarten des Menschengeschlechts aus, welche abgelegene
Inseln oder Weltinseln lange Zeit friedlich oder nur be-
droht von ihresgleichen bewohnten."
die Thierwelt Neuseelands.
mische Ratte vertrieben hat, so vertreibt die europäische Fliege
unsere eigene. Der eingewanderte Klee tcibtet unser Farn-
kraut und so werden die Maori verschwinden vor dem wei-
ßen Manne selbst.")
2) Neuseeland zählt eine lange Reihe von Vogelarten,
die an keinem zweiten Orte wieder vorkommen. Dahin sind
Arten der Gattungen Heteralocha, Nestor, Strigops,
Apteryx und Anarhynchus zu rechnen.
3) Charakteristisch ist ferner die Abwesenheit der Rep-
tilien, ausgenommen zwei Geschlechter von Eidechsen und
des Sphenodon punctatum.
4) Batrachier fehlen; ausgenommen eine einzige Frosch-
art, die Neuseeland eigenthümlich ist.
5) Süßwasserfische sind selten. Man kennt nur wenige
Geschlechter, die theils australischen, theils antarktischen ame-
rikanischen Formen verwandt sind.
212 Neue Mittheilungen über
milie gehörig, die sowohl in den Flüssen Australiens als in
denen des antarktischen Amerikas verbreitet ist. Sehr nahe mit
Galaxias verwandt ist eine kürzlich von Dr. Günther unter dem
Namen Neochanna apoda beschriebene Form, der die Bauch-
slossen fehlen und die im Schlamme lebt. Der Fifch kommt
nur auf Neuseeland vor.
Die Eigentümlichkeiten der neuseeländischen Fauna, so
weit sie die Laudwirbelthiere angeht, charakterisirt Selater
schließlich folgendermaßen:
1) Es fehlen auf Neuseeland alle Landsäugethiere, aus-
genommen zwei Arten Fledermäuse. (Selater erwähnt Haast's
Waitoreke gar nicht und hält Ratte und Hnnd für einge-
wandert. Was die Ratte betrifft, fo möchte Selater sich
doch im Unrecht befinden. Die Maori betrachten sie be-
kanntlich recht eigentlich als ihre Ratte und sagen, nach
Hochstetter: „Wie des weißen ZMauues Ratte die einhei-
Gisli Brynjulsson: Hatten die alten Nordländer Kunde von einem offenen Polarmeer? 213
Hatten die alten Nordländer Kunde von einem offenen Polarmeer?
Von Gisli Brynjulfson.
III.
Wir haben dem vorstehend mitgetheilten merkwürdigen
Berichte nur einige wenige Bemerkungen hinzuzufügen. Bei
der Mittheilung des Textes selbst ist hervorgehoben worden,
daß die fragliche Reise muß im Jahre 1267 unternommen
worden sein, nachdem die Berichte über die günstigen Eis-
und Witterungsverhältnisse im hohen Norden im Vorjahre
in ganz Südgrönland bekannt geworden waren; denn es ist
nicht wahrscheinlich, daß mau in einem Sommer zwei
Reisen von dort aus so weit nach Norden hinauf unternom-
men haben sollte. Daß aber die Expedition hauptsächlich
unternommen wurde, um bisher unbekannte Gegenden kennen
zu lernen und Kenntniß von deren Bewohnern zu erlangen,
ist klar, und die mitgetheilten Beobachtungen über Sonnen-
höhe und dergleichen beweisen zur Genüge, mit welcher Ge-
wissenhaftigkeit und Wahrheitsliebe die Führer zu Werke
gegangen sind. Um jedoch die Lage von Krogsfjordshaide
genau zu bestimmen, sind ihre Beobachtungen, welche sich
nur auf das Augenmaß gründeten, nicht hinlänglich, und man
muß sich daher in dieser Hinsicht'vornehmlich an dieBeschrei-
buugen der Oertlichkeiten halten. Allein auch diese sind von
solcher Beschaffenheit, daß es unmöglich ist, sie für irgend
eine andere bis jetzt bekannte Stelle passend zu finden, als
für die Gegend am Smithssunde, denn gerade dort paßt
Alles auf erstaunenswerthe Weise. Denn die große „Land-
nase" oder Halbinsel, welche zwischen dem 78. und 79.
Grade gegen West hinausläuft und die östliche Seite an dem
schmalen Eingange des Sundes bildet, muß Krogsfjordshaide
sein, und von hier segelten also die alten Grönländer gegen
Norden den Sund hinauf, welcher damals während des Som-
lners eisfrei gewesen sein muß, bis sie das Land im Süden
aus dem Gesicht verloren. Sie müssen also etwa 30 bis
40 Meilen gesegelt sein, bis sie aus dem Keuuedycaual
hinaus in das offene Meer kamen, welches die Ame-
rikaner gesehen haben wollen*).
Als die segelnden Grönländer auf dem Meere umkehren
wollten, kam Südwind mit dicker, nebeliger Luft ihnen ent-
gegen und nöthigte sie, auf dem unbekannten Meere ihre
Fahrt fortzusetzen, wahrscheinlich nicht gerade gegen Nord,
sondern eher gegen Nordost, und hier entdeckten sie, als sich
der Himmel wieder klärte, viele Inseln, welche mit allerlei
Jagdthieren gefüllt waren; doch konnten sie diese Eilande
nicht betreten wegen der vielen Eisbären auf denselben.
Diese Angabe ist außerordentlich schlagend, wenn man
bedenkt, daß sowohl C. Petersen, welcher den Dr. Kane als
Dolmetsch begleitete, sowie auch Dr. Hayes berichtet, daß
die Eskimos erzählten, nördlich außerhalb des Sundes sei
offenes Wasser, in welchem eine große Insel läge,
welche sie Omimasuk, d. h. Moschusochseninsel, nannten,
nnd oberhalb welcher Alles mit Walrossen erfüllt fei.
Bei dieser Insel oder diesen Inseln, von welchen
die europäischen Reisenden bis jetzt nur haben er-
zählen hören, müssen also die alten Grönländer
gewesen sein. Wenn man nun mit Sicherheit die Rich-
*) Morton sah eine weite Strecke offenen Wassers, welche er
dann dreistweg für „das offene Polarmeer" ausgab. Der Beweis
für diese Uankeebehauptung fehlt, es läßt sich also weiter nichts ans
sie begründen. A.
tnng kennte, welche sie eingeschlagen haben, oder die Schnel-
ligkeit des Segelns, so würde sich deren Lage annäherungs-
weise bestimmen lassen. Es heißt nämlich in dem mitge-
theilten Berichte, daß sie während dreier Tage zurück-
segelten, bis sie südlich von Snäfell zu einigen Inseln
kamen. Aber das kann wohl nicht füglich etwas Anderes
gewesen sein, als der große Eisberg (Jökul) zwischen dem
79. und 80. Grade, welchen Kane Humboldtgletscher
genannt hat, denn gerade südlich vor demselben liegen mehrere
Inseln, welchen Kane Namen gab. Die alten Nordländer
können also leicht berechnet haben, daß sie dreitägiges Segeln
nach Nord oder Nordost bedurften, um zu denselben zu ge-
langen. Wenn der Leser nun einen Blick auf die Karte
vom Smithssunde wirft, so wird ihm ohne Weiteres klar
werden, daß auch darin die alten Berichte mit der Wirklich-
keit übereinstimmen, denn von diesen Inseln konnte man mit
gutem Rechte sagen, sie lägen eine lange „Dagsrouing" voll
Krogsfjordshaide gegen Südwest, wenn diese (wie wir an-
nehmen) der äußere Theil von der großen Halbinsel sind,
auf welcher nun Rensfelaer Hafen und Port Foulte liegen.
Schließlich darf vielleicht noch bemerkt werden, daß die
Benennung Kroksfjardarheidi eine andere, nämlich
Kroksfjördr voraussetzt; aber wie die Karte zeigt, paßt die-
ser Name gerade ausgezeichnet gut auf den buchtenreichen
und winkeligen Smithsfund nördlich vom Hvalsund, und wir
dürfen daher auch wohl annehmen, daß Kroksfjördr bei den
alten Grönländern der wirkliche Name gewesen sei, während
sie die öde Küstenstrecke ganz richtig als Haide bezeichnet
haben.
Als eine weitere Uebereinstimmnng zwischen den alten
isländischen und den neueren Berichten kann auch noch an-
geführt werden, daß die Nordländer auf ihrem Zuge gegen
Norden dicker, nebeliger Luft begegneten; denn Dr. Kane
bezeichnet gerade dieses als eiueu der Gründe für seine An-
nähme, daß es nördlich vom Kennedycanale ein offenes Meer
gebe.
Und wenn dann noch weiter angeführt worden ist als
Beweis dafür, daß sich die Eskimos viel weiter gegen Nor-
den, als Kane gekommen ist, aufgehalten haben, weil sein
Begleiter Morton in der Morrisbucht zwischen dem 80. und
81. Grade ein Stück von einem alten Schlitten fand, so geht
der isländische Bericht in derselben Richtung nur noch weiter,
indem nach Inhalt desselben die Nordländer Spuren gefun-
den haben, welche ihnen zeigten, daß die Eskimos noch viel
höher gegen Norden an der Küste des offenen Meeres selbst
oder auf den vor derselben liegenden Inseln gewohnt haben.
Folgt man dieser Spur, so liegt es nahe, anzunehmen, daß
sich das Land nördlich vom Kennedycanale wirklich gegen
Osten umbiegt*), sowie daß von einander getrennte Eskimo-
*) Wenn es in dem alten Berichte heißt, „daß sie gerade ein in
die Meerbucht segelten", so deutet dies zunächst darauf, daß sie müs-
sen Land gesehen haben entweder nördlich oder westlich. Das Wahr-
scheinlichste bleibt da wohl, an Grinnelsland zu denken, welches sich
gegen den Pol verlängert, während es im Süden von einem meist
offenen Meere bespült wird. Oder soll man sich eine noch weitere
Verlängerung denken, welche sich bis zu Asiens nördlichstem Vorgebirge
Sjewero wostotschnoi erstreckt?
214 Gisli Brynjulfson: Hatten die alten
stamme an der offenen Küste wohl ihren Lebensunterhalt
finden konnten. Vielleicht standen auch von hieraus die Es-
kimos in Verbindung mit den nördlichsten bekannten Nieder-
lafsnngen auf Grönlands Ostküste, wo Scoresby auch Spu-
reu von Wohnstätten gefunden haben wollte; ja wo die letzte
deutsche Expedition mit der „Germania" Moschusochsen ge-
sehen hat, während man sonst nur wußte, daß sich die Mo-
schnsochsen aus der Westseite der Baffinsbai aufhalten.
Auf diese Weise dürfte es als ausgemacht angesehen
werden, daß Grönland wirklich gegen Norden umflossen ist
und wäre es auch nur durch einen schmalen Sund, von
einem möglicherweise näher und weiter gegen Osten gelegenen
Lande getrennt. Die Moschusochseu dürften wohl über den
Smithssund und dann längs einer Seeküste gegen Osten
gewandert sein, während die alten Grönländer vielleicht Recht
bekämen, daß ihre unwirklichen Norddistricte nicht oder doch
nicht immer unbewohnt gewesen seien.
Wenn gegen die Glaubwürdigkeit des ganzen Berichts
eingewendet würde, daß der Smithssund bisher noch nie eis-
frei getroffen worden sei, so kann doch dagegen bemerkt wer-
den, daß Capitän Osborn anführt, im Sommer 1867 habe
ein Walsischsänger Wells, nachdem er mit dem Schrauben-
dampfer „Arctic" glücklich durch den Smithsfund geschlüpft
sei, mehrere Tage hinter einander auf einem offenen Meere
gekreuzt. Außerdem können sich ja anch seit dem dreizehnten
Jahrhundert die Eisverhältnisse um Grönland sehr verändert
haben; oder, was wohl eben so möglich sein dürste, die Ver-
Hältnisse können noch dieselben sein; aber man kann nur eine
gegründete Aussicht, endlich eini günstige Gelegenheit zu
treffen, gewinnen, wenn man, wie die alten Grönländer ge-
than, Jahr nach Jahr dieselben Gegenden, selbst wenn es
nur mit geringen Mitteln und unvollkommener Ausrüstung
geschähe, besucht und untersucht. Diese Rolle dürfte Haupt-
sächlich dem Volke selbst zufallen; wenn daher erst einmal
die dänischen Colonien in Grönland dem Handel und der
Einwanderung freigegeben werden, so wird sich bald wie-
der in diesem Lande ein fester Stock von tüchtigen Nord-
fahrern bilden, welche besser als die meisten Anderen im
Stande sein werden, zur Lösung der Nordpolfrage das Ihre
beizutragen.
Nur eine mißverstandene Menschenliebe, natürlich wie
immer, mit altem Schlendrian und Eiuzeliuteresse verbun-
den, kann noch behaupten, daß man eine gute That voll-
bringt, wenn man Grönland stets nur als eine Versorguugs-
anstatt für hinsiechende Eskimos, welche man da schützen und
hegen will, betrachtet, während tüchtigere Racen davon aus-
geschlossen sind, auch diesen Fleck der Erde wieder so nützlich
zu machen, mindestens für ihren eigenen Gebrauch, wie es
doch schon einmal in der Vorzeit geschehen ist.
Es liegt nicht in der Absicht des Verfassers, diese Sache
hier weiter zu verfolgen. Alles, was vorstehend angeführt
worden, kann gewissermaßen als der alten Grönländer Te-
stament für die übrige Welt betrachtet werden, bevor auch
sie einer eingeschränkten und unwissenden Handelspolitik in
der hanseatischen Periode zum Opfer fielen. Es klingt wie
eine Grabesstimme aus großer und guter Zeit, als die Nord-
läuder noch die Meere beherrschten, uud kann vielleicht auch
etwas dazu beitragen, die Aufmerksamkeit wieder aus den
Smithssund hinzulenken, als denjenigen Weg, auf welchem
am ehesten Hoffnung sein dürfte, weiter gen Norden hinauf
zu gelangen, als es bisher einem Schiffe geglückt ist. Denn
das ist jetzt gewiß, daß die alten nordischen Grönländer vor
ungefähr 600 Jahren sehr wohl mit jenen Wegen nach Norden
bekannt gewesen sind. — Der alte isländische Bericht hierüber
ordländer Kunde von einem offenen Polarmeer?
ist endlich nach vieljährigem Vergessen wieder hervorgezogen
worden, und das Uebrige kann wohl den Geographen und
Nordpolfahrern ex professo, wie z. B. Petermann, Osborn,
Hayes uud Anderen, überlassen werden.
Nachschrift. Je mehr ich über die Sache nachgedacht,
desto deutlicher ist es mir geworden, daß die Beantwortung
vieler wichtiger Fragen, besonders was die Eisverhält-
nisse in den nördlichen Meeren betrifft, mit größter Hoff-
nnng auf einen glücklichen Ausfall auf Grönlands noch un-
bekannter Nordküste gesucht werden muß, aber, wie es im
Vorhergehenden wahrscheinlich gemacht ist, daß man dieselbe
zu Schisse zu erreichen suchen muß, was unter Benutzung
günstiger Gelegenheit wohl möglich sein dürste.
Im Jahre 1817, so berichtet Graah, als das Meereis
zwischen Grönland und Spitzbergen wie auf einen Ruck auf
einer Strecke von mehreren tausend Quadratmeilen ver-
schwnnden war, während es sonst jedes weitere Vordringen
gegen den Nordpol verhindert uud oft gauz südlich bis gegen
Jslaud hin liegt, in diesem Jahre war es auch merkwürdig,
daß die Davisstraße und Bassinsbai gleichzeitig viel mehr
als gewöhnlich mit Eise gefüllt waren, so daß das Fahr-
Wasser sogar eine Zeitlang gänzlich für die Schifffahrt ge-
sperrt erschien. Hieraus schließe ich, daß eine Was-
serverbinduug zwischen den nördlichen Gegenden
im Osten und Westen Grönlands stattfinden müsse,
so daß die Strömung bisweilen die Eismassen von der Strecke
im Norden hin um nach Spitzbergen treiben kann, anstatt,
wie gewöhnlich, südlich um das Land bei Cap Farewell vor-
bei. Dasselbe scheint mir auch aus dem Umstände hervor-
zugehen, daß der gefleckte Seehund — wie bekannt diejenige
Speeies, welche im Frühjahr ihre Jungen in großen Massen
auf das Eis zwischen Grönland uud Spitzbergen legt und
deshalb alljährlich von den Robbenfängern eifrig aufgesucht
wird — auf der Westküste am weitesten gegen Nord wie
gegen Süd gefunden wird, während er dagegen auf der
ganzen zwischenliegenden Strecke seltener ist. Dieses deutet
an, daß seine jährliche Wanderung von der Frühjahrswohn-
stätte just auf dieselbe Weise vorgeht, wie die des Eises selbst,
das will sagen, sowohl südlich wie nördlich um Grönland,
welches mithin auf dieser, d. h. Nordseite vom Meere um-
flössen sein muß.
Ueber dieses Alles und vieles Andere würde man viel-
leicht in Klarheit gelangen, wenn es glückte, durch den Smiths-
sund bis zum östlichen Theile von Grönlands Nordküste vor-
zudriugen, selbst wenn es nur mit einer wenig kostenden
Bootexpedition geschähe, wie die in den Jahren 1828 bis
1831 von W. A. Graah mit so ausgezeichneter Tüchtigkeit
um des südlichen Grönlands Ostküste geführte. Der natür-
lichste Ausgangspunkt für eiue solche Expedition würde da
immer Upernavik in Nordgrönland sein, und mir scheint es,
daß es keinem Volke näher gelegt sei, eine solche in einer
Zeit, wo so viele Andere wetteifern, Entdeckungen im nörd-
lichen Eismeere zu machen, zu unternehmen, als gerade dem,
welches einzig und allein im Besitze dieses vorzüglichsten Aus-
gangspunktes für alle folche Unternehmen ist. Anch kann
ich durchaus nicht glauben, daß der Theil des jährlichen
Ueberfchusses vom königlich grönländischen Monopolhandel
sich ans irgend eine Weise besser anwenden ließe, als gerade
hierfür. Und jetzt, wo die dänische Fischereigesellschaft mit
ihrer Auflösung beschäftigt ist, dürfte es wahrlich an Leu-
teu nicht fehlen, welche Lust hätten, eine solche Expedition
zu unternehmen, zumal viele schon in den vorhergehenden
Jahren au die Beschäftigung im Eismeere gewöhnt worden
sind.
Uschmusik bei Greytown.
215
Fifchmusik bei Greytown.
r. d. Greytown oder San Juan del Norte, ein herunter-
gekommener kleiner Ort an der Mündung des San-Juan-
Flusses in das Caraibische Meer, wird regelmäßig von
den englischen Postdampfern besucht. Der Hafen selbst aber
ist so versandet, daß die Schiffe zwei englische Meilen von
der Stadt vor Anker gehen und dort ausladen müssen. So
oft dort auch Capitän Charles Dennehy vom eisernen Post-
dampser „Shannon" vor Anker ging, hörte er ein eigen-
thümliches Geräusch, das ihm viel Kopfzerbrechen machte.
Im verflossenen Sommer berichtete er darüber an die eng-
lische Wochenschrift „Natnre" etwa Folgendes:
Mit einer wunderbaren Pünktlichkeit begann jedesmal
um Mitternacht ein sonderbares metallisches, vibrirendes
Geräusch, und zwar so stark, daß der größere Theil der
Schiffsmannschaft, er mochte noch so müde sein, dadurch er-
weckt wurde. Dieser Laut hielt volle zwei Stunden mit
geringer Unterbrechung an. Er wurde zuerst vor einigen
Jahren auf den eisernen Schiffen „Wye", „Tyne", „Eider"
und „Dannbe" be-
merkt; niemals aber
vernahm man ihn
an Bord der gekn-
pferten Holzdam-
pfer „Trent", „Tha-
mes", „Tamar" und
„Solent". Erzählte
man den Offizieren
der letzteren von der
wunderbarenWafser-
nlnsik, so erklärten
sie dieses einfach für
einen Scherz. Auf
den eisernen Schiffen
dagegen, welche fünf
bis fechs Tage vor
Greytown liegenblie-
ben, hatte man Ge-
legenheit, sich näher
mit dem Geräusch
bekannt zu machen. Die Negermatrosen waren, als sie es
zum ersten Male hörten, nicht wenig erschreckt, und dachten
gleich an Geister; die englischen Matrosen dagegen erklärten
den Trompetenfisch für die Ursache des Tönens. Aber,
schreibt Capitän Dennehy, wie sollte dieses Geräusch von
einem Fische stammen, da es nur an einem bestimmten Orte
und zu bestimmten Stunden der Nacht gehört wird? An
Bord ist Alles so still zwischen 2 und 4 Uhr, wie zwischen
12 und 2 Uhr; aber der Ton wird nur von 12 bis 2, nicht
aber von 2 bis 4 Uhr gehört. Das Schiff felbst ist nn-
zweifelhaft ein Hauptinstrument bei dieser Production; es ist
in der That in ein großes Clavier verwandelt.
Leicht ist es nicht, den Ton selbst zu beschreiben, denn
Jeder, der ihn gehört hat, giebt eine andere Beschreibung
von demselben. Er ist musikalisch, metallisch, mit einer ge-
wissen Cadenz, und wird am besten über den Kohlenlöchern,
dem Maschinenraum und rings um die Außenseite des Dam-
pfers gehört. Fixirt kann das Geräusch au einem bestimm-
ten Punkte nicht werden, denn stets scheint es sich von dem
Beobachter zu entfernen. Der eine sagt, der Ton gleiche
Flötenmaul.
dem Blasen auf einer großen Schnecke, ein zweiter vergleicht
ihn der Aeolsharfe, der dritte dem Nachklingen einer großen
Glocke, dem Sausen des Windes durch Telegraphendrähte :c.
Ruhiges Wasser und heiteres Wetter befördern seine Ent-
Wickelung. Das Plätschern des Wassers an den Planken
des Fahrzeuges, die ferne Brandung am Ufer können mit
dem Tone nicht verwechselt werden. Was hat dieses wun-
derbare Geräusch, fragt schließlich Capitän Dennehy, nun
für einen Grund? Warum wird es nur bei Greytown ge-
hört; warum nicht in den Häfen von Aspinwall, Porto Bello
oder Cartagena, wo doch die Verhältnisse ganz ähnliche sind?
Wie es bei solchen Anfragen in England stets zu gehen
pflegt, erhielt Capitän Dennehy verschiedene Antworten.
Wir berücksichtigen hier nur jene von C. Kingsley, welche
am besten der Sache auf den Grund geht, und erinnern dar-
an, daß der „Globus" (VIII, S. 21) einen Bericht über
die Wassermusik bei Borueo nach niederländischen Quel-
len brachte. Kingsley gesteht zu, daß es auffallend sei, daß
das Geräusch nur zu bestimmten Stunden und auf eisernen
Schiffen gehört wer-
de; über die Ursache
desselben könnte je-
doch keinerlei Zweifel
bestehen. Er selbst
hörte den Lärm auf
der Jnfel Monos in
den nördlichen Bo-
cas von Trinidad,
und zwar sowohl um
Mitternacht als ge-
gen Morgen. In
beiden Fällen war die
See ruhig, und weder
Wind uoch Bran-
dnng konnte ihn her-
vorgebracht haben;
er vergleicht ihn mit
den Dampfstößen der
Locomotive, die man
aus der Ferne hört.
Die Eingeborenen erzählten ihm, daß dieser Lärm von
einem Fische stamme. Der Fisch wurde Kingsley gebracht,
und es stellte sich heraus, daß es die in den westindischen
Gewässern häusige Fistularia tabacaria sei, die man
deutsch als Flötenmaul bezeichnet. Das Geräusch wird in
den Bocas, ebenso bei Point a Pitre (Guadeloupe) häufig
gehört. Ein Engländer, Joseph, der eine Schrift über Tri-
nidad veröffentlicht hat, lag dort mit einem hölzernen Schoo-
ner vor Anker. Er berichtet: Gerade unter dem Schiffe
hörte ich einen tiefen und angenehmen Ton, gleich jenem
von taufend Aeolsharfen; er hörte aus und wurde von ver-
fchiedenen einzelnen Tönen abgelöst, die wie chinesische Gong-
schlüge unter Wasser klangen. Er stammt von drei Arten
Trompetensischen, „welche ihre Trompete an den Boden
des Schisfes oder einen Felsen befestigen." Nach der Be-
schreibnng, die Jofeph von diesen Fischen giebt —- er erwähnt
den peitschenförmigen Schwanz —, kann nur die Fistularia
gemeint fein. Der eigentliche Trompetenfisch (Centriscus
scolopax) kommt in Westindien nicht vor. Zu den musika-
tischen Fischen zählen auch verschiedene Pogonias- und Labrus-
216
D. K. Schedo-Ferroti: Aus der Literatur des Nihilismus.
Arten. (— Ich erinnere mich, gelesen zu haben, daß die
Fischmusik auch an der Küste von Ecuador, also an der
Westseite Südamerikas, namentlich bei Manta, mehrfach
beobachtet worden ist. Die Anwohner des Gestades und die
Fischer überhaupt seien an dieselbe dermaßen gewöhnt, daß
sie nichts Auffallendes an derselben finden. A. —)
Alls der Literatur des Nihilismus.
Kritische Beleuchtung des Tschernhschessky'scheu Romans: „Was thun?" (%o AiaaTb?)
Von D. K. Schedo-Ferroti.
IV.
Der geehrte Leser, der mir bis hierher gefolgt, vergönnt
mir wohl die Frage zu wiederholen, mit der ich die Einlei-
tnng geschlossen: ist das, was wir eben zusammen gelesen,
ein gefährliches Buch, d. h. ein solches, das den Leser
zur Aunahme der darin empfohlenen Grundsätze bewegen
und ihn reizen könnte, die darin geschilderte Lebensweise zu
wählen? Mir scheint die Frage mit „Nein" beantwor-
tet werden zu niüssen. Unmoralisch ist das Buch jeden-
falls, langweilig sehr oft, schmutzig bisweilen, unsinnig durch-
geheuds, aber gefährlich nie.
Wenn man die Summe der darin ausgestellten Maximen
zieht, so findet sich, daß sie die Herstellung der sogenannten
„absoluten Freiheit" des Menschen befürworten, die
leicht zu erzielen wäre, indem man fämmtliche Gesetze ab-
schaffte und Jeden thun ließe, was er will, wodurch das
Verbreche» und die Sünde vom Erdball verschwinden wür-
den. Kein Gesetz, — folglich keine Übertretung, kein
Vergehen; kein Gebot, — folglich keine Nichterfüllung, keine
Sünde!
Diese Idee einer absoluten Freiheit, sowie auch die au-
dere, welche Herr Tschernyschessky aufgestellt, ist durchaus
nicht neu, sondern schon vielfach angeregt worden. Was
den Vertheidigern dieser Idee besonders lockend erscheint, ist
der Gedanke an das Recht, das Jeder haben würde, zu
handeln „wie ihm beliebt"; sie vergessen aber, daß nie ein
Recht bedingungslos dastehen kann und immer mit einer
Verpflichtung verbunden ist, der Verpflichtung, die Rechte
Anderer zu respectireu. Die absolute Freiheit würde
diejenige sein, die der Einsiedler in seiner Hütte genießt. —
Sobald auch nur zwei Menschen zusammen wohnen, müssen
die Rechte des einen schon gewisse Grenzen für die freie
Handlungsweise des andern ziehen; diese Grenzen werden
aber nothwendiger Weise um so enger, als die Zahl der zu
wahrenden Rechte und Interessen zunimmt, d. h. als die
zum gesellschaftlichen Verbände gehörige Menge anwächst.
Wo und in welchen Verhältnissen Menschen zusammen leben
mögen, es muß nothwendig eine Übereinkunft zwischen ihnen
stattfinden über das, was Jeder thun darf, ohne dem Andern
störend zu werden, und eine solche Übereinkunft (auf welchem
Wege sie anch zu Stande käme) nennt mau das Gesetz;
das Gesetz aber, gerade weil es die Freiheit Aller sichert,
muß der Freiheit und dem willkürlichen Handeln des Ein-
zelnen gewisse Grenzen ziehen. Es ist also diese Lehre
von dem Handeln eines Jeden „wie er will" nichts an-
deres als ein „absoluter Unsinn", und mithin die Basis
des ganzen darauf fußenden Jdeenganges eine schiefe und
unhaltbare.
Das erste, was dem „Reformator" als dem Fortschritt
hinderlich erscheint und abgeschafft werden müßte, ist der
Familienverband.
Diese Idee ist auch nicht neu; nur sucht Herr Tscher-
uyschessky sie dadurch zu rechtfertigen, daß er die Eltern,
und besonders die Mütter, in seiner Erzählung mit den
schwärzesten Farben malt. Wära's Mutter ist eine ge-
meine, eigennützige, habgierige Natur. Die Mutter des
Gardeoffiziers Storsfchuikoff, obwohl gebildeter, steht
jener in niederer Denkuugsweise durchaus nicht nach.
Lopuchoff's Mutter lebt noch, denn er unternimmt eine
Reife zu seinen Eltern, im Plural, erwähnt aber seiner
Mutter mit keinem Worte der Hochachtung oder Anhänglich-
keit. Rachmstosf's Lebensgeschichte ist mit großer Aus-
führlichkeit erzählt, doch seiner Mutter nicht mit einem Worte
erwähnt. Von Katherine's Mutter weiß man nur,
daß sie die Tochter eines Kaufmanns war, und von Kirfa-
noff's Mutter weiß man gar nichts.
Alfo von den Müttern der sechs Hauptpersonen des
„Lebensbildes" sind zwei ganz abscheuliche Wesen, und die
vier anderen sind in dem Grade unbedeutend, daß sie in der
Lebensgeschichte ihrer Kinder gar keine Stelle haben.
Welch dunkles Bild, und welchen tiefen entmutigenden
Einblick gewährt das in das Gemüths- und Seelenleben des
Autors! Was müssen das für Jugenderinnerungen sein,
aus denen nicht ein freundlicher Zug vom Bilde der Mutter
nachgeblieben, wo nicht einmal das wehmüthige Gefühl her-
auftaucht, wie wohlthueud die selbstentbehrte Mutterpflege
auf die jungen Wesen wirken muß, denen sie zu Theil
wird!
In welchem Grade unpoetisch und gesellschaftlich zwecklos
dem Autor die Mutterpflichten erscheinen, erhellt daraus, daß
die beiden idealen Frauen, die er uns vorführt, in all ihrem
Thun und Denken genau beschrieben sind, mit Ausnahme
ihrer Regungen als Mütter.
Wsra hat einen Sohn, von dem nichts weiter gesagt
ist, als daß er „Mitia" heißt, und daß sie ihn auf dem
Schooße hält (S. 368). Katheriue, wie auf Seite 463
mit genau fünf Worten angedeutet ist, „hat denn auch ein
Kind", von dem man aber nicht einmal erfährt, ob es ge-
taust ist uud ob die Mutter es jemals auf den Schooß ge-
nommen hat.
Und das soll ein Lebensbild sein, eine Schilderung der
Zustände, wie sie theilweise schon in Rußland bestehen und
wie sie ad maximam Rutheniae gloriam sich mit der Zeit
noch mehr entwickeln werden! Das soll ein gefährliches
Buch sein, das durch die Wahrheit der aufgestellten Figuren
und das Lockende der beschriebenen Persönlichkeiten den Leser
D. K. Schedo-Ferroti: Aus
hinreißt und ihn anreizt, sich mit dergleichen Persönlichkeiten
umgeben oder gar ihnen gleichen zu wollen! Stellen wir
uns das Buch in ganz jugendlichen Händen vor, in den
Händen eines Gymnasiasten und seiner altern vor Jahres-
srist verheiratheten Schwester, und in 99 Fällen unter 100
werden die jungen Leser den Band entrüstet bei Seite schie-
ben. Wenn sie nicht beide ganz verderbte Naturen sind,
so wird der Knabe ausrufen: so ist denn doch meine gute,
aufopfernde Mutter uie gewesen, während die junge Frau
ihr Erstgeborenes an den Busen drücken und sich sagen wird:
Nein! eine solche Mutter könnte ich niemals werden!!
Wie oben in der Frage über die Nutzlosigkeit sümmt-
licher Gesetze, so hat auch hier der Autor fehlgegriffen, weil
er nicht lebende Menschen, sondern verschobene Phantasie-
bilder hinstellt. Dort nimmt er an, daß die Männer ohne
Leidenschaft, hier, daß die Frauen ohne Mutterliebe sind.
Beides ist im Widerspruch mit der innersten Natur des
Menschen, und doch ist auf diese beiden Hypothesen das
ganze Gebäude seiner „zukünftigen Zustände" erbaut.
Was den Herrn Tschernyschessky besonders befchäf-
tigt zu haben scheint, sind die Unbilden und Leiden, die durch
die Eisersucht in die Welt kommen. Der lange und
eingehende Vortrag seines Haupthelden, des Studenten Nach-
mstoff, beweist, wie wichtig ihm diese Frage erscheint, und
wenn er auf Abschaffung der Ehe und Einführung der freien,
jeden Augenblick löslichen Liebesverhältnisse dringt, so ge-
fchieht dies in der Annahme, daß damit das „verkehrte
und verfälschte" (ncno>KeHHoe h 4>a.iMim6oe, S. 310)
Gefühl, das man die Eifersucht nennt, gänzlich aus „der
höher entwickelten Gesellschaft" verschwinden würde.
Sollte dieser Satz und die daraus entstehende Perspective
einer friedlich liebenden, für immer eiferfuchtsfreieu Meufch-
heit einen jungen Leser, z. B. einen jungen Studenten im
Alter des „barkenziehenden" Rachmstoff, verführen kön-
nen? Ich glaube kaum; denn wenn er auch nur einen
Augenblick darüber nachdenken will, wird er sich sagen müssen,
daß die Eifersucht nicht eine Folge der Ehe, wohl aber die
des befondern Werthes ist, den man auf die Fortdaner der
Gegenliebe legt, von der angenommen wird, daß sie der Be-
weggrund der Ehe war. Wo absolut keine Liebe vorhan-
den, giebt es anch keine Eifersucht; wo aber Liebe, und zwar
einseitige Liebe existirt, da wird es immer das Gefühl des
Schmerzes über versagte Gegenliebe geben, da wird immer,
bald in wilder, bald in verzichtender Form, sich die Eifer-
sucht zeigen.
Was die Ehe und die darauf bezüglichen Civilgefetze zu
Wege gebracht haben, ist nichts weiter, als daß sie gewisse
Fälle bedingen, in denen die Aeußeruugen der Eifersucht
sich auf dem Rechtsboden bewegen können. Dieses Recht,
sich eifersüchtig zu zeigen, würde in Herrn Tscherny-
schessky's Weltordnung wegfallen, durchaus aber nicht die
Eifersucht selbst, die leider ein ebenso unveräußerliches Attri-
but des ganzen Menschengeschlechtes ist, wie ihr Vater der
Egoismus und ihre Mutter die Eitelkeit, und so würden die
Leiden und Unbilden, die die Eifersucht schafft, um Nichts
geringer, wohl aber die Aeußerungen derselben um Vieles
roher und wilder in ihren Formen werden. Statt wie
die jetzt heimlich gewagten weiblichen Rechtsüberschrei-
tun gen hin und wieder einmal zu einem Proceß oder einem
Pistolenduell zu führen, würden alsdann die öffentlichen
Rechts aus Übungen im Felde der weiblichen Wahlfreiheit
die Geschädigten zum naturgemäßen Boxen gegen die Be-
vorzngten treiben, und zwar nicht ausnahmsweise, sondern
täglich, wie wir das unter den Büffeln und Hirschen und
anderen in Herden lebenden Thieren sehen. Daß die
Menschheit dabei Nichts zu gewinnen hat, würde der jnnge
Globus XIX. Nr. 14. (Mai 1871.)
der Literatur des Nihilismus. 217
Leser gewiß selber einsehen, und wohl schwerlich die Zeiten
der „freien Liebe" herbeiwünschen, zumal wenn er sich
recht lebhaft vorstellte, wie ihm zu Muthe sein würde, wenn
verehrte oder ihm nahestehende Personen, seine noch jugendliche
Mutter oder seine Schwestern, von diesem Rechte der nnver-
holenen freien Liebeswahl Gebrauch machen sollten.
Daß Herr Tschernyschessky die seit lange anhängige
„Arbeiterfrage", die Schlichtung des Streites zwischen Capital
und Arbeitskraft, nicht übergehen konnte, ist ganz selbstver-
ständlich. Was er darüber fagt, ist anch wieder durchaus
nicht neu und zeichnet sich von den anderwärtig ansgespro-
chenen Vorschlägen nur dadurch aus, daß sein Project um
etwas ungereimter ist als die früher aufgestellten.
Um das Capital mit der Arbeitskraft zu versöhnen, hat
man vorgeschlagen, beide, d. h. Capital und Arbeitskraft, in
ein und denselben Händen zu vereinigen, also, mit anderen
Worten, durch Association das zu schaffende Unternehmen
aus den Geldmitteln (will sagen Ersparnissen) der Arbeiter
selbst herzustellen, so daß diese zu Collectivbesitzern des Un-
ternehmens werden und folglich nicht mehr gegen die Unter-
drückung vou Seiten des Capitals zu kämpfen haben, son-
dern einmüthig znr Vermehrung desselben als ihres eigenen
Reichthums beitragen können. Vom theoretischen Stand-
pnnkte ist dagegen wenig einzuwenden; in der Praxis sindet
sich aber die gewaltige Schwierigkeit, daß die ärmeren Ar-
beiter nicht die Mittel besitzen, ein größeres Etablissement
zu begründen, und die reicheren nicht darauf eingehen, ihr
fauer erworbenes Geld in einem Collectivnnternehmen zu
riskireu, und es vorziehen, nach wie vor in solchen Fabriken,
Hüttenwerken n. s. w. zu arbeiten, wo das Risico dem Un-
ternehmer des Geschäftes, d. h. dem Capital, anheimfällt.
Diese praktische Seite des Projectes ist von den Vor-
kämpfern in der Arbeiterfrage meistens mit Stillschweigen
übergangen worden, indem sie die Frage: wer soll nnd Haupt-
sächlich wer kann den Verlust tragen, wenn das Collectiv-
unternehmen mißliugt? unbeantwortet gelassen. Herr Tscher-
nyschessky macht sich die Sache viel leichter und löst die
Frage durch eiue unlogische Supposition. Sein Muster-
capitalist, Wsra Pavlovna, übernimmt das Risico im
Falle eines Mißlingens, denn sie richtet die Nähewerkstatt
aus ihren eigenen Mitteln her, miethet ein Local, schafft
Möbeln, Hansgeräth und wohl auch Arbeitsmaterial für
Baar oder auf ihren Credit an, und als Alles fertig ist,
invitirt sie ihre Arbeiterinnen, den Gewinn mit ihr zu
gleichen Quoten zu theilen. Wenn das als ein Zug
wohlthätiger Aufopferung hingestellt wäre, so könnte man
ihn nur der Nachahmung empfehlen; so hat es aber der
Autor durchaus nicht gemeint. In seinen Augen ist die
Gründungsweise jener Nähewerkstatt kein Act der Wohlthätig-
keit; es ist ein mercantiles Geschäft, das als Muster dasteht
für die Art und Weise, wie dergleichen Geschäfte „in nicht
zu ferner Zukunft" gehandhabt sein werden; was ungefähr-
eben so logisch ist als der Vorschlag, ein Assecnranzgeschäst
zu gründen, welches das Risico für Feuerschäden, Hagel-
schlag n. s. w. übernimmt, ohne daß die Assecnrirten irgend
etwas in die Casse der Gesellschaft zu zahlen hätten.
Wie unhaltbar und der innersten Natur des Menschen
widersprechend die Reformvorschläge des Herrn Tscherny-
schefsky mir und wohl auch der Mehrzahl meiner Leser
erscheinen mögen, so ist es doch ganz natürlich, daß sie ihm
selber besonders empfehlnngswerth vorkamen, so daß er sich
gedrungen fühlte, zu einer unschuldigen und nicht ungeschick-
ten Kriegslist zn greifen, um in die Intelligenzen seiner
jungen Leser Bresche zu schießen. Das etwas sterile Feld
der trocknen Principienaufstellung verlassend, tritt er in das
Gebiet der praktischen Anwendung der Grundsätze, die er
28
218
Für und wider die Steinzeit in Aegypten.
predigt, um seinen Jüngern die verführerische Perspective zu
zeigen von dem glücklichen Leben, das ihrer wartet, wenn sie
seine Ansichten zu den ihrigen machen.
Hier ist nicht ohne Lob zu bemerken, daß bei Gelegenheit
dieser Entwickelung der Consequeuzen seiner Grundsätze Herr
Tschernyschefsky zum ersten Male logisch wird. Mit
großem Scharfsinn erkennt er, daß die gegenwärtig bestehen-
den gesellschaftlichen Verhältnisse, die jetzt üblichen geselligen
Vergnügungen, die bis Dato bekannten Familienfreuden nn-
ter der Wucht seiner großartigen Weltanschauungen zusam-
meustürzen und „einer andern Ordnung der Dinge",
anderen Freuden, anderen Genüssen Platz machen müssen.
Diese „neue Ordnung der Dinge", dieses neue Gemüths-
und Seelenleben wird von ihm besonders eingehend beschrie-
ben und dem Leser als lobendes Beispiel vorgeführt, um ihn
durchfühlen zu lassen: Siehe was dir beschieden ist, wenn
dn mit mir für den Umsturz der Gefetze, die freie Liebe und
die Ausrottung der großen Capitalien kämpfen willst.
So ist das Bild entstanden von der Lebensweise der bei-
den Heldinnen des Nomanes nach ihrer glücklichen Verhei-
rathung; ein Bild, das insofern ein Meisterstück ist, als der
Leser sich jeden Augenblick sagen muß: nur so und nicht an-
ders könnte sich das Leben gestalten unter dem „Regime"
der unbeschränkten gegenseitigen Wahlfreiheit.
Dieses ungenirte Ein- nnd Ausgehen, dieses lustige,
wenn auch etwas rohe Treiben, diese Brüllconcerte, diese
Schlittenfahrten mit obligatem Schneewerfen, das scheint
alles nach dem Leben gezeichnet; und man muß dem Autor
die Gerechtigkeit widerfahren lassen: er hat ein treffend ähn-
liches Bild geschaffen. Ob dies Bild ein lockendes und ver-
führerisches ist und den Leser zum Ausrufe verleitet: ja, fo
möchte ich auch leben! — das ist eine andere Frage.
Denken wir uns das Buch wiederum in den Händen von
ein Paar recht jugendlichen Lesern, z. B. eines Studenten
und seiner Schwester, nnd fragen wir uns: welchen Eindruck
jene Beschreibung „des höchsten der gegenwärtigen
Generation erreichbaren Glückes" aus sie machen
wird?
Wenn der Studiosus nicht von Natur boruirt oder durch
liederliche Gesellschaft völlig verflacht ist, so kann ihn der
Gedanke, sein ganzes Leben in der Weise zuzubringen, wie
die Tage und Abende im Hause der „Musterwirthschast" ge-
schildert werden, unmöglich ansprechen. Ich sage „sein
ganzes Leben", denn das Glück in der Form, wie es der
Autor beschreibt, soll ja nicht nur der Jugend, es soll dem
reifern, ja sogar dem Greisenalter genügen. Gleich den jnn-
gen Leuten, die ins Hans kommen, sind die beiden Hausherren
und selbst der siebenzigjährige Schwiegervater des Amerika-
ners als vollkommen zufriedene Menschen hingestellt,
mithin der Satz etablirt: So leben und fo sterben, ist das
höchste Glück auf Erden. Hiernach eröffnen sich dem jnn-
geu Leser, dessen Eindrücke wir zu errathen versuchen, fol-
gende Perspective:
So lange er noch Student ist, erwartet ihn das Ver-
gnügen, seine Abende im Hanse eines beliebten Professors,
wie Kirsanoff war, mit dessen Gemahlin und anderen
Studenten singend und theetrinkend zu verbringen. Später,
wenn er selbst Professor, Fabrikdirector oder sonst etwas ge-
worden und „eine Wittwe" gefunden, die ihn „mit voll-
kommener Sachkenntniß" liebt und die er — um der
Vorurtheile der Welt halber — geheirathet hat, erwartet ihn
das Vergnügen, sein Haus voller Studenten zu sehen, die
ihre Abende mit seiner Gemahlin singend nnd theetrinkend
verbringen. Noch später, wenn das Alter sein Haar ge-
bleicht und das Schicksal ihn zum Wittwer gemacht, selbst
weuu ihm Niemand nachgeblieben als eine verheirathete Toch-
ter, erwartet ihn das Vergnügen, das Hans seines Schwie-
gersohnes voller Studenten zu sehen, die mit dessen Gemahlin
ihre Abende singend und theetrinkend verbringen.
Ich müßte sehr irren, oder unser junger Leser würde in
seiner Einbildungskraft denn doch ein anziehenderes Ideal
finden als das von Herrn Tfchernyfchefsky aufgestellte,
und sich sagen: Wenn das das Höchste ist, was „die neue
Ordnung der Dinge" an Lebensgenuß bietet, so ist es
einfacher und sicherer, bei der „bestehenden Ordnung" zu
verbleiben!
Was die jugendliche Leserin betrifft, fo scheint mir ihr
Urtheil noch um Vieles leichter vorauszubestimmen. Es ist
unmöglich, absolut unmöglich, daß ein unbeflecktes Mädchen
oder eine junge, unbescholtene Frau bei der Beschreibung des
Treibens in der „Musterwirthschast" nicht ein Gefühl
des Widerwillens, ich möchte fast fagen des Ekels empfinden.
Kann man sich etwas Unästhetischeres, Unweiblicheres den-
ken, als diese beiden Frauen, die einander gegenübersitzen,
jede mit einem Dutzend Studenten hinter ihrem Stuhle, und
die mit überangestrengter Lunge einander anheulen? Kann
man sich etwas Abstoßenderes, Naturwidrigeres vorstellen,
als die hochgeseierte Wsra, die Mutter des armen kleinen
Mitia, der die Erziehung ihres Kindes so wenig Reiz und
Beschäftigung bietet, daß sie aus Langerweile, und um doch
etwas zu thuu zu haben, auf den Gedanken kommt, Medicin
zu stndiren und Latein zu lernen? Kann man sich etwas
Hohleres, Geist- und Gemüthsloseres ausmalen, als dies
wüste Treiben mit den Studenten, die man in den Winkel
stellt, und dem „unbegrenzten Jubel", wenn es gelang,
den ernsten Hausherrn auch hineinzubringen?
Wo ist die Jungfrau, die hier das Ideal erkennt, das
sie sich vom Lebensglücke gemacht hat, die überzeugt ausruft:
ja, so möchte ich leben! Es muß doch herrlich sein, eine
offene Studentenherberge zu halten, und um das zu erlan-
gen, ist kein Opfer zu groß, weder das der uns angeborenen
Schamhaftigkeit, noch das der uns nie verlassenden Mntter-
liebe!
Sollte sich wirklich Eine finden, die so denkt, so ist sie
bereits verderbt und bedarf keines Antriebes, um es zu wer-
den. Die Anderen wird Herr Tfchernyfchefsky schwer-
lich zu seinen Principien bekehren!
Für und wider die Steinzeit in Aegypten.
r. d. Die Frage nach einem prähistorischen Steinalter
in Aegypten ist von hervorragendem Interesse, handelt es
sich doch hier um eine Borgeschichte gerade des ältesten Cnl-
turreichs, das wir kennen. Was man bisher in Aegypten
fand an menschlichen Werken, gehörte Alles der geschicht-
lichen Zeit an, und von den ältesten Denkmälern konnte
man ihren Ursprung nachweisen. Alle Anzeichen einer Prä-
historischen Periode schienen zu fehlen.
Für und wider die
Da machte es um so mehr Aufsehen, als zwei Franzosen,
E. Hamy und F. Lenormant, im Herbste des Jahres
1869 Plötzlich den Nachweis von dem Vorhandensein eines
Steinzeitalters in Aegypten antraten, von dem sie sich durch
Entdeckung einer altägyptischen vorgeschichtlichen Fabrik von
Steingeräthen überzeugt haben wollten. Qnatresages, Würtz
und andere Franzosen, die gleichzeitig mit jenen beiden in
Aegypten weilten, bestätigten ebenfalls das Vorkommen der
Steingeräthe. In der Sitzung der Academie des sciences
vom 22. November 1869 wurde der Bericht Hamy's und
Lenormant's verlesen. Aus demselben geht hervor, daß das
von ihnen aufgefundene „Atelier aus der neolitischen Periode"
auf der Hochebene gelegen ist, welche zwischen dem Thale
Biban-el-Molnk und den Höhenzügen sich ausdehnt, auf denen
die Pharaonischen Baudenkmäler Deir-el-Bahari sich erheben,
also am rechten Nilufer, unfern des Karawanenausgangs-
Punktes Korosko. Dort sahen die Franzosen „eine nnzäh-
lige Menge von durch Menschenhände zugerichteten Feuer-
steinen, welche auf dem Boden in einer Fläche von mehr als
100 Quadratmetern zerstreut liegen. Diese bearbeiteten
Steine sind von der bekannten Gestalt, welche man Pfeil-
und Lanzenspitzen, Beile, Messer, Bohrer, Nuclei — Steine,
von denen die Werkzeuge abgeschlagen sind — nennt. Un-
zweifelhaft rühren sie von einer vorgeschichtlichen Fabrikation
her."
So weit die Franzosen. Natürlich verfehlte die Ent-
deckuug nicht, großes Aufsehen zu machen, und vor Allem
nahmen die Aegyptologen sich der Sache an, denen darum
zu thun sein mußte, zu erfahren, ob ihre alten Aegypter im
Nilthale noch ältere Vorgänger gehabt hätten, von denen die
alten Schriftdenkmäler nichts zu berichten wußten. In
Deutschland ist denn auch die Annahme Hamy's und Lenor-
mant's auf entschiedenen Widerspruch gestoßen, zumal von
Seiten Lepsins' und ganz kürzlich von Georg Ebers (Zeit-
schrift für ägyptische Sprache u. s. w. Januar und Februar
1871, S. 17). Der Letztere hat, noch ehe er Kunde von
der Entdeckung der beiden Franzosen hatte, dem Vorkommen
eines Prähistorischen Zeitalters in Aegypten seine Aufmerk-
samkeit zugewandt, und ist an Ort und Stelle zu einem
negativen Ergebniß gelangt.
Das „Atelier" Hamy's und Lenormant's ist von Ebers
nicht gesehen worden, doch fand er bei El Kub (rechtes Nil-
ufer zwischen Esneh und Edfu) viele Silexstücke in jeder
Form, ganz so wie die Franzosen sie abbilden. Dergleichen
sah er an ganz wasserlosen Stellen der Arabia Peträa, wo
Hunderte von Quadratmetern mit eben solchen Feuerstein-
geräthen bedeckt waren. Ebers schrieb damals im Wadi Ha-
mara zwischen Wadi Werdan und Wadi Ghurundel (Sinai-
Halbinsel) in sein Tagebuch: „Es liegen hier Silexstücke
und scharfe Feuersteinsplitter in so eigenthümlichen Formen
und in solchen Mengen, daß man leicht an eine Fabrik den-
ken und aus der Masse Schalen, Messer, ja auch Pfeil-
spitzen heraussuchen kann." Er dachte dabei aber nicht im
geringsten an einen künstlichen Ursprung dieser Fragmente.
Im Gegentheil, es erschien widersinnig, in der bezeichneten,
jedem Menschenleben feindlichen Gegend an ausgedehnte Stein-
geräthefabriken zu denken. Die Arabia Peträa war niemals
bevölkert genug, um das Vorhandensein solcher Riesenfabrik
gerade dort zu erklären, und die Aegypter brauchten, wenn
sie wirklich ein vorhistorisches Zeitalter im Nilthale besaßen,
dasjenige nicht aus der Ferne zu holen, was ihnen zu beiden
Seiten ihres Fruchtlandes die arabische und libysche Wüste so
reichlich bot. Daß man übrigens, fährt Ebers fort, als die
Bronze und das Eisen den Aegyptern längst bekannt waren,
Steinzeit in Aegypten. 219
gut gearbeitete Steininstrumente am Nil gebrauchte, ist voll-
kommen richtig. Die alten Aegypter, welche frühzeitig die
Beschneidung einführten, übten diese mit Steinmessern aus,
und zwar hatten sie einen guten Grund dazu, da ein Bronze-
messer in der That schwere, ein scharser Stein leicht heilende
Wunden schneidet. „Es ist kein anderes Steingeräth, als
das von den Chirurgen gebrauchte dem bronzenen vorgezogene
Instrument bei den Inden und Aegyptern nachweisbar."
Auch unter den Hieroglyphenzeichen vermag Ebers kein Stein-
geräth nach Form und Farbe nachzuweisen. Wohl sind
Messer, Schwerter, Sägen, Hämmer leicht kenntlich darge-
stellt, aber sie werden entweder roth (Kupfer), grün (Bronze)
oder selten blau (Eisen) dargestellt. Die dargestellten Pfeil-
und Lanzenspitzen sind so scharf und mit solchen Widerhaken
versehen, daß kein Gedanke an ihre Verfertigung aus Stein
aufkommen kann.
„Die Verwendung des scharfen Fenersteingeräths tritt
hier nicht als primitiver Versuch des Urmenschen auf, Nägel
und Zähne mit Objecten aus feiner Umgebungswelt beim
Kampf um das Dasein zu unterstützen, sondern vielmehr als
mühsam erworbene Errungenschaft des Culturmenschen, der
durch Begleichung und Erfahrung dahin gelangt ist, in dem
Steine das beste Instrument für einen gewissen feinen Ge-
brauch zu erkennen. Der Mensch im Steinzeitalter behaut
den Silex in den meisten Fällen, um zu verletzen, der Aegyp-
ter benutzt seine Schärfe, um Weh zu verhüten. Wie Thier
uud Mensch sind beide verschieden, denn während Mensch
und Thier in gleicher Weise Wunden zu schlagen verstehen,
so ward es ausschließlich dem Menschen gegeben, auch andere
als die eigenen Wunden zu heilen. Was im Steinzeitalter
die Menschen Noth und Hunger, das lehrt die Wissenschaft
die Aegypter und Juden aus Stein zu bereiten."
Ebers sucht nun aus einander zu setzen, daß die Aegyp-
ter „als ein verhältnißmäßig vorgeschrittenes mit der Schmel-
znng verschiedener Metalle vertrautes Volk zum Nil kamen."
Es ist dies eine wichtige Frage, die bereits vielfach erörtert
wurde. Namentlich hat sich Dr. Robert Hartmann mit der-
selben (Zeitschrift für Ethnologie 1869, S. 23) beschäftigt,
aber er gelangt bekanntlich zu der ganz entgegengesetzten An-
nähme, nämlich daß die Völker Nordostafrikas, speciell die
alten Aegypter, sowie ihre Cnltnr, eingeboren, nicht einge-
wandert sind.
Wie dem nun auch sein möge, die von dem Engländer
Leonard Horner und dem Armenier Hekekyan Bey ausgeführten
Bohrungen bei Heliopolis und Memphis ergeben nirgends
Funde alter Steingeräthe, wohl aber noch 24 Fuß unter
der Oberfläche des heutigen Alluviums ein Kupfermesser,
bei 60 Fuß noch Scherben.
„Die jüngst in die Wissenschaft eingeführten Feuerstein-
sabriken," schließt Ebers, „sind zu groß, als daß man sie für
bloße Ateliers für die Herstellung von chirurgischen Jnstru-
meuteu und die dort vorhandenen Stücke für Abfallstücke
halten könnte. Erst dann, glaube ich, darf den französischen
Gelehrten zugestimmt werden, wenn sie auf den von ihnen
für Ateliers gehaltenen Stellen einen einzigen Feuerstein
gesunden haben, der unbedingt für ein Artefact gehalten wer-
den muß. Daß die Primitivvölker es liebten und lieben,
ihr Geräth fabrikmäßig zu bearbeiten, unterliegt keinem Zwei-
fel; eben so gewiß ist es aber, daß sich fast überall, wo sich
die Spuren von solchen Fabriken (zahlreiche Abfallstücke) fan-
den, auch ein oder das andere fertige Instrument gefunden
hat. Solches vermisse ich bis jetzt unter den Lenormant-
Hamy'schen Fundstücken."
28*
220
Die Benutzung und Zukunft des Suez-Canale's.
Die Benutzung und Zu
A. Das großartige Werk ist vollendet; Schiffe von mehr
als 1800 Tonnen, also Fahrzeuge mit beträchtlichem Tief-
gange, können ungehindert aus dem Mittelländischen Meere
in das Rothe Meer fahren und umgekehrt; der Canal wird
seit Ansang des Jahres 1870 benutzt und leistet dem Ver-
kehr nicht unerhebliche Dienste. Aber die mehr als dreiste
Behauptung des Herrn von Lesseps, daß er demselben in
jedem Jahre „Milliarden ersparen" werde, hat sich, wie
jeder Besonnene voraus wußte, eben so wenig erfüllt, wie
eine andere desselben Mannes. Mit einer Zuversicht ohne
Gleichen verkündete er, daß die Route um das Vorgebirge
der Guten Hoffnung veröden werde, nachdem der Canal dem
Betrieb übergeben worden sei.
Noch mehr. Um Actionäre anzulocken, behauptete man,
der Canal werde, sobald er vollendet und für Fahrzeuge von
2500 Tonnen praktikabel sei, höchstens 150 Millionen
Francs, und mit allen zum Betriebe nöthigen Vorkehrungen,
Bauwerken !c. 200 Millionen kosten, mehr auf keinen Fall.
Die Vollendung sollte 1861 stattfinden, Praktikabel ist jedoch
der Durchstich erst ueun Jahre später geworden. Es wurde
außerdem versichert, daß auch viele Segelschiffe von und
nach Indien den Weg über Suez nehmen, daß sie diese Route
jener um das Cap vorziehen würden; auch das war eine
Täuschung. Ferner hieß es, die Dampfer würden ungemein
viel Zeit ersparen; aber sie tragen dafür auch schwere Kosten
und haben das gefährliche Rothe Meer zu Passiren.
Auf dem Wege durch den Suezcanal kann von London
aus kein Dampfer rascher nach Australien gelangen, als aus
derCaproute. Ich lese soeben („Times Mail" 18.April)
in einem Berichte aus Sydney vom 24. Februar, daß der
Dampfer „Queen of theThames" die Fahrt van der Themse
bis zur Hauptstadt von Neusüdwales in 58 Tagen gemacht
hat, Aufenthalt unterwegs mit eingerechnet. Die neue
anstralifch-californifch-europäische Route, welche
von Melbourne ab über die Fidschi-Jnseln nach San Frau-
cisco geht und dann die große Bahn nach Neuyork benutzt,
wird nach der Nordsee nur 45 bis 48 Tage Zeit erfordern.
Ein Dariencanal aber, der doch über kurz oder lang ver-
wirklicht werden wird, muß der gefährlichste Concnrrent des
Suezcauals werden.
Dieser ist bekanntlich im Spätjahr 1869 mit großem
Gepränge und komödiantischem Pomp eröffnet worden; es
war dabei wesentlich auch ans Spiegelfechterei abgesehen, auf
eine Verherrlichung des Pariser Imperialismus, welcher ja
den Autrieb zu dem ganzen Unternehmen gegeben hatte und
welchem bei der Ausführung desselben auch politische Hinter-
gedanken nicht fremd waren. England hatte lange Zeit in
kleinlicher Weise und mit jener Kurzsichtigkeit, welche wir
an John Bull keineswegs selten finden, dem Canal manche
Hindernisse in den Weg gelegt und hätte die Ausführung
des Planes gern hintertrieben. Jetzt mußten seine Vertreter
bei dem Schaugepränge während der Eröffnung zugegen sein,
und es hat sich gefügt, daß gerade England vorzugsweise
Vortheile für seinen Verkehr mit Indien aus dem neuen
Seewege zieht. Für den Augenblick trat, in Folge der heil-
losen Zerrüttung aller französischen Verhältnisse, das politische
Element völlig in den Hintergrund.
Nun ist, wie bekannt, der Canal längst in fahrbarem
Zustande, der Handel benutzt ihn, aber finanziell ist der
Bankerott da; nur mit Mühe werden die notwendigsten
Betriebskosten aufgebracht, trotzdem z. B. in der zweiten
linft des Suez-Canales.
Hälfte des Februarmonates 1871 in England nicht weniger
als 20 Dampfer in Ladung lagen, darunter einer von 2168
Tonnen, um im März den Canal zu Fahrten nach Bom-
bay, Calcntta, Singapore und dem Persischen Golf zu be-
nutzen. Sie hielten zusammen („Times" vom 27. Februar)
28,219 Tonnen; im Durchschnitt entfallen auf den Dampfer
1420 Tonnen. Manche derselben haben die Fahrt schon
mehrmals gemacht; es muß sich also Nutzen für sie dabei
herausgestellt haben, die Coujuncturen müssen günstig ge-
Wesen sein. Auch werden gegenwärtig in England mehrere
Schraubeudampser expreß für die Suezroute gebaut, und es
verlauten auch Stimmen, welche annehmen, daß im Fort-
gange der Zeit der Verkehr zwischen England einerseits, Ost-
asien und Indien andererseits vorzugsweise den Canalweg
einschlagen werde. *
Bei dieser Annahme setzen sie allerdings voraus, daß der
Canal offen und als Transitweg brauchbar bleibe. Bis jetzt
hat er sich leidlich gut gehalten; die Uferböschungen sind nicht
ins Wasser hineingerutscht, Wasser ist regelmäßig und in
genügender Tiefe vorhanden, bis zu 26 Fuß, also vollkom-
men ausreichend. Durch Schrauben und Schaufelräder sind
noch keine Beschädigungen verursacht worden, und die Ein-
fahrt zum Port Said hat man, wenn auch mit Mühe und
Kosten, offen erhalten; sie ist noch nicht verschlämmt. Die
Technik kann stolz auf ihre Triumphe sein.
Der Abb6 Bauer, jener geistliche Abenteurer, welcher im
Gesolge von Napoleon's Gattin Eugenie der Eröffnung des
Canals die religiöse Weihe geben sollte, äußerte gegen Herrn
von Lesseps, daß vom Gelde der Actionäre so zu sagen ein
recht stattliches Haus ausgeführt worden sei; dasselbe werde
jedoch erst dann Miethzins abwerfen, wenn die einzelnen
Räume desselben Bewohner gefunden hätten. Lesseps ent-
gegnete, der Zudrang an Abmiethern werde groß sein; er
meinte, ein Schiff werde im Canal das andere gleichsam
drängen und der Ertrag der Abgaben könne nicht anders als
glänzend aussallen.
Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt; die Zahl der Fahr-
zeuge, welche den Canal benutzt haben, ist verhältnißmäßig
gering und weit hinter dem Anschlage zurückgeblieben; von
den Einnahmen, auf welche man rechnen zu können glaubte,
gilt natürlich dasselbe. Ich habe noch nicht gelesen, daß
irgend ein Segelschiff ans einem deutschen oder englischen
Hafen den Canal benutzt habe; nur kleine levantinische Fahr-
zeuge, Küstenfahrer aus dem Mittelmeer und dem Rothen
Meere kommen. Für Segelschiffe ist das Rothe Meer so
gefährlich, daß Llodys in London dafür nichts versichern.
Die Canaleinnahmen fließen lediglich aus den Abgaben,
welche die Dampfer zu tragen haben. Lesseps hat 1869,
um den Engländern seinen Canal als finanzielles Unterneh-
men plausibel zu machen, einen Ueberschlag in Pfund Ster-
ling gegeben. Demgemäß sollten sich stellen: Die jährlichen
Einnahmen auf 1 Million (also 25,000,000 Francs!!),
die Betriebskosten 200,000 Pf. St., die Ausbesserungen
gleichfalls 200,000 Pf. St. Somit wurde ein Profit her-
ausgerechnet von 600,000 Pf. St. oder 15,000,000 Francs,
aus welchem man den Actionären eine Dividende von 5
Procent auf ein Capital von 12,000,000 Ps. St. oder
300,000,000 Francs zahlen könne.
Nun haben aber, den amtlichen Nachweisen der Com-
pagnie zufolge, die Gesammteiuuahmen für 1870 statt
der 25,000,000, auf welche Lesseps fest rechnen zu können
Die Benutzung und
sich vermaß, nur 6,387,204 Francs (sage 255,488 Pf. St.),
also etwa ein Viertel abgeworfen, und dabei sind beträcht-
liche Summen für Verkäufe von Vorräthen und allerlei Ma-
terial mit eingerechnet; Alles, was nicht ferner unmittelbar
für den Canalgebranch nöthig erschien, wurde unter den
Hammer gebracht. Man hat die Betriebskosten auf das
Minimum beschränkt, so daß die Ausgaben sich auf etwa
233,000 Pf. St. beschränkten; somit sind ungefähr 32,000
Pf. St. zur Verfügung geblieben, wenn überhaupt alle diese
Ziffern zuverlässig sind. Auf jeden Fall erhalten die Actio-
näre, welchen hundert Mal wiederholt wurde, daß sie glän-
zende Dividenden erhalten müßten, nichts. Für sie ist es
also ein schlechter Trost, wenn ihnen jetzt gesagt wird: „Der
Welt ist es vollkommen gleichgültig, ob Ihr 20 oder 5 oder
0 Procent erhaltet; die Hauptfache ist, daß der Canal seine
Betriebskosten zu decken im Stande ist. Sind nun wirklich
mehr als 30,000 Pf. St. oder mehr als 750,000 Francs
trotzdem übrig geblieben, fo werden sich schon Leute finden,
welche den Canal nicht verfallen lassen. Ihr habt frei-
lich Alles verloren; aber Ihr müßt Euch damit trösten,
daß Ihr ein gutes Werk gethau habt; Ihr seid in der That
Wohlthäter des Handelsverkehrs!"
Die Actionäre also haben auf nichts zu hoffen; der Ca-
nal ist da, aber ihr Geld ist verloren. Haben nun die Be-
sitzer von Prioritäten („Canalobligationen") bessere Aus-
sichten?
Die Finanzverhältnisse des Canals sind von sehr
verwickelter Art. Nicht weniger als vier Classen von Glän-
bigern haben Anspruch an den Canal und das zu demselben
gehörende Eigenthum. Da sind zuerst die ursprünglichen
Actionäre, welche zwischen 190 bis 200 Millionen Francs
einzahlten. Dann kommt der Vicekönig von Aegypten, über
dessen Forderungen und Ansprüche nach den vorliegenden
Angaben nicht bis in alle Einzelnheiten ins Klare zu kom-
met: ist. Er hat aber auf mindestens 100 Millionen Francs
Anspruch; für diese Summe ist er in Mitleidenschaft gezogen
worden für eine Wasserstraße, welche neben seinem Lande
herläuft. Auf Zinsen und Dividenden hat er für jene
Summe Verzicht geleistet, so lange nicht die ursprünglichen
Actionäre mindestens 10 Procent von ihrem Einlagecapital
erhalten. Lesseps hatte dem Khedive mit bekannter Virtno-
sität klar zu machen gesucht, daß diese 10 Procent eigentlich
nur ein Minimum seien, und daß der Khedive für ferne 100
Millionen mindestens eben so hohe Zinsen erwarten dürfe.
Zu diesen beiden Gläubigern kommt noch eine dritte
Classe — Actionäre, welche für 37,500,000Francs Prio-
ritätsactien haben. Die Prioritäten haben aber nicht
das Vorrecht vor den ursprünglichen Actionäreu, sondern
nur vor den Actien, welche der Khedive besitzt; diese Obli-
gationen sind also etwa so viel Werth, wie das Papier, ans
welches sie gedruckt worden sind.
Die vierte Classe besteht aus Inhabern von Obliga-
tionen, die zusammen 100 Millionen Francs (4 Mil-
lionen Pfund Sterling) betragen.
Nun liegen die Dinge so, daß den ursprünglichen
Actionären lediglich das Nachsehen bleibt; sie bekommen
eben nichts und haben auch keine Aussicht, jemals auch nur
einen Heller zu bekommen. Den Inhabern der Obli-
gationen ist ein Minimum von 5 Procent Zinsen garan-
tirt worden; aber zu ihrer Befriedigung, welche etwa 200,000
Pf. St., sage 6,000,000 Francs, in Anspruch nehmen würde,
sind nur etwa 32,000 Pf. St., sage 700,000 Francs, ver-
inft des Suez-Canales. 221
fügbar. Hier ist also eiu Deficit von weit über 5,000,000
Francs, und es läßt sich gar nicht absehen, wie dasselbe ge-
deckt werden könne.
Es muß noch einmal wiederholt werden, daß bei dieser
ganzen Canalangelegenheit von vornherein Alles einen sehr
verwickelten Charakter trägt und die Dinge überhaupt, auch
juridisch und legal genommen, fo unklar bleiben, daß z. B.
gar nicht klar ist, worin überhaupt die Garantien bestehen,
welche man den Obligationsinhabern geboten hat. Da sie
nichts erhalten nnd auch schwerlich Aussicht haben, daß man
die gegen sie übernommenen Verpflichtungen erfüllen könne,
so werden sie klagbar werden gegen die Compagnie, welche
nicht zahlen kann. An was wollen sie sich halten? Die
Compagnie wird versuchen, neue Capitalien zu bekommen,
aber da sie factisch bankerott ist, so wird sich Niemand fin-
den, ihr Geld zu borgen, dessen Verlust doch von vornher-
ein sicher ist. Der Khedive ist unablässig angezapft worden,
und er wird nichts mehr geben; ohnehin befindet er sich sel-
ber in Finanzverlegenheit, und hat oder bekommt er Geld,
fo verwendet er es auf seine Soldaten und auf orientalischen
Luxus. So lauge die Franzosen für mächtig galten und
Napoleon der Dritte das große Wort führte, machte er gute
Miene aus politischen Gründen, obwohl das ganze Treiben
der Pariser, welche in Kairo ihn unbarmherzig ausbeuteten,
ihm innerlich zuwider war. Seitdem aber Frankreich gezeigt
hat, wie es auch staatlich in so großem Verfall, und nachdem
feine Macht völlig gebrochen worden ist, behandelt er die
Franzosen, welche ihm politisch nichts mehr nützen können,
mit Geringschätzung, und will mit der ganzen Canalangcle-
genheit gar nichts mehr zu schassen haben, so lange sie in
französischen Händen bleibt.
Alle Hoffnungen, welche das imperialistische Frankreich
ans den Canal gesetzt hatte, sind zusammengebrochen; auch
die politischen Berechnungen schlugen fehl. Die Engländer,
welche bei Seite geblieben, reiben sich jetzt vergnügt die
Hände; die Franzosen haben ihnen, mit französischem Gelbe,
eine bequeme Straße nach Indien und Ostasien hergestellt.
Sie werden den Canal um ein Spottgeld zu erwerben suchen,
und ich lese, daß schon im Februar ein Consortium eugli-
scher Capitalisten einige Bevollmächtigte nach Aegypten ge-
schickt hat, um klaren Einblick in die verwickelten Verhältnisse
zu gewinnen.
Das gewichtigste Wort haben die Inhaber der Obliga-
tionen zu sprechen und auf deren Interesse specnlirt offenbar
das Confortinm englischer Capitalisten, welche die Rechte
jener erwerben und dann eine neue Compagnie gründen
wollen, welche, wenn auch nicht Rückzahlung des Capitals,
doch wenigstens 5 Procent Zinsen verbürgt. Den Fran-
zosen schlüpft offenbar das ganze Unternehmen aus den
Händen. Ihre Compagnie besitzt allerdings dem Canal
entlang viele Strecken wüster Ländereien, welche sie bei einer
eventuellen Aufnahme neuer Capitalien verpfänden könnte;
aber diese Ländereien erhalten nur dann einigen Werth,
wenn der Canal überhaupt in commercieller Beziehung mehr
leistet als bisher; an und für sich und wie die Verhältnisse
gegenwärtig sind, haben sie theils gar keinen, theils nur ge-
ringen Werth.
Alles in Allem genommen, wird es wohl so kommen,
daß der Canal in die Hände englischer Capitalisten über-
geht; sie werden ihn sicherlich möglichst wohlfeil zu kaufen
suchen und dann, den Franzosen gegenüber, sagen:
vos non vobis fertis aratra boves!
222
Aus allen Erdtheilen.
Aus allen E r d t h e i l e it.
Zustände in St. Domingo und Haiti.
Die schöne Insel Haiti (Hispaniola) zerfällt staatlich in
zwei Abtheilungen. Den größern östlichen Theil bildet die do-
minicanische Republik, der ehemals spanische Antheil der
Insel. Sie hat ununterbrochen Revolution gehabt; dann wurde
sie einige Jahre lang wieder von den Spaniern besetzt und diese
wurden vor einiger Zeit vertrieben. An die Spitze der „Repu-
blik" trat Santana; dieser wurde vor drei Jahren von Ca-
bral vertrieben, Cabral wurde von Baöz vertrieben, und Ca-
bral, gemeinschaftlich mit Luperon, will den Basz fortjagen.
Dieser biedere Mulatte will nun Land und Leute an den Bruder
Jonathan verkaufen, und Präsident Grant hat im Februar eine
Kommission nach St. Domingo geschickt, welche zu Gunsten einer
Annexion Bericht erstattet hat. Nordamerika will festen Fuß
am Antillenmeer gewinnen, und der Mulatte, um eine Million
einzustecken, will es billig machen. Die Kommissare fanden Alles
in der Mulattenrepublik in Verwirrung und Verfall: die Be-
völkerung besteht aus „verlottertem Gesindel". Einem Berichte
der doch sonst für Alles, was dunkle Haut hat, schwärmenden
„Newyork Tribüne" (22. März) wollen wir Einiges entlehnen.
Der Correspondent bezeichnet den „Präsidenten" Basz als
einen politischen Reitknecht; er reitet auf seinem Volke herum
und kleidet sich auch wie ein Jockey. Als wir seiner ansichtig
wurden, meinten wir, es solle ein Pferderennen abgehalten wer-
den. Auf seiner Fregatte wehte die dominicanische Flagge, die
Offiziere standen in Staatsuniform auf Deck; sie prangten in
schwalbenschwänzigem Frack, dicken Epauletten, weiten weißen
Beinkleidern und dreieckigen Hüten. Der Präsident trug eine
mit Goldstickereien überladene Jacke, helle Beinkleider und eine
carmoisinrothe Jockeymütze mit einem Goldstreifen. Er hat keine
Frau, aber etwa zwanzig Kinder. Es ist kein Gehalt für ihn
ausgeworfen, aber er lebt in großem Luxus, während die Sol-
daten hungern; er hat weder Charakter noch Muth und hat ab-
solute Dictatorgewalt; trotzdem kann er der kläglichen Jnsurrec-
tion Cabral's nicht Meister werden. Trotz alledem lscheint er
populär zu sein. Die Schulden des sogenannten Staates be-
laufen sich auf etwa 3,000,000 Dollars. Wenn wir diese do-
minicanische Republik ankaufen, fo wird Baez den größten Theil
des Kaufschillings einstecken. Der „Staat" schuldet sämmtlichen
Beamten viel Geld; gegenwärtig wird keiner von allen bezahlt,
weil überhaupt gar kein Geld vorhanden ist. Die Soldaten
treiben sich als Bettler auf den Straßen herum. Wenn wir
etwa anderthalb Millionen zahlen und Baez bekommt das Geld
zum Vertheilen, dann wird es damit so kommen, daß vor allen
Dingen Baez für sich verrechnet, was er fordern zu dürfen
glaubt, und dann werden die Beamten ihren rückständigen Sold
erhalten. Die Familie des Präsidenten steht sich dabei sicherlich
ganz gut, er hat die Seinigen gut versorgt (— wie der bie-
dere Präsident Grant das ja auch gethan hat —). Zwei obere
Beamte in der Hauptstadt sind Söhne von ihm; der Gouver-
neur der Stadt Sanct Domingo ist sein Bruder, ein anderer
Bruder ist General, ein Halbbruder Gouverneur von Azua, ein
Schwager Staatssekretär; es ist eine saubere Familienwirthschast
von Mulatten.
Die Commission besuchte auch Port au Priuce, diese
Hauptstadt der „Republik" Haiti. Die nachstehende Schilderung
gewährt einen Einblick in die Reg erwirthschaft, und sie ist
gewiß glaubwürdig, da sie aus der Feder eines negerfreundlichen
Abolitionisten kommt und von dem negerfreundlichsten Blatte
Amerikas mitgetheilt wird.
„Von der Bai aus gesehen bietet Port au Prince einen
reizenden Anblick dar. Die Stadt liegt auf einer sanft anstei-
genden Ebene, welche von ziemlich hohen Hügeln begrenzt wird.
Bei näherer Bekanntschaft findet man, daß sie der abscheulichste
Platz ist, den wir gesehen haben. Die Häuser sind armselig, die
Straßen überaus unsauber, die Werfte am Hafen verfallen und
gefährlich. Die Bewohner sind, gleich jenen von Sanct Do-
mingo, ungemein faul und obendrein noch höchst unverschämt.
Das Klima ist unerträglich heiß; auf beiden Seiten liegen Mo-
räste, aus welchen Stechmücken und gelbes Fieber kommen.
Jedermann ist überzeugt, daß die Negerrepublik Haiti
völlig mißlungen ist; sie hat in sich auch nicht ein ein-
zigesElement derStätigkeit, des Gedeihens, derKraft
und des Fortschrittes. Man braucht nicht einmal aus der
Stadt herauszugehen, um sich davon zu überzeugen. Das Volk
ist grauenhaft unwissend; es fehlt ihm an jeder Energie und
Intelligenz, es befindet sich, der Civilisation gegenüber, auf der
allertiefsten Stufe, welche ganz nahe an völlige Barbarei grenzt.
Das Volk begreift nicht, was eine Regierung oder was eine Re-
publik ist; von öffentlicher Sicherheit ist keine Spur, von öffent-
lichem Vertrauen keine Rede. Republik und Volk haben gar
keine Fortschritte gemacht, wohl aber Rückschritte. Ein Herr, der
seit dreißig Jahren auf Haiti lebt, äußerte gegen Mitglieder der
Commission, daß in diefer langen Zeit auch nicht das Aller-
geringste von Fortschritt zu verspüren gewesen sei. Und in der
That, kann von irgend welchem Gedeihen die Rede sein, wenn
eine Republik binnen fünf Jahren drei Revolutionen
und drei revolutionäre Präsidenten hat, wenn sie in
ihrer sogenannten Armee beinahe viertausend Gene-
rale, Generalmajore, Obersten zc. zählt (— jeder Neger
will Offizier fein —) und deren Geld so entwerthet ist,
daß man genau eintausend haitische Papierdollars
für ein Pfund Thee zu zahlen hat?" —
So steht es mit den „schwarzen Franzosen" auf Haiti.
Plan zu einer deutschen Masseneinwanderung in
Oregon.
Wir finden darüber in einer der neuesten Nummern der
deutschen „California Staatszeitung" Folgendes:
„Daß unser Calisornien unermeßliche Reichthümer besitzt,
daran wagt heutzutage selbst der Kurzsichtigste nicht mehr zu
zweifeln. Alle, die Kalifornien kennen oder sich für dasselbe
interessiren, wissen, wie reiche Schätze an edlen Metallen noch
immer an unserer Küste verborgen liegen, wie unermeßlich reich
unser Boden ist, so daß, begünstigt durch ein unvergleichliches
Klima, die Producte aller Zonen prächtig gedeihen. Alles ist
in reichem Maße vertreten. Das Mineral-, Pflanzen- und
Thierreich scheint hier seine Schätze am liebsten zu entfalten, und
nur an den Händen fehlt es, die, der Natur nachhelfend, Cali-
formen in das Eden verwandeln, als welches es manche Jdea-
listen bereits geschildert.
In richtiger Erkenntniß dieser Thatsache sind schon von den
verschiedensten Seiten Anstrengungen gemacht worden, eine Ein-
Wanderung nach hier ins Leben zu rufen, die, indem sie die
riesenhaften Districte unserer Küste bevölkere, es zu gleicher Zeit
ermögliche, die noch schlummernden Schätze der Muttererde zu
entreißen, doch immer stieß man auf Schwierigkeiten, und ge-
wöhnlich blieben die glänzend entworfenen Projecte unausgeführt.
Ein neues Project, welches eine Masseneinwanderung
zum Zweck hat, ist soeben bekannt geworden. Ben Holladay,
welcher, von einer Reise nach dem Osten zurückgekehrt, nach Ore-
gon abreiste, hat ein großartiges Uebereinkommen getroffen, wo-
nach 50,000 Deutsche von Bremen direct nach Oregon
transportirt werden sollen. Zu diesem Zwecke soll sofort
eine directe Dampferlinie von Bremen nach Aspinwall errichtet
werden, und wird die North Pacific Transportation Company
Aus allen
zu gleicher Zeit eine regelmäßige directe Verbindung zwischen
Panama, San Francisco und Portland herstellen.
Die Reise sür die 50,000 Deutschen wird von Bremen bis
Portland nur 70 Dollar per Kopf kosten; jedenfalls der nie-
drigste Preis, der je für die Passage von Europa nach der pacifi-
schen Kllste der Bereinigten Staaten gefordert wurde. Wie wir
hören, beabsichtigt man, den neuen Ansiedlern Land an der Ca-
lifornia- und Oregon-Eifenbahn zu überlassen, und soll ihnen
für die erste Zeit von der Company dieser Gesellschaft Befchäfti-
gung gegeben werden.
Trotzdem dieses Unternehmen, welchem wir von ganzem Her-
zen Erfolg wünschen, direct Oregon betrifft, fo glauben wir
doch, daß der Vortheil, der aus der Bevölkerung jenes Staates
für unsere ganze Küste entspringt, zu sehr mit unserm eige-
nen Hand in Hand geht, als daß wir dieses Project nicht mit
Freuden begrüßen} müßten. Hebt sich der Ackerbau Oregons,
erschließen sich in diesen nördlichen Districten reiche Kornkam-
mern, wer hat schließlich den bedeutendsten Vortheil, wenn nicht
der Hauptmarkt unserer Küste — San Francisco ?j Müssen doch
alle Producte ihren Weg über hier nehmen, und gern überlassen
wir den directen Gewinn dieser Einwanderung unserm Nachbar-
staat, da uns der indirecte nie genommen werden kann.
Wir als Deutsche begrüßen dieses Unternehmen mit beson-
derer Freude. Erstens weil wir glauben, daß wirklich den Ein-
Wanderern in jenen Districten Heimstätten geboten werden, die
den Besitzern für spätere Zeiten einen Wohlstand sichern, Haupt-
sächlich aber, weil wir, die wir unsere Landsleute kennen, wissen,
daß eben nur durch deutsche Einwanderung das erreicht
werden kann, was uns noth thut, ein thatkräftiger, intelligenter
Menschenschlag, als Hauptbevölkerung unserer Landdistricte."
Die geologischen Verhältnisse der südafrikanischen
Diamantfelder.
r. d. Im „Globus" Band XVIII, S. 43 und 371 ist ausführlich
über die Diamantfunde am Vaalfluffe berichtet worden. Jenen
Schilderungen schließen wir jetzt an, was der Geolog Dr. John
Shaw in der Septembernummer des „Cape Monthly Maga-
zine" (1870) über die geologischen Verhältnisse der Diamant-
felder sagt. „Die Gesteine im Thale des Vaal zeigen Vorzugs-
weife Trapp-, metamorphischen oder Conglomeratcharakter. Ich
fand keine reine Granitformation, dagegen ist der Syenit sehr
verbreitet; er scheint die Basis des ganzen Gesteinsystems bei
Klipdrift zu bilden, wo hauptsächlich die Diamanten gefunden
werden. Eine eigenthümliche Felsart tritt in der Form isolir-
ter Blöcke auf der Spitze der Kopjes, namentlich auf dem be-
rühmten alten Kopje, auf. Diese halte ich für Schriftgranit,
oder das, was Dana Granulit nennt, da sie nur aus Quarz
und großen Feldspathkrystallen besteht. Ueber dem Syenit lagert
stellenweise Trappconglomerat, an anderen Orten Amygdaloid
und, beide durchsetzend, Basalt, der überall hexagonal abgeson-
dert ist und an einzelnen Stellen ifolirte Säulen zeigt. Ein-
zelne Kopjes enthalten Ueberbleibfel gewichteter Gesteine, Thon-
schiefer, Sandstein, Kalk, augenscheinlich die letzten Spuren einer
einst weitverbreiteten Sedimentformation, welche früher das
ganze Land bedeckte, jetzt aber zerstört ist. Dies ist der Cha-
rakter des gegenwärtigen Gebirgsfystems bei Klipdrift und mit
wenigen Abwechselungen auch der der Gebirge in der Vaalregion
überhaupt.
Auf den Höhen der Kopjes und in den Schluchten und
Spalten der Basaltblöcke findet sich alluviales Geschiebe. In
diesem findet man die Diamanten; einzelne lagen sogar, den
tiefern Reichthum andeutend, auf der Oberfläche. Die Geschiebe
von Sandstein, Quarzit, krystallinifchem Randstein, Granit,
Thonfchiefer, Achat, Turmalin, Eifenkiesgranat u. f. w., welche
dieses Alluvium bilden, sind alle rund Polirt und wafsergeschlif-
fen; sie lagern bei Klipdrift in einer fetten braunen Erde.
Es entsteht nun die Frage, ob dieses Alluvium , geologisch
genommen, ältern oder neuern Datums ist, ob die Geschiebe
Erdtheilen. 223
früher ein Konglomerat bildeten oder die Kopjes in der jüngsten
Zeit vom Flusse bespült wurden? Meine Meinung ist nun,
daß die vom Wasser zusammengeschleppten Geschiebe schon vor
den großen geologischen Veränderungen, welche die gegenwärtige
Landschaft bildeten, unter dem Einflüsse von fließendem Wasser
gestanden haben. Die meisten Geschiebe stammen von dem Ba-
salt der Kopjes. Die Achate, Turmalme u. s. w. stammen un-
zweifelhaft von irgend einem überlagernden Sandsteinconglome-
rat, welches weggespült wurde und bei Klipdrift nicht mehr
existirt, und zweitens von einem Mandelsteintrapp, der überall
vorherrscht. Ich habe in meinem Besitze ein einziges Stück rothen
Sandsteins mit Granaten, doch ist es mir nicht möglich gewesen,
nachzuweisen, von wo dieses herstammt.
Es geht zur Genüge aus dem Angeführten hervor, daß
hier, in einer fernen geologischen Epoche, eine Reihenfolge meta-
morphifcher und geschichteter Gesteine existirte, welche über dem
gegenwärtigen Gebirgssystem der Gegend lagerte und durch fort-
dauernde Störungen sowie Wegspülung entfernt wurde, wobei
es zum großen Theil den Alluvialboden von heute bildete. An
einigen wenigen Stellen bestehen jetzt noch Ueberreste der Sedi-
mentgesteine, so in den thonschieserigen krystallinischen Sand-
steinen und Konglomeraten des Sitlacomiesthales, in den dünnen
Lagern von Thonstein, Sandstein und Glimmersandsteinen ein-
zelner nun auf Diamanten bearbeiteter Kopjes, und hauptsäch-
lich in den Bruchstücken sedimentärer Gesteine, welche über die
ganze Oberfläche des Vaalthales verbreitet sind.
Ich bin entschieden geneigt anzunehmen, daß die Diaman-
ten nicht aus einer höher gelegenen Gegend herabgewaschen wor-
den sind. In einem fpätern Aufsatze glaube ich den Nachweis
führen zu können, daß der Freistaat ein unabhängiges Diaman-
tencentrum besitzt und daß dort niemals ein Fluß existirt hat,
denn dort ist kein Anzeichen von Wasserthätigkeit und der Boden
ist nicht alluvial. Diamanten sind in zwei Stunden Entfernung
von Potfchefstroom (Transvaalrepublik) entdeckt worden, dann
den ganzen Vaal abwärts bis zu seiner Vereinigung mit dem
Oranje-River und weiter zehn Stunden unterhalb Hopetown.
Das ist ein Strich von mindestens 500 englischen Meilen. Ich
glaube, daß die Diamanten aus einem Gestein stam-
men, welches jetzt verschwunden ist, das früher aber
über die ganze Gegend verbreitet war.
Zum Schluß will ich noch einige Beobachtungen über die
Lage des Gefchiebebodens mittheilen, der nun auf Diamanten
ausgewaschen wird. Die alten Diggers geben den Gipfeln der
Kopjes den Vorzug; diesen Glauben haben sie sich nach den
Erfahrungen am alten Kopje gebildet. Wie ist es nun zu er-
klären, daß der Boden alluvialer Natur und doch so hoch über
den den Einwirkungen des Stromes gelegenen Stellen abgelagert
ist? Denn zwei bis drei englische Meilen landeinwärts ist, so
weit ich forfchte, auf den Gipfeln stets dasselbe Depositum ab-
gelagert. Aber es giebt gewisse Thatsachen, welche mich befähi-
gen, die geologische Geschichte dieser Kopjes aufzuklären. Die
Gipfel bestehen alle aus Basalt. Dieser ist durch die Mandel-
stein- und Conglomerattrappe durchgebrochen. In einer fpätern
Periode jedoch muß eine zweite.Erhebung der vom Centrum
radial verlausenden Säulen und Blöcke stattgefunden haben, so
daß diese keilförmig aus einander spaltende Schluchten zwischen
sich bildeten. Diese nachfolgende Hebung fand augenscheinlich
nicht gleichzeitig durch die ganze Gegend statt, sondern nach und
nach, und so wurde das Bett des Stromes von Stelle zu Stelle
verschoben. Das gegenwärtige Flußbett des Vaal kann keines-
wegs ein altes sein, und die ganze Oberfläche des Landes, in-
soweit als der Alluvialboden sich erstreckt, war zu verschiedenen
vorhergehenden Zeiten unter auswaschendem und spülendem Ein-
flusfe des Stromes. Zugegeben nun, daß eine Reihenfolge von
Gesteinen, wie sie beschrieben wurden, den Wassereinwirkungen
des alten Vaal unterworfen war, der durch allmälig einander
folgende Hebungen gezwungen war, fortwährend seinen Lauf zu
ändern, so ist auch das Vorkommen alluvialer Geschiebe auf den
Gipfeln der Kopjes nah und fern leicht erklärt.
224
Aus allen Erdtheilen.
In den tiefliegenden Höhlungen erblickt man kein Diamant-
geschiebe, weil eine dicke Lage frisch darüber geschwemmten San-
des sie dem Auge verdeckt. Die Diggers geben sich jetzt noch nicht
die Mühe, diesen Sand zu entfernen. Mit der Zeit wird dieses
aber geschehen, und ich bin sicher, daß man dort mehr Diaman-
ten als auf den Kopjes finden wird. Sollte der Tag kommen,
daß man den Vaalfluß selbst durch Canäle ableiten würde, um
im Flußbette zu suchen, so wird man auf ein ganz vorzüglich
reiches Diamantgeschiebe treffen. Nach Allem, was ich sah, ist
das gegenwärtige Diamantgraben in Südafrika nur ein gerin-
ger Versuch gegenüber dem, was es schließlich sein wird."
Von der Darien-Expedition sind neuere Nachrichten,
vom 19. März, eingegangen. Sie lauten dahin, daß die Route
der Flüsse Atrato und Tuyra vollkommen für die Benutzung
der Canalstrecke geeignet fei. Von den 123 Miles, der Breite
des Landes von einem Ocean zum andern, beständen 75 Miles
aus schiffbaren Flußläufen. Um den Canal als solchen herzu-
stellen, wird man auf einer Strecke von 50 Miles ausgraben
müssen; davon entfallen auf die höchste Fläche, die Wasserscheide,
30 Miles. Bei den übrigen 20 Miles beträgt (— angeblich,
denn genaue Messungen fehlen noch —) die bedeutendste Höhe
nicht über 150 Fuß, und Capitän Selfridge hofft auf der
Wasserscheide einen Punkt zu finden, der nicht höher als 75
bis 100 Fuß liege. Man sieht, daß es sich bis jetzt noch ledig-
lich um Hoffnungen und Erwartungen handelt und daß die An-
nähme, den Canal für 130,000,000 Dollars herstellen zu können,
noch keinerlei positive Unterlagen hat.
Die nordpacifische Eisenbahn, welche den Obern-See
(Lake Superior) mit dem Puget-Sund am Großen Ocean ver-
binden wird, rückt sehr rasch vorwärts. Am 13. März war die
Brücke über den Obern Mississippi bei Brainerd in Minnesota
vollendet und dem Betriebe übergeben worden; die Bahn reichte
also schon 113 Miles nach Westen hin, vom Obern See ab ge-
rechnet. Bis zum Red River war die Strecke bereits völlig
geebnet, und man erwartet mit Sicherheit dieselbe im Septem-
ber befahren zu können. Mehrere Tausend Arbeiter sind un-
ablässig beschäftigt, die Bahn durch das westliche Minnesota bis
zur Grenze von Dacotah weiter zu führen. Diese ganze Re-
gion westlich vom Lake Superior war noch vor zehn Jahren
eine Wildniß; jetzt entsteht der Bahn entlang eine Ansiedelung
neben der andern.
H * %
— „Darf einGeistlicherTaback rauchen?" Ueberdiese
für die ewige Seligkeit oder ewige Verdammniß im Jenseits auf-
geworfene Frage ist unter den Anhängern der Episcopalkirche in
Nordamerika ein ernster und heftiger Streit entbrannt. Man sollte
das kaum für möglich halten, wenn man nicht zur Genüge wüßte,
mit welchen Abspurigkeiten manche Geistliche sich beschäftigen.
Es ist allzeit eine Sünde, Taback zu rauchen. Wenn aber ein
Geistlicher der anglikanischen Kirche in der Fastenzeit Taback
raucht, dann begeht er eine doppelt schwere Sünde. Wende man
doch nicht etwa ein, daß manche hervorragende und fromme
Geistliche Raucher gewesen sind und daß von dem großen Natur-
kundigen Isaak Newton ein Gleiches gilt. Leider; es verschlägt
aber nichts, ob man Cigarren oder Cigarretten raucht, und Ta-
back aus Thon-, Porzellan- oder Meerschaumköpfen, oder aus
einer persischen Wasserpfeife oder einem türkischen Tschibuck oder
einer indischen Hukah. Die wichtigste Frage bleibt: „Ist es
eine Sünde, während der Fastenzeit zu rauchen und giebt ein
Geistlicher, der das thut, seinen Pfarrkindern nicht ein böses
Beispiel?" — Darüber wird nun hin und her gestritten mit einer
Ernsthaftigkeit, die wirklich in hohem Grade albern erscheint.
Adam im Paradiese hat nicht geraucht, eben so wenig Abraham,
Isaak, Jakob oder irgend ein anderer alter Jude; aus den Kir-
chenvätern läßt sich auch die Sünde oder Nichtsünde nicht be-
weisen, denn sie kannten den Taback nicht. Aber die Sünde
ergiebt sich unbedingt durch eine logische Erwägung. Es ist
Zweck der Fasten, das Fleisch und die fleischliche Lust abzutödten
durch Hunger. Nun aber spürt man die Qual des Hungers
viel weniger, wenn man Taback raucht, der ohnehin beruhigend
wirkt, also schwächt er die moralische Bedeutung des Fa-
stens und folglich (quod erat demonstrandum) begeht der
Tabacksraucher eine Sünde. — Neben dem kindischen Gezänk,
welches die anglikanischen Geistlichen, namentlich in Neuyork,
über diesen „Seligkeitspunkt" führen, liegen sie einander auch
mit theologischem Ingrimm in den Haaren über Ritualismus
und Nichtritualismus, über dreimaliges Eintauchen beim Tau-
fen, über Rubriken, Kniebeugungen, Mäntel und andere
dergleichen Dinge. Die Katzebalgereien über solche „Seligkeits-
themata" dauern nun schon seit Jahren mit ungeminderter Hef-
tigkeit !!
Ueberhaupt vertreibt man sich in der anglikanischen Kirche
vielfach die Zeit mit höchst unnützen Dingen und ist höchst un-
duldsam und beschränkt. So lasen wir jüngst in Londoner
Blättern Folgendes. Es ist eine wissenschaftliche Commission
ernannt worden, um die offenbaren Mängel und Fehler in der
amtlichen englischen Bibelübersetzung zu beseitigen. Zu dersel-
ben war auch ein tüchtiger Gelehrter, Vance Smith, ernannt
worden. Die Eommissäre genossen das Abendmahl und auch
Vance Smith wollte theilnehmen; er gehört zu den Univer-
salisten. Aber die orthodoxen Geistlichen schauderten zurück
(were all at once horror struck) vor dem bloßen Gedanken,
gemeinschaftlich mit einem Socinianer zu communiciren und
gar noch einen solchen Ketzer als Mitübersetzer der Bibel zu haben.
Bischof Wilberforce stellte den Antrag, den Ketzer von der Com-
Mission auszuschließen, und das ist denn auch geschehen. Uebri-
gens sind die Tage dieser anglikanischen, durchaus verknöcherten
Staatskirche gezählt; sie ist durch ihre „orthodoxen" Geistlichen
zu Grunde gerichtet worden, und verdient in jeder Beziehung
das Schicksal, welches ihr bevorsteht.
— In Birma machen sich die buddhistischen Mönche
viel nützlicher als z. B. die christlichen in Italien, Spanien,
Frankreich, Südamerika :c. Jeder von ihnen ist verpflichtet als
Schulmeister zu wirken, und sie haben es allzeit für ihre wich-
tigste Obliegenheit gehalten dahin zustreben, daß alle Birmanen-
kinder ohne Ausnahme lesen und schreiben lernen. So ist es
auch jetzt noch in dem Theile von Birma, welcher unabhängig
blieb; in dem Theile dagegen, welchen die Engländer sich an-
geeignet haben (— das ehemalige Pegu, das Deltagebiet des
Jrawaddy —ist von Seiten der Eroberer der Schulunterricht
vernachlässigt worden. Man findet, daß das ein Schimpf für
die „christlichen Civilifatoren aus dem Abendlande" fei, und der
Obercommifsär von Britisch Birma hat sich nun mit den bud-
dhistischen Mönchen ins Einvernehmen gesetzt, damit sie wieder
den Unterricht übernehmen. Sie haben sich gern dazu erboten
und verlangen dafür nicht einmal eine Geldentschädigung; sie
unterrichten um Buddhas willen, diese „blinden Heiden"!
Inhalt: Neue Mittheilungen über die Thierwelt Neuseelands. Mit drei Abbildungen.) — Hatten die alten Nord-
länder Kunde von einem offenen Polarmeer? Von Gisli Brynjulffon. (Schluß.) — Fischmusik bei Greytown. (Mit einer
Abbildung.) — Aus der Literatur des Nihilismus. Von D. K.Schedo-Ferroti. (Fortsetzung.) — Für und wider dieStein-
zeit in Aegypten. — Die Benutzung und Zukunft des Suez-Canales. — Aus allen Erdtheilen: Zustände in St. Domingo und
Haiti. — Plan zu einer deutschen Masseneinwanderung in Oregon. — Die geologischen Verhältnisse der südafrikanischen Diamant-
felder. — Von der Darien-Expedition. — Die nordpacifische Eisenbahn. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Nedaction verantwortlich: H- Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
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ftrMrSer- m
Band XIX.
o 15.
Iii 6efait(tcrer ÜJrürtficJtiipttg dtr Anikrogologie und Giknolozie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andrer.
Mai Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4Sgr. 1811.
Der Lavaausbruch des Tougariro auf Neuseeland 1879.
Neuseeland, durch und durch vnlcanisch, besitzt doch ge-
genwärtig nur zwei thätige feuerspeiende Berge, den Ton-
gariro und White Island. Aber nach Schluß der Tertiär-
zeit ist der größere Theil der Nordinsel wenigstens, wie wir
aus dem von Hochstetter bearbeiteten geologischen Theil der
„Novara"-Reise wissen (Wien 1864), der Schauplatz gro-
ßer Niveauschwankungen uud heftiger vulcanischer Ausbrüche
gewesen. „Der Isthmus von Auckland," sagt Hochstetter,
„verdankt seine eigenthümliche Physiognomie einer großen
Anzahl erloschener Bulcankegel mit mehr oder weniger deut-
lich erhaltenen Kratern, mit Lavaströmen, welche weit aus-
gedehnte steinige Lavafelder am Fuße der Kegel bilden, oder
mit Tuffkratern, welche ringförmig die aus Schlacken oder
vnlcanischen Auswürflingen ausgebauten Eruptiouskegel um-
geben, die regellos über den Isthmus oder die benachbarten
User des Waitemata- und Manukauhaseus zerstreut sind.
Die vulcanische Thätigkeit scheint sich fast bei jedem Ans-
bruche einen neuen Weg gebahnt zu haben und hat sich
so zu sagen in lauter einzelnen kleinen Kegeln zersplittert,
während sie, wenn sie immer denselben Canal eingehalten
hätte, vielleicht einen großen Bulcankegel gebildet haben
würde."
Während so der Isthmus von Auckland aus einem Ge-
biete von etwa acht Quadratmeilen nicht weniger als 63
kleine selbständige Krater zeigt, die Vulcauen von nur 300
bis 600 Fuß Höhe angehören, finden wir weiter in das
Innere der Nordinsel vordringend Vulcaue von imponireu-
der Höhe. Vor Allem hat der Doppelvulcan Ruapahu und
Tougariro durch imponirende Formen und durch die fort-
Globus XIX. Nr. 15. (Mai 1871.)
während aus dem letztern aufsteigenden Dampfwolken die
Aufmerksamkeit der Fremden wie der Maoris angezogen.
Die Eingeborenen erzählen, daß dort gewaltige schwefelhal-
tige und kochend heiße Quellen dem Boden entspringen. Nord-
lich von beiden Bergriesen liegen an den Ufern des Taupo-
sees noch eine Anzahl kleinerer, als erloschen geltender Vul-
cane, welche die Eingeborenen als die Weiber und Kinder
der beiden großen Vulcaue betrachten.
Schon unser Landsmann Dr. Diefenbach wollte den
Vulcau Tongariro besteigen. Nachdem Bidwell im März
1839 dasWagniß heimlich ausgeführt hatte und dieses spä-
ter den Maoris bekannt geworden war, wurde von dem be-
rühmten Häuptling Te-Heu-Heu ein sehr strenges „Tabu"
aus den Berg gelegt, das selbst heute noch nicht aufgehoben
ist, so daß man lange nicht in Begleitung von Eingeborenen
auf den Tongariro gelangen konnte. Doch ist der Vulcau
1851 von Dyfon wieder erstiegen worden; er fand den
Gipfel noch ziemlich eben so, wie Bidwell ihn im Jahre
1839 beschrieben hatte. Auf der Spitze des aus loser Asche
und Bimssteintrümmern bestehenden Kegels gähnt nämlich
ein furchtbarer Krater von wenigstens 400 Meter Durch-
messer und einer ganz enormen Tiefe, denn es dauerte öfters
7 bis 10 Minuten, ehe man hörte, daß hinabgeworsene Steine
irgendwo den Boden oder die Wand des Schlundes berührt
hatten. Von vielen anderen hineingeworfenen Steinen hörte
man gar nichts. Hochstetter dagegen nimmt an, daßDy-
son's Schilderung übertrieben und der Krater nur 150 Me-
ter weit sei. Gewaltige Dampfwolken wirbelten aus der
Tiefe und ein unheimlich dumpfes, murmelndes Geränsch
29
Der Ngauruhoe-Kegel des Tongariro. (Neuseeland)
Nach einer Skizze von Dr. Hector.
Bestehen nun anch die Vulcaue Neuseelands zum großen
Theil aus Tuff- und Schlackenkegelu, so sind Lavakegel und
Lavaströme doch dort durchaus keine Ausnahmeerscheinung.
Ein Bild reichlicher Lavaergüsse besitzen wir z. B. im Maunga
Der Lavaausbruch des Tongariro auf Neuseeland 1870.
drang von der unterirdischen Werkstätte herauf. Die über-
hängenden Felsen der innern Kraterwand waren von subli-
mirtem Schwefel mehr oder weniger gelb gefärbt, aber Dy-
son konnte nichts von frisch ausgeworfener Asche
See auf dem Gipfel des eigentlichen Tongariro. (Neuseeland.)
Nach einer Skizze von Dr. Hector.
geflossen war. Jene Lava war schwarz, glänzend und von
sehr dichter Beschaffenheit.
oder Lava bemerken, während Bidwell von einem neuen
Lavastrome erzählt hatte, der au dem obern Krater herab-
Radde's und Siewers' St'
Rci der Eingeborenen, dem Mount Wellington der Ansied-
ler. Der Tongariro dagegen hatte bei allen den Colo-
nisten bekannt gewordenen Ausbrüchen nur einzig und allein
Asche und Gas zu Tage gefördert; erstere verbreitete sich
zuweilen über einen District von dreißig englischen Meilen
im Radius.
Aber der Tongariro ist jetzt zum ersten Male
von seinen alten Gewohnheiten abgewichen, er hat
im April 18 70 einen bedeutenden mit Lavaausströ-
mungeu verbundenen Ausbruch gehabt, über welchen
Dr. Hector in der am 17. Juli 1870 zu Wellington ab-
gehaltenen Sitzung der Philosophical Society of New-
Zealand Mittheilung machte. Ihm verdanken wir den nach-
stehenden Bericht sowie die Skizzen zu den beiden hier repro-
ducirteu Holzschnitten.
Nach Dr. Hector ist der Tongariro 6000 Fuß (engl.)
hoch. Er besteht aus einer Gruppe unregelmäßig gebroche-
ner Kegel, unter ihnen befindet sich einer von sehr gleich-
mäßiger und schöner Form, der Ngauruhoe der Maoris.
Ströme kochenden Wassers und Dampf ergießen sich fort-
während von der Nordseite des Gebirges. In einer Höhe
von 3600 englischen Fuß, auf der Spitze des eigentlichen
Tongariro, liegt ein See von 300 Uards Durchmesser, dessen
Wasser eine rein grüne Farbe zeigt.
Es ist ein bemerkenswerter Umstand, daß am 5. April
1870, als elektrische Störungen in ganz Europa so ausfal-
fzüge am Kaspischm Meere. 227
lend beobachtet wurden und das Nordlicht so oft und so hau-
fig zu sehen war, das correspondirende Phänomen des Süd-
lichts auf der ganzen südlichen Halbkugel, gleichfalls begleitet
von bemerkenswerthen elektrischen Störungen, beobachtet
wurde. An demselben Tage fand ein Erdbebenstoß imBul-
candistrict Neuseelands statt, und kurz darauf erfolgte der
Ausbruch des Tongariro. Das Land ist um diese Jahres-
zeit sehr unzugänglich, doch konnte man vom nördlichen Ende
des Taupo-Sees (380 Meter über dem Meere), wo jetzt eine
Telegraphenstation errichtet ist, einen Ueberblick über die vul-
canischen Erscheinungen gewinnen. Am 10. Juli konnten
die großen schwarzen Rauchmassen, welche der Tongariro
ausstieß, von den Bergen bei Napier wie von einzelnen Thei-
len der benachbarten Ebene gut beobachtet werden. (Napier
liegt an der Hawkebai, 15 deutsche Meilen östlich vom Ton-
gariro, der Taupo-See aber gerade nördlich von letzterm.)
Schon vierzehn Tage vor dem Ausbruche wurden in Zwi-
schenräumen von etwa fünf Minuten schwere Schläge in
Napier gehört, die den Salven der Artillerie glichen. Diese
Schläge waren von einem Zittern der Erde und dem Aus-
bruche von Flammen begleitet, denen endlich ein Lavastrom
folgte, der in unregelmäßigen Wogen massig an den Abhän-
gen des Vulcans herniederfloß. Am 18. April bemerkte
man, daß plötzlich aus dem Tongariro eine kolossale schwarze
Rauchsäule aufstieg, gerade so, als wenn ein Dampfer heizt;
sie verschwand und machte einer weißen Dampfsäule Platz.
Radde's und Siewers'
Diese beiden deutschen Naturforscher haben im Sommer
1870 Streifzüge am Kaspischm Meere unternommen,
namentlich an der Ostseite desselben. Die Region im Osten
dieses großen Binnenbeckens ist in unseren Tagen für Nuß-
land von erhöheter Bedeutung geworden, und diese wird auch
vollständig begriffen. Ein Blick auf eine beliebige Landkarte
zeigt, daß von dort aus allein die Turkomanen zu bändigen
sind und daß Karawanenwege nach Chiwa führen. Vam-
bery hat in seinen centralasiatischen Reisen die Beschaffen-
heit des Landes und der dortigen Nomaden vortrefflich ge-
schildert; nicht minder die Gefahren und Entbehrungen, denen
er sich preisgegeben sah.
Wenn Rußland in jenen Regionen Erfolg haben will,
so ist es ihm geboten, ganz systematisch zu verfahren, und
es scheint auch, als ob es nach einer wohlbedachten Methode
zu Werke gehe. Bor allen Dingen kam es darauf an, am
östlichen Gestade einige feste Stationen zu gründen, und dann
nach und nach im Binnenlande einige Punkte zu besiedeln.
Wenn ich nicht irre, so war es im Spätherbst 1869, daß
die Bucht von Kraßnowodsk im Kuwodaghthale
(am südöstlichen Ufer des Sees) von russischen Truppen be-
setzt wurde. Sie gingen sofort ans Werk, um einen Han-
delsposten nebst den erforderlichen Befestigungen anzulegen.
Aus Radde's Reisebericht ersehe ich, daß nun auch im Bal-
chang eb irge, an welchem die Karawanenstraße vorüberzieht,
einige russische Niederlassungen vorhanden sind.
Jener Bericht ist dem Herausgeber des „Globus" erst
neulich durch gütige Vermittelung aus St. Petersburg zu-
gekommen; derselbe befindet sich in der dort erscheinenden
Deutschen Zeitung und enthält eine Uebersicht der Wanderun-
gen. Dr. Radde weist zunächst auf die commercielle Wich-
tigkeit der centralasiatischen Gebiete hm und daß im Osten
ifzüge am Kaspischen Meere.
des Kaspischen Sees auch die Wissenschaft noch reiche Aus-
beute zu gewärtigen habe, namentlich im Balchan, da dieses
Gebirge als „contiuuirlicher Stock mit bis zn etwa 3000
Fuß hohem Rücken sich zwischen die Salzstein- und Sand-
wüsten im Norden und Süden legt, indem es in der Haupt-
richtuug dem 39. Grad Nord folgt."
Das Eindringen ins Innere wurde jedoch durch ungün-
stige Verhältnisse erschwert, namentlich auch durch den dama-
ligen Aufstand der Kirgisen. Radde wollte zunächst von
Baku nach Kraßnowodsk fahren und von dort ins Balchan-
gebirge gehen; das war aber der Turkomanen wegen nicht
rüthlich, und er untersuchte dann die Gegend um Lenkoran,
namentlich den schmalen, süßwasserreichen Küstenstrich, da-
gegen Nordwest, dem Fuße des bewaldeten Gebirges folgend,
breiter wird und in die trockene Mugansteppe übergeht.
„Südlich von Lenkoran lernten wir andere Gebiete ken-
nen. Schach-agatfch, das Besitzthum vom ältesten Nach-
kommen des ehemaligen Chanes von Talysech, bildete hier
das Centrum unserer Excnrsionen. Wir vergaßen hier so-
wohl in der Natur als auch in der menschlichen Umgebung
Europa total. Unser freundlicher Wirth, Tagi-bek, that
Alles, um nnsern Aufenthalt eben so angenehm als auch
ergiebig zu machen. Orientalische Säle mit bunten Glas-
fenstern, facettirte Spiegelglasdecken und Carniese, weiche
Polster und Teppiche, eine Schaar dienstbarer Geister, kein
einziges weibliches Gesicht, persische Musik und Jmprovi-
sation, — das Alles läßt den Europäer, so lange er mitten
darin ist, seine Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche ver-
gesseu. Hier haben wir uns mit den Wäldern der Ebene
und Vorberge beschäftigt. Um kurz zu sein, sie sind kolossal,
aber kernfaul und zerfressen. Quercus castaniaefolia steht
in Bezug auf individuelle Eutwickelung oben an, — 200
29*
228 Rcidde's und Siewers' S
bis 250 Fuß hohe Bäume sind gar nicht selten. Pterocarpa
caucasica, mit schlanken, oft seitwärts geneigten Hochstäm-
men, bedeckt große Strecken, besonders des ehemaligen Moor-
bodens. Höchst originell ist Parrotia persica. Meistens
nur 30 bis 50 Fuß hoch, aber immer in den Stämmen
aus das Innigste mit einander verwachsen, so daß förmliche
Holzgeslechte mit irregulären Schlupflöchern zwischen den
nicht selten 1 Fuß dicken um und in einander gewundenen
Stämmen dastehen. Sandiger Boden ernährt in der Ebene
kleine Haine von Gleditschia mit einzelnen eingesprengten
Mimosa Julibrissin, deren zartes Laub der Sonne freiem
Durchgang läßt und wo dann meistens beide Meropsarten
lärmend umherschwärmen."
Am 16. Mai wurden die Gebirge hinter Lenkoran be-
sucht, barometrische Nivellirnngen vorgenommen und Pslan-
zen gesammelt.
Von Lenkoran fuhren die beiden Reisenden nach Baku
zurück und von dort nach Kraßnowodsk, wo sie am 5. Juni
eintrafen. Wir entlehnen dem Berichte das Folgende.
„Dem Naturforscher sind die Wilsten und namentlich ihre
Ränder lieb. Es ist in ihnen Alles anders als auf der ge-
wohnlichen Muttererde. Wir waren hoffnungsreich.- Unsere
Phantasien bewegten sich in einem Meere origineller Eidechsen,
Schlangen, Scorpionen, Phalangen, Taranteln und sonstigen
sonderbaren Geschöpfen. Und wir wußten es, wenn die Haupt-
bedingung zu unseren Erfolgen, das heißt möglichst freie
Bewegung auf weite Distanzen hin, in Erfüllung gehen
würde, so durften jene Phantasiebilder durchaus sich realisiren.
Vier Fuß lange Rieseneidechsen, ein Heer kleiner Collegen
mit allerlei possirlichen Kopf- und Halsauswüchfen; andere
mit veilchenblauer Kehle und wechselndem Farbenspiele auf
dem Rücken; dazwischen auf heißem Sandboden die ekelhaf-
ten Solpngen mit langbehaarten Beinen und lehmgelben!
Körper; wie sie so gerade und rasch hinlaufen, diese raub-
süchtigen Bestien! Dann wieder die anziehenden Miniatur-
bilder unter den Steinen: eine zänkische Scorpionsamilie und
die reichlichen Reste von Tentyrien und Pimelien, oder wuu-
dervolle Julodeskäfer. Auch Alhagi- und Anabasispflanzen.
Und dazu noch viele andere Bilder, das Alles erwarteten
wir und haben es auch gefunden, doch mußten wir uns auf
den kleinen Raum vou drei bis fünf Werste im Umfange
beschränken.
Wir wurden im Lager auf das Freundlichste empfangen
und in eine Filzjurte einquartiert. An demselben Tage be-
gannen wir unsere Arbeiten. O, welche Ungeheuern Gegen-
fätze zur Natur von Lenkoran und Masanderau. Und wie
scharf schneiden sowohl am Ost- wie auch am Westufer des
südlichen Kaspi die Wüsten in die gesegneten Waldgebiete
der Elburuskette ein! Im Verlaufe vou einer Woche hatten
wir die nächsten Umgegenden von Kraßnowodsk vollkommen
ausgebeutet, es war schwer, noch etwas Neues zu finden.
Unseren Bemühungen, weiter ins Land vorzudringen, konnte
uicht Genüge geleistet werden. Die Turkmenen haben
die üble Angewohnheit, Fremde zu rauben und weiterhin als
Sklaven zu verkaufen. So lange wir im Lager uns befan-
den, hatte natürlich der Chef desselben die Verantwortung
wie über Alles, so auch für uns übernommen. Man er-
wartete noch Kosackenverstärkuug; der Aufbruch ins Balchan-
lager stand damals zwar in Aussicht, war aber keineswegs
bereits festgesetzt worden. Wir mußten uns also dahin be-
scheiden, im Lager zu warten, und konnten nur bedauern,
daß gerade jetzt so mißliche Verhältnisse hier statthatten, und
das um so mehr, als 1826 Eichwald und später, z. B.
1865, Göbel sich bei den Turkmenen viel freier bewegt
hatten, als wir es unter dem Schutze von 1500 Soldaten
im Stande waren. Jedenfalls haben wir gethan, was irgend
nszüge am Kaspischen Meere.
möglich war, und uns davon überzeugt, daß unter solchen
Bedingungen die Untersuchung jener Länder, trotz aller Be-
reitwilligkeit seitens der Militärchefs, total unmöglich, weil
jede einigermaßen freie Bewegung nicht zulässig ist. Wir
wollen also getrost uoch zwei Jahre warten, und erst dann,
wenn im Balchan feste Ansiedelungen sind und viel-
leicht auch freundliche Beziehungen mit den Turkmenen sein
werden, gehen wir wieder hin und bringen mit gutem Er-
folge das zu Ende, was wir jetzt beim besten Willen nur
kaum beginnen konnten. Das Hauptresultat der geognosti-
schen Untersuchungen des Dr. Siewers besteht übrigens darin,
daß die Kalkgebirge bei Kraßnowodsk, bis dahin von Eich-
wald und Koschkul als versteinerungslose betrachtet, dennoch
Versteinerungen besitzen und von Siewers mit großer Wahr-
scheinlichkeit dem oberu Jura oder der Kreide zugesprochen
werden. Im kaukasischen Museum befinden sich die Beleg-
stücke dafür."
Am 21. Juni fuhr Radde von Kraßnowodsk auf einem
Dampfer nach Bakn. Er schreibt über diese Fahrt:
„Wiederum erlebte ich Gegensätze, wie sie nur der Osten
bietet. Natur- und Menschenleben bewegt sich hier in den
Extremen. Die Filzjurte mit allem lebenden und todten
Ungeziefer, die Spiritusfäffer mit giftigen und giftlosen
Schlangen, die heillose Hitze nnd das schlechte Wasser, ja,
was noch mehr heißen will, der übliche Bataillonsschnaps
und die unabänderliche Schafsuppe Mittags und Abends,
und noch so vieles Andere, — das Alles lag nun wieder
weit hinter mir. Es gab erquickendes Wolgawasser in Eis,
eine herrliche Seeluft, ein bequemes Lager; es gab so edle
Flüssigkeiten, aus dem Norden Rußlands die berühmten Li-
qneure, die Südküste der Krim, Orianda, Frankreich und
Deutschland, Mosel und Rhein waren hier vertreten, und
hier und da that sogar die berühmte Wittwe (Eliquot) an
unserer Tafel brav Bescheid. Bei so schroffen Uebergängen
und Differenzen im Leben vergißt man immer zuerst die letzt-
vergangenen Tage.
Aus der Weiterreise wurde Aschurade und die Massan-
deransche Küste bei Astrabad besichtigt. Eine persische
Gesandtschast empfing den Großfürsten Thronfolger dort
am Lande. Der hohe Minister derselben trug einen herrlichen
mit Perlen und Edelsteinen vielfach besetzten Chalat, ein
wahres Prachtstück für jedes ethnographische Museum. Ho-
her Wellengaug vereitelte die Eiusahrt in den Busen von
Ensely. Die Insel Sari wurde angelansen und eine kleine
Landparthie nach Lenkoran gemacht. Von dort ging es zur
Kuramündnng und nach Bojii Promischel. Hier wurde der
Fang der Störe, die Bereitung der Kaviarsorten, des
Fischleims nnd der Wisiga, das ganze Etablissement in
Augenschein genommen. Während dieser friedlichen Arbeiten,
welche zur Zeit des guten Fanges alltäglich von einigen
Hundert Menfchen ans einem gedeckten Bollwerke über dem
Wasser von Morgens bis Abends vollendet werden, passiren
unter dem Bollwerke im Knrawasser gräßliche Räubersceuen.
Hier dräugen sich nämlich, auf die reichlichen Abfälle vom
Fischsange wartend, Schaareu riesiger Wälse zusammen.
Die graublauen oder schwärzlichen Rücken dieser Bestien tau-
chen nicht selten theilweise aus den lehmigen Fluthen der
Kura aus. Au langen, singerdicken Leinen mit tüchtigen
Eisenhaken, die den Köder tragen, kann man die Riesen jeden
Augenblick leicht angeln. Doch müssen zwei bis drei starke
Männer mit aller Kraft ziehen, wenn ein fadenlanger (6 Fuß)
Wäls sich sestgebisseu hat. Wehe dem Sterblichen, der hier
verunglückt, er ist hoffnungslos verloren. Ein Bild aus
der Wirklichkeit genommen, welches sich an die phantasierei-
chen Schilderungen Daute's in der Hölle würdig schließt.
Am 28. Juni gegen Abend traf der Dampfer „Kon-
Gräbt die Pampasei
stantin" in Baku ein. Hier hat die Natur unerschöpfliches
Feuermaterial in der rohen Naphtha deponirt. Die Be-
wohner profitirten diesmal von den Schätzen und hatten bis
zu den ewigen Feuern auf Apfcheron (Suruchane) 18 Werst
alle Berge in ein wahrhastiges Flammenmeer getaucht. So
ihre Höhlen selbst? 229
etwas Großartiges kann man sich kaum vorstellen. Die
rohe Naphtha war auf Lehmkloben gegossen und so ange-
zündet. Unzahlige solcher Flammen bedeckten die Erddächer
der Dörfer. — Am andern Morgen reisten wir als Conriere
nach Tiflis ab."
Gerade durch ihre Gegensätze wirkt die Natur fesselnd
und überraschend auf den Beobachter. Wie kommt es, hat
man _ schon oft gefragt, daß der prächtige Pfau auf Java
und in Ostindien der Begleiter des Tigers ist, dessen Gegen-
wart er durch sein Geschrei verräth? Ein Grund für das
regelmäßige Beisammensein dieser Thiere ist noch nicht auf-
gefunden worden, während andere, nicht minder verschieden
geartete Thiere von
Natur gleichsam auf
einander angewie-
feu scheinen. Wenn
der Staar unseren
Schafherden folgt, so
weiß man, daß die-
ses seinen Grund in
dem Vorkommen ge-
wisser Jnsecten im
Vließ der Schafe hat,
die der muntere Vo-
gel dort aufsucht,
genau so wie der
Madenhacker (Bu-
phaga erythro-
rhynclia) von der
Südspitze Afrikas an
bis nach Abyssinien
der treueste Begleiter
der Herden ist, so
daß es scheint, als
könnten Rinder, Ka-
meele, Pferde kaum
ohne ihn leben. Da
wo diese wunde Stel-
len haben, in welche
die Fliegen ihre Eier
legen, aus denen die
Maden entstehen, er-
scheint auch die Bu-
phaga, klettert an
dem Thiere herum
und sucht ihm die
Maden ab.
Auch das merk-
würdige Zusammen-
vorkommen der Pam-
pas-, Prairie- oder Kanincheneule (Pholeoptynx hypogaea)
in Nord- wie Südamerika mit einem höhlengrabenden Nage-
thiere, hier mit dem sogenannten Prairiehunde (Cynomys
Ludovicianus), dort mit der Viscacha (Lagostomys tri-
chodactylus) ist noch nicht völlig aufgeklärt. Da, wo iu
unabsehbarer Menge in den nordamerikanischen Prairien die
Erdhügel oder „Städte" der Prairiehunde sich erheben und
diese munteren Nager ihre graciösen Spiele treiben, fehlt
Die höhlengrabende Pampas- oder Prairie-Eule.
Nach den Exemplaren im Londoner zoologischen Garten.
auch selten die Prairieenle, desgleichen eine Klapperschlange.
Alle drei finden in derselben vom Prairiehunde gegrabenen
Höhle Unterkunft und leben in der Regel friedfertig zusam-
men. Bonaparte bezweifelt dieses freiwillige Zusammen-
wohnen, welches indessen vollkommen erwiesen ist. Die süd-
amerikanische Pampaseule, welche genau dasselbe Thier wie
die nordamerikanische Prairieenle ist, lebt nicht nur in den
Höhlen der Visca-
chas, sondern auch
in den Gruben der
Ameisenbären und
Gürtelthiere. Sie
macht es sich in den
von fremden Thieren
gegrabenen Wohnnn-
gen bequem, und dar-
aus hat man fchlie-
ßen wollen, daß
sie überhaupt nicht
selbst Höhlen grabe.
„Der ganze Bau der
Füße," sagen die
Gebrüder Müller,
„Zehen und Nägel
der Höhleneulen weist
eben so wenig aus
die Eigenschaft des
Grabens, als die
mit unferm Stein-
kauz ziemlich über-
einstimmende Lebens-
charakteristik dieser
Vögel schon voraus-
setzen läßt, daß sie
sich bereits verfertig-
ter Höhlen entschie-
den bedienen wer-
den, was ihre regel-
mäßige Anwesenheit
bei den Colonien ge-
nannter Sängethiere
(der Prairiehunde
und Biscachas), nicht
aber ein selbständi-
ges Nisten an der-
einzelten Orten auch zur Genüge beweisen möchte." —
Darwin dagegen meldet das Selbstgraben von Höhlen
bei der Pampaseule; Foulls und Molina geben dieses
entschieden von der in Chile vorkommenden Art an, was
Hill mit den Worten bezweifelte.- „Das Zeuguiß für diese
Thatsache ist noch nicht genügend, denn es solgt noch nicht,
daß ein Vogel, der in einem Loche unter der Erde gefunden
wird, dasselbe auch wirklich gegraben hat." Nach Vieillot
230 D. K. Schedo-Ferroti: Aus
soll dieselbe auf St. Domingo beobachtete Eule dagegen zwei
Fuß tief graben. Es mag sein, daß das Selbstgraben der
Höhle bei der Prairieenle noch nicht im Freien beobachtet
wurde, die Sache ist aber trotzdem entschieden und zwar zu
Gunsten des Selbstgrabens. Wie der Ornitholog Sclater
berichtet, grub nämlich schon die erste 1868 nach London in
den zoologischen Garten gebrachte Prairieenle, deren Porträt
wir mittheilen, sich im Sande ihres Käsichs ein Loch,
in welches sie sich fluchtete, wenn man sie bedrohte.
„Sie versteht," schreibt Sclater, „sich ihre Höhle recht gut
selbst zu graben." Damit ist die Sache Uber allen Zweifel
entschieden.
Die Prairieenle gehört zur Gruppe der amerikanischen
Tageulen (Surniae); sie ist von der Größe unseres Stein-
kanzes, besitzt eine vorherrschend röthlichgrane Oberseite, die
Uberall schön weiß gefleckt ist, während die Unterseite bis Uber
die Brust auf gelbrothem Grunde graubraun getUpfelt nnd
der Banch schmutzig gelbweiß erscheint. Das Gefieder ist
weich und seidenartig, dicht und kleinsaserig. An einen nur
kleinen Schleier (der Kranz um die Ohrössnung im Halb-
kreise) schließt sich ein unvollkommener nach hinten und unten
entwickelter Augenkranz. Die vorn leicht befiederten Beine
sind hoch und schlank, von hell graugrünlicher Farbe mit
gelblicher Sohle der kurzen Zehen, an denen mäßig gekrümmte
Nägel stehen. Ihre starken Flügel sind rundlich und groß,
sechs Zoll lang, während ihr dreizölliges Schwänzchen kurz
abgestutzt ist, wodurch das Thier hoch ausgeschürzt erscheint
und ihm beim Gange neben seiner Leichtigkeit und seinen
der Literatur des Nihilismus.
eigentümlichen Kauzmanieren etwas Drolliges verliehen
wird.
Die Prairieenle treibt sich am Tage außerhalb des Baues
umher und ergreift Mäuse, Schlangen, Eidechsen, Heu-
schrecken, in der Nähe des Wassers auch Krabben, um sie zu
verzehren. Sie sitzt gern auf den Hügeln der Prairiehnnde
oder, wie Andnbon beobachtete, auf dem Wipfel der in den
Prairien häufigen Wermnthsträncher, in Südamerika auf
Termitenhausen. Trotz ihrer scheinbaren Ruhe und Zutrau-
lichkeit, mit der sie den Menschen herankommen läßt, weiß
sie dessen gefährliche Nähe zu ermessen, denn sie fliegt Plötz-
lich einige Schritte gleichsam in neckendem, tändelndem Spiele
dahin und verschwindet zur rechten Zeit unter der Erde,
nachdem sie ein gellendes Tschi-Tschi ausgestoßen. Ihr
Gang ist leicht und gewandt, ihr Flug wellenförmig und
zuckend, bisweilen von der Schnelligkeit eines Habichts, nach
Azara aber selten höher als fünf bis sechs Fuß über der
Erde hergehend. Ihr Betragen ist dem des Steinkauzes
ähnlich, indem sie wie dieser im Sitzen häufig Bücklinge
macht und mit dem Schwänzchen schnellt. In der Tiefe,
am Ende der Höhle, bereitet sich die Prairieenle aus feinem
Gras ihr Nest und legt vier blaßweiße Eier, welche an Größe
denen der Taube gleichkommen; Azara berichtet, daß die süd-
amerikanische Form in den Pampashöhlen ihre Eier ohne alle
Nestbereitung auf den Boden lege. Die Naturgeschichte die-
ser interessanten Tageule kann jetzt als völlig aufgeklärt
gelten.
Alls der Literatur des Nihilismus.
Kritische Beleuchtung des Tschernyschefsky'schen Romans: „Was thun?" (^to
Von D. K. Schedo-Ferroti.
7.
Die Schilderung des höchsten GlUckes, das der „jetzt
lebenden Generation" aus der Annahme der Principien
des Herrn Tschernyschessky erblühen könnte, ist, wie ich
glaube nachgewiesen zu haben, keine verführerische; nun han-
delt es sich hier aber doch nur um eine bloße Uebergangs-
Periode, um einen temporären Zustand, und von dem könute
allenfalls angenommen werden, daß die Mitwelt darein Willi-
gen könnte, ihn zu ertragen, wenn ihr der Beweis geführt
wird, daß es dadurch der Nachwelt um so besser ergehen
müsse.
Auf diesen Beweis kommt Alles an, nnd um ihn zu sin-
den, hat der Autor den Muth und die Gewissenhaftigkeit ge-
habt, die gefährliche Klippe der praktischen Details, nicht,
gleich seinen Vorgängern im Fache der Weltreformen, vor-
sichtig zu umschiffen, sondern gerade darauf loszusteuern, in-
dem er uns sein „Schauen" offenbart, wie es ihm das Le-
ben und Treiben der „kommenden Generationen" ge-
zeigt, der Generationen, „bei denen seine Principien
nicht von wenigen Auserlesenen, sondern von Allen,
ohne Ausnahme, befolgt sein werden."
Das ist denn nun unbedingt ein prächtiges commodes Le-
ben, voll materieller Genüsse und ohne den leisesten Nach-
klang all der kleinen moralischen Unbilden, wie sie jetzt durch
Ehrgeiz, Egoismus und Eifersucht entstehen, ohne eine Spur
der Seelenleiden, wie sie jetzt durch Gewissensbisse oder Mut-
tersorgeu hervorgerufen werden, ohne eine Ahnung der
„Göue", wie sie jetzt durch die Gesetze über Mein und Dein
und andere veraltete Schrapen der armen Menschheit auf-
erlegt wird.
Kein Gesetz — folglich kein Verbrechen! — Kein
Richter, keine Polizei, keine Autorität; aber auch keine
Schwächen, keine Leidenschaften; und darum leben die Men-
schen so stillvergnügt und friedlich beisammen, daß im Ver-
gleich mit ihnen die Lämmlein auf den Wiesen recht bösartige
Wesen erscheinen, indem sie sich doch ab nnd zu mit den eben
aufkeimenden Hörnchen stoßen, was aber unter den Menschen
nach Herrn Tschernyschefsky'sWeltordnung durchaus nicht
vorkommen darf, weil es sonst nothwendig würde, Gesetze zu
schreiben, mit den Gesetzen aber kämen die Richter Wieder-
aus, und mit den Richtern eine Strafgewalt, und mit der
Strafgewalt eine Administration, eine Finanzverwaltung,
eine Polizei und wie all' die verjährten Einrichtungen heißen,
die der Grund des Uebels sind, das aus Erden herrscht.
In der idealen „absoluten Freiheit", in der sie leben,
handeln die Menschen des Herrn Tschernyschessky immer
D. K. Schedo-Ferroti: Aus
nur nach eigenem Gutdünken, es findet sich aber zuletzt, daß
Jeder gerade so gethan, wie es dem Gesammtinteresse am
heilsamsten ist, wofür denn auch Jeder seine Belohnung sin-
det im wachsenden Wohlstande aller Uebrigen. Sie arbeiten
„wenig" und ihre Arbeit ist eine „sehr leichte", da „fast
Alles" von Maschinen verrichtet wird, aber sie arbeiten
doch, weil es ihnen Spaß macht und „ihre Nerven stärkt
zu vollkommenem Genüsse". Immer nur die Freude
suchend, zieht „die ganze Bevölkerung" aus dem Norden
nach dem Süden, uud aus dem Süden nach dem Norden,
während die nachbleibenden Maschinen das Nöthige besorgen,
damit ihre Gärten gepflegt werden, und Alles in Ordnung ge-
halten wird bis zum fröhlichen Einzüge der Zurückkehrenden.
Der allgemeine Fortschritt ist wirklich ein bedeutender,
obgleich die Geographie und Geognosie etwas vernachlässigt
scheinen; denn wenn sie „so mächtige" Maschinen haben,
daß sie die Erde „von den Ufern der Ostsee" nach der
Krim hinüberführen, so wird, bei Ankunft des Trausportes,
ihre Ueberraschuug keine geringe sein, wenn sie bemerken, daß
die Ufer (Dünen) der Baltica statt des erwarteten Lehmes
nichts als Triebsand liefern. So triftig er mir scheint, ist
der Einwand, den ich hier wage, doch vielleicht ungegründet,
denn nach dem ganzen Zuschnitte des „Lebensbildes der
Zukunft" ist es nicht unmöglich, daß bis dahin der Trieb-
sand feine Natur verändert haben und zu Lehm geworden
sein wird, zumal überhaupt in der Natur merkliche Verän-
derungen vorgegangen sein müssen, da die Gesetze der Schwere,
der Cohäsionskrast uud des Luftdruckes von den gegenwärtig
bestehenden sichtlich abweichen.
Wenn man die Giebelhöhe der „alle bekannten Bau-
ten überragenden" Wohngebäude der Zukunft auf nur
150 Fuß, und deren Länge auf eine Werst (beides wie der
Louvre) annimmt, so würde das „Krystallsutteral" über
dem Gebäude mindestens 200 Fuß hoch und iy2 Werst im
Geviert sein müssen, was für die „auf Entfernung einer
halben Werst abstehenden dünnen Säulen" eine Höhe
von circa 300 Fuß, und für den Flächenraum, den sie ein-
nehmen, genau QX,U Quadratwerst ergeben müßte. Da eine
Werst 3500 Fuß oder 1750 Ellen mißt, so hat man, die
Leinwand zu 2 Ellen breit, 1,536,250 Ellen nöthig, um
1 Ouadratwerst zu bedecken, mithin hätten die 300 Fuß
hohen „sehr dünnen" Säulen eine Gesammtlast von
9,601,562 Ellen beständig genäßter Leinwand zu tragen,
was jedenfalls sehr gewagt scheint, selbst wenn man erfährt,
daß jene Säulen aus „geschmiedetem Alnmin" gemacht
sind, was ernste Bedenken erregen müßte, wenn man nicht
durch den Gedanken beruhigt wäre, daß durch den Fortschritt
des Menschengeschlechtes bis zum „Abschaffen aller Ge-
setze" wohl auch die Naturgesetze abgeschafft oder stark mo-
disicirt sein werden, so daß die Schwere verringert, die Co-
häsionskrast vergrößert und die Wirkung des Windes auf
große Leinwandflächen ganz aufgehoben sein könnte.
Hier sei mir gestattet, meiue kritische Darlegung einen
Augenblick zu unterbrechen, um einem Ausrufe Luft zu
machen, der schon lange hervor will: Warum in aller
Welt, wenn er nicht sonst ein schweres Verbrechen begangen,
warum hat man den unschädlichen Autor dieser nützlichen
Jugendschrift nach Sibirien verschickt? Doch wohl nicht gar
um des vorliegenden Buches willen, und wegen der gefähr-
lichen Principien, die er durch noch gefährlichere Locknn-
gen der Jugend genehm zu machen sucht? Das wäre wahr-
lich recht hart, denn was. auch die Absichten des Herrn
Tschernyschessky gewesen sein mögen: sein Buch hätte
doch wohl nicht anders als nach dem Schaden, den es an-
richten konnte, benrtheilt oder gar vernrtheilt werden sollen;
einen solchen Schaden aber, d. h. eine thatsächlich gegen die
der Literatur des Nihilismus. 231
Jugend ausgeübte Verführung kann ich mir durchaus nicht
vorstellen. Von irgend welchen Studenten gar nicht zu fpre-
chen, würde wohl ein etwas nachdenkender Gymnasiast oder
ein vorgeschrittener Kreisschüler nicht sosort das Sinnwidrige
in den Beschreibungen der Lebensweise der zukünftigen Men-
fchen Heraussinden? Gewiß, wenn man ihm Zeit läßt,
das Buch ruhig zu lesen und sich die Sache zu überlegen.
Vielleicht nicht, wenn er den Band heimlich, in größter
Eile oder wohl gar stückweise verschlingt, und aus den hin
und wieder ausgeschnappten Sätzen sich ein Ganzes zusam-
menstellt, das denn nachgerade nicht viel besser ist als das
Original, für das er aber in heiligem Eifer schwärmt, in-
dem er sich rühmt, ein Jünger des „großen Exilirten"
zu sein. Hiernach scheint mir, daß nicht das Buch gesähr-
lich war, Wohl aber dessen Censurverbot!
Doch kehren wir zur Beleuchtung des Tschernyschessky'-
fchen Romanes zurück.
Ich habe das Buch „eine nützliche Jugendschrist"
genannt, und halte dafür, daß die Bezeichnung eine richtige
ist. Um diese Behauptung zu rechtfertigen, will ich anneh-
men, daß von irgend einem literarischen Vereine ein Preis
ausgestellt worden für eine Schrift, die in der reifern Ju-
gend den Abfchen vor den sogenannten „plaisirs faciles"
erwecken soll, indem sie den Gegenstand in recht greller, ab-
schreckender Weise schildert.
Ob Herr Tschernyschessky sich mit Vorbedacht als
Concurrent gemeldet hätte, will ich dahingestellt sein lassen,
ich bin aber überzeugt, er hätte den Preis davongetragen
durch seine „verführerisch sein sollende" Beschreibung
der allabendlichen Tanzvereine seiner Zukunftsmenschen ^).
Und das soll ein gefährliches Buch sein!
Ein nützliches Buch ist es, ein hocherwünschtes Buch, ein
preiszukröueudes Buch, das aus unsere, zu politisch-
philosophischen Schwärmereien hinneigende Jugend die Wir-
kung eines Sturzbades machen muß, und das man des-
halb nicht genug empfehlen kann. Wie man auch über den
moralischen Werth unserer „Znkunfts-Literatur" denken
möge, Herr Tschernyschessky nimmt in ihr einen beson-
ders hervorragenden Platz ein. In jeder Zeile seines Bu-
ches sieht man, daß er nicht nach Effecten hascht durch Auf-
stelluug frappanter Paradoxen. Es ist ihm Ernst mit sei-
ner Lehre, und deshalb fühlt man sich bewogen, in seinem
Buche mit Ernst und Nachdenken weiter zu lesen, so seltsam
und schnurrig auch Manches darin klingt. Was er über
die Mängel der bestehenden gesellschaftlichen Zustände sagt,
ist Alles schon lange vor ihm gesagt worden und hat —
schon lauge vor ihm — auf viele Leser einen um so tiefern
Eindruck gemacht, als man ihnen immer nur demouftrirte,
was abgeschafft werden müßte, dabei aber sorgfältig ver-
mied, ihnen zu erklären, was an die Stelle des Abgeschaff-
ten treten könnte. Hier ist Herr Tschernyschessky seinen
Collegen wahrhaft überlegen. Er ist nicht auf halbem Wege
stehen geblieben; er hat den von ihm aufgefaßten Gedanken
der gesellschaftlichen Wiedergeburt vollkommen und bona fiele
durchgedacht, und ist zu dem bemerkenswerthen Resultate ge-
kommen, selbstüberzeugt und überzeugend sagen zu können:
Wenn die und die Principien allgemein angenommen wä-
ren, so würden die kommenden Geschlechter in solch uud
solcher Weise prosperireu.
Die streng mathematische Form dieser Beweisführung
hat etwas besonders Jmponirendes. Der Geometer verfährt
öfters eben fo; er nimmt einen zweifelhaften Vordersatz als
*) Wir müssen hier, obwohl ungern, aus Rücksichten, welche der
Herr Verfasser zu würdigen wissen wird, vierzehn Zeilen, die aller-
dings charakteristischen Inhalts sind, fortlassen, weil doch der eine
oder andere Leser Anstoß daran nehmen könnte. Red.
232 Karl Andree: Zur Kennzeil
gegeben an, führt ihn in einer Reihe logischer Folgerungen
bis zu seiner letzten Consequeuz durch und schließt aus der
Unznlassigkeit dieser letzten Consequeuz, daß der Bordersatz
ein falscher war. Man nennt das eine demonstratio ad
absurdum, nnd eine solche hat Herr Tschernyschessky
gegen seinen eigenen Bordersatz: die Lehre von der Abschaf-
fung der Gesetze und den freien Liebeswahlen, geliefert. Seine
letzte Consegnenz: das lammfromme Zusammenleben der
Menschen im Schlaraffenlands, ist handgreiflich absurd, und
wirft den Vordersatz mit unwiderlegbarer Klarheit um, wo-
durch sein Buch zur treffendsten Widerlegung seiner und sei-
ner Anhänger Grundideen wird.
Ich möchte nicht falsch verstanden oder gar von meinen
„intimen Feinden" als heimlicher Anhänger des Herrn
Tschernyschessky verschrien werden, kann aber doch nicht
umhin, den Wunsch auszudrücken, unsere hohen Censur- und
mng der Leute in Frankreich.
Scholarautoritäten beliebten das so verschrieene Buch noch-
mals mit aller Aufmerksamkeit zu lesen. Es ist eines der
lehrreichsten, die ich kenne, und wenn ich im hohen Rathe
unserer (— d. h. russischen —) Volkserziehung Sitz und
Stimme hätte, würde ich darauf antragen, nicht nur, daß das
Censnrverbot sofort ausgehoben, sondern daß das Buch, mit
anderen ähnlichen Producten gepaart, zum Gegenstande spe-
cieller Vorträge in unseren Gymnasien erhoben würde. Ob
dieser Vorschlag haltbar, mögen die geneigten Leser entscheiden.
Ist meine kritische Darlegung verständlich und überzeugend,
warum sollte unsere Jugend nicht einen Professor verstehen,
der zn ihr in demselben Sinne spräche; sobald sie ihn aber
versteht, muß ihr das „gefährliche Gift der Tscherny-
schefsky'schen Irrlehren" zum heilsamsten Gegengifte
werden, das sie aus immer vom Schwindel der politisch-
philosophischen Extase curirt.
Zur Kennzeichnung der Leute in Frankreich.
Von Karl Andree.
I.
Die Franzosen geben wieder einmal eine welthistorische
Gastrolle, und diesmal haben sie ein Fiasco gemacht, zu
welchem die Geschichte der Völker kein Nebenstück aufweist.
Sie gedachten ein gewaltiges Drama vor der Welt auszu-
führen, eine großartige Räubertragödie, welche alle fünf Erd-
theile in Staunen versetzen sollte; die grande Nation, mit
dem Imperator an der Spitze, vermaß sich', den Beweis zn
führen, daß sie vor allen anderen waffenmächtig fei, und
daß es nur ihr gebühre, in Europa das große Wort zu füh-
ren; sie wollte ihr „prestige" für alle Zeiten feststellen.
Keinem Franzosen kam es in den Sinn, daß dem Einen
recht, was dem Andern billig sei; sie selber wollten allein
gewaltig und stark dastehen und den Ton angeben, vor allen
Dingen aber fanden sie es unerträglich, daß Deutschland
nicht ferner zersplittert sein, sondern sich einheitlich gestalten und
seinerseits zu der ihm gebührenden Geltung bringen wollte.
Schon in dem bloßen Bestreben, diese Einheit anzubahnen,
sahen die Pariser Politiker ein „Verbrechen gegen Frankreich".
Der Krieg gegen uus war von langer Hand her beschlos-
feit; das Rheinland sollte für Frankreich , erobert werden, und
man brach den Vorwand zur Eröffnung der Feindseligkeiten
in höchst frivoler Weise vom Zaune. Mit Strömen Blutes
sollte der Thron des Napoleoniden recht fest gekittet werden,
und kein Zweifel, das Volk würde für längere Zeit nicht
mehr au demselben gerüttelt haben, wenn der Raubkrieg den
Hoffnungen der Franzosen entsprochen hätte. Aber der Im-
perator zog nicht mit Lorbeeren bedeckt in seine Hauptstadt
ein, sondern in die Gefangenschaft nach Deutschland, mit
Schimpf und Schande beladen; die „herrlichste und tapferste
Armee der Welt, au deren Adler der Ruhm gebannt ist,"
wurde in nie zuvor erhörter Weise unablässig aufs Haupt
geschlagen, vernichtet, gefangen, und die „modernen Hunnen
nnd Avaren" zogen in das „heilige Paris, in das Centrum
des Weltalls", triumphireud ein, — zum dritten Mal im
Lause dieses Jahrhunderts. Das war dieGloire, welche die
Franzosen erwarben *).
*) Ou le pere a passe, passera bientot l'enfant, rief Alfred
Der erste Act des Dramas mit seinen soldati-
schen Spectakelscenen wurde aus das Allerkläglichste ab-
gespielt. Nicht ein einziger Darsteller war seiner Rolle ge-
wachsen; sie sind alle ohne Ausnahme armselig durchgefallen.
Wenn man die vermessenen Reden und die prahlerischen
Phrasen dieser „Sieger in so vielen Schlachten" vernahm,
dann erinnerte man sich unwillkürlich an den Hauptmann
Pyrgopolynikes, der in dem Miles gloriosus des Plautus
so windige Aufschneidereien zum Besten giebt. Die Führer
der Armee zeigten sich ohne kriegerische Tüchtigkeit; auch die
am meisten gepriesenen entsprachen nicht einmal bescheidenen
Erwartungen, nnd die Soldateska, welche aus couscribirteu
und geworbenen Leuten, aus „Stiefkindern des Glücks", be-
stand, war ohne jegliche Zucht. Sie wurde allemal, wo sie
dem deutschen Kriegsheere gegenüberstand, niedergeworfen
und hat in einem der blutigsten Kämpfe, welche je geführt
worden sind, auch nicht einen einzigen Sieg aufzuweisen.
Sie wurden gedemüthigt, diese Franzosen; sie haben es
nicht anders gewollt und. nichts Besseres verdient. Keine
einzige Stimme erhob sich unter ihnen, um zu sagen, daß
der Krieg, welchen Frankreich herausbeschworen, ein uuge-
rechter sei. Dem gairzen Volke ist der gesunde Menschen-
verstand fremd geworden. Als die Deutschen sich erlaubten,
auf dem „heiligen" Boden Frankreichs die französischen Heere
zu schlagen und zu vernichten, schrie man nach „Rache" ge-
gen die Räuber und nach „Revanche". Man war frech
inmitten des Schimpfes und der Ohnmacht *).
Neben dem kriegerischen Drama spielt ein Jntriguen-
stück, in welchem die sogenannten Staatsmänner gleichfalls
de Müsset schon 1840, als es gleichfalls hieß: ä Berlin! und
unsere Wehrmänner gingen — nach Paris.
*) Die nachfolgenden Verse, welche ich im Londoner „Athenäum"
fand, kennzeichnen diese klägliche Renommisterei:
Aux armes!
Sous le nombre ils ont succombes,
Invaincus. Deuile, mais esperance!
Chacun, noir de poudre, est tombe
En repetant: Vive. la France!
I
Karl Andree: Zur Kennzeic
ihre gänzliche Unfähigkeit in einer wahrhaft jämmerlichen
Weise bis auf den heutigen Tag zur Schau gestellt haben.
Die Geschichte zeigt, daß in gewaltigen Krisen, bei denen
ein Land und ein Volk von Grund aus aufgewühlt wird,
kräftige Charaktere auftreten, Männer sich erheben, denen
ein dämonisches Pathos innewohnt, ungewöhnliche Erschei-
nungen, welche fesseln und Furcht, Achtung, Bewunderung
oder Abscheu einflößen. Die erste französische Revolution
hatte ihren Mirabeau und Danton, Robespierre und Ma-
rat, — die heutigen Franzosen haben auch nicht einen
Menschen aufzuweisen, der außerhalb der platten Gewöhn-
lichkeit stände. Erst erklärte das Gassenpnblicnm den Ge-
sangenen von Sedan des Thrones sür verlustig und beschimpfte
ihn, nachdem er gefallen war, in pöbelhafter Weise. Von
Seiten der Volksvertreter geschah dasselbe. Die Republik
war 1870 wie 1848 ein improvistrtes Product der Straße.
Man hörte wieder überall die sinnlose Floskel: Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit, und verübte im Namen derselben
die wildeste Barbarei, indem man die Deutschen vertrieb.
Während jeder Franzos in jedem andern Franzosen einen
Verräther sah, galt jeder Deutsche für einen preußischen
Spion.
Das war die Brüderlichkeit. Die Gleichheit besteht darin,
daß mmn ruft: ä bas les riches! Nieder mit denen, welche
Habe besitzen; die Freiheit wird von den Gewalthabern in
der Praxis dadurch bethätigt, daß man Zeitungen unterdrückt,
welche Anwandlungen von Menschenverstand verspüren; daß
man Leute einkerkert, die andere Ansichten aussprechen als
solche, die den Machthabern genehm sind; daß man Privat-
eigenthnm plündert, die Geistlichen einkerkert und die Kirchen
beraubt. Man ermordete feig Generäle, verstümmelte ihre
Leichen und erklärte hinterher amtlich: „das Pariser Volk
ist bewundernswürdig, es ist großmüthig und hochherzig."
Schon im November verlangte Blanqui folgende Maß-
regeln, „welche allein die Republik retten können." Alle
Kirchen müssen in Getreidemagazine oder in Locale für patrio-
tische Clubs und revolutionäre Zwecke umgewandelt werden.
In den Lazarethen darf kein Priester geduldet werden. Alle
Priester sind festzunehmen, zu bewaffnen und ins Feuer zu
schicken; dort stellt man sie vor die Patrioten an die gefähr-
lichsten Stellen. Auf solche Weise können sie sich nützlich
machen; sie mögen Märtyrer werden und in ihren Himmel
Iis seront venges, nos soldafs
L'heure nait des grandes batailles,
C'est a nous, c'est ä nous, lä bas
A leur faire des funerailles.
Debout, debout!
Du sang et non des l'armes,
France, de l'un ä l'autre bout
Aux armes!
Daneben lief die leichtfertigste Frivolität her. Im Barracken-
lager zu Dresden, wo man eine wahre Musterkarte französischer Sol-
daten beobachten konnte, von der afrikanischen Bestie bis sum stutzer-
haften Moblot, ließ ich mir von einem der letzteren daZ Schnupf-
tabackseouplet vorsingen. Die Mobilgarde hatte man, als die
Chassepots zu Hunderttausenden in deutsche Hände gefallen waren,
mit Gewehren bewaffnet, deren Schlösser Tabacksdosen glichen; sie
waren aus alten Vorderladern hergestellt worden und heißen fusils
ä tabatiere. Nun sangen die Moblots: —
J'ai du bon tabac
Dans ma tabatiere,
J'ai du bon tabac
La Prusse en aura.
J'en ai du bon et du rape,
Bismarck, ce sera pour ton fichu nez.
Ich sagte meinem Moblot, das Alles sei eingetroffen, denn die
Preußen hätten nicht nur die Regiemagazine geleert, sondern Hunderte
von Eisenbahnwagen, die mit Taback für die französischen Soldaten
beladen waren, erobert. — „C'est vrai, Monsieur; sie haben ihn
allerdings billig genug bekommen."
Globus XIX. Nr. 15. (Mai 1871.)
nung der Leute in Frankreich. 233
kommen. An den glauben wir nicht; deshalb sollen sie
vor uns sterben, den Familienvätern als Panzer dienen.
Dann sind sie doch wenigstens ein Mal zu etwas gut ge-
wesen. — Blanqui sagt weiter: Die Hauptsache sind die
Barricaden. Jeder Bürger ist verpflichtet, nur bewaffnet
auszugehen; Revolver, Dolch, Bayonnet, — Alles ist gut.
Alle Lebensmittel müssen der Commune ausgeantwortet wer-
den, damit Jeder seinen Antheil erhalte. Wer die Stellen
kennt, an denen Gold oder Silber verborgen worden ist, hat
dieselben sofort der Maine anzuzeigen. An jeder Hausthür
soll eine Tafel angebracht sein, auf welcher Namen, Alter
und Stand aller Bewohner angegeben steht.
Als die Ruthe des Imperators zerbrochen war, nicht durch
die Franzosen, sondern durch die deutschen Wehrmänner, tau-
melten jene flugs wieder in eine Dictatur hinein, welcher
ein komödiantischer Aufputz nicht fehlte. Das Land hatte
Vertreter gewählt, die in weit überwiegender Mehrzahl mon-
archische Gesinnungen hegen und von dem Gaukelspiel einer
Republik nichts wissen mögen. Aber sie hantierten in Tours
wie in Bordeaux und Versailles im Namen der Republik,
und Monate lang zwang ein Phrasenheld und systematischer
Lügner, der Advocat Gambetta, dem unglücklichen Volke
seinen Willen auf. Nicht weniger als 57 Advocaten schickte
er als Proconsnln in die Provinzen, und die Regierung des
Augenblicks und der Verlegenheit bestand sowohl innerhalb
der Hauptstadt wie in Bordeaux aus Advocaten.
Die Erfahrung lehrt, daß es für kein Land ein Segen
ist, wenn die Advocaten in ungebührlicher Menge als Poli-
tiker das große Wort in Volksvertretung und Regierung
führen. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika liefern
den Beweis, wie sehr eine Republik dadurch zu Schaden
kommt. Keine andere Classe hat eine so große Neigung,
die Politik als Beruf und als Nahruugsquelle, als Stufe
zum Emporkommen auszubeuten, als jene der Advocaten.
Durch sie vorzugsweise ist jener transatlantische Staaten-
bund durch und durch corrumpirt worden; als Handwerks-
Politiker führen sie in den Gesetzgebungen der einzelnen Staa-
ten wie im Congresse das große Wort; sie liefern die meisten
Lobby-Agenten, welche mit den Volksvertretern unterhandeln,
um „Jobs" durchzusetzen, welche ihren Auftraggebern pecn-
niären Vortheil, dem Volke aber Schaden bringen.
Frankreich leidet schon längst schwer unter dem Treiben
dieser politisirenden Advocaten. Als in den Zeiten Ludwig
Philipp's die Mauguin , Odilon Barrot und viele An-
dere das große Wort führten, wie in diesen Tagen die Ol-
livier, Gambetta, Cremieux, Favre !c., schrieb Cor-
menin folgende Worte, die ich hersetzen will, weil sie wun-
derbar klappen und auf die gegenwärtigen Verhältnisse passen.
Nicht bloß die Dichter, auch die Satiriker treffen zuweilen
die Wahrheit im Voraus.
Alfo Timon-Cormenin schrieb (es wird um das Jahr
1838 bis 1840 gewesen sein; ich finde in meinen Excerpten
das Jahr nicht angemerkt): „Frankreich ist ein Land, das
wesentlich durch die Einbildungskrast beherrscht wird;
diese schlägt überall vor und beherrscht die Geister."
„Die Franzosen springen mit leichtsertigerVer-
geßlichkeit von einem Systeme zum andern."
„Die Nation ist etourdie, eilet a besoin d'etre occu-
pee, d'etre eblouie par le spectacle des grandes cho-
ses," zu deutsch: sie ist unbesonnen und leichtfertig, will
immer etwas Neues um die Hand haben, Dinge treiben, die
starken Eindruck machen und blenden."
„Und nun die Advocaten! Ohne Acten und vier-
eckige Mütze bei Seite zu legen, feuern sie Kanonen ab,
schicken Flotten in See, öffnen Depeschen, senden Couriere
aus und setzen Generäle, Gesandte, Könige auf die Anklage-
30
234 Karl Andree: Zur Kennzeil
bank. Der Advocat hält Reden, leitet diplomatische Unter-
Handlungen, führt Kriege; er regiert, er verwaltet, er macht
und treibt Alles, — et rien ne se fait, und doch geschieht
nichts." —
Neben dem Jutrigueufpiel in Versailles, wo man eine
Herstellung der Monarchie ersehnt und betreibt, wird in
Paris die „demokratische, sociale und allgemeine Republik"
verkündigt und vertheidigt. Es ist ein wildes, in hohem
Grade widerwärtiges Treiben, bis jetzt noch ohne Guillotine,
an deren Stelle theilweise der Meuchelmord getreten ist, mit
Einkerkerungen und Plünderungen, mit einem Willkürregi-
ment der schlimmsten Art. Es ist ein Chaos von Gewalt-
that und Lügen, von Blnt und Phrasen sinnloser Art, von
Schwäche und Brutalität. Die betrunkenen Männer und
ihre in Megären verwandelten Weiber proclamiren den
„Schrecken", sie erklären das „Erbrecht für abgeschafft" und
verkündigen die „Liquidirung des Eigenthums". Darin be-
steht ihre Auffassung von der Republik; wer dieselbe nicht
theilt, ist ein „Verräther". „Die Monarchisten in Ver-
sailles müssen ausgerottet, sie sollen vernichtet wer-
den!" Von Versailles aus sagt man den Pariser Gewalt-
habern und ihren Anhängern buchstäblich: Ihr seid Rebellen
und Raubgesindel, Briganten und Banditen, ein durch und
durch demoralisirter Pöbel. Mit so zuchtlosen, völlig ver-
wilderten Banden ist keine Republik möglich. Ihr watet
in eiuem Ungeheuern Moraste von Schmutz und Blut, aus
welchem verpestende Dünste emporqualmen. Ihr seid blnt-
besudelte, rebellirende Possenreißer, nichts weiter als klägliche
Carricatnren der Revolutionsmänner von 1793; Ihr spielt
Jakobiner, aber das Schicksal, welches vor achtzig Jahren
jene ereilte', wird sich auch an Euch erfüllen. Ihr seid ein
durch Wein und Branntwein berauschtes Gesindel von Mü-
ßiggängern; Ihr zehrt, mit Euren 30 Sons Löhnung täg-
lich, vom Marke des Volkes, das Euch verabscheut. Eure
Republik ist gleichbedeutend mit Anarchie und Raub, mit
Schandthaten und Zügellosigkeit aller Art. Ihr seid Feinde
der menschlichen Gesellschaft! — So sprechen Franzosen
über Franzosen.
Die Communisten entgegnen: Ihr seid Feinde des Va-
terlandes, Verräther an der Freiheit, feige Meuchelmörder,
blutgierige Monarchisten. Sind die Führer der Soldaten
und der Gendarmen, durch welche Ihr Paris bombardiren
und die treuen Söhne der Republik niedermetzeln laßt, nicht
dieselben Menschen, welche die gefügigen Werkzeuge des ver-
triebenen Tyrannen waren? Wollt Ihr nicht Paris aus-
hungern? Treibt Ihr es nicht ärger als die Prufsiens?
Diese waren Fremde und Feinde, Ihr aber wollt Fran-
zosen sein; Ihr maßt Euch einen Namen an, dessen Ihr
unwürdig seid! —
So fliegen die Recriminationen hinüber und herüber,
während Tag und Nacht die Geschütze dröhnen und der offene
Bürgerkrieg in seiner schrecklichsten Gestalt wüthet. Ganz
Frankreich ist durch Parteien und Factionen zerrissen und
zerrüttet; nicht einmal die furchtbaren Niederlagen und De-
müthignngen, die Besetzung eines großen Theils der Pro-
vinzen durch die Deutschen, der allgemeine moralische und
politische Bankerott, die Auflösung aller Bande der Ordnung
haben diese Menschen zur Vernunft bringen können. Sie
taumeln in Versailles wie in Paris hin und her in dem
chaotischen Abgrunde, welchen sie sich selbst geschaffen haben;
die Zukunft schwebt in der Luft; Niemand weiß, was wer-
den kann oder kommen wird. Die „Republik" ist schon
deshalb nicht möglich, weil es an Menschen fehlt, welche ge-
eignet wären, rechtschaffene Republikaner zu sein. In dem
Lande des allgemeinen Stimmrechts hat die ungeheure Mehr-
heit der Wähler sich gegen dieselbe erklärt; aber die Pariser
lung der Leute in Frankreich.
wollen das Ergebniß dieses allgemeinen Stimmrechts nicht
anerkennen und erklären, daß sie sich dem Willen des nnwis-
senden und von Pfaffen und Monarchisten beeinflußten
Bauernvolkes („oes rustres") nicht unterwerfen wollen. Das
allgemeine Stimmrecht ist ungültig, wenn es gegen die
Pariser Demagogen und Communisten ausfällt. Die Mon-
archie wird einmal schwere Tage haben, denn Alles ist in
Auflösung, zerklüftet und die anarchische Znchtlosigkeit
in den Geistern ganz allgemein.
Im Sommer 1868 sagte mir ein hervorragender Ge-
lehrter aus Paris, mit welchem ich am Rhein verkehrte, ein
Wort, das zutrifft. Wir unterhielten uns über die franzö-
fischen Zustände und er ging offen mit der Sprache heraus.
Nachdem er die grauenhafte Corruption unter der Napoleoni-
schen Wirtschaft geschildert, und beklagt hatte, daß das Volk
gleichsam vierspännig in dieselbe hineingerannt sei, äußerte
er wörtlich: „Wir haben alles Mögliche versucht
und sind mitAllem gescheitert. Bei uns ist eigent-
lich nichts mehr möglich und nichts unmöglich. Am
schlimmsten aber bleibt, daß wir, stets aus das Un-
gewisse und den Zufall angewiesen, den Glauben
an uns selbst verlieren müssen."
Während die Versailler Regierung Napoleonische Mar-
schälle an die Spitze ihrer Soldaten stellt, weil alle anderen
Generäle noch unfähiger sind als diese, spielen in Paris
fremde Abenteurer eine einflußreiche Rolle. Kein Wunder,
nachdem man schon während des Krieges nicht bloß afrika-
nische Bestien verwandt hatte, fondern auch Landsknechte der
allgemeinen Revolution, die aus den Abruzzeu, den Pyre-
näen, von der Weichsel, vom Shannon, kurz aus aller Her-
reu Länder herbeikamen. Der Alte von der Ziegeninsel
befehligte eine Armee, doch in Bordeaux wurde er zum Danke
verächtlich behandelt und zum fbu und polisson degradirt.
Er hat eine klägliche Rolle gefpielt und der Mann wie der
Name Garibaldi ist zum allgemeinen Gespött geworden.
Der alte Graf Schlabrendorf schrieb: „Der Pole
tanzt, wo es angeht, nnd rauft, wo er kann." So fehlen
auch jetzt bei dem wilden Hexensabbath polnische Abenteurer
nicht, die Dombrowski und Okolowitz, welche als Ge-
neräle die Nationalgarden zum Kampfe führen, weil die
französischen Oberoffiziere entweder unfähig oder „Verräther"
sind. Dazu kommt eiu Halbamerikaner, Clus er et. Unter
ihren Fahnen schaaren sich neben ehemaligen Insassen der
Zuchthäuser Tausende von Handwerksrevolutionären der In-
ternationale, welche die allgemeine Menschheitsrepublik
nebst manchen anderen tollen Utopien verwirklichen möchte;
sie liefert überall hin den Sauerteig der Unordnung und
Anarchie.
Ueberblickt man die schauderhafte Auflösung, welcher die
Leute und die Dinge in Frankreich anheimgefallen sind, dann
empfindet man eine gewisse Beklemmung, doch kein Bedauern,
kein Mitleid. Der Hochmuth mit einer geradezu wahuwitzi-
gen Verblendung und Selbsterhebung kam vor dem Fall,
und jetzt liegen sie in schmachvoller Agonie am Boden; sie
winden sich in wilder Verzweiflung und Ohnmacht, aber der
hohlen, ruhmredigen Phrase und der frechen Lüge haben sie
auch jetzt noch nicht abgesagt. Sie drehen sich in einem
verhexten Kreise herum, aus welchem sie keinen Ausgang
finden können. So rasch und so tief ist noch kein Volk von
seiner Höhe herabgesunken. Die fürchterliche Krifis,
von der sie heimgesucht werden, hat, wie schon gesagt,
auch nicht einen einzigen hervorragenden Charak-
ter ans Licht gebracht; die geistige Armuth und Oede ist
allgemein; die Fäuluiß hat alle Classen durchmessen; sie
sind gründlich abgewirtschaftet und innerlich verwildert; nicht
einmal der äußere Schliff, welcher Unkundige über die innere
Karl Andree: Zur Kennzeil
Haltlosigkeit so lange getäuscht hat, wird bewahrt. Und bei
dem Allen täuschen sie sich noch immer über sich selbst und
der ruhmredige Bombast will kein Ende nehmen! Und wenn
da und dort ein „Schrei der Verzweiflung" ausgestoßen
wird, so ist er nicht das Erzengniß von Selbstprüfung und
Selbsterkenntniß, sondern des verwundeten Hochmuthes.
„Wir sind nicht länger Franzosen! Unsere Soldaten
sind schon daran gewöhnt, sich gefangen nehmen zu lassen;
unsere Heere capitnliren; unsere Generäle haben das Siegen
vergessen und verlernt. Nein, wir sind keine Franzosen mehr.
Bei Paris nimmt ein ganzes Regiment vor dem Feinde reiß-
aus, ohne auch nur einen einzigen Schuß abgefeuert zu haben.
Was thaten bei Orleans unsere Soldaten, welche für die
besten in der Welt gehalten wurden? Sie liefen in wilder
Flucht davon; nur die Mobilen und die Freiwilligen aus
dem Westen gaben ein gutes Beispiel; das aber wurde nicht
befolgt. Unsere Offiziere vernachlässigen das Studium der
Kriegskunst, folglich verstehen sie auch nichts vom Kriege.
Unser militärisches Prestige ist dahin! Wir sind herab-
gesunken zu einem Volke von Schwätzern, Syba-
riten und Redenhaltern; wir machen Demonstrationen
in den Theatern und auf öffentlichen Plätzen, beschließen
Abänderungen in der Regierungsform, machen uns gegen-
fettig schlecht, Einer würdigt den Andern herab; wir sind
uneinig, obwohl uns der Feind den Säbel an die Kehle ge-
setzt hat. Wir sind heute eben so wenig Franzosen, wie die
Griechen Hellenen waren zur Zeit des Macedoniers Philipp,
oder die Römer noch Römer, als die Gothen über sie her-
einbrachen. Die heutigen Macedouier werden mit uns um-
springen, wie vormals Philipp und Alexander mit den Grie-
chen, wie Alarich mit Rom, wie die Türken mit Konstanti-
nopel. Wir werden nicht nur die Einheit Deutschlands
vollenden und feststellen, sondern auch Europa unter den
Einfluß der Deutschen bringen, ohne uns, uns zumTrotz
und zu unferm Schaden!" („La France" vom22.Oc-
tober 1370.)
Die Franzosen haben im Verlauf ihrer Geschichte mehr-
mals ihre Staatseinrichtungen völlig über den Haufen ge-
worfen und ihre eigenen Fundamentalgefetze radical verneint.
Sie sind dabei allemal von einem Extrem ins andere über-
gesprungen. Sie hatten das Feudalwesen glänzend aus-
gebildet, das Mönchswesen weitgreifend gestaltet, an den
Kreuzzügen den lebhaftesten Antheil genommen. Aber es ist
das Frankreich Ludwig Capet's gewesen, welches die härtesten
Schläge gegen den Feudalismus führte und alle politische
Macht des Adels brach; Ludwig der Vierzehnte und Cardinal
Richelieu führten den absolutistischen Polizeistaat ein. In
dem Lande des heiligen Ludwig war es König Franz der
Erste, welcher mit dem türkischen Sultan ein Bündniß gegen
christliche Staaten schloß. Frankreich hatte den heiligen
Bernhard und warf doch zuerst das Möuchswesen nieder.
Der monarchisch-absolutistische Polizeistaat wurde von der
ersten Revolution hinweggefegt und durch eine „Republik"
ersetzt, welche Freiheit und Gleichheit verkündete, aber nichts
Anderes war, als ein demokratischer Absolutismus. Diesem
folgte der soldatische Absolutismus des ersten Napoleon, dann
der Scheinconstitutionalismus unter den Königen der beiden
bourbonischen Linien, die ephemere zweite Republik, das ephe-
mere zweite Kaiserreich, und nun sehen wir die dritte Repu-
blik inmitten des Bürgerkrieges, zweigeteilt, in Versailles
als Nationalversammlung und in Paris als Commune,
welche den Staat verneint und an die Stelle desselben
Tausende von Mnnicipalitäten setzen möchte , die, souverain
und selbständig, von einander unabhängig sein sollen.
Hier haben wir abermals einen jähen Sprung
aus einem Extrem ins andere, der sich aus der ethni-
rnng der Leute in Frankreich. 235
schen Eigenartigkeit der Franzosen erklärt. Einer mehr als
byzantinischen Bnreaukrateuwirthschaft, die Alles bevormuu-
det, und einer knebelnden Centralisation stellt man
eine atomistische Zersplitterung entgegen, eine
Verneinung des Staatsverbandes.
Seit der ersten Revolution hat keine der nach einander
folgenden Regierungen die straffen Baude der Centralisirnng
gelockert, vielmehr ist jede derselben bestrebt gewesen, dieselben
noch fester anzuziehen. Viele verständige Leute haben auf
die grundverderblichen Wirkungen derselben hingewiesen, aber
stets vergeblich. Es konnte nicht ausbleiben und blieb auch
nicht aus, daß sich in einem solchen Staatskörper alles Blut
im Kopfe concentrirte. War dort ein wunderlicher Gedanke,
ein Schmerz, ein Delirium vorhanden, flugs mußte der ganze
Leib an demselben theilnehmen. Die Glieder sind nichts,
die Hauptstadt war Alles, und sie fühlte sich in ihrer Eitel-
keit geschmeichelt, daß sie Alles war. Die französische Na-
tion, das zeigt sich jetzt wieder, ist willenlos, und unfähig
sich selber zu bestimmen. Das etwa 500,000 Köpse zäh-
lende Beamtenthum drückte alles selbständige Leben nieder;
von oben herab und die vielfach abgestufte Bureaukratie hin-
durch wurde Alles, bis in das Kleinste hinein, bevormundet
und reglementirt; auch die Gemeinden hatten nicht den aller-
geringsten Spielraum zu freier Thätigkeit; sie durften sich
nicht selbst bestimmen und nicht das allerbescheidenste Maß
von Selbstverwaltung war ihnen vergönnt. Jedes Recht,
ihre Interessen selbst nach ihrem eigenen Dafürhalten wahr-
znnehmen, blieb und bleibt ihnen versagt. Sie fügten sich;
nun aber die schwere Krisis gekommen und das System der
Centralisation, wie alles Andere in Frankreich, bankbrüchig
geworden ist, braust eine wilde Sturmsluth herein und durch-
bricht alle Dämme. Es zeigt sich wieder einmal, wie elend
und schwach in Tagen großer Gefahr eine an mechanisches
Gehorchen von oben, an brutales Befehlen nach unten ge-
wöhnte Bureaukratie ist; sie erscheint rathlos und platter-
dings unfähig, einen conservativen Mauerbrecher gegen die
Demagogie zu bilden. Sobald diese in einem solchen Staate
einmal obenauf kommt, kann sie sofort ungehindert in souve-
raiuer Weise schalten, und sie thut es in irrationaler Weise.
Wie sollte sie auch anders können, da sie nicht gelernt hatte,
sich in kleinerm Kreise selbst zu bestimmen, Politisch mündig
zu werden und da, wo die Notwendigkeit es erfordert, sich,
im Juteresse der Freiheit des Ganzen, selber zu beschränken?
In Frankreich aber geht die Bevormundung der Gemeinden
bis ins Kleinlichste und bis zum Absurden, und der Mensch
ist nur ein Object zum Administriren. Wenn eine Gemeinde
aus ihrer eigenen Casse etwa ein Spritzenhaus bauen oder
ausbessern will, dann hat ihr Gesuch um Erlaubuiß unter-
endlosen Schreibereien mehr als zwanzig verschiedene Behör-
den zu durchlaufen, deren eine immer vorhanden ist, um die
anderen zu controliren. Bei einem solchen Mechanismus
wird sie in vollständiger Unmündigkeit und Abhängigkeit ge-
halten, und wenn es einmal darauf ankommt, weiß sie sich
nicht zu helfen und nicht zu rathen. Ein Theil solcher ad-
ministrirten Objecte verkümmert, der andere geht, sobald er
dem Druck und Zwang enthoben ist, aus Rand und Band,
schießt weit über das Ziel hinaus und verfällt in ein äußer-
stes Extrem.
Wir sehen das letztere an der Pariser Commune. Am
19. April 1871 hat sie in einer amtlichen Erklärung ver-
kündigt, was sie wolle und erstrebe. Der Inhalt dieser Pro-
clamation ist zum Theil ganz verständig; die Gemeinde soll
der bisher aus ihr lastenden Bevormundung enthoben wer-
den und sich selber bestimmen. Man verlangt, was z. B.
in Belgien, Holland, Deutschland, England, in der Schweiz :c.
längst vorhanden ist, Commnnaleinrichtnngen, bei welchen
'236 Karl Andree: Zur Kennzeil
die Gemeindebürger ihre eigenen Angelegenheiten besorgen,
also die Finanzverhältnisse der Commune, die Umlage der
Abgaben, die städtische Verwaltung Überhaupt, die Gemeinde-
Polizei; sie sollen ihre Gemeindevertreter wählen, für das
Schulwesen sorgen, ihre Beamten controliren, und den BUr-
gern soll es unbenommen bleiben, ihre Gemeindeinteressen
in der Presse und in^berathenden Versammlungen "zu erörtern.
Das sind Dinge, die sich Uberall von selber verstehen,
die aber in Frankreich, wo jede Gemeinde eine willenlose
Sklavin der Centralisation und der Bnreankratie ist, noch
nicht vorhanden sind.
„Aber das Programm beschränkt sich nicht auf die For-
derung, die Gemeindeverwaltung selbständig zu machen. Es
verlangt absolute Souveränetät für jede Gemeinde
und macht dadurch den Staat unmöglich. Es ver-
liert sich in hochtönenden Redensarten folgender Art: Paris
leidet für ganz Frankreich; es hat aber durch seine Kämpfe
eine geistige, sittliche, administrative und wirtschaftliche Wie-
dergeburt (— die staatliche wird absichtlich außer Acht ge-
lassen; es wird weiter unten gezeigt werden, weshalb —),
es hat Ruhm nnd Wohlfahrt vorbereitet. Es verlangt die
Anerkennung und Befestigung der Republik; jede einzelne
Gemeinde in Frankreich soll absolut unabhängig sein;
dadurch soll ihr die Unantastbarkeit ihrer Rechte und da-
mit jedem Franzosen die volle Ausübung seiner Fähigkeiten
und Anlagen als Mensch, Bürger und Prodncenten gewähr-
leistet werden. Die Unabhängigkeit der Commune
hat keine andere Begrenzung als ihre Rechte. Die
Unabhängigkeit ist die gleiche für alle Gemeinden, welche sich
dem Bertrag anschließen, vermittelst dessen die Einheit Frank-
reichs gesichert werden soll. Zur Verteidigung und Aus-
rechthaltung der Ordnung ist ausschließlich die Nationalgarde
vorhanden, welche ihre Vorsteher wählt. Die Centralver-
waltung ist in Paris und besteht aus Bevollmächtigten der
söderirten Gemeinden; Paris aber behält sich, zu Gunsten
seiner Unabhängigkeit und indem es von der Freiheit seiner
Bewegung Nutzen zieht, auch die Freiheit vor, mit admini-
strativen und ökonomischen Reformen vorzugehen, welche
das Volk verlangt, und Einrichtungen zu treffen, welche ge-
eignet sind, die Erziehung zu entwickeln und zu fördern.
Productiou, Austausch und Credit müssen die Gewalt und
das Eigenthum uuiversalisiren, je nach den Bedürs-
nissen des Augenblicks, nach den Wünschen derer, welche dabei
ein Interesse haben, und gemäß den Daten, welche die Er-
fahrung liefert."
Man sieht, der eine Theil des Programmes ist com-
mnnalistisch, der andere communistifch. Um die eigent-
lichen Ziele zu verhüllen, wird dann noch Folgendes bei-
gefügt:
„Paris will nicht die durch die Revolution geschaffene
Einheit Frankreichs zerstören. Aber jene Einheit, welche
uns bis jetzt anserlegt wurde durch das Kaiserreich, die Mon-
archie und die parlamentarische Regierung, ist nichts weiter
als Centralisation; sie ist despotisch, unvernünftig, Willkür-
lich und eine drückende Last. Die politische Einheit, welche
Paris verlangt, ist eine freiwillige Vereinigung jeder localen
Initiative, das freie und freiwillige Zusammenwirken aller
individuellen Energien zu dem gemeinsamen Zwecke der
Wohlfahrt, der Freiheit und Sicherheit Aller. Die vom
Volke am 18. März begonnene Commuualrevolutiou be-
gründet eine neue, zugleich experimentale, positive und wis-
senschaftliche Aera in der Politik. Sie war das Ende der
alten officiellen und clericaleu Welt militärischer und bnreau-
kratischer Obergewalt, betrügerischer Monopole und Privi-
legien, wodurch das Proletariat versklavt wurde und das
Land in Schaden und Unglück gerieth." —
mng der Leute in Frankreich.
Fassen wir den Sinn des an inneren Widersprüchen rei-
chen Programmes zusammen, so springt Folgendes heraus:
Die Republik soll „confolibirt" werden, auch wenn neun
Zehntel der Gemeinden sie nicht wollen. Wenn jede Ge-
meinde absolut unabhängig und souverän ist, so kann sie
kraft dieser unbedingten Unabhängigkeit auch thun und trei-
ben oder anordnen, was ihr beliebt; sie kann z. B. die Nie-
derlassuug jedes nicht in der Commune Geborenen verbie-
ten; sie kann, falls sie von ihrem Geistlichen beeinflußt wird,
die Ausübung eines andern Cnltns als dessen der Gemeinde-
religio» untersagen; sie kann den Durchreisenden Abgaben
auferlegen, die durch ihr Gebiet führenden Straßen sperren;
sie kann die Ausfuhr von Getreide :c. verwehren, und Nie-
mand darf ihr, da sie unabhängig ist, etwas darein reden.
Ob sie sich mit anderen Gemeinden föderiren will, das ist
ihre Sache. Es können sich dreißig, hundert, fünfhundert,
tausend oder mehr souveräner Gemeinden verbünden, im Ge-
gensatz gegen beliebige andere Föderationen, clericale gegen
commnnistische, bäuerliche gegen städtische. Jeder Antago-
nismns kann sich nach Belieben geltend machen. Wie unter
solchen Umständen und Möglichkeiten die von der Pariser
Commune betonte „Einheit Frankreichs" aufrecht erhalten
werden könne, und obendrein bei einem innerlich fo zerrütte-
ten Volke, das begreife, wer kann.
Der Hintergedanke ist, daß nach wie vor Paris Herr-
schend bleiben folle, als „Citadelle der gesellschaftlichen Re-
volution". Was das Programm der Commune nicht offen
ausspricht, das sagt ein Blatt, „La Revolution politique et
sociale" (vom 20. April), mit dürren Worten: „Man
rede nichts mehr vom Vaterlande! Lang lebe die
Menschheit! Vaterland, — das ist lediglich ein Name,
ist ein Jrrthnm. Die Menschheit, — sie ist eine Thai-
sache, eine Wahrheit. Frankreich ist todt, lang lebe
die Menschheit!"
Bemerkenswerth ist, daß die Commune das Eigen-
thum verallgemeinern will, je nachdem es ihr paßt.
Wenn nun aber andere Gemeinden in Betreff ihres Besitzes
nicht „uuiversalisirt" werden wollen, wird man sie mit Ge-
walt zwingen, und werden sie dann, da sie Nationalgarden
haben, sich nicht wehren? So ist der Krieg Aller gegen
Alle im Keime vorhanden. Freilich, die Pariser Commune
schließt ihr Programm mit der Floskel: „Wir, Bürger von
Paris, haben eine Mission zu erfüllen, eine moderne Revo-
lutiou durchzuführen, die größte und fruchtreichste aller Revo-
lutiouen, durch welche jemals die Geschichte verherrlicht wor-
den ist. Es bleibt unsere Pflicht, zu fechten und zu siegen!"
Man sieht, daß diesen französischen Köpfen aller gesunde
Menschenverstand abhanden gekommen ist, daß ihnen jede
Logik fehlt. Dem mechanischen Drucke, welchen die Centra-
lisation auf sie ausübte, wissen sie nichts Besseres entgegen-
zustellen als ein anderes Extrem: sie verneinen den Staat,
den sie nicht reformiren wollen, sondern in achtunddreißig-
tausend Trümmer zerschlagen, welche sie Commuuen nennen.
So setzen sie ein Experiment in Scene, das ohne vernüns-
tige Unterlage ist und keine Aussicht aus praktisches Ge-
lingen hat, schon deshalb nicht, weil es der menschlichen Na-
tnr widerspricht. Es ist rein verneinend und bäumt sich
gegen alle geschichtliche Erfahrung auf. Es ist den Phan-
tasten socialistischer und commuuistischer Schriftsteller ent-
lehnt, aber ganz roh und ohne innern Zusammenhang. Biel
Unheil richtet es sicherlich an; scheitern wird es notwendig,
aber in den unklaren Köpfen wird es noch lange nachspuken.
Bei dem wilden Treiben in Paris und in anderen gro-
ßen Städten lausen zwei Strömungen neben einander
her und auch vielfach in und durch einander, die commu-
nalistische und die commnnistische. Die Führer beider
Aus allen
Richtungen sind innerlich einander abgeneigt, überwachen
sich gegenseitig mit Argwohn und haben einander mehrfach
eingekerkert. Einig sind sie beide in Verneinung des Staates,
denn auch die „Republik" ist nur ein Aushängeschild. Die
einen verstehen darunter das Conglomerat von unabhängigen
Gemeinden, die anderen eine communistisch eingerichtete Ge-
sellschast. Jede „Regierung" ist zu beseitigen, der
Staat abgeschafft; das Individuum ist souverän.
Das Individuum würde durch eine nationale Volksvertre-
tung in seinen Rechten verletzt und gekränkt, an der freien
Ausübung dieser Rechte verhindert; also keinParlament!
Aber diese Commnnalisten sind eben, weil sie die „Rechte
des Individuums" zu voller Geltung bringen wollen, nicht
im Mindesten communistisch; sie verlangen an Stelle des
Staates die freie Vereinigung freier Individuen. Man be-
greift, weshalb sie von keiner Nationalversammlung, die den
Staat und ein Volk zur Grundlage hat, etwas wissen mögen.
Sie wollen lediglich Municipal-, Communal-Vertretung,
keine Regierung, nur beauftragte Bevollmächtigte, deren
Mandat von der Gemeinde in jedem Augenblicke widerruf-
bar ist. Beamten- und Soldatenthum sind unter keiner
Bedingung zu dulden. Der Patriarch dieser Partei ist der
alte Erzdemagoge Felix Pyat, der früher schlechte Dramen
schrieb; eines derselben, „Der Lumpensammler", ging vor
etwa zwanzig Jahren sogar über manche unserer deutschen
Bühnen, und es war gar rührend, einen zerlotterten Tugend-
Helden, einen idealisirten Proletarier, mit dem lnmpengefüll-
ten Tragkorb über die Bühne schreiten zu sehen und seine
aus Stelzen geschraubten Declamationen anzuhören. Aber
den Commnnisten ist er nicht radical genug, und im April
wurde in der Versammlung der Commune beantragt, ihn
festzunehmen und als Feind des Communismus eingesperrt
zu halten, — en attendant.
Es wurde schon gesagt, daß die Commnnisten auch
die Republik verwerfen; sie müssen es schon deshalb,
weil dieselbe eine Staats form ist. Aber sie geben sich bis
auf Weiteres für Anhänger derselben aus, weil sie innerhalb
derselben den Staat leichter zersetzen und auslösen zu können
vermeinen. Worauf sie abzielen, das ist die „Liquidirung
des Eigenthums" in der „Gesellschaft". Deswegen nimmt
Erdtheilen. 237
sich in ihrem Munde das Wort Bürger seltsam aus; sie
müßten eigentlich sagen Gesellschaftsmensch. Sobald
der Staat beseitigt ist, wird Paris Commune; es wird die
anderen großen Städte veranlassen, diesem Beispiele zu sol-
gen; die einzelnen Gemeinden mögen sich untereinander ver-
ständigen, falls sie wollen und das angeht; Frankreich wird
abgeschafft und die freie Liebe tritt an die Stelle der Ehe,
welche schon deshalb grundverwerflich ist, weil sie die Frei-
heit des Individuums in unerträglicher Weise beschränkt.
Die Familie ist eine schlechte Einrichtung. Vor allen Din-
gen ist jedoch, damit freie Bahn geschafft werde, die Volks-
Vertretung zu vernichten: sie bildet das größte Hinderniß der
Verwirklichung einer neuen Lebensepoche der Menschheit, in
welcher es nur noch Menschen geben wird, keine Völker
mehr. Und so erkläre ich es mir, weshalb die Communi-
sten in der Pariser Commune den „Bürger Tolain", wel-
cher von der Stadt Paris in die Versailler Nationalver-
sammlnng geschickt wurde, zum „Sieur" degradirten. Er
hatte einer Ausforderung der Pariser Abtheilung, des revo-
lntionären Bundes der Internationale, aus jener Ver-
sammlung auszutreten, keine Folge gegeben. Der „Föderal-
rath" hat ihn dafür excommunicirt, denn die Commuuisten
schleudern so gut den Bann wie Päpste und Erzbischöse und
Duldung darf man bei jenen so wenig suchen wie bei diesen.
Das Aechtnngsdecret, vom 18. April, ist kennzeichnend:
„Da der Sieur Tolain, welcher in die Nationalversamm-
luug geschickt worden ist, um die arbeitende Classe zu ver-
treten, seine Sache in feiger und schandbarer Weise im Stiche
gelassen hat, so wird er von dem Pariser Föderalrath der
Internationale aus dem Verein ausgestoßen und dem Ge-
neralrath der Internationale zu London wird der Vorschlag
gemacht, diese Ausstoßung gutzuheißen."
Inzwischen wüthet der Bürgerkrieg fort, das schmutzige
und blutige Drama mit seinen überaus kläglichen Darstellern
nimmt seinen heillosen Verlauf. So tief sind die Franzosen
herabgekommen, daß ein garibaldinischer Offizier in Turin
drucken ließ: „Diese Franzosen flößen Widerwillen ein theils
durch ihre Apathie und Entsittlichung, theils durch ihr Ver-
psafftseiu. Frankreich ist, moralisch genommen, viel weiter
zurück als selbst Italien."
A u s allen
Eine Expedition der Nordamerikaner gegen Korea.
Die Yankees eröffneten 1853 unter Commodore Perry das
Jnselreich Japan. Gegenwärtig haben sie es auf die Halbinsel
Korea abgesehen, und eine Expedition dorthin ausgerüstet, un-
ter Befehl des Admirals Rodgers, der im März von 9)ofo-
Hanta aus seine Fahrt angetreten hat.
Korea ist eine bis jetzt wenig bekannte Halbinsel, die von
Japan durch die Meerenge von Korea, von China durch das
Gelbe Meer getrennt, 400 Meilen lang, 150 Meilen breit und
von Norden nach Süden von einer Gebirgskette durchschnitten
ist. Das Klima ist kühl und feucht, ein großer Theil des Lan-
des ist waldig, bedeutende Strecken sehr gut bebaut und frucht-
bar, es gedeihen Reis, Hanf, Taback und die Vegetation ist im
Ganzen sehr reich. Die Bevölkerung von ungefähr sechs Millio-
nen gilt für friedlich und arbeitsam, obwohl sie an Fremdenhaß
die Chinesen noch übertreffen foll. Korea zahlt einen Tribut an
China, doch kann der König als unabhängig angesehen werden.
Künste und Wissenschaften sind chinesischen Ursprungs, in Korea
Erdtheilen.
besteht auch dieselbe Schriftsprache, obwohl die Aussprache eine
ganz verschiedene ist. Wie di<Koreaner alle Fremden ausschlie-
ßen, so verfolgen sie auch die christliche Religion und deren Be-
kenner. Die Nähe der drei chinesischen Häfen im Golf von
Pechili, die japanischen Häfen an der Westküste, die fast in Sicht
von Korea verkehrenden Dampfer der Pacific Mail Steamship
Compagny von San Francisco, im Norden die russischen Be-
sitzungen, welche vom Amur begrenzt find, also die Vereinigung
der Gebiete von China, Japan und Sibirien, in denen bereits
bedeutender Handel blüht und wo so bedeutende Kohlenwerke
bestehen, daß es bald nicht mehr nothwendig sein wird', diesen
unentbehrlichen Artikel um das Cap der Guten Hoffnung zu
transportiren, Alles das läßt es wünschenswerth, ja nothwendig
erscheinen, daß Korea dem Handel und Verkehr erschlossen werde,
damit unter so günstigen Verhältnissen eine arbeitsame Bevölke-
rung aufblühe. Die Hauptstadt von Korea, im Innern des Lan-
des gelegen, heißt King-ki-tao, und im Jahre 1863 soll die dor-
tige Regierung Anstrengungen gemacht haben, die buddhistische
Religion auszurotten. Frankreich hatte in seinen Verbindungen
238 Aus allen
mit Korea kein Glück; England, so mächtig im Osten, hat kaum
ein größeres Interesse an diesen Angelegenheiten als Amerika,
und hat keinen Anlaß, Genugthuung zu verlangen für erlittene
Unbill; das deutsche Kaiserreich, das so schnell zu einer gewalti-
gen Seemacht heranwächst, hat im Osten noch keine klar aus-
gesprochene Politik und solgt mehr oder weniger der Richtung
Englands; die Vereinigten Staaten, wohl bekannt in jenen Ge-
genden, scheinen also am meisten berufen, den Schritt zu unter-
nehmen, den die Expedition des Admirals Rodgers zum Zwecke
hat. Das Staatsdepartement wird dann entscheiden, ob ein
allgemeiner Staatsvertrag nothwendig ist, oder nur eine Ver-
einbarung zur Sicherung des Lebens und Eigenthums Schiff-
brüchiger.
Also des „Pudels Kern", ein neues Feld sür den Unterneh-
mungsgeist, neue Absatzorte für die Industrie zu finden. Den
Anlaß giebt ein Ereigniß, welches im Jahre 1866 stattfand.
Im Monat August jenes Jahres strandete an den Küsten dieser
Halbinsel der amerikanische Schoner „General Sherman", und
dessen Bemannung, 24 Mann, wurde von den Eingeborenen er-
schlagen. Die Nachforschungen der im Jahre 1867 hingesen-
deten Eorvette „Wachusett" waren ohne Resultat. Mr. Bur-
lingame, zu jener Zeit Gesandter in Peking, sicherte zwar die
freundliche Vermittelung Chinas, da die Regierung Koreas eine
unabhängige sei und die Vereinigten Staaten dort keinen Ver-
treter hatten; die Angelegenheit wurde nach Burlingame's Re-
fignation durch G. Wells, Williams und George F. Seward,
Generalconful in Schanghai, unter Vermittelung der chinesischen
und japanesischen Behörden, verhandelt; doch führte das zu fei-
nem günstigen Erfolge, und man hoffte nur auf eine günstige
Intervention der japanesifchen Gesandtschast. Auch der im Jahre
1863 nach jenen Gewässern abgesendete Dampfer „Shenandoah"
konnte nichts Sicheres über die Schiffbrüchigen erfahren. Uebri-
gens war in jener Zeit ein Eonflict mit den Franzosen in Korea
ausgebrochen und viele Missionäre wurden ermordet.
Ein eigenthümliches Ereigniß hat auf die Stimmung der
Koreaner eingewirkt. Im April 1868 war unter der Führung
eines Deutschen aus Hamburg, Hermann Oppert, eines franzö-
fischen Priesters Farout und eines Amerikaners F. H. B. Jen-
kins, ein norddeutscher Dampfer von 648 Tonnen und ein klei-
neres Dampfboot von China nach Korea abgefahren. Außer
der gewöhnlichen Schiffsmannschaft nahmen Theil an der Ex-
pedition 8 Europäer, 20 Bewohner von Manila und 100 Chi-
nesen. Eine Abtheilung dieser Expedition landete ungefähr 40
Meilen im Innern des Landes, wohin sie den Fluß hinaufge-
fahren war, an einer Begräbnißstätte, wo sie Angesichts einer
bedeutenden, doch friedlichen Volksmenge ein dort befindliches
Königsgrab öffnete. Eine andere Abtheilung dieser Expedition,
welche an einer andern Stelle 'tiefer ins Land drang', traf auf
bewaffneten Widerstand und zwei Manilefen fanden dabei ihren
Tod. Nach zwei Wochen war die „China" wieder in Schanghai
zurück; Jenkins kam vor dem Confulate der Vereinigten Staa-
ten in Untersuchung, wurde aber freigesprochen. Es wurde
zwar behauptet, die Expedition habe den Zweck gehabt, sich der
Leiche eines Königs zu bemächtigen, an welche der Aberglaube
des Landes seine Unbesiegbarkeit knüpft, in der Wirklichkeit
scheint aber der Zweck gewesen zu sein, sich bedeutender Schätze
zu bemächtigen, welche man in den Königsgräbern vermuthete.
Jedenfalls hat dieses Ereigniß bei dem Umstände, daß den Ko-
reanern die Gräber so heilig sind wie den Chinesen, auf deren
Stimmung sehr nachtheilig gewirkt. Ueber das Wrack des „Ge-
neral Sherman" und das Loos der Mannschaft sind die Nach-
richten auch sehr unsicher. Ein Mitglied der Koreaner Gesandt-
schast, welche den Tribut nach Peking brachte, behauptet, in
Folge eines Streites mit den Eingeborenen sei die ganze Be-
mannung getödtet worden. Ein Pilot, der im März 1868 aus
Korea zurückkam, sagte aus, ein Koreaner habe ihm erzählt, er
hätte im März 1867 in der Hauptstadt des Districtes Plyan
zwei Fremde und zwei Chinesen gesehen, der Rest der Fremden
und Chinesen sei von den Eingeborenen ermordet worden. Die
einzige osficielle Erklärung von Korea besteht darin, daß die
Regierung diesem ganzen Unglücke vollkommen fremd sei, und
daß nach altherkömmlicher Sitte Schiffbrüchigen Hülfe gebracht
und sie gut behandelt würden; es wurde auch angeführt, daß
die koreaner Behörden schon in früherer Zeit sechs Schiffbrüchige
des amerikanischen Schiffes „Surprife" freundlich aufgenommen
hatten und frei ziehen ließen. Zwei amerikanische Kriegsschiffe,
welche im Jahre 1869 in jenen Gewässern Nachforschungen hiel-
ten, konnten keine zufriedenstellende Nachricht erhalten; Prinz
Kung, der chinesische Premier, an den man sich wendete, war
der Ansicht, jede Nachfrage dürfte nur ausweichend beantwortet
werden, und biete keine Hoffnung auf Erfolg, doch der ameri-
kanische Consul Seward, welcher der Aussage des Lootsen Glau-
ben beimißt, ist der Ansicht, daß nur eine durch bedeutende
Machtentsaltung unterstützte Verhandlung günstigen Erfolg haben
könne. In Folge dessen hatte man schon im Jahre 1370 in
Washington die Expedition beschlossen, die jetzt Admiral Rodgers
commandirt. Die politische oberste Leitung der ganzen Ange-
legenheit ist in die Hände des amerikanischen Gesandten in Pe-
king, F. F. Low, gelegt, und der Admiral wird in einer In-
struction des Staatssecretärs Fish angewiesen, nur in vollem
Einverständniß mit dem Gesandten zu handeln und in dessen
Hände die Entscheidung über Krieg und Frieden zu belassen.
Seward, Generalconsul in Schanghai, begleitet die Expedition,
es ist also zu erwarten, daß man sich nicht ohne reife Ueber-
legung und ohne zwingende Notwendigkeit zu feindlichen Schrit-
ten entschließen wird, und daß ohne Blutvergießen diese Expe?
dition nicht weniger günstige Resultate bringen wird, als die
berühmte Expedition des Commander Perry nach Japan.
Der Negerkönig von Onitscha im Nigerdelta.
Die Engländer haben bekanntlich an der Spitze des Niger-
deltas, da wo der Benue mündet, das Dorf Lokodscha ge-
gründet. Dr. Baikie gab sich große Mühe, eine große Anzahl
von Leuten aus den verschiedenen Völkern des innern Sudan
dorthin zu ziehen und namentlich einen Handelsverkehr mit
Haussa zu eröffnen. Aber die Hoffnungen, welche man rege ge-
macht, haben sich nicht erfüllt; der Fulbekönig Mafaba von
Bidda ist ein strenger Gebieter und drückt als Mohammeda-
ner die Fetischdiener. Die christlichen Missionäre läßt er übri-
gens predigen was sie wollen, weil ihm daran liegt, mit den
Engländern in gutem Einvernehmen zu bleiben, aus welchem er
Nutzen zieht.
Alljährlich befährt ein Dampfer, der in Lagos ausgerüstet
wird, den Hauptarm des Niger hinaus bis Lokodscha, und hält
bei den verschiedenen Negerstädten an. In einigen derselben be-
finden sich Missionen, denen man guten Erfolg wünschen muß,
weil sie dort, wo die weißen Prediger Einfluß gewinnen, man-
chem abscheulichen Unsuge steuern.
Im Sommer 1870 unternahm der bekannte schwarze Bischof
Samuel Crowther feine dreizehnte Jnspectionsreise, über welche
er einen umfangreichen Bericht erstattet („Church Mifsionary
Intelligenter", Januar bis April 1871). Sein Besuch galt auch
der Mission in Onitscha, wo, irren wir nicht, einige deutsche Mis-
sionäre „arbeiten". Dort zeigt sich die echt afrikanische Bar-
barei ganz unverhüllt; 1863 hat auch eine Christenverfolgung
stattgefunden, weil die Altconfervativen, am Niger wie überall
in der Welt, subversive Neuerungen nicht dulden wollen. Für
den Augenblick haben sie jedoch klein beigegeben und Crowther
konnte sogar dem schwarzen Potentaten etwas vorpredigen.
Seine Majestät ist im Lause des Jahres für die getreuen Un-
terthanen nur ein einziges Mal sichtbar, zur Zeit des Ernte-
festes, wenn die Hams reif sind. Dann jubelt das Volk und ist
fröhlich. Als Crowther unter einem Stallschuppen seine Predigt
hielt, war das Auditorium schwach, weil die Leute vor dem so-
genannten Palaste sangen und tanzten, trommelten und schössen;
auch der König tanzte mit. Als die Europäer anlangten, um
diesem wilden Schauspiele beizuwohnen, fielen Alle auf die Knie
Aus allen
und berührten mit der Stirn die Erde; das war die Begrü-
ßung. Viele waren „höchst anständig" gekleidet, sie hatten näm-
lich einen bunten Baumwollenschurz um die Hüften geschlagen,
manche hatten sogar einen solchen Schurz von Damast oder
Sammt, und die Frauen waren obendrein mit Korallen und
Glasperlen behängt.
Das Erntesest ist dem Könige deshalb so lieb, weil es ihm
gestattet, den Zwang abzuwerfen, unter welchem er das ganze
Jahr hindurch zu schmachten hat. Die Etikette am Hofe in
Onitscha ist streng. Dem alten Herkommen gemäß darf der
Herrscher von dem Tage an, da er König geworden, sich nur
innerhalb eines sest bestimmten Raumes bewegen; wenn er je-
doch denselben überschreitet, muß ein Menschenopfer gebracht
werden. Ein folches gilt für unbedingt nöthig, weil durch jene
Ueberfchreitung die Geister seiner Vorfahren beleidigt werden,
und sie können nur durch solch ein Opfer besänftigt werden.
Des Königs „Palast" besteht aus einer Anzahl armseliger,
aus Schlamm gebaueter Hütten, die ohne alle Ordnung durch
einander liegen; die von den Frauen bewohnten sind mit dich-
tem Gebüsch umgeben, damit das Volk die Insassen dieses Ha-
rems nicht sehen könne. Crowther bestimmt die Größe des
Raumes, auf welchem der schwarze Potentat sich bewegen dars,
auf 4930 Quadratyards; er ist dort, wie der Bischof sich aus-
drückt, eingesperrt wie ein harmloses Thier in einem zoologischen
Garten, kann jedoch im Uebrigen thuu und treiben, was ihm
gefällt. Sobald er einmal König geworden, weiß und erfährt
er nichts mehr von Allem, was in feinem Lande vorgeht oder was
sich in Onitscha ereignet; von Regierungssorgen wird er also
nicht geplagt. „Wir sind nun seit dreizehn Jahren hier, aber
der König hat nie unsere Häuser, unsere Kirchen, die am Strom-
user erbauten Magazine oder einen Dampfer gesehen. Das
Herkommen verbietet ihm, einen Blick aus den Fluß
zu Wersen; denn sein Auge könnte ja möglicherweise ein Boot
oder einen Kahn erblicken, der Ähnlichkeit mit einem Sarge
hätte, und dadurch an seinen Tod erinnert werden."
Unter solchen Umständen ist dieser Herrscher ganz und gar
von dem Manne abhängig, welcher gerade Einfluß auf ihn hat,
und der dann in des Königs Namen nach Belieben schaltet und
waltet. Im Jahre 1868 war der Günstling ein Feind der Chri-
sten, 1870 dagegen ein anderer, der jenen verdrängt hatte, den
Christen wohlgesinnt. Diese hatten es verstanden, einige Da-
men vom Hose sür sich zu gewinnen, darunter auch eine Tochter
und eine Schwiegertochter Seiner Majestät; diese waren, nebst
mehreren anderen, getauft worden und hatten nun denselben
Gott wie die Europäer. Die Prinzessin hat auf ihren Herrn
Vater großen Einfluß; seit dem 6. Juni 1870 kommt an jedem
Sonntag ein Pastor in den „Palast" und predigt ihm etwas
vor. Dann ist auch sein Bruder zugegen, „ein alter, bösartiger
Mensch, der allemal die Predigt mit anhört. So ist der Sauer-
teig des Evangeliums in den Palast eingedrungen. Das hat
Satan gesehen und nun zittert er."
Crowther bemühete sich, dem Könige zu Gemüthe zu süh-
ren, daß Menschenopfer widersinnig, abscheulich und ganz und
gar verwerflich seien, und daß der Herrscher verpflichtet sei, solche
Barbarei nicht länger zu dulden. Bei einigen später solgenden
Unterredungen bewies er dann, wie grausam und widersinnig
der Brauch sei, Zwillinge gleich nach der Geburt leben-
dig zu begraben. Diese Barbarei geht überall im Lande
stromabwärts bis nach Bonny im Schwange, und es ist den
Missionären bis jetzt noch nicht gelungen, derselben zu steuern.
Pastor Taylor war manches Jahr unermüdlich, die Neger eines
Bessern zu belehren, doch er sprach nur in den Wind, und Bi-
schof Crowther erzählt, daß gerade zwei Wochen, nachdem er beim
Könige so eindringlich gegen die Menschenopser gesprochen, ein
solches während seiner Anwesenheit in Onitscha stattgefunden
habe. Am 21. October 1870 wurde ein achtjähriges Mädchen
als jährliches Sühnopfer für das Volk hingemordet. Man
schleppte es eine halbe Wegstunde weit vom Palaste bis zum
Stromuser; die Zuschauer luden alle Sünden, welcher sie sich
cdcheilen. 239
schuldig wußten, aus das Kind ab, und waren nun von den-
selben befreit, da das Kind sie zu tragen hatte!
Der Bischos erfuhr, daß man das Mädchen an seiner Woh-
nung vorüberschleppen werde, und war tief betrübt, daß er beim
Könige tauben Ohren gepredigt habe. Er begab sich mit dem
Missionär Romaine nach der neuen Kirche, welche er einige Tage
vorher eingeweiht hatte, um Augenzeuge der Barbarei zu sein.
Die Neger trugen indeß Bedenken und verschoben die Ceremo-
nie, denn für eine folche gilt das Opfer, bis es dunkel war.
Der Missionär Dandeson, der eine Laterne trug, begegnete ihnen.
Jeder hatte einen Säbel in der Hand; sie hatten das Kind aus
der Erde hingeschleppt und es lag bewegungslos da. Als sie
es dann weiter, bis an den Niger, hinter sich her gezogen hat-
ten, waren einige Schiffsoffiziere vom Dampser „Victoria" Zeu-
gen des Auftrittes; das Mädchen wurde ins Wasser geworfen
und gab noch einige schwache Lebenszeichen von sich.
Bei einem Gespräche mit Häuptlingen ersten und zweiten
Ranges äußerte Crowther sich schars über die Barbarei, und sie
gaben ihm wenigstens scheinbar recht; sie seien indeß nicht in
der Lage, die Menschenopfer abzuschaffen und dürften dem Kö-
nige keine Gegenvorstellungen machen. Somit bleibt es beim
Alten.
Menschenraub und Sklavenhandel in der Südsee.
Wir haben in unserer Zeitschrist mehrfach darauf hinge-
wiesen, daß im Großen Oeean der Menschenraub systematisch
betrieben wird und daß keine nachdrücklichen Schritte von Sei-
ten der englischen Regierung geschehen sind, um diesem ab-
scheulichen Unsuge zu steuern. Freilich handelt es sich nur um
braune Leute; würden die Missethaten an schwarzen Woll-
köpfen begangen, dann würden die Negeranbeter in London
längst in der weiten Welt Lärm erhoben haben. Es scheint, als
ob man nach Peru seit Jahren keine Polynesier mehr verkauft;
theils legte sich dort die sremde Diplomatie ins Mittel, theils
erwiesen sich die Insulaner als unbrauchbar für die fchwere
Plantagenarbeit und starben bald hinweg. Aber in der austra-
tischen Eolonie Queensland sührt man unablässig Polynesier
ein, welche an die Besitzer der Baumwollen- und Zuckerplan-
tagen vertheilt werden. Es handelt sich dabei um nichts wem-
ger als einen vollständigen Sklavenhandel, und das ganze
Treiben ist so empörend, daß Abgeordnete der Gesellschaft zum
Schutze der Eingeborenen und der Antisklavereigesellschast im März
dem zum Gouverneur von Queensland ernannten Lord Nor-
manby eindringliche Vorstellungen machten. Sie schärsten dem
Lord die Pflicht ein, mit Nachdruck einzuschreiten', dem ganzen
Menschenhandel ein Ende zu machen oder zum allermindesten doch
den vorhandenen Gesetzen und Verordnungen Achtung zu ver-
schaffen. Es wurde nachgewiesen, daß im Jahre 1870
nicht weniger als einhundert Schiffsladungen poly-
nefifcher Leute ihrer Heimath entriffen worden seien
und zwar unter Umstünden, welche das Ganze dem Sklaven-
Handel gleichstellen. Wenn auch nicht alle Schuld allein auf
Queensland falle, so liege doch die Thatsache vor, daß Be-
vollmächtig^ jener Eolonie Polynesier eingekauft hätten wie jede
andere beliebige Waare: es sei dabei zu vielen Kämpfen ge-
kommen und manches Menschenleben verloren gegangen. Man
könne doch allermindestens verlangen, daß die Insulaner nicht
mit Gewalt aus ihrer Heimath hinweggesührt würden, und ser-
ner, daß sie nicht, wie bisher geschehen, auf der Ueberfahrt mit
Härte und Grausamkeit behandelt würden. Es wurden Briese
von Augenzeugen, namentlich eines Missionärs, vorgelegt, aus
welchen sich ergiebt, daß man bei dem Menschenhandel mit Ge-
walt und Trug verfährt und daß mehrere Inseln dadurch völlig
entvölkert worden sind. In den übrigen Colonien Australiens
habe man Behörden zum Schutze der Eingeborenen, in Queens-
land aber nicht. — Der Marquis von Normanby benahm sich
den eindringlichen Vorstellungen gegenüber sehr lau; natürlich
versprach er, seinerseits zu thun, was in seinen Kräften stehe,
240 Aus allen
indeß könne gegenwärtig Queensland der polynesischen Arbeiter
nicht entbehren. Er meine, daß unter geeigneten Vorkehrungen
die Einwanderung sowohl den Polynesiern selbst, wie auch der
Colonie zu materiellem Vortheile gereichen könne! Er, der Gou-
verneur, werde gegen Alles einschreiten, was mit Sklavenhandel
Ähnlichkeit habe. So viel er wisse, sei nun angeordnet wor-
den, „daß ein Agent der Regierung auf jedem Schiffe sich befin-
den solle, welches Polynesier nach Queensland oder von dort
in ihre Heimath zurückbringe." — Wer aber controlirt auf
See und auf den Inseln die Agenten, denen doch offenbar we-
niger an den armen Polynesiern als an der Meinung der Pflan-
zer in Queensland liegt, und von denen erst bewiesen werden
müßte, daß sie gegen den Klang des Geldes unempfindlich seien?
Die „Verschiffung" der Polynesier ist feit länger als zehn Iah-
ren ein abscheulicher Unfug und wird es bleiben, gleichviel unter
welcher Gestalt diese Ausbeutung der braunen Leute fortdauert.
Sie trägt ihrerseits wesentlich dazu bei, die polynesische Race
noch rascher ihrem gänzlichen Verschwinden entgegenzuführen.
Der Sklavenhandel am Nil.
Roderich Murchifon veröffentlichte jüngst ein Schreiben Ba-
ker's aus Taufikyia (9°26'N. am Bahr el Abied) vom 9. De-
cember 1870, in welchem Samuel Pascha den gläubigen Seelen
mittheilt, daß er dem Sklavenhandel ein Ende gemacht habe.
Wir unsererseits äußerten jüngst, daß der Menschenhandel im
ägyptischen Sudan nicht ausgehört habe und nicht aufhören
werde, weil er mit dem Mohammedanismus verwachsen sei.
Wir finden nun zur Bestätigung dieser Ansicht das Schrei-
ben eines Engländers („Times-Mail", 28. März), welches wir
unseren Lesern nicht vorenthalten wollen. „Am 1. Februar
dieses Jahres befand ich mich zu Wadi Halfa, am zweiten
Nilkatarakt, und traf dort mit einer Karawane zusammen, die
soeben vom Weißen Nil her angekommen war. Sie brachte
Gummi und Sklaven, lauter junge Menschen^, nämlich 40
Mädchen und Knaben. Die Sklavenhändler sagten mir, daß
sie Baker und dessen Frau gesehen haben; dieselben befanden
sich ganz wohl, als sie Chartum verließen. Für die Mädchen
forderte man einen Preis von etwa 25, für die Knaben von
40 Pfund Sterling; beim Kauf würde ich sie aber wohl um
30 Procent billiger 'bekommen haben. Es schien mir, als ob
sie ganz gut behandelt worden seien; ehe ich Wadi Halfa ver-
ließ, waren sie auf ein Boot gebracht worden, um nach Minieh
und Syut gebracht zu werden, von wo sie dann in kleinen Ab-
theilungen, zu dreien und vieren, nach Kairo gelangen. —
Man könnte den Sklavenhandel viel eher in der Nähe von Kairo
lahmlegen und brauchte, wenn das geschäht, es nicht am Wei-
ßen Nil zu thun. Ich würdige vollkommen Baker's Bemü-
Hungen, meine aber, daß er sich getäuscht habe, als er wähnte,
den Sklavenhandel am Weißen Nil abgeschafft zu haben. So
lange die Regierung Seiner Hoheit desKhedive dem Sklaven-
Handel in Kairo selbst nicht steuert und nichts thut, um die
Ausschiffung der Sklaven in Wadi Halfa zu verhindern, so
lange wird auch der Handel fortdauern. In Kairo wird
der Sklav allerdings nicht gehindert, seinen Herrn zu verlassen,
er würde aber in einem solchen Falle kein Unterkommen finden,
weil Niemand ihn nehmen möchte. Die Sklaven werden auch
durchgängig so gut behandelt, daß sie keine Veranlassung haben,
von ihren Herren fortzugehen. Nachdem sie einige Zeit in einer
Privatfamilie gelebt haben, betrachtet man sie gleichsam als un-
ter Vormundschaft stehende vertraute Diener. Ich hege die An-
Erdtheilen.
ficht, daß einem derartigen Handel nicht über Hals und Kopf
gesteuert werden könne."
# * *
— „Nimm Deine Zelte mit, Israel!" Drei nord-
amerikanische Missionäre wollen „sich in die Höhle des Löwen
wagen und dem Ungeheuer seinen Bart ausraufen". Damit
verhält es sich so: Die Pastoren Mac Donald von Boston, Boole
von Neuyork und Jnskip von Baltimore haben zu Anfang des
Aprilmonates ihre Lenden gegürtet, um eine Missionsreise über
die Prairien und die Felsengebirge zu unternehmen. Ihr Zweck
ist, von weit und breit her die vereinzelten Schafe zusammen-
zutreiben und großartige „Erweckungen" zu veranstalten. Zu
diesem Behuse führen sie ein Niesenzelt mit sich, das nicht
weniger als viertausend Menschen Schutz uud Obdach ge-
währt. Nachdem die drei Reverends Ealisornien „regenerirt"
haben, wollen sie nach der Mormonenstadt am Großen Salzsee
ziehen und dort ihr baumwollenes Monstretabernakel neben dem
steinernen Tabernakel der Heiligen vom jüngsten Tag ausschla-
gen. Dort wird dann Brigham Acmng, der Prophet des Herrn,
coramirt, um Rechenschast abzulegen sür sein satanisches Trei-
ben. Jene drei Prediger sind Methodisten, und sie hoffen, viele
solcher Methodisten, welche zu den ungläubigen Mormonen über-
gegangen sind, wieder zur „Rechtgläubigkeit" zurückführen zu
können.
— „Es giebt Doctoren der Kirche und Doctoren in der
Kirche. Der elfteren sind Viele; der letztere Titel gebührt nur
Wenigen und diese Wenigen allein begrüßt und spricht an
die Kirche in der Liturgie mit den Worten: 0 Doctor optime,
Ecclesiae sanctae lumen; sie erlaubt, daß an den Festtagen
derselben bei der Messe das Credo gesungen werde, wie an den
Feiertagen der Apostel und Evangelisten." So sprach Papst
Benedict der Vierzehnte. Seit Anbeginn der römischen Kirche
sind in derselben überhaupt nur 17 Geistliche zu Doctoren in
der Kirche gemacht worden, obwohl nicht weniger als 803 Bi-
schöfe und 25 Generale geistlicher Orden um Verleihung dieses
Titels nachgesucht haben. Jetzt sind die anderthalb Dutzend
voll geworden. Der gegenwärtige Papst der römischen Kirche
ist von römischgläubigen Leuten in England, Schottland und
Irland angegangen worden, den 1787 verstorbenen Heiligen
Alphons Liguori, welcher im Anfang unseres Jahrhunderts
canonisirt wurde, zum Doctor in der Kirche zu machen, und
das hat er nun auch gethan. Der Heilige war bei Lebzeiten
Bischof von St Agatha im Neapolitanischen und Stifter des
geistlichen Ordens der Redemptoristen, welcher bekanntlich den
Jesuiten nach Kräften in die Hände arbeitet. Daraus erklärt
sich, daß er nun zum Doctor promovirt worden ist; der Heilige
selber weiß freilich nichts davon.
— Das weibliche Gefchlecht ist bekanntlich in Ostin-
dien ohne allen Schulunterricht geblieben; erst während der
letzten zehn Jahre sind hin und wieder Versuche zur Gründung
von Mädchenschulen gemacht worden. Als aber Bekehrungs-
versuche von Seiten der Missionäre stattfanden, zogen die Hindu-
eltern ihre Töchter zurück. Gegenwärtig hat nun eine Lady
Napier eine Schule für Mädchen aus höheren Kasten zu Tand-
schaur (Tanjore) im südlichen Dekhan errichtet, welcher man
besseres Gedeihen verspricht.
— Zu Taschkend in Turkestan geben die Russen eine
Zeitschrift in der Sprache der Kirgisen heraus. Weit
über eine Million dieser Nomaden Eentralasiens sind russische
Unterthanen.
Inhalt: Der Lavaausbruch desTongariro auf Neufeeland 1870. Mit zwei Abbildungen.) — Radde's und Siewers'
Streifzüge am Kaspischen Meere. — Gräbt die Pampaseule ihre Höhlen selbst? Mit einer Abbildung.) — Aus der Litera-
tur des Nihilismus. Von D. K. Schedo-Ferroti. (Schluß.) — Zur Kennzeichnung der Leute in Frankreich. Von Karl
Andree. — Aus allen Erdtheilen: Eine Expedition der Nordamerikaner gegen Korea. — Der Negerkönig von Onitscha im
Nigerdelta. — Menschenraub und Sklavenhandel in der Südsee. — Der Sklavenhandel am Nil. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Nedaction verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
Hierzu eine Beilage: Cigarren-Preis-Courant von Joseph Kraust in Hamburg.
&
$Unb
Band xix.
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e
Jo 16.
Iii besonderer Herücksiclttigung äer AntkroVologie unä Gtknologie.
3n
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
2)£(ri Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4Sgr. 1871.
Alls Siciliens Cultnrgeschichte
i.
Kaum bei einem zweiten Lande in Europa lassen sich
die verschiedenen Völker- und Cnltnrschichten so gut unter-
scheiden, wie auf der Insel Sicilien. Hier paßt ganz genau
der Vergleich mit einer kleinen, aber geologisch reich entwickel-
ten Gegend. Die verschiedensten Flötzformationen ruhen da
Uber einander; die Versteinerungen, welche in ihren Schich-
ten eingebettet sind, geben Zeugniß von dem einstigen Leben,
welches hier geherrscht; eruptive Durchbrüche haben die Ruhe
*) Wir haben in Deutschland eine fast überreiche Literatur, welche
sich mit der Insel Sicilien beschäftigt. Auf Gregvrovius (Siciliaua)
und Franz von Löher (Neapel und Sicilien) sind wieder zwei höchst
beachtenswerthe Werke gefolgt. Ist es nun auch absolut unmöglich,
ein so vielfach behandeltes Thema, wie gerade Sicilien, mit dem
Reiz der Neuheit zu umgeben, so freut es uns doch, daß jenes er-
giebige Feld noch immer weiter ausgebeutet wird. Feine und ge-
schmackvolle Naturbilder, ästhetische Studien und mit tiefer Geschichts-
kenntniß verfaßte archäologische Abhandlungen liefert uns neuerdings
das Prachtwerk von G. F. von Hossweiler: „Sicilien, Schilde-
rungen aus Gegenwart und Vergangenheit." Das schön ausgestat-
tete im verflossenen Jahre bei A. Dürr in Leipzig erschienene Bück
ist mit 36 Originalzeichnungen von A. Metzener versehen, von
denen wir einige mittheilen. — Für die eigentliche Culturgeschichte
der Insel ist das Werk von Otto Hartwig: „Aus Sicilien, Cul-
tur- und Geschichtsbilder" (Kassel und Göttingen 1867) eine über-
reiche Fundgrube. Der Verfasser versteht es, gründlich und fesselnd
zu schildern. Vor flüchtigen Reifenden hat er eins voraus: als
Prediger der protestantischen Gemeinde in Messina hatte er Gelegen-
heit, Land und Leute genau kennen zu lernen. Diese beiden gedie-
genen Werke sind es, welche als Quelle unseres Artikels gedient
haben.
Globus XIX. Nr. 16. (Mai 1871.)
gestört, die Schichten verworfen und zerstört, lieber dem
Ganzen aber lagert die Ackerkrume von heute, bald frucht-
bar, bald öde und unbebaut, je nach der Thätigkeit des
Menschen.
So auch auf Sicilien. Auf die einheimischen Sikaner,
iberischen Stammes, sind die vom italischen Festlande ein-
gewanderten Siknli gefolgt; Punier, Griechen, Römer, Ost-
gothen, Byzantiner, Sarazenen, Deutsche, Provenxalen,
Franzosen, Spanier haben über die Insel sich ergossen, dort
Spuren ihrer Herrschaft hinterlassen und die Zusammensetzung
des heutigen Mischvolks der Sicilianer bewirkt. Aber natur-
gemäß siedelten die Fremden mehr am Rande, wo die Städte
sich entwickelten, als im Innern, wo die selsenreiche Hoch-
ebene der Bevölkerung stets eine dauernde Schutzwehr gegen
die Eindringlinge gewährte, wo keine reichen Culturstätten
die Raub- und Plünderungssucht der über das Meer ein-
herziehenden Fremden reizte. Bor Allem war es aber die
Lage der Insel, im Centrum der antiken Welt, durch Küsten
und schöne Häsen aufgeschlossen nach allen Seiten, welche
fremde Völker unwiderstehlich dorthin zog. Wie von hier-
aus die Normannen in kühnen Seefahrten sich erobernd über
die Küsten des Mittelmeeres ausbreiteten, so haben Griechen
und Sarazenen auf der Insel selbst festen Fuß gefaßt. Von
orientalischer und abendländischer, von romanischer und ger-
manischer Cultur gesättigt liegt Sicilien vor uns da, trotz
der großen Vergangenheit aber heute ziemlich dürftig und
öde. Es war das Unglück dieser von der Natur gesegneten
31
Aus Siciliens
Insel, meist in Abhängigkeit vom Festlande verwaltet und
voni Eigennutz fremder Dynastien und Völker ausgesogen
zu werden. Jedesmal, bemerkt Hartwig, bezeichnet die Zuge-
Hörigkeit Siciliens zu einem fremden Staate eine Epoche des
Verfalls; jedesmal hebt sich die Cnltur dagegen zu hoher
Blüthe, wenn die Insel selbständig regiert wird.
Eigentümlich ist ein von demselben Culturhistoriker auf-
gestellter Vergleich zwischen den beiden größten Inseln Euro-
pas, zwischen Sicilien und Großbritannien, der merkwürdige
Parallelen ergiebt. Beide sind reich an Bodenfrüchten und
Mineralien; so wichtig, wie die Steinkohle für England, ist
der Schwefel für Sicilien; beide zu derselben Zeit von der
großen germanischen Bewegung getroffen, denn im Jahre
445 landen die Vandalen in Sicilien, vier Jahre später
betreten die Angelsachsen den britischen Boden. Zu dersel-
ben Zeit auch und unter denselben Auspicien stiften die
Normannen auf beiden Inseln ihr Reich. Robert Guiscard
erhält von Gregor dem Siebenten Sicilien als Lehen, und
vom Segen Alexander's des Zweiten geschützt, war Wilhelm
der Eroberer nach den Kreideklippen Englands hinübergesah-
ren. Ja, zu derselben Zeit beginnt auf beiden Inseln, frü-
her als auf einem Lande des Continents, ein Staatsregi-
ment nach modernen Begriffen. In derselben Zeit, da die
englischen Barone durch die Magna charta die Rechte des
Volks begründeten (1215), giebt der erleuchtete Friedrich der
Zweite der Insel eine Rechtsverfassung, in welcher der Ge-
danke einer Repräfentantenverfammlung des Reichs, wenn
auch nur von geringen Befugnissen, bereits ausgenommen
ist (1231). Zu gleicher Zeit endlich und mit gleich fchlech-
tem Erfolge sendet die römische Curie die Franzosen gegen
die ihr widerspenstigen Herrscher beider Inseln: Philipp II.
August gegen Johann von England, Karl von Anjon
gegen die Staufen. Nun endlich trennen sich die parallel
laufenden Schicksale der beiden Inseln: In England, wo
das germanische Element überwiegt, entwickelt sich
kräftige Theilnahme an der Staatsregierung in immer wei-
teren Kreisen des Volks und führt zu dessen Größe und Frei-
heit. In Sicilien, mit herrschender romanischer Be-
völkerung, bleiben Bildung und Macht in den Händen
der Kirche und des Adels, der durch die strengen Formen
des Lehenswesens, wie es die Normannen gestiftet und die
Staufen bewahrt hatten, zu einer die Krone überwuchernden
und das Volk knechtenden Macht aufsteigt.
Wer heute durch das herrliche Eiland zieht und das Ehe-
mals mit dem Jetzt zu vergleichen weiß, den kann nur Trauer
überkommen ob des großen Verfalls, der allenthalben herrscht,
den zu bannen erst jetzt wieder energische Schritte gethan
werden. Ist es zu glauben, daß die Bodencultur in Sicilien
seit den ältesten Zeiten zurückgegangen ist, daß, während
man zu Cicero's Zeit acht- bis zehnfach erntete, man jetzt
nur siebenfältigen Ertrag gewinnt? Noch zu Ende des vori-
gen Jahrhunderts hintertrieben die Barone den Straßenbau,
um ihre Untergebenen nicht zu sehr aus ihrer Botmäßigkeit
zu verlieren. Es gab im Innern Ortschaften genug, die
kein Getreide ausführen konnten, weil die Maulthiere es auf-
gezehrt haben würden, ehe sie es bis an die Küste hätten
tragen können. Fast eben so liegt die Eultur noch heute.
Der Baron oder die Kirche übergiebt die weiten Latifundien
an die Massari, große Pachtunternehmer, die an die Bauern
der kleinen Städte wieder verpachten, und diese übernehmen
gegen einen so hohen Zins, wie ihn nur das bedürfnißlofe
Leben des Volks ermöglicht, die Bestellung kleiner THeile.
Der Pflug ist noch jetzt urthümlich, die Egge ungewöhnlich,
die Karrenräder sind einfache Querschnitte der Baumstämme.
Das Bild einer sicilianischen Bauernwohnung, d. h. einer
Bauernwohnung in einer „Landstadt", wie Hartwig es schil-
Kulturgeschichte. 243
dert, fordert unwillkürlich zum Vergleiche mit deutschen
Bauernhäusern auf. Ein kleiner viereckiger Raum dient
Menschen und Vieh zum Aufenthalt; auf dem schwarze«
Erdboden rutscht das fette schwarze Schwein, steht der Esel
und sucht das Hühnervolk nach Nahrung. Ein Bett dient
der ganzen Familie als Ruhestätte. Wie im Mittelalter in
Deutschland, so legt sich hier noch Alles nackt ins Bett. Der
sehr elementare Kochherd, wenige Kochgeräthschaften, vielleicht
ein altes Weinfaß, ein paar wackelige Stühle und ein uralter
Tisch bilden das einzige Mobiliar. Messer und Gabeln,
Gläser und Flaschen sind Luxusgegenstände. Der Haus-
Vater erfreut sich, wenn es hoch kommt, des Besitzes eines
Taschenmessers. Die Finger ersetzen hier noch manches In-
strument, die flache Hand den Löffel.
Wie ganz anderen Bildern begegnen wir da im Alter-
thnm, wie hoch stand damals die Bodencultur! War doch
schon der Reichthum Siciliens in griechischer Zeit berühmt.
Die Sagen von der Demeter, von den Herden Apollon's,
von den lästrygonischen Feldern beweisen es. Die bukolische
Poesie entsprang und blühte hier. Gepflanzt wurden da-
mals Weizen, die Rebe und der Oelbaum, gezüchtet Ziegen,
Schafe und Rinder. Erst später brachten die Karthager die
Granate hinzu. Und wie auf diesem Gebiete der Cultur,
so sah es auf allen übrigen ans; immer fällt die Wagfchale
zu Gunsten der Vergangenheit, wohin wir auch den Fuß
unter den Trümmerresten der Insel setzen mögen.
Ein solches Bild entschwundener Größe führen uns die
Tempelruinen von Segesta vor Augen, die in einsamer,
großartiger Berglandschaft unfern von Calatafimi im West-
Horn der Jufel gelegen sind. Kaum ist eine andere Stadt
auf Sicilien, die direct oder indirect eine so große Bedeutung
für die Geschicke der Insel, ja des fernen Abendlandes ge-
habt hätte, wie Segesta. Ihre Bedeutung nnd ihr Unglück
entsprang, wie Hoffweiler treffend sagt, aus ihrer Zwitter-
stellung. Barbarischen Ursprungs, war sie im Laufe der Zeit
durch vielfache Berührung mit den Griechen ihrer ganzen
Bildung nach hellenisch geworden. Schon im Jahre 580
finden wir Egesta im Streit mit den Selinuntinern, ihren
Grenznachbaren, der sich stets erneuerte, bis 416 die Ege-
stäer, von den Selinuntinern hart bedrängt, die Athener nach
Sicilien riefen. Sie waren es, die ein so verderbliches Spiel
mit der eitlen Ruhmsucht des athenischen Volkes trieben,
und so jenen Schlag verschuldeten, von dem Athen sich nie
wieder erholte. Die Athener sandten Boten nach Egesta,
welche den Reichthum dieser Stadt prüfen sollten, von dem
sie fabelhafte Dinge vernommen. Und Fabelhaftes sahen
sie auch hier, zunächst die reichen Weihegeschenke im Tempel
der Venus auf dem Berge Eryx. Dann aber luden die
Egestäer die Boten zu Tische und prunkten mit kostbarem
Tafelgeschirr, welches großentheils aus phöuizischen und grie-
chischen Städten Siciliens zusammengeborgt war. Dieselben
Becher erschienen bei jedem Gastmahle wieder, die Gesandten
aber hielten sie jedesmal für das Eigenthum dessen, der sie
gerade bewirthete, und gewannen so einen hohen Begriff von
dem Reichthume der Stadt. Der Bericht, den ste darüber
in Athen erstatteten, wirkte dort gewaltig, die Athener be-
schloffen den Krieg, der fo verderblich in feinen Folgen wer-
den sollte. Egestas Unabhängigkeit ging denn auch an die
Karthager verloren; es folgen Belagerungen, Zerstörungen,
bis die Stadt in den dauernden Besitz der Römer überging,
unter denen der Name Segesta für Egesta aufkam. Letzterer
war des Übeln Anklanges halber (egestas, Dürftigkeit) aus-
gemerzt worden. Wann und durch wen die Stadt zerstört
wurde, ist unbekannt; zur Zeit der normannischen Eroberung
wird sie nicht mehr genannt. Jetzt sind der Tempel und
das nicht weit davon auf der Höhe gelegene Theater die ein-
31*
244 Aus Siciliens
zigen Erinnerungszeichen an Macht und Blüthe, an treulose,
selbstsüchtige Politik, wie an furchtbares Elend, die einst hier
ihre Stätte hatten.
Im engen geschichtlichen Zusammenhange mit Segesta
steht Selinunt, das einst an der SUdküste unfern dem
jetzigen Castelvetrano sich glänzend erhob. Von Bürgern
des hybläischen Megara, einer attischen Colonie an der Ost-
küste Siciliens, wurde Selinus im siebenten Jahrhundert
vor Christus gegründet. Rasch wuchs die neue Stadt an
Macht und Ausdehnung und wetteiferte an Glanz mit den
bedeutendsten griechischen Colonien der Insel. Mit Egesta
wurde sie schon früh in Grenzstreitigkeiten verwickelt und eine
erneuete Zwistigkeit der Art gab Anlaß zu der athenischen
Expedition und ihrem traurigen Ausgange."' Von den Se-
linuntinern bedrängt, warfen nun die Egestäer sich den Kar-
thagern in die Arme, und 409 erschien Hannibal mit einem
Kulturgeschichte.
gewaltigen Heere vor Selinus. Neun Tage wurde gekämpft,
jeder Zoll breit wurde vertheidigt, aber Selinus fiel, und
sengend und plündernd durchstreiften die Karthager die Stadt.
Alles wurde zerstört. Wenig mehr als zwei Jahrhundert
hatte Selinunt gestanden, als es von Hannibal vernichtet
wurde. Zwei Jahre später nahm Hermokrates, damals von
Syrakus verbannt, Besitz von der verwüsteten Stätte, sam-
melte die dem Schwerte der Karthager entronnenen zerstreu-
ten Bewohner und baute die Stadt wieder auf. Ohne ihre
frühere Bedeutung wieder zu erreichen, stand sie nun, in Ab-
hängigkeit von den Karthagern, ein weiteres Jahrhundert.
Abermals ward die Stadt dann im ersten pnnischen Kriege
zerstört, als die Karthager sie nicht glaubten halten zu kön-
nen. Die Römer erbauten sie nicht wieder, aber unter der
byzantinischen Herrschaft muß hier ein Städtchen entstanden
sein, eines der ersten, das die Sarazenen erstürmten und
Nach einer Zeichnung von Metzener.
die Ruinen, wie die Felsblöcke der nordischen Gebirge von
der Sage zu Bausteinen eines untergegangenen Riesen-
geschlechts gemacht worden. Denn nicht Gebilden mensch-
licher Kunst gleichen sie, wenn man sie von fern erblickt,
sondern wie Zeugen vorweltlicher Naturrevolutiouen sehen
sie aus, und noch wenn man näher kommt, bleibt dieser An-
schein, da die Verwitterung sich tief in die Oberfläche der
alten Werkstücke hineingefressen' hat. Einzig in der Welt
sind diese Trümmerstätten, die Zeugnisse unbeschreiblichen
Glanzes und furchtbarer Zerstörung, über denen nun die
Stille des Todes lagert. Denn seit die fröhlichen Menschen
verschwunden sind, hat die Malaria hier ihre Herrschaft auf-
geschlagen, die kein Leben mehr gedeihen läßt. Dünne Wei-
zenfelder bedecken die höher gelegenen Theile des Bodens,
tiefer unten zeigt er nur den rothen Sand, den das Meer
angespült hat. Und selbst das Meer, das einst von Segeln
schimmerte, das Hunderte von Fahrzeugen belebten, Waaren
holend und bringend, wie sie der fruchtbare Boden hervor-
Die Tempelruinen von Selinunt.
Rahl-el-Asnam oder Dorf der Idole nannten. Auch
dieses verschwand vom Boden; als einer der letzten Punkte
der arabischen Herrschaft wurde es von Graf Roger zerstört.
So war Selinus einst von einander ablösenden Griechen,
Karthagern, Römern, Byzantinern, Sarazenen bewohnt.
Was ist heute noch von ihm übrig? Nichts als die Tem-
pelreste, die wir in der Abbildung mittheilen. Wir haben
keine Nachricht darüber, wann die Säulen einstürzten, über
das Wie ist wenigstens bei drei Tempeln kaum ein Zweifel
möglich. Nicht Menschenhände waren es, welche die Säulen
des Peristyls wie abgemähte Garben gleichmäßig neben ein-
ander legten, sondern ein Erdbeben hat sie durch einen ge-
waltigen Stoß von unten nach beiden Seiten hingeworfen,
daß die Capitäle, in weitem Bogen geschleudert, tief in die
Erde einsanken, und daran Trommel an Trommel sich an-
reihte bis zur letzten, die nicht weit von ihrem ursprünglichen
Standorte liegen geblieben ist.
Pilieri dei Giganti, Gigantenpfeiler, nennt das Volk
Transatlantische
brachte oder der Luxus einer reichen und verfeinerten Bevöl-
kerung erheischte, es scheint einstimmen zu wollen in den
Charakter der Todtenstille und Einsamkeit; denn nur selten
zeigt hier sich heute ein Segel. Unter den Trümmern dieser
Tempel fand 1831 der sicilianische Alterthumsforfcher Ca-
vallari fünf Metopen mit Darstellungen von Apollo uud
Daphne, Athene, Zeus und Here und Herkules im Amazonen-
kämpfe, die sich jetzt sämmtlich im Museum zu Palermo be-
finden.
Für den deutschen Geographen haben die hier abgebilde-
ten Tempelruinen ein ganz besonderes Interesse, denn hier
wurde in die Brust des größten der deutschen Afrikareisenden
die Sehnsucht nach dem fernen Lande der Schwarzen ge-
Dampfschifffahrt. 245
pflanzt. Schon als Student war Heinrich Barth nach
Sicilien gepilgert. „Dort," so schreibt er in seinen Wan-
dernngen durch die Küstenländer des Mittelmeeres, „ent-
wickelte sich meine Liebe zum Mittelmeer, über welches die
als mächtiges Scheideglied in dasselbe hinausgestreckte apen-
ninische Halbinsel mir von so vielen Punkten aus einen so
mannichsaltigenBlick eröffnete. Aber am tiefsten prägte
fich mir derAnblick ein, dessen ich von den selinnn-
tischenTempelrninen aus genoß; von dort aus erblickte
ich in dem reinen südlichen Glänze der untergehenden Sonne
das hohe Felseiland Pantellaria, ja ich gewahrte die schwa-
chen Umrisse Libyens selbst am fernen Horizonte."
Transatlantische Dampfschifffahrt.
Die Zeit ist gekommen, in der wir an jedem Tage im
Jahre Dampfer aus Amerika in einen europäischen Hafen
einlaufen sehen und an welchem aus Europa ein solcher am
Werft eines überseeischen Platzes seine Anker auswirft. Der
Verkehr hat sich binnen zwanzig Jahren ins Kolossale ge-
steigert, und die Dampfschifffahrt geht nun längst rund um
deu Erdball. Nur ein einziger Damm, die Landenge Cen-
tralamerikas, hindert ein Schiff, direct um die Erde zu sah-
ren, aber auch dieses Hinderniß wird im Fortgange der Zeit
beseitigt werden.
An der Westküste Amerikas gehen regelmäßige Dampfer-
linien im Anschluß an die von der atlantischen Seite her
durch die Magellansstraße nach Valparaiso in Chile fahren-
den, gen Norden hin bis Britifch-Columbia, und gelegentlich
bis Sitka (Neu-Archaugel) im Territorium Alaska. Wenn
die Route zwischen Panama einerseits, Neuseeland und Anstra-
lien andererseits bis auf Weiteres aufgegeben worden ist, so
tritt nun eine Linie von San Francisco, mit Berührung der
Fidfchi-Jnfeln, an deren Stelle und füllt die Lücke aus. Die
Linie von San Francisco nach Japan und China schließt
an die von Panama kommenden Dampfer und an die Züge
der Pacisicbahu an, und ihre Schiffe begegnen sich in Hong-
kong mit jenen der Peninsularcompagnie, welche aus dem
Rothen Meere und dem Indischen Ocean kommen, während
Fahrzeuge dieser Gesellschaft auch regelmäßig bis Melbourne
und Australien lausen. Ein Reisender kann vom NordcaP
in Norwegen bis nach jedem irgend wichtigen Hasen der
Erde bei ununterbrochenem Anschluß mit Dampf fahren.
Eine „Reise um die Welt" ist heute nur noch ein „Aus-
slug".
Die Häfen der Ostküste von Südamerika stehen durch
uicht weniger als neun Dampferlinien unter sich und mit
Europa in Verbindung. Auch Deutschland ist an denselben
betheiligt; Hamburger Dampfer gehen bis Sautos in der
brasilianischen Provinz San Paulo und berühren auch, gleich
den Fahrzeugen des Bremer Ltoyd, centralamerikanische, West-
indische, neugranadinische und venezuelanische Hafenplätze:
Colon-Aspinwall, Savanilla, La Gnayra, Puerto
Cabello, Havana.
Den großartigsten Aufschwung hat die Dampfschifffahrt
allerdings im nordatlantifchen Oceane genommen, zwi-
fchen Europa und den Vereinigten Staaten. Es ist bemer-
kenswerth, daß von den acht regelmäßigen Dampferlinien
keine einzige den Nordamerikanern gehört. Wir lefen,
daß jetzt auch die Holländer, welche bisher unthätig waren,
eine Linie von Vließingen nach den Vereinigten Staaten
eröffnen wollen.
Abgesehen von den Dampfern, welche, wie z. B. jene des
Bremer Lloyd, auch nach anderen Häfen, z. B. Baltimore,
fahren, besaßen die zwischen Europa und Neu York vor-
handenen Linien im Jahre 1870 nicht weniger als 107
Dampfer, zum großen Theil ganz ausgezeichnete Fahrzeuge,
Meisterwerke der Schiffsbaukunst von 2000 bis 4000 Ton-
nen Tragfähigkeit. Alle machten gute Geschäfte. Wir wol-
len einzelne Angaben über die verschiedenen Linien mittheilen.
1) Cnnard-Linie; sie ist die älteste und weiß ihren
guten Ruf zu bewahren; 25 Dampfer, wovon mehrere
3500 Tonnen halten. Sie machten 125 Doppelreifen; ein
Schiff, die „Scotia", von 4000 Tonnen, gebrauchte zur
Fahrt von Queenstown bis Neuyork nur 8 Tage 3 Stuu-
den 38 Minuten, und umgekehrt 8 Tage und 2 Stunden.
Die Cunarddampfer beförderten etwa 450,000 Tonnen Gü-
ter und 43,681 Fahrgäste aus, 11,420 nach Europa, von
welchen kein einziger starb oder verunglückte.
2) Anchor-Linie; Neuyork-Glasgow. Sie hatte 28
Dampfer in der Fahrt, von 1000 bis zu 3000 Tonnen;
dieselben laufen Londonderry an. Die Linie hat Verzwei-
gungen nach Skandinavien; diefe Fahrten haben Anschluß
dreimal im Monate, eben so jene nach Häsen des Mittel-
ländischen Meeres. Die Anchor-Linie machte nach und von
Amerika 102 (nach und vom Mittelmeere 103) Reisen, eine
davon in 9 Tagen 6 Stunden; durchschnittliche Ladung
1500 Tonnen Güter; 31,473 Fahrgäste nach, 8189 aus
Amerika. Die Gesellschaft hat jetzt (Frühjahr 1871) noch
6 große Dampfer, von mehr als 3000 Tonnen jeden, im
Bau.
3) Transatlantische Compagnie. Havre-Neuyork.
Nur 4 Schiffe, welche auch Brest anlausen; kürzeste Fahrt
von diesem Hafen nach Neuyork 8 Tage 22 Stunden. Fahr-
gäste 3380 aus, 3650 nach Frankreich. Vor Ausbruch
des Krieges hatte sie in jeder Fahrt 750 bis 800 Tonnen
Güter.
4) National-Linie. Neuyork-Liverpool; 10Dampfer,
wovon einer 4471 Tonnen, ein anderer 4039 Tonnen hat.
Sie machten 64 Reifen nach, 63 von Amerika, brachten nach
Neuyork 38,443 Fahrgäste, 117,492 Tonnen Güter; ver-
fchifften von dort 1271 Fahrgäste in der Cajüte, 3437 im
Zwischendeck, nebst 251,653 Tonnen Güter, zumeist Baum-
wolle, Taback, Getreide, Mehl, Käse und Schweinefleisch.
246 Geographische Verbreitung
Diese Linie läßt in jedem Jahre ihre Flotte um 2 neue
Dampfer vermehren.
5) Williams- und Gnyons-Linie. Nenyork-Liver-
Pool. Sie hat 8 große Dampfer, bis 3700 Tonnen, in der
Fahrt; 55 Reisen hin und eben so viele zurück; es kamen
mit denselben nach Neuyork 1538 Fahrgäste in der Cajüte,
27,792 im Zwischendeck und 73,620 Tonnen Güter; es
gingen von Neuyork 1240 Cajüten- und 4358 Zwischen-
deckpassagiere ab nebst 71,673 Tonnen Güter. Diese Linie
bringt 1871 noch 2 neue Dampfer in Fahrt.
6) Jnman-Linie. Liverpool-Neuyork. Sie hatte 13
Dampfer in der Fahrt, alle von 1750 bis 3000 Tonnen;
89 Reisen; brachte nach Amerika etwa 4000 Cajüten- und
45,000 Zwischeudeckpassagiere, nach Europa respective 3400
und 6500, zusammen etwa 58,900 Köpfe. Güterbeförde-
rung nach Europa etwa 80,000, nach Neuyork etwa 90,000
Tonnen. Demnächst soll der vierzehnte Dampfer in die
Fahrt kommen.
7) Die Hamburger Linie. Hamburg-Neuyork. Die-
selbe erlitt wegen des Krieges große Störungen. Unter-
regelmäßigen Verhältnissen läuft sie Havre, Plymouth und
Cherbonrg an; jetzt fahren die Dampfer direct. In der
Fahrt waren 7 Dampfer, jeder von mehr als 3000 Tonnen;
sie machten 1870, eben wegen jener Störung, nur 39 Rei-
feit zwischen Hamburg und Neuyork; die directe Fahrt stellt
sich durchschnittlich auf nur 12 Tage 9 Stuudeu; von
Neuyork nach Plymouth 10 Tage 7 Vs Stunde. Der Dam-
pfer „Silesia" fuhr von Havre nach Neuyork in 9 Tagen
11 Stunden und umgekehrt in 9 Tagen 7 Stunden. Diese
Hamburger Linie verdient alles Lob. Ihre Dampfer beför-
derten 1870 nach Neuyork 22,366 Fahrgaste und etwa
29,000 Tonnen Güter; von Neuyork nach Europa 5727
Passagiere und 40,000 Tonnen Güter. Sie hat auch 3
Geographische Verbreitung i
Durch Seltsamkeit der Blumenform und Pracht der
Farben stechen die Nepenthesarten die meisten anderen Pflan-
zen aus. Ihre im verschiedensten Farbenschmelz prangenden
riesigen, becher- oder krugförmigen Blüthen sind bis zur Hälfte
mit einem aromatischen Wasser gefüllt, das die Pflanze selbst
absondert und das dem Wanderer, der die Berge in den tro-
pischen Ländern besucht, wo die Nepenthespslanzen wachsen,
einen Labetrunk bietet. Um die Erforschung dieser schönen
Krugblumen hat sich vorzugsweise I. D. Ho ker, derDirector
der weltberühmten botanischen Gärten von Kew bei London,
verdient gemacht. Er hat soeben eine Monographie desGe-
schlechts Nepenthes abgeschlossen, die demnächst in Decan-
dolle's Prodromus systematis vegetabilium pnblicirt wer-
den soll. Vorläufig veröffentlicht Hooker darüber in der
Zeitschrift „Natnre" einige Mittheilungen, die wir hier wie-
dergeben wollen.
„Das Genus Nepenthes erstreckt sich von Madagaskar
im Westen bis nach Nordostaustralien, dem Louisiade-Archi-
pel und Neucaledouieu im Osten. Innerhalb dieses Ran-
mes zählt es dreißig Arten, von welchen die meisten gut
ausgesprochene Scheidungsmerkmale in der Krugblume zeigen,
bei denen aber, zwei Arten ausgenommen, die Structur so-
wohl der Blüthe als der Frucht wunderbar übereinstimmt.
Nepenthes hat zwei Centra seiner größten Entwicklung:
die Malayifche Halbinsel mit Einschluß von Sumatra und
id Inhalt der Krugpflanzen.
Schiffe in der Fahrt nach Havana und Neuorleaus; nach
Sanct Thomas, Aspinwall, Santa Martha, den Venezuela-
uifcheu Häfen und Brasilien fahren gleichfalls 3 Dampfer.
Alle diese Dampfer haben nur deutsche Capitäne, Mannschaft
nnd Bedienung; dasselbe ist auch mit den Dampfern des
Bremer Lloyd der Fall.
8) Die Linie des norddeutschen Lloyd. Bremen-
Neuyork. Auch sie hat in Folge des Krieges viele Hinder-
nisse erfahren. Bis zum Ausbruche desselben gingen in jeder
Woche von Bremen nach Neuyork, Southampton anlaufend,
zwei Dampfer ab; im Ganzen waren 12 Dampfer von
durchschnittlich 3000 Tonnen und 700 Pferdekraft in der
Fahrt nach Neuyork. Von Mitte Juli bis Anfang Octo-
ber waren diese überseeischen Reisen unterbrochen, und von
da ab ging bis Ende des Jahres in jeder Woche ein Dam-
pser hin und einer zurück. Auf die 56 Reifen kommen zwi-
schen Southampton und Neuyork 10 Tage 3 Stunden. Jene
Dampfer brachten von Neuyork uach Bremen 8021 Passa-
giere, nach Neuyork 27,298. Die Güterladuug betrug durch-
schnittlich 1300 Tonnen für jedes Schiff. Der Bremer
Lloyd hat ferner 4 Dampfer in der Fahrt nach Baltimore,
wohin monatlich 2 Fahrten unternommen werden; er hat
eine Linie nach Havana und weiter nach Neuorleans, und
jetzt, Mai 1871, auch 3 prachtvolle Dampfer in der Fahrt
nach Colon, Nengranada und Venezuela, mit Anschlüssen
nach Panama, allen Häfen der Westküste Amerikas, Japan
und China. Diese Linie ist in jeder Beziehung ausgezeich-
net, und auch bei ihr sind Capitäne, Mannschaft uud Be-
dienung ausschließlich deutsch.
Im Jahre 1870 machten 107 europäische Dampfer
zwifcheu Neuyork uud den geuaunten europäischen Häsen 1071
Reisen, sie hatten 302,148 Fahrgäste an Bord und 1,691,538
Tonnen Fracht.
id Inhalt der Krngpflanzen.
Borneo; in beiden Localitäten sind die Arten nicht nur zahl-
reicher, fouderu auch riesiger als in allen anderen Ländern.
Nicht weniger als 21 Species kommen in den beiden Cen-
tren vor, von denen 13 beiden gemeinsam sind; aber, was
sehr zu bemerken, das dazwischen liegende Eiland Java ent-
hält nur eine einzige Vertreterin dieses Geschlechts und zwar
eine von den borneonischen und malayischen gänzlich verschie-
dene Art. Hierdurch wird die Thatsache des biologischen
Zusammenhanges zwischen den beiden genannten Locali-
täten, woraus niederländische Naturforscher zuerst hinwiesen,
dargethan. (Später hat bekanntlich Wallace diesen Zusam-
menhang zwischen Borneo und der Malayischen Halbinsel
eonstatirt.) Nur eine Nepenthesart hat eine weite Berbrei-
tnng, Nepenthes phyllamphora., die sich von Sumatra
aus über Borneo, Amboina, China u. f. w. erstreckt, aber
auf Java fehlt.
„Von den malayischen Inseln uns westlich wendend, sin-
den wir eine Art im östlichen Bengalen, die der javanischen
mehr als irgend einer andern gleicht; eine zweite auf Ceylon,
die alte Nepenthes destillatoria Linne's. Weiter nach
Westen, den afrikanischen Inseln uns zuwendend, sehen wir,
wie schon bei der ceyloneser Art, Abweichungen von dem
Haupttypus, die sich nun schon auf die Structur des Samens
und der Frucht erstrecken; denn während alle östlichen Arten
lange Anhängsel am Samen zeigen, sind diese weit kürzer
Geographische Verbreitung und Inhalt der Krugpflanzen.
bei der Art von Madagaskar und fehlen ganz bei der Sey-
chellen-Species, die somit einen Fall analog dem Vorkom-
men ungeflügelter Jnsecten ans oceanischen Inseln repräfen-
tirt. Endlich reicht die Art der Seychellen-Jnseln von allen
anderen in der Bauart des Ovariums und der Kapsel ab.
„Mit einem Worte, die Abweichung vom Typus des
Geschlechts beginnt an der Westgrenze des hauptsächlichen
Verbreituugsceutrums, nämlich in Ceylon; und die begiu-
ueude Abweichung, diejenige, welche wir bei der Ceylon-Art
antreffen, ist die leichteste, doch wird sie gleichsam nach We-
sten hin fortgepflanzt, indem sie zugleich die beiden asrikani-
scheu Jnselkrugpslanzen charakterisirt, die ihrerseits ,t>ann noch
mehr vom Stammtypus abweicheu. Das Maximum der
Abweichung aber kommt auf der großen subtropischen Insel
Madagaskar vor, wo die einheimische Art eine große Ver-
breitung hat. Ans dem kleinen oceanischen Archipel der Sey-
chellen ist die einzige einheimische Art dagegen nur aus den
Berggipfel einer
einzigen Insel be-
schränkt. (Auch die
dort allein vor-
kommende Doppel-
cocosnuß, Laodi-
cea Seychellarum,
wächst nur auf drei
kleinen Eilanden
der Gruppe.)
„Die einzige
Thatfache, die mir
bei der Art dieser
Verbreitung ausfiel,
war, daß das Ge-
schlecht Nepenthes,
obgleich auf den
Seychellen vorkom-
meud, auf der
Maskarenengruppe
(Mauritius, Bour-
bon und Rodriguez)
fehlt. Dieses ist
nur ein Beispiel
für den weiten Un-
terfchied, welcher
zwischen der Vege-
tation dieser Archi-
pele vorhanden ist,
uud der theilweise
damit zusammen-
hängt, daß die Maskarenengruppe vulcanisch ist, die Sey-
chelleninseln aber grauitischer und quarziger Natur sind.
Im Zusammenhange und coordinirt mit dieser Erschei-
nnng der Pslanzenverbreitung, mit der geographischen Lage
und der geologischen Structur steht, daß die Flora der Sey-
chellen mehr asiatisch und die Floren ihrer verschiedenen
Eilande mehr einförmig sind, während die Floren der einzel-
nen Maskarenen wunderbar unter einander abweichen und
die Vegetation der ganzen Gruppe ein mehr afrikanisches als
indisches Gepräge trügt. Die Flora der Maskarenengruppe
kann daher als ein sehr alter afrikanischer Borposten betrach-
tet werden, oder aber als eine jüngere Anhäufung von Pslan-
zen, die zu verschiedenen Perioden aus Afrika kamen, nach-
träglich aber durch verschiedene Einwirkungen aus den ein-
zelnen Inseln sehr verändert wurden; oder endlich ihre
Eigenthümlichkeiten entstanden unter dem Einflüsse beider
Ursachen. Obgleich die Maskarenen und Seychellen schon
seit Langem von Niederländern, Franzosen und Engländern
colonisirt wurden, sind ihre Floren doch noch sehr unvoll-
kommen bekannt; so viel aber ist von der Vegetation der
Maskarenen schon bekannt, daß wir erkennen können, daß
ihre Beziehungen zu jener der Seychellen und jener Mada-
gaskars und die Beziehungen aller drei zu Indien und Afrika
sehr verwickelt sind, und daß sie eines der schwierigsten Pro-
bleme der Pflanzengeographie bilden."
So weit Hooker. Heber die Nepenthesarten auf Borneo,
einem ihrer wichtigsten Fundorte, fügen wir nach dem Werke
Spenfer St. John's, Life in the far East, noch einige
Erläuterungen hinzu. Die schönsten, schon von Low ent-
deckten Arten, sagt er, wachsen auf dem 13,698 englische
Fuß hohen Kina-balu, am Nordende der großen Insel. Ne-
penthes Edwardsiana, Nepenthes villosa und Nepenthes
Rajah aber sind die herrlichsten unter allen. Die letztere,
benannt nach Radscha Sir James Brooke, ist auch die größte.
Obgleich die Pflanze selbst nur 4 Fuß lang wird, trägt sie
doch zahlreiche Blu-
menkrüge, die jeder
15 Zoll lang wer-
den. Der ovale
Rand eines solchen
Kruges ist von ei-
nein gefältelten
Saume von etwa 2
Zoll Breite umge-
ben, dessen fleisch-
rothe Färbung von
dem tiefvioletten
Purpur des eigeut-
lichen Kruges stark
absticht. Ein brei-
ter, blattartiger,
grüner Anwuchs,
der vom obern Theil
des fleischfarbigen
Randes sich ab-
hebt, überschattet die
Oeffnnng des Krn-
ges. Diefe herr-
liche Pflanze wurde
in einer Höhe von
5000 Fuß von Low
am Kina-balu aus-
gefunden. Ihre
größten Blu-
Krugblumen. menkrüge hatten
einen Umfang
von zwei Fuß; sie glichen also kleinen Eimern. In einem
derselben fand Low eine ertrunkene Ratte. Einige taufend
Fuß höher am Kina-balu wächst Nepenthes Edwardsiana.
Diese hübsche Pflanze, welche eine Länge von 20 Fuß er-
reicht, schmarotzt auf Bäumen, von denen man die cylinder-
förmigen, sein gerippten Krüge herabhängen sieht. Der nach
der Basis zu angeschwollene Blumenkrug ist unten erbsen-
grün und geht nach oben in ein lebhaftes Roth über. Die
Mündung ist fast kreisrund, die Länge des Cylinders be-
trägt bei ausgewachsenen Exemplaren fast zwei Fuß. In
der gleichen Höhe kommt am Kina-balu Nepenthes villosa
vor, die sich durch behaarte, pfirsichfarbeue, mit Carmoisin
gesprenkelte Krüge auszeichnet.
Der bedeutende Wasser- oder Flüssigkeitsinhalt in den
mächtigen Blumeukrügeu der Nepenthes-Arten hat von je die
Aufmerksamkeit der Naturforscher angezogen. Er ist oft so
groß, daß, wie Low fand, eine Ratte darin zu ertrinken ver-
mag. Der Bolksmund in den Ländern, wo die Nepenthes
248 Karl Andree: Zur KennzeitZ
wachsen, sagt natürlich, es seien Behälter, die für den Rei-
senden in wasserarmen Gegenden eingerichtet seien, damit er
daraus seinen Durst löschen könne. Keinensalls darf man
annehmen, daß die Flüssigkeit in den Krügen etwa aus Re-
geuwasser bestehe, welches von außen hineingelangte; im Ge-
gentheil, sie wird durch natürliche Absonderung der Blüthe
angesammelt. Die chemische Natur dieser Flüssigkeit ergrün-
dete vor einigen Jahren zuerst unser Landsmann Dr. Völcker,
der iu Liebig und Kopp's chemischem Jahresbericht seine
Analyse mittheilte. „Die Flüssigkeit," sagt er, „war im
Allgemeinen klar und farblos, selten gelblich und röthete
Lackmuspapier (d. h. zeigte saure Reaction). Aus verschie-
denen Pflanzen gesammelt erhielt ich 0,92, 0,91, 0,87, 0,58,
0,62 und 0,27 Procent Rückstand durch Eindampfen. Die-
ser Rückstand nun enthielt in 100 Theilen 38,gi Procent
organische Materie, bestehend hauptsächlich aus Apselsäure
uud eiu wenig Citronensäure, ferner 50,02 Chlorkalium,
6,36 Natron, 2,59 Kalk und 2,59 Magnesia." Durch diese
Analyse des deutschen Chemikers wird die Beschaffenheit der
Flüssigkeit in den Nepenthes-Blumenkrügen vollkommen auf-
geklärt; sie besteht danach ans 99 Procent Wasser und nur
aus 1 Procent alkalischer Salze, neben denen Apfel- und
Citronensäure vorkommen.
Auch bei anderen Blüthen hat man eine ähnliche Ab-
sonderuug von Flüssigkeit im größern Maßstabe beobachtet,
so bei verschiedenen Orchideen, namentlich Coryanthes-Arten.
Amerika hat gleichfalls seine Krugblumen, oder sagen
wir besser Krugblätter, denn eigentümliche, dort vorkom-
mende Orchideen zeigen dicke Blätter mit znsammengewach-
senen Rändern, die auf diese Art ein Füllhorn darstellen.
Da ist zunächst die Hörnchenblume, die in den Sümpfen
Nordamerikas wächst. Die Amerikaner nennen sie Side-
saddle-flower, d. h. Damensattelblume, der Botaniker be-
zeichnet sie als Sarracenia purpurea. Während das um-
gebende Sumpfwasser lau und ekelhaft ist, enthalten die Krüge
der Sarracenia ein erquickendes Getränk. So ist auch das
Krugblatt, wie die Nepenthes-Arten der indischen Meere,
für Nordamerika eine wunderbare vegetabilische Quelle der
Natur.
Nahe verwandt mit der Sarracenia ist das californi-
ung der Leute in Frankreich.
fche Krugblatt (varlingtonia californica), über welches
kürzlich („Linnean Society", 15. December 1870) W. Ro-
binfon einen eingehenden Bericht veröffentlichte. Die Dar-
lingtonia wächst in der Sierra Nevada in einer Höhe von
5000 Fuß über dem Meere, an sumpfigen Orten, zusammen
mit Sphagnummoos. Die Krüge gleichen in der Entser-
nnng großen Herbstbirnen und erheben sich von der Wurzel
10 bis 24 Zoll über den Boden, sind also ganz anständige
Füllhörner. Das Interessanteste aber ist ihr merkwürdiger
Inhalt. „Jeder Krug," berichtet Robiuson, „hat an seinem
Grunde eine 2 bis 5 Zoll hohe Lage von fest zusammen-
gepackten. Jnsectenresten, von den kleinsten Käfern an bis
zum großen Nachtschmetterling hinauf. Was die Jnsecten
in die Krüge hineinzieht, ist noch keineswegs aufgeklärt.
Schneidet man mit einem scharfen Messer die rund um eine
alte Darlingtonia herumstehenden braunen Krugblätter ziem-
lich tief unten ab, so gleichen die Stümpfe einer Anzahl
offener Röhren, die dicht mit Jnsectenresten vollgestopft sind.
Die Innenseite der Blattkrüge ist am obern Ende glatt, dann
erscheinen vereinzelte Haare darin, endlich aber, immer weiter
nach unten zu, wird die Kammer mit nadelartigen Haaren
dicht bedeckt, die alle nach unten mit der Spitze stehen, so
daß sie fast gegen die Oberfläche anliegen, von der sie aus-
gehen. Diese Haare sind sehr schlank, durchscheinend und
etwa */4 Zoll lang, doch haben sie eine nadelartige Steife
und sind völlig farblos. Die Fliegen, Schmettertinge und
Küferchen spazieren gemächlich in den Schlund hinein, keines
aber kehrt zurück. Der Krug, welcher an der Oessnung
einige Zoll weiter ist, verengert sich allmälig und hat am
Grunde einen Durchmesser von etwa einer Linie. Hier und
ein klein wenig höher noch treten die Spitzen der Nadeln
zusammen, und die unglückliche Fliege gelangt mit dem Kopfe
endlich zwischen die starrenden Bayonette, welche sie zurück-
halten, bis sie stirbt. Am Grunde findet man nur sehr
kleine Thierchen, höher hinaus größere und größere, die alle
von den Nadeln zurückgehalten wurden und nun dicht über
einander gepackt liegen." Aber nicht bloß in ihrer Heimath
lockt die Darlingtonia Jnsecten an, man hat das Nämliche
schon bei in Europa gezüchteten Exemplaren bemerkt.
Zur Kennzeichnung der Leute in Frankreichs
Von Karl Andree.
II.
Kein anderes Volk hat so rasche, so plötzliche Umwände-
luugen, oder richtiger ausgedrückt Umstürze, erfahren, als die
Franzosen. Sie werfen sich allemal und nach kurzen Zwi-
schenränmen selber gleichsam über Bord. „Wo wäre bei
ihnen das neue dauerhafte Gebäude, in welchem man sich
behaglich und sicher siihlt? Vielfach mangelt die Verstän-
digung; das Leben ist bis in seine innersten Beziehungen
gestört; wer sich nicht selber täuschen will, muß sich
sagen, daß er auf einem Vulcane stehe, defsenWie-
deransbrnch lediglich eine Frage der Zeit ist. Man
fühlt sich nicht sicher aus solchem Boden, und die Autorität,
nur auf Zwang und Soldaten gestützt, wird unablässig in
Frage gestellt. Sie selber weiß, daß sie keinen festen Grund
unter sich hat; wirkliche Zugeständnisse kann und will sie
nicht machen, aber sie verbrämt ihr System mühsam ver-
hüllter Willkür mit constitutionellem Katzengolde. So hält
sie sich, stets argwöhnisch, durch verwerfliche Mittel so lange
es eben gehen kann. Dann wird sie von einem Orcan
hinweggefegt werden und hinterher kommt wieder
eine wilde Sündfluth. Und was dann? Es ist ein
verhexter Kreis, aus welchem bisher die Franzosen sich nicht
Heraussinden konnten."
Ich schrieb diese Worte im Jahre 1867 („Globus" XII,
©.44: „Die drei großen Völkergruppen in Europa; II. die
romanischen Völker), und das damals Gesagte trifft auch
heute wieder zu.
Die Franzosen haben seit den Tagen der ersten Revo-
tutton nicht Demokratie genug bekommen können, und sie
Karl Andres: Zur Kennzei«
tragen die nothwendigen Folgen davon. Der Verlauf aller
Geschichte der Völker zeigt, wie wahr es ist, was der alte
Aristoteles gesagt hat: „Die äußerste Demokratie und
die äußerste Oligarchie gehen leicht in den Despo-
tismus eines Einzelnen Uber" (Politik IV, 11); und
an einer andern Stelle bemerkt er: „Was aber beiden
den Untergang bringt, führt auch ebenso wieder
das Ende der Tyrannis herbei" (V, 10).
Damit ist der Kreislauf der politischen Dinge im moder-
nen Frankreich gekennzeichnet. Ich kann nicht unterlassen,
noch einige andere Aussprüche des hellenischen Weisen an-
zuführen, weil sie so frappant richtig sind und ihre Anwen-
dnng auch in der Gegenwart finden.
Die Ochlokratie, die Massenherrschaft — Cheirokratie,
oder auch Laokratie —, charakterisirt er folgendermaßen:
„Was unter den Königen der Despot, das ist unter den
Demokratien ein an keine Gesetze gebundenes Volk. Beide
haben ähnliche Sitten; beide sind geneigt, diejenigen zu uu-
terdrücken, welche gewisse Vorzüge besitzen. Die Beschlüsse
der Versammlung (— commune —) uud die Decrete
des Despoten, der Demagog und der Schmeichler, sind
vollkommen analoge Dinge. Denn herrscht das Volk
unbedingt, so sind es wieder die Demagogen, welche das Volk
beherrschen, und diese sind demnach die obersten Regenten."
„Die unbeschränkte Demokratie ist etwas Ausgeartetes
uud verdient den Tadel, so sehr Demokratie zu sein, daß
sie aufhört, eine wirkliche Verfassung und Ordnung des
Staates zu sein. — Die Demokratie in ihrem Extrem ist
eine Tyrannei, und deshalb ist sie auf die Tyrannei eines Ein-
zelnen um so eifersüchtiger."
„Das demokratische Recht sieht auf die numerische,
nicht auf die proportionirte Gleichheit; es theilt die Vor-
rechte nach der Mehrheit, nicht nach dem Gewichte und der
Würde der Personen aus, so daß dann der große Hanse
herrscht, uud was die Majorität beschließt, Gesetz ist." —
Im Folgenden ist schon das Programm der Pariser Com-
mnnisten gegeben: „Wenn die bloße Mehrheit der Köpse das
gerecht machen kann, was sie beschließt, so ist es auch nicht
Unrecht, wenn sich diese Mehrheit der Güter der Reichen be-
mächtigt, dieselben einzieht und verkauft." —
Jede Regierungsform hat so zu sagen ihre Naturgeschichte;
aber uncontrolirte Regierungsformen, die kein Gegen-
gewicht haben, wo also die Regierungsform nicht eine ge-
mischte ist, arten allemal aus. Das wußte auch Cicero
(Respublica I, 45): Si ex rege dominus, ex optima-
tibus factio, ex populo turba et confusio fit;
also: Der König strebt nach Alleinherrschaft, der Aristokrat
wird factiös, die Volksmasse richtet Verwirrung an. —
Deshalb ist es uothwendig, jedem dieser drei Factoren ein
Gewicht anzuhängen, welches ihn in der angemessenen und
richtigen Lage erhält.
Mit solchen Gegengewichten haben die Franzosen einige
Versuche gemacht, die jedoch mißlangen. Sie konnten die
Theilung der Gewalten, die constitutionelle Monarchie, nicht
vertragen uud haben dieselbe wieder über den Haufen ge-
warfen. Sie haben ein Gleiches mit der Tyrannis der Na-
poleone und mit ihren Pseudorepubliken gethan; auch diese
letzteren waren lediglich ein centralisirter Despotismus.
Kein anderes Volk, es wurde schon gesagt, hat sich in so
jähen, unvermittelten Sprüngen gefallen; diese aber ent-
sprechen dem ethnischen Naturell der Franzosen. Sie grei-
sen alles Neue mit Leidenschaft auf, lassen es sofort aber
wieder fallen, um es wiederum mit Neuem zu vertauschen.
Dem Volk als solchem fehlt die ethische Kraft, die indivi-
duelle Selbständigkeit der Menschen; im Großen und Gan-
zen genommen sind sie seit nun bald einem Jahrhundert nicht
Globus XIX. Nr. 16. (Mai 1871.)
rtung der Leute in Frankreich. 249
aus dem Fieber herausgekommen. Auf Gluthhitze folgt
. Eiseskälte, Alles ist und bleibt provisorisch.
„Vor nun hundert Jahren küßten die Pariser einem Eil-
boten die Reiterstiefelu, als er die Nachricht brachte, daß
Ludwig der Fünfzehnte, der Vielgeliebte, dem Mordangriffe
des Damiens nicht erlegen sei. Ein paar Jahrzehnte nach-
her sank das Haupt eines andern Ludwig, des Vielersehnten,
unter dem Fallbeile. Es waren Menschen einer und der-
selben Generation, welche für die Ludwige, die National-
Versammlung, den Convent, den Consul und den Kaiser
schwärmten, — für den idealistischen Lasayette, den feurigen
Mirabeau, den stürmisch wilden, kolossal polternden Danton
und den abstract kalten Robespierre, welchen Thomas Car-
lyle so bezeichnend eine seegrüne Formel nennt. Sie schwärm-
ten auch für den genialen und berechnenden Napoleon mit
dem großen Geist und der kleinen Seele, für diesen Jmpe-
rator, der allein in einem zu Brei und Gallert zerquetschten
Volk als ein willenskrästiger Mann von Charakter dastand.
Und der war ein Italiener. Zuletzt haben sie auch ihn
verflucht und fallen lassen. Dieser Corse hatte das Erbe
der französischen Revolution angetreten, als die Gesellschaft,
fchon ein ganzes Jahrzehnt von einem Paroxismus nach dem
andern durchschüttelt, endlich matt und müde war uud sich
um jeden Preis nach Ruhe sehnte, wie das zerrüttete Rom
in den Tagen des Octavian. Gleich diesem Augustus wurde
auch Bouaparte als Napoleon Alleinherrscher: cnncta, dis-
cordiis civilibus fessa, nomine principis sub Im-
perium accepit. Zehn Jahre lang führte er Schwert
und Scepter eines Imperators, und nachdem er den revo-
lutionären Sinn der Nation in andere Canäle geleitet, und
Europa vou der Scylla und Charybdis bis zu den Hyper-
boräern siegreich durchzogen, erblich sein Stern an der Be-
resina und auf den Blachfeldern bei Leipzig und Waterloo.
Er hatte Thoren alle jene gescholten, welche noch von den
Capets träumten, und doch war es nach ihm ein Capet, ein
Ludwig, der wieder in die Tuilerien einzog, unter dem hellen
Jubel derselben fiebergeschüttelten Nation, welche die Adler
und das dreifarbige Banner herabriß, um vom Dache des
Palastes die lilienbefäete Fahne der Bourbons herabflattern
zu lassen."
„Und wieder nach fünfzehn Jahren krähete von demsel-
ben Dache der gallische Hahn über derselben dreifarbigen
Fahne der Revolution; der Nachkomme des heiligen Ludwig
flüchtete über den Canal in die Verbannung, wie achtzehn
Jahre fpäter derselbe hochbetagte Orleans, Egalite's Sohn,
welcher das weiße Symbol des alten Herrscherstammes in
den Staub getreten hatte und nicht gen Rheims gepilgert
war, um dort in der Kathedrale den Inhalt des heiligen
Oelkrnges auf seinen Scheitel träufeln zu lassen."
„So schwach sind alle diese aufeinander folgenden Herr-
scher und ihre Systeme gewesen, daß nach dem Vorüber-
brausen des ersten revolutionären Orcans, der Alles, wie
man sagte, gleich gemacht hatte, auch die Regierungen wie
im Nu verschwanden. So wenig konnten sie sich in
Land und Volk fest bewurzeln, daß allemal nur
einige Tage und kecke Handstreiche van Nöthen wa-
ren, um sie aus demDasein zu vertilgen. Keine Hand
erhob sich für den Mann der Grenadierboyotte von St. Cloud,
keine Hand für den Sieger in hundert Schlachten, nachdem
er durch sich selbst gefallen war; wenige Schwerter von
Bauern und Edelleuteu, uud auch diese nur in einem kleinen
Landeswinkel, wurden für die älteren Bourbons aus der
Scheide gezogen, gar keine für die Orleans und noch wem-
ger für die zweite Republik, welche man in demselben Frank-
reich gründen wollte, dem es neben manchen anderen Dingen
auch an Republikanern gebricht. So konnte eine nene Auf-
250 Karl Andree: Zur Kennzeic
läge des achtzehnten Brnmaire erscheinen, und seit dem 2.
December 1851 lagen Land und Volk vor der corsischen
Standarte im Staube und vor dem neuen Imperator."
„Und der amtliche und nicht amtliche Jubel und Enthn-
siasmus dringt dieser Nation aus allen Poren, ganz so wie
schon so oft im Laufe der letztverflossenen Jahrzehnte. Wer
könnte auch im französischen Tarantelwirbel oder in diesem
Maelstrome mit Sicherheit behaupten, was geschehen oder
nicht geschehen wird, was angefangen oder vollendet werden
soll, ehe zwölf Monate ihren Kreislauf gemacht? Denn
Frankreich ist ja das Land des Wechsels und im Wechsel
allein beständig. In den Tragödien, welche die Franzosen
vor der staunenden Welt aufführen, spielt der erste und der
letzte Act allemal in Paris, dem Treibhause und classischen
Boden der erschütternden Revolutionen, und allemal ent-
sprach bis jetzt die Katastrophe den Worten des Dichters:
daß auf schwindelnde Höhe der tiefe, donnernde Fall folgt."
„In Frankreich giebt es nur einen Gott: den Erfolg.
Es ist nicht zu hart ausgedrückt, wenn man fagt, in Frank-
reich ist Alles lose, selbst der Grund und Boden ist fliegend,
wie die fahrende Habe. Wer mag nun auf folche fchwiu-
delude und fieberhafte politische und moralische Zustände, die
nicht das geringste Merkmal von Dauer an sich tragen,
sichere Combiuationen bauen wollen? Das Fieber ist
bei den Franzosen immer im Blute, und am Ende
wirft es sich allemal nach außen, meist in einer
ganz incommensnrabeln Weise." —
Ich schrieb das Vorstehende vor länger als achtzehn Iah-
ren nieder. In Bremen war ich mit Franzosen bekannt,
welche seit 1848 sich als eifrige Republikaner hingestellt hat-
ten; es überraschte mich indessen nicht, als ich an einem
Decembertage 1852 sah, wie sie in einem Hotel ein Banket
zu Ehren des Kaisers hielten und das Wohlergehen des Ret-
ters der Gesellschaft in Champagnerwein tranken. Sie wa-
ren eben Franzosen und rasch umgeschlagen von der abstrac-
ten Republik zum Cäsarismus mit dem Prätorianerthume.
Ich empfand einen tiefen innern Widerwillen und erinnerte
mich der Worte des Juvenal: Natio comoeda est; si
dixeris aestuo, sudat.
Auch für den Decembermann erhob sich nicht eine einzige
Hand. Sie haben lange Jahre sein Joch getragen und sich
dabei aufgebläht; sie fielen einer völligen Verderbniß und
Zersetzung anheim; aber zurSelbsterkenntniß find fie
noch heute uicht gekommen. Auch jetzt, inmitten ihrer
tiefen Verkommenheit, lügen sie und prahlen sie unablässig,
während sie im Bürgerkriege sich zerfleischen, und verhöhnen
den Zwingherrn, welchem sie vor gerade einem Jahre zum
dritten Male mit sieben Millionen Stimmen seine Herrschast
und sein System bestätigten. Ihr Ronssean hat gesagt wie
sie sind: „Quand les citoyens, tombes dans la servitude,
n'ont plus ni liberte, ni volonte, la crainte et la
flatterie changent en acclamations les suf-
frages. On ne delibere plus, — on adore ou
l'on maudit. Teile etait la fagon d'opiner sous les
empereurs."
Die sittliche und politische Zersetzung tritt in ab-
schreckender Weise bei den Franzosen zu Tage; sie äußert
ihre Wirkung auch auf die geistigen Erzeugnisse, welche, ab-
gesehen von rühmlichen Leistungen mancher eigentlichen Ge-
lehrten, mehr nnd mehr verflachten und der Liederlichkeit
anheimfielen. Selbst Napoleon der Dritte war darüber er-
schrocken; einst fragte er den Akademiker Sandeau: „Woher
der Verfall und die Mittelmäßigkeit unserer Literatur?" Er
hätte die Antwort sich selber leicht geben können. Jeder
Despotismus corrnmpirt, und bei der Leichtfertigkeit und dem
auf das Aeußere gerichteten Trachten des französischen Na-
lung der Leute in Frankreich.
turells, bei der bodenlosen Corruption der Hauptstadt und
der großen Städte in den Provinzen, welche den Parisern
nachahniten, konnte das Gute und Schöne und Edle nicht
gedeihen.
Es ist klar, daß die vier romanischen Völker, welche katho-
lische Staaten bilden, nicht genug sittlichen Nerv haben, um
auf einer gewissen Höhe zu bleiben. Spanien ist bis in
seine Tiefen zerrüttet und literarisch zurückgeblieben, wie das
nach allen Richtungen hin unbedeutende Portugal. Italien
hat feine äußere Einheit festgestellt und in manchen Kreisen
tritt dort ein ehrenwerthes Streben hervor; aber die Massen
sind in allen drei Ländern abergläubisch, ungebildet und
stehen unter dem Zwange der Hierarchie. Ein Gleiches ist
mit der Volksmenge in Frankreich der Fall, die in einer ge-
radezu Schrecken erregenden Unbildung und Verwahrlosung
sich befindet. Das gilt von den Bauern im Allgemeinen;
zu ihnen bildet das städtische Proletariat mit seinen commuui-
stischeu Bestrebungen einen grellen Gegensatz *). Die Lite-
ratur ist mehr und mehr frivol geworden, schmachvoll rasfi-
nirt, zu nicht geringem Theil wie für die Bordelle berechnet,
und Rechtschaffenheit in der Ehe wie im bürgerlichen Leben
verhöhnend. Das gilt von einer großen Anzahl von Theater-
stücken und Romanen, in denen unzüchtige Weibsbilder, die
für Geld und Putz feil sind, die Hauptfiguren bilden. Die
Kaiserzeit war das Paradies der Cocotteu, und diese sind
nicht etwa aus die niederen Classen beschränkt. Napoleoni-
sche Marschälle, die ä Berlin wollten, nahmen einen Harem
von vornehmen Frauenzimmern, Herzoginnen nicht ausge-
schlössen, mit ins Feld, deren Toiletten dann von deutschen
Kriegern erbeutet wurden.
Nicht allen Franzosen hat das Verständniß des Volks-
charakters ihrer Landsleute gemangelt. Voltaire hat sie
bekanntlich als: halb Tiger, halb Affen bezeichnet;
Proudhon's Meinung über ihren Werth war nur gering,
er erklärte sie gut für Kanonenfutter; de Tocqueville,
einer der besten Männer, welche sie in diesem Jahrhundert
gehabt haben, äußerte: Manche einzelne Franzosen haben
als Individuen gesunden Menschenverstand, die Franzosen
als Volk und als Bürger genommen haben ihn nicht. Cor-
menin's Ausspruch ist schou früher mitgetheilt worden.
Das „Journal des Debats" klagte bitter: „Unsere
Erbsünde ist die Lüge," aber es selber log Tag für Tag
frisch weg und verwandelte Niederlagen in glänzende Siege!
Lamartine erklärte, daß seine Hunde ihm lieber seien als
die französischen Volksvertreter (plus je vois de represen-
tants du peuple, plus j'aime mes chiens).
*) In Paris ermordeten die Communisten zwei Generale meuch--
lings und schändeten in barbarischer Weise die Leichen. Unter den
Bauern ist die Barbarei nicht geringer und eine Jacquerie, wie
im Mittelalter, erscheint verständigen'Franzosen als keineswegs un-
möglich. Das Folgende berichtete das „Journal des Debats" vom
19. August 1870: „In der Ortschaft Haute Faye, Departement der
Dordogne, erschien auf dem Markte Herr Monnsis, Sohn einer an-
gesehenen Familie der Umgegend, in Begleitung seines Vetters. Eine
Bande junger Bursche verhöhnte ihn und rief: sein Geld gestatte
ihm, sich einen Stellvertreter zu kaufen, der für ihn die Haut zu
Markte tragen müsse. In anständiger Weise entgegnete er, daß er-
sich seiner Dienstpflicht nicht entziehen werde; wer das thue, sei ein
Elender, gerade wie Jene, welche da rufen: Es lebe Preußen hoch!
Es scheint, als ob ein Theil der Bande nur die letzten Worte: Vive
la Prusse! gehört habe; die Bursche fanden darin eine Herausforde-
rung, ergriffen Herrn Monneis und mißhandelten ihn. Mit Hülfe
des Pfarrers und des Maire konnte er sich in ein Haus flüchten;
aber seine Verfolger holten ihn heraus und schlugen ihn blutig.
Dann schleiften sie ihn nach einer Grube und verbrannten ihn
dort lebendig. Als sein Vater herbeikam, fand er nur noch Koh-
len und Asche/ Diese Thatsache steht fest; nach einer andern An-
gäbe beging die Bande ihren Frevel, weil Monnöis sich geweigert
habe, zu rufen: Es lebe der Kaiser!"
Karl Andres: Zur Kennzeic
Im gewöhnlichen Lebensverkehr haben viele Franzosen
äußern Schliff, gefällige Umgangsformen und ihre Sprache
eignet sich trefflich für Phrasen und Complimente, die hübsch
klingen und nichts bedeuten; sie sind wie blanke Scheide-
münze im Verkehr. Georg Forst er sagt: sie machen man-
chen ihrer Fehler durch Witz verzeihlich, — und Witz ist ihnen
allerdings nicht abzusprechen. Lessing hat gemeint, „daß
manche Laster bei ihnen zu Artigkeiten werden," — aber
Laster bleiben sie trotzdem.
Der französische Maler Gerard sagte von seinen eigenen
Landsleuten: „C'est un peuple immoral et oü il n'y a
pas de moralite. L'art est impossible chez nous; c'est
ä l'Allemagne que l'art est alle; voilä un peuple
vierge."
Chateaubriand, der doch selber eitel genug war, be-
klagte vielfach die „Auflösung", welcher das französische Volk
anheimgefallen sei. Darüber könne man sich mit dem Be-
sitze des Esprit, der keine solide Eigenschaft sei, nicht trösten.
Sehr bemerkenswerth ist folgende Eintheilnng derMün-
ner, die namentlich in den Pariser Kreisen sehr rasch leben.
Aus solch einem „Lebemanne" wird dann mit 35 Iahren
schon ein Marmotte (Murmelthier); mit 33 Jahren ist er
Rococco; mit 44 Perruque; mit 45 Vieillard (Greis);
mit 48 bis 50 Protecteur; mit 53 bis 54 Vieillard re-
spectable; mit 55 Carcasse (Gertpp) und mit 60 Fossile!
Heinrich Heine, den eine gewisse Frivolität wahlver-
wandt zu den Franzosen hinzog, in deren Land er auch ge-
storben ist, fühlte doch unendlich höhere Achtung vor seinen
Deutschen. Für feine poetischen Gefühle hätte die französi-
fche Sprache ihm keine Ausdrücke gewährt, höchstens für
feine Witze und Witzeleien. Wie schilderte er die Franzosen
in den „Zuständen" vor nun mehr als dreißig Jahren?
„Nicht bloß der Glaube an Personen ist hier (in Paris)
vernichtet, fondern auch der Glaube an Alles, was
existirt. In den meisten Fällen zweifelt man nicht ein-
mal, denn der Zweifel setzt einen Glauben voraus. Es
giebt hier keine Atheisten; man hat für den lieben Gott nicht
einmal so viel Achtung übrig, daß man sich die Mühe gäbe,
ihn zu leugnen. Die alte Religion ist gründlich todt, sie ist
bereits in Verwesung übergegangen; die Mehrheit will von
diesem Leichnam nichts mehr wissen und hält das Schnupf-
tuch vor die Nafe, wenn vom Katholicismus die Rede ist.
Die alte Moral ist ebenfalls todt, oder vielmehr sie ist nur
noch ein Gespenst, das nicht einmal des Nachts erscheint.
Wahrlich, wenn ich dieses Volk betrachte, wie es zuweilen
hervorstürmt, und auf dem Tische, welchen man Altar nennt,
die heiligen Puppen zerschlägt, und von dem Stuhle, den
man Thron nennt, den rothen Sammt abreißt, und neues
Brot und neue Speisen verlangt, und feine Lust daran hat,
aus den eigenen Herzwunden das freche Lebensblut fpru-
deln zu sehen, — dann will es mich bedünken, dieses Volk
glaube nicht einmal an den Tod. Bei solchen Ungläubigen
wurzelt das Königthum nur noch in den kleinen Bedürfnissen
der Eitelkeit, eine größere Gewalt aber treibt sie wider ihren
Willen zur Republik. Diese Menschen, deren Bedürs-
nissen nach Auszeichnung ^ind Prunk nur die mouar-
chische Regierungsform entspricht, sind dennoch durch die
Unvereinbarkeit ihres Wesens mit den Bedürfnissen des Roya-
lismus zur Republik (— das heißt hier zur zügellosen Un-
gebuudeuheit —) verdammt. Die Deutschen aber sind
noch nicht in diesem Falle; bei ihnen ist der Glaube an
Autoritäten noch nicht erloschen, uud nichts Wesentliches
drängt sie zur republikanischen Regierungsform." —
Die heutigen Franzosen sind genau so, wie Julius
Cäsar die alten Gallier schildert. Hören wir den großen
Feldherrn, der zugleich ein großer Schriftsteller war. „Sie
cung der Leute in Frankreich. 251
(die Gallier) trachteten aus Leichtsinn und Wetter-
wendigkeit nach einer Aenderung in den Staats-
Verhältnissen." („Mobilitate et levitate animi
novis imperiis studebant." De bello gallico II, 1.)
Den radicalen Gegensatz zwischen dem Volkscharakter der
Gallier und Germanen hat der scharfblickende Römer vor-
trefflich begriffen; es ist, als ob das, was er fagt, im Jahre
1871 geschrieben worden wäre. Zunächst betont er: In
Grallia non solum in omnibus civitatibus atque pagis
partibusque, sed paene etiam in singulis domibus
factiones sunt. VI, 11. Also: In Gallien sindet man
nicht allein in allen Staaten, in allen Gauen und deren
Unterabtheilungen, sondern fast in jedem einzelnen Hause
Factiouen. Dagegen: Germani multum ab hac con-
suetudine differunt.
An einer andern Stelle, VI, 20, heißt es: „Die Er-
fahrung hat gelehrt, daß das dumme, einfältige Volk sich
häufig durch falsche Gerüchte aufregen, zu Tollheiten
verführen und zu Beschlüssen von der schwersten Tragweite
hinreißen läßt."
Die Druiden hatten auf die Volksmafsen denselben Ein-
fluß, wie heute bei den Bauern die Landpfarrer. Sie legten
die „Göttersprüche" aus, wie der Pfarrer die Lehren feiner
Kirche; sie führten ein großes Wort in öffentlichen und in
Privatstreitigkeiten, und wer sich ihrem Spruche nicht unterwarf,
den thaten sie in den Kirchenbann, er war geächtet. VI, 13.
Die Eitelkeit ist ein Hauptzug im Charakter der Fran-
zofen; schon Diodorus Siculus (V, 31) hat denselben
betont: „Sie (dieGallier) erlauben sich viele Uebertreibuu-
gen, um sich selber zu erheben und Andere herabzusetzen.
Eine scharfe Urtheilskraft haben sie und zum Lerueu fehlt
es ihnen nicht an Begabung." Ans jener Eitelkeit erklärt
sich auch die Unbeständigkeit und das Bestreben, anders
zu scheinen, als man eben wirklich ist, das Großthun und
Prahlen. So wird Alles leicht komödiantisch und dramatisch
behandelt.
Die Franzosen legen viel größern Werth auf die äußere
Form, als aus den innern Kern; sie bemühen sich, artig,
höflich und zuvorkommend zu erscheinen und bestechen dadurch
den oberflächlichen Beobachter, namentlich Weiber, die an
glatten Redensarten Gefallen finden und conventionelle Worte
für bare Müuze nehmen. So sind sie die Leute des leich-
ten, sogenannten „guten" Gesellschaftstones; man macht sich
Anderen „angenehm", indem man sich zugleich selber hübsch
bespiegelt. Der gute Ton ist den Franzosen als dramati-
sches Talent angeboren, und deshalb wird bei ihnen, deren
ganzes Treiben so viel vom Schauspiel hat, auch die Ko-
mödie auf der Bühne trefflich gespielt. Darin wird kein
anderes Volk sie jemals erreichen, und es ist thöricht, ihnen
auch nur nachahmen zu wollen. In glatter Zierlichkeit sind
sie Meister, und selbst wo auf der Bühne die Schlüpferig-
keit an die rohe Zote streicht, wissen sie das mit einer ge-
wissen elegance und mit einer Art von esprit zu thun.
Es sind ihre eigenen Landsleute, welche jene Eitelkeit
scharf getadelt haben, z. B. auch Montesquieu, Segur
und insbesondere Dumesnil (in seinen Moeurs politiques,
1829); der Letztere bezeichnet dieselbe als ihre „Erbsünde",
als ihr capitales Laster, welches sie so anspruchsvoll und
reizbar mache. Diese Eitelkeit wirkt auch verderblich im
häuslichen Leben; Mann und Frau sind „tolerant" und er-
laubeu sich Alles, wenn nur der Schein gerettet wird. So
erklärt sich, weshalb in der Zeit dieser Cäsarenherrschaft in
Paris das Leben fo durchaus verliederlicht wurde. Sehr
viele Ehen sind nur noch ein äußeres Contractsverhältniß;
schon Segur behauptete, daß „die wahre Liebe den Fran-
zosen fremd ist", und Saint Marc Girardin schrieb im
32*
252 Heinrich v. Malhan: Die Stellung der Franzosen gegenüber den Eingeborenen Algeriens.
„Journal des Debats" (Notices politiques sur l'Alle-
magne): „Die Franzosen kennen das häusliche Fami-
lieuleben gar nicht." Aber sie sind „galant".
La 23tut)ere, der ein feiner Beobachter ist und sich aus
die Charaktere verstand, sagt: „Die Laster der Franzosen
rühren daher, daß sie es nicht ertragen können, allein zu
sein; die Einsamkeit ist ihnen zuwider."
Diese ungezügelte Eitelkeit treibt sie zu einer maßlosen
Selbstüberschätzung und zu einer ruhmredigenPrah-
lerei, die wir eben jetzt wieder im Superlativ beobachten
können. Sie treibt auch zur brutalen Unverschämt-
heit. So schrieb mir in diesen Tagen ein Freund aus Bre-
men: „Einzelne Offiziere wurden in Familien zugelassen
und betrugen sich ganz anständig. Als einer derselben nach
Frankreich zurückkehrte und Abschied nahm, dankte er für die
freundliche Aufnahme; er werde dieselbe zu vergelten suchen.
Denn wenn die Franzosen demnächst als Sieger nach Deutsch-
land kämen, werde er dafür zu sorgen wissen, daß man la
borme ville de Breme gut und nachsichtig behandle."
So wird der gesunde Menschenverstand durch solche kiu-
dische Eitelkeit und Selbstüberhebung geradezu lahmgelegt.
Diese Menschen haben, wie schon gesagt, Anlagen und Be-
gabung, einen lebhaften Verstand, der schnell fassen und
ordnen kann, auch au Geistesgegenwart fehlt es ihnen nicht
im mindesten. Aber Verstand und Vernunft sind zweierlei,
und die letztere ist bei ihnen in viel geringerm Maße vor-
Händen. Der so zu sagen höhere Geist zum Durchdringen
der Dinge und zum Eingehen auf das innerste Wesen der-
selben, fagen wir die Begabung zum eigentlichen Philofophi-
ren, der geht ihnen ab, und deswegen ist das, was sie, viel-
leicht Descartes ausgenommen, in der Philosophie geleistet
haben, lediglich eine Verstandesphilosophie ohne specu-
lative Durchdringung. Die letztere ist ihnen versagt, schon
weil ihre arme Sprache ihnen dieselbe unzugänglich macht.
Sie kann Vorstellungen und Begriffe ausdrücken, aber Ideen,
in der Weise wie unsere deutsche Sprache, nicht.
Es fehlen auch die Akademiker nicht, welche sich und ihre
Franzosen, immer wieder aus Eitelkeit, täuschen und belügen.
Man vergleiche die Thatsachen und die Wirklichkeit mit sol-
gender, echt pariserischen Declamation. Barthelemy de St.,
Hilaire, der für ein großes Licht galt, sprach in der Aka-
demie über den Einfluß der Scholastik auf die französische
Sprache:
„Weder im Alterthum noch in der neuern Welt giebt
es eine reichere, logischere und klarere Sprache als die
französische. Darin liegt die Ursache, weshalb Jedermann
sie lernt und die Diplomatie sie gewählt hat. Frank-
reich ist in den Wissenschaften, der Dichtkunst, der
Philosophie, vor Allem aber durch die Unüber-
trefflichkeit seiner politischen Einrichtungen (—ri-
sum teneatis! — sordet! —) die Lehrerin und das
Muster für ganz Europa geworden. Dadurch
herrscht es, auch ohne Waffen, über Europa." Sol-
chen Widersinn glauben sie dann.
Der Akademiker radotirt weiter: „Europa hat nur
einen einzigen Philosophen aufzuweisen und der ist
Descartes. Cartesius hat für alleZeitendermenfch-
lichen Intelligenz, und zwar in französischer Sprache,
ihre Bahnen vorgezeichnet. Deshalb ist diese Sprache le
chef d'oeuvre et le dernier mot de l'esprit huniain!"
Was sagt aber Ernst Renan, der doch ein ganz an-
derer Denker ist als jener ruhmredige St. Hilaire? Er
schrieb 1853 eiue Recension der französischen Bearbeitung
von Ereuzer's Symbolik: „Weder in der Kunst, noch
in der Religion, noch in der Philosophie, Litera-
tur und Politik tritt Frankreich erfinderisch auf."
(„Ni dans l'art, ni en religion, ni en philosophie, ni
en literature, ni en politique la France ne sait in-
venter.") Die Franzosen seien nur Eklektiker, welche aller-
dings verständen, die mühsamen Forschungen Anderer zu
benutzen und darüber geistreich zu räsonniren. „81 la France
est quelque chose, c'est par son eclecticisme."
Als die Pairskammer unter Ludwig Philipp über einen
großen politischen Proceß (den „Aprilproceß") 1835 zuGe-
richt sitzen sollte, hielt sie vorher, am 4. Mai, eine Probe-
sitzung oder vielmehr Probevorstellung, damit die VerHand-
lungert einen dramatischen Fortgang nähmen und die Rollen
gut vertheilt seien!
Die Frau von Maintenon, welche dem Könige Louis
„le Grand" manche Rolle einstudirt hat, schreibt in ihren
Denkwürdigkeiten: „Ich sehne mich nach dem Abtreten von
diesem Theater. Es ist schlimmer, wie jedes andere, und
dauert vom Morgen bis zum Abend. Dabei geht alle Eigen-
thümlichkeit verloren und es tritt eine tödtliche Ermüdung
des Geistes ein." — Bezeichnend ist, daß auch eine andere
Köuigsgeuossiu, die bekannte „Contemporaine" (nämlich Frau
du Eayla), den französischen Hof Ludwig's des Achtzehnten
als „eine Komödie des Königthums" bezeichnet; der
Monarch sei oft ganz ermüdet und erschöpft davon gewesen,
„wie jeder andere Komödiant."
So spielen die Franzosen Komödie und lassen Komödie
mit sich spielen!
Die Stellung der Franzosen gegenüber den Eingeborenen Algeriens.
Von Heinrich Freiherrn von Maltzan.
I.
Der Rückschlag des tiefen Falles, welchem die Franzosen
Preisgegeben sind, läßt sich auch in Amerika, Asien und
Afrika beobachten. Das so viel und laut gerühmte „Pre-
stige" ist gründlich dahin. Es stand zu erwarten, daß die
Niederlagen in allen Schlachten, der Verlust einer Festung
nach der andern, die Gefangennahme von mehr als 400,000
französischen Soldaten, der Uebertritt von 80,000 Mann
nach der Schweiz, die Besetzung von Paris durch die Deut-
schen, die Beseitigung des Kaiserthums und der Bürgerkrieg
in Frankreich, — daß alle diese Vorgänge nicht ohne Rück-
Wirkung auf Algerien bleiben würden, dessen eingeborene
Bevölkerung sich bis auf den heutigen Tag nicht mit der
Herrschaft der Ausländer befreundet hat.
In der That hat dieselbe sich gegen die Franzosen er-
hoben, und für diese ist die Lage der Dinge offenbar eine
bedrohliche geworden. Gegenwärtig können wir dieselbe nicht
Heinrich v. Maltzan: Die Stellung der Frc
im Zusammenhang Uberblicken, da nur vereinzelte Nachrich-
ten zu uns gelangen und die französische Regierung ein In-
teresse hat, den Schleier nicht zu lüften. Aber so viel wissen
wir, daß im Laufe des Monats April 1871 der Ausstand
immer größere Dimensionen angenommen hatte und daß die
europäischen Ansiedler aus dem flachen Lande in Massen sich
nach den Städten fluchteten. Ein Schweizerblatt, die „Hel-
vetia", bringt einen Brief aus Algier vom 10. April, dem
zufolge die Lage folgende war.
„Es war recht eigentlich das Prestige der französischen-
Armee, welches die eingeborene Bevölkerung darnieder hielt.
Da dies nun hinfällig geworden und Frankreich diese fort-
gefetzten schrecklichen Niederlagen erlitten hat, sagt sich der
Araber: Der Franzose ist nichts mehr! Die Spahis
und Turcos sind zurückgekommen und haben den Stäm-
men erzählt, daß die Franzosen den Krieg nicht mehr zu
fuhren wissen.
Die Araber können die Naturalisation der eingeborenen
Juden, die sie erbittert, nicht vergessen. Sie kennen besser
den Namen Crämieux als viele Franzosen. Sie verwech-
seln sogar die Regierung oft mit dem „Juden Crsmieux".
Seit dem Pariser Aufstande fagen sie: Wer ist denn jetzt
Frankreich? Die Franzosen sind „mabul" (toll): Pariser
Regierung — Versailler Regierung — Crömienx — kein
„Grandkebir" (Oberhaupt) mehr — in Frankreich nichts
mehr.
Endlich sind sie sehr Überrascht, zu sehen, daß Paris,
die Hauptstadt, sich der Regierung der Republik nicht unter-
werfen will, und sie ziehen daraus folgenden Schluß: Wenn
Frankreich nichts mehr ist, wenn die Franzosen toll sind,
wenn Paris selbst sich der Regierung nicht unterwirft, wenn
auch Algier gegen seine Regierung Beschwerde erhebt, warum
sollen wir unterworfen bleiben und die Abgaben weiter be-
zahlen?
Ein sehr intelligenter und unterrichteter Araber aus dem
SUdeu — fährt der Briefschreiber fort — hat mir die Sache
so dargestellt und schließlich bemerkt: „Man muß sich an die
Stelle der Araber setzen und ihrer Anschauungsweise folgen,
und man wird sehen, daß sie die Sache ganz logisch ansehen,
wenn sie „Tollen" nicht länger mehr unterworfen sein wollen."
Dazu bemerkt ein Bericht in der „Kölnischen Zeitung" :
„Die algierischen Blätter bringen die schlimmsten Berichte
Uber die dortigen Zustände. Die Araber sind in vollem
Aufstande, und trotz einer Reihe von Niederlagen, welche
ihnen die Truppen beigebracht haben, nimmt die Jnfurrec-
tiou die drohendsten Verhältnisse an. Der „Monitenr de
l'Algsrie" vom 18. April meldet, daß der Scheik El Hadded
die größten Anstrengungen mache, um das ganze Mittel-
Kabylien zum Aufstande zu bringen; er hat seine
Emissäre bis an die Grenzen von Tunis geschickt. , Aus dem
Fort Napoleon wird geschrieben, daß man einen Aufstand
der Jllonlas, der Beni-Jtturar und der Beni-Uliten zu be-
fUrchteu hat. Von Tizi-Uzn wird gemeldet, daß am 15. eine
Truppenabtheilnng von 120 Mann einen Kampf zu bestehen
hatte gegen die Leute von Tamda, der zur Ehre der Solda-
ten ausfiel. General Saufsier, welcher die Truppen in der
Medfchana befehligt, hat um den 11. April verschiedene Ge-
fechte mit den Uled-Schelif gehabt, die er bis nach Bagnit
in Kabylien verfolgte. Bei feinem RUckzuge hatte er einen
Anfall der vereinigten aufständischen Kabylen abzuweh-
reu. Der Bezirk von Biskra ist ebenfalls in Hellem Auf-
stände. Zu Biskra hat die Civilbevölkernng beschlossen, die
ossene Stadt zu verbarricadiren und zur Verteidigung der
obern Stadt alle dortigen muselmännischen HauseigeuthUmer
aufzufordern. Am 14. oder 15. sollten Truppen von Batna
ausrücken, um zu Biskra die Ordnung herzustellen."
izosen gegenüber den Eingeborenen Algeriens. 253
Wir theilen das Vorstehende mit, um zu zeigen, wie rich-
tig die Verhältnisse von Seiten des Barons von Maltzan
aufgefaßt worden sind.
Derselbe sandte uns im Spätjahr 1870 einen Aufsatz
ein, iu welchem er eine eventuelle „Revolution Algeriens"
eingehend erörterte. Wir haben damals, aus guten Grün-
den, den Abdruck desselben im „Globus" auf eine gelegenere
Zeit verschoben; diese ist jetzt gekommen. Herr von Maltzan
ist bekanntlich einer der gründlichsten Kenner Nordafrikas,
von Marokko bis Aegypten; diefe Landschaften zwischen dem
Mittelländischen Meere bis zur Sahara, von den Säulen
des Herkules bis zum Rothen Meere sind so zu sagen seine
eigentliche Domäne, und er hat über dieselbe eine Menge
werthvoller und eingehender Nachrichten und Schilderungen
veröffentlicht.
Im vorigen Sommer verbreitete sich die Kunde, daß
zwei Deutsche, Doctor Wetzstein aus Berlin, früher pren-
ßischer Conful in Damaskus und einer der ausgezeichnetsten
Orientalisten unserer Zeit, und Gerhard Rohlfs in Tunis,
von Seiten des französischen Consuls, der in beiden Gelehr-
ten Spione witterte, höchst unangemessen behandelt worden
seien. Er habe dieselben mit Spionen umgeben, die aller-
dings sehr schwache tunesische Regierung gegen sie aufgehetzt
und ihnen den Aufenthalt so unerträglich gemacht, daß sie
unter Protest die Stadt Tunis verlassen hätten. —
lieber den eigentlichen Hergang ist, so viel uns bekannt,
noch keine genaue Kunde gegeben worden. Es scheint uus,
daß der französische Consul meinte, oder sich stellte, als
glaube er, daß die beiden deutschen Gelehrten beauftragt seien,
die eingeborenen Stämme Algeriens gegen die Franzosen
aufzuwiegeln. Sein Benehmen war in jeder Beziehung
ungeeignet, weil übermüthig und unverschämt. Herr von
Maltzan dringt deshalb daraus, daß unser deutsches Eon-
snlatwesen in der Levante dringend einer Umgestaltung be-
dürfe; eine folche ist seitdem in Aussicht genommen, und
fortan werden auch in den Barbareskenländern die deutschen
Interessen eine würdige Vertretung und nachdrücklichen Schutz
von Reichswegeu finden.
Wir lassen nun den Freiherrn von Maltzan reden theils
über die Stellung der Eingeborenen den Franzosen gegen-
über, und andererseits über die Verlegenheiten, welche den
letzteren bereitet würden, falls ein mächtiger europäischer
Staat, z. B. Deutschland, den Arabern und Kabylen Unter-
stütznng angedeihen ließe.
*
* *
Vierzig Jahre sind nun schon verflossen, seit die Fran-
zosen Algier erobert haben, und trotzdem kann man sagen,
daß sie noch immer Fremdlinge im Lande sind. Von einer
durchgreifenden Colonifation, wie z. B. in den englischen
Colonien, ist nicht die Rede. Die Frage, ob der Franzose
überhaupt sich zum Colonisten eignet, die freilich von den
Meisten verneint wird, brauchen wir hier gar nicht zu be-
rücksichtigen. Mag er sich auch noch so sehr zum Colonisten
eignen, jedenfalls hat ihn in Algier die Militärherrschaft,
unter der diese sogenannte „Colonie" von je her schmachtet,
daran verhindert, es zu zeigen. Die kurze Epoche der Re-
publik von 1848 schien ihm freilich Gelegenheit geben zu
wollen, feine Fähigkeit zum Colouifiren zu beweisen, denn
die Republik begünstigte vielfach die Civilverwaltung und
suchte sie von dem Alp des Militärdespotismus zu befreien.
Aber sie war von zu kurzer Dauer und das imperialistische
Regiment, das ihr folgte, führte den alten Druck der Säbel-
Herrschaft mit noch erhöhter Potenzirnng wieder ein.
Die Folge davon ist, daß die Zahl der französischen Ci-
254 Heinrich v. Maltzan: Die Stellung der Frc
vilisten in Algerien eine ganz nnverhältnißmäßig geringe
blieb. Die Gesammtzahl aller französischen Ein-
wohner beläuft sich auf etwa 112,000. Unter diesen sind
höchstens 20,000 Colonisten. Außerdem giebt es in Alge-
rien noch etwa 70,000 andere Europäer, meist Malteser
und Spanier, und unter ihnen etwa 25,000 Colonisten, so
daß das geringste Contingent von Ackerbauern auf die Frau-
zofen kommt, und selbst dieses geringe Contingent schließt
zum größten Theile Elsässer ein.
Die Übrige französische Bevölkerung lebt in Städten und
treibt meist kleinen Handel und Industrie. Ihre Haupt-
ernährnngsquelle bildet der Consum der sehr starken Garni-
sonen Algeriens, die sich fast immer aus 80,000 bis 100,000
Mann belaufen. Man sieht, daß selbst diese geringe
französische Bevölkerung in Algerien so zu sagen
noch nicht festen Fuß gefaßt hat. Nicht das Land er-
nährt sie unmittelbar, sondern die französische Regiernng
vermittelst der dem Lande abgepreßten Steuergelder, aus
denen der Consum der Armee bestritten wird, und die so
den Civilisten, welche diesen Consum liefern, indirect zu Gute
kommen. Der Franzose in Algerien ist also vom wirth-
schaftlichen Standpunkte gewissermaßen eine künstliche
Pflanze, die ohne fremde Fürsorge nicht gedeihen kann.
Noch unnatürlicher erscheint das Verhältmß des Fran-
zosen zum Lande vom ethnologischen Standpunkte ans.
Jener geringen Zahl von etwa 112,000 französischen Ein-
wohnern steht die ungeheure Masse von dritte halb Mil-
lionen Eingeborener entgegen. Diesen Eingeborenen
gegenüber ist die Stellung des Franzosen lediglich die des
verhaßten Eroberers und Unterdrückers, des Andersgläubigen,
des Verächters und Verkenners aller nationalen und religio-
sen Aspirationen des Volkes. Von einem Versuch zur Assi-
milation der beiden Völkerelemente ist natürlich nie die Rede
gewesen und kann auch wohl kaum die Rede sein. Der
Hauptgrund und der einzige Grund, den wir für die un-
ansrottbare Antipathie der Araber und Kabylen
gegen die Franzosen anführen wollen, und außer dem
wir auch gar keinen anzuführen brauchen, da er allein alles
Andere erschöpft, ist der, daß es dem Moslem unmöglich
ist, Politik und Religion von einander zu trennen. Was
man auch hiergegen gesagt, mit welchen Spitzfindigkeiten,
Sophismen und Scheingründen man diese Thatfache bekämpft
haben mag, die Erfahrung der Jahrhunderte spricht dafür,
und auch kein einziges Beispiel in der Geschichte mos-
limischer Völker vermag uns eine solche Trennung, als je-
mals mit Glück durchgeführt, zu zeigen.
Sind aber Religion und Politik bei einem Volke un-
trennbar, fo kann sich dasselbe auch niemals gutwillig einem
Herrscher andern Glaubens unterwerfen. Es genügt dem
Moslem nicht, daß dieser Herrscher seinen eigenen Glauben nur
lax befolgt, daß er sogar zur größten Toleranz gegen An-
dersgläubige geneigt ist; das dünkt selbst dem aufgeklärtesten
Mohammedaner ein rein negativer Vorzug. In den meisten
Fällen aber versteht der Moslem eine solche Toleranz gar
nicht, hält sie entweder für List oder für Schwäche, und viel
lieber, weil begreiflicher, ist ihm zum Beispiel der fanatische
Katholicismus des Spaniers, bei dem er doch weiß, woran
er ist. Der Moslem verlangt von einem Herrscher, dem er
sich gutwillig unterwerfen soll, nicht Duldung allein, sondern
volles, ausgesprochenes Bekenntniß des Islams. Der Grund-
satz ist tief im Islam begründet, daß ein guter Moslem
einem Andersgläubigen gar nicht dienen kann und darf. Der
Islam ist keine Religion, deren „Reich nicht von dieser
Welt" ist. Die Herrschaft ist für ihn der einzige aner-
kannt normale Zustand. In der Knechtschaft hört der Js-
lam gewissermaßen auf, Islam zu sein, denn ein Haupt-
zosen gegenüber den Eingeborenen Algeriens.
gruudsatz desselben ist die Bekämpfung der Ungläubigen, und
nun, statt sie zu bekämpfen, soll er ihnen gar gehorchen.
Ueberall, wo wir Moslems unter der Herrschaft christ-
licher Fürsten sehen, gehorchen sie nur knirschend, schmiegen
sich nur mit Widerstreben unter das Joch des Eroberers,
nirgends finden wir, daß sie sich mit dem erobernden Volke
eins fühlen und sich demselben assimiliren. Der Aufstand
in Ostindien gegen die englische Herrschaft, der Widerstand
des Kaukasus gegen Rußland waren das Werk von Mos-
lems. So wie diese Völker, jetzt unterdrückt, zwar dem ver-
haßten Joch unterliegen, aber gewiß jede Gelegenheit zu
einem neuen Aufstande willkommen heißen, eben so kennen
auch die Araber und Kabylen Algeriens keinen andern
Wunsch, kein heißeres Verlangen, als sich gegen die
Franzosenherrschaft zu erheben.
Die zahreichen Aufstände algierischer Volksstämme
gegen Frankreich beweisen das Gesagte. Unter den vierzig
Jahren, seit Frankreich Algerien besitzt, verging kaum ein
einziges, das nicht durch eine Empörung einheimischer Stämme
bezeichnet gewesen wäre.
Volle sechszehn Jahre, von 1830 bis 1846, hatte die
„große Nation" dazn gebraucht, um überhaupt militärisch
von dem größern Theile des Landes Besitz zu nehmen. Aber
manche Gegenden leisteten noch viel längern Widerstand.
Erst seit 1857, in welchem Jahre durch General Randon's
Feldzug Großkabylien definitiv unterworfen wurde, stand
Frankreich wirklich im Besitz des Landes, welchem es den
Namen „Algerien" octroyirt hat. Das ganze Land wurde
nun mit Casernen und Soldaten förmlich gespickt; man
brauchte oft über 100,000 Mann, um Provinzen im Zaum
zu halten, die früher die Deys von Algier mit dem zehnten
Theil ohne Mühe regiert hatten. Trotzdem brachen
noch fast alljährlich Empörungen aus, deren größte
die vom Sommer 1864 war. Dieselbe, wie fast alle diejeni-
gen, welche ihr nnn jedes Jahr folgen follten, und deren
letzte in diesem Jahre (1870) dem General Wimpfen so
viel zu schaffen machte und trotz allem Siegesgefchwätz doch
nicht besiegt wurde, ging von dem mächtigen und großen
Stamme der Ulad Sidi Scheich aus, der den ganzen
Süden der Provinz Oran inne hat und auf den wir noch
zurückkommen werden.
Der Wunsch der Empörung ist also bei den heutigen Al-
gierern immer noch und eben so stark vorhanden, wie vor
zwanzig Jahren.
In Hinblick auf die Empörungen in Frankreich können
wir die Völker Algeriens in drei Kategorien theilen.- in
absolut friedliche, in momentan friedliche und in un-
gebändigt kriegerische.
Zu den ersteren gehören fast alle Städtebewohner, die
des einst so schwer bewältigten Constantine mit einbegriffen,
denn dort waren es nicht die Einheimischen, sondern die tür-
kischen Milizen, welche die Franzosen 1836 zurückschlugen
und ihnen 1837 noch so hartnäckigen Widerstand entgegen-
setzten. Die Städtebewohner, die sogenannten Mau-
ren, sind, wenn auch nicht alle, so doch größtentheils, feige
Vasallen Frankreichs geworden. Sie verabscheuen und has-
sen es zwar als gute Moslems, aber sie hegen doch eine
gewisse, fast abergläubische Ehrfurcht vor dem mächtigen krie-
gerischen Apparat der „großen Nation". Sie sind von der
„Unüberwindlichkeit" Frankreichs so überzeugt, wie von ihrer
eigenen Existenz. Was für Risse ihre Ueberzengnng durch
den letzten Krieg bekommen haben mag, weiß ich nicht. Wahr-
scheinlich hat man ihnen die Wahrheit nur in sehr homöopa-
thischen Dosen beigebracht, so daß ihr Glaube nicht wesentlich
erschüttert wurde. Ich habe solche Stadtaraber getroffen,
die von der Kriegsgeschichte Frankreichs eine eingehende,
Aus allen
wenn auch höchst einseitige Kenntniß besaßen. Sie kannten
nämlich alle Siege Napoleon's aufs Genaueste, aber von
seinen Niederlagen wußten sie nur, daß der harte Winter
von 1812 die französische Armee vernichtet habe. Trotz
Waterloo und Leipzig galt ihnen Frankreich für unbesiegt und
unbesiegbar.
Aus allen
Die Bevölkerung in den sechs Staaten Neuenglands 1870.
Weiße Farbige In- dianer Ein- geborene Fremde Total
1. Maine .... 624,821 1,597 29 577,644 48,807 626,451
2. New Hampschire 317,696 590 14 288,694 29,606 318,300
3. Vermont . . . 329,620 921 11 283,559 46,993 330,552
4. Massachusetts 1,443,192 13,900 162 1,104,008 353 343 1,457,351
s. Connecticnt . . 527,549 9,668 235 423,815 113,639 537,454
6. Rhode Island . 212,258 4,960 138 161,972 55,384 217,356
3,455,139 31,636 589 2,839,692 647,772 3,487,464
Man sieht, wie gering heute die Zahl der alten Ursassen
des Landes, der Indianer, ist; sie sind binnen drittehalb hun-
deri Jahren so gut wie verschwunden. Neuengland ist neger-
philanthropisch, weil bei ihm die Zahl der Schwarzen eine
äußerst geringe ist und bei den Wahlen keinen Ausschlag geben
kann; diese Philanthropie, wenn es eine ist, erscheint also wohl-
feil genug. Die Zahl der Chinesen beträgt 94, der Japaner 4.
Die sogenannte fremde Bevölkerung besteht überwiegend aus
Jrländern.
Nihilistische Aufrufe in Rußland.
Der Mangel an Unterricht und Erziehung rächt sich alle-
mal; wir sehen es an der Stupidität des zum überwiegenden
Theile völlig vernachlässigten Landvolkes in Frankreich; an der
Verkommenheit und dem Brigantenwesen der unteren Classen
in Italien; an der Unbildung der Massen in Spanien und
Portugal. In allen diesen Ländern hat die römische Geistlich-
feit so gut wie nichts fiir die Volksbildung gethan. Ein Gleiches
gilt von der griechisch-orthodoxen Kirche, auch in Rußland. Im
Czarenreiche herrscht in den Geistern eine höchst bedenkliche Zucht-
losigkeit, eine Folge des langen Druckes, welcher so schwer auf
allen Schichten des Volkes lastete. Sobald derselbe einigermaßen
entfernt war, ging sofort Alles aus Rand und Band, und die
gebildeten und verständigen Leute in Rußland sehen nicht ohne
Beklemmung auf das, was die Zukunft bringt. Es wird Alles
verneint; was die Nihilisten an die Stelle des Vorhandenen
setzen wollen, läuft auf wilde Phantasterei hinaus. Bei jenen,
die Unterricht nicht genossen haben, reichen dabei Raffinement
und Gefühlsrohheit einander die Hand; in der ungebildeten
Classe und beiden extremen Fanatikern aus den gebildeten Stän-
den tritt völlige Barbarei zu Tage.
Sehr häufig berichten russische Zeitungen, daß die Brand-
stiftungen überhand nehmen, daß ganze Ortschaften eingeäschert
werden. Kein Wunder, wenn unter den so lange vernachlässig-
ten Massen der großrussischen Bauern und Kleinstädter wahre
Brandbriefe von Hand zu Hand gehen. Einer oder der andere
Bauer im Dorfe kann doch lesen, und wie wird die Wirkung
sein, wenn irgend ein excentrifcher Mensch das Landvolk ver-
mittelst brandrother Aufrufe verwirrt? Wir theilen zur Kenn-
zeichnung der Rothen in Rußland die nachfolgende Stelle aus
Erdtheilen. 255
Auch viele Saharabewohner gehören zu diesen absolut
friedlichen Bewohnern Algeriens, nämlich die städtische Be-
völkeruug in den nordöstlichen Oasen, wie Biskara, el
Utaya, el Kantra, alle in der Provinz Constantine ge-
legen, die Uberhaupt vom kriegerischen Element am wenig-
steu darbietet.
Erdtheilen.
einer Proclamation mit, welche jüngst in großer Menge in vie-
len Gouvernements vertheilt worden ist:
„Unsere Vorfahren kannten weder Ad el noch Priester, weder
Kaufleute noch Steuereinnehmer; sie waren frei und glück-
lich. Aber von jenseits des Meeres kamen fremde Fürsten und
in ihrem Gefolge waren Adel, Beamte und Steuereinnehmer.
Sie unterjochten unser Volk, nahmen uns unsere Felder weg
und lebten von der Frucht unserer Arbeit. Nachdem sie das
Land unterjocht hatten, baueten die Eroberer Städte, von denen
aus sie uns noch jetzt unterdrücken. Ihnen verdanken wir die
strengen Gesetze und die schweren Abgaben, die uns ins äußerste
Elend stürzen, während sie sich von unserm Brote mästen und
herrlich und in Freuden leben. Ihre Städte sind so stark
befestigt, daß wir keinen andern Angriff auf sie un-
ternehmen können, als daß wir ihnen den rothen
Hahn aufs Dach setzen." — Es folgt dann eine haarsträu-
bende Schilderung der Unbilden, die das russische Landvolk un-
ter dem Ezarendespotismus erleiden müsse und durch die es
zum Vieh herabgewürdigt werde. „Es gab in unserer Geschichte
einen Zeitpunkt, wo wir Hoffnung hegen durften, der Czar uud
seine ganze Familie stürben aus. Zum Unglück Berief der Ad el
einen kleinen Fürsten aus Deutschland, welcher der Stammvater
einer ganzen Reihe von Tyrannen geworden ist. Diese deutsche
Fürstenfamilie hat sich so sehr vermehrt, daß die Popen alle ihre
Glieder in der Kirche kaum herzählen können. Sie zehrt Alles
auf, und noch mehr verschlingen ihre Höflinge. Wir sind Dumm-
köpfe, dieDeutschen regieren uns und suchen nur ihre Taschen
zu füllen. Unser Czar und die Großfürsten sind unsähig zur
Regierung; sie treiben sich lieber auf den Landstraßen herum
und freuen sich über die Hurrahrufe, mit denen sie empfangen
werden. Es bleibt nur das Eine zu unserer Rettung
übrig, daß wir unsere Herren erwürgen wie Hunde,
ohneGnade und Barmherzigkeit. Sie müssen alle mit
Stumpf und Stiel ausgerottet werden, ihre Städte
müssen verbrannt und das Land durch Feuer gerei-
nigt werden. Da unsere Tyrannen Geschütze uud Cavallerie
haben, die uns fehlen, so können wir sie nur durch Feuer
siegreich bekämpfen. Haben wir die Mauern, hinter denen sie
sich verbergen, in Asche verwandelt, so müssen sie eine schmäh-
liche Beute des Hungers werden."
Aus Nordamerika.
Die Mehrheit der Volksvertreter im Staate Loui-
siana besteht aus Negern, zum Theil ehemaligen Sklaven, die
ganz unwissend sind, aber als Gesetzgeber fungiren; das ist für
sie ein ganz profitables Geschäft. Als im März die Schluß-
sitzung der Legislatur war, ging es lebhaft her in den heiligen
Hallen. Ein Blatt in Neuorleans schreibt: „Es war ein Eon-
cert von Wölfen oder Katern. Der Sprecher rief einmal über
das andere: der Lärm ist allzuarg, ich verstehe kein Wort; ich
müßte vierzig Ohren am Kopfe haben, wenn ich alle Motionen
hören sollte." Die schwarzen Volksvertreter schmauchten Cigar-
ren und nahmen manchen starken Trunk. Allgemeines Ge-
heul, Kreischen, Schreien und Katzenmiauen (liowls, whoops,
256
Aus allen
Erdtheilen.
screeches and cat calls); es war, als ob tausend Teufel los-
gelassen worden wären. Die einen schrien Ja, die anderen Nein,
und als Episode spielte in dieser Orgie eine Keilerei mehrerer
Neger, welche sich vor dem Sitze des Sprechers prügelten und
mit den Köpfen wie Schafböcke oder Ziegen gegen einander
rannten. Sie rissen einander die Wolle vom Skalp und war-
fen sich Tintenfässer ins Gesicht, das dadurch allerdings nicht
schwärzer wurde. Bei solchen Orgien glaubte man sich nach Da-
homey versetzt, aber den Negern machten sie viel Vergnügen; es
wurde auch lustig gepfiffen, bis der schwarze Caplan des Hauses
sein Gebet hersagte und auf die farbigen Leute und den Prä-
sidenten den Segen Jehovahs herabflehte.
— Die Manieren mancher Repräsentanten inWa-
shington sind nicht die feinsten, und die Worte, mit welchen
man sich beehrt, werden nicht gerade auf die Goldwage gelegt.
Im vorigen Winter geriethen zwei Hauptkämpen der radicalen
Partei, Farnsworth aus Illinois und Benjamin Butler,
„der berüchtigte Silbernelösseldieb", hart an einander. Seitdem
ist nun Farnsworth „scharf hinter Ben Butler's Skalp her".
Er beschuldigt den Volksvertreter aus Massachusetts, dieser sei
Vater eines unehelichen Kindes, und um sich desselben zu ent-
ledigen, habe er es so angestellt, daß fein Kind zu Asche ver-
brannt fei! Seit mehreren Monaten hat er eine Anzahl von
Leuten im Solde, welche Nachforschungen über seines Gegners
Leben und Treiben anstellen und dasselbe bis in Butler's Jugend-
jahre verfolgen. Er will Alles veröffentlichen und hat bereits
erklärt, in seinen Händen befände sich eine solche Masse skanda-
löser Dinge, daß die Welt darüber erstaunen solle. — Ueber
den Advocaten Stanton, der einst Lincoln's Kriegsminister
war und über deffen rohe Hartherzigkeit viele Klagen erhoben
wurden, äußerte jüngst der Senator Davis in öffentlicher Sitzung:
„Nie war ein Mann in einem öffentlichen Amte, der so frevel-
haft das Gesetz mit Füßen getreten hätte! Wäre ihnl bei Leb-
zeiten die Gerechtigkeit geschehen, welche er verdient hat für seine
Verbrechen, dann hätte man ihn hundertmal für die von ihm
begangenen Mordthaten gehängt, oder mindestens zehntausend-
mal ins Zuchthaus gesperrt." — Ein Neuyorker Blatt bezeich-
net die stellejagenden Abenteurer aus dem Norden, welche als
„Heuschrecken" den Süden überflutheten und die Neger auswie-
geln, die sogenannten Earpetbaggers, als „aussätzige und drei-
mal verfluchte Halunken, als gottlose Schurken, welche aus Gnade
bei den Menschen keinen Anspruch haben." Der Tag der Ver-
geltung (— der Galgen, welcher überhaupt eine große Rolle
spielt —) werde nicht ausbleiben.
— Die Negerliebhaberei kostet dem steuerzahlenden Volke
in den Vereinigten Staaten doch viel Geld. Die Ausgaben
der Vereinigten Staaten waren gering, ehe mit Lincoln die
radicale Partei ans Ruder kam. Dann aber wurden sie exorbi-
tant, wie die folgenden Ziffern beweisen:
1860 63,025,789 Dollars 34 Cents.
1861 66.757,127 20 „
1862 474,744,781 22 „
1863 714,709,995 58 „
1864 855.234,087 86 „
1865 1,290,312,982 41 „
1866 520.809,416 99 „
1867 357,542,478 71 „
1868 337,340,284 86 „
1869 321,490.597 75 „
1870 262,113,269 „ 31 „
5,303,700,811 Dollars 23 Cents.
Die Schulden der Union betrugen am 1. April 1871:
2,434,076,643 Dollars.
Der Finanzminister Boutwell sagt in einem Bericht an den
Eongreß, daß von Seiten der Steuereinnehmer etwa
sechs Millionen Dollars veruntreut und unterschla-
gen worden feien. Die Zahl dieser Betrüger übersteige drei-
hundert.
— In dem silberreichen Staate Nevada scheint es doch
nicht geheuer zu sein. Ein in Virginia City erscheinendes Blatt,
die „Enterprise", beklagt schmerzlich die „vielen empörenden Ver-
brechen, welche durch organisirte Banden vonBrandstistern
und Kehlabschneidern verübt werden. Im Verlaufe der letzt-
verflossenen zehn Jahre sind mehr als zweihundert Mord-
thaten allein in Storey County begangen worden, etwa
zwanzig in jedem Jahre in diesem Districte, und in der ganzen
Zeit ist nur ein einziger Mörder vor Gericht gestellt und
gehangen worden. So dickfellig und gleichgültig ist das Publi-
cum gegen das Verbrechen geworden und so sehr wird die An-
Wendung der Gesetze vernachlässigt." Unter solchen Umständen
begreift man, daß sich Vigilanzausfchüsse der rechtlichen Leute
bilden und zum Lynchen ihre Zuflucht nehmen.
— Dem Mormonenpropheten Brigham 'Zoung wurde
jüngst in öffentlichen Blättern Glück dazu gewünscht, daß er
binnen fünf Jahren siebenundzwanzig Schwieger-
Mütter durch den Tod verloren habe. „Das ist doch ein
wahrer Segen vom Himmel, der sich nur dort einstellen kann,
wo die Polygamie gilt."
— Ein Indianerhäuptling der Cheyennes, der noch
nicht vierzig Jahre alt ist, hat, wie er sich rühmt, schon nahe
an zweihundert Weißen die Schädelhaut abgezogen. Das ist
nicht civilisirt; daß er aber so gut sei wie irgend ein weißer
Mann, sucht er durch die Behauptung darzuthun, daß er bereits
vierzehn Anfälle von Delirium tremens gehabt habe.
— Ein weiblicher Schriftsetzer in Fond du Lac, Na-
mens Georgia Benedict, ist des Setzkastens und der Lettern
müde geworden und hat sich zur Methodiftenpredigerin
ordiniren lassen. Sie gilt für ein großes Kirchenlicht, weil sie
es trefflich versteht, „harte Sünder zu zerknirschen."
* * #
— Zwischen Auckland auf Neufeeland und Lewuka, dem
Haupthafen der Fidschi-Jnseln, fährt monatlich einmal ein
Dampfer.
— Berichte vom December 1870 melden, daß auf Neu-
Caledonien in der Südsee, welches bekanntlich den Franzosen
gehört, Gold entdeckt worden sei.
— „Die westliche Sybille", eine Spiritualistin, welche
von „Gott" in ihren Verzückungen die allerzuverlässigsten Offen-
barungen erhält, findet in Nordamerika viel Beifall. Die Frau
heißt Klebert, ist demnach wohl deutscher Abkunft. Die jüngste
Offenbarung, welche „Gott" ihr gegeben hat, ist folgende: „Wir
werden ein nasses Frühjahr und einen heißen, sehr trockenen
Sommer bekommen. In diesem wird Europa wieder einen un-
geheuer blutigen Krieg haben, Amerika seinerseits wird von
einer grauenvollen Pestilenz heimgesucht werden. „Gott" hat
jedoch der Frau Klebert ein sicheres Heilmittel „offenbart", das
nur sie allein zubereiten kann. Wer sich desselben bedient, bleibt
von der Pestilenz verschont, und — die Flasche von Klebert's
Antipestilenztrank kostet nur die Kleinigkeit von 5 Dollars!
Also säumt nicht, Euer Leben zu retten, und verschmähet nicht,
was Gott zu Eurer Erhaltung gnädig offenbaret hat."
Inhalt: Aus Siciliens Kulturgeschichte. Mit zwei Abbildungen.) — Transatlantische Dampfschifffahrt. — Geogra-
phische Verbreitung und Inhalt der Krugpflanzen. sMit einer Abbildung.) — Zur Kennzeichnung der Leute in Frankreich. Von
Karl Andree. (Fortsetzung.) — Die Stellung der Franzosen gegenüber den Eingeborenen Algeriens. Von Heinrich Freiherrn
von Maltzan. — Aus allen Erdtheilen: Die Bevölkerung in den sechs Staaten Neuenglands 1870. — Nihilistische Aufrufe in
Rußland. — Aus Nordamerika. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
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f^Äer-
Band xix.
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Jß 17.
Iii besonderer Zerürksiclltigung äer AntkroUologie unü Gtknologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1871.
Aus Siciliens Culturgeschichte.
ii.
Noch zu einer dritten, gleichfalls an der Südküste gele-
genen Stätte altgriechischer Cnltur führen wir den Leser.
Im Süden von Girgenti, dem alten Agrigent, das von
allen Städten außerhalb Griechenlands die schönsten Erinne-
rungsmale hellenischen Geistes aufweist, blickt das^ Auge über
Trümmer und Geröll auf das öde, graue Land hin, das sich
langsam zum Meere senkt; der Reisende wird auch hier, wie
an so vielen anderen Punkten der Insel, melancholisch ge-
stimmt, wenn er den eigenthümlichen Klang der Hirtenpfeife
vernimmt und das zerlumpte, aschfarbene Gesindel sieht, das
bettelnd sich dort umhertreibt. Nordwärts steigt die Land-
schast allmälig ans; gewaltige Oliven, Mandelbäume mit
ihrem saftigen Grün, die weitästige Feige, der dunkellaubige
Johannisbrotbaum und die ernste, schlanke Cypresse stehen
über sorgfältig angebaneten Feldern wie in einem lichten
Walde bei einander; von der Höhe schaut herrlich die neue
Stadt herüber. Mitten dazwischen aber, und die beiden an
Anblick so verschiedenen Gebiete von einander scheidend, stehen
die Ueberreste des Tempels, den man nach der Juno Lu-
cina benannt hat. Menschenhände, Feuersgewalt und die
langsam arbeitende Verwitterung sind auch hier in uuheil-
vollem Bunde thätig gewesen, dennoch hat die Zerstörung
nicht so schrecklich gewüthet, wie in Selinnnt. Es ist weit
mehr erhalten und deshalb viel leichter für die Phantasie,
sich den Bau in seiner Gestalt zu reconstruiren; was aber
erhalten blieb, das stellt sich zugleich, gehoben durch die ein-
zige Lage, als eine der schönsten Ruinen dar, die man sich
Globus XIX. Nr. 17. (Mai 1871.)
denken kann. Säulen, in verschiedenen Höhen abgebrochen,
überschneiden den besonders an der Nordseite noch vielfach
erhaltenen Architrav. Zwischen den Jntercolnmnien ragen
die Trümmer der Cellawände und die herabgestürzten Werk-
stücke hervor; die Platten des Unterbaues und die Stufen
der Treppe sind da und dort von ihrer Stelle gewichen und
liegen oder stehen unregelmäßig umher; dazwischen wuchert
allerorten das üppigste Grün.
Nur sechszehn Säulen stehen noch, aber die ganze An-
läge ist leicht zu übersehen. Lange Zeit war die nördliche
Seite fast unverletzt; erst im Jahre 1774 zerschmetterte ein
heftiger Sturm das stark ausgewitterte Gebälke. Je drei-
zehn Säulen standen an den Seiten, je sechs an der Ost-
und Westfront. Sie sind ans vier Trommeln zusammen-
gesetzt, haben die gewöhnliche Zahl von zwanzig Cannellnren
und die Höhe von nicht ganz fünfmal dem Durchmesser.
Aber dieser willkürlich nach der Juno benannte Tempel
ist keineswegs das einzige Ueberbleibsel althellenischer Archi-
tektur bei Girgenti. Dicht dabei liegt der Concordia-Tem-
pel, welchen im fünfzehnten Jahrhundert das Mißgeschick
traf, in eine christliche Kirche verwandelt zu werden, der aber
dadurch freilich sich besser erhielt. Weiterhin reihen sich in
den Felswänden Gräber an Gräber, die von den Alten hier
in der Nähe der Heiligthümer angelegt wurden. Es folgt
der Tempel des Herkules, ein Trümmerhaufen, aus dem
noch eine Säule emporragt; ihm gegenüber der Tempel
des olympischen Zeus, der Tempel des Castor und
33
2C0
Aus Siciliens Culturgeschichte.
Pollnx, und so fort Alles Ruinen, die von entschwundener
Pracht, von einstiger Größe und Herrlichkeit der alten grie-
chischen Welt Siciliens Zengniß ablegen.
So viel wir auch forschend den alten Cnlturschichten
Siciliens nachspüren, die griechische bleibt die bedeutendste
von allen. Nirgends aber wird der hellenische Einfluß, der
einst sich über die Insel erstreckte, deutlicher vor Augen ge-
führt, als in Syrakus. Vor Syrakus erlag Athen, hier
wirkte Archimedes, der mit seinen Brennspiegeln die römischen
Schiffe verbrannte, hier herrschte Dionys, der berüchtigte
Tyrann, spielt die Geschichte vom Schwerte des Damokles.
Aber während in Rom alle Strömungen des geistigen Lebens
ihre Spuren zurückgelassen haben und man sich dort durch
die sichtbaren Erinnerungen ans der Königszeit, der Kaiser-
zeit nnd der Zeit des Verfalls mit der ganzen Vergangen-
heit in ununterbrochener Verbindung weiß, fehlt in Syrakus
die Brücke, welche uns bis zu jenen Zeiten hinüberführt,
denen das historische Syrakus angehört. Syrakus, das Haupt
der griechischen Städte auf Sicilien, dessen Schicksal mehr
als einmal über das Schicksal der ganzen Insel entschied,
die stolze Weltstadt, welche Athen an Umfang übertraf, deren
Einwohner nach Hunderttausenden gezählt wurden, die von
Tempeln nnd Palästen erglänzte, — Syrakus ist jetzt eine
kleine Stadt von 20,000 Einwohnern ohne hervorragende
Gebäude, ohne Kunstdenkmale späterer Zeiten, bis 1865
sogar ohne die letzte politische Bedeutung, die ihr als Pro-
vinzialhauptstadt geblieben war; denn damals erst wurde die
Präsectur, welche nach Noto verlegt war, wieder dorthin über-
siedelt. Dahin, wo die frühesten korinthischen Ansiedler den
ersten Grund zu der Stadt legten, auf die kleine Insel Or-
tygia am Nordende der großen halbmondförmigen Bucht, hat
sich das moderne Syrakus wieder zusammengezogen. Im
Alterthnme verband ein Damm die Insel mit dem Festlande,
der die Bucht in zwei ungleiche Theile theilte, den großen
Termini auf Sicilien. Nach einer Zeichnung von Metzener.
und den kleinen Hasen. Später wurde der Damm wieder
durchstochen und jetzt erscheint der Zugang von der Landseite
als ein wichtiges Glied in den von Karl dem Fünften an-
gelegten Befestigungen. Man muß drei Brücken und fünf
Thorwege passireu, ehe man die Stadt erreicht. Die Ein-
fahrt in den großen Hafen ist, wie dieser selbst, verschüttet,
doch ist dicht bei der Stadt eine für die größten Linienschiffe
fahrbare Straße, und drinnen immer noch Raum genug für
eine bedeutende Anzahl von Schiffen geblieben. Der kleine
Hafen steht fast völlig unbenutzt, nur ganz flache Boote kön-
nen hineinfahren. Mit Malta unterhält man noch immer
einen nicht ganz unbedeutenden Handelsverkehr. Von Osten
nach Westen durchschneidet die stattliche Via Amalfitana die
Stadt, die überhaupt ziemlich gut gebaut ist und besonders
in der Hauptstraße mehrere Paläste zeigt. Doch das Alles
ist nur ein Schatten von dem einstigen Glänze. Stat magni
nominis umbra!
Zur Zeit der athenischen Belagerung gab es in Syrakus
eine innere und äußere Stadt, Ortygia und Achradina; nur
sie waren von festen Mauern umschlossen, aber es gab auch
eine offene Vorstadt der letztern, Neapolis. Da, wo Neapolis
an Achradina anstieß, am Felsenabhange, liegen heute auf
verhältuißmäßig kleinem Räume die bedeutendsten Reste des
alten Syrakus zusammen, darunter die Ruine, die von allen
die jüngste ist und nicht mehr aus den Tagen des griechischen
Glanzes stammt, dafür aber doch deutlich zeigt, wie Syrakus
als römischer Prätoreusitz eine große und reiche Stadt war, —
es ist das Amphitheater. Einsam und still liegt es in
eine Felsenecke hineingelagert, halb verborgen unter einem
Granatenhain; von seiner Höhe herab gewährt es einen schö-
nen Blick auf das Meer mit seinen Schiffen, die Halbinsel,
welche den großen Hafen im Süden einschließt, und die neue
Stadt, die zwischen den Bäumen hindurchschaut. Wahr-
scheinlich ist das Amphitheater erst zur Zeit des Augustus
Aus Siciliens Culturgeschichte.
erbaut worden; ausgegraben wurde es 1346 durch den ver-
dienten Herzog von Serra di Falco. Die Stufen der Sitz-
reihen und das Mauerwerk sind, wie die Abbildung zeigt,
theilweise stark verfallen, doch ist noch immer genug erhal-
ten, um den Plan des Ganzen genügend erkennen zu lassen.
Zum größern Theile ist es in den Felsen eingehauen; wo der
ebene Boden dieses nicht zuließ, sind die fehlenden Theile
durch aufgemauerte Wände ergänzt. Die Sitze erheben sich in
der gewöhnlichen elliptischen Form über einander; die größere
Achse beträgt 272 sicilianische Palaen, die kleine 154, und
so gehört es immerhin zu den größten der aus dem Alter-
thume stammenden Gebäude dieser Art.
In Hofsweiler's Werke wird mit großer Liebe die alte
Geschichte von Syrakus behandelt; auch führt er uns durch
die Trümmerstätten der süus Städte und zählt sorgfältig anf,
was von dem alten Syrakus noch vorhanden. Aber es würde
uns zu weit führen, wollten wir auch nur eine Analyse des
mächtigen Stoffes ge-
ben. Wir fahren fort
in der kurzen Skizzi-
rnng der verschiedenen
Culturschichteu, die in
Sicilien noch kenntlich
sind.
Verderblich ist die
Jahrhunderte lange
Herrschaft der Römer
für die Jnfel gewor-
den, welche denselben
nur als Kornkammer
galt und deren systema-
tische Aussaugung ihre
einzige Regierungs-
maxime war. So tres-
sen wir denn auf der
von den Römern ver-
nachlässigen Insel weit
weniger Spuren des
weltbeherrschenden Vol-
kes, als der früheren
Griechen. Eine echt
altrömische Stätte ist
T e r m i n i an d er Nord-
küste, östlich von Pa-
lermo. Schon im Al-
terthume war die Stadt
wegen der heißen Quel- La Zisa, maurischer Palast bei Palermo,
leu, von denen sie ih-
ren Namen ableitet, berühmt. Jetzt schließt ein modernes
Gebäude im untern Theile der Stadt die Quellen eiu, und
nur ein kleines Stück römisches Mauerwerk ist aus früherer
Zeit übrig. Wie Cicero berichtet, wurde die Stadt, Thermä
Himerenses genannt, nach der Zerstörung von Himera durch
die Karthager im Jahre 407 von früheren Bewohnern jener
Stadt oder nach Anderen von den Karthagern gegründet,
wahrscheinlich an der Stelle eines ältern phönizifchen Sta-
pelplatzes. Unter der Herrschaft der Römer, in deren Hand
sie 252 kam, erfreute sie sich einer besondern Gunst. Viele
von den Statuen, welche die Karthager nach der Einnahme
des alten Himera nach Afrika geschleppt hatten, wurden durch
Scipio Africanus ihr als der Stellvertreterin jener Stadt
zurückgegeben. Von Ueberresten römischer Bauwerke zeigt
man die Spuren eines kleinen Amphitheaters und einer Ba-
silika.
Das heutige Termini mit seinen flachen Dächern und
einzelnen zwischen den leuchtend hellen Gebäuden aufsteigen-
den schlanken Palmen zeigt ein fast orientalisches Aussehen.
Auch von dem kleinen an Verkehr und Schiffen reichen Ha-
fen aus bietet der Ort einen stattlichen Anblick, der den von
Friedrich dem Zweiten Termini beigelegten Namen la Splen-
didisfima, die Glanzvolle, zu rechtfertigen scheint. Doch ent-
spricht dem das Innere nicht völlig. Zwar enthält der obere,
auf dem Plateau des Hügels gelegene Theil einige ansehn-
liche Gebäude und Straßen, in dem untern dagegen, der
sich den Abhang hinunter nach dem Meere hinzieht, sind die
Häuser klein, die Straßen eng, steil und schmutzig. Uebri-
gens gehört Termini zu den lebhaftesten Landstädten Sici-
liens und zählt beinahe 26,000 Einwohner, die mit Thun-
fischen, Korn, Wein, Oel, Sumach und Reis einen ergiebi-
gen Handel treiben. Der erste größere Ort, der mit Pa-
lermo durch eine Eisenbahn in Verbindung gesetzt ist, ist es
die dritte Stadt der Insel, welche Gasbeleuchtung erhielt.
Hatte Sicilien unter der ausbeutenden Römerherrschast
schon ein hartes Schick-
sal zu ertragen, so ver-
schlimmerte dieses sich
noch mehr unter den
Byzantinern in den
ersten Jahrhunderten
unserer Zeitrechnung.
Die Insel wurde zum
politischen Verban-
nungsorte und zur Zu-
sluchtstätte der von den
Barbaren bedrängten
Völker. In jenen Zei-
ten gewann auch die
Kirche ihren umfassen-
den Grundbesitz; auch
ausländische, wie die
Erzbisthümer von Ra-
venna und Mailand,
erwarben große Lände-
reien. — Die Erobe-
rung durch die Sara-
zeuen im Beginne
des neunten Jahrhun-
derts vermehrte zwar
die Drangsale der In-
sel, denn zwischen den
neuen Herrschern uud
der christlichen Bevöl-
Nach einer Zeichnung von Metzener. kerung, die sich beson-
ders im Nordwesten
ziemlich unabhängig erhielt, entspannen sich unaufhörlich Racen-
kämpfe, und Byzanz machte oft den Versuch, die Insel wieder-
Zugewinnen. Unter dieser orientalischen Herrschaft hob Siciliens
tief gesunkene Cnltur sich höher, als sie jemals in den vielen
Jahrhunderten römischer und christlicher Herrschaft gestanden
hatte. Seiden- und Baum wollenen ltur wurden einge-
führt, Zucker, Citroueu, Pomeranzen, Apfelsinen
wurden nun gepflanzt. Die Historiographen verzeichneten
900 kleine Orte auf der Insel, während es jetzt darin nur
352 giebt. Die Ruinen der prachtvollen Paläste, die Blüthe
der Poesie, die Namen vieler Ortschaften und eine Menge von
Wörtern in der Sprache, — Alles zeugt noch heute von dem
Glänze und der Stärke dieser arabischen Epoche.
Wer von der Hauptstadt Palermo nach Süden schreitet,
kann dort bald auf alte maurische Paläste treffen. Ein
halbes Stündchen vor der Porta nnova liegt La Zisa. Wo-
her der Name kommt, ist unsicher; einige erzählen von einer
maurischen Prinzessa Azisa; andere denken an das arabische
262 Heinrich v. Maltzan: Die Stellung der Fr
Wort aziz, prachtig, und eine dritte Erklttrnngsweise leitet
ihn von einer Inschrift im Innern her, deren letztes Wort
alaziz lautet. Das viereckige Gebäude hat drei Stockwerke,
ist von ansehnlicher Größe, namentlich bedeutender Höhe, und
aus gelben, sorgfältig an einander gefügten Bruchsteinen er-
richtet. Ursprünglich belebten nur lange, flache, spitzbogige
Blenden die Wände, während die Fenster alle nach dem in-
nern Hofe gingen; später aber hat man da und dort uuregel-
mäßige Fenster angebracht und auch durch Wappen nnd Bal-
cone die Faxade verunstaltet. Völlig erhalten ist die hohe,
prächtige, offene Halle zu ebener Erde. Sie stößt nicht uu-
mittelbar an die Straße, sondern ist durch einen längs der
Front sich hinziehenden Corridor davon getrennt, der durch
zwei weitgefpauute, einander entsprechende Bogen nach der
einen Seite mit der Straße, nach der andern mit der Halle
in Verbindung gesetzt ist, so daß man nun doch von außen
in diese hineinsehen kann. Beide Bogen ruhen auf gekup-
pelten Säulen von Granit, Cipollin und Porphyr mit korin-
thischen Capitälen von weißem Marmor, deren Platten rei-
ches Laubwerk von byzantinischer Arbeit schmückt. Sämmt-
liche Gewölbe zeigen die „Honigscheibenverzierung", jene
eigenthümlich maurischen, eng an einander gereihten, in dem
Hohlräume der Gewölbekappen treppensörmig über einander
aufsteigenden kleinen Nischen mit herabhängenden Spitzen,
die man eben so gut oder noch besser mit Stalaktitensormen
vergleichen könnte.
Von der mit einer Brustwehr umgebenen Platsorm des
alten maurischen Palastes eröffnet sich eine wunderherrliche
Aussicht auf die in Gärten halbversteckten schimmernden Häu-
ser, die zackigen Berge und das ferne blaue Meer. Darauf
spielt auch die italienische über dem Thorbogen eingefügte
Inschrift an, welche in der Übersetzung lautet:
Europa ist der gauzen Erde Zier,
Italien Europas Blütheuhaiu,
tzosen gegenüber den Eingeborenen Algeriens.
Was jenes beut, Sicilien schließt es ein —
Allein das schönste diese Aussicht hier.
Die Normannen pflegten die maurische Cultur weiter,
aber sie steigerten sie nicht. Die kriegerischen Fürsten ent-
wickelten vielmehr die politische Macht ihres Staates zunächst.
Roger der Zweite, der größte Herrscher Siciliens, durfte
hoffen, über ganz Italien eben so wie über die ganze Nord-
küste Afrikas zu gebieten; der Papst folgte seinen Rathschlä-
gen; der oströmische Kaiser und deutsche Fürsten schlössen
mit ihm den Bund zur Bekämpfung der Staufen. Unter
seinen Nachfolgern erhielt sich wenigstens der Wohlstand des
Volkes, aber der Adel gewann bereits die Uebermacht; die
deutsche Eroberung zerstörte dann allen Reichthum. Hein-
rich der Sechste belud 150 Saumthiere mit den Schätzen
der königlichen Schlösser, die er in seinen deutschen Burgen
aufspeicherte. Ehe noch durch Friedrich's des Zweiten In-
stitutionen Ruhe und Ordnung wiedergekehrt waren, erfolgte
die Invasion und Vertreibung der Anjons. Der Adel war
in diesen Unruhen allmächtig geworden. Die spanischen
Vicekönige suchten jetzt nur die Einkünfte der Krone zu sichern,
und dem Adel in Palermo, welches sie aus den Erträgen
der ganzen Insel verschwenderisch verschönerten, durch Ehren
zu schmeicheln und durch Aufwand und Genüsse ihn zu ent-
kräftigen. Von 1759 an war die Insel mit dem König-
reiche beider Sicilien vereinigt; wie unter der Mißregierung,
die in Neapel ihren Sitz hatte, Alles herunterkam und faul
wurde, haben wir im ersten Artikel angedeutet. Es bedurfte
daher 1860 nur eiues Garibaldi, um sie iu die Arme des
„einigen Italien" zu führen. Aber Zufriedenheit herrscht
darum aus dem schöueu Eilande noch immer nicht, und nur
augestrengte, unablässige Arbeit kanu hier wieder Zustände
herbeiführen, die jenen der alten Culturepoche sich wenigstens
annähern.
Die Stellung der Franzosen gegenüber den Eingeborenen Algeriens.
Von Heinrich Freiherrn von Maltzan.
II.
Die zweite Kategorie bildet die große Mehrzahl der ara-
bischen und kabylischen Stämme. Großkabylien, die kaby-
tischen Stämme des Auresgebirges, endlich die 30 Stämme
von Arabern, welche einst die große Verbrüderung unter
Abd el Kader ausmachten, zum größten Theil in der Pro»-
vinz Oran ansässig, sind zwar momentan friedfertig, aber
sie sind es nur, weil sie müssen. Sie bedürfen nur
eines Anstoßes von außeu, d. h. von einem der unruhi-
gen Grenzstämme, um die Fahne der Jnfurrection zu er-
heben. Die Kabylen des AUres könnten die Empörung
bis nach Großkabylien weitertragen, dem, als einem Küsten-
lande, auf keiner andern Seite beizukommen ist, das also
nur vom Auresgebirge aus revolutionirt werden kann. Der
Aures selbst müßte den Anstoß von einem jener Wüsten-
stämme erhalten, die, nie ganz unterworfen, in der
Empörung eigentlich ihren Normalzustand erblicken. Jedoch
dürfte die Revolutionirung der Kabylen immer noch auf grö-
ßere Hindernisse stoßen, als die der Araber des Westens.
Die Stämme des oranischen Tell (— wie ganz Algerien in
Tell und in Wüste oder Sahara zerfällt, so unterscheidet
man auch in jeder Provinz zwischen dem nördlichen, hoch-
gelegenen Lande, dem Tell, u«d dem südlichen, flachen, step-
Pen - oder wüstenartigen , gewöhnlich Sahara genannt —)
sind noch heute eben so sehr zum Aufruhr geneigt wie zu
Abd el Kader's Zeit. Sie eignen sich zu eiuer Massen-
Operation gegen Frankreich auch viel besser als die Kabylen.
Bei letzteren tritt in Folge ihrer nationalen repnblikani-
schen Verfassung, die freilich zur Zeit von Frankreich
unterdrückt ist, die aber bei jeder Unabhängigkeitserklärung
sogleich wieder zur Geltung kommen muß, leicht Uneinigkeit
zwischen den Stämmen, ja selbst wahre Anarchie ein. Es
ist bekannt, daß Abd el Kader umsonst versuchte, die Kaby-
leu für die von ihm veranstaltete Verbrüderung der Stämme
zu gewinnen. Nicht, ob als sie nicht Frankreich ebenso sehr
haßten wie die Araber, aber die Uneinigkeit der Stämme,
ebenso vieler kleinen Freistaaten, unter einander machte
einen gemeinensamen Beschluß unmöglich. Außerdem wirkte
noch der Stammeshaß zwischen Kabylen und Ara-
bern veruneinigend. Die Kabylen zogen es vor, ihren eige-
nen Zeitpunkt zu wählen, um gegen Frankreich aufzutreten,
Heinrich v. Maltzan: Die Stellung der Franzosen gegenüber den Eingeborenen Algeriens.
263
verloren dadurch alle Chancen, welche ihnen das Zusammen-
wirken mit Abd el Kader hätte geben können, und gingen
elend zu Grunde. Der unglückliche Ausgang der Revolution
Bu Barhla's, des Abd el Kader der Kabylen, ist bekannt.
Ganz anders ist es mit den Bewohnern des Tell der
Provinz Oran. Diese Provinz schließt überhaupt die
kriegerischsten Elemente in sich. Es ist eine allgemeine ethno-
graphische Erfahrung, die schon unser unvergeßlicher Heinrich
Barth ausgesprochen hat, daß je mehr wir in Nordafrika
von Osten nach Westen fortschreiten, desto krästi-
ger, männlicher, muthiger und kriegerischer finden
wir die Stämme. Die Marokkaner sind den Algierern
an kriegerischen Eigenschaften überlegen. In Algerien sind
die Oraner kriegerischer als die Bewohner der Provinz Algier,
und diese sind wieder denen der Provinz Constantine über-
legen. Eine heterogene Oase bildet in diesem Völkersysteme
das großkabylische Land, dessen Volk ein Bergvolk und, wie
alle Bergvölker, tapfer ist und sowohl die Bewohner Algiers
als Constantines weit an kriegerischen Eigenschaften überragt.
Aber die Regel wird durch diese Ausnahme nicht umgestoßen.
Schreiten wir noch weiter nach Westen fort, so finden wir
in den Tuueferu das allererbärmlichste, feigste Volk, wel-
ches in den Barbaresken existirt. Wie unsinnig wäre also der
Revolutionirnngsplan gewesen, welchen der französische Consul
in Tunis den beiden Reifenden zuschrieb! Selbst ganz ab-
gesehen von der Regierung des Bei, die freilich noch ein gut
Theil feiger ist als selbst ihre feigsten Unterthanen, wäre es
gerade der verkehrte Weg gewesen, von dem aus eine Revo-
lutionirung Algeriens hätte bewerkstelligt werden können.
Wer eine solche hervorrufen will, der muß sich an die kräf-
tigen und männlichen Bevölkerungselemente wenden, und
diese liegen nicht auf der Seite von Tunis, sondern auf der
von Marokko. Auf die Provinz Oran hätte man vor Allem
sein Augenmerk werfen müssen, und diese war nur von Ma-
rokko aus zugänglich.
Diese Provinz hat den Franzosen mehr zu schaffen ge-
macht als das ganze übrige Algerien zusammen. Hier war
es, wo Abd el Kader seinen Sitz hatte und eine solche Macht-
entwickelung erreichte, daß er die Franzosen nicht nur in
vier Schlachten schlug, sondern daß diese, selbst nachdem sie
Verstärkungen aus Frankreich erhalten hatten und ihre Armee
an 80,000 Mann stark war, lange nichts gegen ihn unter-
nehmen konnten. Es ist bekannt, daß im Jahre 1838 Mar-
schall Valäe, der über eine Armee von 80,000 Mann ver-
fügte, sich dem Emir gegenüber auf die Bertheidigungslinie
beschränken mußte, auf welcher er sich nur mit Mühe be-
hauptete. Erst 1841 verdankten die Franzosen der Klugheit
Bugeaud's, daß sie wieder die Offensive ergreifen konnten.
Ganz dieselben Stämme bewohnen noch heut zu Tage
jene Gegenden der Provinz Oran und den Westen der Pro-
vinz Algier, welche einst das Reich Abd el Kader's bildeten,
nämlich die große Ebene des Schaliff, das Dahrage-
birge, den Dfchebel Uarenfenis, die Bezirke von Mas-
kara, Jnkedembt und Saida, jene drei Hauptfesten des
Emirs. Daß sie noch immer ihren kriegerischen Muth und
ihre antifranzösischen Gesinnungen bewahrt haben, daß sie
bei der ersten besten Gelegenheit bereit sind, das
verhaßte Joch abzuschütteln, beweisen die Ereignisse
vom Sommer 1864. Sie bedurften nur eines Anstoßes von
außen, um die Fahne des Aufruhrs zu erheben. Dieser
Anstoß wurde ihnen durch die Ulad Sidi Scheich gegeben,
welche mit Glück gegen Frankreich kämpften. Kaum war
die erste Nachricht von dem Erfolge dieses Wüstenstammes
an den Scheliff gekommen, so stand auch schon die ganze
weite Flußebeue in den Flammen des Aufruhrs. Natürlich
mußten die Stämme bald unterliegen, da sie nicht Zeit ge-
habt, disciplinirte Truppen, wie sie Abd el Kader zum Theil
besessen, zu bilden, und Mangel an guter Bewaffnung und
Munition litten. Gäbe man aber diesen Leuten Zündnadel-
gewehre und Patronen, schulte man sie, wenn auch nur ober-
flächlich, ein wenig ein, so würden sie Wunder leisten. An
Tapferkeit fehlt es ihnen nicht. Sie haben es selbst in jenem
Jahre 1864 bewiesen, indem sie der französischen Reiterei
empfindliche Verluste beibrachten.
Die dritte Kategorie bilden diejenigen Stämme, welche
eigentlich niemals in der That, sondern immer nur nominell
und auf dem Papier, d. h. im französischen „Journal ossi-
ciel", unterworfen wurden. Unter ihnen stehen die Stämme
der oranischen Sahara und unter diesen die schon öfters ge-
nannte mächtige Stammesgruppe der Ulad Sidi Scheich
oben an. Die oranischeSahara ist in viel eigentlichem
Sinne eine Wüste, als die algierische und constantinische.
In letzterer liegen die Oasendörser und Städte oft in so ge-
ringer Entfernung von einander, daß das Land überall den
Truppen die besten Anhaltspunkte gewährt. Nicht so die
oranische Sahara. Sie bietet oft auf manchen Tagesreisen
kaum eiue Oase dar, und selbst ihre wenigen Oasen tragen
fast keine gemauerten Wohnsitze, sondern dienen den Stäm-
men meist nur zum Lagerplatz, den sie auf kurze Zeit iu
ihnen aufschlagen, um ihn bald wieder anderswo hin zn ver-
legen. Was für Schwierigkeit eine folche Beschaffenheit des
Landes den Truppen bietet, beweisen die Feldzüge gegen die
Ulad Sidi Scheich, welche Frankreich fast alljährlich un-
ternehmen muß, auf denen es aber fo gut wie gar nichts
ausrichtet. Die Ulad Sidi Scheich besitzen die für die fran-
zösischen Truppen höchst unangenehme Eigenschaft, „nner-
reichbar" zu sein. Sie haben nämlich nicht nur einen gro-
ßeu Theil der oranischen, sondern auch den Osten der ma-
rokkanischen Sahara inne, auf den sie bei Gelegenheit slüch-
ten und wo sie Sicherheit finden können. Der Kaiser von
Marokko wurde zwar schon oft darum angegangen, ihnen
kein Asyl zu geben, und einige Male leistete er auch wirklich
den Forderungen Frankreichs Folge. Aber damit war wenig
geholfen. Statt nach Osten wandten sich die Ulad Sidi
Scheich dann nach Süden, in die herrenlose, große, uuer-
meßliche Wüste. Die Franzosen fanden sie mehr als je
„unerreichbar". Bei dem sogenannten Feldzuge von 1868
bekamen die französischen Soldaten den Feind nicht ein ein-
ziges Mal, auch nur in der Ferne, zu Gesicht. Ein Ge-
fecht fand gar nicht statt; das Einzige, was erreicht wurde,
waren einige wenig ergiebige Razzias, welche die Gums,
d. h. die unregelmäßigen arabischen Reiter im Dienste Frank-
reichs, welche gewöhnlich die Avantgarde bilden, an dem Nach-
trab des Viehes der Ulad Sidi Scheich machten. Wenn
eine von beiden Parteien bei diesen „Kriegen" überhaupt
Vortheil gehabt hat, so waren es jedenfalls nicht die Fran-
zofen, fondern die Ulad Sidi Scheich, denn beim ersten Theil
ihrer Campagne hatten sie insofern ihren Zweck erreicht, als
sie durch zahlreiche Razzias die Anhänger Frankreichs schwäch-
ten und die Verproviantirnng sehr erschwerten. Mit dem
geraubten Vieh flüchteten sie dann, und ihre Flucht gelang
jedesmal. Nur den kleinsten Theil ihrer Beute vermochte
der Feind ihnen wieder abzuringen. Ans dem Aufgeben
ihrer temporären Wohnsitze machten sie sich gar nichts, denn
sie wußten, daß die Franzosen sich doch in der Wüste nicht
lange aufhalten konnten, und daß sie nach deren Abzug un-
gestört ihre früheren Weideplätze wieder einnehmen würden.
Fast alljährlich im Frühjahr macht einer oder der an-
dere Unterstamm dieser großen Gruppe, die man unter dem
Gesammtnamen der Ulad Sidi Scheich begreift, einen be-
waffneten Einfall in das den Franzosen unmittelbar unter-
worfene Gebiet. Sind diese nicht gleich bei der Hand, ihn
264 Heinrich v. Maltzan: Die Stellung der F
anzugreifen, so ist das längere Verweilen des WUstenstam-
mes auf französischem Boden vom größten Nachtheil für ihre
Macht. ✓ Dann treten jene nicht feindlich gegen die Araber-
stamme des Tell auf, wie sonst, wenn deren Gebiet von
Franzosen besetzt ist und sie dadurch, daß sie ihrem Zwing-
Herrn zum Werkzeug dienen, zu Feinden der Ula Sidi Scheich
werden. Im Gegentheil, dann predigen sie ihnen den
Aufruhr, und fast immer machen jene Stämme auch
wirklich gemeinsame Sache mit ihnen. So groß ist ihr
Franzosenhaß und ihre Sehnsucht, das Joch abzuschütteln,
daß keine noch so schlimme Erfahrung sie eines Andern be-
lehren kann. Bis jetzt wurde freilich der Aufenthalt des
rebellischen Wüstenstammes (rebellisch im Sinne der Fran-
zosen, denn nominell ist er ja unterworfen) auf dem Ge-
biete der Nordstämme immer sehr abgekürzt, indem die Feinde
gleich zur Hand wären (mit einziger Ausnahme von 1864)
und die Ulad Sidi Scheich vertrieben, da diese sich einem
regelmäßige Infanterie und Artillerie ins Feld führenden
Feinde nicht widersetzen könnten.
Nun denke man sich aber den Fall, daß eine europäische
Macht den Ulad Sidi Scheich gute Waffen in die Hand ge-
geben, sie in der Tactik, wenn auch nur oberflächlich, orien-
tirt hätte, so würden die gewöhnlichen Mittel der Franzosen,
sie aus dem Norden zu vertreiben, nicht ausreichen: wenig-
stens würden sich die „Rebellen" eine Zeit lang dort halten
können. Ist diese Zeit auch noch so gering, so wird doch
der Umstand, daß sie überhaupt den Franzosen Widerstand
leisten, eine unberechenbare Tragweite haben. Die Stämme
des Scheliff, des Uarensenis, des Dahragebirges, die nur
auf ein Signal warten, um sich zu empören, werden sich im
Rücken der gegen die Ulad Sidi Scheich kämpfenden Fran-
zosen erheben und ein Vernichtungskrieg gegen diese, die so
zwischen zwei Feuer genommen sind, würde beginnen. Die
Flamme des Aufruhrs würde sich über den kleinen Atlas,
den Dschebel Amur, den Aures fortpflanzen, bis in die Oa-
sen der Sahara südwärts, bis nach Großkabylien nordwärts
dringen. Es käme daraus an, daß Mittel und Wege vor-
bereitet seien, um alle diese plötzlich Jusurgirteu schnell mit
Waffen zu versehen. Wäre dies nur halbwegs möglich,
so würde bald ein Heer im Felde stehen, das an Zahl die
der französischen Truppen ums Doppelte übertrifft. Be-
denkt man nun noch, daß zur Zeit eines Krieges in Europa
Frankreich nur wenig Truppen entbehren kann, daß es kaum
im Stande sein wird, deren viele nach Afrika zu schicken, so
stände dem Befreiungskampfe des Landes beinahe mit Sicher-
heit ein glückliches Gelingen bevor.
In solchen Zeiten würden auch auf einmal die sonst ganz
friedlichen Bewohner der Küste, der nördlichen Oasendörfer
und der Städte mit in Rechnung gezogen werden können.
Sowie diese von einem Wasfenerfolg ihrer Landsleute hörten,
würde ihr jetzt ganz passiver Mnth zur Thatkrast erwachen.
Einestheils würden sie die trefflichsten Kundschafterdienste
leisten, andererseits könnten sie vom größten Einfluß auf die
Uebergabe der befestigten Dörfer und Städte werden. Wenn
im Innern einer solchen Stadt eine mächtige Partei mit dem
Belagerer gemeinschaftliche Sache macht, so ist die Stadt
schwer zu halten. Algier selbst, das zur See zwar gut, zu
Lande aber nur oberflächlich befestigt ist, würde sich ergeben
müssen.
Außer den Stämmen der oranischen finden wir auch im
äußersten Süden der algierischen und constantini-
schen Sahara einige Stämme, welche wir gleichfalls zur
dritten Kategorie rechnen können. Unter diesen führen wir
vorzüglich die wilden Araberstämme aus der Gegend von
Wargla oder Uraha an. Sie lagen früher beständig im
Kriege mit Frankreich, und ihre Hauptstadt Wargla ist
nzosen gegenüber den Eingeborenen Algeriens.
auch jetzt kaum nominell unterworfen. Man könnte sie sehr
gut bearbeiten; Waffen müßten ihnen durch die Wüste zu-
geführt werden, ihr Aufstand, wenn auch nur von einigem
anfänglichen Erfolg begleitet, würde gleich die Erhebung der
Oasen Tuggurt, Ued Rhir, des Landes der Beni Me-
sab zur Folge haben. Von Tuggurt würde sich der Auf-
rühr nordwärts nach den Oasen von Siban, von Beni
Mesab nach El Aghuat und Ayn Madhy fortpflanzen.
An der Nordgrenze dieses östlichen Theiles der Sahara würde
freilich der Aufstand zum Stillstand kommen (denn die Oasen
Biskra, El Kantra, El Utaya sind durchaus friedlich), wenn
nicht gleichzeitig die Jnsurrection im Tell und zwar zunächst
unter den Kabylen des Anresgebirges schon zur Reife ge-
diehen und bis nach Großkabylien hin fortgepflanzt wäre.
Alle diese Erhebungsversuche müßten jedoch, wenn anders
sie erfolgreich fem sollen, gleichzeitig erfolgen und deshalb
schon lange im Voraus vorbereitet sein.
Endlich könnte man noch von einem andern Element bei
der Revolutiouiruug Algeriens Vortheil ziehen, einem Ele-
ment, das ich nicht ohne Scheu und Furcht, mißverstanden
zu werden, nenne. Dieses Element bilden die einheimi-
schen Soldaten im Dienste Frankreichs. Manchem
möchte es als eine perfide Maßregel erscheinen, sich der eige-
nen Truppen eines Staates zur Bekämpfung desselben zu
bedienen, diese also zum Hochverrath aufzufordern, damit sie
das, was Frankreich sie in vollem Vertrauen gelehrt hat,
gegen dasselbe in Praxis setzen. Aber ganz abgesehen da-
von, daß den Frauzoseu dann nur geschähe, was sie selbst
an Anderen verbrochen haben (indem sie z. B. nach
der Schlacht bei Jena die von Preußen geschulten polnischen
Soldaten gegen dasselbe benutzten, 1859 mit den Ungarn und
Italienern im österreichischen Heere Aehnliches versuchten und
unzählige Fälle mehr), abgesehen davon, daß ihnen dann
nur mit gleichem Maße gemessen würde, mit dem sie die
Deutschen gemessen haben, so würde doch eventuell ein Ab-
spenstigmachen durch Aufforderung zum Hochverrath gar nicht
nöthig sein. Die einheimischen Soldaten, die sogenannten
Tnrcos, richtiger „algierischePlänkler", und dieSpa-
his (unregelmäßige Reiter), hängen nicht im Allergeringsten
an Frankreich. Nicht nur theilen sie ganz die Antipathie
ihrer Landsleute gegen dasselbe, sondern sie haben auch noch
doppelten Grund, es zu hassen. Sie empfinden lebhaft das
Verletzende, das in ihrer tiefen Stellung in der französischen
Armee liegt; sie vergessen es den französischen Soldaten nicht,
daß diese sich ihrer Waffenbrüderschaft schämen, und noch we-
niger den algierischen Eolomsten, daß diese sie bei jeder Ge-
legenheit mit Verachtung überhäufen. Umsonst hat General
Bourbaki versucht, die Stellung der Turcos in der Armee
zu heben, ganz umsonst hat die wilde Tapferkeit dieser Ban-
den auf den Schlachtfeldern ihr Blut verspritzt; Alles, was
dies ihnen eingetragen hat, waren einige banale Lobsprüche
und Vivats von Seiten eines neugierigen Bummlerpublicums
in Lyon und Paris. Aber die Turcos leben nicht in jenen
Städten. Sie leben in Algerien, und die dortige europäi-
sche Bevölkerung, Militär wie Civil, sieht sie als den Aus-
Wurf der Menschheit an und überhäuft sie mit Verachtung.
Wenn sie für Frankreich kämpften, wenn sie überhaupt Mi-
litärdienste nahmen, so geschah das eben, weil ihnen keine
andere Kriegslaufbahn offen stand. Es giebt in jedem Lande
Leute, welche das Kriegshandwerk leidenschaftlich lieben und
mit Passion ergreifen. Finden sie kein Ziel, das ihren na-
tionalen Aspirationen entspricht, nun denn, so wählen sie das
Erste Beste, das sich ihnen bietet, wenn es nur ihre Kriegs-
leidenschaft befriedigt. Man zeige aber nun diesen Leuten
auch nur die entfernteste Aussicht, ihre martialische Passion
in Einklang mit ihrem Nationalgefühl und religiösen Fana-
Zur Würdigung der bauerl
tismus zu bringen, und haufenweise würden sie die Fahnen
des Nationalfeindes und Glaubensunterdrückers verlassen, um
denen der Freiheit und der Religion zu folgen; dann wird
das Gefühl des Hasses gegen die Ungläubigen sich an der
Erinnerung der erlittenen Hintansetzung und Verachtung
schärfen und aufs Doppelte steigern. Dann Wehe den Fran-
zofen! Sie werden es bereuen, so leidenschaftliche Elemente
zum europäischen Kriege abgerichtet zu haben. Die Kunst,
welche jene sie gelehrt, in der Hoffnung, diese Nasenabschnei-
der und Angenausstecher würden sie nur Deutschen gegen-
über ins Werk setzen, diese Kunst würden sie dann an der
„großen Nation" Probiren und gewiß nicht ohne Erfolg.
Die Deserteure von den Tnrcos (und wahrscheinlich würde
das ganze Corps bei der ersten besten Gelegenheit desertiren)
dürsten die beste Grundlage für eine einheimische Infanterie
bilden, eine Truppengattung, woran die arabischen Stämme
immer großen Mangel leiden, und die doch bei der modernen
Kriegführung das Wichtigste ist. Diese Infanterie würde
freilich zn Anfang der Jnfurrection noch nicht vorhanden
sein. Dieselbe müßte ohne sie beginnen; denn auf bloße,
selbst noch so geschickte Ueberredung hin wird kein Turcos
desertiren. Die Turcos wollen Thaten, nicht Worte, aber die
Thaten führen auch bei ihnen eine unüberwindliche Sprache.
Der Ausstand müßte seine ersten Erfolge ohne sie erringen;
diese dürften wohl zum größten Theil ein Werk der Ueber-
raschung, der plötzlichen Ueberrumpeluug des Feindes sein,
und dazu sind noch keine regelmäßigen Truppenkörper nöthig.
Gelingt aber der Aufstand, dann werden auch die Turcos
von feinen Flammen mit fortgerissen werden, in Masse zu den
Insurgenten übertreten und diesen das, was sie im zweiten
Theile des Befreiungskrieges vor Allem bedürfen, eine, gut
geschulte Infanterie liefern. Diese Infanterie wird, so lehrt
es die Erfahrung in afrikanischen Kriegen, auch in diesem
zweiten Theil des Kampfes erst nöthig werden, da beim An-
fang der Jnfurrectionen die Franzosen meistens nur Caval-
>eu Verhältnisse in Rußland. 265
lerie bereit haben und die Infanterie erst aus den Küsten-
städten reclamirt werden muß.
Schließlich handelt es sich darum, wie solche Erfolge
vorzubereiten wären? Die Antwort darauf ist höchst ein-
fach. Man ahme nur das Verfahren der Engländer bei
Gelegenheit der Kriege Abd el Kader's nach. Es liegt außer
allem Zweifel, daß die Engländer von Marokko aus den
Emir mit Waffen, Munition und Geld unterstützten. So
lange diese Unterstützung dauerte, hielt sich Abd el Kader.
Später als England dieselbe, aus diplomatischen Skrupeln,
aufgab, fiel der Emir. Sonst wäre seine Sache vielleicht
noch heute siegreich. Allerdings müßten die geographischen
Stützpunkte bei der Ausführung der Subvention diesmal
andere sein als die der Engländer. Letztere operirten vom
Norden Marokkos aus, weil Abd el Kader's Reich im Nor-
den oder Tell der Provinz Oran, die an Marokko grenzt,
lag. Heut zu Tage müßte die Revolution vom Süden aus-
gehen, und zwar sowohl von dem der Provinz Oran als
von dem allertiessten Süden der Provinzen Constantine und
Algier. Die Stützpunkte müßten für erstem im Tafilelt,
einer südlichen Binnenprovinz Marokkos, die über Mogador
und die Stadt Marokko am besten zn erreichen, für letztern
in Wargla oder Uarha, welches mit dem Südwesten der
Provinz Tripolis in Karawanenverkehr steht, gesucht wer-
den. In diesen beiden Orten müßten Wassendepots errich-
tet werden. Um deren Anlegung zu vermitteln und zugleich
die Stämme zu bearbeiten, dazu gehören kluge europäische
Agenten, die auf der einen Seite in Mogador (denn in der
Stadt Marokko gestattet der Kaiser einem Europäer nicht zu
wohnen), auf der andern in Ghadames (das von Tripolis
aus in 12 Karawantagen zu erreichen) anzustellen wären.
Zu Unterhändlern würden sich die einheimischen Juden ganz
vortrefflich eignen. In nähere Einzelheiten will ich mich
hier nicht einlassen.
Zur Würdigung der bä
— y.y. — Es ist hoffentlich den Lesern des „Globus"
nicht unwillkommen, über die „agrarische Krists" in Ruß-
land eine zuverlässige Schilderung zu erhalten.
Die Aufhebung der Leibeigenschaft ist unstreitig
eines der großartigsten Ereignisse der Weltgeschichte. Doch
um die ganze Tragweite dieses Ereignisses zu übersehen, muß
man seine Nebenumstände ins Auge fassen, und auch die
Schwierigkeiten erwägen, zu welchen diese Maßregel Veran-
lassung gab und noch giebt.
Zunächst muß dem auswärtigen Publicum gegenüber die
der Emancipation der Bauern zu Grunde liegende Logik be-
tont werden. Der Bauer war nicht Besitzgegenstand, n,tcht
eine Sache seines Herrn: er gehörte zum Boden und konnte
nur mit dem Boden, zu dem er angeschrieben war, ver-
kauft werden. Trotzdem bildete er eine Art Vermögens-
object — nicht als Individuum — wohl aber als der In-
begriff einer beliebig auszunutzenden Arbeitskraft. Bei
der Emancipation ward über den Edelmann darum ein Ber-
lust am Vermögen verhängt, weil ihm die Arbeitskrast
seiner Bauern verloren ging; doch geschah das ohne Wi-
derrede. Ferner ward angeordnet, der Edelmann müsse
GlobuS XIX. Nr. 17. (Mai 1871.)
Verhältnisse in Rußland.
unabänderlich die freizulassenden Bauern mit Land aus
seinem Besitz dotiren; dieses abzutretende Land müßte
bestimmte Qualitäten haben und der Edelmann sich mit einer
von der Regierung ebenfalls genau normirten Entschädigung
dafür begnügen, und auch das geschah ohne Widerrede.
Diese Umstände würden im Auslande unzweifelhaft als
eine große Härte erscheinen, die sich nur durch das höhere
menschliche Interesse, das sichergestellt werden mußte, erklä-
ren ließe. In Rußland erschienen die betreffenden Maß-
regeln auch strenge genug, aber sie stießen trotzdem auf kei-
nerlei Opposition. Das erklärt sich nicht etwa aus irgend
einer Indolenz der materiell Benachtheiligten, sondern einzig
aus der ursprünglichen Theorie des russischen
Grundbesitzes.
Während im westlichen Europa der Grundbesitz meist
aus erobertem Gute nach dem Principe der Heeresfolge sich
entwickelte, entsprang er in Rußland rein aus der Gnade
des Ezaren. Der Ezar ist ursprünglich der Herr und Be-
sitzer des gesammten Bodens. Wer ihm diente, dem gab er
statt des Gehaltes ein Stück Land. Dieses Princip der
territorialen Salarirnng für amtliche Dienste wird noch bei
34
266 Zur Würdigung der bäuerlic
der russischen Geistlichkeit beibehalten, denn man giebt dem
Landgeistlichen fast ausschließlich ein Stück Land, welches er
bebauen muß, um sich bezahlt zu macheu. Selbst in den
baltischen Provinzen überweist man noch heute für protestan-
tische Kirchen ebenfalls eine Menge Pastorate, kleine Kir-
cheugüter, die zum Unterhalte der Pfarrer dienen. In Kur-
land giebt es sogar mehrere Landeswahlposten, deren In-
Haber auch auf Ausnutzung bestimmter Widmen angewiesen
werden.
Im eigentlichen Rußland war diese Art Salarirung aber
ganz allgemein. Der Regent gab seinem Beamten, seinem
Würdenträger ein Stück Land „po mestu", d. h. für dessen
Stelle, dessen Posten, so lange er denselben inne hätte. Dar-
aus entstand die Gewohnheit, Landgüter in Rußland als
„pomestje" zu benennen, und ein Gutsbesitzer heißt noch
heutigen Tages auf russisch „pomestschik". Man erkennt
daraus, wie tief die Idee der landesherrlichen Verleihung
eines Landgutes in Form eines dienstlichen Gehalts in der
Vorstellung des Publicums und im Geiste der Sprache Platz
gegriffen hat. Unter gewissen Umständen mochte der Landes-
Herr es für gut befinden, seinem Beamten oder Würden-
träger das überwiesene Landstück auch nach der Versetzung
in eine andere Dienstsphäre zu lassen, oder es auf ihn und
seine Rechtsnachfolger als dauernden Erbbesitz zu übertragen.
Für solchen Erbbesitz hat die russische Sprache wohl einen
besondern Ausdruck (wottschina oder ottschina), welcher in
älteren Zeiten dem „pomestje" entgegengesetzt ward. Den-
noch blieb das Wort „pomestschik" für „Gutsbesitzer"
immer der am meisten übliche Ausdruck, und der Begriff
„pomestje" verlor den ursprünglichen Charakter, als der
Czar nicht mehr durch temporäre Güterverleihung, son-
dern mit Geld die großen und kleinen Beamten besoldete.
Dennoch erhielt sich die alte Präsumtion in gewissen Knnst-
ausdrücken des ossiciellen Stiles. Der Gehalt, welchen der
Beamte in Geld bezieht, heißt nämlich (mit französischem j)
„jalovanie"; giebt der Kaiser Jemandem ein Gut zu erb-
lichem Besitz, so braucht man davon gleichfalls den Ausdruck
jalovat — womit man unbedingt an das alte Princip der
Güterverleihung erinnert.
Da der russische Grundbesitz sich somit weder aus dem
Rechte der Eroberung, noch aus irgend einer andern sen-
dalen Motivirnng herleitet, so waren die Bauern in Ruß-
land bis zum Ende des 16. Jahrhunderts auch keine Hörige.
Sie zogen frei auf den Gütern herum, welche die Regierung
entweder sich selbst vorbehalten, oder an Einzelne oder Cor-
porationen verliehen hatte. Bekanntlich machte diesem Ver-
hältniß im Jahre 1592 ein Machtspruch des Czaren Feodor
Jwanowitsch ein Ende. Die beständigen Wanderungen der
Bauern, welche ohne Rücksicht auf den Betrieb der Land-
wirthschaft plötzlich auf und davon gingen, weil sie in einem
andern Dienstverhältniß mehr Vortheile erwarteten, ge-
sährdeten das ganze Agriculturwesen. Aus Zweckmäßigkeits-
gründen band daher der Czar Feodor Jwanowitsch die
Bauern an die Scholle, indem jeder von ihnen auf dem-
selben Gruude und Boden, auf welchem er sich zur Zeit be-
fand, auch bleiben und nicht hinfort mehr nach Belieben sich
einen neuen Herrn ausfnchen sollte.
So entstand die Glebä-Adscription in Rußland durch
eiueu Act der souveränen Gewalt. Die Leibeigen-
schast ward nach und nach ein Zustand, den die Bauern
als einen natürlichen betrachteten: sie waren selbst als Leib-
eigene geboren, ebenso ihre Väter und Großväter. Weiter-
hin reichte selten die Erinnerung. Nichtsdestoweniger ver-
gaß man nie das alte Dispositionsrecht der russischen Re-
gierung über das Land. Man legte sich daher die Sache so
zurecht: die Regierung habe die Bauern an bestimmte Land-
m Verhältnisse in Rußland.
stücke gebunden; hernach habe sie zu verschiedenen Zeiten an
Einzelne und an Corporationen eine geringere oder größere
Anzahl von Bauern geschenkt — mit dem Lande, zu wel-
chem sie gehörten. Wir gehören dem Edelmann, das
Land aber gehört uns — das war die gewöhnliche Logik
der russischen Bauern. Diese Logik fand eine gewisse Un-
terstützung in der eigenthümlichen Art des russischen
Gemeindebesitzes. In den ersten Zeiten der Leibeigen-
schast mögen die Beziehungen zwischen dem Edelmanns und
dem Bauer mehr einem unauflöslichen Pachtverhältniß ge-
glichen haben. Nach und nach verlor sich das klare Be-
wußtsein dessen, was der Edelmann seinem Bauer schuldig
war. Dagegen traten die Pflichten und Leistungen der
Bauern im Einzelnen und im Ganzen desto offenkundiger
hervor. Es ward bequemer, daß der Edelmann sich für die
Prästanden seiner Bauerschast nicht an den Einzelnen hielt,
sondern an die Commune, daß die Bauergemeinde im
Ganzen nicht nur die Leistungen und die Abgaben vertheilte
und regulirte, sondern auch solidarisch für den Einzelnen
haftete. Was erst bloß bequem war, bildete sich später
zur Usance aus und nachher zu einem unverletzlichen Gesetz.
Dieser anfangs administrative, später absolute Charakter der
Gemeinde bestärkte die Bauerschaft noch mehr in dem
Glauben, daß das Land, worüber die Gefammtheit verfügt,
ihr und nicht dem Edelmann gehört. Denn die Gemeinde
war es, welche von Zeit zu Zeit das Gemeindeland so ver-
theilte, daß jede Bauerfamilie ihr Stück bekam, welches sie
nährte. Waren im Laufe der Zeit solche Aeuderuugen ein-
getreten, daß die überwiesenen Landesparcelleu nicht mehr
im ursprünglichen Verhältniß zu ihren Inhabern sich be-
fanden, fo war es wiederum die Gemeinde, welche
das ganze Befitzverhältniß aufhob und neue Thei-
luugeu veranstaltete. Die Gemeinde war es, welche in
der Ackerbau-Jahreszeit die Aufnahme der Agriculturarbeiteu
in fo apodiktischer Weise anordnete, daß Niemand vorher
daran gehen, und Niemand etwas Anderes zu bauen wagen
durfte, als was die Gefammtheit beschlossen. Die Gemeinde
endlich übernahm sämmtliche Steuern, welche ihre
Glieder zu zahlen hatten, und sie repartirte sie in solcher
Weise, daß der Betrag solidarisch aufgebracht werden mußte.
Wo also das Land in Frage kam, trat überall die Ge-
m einde in den Vordergrund; demnach erklärte sich der Bauer
die drei Tage in der Woche, in welcher er Frohndienste sür
den Edelmann zu leisten hatte, nicht aus dessen territorialem
Besitz, sondern einzig aus dessen Verfügungsrecht über die
Person, über die Freiheit des Leibeigenen.
Bei der Emancipation der Bauern am 19. Februar
(3. März) 1861 hob man hinsichtlich der Person des Leib-
eigenen das Besitzrecht des Edelmanns auf; der Edelmann
mußte der Bauerngemeinde im Ganzen Land abtreten, da-
mit der Einzelne davon dotirt würde. Diefe Dotirnng'fand
nach Maßgabe der bisherigen Ackertheilungen statt durch die
Gemeinde uud unter ihrer Aufsicht. Der Einzelne zahlte
dem frühern Herrn eine von der Regierung festgesetzte Ent-
schädigung, aber auch diese erhob von ihm die Gemeinde
nach Maßgabe aller übrigen Prästanden und mit der Clansel
einer solidarischen Haft. Der Gemeindeverband ward
also durch die Emancipationsacte in keiner Weise
berührt, und die Commune behielt in Betreff ihrer Glie-
der nach wie vor dieselben weitgreifenden Rechte. Es gilt
wie früher der Satz, die Commune müffe einem jeglichen
Gliede Land geben, ohne es ihm je nehmen zu können, auch
wenn der Einzelne seine Leistungen nicht erfüllt. Sie haf-
tete der Regierung gleichzeitig für sämmtliche Steuern, für
die Personalabgaben, wie auch für die aus dem Landbesitz
sich ergebenden Leistungen. Im Fall unerfüllter Leistungen
Aus den Briefen einer deutschen Erzieherin in Nordbrasilien.
267
darf die Commune dm Schuldigen auspfänden; sie muß
ihm freilich die Landesparcelle und seine Hütte lassen, aber
sie darf ihm die Utensilien, das Vieh und Alles nehmen,
was ihm die Ausnutzung des Besitzthums ermöglicht. Ge-
nügt das Abgepfändete nicht zur Bezahlung der Abgabe-
schulden, so darf die Commune das säumige Mitglied aus-
miethen und zu ihren Gunsten arbeiten lassen. Will ein
Glied der Gemeinde Arbeit in der Ferne suchen, ertheilt ihm
die Commune einen Paß nur auf kürzeste Fristen, so daß
der Einzelne hierin, wie auch bei etwaiger Erneuerung des
Passes, ganz von ihrer Willkür abhängt. Aber auch die
Landesparcelle wird nicht völliges Eigenthum des Gemeinde-
gliedes. Hat selbiges Jahre lang fleißig gearbeitet, um die
Landesparcelle zu cultiviren und seine Ertragsfähigkeit zu
steigern, so kommt über kurz oder laug eine neue Theilungs-
Periode, wo die Commune aufs Neue den, Besitz regulirt.
Schließlich hat der fleißige Landbauer die Chance, den Steuer-
ausfall für den Faulen und Unordentlichen mit zu bezahlen,
da dasjenige, was derselbe schuldig bleibt, kraft der solidari-
schen Hast Aller, auf die Uebrigeu repartirt wird.
Diese Thatfachen konnten nicht bei der Emancipation
gleich mit abgeändert werden, und man mußte ihre Conse-
gnenzen wohl oder übel mit übernehmen. Die Emancipa-
tion war an sich ein so durchgreifender, in alle Belitzver-
hältnisse einschneidender Act, daß man Ursache hatte, die da-
malige Krise nicht noch zu vergrößern und zn erschweren.
Die russische Regierung sah aber gleichwohl voraus, daß der
uothgedrungenermaßen noch beizubehaltende Gemeindeverbaud
während einer Uebergangsperiode gewissermaßen be-
festigt werden müsse. Es ist ganz klar, daß die alte Ge-
meindeangehörigkeit mit den Periodischen Ländertheiluugen die
Liebe zu dem heimatlichen Boden schwächt; man weiß ja
nicht, ob man lange dasselbe Grundstück behält, oder ob man
nicht bald ein anderes zu übernehmen gezwungen wird —
man schickt sich da mit ebenso leichtem Herzen an, eine Lan-
desparcelle in der Ferne zn suchen, die gerade ebenso lieb,
ebenso annehmbar sich darstellt, wie irgend ein anderes be-
liebiges, bisher fremdes Landstück in der Heimath. Auch
bildet sich hierbei keine Vorliebe für den ländlichen Berns
heraus, und der Bauer ist leicht capabel, ihn ohne Weiteres
für einen andern aufzugeben.
Es galt demnach die Emancipirten so lange wenigstens
bei ihren Gemeinden festzuhalten, bis sie einigermaßen den
Besitz der Freiheit in ihrem bisherigen Stande schätzen ge-
lernt. Es ward in der Emancipationsacte daher angeord-
net, der Freigelassene muß neun Jahre, bis zum 19. Februar
(3. März) 1870, unbedingt im Besitz der ihm angewiese-
neu Parcelle ausharren; erst nach Ablauf dieser Ueber-
gangsperiode, also erst nach dem 19. Februar (Z.Marz)
1870, tritt das Recht der Freizügigkeit für ihn ein. Wollte
Jemand während dieser Uebergangsperiode aus seinem Ge-
meindeverbande austreten, hätte er vier Bedingungen zn er-
füllen, nämlich: 1) die Genehmigung seines frühern Herrn
zu erwirken; 2) die Genehmigung der Gemeinde, welcher
er bisher angehört, zu erlangen; 3) alle fällig gewesenen
Steuern zu bezahlen nnd alle Leistungen zu erfüllen; 4) die
Genehmigung der Gemeinde, in welche er einzutreten geson-
nen sein sollte, schließlich auch noch zu erbitten.
Diese vier Bedingungen waren so beschaffen, daß ein
Austritt aus dem Gemeindeverbande während der Ueber-
gangsperiode ganz unmöglich wurde. Wer feine Steuern
in der einen Gemeinde nicht bezahlen konnte, hätte wohl die
Genehmigung zum Austritt aus derselben leicht erlangt, aber
nicht die gleichzeitig nothwendige Aufnahme in eine andere.
Wer dagegen seine Stenern rechtzeitig bezahlte, der erlangte
während der Uebergangsperiode nicht die Erlaubuiß zum
Austritt und zur Uebersiedelung. Erst nach Ablauf der
Uebergangsperiode hörten die beiden ersten Beschränkungen
zur Freizügigkeit auf: man bedurfte hinfort zum Austritt
aus dem Gemeindeverbande nach geliefertem Nachweise der
Erfüllung aller Prästanden bloß der Ausnahme in einen an-
dern Gemeindeverband.
Aus den Briefen einer deutschen Erzieherin in Nordbrasilien *)♦
i.
Aus Bahia.
Lehrerin in einem deutschen Institute zu sein, ist sicher-
lich keine kleine Aufgabe und hat seine großen Schattenseiten.
Aber diese bilden geradezu paradiesische Zustände gegen das
Leben einer Erzieherin in einer brasilianischen Pension.
Armes Geschöpf, das sich, vielleicht verführt durch den
hohen Gehalt, über den Ocean locken ließ, Du wirst Deines
*) Die obigen Mitteilungen sind, wie wir glauben, nicht bloß
für die vielen Lehrer und Lehrerinnen unter den Lesern des „Globus"
vou einigem Interesse. Die Schilderungen tragen das Gepräge un-
mittelbarer Auffassung, und wenn auch hin und wieder die Streif-
lichter etwas grell aufgesetzt sind, so läßt sich doch nicht verkennen,
daß die Darstellung im Allgemeinen richtig sein wird. Die Päda-
gogin war zuerst in der großen Hafenstadt Babia. verließ jedoch
dieselbe, um einige Zeit nachher in Penedo als Erzieherin zu wir-
keu. Diese Stadt unweit der Mündung des Rio San Framisco.
ist seit 1867 den fremden Flaggen eröffnet worden. Aus den Schil-
derungen lassen wir fort, was für diejenigen, an welche die Briefe
gerichtet waren, vou Interesse sein kann, für andere Lefer jedoch gleich-
gültig ist. N ed.
Lebens nicht froh! Früh, wenn noch die Natur in fchwei-
gender Dämmerung ruht, fängt der Lärm an. Du möchtest
gern noch etwas ruhen, die Hitze und der anstrengende Un-
terricht vom Tage vorher haben Dich müde gemacht, ver-
gebens, es hilft Dir nicht! Das melodische Wirrwarr von
drei Pianos zugleich dringt aus dem Musiksaal zu Dir hin-
aus, und da in diesein Zimmer, wie überhaupt in jedem
Gemache im ganzen Hause, Luftlöcher augebracht sind, so
geht Dir auch keiner von den entsetzlichen Mißtönen ver-
loren.
Drei Schülerinnen üben nämlich zugleich. „Die Zeit
muß benutzt werden," meint die verehrte Vorsteherin, und
da sie 38 Schülerinnen hat und jede üben muß, so mag sie
von ihrem Standpunkte aus uicht Unrecht haben. Ich frei-
lich warf ihr ein, daß auf diese Weise das musikalische Ge-
hör der Kinder tobt gemartert würde, sie aber nxeinte, die
Kinder gewöhnten sich bald daran, nicht rechts und links,
sondern nur auf ihr eigenes Stück zu hören!
Mag dem so sein, wer aber nimmt aus Dich, Du arme
gemarterte Zuhöreriu, Rücksicht ? Jeden Morgen weckt Dich
34*
268 Aus den Briefen einer deutsc!
dasselbe Concert. So geht es Tag für Tag, nur die Ferien
sind ausgenommen.
Es ist eine Herkulesarbeit, diese farbigen, schwarzen, gel-
ben, bronzenen, kurz in allen Schattirungen spielenden kleinen
Teufel zu unterrichten. Es gehört mehr Geduld dazu, als
Steine klopfen oder Holz hacken von Sonnenauf- bis Sou-
nenuntergang. Ihr könnt Euch keinen Begriff von dieser
geradezu thiermäßigen Dummheit machen. Ich habe mich
oft gefragt, wenn ich mich stundenlang vergeblich geplagt
hatte: Ist es möglich, daß diefe kleinen Geschöpfe leibhaf-
tige Menschen sind? Musik lieben sie mit Leidenschaft,
aber — aber — das Lernen wird ihnen schwer, das Be-
greifen noch schwerer. Nachpauken, oder noch treffender ge-
sagt, nachhauen lernen sie ein kleines Stück, aber, die Noten!
„Schwarze Punkte langweilig sind," sagte gestern eine
kleine Mulattin zu mir, und so denken sie Alle, Alle! Wie
wird der Unterricht den Erzieherinnen hier überhaupt er-
schwert! Wie greift er die Nerven an! Stellt Euch vor,
daß in einem allerdings großen Zimmer die verschiedenartig-
sten Lectionen zu gleicher Zeit gehalten werden. Dort, in
jener Ecke, unterrichtet eine junge Portugiesin die kleinsten
Kinder im Elementarunterricht. Sie buchstabiren nach Her-
zenslust und überschreien sich gegenseitig. In der andern
Ecke wird Englisch getrieben, es geht hierbei nicht weniger
laut zu; hier malträtirt man die Kinder mit Geographie,
und die Lehrerin mit ihrem entsetzlich scharfen Organe ruft
unaufhörlich zur Aufmerksamkeit aus; es ist ein entsetzlicher
Lärm, wie in einer Judenschule! Eins überschreit das An-
dere, und dazwischen klingt, wie Iahrmarktsmusik, Clavier-
spiel, denn, um noch etwas Abwechselung hineinzubringen,
wird zugleich auch diese edle Kunst getrieben.
Wäre es möglich, daß urplötzlich einer meiner lieben
Landsleute, vielleicht ein deutscher Lehrer, in die Thür träte
und überschaute diesen Höllenspectakel, er würde erstaunt in
die Hände schlagen und ausrufen: Bin ich in einer Schule
oder in einem Tollhause?
Am Abend um acht Uhr erst giebt es Ruhe. Aber man
ist wie todt gehetzt und hat für nichts weiter Sinn, als sich
lang auszustrecken auf feine Pritsche, die Einem, trotz ihrer
polizeiwidrigen Härte, verlockend entgegenwinkt, um auszu-
ruhen vou des Tages Last und Hitze und die aufgeregten
Nerven auszittern zu lassen. —
Die Vorsteherin hat sich in den Kopf gesetzt, außer einer
Portugiesin nur Deutsche iu ihrem Institute zu beschäftigen.
Aber sie hat wenig Segen davon. Meine Landsleute machen
mir zum Theil wenig Ehre.
Welche Gestalten sind es aber auch, die als Gouveruan-
ten, Wirtschafterinnen, Dienstboten Brasiliens Boden be-
treten! Bahia wird förmlich überschwemmt davon. Ge-
schminkte, verkommene Wesen, im abenteuerlichsten Eostüme,
vielleicht heruntergekommene Schauspielerinnen oder noch etwas
Schlimmeres, melden sich zu Erzieherinnen, nehmen indeß
gern mit jeder andern Stellung fürlieb; es liegt ihnen nur
daran, ein Unterkommen zu finden.
Welche Geschöpfe habe ich hier schon als Landsleute die
Ehre zu begrüßen gehabt! Man sieht ihnen die Verwegen-
heit auf den ersten Blick an, man erräth sofort, daß es nicht
die edelsten Motive sind, die sie über den Ocean führten.
Die Hitze ist fürchterlich, man weiß nicht zu athmen, und
könnt Ihr Euch vorstellen, daß, trotz dieser versengenden
Glnth, die Leute eine wahre Sucht haben zu tanzen? Alles
tanzt, Vornehm und Gering. Wenn es Feierabend ist, dann
macht die schwarze Gesellschaft große Toilette. Am
Tage gehen sie, während der Arbeit, im tiefsten, unaussprech-
lichen Negligee, Abends erscheinen sie wie der Vogel Phönix,
stolz geputzt, die Frauenzimmer auf die wunderlichste Weife
l Erzieherin in Nordbrasilien.
herausstaffirt uud die Männer im feinen Frack und den uu-
vermeidlichen weißen Vatermördern. Irgend ein musikali-
fches Genie quält sich, auf einem musikalischen Instrumente
die entsetzlichsten Töne hervorzubringen, nach denen Alles tanzt
uud hüpft, was nur Beine hat. Oh, diese abendlichen Mn-
siken, wie oft haben sie mich zur Verzweiflung getrieben,
wenn ich, um Luft zu schöpfen, oder mich an der entzücken-
den Aussicht zu weiden, aus dem Fenster schaute. Aus mei-
nem Fenster habe ich nämlich die wundervollste Aussicht auf
das Meer, das nie schöner erscheint, als wenn der Mond
darauf ruht. Die ganze Stadt, welche sich an einem Berge
hinaufzieht, der Hafen von Bahia, in welchem Hunderte von
Schiffen liegen, Alles ist wie mit einem leichten Schleier
umhüllt, und darüber hinaus erglänzt das weite Meer im
silbernen Glänze. —
Worte vermögen nicht, diesen Anblick zu schildern, er ge-
hört zu den großartigsten und schönsten, die ich kennen ge-
lernt habe. Als ich zum ersten Mal an mein Fenster trat
und hinabschaute auf die Stadt, den belebten Hafen, das
weite Meer zu meinen Füßen, hätte ich vor Entzücken laut
aufjubeln mögen, ich möchte es auch jetzt noch, wenn ich in
stiller Mondnacht ans Fenster trete; allein wenn ich es thäte,
so würde man mich hier mindestens für halb verrückt halten,
denn für Naturschönheit haben die Menschen hier kein Auge
und noch weniger ein Herz.
Ich finde das Leben in Bahia entsetzlich, ich hasse es
und doch liebe ich Bahia seiner wundervollen Lage wegen.
-i-
*
Aus Penedo.
Ich habe Bahia verlassen. Meine Gesundheit litt bei
der furchtbaren Anstrengung. Ich würde mich zu Tode ge-
hetzt haben. Zu dieser Treibjagd bedarf es einer bessern
Lunge. Das Klima, so nahe der Küste, bekam mir gleich-
falls nicht; ich löste meinen Vertrag und nahm eine Stelle
in Penedo an.
Die Entfernung von Bahia hierher ist nicht groß, unge-
führ so weit wie vou Hamburg nach London, aber wir wa-
ren doch vier Tage unterwegs; es wird in verschiedenen
kleinen Häfen angelegt. Wir machten die Fahrt in einem
Dampfer, richtiger gesagt in einem Nußschälcheu, das erbar-
muugslos Wind und Wellen, die sehr hoch gingen, preis-
gegeben war. Auf allen meinen Seereisen stand ich nicht
solche Todesangst aus. Bei jeder neuen Welle, die heran-
gebraust kam, sah ich unserm Untergange entgegen und schloß
meine Rechnung mit dem Himmel ab. Dabei die Seekrank-
heit im höchsten Grade! Ich war wie verlassen und ver-
loren. Zum Glück für mich machten wir einen ganzen Tag
Rast in einem kleinen Hafen. Dort bewirthete uns ein
Deutscher, ein Iuuggesell, den ich bereits in Bahia kennen
gelernt hatte. Da saß ich nun unter fünf Herren am Früh-
stückstische. Unser liebenswürdiger Wirth hatte Alles, was
Küche und Keller herzugeben vermochten — uud das war
durchaus nicht schlecht und nicht wenig —, auftragen lassen.
Seine fette Mulattin ging schmunzelnd vom Einen zum An-
dern und freute sich, daß wir ihrer Kochkunst Ehre anthaten.
Das Leben am Bord eines brasilianischen Dampsers ist
durchaus nicht comsortabel und läßt Vieles zu wünschen
übrig. Ueberall Schmutz und Unordnung, so ganz verschie-
den von den deutschen Schiffen. Ich war auch herzlich froh,
als unsere Reise ein Ende nahm und wir in Penedo an-
langten.
Dieser Ort ist eine kleine Hafenstadt und hat von der
Seite, wo ich ihn sah, eine ganz angenehme Lage. Der
Blick über den San Francisco, es ist dies der zweitgrößte
Aus beit Briefen einer deutsc
Strom in Brasilien, ist sogar recht hübsch. Die kleinen In-
seln, welche er hier bildet, geben ein aninuthiges Bild, und
sein gelbes Wasser erweckt heimathliche Gefühle und Sehn-
sucht nach der lehmigen Elbe. Aber die Elbe ist nicht so
tückisch wie der San Francisco. Sie bleibt immer harmlos
und verbirgt keine Menschenfresser. Wer hier das Unglück
hat, in den Fluß zu fallen, ist nicht allein der Gefahr des
Ertrinkens ausgesetzt, er kann auch bei lebendigem Leibe an-
und aufgefressen werden, und zwar von einem Fische, der
nicht länger als I V2 Fuß ist. Diese kleinen gefräßigen
Ungeheuer fallen nämlich sofort in solcher Menge über einen
Körper her, daß derselbe verloren ist, wenn nicht im Augen-
blicke Hülse erscheint.
Ein kleiner Knabe von zehn Jahren badete neulich. Im
Augenblick fallen sie über ihn her, und ehe noch auf sein
entsetzliches Angstgeschrei die Rettung so schnell als möglich
naht, haben sie dem armen Kinde bereits den Unterleib ab-
gefressen. Einer Frau fraßen sie ein Stück ans dem Beine.
Ich könnte noch manches Beispiel erzählen, sie sind hier durch-
aus keine Seltenheit, aber ich denke, Ihr habt genug von
diesem zwar interessanten, aber höchst gefährlichen Fische.
Seid froh, daß Ihr an der Elbe Strand nicht dergleichen
Gefahren ausgesetzt seid, daß Ihr sorglos darin baden könnt,
ohne daß Euch die Hechte beißen. —
Das Leben in Penedo ist interessanter als in Bahia.
Durch die täglich einlaufenden Schiffe wird die Einförmig-
feit des gewöhnlichen Lebens angenehm unterbrochen. Die
Stadt liegt ungefähr drei Stunden von der Mündung des
San Francisco in den Ocean entfernt und hat Dampfer-
Verbindungen nach Bahia, Pernambuco und stromaufwärts
bis zu den berühmten Wasserfällen von Paulo Affonso, die
ein wahres Wunder an Großartigkeit und Schönheit sind.
So höre und sehe ich denn wieder mehr von der Welt
und komme mir weniger ausgeschlossen von der Civilisation
vor. Ueberhaupt fühle ich mich wohler und behaglicher in
meiner jetzigen Stellung als in dem Pensionat. Ich habe
zwei kleine Mädchen zu unterrichten, und diese Aufgabe er-
scheint mir wie ein Kinderspiel gegen das Fegefeuer in Ba-
hia. Ich unterrichte drei Stunden des Morgens, und damit
ist mein Tagewerk vollbracht. Nachmittags gehen die Kin-
der in eine portugiesische Schule.
„Immer hübsch langsam," heißt hier das Motto des
Hausherrn, der behauptet, daß wir Europäer viel zu hastige
Bewegungen für dieses Klima haben. Ich bemühe mich
jetzt endlich, mir das brasilianische Phlegma anzugewöhnen,
die furchtbare Hitze macht dasselbe schon zum Gebot.
Die Frau vom Hause ist das Muster einer Brasiliane-
rin. Sie könnte mancher europäischen Hausfrau als Vor-
bild dienen, um wie viel mehr einer hiesigen, die wahrlich
für nichts^veiter Sinn haben, als zu faulenzen und sich zu
putzen. ^>ie steht ihrem Manne treu zur Seite, arbeitet
mit ihm im Comtoir und besorgt die Correspondenzen, ja,
sie ersetzt ihm vollständig einen Commis. Dabei ist sie ein-
sach und bescheiden, eine wahre Perle für ihren Mann.
Der Haushalt ist ganz englisch eingerichtet, Essen und
Trinken spielt die Hauptrolle.
Sonderbare Sitten finde ich hier. Glaubt Ihr wohl,
daß ich es wagen kann, mir irgend etwas selbst einzukaufen?
Arglos ging ich aus, um mir einige Kleinigkeiten zu besor-
gen, ich wollte zugleich auch die Stadt etwas kennen lernen,
aber ich bin übel angekommen. Alle Fenster öffneten sich
und Gesichter in allen Schattirungen starrten mich mit leb-
hastem Staunen an, gerade als ob ich ein tanzender Bär
oder sonst ein interessantes Ungeheuer sei. Will ich also
nicht wieder Ursache zu einem Spectakel geben, so muß ich
mich schon zu der hier einmal herrschenden Sitte bequemen
'n Erzieherin in Nordbrasilien. 269
und meine sämmtlichen kleinen Bedürfnisse durch Männer-
Hand besorgen lassen. Komisch genug wird es mir sein,
wenn ich um jede Stecknadel den Herrn des Hauses ersuchen
muß. Aber die Sitte verlangt es so, und dieser BeHerr-
scherin fügt man sich.
Der Mann ist überhaupt hier die dirigirende Hand, die
allen Verkehr nach außen besorgt. Die Frau überschreitet
selten die Grenzen ihrer Häuslichkeit; sie macht und empfängt:
wenig Besuche, und doch weiß merkwürdigerweise, trotz dieser
Abgeschiedenheit, die Eine sehr genau, was die Andere thut
und treibt.
*
* *
Ich habe manchmal über die langweiligen Sonntage
in meiner Heimath geklagt, aber es scheint, als ob diese Lange-
weile eine allgemeine Weltplage ist. Ihr werdet freilich
meinen, ich lebe in einer so interessanten Welt hier und es
sei ein ganz apartes Vergnügen, in Penedo am Fenster zu
sitzen und interessante Studien zu machen; da seid Ihr sehr
im Jrrthum. So etwas sieht sich weit angenehmer aus der
Ferne an, liest sich recht nett, wenn man daheim im kühlen
Zimmer sitzt. Ich bin am Fenster jetzt, aber es giebt wenig
zu sehen. Erst hat es geregnet, vielmehr in Strömen vom
Himmel gegossen, so daß kein Mensch aus der Straße zu
sehen war; jetzt hat es zwar wieder ausgehört, aber die Aus-
sicht hat sich trotzdem wenig geändert. Einige fromme Kir-
chengängerinnen in schwarzen Kleidern und eleganten Crßp-
de-chine-Shawls in allen Farben, die sie, nach spanischer
Sitte, sich über den Kopf drapiren, wallfahrten zur Kirche;
dort amüsiren sich ein paar nackte Mulattenknaben, indem
sie die besten Eapriolen machen, und gerade unter meinem
Fenster könntet Ihr einige schwarze Kerle erblicken, die ihre
faulen Glieder aus den Steinen ausstrecken und sich von der
Sonne bescheiuen lassen, das ist Alles! Das sind die Sonn-
tagssrenden in Penedo!
Aber selbst diese harmlose Sonntagsbeschaulichkeit wird
mir gestört, denn von unten herauf dringt das Geschrei der
Negerknaben, die der Herr des Hauses durchprügelt. Es ist
dies seine tägliche Lieblingsbeschäftigung, die er keinen Nach-
mittag versäumen würde. „Die armen Jungen!" höre ich
Euch sagen; aber beruhigt Euch. Diese schwarzen Tagediebe
sind alle an Prügel gewöhnt, wie qn das tägliche Brot, und
arbeiten ohne dieses Surrogat nicht; ich würde kein Mitleid
haben, wenn er die ganze faule Dienerschaft in gleicher Weise
tractirte. Mich empört nur, daß er die Sache nicht mit
einigen schnellen Hieben abmacht, sondern die armen Schelme
systematisch in verschiedenen Absätzen prügelt. Das ist er-
bärmlich und grausam, und es kostet mich Mühe, ruhig da-
bei zu bleiben. Meine Vorstellungen würden auch nichts
nützen.
Trotz Prügeln und Strenge taugt die ganze Dienerschaft
keinen Pfifferling. Ich habe täglich Gelegenheit mich über
ihre Nachlässigkeit zu ärgern, besonders über ihre Unreinlich-
keit, die wirklich ihres Gleichen sucht. Erst heute Morgen
hatte ich wieder ein Beispiel davon.
Wenn nämlich des Schmutzes und des Ungeziefers nach
meinen deutschen Reinlichkeitsbegriffen mir zu viel wird iu
meinem Zimmer, dann nehme ich den Besen selbst zur Hand
und mache reine Bahn. So auch heute. Dann versam-
melt sich das faule Volk vor meiner Stube und sieht grin-
send zu, wie die Signora mit der weißen Blonse den Besen
regiert. Ich gebe ihnen dabei die besten Ehrentitel, aber das
rührt sie nicht, sie sind keine andere Sprache gewöhnt. Mein
gutes Beispiel wirkt auch keineswegs nacheifernd auf sie, sie
bleiben, was sie sind: dumm, faul und schmutzig.
Wir haben so viel Leute hier im Hause und doch ge-
270 Aus den Briefen einer deutsch
fchieht wenig. Zuerst sind da eine Negerin und zwei Mu-
lattinnen, dann ein Neger und zwei Mulattenknaben. Zur
Aufsicht Uber diese ganze Persouage, so gewissermaßen als
Wirthschafterin, ist noch eine alte fette Negerin da. Aber
sie ist das fünfte Rad am Wagen und hat keine Gewalt
über die Leute. Diese farbigen Häupter müßten von einer
thatkräftigern Hand regiert werden.
Ich wollte, Ihr könntet die Alte einmal sehen, wenn sie
zu Tisch kommt, ich glaube, der Bissen im Munde bliebe
Euch stecken. Erstens hat sie einen kleinen Höcker, ist fett
wie ein gut gemästetes Schwein (man verzeihe mir diesen
unästhetischen Vergleich, aber ich finde keinen Passendern) und
hat einen beinahe rüsselartigen Mund. Was ihre obere
Toilette anbelangt, so übertrifft sie an Mangel derselben
noch unsere kühnsten Balldamen. Ihre Kleider sind, ganz
nach Pariser Art, bis auf den Magen ausgeschnitten. Und
in diesem Aufzuge erscheint sie jeden Tag bei Tische. Aber
derselbe gehört hier zur Landessitte.
Wir fragten die Alte neulich, warum sie nicht wie wir
hohe Blousen trüge. Da machte sie ein ganz verschämtes
Gesicht und blickte zur Erde nieder. „SignoraSpaß macht,"
sagte sie, „alte Judith nicht mehr junge Kleider trägt."
Und gleichsam , als ob wir einen Angriff auf ihre Tugend
mit unseren Worten beabsichtigt hätten, eilte sie schnell zur
Thür hinaus. Das sind doch sonderbar naive Anschauungen
hier zu Lande! Alte Leute dürfen ihre Reize zeigen und
jnnge müssen dieselben verstecken! Ländlich, sittlich! Die
Sittlichkeitsbegriffe sind verschieden in der Welt! —
Nachdem ich heute früh mein Zimmer gründlich gerei-
nigt, ging ich zu meiner zweiten Sonntagsfreude über. Es
gehört nämlich zu den unbedingten Notwendigkeiten hier,
daß man sehr oft eine Revision mit seinen Kleidungsstücken
vornimmt, wenn man nicht will, daß dieselben in Grund
und Boden vom Ungeziefer zerfressen werden sollen. Den
größten Schaden richtet in dieser Beziehung ein großer Käfer,
„Barotte" genannt, an. Derselbe ist zweimal größer als
ein Maikäfer, aber ganz platt und verbreitet einen Geruch,
daß man ihn schon von weitem wittern kann. Dieser gräß-
liche Zerstörer findet sich in jedem Hause schaarenweise, und
in meinem Zimmer sind ebenfalls eine ganz hübsche Anzahl
davon vorhanden und machen mir das Leben schwer. Nichts
ist vor ihnen sicher, sie zerfressen Alles!
Ueberhaupt ist hier ein gesegnetes Ungezieferland! Abends,
wenn wir bei Tische sitzen, und es ist Regen in der Lnft,
dann stellen sich Schaaren von diesen ungebetenen Gästen
ein. Von allen Seiten summt und schwirrt es herbei und
benimmt sich in der unverschämtesten und zudringlichsten
Weise.
Da kommen zuerst dicke, schwarze Käfer tolpatschig uns
in das Gesicht geflogen, daß man erschreckt zurückprallt;
Grillen wie ein halber Finger lang, widerwärtige Geschöpfe,
hüpfen leichtfüßig, fast kokett, in die heiße Suppe oder in das
Weinglas; kleine Fliegen peinigen uns unaufhörlich auf die
naseweiseste Art; Nachtschmetterlinge, die wunderbar verschie-
denartigsten Sorten, tanzen um das Licht, um sich nach kurzer
Freude die Flügel daran zu verbrennen; kurz, es ist ein Fest-
mahl für Jnfecten, wir Menschen sind ganz überflüssig da-
bei. Aber auch Fledermäuse stellen sich zum Besuche ein
und schwirren dicht über unsere Köpfe weg. Dann aber
ist die Gemütlichkeit vorbei, und wenn bis dahin die Ein-
geborenen mit großer Ruhe das übrige Gesindel ertragen
haben, jetzt werden sie ungeduldig und jagen die Unverschäm-
ten hinaus.
Nachts springe ich oft fünf- bis sechsmal aus dem Bette,
um irgend einem brummenden Käfer, einer hüpfenden Grille
oder sonst einem Störenfried den Garaus zu machen, sobald
t Erzieherin in Nordbrasilien.
ich aber eine Fledermaus im Zimmer schwirren höre, ist
mein erstes, mir den Kopf zu bedecken und dann alle Thüren
zu öffnen, damit der unheimliche Gast das Weite sucht.
Das sind so brasilianische Freuden. Ein Naturforscher-
Würde die angenehmste Abwechselung dabei finden, während
sie eine Alltagsseele zur Verzweiflung bringen können.
Die brasilianischen Freuden sind überhaupt höchst son-
derbarer Art und können einen Europäer nicht genug in
Staunen setzen. Sogar Tod und Begräbniß geben An-
Ißß zu Freudenfesten. Besonders wird der Tod eines Kin-
des recht angenehm gefeiert. Das Begräbniß desselben ist
so origineller Art, daß ich eine Schilderung davon machen
muß.
Auf einer Art Theebrett, das mit farbiger Seide beklei-
det ist und das man mit buntem Papier und Füttern aus-
geputzt hat, liegt das todte Kind. Sie haben den kleinen
Leichnam wie einen Engel geschmückt, ihm die Backen ange-
malt und falsche Locken angehängt.
Vier Männer fassen an das Brett und schaukeln dasselbe
fortwährend hin und her. Dicht dahinter folgen die An-
verwandten mit vergnügten Gesichtern, man sieht ihnen ordent-
lich die Freude über den geputzten Engel an, und so schau-
keln sie das Kind zu Grabe; keiu Schmerz, keine Thräne
geben ihm das Geleite.
Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte: Sie machen
hier förmlich Staat mit ihren Leichen. Neulich begruben
sie ein Kind aufrechtstehend. Im größten Aufputze wurde
es durch die ganze Stadt getragen, und am Hafen und an
verschiedenen anderen Plätzen mit Raketen begrüßt. Es
war ein Jubel, als ob etwa bei uns ein Thronfolger geboren
wird. Eine Negerin, der das einzige Kind gestorben war,
trug dasselbe, natürlich herrlich geschmückt, auf dem üblichen
Theebrette liegend, auf dem Kopfe zu Grabe. Zuvor aber
trug sie die kleine Leiche durch die ganze Stadt, damit auch
ein Jeder seine Freude daran haben solle.
Es ist kein trauriges Ereigniß, wenn ein Kind stirbt.
Sollte es ja einmal einer Mutter einfallen, Kummer zu
empfinden oder gar Thränen zu vergießen, so erstaunen
ihre Gevatterinnen auf das Höchste und erinnern sie daran,
daß ja das liebe Kind zum Himmel eingegangen sei.
Neulich besuchte ich eine Dame, deren Kind sehr krank
war. Sie war wohl ziemlich traurig, aber ihr Mann durch-
aus nicht. Er hatte einen Nachbar besucht und spielte mit
demselben ganz gemüthlich Karte. Als sein Kind im Ster-
ben lag, ging er auf Reisen und kehrte nicht eher zurück, als
bis das Begräbniß vorüber war. Und von diesem Vater
sagt man, daß er seine Kinder zärtlich liebe; diese Liebe
äußert sich freilich auf eine sonderbare Weise, und unser
deutsches Herz, das erst feine ganze, wahre Aufopferung im
Augenblicke derNoth zeigt, das treu bis in den Tod bei dem
geliebten Wesen aushält, begreift diese Art von Kundgebnn-
gen eines liebenden Vaters nicht, es möchte dieselbe Feigheit
nennen.
Doch nun genug vom Tod und Begräbniß, lieber von
Hochzeit, das ist ein heiteres Eapitel, und eine Sitte, die
hier herrscht, würde vielen meiner heirathslnstigen Lands-
männinnen ganz gut gefallen.
Verheirathet sich nämlich eine junge Schöne (manchmal
auch Häßliche) hier, fo hat sie für nichts weiter zu sorgen,
als für ihre Leibwäsche, höchstens für etwas Bettwäsche, die
ganze übrige Einrichtung schafft der Bräutigam an. Daß
die Leibwäsche der Braut auf das Kostbarste hergestellt wird,
versteht sich von selbst, und es gewährt einen wahrhaft ver-
lockenden Anblick, solch eine Aussteuer zu sehen. Alles ist
vom feinsten Leinen oder kostbarsten Battist gearbeitet und
mit echten Spitzenkanten, welche die Negerinnen außerordeut-
Aus allen
lief) schön arbeiten, besetzt. Da man hier nicht den Ballast
von Kleidern nöthig hat, sondern das Klima nur leichte Ge-
wänder verlangt, so werden dieselben so duftig und sein als
möglich gewählt.
Ich sah kürzlich die Aussteuer einer jungen, schönen und
reichen Braut, die wirklich entzückend war. Die Unterröcke
waren vom feinsten Leinen mit echten, handbreiten Einsätzen
garnirt. Die Hemden von echtem Battist, der so fein war,
daß wir die Taschentücher von keinem bessern Stoffe tragen,
dieselben waren reich mit kostbaren Spitzen und Einsatz gar-
Erdth eilen. 271
nirt, sogar statt der Nähte liefen echte Kanten zu beiden
Seiten hinunter, wahrhafte Feengewänder! Nur schade,
daß dieselben nicht immer für schwebende Feen berechnet sind,
daß sich auch plumpe, uugraciöse Gestalten hineinstecken, die
gar nicht verlockend aussehen. Aber es kann einmal nicht
Alles schön sein in der Welt, auch die Häßlichen haben ihre
Berechtigung, sich zu putzen, und haben es auch nöthiger als
die Schönen, die, sie mögen tragen, was sie wollen, immer
schön sind.
Aus allen Erdtheilen.
Eine Clubsitzung der Pariser Communisten.
Ein Berichterstatter der „Times Mail" vom 25. April
entwirft als Augen- und Ohrenzeuge folgende Schilderung:
Bürger Milliöre, welcher Mitglied der Nationalversammlung
gewesen, weiß aus eigener Erfahrung, wie die Leute dort es
treiben und was sie erstreben. Sie haben planmäßig Paris be-
leidigend behandelt, planmäßig den Bürgerkrieg herbeigeführt,
um Paris zu zermalmen, zu ecrasiren. Eine Beendigung
des Bürgerkrieges würde ihm höchst unangenehm sein; „aber ich
bin für Ausgleichungsvorschläge, weil ich überzeugt bin, daß die
Versammlung auf dieselben nicht eingeht; dadurch weiß dann
Jedermann, daß sie keine Versöhnung will."
Ein anderer Redner, der häufig von lautem Beifall unter-
brachen wurde, bezeichnete die Mitglieder der sogenannten Re-
gierung der Nationalvertheidigung als „Tiger. Sie füttern
sich vom Fleisch und Blute des Volkes, sie fressen dessen Weiber
und Kinder. Wir sollten sie, gleich Tigern, in einen Käfig sper-
ren und todtschießen. Es kann gar keine Rede davon fein, sol-
chen Menschen Verzeihung angedeihen zu lassen, denn sie haben
Paris verrathen; sie sagten, die Lebensmittel seien all geworden,
während sie viele tausend Centner Getreide für sich zurückhielten.
Und jetzt erklären diese Versailler, daß sie nicht mit Briganten
unterhandeln wollen!"
In einer Art von Scheune in der Vorstadt La Villette brann-
ten einige Petroleumlampen; die Luft war dumpfig; auf den
Bänken bemerkte man auch alte Frauen mit weißen Nachtmützen
und dicken Wolltüchern; an den schmutzigen Wänden standen
Blousenmänner; im Ganzen mochten etwa sechshundert Leute ver-
sammelt sein; ab und zu kam auch ein Soldat, wars den Tor-
nister ab und steckte sich eine Pfeife Taback an; ein junger „Ar-
beiter" trat auf das Gerüst und begann seine Declamation,
„Nieder mit denen, welche Besitz haben; fort mit den Ei-
genthümern! Wir können dem Himmel danken, daß so Viele
von ihnen ausgekniffen sind; sie liefen fort, diese Feiglinge, be-
vor der Zorn des Volkes sie ereilte. Nun müssen wir zum
allgemeinen Besten ihr Eigenthum sequestriren, ihre Häuser ver-
kausen und das Geld unter den arbeitenden Clafsen vertheilen.
Wir sind arm und haben Hunger. Sollen unsere Frauen sich
auf den Gaffen umhertreiben und unsere Brüder zum Rauben
getrieben werden, damit unsere hungernden Kinder Brot bekom-
men? Nein! Wir wollen die Paläste in Besitz nehmen, welche
hohnlachend auf unsere Leiden herabschaueten; wir wollen das,
was ihre Inhaber besaßen, sür uns nehmen, -und falls es nöthig
ist, wollen wir die Frauen und Kinder dieser Menschen als
Geiseln sesthalten."
Nach diesem Redner trat ein Sergeant auf und erging
sich in Schmähungen über den «seitdem eingesperrten) General
Cluseret, der Alles centralisiren wolle. Es taugt nichts, daß
die Offiziere, welche Batterien befehligen, so Viel zu sagen haben;
dadurch wird die Freiheit vernichtet, aber ich hoffe, die Freiheit
wird bald universell werden; das gebührt sich in einer Republik.
Jedes Bataillon muß seine eigenen Kanonen haben und frei
handeln können, wie es ihm beliebt.
Ein junger Liniensoldat, der mit Ungeduld darauf war-
tet, das Wort zu nehmen, drängt den Sergeanten bei Seite
und ruft: „Wenn meine Kameraden mich im Felde treffen,
dann, ich weiß es, schießen sie mich tobt; aber trotzdem will ich
sür die Commune fechten. Citoyens! Wir werden binnen Kur-
zem Versailles genommen haben; wir müssen uns darauf vor-
bereiten. Wir haben bejahrte Leute genug, die uns etwas
befehlen. Jetzt müssen wir unsere Generäle unter den jun-
gen Leuten wählen. Diese werden durch rasches Handeln
das reichlich ersetzen, was ihnen an Erfahrung etwa fehlt.
Junge und leichtfüßige Männer müssen fortan an die Spitze;
sie müssen Chassepots zum Fechten haben; für alte Leute, die ins
Hintertreffen kommen, sind Musketen gut genug." —
In Frankreich wird noch immer wiederholt, daß die „Na-
tion" den Krieg gegen Deutschland nicht gewollt habe und dem-
selben abgeneigt gewesen sei. Vor uns liegt eine Nummer der
Wochenzeitung „Le Monde illustre" vom 23. Juli 1870. Sie
ist über und über angefüllt mit Kriegsbildern, Portraits
der Marschälle, Pariser Demonstrationen zu Gunsten des Krie-
ges, Mitrailleusen, mit Abbildungen preußischer Soldaten tc.;
diese Bilder sind theilweise feit Wochen vorbereitet worden. Im
Text spielen bombastische Gloireartikel eine große Rolle. Die
Redaction kündigt ein großes illustrirtes Werk an und verspricht
darin allen „wahrhaft patriotischen Herzen" einen großen Genuß,
weil es sich darum handle, den Ruhm Frankreichs zu verHerr-
lichen. Folgende Stelle wollen wir Französisch hersetzen: „La
guerre contre la Prasse repond au sentiment de tous les
bons Frangais; eile est emiimemment populaire.
Nous entreprendrons de raconter cette lutte gigantesque
dans toutes ses peripeties, dans tous ses details. C'est un
veritable monument national que nous voulons elever ä
la gloire de cette noble armee frangaise. Ecrivains et
dessinateurs, dejätous nos correspondants sont en route."
Aber die französische Armee kam en route und von dem an-
gekündigten Gloiremonument erschien — nichts!
Aus Nordamerika.
Die Präfidentenmacherei bildet eine der Schattenseiten
in den Vereinigten Staaten und in den amerikanischen Repu-
bliken überhaupt. Es ist ein ununterbrochenes Schieben und
Hinweggeschobenwerden. In Peru, Bolivia, Neugranada, Ve-
nezuela, Ecuador, Central-Amerika, Mexico, Haiti und in der
dominicanischen Republik bewerkstelligt man die Sache vermit-
telst Revolution und Bürgerkrieg; das ist einmal hergebracht;
in Nordamerika verfertigt man die Präsidenten vermittelst des
Parteigetriebes. Seit dem Herbst 1370 werden in Betreff der
neuen Candidaten schon „die Drähte gezogen und die Klötze ge-
272
Aus allen
Erdtheilen.
rollt", die „Wire pullers und Logrollers" sind inThätig-
keit. Präsident Graut, der ein höchst unzulängliches und un-
fähiges Individuum ist Männer seiner eigenen Partei, z. B. Karl
Schurz, haben das im Senate mit dürren Worten ausgespro-
chen), hat den Präsidentenstuhl bis März 1873 inne; die nächste
Wahl findet im November 1372 statt, also in etwa anderthalb
Jahren, aber schon jetzt drängt eine „Kombination" die andere.
Der Präsident ist lediglich ein Geschöpf der einen oder andern
Partei und gegenwärtig halten sich die beiden großen Parteien
so ziemlich die Wage, seitdem das schwarze Voting cattle für
die republikanische Partei an die Stimmkästen getrieben wird.
Die Demokraten haben schon sechs Candidaten auss Tapet
gebracht: Gouverneur Hoffmann von Neuyork, G. Pendleton
und Allen Thurman aus Ohio, I. Henderfon aus Indiana, Eugen
Casserly aus Californien und F. P. Blair aus Missouri.' —
Die „Republikaner", deren Partei jetzt innerlich vielfach zer-
rissen ist, haben mehr als ein Dutzend „Combinationen"; die
einen wollen einen erzradicalen, die anderen einen gemäßigt
radicalen, die dritten einen konservativen Republikaner. Auf
der Liste stehen: Grant, der gern Präsident bleiben möchte,
Schuyler Colfax aus Indiana, Reuben Fenton von Neuyork,
Edmunds von Vermont, Sherman und Bingham von Ohio,
Logau und Lyman Trumbull von Illinois, Blaine aus Maine,
Sumner, Wilfon, der berüchtigte Benjamin Butler, Banks und
Dawes von Massachusetts. Es ist aber nicht etwa ausgemacht,
daß überhaupt einer von allen diesen Handwerkspolitikern auch
nur nominirt, das heißt zur entscheidenden Stunde von der
Partei zur wirklichen Wahl vorgeschlagen wird; es kann sich
treffen, daß sie allesammt in der zwölften Stunde über Bord
geworfen werden, weil sich urplötzlich eine neue Kombination
empfiehlt. Es ist eine Lotterie.
— In Philadelphia, Pennfylvanien, kommt auf je 1500
Einwohner eine Kirche oder Capelle.
— In der Fabrikstadt Lowell in Massachusetts sind 8800
-Frauen und Mädchen in den Baumwolleusabriken beschäftigt.
— Die Nachweise Uber den Ertrag des Ackerbaues im
Staate Teuuessee ergeben Folgendes: Mit Weizen waren
803,571 Acres bestellt,- die Ernte betrug 6,750,000 Büschels,
also nur 8% B. auf den Acre; Hafer 3,500,000 B., 16% B.
auf den Acre; 158,000 Tonnen Heu; Mais 47,500,000 B.
von 2,375,000 Acres, etwa 20 B. auf den Acre; Roggen 226,000
Büschels, wird fast nur von den Deutschen gebaut, etwa 10
Büschel auf den Acre; Taback 35,000,000 Pfund, etwa 548 Pfund
auf den Acre; Butter 10,017,787 Pfund; Wolle 1,405,236 und
Baumwolle 296,464 Pfund; Kartoffeln etwa 1 Million Pfund;
die Zahl der unter Anbau befindlichen Acres stellte sich auf
6,795,337, der brachliegenden auf 13,873,828.
— Die Fischerei an den Küsten von Neuengland
und an jenen des britischen Nordamerikas bis nach La-
brador hin ist von großem Belang. Seitdem die Vereinigten
Staaten unabhängig sind, haben sie über die Fischereiberechti-
gung viele Irrungen und Streitigkeiten mit den verschiedenen
Colonialregierungen und England gehabt. Gegenwärtig finden
dieselben ihren Abschluß. Eine internationale Commission, welche
in Washington die Zwistigkeiten zwischen beiden Staaten zum
Austrage gebracht, hat sich über Folgendes geeinigt: Die ame-
rikanischen Fischer dürsen fischen an den Küsten von Canada,
Neubraunschweig, Neuschottland, Neufundland und Prinz-Eduards--
Insel, in jeder beliebigen Entfernung von den Küsten, so daß
mithin die bisherige Bestimmung, der gemäß sie 3 Miles von
der Küste entsernt bleiben mußten, wegfällt. Sie können auch
an allen Strecken der Küste, die nicht Privateigenthum sind,
Fische salzen und trocknen, Netze trocknen und auch ans Land
gehen, um sich mit Lebensmitteln :c. zu versorgen. Jedoch ist
das Fischen von Alfen und Lachsen ihnen nicht gestattet, eben-
sowenig das Fischen in Jnlets oder Flüssen. Dagegen'können
die canadischen ic. Fischer in gleicher Weise die Küsten der Ver-
einigten Staaten überall nördlich von 39" N. benutzen, nur
dürfen sie keine Austern fangen. Daß es sich um einen fehr
wichtigen Erwerbs- und Handelszweig handelt, ergiebt sich dar-
aus, daß in jener Meeresgegend etwa 4000 Schiffe mit nahezu
46,000 Köpfen Bemannung mit der Fischerei beschäftigt sind.
— Die Ausgaben der Bundesregierung in Wa-
shington sind für das Finanzjahr vom 30. Juni 1871 bis
dahin 1872 festgestellt worden auf 174,488,962 Dollars, d. h.
ohne jene für Zinsen der Unionsschuld. Von jener Summe
entfallen auf Pensionen 29,050,000 Dollars; Land Heer
27,719,580, Flotte 19,832,317, Indianer 5,112,240, Festungs-
werke 1,627,500, öffentliche Werke 4,407,500, Postamt
26,032,898, für den Civildienst 19,508,409, Gesandtschaften
und Eonfulate 1,466,134, Vermischtes 11,261,208 Dollars.
# * #
— Die Diamantenregion in Südafrika erweist sich
doch als sehr reichhaltig. Im Januar 1871 ist wieder ein unge-
mein ergiebiges „Feld" entdeckt worden, im District Boshof, am
Ufer des Vaalfluffes. Binnen nur drei Tagen fand man dort
Diamanten von 23%, 27%, 12, 37% und — 107% Karat;
der letztere hat die Bezeichnung: „Stern von Diamondia"
erhalten, und er ist auf 25,000 Pfund Sterling abgeschätzt wor-
den. — Im Bezirke von Hope Town sind zwei Steine von
52 und 115 Karat gefunden worden. Der Gouverneur der
Capcolonie, H. Barkly, hat die Diamantfelder besucht und mit
dem Präsidenten des Freistaates, Brand, vielfach verkehrt. Die
Streitigkeiten in Betreff der Grenze sollen durch eine Commission
geschlichtet, eventuell durch schiedsrichterlichen Spruch des Königs
von Holland oder des nordamerikanischen Präsidenten, geregelt
werden.
— Die chinesische Regierung will dem Gebühren der
Missionäre, überall wo sie glaubt, daß diese letzteren über die
ihnen durch die Verträge zugestandenen Rechte hinausgehen,
einen Riegel vorschieben. Sie hat den fremden Gesandten durch
eiu Rundschreiben zu wissen gethan, daß die Proselyten-
macherei endlich aufhören müsse; sie verlangte, daß die Mäd-
chenschuleu der Missionäre und Nonnen geschlossen werden. Jeder
Missionär, welcher fortan sich anderwärts als in einer Vertrags-
mäßig den Ausländern geöffneten Hafenstadt aufhält, wird als
chinefischer Unterthan angesehen und nach chinesischen
Gesetzen behandelt. Auch erklärt die kaiserliche Regierung,
daß sie die Ausfälle der Missionäre gegen die Landesreligion
und die Schmähungen der Lehre des Consucius fernerhin nicht
mehr dulden wolle. Wenn man dagegen handle und künftighin
Metzeleien vorkämen, so werde sie keine Geldentschädigungen
zahlen, sondern nur die Mörder bestrafen.
— Die britische Bibelgesellschaft besteht nun seit 67
Jahren und sie hat sich jedenfalls um die Sprachkunde nicht
geringe Verdienste erworben. Auf ihren Antrieb ist die Bibel,
ganz oder theilweise, in nicht weniger als 250 Sprachen und
Mundarten übersetzt worden; darunter sind 30 Sprachen, in
welchen vorher noch nichts geschrieben, gefchweige denn gedruckt
worden war. Im Jahre 1870 hat die Gesellschaft 3,903,067
Drucke vertheilt oder verkauft; ihre Einnahmen betrugen 180,314
Pfund Sterling, die Ausgaben 189,059, die Schulden 107,281
Pfund Sterling.
gegen-
t Ver-
Club-
Jnhalt: Aus Sicilieus Kulturgeschichte. (Mit vier Abbildungen.) (Schluß.) — Die Stellung der Franzosen
über den Eingeborenen Algeriens. Von Heinrich Freiherrn von Maltzan. (Schluß.) — Zur Würdigung der bäuerlichen
hältnisse in Rußland. — Aus den Briefen einer deutschen Erzieherin in Nordbrasilien. — Aus allen Erdtheilen: Eine
fitzung der Pariser Communisten. — Aus Nordamerika. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
'S
2^
Band XIX.
%
Je 18.
Mit besonderer Herürksicktigung äer Antkropologie und Gtknologie.
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
Juni Monatlich i Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1871*
Wilhelm Lejenn's Wanderungen im nordwestlichen Indien*).
i.
Srinagar die Hauptstadt von Kaschmir. — Die Bauart der Sonnenstadt. — Nagapura. — Buddhistische Sage. — Wie
entstand der Hydaspes? — Die Bergbewohner von Hazara. — Der Achond von Swat und die Wahhabis. — Krieg gegen die
mohammedanischen Fanatiker.
Wir meldeten vor einigen Monaten den Tod dieses un-
ternehmenden und sehr unterrichteten Reisenden, der von
einem regen Eifer für die Wissenschaft durchdrungen war.
Seinen Drang zum Forschen hat er sowohl im illyrischen
Dreieck bethätigt, wie in Mesopotamien, in Abyssinien und
auch in Indien, wo er 1866 seine Wanderungen unternahm.
Es war seine Absicht, von Peschawar und von Kaschmir aus
nach Centralasien vorzudringen und die dortigen eigenthllm-
lichen Verhältnisse aus eigener Anschauung kennen zu lernen.
Daran wurde er durch die Ungunst der Umstände verhindert,
doch war es ihm unverwehrt, sich in Kaschmir aufzuhalten,
über dessen Verwaltung er ein scharfes Urtheil fällte. Jetzt
liegen uns weitere Mittheilungen vor, welche wir, um die
früheren Schilderungen zu vervollständigen, nicht übergehen
mögen. Lejean schrieb dieselben wenige Monate vor seinem
Tode nieder.
Srinagar, die Hauptstadt des Hochthals von Kaschmir,
liegt an beiden Ufern des Hydaspes, und dehnt sich nament-
lich an der rechten Seite des Stromes anderthalb Wegstun-
den lang hin. Die Angaben über die Einwohnerzahl sind
sehr verschieden; Moorcrost, der 1823 dort war, giebt
240,000 Seelen an, das ist aber ganz offenbar eine orieu-
talische Uebertreibuug. Des Herrn von Hügel Ziffer, die
') Vergleiche „Globus" XV, S. 1. 33. 65 ff.
Globns XIX. Nr. 18. (Juni 1871.)
bis auf40,000 herabgeht, ist viel zu gering; Cuuningham
kommt mit 80,000 der Wahrheit wohl am nächsten. Lejean
seinerseits ist geneigt, die gegenwärtige Einwohnerzahl auf
etwa 120,000 Seelen zu schätzen; sie muß jedoch in frühe-
ren Zeiten beträchtlicher gewesen sein; dafür sprechen die vie-
len Ruinen und unbebaueten Stätten. Das „glücklicheThal"
hat schwer unter der Tyrannei gelitten, und der Herrscher,
welchen die Engländer ihm aufgezwungen haben, ist der aller-
ärgste Tyrann.
Die Stadt im Paradiese ist vor etwa siebenzehnhundert
Jahren vom König Prawarasena erbaut worden; in der Ge-
schichte Indiens hat sie stets eine bescheidene Stellung ein-
genommen. Erst unter Sultan Baber, dem gewaltigen Groß-
mogul, ist sie gegen Ende des sechszehnten Jahrhunderts be-
festigt worden; die Fortifieationen wurden im Jahre 1005
derHedschra vollendet, und sie haben, wie eine Inschrift über
dem Thore der Citadelle besagt, elf und eine halbe Million
Rupien gekostet.
Man kann Srinagar als eine Stadt der Brücken be-
zeichnen. Dieselben sind sehr dauerhast gebaut, aus über-
einander gelegten mächtigen Stämmen der herrlichen Deo-
darafichte; manche haben ein Alter von einigen Hundert
Jahren, und alle Wogen des raschströmenden Hydaspes haben
ihnen keinen Schaden zugefügt. . Aber die gegenwärtige Re-
gierung thut nichts, um sie in gutem Stande zu erhalten,
35
274
Wilhelm Lejean's Wanderungen im nordwestlichen Indien.
und Lejean bemerkte, daß die oberen Lagen theilweise gelitten
haben. Er spricht den Wunsch aus, daß die Engländer den
Maharadscha fortjagen möchten; in diesem Falle würden
die Brücken, welche so nothwendig sind, erhalten bleiben und
ausgebessert werden.
Die Häuser sind nicht so einförmig gebaut, wie sonst in
den oberindischen Städten der Fall ist; man sieht vielmehr
luftige Gebäude mit mehreren Stockwerken und langem, weit
vortretendem Söller. Auf denselben machen es sich die rei-
chen Muselmänner bequem; sie trinken dort ihren Thee und
halten ihren Kss, sagen wir die Siesta. Unten murmelt
die Fluth des Hydaspes, hohe Pappeln wachsen am Strome,
und vom Staube und Geräusche der großen Stadt« werden
die Bewohner solcher Häuser nicht belästigt. Manche reiche
Kaufleute wohnen auch in den Vorstädten in sehr hübschen
Häusern. Aus den Europäer macht es aber einen keines-
Wegs angenehmen Eindruck, daß die Dächer mit Rasen be-
legt sind, der oft nicht etwa grün, fondern gelblich ist und
wie verbrannt aussieht; selbst
der Palast des Herrschers ist
mit Rasen gedeckt. — Mo-
numente hat die Hauptstadt
nicht; selbst die große Mo-
schee, welche man füglich als
eine kahle Bethalle bezeich-
nen kann, ist nicht alt. Der
Islam hat sich überall in
Indien, wo er gebieten kann,
als ein unerbittlicher Bilder-
stürmer gezeigt. In frühe-
ren Zeiten hat die S o n n e n -
stadt (Snrya - nagara,
Srinagar) eine beträchtliche
Anzahl buddhistischer Capel-
len gehabt; jetzt sind derglei-
chen in der eigentlichen Stadt
nicht mehr vorhanden. Le-
jean bemerkte während seiner
Lustfahrten auf dem Wasser
an einigen Gebäuden da nnd
dort buddhistische Basreliefs,
welche offenbar einst Tem-
peln angehört haben; so-
dann fand er im Garten des
englischen Residenten Coo-
per auf einem Basaltsteine
eine lange, sehr schöne In-
schrist mit Buchstaben, die ihm bis dahin unbekannt gewesen
waren, — wahrscheinlich waren sie Kaschi, d. h. Kasch-
miri. Diese Schrift wird in Kaschmir selber nicht mehr
gebraucht, hat sich aber in einer Colonie von Shawlwebern
erhalten, welche sich dem Druck in ihrer Heimath entzogen
und zu Lndianah, im britischen Gebiet, Aufnahme fanden.
In einer Beziehung erinnert Srinagar an Venedig; gleich
diesem ist es eine „Wasserstadt", von vielen Canälen, oder
vielmehr Flußverzweigungen durchzogen, nur mit dem Unter-
schiede, daß die User mit grünen Bäumen und Gebüschen
eingefaßt sind. Die Canäle sind das Werk der Fürsten aus
dem Hause der Großmognle, welche am See prächtige Som-
merwohnuugeu aufführten. Vermittelst einer Anzahl von
Klappschleusen giebt der See Wasser an den Hydaspes ab,
wenn derselbe niedrigen Stand hat, wenn aber der heilige
Strom Hochwasser bekommt und über den Spiegel des Sees
anwächst, schlägt er vermöge seines Druckes die Schleusen zu.
Vor etwa zweihundert Jahren hat Bernier eine Schil-
dernng des damaligen Kaschmir entworfen. Er fand den
Bäuerin in Kaschmir.
Aufenthalt sehr angenehm und stieß sich nicht, wie späterhin
Moorcroft gethan, an mancherlei Dinge, welche in allen
großen Städten des Orientes einen europäischen Reisenden
allerdings unangenehm genug berühren. Zu seiner Zeit
waren noch, wie er besonders hervorhebt, viele „Götzentempel"
vorhanden, aber in Ruinen; jetzt findet man, wie schon an-
gedeutet wurde, nur uoch vereinzelte Ueberreste derselben im
Gemäuer einzelner Häuser.
„Die vielen Flüsse, welche von den Bergen herabströmen,
belebeu die ganze Landschaft, die sich mit ihren schönen und
fruchtbaren Hügeln gar anmuthig ausnimmt. Man möchte
sagen, das ganze Königreich sei ein grüner Garten, in wel-
chem Dörfer und Flecken zwischen Baumgruppen zerstreut
liegen. Kleine Wiesen wechseln mit Reisfeldern ab oder mit
Weizenäckern; auch Gemüfe, Hanf und Safran werden in
Menge gebaut. Ueberall findet man Wassergräben, Canäle,
Bäche; auch einige kleine Seen fehlen nicht. Es überrascht
uns, daß wir alle unsere europäischen Feld- und Garten-
pflanzen hier wiederfinden:
Apfel - und Birnbäume,
Zwetschen-, Aprikosen- und
Nußbäume; auch die Wein-
rebe fehlt nicht. In den
Gärten finde ich Melonen
und Wassermelonen, Zucker-
rüben, alle unsere Gemüse-
arten und dazu noch einige,
welche bei uns uicht vorkom-
men. Man mag aus alle
dem abnehmen, daß ich in
Kaschmir ein wenig verliebt
bin; hat doch dieses kleine
Königreich an Lieblichkeit
und Schönheit seines Glei-
chen nicht auf dieser Welt."
Der Großmogul Schah
Dschehangir sagte: „Ich
würde lieber das ganze große
Indien einbüßen, als mein
liebes Kaschmir verlieren
mögen."
Das Volk hat den ari-
schen, wie man sich auch
auszudrücken Pflegt, den indo-
europäischen Typus. Lejean
bezeichnet dasselbe als eine
qnasi-europäische Race. In
Kaschmir fehlen Merkmale, welche sonst so oft bei den Indern
unangenehm berühren, nämlich die hageren Gliedmaßen, die
vorstehenden Backenknochen und die sehr dunkele Hautfarbe. Die
Kaschmirer haben eine hellere Haut, weil sie ihre Race reiner
erhalten haben, als die Hindu im Unterlande; wenn Lejean
meint, daß dabei auch klimatische Einflüsse mitgewirkt haben,
so ist er völlig im Jrrthum; das Klima hat mit der Haut-
färbe lediglich gar nichts zu schaffen. Die Bäuerinnen, welche
in der Sonne auf den Feldern arbeiten, sind allerdings ober-
flächlich gebräunt, wie das auch bei uns in Europa während
der Sommermonate der Fall ist, und in Kaschmir ähnelt
dann ihr Teint jenem der Frauen im Pendschab; aber jene
der wohlhabenden Classen sind, wie der Reisende ausdrücklich
bemerkt, nicht dunkler, als durchschnittlich die Italienerinnen.
Von Srinagar aus besuchte Lejean den buddhistischen
Tempel von Noachera, dessen Ruinen von Bäumen und
Gebüsch überwuchert sind. Man bezeichnet dieselben als
Nagapnra, Stadt der Nagas, das heißt der Drachen oder
Schlangen, welche ja, dem Volksglauben gemäß, die Urbe-
Wilhelm Lejean's Wanderu
wohner des „glücklichen Thales" gewesen sind. Schon früher
(„Globus" XVI, S. 41) ist eine buddhistische Legende mit-
getheilt worden, in welcher dieselben eine wichtige Nolle spie-
len. Als Madhyantika, ein berühmter Apostel der Bud-
dhisten, an den See von Kaschmir kam, fand sich, daß der
See ein gefürchteter Geist in flüssiger Gestalt sei, König
der Drachen, welche in seinen Gewässern sich tummelten.
Der Apostel vertrieb den Geisterlonig sammt dessen Unter-
thanen und siedelte zuerst Mönche, dann aber auch andere
Menschenkinder an, nnd ließ Tempel und Städte bauen. —
Als Madhyantika an die Stelle kam, wo nun die Stadt
Baramula am Hydaspes steht, setzte er sich auf einen Felsen
und versenkte sich ties in gottselige Betrachtung. Eine solche
giebt, den Annahmen der Buddhisten znfolge, denen, welche
sich ihr völlig hingeben, eine unwiderstehliche Kraft, und ver-
mittelst derselben können sie gewaltige Veränderungen in der
Natur bewirken; die „Wunder", welche von den Heiligen
der römischen Kirche und deren Knochen verrichtet werden,
wollen dagegen nicht viel bedeuten, und sie werden deshalb
von den Buddhisten, welche ganz andere Wunder zu erzählen
wissen, sehr über die Achsel angesehen.
Als Madhyantika auf jenem Felsen saß und in gottseli-
ger Contemplative gleichsam verschwamm, wurden die Nagas
sehr besorgt, denn sie merkten wohl, daß sie es mit einem
Mächtigen zu thuu hätten. Sie kamen schüchtern zu ihm
heran und fragten, womit uud wodurch sie ihm einen Ge-
fallen erzeigen könnten?
Der Pilger sprach: „Gebt mir den Stein, auf welchem
ich sitze."
Darauf entgegneten die Schlangengeister: „Du fcherzest
doch wohl, ein nackter Stein ist doch kein passendes Geschenk.
Verlange doch lieber Ströme, Wälder, Landschaften." —
Aber Madhyantika bestand auf dem, was er gesagt, nnd
blieb dabei, daß er lediglich den Stein haben wolle, der ihm
nun auch gewährt wurde. Dann ging der heilige Apostel
an eine Stelle, wo sieben Thäler ihren Bereinigungspunkt
hatten, und setzte sich dort mit Uber einander geschlagenen
Beinen, wie sich das für Buddha und dessen Schüler gebührt.
Was geschah nun?
Die ganze Erde erbebte, die Gebirge hoben und senkten
sich und eine furchtbare Couvulsiou riß den ganzen Hima-
laya aus einander. Die Erde war nicht vermögsam, das
Schwergewicht eines Heiligen zu tragen, der sich so tief in
gottselige Betrachtungen versenkt hatte; sie sank unter ihm
ein und es öffnete sich dadurch eine Erdspalte im Gebirge,
die nicht weniger als achtzig Wegstunden lang war. In die-
selbe stürzte das Wasser des großen Sees und vereinigte sich
mit dem Indus.
So entstand ein neuer Fluß, der Hydaspes; der
düstere See der Nagas, von welchem nur ein kleiner Theil
blieb, strömte ab, und so entstand Kaschmir, das glückliche
Thal. —
Von Noachara ging Lejean nach der Gesundheitsstation
Marri, in welcher er schon früher einige Zeit verweilt hatte,
und unternahm von dort aus einen Ausflug in die Hazara-
berge, welche dicht bei Marri beginnen nnd sich von dort
bis an den Indus erstrecken. Die Landschaft ist in hohem
Grade interessant und kann als ein indisches Siebenbürgen
bezeichnet werden. Sie war erst jüngst englisches Gebiet
geworden, ist aber auch heute noch kein gesicherter Besitz.
Die englischen Beamten, welche sich dort im Dienste befin-
den, haben die strenge Weisung, sich nicht von den großen
Straßen zu eutsernen, stets gut bewaffnet zu sein, eine an-
gemessene Bedeckuug mitzunehmen und alle Zwistigkeiten
zwischen ihren Leuten und den Eingeborenen zu vermeiden.
Hazara ist keineswegs eine friedliche Gegend, sondern ein
>en im nordwestlichen Indien. 275
unruhiges Land, das von einer Anzahl verschiedener Stämme
bewohnt wird; unter diesen sind die Afghanen am zahlreich-
ftert*) uud durchaus kriegerisch. Die Gelehrten im Lande
leiten den Namen vom persischen Hazara, d. h. eintausend,
ab, womit angedeutet werden soll, daß sehr viele verschiedene
Völker im Lande seien. Lejean meint, daß wenigstens im
südlichen Theile die Mehrzahl der Bewohner aus asghaui-
sirten Hindus bestehe. Ein Stamm der Swat soll von
den alten arischen Bewohnern des Swatthales abstammen
und von einem afghanischen Stamme vertrieben worden sein,
der dann den Namen Swat nsnrpirte.
Randschit Singh, der gewaltige Herrscher der Sikhs und
des Pendschab, eroberte Hazara und ließ dort die Stadt
Harripur bauen, das eigentlich die einzige Stadt im Lande
ist. Sie liegt in einer heißen Gegend, deren Klima nach-
theilig auf die Europäer einwirkt. Deshalb gründeten die
Engländer, nachdem sie 1849 das Pendschab ihren Besitzun-
gen einverleibt hatten, eine neue Stadt, welche sie nach dem
im Krieg und in der Verwaltung gleich tüchtigen Obersten
Abbot Abbotabad nannten.
Zur Zeit des Sultans Baber war die überwiegende
Mehrzahl der Bewohner von Hazara türkischen Stammes,
und schon im Lande seit den Tagen, in welchen die söge-
nannten Judo-Scytheu in das Thal des Indus eindrangen.
Jetzt ist das türkische Element so gut wie völlig verschwuu-
den, und nur noch in einem einzigen Dorse, Mangae, vor-
Händen. Man erzählt in Marri von einem alten Manne,
welcher nur als Türk bezeichnet wurde uud der für eiue
Art geheimnißvoller Person galt. Er kann eigentlich als
der letzte seines Stammes betrachtet werden und hat noch
erlebt, daß die Sieger, welchen seine Vorfahren erlagen, ihrer-
seits von den Europäern bezwungen wurden.
Die Engländer haben dem Gebirgskamm entlang eine
gute Straße gebaut; zu beiden Seiten derselben liegen dicht-
bewaldete, tiefe Thäler; jene zur Linken ziehen sich bis an
den Indus, jene zur Rechten bis an den Hydaspes.
In Abbotabad hatte der Reisende mit Eapitän Ommany,
dem Bezirksvorsteher, eine eingehende Unterhaltung über die
Unruhen, welche im Jahre 1863 eine sehr bedenkliche Wen-
duug genommen hatten; insbesondere wurde erörtert, wie ge-
fährlich für die Engländer die Verbreitung der Wahhabis
in Indien fei. In jedem Jahre wird in dem einen oder an-
dern Bezirke, bis nach Bengalen hinein, eine Verschwörung
dieser Mohammedaner entdeckt, und wieder im Frühjahr 1871
ist ein großer Proceß gegen einige Führer der Secte im
Gange; sie sind des Hochverraths angeklagt worden.
Ueber die wichtige Stellung, welche die Wahhabis
(Wechabiten) gegenwärtig in Arabien selbst einnehmen, haben
wir durch das im höchsten Grade interessante Reisewerk Gif-
ford Palgrawe's eingehende Kunde erhalten. Sie haben aus
ihrem Kernlande, dem Nedschd, eine Menge von Sendlingen
nach Indien geschickt, welche nicht nur eine religiöse Reform
unter den dortigen Mohammedanern predigen, sondern auch
den heiligen Krieg, die Vertreibung der Angresi aus dem
*) Hazara gehört zur „Division", t>. h. dem Verwaltungsbezirke
Peschawar. „Die Ackerbauer haben sich dazu verstanden, den Briten
eine kleine Abgabe zu zahlen; allein es sind noch die Elemente einer
unruhigen uud müßigen Soldatenclasse vorhanden, die unter Leitung
fanatischer Priester in dem unwegsamen Lande dem Sicherbeitszn-
stände immer bedrohlicher gegenüberstehen. Die Gandgarh-Gebirge
sind von Räubern gereinigtdoch ist stets in den Banghri - und
Chagan-Pässen Gefahr zu besorgen, wo in den feste» Burgen der
Dond und Satti auf hohen, von schäumenden Fällen umgebenen Fei-
feil es wenigen Priestern vermöge ihrer Anhänger möglich ist, sich
gegen eine größere Anzabl von Truppen auf längere Zeit zu ver-
theidigen." Hartwig Brauer, Geographie uud Statistik von Asien.
S. 603.
35 *
276 Wilhelm Lejean's Wanderu
ganzen Lande. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sie gro-
ßen Anklang gefunden haben, und daß ihre Anhänger, welche
in enger Verbindung mit einander stehen, überall sich gegen
die christlichen Fremdlinge verschwören. Als Lejean in Patna
war, hielt man Gericht über solche wahhabitische Verschwörer,
und ein Theil der am meisten fanatisirten unterhielt von
en im nordwestlichen Indien.
Sattana aus eine sehr thätige Propaganda. Diese Ort-
schast liegt unweit der britischen Grenze; dieselbe war den
Fanatikern von dem Gebieter des Landes, dem Achond von
Swat, eingeräumt worden.
Der Mohammedanismus ist keineswegs im Absterben,
und es steht als Thatsache fest, daß in der islamitischen Welt
Haus in einer Av
nie zuvor so viele Propheten und Reformatoren aufgetreten
sind, wie gerade in unseren Tagen. Ein Marabnt, ein hei-
liger Mann im Thale Swat, das unweit von Peschawar
liegt, hatte erfahren, daß Schamyl im Kaukasus und Abd el
Kader in Nordafrika Ruhm erwarben im Kampfe gegen die
Ungläubigen. Er beschloß, seinerseits den heiligen Krieg
zu verkündigen. Das lange, stark bevölkerte Thal von Swat
adt von Srinagar.
wird von mehreren Afghanenstämmen bewohnt, die von ein-
ander unabhängig sind und bei welchen der Achond (d. h.
Lehrer) einen empfänglichen Boden für seine Bestrebungen
fand. Von dem zur Zeit der Kreuzzüge so viel besprochenen
Scheich el Dschebel, diesem Alten vom Berge, und dessen
Assassinen hat er wohl nie etwas gehört; er hat aber eine
gewisse Ähnlichkeit mit jenem syrischen Gebirgshänptling.
Aus den Briefen einer deutsck
Seine Afghanen sind im höchsten Grade fanatisch, er weiß
ihre Einbildungskraft aufzuregen, und wenn er ihnen einen
Mord befiehlt, so verüben sie einen solchen ohne jegliches Be-
denken. Erscheint es doch als ein sehr verdienstliches Werk,
Ungläubige auszurotten, welche Feinde der Gläubigen sind
und als Verfolger derselben angesehen werden. Die engli-
schen Offiziere in den Garnisonen an jener Grenze hatten
und haben noch einen gefährlichen Stand gegenüber diesen
Fanatikern, welche nach vollbrachtem Mord häufig entkom-
men, weil die einheimische Bevölkerung, welche eingeschüchtert
ist, nichts gegen sie zu unternehmen wagt. Capitän Om-
maney's Bruder war das Opfer eiues solchen Afghanen ge-
worden. Diefer hatte es darauf abgesehen, einen Beamten
aus dem Wege zu schaffen, welcher furchtlos gegen die Misse-
thäter einschritt, irrte sich jedoch in der Person.
Man wird fragen, weshalb die Engländer ein Nest fol-
cher gefährlichen Banditen hart an ihrer Grenze dulden?
Die Antwort lautet, daß das Swatthal schwer zugänglich
ist, und ein Kampf mit den Bergvölkern allemal viel Men-
schen kostet. Im Jahre 1863 hatten es übrigens die um
Sattana wohnenden Stämme so arg getrieben, daß ein
Kriegszug von Peschawar aus gegen das Baneyrthal nn-
ternommen wurde; der Sultan derselben hatte Wahhabis
bei sich aufgenommen und denselben allen möglichen Vor-
schub geleistet. Dem Achond kam diese Expedition sehr uu-
gelegen. Er hatte seinen gläubige» Anhängern verkündet,
daß die Spitzkugeln der Ungläubige« von ihrer Brust ab-
prallen würden wie platte Melonenkerne; er selber wußte
freilich sehr wohl das Gegentheil und hatte sich wohl ge-
hütet, in offenen Krieg mit den Engländern zu geratheu.
> Erzieherin in Nordbrasilien. 279
Auch jetzt hätte er gern einen solchen vermieden, aber die
Swatis wollten von Frieden nichts mehr wissen, und so
mußte denn der Achond den heiligen Krieg predigen. Die
Swatis schlugen sich in den Tagen vom 16. und 17. De-
cember 1863 bei Ombeylah mit wilder Tapferkeit, verloren
aber die Schlacht und wurden zurückgeworfen. Dann er-
stürmten die Engländer Sattana und legten das Banditen-
nest in Asche; der Sultan von Baneyr bat um Frieden und
gab Genugthuung. Die Wahhabiten, welche dort Aufnahme
gesunden hatten, mußten auswandern und gingen nach Swat
zum Achond, der ihnen, wohlverstanden gegen gute Bezah-
lung, eine Strecke Landes bewilligte. Als sie aber nach
zwei Jahren ihre Abgaben nicht zahlen konnten, jagte der
heilige Mann diese Märtyrer des Glaubens ohne Weiteres
von Haus und Hof.
Lejean schreibt: „Geldgier ist bei diesen Bergbewohnern
eine vorherrschende Leidenschaft. Die Religion ist gut, wenn
sie dazu veranlaßt, ungläubige Engländer zu ermorden oder
ungläubige Hindus iu die Sklaverei abzuführen; aber für
Geld, und wären es auch nur zehn Rupien, würden sie ihren
Glauben verkaufen. Während der großen Meuterei von
1857 waren mohammedanische Sipahis aus Peschawar, wo
sie in Garnison lagen, nach Swat geflüchtet, also zn ihren
Glaubensbrüdern. Als die englische Regierung die Ans-
lieferung derselben verlangte und für jeden Kopf eine be-
stimmte Summe bot, nahmen die biederen Bergbewohner kei-
nen Anstand, zweihundertundachtzig ihrer Glaubensbrüder
au die ungläubigen Angresi zu verkaufen; die Ausgelieferten
wurden dann zu Peschawar allesammt erschossen!"
Aus den Briefen einer
Unter der brennenden Sonne Brasiliens hat man viele
Festtage. Die Hitze macht die Leute faul, das Arbeiten
wird ihnen sauer, dafür beten sie desto mehr. Die äußere
Frömmigkeit ist eine Blume, die hier prachtvoll gedeiht, voll
und kräftig sich entwickelt, Knospe auf Knospe treibt und
dabei doch ohne Dnft bleibt. Es liegt nicht einmal Poesie
in dieser Art von Frömmigkeit, nur blinder Aberglaube
und Fastnachtsspiel.
Morgens, Mittags und Abends gehen die Leute in die
Kirche und liegen betend aus den Knien. Wir haben allein
sieben Kirchen in dem kleinen Penedo, und viele, viele Paters
mit langen, schwarzen Röcken und bloßen Beinen. Sie
müssen sehr fromm sein, diese Herrn Paters, weil sie die
armen Menschenkinder so fleißig zum Beteu anhalten. „Nur
die fleißigen Kirchengänger genießen das Himmelreich," sagen
sie, „alle Uebrigen gehen zur ewigen Verdammniß ein!"
In den Kirchen geht es oft in der wunderlichsten Weise
zu. So gingen z. B. in Bahia die Damen nicht anders
als in vollständiger Balltoilette, ausgeschnittenen Kleidern,
das Haar mit Blumen geschmückt, zur Kirche. Sogar das
Opernglas fehlte nicht, sie kokettiren damit auf die liebeus-
würdigste Art. Man denkt sich auch mehr in einem Opern-
hause zu sein, als in einer Kirche. Keine Spur von Au-
dacht ringsum, kein schönes Ange strahlt von wahrer Fröm-
migkeit. Dazu spielt die Orgel die lustigsten Weisen aus
Opern, ja, sogar Tänze! Und die klingen so fröhlich und
Erzieherin in Nordbrasilieit.
einladend, daß neulich einige fromme Mitglieder der Ge-
meinde dieser Lockung nicht widerstehen konnten und in der
Kirche frisch darauf los tanzten. Ich erzähle Euch kein
Märchen, sondern die volle Wahrheit.
Es geht so harmlos und gemüthlich zu in der Kirche,
als ob man ungefähr in einem Cafä chantant säße. Essen
und Trinken sind keineswegs beeinträchtigt, es stört die An-
dacht nicht. Man stärkt sich nach Herzenslust und betet
dann weiter.
So ist für jeden Genuß der Sinne gesorgt. Ißt, trinkt,
tanzt und betet man nicht, fo kann man sich herrlich amü-
fixen, indem man stille Betrachtungen über die ringsum an
den Wänden hängenden Bilder anstellt.
Junge, schöne Mädchengestalten hängen dort überall ab-
gemalt, die mit ihren Reizen kein Verstecken spielen. Unter
diesen Bildern sind Inschriften angebracht, die ungefähr also
lauten: „Jungen, hoffnungsvollen Frauen wird der gute
Rath ertheilt, diese Bilder oft und tief zu betrachten, damit
ihre Kinder gleich schön und anmnthig werden."
Die Kirche in Penedo ist ein ergötzlicher Aufenthalt, und
ich bin überzeugt, viele Europäer, denen die Kirchenluft daheim
unerträglich ist, würden gern die Messe in Penedo besuchen.
Vor einigen Tagen fand hier eine große Procession
statt. Von Nah und Fern war Alles dazu herbeigeeilt.
Schwarz, Weiß und Gelb, jede Farbe wollte dieser feierlichen
Eeremonie beiwohnen.
280 Alls den Briefen einer deutsi
Das war eine Komödie! In meinem Leben habe ich
nichts Lächerlicheres gesehen. Das heimathliche Kasperle-
theater mit seinen Spuk- und Teufelsgeschichten ist einfach
dagegen. Voran kam der Tod geschritten. Es war dies
eine sehr hübsche und gar nicht abschreckende Persönlichkeit,
die durchaus nicht an Klapperbein mit der Sense erinnerte.
Er gab durch rigoroses Klappern mit einer Sperlingsklap-
per seine Annäherung kund, wahrscheinlich um Jung und
Alt eine Mahnung zu geben, sich aus dem Staube vor ihm
zu machen. Ihm folgte ein Engel im grünen Gewände und
mit goldenen Flügeln, etwas dick und mit braunem Ge-
sichte. Doch, warum sollte es nicht auch braune Engel ge-
ben? Hinter diesem farbigen Engel erschienen Adam und
Eva in ihrer Toilette nach dem Sündenfalle. Dicht ihnen
voraus wurde der Baum der Erkeuntniß getragen mit aller-
lei lockenden Früchten; hinter ihnen folgte der kahle Baum
als Siunbild der Pönitenz uud Strafe des Herrn.
Nun erscheint die Jungfrau, die Alles beseligende, ge-
folgt von ihrem Sohne, der in allen möglichsten Stellungen
wechselt. Bald trägt er sein Kreuz, bald hängt er daran,
bald liegt er auf der Bahre. Zu guterletzt und zum Schluß
kommen noch eine Unzahl Heilige, männlichen und weiblichen
Geschlechts. Dieselben wurden getragen und erschienen im
schönsten Schmucke, die Frauen mit fliegenden Haaren.
Jndeß schien es mir, als ob die ganze heilige Gesellschaft
gerade nicht entzückt von ihrem heiligen Loose war. Sie
machten sämmtlich höchst miserabele Gesichter, was man ihnen
von Rechts wegen gar nicht verdenken konnte. Der Heiligen-
schein, der sie in Gestalt einer messingenen Glorie umgab,
hämmerte unbarmherzig auf ihren Kopf und machte ihnen
Kopfschmerzen. Sicherlich dankten sie Alle Gott, als sie
am Abend sich ihrer Heiligkeit entledigen konnten, um wieder
sündige Menschenkinder zu sein.
Auf mich hat dieser ganze Popanz einen unwiderstehlich
lächerlichen Eindruck gemacht, und es kostete mich nicht ge-
ringe Mühe, ernsthaft dabei zu bleiben. Aber ein Blick auf
die in tiefster Andacht lauschende Menge ringsum drückte
jedes ketzerische Gefühl in mir nieder.
Während der ganzen Fastenzeit dauert dieser Firlefanz
fort. Jeden Sonntag Abend wird eine Puppe, die Christus,
das Kreuz tragend, vorstellen soll, unter Fackelbeleuchtung
und mit mordmüßigem Geklapper durch die Straßen getra-
gen. Alle frommen Seelen stellen dann Licht vor die Thüren
oder Fenster und verbeugen sich, so lange sie die Puppe sehen.
Die Leute stehen hier noch auf einer durchaus kindlichen
Stufe mit ihrem Glauben, und da nichts gethan wird, sie
klüger und klarer zu machen, sondern da im Gegentheil ihre
Phantasie fortwährend mit äußerm Flitter erfüllt wird, um
dadurch den Geist zurückzuhalten, so werden sie wohl noch
lange in dieser Kindheit verharren.
Von der Kirche zur Gesellschaft ist in Brasilien nur ein
Schritt, denn meist dienen die Kirchenfestlichkeiten nur zur
willkommenen Gelegenheit für solenne Gastmähler. Da
wird denn gegessen und getrunken, getrunken und gegessen
nach besten Kräften, und damir hat die Freude ein Ende.
Unterhaltung an der Tafel giebt es nicht. Stumm sitzt
Alles ringsum, in ernster Eßandacht, nur die Kinnbacken
sind thätig, ja, sie sind unaufhörlich in Bewegung.
Hier verstehen die Leute noch zu essen. Der Deutsche
wird es nie lernen. Er ist zu lebhaft dabei. Er ist im
Stande, das Essen über eine interessante Unterhaltung zu
vergessen, wie thöricht! Hier gilt der Grundsatz: „Man
lebt, um zu essen," während der arme Deutsche immer nur
ißt, um zu leben. Was schadet es, daß der Verstand bei
dieser Lebensweise immer mehr zurückbleibt, gedeiht doch der
Körper prächtig dabei, das ist doch die Hauptsache hier in
n Erzieherin in Nordbrasilien.
Brasilien! Doch, ich wollte von einem Gastmahle erzählen,
das ich vorgestern mitgemacht habe.
In einem kleinen Nachbarorte wurde ein Kirchenfest, die
förmlich wie Pilze hier aus der Erde wachsen, gefeiert. Ein
reicher Brasilianer, der in diesem Orte ein Landhaus besitzt,
benutzte die fromme Gelegenheit und knüpfte eine große Ab-
fütternng daran. Von nah uud fern lud er die Gäste ein.
Auch wir gehörten zu den Glücklichen.
Ganz früh am Morgen gingen wir an Bord eines Dam-
pfers und fuhren den San Francisco hinaus. Es war eine
anmuthige Fahrt, die Ufer dieses Flusses sind zum Theil
entzückend. Man sagt, dieselben gleichen dem Rheinufer.
Ich finde das auch, nur fehlt die Romantik des Rheins, die
Bnrgen und Ruinen, der Zauber der Ritter- und Märchen-
Welt, vor Allem aber fehlt mir der Hauch der Loreley. Hier
blickt nur dann und wann ein brasilianisches Haus zwischen
dem Grün hindurch, aber dieser Anblick ist nichts weniger
als malerisch, Unsanberkeit und Schmntz stehen als Motto
über jeder Hausthür.
Wir waren eine große Gesellschaft auf dem Schiffe, an
Paters fehlte es auch nicht, aber es war still, langweilig-
still. Selbst das Musikcorps vermochte kein Leben in diese
andächtige Ruhe zu bringen. Hätten wir diese Fahrt den
Rhein so hinauf gemacht, wie ganz anders wäre sie gewesen!
Deutsche Gesellschaft, deutscher Frohsinn, deutscher Wein!
Hier kann einmal nichts lustig sein, die feierliche Grandezza
ist Souveränin überall!
Am Abend landeten wir am Fuße eines Berges, auf
dessen Gipfel sich malerisch eine kleine Kirche gegen den dun-
keln Himmel abhob. Das Mondlicht siel voll gegen die
Bogenfenster, daß es aussah, als ob sie innen erleuchtet sei.
Das war mit einem Male ein romantischer Anblick! Er
wurde gar bald verwischt, als wir das Landhaus unseres
Gastgebers betraten.
Es hieß, derselbe habe sich zum Empfang für hundert
Gäste eingerichtet, aber wie!
Man macht es sich bequem hier zu Lande, spart jeglichen
Ueberflnß an Möbeln. Stühle und Tische, Tische und Stühle,
was darüber, ist von Uebel, ausgenommen Hängematten;
diese schwebende Bequemlichkeit findet sich reichlich überall
vor. Wir sollten die Nacht hier zubringen; zu diesem Zwecke
waren Strohmatten auf die Erde gebreitet. Betten fanden
sich nicht vor. Ich bin zwar an harte Matratzen gewöhnt,
aber diese Nachtruhe war mir doch noch härter als hart; ich
zog es daher vor, wieder an Bord unseres Schiffes zu gehen,
wir hatten auch außerdem mehr Ruhe dort.
Am audern Morgen fand sich die Gesellschaft im Land-
hause zusammen. Man frühstückte, legte sich in die Hänge-
matten und faulenzte in den Tag hinein. Weiter konnte
man im Grunde auch nichts thun. Die sengende Glnth
machte jeden Ausslug ins Freie unmöglich. Verschiedene
fromme Seelen freilich scheuten die Hitze nicht, sondern wall-
sahrteten wohlgemuth und im Schweiße ihres Angesichts den
steinigen Berg zur Kirche hinan, um die Messe anzuhören.
Ich rief ihnen ein „Glück auf den Weg" heimlich zu und
dehnte mich behaglich in meiner Matte.
Abends, als es endlich kühler wurde, deckte man eine end-
los lange Tafel in dem Garten. Die Schwarzen waren
noch nicht zu Ende damit, da drängten sich schon hinzu die
geladenen und ungeladenen Gäste; letztere hatten sich in uu-
verschämter Menge eingefunden. Mit dem besten Willen
konnten wir keinen Platz erlangen. Aber wir waren hungrig
und wollten essen. Nach manchem vergeblichen Versuch er-
laugten wir endlich etwas Puter- und Rinderbraten. Weiter
gab es keine Fleischspeisen. Es war auch vollständig genug,
wenn der Braten nur weich gewesen wäre, aber er war hart.
Zur Würdigung der bäuerli
Wir gaben es auf, unfern Hunger zu stillen, und begnügten
uns damit, zuzusehen, wie vortrefflich es den Üebrigen
schmeckte, wie sie behaglich ein großes Fleischstück nach dem
andern in den Mund steckten und mit ihren Zähnen zer-
malmten. Sie amüsirteu sich auch fctmmtlich wundervoll,
und da sie gern ein Andenken an dieses vergnügte Fest haben
wollten, so annectirteu sast Alle im schönsten Einverständniß
sämmtliche Messer und Gabeln. Der liebenswürdige Wirth
hat nun auch ein Andenken an diesen Tag, noch mehr sein
Geldbeutel, der eine empfindliche Lücke erfahren hat, das Gast-
mahl hat über 1000 Thaler gekostet.
Die wohlgenährten Paters ergötzten am meisten mit ihrem
kolossalen Appetite. Hättet Ihr sie gesehen, diese sonderbaren
Käuze, in ihren komischen Aufzügen! Der Eine trug z. B.
einen großgeblümten Schlafrock, ganz patriarchalisch; ein An-
derer lief wieder in einem kurzeu, knappen Röckchen umher. Die
verschiedenartigsten Toiletten wiesen sie aus; ich weiß nicht, ob
dieselbe zu diesem Feste ihnen besonders vorgeschrieben war.
Es passirt hier so viel Wunderliches, daß mich dergleichen kirch-
liche Vorschriften durchaus nicht in Erstaunen setzen würden.
Nun war sie zu Ende, diese „Kirchensestseier". Still
wie wir gekommen, fuhren wir heim.
*
Seitdem ich die letzten Zeilen schrieb, sind Wochen ver-
flössen. Ich war aufs Land gegangen. Der Arzt hatte
mir gerathen, die Ferien zu benutzen und einige Zeit ganz
still für mich in einer gesundem Gegend zu verleben.
So begab ich mich denn noch tiefer in das Innere des
Landes und ließ mich in einer Art Dorf (die Häuser glichen
den Ställen) nieder. Es war ein entsetzlicher Aufenthalt.
Die vielgerühmte Luft war heiß und trocken über die Maßen,
es hatte ja seit drei Jahren nicht geregnet. Der
orkanähnliche Wind trieb Wolken von Staub und Sand in
die Häuser, so daß jeder Gegenstand damit bedeckt war. Je-
der Athemzug füllte die Lunge mit Sand, und dabei die
Gluth! Es war zum Sterben.
Und nun unter diesen wirklich noch Halbwilden zu leben!
Ihr könnt Euch keinen Begriff von der Unredlichkeit dieser
Gesellschaft machen! Es kostete mich Mühe, einen Bissen
von ihren zubereiteten Speisen zu genießen.
Alle Woche einmal bereiten die Weiber eine Art Bees-
en Verhältnisse in Rußland. 281
steaks, so hart wie eine Tischkante, ohne Salz, ohne Butter.
Dazu einen Brei von körnigem Mehle, ohne Butter, ohne
Salz! Eine entsetzliche Delicatesse. Und damit füttern sie
sich die ganze Woche, jeden Tag. Zuletzt konnte ich nichts
mehr von diesen Raritäten genießen und nährte mich nur
von Eiern. Auch die Ziegenmilch bekam mir nicht, sie war
zu hitzig.
Alles hier zu Lande ist entweder zu heiß oder zu kalt für
den Magen und das Blut. Ein Eingeborener ist daran
gewöhnt, ein Europäer geht auf die Dauer meist dabei zu
Grunde.
Mein Zimmer, ich benenne es mit diefem stolzen Na-
men, hättet Ihr sehen sollen! Ich schaute mich oft mit Ver-
wunderung darin um und fragte, womit ich es wohlverdient
habe, daß mich das Schicksal in diesen Pferdestall gebracht
habe, und konnte meine Existenz hier kaum begreifen. Der
Fußboden glich einer schlecht gepflasterten, überaus staubigen
Landstraße, unter dem offenen Dache über mir kletterten
große, schwarze Ratten an den Balken auf und nieder und
führten des Nachts ein herrliches Concert über meinem Kopse
auf. Oft kamen sie ganz dicht an mein Lager, die zahmen
Thierchen, und wenn ich mit dem Schuh nach ihnen warf,
was wahrscheinlich eine unerhörte Maßregel sür sie war, da
die Eingeborenen sie gänzlich ungeschoren lassen, so schwiegen
sie einen Augenblick still, aber bald setzten sie mit erneuten
Kräften ihre Symphonie fort und mnsicirten, bis es Mor-
gen wurde.
Die Seitenwände meines „Zimmers" gingen nur bis
in die Mitte hinauf, so daß Verbindung mit allen übrigen
Räumen im Hause war; es war eine Unmöglichkeit, einen
traurigen Seufzer auszustoßen, ohne daß die ganze Haus-
bewohnerschast davon in Kenntniß gesetzt wurde. Fenster
befanden sich nicht in meinem Gemache, statt dessen zwei
Thüren nach der Straße, die offen zu halten eine Unmög-
lichkeit war, da ich fönst im Staube versunken wäre.
Das war mein paradiesischer Ausenthalt, in dem ich meine
zweifelhafte Sommerfrische mit Rattenconcert hielt.
Ich habe es satt! Das ganze Leben hier fängt an mir
fürchterlich zu werden, ich sehne mich zurück nach meiner
deutschen Heimath. Hättet Ihr nicht Winter dort, ich würde
jetzt zurückkehren; so will ich das Frühjahr abwarten und
dann auf den Wogen zu Euch.
Zur Würdigung der bäuerlichen Verhältnisse in Rußland.
ii.
Während die Gemeindeverfassung naturgemäß das läud-
liche Heimathsgesühl der Bauern abschwächt, macht der Man-
gel an zureichendem Unterricht sie geneigt zu unklarer Auf-
fafsung gegebener Verhältnisse. Die sanguinische Unbildung
machte aus dem bevorstehenden Termin, dem 19. Februar
1870, eine Art besonderer Emancipation, eine Epoche der
„wahren Freiheit" oder der „vollen Freiheit" (so nannte
man dieses) im Gegensatz zur bisherigen, die vom 19. Fe-
bruar 1861 datirte und den Verzicht auf die angewiesene
Landesparcelle nicht gestattete.
Vor Ungeduld mochte man den osficiell angesetzten Ter-
min nicht einmal abwarten. Es hatten sich Gerüchte ver-
breitet, es gebe in den südlicheren Provinzen feenhaft gesegnete
Gegenden. Dazu hatten Einige von den warmen Quellen
Globus XIX. Nr. 18. (Juni 1871.)
des Kaukasus Kunde, und nun verbreitete sich eine consnse
Vorstellung von Gegenden, „wo warmes Wasser fließt" —
eine sehr lockende Perspective für Kinder des nördlichen Klima.
Andere hörten von Landschaften reden, die an dem Flusse
Molotschuaja liegen, und weil Moloko — Milch, Moloschuy
= milchig heißt, so glaubten sie, an der Molotschnaja liege
das Land, „wo Milch uud Honig in Strömen fließen." Dazn
kam, daß das Ministerium der Reichsdomänen mit Vorliebe
die Bauern auf feine Ländereien hinüberzuziehen sucht, da-
mit dort steigende Effectivbestände und zunehmende Einnah-
men nachgewiesen werden können. Zu diesem Zweck ver-
theilt das Domänenministerium das Land gratis, wenn es
nur Ansiedler bekommt. Diese Thatsache verwirrte alleBe-
griffe über den Werth des ländlichen Besitzes. Man ver-
36
282 Zur Würdigung der bäuerli
stand nun gar nicht, weshalb man neun Jahre lang eine
Landesparcelle behalten mußte, die Geld kostete; man ver-
stand endlich gar nicht, weshalb man den früheren Herren
Entschädignngsgeldcr zu zahlen hätte für Land, das man
anderswo gratis bekäme. Eine Entschädigung für die
drei Frohntage pr. Woche war den Bauern faßlicher, weil sie
den Besitz des Edelmanns statt auf das Land fälschlicherweise
bloß auf ihre Person bezogen. Das Land, meinten sie da-
gegen, gebore dem Kaiser, und wenn der Kaiser solches ihnen
„geschenkt" habe, so hätten die Edellente dafür gar keinen
Anspruch auf irgend welche Entschädigung, besonders da der
Kaiser durch den Domänenminister anderweitig auch „Land
verschenke", ohne daß etwas dafür zu zahlen wäre. Hat
also der Bauer seinen Sinn auf die schönen Länder gerich-
tet, wo die Ströme aus Milch oder warmem Wasser be-
stehen sollen, so knüpft ihn kein moralisches Gefühl an das
ihm überwiesene Landstück. Er kennt nicht den Werth des
Landes, darum weiß er auch nicht, daß der Edelmann ihm
Opfer gebracht, für welche derselbe (wenn auch in geringem
Grade) doch einigermaßen entschädigt werden muß. Nach
dem 19. Februar 1870 darf er freilich sich von seiner Lan-
desparcelle und auch von sämmtlichen Zahlungen dafür los-
sagen, aber er will nicht so lange warten, weil er sich die
Sachlage nicht klar vorstellt. Wichtiger scheint es ihm,
daß er der Genehmigung der Gemeinde bedarf, um sich vor
1870 von seiner Landesparcelle loszusagen. Aber da weiß
er Rath. Seine Gemeindegenossen sind ja nicht mehr civi-
lisirt, als er, sie haben dieselben Begriffe vom unbeweglichen
Eigenthum, wie er, und anch dieselben Wünsche und Bestre-
bungen. Leicht geht der Auswanderungstrieb da vom Einen
auf den Andern über, und bald ist es die ganze unge-
theilte Commune, welche zu den warmen Gewässern, den
Milchströmen und den zu verschenkenden Ländern hin will.
Wir treten gar nicht aus der Commune aus, sagen als-
dann die Bauern, wir bleiben vielmehr in derselben Com-
mune, zu welcher wir gehören, und dieselbe Commune ist
es, welche auch in unserer neuen Heimath solidarisch für unsere
Verbindlichkeiten haftet.
Je näher man dem Jahre 1870 kam, desto heftiger
wurde die Aufregung. Was der Mensch wünscht, das hält
er auch gern für wohlbegründet, besonders wenn ungenügende
Bildung alle Selbstkritik unmöglich macht. Alle Ermah-
nung, welche Autoritäten ausgehen ließen, traf aus den ungün-
stigsten Boden, weil officiell alles dasjenige direct in Abrede
gestellt werden mußte, woran der Bauer mit innerm Wohl-
gefallen glaubte. Das Aeußerste, was man den officiellen
Autoritäten nachgab, war das Zngeständniß, vor Aufhebung
der Leibeigenschaft sei es in der That so gewesen wie sie es
darstellen, aber seit 1861 sei es anders geworden und 1870
wird es noch mehr anders, wenn die Zeit der „wirklichen
und vollen Freiheit" herankäme.
Mit diesen verwirrten Vorstellungen hatte nun von Amts-
wegen das Ministerium des Innern zu kämpfen. Es
stand einer wichtigen Aufgabe gegenüber, und wenn das
Ministerium es nur ein wenig an der außerordentlichsten
Umsicht fehlen ließ, so waren vom 19. Februar 1870 desto
beklagenswerthere Vorgänge zu erwarten, als selbst ein tief-
gehendes Mißtrauen gegen die officielle Welt sich des Land-
Volkes allmälig bemächtigte, wodurch ein wirksames Belehren
erschwert, ein überzeugendes Zurechtweisen oft nahezu nn-
möglich ward. Mau darf anerkennen, daß nur durch die
Umsicht und unermüdliche Thätigkeit des derzeitigen Mini-
sters des Innern, Generaladjutanten Timascheff, die Krise
einen so günstigen Ausgang nahm, wie es selbst die entfchie-
densteu Optimisten nicht erwartet hatten.
m Verhältnisse in Rußland.
Der glückliche Verlauf der agrarischen Krise von 1870
wäre nicht zu erzielen gewesen, hätte man nicht schon sehr
früh in dieser Richtung geeignete Vorkehrungen ergriffen.
In der That richtete Timafcheff schon seit dem Frühjahr
1868, unmittelbar nach Uebernahme des Ministeriums des
Innern, seine ganze Aufmerksamkeit auf Alles, was in der
Bauerbevölkerung sich regte. Wieder hatte der Domänen-
minister eine Menge Land am Amur, am Kuban und am
Schwarzen Meere au freiwillige Ansiedler gratis vergeben
und damit die falsche Auffassung der Verhältnisse wesentlich
gefördert. Solches ermöglicht sich in Rußland leider durch
die verfassungsmäßige Separirung der Ministerien, so daß
an die versammelten Minister eigentlich nur Dinge gelan-
gen, die im Gesetz ausdrücklich vorausgesehen sind, oder auch
solche, deren Ausführung die Machtsphäre eines einzelnen
Ministers überschreitet und wo derselbe der Mitwirkung der
anderen Minister nicht entbehren kann. Im Uebrigen ist es
nicht unmöglich, daß ein Ministerium im besten Glauben
innerhalb seines Ressorts Dinge treibt, welche die oft viel
wichtigeren Aufgaben eines andern Ministeriums erschweren.
Die Bauern fuhren daher zum großen Theil fort, vom Jahre
1870 das Aufhören aller Zahlungen für ihre Landespar-
cellen oder die massenhafte Ueberwcisung von Kronländereien
als Inbegriff der „vollständigen und vollen neuen Freiheit"
zu betrachten. Aus dem sehr rauhen Gouvernement Olonez
und anderen nördlichen Gebieten begehrten die Bauern aus-
zuwandern; dasselbe wollten sogar auf Kronländereien an-
gesiedelte Bauern ans Pskoff oder Pleskan, weil ihnen allent-
halben die Sage von den Gegenden mit den warmen Qnel-
len im Kopse herumging. In den baltischen Provinzen
hörten die Bauern von einem Gouvernement Samara, wo
der Domänenminister gleichfalls Land vergeben hatte; sie
hörten auch von den warmen Flüssen und den Strömen von
Milch in anderen Gebenden; da sie aber bibelfester als die
übrigen Bauern des Reiches sind, verwechselten sie das Ge-
hörte mit Reminiscenzen aus der heiligen Geschichte. Alle
Augenblicke erschienen in St. Petersburg Deputationen von
den baltischen Bauern, durch welche viele von ihnen um nichts
Geringeres baten, als um die kostenfreie Uebersiedelnng nach
dem „biblischen Samaria".
Diesem gegenüber hatten die Mirowyje Posredniki, Be-
amte , welche die ans der Dotirnng der Bauern entstehenden
Streitigkeiten schlichten und gütlich ausgleichen sollten, nicht
mehr de« alten Eifer. Der Minister erklärte formell, die
Mirowyje Posredniki hätten sich überlebt und benutzten ihre
Unabhängigkeit von der administrativen Gewalt, um sich nn-
gestraft dem süßen Richtsthun zu ergeben. Auch hatte die
große und durchgreifende Reform der russischen Justiz der
Polizei die Hände mehrfach gebunden: man konnte die An-
stifter von Unordnungen, die Aufhetzer der answanderungs-
lustigen Bauern nicht mehr auf administrativem Wege be-
strafen. Da bei den Bewegungen der Bauern der Mangel
an Unterricht, aber nicht böser Wille die Rolle spielte, mußte
der richterliche Spruch nach erfolgter Anhängigkeit der Sache
in den überwiegend meisten Fällen befreiend ausfallen, und
die Administration mochte sehen, wie sie zurecht käme.
Selbst die gebildeten Stände waren unklar über das Ver-
hältniß des 19. Februar 1870 zum 19. Februar 1861,
dem Datum der Emancipation. Das Ministerium des In-
nern erhielt oft ganz cnriose Anfragen über das, was von
Seiten der Regierung am 19. Februar 1870 geschehen
würde. Dabei kamen die cnriosen Anfragen nicht nur von
Privaten und Gutsbesitzern, sondern auch sogar von Adels-
Marschällen, welche doch die Tragweite aller Punkte des
Ukases vom 19. Februar 1861 mehr zu übersehen im Stande
sein sollten. Die meisten verlangten zum 19. Februar 1870
Zur Würdigung der bäuerli
die Veröffentlichung eines feierlichen und formellen Mani-
festes, um etwaigen Unruhen vorzubeugen.
Zu einem neuen formellen Manifest war jedoch kein
Grund. Im Ukase vom 19. Februar 1861 war das Er-
forderliche kuudgethau worden. Offenbar hatte man die Ab-
sichten der Regieruuq mißverstanden oder irrthiimlich uud
falsch interpretirt. Diesem Umstände mußte abgeholfen wer-
deu, sowie auch den daraus entspringenden Folgen. Bor-
Allem verfügte daher das Ministerium des Innern, man
möge Acht haben, daß die Bauern sich behufs der Auswau-
derung nicht eigenmächtig aus ihren Bezirken entfernten; auf
Ausführung entsprechender Absichten Betroffene möge man
zu ihren Gemeinden zurückschicken; Pässe dürften während der
kritischen Zeit nur ausnahmsweise und auf kurze Fristen er-
theilt werden. Für den Kaukasus und das Kubangebiet
(wohin sich viele freiwillige Ansiedler eigenmächtig begeben
hatten) ward unter Genehmigung des Großfürften-Statthal-
ters Michael Nikolajewitfch verfügt, daß die dortigen Autori-
täten, sobald Bauern sich Ubersiedeln wollten, sich nicht mit
deren Gemeindeobrigkeiten, sondern mit den refpectiven Gou-
vernenren ins Vernehmen setzen sollten. In den baltischen
Provinzen wurden ausführliche Bekanntmachungen über die
bei Übersiedelungen geltenden Bedingungen erlassen und
namentlich hervorgehoben, daß am Kaukasus das Land nicht
mehr abgabenfrei verliehen würde.
Um seinen Maßregeln größere Garantien zu bieten, ließ
der Minister einen neuen Plan über die Regeln ausarbeiten,
unter welchen die Übersiedelung von einem Gebiete nach
dem andern zu gestatten sei. Es sollten hierbei die Vorzüge,
welche aus Colouisationszwecken den Uebersiedlern nach dem
Kaukasus geboten wurden, mit den Bedürfnissen des Augen-
blickes sich vertragen. Der Minister hatte imPrinrip nichts
dagegen, daß Bauern, die von sonstigen Verpflichtungen frei
waren, ihren Wohnort vertauschten; nur konnte es dem Wohle
des Staates nicht entsprechen, wenn sie während der kriti-
fchen Periode dort, wo sie vielleicht in Massen durchzogen,
auch bei solchen Landbewohnern den Wandertrieb rege mach-
ten, welche noch verpflichtet waren. Es ward augeordnet,
daß demnach die Ubersiedler nur in kleinen Parthien ihrer
neuen Heimath zureisten, und während die Zeit besonders
kritisch war, sistirte man vorübergehend die Übersiedelungen
ganz. Die allgemeinen Regeln jedoch, welche der Minister
hatte ausarbeiten lassen, um diese Umzüge fest zu ordnen,
wurden (obwohl zeitig eingereicht) fo lange beim Hauptcomite
für Organisation der ländlichen Verhältnisse berathen, daß
sie beim Eintreten der am meisten bedenklichen Periode nicht
fertig waren. Dasselbe Hauptcomite widersetzte sich auch
den Absichten deS Ministers, als er auf Beseitigung der
Mirowyje Posredniki hinarbeitete. Das Hauptcomite hielt
sogar daran fest, daß die unpraktisch und unzeitgemäß ge-
wordenen Mirowyje Posredniki nach wie vor bloß dem Se-
nat verantwortlich blieben. Das Einzige, was das Haupt-
comite dem Minister des Innern einräumte, war die Be-
fuguiß, für die Gouvernementsautoritäten in gewissen Fällen
den Mirowyje Posredniki zu snspendiren — unter un-
mittelbar darauf folgendem Bericht an den Senat. Die
Gouvernementsautoritäten waren sehr mäßig in der Hand-
habuug ihrer neuen Besugniß: es wurden nur sechs Mirowyje
Posredniki suspendirt — Einer von ihnen hatte eine bedenk-
liche Bewegung im Rjäsanischen angezettelt, doch kam sie bei
seiner Suspension glücklich iu Stillstand.
Ohnehin wurden alle vom Ministerium des Innern ressor-
tirenden Befugnisse mit außerordentlicher Mäßigkeit geHand-
habt. Die Gouvernementsautoritäten hatten nicht mehr das
Recht, die Rädelsführer bei Banerbewegnngen, die Aufreizer
zu Auswanderungen in die Verbannung zu schicken. Seit
m Verhältnisse in Rußland. 283
dem 10. Mai 1866 mußte in solchen Fällen der Minister
selbst sich mit der dritten Abtheilung der eigenen Kanzlei
des Kaisers in Vernehmen setzen, ehe man diese Art Aus-
wiegler aus administrativem Wege verbannen durfte. Das
Ministerium griff nur in äußersten Nothsällen zu dieser
Maßregel, wie solches auch die geringe Zahl der Verbann-
ten beweist. Mit Ausnahme der baltischen und der West-
lichen Provinzen wurden innerhalb dreier Jahre bloß 54
Personen verbannt, nämlich: im Jahre 1868 13, im Jahre
1869 21, im Jahre 1870 (in der schlimmsten Zeit) 18.
Man wählte mit Vorsicht: es gelang daher auch stets, solche
Personen zu ergreifen, deren Maßregelung die angezettelte
Auswanderungsbewegung sofort vereitelte.
Da aber dem Ministerium so sonderbare Anfragen über
die Bedeutung des 19. Febrnar 1870, wie auch Uber den
Sinn der dahin gehenden Paragraphen des Manifestes vom
19. Febrnar 1861 zugekommen waren, behielt der General-
adjutaut Timascheff die Ungewißheit des Pnblicnms scharf
im Auge. Er achtete es als höchst uothwendig, die Local-
behörden sämmtlich noch einmal auf die ganze Bedeutung
der betreffenden Stellen des Manifestes von 1861 aufmerk-
fam zu machen. Er verfuhr dabei mit meisterhafter Bezie-
hung auf die örtlichen Begriffe. Er erließ nämlich an alle
Gouvernementsverwaltungen confidentielle Schreiben; in die-
sen bezog sich das Ministerium auf alle bestrittenen Punkte
des Manifestes von 1861 und fragte, was jene eventuell
Alles in dieser Richtung zu thuu gedächten? Es kamen
kaum von zwei Gouvernements Übereinstimmende Antwor-
ten — so sehr hatte das unsichere Urtheilen über die im
Grunde klaren Punkte des Manifestes sich verbreitet. Aus
Grund der erhaltenen Antworten konnte das Ministerium
nun jeder Gouvernementsverwaltung die entsprechende Be-
lehrnng ertheilen, um allenthalben eine einheitliche, systema-
tisch combinirte Verfahrnngsweife zu veranlassen. Auch hatte
der vom Minister gewählte Weg den Vorzug, den Anschein,
als gebe die Regierung einen nenen Ukas, zu vermeiden uud
die Erläuterung des Emancipationsdecretes selbst den localen
Vorurtheileu auf Grundlage der erhaltenen Antworten bis
in die geringste Einzelheit anzupassen.
Die Erläuterungen unterzog der Minister in umsichtiger
Vorsorge auch noch der Prüfung des oft erwähnten Haupt-
cvmite, und dieses erklärte sich mit seiner Auffassung des
Ukafes vom 19. Februar 1861 vollkommen einverstanden.
Am meisten kam es darauf an, die sanguinischen Entschlüsse,
welche der 19. Februar 1870 hätte hervorrufen können, im
Entstehen aufzuhalten. Wie leicht hätten viele Leute iu der
Hoffnung auf unentgeltliche, abgabenfreie Dotation die Ge-
legenheit ergriffen, sich von ihren Parcellen loszusagen!
Wie leicht konnte man sich zu einem Verzicht auf die Par-
celle entschließen, um sich ganz von allen ländlichen Bezie-
Hungen loszumachen, und in den Städten als unbemittelter
Kleinbürger von der Hand in den Mund zu leben. Eifrigst
veranlaßte das Ministerium an allen Orten vernünftige,
ruhige Belehrungen der Bauern, um ihnen das ganze Risico,
welchem sie sich beim Verzicht anf ihre Parcelle aussetzten,
zu Gemüthe zu führen. Die Gouveruementschefs kündigten
ihnen an, die Regierung werde freilich Landesparcellen im
Kaukasus und an anderen Orten vergeben, aber nur für
solche, welchen bisher keine Parcelle zu Theil geworden.
Solche jedoch, welche Parcellen bekommen hätten und sich ans
freien Stücken muthwillig davon lossagten, Hütten keinen
Anspruch anf eine nene Dotation; man möge daher zusehen,
daß nicht die ganze Zukunft durch einen übereilten Entschluß
aufs Spiel gesetzt würde. Aehnliche Ermahnungen wurden
auch an solche erlassen, welche, durch die Vortheile verblen-
det, die sie mit einer Übersiedelung nach den Städten ver-
284 Erlebnisse schwedischer Ansi
Kunden dachten, das Gewisse, das sie besaßen, wegzuwerfen
bereit waren.
Diese umsichtigen Belehrungen zeigten die erfreulichste
Wirkung, was den Tact beweist, mit welchem sie geleitet wor-
den sein müssen. Bon den snnfzig und etlichen Gouverne-
ments, welche Rußland zählt, wurden nur iu zwölfen Wün-
fche zur ttebersiedelung nach Domanialgütern laut. Diese
zwölf Gouvernements waren: Ufa, Rjäsan, Kursk, Oren-
bürg, Cherfon, Simbirsk, Penfa, Nischny-Nowgorod, Wjätka,
Tannen, Saratosf, Nowgorod. Nur in sechs Gouverne-
ments zeigte sich der Wunsch, zur städtischen Bevölkerung,
unter Verzicht auf die ländliche Parcelle, hinübergeführt zn
werden. Von den 6292 Bauern, welche so zum kleinen
Bürgerstande übergehen wollten, ließen sich aber die meisten
von den damit verbundenen Nachtheilen überzeugen, und nur
944 hielten ihren Entschluß aufrecht, worauf demselben von
den Behörden bereitwillig entsprochen wurde. Später gab
es allerdings bis zum Ausgang des Jahres 1870 in 21
Gouvernements 29 Fälle von ganz localen Unordnungen.
ler auf den Fidschi-Inseln.
Aber auch hier zeigten sich die Maßregeln des Ministeriums
fo wirksam, daß in 13 Fällen davon alle Mißverständnisse
aus dem Wege der Ermahnung beigelegt wurden. In den
16 übrigen Fällen mußte Militär requirirt werden, doch
auch nur aus Vorsicht, denn ehe die Militärkommandos zum
Einschreiten gelangten, hatte man die Rädelsführer ansge-
liefert — und es ging Alles auf das Beste.
Somit hatte die agrarische Krise von 1870 einen ruhi-
gen Ausgang. In Sachen der allgemeinen Wohlfahrt ist
es gewiß das Beste, wenn eine bedenkliche Frage nicht mit
einem eclatanten Effect endigt, sondern gütlich nnd friedlich
verläuft. Man dankt es aber einzig und allein den um-
sichtigeu Anordnungen des gegenwärtigen Ministers des In-
nern, daß unter den geschilderten Voraussetzungen, wo zu-
weilen selbst ein Mangel an wohlwollender Borsorge allein
schon eine Katastrophe veranlassen konnte, ein drohender tra-
gischer Conflict sich zu den bescheidenen Umrissen eines ruhi-
gen Idylls umgestaltete.
Erlebnisse schwedischer Ansiedler auf den Fidschi-Jnseln.
0. F. In dem Ungeheuern Archipelagus, der sich im
Osten und Nordosten des Festlandes von Australien aus-
breitet, liegt, im Westen von den Neuen Hebriden, im Osten
von den Freundschafts-Jnseln umgeben, zwischen 15°47' bis
19»47'nördl. Br. und 176» 50' bis 180°8' östl.L. (Green-
wich), die aus mehr denn 200 größeren und kleineren In-
seln bestehende Gruppe der Viti- oder Fidschi-Jnseln,
die von einer größern Bedeutung für den Verkehr sind und
auch von deutschen Schiffen besucht werden. Dieselbe hat
schon früher die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und wir
finden Berichte und Beschreibungen darüber in Petermann's
Geographischen Mittheilungen 1859, S. 191 bis 193, und
1861, S. 67 bis 71; letzterer begleitet von einer Karte
(Nr. 4), nach welcher der Flächeninhalt der Inseln zu 377,8?
Ouadratmeilen berechnet ist.
Hier hat sich auf der kleinen Insel Nagara ein Schwede,
Namens A. Egerström, niedergelassen (vergl. Petermann's
Geogr. Mittheilungen 1864, S. 229 bis 230, wo Aus-
züge aus einem seiner Briefe vom December 1863 mitge-
theilt sind) und dort mitten unter den Wilden während einer
Reihe von Jahren ein beinahe ganz vereinsamtes Leben ge-
führt. Späterhin, 1865, aber hat sich ihm ein anderer
Schwede, C. I. Lindberg aus Östergötlaud, angeschlossen,
und von diesem sind Briefe in der Heimath angelangt. In
denselben schildert er die schwedische Ansiedelung auf Nagara
und giebt außerdem lebhafte Schilderungen. Ich theile, dem
„Astonbladet" folgend, daraus Einiges mit.
-1-
-1- *
Ich befinde mich jetzt auf der kleinen wohlbekannten In-
sel Nagara, die seit vielen Jahren der Wohn- und Prü-
fungsort des Freundes Egerström gewesen ist! Daß ich
mich an einen so entlegenen Ort begeben würde, konnte wohl
Niemand ahnen, als ich 1864 aus Schweden abreiste.
Es gelang" mir, zu Sydney in Neusüdwales auf der
Missionar-Brigg „John Wesley", die zu Anfang
April nach Fidschi abgehen sollte, einen Platz zu erhalten.
I.
Mein Bruder und v. B. kehrten schon vor dieser Zeit zu
ihrem alteu Handwerke zurück und begaben sich wieder zur
See; ich aber war gezwungen, noch drei Wochen länger in
Sydney zu bleiben, denn die „Wesley" fuhr erst am 21.
April ab, weil ein Missionär, der mitgehen sollte, bis dahin
ausblieb. Bald befand ich mich wieder auf einer langen
Reise, nämlich 300 Meilen, und zwar auf einem schlechten
Fahrzeuge. Die alte Arche, die 30 Fuß zu kurz war, hüpfte
und rollte in ruhigem Wetter und im Sturm, so daß alle
Passagiere, 20 an der Zahl, während der ganzen achtzehn-
tägigen Reise an Seekrankheit litten; sogar das Schiffsvolk,
so seegewohnt es auch war, mußte die Krankheit überstehen.
Am Dienstag Morgen, 9. Mai, erblickten wir die Insel
Oval au, und bald darauf konnten wir auf derselben kleine
weiße Punkte unterscheiden, von denen man mir sagte, sie
wären Häuser in derStadt Lewuka, uusermBestimmungs-
orte.
Natürlich hatten sowohl während des Aufenthaltes in
Sydney als auch während der Reise meine Gedanken sich
am meisten mit Freund Egerström und seiner kleinen Insel
beschäftigt, welche ich bald zu sehen hoffte. Einer meiner
Mitpassagiere auf dem „Wesley" hatte in Melbourne ein
Buch gekauft mit dem Titel: „A Mission to Fidji 1860—
1861, by Doctor Berthold Seemann" (dem ausgezeichne-
ten deutschen Naturforscher), welcher von der englischen Re-
gierung wegen der beabsichtigten Besitznahme der Fidschi-
Inseln hierher geschickt worden war, um dieselben zu durch-
reisen, die Zustände zu prüfen und darauf das Urtheil zu
gründen, ob die Besitznahme durchgeführt werden sollte oder
nicht. Dieses reichhaltige Werk über die Inseln war mir
ungemein interessant, besonders da ich darin Verschiedenes
über Egerström lesen konnte, der zweimal von dem Dr. See-
mann und dem Consnl Pritchard Besuch gehabt hatte. Dr.
Seemann redet mit Bewunderung über den schwedischen
Gentleman, der, ungleich den anderen Bewohnern der In-
seln, zuerst auf die Verschönerung und die Bequemlichkeit
seiner neuen Heimath und ihrer Umgebungen sein Augenmerk
Erlebnisse schwedischer Ansi
richtete, und dazu beitrug, durch lange uud schwierige Arbei-
ten, wie eine in den Berg selbst eingehauene Treppe, welche
von der Höhe, auf welcher er wohnte, an das Meeresufer
hinabführte, eine bedeutende Excavation des Berges, auf wel-
chem fein Haus stand, sowie mehrere ähnliche zur Errichtung
eines Badebassins, einer Quelle u. a. m. Auch berichtete
das Buch, Egerström's Baumwolle wäre bei der Londoner
Ausstellung bewundert worden.
Wir hatten, wie erwähnt, Ovalan vor Augen, und alle
unter Deck befindlichen Passagiere eilten herauf, um die von
der Morgensonne beleuchtete Insel zu beschauen. In der
Entfernung gewährte dieselbe keinen einladenden Anblick: die
ganze Insel schien aus kahlen, rauhen, über einander auf-
gethürmteu Bergen zu bestehen, so daß ich, der ich mir die-
ses Land lachend und einladend wie ein Paradies vorgestellt
hatte, in meiner Erwartung sehr getäuscht wurde, doch nur,
um desto angenehmer überrascht zu werden; denn je näher
die Brigg der Insel kam, um so mehr entfaltete sich die
reiche Vegetation, und die in der Ferne dem Ansehen nach
kahlen Berge zeigten eine Laubmatte, die nirgends, so weit
das Auge reichte, eine Unterbrechung hatte.
Gleich nachdem die Brigg Anker geworfen hatte, begab
ich mich ans Land, neugierig, mich in Lewuka und der Um-
gegend umzusehen. Lewuka, die Hauptstadt „der Weißen"
hier auf deuFidschi-Jnfeln, hat eine enge Lage zwischen dem
Meere und den fast unmittelbar von dem Strande sich er-
hebenden Bergen, welche eine Erweiterung der Stadt in der
Breite unmöglich machen. Es giebt hier noch über dreißig
hölzerne Häuser, und die einzige Straße steht bei der Fluth-
zeit fast ganz unter Wasser. Am Ende der Straße fließt
ein kleiner Bach, hinter welchem die dreieckigen, Heuschobern
ähnlichen Häuser der Fidschianer sich erheben. Da man
sehr selten Fremdlinge in Lewuka sieht, so wurden wir wäh-
rend unseres Marsches durch die Stadt von Fenstern und
Thüren aus viel begafft. Hier und da wurde uns ein
,,Guten Morgen!" und „Was Neues?" zugerufen. Außer-
dem hatten wir dicht hinter uus einen Haufen müßiger Fid-
fchianer, welche uns mit lächelnder Miene und Handschlag
begrüßt hatten, uns eben so treulich begleiteten, wie Straßen-
jungen einen Drehorgelspieler.
Von einem gesprächigen amerikanischen Plantagen-
besitz er erfuhren wir endlich, daß in der Fidschianerkirche
eine große Anzahl Häuptlinge eine Zusammenkunft mit dem
englischen Consul hätten. Folglich lenkten wir unsere Schritte
dieser Kirche zu, vergnügt über die uns gebotene Gelegenheit,
so bald die vornehmsten Persönlichkeiten der Inseln sehen zu
können. Als wir in die Kirche traten, sahen wir ungefähr
40 auf der Erde sitzende Fidschianer, deren einzige Bellet-
dung in einem um den Leib gewickelten baumwollenen oder
Fidschi-Zeuge bestand. Vor ihnen saßen an einem Tische
der englische Consul und sein Secretär; letzterer diente auch
als Dolmetscher zwischen dem Consul und dem sogenannten
Fidschi-Könige, Thakumban, welcher meistenteils das
Wort führte und nur bisweilen von feinem Bruder Ratu
Draningbaka und einigen Anderen der vornehmsten Häupt-
linge unterbrochen wurde.
Obgleich ich iu Queensland Gelegenheit gehabt hatte,
Hunderte von den Eingeborenen Australiens zu sehen, so war
mir dennoch der Anblick dieser Fidschianer etwas Neues und
Interessantes. Ähre langen, lichtbraunen, kräftigen Gestal-
ten deuteten Gelenkigkeit und Kraft, ihre größtenteils schönen
Gesichtszüge Intelligenz an; was aber auf den Fremdling
den größten Eindruck machte, waren ihre zierlichen, nach
allen Seiten glorienartig den Kopf umgebenden Haare, welche
wohl die Bewunderung und den Neid manches Europäers
verdienen konnten. Nächst dem Thakumban bewunderte ich
ler auf den Fidschi-Jnseln. 285
am meisten seinen erwähnten Bruder Natu Draningbaka,
dessen Ähnlichkeit mit unferm Könige Karl XV. in der
That merkwürdig war.
Nach Beendigung der Zusammenkunft begann ich mich
zu erkundigen, wie ich wohl Gelegenheit finden könnte, hier-
her nach Nagara zu kommen, und hatte endlich das Glück,
Egerström's nächsten Nachbar, den Capitän Cafe, zu treffen,
der eben in Lewuka war. Egerström, dem meine Ankunft
bekannt war, war fo vorbedacht gewesen, Case zu bitten, mich
von Lewuka nach Nagara mitzunehmen, falls ich angekommen
wäre; sonst hätte ich einen Fidschianer annehmen müssen,
mich in seinem Canot herzubringen, und da hätte mir die
kurze Reise ungefähr 50 schwedische Reichsthaler an Werth
in Gütern gekostet, denn unter einem solchen Preise wären
die faulen und unverschämten Eingeborenen darauf nicht ein-
gegangen. Schou am folgenden Tage beschloß Cafe abzu-
segeln, weshalb ich in aller Eile meine Sachen von der Brigg
abholte und dieselben von zwei Fidschianern in Case's Boot
tragen ließ. Diese forderten für ihre Mühe jeder ein Ra-
sirmesser, und erhielten es auch, weil ich, trotz alles Markteus,
sie nicht dazu bewegen konnte, die beiden Kämme anzuueh-
meu, welche ich ihnen als Bezahlung anbot. Da die Fid-
schianer sich nicht auf Geld verstehen, so muß man nothwen-
dig mit verschiedenen Handelsartikeln, die für sie Werth haben,
versehen sein, um sie ihnen anstatt des Geldes als Bezahlung
geben zu können.
Da meine beiden Mitpassagiere keine Beschäftigung hat-
ten, trug Case ihnen an, mit ihm in seine Heimath Ovan-
drau, beinahe drei Meilen jenseit Nagara, zu kommen und
sich dort so lange aufzuhalten, bis sie sich ein passendes En-
gagement verschaffen könnten. Folglich erhielt ich die Ge-
fellschaft dieser beiden jungen Männer, die zuvor auf Neu-
feelaud ansässig und dort einige Jahre mit unter den Frei-
willigen gewesen waren, die das Land gegen die Eingeborenen
vertheidigt hatten. Wir verließen Lewuka um die Mittags-
zeit, und das Boot wurde von einer leichten Brise langsam
vorwärts getrieben; bald aber hörte diese auf, und daher be-
schloß Case, nachdem John, sein schwarzer Diener, versucht
hatte, das Boot durch Rudern vorwärts zu treiben, an einem
Orte Namens Korokoro anzulegen, dessen Besitzer, ein
Deutscher, aber gerade nicht zu Hause war. Wir wurden
also von einer fidschianischen Familie, die in der Abwesen-
heit des Besitzers das Haus bewachte, in Empfang genom-
men. Case erzählte uns manche unheimlichen und unter-
haltenden Abenteuer, die er seit seiner Ankunft erlebt hatte.
In der Nähe seiner und Egerström's Heimath hat der noch
jetzt anhaltende Krieg zwischen den Berg- und Küstenbewoh-
nern am heftigsten gewüthet: tägliche Schlachten und in Folge
derselben Kannibalismus iu der Nähe ihrer Wohnungen
sind eben für sie nicht aufmunternd gewesen, besonders da
sie oft von den ungeordneten und gesetzlosen fidschianischen
Kriegerhorden am Leben bedroht worden sind uud ihnen von
denselben ihr Eigenthum zerstört oder geraubt worden ist.
Der fidschianische Hausvater trat herein mit einer auf
fernen ausgestreckten Armen liegenden gewaltigen Bürde,
welche er auf die Erde legte. Darauf begann er die Um-
hüllnng des stark rauchenden Packetes, welche aus 3 bis 4
Ellen langen und halb so breiten Bananenblättern bestand,
zu entfernen, und als das geschehen war, kam ein gebackenes
Schwein zu Tage. In anderen ähnlichen Blättern lagen
gebratene Uamswurzelu, auch Citroueu, Apfelsinen, Bana-
nen fehlten nicht, und wir hatten eine herrliche Mahlzeit.
Luxusartikel, wie Teller, Messer und Gabel, waren hier ganz
unbekannt; wir mußten Bananenblätter als Teller und die
Finger als Messer und Gabel anwenden.
Das Braten eines juugeu Schweines in der erwähnten
286 Aus allen
Art geschieht folgendermaßen: Ein rnndes Loch wird mit
Holz gefüllt, dieses angezUndet und oben auf dasselbe eine
Anzahl von Steinen gelegt, welche aus dem Boden des Loches
liegen bleiben, wenn das Holz ausgebrannt ist. Auf diese
Steine wird eine Menge Gras und Laub geworfen und dar-
auf das sorgfältig in Vananenblätter eingehüllte geschlachtete
Schwein gelegt. Nun wird wieder eine Schicht von Gras und
Laub ausgeworfen und zuletzt so viel Erde aufgepackt, daß
weder Rauch noch Hitze durchdringen können. Einige Stnn-
den später oder nach noch längerer Zeit, je nach der größern
oder geringer« Hitze in der Grube, wird die Erde weg-
geschaufelt, Laub und Gras weggenommen und das Schwein,
gut gebraten in seinem eigenen Brodem und frei selbst von
den geringsten erdigen Partikeln, ist zum Verspeisen fertig
und schmeckt doppelt so gut, als wenn es gekocht wäre.
Während wir speisten, hatten die Fidschianer uns zn
Ehren das von ihnen sehr stark benutzte und beliebte Kava,
ihr einziges berauschendes Getränk, zubereitet und luden uns
ein, in einem benachbarten Hause eine Schale zn leeren.
Ich hatte mehrmals von diesem bei den Südsee-Jnsulanern
beliebten Rauschtrank gelesen, und war daher neugierig, den-
selben zu kosten; doch mir verging die Lust, als ich auf dem
Wege nach dem Hause, wo er getrunken werden sollte, an
die Art und Weise der Zubereitung desselben dachte. Die
Kava wird nämlich von der Uangonawurzel (Piper me-
thysticum) zubereitet, welche erst zu den feinsten Fragmen-
ten gekaut, darauf in kaltem Wasser geknetet und filtrirt wird,
dann ist das Getränk fertig. Als wir in das Haus kamen,
sahen wir etwa ein Dutzend Fidschianer, Männer und Wei-
ber, iu einem Halbkreise, dessen Mittelpunkt die große Ge-
tränkschale war, auf der -Matte des Fußbodens sitzen. Ein
vor der Schale sitzender Fidschianer, der eben die Zubern-
tung des köstlichen Getränkes beendigt hatte, begann, nachdem
auch wir Platz genommen hatten, als Mnndschenk zu suu-
giren. Jetzt kann ich nicht anders als lachen, wenn ich an
die Angst nnd Bangigkeit denke, die ich empfand, als ich zu
der Gewißheit gelangt war, daß ich von der in der Bowle
befindlichen, dem Anscheine nach so unappetitlichen Mischung
Erdth eilen.
trinken sollte, welche noch obendrein der Vorderselben sitzende
schwarze, nackte, häßliche, greinende Fidschianer schon in Mund
und Händen gehabt hatte. Ich kroch unwillkürlich ein wenig
zurück und hegte in meinem Innern den Gedanken, mich uu-
bemerkt hinwegzuschleichen; da ich aber gleich einsah, daß
dieses unmöglich war, so fragte ich Cafe, ob ich das Trinken
wohl ausschlagen dürfte; doch auf seine Antwort, daß sich in
diesem Falle die Fidschianer für beleidigt halten würden, be-
schloß ich, mich in mein Schicksal zu fügen. Die Kava
wurde in einer großen Kokosnußschale servirt; diese wurde
erst dem Case und darauf meinen Gefährten gereicht, welche
alle den Inhalt der Schale leerten, ohne abzusetzen. Als
die nen gefüllte mir gereicht wurde, setzte ich sie an den
Mund, machte die Augen zn und versuchte, meine Gedanken
auf alles Andere außer Kava zu richten, und so gelang es
mir, die Schale zur Hälfte zu leeren. Jetzt bin ich gleich-
wohl fchon so abgehärtet, daß ich, falls es fein muß, Kava
ebenso gnt trinken kann, als ob es Punsch wäre.
Nachdem anch die Fidschianer Kava getrunken hatten,
welche nicht, wie die berauschenden Getränke in Europa, be-
lebend, sondern im Gegeutheil erschlaffend und einschläfernd
ist, gingen wir hinaus in das Grüne, um einem Tanze der
jungen Leute der benachbarten Häuser zuzusehen. Der tan-
zende Haufe bildete einen einzigen großen Kreis, in dessen
Mitte sich eine männliche und eine weibliche Person befan-
den, deren Pflicht es war, auf einer Trommel nnd einem
andern geräuschvollen Instrumente Musik zn machen, und
die von Zeit zu Zeit von anderen abgelöst wurden. Uebri-
gens fangen alle einen monotonen Gesang, indem sie mit
den Händen den Tact schlugen; und was den Tanz betrifft,
so bestand derselbe in mehr oder weniger hohen Luftsprüngen
nnd geschickten gymnastischen Bewegungen, die von keiner
Bekleidung gehindert und sämmtlich mit Ordnung und Tact
ausgeführt wurden. Als wir müde wurden, länger znzn-
sehen, begaben wir uns zur Ruhe, konnten aber vor der ge-
räuschvollen Tanzmusik und dem Gesänge, welche beide die
ganze Nacht fortgesetzt wurden, kein Auge zuthnn.
Aus allen
Aus Ostindien.
Unter den indischen Fürsten sind mehrere, welche die
neue Zeit begreifen und so zu sagen dem Fortschritt huldigen.
Zu ihnen gehört der Maharadscha von Pattiala, Fürst
eines der 25 „Schutzstaaten diesseits des Sutledsch". Der Vice-
könig, Lord Mayo, hatte ihn im Februar nach Caleutta einge-
laden, um ihn dort iu feierlicher Sitzung zum Großcom-
mandeur des Sterns vom Jndia-Orden zu ernennen und
ihm die Jnsignien desselben zu überreichen. Der Maharadscha
ist erst etwa 18 Jahre alt, hat aber schon etwas Männliches.
Das Eapitel wurde mit großer Pracht und allen Ceremonien
abgehalten. Der mit Gold und Juwelen gleichsam übersäete
Maharadscha von Wisianagran und Sir Richard Temple
geleiteten ihn bis zu dem Thronhimmel, unter welchem der
Vicekvnig saß; der erstere heftete dem Fürsten von Pattiala den
Stern an, die Halskette wollte ihm der Viceköuig umhängen.
Nun hatte aber der Fürst einen so ungewöhnlich großen Tur-
ban von seltener Pracht auf dem Kopfe, daß die Kette anfangs
nicht hinüber ging; — das war ein „Moment der Verlegenheit",
besonders da die vielen englischen Damen ihn scharf aufs Korn
Erdtheilen.
nahmen. Auch der Maharadscha von Dscheypur, der schon
im vorigen Jahre zum Großcommandeur ernannt wurde und
sich sehr anhänglich zeigt, war zugegen. Er ist aus dem edelsten
Radschputeublute und einer der besten Radschputensürsten. Er
hat in seiner Hauptstadt Dscheypur (Jeypore schreiben die Eng-
länder) eine wirkliche Kunst s ch u l e gegründet, die trefflich gedeiht;
ein Gleiches ist der Fall mit demLyceum, aus welchem die jungen
Edelleute seines Landes studiren. Er interessirt sich aufrichtig
und lebhaft für jeden Fortschritt. — Der Radscha von Wi-
sianagran ist ein ritterlicher Herrscher, der sich stolz ausnimmt.
Mit dem Stern eines Großcommandeurs wurde noch ein an-
derer indischer Fürst begabt, ein Mann in sehr hohen Iah-
ren, Golam Mohammed, Sohn des berühmten Tippu
Sahib von Maissur, der vor 72 Jahren, am Jahrestage
dieses Ordenssestes, von den Engländern in der Schlacht von
Malavelly aufs Haupt geschlagen wurde und dann seine Haupt-
stadt Seringapatam und sein Leben verlor. Man war damals
unschlüssig, ob Haider Ali's, also auch Tippu Sahib's Familie
den Thron behalten, oder ob man statt derselben, die eine mo-
Hammedanische Erobererfamilie war, die Regierung den früheren
Hinduherrfchern übertragen solle. Von der Hindufamilie waren
Aus allen
noch Sprößlinge vorhanden; als Nawab wurde ein fünfjähriger
Knabe auf den Thron gesetzt, und Tippu Sahib's Kinder wur-
den anderweitig versorgt, zuerst in Vellore, dann in Calcutta.
Der Sohn Tippu Sahib's, Haider Ali's Enkel, verhielt sich
friedlich. Nun ist er ein hochbetagter Greis; seit vielen Jahren
interessirt er sich für Waisenhäuser und Volksschulen, steht in
allgemeiner Achtung und ist zusrieden.
Die europäischen Romane, vorab die oft sehr langweili-
gen englischen, werden auch unter den Hindus gelesen. Der
Berichterstatter der „Times" in Calcutta war im Februar auf das
Landgut eines reichen Bäbn eingeladen; auch der anglikanische
Bischof hatte sich eingefunden; das berühmte Epos Valmiki's,
Ramayana, sollte theilweise von einem Hindu vorgelesen wer-
den. Der Bäbu besitzt eine ausgezeichnete Bibliothek, in der
viele wissenschastliche Werke, aber auch die neuesten Novellen
vorhanden sind. Auf die Frage, welche Bücher am meisten ge-
lesen werden, antwortete der Sohn des Bäbu: „Wissenschaftliche
und theologische weniger als Romane und Novellen." Der Vor-
leser war ein Brahmine, ein überaus fetter und ungewöhnlich
häßlicher Mann; er verdient durch seine Vorlesungen jährlich
seine 10,000 Thaler. Dieser Brahmine las ganz vortrefflich,
aber — der Bischof von Calcutta schlief ein! Es handelte sich
ja nicht um theologisches Gezänk.
Ein Reformer unter den Hindus, der auch Europa besucht
hat und zum Verdruß der Bigotten in London ein sehr aufge-
klärter Mann und kritischer Kopf ist, Keschab Tschender San,
hielt in Calcutta im Februar einen öffentlichen Vortrag über
die Verbesserung der Lage unter den Hindufrauen.
Die Anhänger des Brahmo Somadsch dürfen, der Vorurtheile
des Volkes wegen, auch jetzt noch nicht gemeinschaftlich mit
Frauen ihre Kirchen besuchen; diese „Brahmisten" sind bekannt-
lich Deisten. Zu welchen bedauerlichen Auftritten die Vorur-
theile der Hindus in Bezug auf die bisherige, durchaus unwür-
dige Stellung der Frauen führt, davon giebt der nachstehende
Vorfall ein Zeugniß. Ein Richter an einem Untergericht in
Bombay, Herr Moroba Canoba, Wittwer und etwa 60 Jahre
alt, heirathete eine Frau von 25 Jahren, die von frühester
Kindheit an Wittwe gewesen ist; der Knabe, mit welchem
man sie verheirathet hatte, war schon in feinem achten Jahre
gestorben. Die Kinder des Richters aus erster Ehe waren über
die Maßen empört, daß ihr Vater eine Wittwe geheirathet
hatte, und machten dem Ehepaare das Leben geradezu unerträg-
lich. Um der Qual zu entrinnen, banden sie sich mit einem
Strick aneinander und ersäuften sich!
In Ostindien verwendet die britische Regierung in jedem
Jahr eine beträchtliche Summe Geldes für Arbeiten von
öffentlichem Nutzen; für das Finanzjahr 1871 sind 2,365,000
Pfund Sterling angewiesen worden sür den regelmäßigen Dienst.
Im vorigen Jahre belief sich der Betrag auf 4 Millionen, wo-
von IV2 Million für die Provinzialverwendung. Von jenen
2,365,000 werden verwandt: 1,012,500 Pfund Sterling im
Kriegsdepartement, z. B.Bau gesunder Casernen?c., 150,700 für
Civilbauten, 115,900 für Straßen und Verbindungswege, 454,900
für Ackerbau :c. Für a uß erordentliche Ausgaben für öffentliche
Werke beläuft sich der Voranschlag auf die erhebliche Ziffer von
3,626,000 Pfund Sterling, welche durch Anleihen beschafft wer-
den sollen. Sie werden zumeist für die Anlage von Bewäfse-
rungscanälen verwandt, welche für Indien bekanntlich von
so großer Wichtigkeit sind. Gegenwärtig sollen neue Canäle ge-
graben und die vorhandenen Linien ausgedehnt werden: im
Pendschab, in den nordwestlichen Provinzen, in Audh, Berar
und Radschputana. _
Die Verfolgung der Christen in Korea.
Wir erwähnten vor einigen Wochen, daß die Nordamerika-
ner unter Commodore Rodgers einen Schiffszug gegen die
Halbinsel Korea unternehmen, um die Eröffnung dieses Landes
für den Handel zu erzwingen. Wir müssen abwarten, welche
Resultate in dieser Hinsicht erzielt werden; jedenfalls wird die
Erdtheilen. 287
amerikanische Expedition dem König und den Mandarinen in
Korea unwillkommen sein, und da eS Christen sind, welche als
ungebetene Gäste sich aufdringen, fo werden die einheimischen
Bekehrten wieder einen schweren Stand bekommen. In fast
alle Irrungen und Kriege mit den ostasiatischen Völkern spielt
mehr oder weniger der Umstand hinein, daß europäische und
amerikanische Missionäre in die fremden Länder kommen, an
denr Hergebrachten rütteln und sich der Landesreligion feindlich
gegenüberstellen. In Korea sind im März 1866 neun katholische
Missionäre, welche sich unter Mißachtung der königlichen Erlasse
ins Land eingeschlichen und Proselyten gemacht hatten, für die
Uebertretung der Reichsgesetze mit der Todesstrafe belegt wor-
den. Das Blatt „Missions catholiques" wollte damals wissen,
daß außerdem etwa dreitausend christliche Koreaner den Tod er-
litten hätten. Jenes Blatt meldete, „was die Klugheit ihm ge-
stattete zu veröffentlichen", und der Inhalt ist folgender:
Man schätzt die Zahl der „Märtyrer" auf mehr als 2000,
von denen über 500 allein auf die Hauptstadt kommen; wäh-
rend in den Provinzen die Christen in Verhör genommen wer-
den, erdrosselt man in der Hauptstadt alle diejenigen, welche
als ehemalige Christen erkannt werden, ohne Procedur auf der
Stelle im Gefängnisse. Alle Christen sind verjagt und viele der
Getreuen kommen elend um, während die Heiden die Verfol-
gung benutzen, um ihnen Alles, was ihnen etwa noch blieb,
wegzunehmen. — Ein neues Gesetz befiehlt allen Einwanderern,
sich bei den Bezirksbeamten zu melden, sobald sie angekommen
sind, um sich auszuweisen, ob sie Christeil sind oder nicht. Ter
König von Korea hat gesagt: „Binnen sechs Jahren will ich
diese Religion mit der Wurzel vertilgen." Drei Christen der
Hauptstadt sind Apostaten geworden und haben viele ihrer frü-
Heren Mitchristen angezeigt.
In dem Missionsberichte wird der koreanische Herrscher auch
sonst als blutgieriger, verhaßter Tyrann geschildert, der eine
werthlose Münze schlagen ließ, welche Zwangscours erhielt, die
er aber selbst wieder anzunehmen sich weigere; mehrere Leute,
welche die Annahme dieser Münze verweigerten, seien hingerich-
tet worden; sein Bruder, der ihm Vorstellungen machte, mußte
entfliehen und sich versteckt halten. Es werden Beispiele muthi-
ger Bekennerschaft von Christenfamilien angeführt, die den
Missionären, die noch in Korea blieben, eine Zufluchtsstätte bie-
ten. Der Versuch der Franzosen, durch eine Schiffsdemonstra-
tion dem Tyrannen Schrecken einzujagen, lief bekanntlich schlecht
aus; die Franzosen zogen von Kiao-ke mit blutigen Köpfen ab.
Die Verhältnisse liegen, wie man sieht, auf Korea ähnlich
wie in Annam vor dem letzten Kriege, der zu der Losreißung
der Südprovinzen führte, aus denen die Franzosen sich eine
einträgliche (?) Besitzung mit der Hauptstadt Saigong geschaffen
haben. Der König von Korea ist unumschränkter Gebieter und
Herr des ganzen Grundes und Bodens im Reiche; zum Peckiner
Hofe, dem er jährlich zweimal Geschenke zu schicken hat, steht er
in einem ähnlichen Verbände, wie der Vicekönig von Aegypten
zur Pforte. Zwischen China und Korea wird, um Grenzstrei-
tigkeiten zu meiden, ein breiter Gürtel Landes gelassen, der
nicht bebauet werden darf. Die Hauptstadt Han-tsching, auch
Hang-jang oder chinesisch King-ki-tao genannt, ist stark be-
völkert, mit Mauern nach chinesischer Art umgeben und liegt
zwischen Bergen in der Mitte der Halbinsel.
Aberglauben in Neu-England.
In einem Berichte der zu Neuyork erscheinenden „Evening
Post" aus dem „Hügellande" im Staate Neuhampshire lesen
wir Folgendes:
„In diesen Wäldern sind die Ueberreste alten Aberglau-
bens kaum ausgestorben. Es giebt daselbst Leute, welche sich zu
erinnern wissen, daß alte Weiber von ihren Familien gemieden
wurden, weil sie im Gerüche der Hexerei standen. Die Geschich-
ten von Männern, welche steif und lahm aufwachsen, weil sie
um Mitternacht von Hexen nach ihren Versammlungen auf den
Hügeln gefahren worden, über höllische, aus Waldkräutern ge-
288
Aus allen Erdth eilen.
braute Getränke, welche die Trinkenden wahnsinnig machten;
von hinter Wasserfällen verborgen liegenden Schätzen, bestehend
in Gold, Edelsteinen und Amuletten, würden sogar gegenwärtig
als bloße Märchen das Tageslicht nicht ertragen können. Unter
den Bäumen an der Hügelseite sollen sich Gespenster umhertrei-
ben; aus der Erde dringt Stöhnen und Wehklagen hervor;
ein jammerndes, sich das Haar ausrausendes Weib kommt an
den Waldrand und fleht den Reisenden um Hülfe an. Wenn
er folgt, so sührt sie ihn zu einem im Hohlwege des Waldes
liegenden Gerippe und verschwindet. In den Wäldern halten
sich die Zauberinnen auf, welche prophezeien können, wohin ein
gestohlenes Pferd gekommen, und wo das Kind begraben wer-
den muß, damit den Angehörigen nicht dasselbe Schicksal zu
Theil wird. Holzhacker haben von den Gipseln der Bäume La-
ternen mit farbigem Licht schwingen und auf den höchsten Berg-
spitzen, welche nie ein menschlicher Fuß betreten, Irrlichter lodern
sehen.
Es sind noch manche Spuren des alten englischen Aber-
glaubens vorhanden. Wenn ein Mensch ein Glied verliert, so
muß dasselbe so sorgfältig begraben werden, als ob es ein Leich-
nam wäre, damit das verlorene Glied am Auferstehungstage
nicht fehle. Wenn ein Freund stirbt, so ist es unheilbringend,
eine dem Todten gehörende Haarlocke zurückzubehalten. Das
Haar darf nicht verbrannt werden, denn dies würde bedeuten,
daß der Körper fürchterlichen Qualen unterworfen fei, fondern
es muß forgfältig begraben werden. Die Zauberinnen und
Hexen, welche einst in den Wäldern herrschten, übten einen gro-
ßen Einfluß auf die diesseits der White Mountains lebende Be-
völkerung aus. Den Landstraßen entlang sind jene Sagen bei
dem gebildeten Volke verwischt, aber man findet sie heutzutage
in den großen Städten und in der Einsamkeit der Wälder. Um
sie zu hören, muß man am Herde der Unwissenden Platz neh-
men und der Weisheit alter und junger Weiber ein williges
Ohr leihen, denn beide schenken jenen Märchen Glauben."
Livingstone. Ueber ihn ist endlich einmal eine sichere
Nachricht eingegangen. Wir erfahren, daß er sich im Oetober
1870 am Leben befand, aber, da Briefe von ihm nicht einge-
troffen sind, wissen wir nicht, was ihm während der letzten
paar Jahre begegnet und wo er umhergezogen ist. Er befindet
sich feit nun fünf Jahren — Mai 1866 zog er vom Rufidfchi
nach dem Innern — auf der Wanderung. — Eonsul Kirk in
Sansibar meldete an die Geographische Gesellschaft in London
Folgendes:
Scherif Bafcheik ben Ahmed, derselbe Araber, welcher
von Sansibar abgeschickt wurde, um Dienerschaft und Vorräthe
für Livingstone nach Udschidschi am Tanganyika-See zu bringen,
war dort angekommen. In feinem vom 15. November 1870
datirten Briefe meldet er, daß am 10. November ein Bote ihn
besucht habe, der aus Menama (oder Manyema) gekommen
war mit Briefen von den sich dort aufhaltenden Arabern, und
einem Briefe vom „Doctor" (— nämlich Livingstone; über den
Inhalt dieses Briefes wird jedoch kein Wort gesagt —); diese
Briese trugen das Datum vom 15. October. Die Boten ant-
worteten auf die an sie gerichteten Fragen, der Doctor befinde
sich wohl, fei aber vorher leidend gewesen. Er halte sich in der
Stadt Manakosa auf, bei Mohammed ben Gharib und warte
auf die Karawanen. Er fei ohne Mittel und habe nur wenige
Begleiter, bloß 8 Mann, so daß er nicht sort- und herunter
(nämlich nach Udschidschi) kommen könne. Scherif meldet weiter,
daß er nun 12 Mann mit allerlei Vorräthen, Schuhen, Quinin,
Schießbedarf k. dem Doctor entgegengeschickt habe und daß er
seinerseits in Udschidschi bleiben wolle, bis er weitere Verhal-
tungsbesehle vom Doctor erhalten habe. — Ein anderer Brief,
welchen Said ben Madschid aus Udschidschi an einen Kaufmann
in Sansibar geschrieben, besagte, daß im Lande Alles gut stehe;
es seien Briese von den arabischen Kaufleuten aus Menama
eingetroffen, welche melden, daß der Christ bei ihnen sei und
daß die Karawane von dort im April 1871 nach Udschidschi zu-
rückkehren wolle.
Wir wissen also, daß Livingstone sich im Westen des Tan-
ganyika-Sees aufhält und nach Udschidschi geht, also nicht nach
Norden oder Westen, und daß wir über die dort vermuthete
Region der Nilquellen noch nichts erfahren.
*
-5-
— „Woher stammt das Wort Cacique und was ist
dessen eigentliche Bedeutung?"
Auf diese von Frankfurt aus an uns gerichtete Frage kön-
nen wir die folgende Antwort geben.
Mit Kazike (Eacique) bezeichnet man bekanntlich im All-
gemeinen den Häuptling eingeborener Stämme in Süd- und
Eentralamerika, auch in Westindien, als hier noch Indianer
vorhanden waren. Der Name ist jedoch nicht einheimisch, son-
dern rührt von den Spaniern her; bei den verschiedenen In-
dianervölkern führten die Häuptlinge und Vorsteher natürlich
fehr verschiedene Benennungen. Auf der Hochebene von Eundi-
namarca, im heutigen Neugranada, bei Bogota, hieß der Häupt-
ling Zagui; auf der Landenge von Darien im weitern Sinne
Sako und Quevi; bei den Earas, welche einst Quito erober-
ten, Scyri; bei den Jnca-Peruanern Euraca; bei den Arau-
kauern in Chile heißt er noch heute Ulmen. — W. Bollaert,
ein fehr verständiger Forscher, übersetzte 1861 sür die Hakluyt-
Gesellschaft in London das alte fpanische Werk Ursua's und
Lope de Aguirre's Werk: „Das Suchen nach dem Dorado",
welches 1560 verfaßt worden ist. Im Glossarium derselben fand
er, daß das Wort Cacique ursprünglich aus Mazagan (dem
alten marokkanischen Seeräuberneste) stammt, und daß die fpa-
nifchen Conquistadoren das arabische Wort Scheich in Cacique
corrumpirten und auf die amerikanischen Häuptlinge anwand-
ten. Vergleiche: Ancient tombs in Chiriqui, in den Trans-
actions of the Ethnological Society of London, 1863. Yol.
II. p. 148.
— Die Great Northern Telegraph, China and
Japan Extension Company hatte am 1. April den Tele-
graphendienst zwischen Hongkong und Schanghai eröff-
net. Einige Tage später wurde das Kabel durch einen Schiffs-
anker beschädigt, aber sofort wieder hergestellt, und seit dem
16. April arbeitet die Linie regelmäßig. Zwischen Hongkong
und Singapore ist noch eine Lücke. Die Kabel sür die Strecke
zwischen Schanghai und Japan sind im April von London
abgeschickt worden; von Nagasaki wird ein Kabel nach Wla-
diwostock an der Küste des rufsifchen Amerika gelegt; von dort
ist gegenwärtig der Telegraph durch Sibirien bis nach der
Grenze des europäischen Rußland in Betrieb.
— Die Canadian Dominian hat für das laufende
Finanzjahr ihre Ausgaben auf 16,392,808 Dollars veran-
fchlagt; ihre Einnahmen auf 16,810,000.
— Im russischen Gouvernement Kaluga, im Kreise Mefchd-
stchowsk, ist „wieder ein Skopzennest ausgenommen worden".
Sie waren bis 1870 in Verkündigung ihrer Lehren und in der
Ausübung ihrer bekannten Praxis unbehelligt geblieben; jetzt
sind ihrer mehr als 100 aus verschiedenen Dörfern in Haft,
namentlich in der Stadt Kofelsk.
Inhalt: Wilhelm Lejean's Wanderungen im nordwestlichen Indien. (Mit vier Abbildungen.) — Aus den Briefe«
einer deutschen Erzieherin in Nordbrasilien. (Schluß.) — Zur Würdigung der bäuerlichen Verhältnisse in Rußland. (Schluß.) —
Erlebnisse schwedischer Ansiedler aus den Fidschi-Inseln. — Aus allen Crdtheilen: Aus Ostindien. — Die Verfolgung der Chri-
sten in Korea. — Aberglauben in Neu-England. — Livingstone. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Nedaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Viewcg und Sohn in Vraunschweig.
(7
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Band xix.
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19.
lit besontlorer Herücksiclltigung Äer Antkropologie unä Gtllnologie.
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl A n d r e e.
3»ltui Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1871.
Wilhelm Lejean's Wanderungen im nordwestlichen Indien.
ii.
Der Berg Mahabun am Indus, der Aornos der alten Hellenen. — Im Gasthause eines alten Sikhkriegers in der Gesundheits-
station zu Marri.— Rawalpindi. — In Lahore, der Hauptstadt des Pendschab. — Amritsir; der goldene Prachttempel; der heilige
Teich der Unsterblichkeit. — Die Akalis und ihr eiserner Discus. — Shawlsabrikation. — Das Dorf Sanga. — Der Fürst
von Tschamba. — Eine romantische Sage. — Ueberschwemmungen. — Charakter des Jndusdelta.
Hinter Abbotabad thürmen sich hohe, schneebedeckte Berge
auf; nach jener Richtung hin liegt das Thal der Hazara
und die Bergbewohner sind unabhängige Afghanen, gegen
welche auch der Maharadscha von Kaschmir nichts hat aus-
richten können. Sie find als Eroberer ins Land gekommen
und haben die dardischen Völker indischer Abstammung wei-
ter nach Norden hin verdrängt. (— lieber diese in hohem
Grade interessanten Völker Dardistans werden wir, nach
Dr. Leitner's Schilderungen, nähere Mittheilungen im „Glo-
bus" geben. —)
Lejean wanderte vom Bergland zurück nach Lahore, der
Hauptstadt des Pendschab. Unterwegs begegneten ihm eng-
lische Soldaten, welche sich die Zeit niit Einfangen von
Schmetterlingen vertrieben. Jeder hatte ein Netz und die
Ausbeute war nicht gering. Es ist sehr löblich, daß manche
Offiziere ihre Leute zum Sammeln naturwissenschaftlicher
Gegenstände anhalten; dadurch sind die Sammlungen in
manchen Museen der indischen Städte vielfach bereichert
worden.
Manche Landschaften fand der Reisende „wunderbar schön".
Ein Berg stieg hinter dem andern empor, und riesige Massen
fielen dann ab, um das Tiefthal zu bilden, durch welches
der Indus strömt. Der Fluß hat bis dahin einen Lauf
von etwa zweihundert deutschen Meilen gemacht, und seine
Globus XlX. Nr. 19. (Juni 1871.)
Wasserfülle ist schau dort im Hochlande sehr beträchtlich.
Unter den Berggipfeln tritt insbesondere der Mal) ab an
hervor, welchen Lejean für den Aornos der Griechen hält,
und dessen Arrian in der Beschreibung der indischen Feld-
züge Alexander's des Großeu erwähnt. Die alte Benennung
wird wohl Auarana, d. h. der befestigte Ort, gewesen sein,
und daraus haben die Hellenen Aornos geniacht, also „ohne
Vögel", „weil er so hoch sei, daß nicht einmal Vögel seinen
Gipfel erreichen könnten." Aber der Mahaban ist niemals
gemessen worden; Lejean meint, daß er nicht höher als 3000
Meter sei; von Seiten der Griechen liegt demnach eine Ueber-
treibung vor.
In Marri, der früher mehrfach von uns erwähnten
Gesnndheitsstation, wohnte der Reisende in einem Gasthofe,
dessen Wirth ein alter Sikh war. Er trug einen weißen
Barl, der seinem Gesichte einen etwas wilden Ausdruck gab.
Er hieß Pihr Siugh, d. h. Pihr der Löwe, aber „Löwe"
ist jeder Sikh und der Ausdruck will nicht mehr uud nicht
weniger besagen, als uufer Herr bedeutet. Der Mann sah,
wie unsere Illustration zeigt, für eiuen Gastwirth grimmig
genug aus, war aber gefällig, hatte ganz angenehme Um-
gangsformen, war rechtschaffen und überteuerte seine Gäste
nicht im Mindesten; die europäischen „Hoteliers" hatte er
,ich nicht zum Muster genommen.
37
Wilhelm Lejean's Wanderungen im nordwestlichen Indien.
Die Engländer schreiben sich in den Fremdenbüchern nicht
bloß mit dem Namen ein, sondern fügen irgend eine Eigen-
schast, eine Standesbezeichnnng hinzu. Lejean that einGlei-
ches und signrirte als wissenschaftlicher Reisender, scientific
traveller. Als er abreisen
wollte, verlangte er seine
Rechnung. Der alte Sikh
konnte nicht englisch schrei-
ben und dictirte also die?!ota
einem gefälligen Nachbar in
die Feder. Sie lautete: „Herr
Scientific schuldet Herrn
Pihr Singh, Gastwirth iu
Marri, fo und so viel."
Herr „Scientific" wan-
derte von Marri auf einem
theilweife schattigen, wohlge-
bahnten Wege abwärts bis
nach Rawalpindi, wo er
die große Peschawar-Lahore-
Straße erreichte. Beim ka-
tholischen Capellan, Pater
Agostiuo, fand er freundliche
Aufnahme. Diese war ihm
um so angenehmer, weil
weiter abwärts eine fast zehn
deutsche Meilen lange Strecke
jener großen Heerstraße durch
gewaltige Wasserfluthen arg
beschädigt worden und für
den Augenblick ungangbar
war. Aber die Engländer
gingen auch sofort nachdrück-
lich an die Wiederherstellung,
und nach wenigen Tagen war
Alles wieder zu Passiren, bis
auf eine Stelle von etwa einer
halben Stunde. So gelaugte
der Reisende ohne weitere Beschwerde nach Lahore, der
Hauptstadt des nordwestlichen Indiens.
Schon Alexander Bnrnes hat eine ausführliche Beschrei-
bung dieser Capitale des Pendschab ge-
geben. Die Altstadt hat sehr hohe Hän-
ser und enge Straßen, die sehr schmutzig
sind. Die Bazare sind nicht besonders
reichhaltig, weil sich der Handelsverkehr
des Landes in Amritsir concentrirt. Un-
ter den öffentlichen Gebäuden ist nament-
lich die sogenannte königliche Moschee
bemerkenswert, welche der Großmogul
Aureng seb aus rothem Saudstein auf-
führen ließ. Die vier mächtigen Mina-
rete stehen noch, das Hauptgebäude aber
wurde von den Sikhs, welche dem Mo-
Hammedanismus in hohem Grade abhold
sind, in ein Pulvermagazin verwandelt.
Noch zwei andere Moscheen erinnern dar-
an, daß hier einst der Islam herrschend
war. Daran gemahnt auch das Schah
Dura, das Grabmal des Groß-
mogul Schah Dschehangir, welches
sich auf dem audern Ufer des Rawi er-
hebt. An jeder seiner vier Seiten steigt ein Minaret von 70
Fuß Höhe empor. Beim Bau hat man in symmetrischer
Abwechselung rothen Sandstein und Marmor verwandt; das
Grab selber ist vortrefflich ausgeführt und alle Inschriften
Alter Sikh in Marri
Dost Mohammed, Herrscher von Asgha-
nistan; 1' 1864.
und Ornamente sind Mosaik b'er herrlichsten Art; die Far-
ben mancher Blumen, z. B. der Rosen, sind täuschend durch
Steine wiedergegeben. Eine Inschrift von zwei schwarzen
Steinen aus weißem Marmor besagt, daß hier Dschehangir,
„der Eroberer der Welt",
ruhe; auf der Oberfläche
des Grabes liest man viele
arabische und persische Wör-
ter, welche allesammt Allah
bezeichnen. Auch der Fuß-
bodeu besteht aus Mosaik.
Ehemals war das Monn-
ment von einer Kuppel
überwölbt; diese ließ jedoch
Bahadur Schah abtragen,
damit das Grab seines Ah-
nen vom Thau und Regen
des Himmels benetzt werde.
Es ist wohl möglich, daß
dieses prächtige Denkmal
gelegentlich vom Rawi hin-
weggerissen wird, denn der
Fluß hat bei Lahore einen
sehr eigensinnigen, verän-
derlichen Lauf.
Bemerkenswerth ist auch
der Garten Schah Dfche-
han's, der Schahlinar,
wie man ihn nennt , d. h.
das Asyl der Freude.
Auch er gemahnt an die
Prachtliebe der Großmogul?.
Auf einer Strecke von etwa
einer halben Stunde Wegs
bildet er drei eiuauder Uber-
ragende Terrassen; eine
Wasserleitung speist zwischen
400 uud 500 Springbrun-
nen, welche eine erquickende Kühle verbreiten. Der Marmor-
Pavillon, in welchem der Großmogul zu ruhen pflegte, ist
noch erhalten, während die übrigen Gebäude Beschädigung
erlitten haben. — Im Museum zu
Lahore befinden sich manche Alterthümer
und Basreliefs ans dem Takt i Bahi
bei Peschawar uud noch manche, die an
anderen Punkten der Provinz gesammelt
worden sind. Lejean hat viele derselben,
etwa vierzig, gezeichnet, zumeist Gegen-
stünde, welche die „griechisch-buddhi-
stische Kunst" kennzeichnen. Er ver-
sprach, über dieselbe eine besondere Ab-
Handlung zu liesern; wir wissen nicht,
ob eine solche sich in seinem Nachlasse
vorgefunden hat. Die Gegenstände, welche
er im Museum zu Lahore sah, schienen
ihm in künstlerischer Beziehung hinter
denen in Peschawar zurückzustehen, aber
in archäologischer Hinsicht nehmen sie
ein großes Interesse in Anspruch. Le-
jeau hebt insbesondere eine Amazone her-
vor, welche das Schwert zieht und etwas
ungemein Jmponirendes hat; einen be-
tnrbanten Reiter und einen Krieger, der vor einem Palastthor
Wacht hält. Die Tracht des letztern erinnert an die sränki-
schen Krieger aus den Zeiten der Kreuzzüge; er trägt einen
Schnauzbart und einen Helm von eigentümlicher Gestalt
Wilhelm Lejean's Wanderungen im nordwestlichen Indien.
291
Manche Terraeotten zeigen Uebergang aus der griechisch-
indischen Kunst in die eigentlich indische. Diese letztere ist
repräsentirt von einer lächelnden Frau mit thierischem Ge-
sichtsausdruck , schräggestellten Augen und einem sehr ver-
wickelten Kopfputze.
Der Reisende kaufte in Lahore eine Anzahl indischer Mi-
niaturgemälde; es sind Porträts von Männern, welche in
unseren Tagen eine bedeutende Nolle gespielt haben.
Von Lahore gelangt mau auf der Eisenbahn in ändert-
halb Stunden nach Amritsir. Dort befindet sich das Aller-
heiligste der Sikhs, der Prachttempel Mahadewa's,
„der seines Gleichen in der Welt nicht hat". Lejean war
geradezu „verblüfft", als er diese Basilika sah. Was soll
mau, sagt er, mehr bewundern: die Wahl des Ortes, die
ausgesuchte Kunst der Constructiou oder den bis zur lieber-
sättigung verschwendeten Reichthum? Der Tempel des Ma-
Schaam Singh, Staatsmann der
Sikhs.
Taiitia Topi, Hauptanführer während
der großen Meuterei von 1857.
Scheng Bahadur, Herrscher von
Nipal.
hadewa mit seiner Kuppel und den Glockenthürmen von
massivem Golde erhebt sich in der Mitte eines Wasserbeckens,
des Amrita-Saras, d. h. des Teiches der Unsterblichkeit.
Die Mauern sind von weißem Marmor, bedeckt mit einer
Menge von Zeichnungen, Verschnörkeluugen, Arabesken, klei-
neu Landschaften, — Alles aus Edelsteinen, welche in den
Marmor eingelassen sind. Jedes Baumblatt ist ein Smaragd,
eine blaue Blume oder ein Vogel besteht aus Lapis lazuli oder
einem Saphir, eine Frncht ans Granaten und so weiter.
Ein schöner und breiter mit weißem Marmor gePflaster-
ter Gang verbindet den Tempel mit dem festen Lande, zu
beiden Seiteu befiudet sich eine Doppelreihe von Kandelaber-
Pfeilern, gleichfalls von Marmor, und auf jedem befindet sich
eine goldene Kuppel.
Dinannal, ein berühmter Rechts-
gelehrter.
Akbar, der Afghanenkönig, Sohn
Dost Mohammed's.
Nena Sahib.
lieber das Innere dieses Tempels finden wir in anderen
Berichten noch folgende Angaben. Das Wasserbecken
der Unsterblichkeit ist vom vierten Gnru, Ras Dam,
angelegt worden. Dasselbe hält 150 Schritt im Geviert
und hat klares Wasser, trotzdem so viele fromme Lente sich
in demselben baden. Im Innern des Tempels sitzt der
oberste Geistliche ans einem Masnad, d. h. Polsterthron, unter
einem mit Gold gestickten Teppiche; vor ihm liegt ein Pracht-
voller Kaschmirteppich, auf welchen die Gläubigen ihre Ge-
schenke niederlegen. Am Rande des Teiches steht ein kleines
Gebäude, in welchem Ras Dam sich der Beschaulichkeit hin-
gab. In einem dreistöckigen Hause vor der Brücke werden
Jene eingeweiht, welche zum Glauben der Sikhs übertreten.
In einem andern Hause hält ein geistlicher Einnehmer sich
auf, welcher von denen, die in dem heiligen Wasser baden
wollen, eine Abgabe erhebt, die als Opfergabe bezeichnet wird.
37*
Bayadere von Srinagar.
>
Wilhelm Lejean's Wanderr
Aus dem Ertrage derselben werden die mehr als 500 Aka-
lis, d. h. Tempelwärter, besoldet; ihre Wohnungen besiu-
den sich in der Nähe des Teiches.
Ein Europäer wird die Frage auswerfen: Wie kommt
es, daß solch ein Tempel mit der Ungeheuern Menge von
Gold und Edelsteinen, welche der Menge zur Schau aus-
gestellt sind, in einem Lande, wo es so große Schaaren bet-
telarmer Menschen giebt, und das so viele politische Erschüt-
terungen erfahren hat, im Verlaus der Jahrhunderte uuau-
getastet bleiben konnte? Die Antwort ist leicht gegeben.
Der Orientale, insbesondere der Mensch in Indien, wird
weniger durch eine sittliche Anschauung bestimmt, als so zu
sagen durch den Aberglauben seines materiellen Religions-
gesiihls. Tempelberaubung und Schändung der Heiligthii-
mer sind ungemein selten und kommen nur von Seiten der
Priester vor; den Menschen aus dem Volk hält Scheu und Furcht
vom Raube zurück; er will die Götter nicht kränken. Als
Lejeau in Amritsir war, 1866, zog man einen Priester ein,
welcher nach und nach eine große Menge massiver Goldplat-
jen im nordwestlichen Indien. 293
ten durch vergoldete Eisenplatten ersetzt hatte; der Betrag
seines Diebstahls wurde auf etwa eiumalhunderttausend Ru-
pieu geschützt.
Der Christ kann den Mahadewatempel besuchen, ohne
irgend wie behelligt zu werden; die Hindu sind toleranter
als die Mohammedaner. Die eben erwähnten Akaliß bilde-
ten vor der Eroberung der Engländer (1849) eine mächtige
religiöse Körperschaft, ähnlich wie die Derwische in der Tür-
kei; sie waren umherstreifende Bettelmönche. Als kennzeich-
nendes Merkmal tragen sie auch auf ihrem Turban eiserne
Scheiben. Solch ein Discus hat wahrscheinlich eine mysti-
sche Beziehung zur Sonnenscheibe, nnd eine solche Scheibe
kann in den Händen jener heiligen Leute eiue gefährliche
Waffe werden. Sie sind darauf eingeübt, dieselbe aus eine
weite Entfernung hin nach einem gewissen Punkte zw schleu-
dcrn, nachdem sie ihr eine sehr rasche rotirende Bewegung
um den Zeigefinger gegeben haben. Der scharfe Rand kann
auf zwanzig Schritt oder mehr recht wohl ein nacktes Bein
oder einen Arm durchschneiden. Die Behörden kümmerten
Heiliger Baum am
sich nicht um dergleichen; sie wollten sich dieses fromme Ge-
sindel nicht auf den Hals hetzen; die Polizei der Engländer
sieht ihnen aber etwas mehr auf die Finger.
In den geographischen Handbüchern sindet man die An-
gäbe, daß Amritsir eine Bevölkerung von etwa neunzig-
tausend Seelen zähle; Lejean dagegen nimmt zwischen drei-
bis viermalhunderttansend an. Man könne sich nur schwer
eine Vorstellung von dem Ungeheuern Menschengewimmel
der indischen Städte machen, namentlich in denen, welche
einen schwuugreichen Gewerbsbetrieb haben. Für Amritsir,
wo dieses der Fall ist, und dessen Umgegend würde, den ge-
wältigen Uebertreibungen der Eingeborenen zufolge, die Zif-
fer vou 1,800,000 Seelen kaum ausreichen!
Die Shawlfabrikation, namentlich jene geringerer
Sorten, beschäftigt eine große Menge von Arbeitern, und der
Absatz ist beträchtlich. In der feinern und thenern Waare
behauptet Kaschmir noch immer den Vorzug, obwohl auch
Amritsir Prachtstücke liefert. Die Tyrannei des Maharad-
scha, welcher seine Unterthaueu schwer drückt, kommt dem
Pendschab zu gute; als er die Auswanderung noch nicht
verboten hatte, wanderten etwa dreißigtansend Kaschmiris
, Teiche bei Sanga.
aus und ließen sich in Ludianah nieder, wo sie unter der
mildern Herrschaft der Engländer Industrie betreiben. Ge-
genwärtig läßt der Tyrann Rambir Sing keinen mehr aus-
wandern.
Da, wo heute Amritsir steht, war einst die alte Stadt
Tscheka. Der bekannte chinesische Pilger Hiueu tsang er-
wähnt, daß in der Nähe derselben Sakala lag; es ist das
Sangala, die letzte Eroberung des Macedoniers Alexander
nach Osten hin. Lejean fand 6 Kilometer von Amritsir ein
Dorf Namens Sanga, dessen Oertlichkeit vollkommen der
vonArrian entworfenen Beschreibung entspricht; Alterthümer
hat er dort nicht gesunden. Zu seinem Bedauern war er
verhindert, einen Ausflug nach Tfchamba zu machen, dieser
ländlichen Hauptstadt eines Fürstenthums, dessen jugeud-
licher Herrscher ein Freund der Europäer und ein Liebhaber
der Photographie ist, in deren Ausübung er sich sehr geschickt
erweist. Seiu Stammbaum reicht hoch hiuaus, bis in die
Zeit des Krieges zwischen den Kurawas und Pandawas,
zweihundert Jahre vor dem trojanischen Kriege. Mit indi-
schen Genealogien darf man es freilich nicht allzu genau
nehmen; es geht ja mit manchen europäischen ebenso. Auch
294 Wilhelm Lejean's Wanderm
an romantischen Sagen fehlt es dabei nicht. In Tschamba
lebte eine bildschöne und überaus tugendhafte Prinzessin.
Die Bewohner hatten einen Bewässernngscanal gegraben
und Alles war gut, bis ein böser Geist denselben behexte;
es wollte kein Wasser mehr hineinfließen; blieb das auf die
Dauer aus, dann trat sicherlich Hungersnoth ein und ein
großes Menschensterben konnte nicht ausbleiben. Da machte
ein weiser Mann, der nebenbei auch Zauberer war, aus-
findig, daß Tschamba doch gerettet werden könne. Aber
wie? Die schöne, tugendsame Prinzessin mußte eine gewisse
Strecke laufend im Angesichte des versammelten Volkes und
zwar ganz unbekleidet zurücklegen, und nachher sollte ihr
dann der Kopf abgeschlagen werden. Es war aber noth-
wendig, daß sie dazn sich freiwillig, ohne allen Zwang her-
beiließ. Nachdem sie, schamhaft wie sie war, eine Weile ge-
zögert, erklärte sie, sich opfern zu wollen, um das drohende
Unheil abzuwenden. Nun geschah ein Wunder. Als sie
sich entkleidete und den Lanf antrat, erhoben sich zu beiden
Seiten der Laufbahn plötzlich dichtbelaubte Bäume aus der
Erde, und durch sie wurde die schöne Prinzessin für die
Menge unsichtbar. Der Kopf wird ihr wohl anch nicht ab-
geschlagen worden sein. Tschamba hat gegenwärtig einen
langen Bewässernngscanal, der zu beiden Seiten mit Prüch-
tigen Bäumeu bestanden ist.
Die Sagen, denen gemäß angefangene Bauwerke behext
werden und daß der Zauber nur gelöst werden kann, wenn
eine Jungfrau oder cht junges Weib sich zum Opfer dar-
bringt, sind im Orient häusig und kommen auch in Europa
vor. So sieht das Volk an dem „Thurme mit den Köpfen"
in Cettinje (Montenegro) und an der Mauer der albanesi-
schen Festung Rosapha in den Aussinterungen des Kalk-
steins die versteinerte Muttermilch einer jungen Frau, welche
dort lebendig eingemauert worden sei. —
Als der Reisende von Lahore nach dem Lande am uu-
teru Indus (Sindh) hinabfuhr, erhielt er betrübende Kunde.
Eine Ueberschwemmung hatte große Verwüstungen angerich-
tet; iu eiueni einzigen Dorfe waren binnen wenigen Minu-
teu nicht weniger als sechsnndueunzig Menschen ertrunken;
die Eisenbahn war beschädigt, mehr als ein Viadnct hinweg-
gerissen worden. Ein Theil des Schienenwegs war aller-
dings brauchbar geblieben, und ans dieser Strecke erlebte Le-
jean einen Orcan, der mit entsetzlicher Heftigkeit wüthete
und von gewaltigen Regengüssen begleitet war. Das Wasser
stürzte wie ein Bergstrom in einen Durchstich und im Nu
standen die Schienen eine Elle hoch unter Wasser. Aber
die Locomotive fuhr trotzdem weiter. Als das Gewölk sich
verzogen hatte, sah man, daß die ganze Gegend in einen
See verwandelt war. Auf der Bahn konnte man nun nicht
weiter fortkommen, aber die Reisenden wollten nnd mußten
nach Karratschi befördert werden. In Kotri wurde ein klei-
ner Dampfer geheizt, dessen geringer Tiefgang eine Fahrt in
den Canälen des Jndnsdeltas möglich machte. Dieselbe
en im nordwestlichen Indien.
nahm volle fünf Tage in Anspruch. Anfangs erschien die
Landschaft öde, platt, traurig, nach und nach machte sie einen
ernsten und niederschlagenden Eindruck, aber man gewann
ihr doch Interesse ab. Weit und breit nichts als Grau, hin
und wieder mit Grün besprenkelt, — Wasserpflanzen und
Tamarisken; im Uebrigeu kein Baum, kein Felsen, kein Dorf,
keine Hütte. Ist das Morast, Festland, See oder Fluß?
Etwas von alle dem, und über diesem Wasser liegt tiefes
Schweigen.
Der Judus fließt in seinem Delta in einer großen
Menge von Verzweigungen träg dem Meere zu, in dessen
Nähe die schwärzlichen Thonufer mit magerm Gesträuche
bewachsen sind. Man ahnt nicht, daß das Canäle des
„königlichen Stromes" sind, welcher im Laufe eines Jahres
5,383,600,934,400 englische Kubiksuß Wasser in den Ocean
ergießt und eine Masse von 8,536,255,949 Quadratfuß
Schlamm ablagert. Mit demselben könnte man achtehalb
Quadratmeilen vier Fuß hoch bedecken! Bei der Beschaffen-
heit des Stromes kann es nicht Wunder nehmen, daß auch
in den historischen Zeiten das Delta viele Veränderungen
in seiner Gestaltung erlitt. Alljährlich verschlämmt der
Strom einige Canäle und bahnt sich neue.
In der Eintönigkeit dieser Wasserwüste fällt ein einzel-
ner Hügel auf, der mit Schilf und Rohr eingefaßt ist. Auf
demselben steht eiu Santon, eine weißschimmernde moham-
medanische Capelle zu Ehren des heiligen Schag Pir, wel-
cher Schutzpatron des Indus und der Bootsleute ist, die
auch nicht versäumen, Gebete an ihn zn richten. —
Der Reisende war nach einer solchen Fahrt hoch erfreut,
als er im Hafen von Karratschi ans Land stieg; einige Tage
später schiffte er sich dann nach Bombay ein, wo er auch
mit deu bekanntlich dort sehr zahlreichen Parfis näher ver-
kehrte. Da im „Globus" mehrfach über diese wichtige
Handelsstadt ausführlich gesprochen worden ist, so gehen
wir hier auf eine Schilderung nicht ein; eben so wenig auf
die etwas flüchtigen Bemerkungen Lejean's über die Land-
fchaften Centralasiens und jene im Nordwesten von Kasch-
mir. Diesen letzteren werden wir einen besondern Aufsatz
widmen und in demselben namentlich die Ethnographie der
dortigen Dardenvölker erörtern. Heber Centralasien haben
wir häufig Mittheilungen gebracht, werden aber demnächst
auf Herat zurückkommen, das zu Afghanistan gehört und
jetzt wieder einmal in den afghanisch-persischen Wirren eine
hervorragende Rolle spielt.
Als Illustration geben wir noch ein Typenbild bei, wel-
ches sich auf Kaschmir bezieht und für welches wir in der
vorigen Nummer keinen Raum hatten. Das Bild der Ba-
yadere aus Srinagar trägt ganz das arische Gepräge; die
mandelförmigen Augen geben dem Gesichte jenen eigenthüm-
lichen Ausdruck, welchen wir nur bei Orientalinnen finden,
die keine Beimischung vom Blute dunkelfarbiger Voreltern
haben.
Erlebnisse schwedischer Ansiedler auf den Fidschi-Inseln.
295
Erlebnisse schwedischer
Am folgenden Morgen gedachten wir abzusegeln, wurden
aber von Gegenwind abgehalten, so daß wir noch einen Tag
aus Korokoro bleiben mußten. Der Fidschimann, welcher
das Haus bewohnte uud nach demselben sah, hatte fünf
Frauen oder, richtiger gesagt, hatte sie gehabt; denn jeder
bekehrte Fidschianer wird von den Missionären gezwungen,
seinen Frauen zu entsagen, außer einer, mit welcher er ge-
traut wird; die übrigen müssen seine „Dienerinnen" wer-
den. Die Weiber, lebhaft und anmuthig, hatten ihre Kin-
der auf den Rücken gebunden und auf solche Weise freie
Hände zur Verrichtung der häuslichen Geschäfte. Sowohl
dem Manne als auch den Weibern fehlten einige Finger
oder Zehen, was von dem Gebrauche der Fidschianer kam,
daß ein solches Glied bei dem Tode eines nahen Anver-
wandten zum Zeichen der Betrübniß verstümmelt wer-
den muß.
Früh am folgenden Morgen begaben wir nns auf den
Ocean hinaus und kamen nach einer Fahrt von einer Stunde
dicht an dem Orte vorbei, wo nach Case's Aussage Egerström
vor Jahren den Schiffbruch gelitten hatte, welcher ihm mit
genauer Noth das Leben und einen geringen und noch dazu
beinahe zerstörten Theil seiner Habseligkeiten übrig ließ. Um
die Mittagszeit fuhren wir dicht au Bau, der Hauptstadt
Thakumbau's, des sogenannten Fidschi-Königs, vorbei und
liefen gegen 2 Uhr in den Revaslnß ein, wo die vielen
Buchten, die der Fluß bildet, den Gebrauch der Segel nicht
gestatten. Daher ergriffen der alte John und ich die Riemen
und hatten steife vier Meilen zu rudern, ehe wir spät Abends
unser Nachtquartier erreichten, welches wir bei einigen Eng-
ländern nahmen, die eben mit Zuckerkochen beschäftigt waren.
Hier war neulich die Nachricht angekommen, daß in Bergen
(weiter im Innern des Landes) ein dort ansässiger englischer
Plantagenbesitzer von den Fidschianern erschlagen worden
wäre. Diese Nachricht hatte großes Aufsehen erregt, und
man sprach davon, daß Alle sich vereinigen wollten, um die
Fidschianer zu bestrafen. Das Land längs dem Revaslusse
ist in diesem Augenblicke das bevölkertste sowohl an „Wei-
ßen" als an Fidschianern, und zugleich der lebhafteste
Handelsort hier in Fidschi; die meisten Baumwollen-
und Kaffeepflanzungen sind ebenfalls an seinen Ufern
vorhanden.
Am folgenden Morgen setzten wir in aller Frühe die Fahrt
auf einem Zweige des schönen Flusses fort, der eine Meile
von unserer letzten Raststelle ins Meer mündete *). Als wir
wieder auf den großen Ocean hinauskamen, erhielten wir eine
frische Brise, welche uns bald nach Nagara, meiner künfti-
gen Heimath, zu führen versprach. Daß ich erwartet und vor
allen Dingen willkommen war, daran zweifelte ich nicht; ob
ich aber im Stande sein würde, das einsame Leben auf einer
kleinen Insel im Ocean auszuhalten, wovon ich bei meiner
Abreise aus Schweden überzeugt zu sein glaubte, das mußte
nun erst versucht werden. Schon eine Stunde vor der An-
kunst erblickten wir Nagara, und obgleich Egerström's Woh-
nnng nicht zu sehen war, so deutete doch der zwischen den
Bäumen aussteigende Rauch den Ort an, wo sie stand.
') Hieraus scheint hervorzugehen, daß der Reva kein Fluß, son-
dern vielmehr ein schmaler Sund ist, welcher kleine Inseln von dem
Hauptlande Viti trennt. So auch auf Petermann's Karte, wo im
Süden der Hauptiusel der Name „Newa Noad" steht.
auf den Fidschi-Znselii.
Als wir bei der Insel ankamen, wurde mit den Geweh-
ren salntirt, und nachdem unser Gruß beantwortet worden
war, eilte uns ein Mann ans dem Riff entgegen. Dieser
Mann war Egerström. Er konnte mich nicht wieder erken-
nen und ich ihn ebenfalls nicht; denn mich hatten die sechs
Jahre gewiß verändert, ihn aber meines Erachtens noch mehr.
Ich fand den in meiner Erinnerung noch lebenden jungen
Mann mit graugesprenkeltem Barte nnd darnach im Uebrigen
wieder; vielleicht aber war er doch in seinen Bewegungen
nnd in seinem Auftreten hurtiger und jugendlicher, als da
ich ihn zuletzt sah. Wir stiegen sämmtlich ans Land und
gingen in das Haus, welches zu meinem Erstaunen ein euro-
päisches hölzernes mit Verandas war. Seitdem ich Le-
wnka verließ, hatte ich mit Ausnahme einiger Missionsgebäude
keine anderen Wohnungen „weißer Leute" gesehen, als so-
genannte Fidschihäuser, nämlich solche, die von gleichem
Stosfe und Aussehen sind, wie die von den Eingeborenen be-
wohnten. Das kleine Haus stand ungefähr 25 Ellen von
deni Meeresufer entfernt, umschlossen von einer Palissa-
dirung innerhalb einer lebendigen Hecke, welche etwa eine
Tonne Land einfriedigte. Taufende von saftigen Zuckerrohr-
pflanzen standen an der Frontseite, und an der Hinterseite
wuchsen Hunderte von Bananas und Granatapfelbänmen,
sowie, was dem Auge am meisten zusagte, eine ausgewählte
Sammlung von Blumenbüschen, welche in diesem tropischen
Klima keiner künstlichen Pflege bedürfen, um ihre ganze
Ueppigkeit zu entwickeln. Außerhalb der Einfriedigung er-
blickte man die schöne Baumwollenpslanznng, auf deren Bäu-
men sich Taufende von gelben Blumen zeigten. Schon vor
meiner Ankunft hatte ich von Allen Egerström's Baumwol-
lenstanden als die schönsten in Fidschi preisen hören, und
dieses Lob war auch keineswegs übertrieben, wenn man sie
mit denen anderer Plantagenbesitzer verglich.
Nachdem ich mich eingewohnt hatte, begann ich an der
Arbeit in der Plantage Theil zu nehmen. Diese kann we-
gen des Mangels an Arbeitern, herbeigeführt durch den fort-
dauernden Krieg, uicht in dem Maße erweitert werden, wie
man wohl wünschen möchte. Bald nach meiner Ankunft
zerstörte ein starker südlicher Sturm die meisten Baumwollen-
standen, so daß uns die diesjährige Ernte nicht mehr als
2000 Pfund gab. Doch haben wir außerdem vou den Ein-
geborenen über 3000 Pfund gekauft, was eiuigermaßen die
Zerstörung durch den Sturm ersetzt hat. Der Export von
Nagara für das Jahr 1865 betrug 5000 Pfund Baum-
wolle, 2000 Pfund Tripang, ferner Salz (wir kochen sol-
ches aus Meerwasser und erhalten ungefähr 20 Oere für
das Pfund), Schweine, Oel n. a. m.
Unsere Hauptnahrung besteht in Speck, Aams und Tarra-
Wurzel, welche immer ein stehendes Gericht ist; außerdem
haben wir Thee, Kaffee und die verschiedenen Arten von Früch-
ten, an denen während des ganzen Jahres kein Mangel ist.
Die Früchte, welche zur Nahrung dienen und hier auf der In-
sel wachsen, sind folgende: Kokos- uud Jvinüsse, Brotfrucht,
Ananas, Granatäpfel und außerdem drei andere verschiedene
Arten von vortrefflichen Aepfeln, süße Citronen, Apfelsinen,
eine Art wilder Feigen (an Größe, Gestalt und Geschmack
den im Handel gehenden getrockneten Feigen ähnlich), Ingwer,
Cayenne- und Chilipfeffer u. a. m., nebst Kaffee, Zucker und
Taback. Außerdem giebt es auf der Insel wilde Schweine
296 Erlebnisse schwedischer Ans
und Ziegen, welche Egerström gleich nach seiner Ankunft aus-
gesetzt hat; verwilderte Katzen sind ebenfalls vorhanden, doch
zu geringer Freude für unsere Hühner. Eine Anzahl zah-
mer Schweine haben wir ebenfalls; diese aber sind nicht ein-
gesperrt, sondern laufen frei auf der Insel umher, nähren
sich von wilden Aams, Krabben, Jvinüssen und Gras, und
zeigen sich vor der Einfriedigung gewöhnlich Morgens und
Abends, um die Kokosnüsse in Empfang zu nehmen, welche
man ihnen zuwirft. Die Schweine sind für uns, wie für
alle Anderen hier in Fidschi, von großer Wichtigkeit, indem
hier noch nicht so viel Rindvieh, auch nicht so viele Schafe
vorhanden sind, um Haudelsgegenstände bilden zu können,
daher man sich Schweine halten muß, um auf die leichteste
und billigste Art Fleischspeise erhalten zu können.
Wenn unsere Schinken ein Ende zu nehmen drohen, be-
schließen wir, auf die Jagd zu gehen, was gewöhnlich früh
Morgens geschieht, weil dann die Schweine in Bewegung
sind. Eine Jagd in einem tropischen Walde ist nicht einerlei
mit einer Jagd in einem nordischen Walde, und daher muß
man auch darnach seine Vorbereitungen treffen. Wir pfle-
gen bei solchen Gelegenheiten nur ein Hemde anzuziehen, das
schou seine besten Tage gesehen hat, und einen ähnlichen
Hut, sowie, wenn etwa das Hemde allzu viele Gucklöcher
haben sollte, auch noch ein paar alte „Unnennbare", welche,
gleich oberhalb der Knie abgeschnitten, die Bewegungen er-
leichtern. In solcher Ausrüstung lachen wir uns gewöhn-
lich gegenseitig aus, und wir könnten leicht für Straßen-
räuber gehalten werden, wenn uns ein vernünftiges Wesen
sähe, was gleichwohl niemals der Fall ist. Wir begeben uns
dann mit unseren Hunden in den entferntesten Theil der
Insel, um nicht etwa auf unsere zahmen Schweine zu stoßen.
Anfangs haben wir vielleicht einen Boden zu betreten, der
uns wenige oder keine Hindernisse in den Weg legt; bald
aber führen die Hunde uns hinab in einen Sumpf, wo wir
eine schwierige und unangenehme Wanderung zu machen
haben. Wenn die Hunde einem Thiere auf der Spur sind,
so müssen wir uusern Marsch möglichst beeilen, um sie nicht
aus den Augen zu verlieren. Vorwärts geht es, bald durch
dichtes, dorniges Gebüsch, bald durch schlammige Sümpfe,
wo man bis an die Mitte des Körpers einsinkt, bald an stei-
len Höhen auf und ab, in welchem letzteru Falle wir oft-
mals gezwungen sind zu rutschen, besonders wenn von einer
Ziege die Rede ist, welche gewöhnlich die Jagd in die schwer-
sten Abhänge leitet. Haben die Hunde ein Schwein erreicht,
so müssen wir ihnen zu Hülfe eilen, falls es ein großer Kei-
ler ist, denn dieser schlägt sich immer tapfer. Sobald wir
ankommen, sehen wir das Schwein in vollem Kampfe mit
den Hunden, welche dasselbe festzuhalten suchen, indem sie sich
ihm an die Ohren hängen. Ich Pflege in solchen Fällen
vorzulaufen und das Schwein bei den Hinterfüßen zu packen,
während Egerström ihm das Messer in die Brust stößt. Ist
das Thier tobt, so werden die Beine zusammengebunden und
eine Stange hiudurchgesteckt, um es nach Haufe zu schaffen,
was oft noch ein tüchtiges Stück Arbeit ist; denn bisweilen,
wenn wir mitten in dornigem Gebüsch sind, sieht es gerade
so ans, als ob wir unmöglich hinkommen würden. Sobald
wir aber glücklich angelangt sind, Pflegen wir, so wie wir
gehen und stehen, in das Meer zu springen und die Jagd-
andenken, Schmutz und Blut, abzuwaschen. Die armen
Hunde kommen nicht immer so wohlfeilen Kaufes davon;
denn oft genug erhalten sie schwere Wunden von den gereiz-
teil Keilern. Das größte Zimmer in unserm Häuschen
enthält die Trophäen unserer Jagden; auf dem Fußboden
liegen die Häute der größten Keiler, auf Stühlen und So-
phas Bock- und Ziegenfelle; Mützeu und Kissen von der-
selben Art Fellen giebt es ebenfalls; wir könnten, wenn wir
>ler auf den Fidschi-Inseln.
wollten, uns wie Robinson Crusoe Kleider davon machen.
Doch macht das hiesige warme Klima die Kleider ziemlich
entbehrlich: wir gehen auch so leicht als möglich gekleidet.
Seit meiner Herkunft hat das Thermometer im Schatten
nicht unter 74 nnd nicht über 90 Grad Fahrenheit (23 bis
32° Celsius) gezeigt. Wir würden gewiß größere Hitze ha-
beu, wenn nicht der stets wehende Seewind die Luft abkühlte.
Wir lebeu hier in einer Einsamkeit, welche selten von
einem weißen Manne unterbrochen wird; doch haben wir in
diesem Jahre von dem englischen Consul, einem noch in
Diensten stehenden Cavalleriemajor, Namens Jones, einem
Veteranen aus dem Krimkriege, Besuch gehabt. Er brachte
einige der vornehmsten Männer der Inseln mit; sie wollten
eine Durchwanderung der Jnfel Viti Levu versuchen, welche
die Eingeborenen bis jetzt noch keinem weißen Manne ge-
stattet hatten. Wie wir späterhin erfuhren, gelang ihr Vor-
haben vollständig, was sie besonders dem den Weißen ge-
wogenen Berghäuptling Koroduadua zu verdanken hatten.
Einer der Begleiter des Cousuls, ein Doctor Graiffs, ein
geborener Schweizer, kam einige Monate später hierher und
blieb vier Tage, um in aller Gemächlichkeit die Flora und
Fauua der Insel zu studiren. Es darf Keinen Wunder-
nehmen, daß die vier schwarzen Begleiter des gelehrten Doc-
tors ihn für einen Narren hielten, wenn er ihnen die krie-
chendeu Wesen bezahlte, welche sie von ihrer Kindheit an
für ganz werthlos halten. So oft sie zusahen, wie der Doc-
tor mit einem Ausruf des Entzückens etwas von ihrem
Fange in die Flaschen steckte, standen sie da und hielten die
Hände vor den Mund, um ein halb ersticktes Lachen zu ver-
bergen.
Trotz unserer Einsamkeit könnten wir zufrieden mit un-
serer Welt leben, wenn wir nur vor der Bosheit und den
Neckereien der Eingeborenen in Ruhe sein könnten. Doch
sind sie jetzt bedeutend besser als vor meiner Ankunft, denn
der Krieg zwischen den Berg - und Küsteubewohuern wurde in
diesem Jahre aus beiden Seiten lahm geführt, und es ist
auch seit drei Monaten wegen des Friedens unterhandelt
worden. Außerdem gewinnt das Christenthum immer mehr
Raum, und obgleich eine lange Zeit erforderlich ist, ehe sich
die Folgen davon bei einem so gesetzlosen und unbändigen
Volke, wie deu Fidschianern, zeigen können, so dürfen wir
doch hoffen, daß in der Zukunft Leben und Besitz von ihnen
mehr als bisher respeetirt werden. Der Cannibalis-
mus, an den man in Europa kaum glauben will, ist wäh-
rend des fünfjährigen Krieges, der hier gewüthet hat,
im Großen ausgeübt worden. Hunderte von Menschen,
gewöhnlich Kriegsgefangene, sind gefressen worden, und als
Egerström neulich auf einer Reife an der Küste war, fah er
Haufen von Menschengebeinen am Ufer vor den Dörfern
der Fidschianer liegen. Vor dem Beginne des Krieges wa-
reu in dieser Gegend acht bedeutende Dörfer, von denen jetzt
kein einziges mehr vorhanden ist; denn theils sind dieselben
zerstört worden und die Bewohner mit ihnen, theils ist die
Zahl der letzteren zusammengeschmolzen, die Überlebenden
sind geflohen und haben sich mit den Leuten entfernterer
Dörfer außerhalb des Kriegsgebietes vereinigt. Bei meiner
Ankunft war von den erwähnten acht Dörfern nur ein ein-
ziges übrig, nämlich Nufilauga, eine halbe Meile von
hier entfernt, an einem kleinen Flusse, der in einen von Viti
Levu im Norden und Westen und von Nagara im Süden
gebildeten Meerbusen mündet. Ich war erst wenige Tage
hier gewesen, als einige Männer von Nusilanga, welche hier
gearbeitet und von Egerström als Bezahlung eine Axt er-
halten hatten, auf dem Wege nach Hanfe einen von ihren
Feinden, einen Bergbewohner, sahen, welcher um ihr Dorf
schlich, in der Absicht, wie die Nnsilangamänner hernach er-
Erlebnisse schwedischer Anst«
zählten, sich seine ihm vor einigen Tagen entlaufene Frau
wiederzuholen. Der arme betrogene Ehemann, der die Ge-
legenheit abwartete, seine treulose Gattin zu überraschen und
wieder zu erhalten, wahrscheinlich um sie hernach ans Fidschi-
weise mit der Keule zu erschlagen, wurde selbst vou den er-
wähnten Fidschimännern überrascht, und nach einem kurzen
Kampfe durch einen Schlag mit Egerström's Axt, der ihm
den Kopf spaltete, getödtet. Die Fidschianer kamen am sol-
genden Tage in einem Canot hierher mit dem Leichnam ihres
Feindes, der als ein werthvolles Geschenk zu einem der be-
nachbarten Dörfer gebracht werden sollte, um dort verzehrt
zu werden. Sie konnten sich nicht genug bedanken für die
fcharfe Axt, die Egerström ihnen gegeben hatte. Bald dar-
auf tödteten die Bewohner von Nnsilanga einen ihrer eige-
nen Kameraden, der mit verrätherischen Plänen umging,
und dieser wurde, wie gewöhnlich, aufgefressen.
Am Ende des Juli kamen einige Hundert Bergbewohner
nach unserer Insel, alle mit geschwärzten Leibern, wie bei
Kriegsexpeditionen der Gebrauch ist, bewaffnet mit Geweh-
ren, Keulen, Spießen n. s. w. Ihr Häuptling, Ro Seru,
schlug selbst sein Hauptquartier in dem Nusilaugadorse auf,
während seine Männer in der Erwartung seiner Herkunft
sich mit dem Durchstreifen der Insel die Zeit Vertrieben,
und außer uuse'rer besten Racesau so viele wilde Schweine
stahlen als sie habhaft werden konnten. Egerström ging
hinaus, um mit ihnen zn reden, und versuchte sie mit guten
Worten uud mit Drohungen von hier hinwegzubringen; da
aber dieses uicht gelang, sondern sie im Gegentheil ihn mit
dem Tode bedrohten, so blieb uns nichts anderes übrig, als
uns in Verteidigungszustand zu setzeu und eines Angriffes
gewärtig zu sein, sobald es ihrem Häuptling belieben würde,
sich einzufinden.
Dieser, der schon zuvor hier zum Besuch gewesen war
nnd sich dabei so unverschämt aufgeführt hatte, daß Eger-
ström genöthigt gewesen war, ihn mit der Drohnng wegzu-
treiben, er würde ihm eine Kngel durch den Kopf jagen,
wenn er sich noch einmal sehen ließe, hielt es gleichwohl
für gerathener, in Nnsilanga zu bleiben, denn er wußte sehr
wohl, daß eine solche Drohung nicht zu verachten war.
Auch hatten wir uns vorgenommen, wenn wir angegriffen
würden, zu allererst diesen Häuptling zu erschießeu, welcher
sowohl hier als auch anderswo schwere Verbrechen gegen die
Weißen begangen hatte. Im vorigen Jahre griff er vier
Engländer an, die eine Meile von hier wohnten, zündete ihr
Haus an und stahl alle ihre Habseligkeiten, ihre Kleider ein-
berechnet, so daß sie bei ihrer Ankunft auf Nagara ganz
entblößt waren. Nachdem wir drei unruhige Tage in steter
Erwartung eines Angriffes von den heulenden, teuflischen
Menschen erlebt hatten, wurden wir endlich durch ihren Ab-
zug von ihnen befreit.
Einen Monat später kam das englische Kriegsschiff „Esk"
an, hergeschickt von Commodore Wifeman, um die Klagen,
welche die europäische Bevölkerung gegen die Eingeborenen
zu erheben hatte, anzunehmen. Egerström, der in den letz-
ten drei Jahren unaufhörlich angegriffen nnd dem viel Werth-
volles Gut geraubt worden war, gehörte natürlich zn der
Zahl derjenigen, welche den meisten Grund zur Klage hat-
ten. Er reiste selbst uach Lewuka und war auch auf dem
ler auf den Fidschi-Inseln. 297
Kriegsschiffe an Bord, leider aber hatte er als Beklagten
einen allzu mächtigen Mann, nämlich Natu Draningbaka
gegen sich, als daß er hätte Gerechtigkeit finden können..
Auch bei dem temporären Richter über Fidschi gab es Par-
teilichkeit, die so viel Unheil anrichtet; doch ist immer noch
Hoffnung vorhanden, daß der erwähnte Natu Draningbaka
verurtheilt wird, den Verlust von etwa 500 Thalern, den er
Egerström verursacht hat, zu ersetzen. König Thakumbau,
der auf „Esk" an Bord war und die Sache seines Bruders
vertheidigte, machte zwar das Anerbieten, er wolle in Le-
wnka bleiben, bis Ratn Draningbaka, der eben auf einem
Kriegszuge war, selbst ankommen könnte, und da hätte Eger-
ström vielleicht sein Recht bekommen; weil aber „Esk" bald ab-
segeln wollte, und Niemand wußte, wie bald Natu Drauiug-
baka kommen würde, so wollte Egerström nicht darauf ein-
gehen.
Als Egerström auf der Rückreise uach Bau kam, begeg-
nete er der Flotte des Natu Draningbaka, welche jetzt sieg-
reich von der Kriegsexpedition nach der nordwestlichen Küste
von Viti Levu zurückkehrte uud viel Geräusch durch Trom-
melu und Gesang machte. Dazu hatte sie denn auch große
Ursache, denn sie hatte etwa dreißig feindliche Dörfer einge-
nommen und zerstört. Die Kriegsleute, welche Christen
waren, prahlten damit, daß sie das Leben der Weiber nnd
Kinder verschont und in den eroberten Dörfern nur die
Männer erschlagen hätten. Doch wußte die Malice, welche
hier aus Fidschi eben so thätig ist als anderswo, späterhin
zu erzählen, daß die Banisten, so gute Christen sie auch
sein mochten, ganz im Geheimen eine Menge der Leichname
ihrer Feinde mitgenommen hätten, um sie auf der Rückkehr
zu verschmausen. Egerström's Klage gegen Ro Seru
wurde ernster genommen; dieser wurde verurtheilt, gefesselt
und geprügelt zu werden, sowie er auch Schadenersatz geben
sollte; als man aber das Urtheil ausführen wollte, sah man
ein, daß es unmöglich sein würde, seiner in den nndurch-
dringlichen Wäldern im Innern von Viti Levu habhaft zu
werden. Da beschloß denn „Esk", sich nach Serna, einem
bedeutenden Dorfe fünf Meilen von hier, zu begeben, wo-
selbst der Oberhäuptling Ro Sern's, der ihn auf feine Raub-
züge ausgeschickt hatte, wohnte. Doch kam das Gericht vor
der Ankunft des Kriegsschiffes und der beabsichtigten Zer-
störnng Seruas vor demselben an, so daß der Häuptling
mit allen seinen Leuten das ans einer kleinen Insel belegene,
stark befestigte Dorf verließ uud auf das Festland floh.
Gleichwohl gelang es dem Schiffseapitän, den Häuptling ge-
fangen zu nehmen, und dieser hatte nun das Vergnügen,
auf dem Schiffe zu bleiben, so lange dieses bei Fidschi war.
Sein Dorf wurde verschont, dagegen aber er selbst zu sehr
hohen Bußen (als 50 Schweinen, einer Menge Tripang und
Balken :c.) an alle diejenigen, welche er selbst oder Ro Seru
beleidigt hatte, verurtheilt. Egerström erhielt fünf von den
erwähnten 50 Schweinen, was gleichwohl ein geringer Ersatz
für dasjenige war, was er verloren hatte. Sechs andere
Fidschianer wurden zu Prügeln verurtheilt, welche sie auch
an Bord auf „Esk" erhielten. Dieses Schiff umsegelte
ganz Viti Levu, und zerstörte dabei durch Bombardement
die Dörfer, deren Bewohner gegen die „Weißen" Verbrechen
begangen hatten.
Globus XIX. Nr. 19. (Juni 1871.)
33
298
Richard Andree: Slavische Annectirungen.
Slavische Annectirungen.
Von Richard Andree.
I.
Es war ein schöner Maitag des Jahres 1859, als ich
zum ersten Male in das Thal des Beraunflnsses trat, das
damals noch fernab von den Eisenbahnen lag und nur selten
von Fremden besucht wurde. Je mehr man sich dem Mittlern
Laufe dieses schönen Waldstromes im Herzen Böhmens nä-
hert, desto romantischer wird die Gegend. Ringsum säumt
dichter Wald die Ufer ein, plätschernd strömt die Flnth über
breitgezogene Wehre hin, welche dem Wasser Kraft verleihen,
die zahlreichen Eisenwerke zu treiben; alte verwitterte Ruinen
schauen herab auf den Strom. Dieser ist belebt von zahl-
reichen Flößen, welche den Holzreichthum der Gegend zur
Moldau hinabführen. Immer weiter rücken die Dörfer aus
einander, immer ärmer wird das Culturleben; aber die Na-
turfchönheiten werden reicher. Zunächst fesselt unsern Blick
das Eisenwerk Althütten, das, wie der Name schon besagt,
aus alten Zeiten stammt; auch fand ich in einem alten tsche-
chischen Urbarinm des Berauner Kreises die Bemerkung,
daß die „hut' stara za Berounem", die alte Hütte bei Be-
raun, im Jahre 1553 ihrem Besitzer einen Reingewinn von
1500 Gulden abgeworfen habe. Jetzt mag sie das Huu-
dertfache ergeben.
Drinnen kocht das Eisen in den Puddelöfen, hoch schlägt
die rothe Lohe aus den zahlreichen Essen, und leichtbekleidete,
schwarzrußige Gesellen bringen das weißglühende Metall
aus den Oesen unter die unaufhörlich schwirrenden Walzen,
aus denen es zu Schienen oder Blech geformt hervortritt.
DieTfchechen sind treffliche Eisenarbeiter. Leicht und geschickt
wissen sie sich alle nöthigen Handgriffe anzueignen, und ver-
spricht man ihnen bei dem schwierigen Werke noch Bier, dann
sind sie auch ausdauernd. Bon Alters her wußten sie die
Eisenerze auf eine einfache Weise zu bearbeiten, und die tsche-
chische Sprache besitzt für die verschiedenen Zustände des
Metälles: Gußeisen (litina), Schmiedeeisen (zelezo) und
Stahl (ocel) eigene Ausdrücke. Wir beHelsen uns da mit
Zusammensetzungen. Fragt man aber einmal nach den Be-
zeichnuugeu für die technischen Vervollkommnungen im
neuern Hüttenbetrieb, dann hört man hier sofort nur deutsche
Namen.- die Gicht, die Formen, das Gestell, der Tümpel
beim Hochofen, die Hämmer, das Poch- und Quetschwerk,
das Gezähe, Alles wird, nur ein wenig verunstaltet, deutsch
benannt.
Die Leute sind gefällig, mittheilsam, und nach gethaner
Schicht im Hostinec (Wirthshaus) mögt Ihr sie ausfragen
nach ihren socialen und nationalen Ansichten. Sie gehören
zu den Vorgeschrittenen und schwören auf das Programm
der Ultras. Das macht sie aber für die Romantik nicht uu-
zugänglich, das Volkslied und die Sage finden bei ihnen
eine gute Stätte. So erzählen sie denn auch, in ihren Eisen-
ösen habe — die Zeit läßt sich nicht mehr bestimmen —
der böse Jäger Robert seinen Tod gefunden, Robert, „dem
längst von böser Schadenlust die gist'ge Seele schwoll". Aber
er hatte es verdient, denn wer Anderen eine Grube gräbt,
fällt selbst hinein. Robert aber wollte — den frommen
Knecht Fridolin umbringen, denn hier, nur hier ist der
echte Schauplatz vom „Gang nach dem Eisenhammer". Die
Gegend ist dazu auch wie geschaffen; ein halb Stündchen
stromaufwärts erhebt sich stolz Schloß Nischburg; dort war
der Grafensitz, und Althütten gegenüber liegt im Dorfe
Stradonitz die Liboriuscapelle, wo Fridolin als Ministrant
dem Priester diente.
Wie kommt diese Sage hierher? Läßt nun auch im
Allgemeinen das Dasein gleicher Sagen uud Märchen bei
Deutschen und Tschechen nicht immer auf Entlehnung des
einen Volks vom andern schließen, so ist dies doch im vor-
liegenden Falle in der That so gewesen; denn als vor etwa
zwanzig Jahren die neue Liboriuscapelle an Stelle der alten,
eingerissenen erbaut wurde, fand der einweihende Priester
in seiner Predigt es für gut, Schiller's „Gang nach dem
Eisenhammer" hierher zu verlegen und unsern Dichter nach
dem „tschechischen" Stoffe arbeiten zu lassen. Seitdem
erst ist die Geschichte vom Fridolin im Berauuthale bekannt,
und ein Wirthshans bei den nahen Eisenhochöfen trägt daö
stolze Schild „Beim Fridolin".
Die Sache ist an und für sich harmlos, sie fällt aber
in das Gebiet weniger harmloser und systematischer geistiger
Annectirungen. Der Gegenstand ist zu charakteristisch, als
daß ich nicht näher darauf eingehen sollte.
Wie wir im Privatleben gar oft solchen begegnen, die
über die Grenze von Mein und Dein sich dreist hinwegsetzen,
so auch im Völkerleben. Große, reiche Nationen pflegen
sich über ihr geistiges Eigenthum leicht zu verständigen; man
feilscht und mäkelt nicht um Pfennige. Der Streit, ob Karl
der Große ein Deutscher oder ein Franzose gewesen, ist jetzt
ein ziemlich müßiger; politisch genommen gehörte er beiden
Völkern. Uns fällt es nicht ein, den in Mömpelgard ge-
borenen Cnvier, oder Ney, Bassenstein, Kleber zu
Deutschen machen zu wollen, so wenig wie die Franzosen
Chamisso in ihren Literaturhimmel versetzen. Auch die
Schotten, welche genug große Männer die Ihrigen nennen,
reclamiren Friedrich's des Zweiten General Keith keines-
Wegs für sich.
Anders schon gestaltet sich das Verhältniß zwischen Jr-
ländern und Engländern; hier steht ein armer, unter-
drückt« Mann gegenüber dem reichen und freien. Sehen
wir ab von den Liedern Ossian's, die, gleichviel ob echt, ob
unecht, einst die ganze gebildete Welt in Aufregung versetz-
ten, was bleibt da noch übrig, was die keltischen Briten den
germanischen an die Seite setzen könnten? Das Uebergewicht
der Engländer mußte von irischen Patrioten ausgeglichen
werden. Vor etwa zehn Jahren hat ein Jrländer ein ziem-
lich langweiliges Buch geschrieben, um zu beweisen, daß
Shakespeare aus Wales gebürtig war; das Hauptargn-
ment darin lautete echt irisch, daß nur ein Kelte solches Genie
besitzen konnte. Odilon Bar rot wurde in der Zeit seines
Ruhmes von irischen Blättern O'Dillon Barott geschrieben;
General Cavaignac hieß ursprünglich Cavanagh, und Papst
Pius der Neunte aus der Familie Mastai Ferretti hatte
einen Massey O'Ferraghty zum Großvater, während Gari-
baldi kein anderer als der leibliche Enkel jenes Garrett Bald-
Win ist, der zur Zeit der Unruhen von 1789 glücklich nach
Italien entkam und seinem irischen Namen einen mehr süd-
lichen Klang zu geben suchte.
Ein Sprüchwort sagt: Es geht den Menschen wie den
Leuten. In einem ähnlichen Verhältnisse, wie die Iren zu
Richard Andree: Slavische Annectirungen.
299
den Engländern stehen, befinden sich auch die Slaven zu
den Deutschen; hier wie da wiederholt sich dasselbe, und so
finden wir denn auch bei den uns zunächst wohnenden Polen
und Tschechen denselben Annectirnugstrieb. Als mildernd
für denselben wollen wir gern anerkennen, daß alle neuen
Bewegungen anfangs leicht Uber die Schranken schlagen.und
daß der brausende Uebermuth der Jngend nicht immer genau
die richtigen Grenzen einhält. Das Culturlebeu der
slavischeu Völker ist, trotz allem, was man dagegen vor-
gebracht hat, doch noch sehr jung, und da sind ja Ausschrei-
tuugen nicht zu streng zu beurtheilen. Das Strebe«, es dem
Bessern, Höhern gleich zu thuu, ist immer anerkennenswerth,
nur dürfen die Mittel dazu keine verwerflichen sein; man
muß aus dem Eigenen heraus schaffen und nicht zum geisti-
gen Diebstahl greifen. Nirgends macht sich eine größere
Ännectirnngsfncht breit, als gerade unter den Slaven, vor-
zttglich aber unter den Tschechen, trotzdem wir von ihnen
tagtäglich versichern hören: Wir wollen nichts von Euch
Deutschen, Ihr habt uns nur Uebles gebracht; wir sind
stark genug, auf eigenen Füßen stehen zu könuen.
Die Eingriffe der Tschechen in fremdes geistiges Eigen-
thum sind nicht erst von heute; dieses Bestreben ist schon ein
altes, nicht nur wir Deutschen wurden geplündert, nein, man
staune! — auch die alten griechischen Dichter wurden zu
Slaveu gestempelt. Weiland Kaiser Rndolph's des Zwei-
ten Kanzler, Johann Jacob Curtius (geb. 1554), war
ein gewaltiger Slave, und im patriotischen Uebereifer vindi-
cirte er alles Große und Herrliche seiner Nationalität. Nach
ihm war Anakreon nicht zu Teos in Jonien, sondern in
der Umgegend von Leitomischl geboren; auch das
berühmte Buch des Thomas a Kempis „von der Nach-
folge Christi" stammte nicht von diesem, sondern von einem
Slaven her. Das Geschichtchen vom Jan Kuttenberger,
welcher die Bnchdruckerkunst erfand, das wir unten näher
besprechen werden, war ihm gleichfalls fchon bekannt. Cur-
tius belegte alle feine Ansichten mit gelehrten Gründen, die
ihn jedoch keineswegs vor dem Fluche der Lächerlichkeit be-
wahren konnten.
Sein Nachfolger war der Erfinder des Panflavismus.
Der Slowake Jan Kollar, der für alles Slavifche hoch-
begeisterte Mann, hatte weite Reisen unternommen; wo er
hinkam und etwas Gutes sah, wußte er sofort den flavischen
Ursprung desselben nachzuweisen. Berüchtigt geworden ist
in dieser Beziehung seine: „Reisebeschreibung über eine Reise
nach Oberitalien und von da über Tirol und Baiern, mit
besonderer Berücksichtigung auf slavische Lebenselemente, be-
endet im Jahre 1841" (Pesth 1843). Das Resultat der
antiquarischen Untersuchungen (oder Phantasien) Kollar's
findet sich S. 204 in folgenden Worten zusammengezogen:
„Mit einem Worte, Geschichte und Geographie, Sprache
und Sitten und tausend andere Veranlassungen und Um-
stände liefern den unumstößlichen Beweis, daß schon in der
Urzeit, vor den Römern und Kelten, nicht nur in ganz Ober-
italien, in der Lombardei und im Venetianischen, sondern
auch in der Schweiz, in Tirol und einem Theile Baierns,
in Rhätien und Noricum Wendoslaven wohnten, uud daß
der Baum des italienischen Lebens seine Wurzel
in slavischem Boden hat."
Nach Kollar sind unter anderen folgende geographische
Namen flavischen Ursprungs: Bobio, Belluno, Prent«,
Brescia, Como, Cremona (vergl. Kreml, Kiemen — Feuer-
stein), Garda, Ancona (slavisch Jakiii), Genua (slavisch
Janova), Lecco, Leguauo, Lugano (vergl. Lüh, Sumpfwiese),
Malghera, Mautova, Modena (Mutina, deutsch Mutters-
dorf, Ort in Böhmen), Padua, Ravenua, Rubauo, Sa-
voyen, Ticino, Trevifo (slavisch Trebi«), Venetia, Vicenzaje.
Wie mit den Italienern sprang Kollar auch mit den
Deutschen um. Was groß, gut und schön ist in Deutschland,
das wurde zur größern Ehre der Slaven von ihm feierlich
und in seiner Weise wissenschaftlich in Besitz genommen. So
ist der Hansabund ihm nach Wort und Sache urslavisch.
Das Wort Hansa kommt nämlich von der flavischen Wurzel
anziti, waziti, binden. Uza, auza oder mit dem Rhines-
mns Anza, Hanza ist bei Kollar Einheit oder Bund von
Handelsstädten; das Ii im Worte Hansa ist bloß Aspiration.
Hierher gehört nach ihm auch das italienische Compagno,
Compagnia, slavisch Konrpan, von der Wurzel Lopa, mit
dem Rhinesmus Kumpa, d. i. Gesellschaft; ferner Kamerad.
Es gehört das germanische Lodismau, Lotse vom flavischen
lod' (Schiff); das deutsche Wort Waare, vom flavischen
towar (Waare); das deutsche Kram, Krämer vou chräm
hierher it. s. w. Daß der größte Theil dieser Wörter von
den Slaven, welche hier aus dem Jaderischeu (Adriatischeu),
dort auf dem Baltischen Meere Handel und Schifffahrt trie-
ben, fchon in uralter Zeit zu einigen benachbarten, vorzüg-
lich italienischen und germanischen, von Krieg und Fang sich
nährenden Völkern übergegangen ist, ist daraus zu ersehen,
daß das Wort Hanza den Gothen schon im vierten Jahr-
hundert bekannt war, denn Ulfilas braucht es im Jahre 360
in der Ueberfetzuug des Evangeliums des Marcus, indem er
sagt: Hanza mikila manageins, d. i, eine große Menge
Volkes. Dieses Wort Hansa erborgten die Gothen von den
Slaveu, sowie auch andere gleichfalls von Ulfilas gebrauchte
Ausdrücke, z. B. dulgs, slavisch dluh, Schuld; plats, sla-
visch plat', Bezahlung; sinopeis, slavisch zupan, Herr;
skosl, slavisch kuzlo, lange Kleidung.
Kollar ist der Typus der slavischeu Aunectirnngssucht,
die sich am besten in der folgenden Geschichte wiederspiegelt,
welche Kollar im Jahre 1835 erlebte. Damals kam er
nach Bamberg; vor dem Haupteingange der alten Domkirche
liegen ein paar steinerne Figuren, welchen Kollar feine volle
Aufmerksamkeit zuwandte. „Kaum erblickte ich die Denk-
mäler," erzählt er, „so hüpfte mir das Herz vor Freude,
denn ich schloß schon aus der äußern Gestalt, daß dieses ein
slavisches Werk sei." Er ging weiter und fand mit seiner
kühnen Phantasie, daß die Gestalten zwei ungeheure steinerne
Götzen in Lömengestalt vorstellten, daß sie nur ein Bild des
flavischen Gottes Tschernebog sein könnten, ja, daß sie mit
Runen bedeckt seien, welche den Namen der Götzen ans-
drückten. Kollar brachte sogar den historischen Beweis bei.
Bischof Otto von Bamberg, der Apostel der pommerschen
Slaven, hatte die drei Häupter des Götzen Triglaw an Papst
Calixtus gesandt, und er war es auch, der diese Prachtexem-
plare des schwarzen Gottes nach Bamberg brachte. Wie
alle Entdeckungen Kollar's von der flavischen Welt mit Freu-
den begrüßt wurden, so anch diese. Schafarik, bei dem wir
sonst ein ruhiges Urtheil finden, schrieb im Jahre 1837 in
der „Zeitschrift des böhmischen Museums" eine zustimmende
gelehrte Abhandlung zu Kollar's Behauptung, und erhob
darin die Runen auf den Bamberger Götzen zu den einzig
wahren Mustern slavifcher Schrift.
Wie löste sich nun die wunderbare Entdeckung? Die
Deutschen scheinen sich nicht viel darum gekümmert zu haben;
ihnen waren die flavischen Runen jedenfalls zu Unverstand-
lich. Die Enthüllung blieb einem Slaven vorbehalten. Im
August 1851 kam ein gelehrter Pole, Dr. W. Cybulski,
nach Bamberg und untersuchte dort die Kollar'fcheu Götzen.
„Schamröthe trat in meine Wangen, als ich diese Götzen,
ein Gebilde der rohesten uud gröbsten Art, fand." Das
sind Cybulski's Worte. Seine Untersuchung kommt im We-
sentlichen dann anf Folgendes hinaus: In der Lebensbeschrei-
38*
300 Wasserfluten, Erdbeben und
bnng des heiligen Otto ist von diesen Götzen nirgends die
Rede; dieselben sind weiter nichts, als zwei rohe steinerne
Löwen, die aus demselben Materials wie die Domkirche be-
stehen, und mithin ans demselben Steinbruche wie diese
stammen dürften. Um der Sache die Krone aufzusetzen, zeigte
der polnische Gelehrte, daß die Kollar'sche Runenschrift
gar nicht existire, daß sie lediglich ein Phantasiegebilde Kol-
lar's sei, dessen hyperslavisches Auge zufällige Scharten und
unregelmäßige Risse für Runen ansah!
Die Tschechen sind durch solche Erfahrungen keines-
wegs gewitzigt worden, sie fahren in der alten Art und Weise
fort. Bekanntlich erwuchsen ihnen auf dem Gebiete der Künste
keine großen Männer; sie haben keine Componisten, keine
Maler, keine Bildhauer, die bahnbrechend aufgetreten wären
und die daständen neben den Heroen anderer Völker. Um
dem Maugel abzuhelfen und die fühlbare Lücke auszufüllen,
begann man sinnreiche Raubzüge in die Koryphäenwelt der
Nachbarvölker anzustellen. Zu bemerken bleibt hierbei, daß
jedesmal, wenn eine solche Razzia gelungen, und Todte oder
Lebendige glücklich annectirt waren, der Glaube an deren
geistigen Besitz unter den Tschechen auf keinerlei Weise aus-
zurotteu war; mochte auch ein Einzelner den kühnen Fehde-
zng eröffnen, er wußte gewiß, daß ihm die Nation folgte,
denn für diese gab es keine Erfahrungen, wie die mit den
Bamberger Götzen. In der Burg Karlstein befinden sich
zwei schöne Temperagemälde des Tommasino von Mo-
d ena. Da man zur Vervollständigung einer „alttschechischen
Malerschule" noch einiger Meister bedurfte, so wurde Tho-
mas ohne Weiteres annectirt. Grund hierfür: Der Maler
schrieb sich äs Mutina (denn so lautet der alte lateinische
Name für Modena), uud da nun im Klattaner Kreise ein
tschechisches Dorf Mutina liegt, so mußte der Künstler dort
geboren sein. Quod erat demonstrandum. Nur allein
gelbes Fieber in Südamerika.
der berühmte Slavist Abbe Dobrowsky belächelte diesen Wahn,
und Seroux d'Agincourt bewies später die italienische Abkunft
des Künstlers (Mikowetz, die Burg Karlstein, S. 20).
In der Musik ist man nicht anders verfahren, als in
der Malerei. In Prag kann man vielfach ein Tableau
sehen, auf welchem die berühmten Männer des tschechischen
Volkes 'zusammengestellt sind. Da es an einem Manne
fehlte, welcher darauf die Musik würdig vertreten hätte, so
ward Gluck zum Tschechen gestempelt. Arme Ober-
Pfalz! Du hast Dir einen Deiner größten Söhne rauben
lassen müssen, nur weil er längere Zeit in Prag lebte. Als
des Meisters „Armida" auf der tschechischen Bühne vor eini-
ger Zeit ausgeführt wurde, da ward auch die „Streitsrage"
wieder laut, und als die Nationalität Glnck's nicht bestritten
werden konnte (er ist bekanntlich 1714 zu Weidenwang ge-
boren), da entdeckte man, daß wenigstens sein Lehrer
(Tschernohorsky) ein Tscheche gewesen. Auch Karl Maria
von Weber, bekanntlich zu Eutin geboren, ward im Jahre
1861, „als dem Wesen seiner Musik nach", zum Tschechen
gemacht, und warum? Weil er im Freischütz einige tschechi-
sche Volksweisen (darunter den „Jungfernkranz") benutzt
hatte und Eutin (Utin) vor 600 Jahren noch slavisch war.
Es ist nicht möglich, alle die vielen Sünden anzuführen,
die von Seiten der Tschechen in dieser Beziehung begangen
wurden. Aber was soll man dazu sagen, wenn der Mann,
dessen Geist das deutscheste Gepräge an sich trügt, wenn
Lessing zum Slaveu gemacht wird? „Denn" sein Name
ist von Lesni, Waldmann, Förster, abzuleiten, und sein Ge-
burtsort, Kamenz, ward ehedem von Wenden bewohnt. Nes-
sel, der Erfinder der Schiffsschraube, von deutschen (sächsi-
scheu) Eltern in Chrudim in Böhmen geboren, muß jetzt zur
Glorificirung des Tschechenthums mit beitragen helfen!
Wafserfluthen, Erdbeben und
A. Die vor uns liegenden Berichte aus Südamerika,
welche die Monate Februar und März umfassen, enthalten
ein langes Verzeichniß entsetzlicher Calamitäten. ' Es ist in
der That so, als ob die Natur aus den Fugen gegangen sei.
Am Himmel merkwürdige Meteore, dergleichen man nie
zuvor beobachtet hat; Stürme von nngesesselter Wuth in
den Cordilleren auf Strecken von mehreren hundert Mei-
leu; Regengüsse ohne Ende, Seuchen bei Menschen und
Vieh, und dazu uoch Erdbeben auf einer Anzahl verschiedener
Punkte.
Peru, das vor wenigen Jahren so schwer heimgesucht
wurde, war auch jetzt wieder Schauplatz beklageuswerther
Ereignisse, deren Eintreten, dem Volksglauben zufolge, durch
„Zeichen und Wunder am Himmel" im Voraus verkündigt
wurde.
Ueber Tacna brauste im Februar (wir finden den Tag
nicht angegeben) ein elektrischer Orcan dahin. Der
schneebedeckte Gipfel des Tacora war Mittelpunkt dieses
„Brandes am Himmel", welcher volle zwei Stunden anhielt
und einen zugleich Schrecken erregenden und wunderbaren
Anblick gewährte. Die Blitze hatten vielfach Gestalten, wie
man nie zuvor gesehen, und die Donnerschläge waren von
einer Heftigkeit und Gewalt ohne Gleichen. Am Abend
vorher folgten mehrere Erdstöße rasch auf einander.
gelbes Fieber in Südamerika.
Am 12. Februar fiel bei Pichicani ein Meteor; es
war rund wie eine Kugel, roth, und nahm im Fallen eine
derartige Gestalt an, daß es nach unten zn spitz wurde. Als
es zur Erde siel, erfolgte eine Explosion, und dadurch ent-
stand eine dichte Wolke; von mehreren Hütten wurden die
Dächer fortgerissen, und aus 'einer Strecke von etwa 300
Ellen wurde ein Erdzaun umgeworfen. Unter und zwischen
den Steinen, welche beim Niederschlagen dieses Aeroliths
umhergeschleudert worden, sand man todte Fische verschiede-
ner Art, die wahrscheinlich durch Wirbelwind aus dem be-
uachbarteu Flusse herausgerissen und dann auf dem Lande
umhergeworfen worden sind. Auch in der Umgegend von
Hnaco chullo und Atncachi sielen Meteore, zum großen
Schrecken des Volkes.
Em großer Theil der pacisischen Küste Südamerikas ist
bekanntlich ganz ohne Regenfall. Während in Bnena-
Ventura elf Monat im Jahre feuchter Niederschlag vorkommt,
beginnt weiter südlich, gleich bei Tumbez an der peruanischen
Grenze, das „ewig trockene Gestade". Die Küste ist sandig,
öde, fast ohne Vegetation. Die in das Gestadeland einge-
rissenen Thäler bilden den Abzugsweg für die aus dem Hoch-
gebirge herabströmeuden Gewässer und sind von üppigster
Fruchtbarkeit, so weit der Boden bewässert werden kann; wo
das nicht möglich ist, bleibt das Land wüst. Jene regen-
Wcisserfluthen, Erdbeben und
losen Strecken haben jedoch die Garua, einen dichten Nebel,
welcher oft wochenlang die Luft erfüllt und eine der Physika-
tischen Eigenthümlichkeiten von Peru bildet. Au jenen Kü-
steu findet man auch an manchen Punkten Ablageruugeu
von Guano, die sich in einem Lande mit Regenfall nicht hat-
ten anhäufen können. Die Menschen baueten ihre Häuser
uud Hütten mit Rücksicht auf die Erdbeben, nicht, wie wir
in Europa, um Nüsse abzuhalten, die ja nicht vorkam.
Nun ist plötzlich diese regenlose Region von
entsetzlichen Wolkenergüssen heimgesucht worden.
Seit fast einem Jahre richten dergleichen in weit von einan-
der entlegenen Gegenden der Erde große Verwüstungen an.
Ich will an die Ueberschwemmungen in Rom erinnern (Herbst
1870), an jene in den Vereinigten Staaten von Nordame-
rika, in Australien und auf der Landenge von Panama, wo
die Eisenbahn schwer beschädigt und unter Wasser gesetzt
wurde.
Dann ist Peru „von einer Sündfluth" überschüttet wor-
den — in seinen „regenlosen" Gegenden! Im Februar
und März sind Schnee und Eis im Hochgebirge so rasch ge-
schmolzen, wie nie zuvor, zumeist in Folge des warmen Re-
gens im Hochlande, der jetzt auch in die Küstenregion, in die
Nebelgegend der Garua, herabgekommev ist uud, was man
nie zuvor beobachtet hat, auch auf dem Ocean, bis eiuige
hundert Seemeilen weit vom Lande, zu nicht geringem Er-
staunen der Seeleute, welche gewohnt sind, dort nur dichten
Nebel zu siudeu. Au der nordperuanischen Küste wurden
insbesondere die Städte Payta, Pacasmayo, San Pe-
dro und vor allen Dingen Lambayegue schwer betroffen,
der vielen Dörfer und Weiler zu geschweige». Alligatoren
tummelten sich weit und breit im Binnenlande in den über-
schwemmten Gegenden im Wasser.
Lambayeque (6^41^42" südl. Br.) liegt oberhalb der
Mündung des gleichnamigen Flusses, an welchem San
Jos« den Seehafen bildet, und zählte etwa 10,000 Ein-
wohner, welche nie zuvor Regen erlebt hatten. Jetzt lesen
wir in einem Berichte des dortigen nordamerikanischen Eon-
snls: „Lambayeqne ist so gut wie völlig zerstört worden
(Mitte März), nicht bloß durch die Ueberschwemmuug, welche
der Fluß verursacht hat, sondern durch Regengüsse, die
volle vierzehn Tage ohne Unterbrechung anhielten.
In den wenigen Häusern, welche nicht völlig zusammen-
gefallen sind, ist es unsicher, weil die Mauern jede Stunde
eiustürzeu können. Wir haben nach außen keine andere Ver-
bindnng, als vermittelst einiger kleinen Flöße, zweier kleinen
Boote, welche aus San Jose gekommen sind, und noch zweier
anderen, welche uns einige Amerikaner aus Terrmafe ge-
schickt haben. Die Leute campiren nun in Hütten auf den
Sandhügeln und Huacas (— Gräbern aus den Zeiten der
alten Peruaner —); die wenigen Fahrzeuge benutzen wir,
um sie bis an die Pampas zu schaffen. Gerettet wurde
lediglich gar nichts; Alle sind Bettler geworden, auch ich mei-
nerseits büßte all und jede Habe ein. Heute holte ich meine
Familie von einem Sandhügel ab; die nordamerikanischen
Ingenieure und Zimmerleute (— es wird eben an der Eisen-
bahn gearbeitet —) bauen nun eine Brücke, damit ich mit
Frau und Kindern und den wenigen geretteten Kleidern und
Bettstücken nach San Jose mich retten kann. In der Straße,
wo ich wohnte, sind nur drei Häuser stehen geblieben, aber
auch diese völlig unbewohnbar geworden. Eine trockene Stelle
und trockene Kleider kennen wir nicht mehr; wir hatten kaum
so viel Nahrung, um uns leidlich zu sättigen; jetzt sind mehr
als 7000 Menschen auf die Mildthätigkeit der Bewohuer
des Hügellandes angewiesen. Die Zucker- und Baumwollen-
Pflanzungen haben entsetzlich gelitten; Vieh und Ernte sind
fortgeschwemmt worden, und von pflanzen kann in diesem I
gelbes Fieber in Südamerika. 301
Jahre keine Rede sein, da wohl sechs Monate vergehen wer-
den, bevor man den Boden wieder in Angriff nehmen kann/'
Die Eisenbahn zwischen Eten und Chiclayo ist arg be-
schädigt; denn anch im Süden von Peru waren die Ueber-
schwemmungen in allen Flußthälern und den in ihrer Mün-
dungsgegend sich hindehnenden Ebenen allgemein. Die Stadt
Snpe liegt ganz in Trümmern; die Oroyabahn hat viel
gelitten, die Brücke bei Talavera ist fortgerissen worden.
Wir finden weiter angegeben, daß bei Payta (5° 5'30"
südl. Br.), einem bedeutenden Handelshafen, eine ungeheure
Fluthmasse über den Rand der 210 Fuß hohen Hügelebene
bei der Stadt sich in diese ergoß und alle Straßen und Plätze
mit Schlamm uud Trümmern erfüllte; im Zollhaus und in
den Gebäuden der pacisifchen Dampfercompagnie stand das
Wasser ellenhoch. Auch die Städte Tumbez (3°30'40"
südl. Br.), Piura (5° 11' südl.Br.), Leche und andere sind
schwer betroffen worden. Der Schaden, welchen die Ueber-
schwemmuugeu angerichtet haben, beläust sich in Peru aus
Millionen.
Wir wollen in Betreff der Garua noch bemerken, daß
bisher eine Auflösung dieses Nebels in Regen niemals beob-
achtet worden ist; er giebt nur einen feinen, durchdringenden
Niederschlag. Bei Tumbez, das nun, wie eben gesagt,
auch heimgesucht worden ist, hört die Zone des Aequatorial-
regeus auf; dort befindet sich ihre südliche Grenze, welche sie nur
höchst selten und ausnahmsweise um ein Weniges überschrit-
ten hat. Der Nebel befruchtet, fo lauge er seine Saison
hat, die Lomas, d. h. die Hügelreihen; Blumen und Gräser
sprießen auf und das Vieh findet dort zeitweilig Weide. Aber
die Küstensläche unterhalb dieser Lomas, welche als ein 550
Wegstunden lauger Sandstreifen das peruanische Gestade
einnimmt, ist eine Sand- und Kieswüstenei, in welcher die
Flnßthäler vereinzelte Oasen bilden.
Während die Küstengegend ihre Ueberschwemmnng hatte,
tobte das Innere der Erdrinde im Hochlande. Als in der
Cordillere die Orcane wütheten, hatte Puuo, das auf der
Hochebene liegt, ein Erdbeben; in Arequipa, diesem classi-
scheu Boden für derartige Erschütterungen, verspürte man ein
solches am 4. März; am 22. Februar wurde die Hochebene
von Cuudinamarca in Nengranada erschüttert; man ver-
spürte dort in der Hauptstadt Bogota einige Stöße.
Auch in Chile hat es in der jüngsten Zeit nicht an
Erdbeben gefehlt. Dazu kommt in dieser Republik die Rin-
derPest, welche das langhingestreckte Land in seiner ganzen
Ausdehnung heimsucht. Chile bezieht alljährlich viel Horn-
viel) aus Argentinien; dasselbe wird über die Cordillerenpässe
in einer Höhe von mehr als 12,000 Fuß nach der pacifi-
schen Seite getrieben, und durch das argentinische Vieh ist
die Seuche eingeschleppt worden. Auch die Menschen wer-
den von ansteckenden Krankheiten heimgesucht. Die Blat-
teru, welche gegenwärtig ihren Rundgang um den Erdball
halten, sind auch im südlichen Chile zum Vorschein gekom-
men, in einem so durchaus gesunden Lande. In dem vor
uns liegenden Berichte finden wir hervorgehoben, daß die
Krankheit insbesondere in den deutschen Colonien jener
Gegend sehr heftig aufgetreten sei, und daß namentlich in
Osorno mehrere deutsche Familien von derselben hinweg-
gerafft worden seien, während Leute spanischer Abkunft und
Mischlinge ziemlich verschont bleiben.
An der Ostküste von Südamerika ist das gelbe
Fieber aufgetreten. Wir lesen in den Berichten vom April,
daß au der brasilianische» Küste Para und die Häfen
der Provinz Ceara für verdächtig erklärt worden sind, wäh-
rend Pernambnco angesteckt ist und in Bahia die Krank-
heit seit dem 30. März um sich griff.
Keine andere Seuche ist so cnlturfeindlich. Die
302 Aus allen
Cholera richtet schwere Verheerungen an nnd bringt große
Ungewißheit in das ganze Leben nnd Treiben der Länder,
welche von ihr heimgesucht werden. Aber sie erscheint in
längeren, ungewissen Zwischenräumen und scheint im Ver-
laufe der Zeit sich an Heftigkeit abgeschwächt zu haben. Sie
wandert, allerdings in incommensurabler Weise. Das gelbe
Fieber dagegen verläßt in heißen Gegenden niemals das Ge-
biet wieder, welches von ihm einmal, so zu sagen, erobert
worden ist.
Die Civilisation ist in den tropischen Ländern Amerikas
dadurch bedingt, daß eine möglichst große Anzahl weißer
Menschen dort leben und ihren Antrieben folgen können, daß
durch sie europäische Intelligenz nnd Thätigkeit sich einbür-
gern, indem unablässig frischer Zuwachs aus der alten Welt
anlangt. Aber wie mag ein weißer Mensch sich wahrhaft
heimisch und dauernd wohlfühlen in Gegenden, wo jene
Seuche mit grauenhafter Regelmäßigkeit sich einstellt, und
heute Keiner weiß, ob er nicht morgen auf der Todtenbahre
liege?
Die gegenwärtigen Formen, unter welchen das gelbe
Fieber auftritt, haben sich erst allmälig entwickelt; festgestellt
erscheinen sie vielleicht schon seit 1647 (in Westindien), ge-
wiß seit 1699 am Mexicanischen Meerbusen. Nun erscheint
es auf allen Inseln und an allen Küsten, welche der große
atlantische Wasserwirbel berührt, der aus dem Busen von
Guinea kommt. Hauptherde waren bis 1849 die Ostküsten
Amerikas, vom nördlichen Gestade des Mexicanischen Meer-
bnsens bis zu den Mündungen des Amazonenstromes, und
die westindischen Eilande. In diesem Gebiete sind alle
Häfen ohne Ausnahme der Seuche unterworfen; dieselbe ist
indeß anch über die Landenge von Panama und um das
Cap Horn herum an die pacifischen Gestade vorgedrungen.
Dieses Fieber hat seine eigentliche amerikanische Wiege, das
nordatlautische Becken mit seinen eigentümlichen Strömungs-
Verhältnissen, längst verlassen; es ist den Menschen auf seinen
oceanischen Fahrten und mit der größern Verbreitung des
Verkehrs immer weiter gefolgt, es hat sich an den heißseuch-
teu Küsten förmlich eingenistet, während es im Norden über
die Grenze von Georgien hinaus nur vereinzelt auftritt, und
erlischt, sobald Frost eintritt. Sobald in Nenorleans der
erste Reis fällt, ist es dort wie im Nu verschwunden.
Bis 1849 war die Ostknste Brasiliens südlich vom
Aeqnator vom gelben Fieber verschont geblieben; die ganze
lange Küste vom Amazonenstrome bis zum La Plata war
frei; aber in jenem Jahre überspraug es plötzlich diese Grenze,
drang landein bis nach Manaos (Barra do Rio Negro)
nnd am Gestade gen Süden bis Montevideo. Dann blieb
es dort, am linken Ufer des La Plata, stehen und sprang
erst nach 1858 einmal über die Mündung des Stromes
nach Buenos Ayres. (Karl Andree, Geographie des
Welthandels I, S. 346 bis 354, wo eine Geschichte der
Verbreitung und die verschiedene Wirkung des gelben Fie-
bers auf die verschiedenen Menschenracen.)
Im vorigen Jahre lasen wir in südamerikanischen Zei-
tuugeu dann und wann eine Notiz, daß zu Asnncion in
Paraguay, also etwa 100 Meilen landeinwärts, das gelbe
Fieber ausgetreten sei. Das Unterland war von demselben
verschont; die La-Plata-Länder gehören zu den gesundesten
auf der Erde. Das Klima der Stadt Buenos Ayres ist
gleichfalls an sich gesund, obwohl nicht gerade angenehm.
Malariafieber uud Wechselfieber sind unbekannt, der heiße
Nordwind ist unangenehm und wirkt reizbar anf das Ner-
vcnsystem, das sich wieder beruhigt, sobald der Pampero, der
Südwest, einsetzt.
Gegenwärtig, schon seit dem Januar 1871, wüthet ge-
rade in dieser Stadt die Seuche mit einer Heftigkeit, die sich
bis Ende des März (so weit reichen unsere Nachrichten, wäh-
rend wir dies schreiben; unser Exemplar der deutschen Zei-
tnng am Rio de la Plata, „die freie Presse", ist seit einigen
Monaten ausgeblieben) derart steigerte, daß täglich mehr als
sechshundert Menschen derselben erlagen; auch die eng-
lische und die deutsche Colonie litten schwer; das platte Land
war noch verschont geblieben. Aber die Stadt hatte sich ent-
völkert; von ihren 182,000 Einwohnern waren mehr als
100,000 in die Campagna geflüchtet, an 20,000 fchon ge-
storben; man konnte die Todten nicht mehr begraben. Prä-
sident Sarmiento und die Geistlichen sind tapfer am Platze
geblieben, aber alle Geschäfte stockten, Jedermann war in
Verzweiflung, die sehr begreiflich erscheint; kein Gericht hielt
Sitzungen, die städtischen Behörden hatten ihre Thätigkeit
eingestellt.
In der Thatsache, daß die Seuche bisher nicht ins platte
Land drang, liegt wohl ein Fingerzeig. Alle von romani-
schen Völkern bewohnten Städte sind mehr oder weniger voll
Schmutz; der Romane ist im Allgemeinen nicht sauber; man
denke nur an „die Gränel der Schweinerei" in so manchen
Orten Italiens. Nun sind in Buenos Ayres viele Sala-
deros, Viehschlächtereien, wo Fleisch und Häute von jährlich
vielen Hunderttausend Thieren zubereitet werden. Jeder Sa-
ladero ist eine Art von Centrum für Miasmen, sobald nicht
Vorkehrungen getroffen werden, die Abgänge und Abfälle
für die Gesundheit unschädlich zu machen. Das ist inBne-
nos Ayres, trotzdem Engländer und Deutsche dort so oft ihre
warnende Stimme erhoben, versäumt worden; es gab keine
Gesundheitspolizei, man bauete auf das gesunde Klima zu
große Hoffnungen, gab sich sträflicher Nachlässigkeit hin und
nun zeigen sich die Folgen in so entsetzlicher Weise!
Aus allen Erdtheilen.
Die Ohrenrobben derPribylow-Jnseln und ihrEheleben.
r. 6. Die Pribylow-Jnseln liegen unter 170° westl. Länge
ü. Gr. und 57° nördl. Breite im Beringsmeer, westlich vom
Territorium Alaska, etwa 60 deutsche Meilen von der Küste
entfernt. Sie sind einer der wichtigsten Punkte für das Schla-
gen der Bärenrobben und liefern jährlich etwa 100,000 der sehr
geschätzten Pelze dieser Thiere in den Handel. Was die Bären-
robbe oder den Pelzseehund betrifft, so erhalten wir erst jetzt
einen genauen zoologischen Bericht über dieses merkwürdige,
schon seit langer Zeit bekannte Thier, und zwar in einer vom
Harvard College, Cambridge, Nordamerika, herausgegebenen
Monographie des Professors I. A. Allen: „On the Eared
Seals (Otaridae), with detailed descriptioris of the North-
Pacific species. Together with an account of the habits
of the northern Für Seal (Callorhinus ursinus) by Charles
Bryant." (Cambridge 1870.) Wie die Leser gleich sehen wer-
den, ist dies eine in mehr als einer Beziehung wichtige und
interessante Schrift.
Die Ohrenrobben, eine Gruppe der Meersäugethiere, welche
Aus allen
eine gut unterschiedene Abtheilung der Flossenfüßer bilden, aus-
gezeichnet durch eine kleine äußere Ohrmuschel und andere Eigen-
thümlichkeiten, sind noch außerordentlich mangelhaft bekannt, ob-
gleich in der letzten Zeit mehrere tüchtige Naturforscher sich mit
ihnen beschäftigt haben. Doch hat man die große Verschieden-
heit, welche beide Geschlechter zeigen, die Unterschiede im Alters-
zustande nicht gehörig beobachtet und nach einzelnen Schädeln
und Fellen mehr Arten aufgestellt als wirklich vorhanden find-
Erst Allen bringt jetzt Aufklärung in die Verwirrung. Nach
ihm giebt es nur acht Arten Ohrenrobben, von denen überdies
zwei noch zweifelhaft sind. Vier Arten gehören zu den Haar-
Seehunden oder Seelöwen, welche keinen Unterpelz haben,
und vier Arten zu den Pelzrobben oder Seebären, die ein
dichtes Unterkleid besitzen, welches die jetzt bei europäischen Da-
men so beliebten feinen Seehundspelzmäntel liefert.
Im nördlichen Stillen Ocean leben Steller's Seelöwe (Eu-
metopias Stellen), Gillespie's Haarrobbe (Zalophus Gillespii)
und die eigentliche Pelzrobbe (Callorhinus ursinus), auch See-
bär genannt. Dieser letztere ist der Seehund der Pribylow-
Inseln, über dessen höchst eigenthümliche mormonische Lebens-
weise der Anhang Capitän Bryant's ausführlich berichtet.
Zunächst ist zu bemerken, daß, wie auch bei anderen Ohren-
robben, eine ganz außergewöhnliche Verschiedenheit in Bezug auf
das Gewicht und die Größe der beiden Geschlechter besteht, denn
das Weibchen wiegt etwa nur ein Viertel so viel wie
ein ausgewachsenes Männchen. Die Bärenrobben erschei-
nen während der Sommermonate auf den Pribylow-Jnfeln, um
zu brüten, und auf der (nördlichst) St.-Pauls-Insel, wo Bryant
sie beobachtete, nehmen sie während dieser Jahreszeit einen Gür-
tel am Strande ein, der in seiner Breite zwischen fünf und
vierzig Ruthen schwankt. Zwölf englische Meilen des Ufers sind
mindestens von ihren „Brutplätzen" dicht bedeckt, so daß Bryant
ihre Anzahl, nach einem Durchschnittsexempel, auf 1,152,OOO
Individuen auf der einen Insel berechnete. Jedes Männchen
sucht sich einen besondern Platz aus, gewöhnlich denjenigen, wel-
chen es schon im vorhergehenden Jahre ausgewählt hatte, und
hält rund um diesen Platz herum etwa eine Quadratruthe Raum
frei, der für seine zehn bis fünfzehn Weibchen bestimmt ist. Am
15. Juni sind alle Männchen angelangt und haben Besitz von
ihren Domänen genommen, doch nicht ohne heftige Kämpfe und
Streitigkeiten mit den Nachbarn, die auf gute Plätze eifersüchtig
sind. Die jungen Männchen werden in den Brutplätzen nicht
geduldet, sondern von den Patriarchen entweder ins Meer zurück-
getrieben oder gezwungen, sich mehr landeinwärts auf dem Fel-
seit eine Station auszusuchen. Gegen Ende Juni kommen dann
die Weibchen an; zuerst wenige, dann immer mehr, bis gegen
Mitte Juli sie in solchen Schaaren da sind, daß sie buchstäblich
übereinander liegen. Die alten Bullen, welche dem Strande
zunächst wohnen, legen sogleich Beschlag auf die Weibchen und
füllen ihre Harems zuerst. Doch die jungen Männchen, welche
mehr landeinwärts verbannt sind, passen oft die Gelegenheit
ab, wenn die alten Herren einmal fort sind, und stehlen ihnen
die Weiber, indem sie dieselben sorgfältig im Maule nach den
eigenen Domänen fortschleppen, gerade so wie eine Katze ihre
Jungen im Maule fortschleppt. Sehr oft ereignen sich zwischen
zwei Männchen Kämpfe um den Besitz eines Weibchens und
letzteres wird, wenn beide es gleichzeitig ergreifen, arg zerfleischt.
Ist der Harem gefüllt, dann bläht das Männchen sich stolz auf,
hält Nevüe über dieselben und jagt alle Eindringlinge aus sei-
nem Zirkel fort. Schon zwei oder drei Tage nach dem Landen
wirft das Weibchen sein einziges Junges und lebt nun mit dem
Männchen zusammen. Mitte August sind alle Jungen geboren
und die Weibchen schon wieder trächtig. Die alten Männchen
sind unterdessen vier Monate lang nicht von der Stelle gekom-
men und haben sich auch während dieser Zeit ohne alles Fut-
ter beholfen. Ende October haben die Robben die Insel ver-
lassen und ziehen südwärts.
Die Robbenschläger, die, wie Capitän Bryant, die Pribylow-
Inseln besuchen, hüten sich wohl, die Brutplätze der Thiere zu !
Erdtheilen. 303
stören, und die einzigen Robben, welche des Pelzes wegen von
ihnen getödtet werden, sind die jüngeren Thiere, namentlich
Männchen, die mehr im Innern aus den Felsen leben und die
eigentlichen Brutplätze nicht betreten dürfen. Eine mit Knüp-
peln bewaffnete Schaar Matrofen umzingelt einen Theil der
Herde und treibt ihn sechs oder sieben englische Meilen land-
einwärts, zu dem Schlacht- und Abhäuteplatz. Dadurch werden
die eigentlichen Brutplätze kaum belästigt und die Robben schlep-
Pen ihre Häute selbst nach den Einsalzhäusern, was sonst viel
Arbeit veranlassen würde. Regelmäßig alle Jahre stellt die
Bärenrobbe sich wieder auf den Pribylow-Jnfeln ein und ge-
währt eine reiche Pelzernte.
Eduard Mohr's gezähmte Strauße.
Eduard Mohr aus Bremen hat in der Zeit vom 20. März
bis 5. Deceniber 1870 von den Goldfeldern am Tatin aus eine
Reise nach den Victoriafällen des Sambesi in Jnnerasrika un-
ternommen, dabei eine neue sehr praktische Route entdeckt und
zum ersten Male die deutsche Flagge an jenem „Wunder" Afri-
kas wehen lassen, welches durch die Schilderungen von Living-
stone, Ehapman, Baines u. a. fchon hinlänglich bekannt gewor-
den ist. Auf der Reife war Mohr von seinen zahmeil Strau-
ßen begleitet, über welche er Folgendes erzählt:
Nachts brachen Hyänen und Schakale durchs Lager und
verscheuchten meine vier schönen zahmen Strauße, meine gefie-
derten treuen Begleiter, die ich mit so vieler Mühe herangezogen
hatte und mit denen ich schon über 500 Seemeilen zusammen
marschirt war. Erst nach 90 Tagen fand ich die Vögel wieder,
von denen ich sofort erkannt wurde. Ich erhielt die Vögel, wie
sie kaum dem Ei entschlüpft waren; sie waren täglich um mich
herum und hatten keine Spur von Scheu vor den Menschen,
eine Eigenschaft, die der wilde Strauß bekanntlich int allerhöch-
sten Maße besitzt. Mit dem einen der Vögel, einem großen
einjährigen Hahn, bin ich später ganz bis nach Potchefstroom
marschirt, und mußte ihn hier verschenken, weil er fremde Ochsen-
gespanne und Pferde auf der Straße fcheu machte, was zu vielen
Unannehmlichkeiten Veranlassung gab. Der Zufall wollte, daß
ich ihn auf der Reise nach Durban, gerade westlich unter dem
Renan-Paß, wiederfinden sollte; sofort fand er meinen weiß
angestrichenen Wagen heraus und ich fütterte ihn; der neue
Besitzer hatte später die allergrößte Schwierigkeit, ihn fortzu-
bringen. Mit diesem Strauß bin ich also, Alles in Allem ge-
rechnet, wenigstens 1200 Seemeilen gewandert, und ich führe
diese Einzelnheiten nur an, weil sie vielleicht einen Beitrag zu
„Dr. Hartlaub's Geschichte des Straußes" liesern können, und
auch deswegen, weil sie beweisen, daß dieser interessante Riesen-
vogel völlig zahm gemacht werden kann und daß er eine gewisse
Anhänglichkeit an den Menschen, Ortssinn aber in ganz enor-
mem Grade besitzt.
Das Journal der Londoner Geographischen Gesellschaft.
Von diesem reichhaltigen Sammelwerk ist soeben der vier-
zigste Band erschienen, und auch dieser ist gleich seinen Vor-
gängern ungemein reichhaltig ausgefallen. Ney Elias schildert
den neuen Lauf des Gelben Stromes (Hoangho), welcher
sich bekanntlich eine Mündung in den Busen von Pe tschi li ge-
brochen hat. Swinhoe bringt seinen Reisebericht über den
Hangtse kiang. Sodann folgt das Tagebuch Hayward's,
über die Reise von Leh nach parkend und Kaschgar und die
Erforschung der Quellen des Harkendflusses. — Linton Palmer
schildert seinen Besuch der Osterinsel im Stillen Ocean, welche
in der neuern Zeit wieder die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt
hat, theils wegen der Steinbilder oder Säulen, von denen einige
nach Europa gebracht worden sind, theils durch eine angebliche
Steininschrist, „an welcher sich die Gelehrten ihre Zähne aus-
beißen können, wenn sie an die Echtheit derselben glauben."
Bartle Frere schildert das Rann, die sumpfige Niederung in
der indischen Landschaft Katsch; Jno M arkh am eine Reise durch
304
Aus allen Erdtheilen.
die chinesische Provinz Schan tong; I. W. Taylor die Föhr-
den und Gletscher in Grönland. — In Australien wird man
immer noch nicht müde, nach Spuren von Dr. L eich Hardt zu
forschen; eine solche Expedition hat I. Forrest unternommen.
—• Ueber Centralasien, welches schon im Hinblick auf die
Ausdehnung des russischen Gebietes mit Recht allgemeine Beach-
tung findet, enthält der Band einige wichtige Beiträge: Baron
P. R. Osten-Sacken schildert die Expedition, welche er 1867
in das Land jenseits des Na.ryn unternommen hat; Fed-
schenko beschreibt das Serasschanflußgebiet, welchem Samarkand
angehört, topographisch; von Sewertsof erhalten wir seine
Reise im westlichen Theile des Himmelsgebirges (Thian schan).
— Ueber den Jrawaddy und dessen Quellen stellt Anderson
Erörterungen an; Julius Haast bringt einen Bericht über die
südlichen Alpen auf Neuseeland; Adams einen solchen
über die centralen Seidenbaubezirke in Japan. — Ueber
das Karawanenwesen im östlichen Asrika wußten wir
bisher nur, was Burton und da und dort Livingstone mit-
getheilt haben; nun bringt Wakefield eingehende Nachrichten
über die Karawanenrouten in jener Gegend mit Karte. Chand-
leß giebt Beitrüge zur Hydrographie Südamerikas, und Jr-
minger dergleichen über die Temperatur des nordatlan-
tischen Oceans. Wir werden auf einzelne dieser Arbeiten
gelegentlich näher eingehen. —
Gespinnste und Gewebe in den Pfahlbauten. In
der Februarversammlung 1379 des Vereins zur Beförderung
des Gewerbefleißes in Preußen sprach Herr Dr. Max Weigert
(in Berlin) über die Producte der Spinnerei und Weberei,
welche in den Pfahlbauten aufgefunden wurden. Nach ihm
steht es fest, daß bereits in den zur Steinzeit bewohnten Bau-
ten Flachs in ausgedehntem Maße cultivirt uud zu den ver-
schiedensten Gespinnsten, Schnüren, Seilen:c. verarbeitet worden
sei. Es seien zahlreiche Stücke solcher Gespinnste, sowie Massen
von Spinnwirteln aus Stein und Thon vorhanden. Reste von
Geflechten, die zu Matten, Decken und Gewändern gedient
haben, zeigten die weitere Verarbeitung dieser Gespinnste durch
die Kunst des Flechtens, während zahlreich aufgefundene Webe-
steine, neben Ueberbleibseln von unzweifelhaft durch Weben her-
gestellten Stoffen, bewiesen, daß auch die Arbeit des Webens
bereits bekannt gewesen sei. Diese wurde auf einem Webestuhle
mit vertical stehender Kette ausgeführt, der durch sinnreiche Er-
gänzung jetzt als reconstruirt gelten kann. Die Untersuchungen
über die Uransänge sind geeignet, wichtige Aufschlüsse über die
Eulturentwickelung des Menschengeschlechtes im Allgemeinen zu
geben, indem von den beiden im Alterthum angewandten Sy-
stenien des Webestuhls, dem mit horizontal ausgespannter Kette
und dem mit senkrecht stehender Kette, in frühester Zeit das
erstere Indien und Aegypten eigentümlich gewesen, während
das zweite bei den gräco-italischen Völkern in Gebrauch war —
ein Beweis, daß die europäische Cultur von Afrika und Asien
erst zu einer Zeit beeinflußt worden, da sie selbst schon ansehn-
lich vorgeschritten war.
*
*
*
— Jni Anthropologischen Institute (so heißen die nun ver-
einigten Gesellschaften der Anthropologie und Ethnologie) hat
Major Godwin Austen über die Steinmonumente bei den
Stämmen im Hügellande der Khasis ausführliche Erörterungen
angestellt; die Khasi wohnen südlich von Assam, westlich und
östlich in den Bergen, welche sich von der scharfen Krümmung,
die der Brahmaputra macht, etwa 150 Miles bis an den Ko-
pilia, 92° 45' O. von Greenwich, hinziehen. Das Volk ist be-
sonders dadurch bemerkenswerth, daß es auch gegenwärtig me-
galithische Denkmäler ausführt. Ueber das ganze Land zerstreut
findet man aufrecht stehende Steinmnffen, die theils am Wege
errichtet worden sind, theils in den Dörfern, und theils auf Hü-
geln. Wenn man sie sieht, ist man wohl geneigt zu der An-
nähme, daß es sich hier um Grabdenkmäler handle; aber die
Asche der Todten wird niemals unter den horizontalen Platten
begraben, welche vor den aufrecht stehenden Steinen liegen; das
Monument hat mit einem Begräbnisse gar nichts zu schaffen
und wird lediglich zu dem Zwecke errichtet, um das Andenken
an längst verstorbene Personen zu erhalten, welche als Geister
über ihre Nachkommen, ihre Familien und Clans gewacht und
denselben Glück gebracht haben. Die Steine kommen nie paar-
weise oder in geraden Zahlen vor, sondern allemal in ungera-
den, so daß 3, 5 oder 7 gesetzt werden. Alle Angehörigen
einer Gemeinde müssen beim Ausrichten der Steinplatten mit-
wirken und bekommen für ihre Arbeit lediglich Speise und
Trank, aber keinen andern Lohn. Godwin Austen ist nicht Au-
genzeuge bei einem folchen Aufrichten gewesen, wohl aber hat er
das Gerüst und die Vorkehrungen sür dasselbe beim Clan der
Nontariang gesehen. Die Steine waren in einem nahen Sand-
steinhügel gebrochen und mit Hülfe von Keilen abgelöst worden.
— Die Antiquarische Gesellschaft in London hat am 18. Mai
eine Ausstellung eröffnet, in welcher eine große Sammlung von
Steingeräthen und anderen Gegenständen aus der paläolithi-
schen Periode ausgelegt wurde.
— Eine Knochenhöhle, welche in den Kalksteinbrüchen bei
Port Kennedy in Montgomery County im östlichen Penn-
sylvanien entdeckt worden ist, erregt dort große Aufmerksam-
keit. Der Naturforscher Wheatly hat in derselben bis jetzt schon
30 bis 40 Zähne vom Megalonyx gefunden und Theile von
17 Individuen, welche zur Classe der Faulthiere gehörten. Pro-
sessor Cope beschreibt 41 Arten von Wirbelthieren, und Dr.
Horn 14 Arten von Jnsecten.
— Noch im Laufe dieses Jahres soll eine Dampferlinie
zwischen Callao in Peru und China eröffnet werden, —
wahrscheinlich zu dem Zwecke, chinesische Arbeiter zu holen.
— Wir leben in der „Zeit der Schissscanäle". Gegen-
wärtig hat man in Vorschlag gebracht einen Durchstich, ver-
mittelst dessen der schmale Landstreifen durchschnitten werden
solle, welcher von der Süd spitze des oft indischen Festlan-
des ausläuft und den perlenreichen Golf von Man aar von
der Palksstraße trennt. Ein solcher Canal würde den Dam-
psern die Fahrt um die Insel Ceylon herum ersparen.
— Die englische Tractatengesellschaft hat 1870 nicht
weniger als 330 neue Schriften drucken lassen, darunter 117
Traetätlein uud 6 Zeitschriften. Ihre Depots haben 40,727,471
Stück vertheilt, und seit Gründung der Gesellschaft nicht weniger
als 1,384,000,000. Sie arbeitet auch in Deutschland, Frank-
reich und Nordeuropa; dann auch in Italien, wo sie in Rom
ihre Niederlage protestantischer Schriften dicht neben der Jesui-
tenkirche hat. Auch aus Spanien, Ungarn, Slavonien, Con-
stantinopel, Indien und Chiua erstreckt sie ihre Thätigkeit. Sie
hatte im verflossenen Jahre ein Deficit von etwa 40,000 Thaler.
— In der australischen Colon« Victoria ist seit lan-
ger Zeit darüber hin und her gestritten worden, ob man den
Volksvertretern Taggelder gewähren solle oder nicht. Die Frage
ist ini Februar dahin entschieden worden, daß man jedem Re-
Präsentanten jährlich 1500 Dollars zahlt.
Inhalt: Wilhelm Lejean's Wanderungen im nordwestlichen Indien. (Mit zehn Abbildungen.) (Schluß.) — Erleb-
nisse schwedischer Ansiedler auf den Fidschi-Inseln. (Fortsetzung.) — Slavische Annectirungen. Von Richard Andree. —
Wasserfluthen, Erdbeben und gelbes Fieber in Südamerika. — Aus allen Erdtheilen: Die Ohrenrobben der Pribylow-Jnseln und
ihr Eheleben. — Eduard Mohr's gezähmte Strauße. — Das Journal der Londoner Geographischen Gesellschaft. — Gespinnste
und Gewebe in den Pfahlbauten. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
Band xix.
Sunt Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1871.
Betrachtet man ein Lehrbuch der Geologie, das jetzt er-
schienen ist, mit einem nur 15 bis 20 Jahre altern, so
springt sofort ein.gewaltiger Unterschied in die Augen. Wie
alle Zweige der Naturwissenschaften, ist auch die Geologie
unendlich fortgeschritten, die Chemie, das Mikroskop, eine
ganze Reihe anderer Disciplinen sind auf sie neu angewandt
worden, und mit deren Hülfe hat sie ein völlig anderes Ge-
sicht erhalten. Nur wenigen der zahlreichen Lehrbücher der
Geologie, die wir besitzen, ist es jedoch vergönnt gewesen, in
rascher Aufeinanderfolge der Austagen auch stets das Neueste
verarbeitet und systematisch eingefügt den Lesern bieten zu
können. Zu diesen wenigen gehört nun das in dritter ver-
mehrter und gänzlich umgearbeiteter Auflage erscheinende
Werk von Karl Vogt*), dessen anderweitige Vorzüge be-
reits hinlänglich gewürdigt sind; denn in Bezug auf klare,
allgemein verständliche Sprache, übersichtliche Anordnung und
Benutzung des neuesten wissenschaftlichen Materials läßt so
leicht kein Concnrrenzwerk sich mit demselben vergleichen.
Es ist eben für weitere Kreise bestimmt und erfüllt hier voll-
kommen seinen Zweck.
Von den neu ausgeführten Abschnitten dieser gänzlich
umgearbeiteten Auflage möchten wir besonders Einen hervor-
heben, der gegenwärtig vom höchsten Interesse ist und hier
') Karl Vogt's „Lehrbuch der Geologie und Petrefactenkunde."
Dritte vermehrte und gänzlich umgearbeitete Auflage. In zwei Bau-
den. Mit zahlreichen in den Text eingedruckten Holzstichen und au-
gehängten Tafeln. Braunschweig, Friedrich Vieweg undSohn.
1871.
Globus XIX. Nr. 20. (Juni 1871.)
(Bd. II, S. 28 bis 79) mit großer Ausführlichkeit behan-
delt wird, wie die recenten Bildungen unseres Erdkörpers über-
Haupt. Er betrifft die merkwürdige Eis- und Höhlen-
zeit, die in zusammenfassender Weise von Vogt mit großer
Vorliebe dargestellt wird. Versuchen wir es hier kurz, ein
Bild dieses dankenswerten Abschnittes wiederzugeben.
Vogt geht von den Erscheinungen aus, welche die heuti-
gen Gletscher noch hervorbringen, von den geschliffenen Fels-
flächen, Moränen und Steinwällen und constatirt an der
Hand derselben dann ihr Vorkommen auf weit ausgedehnten
Strecken des Festlandes, wo heute eine üppige Vegetation,
ein mildes Klima herrschen. Und diese geographische Ver-
breitung der ehemaligen Eiszeit ist in der That, wie wir
sehen werden, eine ganz bedeutende und wohl geeignet, unsere
Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen.
Was zunächst die Alpen betrifft, wo die Naturforscher
zuerst die Erscheinungen der Eiszeit stndirten, so wird man,
je weiter man der Ausmündung der Thäler nahe kommt,
desto mehr von den Ungeheuern dorthin transportirten Find-
lingsblöcken überrascht. Ueber den geschichteten Bildungen
der Molasse und der älteren Anschwemmungen zeigen sich
gewaltige Massen von eckigen Blöcken, zuweilen untermischt
mit Ablagerungen von Letten mit geritzten Rollsteinen. Die
Blöcke erreichen zuweilen ungeheure Dimensionen, sie steigen
im Jura bis zu bedeutenden Hohen und liegen dort wieder
auf geschliffenen Felsen. Hier und da bilden sie auch schan-
zenartige Wälle, wie z. B. der 100 Fuß hohe, bewaldete
Blockwall, „das Hiihnli«, bei Bern. Die Verkeilung der
39
Mit besonderer Berücksichtigung der Anthropologie unä Ethnologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
306
Karl Vogt über die Eis- und Höhlenzeit.
Blöcke, je nach den Alpenthälern, aus denen sie stammen
und aus denen sie durch ehemalige Gletscher fortgeführt wur-
den, ist, was die Schweiz betrifft, jetzt vollkommen bekannt.
Besonders sind es die sechs Thalmündungen der Arve, der
Rhone, der Aare, der Neuß, der Linth und des Rheines,
aus welchen die Blöcke am Nordabhange der Alpen hervor-
treten. Die von Karl Vogt mitgetheilte Karte zeigt genau
das Verbreitungsgebiet der Alpensindlinge nebst ihrem Ur-
sprungsgebiete an.
Die verticale Vertheilung der Blöcke ist Gegen-
stand vieler Untersuchungen, namentlich im französischen Theile
des Schweizer Jura gewesen, und man hat gefunden, daß
sie eine bestimmte Höhengrenze einnehmen, die einen Bogen
bildet, dessen höchster Punkt der Mündung des Thales, aus
welchem sie hervorkamen, gegenüberliegt. Im Allgemeinen
liegen die Blöcke auf der den Alpen zugewandten Seite der
Juragehänge uud in den Längsthälern, welche sich in dieser
Kette hinziehen. Die mineralogische Beschaffenheit der Blöcke
wechselt je nach der verticalen Vertheilung derselben; es gilt
hier als allgemeines Gesetz, daß eine Felsart um so höher
am Jura ansteigt, je höher sie in den Alpen ansteht, oder,
mit anderen Worten, daß die Höhenzone eines Gesteins am
Jura im Verhältniß zu seinem Lagerorte in den Alpen steht.
Aus dem Gesagten ergiebt sich, daß nach den
Verbreitung der Alpensindlinge in der Schweiz.
1 Arve-Gebiet; 2 Rhone-Gebiet; 3 Aar-Gebiet; 4 Reuß-Gebiet; 5 Linth-Gebiet; 6 Rhein-Gebiet;
7 Zerstreuungsgebiet des Sentis und der Kuhsirsten; 8 Schwemmgebiet der Rhone-Blöcke zwischen
Burgdorf, Wangen und Langenthal; 9 Mischungsgebiet der Rhone- und Reuß-Blöcke um Aarburg;
10 Schwemmgebiet der Reuß-Blöcke im Nord-West einer Linie von Dagmersellen nach Baden im Aar-
gau; II Mischungs-L?chwemmgebiet von Reuß- und Rhein-Blöcken. Die Stammgebiete, aus welchen
die Blöcke herkommen, und die Mischungs- und Schwemm-Gebiete, wo Blöcke durch Hochwasser und
Eisflöße verschleppt wurden, sind weit laxer schraffirt, als die Verbreitungs-Gebiete, aber in derselben
Richtung; Arve und Aar (1 u. 3) horizontal; Rhone und Rhein (2, 8 u. 6) vertical; Reuß (4 u. 10)
schief von links nach rechts; Linth (5) schief von rechts nach links; die Mischungs-Schwemmgebiete (9 u.
11) sind gekreuzt. Be Besannen, I) Doubsfl.; Rh Rheinfl.; Ba Basel; Sch Schaffhausen; Con Kon-
stanz; BS Boden-See; NS Neuenburger-See; N Reuchätel; BS Bieler-See; B Bern; A Aarburg; Z
Zürich; ThS Thuner See; Sa Sarnen; Lz Luzern; R Reußfl.; Aa Aarfl.; Ro Rhön est.; Gr Genf;
Ar Arve; Mbl Montblanc; GS (Senfer-See; MR Monte Rosa; G St. Gotthard; Lo Locarno; Ch
Chiavenna; Co Conio; Sp Sempacher-See.
Die Wege der Blöcke sind durch punktirte Linien, die Blockwälle durch starke helle Linien angedeutet.
tertiären Ablagerungen von Oeningen, Schrotz-
bürg u. f. w., deren versteinerte Pflanzenreste ein
Klima andeuten, ähnlich wie es heute auf Madeira
herrscht, eine lange Periode eintrat, während wel-
cher das Klima der Alpengegend so weit sank, daß
die Gletscher der Schweiz bis zu den Höhen des
Jura vordrangen, die ganze ebene Schweiz dem-
nach vollständig mit Eis bedeckt war. Während die-
ser Zeit wurden die Findlingsblöcke, von den Gletschern ge-
tragen, auf dem Jura im weiten Kreise gesetzt und zugleich
als Grundmoräne Lehmschichten mit geritzten Rollsteinen ge-
bildet. Aber der Rückzug, das Abschmelzen des zusammen-
hängenden Eisfeldes fand keineswegs regelmäßig statt, es
rückte vor, zog sich zurück, und nach diesen Schwankungen
sind denn auch manche Erscheinungen der Eiszeit localer
Natur in der Schweiz zu erklären. Aber die weiteste Aus-
dehuuug der Findlingsblöcke zeigt die höchste Entwicklung
der Eiszeit an; die Umgrenzung der sechs großen Gletscher-
gebiete der Karte zeigt den ersten Halt innerhalb der Rück-
zugsperiode.
Aus der Südseite der Alpen _ lassen sich ganz ähnliche
Erscheinungen wie auf der Nordseite wahrnehmen. Nur ist
die südliche Umgrenzung des ehemaligen Eisfeldes, welches
dem Höhenpunkte der Periode entspricht, bis jetzt noch nicht fest-
Karl Vogt über die
gestellt, weil dieselbe allem Anschein nach in'die Po-Ebene
siel.
So viel kurz von den Alpen, die Vogt am ausfuhrlich-
sten behandelt, und wo die Erscheinungen der Eiszeit auch
am besten stndirt worden sind. Führen wir nun die Übrigen
Localitäten an, wo ihr Vorkommen sicher dargethan wurde.
In der Auvergne sind jetzt die deutlichsten Gletscher-
spuren, namentlich im Umkreise des Cantal beobachtet wor-
den. Von diesem Ceutralvulcau gingen strahlenförmig Glet-
scher aus. In den Pyrenäen setzen sich die Erscheinungen
der erratischen Gebilde aus denselben Elementen zusammen,
wie in den Alpen; man fand, daß der alte Gletscher von
Argeles allein sieben verschiedene Erdmoränen ausgeworfen
hat. Auch die Sierra Nevada im südlichen Spanien zeigt
alte Gletscherspuren. In vielen Thälern der Vogesen,
jenem von Giromagny und St. Amarin finden sich Quer-
wälle von Schuttanhäufungen, polirte Felsen, NuNdhöcker,
die alle der Eisthätigkeit ihr Dasein verdanken. Gegenüber
zeigt der Schwarzwald ähnliche Erscheinungen, wenn auch
nicht so deutlich. Zwischen beiden Gebirgen dehnt im Rhein-
thale sich die Lößformation aus, ein gelblich-grauer Thon,
mit Glimmer und Kieselsand, in dem Schnecken und Mn-
scheln vorkommen, die jetzt nur noch in kälteren gebirgigen
Gegenden vorkommen, namentlich in der Hügelregion der
Voralpen. Wir geben hier, nach Vogt, einige der für den
Löß charakteristischen Muscheln nnd Schnecken wieder. Der
Löß ist die neueste Formation des Rheinthales; er entspricht
offenbar derselben Zeit, wo in der Schweiz die Findlings-
Cyclas amnica. Aus dem Löß. In der Mitte Ilelix
die Schalen von Innen und Außen in natürlicher
Größe — zur Seite vergrößert.
hat man die Spuren einer frühern größern Ausdehnung der
Gletscher nachgewiesen. Jni Libanon, der keine ^Gletscher
mehr besitzt, stehen die wenigen noch übrig gebliebenen Cedern
auf alten Moränen. Die Küsten des füdlichen Chile sind
förmlich mit ungeheuren Blöcken übersäet, die von den Cor-
dilleren herabgeslößt wurden.
Wir fügen noch hinzu, daß der Russe Säwerzow in
Türk est an deutliche Spuren alter, sehr ausgedehnter Glet-
scher gefunden haben will. Aber sie fehlen im Baikal-
und Altaigebirge gänzlich. Schon v. Helmcrsen ver-
mißte dort jede Spur von erratischen Blöcken, Felsrundnn-
gen oder Felsschliffen, und B. v. Cotta erzählt in seinem
soeben erschienenen Werke über den Altai (S. 65), „daß er
trotz eifrigen Suchens weder in den Vorhügeln des Altai
noch in den tiefen Thaleinschnitten des Gebirges die geringste
Spur davon habe finden können, obwohl die Berge 7000
bis 11,000 Fuß über dem Meeresspiegel ansrageu und im
südöstlichen Gebirgstheile einige kleine Gletscher vorhanden
sind.»
So viel über die Verbreitung der Eiszeit. Gehen wir
nnn zur Erklärung derselben über. Vogt gesteht zu, daß
eine solche schwer sei. Hand in Hand gehen einerseits das
allmälige, später sich wieder aufschwingende Sinken der
Temperatur, und anderseits das allmälige Sinken des sich
wieder hebenden nördlichen Festlandes , in Amerika bis zu
40^, ^ Europa bis zu 50° nördl. Breite. Höchst wahr-
scheinlich ist, daß der tiefste Stand der Temperatur und dem-
nach die größte Ausdehnung der Continentalgletfcher der
Eis- und Höhlenzeit. 307
blocke zerstreut wurden, und die bedeutenden, zuweilen 100
Fuß mächtigen Lößmassen sind wahrscheinlich detritische Ab-
lageruugeu aus jener Zeit. Unter dem Löß liegen runde
alpinische Gerolle mit Manimuth-, Nashorn-, Pferdeknochen
und so weiter.
Auch der gauze Boden Großbritanniens, die Süd-
Hälfte Englands ausgenommen, war einst unter Gletschern
oder von einem Meere bedeckt, welches, wie die Ostsee, deu Cha-
rakter eines Eismeeres hatte. Die Beweise liegen vor; zum
Beispiel in dem Boulder Clay oder Blocklehm, der in seinen
riesigen Ablagerungen große aus Skandinavien herüberge-
flößte Blöcke enthielt, in den eigenthümlichen horizontalen
Bergstreifnngen oder Parallel roads im Glen-Roy (Roy-
thale) am Ben Nevis, dem höchsten Berge Schottlands. In
Skandinavien sind die Erscheinungen der Eiszeit jetzt bis
in die kleinsten Einzelheiten bekannt. Ihr werden die eigen-
thümlichen, langlinigen, wollartigen Ansammlungen mit ab-
gerundetem Rücken zugeschrieben, die man in Schweden als
As (Plural Asar) bezeichnet.
Ans außereuropäische Erdtheile übergehend ist die weite
Verbreitung der Eiszeit in Nordamerika festzustellen, wo
sie eine ganz ähnliche Erscheinungsreihe wie in Europa her-
vorbrachte. Die Felsen sind unter ihrer Einwirkung ge-
rundet, geschliffen und gestreift, vou deu höchsten Bergen bis
zum Seestrande und unter den Meeresspiegel hinab. Was
Brasilien betrifft, so ist darüber im „Globus" (XIX, 138)
kürzlich ausführlich gesprochen worden. Im Kaukasus,
im Himalaya, in den Cordilleren, in Neuseeland
ja. Aus dem Löß. Bulimus lubricus. Clausilia bidens.
Löß. Löß.
tiefsten Senkung des Continentes und der weitesten Ausdeh-
uung der Eismeere entsprachen.
Es sind mehrere astronomische Erklärungen ver-
sucht worden, von denen wir eine sehr interessant und plan-
sibel erscheinende anführen wollen. Wir fügen aber gleich
hinzu, daß ^ie nicht stichhaltig ist, da die von ihr angenom-
mene Periodicität der Eiszeit sich tatsächlich nicht nachwei-
sen läßt nnd alle bekannten geologischen Erscheinungen nur
auf eine einzige Eiszeit hinweisen. Diese astronomische Er-
kläruug rührt von Adhemar her, welcher Jüe Temperatur-
schwankungen zu Hülfe nahm, welche durch die sogenannte
Präcession der Aeqninoctien bedingt werden. An und für
sich sind diese Schwankungen gering, durch ihre Summirung
aber erhalte» sie eine gewisse Bedeutung für die mittlere
Temperatur der nördlichen und südlichen Erdhälfte. Es
entsteht eine Periode von 21,000 Jahren, innerhalb welcher
die eine Erdhälfte etwas mehr Licht und Wärme als die au-
dere erhält. Im Jahre 1248 trat der Zeitpunkt ein, wo
die Tag- und Nachtgleiche des Winters mit der größten
Sonnennähe der Erde zusammenfiel. Es empfing danach
zu jener Zeit die nördliche Erdhälfte am meisten, die südliche
am wenigsten Licht und Wärme. 10,500 Jahre vor 1248
waren die Verhältnisse gerade umgekehrt. Das Solstitium
des Winters siel mit der größten Sonnenwärme zusammen.
Die nördliche Erdhälfte hatte demnach kältere und längere
Winter als jetzt. Dieses Verhältniß würde im Jahre 11748
wieder hergestellt sein. Wir wären also seit etwas mehr als
600 Jahren in einer Periode zunehmender Erkältung, und
39*
308 Richard Andree: Z
diese Erkältung würde nach einigelt Autoren in der Art zu-
nehmen, daß an dem Ende dieser Periode die Eisdecke mit
den sie begleitenden Erscheinungen in ähnlicher Weise her-
gestellt sein würde, wie in der Anfangsperiode der neueren
Bildungen.
Mit Recht weist Vogt auf die Einwirkung localer Ur-
fachen hin, wo es sich um die Erklärung des Schwindens
der Eiszeit handelt. Man weiß, daß das ausnahmsweise
milde Klima Westeuropas dem Golfstrome zu verdanken ist;
aber eben so sicher ist es, daß eine Zeit vorhanden war, in
welcher er unsere Küsten nicht erreichte. Die Wegnahme
des Golfstromes aber würde das Klima von Neapel etwa
auf dasjenige von Boston herabdrücken, und dasjenige von
Stockholm wenigstens um 4 Grade reduciren, also auf etwa
0 bringen. Man hat berechnet, daß bei übrigens ganz glei-
chen Verhältnissen eine Erniedrigung der Mittlern Jahres-
temperatnr der Schweiz um 4 Grad die Gletscher der Alpen
wenigstens bis in die ebene Schweiz herunterbringen, also in
diejenigen Grenzen versetzen würde, die ihnen während des
Rückzuges der Eisperiode nachgewiesen sind.
So wirkten noch verschiedene andere locale Ursachen;
auch die Kälte allein veranlaßt leicht die Vergrößerung der
wische Annectirungen.
Gletscher. Bei übrigens gleicher Jahrestemperatur wird ein
feuchtes Jnfelklima mit kühlen Sommern und wenig kalten
Wintern selbst auf niedrigen Bergkuppen die Existenz ge-
waltiger Gletscher bedingen, während ein trockenes Festland-
klima mit sehr heißen Sommern und sehr kalten Wintern
selbst auf hohen Gebirgen nur Schneeansammlungen, nicht
aber wirkliche Gletscher erzeugt. In den Alpen Neuseelands
unter 40 Grad Süd steigen Gletscher in eine außerordentliche
Tiefe hinab.
„An dem einen Orte mag diese, an dem andern jene
bedingende Ursache der größern Ausdehnung der Gletscher
bestimmend und in größerm Maßstabe gewirkt haben. Von
keiner können wir sagen, daß sie allein gewirkt und aus-
schließlich sich geäußert habe. Wenn aber auch angenommen
werden mag, daß sowohl die kosmischen wie die localen Ur-
sachen in ihrer Vereinigung noch nicht hinlänglich seien, die
Gesammtheit der Erscheinungen zu erklären, so ist doch so
viel sicher, daß dieselben jedenfalls nur durch Gletscher, Eis-
meere und Eisflöße bedingt sein können, und daß alle gegen
diese unmittelbaren Ursachen vorgebrachten Einwürfe jetzt so
vollständig widerlegt sind, daß sie keiner weitern Discnssion
bedürfen."
Slavische A
Von Nichl
Was bisher mitgetheilt wurde von Anakreon, Thomas
a Kempis, den Bamberger Götzen, Thomas von Modena,
Gluck, Karl Maria von Weber, Lessing, Nessel und Frido-
lin, es verschwindet gegenüber dem kühnen Griffe, welcher
der Enlturnation der Tschechen die Erfindung der Buch-
druckerkunst vindiciren sollte. Was wäre uns armen
Deutschen schließlich noch übrig geblieben! Die Polen hat-
ten sich Kopernikus schon annectirt, die Holländer sahen
in Lorenz Koster den eigentlichen Erfinder der Buchdrucker-
kunst, und nun kamen die Tschechen und nahmen uns Guten-
berg in persona mit Haut uud Haaren, wie der Teufel den
Faust holte! Ein Lächeln bestrafte die Deutschen, welche
im Jahre 1840 das vierhundertjährige Jubiläum der Buch-
druckerkunst feierten; ehrten sie dadurch doch einen tschechi-
schen Mann, dessen segenbringende Erfindung Professor Vocel
in Prag in dem schwülstigen Gedichte „das Labyrinth des
Ruhmes" auch poetisch verherrlichte. Dort flüchtet nach der
verhängnißvollen Schlacht bei Lipan der Hnfitenjüngling
„Jan" nach Mainz und erfindet dort die beweglichen Lettern.
Vocel folgt nur der Tradition und den „historischen Bewei-
sen". Was es aber mit diesen, einer seltsamen Verkettung
von Truggebilden, Hypothesen und anmaßenden Behanptun-
gen, auf sich habe, darüber wollen wir dem Leser einige Re-
chenschaft geben *).
Thomas Mitis, um das Jahr 1570 Lehrer an der Pra-
ger Universität, hatte den literarischen Nachlaß des Latinisten
Bohnslav von Hassenstein zu ordnen. Mit Bezug aus ein
Gedicht desselben, welches die deutschen Erfindungen des Schieß-
Pulvers und der Buchdruckerkunst feierte, bemerkt er: „Ich
habe aus dem Munde unseres Landsmannes, des Dichters
*) Nach dm Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der
Deutschen in Böhmen. IV, S. 66 f.
nectirungen.
d Andree.
und Chronisten Martin Kntheuus aus Kuttenberg, gar oft
vernommen, daß die Erfinder des Buchdruckens oder doch
wenigstens deren Gehülfen Böhmen gewesen seien, da die
Böhmen, durch geweckten und erfindungsreichen Geist hervor-
ragend, ehedem sehr zahlreich nach Mainz zu kommen Pfleg-
ten, theils um der Studien willen, theils zur Erlangung
geistlicher. Weihen." Dies ist der vielverheißende Embryo,
aus dem der slavische Gutenberg allmälig erwuchs. Obschon
Kutheu's Einsall aller Begründung und Beglaubigung ent-
behrte, so fand er doch in Böhmen vielfachen Anklang; man
schrieb ihm nach, die Gutenbergsgestalt streifte die nebelhafte
Hülle ab und gewann nach und nach Fleisch und Blut. In
den 1675 zu Prag in tschechischer Sprache gedruckten „Alten
Denkwürdigkeiten Knttenberg's" heißt es schon: „DieTsche-
chen sagen, Johannes Faust sei aus Kuttenberg gebürtig
und sei durch irgend einen Zufall (vielleicht im Jahre 1421,
als so viele Bergknappen aus Kuttenberg um des katholischen
Glaubens willen vor den Husiten ins Reich flohen) nach
Straßburg gekommen; hier habe er die gediegenste aller
Künste erdacht, hierauf dieselbe in Mainz ans Licht gefördert
und sich statt Johann Faust von nun an Johann Knt-
tenberger geschrieben und genannt, um seiner Heimath Ehre
und Ruhm zu gewinnen."
Man sieht den Fortschritt, der Schneeball wächst allmä-
lig zur Lawine, und als daher im Jahre 1740 in Prag das
300jährige Gutenberg-Jubiläum gefeiert wurde, konnte Pa-
ter Pretlyk in feiner tschechischen Festpredigt dreist behaupten,
daß der Erfinder der Buchdruckerkunst als Kutteuberger Stadt-
kind dem Lande Böhmen angehöre. Da aber die Deutschen
diesen Wink so wenig beachteten, daß sie 100 Jahre später
abermals eine Säcnlarseier in Sceue setzten, so entschloß
sich der tschechische Gelehrte Vrt'atko, ihnen gründlich zu
zeigen, welchem hartnäckigen Wahn sie huldigten, wenn sie
Richard Andres: Sl
Gutenberg noch immer als einen der Ihrigen ansahen und
verherrlichten. Gutenberg, so setzte Vrt'atko aus einander,
hieß ursprünglich Johann Stiastny, was soviel als glück-
lich oder faustus bedeutet. Dieser Stiastny war aus Kut-
teuberg gebürtig, widmete sich in Prag den Wissenschaften
und kam durch seine tiefen Einblicke in die Geheimnisse der
Natur beim Volke unter dem Namen Dr. Faust in den Ruf
eines Zauberers. In der Neustadt Prag steht jetzt noch das
Faust'sche Haus. Als er nach dem Ausbruche der Husiten-
kriege plötzlich aus Prag verschwand, erzählte sich das Volk,
der Teufel hätte ihn zerrissen: er aber war gen Straßburg
gezogen, dort reiste die große Erfindung im Stillen, bis
Stiastny, welcher jetzt, eingedenk der Heimath, sich Joannes
Kuteubergeuus nannte, sie in Mainz den Blicken der stau-
nenden Welt preisgab.
Welche Verwirrung! Der Mainzer Goldschmied Fust,
der spätere Zauberer Dr. Faust, ein singirter Stiastny und
unser Gutenberg, Alles zusammengebraut und durch einander
gewürfelt von dem tschechischen Gelehrten Vrt'atko und sei-
ner Nation als Angebinde dargebracht zur 400jährigen Ju-
belseier der Buchdruckerkunst! Er sollte aber nicht der letzte
sein, der für den tschechischen Gutenberg focht; das letzte
Wort gehörte dem Pater Karl Winarizky, welcher im
Jahre 1847 zu Brüssel eine Broschüre veröffentlichte, welche
den Titel führt: Jean Guttenberg, ne eil 1412 ä Kut-
tenberg, inventeur de l'imprimerie ä Mayence en
1450. Hier tritt uns nun eine Wandertheorie entgegen,
in welcher die Mainzer Gensfleisch nach Kuttenberg ziehen,
und dort entsproß aus der Famlie ein gewisser Mladota,
d. i. der Junge, — uuser Gutenberg. In Kuttenberg er-
hielt er den ersten Anstoß zu seiner Erfindung, dort, in seiner
Vaterstadt, sah er die Prägung der Münzlegenden, die Glocken-
inschristen, die ihn zur Erfindung der Buchdruckerkunst füh-
ren mußten. Der geistige Löwenantheil bleibt den Tschechen,
und wie viel Einzelheiten Winarizky auch anführt (am 18.
November 1445 wird ein Joannes de montibns Cutnis in
Prag zum Baccalaureus graduirt, und dieser war natürlich
Niemand anders als Gutenberg), seinen ganzen Dichtungen
fehlt nichts als — die Erweislichkeit.
Eine Widerlegung aller dieser tschechischen Fabeln ist,
gegenüber den klaren Zeugnissen, nicht nöthig. Die Tsche-
chen »glauben natürlich doch, was sie wollen. Fahren sie in
der angegebenen Weise fort, dann wird die Zahl der großen
Männer, die sie besitzen, die Menge der wichtigen Ersindnn-
gen, die sie gemacht haben, bald die aller anderen Nationen
übertreffen. Die Buchdruckerkuust und die Schiffsschraube
gehören ihnen schon. Sie wissen auch, daß ein Mährer Na-
mens Diwisch, also ein Mann ihrer Nation, schon vor
Franklin den Blitzableiter erfand, doch die undankbare Welt
steht noch an, dies allgemein anzuerkennen. Bei Lelewel
(Geogr. au moyen-äge IV, 106) mag man nachlesen, wie
schon 1476, also vor Colon, der polnische Steuermann Jo-
Hann Szkolny Amerika entdeckte. Auch diese slavische
Großthat würdigt die Welt nicht nach Gebühr.
Die Gerechtigkeit erfordert es zu sageu, daß den Slaven
anch einige große Männer abhanden gekommen sind, die
ursprünglich ihrer Nationalität angehörten; so Wallenstein
(Valdstyn) und der Feldmarschall Radetzky (Hradecky), bic
beide ans alttschechischen Geschlechtern stammen und im gewöhn-
lichen Laufe der Anschauung für Deutsche genommen werden.
Ein anderer großer Mann aus dem böhmischen Adel, Bohn-
slav von Hassenstein (f 1510), aus der Familie der
Lobkowize, welcher dem Geiste seiner Zeit gemäß meist latei-
nisch schrieb und den man gern für einen großen Tschechen
ansgiebt, erklärt ausdrücklich in einem Briefe an seinen
Freund Adelmann in Eichstädt: „Ich gebe mich ohne An-
vische Annectirungen. 309
stand für einen Deutschen ans, und ich bin stolz darauf, einer
zu fein." Sein patriotisches Gefühl hat er am tiefsten in
dem Gedichte „Deutschland an Italien" ausgesprochen, in
dem es heißt:
Beizuzählen mein Volk den Barbaren wagest, o Rom, Du?
Setze Deutschland zurück, was deutscher Witz je erfunden,
Was bewahret Dich dann vor dem barbarischen Joch?
Graf Kaspar von Sternberg, aus dem Geschlechts
der Diwisch, endlich, der große Naturforscher, welcher eine
sehr stark ausgesprochene Heimathsliebe für Böhmen besaß
und viel für das Land that, der sich jedoch selbst in einen
Gegensatz zu den „echten Tschechen" brachte, spricht sich in
seinem Briefwechsel mit Goethe über die von ihm begründe-
ten deutschen Natursorscherversammlnngen dahin ans, daß
diese gewissermaßen den Mangel einer Hauptstadt in Deutsch-
laud ersetzen müßten, und fügt hinzu: „Der Himmel gönne
dem wissenschaftlichen Streben in unferm deutschen Va-
terlaude noch lange Friede und Ruhe*)." Er hat sich
also auch unter die Deutschen gerechnet.
Auch einen bedeutenden Künstler haben die Tschechen durch
Entuationalisirnng verloren, den Kupferstecher Wenzel Hol-
lar (geboren zu Prag 1607, gestorben 1677). Im Prager
Landtage fanden im Jahre 1862 große Debatten wegen An-
kanss einer Sammlung der Kupferstiche dieses Meisters statt,
wobei seine Nationalität keine geringe Rolle spielte. Als
ich das britische Museum zu London besuchte, habe ich mir
die dort ausgestellten Werke Hollar's deshalb genau äuge-
sehen. Sein von Meysens gestochenes Porträt zeigt eine
entschieden slavische Physiognomie; die Unterschrift unter dem-
selben führt uns biographische Notizen in französischer
Sprache vor; die Stiche englischer Lustschlösser, Ansichten
von Tanger in Afrika, Porträts nach van Dyk, Holbein,
Thierstücke nach Barlow, Trachtenbilder englischer Frauen-
zimmer zeigen englische Inschriften; in dieser Sprache ist
auch ein Autograph Hollar's aus dem Jahre 1652 abgefaßt,
in dem er Sir William Dngdale meldet, daß er von Sol-
daten verhaftet und nach Hicks' Hall abgeführt worden sei.
Deutsch endlich sind die Unterschriften der schönen von Hol-
lar herrührenden Ansichten Prags; etwas Tschechisches konnte
ich von ihm nicht auffinden; er scheint Böhmen ganz ver-
gessen zu haben.
So ein verlorener Slave war auch Kaiser Justiuiau's
ausgezeichneter Feldherr Belisar. Wie neuere slavische
Geschichtsforscher nachweisen, war er einer der ihrigen, weil
er im slavisirten Dardanien geboren wurde und sein Name
weder griechisch noch römisch klingt und nur vom slavischen
Velitscharj abgeleitet werden kann. Daß Kaiser Justiniau
übrigens ein Slave war, ist eine bekannte Thatsache.
So ist denn die Erfindung der Buchdruckerkunst und vie-
les Andere, auf welches wir Deutschen uns stets etwas zu
Gute thateu, uns von den Tschechen in majorem gloriam
ihrer Nationalität plötzlich unter der Hand wegescamotirt
worden. Das genügte aber dem Heißhunger noch lange
nicht. Auch die Reformation ist slavischen Ur-
sprnngs. Dem national gesinnten tschechischen Geistlichen,
der in seiner Stellung Hns gegenüber sich noch immer nicht
zurechtfinden kann und ihn lieber in zwei Wesen, ein natio-
nales und ein reformatorisches, spalten möchte, um das erstere
ans Herz zu drücken und das zweite zu verdammen, dann
dem griechisch-orthodoxen Popen, — diesen beiden ist die
Entdeckung vom 'slavischen Ursprünge der Reformation aller-
dings uicht ganz genehm, aber die anderen Alle, sie nehmen
*) Briefwechsel zwischen Goethe und Graf Kaspar von Stern-
berg. S. 179.
310 Richard Andree: S
sie dankbar an, im Vollgefühle, daß, gleichviel auf welchem
religiösen Standpunkte man auch stehen möge, in der Re-
formation doch eine weltgeschichtliche That ersten Ranges
vorliege, — eine solche aber konnte notwendigerweise nur
von den Slaven ausgehen. Was darüber gesagt werden
kann, was durch viele populäre Schriften und Journale dann,
namentlich unter den Tschechen, weiter verbreitet wurde, ist
in Jordan's „Slavischen Jahrbüchern" 1844 S. 147 ff.
zusammengefaßt worden. Schon im Jahre 680 — damit
beginnt die slavische Reformation bereits! — erhob die Kir-
chenversammlung Klage wider die Slaven, daß sie beim Got-
tesdienste alle Bilder wegließen. Ueberhanpt war in den
slavischen Gegenden an der untern Donau der Hauptsitz der
von der Gesammtkirche abweichenden Secten; die Slaven
arbeiteten zuerst für die Einführung der Volkssprache in die
Kirche, sie erreichten dieses schon im neunten Jahrhunderl,
die Deutschen durch Luther erst im sechszehnten; somit be-
saßen sie schon sieben Jahrhunderte vor uns ein Hauptergeb-
niß der Reformation. Im zwölften Jahrhundert stiftete
Basilii — man merke wohl auf den Namen, denn hier
begegnen wir dem Urvater aller Reformatoren! — unter
den Bulgaren die reformatorische Secte der Bogomili oder
Gottliebenden; er durchreiste „halb Europa" im Mönchs-
gewande und streute den Samen seiner reformatorischen Ideen
aus. Von dieser reformatorischen Urzelle oder Monade gleich-
sam empfingen die Albigenser ihre ketzerischen Ansichten. „Daß
die Anfänge der Reformation von den Bulgaren nach dem
Westen, zunächst nach Italien nnd Frankreich gekommen
seien, darauf deutet auch der Schimpfname Bugerone, fran-
zösisch bougre, d. i. Bugar, wie sich die Bulgaren in ihrem
Dialekte selbst nennen und von den ihnen westlich benach-
barten Serben genannt werden. Benoit sagt (Histoire des
Albigeois et des Vaudois) ausdrücklich: On les (die Al-
bigenser) appelloit aussi Maniclieens, Gazari (Ehazaren)
et Bu]gares. Nach demselben Zeugen war die Secte der
Bogomili schon längst vor Waldo — von welchem die Wal-
denser benannt wurden und dessen Name ein bei den Slavo-
Bulgaren ganz gewöhnlicher Vorname, Wlad, ist — vor-
handen, und hielt sich in den italienisch-sranzösischen Thälern
auf, um vor Nachstellungen sicher zu sein."
Aus dem reformatorischen bulgarischen Protoplasma sind
nun schon die Albigenser und Waldenser geworden; auf Be-
uoit's Zeuguiß hin hätte mau erstere aber vielleicht auf die
Chazaren zurückführen können, was auch nicht übel gewesen
wäre. Wie dem auch nun sein möge, jetzt wird die Sache
leicht und Schlüsse folgen auf Schlüsse. Der reformatori-
sche Samen ist durch den Slaven Basilii ausgestreut wor-
den, bei Waldeuseru und Albigensern ist er aufgegangen uud
die Ketzer Peter Abonus, Savonarola, Peter Brussyaui tru-
gen unbewußt den slavischen Gedanken der Reformation in
das fünfzehnte Jahrhundert hinein. Das Slavische darin
mochte freilich schon etwas romanisch verwässert sein, aber
die Auffrischung war nahe. „Nachdem die Lehre der Bogo-
mili," sagt unser Slave, „nun aus deu Donauländern durch
Italien, Frankreich bis nach England einen großen Halb-
kreis nm Deutschland herum beschrieben hatte, das von der-
selben noch keine Ahnung zu haben schien, fügte es das
Schicksal, daß in Folge der Verbindung des böhmischen
Fürstenhauses mit dem englischen ein junger Tscheche, Hus
von Husinec, nach England kam und dort mit Wiklesf, einem
der berühmtesten Lehrer, bekannt wurde." Die slavische Re-
formation ist nun fertig, denn daß Luther nur ein Nachbeter
des Hus, ohne alle selbständige Schöpferkraft gewesen, das
steht nach tschechischer Auffassung ja fest, darüber ist weiter
nicht zu streiten. Höchstens hat Luther das vorhandene Feuer
nur etwas anzufachen vermocht. Sehr hübsch bildlich dar-
vische Annectirungen.
gestellt habe ich diese Idee in einem Graduale aus dem
sechzehnten Jahrhundert gesehen, welches auf der Prager
Bibliothek aufbewahrt wird. Es hat tschechischen Text und
war für die utraquistifcheu Bürger der Prager Kleinseite
hergestellt worden. Die fchöne Randarabeske eines Blattes
zeigt nun die Verbrennung des Hus. Oben schlügt Wiklesf
Feuer, unter ihm entflammt Hus eine Kerze, dann folgt
Luther, der eine Fackel schwingt. Leider fehlt Basilii, die
bulgarische Urzelle der Reformation, von welcher Jan
Kantor, der das Graduale vollendete, unbegreiflicherweise
keine Vorstellung gehabt zu haben scheint.
Der Beweis ist hergestellt, die Reformation ist slavischen
Ursprungs. „Es ergiebt sich aber auch," schließt unser Slave,
„wie einseitig und ungerecht Die handeln, welche die ganze
Reformation nur Luther zuschreiben nnd sie nur als Werk der
deutscheu Nation betrachten. Die Verdienste der Slaven
sind in dieser Hinsicht älter, beträchtlicher, theurer — Basil,
Hus, Hieronymus gaben ihr Leben dafür hin — als die der
Deutscheu. Die Slaven pflügten und säeten, Luther und
die Deutschen waren bloß die Schnitter. Was nun beson-
ders den Lieblingsausdruck „die deutsche Reformation" be-
trifft, so können wir nicht umhin, in Erinnerung zu bringen,
daß unter den wichtigsten der Reformatoren Trebon, Stau-
pitz (Stupicky) Slaven waren, daß Luther selbst in einem
früher von Slaven bewohnten Orte geboren war(!),
daß er den meißnifch-dentschen Dialekt, gerade denjenigen,
der sich unter dem Einflüsse eines noch bis ans Ende des
vierzehnten Jahrhunderts slavisch sprechenden Volksstammes
entwickelt hatte und freilich in Folge dessen noch für den
schönsten (!!) Dialekt der Deutschen gilt, zu seiner Ueber-
setzung der Bibel wählte, nnd daß dieser Dialekt eben durch-
drang, weil er der glatteste war, daß mithin (!) die Refor-
mation eine Gabe und Frucht der slavischen Nation, und der
Boden, auf dem Lutber's Füße einst einherfchritten, einst den
Wenden, Sorben, Planen, Chnticen und anderen Slaven-
stämmen gehörte, die aber von den Deutschen verdrängt und
ausgerottet wurden."
Though this be madness, yet there is method in't.
Uebrigens steht die Sache fest und wir erlauben uns nur
eiue bescheidene Frage: Was haben denn die Slaven mit
ihrer Reformation angefangen? Schafarik hat uns eine
Vertheiluug der Slaven nach den Religionen gegeben. »Da
finden wir denn, daß 75,828,000 der griechischen und der
römischen Kirche angehören und daß nur anderthalb Millionen
(meistens Slowaken und Wenden) Protestanten sind; 800,000
genießen das Glück, Mohammedaner zu sein. Das Volk,
von dem „ursprünglich die Reformation ausging", liefert
unter allen europäischen Nationen einzig und allein Anhän-
ger des Propheten.
So bleibt denn schließlich gar wenig für uns Deutsche
übrig. Unsere armen „unterdrückten und beraubten" Nach-
baren —• sie haben den Löwenantheil für sich genommen.
Es ist nur zu verwundern, daß wir überhaupt glaubten,
etwas Hervorragendes auf geistigem Gebiete besessen zu haben.
Wir sind geistige Bettler. Das beweist uns die russische
Zeitung „Golos" (Nr. 41. 1871) in einem Artikel, der
die Slaven als Gegenstück in den Himmel hebt. „Wir be-
wundern," heißt es dort, „den Genius der Semiten ans dem
Gebiete religiöser Schöpfungen, den der Griechen auf dem
Gebiete der Wissenschaften und Künste, den Genius der Rö-
mer aus dem Gebiete des Rechts und der Politik; wir be-
wuuderu deu begeisterten Schwung des Spaniers und Jta-
lieners, das gesellschaftliche Talent und den Geschmack des
Franzosen, die schöpferische Kraft und die Erfindungsgabe
des Engländers. Was kann dagegen der Deutsche
für sich beanspruchen? Was ist an ihm genial, was
Der Veto Faxiba, Sjogun Taico von Japan.
311
ideal, was vollendet? Ist sein Glaube nicht abstract und
sein Unglaube kühl? Seine Philosophie phantastisch und
seine Poesie philosophisch? Seine sociale Existenz, sein Fen-
dalismus, sein Junkerthum, sind sie nicht die Negation der
Menschenrechte, die organisirte Gewaltthat? Können seine
gute militärische Disciplin, seine gute Bewaffnung, seine In-
tendantur dem deutschen Volke den Beinamen eines götter-
gleichen (sie) eintragen? Können seine Mäßigkeit und
Accuratesse, seiu kaltes, herzloses, maschinenartiges Aussüh-
ren dessen, was ihm besohlen wird, selbst auf Kosten der ge-
heiligten Gefühle der Großmuth und des Mitleids mit dem
Unglück, können sie dieses Volk erhöhen und Liebe erregen?
Können seine Arbeitsamkeit und Pünktlichkeit den Mangel
an schöpferischer Kraft und Humanität ersetzen? Wir haben
mit unseren eigenen Augen die Kehrseite des Germanismus
gesehen, und wenn trotz alledem oder gar eben deshalb die
Deutschen das nachahmuugswürdige Ideal der Politik und
Cultur bleiben, wo soll dann der Glaube au die Menschheit,
an ihren Fortschritt, an den Einfluß der Bildung auf Cha-
rakter uud Leben der Völker noch ferner ein Unterkommen
und Schutz finden? Nein, möge die geschichtliche Vorsehung
die Slaven vor dem Wege der Entwicklung bewahren, auf
dem sie den Deutschen ähnlich werden könnten!"
Der Beto Faxiba, Sjogun Taico von Japan.
Jeder Fremde, der Japan besuchte, weiß viel von den
Vetos, den unermüdlichen Pferdejnngcn oder Stallknechten,
zu erzählen. Diese kräftigen, gewandten Burschen haben
einen ungemein anstrengenden Dienst, denn stundenlang lau-
fen sie nicht allein neben
den Pferden her, nnbeküm-
mert darum, ob diese berg-
auf, bergab, im Galopp oder
Trabe gehen. Stets ist der
Veto bereit, irgend eine kleine
Dienstleistung zu verrichten;
meist läuft der arme Bursche
vor den Pferden her, da die
Thiere, schlecht geschult, sich
nur dann in das gewünschte
Tempo versetzen, wenn der
Beto sie zum Laufen an-
feuert, d. h. wenn die Pferde
die Gestalt des Beto vor sich
her trotten sehen. Es ge-
nügt, das vorderste Thier
in dieser Art aufzumuntern,
denn alle übrigen fallen dann
gleichsam wie aus Verabre-
dung in den gleichen Schritt.
Dabei sind die Vetos heiter,
stets guter Dinge nnd na-
türlich berühmt wegen ihrer
guten Lungen.
Auf eines thun die Be-
tos sich besonders etwas zu
gute. Wie die deutschen
Schneider auf den Derfflin-
ger mit Stolz als einen der
Ihrigen blicken, so rühmen
sich die japanischen Vetos,
daß der mächtigste weltliche
Kaiser oder Sjogun ihres
Landes aus ihrem Stande
hervorgegangen sei. Die
Sache hat ihre Richtigkeit,
und unser, einer japanischen Zeichnung nachgebildeter Holz-
schnitt zeigt den ehemaligen Veto Faxiba, aus dem später
der berühmte Kaiser Taico wurde. Faxiba wurde im Jahre
1535 als der Sohn eines armen Landmannes geboren;
er spaltete in seiner Kindheit Holz ans den Straßen und
trat, als er heranwuchs, als Beto in die Dienste eines
Der Beto Faxiba.
Großen. Ernst und schweigsam von Charakter, zog er sich
von seinen Gefährten zurück. Am liebsten saß er einsam
im Stalle bei seinen Pferden, versunken in Träumereien
und beschäftigt mit hochfahrenden Plänen, die auch zur Wirk-
lichkeit werden sollten. Faxi-
ba's Herr befand sich mit
dem Mikado in Fehde. Er
rief alle feine Mannen zn-
fammen und bewaffnete auch
feine Vetos, unter denen sich
Faxiba bald durch Tapferkeit
und Verständniß in Kriegs-
angelegenheiten auszeichnete.
Nicht minder aber lag die-
fem der unglückliche Zustand
seines Vaterlandes am Her-
zen, dem abzuhelfen fein
eifrigster Wunsch war. Die
Großen des Landes hatten
sich nämlich wieder einmal
gegen den Mikado ausge-
lehnt, nnd Bürgerkrieg über-
zog das Land. An der Spitze
des kaiserlichen Heeres stand
der Kronprinz Nobunga, wel-
cher den Faxiba, der sich
nun Fide-josi nannte, in
Dienst nahm. Vor seinen
kräftigen Schlägen zerstob der
Aufruhr und die Großen des
Landes wurden derb gezüch-
tigt. Unterdessen hatte No-
bunga sich zum Sjogun em-
porgeschwungen, und als er
frühzeitig starb, da lag für
Fide-josi der Schritt nicht
fern, mit Hülfe des Heeres,
an dessen Spitze er stand, sich
selbst zum Sjogun empor-
zuschwiugen. Das geschah
auch im Jahre 1586. Der
Mikado, anfangs hierüber aufgebracht, mußte gute Miene
zum bösen Spiele machen. Er verlieh Taico — so nannte
Faxiba-Fidejosi sich jetzt — die oberste Regierungsgewalt in
allen weltlichen Dingen, nur unter dem Vorbehalt, daß alle
neuen Gesetze, die Taico erlassen würde, des Mikado Be-
stätigung haben mußten.
312
Erlebnisse schwedischer Ansiedler auf den Fidschi-Inseln.
Mit Taico, dem 29. Sjogun Japans, beginnt ein völlig
neuer Abschnitt in der Geschichte dieses Landes. Dieser große
Fürst befestigte die weltliche, von seinem Vorgänger Joritimo
gegründete Macht der Sjogune aufs Neue, ja machte sich
schließlich ganz unabhängig von dem Mikado. Als Feldherr
wie als Regent, als Gesetzgeber und Verwalter war er eine
hervorragende Erscheinung, ein Mann, dem es gelang, Ruhe
und Ordnung herzustellen. Er starb im 63. Lebensjahre,
nach zwölfjähriger Regierung. Sein Andenken lebt im
Munde des Volkes noch heute, und jeder Japaner erkennt
an, was er für das Vaterland geleistet hat, vorzüglich aber
die Vetos, die mit Stolz von ihrem Collegen Faxiba, dem
Sjogun Taico, reden.
Erlebnisse schwedischer
Inzwischen hatte die Gefangennehmung und lange Ge-
fangenschaft des Serua-Häuptliugs die Wuth der Fidschianer
geweckt, und darüber durfte man sich nicht wundern, da er
einer ihrer ersten Häuptlinge und zugleich der höchste An-
führer auf Seiten der Küstenbewohner in dem Kriege war,
der nun schon fünf Jahre lang gegen den Berghäuptling
Koroduadua gedauert hatte. Um ihren Chef, den sie für
verloren hielten, zu rächen, beschlossen die Küstenbewohner,
Egerström's und Case's Häuser, als die äußersten Vorposten
der europäischen Ansiedlnngen, zn verbrennen. Um aber
dieses Vorhaben ausführen zu können, da sie aus Furcht vor
dem Kriegsschiffe keine offenbare Gewalt anzuwenden wag-
ten, war es nothwendig, erst unsere treuen Hunde, die ge-
bunden vor dem Hause standen, aus dem Wege zu räumen,
denn die wachsamen Thiere zeigten stets dnrch heftiges Bel-
len die Annäherung eines Wilden an. Am Tage nach
Egerström's Abreise nach dem Kriegsschiffe bei Lewuka kamen
vier Fidschianer hierher, welche, um sich ohne Vorbedacht in
der Nähe des Hauses aufhalten zu können, vorgaben, sie
wären von Egerström hergeschickt worden, um eine Partie
Balken abzuholen, die uns lange im Wege gelegen hatten.
Ich erlaubte ihnen jedoch nicht, die Balken zu nehmen, da
sie uichts Schriftliches mitbrachten; inzwischen erhielten sie
die Erlaubniß, die Nacht über in dem Fidschihause zu blei-
beu, welches für freundschaftliche Fidschianer auf dem Hofe
aufgeführt ist. Als ich früh am folgenden Morgen heraus-
kam, um mich nach den Balken und den Eingeborenen um-
zusehen, waren zu meinem Erstaunen die letzteren nicht mehr
da. Die Folgen ihres Aufenthaltes zeigten sich inzwischen
einige Tage später, indem unser bester Hund starb. Der
zweite aber war und ist noch jetzt am Leben, weil er wahr-
scheinlich nicht von dem ihm hingeworfenen vergifteten Stücke
Fleisch oder Fisch gefressen hatte. Gleichzeitig wurde auch
der vortreffliche Hund des Capitäns Cafe vergiftet, doch nn-
terblieb der Mordbrandversuch, weil der Serua-Häuptling
. um dieselbe Zeit seine Freiheit wieder erhielt. Die Fidschia-
ner erzählten späterhin die Absicht mit der Vergiftung der
Hunde und machten überhaupt gar kein Geheimniß daraus,
als sie ihren großen, fast zu Tode geäugstigteu Krieger-
Häuptling wieder .hatten, welcher während einiger Monate
nach seiner Befreiung nur von den fürchterlichen Donnern
redete, die auf dem Kriegsschiffe gewesen wären und deren
Wirkung er auf der Umsegelung der Insel Viti Levn ken-
nen gelernt hatte.
Außer dem heilsamen Schrecken, den das Kriegsschiff den
Eingeborenen beigebracht hatte, war es auch die Ursache, daß
wir von unseren lästigen Nachbarn, den Bewohnern von
Nasilanga, befreit wurden, welche täglich, wenn sie nämlich
nicht von ihren Feinden belagert wurden, was oft genug
auf den Fidschi-Inseln.
der Fall war, herüberkamen, um zu stehlen, was sie bekom-
men konnten, oder uns mit ihren Zudringlichkeiten und Pos-
sen zu ärgern. Da sie sich sehr wohl aller Unbilden ent-
sannen, die sie Egerström zugefügt hatten, konnten sie nicht
anders glauben, als daß seine vornehmsten Klagen auf dem
Kriegsschiffe gegen sie gerichtet sein wUrden. Auch bildeten
sie sich ein, Egerström hätte ihren Feind Koroduadua be-
redet, ihr Dorf von der Landseite anzugreifen, während sie
gleichzeitig durch das Kriegsschiff deu Angriff von der See-
seite befürchteten. Um der drohenden Gefahr zu entgehen,
ihren Rückzug abgeschnitten zu sehen und in Folge dessen
bis aus den letzten Mann geschlachtet zu werden, beschlossen
sie in ihrem Schrecken, ihr Dorf selbst anzuzünden und zu
zerstören. Dieses thaten sie denn auch unter dem Lärme
von Trommeln und Musketensalven; darauf schifften sie sich
auf ihren Canoten ein und flohen in ein befreundetes, einige
Meilen weiter belegenes Dorf. Bald darauf besuchten wir
die Ruinen des zerstörten Dorfes, die für mich besonders
darum interessant waren, als ich daraus zum ersten Male
die Art der Befestigung eines fidschianischen Dorfes
kennen lernte. Ein stürmender Feind hat zuerst eine hohe
Pallisadirnng zu übersteigen, daraus befindet er sich vor einem
tiefen und breiten Graben, augefüllt mit Wasser, und über-
all mit scharf gespitzten Pfählen von einem harten Holze
und in der Mitte mit einer hohen Pallifadirung versehen.
Anstatt den Uebergang über den gefährlichen Graben zu ver-
suchen, kann ein Feind über die schmale Brücke dringen,
welche über denselben führt; diese aber ist am Ende durch
einen starken bedeckten Gang mit einem starken Thore ver-
theidigt, bei welchem die Vertheidiger ihre Hauptmacht haben.
Ist es einem Feinde gelungen, dieses Hinderniß zu besiegen,
so muß er noch eine Pallisadirung und hinter derselben einen
Graben, ähnlich dem ersten, übersteigen, worauf er vor sich
einen Erdwall hat, innerhalb dessen das Dorf liegt, wo
nun die sämmtlichen Vertheidiger stehen, die sehr wohl wis-
sen, daß nichts im Stande ist, sie vor dem Tode, sowie ge-
braten und verzehrt zu werden, zu erretten. Eine solche
Befestigung ist für die Fidschianer, welche nicht die Werk-
zeuge und Hülfsmittel eines weißen Mannes haben, eine
recht großartige Arbeit, besonders kosten die großen Gräben
ihnen viele Mühe, indem sie dieselben ganz mit Stangen und
Händen graben müssen.
Der heilsame Schrecken, den das Kriegsschiff auf die
Eingeborenen ausübte, war gleichwohl von keiner langen
Dauer. Kaum einen Monat nach dem Abgange desselben
kamen einige Dutzend Fidschianer ans der Insel an und er-
hielten die Erlaubniß, auf der dortigen Grotte ihr Haupt-
quartier aufzuschlagen, während sie ihre auf dem Festlande
belegenen Anpflanzungen von Unkraut reinigten. Doch wa-
Erlebnisse schwedischer Ansit
ren sie nicht viele Tage hier gewesen, so zeigte sich, daß sie
Böses im Sinne hatten. Außer anderen Diebereien stahlen
sie eine unserer besten jungen Sauen, leugneten aber, wie
gewöhnlich, den Diebstahl. Am folgenden Morgen kam ihr
Hauptmann zu uns ins Haus und bat uns, ihm seine Axt
zu schleifen. Egerström aber wollte ihm zuvörderst eine
Quittung für den Ferkeldiebstahl geben, und begann daher,
den nackten Rücken des Wilden mit einem dicken Tauende
zu bearbeiten. Erschreckt warf der Fidschianer die Axt hin,
eilte mit gewaltigen Sprüngen über den Hof und flog wie ein
Pfeil über die Einfriedigung. Da auch ein Fidschianer nicht
gern Schläge entgegennimmt, ohne an Rache zu denken, so
beeilten wir uns, unsere Gewehre zu laden, um aus jeden
möglichen Fall vorbereitet zu sein. Die Fidschianer hielten
einen langen Kriegsrath und zeigten sich erst am Nachmittage
wieder. Da kamen sie bewaffnet mit Gewehren, Keulen
und Spießen, mit bemalten Gesichtern und Leibern und
sahen aus, daß sie, wie man bei uns zu Hause zusagen pflegt,
Pferde in die wildeste Flucht jagen konnten. Nachdem sie
sich in einem Halbkreise vor beut Hause aufgestellt hatten,
begannen sie von Genugthuung für den Schimpf zu reden,
den ihr Häuptling erlitten hatte, und seine Axt zurückzu-
fordern, welche wir natürlich gar nicht zu behalten gedachten.
Egerström dagegen hielt ihnen eine scharfe Rede über den Dieb-
stahl des Ferkels und ihre gewaltthätigen Absichten, welche
aus ihrer kriegerischen Ausrüstung deutlich zu ersehen waren.
Zwei der jüngeren Krieger, bewaffnet mit Gewehr und Keule,
schienen sehr ungeduldig zu seiu und zu Gewalttätigkeiten
schreiten zu wollen; daher ergriff Egerström ein Gewehr mit
ausgeschrobenem Bayonnet, ging auf sie los und forderte
sie auf, sich zu vertheidigen. Nachdem sie einen fragenden
Blick auf die Cameradeu geworfen hatten, um zu sehen, ob
diese geneigt wären, ihnen beizustehen, aber keinem ansmun-
ternden Zeichen begegneten, ergriffen die beiden tapfern Hel-
den eilig die Flucht, unter unferm lauten Gelächter, in wel-
ches ihre Gefährten einstimmten, und hielten sich darauf in
ehrfurchtvoller Entfernung. Nach verschiedenen Parlamen-
tirnngen wurde endlich Frieden geschlossen, und die Bedin-
guugen desselben waren, „Egerström solle die Axt des ge-
peitschten Mannes schleifen, dieser aber den Schleifstein
drehen."
Nach Landesbrauch kann ein Fidschianer, der von einem
andern ein Geschenk annimmt, nicht abschlagen, was der
Geber als Gegengeschenk begehrt, selbst wenn es das Geschenk
vielfach an Werth übertrifft. Nun wollen die Fidschianer,
daß auch die „Weißen" diesem Gebrauche nachkommen sol-
len, weshalb diese klug handeln, wenn sie von einem Ein-
geborenen auch nicht das allergeringste Geschenk annehmen;
denn dieser würde darauf sogleich das Werthvollste fordern,
das seines Wissens der „Weiße" besitzt.
Doch nicht immer erhalten wir Besuche von Eingebore-
nen mit feindseliger Gesinnung. Fast täglich erscheinen sie
mit ihren Waaren, die sie zu verkaufen wünschen, als Baum-
wolle, Tripana, Cocosöl, 2)am, Tarro, Fische u. a. m., wel-
ches alles sie gegen Zeuge, Messer und andere Artikel nm-
setzen, die sie zu ihrem Nutzen verwenden können. Bisweilen
sind die Räume ganz angefüllt von handelnden Fidschianern,
welche alle schwatzen, lachen und schreien, wie unbändige
Jungen. Haben sie ihrer Meinung nach gute Bezahlung
für ihre Waaren erhalten, so ist alles vortrefflich; da neh-
men Geschrei und Lärm gar kein Ende, und Egerström wird
von ihnen umringt und ganz freundschaftlich geschüttelt, in-
dem sie rufen, daß er ihr Vater sei. Der Fidschianer ist
insofern unseren westgothischen Hausirern ähnlich, als er für
seine Waaren einen hohen Preis begehrt, aber ebenso bereit-
willig mit sich markten läßt. Ich will hier ein Beispiel
Globus XIX. Nr. 20. (Juni 1871.)
er auf den Fidschi-Inseln. 313
davon anführen. Der Tanfchhandel ist eine Weile betrieben
worden und das Zimmer von Eingeborenen angefüllt, die
sämmtlich bereits expedirt worden, aber noch geblieben sind,
um zu sehen, was ihre einzeln nach einander von der Ve-
randa hereinkommenden Landsleute für ihre Waaren erhalten
werden. Plötzlich sehen wir einen Mann mit fröhlicher und
bestimmter Miene und blitzenden Augen schnell hereintreten.
Er hält in der Hand einen sehr kleinen Korb mit Wolle —
vielleicht einige wenige Pfund —, aber seiner sanguinischen
Miene kann man es ansehen, daß er von dem Werthe sei-
ner Waare einen hohen Begriff hat. Er setzt sich ans den
Fußboden nieder — die Weise der Fidschianer —, reicht den
Korb hin und wartet kaum darauf, daß wir nach dem Preise
fragen, ehe er schon die Antwort singt: „ai sele" (ein 10
Zoll langes Messer, das 4Rthlr. kostet). Die Cameraden,
welche den Werth seiner Wolle besser kennen, sehen einander
mit schlauem Lächeln an und einer derselben fragt scherzend:
„Warum forderst Du nicht eine Axt anstatt eines Messers?"
Darauf fällt ein Anderer ein: „Du hättest ein Gewehr sor-
deru sollen!" — „Warum nicht zehn Gewehre fordern?
Du bekommst sie eben so leicht!" sagt ein Dritter. Bei die-
sem letzten Einfalle brechen alle Fidschianer in ein schallen-
des Gelächter aus, und der arme Gegenstand des Scherzes
stimmt eben so laut, gutmüthig und zufrieden mit eiu, indem
er den Angelhaken, das Zündhütchen oder die Gewehrkugel
entgegennimmt, die ihm als der Preis seiner Wolle darge-
boten werden. —
Das Jahr 1866 trat unter ungünstigen Auspicien ein.
Es herrschten Regen und Sturm vom 1. bis 7. Januar,
an welchem sich ein Orcan erhob, wie man ihn in Fidschi
seit vielen Jahren nicht erlebt hat. Dieser schreckliche Sturm
hielt über einen Tag an und brach beinahe Alles nieder.
Unsere ganze, seit dem vorigen Jahre bedeutend erweiterte
Banmwollenpslanznng wurde beinahe gänzlich zerstört; eine
Menge von Eocos-, Brotfrucht-, Banana- und anderen Obst-
bäumen wurden mit den Wurzeln ausgerissen; viele Granat-
apfelbänme, die auf dem Hofe standen, wurden an mehreren
Stellen abgebrochen und die Stücken über das Dach des
Wohnhauses geschleudert. Doch litten die europäischen Pflan-
zer am Revaslusse noch größern Schaden: der Fluß trat
über seine Ufer und riß im Verein mit dem Sturme ihre
Häuser nebst den Anpflanzungen hinweg, sie selbst aber rette-
ten sich mit genauer Noth in Booten und Kähnen. Auch
die Eingeborenen litten sehr: wenige von ihren Häusern stan-
den noch nach dem Sturme und, was schlimmer war, ihre
Obstbäume waren zerbrochen und ihre Wurzelpflanzungen
vernichtet, so daß man hier in diesem Jahre Hungersnoth
fürchtete. Wir reparirten die Baumwollenpflanzung durch
Versetzung und Umpflanzung so gut wie möglich und hatten
gute Hoffnung, wenigstens zwei Drittel von dem zu ernten,
was wir gehofft hatten; doch „der Mensch denkt und Gott
lenkt". Vom 11. bis 13. März wüthete wiederum ein
Orcan, der noch stärker war als der vorige und überdies
noch länger anhielt, so daß die wiederhergestellte Pflanzung
unrettbar vernichtet wurde. Die Fruchtbäume, welche dem
frühern Sturme widerstanden hatten, unterlagen diesem, aus-
genommen die ausgewachsenen Cocos- und einige Brotfrucht-
und Bananabänme. Auch in anderen Gegenden wurde die
Verwüstung des Januar wiederholt. — In den drei ersten
Monaten des Jahres haben wir uns unter Anderm mit der
Auspflanzung von etwa 600 jährigen Kaffeepflanzen be-
fchäftigt. Da die jungen Pflanzen die brennenden Strahlen
der Sonne nicht ertragen können, so haben wir sie in dem
nahen Walde ausgepflanzt, in welchem wir zu solchen! Zwecke
18 Alleen, 300 Fuß lang, durch das Weghauen der im
Wege stehenden Bänme gebildet haben. In der Mitte dieser
40
314 Tyrwhitt Drake: Forschungsreise durch i
schattigen Alleen stehen nun die saftigen Kaffeepflanzen, um-
geben von schönen Laubhölzern und überall untermischt mit
Kavika-Apsel- und Feigenbäumen.
In den ersten Tagen des März erhielten wir einen Be-
such von Koroduadua, welcher zu verkündigen wußte, daß er
soeben den lange ersehnten Frieden abgeschlossen hätte. Der
Häuptling beliebte sich selbst aufThee — „warmes Wasser",
wie ihn die Fidschianer nennen — einzuladen, und darauf
erzählte er, er hätte endlich an einem Orte nicht weit von
hier Gold entdeckt. Er behauptete, er hätte bereits einiges
von dem edlen Metalle gesammelt, und wollte davon bald
etwas herbringen, damit Egerström es besehen könnte, da er
bei der Bearbeitung der „Grube" sich seines Rathes und
seiner Hülfe zu bedienen wünschte. Bis jetzt aber hat Ko-
roduadua noch nichts von sich und seinen Goldproben hören
lassen, und es ist daher wahrscheinlich, daß seine ganze Er-
Zählung nur ein „Humbug" war.
Am 9. März feierten wir hier ein doppeltes Fest, näm-
lich Egerström's achtunddreißigsten Geburtstag und das Trin-
ken des ersten Kaffees, der zubereitet war von der Frucht
seiner ältern Pflanzung. Zur Erhöhung des Festes saßen
auf der Veranda vor der offen stehenden Thür des Speise-
zimmers ein Dutzend nackte Eingeborene, welche mit einer
Ladung von Baumaterialien zu einer der Kriegsbaracken
Natu Draningbaka's in Bau unterwegs waren, und aus der
Vorbeifahrt einsprachen. Während wir unsern Kaffee tran-
ken, den vortrefflichsten, den ich jemals gekostet habe, sahen
uns die Fidschianer mit einem zweifelnden Lächeln an, als
dächten sie, ob es wohl unser Ernst sein könnte, an dem
Trinken von „warmem Wasser" Genuß zu finden. Als sie
■ Wüste El Tih auf der Sinai-Halbinsel.
aber den Schinken sahen, der nebst Zubehör nach dem Kaffee
kam, äußerten sie zu einander: „Die Ausländer verstehen
besser zu leben als wir!*'
Nachdem nun zwischen den Berg- und Küstenbewohnern
Frieden geschlossen ist, beeilen sich die Fidschianer, die Dör-
fer wieder aufzubauen, die vor dem Friedensbruche existir-
ten. Koroduadua hat bereits, eine Meile von hier entfernt,
ein Dorf erbaut, und Andere folgen seinem Beispiele.
Jetzt wird hier in Fidschi ein neuer Krieg, ein sogenann-
ter Religionskrieg, gegen die im Innern von Viti Levn
lebenden Heiden vorbereitet. Thakumban, der Urheber dieses
Krieges, hat alle seine eigenen Krieger und die seiner Bnn-
desgenossen zum nächsten Maimonate nach Bau beordert, wo-
selbst der große Kriegsrath seinen Anfang nehmen soll.
Egerström hat neulich für 500 Rthlr. ein größeres Boot,
Namens „Kalokalo" (der Stern), gekauft, mit welchem er
längs der Küste kreuzen will, um auszukaufen, was die Ein-
geborenen abzulassen haben. Von der ersten Reise, die wir
vor Kurzem machten, führten wir 1000 Pfund Baumwolle,
300 Pfd. Tripang, fowie Oel, Schweine und Aara nach
Hanfe.
H Bisweilen haben wir es ruhig genug, bisweilen liegen
wir mit den Eingeborenen in Streit, bald freuen wir uns
unserer schönen Pflanzungen, bald haben wir die Betrübniß,
zu feheu, wie die launenhafte Natur in wenigen Stunden
vernichtet, was sie in Monaten und Jahren hervorgebracht
hat. Freude und Betrübniß wechseln mit einander ab, man
mag in dem kalten Norden oder in den warmen Tropen-
ländern wohnen.
Forschungsreise durch die Wüste El Tih auf der Siuai-Halbiusel.
Von C. F. Tyrwhitt Drake.
I.
Allgemeine Configuration der Wüste Tih. — Eindringen durch den Nagb El Mirad. — Dschebel El Edschmeh. — Wady Rowag. —
Natürliche polirte Flintsteine. — Sand irnkfanni — Nakhl. — Die Araberstämme der Tih, — Alte Steinmonumente. —
Höhlenwohnungen. — Ruinen von El Andscheh und El Meschrifeh. — Entdeckung der Ruinen der christlichen Stadt S'baita. —
S'adi. — Berseba. — Die Ruinen von El Abdeh in den Azazimehbergen. — Eingeschneit in Petra. — Höhlenwohnungen
von El Band.
r. ä. Die Wüste Tih nimmt den innern und nördlichen
Theil der Sinai-Halbinsel ein. Obgleich ein so viel
besuchter Ort wie Suez in der Nähe liegt, und ringsum sehr
betretene Karawaueustraßeu führen, ist sie doch nur wenig
durchforscht worden. Die Universität Cambridge versah da-
her einen englischen Gelehrten, Tyrwhitt Drake, mit den
nöthigen Mitteln, um eine Reise durch diese Wüste zu unter-
nehmen. Begleitet war er von E. H. Palm er, welcher
auf Kosten des Palestine Exploration Fuud reiste. Haupt-
zweck der Reise war die Erforschung der physikalischen Ver-
Hältnisse des Landes und der Traditionen und Märchen
der Araber. Die Bereisung selbst hatte ihre Schwierig-
keiten, da Wasser in der Wüste selten ist. Drake meint in
seinen Vorbemerkungen, daß diese Gegenden einst wasserrei-
cher, cultivirter und bevölkerter als heute waren, worauf viele
Anzeichen hinweisen. Wir lassen jetzt den Bericht Drake's
folgen, wie er vom Vicekanzler der Universität Cambridge
veröffentlicht wurde.
Die Wüste Tih besteht aus einer Reihenfolge von Kalk-
steinplateans, die von verschiedenen Wadies durchschuitten
werden, unter welchen die bedeutendsten sind: Wady El
Arisch, welches bei Nakhl mit dem Wady Rowag sich ver-
einigt; Wady Garaijeh, mit den in dieses einmündenden
Wadies Majin, Jerur, Muweileh; Wady El Ain, welches
in den Wady El Abyadh mündet; Wady Rehaibeh und
Wady Sebah, die in das Mittelmeer münden. Wady Ghamr
und Wady Jerafeh, deren Namen von früheren Reisenden
verwechselt wurden, fallen in den nördlichen Abhang des
Arabah-Thales nnd streben so dem Todten Meere zn, ebenso
wie die Wadies Murreh, Maderah uad Figreh, welche in den
Chor es Safi ausmünden.
Die südliche Grenze wird gebildet von Dschebel El Rahah
und Dschebel El Tih im Südwesten, und Dschebel El
Edschmeh im Süden und Südosten, die vereinigt eine von
Suez nach Akabah laufende Kette bilden und sich in der
Sinai-Halbinsel in derselben Form ausbreiten, wie diese in
Tyrwhitt Drake: Forschungsreise durch !
das Rothe Meer vorspringt. Die Höhe des Gebirgszuges
erreicht im Dschebel El Edschmeh, dem höchsten Punkte, 4200
englische Fuß über dem Meere, und von diesem aus fällt
das Land nordwestlich ab.
Im Nordosten der Tih erhebt sich eine dritte Steppe
(oder Vorgebirge), deren nördlicher Theil mit dem „Negeb"
oder Südlande der Schrift übereinkommt; ihr südlicher Theil
führt den Namen Dschebel Magrah, den man zuweilen
auch Gebirge der Aza zun eh nennt, nach dem Araber-
stamme, der hier wohnt. Im Südosten dieser gebirgigen
Region treffen wir das einzige Sandsteinlager, welches in
der ganzen Landschaft vorkommt. Es gehört zu derselbe«
Formation (neuer rother Sandstein), wie jene von Petra
und die tieferen Schichten des Beckens des Todten Meeres.
Nachdem wir sorgfältig die beste Art und Weise erwogen
hatten, um das Tihplateau zu erforschen, entschlossen wir
uns, entlang der Basis des Dschebel El Tih vorzudringen,
indem wir die Nagbs Emreikheh und Er Rakineh westlich
liegen ließen, die Pässe auf dem gewöhnlich von Reifenden
vom Sinai aus nach Norden zu eingeschlagenen Wege. Wir
wollten deu Dschebel El Edschmeh, wo er sich gangbar zei-
gen würde, kreuzen, und fo durch einen bisher nicht be-
tretenen District nach Nakhl vordringen, wo wir eine
Niederlage von Lebensmitteln errichtet hatten und wo wir
mit einem andern Araberstamme Übereinkommen wollten,
unser Gepäck weiter nördlich zu trausportireu.
Dieser Plan wurde ausgeführt, und wir betraten die Tih
durch den Nagb El Mirad am 12. Januar 1870. Vom
Gipfel des Abhanges — denn Dschebel El Edschmeh
hat keine Prätensionen, ein Gebirge genannt zu werden —
hat man einen prächtigen Blick über die Sinai-Halbinsel.
Die Kette selbst besteht aus Bergkalk, zerrissen uud ver-
wittert durch die Einwirkungen des Frostes und Wetters,
die Berge sind alle mit einem feinen Detritus bedeckt, so
daß sie nach Regen leicht Pflanzenwuchs hervorbringen; doch
als wir hier waren, sahen wir nur wenige vertrocknete und
verkrüppelte Sträucher, die hier, wie überall in der Wüste,
gutes Feuerungsmaterial liefern.
Vom Dschebel El Edschmeh senken sich die steilen, hellen,
wasserzerrissenen Berge allmälig ab und verlaufen in den gro-
ßen Ebenen oder vielmehr niedrigen Plateaus, welche zum
Mittelmeer hinreichen. Die Gleichartigkeit der Eontoureu und
die Oede dieses Landes hat etwas Furchtbares. Die wem-
gen vorhandenen Sträucher sind gran oder braun und schein-
bar verdorrt oder tobt; kein Thier belebt diese Landschaft,
höchstens ein Raubvogel oder Rabe schwebt fern am blauen
Himmel, eine erschreckte Eidechse huscht vor unseren Füßen
dahin, oder ein kleiner Heuschreckenschwarm wird von seinem
magern Futter auf einem Retembufche aufgestört. Wasser
ist an dem Wege absolut nicht zu finden; ein viertägiger
Vorrath wurde von El Bijar mitgeführt, einem Brunnen,
der stark mit Epfomsalz versetzt ist und wenige englische Mei-
len südlich vom Nagb El Mirad liegt.
Unter diesen Umständen konnten wir kaum hoffen, viele
Spuren von Leben anzutreffen. Aber nach den zahlreichen
Steinhaufen (cairns, Warden) und anderen urthümlichen
Resten zu schließen muß dieser District einst sehr bevölkert
gewesen sein. Ermüdet schlich ich Tag auf Tag mit der
Flinte in der Hand dahin, doch selten wurde ich mit etwas
Andern als einem verirrten Käser oder einer Eidechse, hier
und da mit einem kleinen Wüstenvogel, bei äußerst seltenen
Gelegenheiten mit einem Hasen oder einer Schlange belohnt.
Da wir auf früheren Expeditionen die Erfahrung ge-
macht hatten, daß es unmöglich ist, ein Land sorgfältig ken-
nen zu lernen, wenn man dasselbe nur durchreitet, so hatten
Wüste El Tih auf der Sinai-Halbinsel. 315
wir nur genug Kameele mitgenommen, um unser Gepäck zu
tragen. Die Kameeltreiber dienten als Führer und, bis zu
einem gewissen Grade, als Gehülfen, denn wir hatten kei-
nerlei Diener mit uns. Dieses erschwerte allerdings unser
schon mühsames Werk, aber es befähigte uns, in weit ergie-
bigerer Weise mit den verschiedenen Araberstämmen zu ver-
kehren, als sonst wohl der Fall gewesen wäre.
Von dem Nagb El Mirad führte unser Weg Wady
Rowag abwärts, welches an der höchsten Stelle des Dschebel
El Edschmeh entspringt, etwa 18 englische Meilen östlich
vom Ausgangspunkte des Wady El Arisch, mit dem es fast
parallel verläuft, bis es sich mit ihm kurz nordöstlich von
Nakhl vereinigt. Das Land zwischen Wady El Arisch und
Wady Rowag wird vom Wady Ghabijeh durchzogen, welches
in das letztere fällt, etwa 25 englische Meilen von dem Nagb
El Mirad. Nach dieser Vereinigung wird das Land offen
und vergleichweise eben. Hier ist der Boden fast so fest
wie eiue macadamisirte Straße, er ist bedeckt mit einer
Lage von kleinen, schwarzen, polirten Feuersteinen, die in
der Sonne glänzen, als ob sie naß wären. Diese Politur
muß dem Staube und Kiese zugeschrieben werden, die dnrch
die fast unaufhörlichen, oft sehr heftigen Winde in Bewe-
gnng erhalten werden. Viele der ägyptischen Baudenkmäler
geben Zeugniß von derselben zerstörenden Einwirkung. In
dieser Wüste ist Sand fast unbekannt. Es giebt nur
zwei oder drei faudige Strecken, und diefe können in höch-
stens ein paar Stunden durchzogen werden. Der größte
sandige District, deu wir zu durchziehen hatten, war das
Rumeilet Hamed, im Norden von Kalasah, dem alten Elnsa,
wo die vorherrschenden Nordwestwinde ausgedehnte Dünen
gebildet haben. Dieser Sand jedoch scheint ausschließlich
von der Küste hergeweht zu sein.
Bei unserer Ankunft in Nakhl fanden wir ein kleines
Fort mit Brunnen und Cisternen. In diesem tranrigen
Orte, der vou glänzend weißen Hügeln umschlossen ist, wer-
den von der ägyptischen Regierung einige elende Soldaten
zum Schutze der Pilgerkarawaueu unterhalten; der Platz
liegt auf halbem Wege zwischen Suez und Akabah. Hier
waren wir genöthigt, die Tomarah-Araber zu entlassen. Nach-
dem wir in Besitz unserer Lebensmittel gelangt, die von Suez
hierher gesandt waren, trafen wir ein Übereinkommen mit
den Tejahah, die nach langem Feilschen und Hin- und Her-
reden sich entschlossen, uns überall im Lande umherzuführen,
wohin wir gehen wollten.
Unter den verschiedenen Stämmen, welche dieWüste
Tih bewohnen, sind die Tejahah die zahlreichsten und mäch-
tigsteu. Sie bestehen ans zwei Abteilungen, den Sagai-
rat und den Benaijat, und sind gewiß, was ihr Name
besagt, „Raubvögel". Sie besitzen große Kameelherden,
deren Zahl häusig durch den Ertrag der Razzias vermehrt
wird, welche sie gegen ihre Erbfeinde, die Anazeh, ausfüh-
ren, deren Gebiet um Palmyra herum und im Osten von
Hanran liegt nnd etwa zwanzig Tagereisen von der Tih
entfernt ist. Diese Raubzüge werden oft im großen Maß-
stabe ausgeführt; beim letzten Male zählten die Tejahah
1000 Flinten. Zuweilen bringt ihnen der Raub viele Huu-
dert Kameele, doch manchmal werden die Eindringlinge von
den Eigenthümern zur Flucht gezwungen. Blutvergießen
wird bei diesen Freibeuterzügen eben so wie offener Krieg
nach Möglichkeit vermieden, denn es artet in Blutfehde aus,
die von einem Bedawi stets gefürchtet wird, da es die Ver-
wandten eines Jeden, der entweder durch Mord oder Todt-
schlag — zwischen beiden machen die Araber keinen Unter-
schied — umkam, zwingt, den Tod zu rächen. Die Blut-
fehde oder Vendetta übt solcher Gestalt einen sehr heilsamen
Einfluß aus, denn ohne sie würde der Werth eines Men-
40*
316 Tyrwhitt Drnke: Forschungsreise durch >
schenlebens in diesen wilden Gegenden, die außerhalb jeder
Gesetzeswirkung liegen, völlig mißachtet sein.
Die Terabin, der nächst wichtige Stamm, nehmen das
Land im Osten der Tejahah ein; ihr Gebiet erstreckt sich
vom Dschebel Bischer und Bir Abn Suweirah an der Sinai-
straße etwa 40 Miles südöstlich von Snez bis nach Gaza
im Norden.
Die Haiwatt leben in den Bergen westlich und uord-
westlich von Akabah und sind nicht sehr zahlreich.
DieAzazimeh bewohnen die obenerwähnten, nach ihnen
benannten Berge. Der Stamm ist nicht zahlreich und äußerst
arm. Ihre einzige Nahrung besteht aus der Milch und dem
Käse, welche sie von ihren Kameelen und Ziegen erhalten,
sowie aus den Wurzeln, welche sie graben. In äußerst sel-
teueu Gelegenheiten glückt es ihnen, ein wildes Thier zu
schießen, das, gleichviel sei es ein Steinbock oder eine Hyäne,
ihren wenig wählerischen Magen gleich willkommen ist. Sie
sind gezwungen, in sehr kleinen Gemeinschaften zu leben, da,
ausgenommen ein oder zwei brakige und ungenießbare
Quellen, ihr ganzer Wasservorrath in dem Regenwasser be-
steht, das in Felsenhöhlungen der Schluchten und Wadybetten
gesammelt wird, und auch diese sind nur selten. Dieses
Wasser war gewöhnlich übelriechend und voller wenig ein-
ladender Thierchen; da jedoch kein anderes zu bekommen war,
mußten wir es trinken. —
Von Nakhl wanderten wir in nordöstlicher Richtung nach
dem Wady Garaijeh, von da zum Dschebel Arais, deu wir
bestiegen; obgleich er wenig über 2000 Fuß hoch, hat man
doch eine bedeutende Aussicht. Wir setzten unsern Weg fort,
indem wir Wady Mayin, Wady Lussan und Wady Ierur
krenzten und dann Ai'n Muweileh, in der man die Quelle
Hagar's erkennen will, erreichten. Hier finden sich zahlreiche
Steinmonumente ausUrzeiten, am bemerkenswertesten
darunter sind die Steinpfeiler, welche in Reihen längs
dem Abhänge im Osten aufgestellt sind. Könnten sie nicht
Ueberbleibfel des alten Baaldienstes der Amoriter sein,
deren Name sich noch im Lande nördlich vom Wady Mu-
weileh, im Dheigat El Amerin, der Schlucht der Amoriter,
im Ras Amir und Scheikh El Amin erhalten hat? An
verschiedenen Stellen unseres Weges, besonders bei Uggabah,
zwischen Nakhl und Wady Garajieh, beim Dschebel El
Edschmel, Dschebel Araif im Wady Lnssan fanden wir nn-
gemein zahlreiche Cairns, Steinzirkel mit Gräbern
und offene Räume, die nach der gebrannten Erde inner-
halb derselben zu schließen, zu Opferzwecken gedient zu haben
scheinen; auch Einfriedigungen, umgeben von rohen
Steinmauern, und, im Wady El Bijar, kreisförmige
Wohnungen, von denen noch einige vollständig erhalten
sind. Im Wady Rowag ist fast jeder Berg mit
einem Cairn auf seiner Spitze versehen. Drei sind
auf der Spitze des Dschebel Araif, und wir bemerkten, daß
sie häufig bis nördlich von Berfeba und El Milh (Molada)
vorkommen.
Bei Mnweileh und in der Nähe einer benachbarten Quelle,
Ain Guseimeh, sind verschiedene Höhlen. Am ersterwähn-
ten Platze ist eine in den Abhang gehauen; man steigt zu
ihr auf einer Treppe hinan, die aus einer kleinern, weiter
unten gelegenen Höhle hinaufführt. Sie muß einmal der
Aufenthalt eines christlichen Einsiedlers gewesen sein, worauf
rothe, roh gemalte Kreuze und Spuren von Fresken hin-
weisen. An dieser Stelle fanden wir auch, einen Platz im
Wady Lussan ausgenommen, die ersten Zeichen einer regel-
mäßigen Cultur aus früherer Zeit. Steine sind in Linien
durch die Wadybetten gelegt, um die Bewässerung zu stauen
und zu vertheilen, und um zu verhindern, daß der Boden
von der plötzlichen Fluth weggewaschen werde.
Wüste El Tih auf der Sinai-Halbinsel.
Unser nächster Haltepunkt war El Birein, so genannt
nach den zwei Brunnen im Wady. Hier sind Spuren von
beträchtlichen Ruinen, ein Fiskijah oder Reservoir und ein
Aqnäduct, der letztere zerstört und das erstere in kaum besserm
Zustande. Im Wady stehen einige alte Butmeh oder Tere-
binthenbänme, die uns auffielen als die ersten Bäume, zwei
Sejals oder Akazien abgerechnet, welche wir feit unserer Ab-
reise vom Sinai angetroffen hatten. Etwa sechs Miles nord-
westlich von El Birein liegen die Ruiueu von El Aud-
scheh, welche Dr. Robinson mit Abdeh verwechselte, auf
einer niedrigen in das Wady Hannein vorspringenden Zunge.
Dieses Thal ist jedoch von den Arabern stets Wady Hasir
genannt worden, da sie ans Aberglauben seinen wahren Na-
men nicht aussprechen. Etwa fünf oder sechs englische Qua-
dratmeilen des Wady sind mit zerstörten Garten- und Feld-
mauern bedeckt; die Seiten der Wasserläufe fiud mit großen
Steinen eingefaßt, und auch Querdämme sind gezogen, ob-
gleich der ganze Wady nun öde und vernachlässigt ist. Zehn
englische Meilen östlich von El Audscheh entdeckten wir die
Ruinen einer El Meschrifeh genannten Festung, die auf
einer vorspringenden Landzunge erbaut und an zwei Seiten
von steilen Abhängen geschützt ist, welche eine weite Ebene
beherrschen, die vom Ausläufer des Wady El Abyadh gebil-
det werden, wo es vom Dschebel Magrah hervortritt. Der
Südabhang des Berges ist mit Mauern und Thürmen aus
massivem Mauerwerk befestigt und der Gipfel weist die Rui-
nen verschiedener Häuser auf und eine kleine Kirche. An
der dritten Seite erstreckt sich eine dicke Mauer quer über
deu ebenen Kamm der Landzunge. Unterhalb der Thürme ,
und in Verbindung mit denselben liegen zahlreiche in den
Fels gehauene Kammern und Werkstücke, welche älter als
die übrigen Baulichkeiten sind.
Auf der oben erwähnten Ebene, 31/2 englische Meilen
südöstlich von El Meschrifeh, fanden wir die Ruinen einer,
bedeutenden S'baita genannten Stadt. Diefer Name
scheint schon von früheren Reisenden gehört worden zu sein,
welche die Lage mit Rehaibeh verwechselten; doch glaube
ich, daß wir die ersten Europäer waren, welche die
Ruinen besuchten. Hier, wie auch in manchen anderen
Fällen, hatten wir mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen,
die aus der Widerwilligkeit der Beduinen einsprangen, welche
ihr Möglichstes thaten, uns von dem Eindringen abzu-
halten. Doch gelaug es mir, Skizzen und Photographien
der interessantesten Punkte aufzunehmen. Die Stadt ent-
hält drei Kirchen, welche gleich jenen zu El Audscheh, El
Meschrifeh und S'adi dem fünften Jahrhundert angehören.
Hier finden sich auch zwei Reservoirs uud ein Thurm mit
einem roh ornamentirteu Thorwege. Mit Ausnahme von
ein oder zwei Bruchstücken zu El Audscheh waren dieses die
einzigen Beispiele von Sculptur, welche ich sah; auch war
nirgends eine Inschrift zu entdecken.
Die Structur der Gebäude von S'baita ist erwähnens-
Werth. Die oberen Stockwerke der Häufer werden getragen
von weiten, flachgespannten Bogen, zwei Fuß weit mit Zwi-
schenränmen von drei Fuß zwischen ihnen, und auf diesen
ruht die Flur der oberen Zimmer, die aus kleinen Stein-
platten gebildet ist. Zahlreiche zerstörte Thürme und um-
mauerte Gärten erstrecken sich auf eine Ausdehnung von
einigen Miles von der Stadt, so deren frühere Bedeutung
bezeugend. Die Weingärten dehnen sich über große Strecken
der Umgebung aus.
Von S'baita begaben wir uns nach Rehaibeh, wobei wir
unterwegs die Ruinen von S'adi, 2J/2 Miles ostsüdöst-
lich von Rehaibeh, untersuchten; frühere Reisende schei-
nen sie weder besucht noch etwas von ihnen gehört
zu haben. In Rehaibeh sind die Ruinen weit ausgedehn-
Ein Menschenhaß
ter als in S'adi, doch so verwirrt, daß cs unmöglich ist, den
Plan eines einzigen Gebäudes aufzunehmen. Es giebt da
zahlreiche Brunnen, Cisternen und andere Cnlturüberreste in
der Nachbarschaft. Vou Rehaibeh wanderten wir nach Kha-
lasah und Berseba. Die Ruinen des erstgenannten Platzes
sind fast ganz verschwunden, da die Einwohner von Gaza
es wohlfeiler finden, ihre Kameele nach den bereits behanenen
Steinen zu schicken, als sie in der Nähe ihrer Stadt erst zu
brechen. In Folge der Dürre fanden wir Berseba öde und
verlassen, obgleich unsere Araber uns versicherten, daß in
guten Jahren das Gras hier kniehoch werde und die zahlrei-
chen Herden mit reichlicher Weide versehe. Unser unerwar-
tetes Erscheinen in ganz abgelegenen Gegenden wurde ge-
wohnlich von den Eingeborenen in irgend einer Weise mit
der ausnahmsweise» Dürre in Verbindung gebracht, und bei
verschiedenen Gelegenheiten wurden wir entweder gebeten,
Regen zu schaffen oder wegen dessen Mangel verflucht, da
die Araber fest glauben, jeder Nasrani (Christ, Nazarener)
hätte das Wetter in feiner Gewalt.
Von Berseba gingen wir nach Jerusalem und, nach einem
kurzen Aufenthalte daselbst, kehrten wir nach Hebron zurück,
wo wir drei Dschehalin-Araber mit ihren Kameelen anwar-
ben, um unser Gepäck nach Petra zu bringen. Einen neuen
Weg einschlagend, passirten wir Tell Arad und El Milh
und kamen in die unerforschten Berge der Azazimeh,
wo wir dieRuinen von El Abdeh (Eboda) entdeckten,
die von beträchtlicher Ausdehnung sind und neben jene von
El Meschrifeh gestellt werden können; viele der Wohnungen
sind, hier wie dort, halb gebaut und halb in den Fels ge-
hauen. Von den jetzt vorhandenen Gebäuden stammt der
größere Theil aus der christlichen Zeit. Die Eingeborenen
sind vollständige Wilde; sie hielten uns zwei Stunden lang
vom Besuche der Ruinen ab, indem sich eine Schaar von drei-
zehn Mann am Ende des Passes ausstellte, den Kriegsgesang
heulte, Steine gegen uns warf, gelegentlich eine der alten Lnn-
; als Götterbild. 317
tenflinten abfeuerte und bei Gott und dem Propheten schwor,
daß keiner von uns hinaufgelangen sollte. Da der Paß
sehr eng und steil war, so hielten wir es für das Beste, nüt
ihnen zu unterhandeln; für die Summe von acht Schilling
gelangten wir auch zum Ziele. Sie führten uns nun zu
den Ruinen, wo wir die nöthigen Messungen und photogra-
phischen Aufnahmen besorgten. Von Abdeh gingen wir durch
die Azazimeh-Berge, eine so furchtbar verlassene Region, daß
sie jeder Beschreibung spottet, trafen auf das Arabah-Thal
an der Vereinigung des Wady Dfcherafeh mit Wady Ghamz
und gingen von hier nach Petra. Hier offenbarten die
Lijathineh vollkommen ihren brutalen und insolenten Eha-
rakter. Ungläubige in jeder Beziehung, doch dem Namen
nach Mohammedaner, stammen sie ab von dem Stamme
der Khaiheri-Jnden, die in Arabien in so schlechtem Rufe
stehen. Um unsere nngemüthliche Lage voll zu machen, schnei-
ten wir hier zwei Tage lang in unserm Zelte ein, das ge-
rade groß genug war, daß wir beiden darin liegen konnten.
Während eines Aufenthaltes von sechs Tagen jedoch wurde
Petra von uns sorgfältig untersucht und genau mappirt.
Wir wandten nun unsere Schritte nördlich und entdeckten
zu El Band, sieben Miles von Petra entfernt, eine Colo-
nie von Höhlenwohnungen und Höhlentempeln, fowie einige
rohe uabathäische Inschriften. Die Mauern und Decken der
Höhlengemächer waren mit Fresken verziert, einige roh, an-
dere gut ausgeführt. Wir reisten nun den Arabah abwärts
zum Todten Meere und gingen, nachdem wir Lisan unter-
sucht, nach Mo ab. Hier hielten wir uns drei Wochen lang
auf und durchwanderten, nach Inschriften suchend, das Land,
da Palmer speciell hierher gezogen war, um zu erforschen,
ob noch ein zweiter moabitischer Stein vorhanden sei. End-
lich kamen wir beide zu der Ansicht, daß oberhalb der
Erde keiner mehr vorhanden sei. Von Moab gingen wir
über den Jordan, nach Jericho und kehrten nach Jerusalem
zurück.
Ein Menschenhai
Ein Menschenhaupt wird als Idol verehrt bei den Ii-
varos-Jndianern in der südamerikanischen Republik Ecna-
dor. Im östlichen Theile des Landes, welcher in die aus-
gedehnten Ebenen nach dem Amazonenstrome hin verläuft,
und von wo eine Menge beträchtlicher Flußläufe in das
nördliche Ufer einmünden, schwärmen viele noch wilde Stämme
von Eingeborenen umher, über welche wir int Allgemeinen
nur erst mangelhafte Kunde besitzen. Unter diesen Jndia-
nern ist das Volk der Jivaros, dessen Gebiet zwischen den
Flüssen Chinchipe und Pastassa liegt, eines der zahlreich-
sten. Dasselbe zerfällt in eine große Anzahl von Stäm-
men: Moronas, Pautes, Zamoras, Gualaquisas, Upanos,
Pindos, Pastassas, Agapicos, Achuales/ Eolopassas :c.,
welche alle die klare, wohlklingende und leicht zu erlernende
Jivaro-Spräche reden. Die peruanischen Jnkas bemühe-
ten sich vergeblich, diese Völkerschaften zu unterwerfen; den
Spaniern gelang es, im Gebiete derselben einige Ortschaften
anzulegen, die aber im Jahre 1599 allesammt an einem
und demselben Tage von den Indianern zerstört wurden.
Diese sind von da an vollkommen unabhängig geblieben. Sie
sind muskelstarke, lebhafte Menschen, das kleine schwarze
Auge ist sprechend, die Stirn kühn, die Nase gebogen, die Lip-
Pen sind dünn und die Zähne blendend weiß. Manche haben
t als Götterbild.
eine ziemlich lichte Hautfarbe und etwas Bart. Diese In-
dividnen scheinen Nachkommen jener Jivaros zu sein, welche
1599 eine Anzahl weißer Spanierinnen raubten; die Män-
ner wurden getödtet oder ans dem Lande vertrieben.
Gegenwärtig unterhalten einige Stämme gelegentlichen
Berkehr mit den Ortschaften der Ecuadoriauer, namentlich
jene am Pastassa, der vor einigen Jahren, gleich dem Mo-
rona, zur Probe mit einem Dampfer befahren worden ist.
Manche sind "sogar über die Eordillere gezogen und haben
sich dann und wann in den Städten des Hochlandes blicken
lassen.
Was nun den als Schutzgott verehrten Menschenkopf
anbelangt, so gelangte ein solcher 1860 in den Besitz des
Don R. de Silva Ferro, der zu jener Zeit chilenischer
Consul in Quito war und denselben zur Schau ausstellte.
Jos6 Felix Barriero gab einen eingehenden Bericht, denn
er war es, welcher denselben zuerst bekommen hatte. Er
verwandte zwei volle Jahre auf die Beobachtung dieser In-
dianer.
Ein Jivaro vom Stamme der Tambos hatte sich taufen
lassen und dann dazu verstanden, ein Exemplar des Götzen-
kopfes herbeizuschaffen. Länger als ein Jahr waren alle
seine Bemühungen vergeblich, endlich aber kam er durch
318 Ein Mensch enhc
Schlauheit zum Ziele. Er wußte eiuem wilden Jivaro zu
überreden, daß es dem Kopse sehr augenehm sein müsse,
wenn er sich im Freien bewegen und eine Reise machen könne,
denn iu seiner bisherigen Gefangenschaft könne er für den
Besitzer von keiner großen Wirksamkeit sein; er, der Getaufte,
wolle dem Gotte die erforderliche Bewegung verschaffen. So
kam der letztere in Barriero's Hände; der wilde Indianer
erhielt viele Geschenke nnd hatte Glück, als er auf die Jagd
ging. Das Reisen des Gottes war also wirksam gewesen!
Im Kriege schneiden die Sieger den Besiegten den Kopf
ab und ziehen dann den Schädel und dessen Inhalt unter
der Haut hervor. In diese bringen sie einen heißen Stein,
so daß sie trocknet und stark zusammenschrumpft, sie behält
aber die Gesichtsform. Sobald die Haut nun völlig her-
gerichtet wird, rührt man die Tuuduli, d. h. die Kriegs-
trommel, und ruft fo das Volk zu einem großen Triumph-
feste zusammen, das gefeiert werden muß, bevor neun
Tage feit dem letzten Gefechte vergangen find. Ein
längerer Aufschub wäre unstatthaft, weil dann die Geister
der Gebliebenen, welche der Stamm im Kriege verloren hat,
nicht zufrieden gestellt sind und der Kopf nicht zu einem Gott
werden könnte.
Am zehnten Tage beginnt das Fest. Der Jivaro, wel-
cher einen Kopfgötzen besitzt, hängt ihn, zusammen mit denen,
welche er etwa schon von früher her besitzt, an eine lange
Stange, und zwar so, daß er eine hervorragende Stelle,
gleichsam den Ehrenplatz einnimmt. Alle Eingeladenen,
insbesondere Frauen und Mädchen, haben sich möglichst an-
und aufgeputzt; sämmtliche Anwesenden setzen sich je nach
dem Range, welchen sie im Stamme einnehmen. Nach be-
endigtem Festmahle nimmt der Priester den Kops herunter,
hält denselben an einer Schnur und beginnt eine lange Rede.
Zunächst preist er die Tapferkeit, welche der Inhaber bei
Lebzeiten bewiesen und daß er sich auch beim Sterben un-
verzagt benommen habe. Seine Vorfahren wären gleichfalls
tapfer gewesen und sein Kopf sei göttlicher Verehrung wür-
dig. Nachdem der Priester einige lebhafte Gesticulatioueu
gemacht hat, herrscht ein Weilchen völlige Stille; dann stößt
er einen gellenden Schrei aus und alle Anwesenden springen
auf. Es erfolgt allgemeines Geräusch.
Nun wird der Götzenkopf wieder an die Stange gebnn-
den und alle setzen sich abermals nieder, nur der Sieger
nicht; er stellt sich, die Lanze in der Hand haltend, neben
den Kopf hin, den er mit allen möglichen Schelt- und
Schmähworten überhäuft. Der Kopf giebt ihm, durch den
Stellvertreter, in reichlichem Maße zurück und beide Theile
werden in ihren Ausdrücken immer heftiger. Der Priester,
denn er ist der Stellvertreter des Chancha, d. h. des Göt-
terkopses, setzt am Ende einen starken Drücker auf, indem
er dem Sieger zuruft: „Du bist ein Feigling! Während
meiner Lebzeit hast Du es nicht gewagt, mich zn schmähen;
Du, Feigling, hast schon gezittert, wenn Du nur meinen
Namen hörtest. Es wird einer meiner Brüder kommen,
um mich zu retten." Das verdrießt nun den Sieger, und
in seinem Aerger schlägt er mit seiner Lanze den Feind ins
Gesicht, uud damit derselbe nicht mehr schmähen und schim-
psen könne, wird ihm der Mund zugenäht. So ist er
zu ewigem Schweigen verurtheilt, wird aber von nun an
?t als Götterbild.
ein Orakel, wenn ein durch narkotische Mittel in Auf-
reguug versetzter Jivaro ihm Fragen stellt.
Sobald der Tanz beginnt, trägt der Sieger das an der
Stange hängende Idol aus der Hütte in die freie Luft, und
dabei folgt ihm seine Lieblingsfrau, welcher er damit die
größte Auszeichnung verleiht, die überhaupt einer Jivara
erwiesen werden kann. Sie hält ihn am Gürtel, die Uebri-
gen thnn unter einander ein Gleiches und so wird eine Kette
gebildet. Die Frauen tanzen für sich; jeder Mann spielt
irgend ein Instrument und zur Musik wird ein Triumph-
gesaug angestimmt. Das Tanzen nnd Singen und Lärmen,
auch innerhalb der Hütte, dauert mit geringen Uuterbrechun-
gen zwei bis drei Tage und auch wohl länger.
Derjenige Krieger, welcher dem Erschlagenen die zweite
Wunde beigebracht hat, muß ein ganzes Jahr lang saften;
nach Ablaus derselben veranstaltet er seinerseits ein ähnliches
Fest, nur bleibt dabei der erste Theil der Ceremonie fort,
und wenn drei oder mehr Krieger betheiligt gewesen sind,
haben diese, jeder nach Jahressrist, ihr Fest in derselben
Weise.
Welche Pflichten hat nun der Kopfgötze zu erfüllen?
Die Erdfrüchte gedeihen nur spärlich und die Hansthiere
vermehren sich nicht rasch genug. In solchen Fällen halten
die Frauen ein Bittefest, bei welchem sie allein, ohne die
Männer, einander au den Händeu haltend, um das Idol
tanzen, welches der C apito, d. h. der Priester, trägt. Wenn
nun der Götze kein Wunder wirkt, dann wird ihm das Haar
abgeschoren und man wirft ihn, als ein unnützes Ding, in
den Wald.
Die Jivaros machen übrigens nicht aus allen erschlage-
nen Feinden Kopfgötzen, sondern nur die Tapfersten werden
einer fo hohen Ehre gewürdigt. Diesen reißen sie das Herz
aus und ziehen aus dem Schädel das Hirn, welches sie
verzehren. Das ist allgemeiner Brauch bei den Tum-
bas, Mendes, Pastassa, Jurumbaini, Tutamagosa, Chigua-
vida, Achmiles, Guambiuima, Guambisa, Huamboga und
noch anderen Stämmen; ferner bei den Morona, nur mit
dem Unterschiede, daß diese letzteren eigentliche Canniba-
len, in vollem Sinne des Wortes, sind.
Als im Juni 1861 Professor Cassola ans Ecuador
nach Europa zurückgekommen war, zeigte er in London Herrn
W. Bollaert einen Kopfgötzen, welchen er mitgebracht hatte.
Derselbe wurde auf der großen Ausstellung als „Kopf eines
Inka" ausgestellt!! Die Kopfhaut war auf etwa ein Viertel
ihrer natürlichen Größe reducirt und die Gesichtszüge ließen
sich leidlich gut erkennen; alles Knochenwerk war entfernt
worden, nur Haut und Haar geblieben. Cassola's Kopf-
götze hatte am Pastaffaflusse in einer Art von kleinem Tempel
gestanden und war ans demselben bei Nacht gestohlen worden.
Er soll der Kopf eines Häuptlings gewesen sein und ein
Krieger ihn in der Schlacht als Zauber getragen haben.
(— Daß die wilden Indianer in Peru, die sogenannten
Chnnchos, sich mit dem Schädel eines erschlagenen Fein-
des verzieren, ist eine bekannte Thatsache. —) Oben auf
der Kopfhaut befand sich eine Schnur, so daß man ihn um-
hängen konnte; eine andere war durch Löcher in der Lippe
gezogen und hing abwärts. Die Ohren waren durchlöchert
und die Nasenlöcher mit einem schwarzen Harze gefüllt.
Aus allen Erdtheilen.
.819
Aus allen
Die Einwanderung in den Vereinigten Staaten von
Nordamerika seit 1820.
Die Amerikaner beschäftigen sich viel mit der Statistik der
Einwanderung, sie gelangen aber zu sehr abweichenden Ziffern.
Neuerdings hat nun der Vorsteher des Statistischen Bureaus in
Washington, Ed. 'Zoung, einen Bericht über dieselbe erstattet.
Er nimmt an, daß von 1820 bis 1870 die Einwanderung
7,553,805 Köpse betragen habe. Davon kamen 3,851,850 aus
Großbritannien, Irland und den britischen Besitzungen in
Nordamerika. Aus Deutschland kamen 2,267,500 „sehr be-
triebsame, intelligente Menschen, von denen sich ein sehr beträcht-
licher Theil der Landwirthschast zuwendet und den Ackerbau,
namentlich im Westen, zur Blllthe bringt; viele sind auch sehr
geschickte Handwerker und Industrielle, welche in den Städten
vorteilhafte Beschäftigung finden. Die Einwanderung der Skan-
dinavier wächst an; sie haben bereits zahlreiche Ansiedelungen
im Nordwesten und ihre Zahl beläust sich auf 153,928 Köpfe,'
auch sind sie fleißig, sparsam und leben mäßig; Frankreich
hat nur 245,812 Köpfe geliefert; davon sehr viele aus dem
Elsaß. Die Einwanderung von Asiaten hat noch keine Be-
sorgniß erregende Höhe erreicht; in keinem Jahre sind über
15,000 gekommen und ihre Gesammtzahl stellt sich auf 109,502
Köpfe. Von den Chinefen kommen nur 7 Procent auf das
weibliche Geschlecht. Aus Paraguay ist gekommen 1; aus Nord-
afrika kamen 11, Island II, Syrien 4, Aegypten 20, von den
canarifchen Inseln 4; Leute, welche auf dem Lande bei den
Farmern arbeiten, sind am meisten willkommen. Etwa 46 Pro-
cent der Einwanderer, Frauen und Kinder abgerechnet, verstehen
sich auf die Ausübung eines Gewerbes oder Handwerkes und
sind in der alten Welt gut geschult und vorbereitet. Auch viele
Landarbeiter und Dienstboten sind einigermaßen gebildet und
durchgängig sehr tauglich. Etwa 10 Procent der Einwanderer
besteht aus Kaufleuten und höheren Industriellen; sie bringen
nicht nur Capital, sondern auch Geschäftserfahrung mit. Nicht
unbeträchtlich ist die Zahl der Architekten, Ingenieure und —
Erfinder, meist tüchtige, talentvolle Männer, welche ihrer neuen
Heimath viele künstlerische, ästhetische, geistige und sittliche Ele-
mente zuführen."
Für einen gewöhnlichen Tagarbeiter stellt sich die
Summe des Arbeitslohnes, welches er in einem Jahre erwirbt,
durchschnittlich auf 400 Dollars. Wenn die Familie aus vier
Personen besteht, so beträgt die Auslage sür Thee, Kaffee,
Zucker und notwendigen ausländischen Bedarf (— von welchem
die Bundesregierung 60 Procent Eingangszoll erhebt!!—)
auf 60 D.; für Mehl, Fleisch und Butter 150, Wohnungs-
miethe 50, Kohlen und Licht 30, Gemüse 30, Milch, Eier und
dergleichen 20, so daß 60 Dollars für Kleider, Haushalt und
allerlei nothwendigen Bedarf übrig bleiben; man sieht, daß nicht
viel zum Ersparen übrig bleibt. Im Durchschnitt nimmt man
den Eapitalwerth jedes Einwanderers aus 800 Dollars an;
demnach haben die, welche im Jahre 1870 landeten, den Natio-
nalreichthum um etwa 285,000,000 vermehrt, und während des
halben Jahrhunderts um 6243,880,K00 Dollars. An baarem
Gelde bringt jeder Einwanderer durchschnittlich 68 Dollars mit.
Aus Australien und der Südsee.
Die kirchlichen Zänkereien wandern wie eine böse Seuche
um den Erdball, und immer sind es Geistliche, welche Unsug
treiben; die Laien sind gern friedlich, wenn sie nicht von so-
genannten Seelenhirten aufgehetzt werden. In Melbourne hatte
der Pastor Wollaston an der Trinitatiskirche auf einige Monate
Urlaub genommen; sein Stellvertreter nahm inzwischen einen
Erdtheilen.
Organisten an. Darin sah Wollaston eine ketzerische Neuerung,
schlug Lärm und brachte Zwist in die Gemeinde, welche sich seit-
dem in zwei feindselige Parteien getrennt hat. Allerdings ist
eine Orgel mit Chorgesang etwas, wodurch die „ewige Seligkeit
unrettbar verloren geht". Nun rede man noch von Cnltnr!
Die Fidschi-Jnseln werden wohl bald ein Zubehör von
Neusüdwales werden. In Sydney wird die Annexion dieser
prächtigen Eilandgruppe offen betrieben; dieselbe hat eine ge-
steigerte Wichtigkeit dadurch erlangt, daß sie von der calisor-
nisch-australischen Dampferlinie berührt wird und zur
Hauptkohlenniederlage ausersehen ist. Neuerdings sind wieder
Colonisten in größerer Anzahl dortyin abgegangen. Ein Geist-
licher in Tasmanien hat sich die Mühe gegeben, für die wilden
Fidschianer eine schriftliche Staatsverfassung zu entwerfen.
In Gippsland hat ein Berichterstatter für eine dortige
Zeitung es angemessen gefunden, Buschklepper zu werden.
Der Mann hatte so viel über die Strauchdiebe zu schreiben ge-
habt, daß ihn die Lust anwandelte, selbst ein solcher Roman-
ticus zu werden. Gedacht, gethan. Er nahm eine schwarze
Flormaske vor das Gesicht, steckte einige Revolver in den Gür-
tel, machte mit einem andern Kavalier vom Mondenschein Brü-
derschaft und Beide haben dann Goldgräber überfallen und aus-
geplündert. Doch trieben sie ihr edles Handwerk nur kurze
Zeit; die Diggers verstanden keinen Spaß und nun werden die
Buschklepper vor die Geschworenen gestellt.
Das Clipperschiff „Thermopylä" hat die Fahrt zwischen
London und Melbourne so rasch zurückgelegt, wie es nur dem
besten Dampfer möglich ist, — in 60 Tagen, und dieses Segel-
schiff hat schon 1870 dieselbe Fahrt in eben so kurzer Zeit ge-
macht.
In Melbourne kam im März eine Ladung Perlmutter-
schalen aus Westaustralien int Werthe von etwa 14,000
Pfund Sterling an. Fast gleichzeitig brachte ein Schiff aus
Numea auf Neu-Caledonien 90 Tonnen Perlmutter; jede der-
selben ist etwa 200 Pfund Sterling Werth. Der Capitän des
Fahrzeuges lief bei einer Insel in der Südsee auf den Strand,
welche unbewohnt ist, die er aber nicht nennen will, weil er
demnächst wieder eine Fahrt dorthin macht.
Australien bezog bisher viele Dampfmafchinen und alle
Locomotiven aus England. Jetzt hat die große Maschinen-
baufabrik in Ballarat int März ihre vier ersten Locomo-
tiven abgeliefert; man wird den einheimischen Bedarf von nun
an selber befriedigen.
Der „Geelong Expreß" vom 8. März meldet, daß an der
Corco-Bay ein merkwürdiges Amphibium beobachtet wor-
den sei. Die Leute, welche Schiffsbalast luden und dasselbe ge-
sehen haben, sagen, es sei von der Nasenspitze bis zum Schwanz-
ende etwa 1% Fuß lang; Kopf platt, Schwanz etwa so dick
wie ein Zeigefinger; auf den ersten Blick nahm das Thier sich
aus wie ein Frettchen; die Vorderfüße waren etwas kürzer als
die Hinterfüße; es hatte Schwimmhäute; das Fell ein glänzen-
der Pelz wie beim Biber; Nase wie beim Frettchen oder der
Ratte. Wahrscheinlich geht das Thier Nachts ans Land, da es,
als man es einfing, eben nach einein Nest in der Uferhöhe lau-
fen wollte; dieses liegt ein wenig über der höchsten Fluthmarke.
In dem Neste fand man einige Strümpfe, Seekraut und kleine
Stäbe in der Art eines Biberbaues zusammen befestigt, und
in demselben auch eine lederne Börse, welche wohl Jemand am
Strande verloren hatte und welche das Thier dann fortschleppte.
Leider warfen die Ballastlader das Thier fort, es sollen aber
nun in jener Gegend nähere Nachforschungen angestellt werden.
Ueber neue' Goldentdeckungen finden wir in den vor
uns liegenden Blättern wieder so viele Angaben, daß wir die-
selben übergehen. Mittheilen wollen wir aber die Di am an-
320 Aus allen
tensunde bei Bendigo, über welche man demnächst wohl
mehr hören wird.
In Melbourne sind einige Chinesen zur Strafe gezogen
worden, weil sie in einer Lotterie gespielt hatten. Jeder
mußte 40 Schilling Brüche und 5 Pfund Sterling Kosten zah-
len. Unter den Bestraften war ein alter Mann, Namens Tock
Gi, auch Wam Wong genannt. Er war 1852 einer der Haupt-
ansührer der Taiping-Rebellen und galt bei diesen eine Zeit
lang für den rechtmäßigen Kaiser des Blumenreiches der Mitte!
In Südaustralien ist wieder eine ungemein reichhaltige
Kupfergrube eröffnet worden, die Doora; sie stößt an die gro-
ßen Wallarogruben; auch die altberühmte Burra-burra-Mine ist
wieder in Angriff genommen und mit lohnendem Erfolge.
4? ^ *
— Die Propaganda der Mormonen hat sich borge-
nommen, auch Melbourne in Australien zu beglücken; es
scheint aber, als ob dort die Leute sehr verstockten Herzens seien;
die Apostel der Heiligen vom jüngsten Tage machen schlechte
Geschäfte. -„Elder" Beauchamp war aus der Stadt am Großen
Salzsee nach Neuseeland gefahren, hatte dort schars gepredigt
und war dann nach Melbourne gekommen, um Sünder zu be-
kehren, Seelen zu gewinnen, das Reich Gottes zu vermehren
und den allein wahren Glauben einzuschärfen. Die Australier
in der Hauptstadt Victorias waren einigermaßen erstaunt, einen
Mann, der früher in ihrem Haymarkettheater erst Thürsteher
und dann Schauspieler gewesen war, nun in einen „Heiligen"
verwandelt zu sehen. Mit jener edlen Dreistigkeit, welche den
Mimen nicht zu mangeln Pflegt, trat er auf, um zu predigen.
Zunächst stellte er, gewiß um sich noch interessanter zu machen,
salbungsvolle Betrachtungen darüber an, daß man in Welling-
ton auf Neuseeland, wo schlechte Menschen wohnen, gottlose
Leute ohne den rechten Glauben, ihn verhöhnt und fogar mit
Backsteinen geworfen habe. Solch ein Unfug müsse dem Herrn
Jehovah Thränen entlockt haben. Nun aber fei er hier, im
Hause des Bruders Kant, welcher eine segensreiche Wirksamkeit
für das Himmelreich entfalte und dem Paradiese viele Seelen
zuführe, die ohne ihn in die Hölle gefahren sein würden. Unter
den Zuhörern waren viele weiblichen Geschlechts, welche Kant
bekehrt hatte. Dieser behandelte mit großem Eifer eine bren-
nende Frage, welche von den Ladies gestellt worden war und
über welche sie von dem heiligen Mann einige Offenbarungen
wünschten. Es handelte sich um nichts Geringeres als um die
Vielmännerei. Wenn, so lautet die Logik der Ladies, ein
Mann so viele Frauen sich ansiegeln kann wie ihm beliebt, und
wenn er somit das Privilegium hat, viele weibliche Seelen am
Rande seines weißen Gewandes mit sich in den Himmel zu
Gott emporzuführen, — wenn, fagen sie, die Vielweiberei in der
Ordnung ist, so muß auch die Vielmännerei in der Ordnung
und göttlichen Gebotes sein. Aber sie kamen schön an beim
Heiligen Kant. Er donnerte ihnen ins Gesicht: „Was Ihr da
verlangt, ist eine abscheuliche Ketzerei, eine grauenvolle, empö-
rende Ketzerei." Dabei wandte er sich insbesondere gegen seine
fünf Töchter, welche gleichfalls Propaganda für das Dogma der
Vielmännerei machen. Elder Beauchamp war der Ansicht Bru-
der Kant's und rief in großem Eifer: „Brüder, die Sectirer
haben das Evangelium nicht; wer nicht glaubt, der ist ver-
dämmt, verdammt, verdammt! Man sieht, nicht bloß der
römische Papst ist Inhaber des Anathema; die Mormonen ver-
stehen sich auf die Sache so gut wie der heilige Papst; sie sind
Erdtheilen.
ja auch Heilige; das sagen sie selber und sie müssen es wissen.
Unter den Zuhörern stellten Einige recht zudringliche Fragen
über die Vielweiberei; der heilige Beauchamp entgegnete aber
ebenso naiv wie offenherzig: „Ich würde mich darüber wohl
äußern, wenn ich sicher wäre, nicht mit unfrifchen Eiern und
Backsteinen begrüßt zu werden, denn ich muß gestehen, ich liebe
weder die einen noch die anderen; ich mag insbesondere Backsteine
nicht leiden, die mir .an den Kopf geworfen werden. Das wer-
det Ihr mir wohl glauben." Dann trennte sich die Versamm-
lung, indem sie dem Manne, welcher aus einem Komödianten
ein so guter Heiliger geworden sei, ein heiteres Lebehoch
brachte.
— Die Zahl der Post Meisterinnen wird in Nordame-
rika immer beträchtlicher. Auch jene der Predigerinnen nimmt
zu. Jüngst wurde eine Schriftsetzerin in Illinois zum Pa-
stör einer Methodistengemeinde gewählt; jetzt lesen wir, daß zu
Florenz im Staate Massachusetts Elizabeth Macy Powell, bis-
her Schullehrerin, von dem dortigen freien congregationalistischen
Vereine zum Prediger ernannt worden ist. „Sie spendet das
heilige Abendmahl mit vieler Grazie." — Zu Springfield, der
politischen Hauptstadt von Illinois, haben die Damen, — welche,
höchst überflüssiger Weise, regelmäßig die Gallerien der gesetz-
gebenden Versammlungen anfüllen, um hinterher zu politisiren, —
sich öffentlich über ein ehrenwerthes Mitglied aus Chicago be-
klagt. „Besagtes Mitglied hat sich so sehr gegen den Anstand
vergangen, daß dieser Volksvertreter sich von seinem Sitz erhob,
nach der Gallerie hinaus starrte, die Ladies anguckte, eine
Schnapsflafche emporhob, sich in grotesker Weise verneigte und
dann einen gewaltigen Schluck in feine Kehle hinuntergoß."
Ländlich, sittlich.
— Die jüngsten Berichte aus Südamerika melden,
daß seit der Mitte des April die Seuche in Buenos Ayres
nicht mehr so arg wüthe; sie war aber immer noch grauenhast,
da täglich im Durchschnitt 90 Opfer fielen. Manche Leute,
welche sich ins Freie geflüchtet hatten, waren, wohl um sich mit
nöthigen Bedürfnissen zu versorgen, in die Stadt zurückgekehrt,
und sofort stiegen die Sterbefälle wieder bis zu 180 in einem
Tage. Die Regierung hatte Zollhaus und Bank bis zum 15.
Mai geschlossen; alle Geschäfte lagen still. Dem „Buenos Ayres
Standard" vom 30. April zufolge waren bis dahin hinweg-
gerafft worden etwa 11,000 Italiener, 8000 Argentiner,
3500 Spanier, 2200 französische Basken, 600 Englän-
der, 300 Deutsche, und 600, welche anderen Nationalitäten
angehörten, imGanzen binnen einhundert Tagen 26,200.
Da die Stadt Buenos Ayres etwa 180,000Winwohner zählte,
so hat sie durch die Seuche je den siebenten Menschen
verloren; da aber mehr als 100,000 aus der Stadt entflohen
waren, so ist der Procentsatz von Sterbefällen unter den Zurück-
gebliebenen geradezu furchtbar und beispiellos. Buenos Ayres,
die zweitgrößte Stadt Südamerikas, war in gedeihlichen! Auf-
schwunge, und wir haben im „Globus" häufig Nachweisungen
darüber gebracht. Es wird langer Zeit bedürfen, ehe sie sich
von einer so verhängnißvollen Kalamität wieder erholt.
— Der Maoristamm der Wairarapa, in der Provinz
Wellington, Neuseeland, bekam im Januar 1871 eine Summe
von 2000 Pfund Sterling für verkaufte Ländereien ausgezahlt.
Die Freude war groß, der ganze Stamm berauschte sich und
noch am Tage der Auszahlung selbst hatten sich drei Maoris
zu Tode getrunken. Die englischen Branntweinhändler hiel-
ten eine glänzende Ernte. Den geistigen Getränken erliegen
mehr „Wilde" als den Kugeln der Weißen.
Inhalt: Karl Vogt über die Eis- und Höhlenzeit. Mit fünf Abbildungen.) — Slavische Annectirungen. Von
Richard Andree. (Schluß.) — Der Beto Faxiba, Sjogun Taico von Japan. (Mit einer Abbildung.) — Erlebnisse schwedi-
scher Ansiedler auf den Fidschi-Inseln. (Schluß.) — Forschungsreise durch die Wüste El Tih auf der Sinai-Halbinsel. Von
Tyrwhitt Drake. — Ein Menschenhaupt als Götterbild. — Aus allen Erdtheilen: Die Einwanderung in den Vereinigten
Staaten von Nordamerika seit 1820. — Aus Australien und der Südsee. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
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Band xix.
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lit besonderer Herürksicktigung äer Antkropologie unä Gtknologie.
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Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
AlltN Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1871.
Karl Vogt über die Eis- und Höhlenzeit.
ii.
Während der Eiszeit wurden an denjenigen Orten, wo
Gletscher und Eismeere ihre unmittelbare oder mittelbare
Wirkung nicht übten, bedeutende Lehm-, Sand- und Geröll-
schichten abgelagert, in denen wir die Knochen der Thiere
der Eiszeit finden. Es sind dieses Arten, die heute theils
untergegangen und ausgestorben oder, wie der Moschus-
ochs, sich nach dem fernsten Norden unserer Erde zurück-
gezogen haben, wo er im arktischen Labyrinth in der dort noch
andauernden Eisperiode ein zuträgliches Klima findet. Besser
aber als aus den zerstreuten uud vom Wasser nmhergewor-
fenen Knochen der Lehm- und Sandablagerungen lernen wir
diese aus den Knochen der Höhlen kennen. Aber auch hier,
wo sie oft massenhaft im Knochenlehm eingebettet sind, trifft
man selten auf ganze Skelette, sondern meist auf die un-
ordentlich unter einander gemengten Reste verschiedener Thiere.
Hyänen und Bären, welchen die Mehrzahl der in manchen
Höhlen gefundenen Knochen angehört, lebten in denselben,
schleppten die Beute, aus Wiederkäuern, Nagethieren u. s. w.
bestehend, dort hinein und nährten ihre Jungen damit.
Daß Hyänen und Bären wirklich die Höhlen zu ihrem Auf-
enthaltsorte benutzten, erkennt man aus ihren noch erhaltenen,
oft massenhaft dort vorhandenen Excrementen (Koprolithen).
Der Bau mancher Höhlen spricht häufig gegen die An-
nähme einer Einschleppung durch höhlenbewohnende Thiere.
In dem hier mitgetheilten senkrechten Durchschnitt der Gai-
lenreuther Höhle in Franken zeigen sich mehrere auf
einander folgende Kammern, die mit einander in Verbin-
dnng stehen. Es wird durch einen Blick auf die Abbildung
Globus XIX. Nr. 21. (Sunt 1871.)
klar, daß die Bären, deren Reste die Knochenhaufen im
Hintergrunde der Höhle bilden, die senkrechten Wände, zu
deren Ersteigung man jetzt lange Leitern braucht, nicht hin-
auf klettern konnten. Die Gerölle und Lehmablagerungen
nun, die mit den Knochen vermischt sind, zeigen, daß diese
fossilen Reste hier theilweise durch Wasserströme zusammen-
geschwemmt wurden. Von Interesse sind namentlich jene
Höhlen, in denen verschiedene Perioden der Ansüllung der
Grotte mit Knochen und die Anwesenheit des Menschen
nachgewiesen werden kann. Das ist z. B. der Fall in der
Hyänenhöhle des Lessethales. In der untersten Schicht
(4) sind Hyänen-, Nashorn-, Pferde- und Mammuthknochen
vertreten. Die Hyänen hatten wahrscheinlich alle diese Kno-
chen zusammengeschleppt; ihre Knochen allein sind nicht be-
nagt, die anderen zeigen Zahneindrücke. Hierauf war eine
Ruheperiode eingetreten, während welcher der Tropfstein (3)
sich absetzte. In der folgenden Schicht (2) finden sich na-
mentlich von Menschen zerschlagene Knochen der Renthiere
und Pferde; daß der Höhlenmensch sie zerschlug, beweisen
die bearbeiteten Kieselinstrumente, welche er in dieser Schicht
hinterließ. Endlich folgt eine neue Dammerdeschicht (1)
mit Knochen von Füchsen, Dachsen, Enten und Hühnern
der Neuzeit. Wie früher die Hyänen Pferde- und Nas-
Hornknochen in diese Höhle schleppten, so jetzt Füchse und
Dachse, ihre modernen Bewohner, Enten und Hühner.
Das organische Leben hat also während der Eis- und
Höhlenzeit keineswegs aufgehört. Spitzbergen und Grön-
land, die heute noch in der vollen Eiszeit stecken, beweisen
41
322 Karl Vogt über die
das"am besten. Giebt es doch auf Spitzbergen noch gegen
100 Phanerogamen und fast 300 Kryptogamen. Auf dem
Faulhorngipfel (2683 Meter) wachsen noch 132 Arten
Phanerogamen, von welchen wir 40 in Lappland, 11 in
Spitzbergen wiederfinden. Von 360 Arten der Schweizer
Hochalpen finden sich fast die Hälfte, 158, in den Polarländern
und 42 in der Züricher Ebene wieder. Aus diesen That-
Eis- und Höhlenzeit.
fachen geht hervor, daß zur Eiszeit die Pflanzen des Nor-
dens und der Hochgebirge in die Ebenen herniederstiegen,
daß eine ziemlich gleichförmige Flora während der
Eiszeit Europa bedeckte, und daß bei dem Rückzüge des
Eises die einem kültern Klima angehörigen Pflanzen dem
Rückzüge folgten, nicht ohne Nachkömmlinge in den Ebenen
zu hinterlassen.
Gailenreuther Höhle in Franken.
Hinsichtlich der Thierwelt ergeben sich ähnliche Schlüsse,
wie schon beim Löß und dessen Muscheln hervorgehoben
wurde. Von den Vögeln der Eiszeit sind manche erst in
historischer Zeit ausgestorben, zumal solche, die wegen der
Verkümmerung ihrer Flügel des Flugvermögens beraubt
waren. Dahin gehören die bekannten Beispiele des Riesen-
alks (Alca impennis), der Dronte, der Moas und des erst
kürzlich durch Frauen-
feld diesen angereihten
Rothhuhns (Apha-
napteryx imperia-
lis) von der Insel
Mauritius.
Unter den Säuge-
thieren jener Zeit er-
wähnen wir den in
vielleicht verschiedenen
Arten durch ganz Cen-
traleuropa verbreiteten
Riesenhirsch (Mega-
ceros hibernicus),
den ttr (Bos primi-
genius) mit glatter
Stirn uud großeuHör-
nern,der als Stamm-
Vater (—??!—) nn-
besitzt eine knöcherne Nasenscheidewand, die dem Hörne noch
einen festern Stützpunkt gewährt. Im Jahre 1781 fand
Pallas im gefrorenen Schwemmboden am User der Lena in
64° nördl. Breite eine Leiche dieser Art, welche freilich sehr
verfault war, aber doch erkennen ließ, daß das Thier mit
Haaren bedeckt war, uud nicht, wie die jetzigen Nashörner,
eine nackte Haut hatte. Die Behaarung, dauu die Nadel-
Holzreste im Magen,
wiesen darauf hin, daß
diese Thiere in einem
kalten Klima lebten,
uud anders organisirt
waren als ihre jetzt
lebenden tropischen
Verwandten.
An urweltlichen
Elephanten ist kein
Mangel. Ausfallend
erscheint hier der Grö-
ßennnterfchied, denn
Zwerge wie Riesen
dieses Geschlechts leb-
ten zur Eiszeit. In
Durchschnitt der Hyänenhöhle (Trou des Ilyenes) nach Dupont. Höhlen Maltas
Felsen. 4 Hyänenschicht. 3 Tropfsteinschicht. 2 Renthierschicht. 1 Dammerdeschicht, entdeckte Busk eine nur
drei Fuß hohe Art, vou
der er meint, sie hätte sich wohl zähmen und abrichten lassen
können, um gleich dem Hunde als Gefährte des Menschen
zu dienen. Es ist dies Elephas Falconeri. Die andere
Grenze bildet das Mammuth (Elephas primigenius), das,
wie gleichfalls im sibirischen Schwemmboden aufgefundene Ca-
davev beweisen, mit Wolle bedeckt war und eine lange Mähne
besaß. Die Bildung seiner Stoßzähne zeigt die Abbildung
serer Hausrinder gilt, während der Wisent (Bison europaeus)
als Auerochs im Bialowitzer Walde in seinen letzten Sproß-
lingen noch fortlebt. Es gab mehrere Arten von Nashör-
nern. Eine sehr häufig und überall mit dem Mammuth
vorkommende Art, das Knochennashorn (Rhinoceros ticho-
rhinus), die zwei große Hörner hatte, von denen das eine
auf der Nase, das andere kleinere zwischen den Augen saß,
Schädel des Ursus spelaeus. Von der Seite.
Derselbe von oben.
41*
Schädel von Rhinoceros tichorhinus. Aus dem sibirischen Sande.
Skelett des^Mammuth priniigsnius).
Backenzahn von Klephas antiquus. Kaufläche.
Backenzahn von Eleplias meridionalis. Kaufläche.
Karl Vogt über die Eis- und Höhlenzeit.
Schädel der Hyaena spelaea. Von der Seite.
_____—- . -
324 Tyrwhitt Drake: Forschungsreise durch
nach dem großen im Petersburger Museum befindlichen Ske-
lett. Zwei andere, jetzt untergegangene Elephauten, Elephas
antiquus und Elephas meridionalis, lebten schon in der
jüngsten Tertiärzeit. Ihr Unterschied wird nach den osteo-
logischen Charakteren bestimmt. Die in der Abbildung wie-
dergegebenen Zähne beider Arten zeigen deren Lamellen,
welche den Zahnlamellen des heutigen afrikanischen Elephan-
ten gleichen. Kein Land ist so reich als Sibirien an fos-
silen Elephantenknochen, wo der Boden gleichsam damit
durchsäet ist, so daß das Elfenbein von dort als Handels-
artikel in Betracht kommt.
Die hundeartigen Raubthiere sind durch Hyänen der-
treten, welche gleich den Bären meist Höhlen bewohnten.
Mit dem räuberischen Jnstincte der Höhlenhyäne (H. spe-
laea) Hand in Hand geht die Länge und Größe der aus der
Abbildung hervortretenden Mittlern Schädelleiste, zu deren
beiden Seiten die mächtigen Kaumuskeln ansetzten. Der
Höhlenlöwe (Felis spelaea) war etwas größer als der jetzige,
und der Höhlenbär (Ursus spelaeus) war um ein Drittel
größer als der größte jetzt lebende. Unter den Knochen der
Höhlenbewohner stehen die seinigen an Zahl allen anderen
voran. Manche Höhlen waren nur von Bären bewohnt.
Der Schädel, den wir in zwei Abbildungen geben, zeich-
net sich besonders durch den treppeusörmigeu Absatz der
Stirn gegen die Nase aus. Bei unseren heutigen Bären-
arten ist dieser Absatz nicht vorhanden.
Das sind die wichtigsten Repräsentanten der Thierwelt
zur Eiszeit, die an den Meeresbuchten und großen Süß-
wasserseen des damaligen Landes, welches ein senchtkaltes
Jnselklima besaß, in großen Wäldern, Torfmooren und auf
ie Wüste El Tih auf der Sinai-Halbinsel.
wüsten Strecken in zahlreichen Herden umherschweiften. Es
waren Thiere aus südlichem, ja einem tropischen Klima,
welche hier neben Geschöpfen der kältern und Polarzone zu-
sammenwohnten. Elephanten, Nashörner, Flußpferde, Lö-
wen neben Moschusochsen, Renthieren, Lemmingen, die jetzt
dem hohen Norden angehören, oder neben Steinböcken, Gem-
sen, Mnrmelthieren, die im Hochgebirge jetzt an der Grenze
des ewigen Schnees wohnen. Da innerhalb der Eiszeit der
ganze Norden und die Hochgebirge bis weit herab von Glet-
schern bedeckt waren, so waren also alle jetzt ans weite Ent-
fernuugen zerstreuten Arten in Mitteleuropa auf einen klei-
nen Raum zusammengedrängt und obendrein mit südlichen
Typen gemischt. Aber auffallen kann uns dieses nicht, da
wir wissen, daß Mammuth und Knochennashorn mit einem
Wollpelz bedeckt waren, und daß andererseits auch heute noch
südliche und nördliche Typen in einigen Gegenden sich mi-
schen: am Amur trifft der Tiger mit dem Elen und dem
Renthier zusammen.
Was die Gegenwart des Menschen sowohl während der
Eiszeit als vor und nach derselben in Europa betrifft, so
brauchen wir auf diese vollständig erwiesene Thatfache hier
nicht näher einzugehen. Sie ist oft genug in diesen Blät-
tern besprochen worden. Bogt führt sie in seiner Geologie
auf die neuesten Forschungen gestützt genau aus, und so geht
er denn herab bis aus die sogenannte neolithifche Periode,
die Küchenabfälle, die Dolmen und Hünengräber, die Pfahl-
bauten. Wir wünschten nur, daß der auf diesem Felde so
verdiente Mann auch auf anderen Gebieten sich eines eben
so klaren und verständigen Urtheils erfreute, was bekanntlich
leider nicht der Fall ist.
Forschungsreise durch die Wüste El Tih auf der Sinai-Halbinsel.
Von C. F. Tyrwhitt Drake.
II.
Wüftenthiere und arabische Thiersagen.
Im Folgenden gebe ich die verschiedenen Beobachtungen,
sowie Sagen, welche ich mit Bezug auf Vögel und Säuge-
thiere in der Wüste Tih und benachbarten Gegenden machte.
Bei bekannteren und wissenschaftlich schon genau beschriebe-
nen Thiereu beschränke ich mich nur auf Mittheilung der
arabischen Erzählungen und Legenden, welche mit diesen Thie-
ren verknüpft sind.
Bären (Ursus syriacus), arabisch Dabb, werden noch
am Berge Hermon und am Anti-Libanon gesunden; sie
müssen früher in Palästina existirt haben, doch sind sie durch
die Zerstörung der Wälder nach Norden getrieben worden.
Sie verursachen viel Schaden in den Weingärten in der
Nähe des Hermon, machen sich aber selten an die Ziegen-
Herden. Auch bei den Arabern herrscht der weitverbreitete
Glauben, daß die Bären während des Winterschlafes sich
durch Saugen an ihren Pfoten ernähren; auch berichten sie,
daß, wenn das Weibchen sein Junges wirft, diefes völlig ge-
staltlos fei; die Bärin trägt es dann im Maule weg, damit
es nicht von den Ameifen gefressen wird, und giebt ihm durch
Lecken endlich seine wirkliche Gestalt. Bärenfett soll gut
gegen Leprose sein.
Wildschwein, arabisch Halouf, oder in Palästina ge-
wohnlich Khangir genannt, was aber nur Schwein bedeutet.
Diese Thiere sind da sehr häufig, wo sie Deckung in der
Nähe des Wassers finden, so am Jordan und dem Chor es
Safi im Süden des Todten Meeres. Ich war sehr er-
staunt, frische Wühlspuren derselben im Wady Rakhamah zu
finden, welches zwischen El Milh und Abdeh liegt. Dieser
Platz ist vom Wasser ganz entblößt, ausgenommen das, was
etwa in Löchern sich sammelt, und bietet keinerlei Deckung.
Die Azazimeh verzehren das Wildschwein, aber die Ghawa-
rineh, die eine Hyäne essen, obgleich sie wissen, daß sie Lei-
chen frißt, würden es nicht anrühren.
Trappe (Otis hubara), arabisch Hubara. Ich fand
nur wenige dieser Vögel in der Tih. Die Araber berichten,
daß die kleinere Trappe (Otis tetrax), die auch zuweilen
hier vorkommt, das Junge jenes größern und erst nach zwei
Jahren ausgewachsen ist. Auch behaupten sie, daß diese Bö-
gel den Falken, der auf sie stößt, mit ihrem Koth bedecken
und so ihn vertreiben.
Kameel, arabisch das Männchen Dschemel, das Weib-
chen Nagah. Ein Znchtkameel Falil, Collectiv ibil, vnlgo
$
Tyrwhitt Drake: Forschungsreise durch i
bil oder bair, Plural aaraD. Hedscliin wird gewöhnlich
für das Dromedar gebraucht, doch bedient man sich eigentlich
dieser Bezeichnung von einem Menschen, einem Pferde oder
einem Kameel, welches einen arabischen Stammvater und
eine fremde Mutter hat, was, bezüglich der Thiers., als die
beste Kreuzung betrachtet wird. Daher bezeichnet man ein
Dromedar oder wohlgezüchtetes Reitkameel auf diese Art.
Das Kameel ist ein sehr eigensinniges Thier, übelgelaunt
und vergißt nie eine Beleidigung. Ich habe nur ein ein-
ziges Mal bemerkt, daß ein Kameel leichte Zeichen der Zu-
neigung für seinen Herrn gab, obgleich sie stets gnt behan-
delt werden. Alle ihre Aeußerungen von Gunst und Miß-
gnnst, Vergnügen und Langeweile werden durch einen haß-
lichen Laut kundgethan, der zwischen Bellen und Brüllen
steht. Sie stoßen ihn hervor, ob sie beladen oder nnbeladen
sind, wenn sie gefüttert oder über einen schwierigen Paß ge-
trieben werden; sie sind eben mit allem, was geschieht, nn-
znsrieden. Ohne sie jedoch würde es völlig unmöglich sein,
die Wüsten zu kreuzen; denn kein anderes Thier kann die
Strapazen und den Mangel an Wasser ertragen. Ich habe
ein Kameel das Wasser verschmähen sehen, nachdem es drei
Tage ohne solches gewesen war. Zur Nahrung suchen sie
sich stets die am wenigsten einladenden dornigen Sträucher
aus. Die Sejal-Akazie, welche zwei bis drei Zoll lange
Dornen hat, ist eines ihrer Lieblingsfutter. Viele Araber
leben fast gauz von der Milch und dem Käse ihrer Kameel-
Herden.
Der Pelikan heißt Dschemel el rna, Wasserkameel, und
das Chamäleon, Dschemel el jehud, Jndenkameel.
Die Katze, arabisch Kutt, Sinuaur, Hirr. Nach eini-
gen Lexikographen ist der erstere Name nicht rein arabisch.
Die Katzen werden im Orient hoch geschätzt, uud für schöne
persische Exemplare zahlen die eingeborenen Damen oft hohe
Preise. In Kairo wurde eine Geldsumme testamentarisch
vermacht, um arme Katzen zu füttern, die täglich in dem
Makemah (Gerichtshof) ihre Rationen erhalten. Obgleich
die Araber am Sinai und in der Tih von wilden Katzen,
gatt berri, sprachen, fand ich doch stets, daß dieses der Luchs
(Felis caracal) war, der in einigen Theilen Arabiens inak
el ardh oder Erdböckchen genannt wird; am Sinai wird er
anazeh (von anz, Ziege) genannt. In Marokko ist er nur
als owdal bekannt. Ich will hier bemerken, daß das Wort
Fakd, welches Lane und Andere als „Luchs" übersetzen, ein
Thier, welches niemals zur Jagd benutzt wird, in der That
den Tschita oder Jagdleoparden Persiens und Indiens be-
zeichnet. Die Araber in der Tih und in Marokko, ebenso
die Fellahin in Aegypten essen den Luchs uud betrachten ihn
als eine Delicatesse. Da aber eiuige von ihnen auch Hyä-
nen, Schakals, Füchse, Geier nnd Raben verzehren, so kön-
nen sie kaum als epicuräische Autoritäten citirt werden.
Viele Thiere führen im Arabischen eine große Menge
von Namen; so werden allein dem Löwen über 560 beige-
legt! Die folgende verbreitete Erzählung wird diese That-
sache mit Bezug auf die Katze erläutern. Ein Beduine jagte
eines Tages, erbeutete eine Katze, wußte aber uicht, was für
ein Thier er vor sich habe. Als er es nun mit sich schleppte,
begegnete er einem Manne, der ihn fragte: „Was willst Du
mit der Sinnaur anfangen?", während bald darauf ein
Anderer ihm sagte: „Wozu hast Du die Kutt?" Ein Drit-
ter nannte das Thier hin-, und Andere bezeichneten es nach
und nach als dhajun, khaida und khaital. Da dachte der
Beduine bei sich, das muß ja ein sehr werthvolles Thier sein,
und trug es aus den Markt, wo er es für 100 Dirhems
feil bot. Aber die Leute lachten über ihn und sprachen:
„Weißt Du denn nicht, o Beduine, daß ein halber Dirhem
schon zu thener sein würde?" Er aber ward erzürnt dar-
e Wüste El Tih aus der Sinai-Halbinsel. 325
über, daß sein Traum von einer großen Einnahme so Plötz-
lich zerstört wurde, warf das Thier fort und rief ans: „Möge
dein Haus zerstört werden, du Thier von vielen Namen,
aber von geringem Werthe!"
Die Araber erzählen, daß die Katze folgendermaßen ent-
standen sei. Die Bewohner der Arche wurden arg von Mäu-
/seu geplagt. Noah in seiner Verzweiflung hieb den Löwen
auf die Nase; dieser begann zu niesen, woraus die Katze er-
schien und die Mänse vertilgte. Im Orient wie in Europa
wird eine schwarze Katze als unheilverkündend angesehen, und
viele ihrer Theile dienen zu magischen oder medicinischen
Zwecken; ihre Klauen z. B. sollen gegen Alpdrücken helfen.
Der Klippschliefer (Hyrax syriacus), arabisch waber
(wörtlich Pelz, von der Dicke des Felles dieser Thiere) gha-
nem beni Israel: Schaf der Kinder Israel. Einige Araber
behaupten, daß dieses Thier gegessen werden dürfe, doch an-
dere, wie die am Sinai, erklären es für unrein und nennen
es Abu Salman oder auch Bruder des Meufchen. Sie be-
richten, daß es ursprünglich ein Mensch gewesen, der wegen
seiner Sünden verwandelt wurde, und glauben, daß der-
jenige, welcher davon isset, sein Hans niemals wieder er-
blicken werde. Es ist eine gewöhnliche Redensart unter den
Hadschis und den Einwohnern Mekkas, zusagen: „GuteVer-
dauung Euch, die Ihr Abu Salman gegessen habt."
DerHnnd, arabisch Leid (in Marokko jero, was eigent-
lich junger Hund oder Wols bedeutet); es ist der gemeine
Hund. Eine große rauhe Windhundart wird Seluki ge-
nannt nach der Stadt Seluk in Jemen. Die gewöhnliche
Ableitung indessen ist von Selencia. Dieser Hund gleicht
sehr dem schottischen Hirschhund, dessen gaelischer Name Slogie
ist. In Syrien und östlich vom Jordan ist diese Art viel
glatter, doch sind Ohren, Schwanz und Läufe behaart wie
beim Vorstehhund (setter). Die Weibchen sollen tüchtiger
bei der Jagd als die Männchen sein, und die schwarzen wer-
den als die geduldigsten bezeichnet. Die Hunde in den orien-
talischen Städten leben in Commnnen und besitzen gewisse
Districte, die gewöhnlich an einer Straßenecke endigen.
Wehe einem fremden Hunde, der sich über seine eigene Grenze
hinauswagt! Ich habe mich oft über diese Thiere, zur Zeit
als ich in Kairo wohnte, amüsirt. Sobald ein fremder
Hund erscheint, fallen alle rechtlichen Inhaber des Quartiers
über ihn her; der Eindringling sucht sein Heil in der Flucht,
sobald er aber seine eigene Grenze erreicht hat, wendet er
sich um uud zeigt den Verfolgern die Zähne; wenn diese
nun nicht schnell den Rückzug antreten, so kommen seine
Freunde zur Unterstützung und jagen sie fort. Mcut sagt,
daß Hunde gegen Hyänen einen besondern Haß hegen, so
sehr, daß wenn man einen Hund mit Hyänensett einreibe,
er toll würde; uud — was aber nicht folgerichtig ist — daß
ein Mensch, der eine getrocknete Hyänenzunge bei sich trage,
von Hunden nicht angebellt werde. Das würde beim Ein-
tritt in ein arabisches Lager von großem Vortheil sein, denn
da wird der Fremdling sofort von einem Rudel kläffender
Bestien umringt, die den Tag über mit einem offenen Auge
schlafen und in der Nacht beständig wach sind und bellen, ent-
weder um einen umherschleichenden Schakal oder eine Hyäne
zu erschrecken, oder ein umherirrendes Schaf oder eine Ziege
zurückzutreiben, die außerhalb des Zeltkreifes spazieren gehen.
Die Araber erzählen, daß ein Hund eine scheintodte Person
wieder anserwecken kann, und sagen, daß die Griechen (Rum)
niemals einen Menschen begraben, bevor sie ihn nicht den
Hunden ausgesetzt haben. Es ist jedoch nur eine Race, von
der man dieses versichert, jene, welche nian el Kalti nennt;
sie sind klein und haben sehr kurze Beine. Man nennt sie
auch chinesische Hunde. Heber den Ursprung dieser Sage
weiß ich nichts zu berichten. Die folgende ist fast identisch
326 Tyrwhitt Drake: Forschungsreise durch d
mit einer bekannten nordischen Legende: Ein König hatte
einen Lieblingshund, den er eines Tages zu Hause ließ, als
er sich auf die Jagd begab. Seinem Koch hatte er besoh-
len, ein Gericht Sauermilch oder Leben bei seiner Rückkehr
bereit zu halten; der Koch befolgte diesen Befehl, doch ließ
er die Milch unbedeckt und eine Schlange kam, trank davon
und vergiftete die Milch. Bei der Rückkehr des Königs
versuchte der Hund, ihn von der Berührung der Milch abzu-
halten; in dem Augenblicke kam der Koch mit einem Stück
Brot, welches der König nahm und in die Leben tauchen
wollte, worauf der Hund ihm sogleich in die Hand biß. Der
König wurde nun sehr ärgerlich und streckte seine Hand nach
dem Napfe aus. Der Hund aber kam ihm zuvor, begann
den Inhalt zu schlürfen und fiel gleich darauf tobt nieder.
Nun erst bemerkte der König den Scharfsinn und die Treue
des Thieres, dessen Verlust er betrauerte und dem er ein
prächtiges Denkmal setzen ließ.
Der Esel, arabisch Himar. Der Esel wird von dem
Araber vielfach benutzt, denn er kommt in der Wüste fort,
wo das Pferd nicht mehr existiren kann. Er trägt nament-
lich die Wasserschläuche, da die Beduinen oft mehrere Miles
vom Wasser lagern und die Frauen alle zwei oder drei Tage
einen Wasservorrath herbeischleppen müssen. Ein nach dem
Enphrat zu wohnender Wüstenstamm soll nur Esel, keine
Pferde oder Kameele besitzen. In Damaskus giebt es drei
Eselvarietäten. Erstens die weiße, welche als die werthvollste
betrachtet wird. Das Stück wird oft mit 30 oder 40 Pf. St.
bezahlt, und in Aegypten hörte ich von 60 Pf. St., die für
ein Thier dieser Art gezahlt wurden. Zweitens der gemeine
Esel, der zum Reiten u. s. w. dient. Drittens ein großer
Esel, 13 bis 14 Faust hoch, der zum Lasttragen in den
Städten benutzt wird. Aus dem Lande dagegen ist er un-
brauchbar, da er nicht, wie die anderen Spielarten, fest auf
den Füßen ist. Der wilde Esel, arabisch Air, fera oder
himar wahschi, wird östlich von Damaskus gesunden. Er
soll ein hohes Alter erreichen.
Der Dngong oder Manati (Halicore Hemprichii),
arabisch Otum, von Dr. Robinson tun genannt *). Dieses
merkwürdige Säugethier kommt im Rothen Meere vor und
wird von den Fischern harpnnirt, wenn es an der Oberfläche
des Wassers erscheint. Die Haut wird von den Sinai-
beduinen zu Sandalen benutzt, wozu sie sich vortrefflich eignet.
In einigen Gegenden Arabiens sollen daraus Khifaf oder
Schuhe für die Kameele gemacht werden, um deren Füße
gegen die Felsen zu schützen. Einige Commentatoren nehmen
das hebräische tachash, welches Luther Dachsselle übersetzt
(2 Mose 25, 5), für den Otum; das arabische tukkas wird
für Delphine im Allgemeinen gebraucht.
Der Fuchs, arabisch Taaleb, Abul Husein. Wie in
Europa, so gilt der Fuchs auch im Orient als der Typus
eines verschlagenen Thieres, und viele Histörchen laufen über
ihn um. Die folgenden mögen als Beispiele dienen: Wenn
ein Fuchs stark von Flöhen geplagt wird, zupft er sich einen
Mundvoll Haare aus, hält den Büschel im Maule und steigt
nun ins Wasser. Alle Flöhe kriechen nun, um dem Ersäu-
fen zu entgehen, nach dem Büschel, den der Fuchs daun im
Wasser fließen läßt, während er selbst, von seinen Plagegei-
stern befreit, sich zurückzieht. — Der berühmte arabische
Schriftsteller und Gottesgelehrte Esch Schaficy erzählt, daß
er und zwei Reisegenossen in Jemen einst zwei Hühner zur
Mahlzeit vorbereiteten. Indessen, die Stunde des Gebetes
kam, sie ließen die Hühner auf dem Tische und verrichteten
ihre gottesdienstlichen Handlungen; unterdessen kam ein Fuchs
*) Im südlichen Rothen Meere heißt der Dugong Dschilid oder
Tauileh. Heuglin, Abyssinien, S. 71. Anm. d. Nebers.
Wüste El Tih auf der Sinai-Halbinsel.
und stahl eines der Hühner. Nachdem sie ihr Gebet been-
digt, sahen sie den Fuchs mit dem Huhn im Maule sich
fortschleichen, sie verfolgten ihn und er ließ es fallen. Näher-
gekommen fanden sie jedoch, daß der Fuchs nur ein Stück
PalmblaH hatte fallen lassen, um ihre Aufmerksamkeit an-
zuziehen, während er unterdessen sie umgangen, auch das
zweite Huhn gestohlen und sie ohne Mahlzeit gelassen hatte. —
Man sagt, der Fuchs stelle sich scheintodt, blase seinen
Körper auf und wenn irgend ein Thier aus Neugier, um
ihn zu sehen, herbeigelockt werde, springe er auf und ergreife
es. — Die Fabel vom Fuchs und Storch ist verändert in
eine vom Fuchs und Raben. Der erstere ladet den letztern
zu einem Mahle ein und stellt ihm Suppe in einer stachen
hölzernen Schüssel vor; der Rabe erwiedert die Einladung
und streut Weizen über einen Sillehbusch. Die Silleh ist
eine der dornigsten Wüstenpflanzen. — Fuchsengalle soll ein
Specisicnm gegen Epilepsie sein; sein Fett dient gegen die
Gicht.
Gazelle (Gazella Dorcas), arabisch das Männchen
ard, das Weibchen ghazaleh, auch, namentlich in Gedichten,
dhabyeh. Diese Gazelle wird in den mehr ebenen Gegen-
den zwischen Sinai und Libanon gefunden. Ihre Weide-
Plätze wechseln außerordentlich nach der Jahreszeit. Ob-
gleich wir selbst nicht eine einzige im Centrum der Tih sahen,
erzählten die Araber, daß sie, nach einer guten Regenzeit,
doch in großer Zahl dorthin kämen. Die Araber berichten
von drei Arten, nämlich: LI Rim (Antilope addax), El
Edam (Antilope leucoryx) und El Afar, welche Art ich
nicht genügend bestimmen kann. Die Zunge der Antilope
muß ein unschätzbares Zaubermittel sein, denn im getrockne-
ten und gepulverten Zustande einer zänkischen Frau eiuge-
geben, wird diese in Zukunft sich eines guten Benehmens
befleißigen.
Ziege, arabisch maaz, Weibchen inaazsb oder anz; ein
Bock, wild oder zahm, wird auch tais genannt. In den
gebirgigen Gegenden werden von den Arabern große Ziegen-
Herden gehalten, namentlich der Milch und der Haare wegen,
welche letztere zur Verfertigung von Zelten und Säcken ge-
braucht werden. Bei Festlichkeiten pflegen die Araber stets
ein Böckchen, kein weibliches Thier, zu essen. Ausgewachsene
Thiere werden selten getödtet. Es kommen verschiedene Zie-
genspielarten vor, von jener mit aufrechtstehenden Ohren bis
zu der syrischen mit 12 bis 14 Zoll langen Hängeohren.
Die gewöhnliche Wüstenziege hat leicht hängende, nach der
Spitze zu etwas gewundene Ohren.
Pferd. Der allgemeine arabische Name ist Kheil; ein
Hengst hisan (in Marokko and), eine Stute fars, ein Fül-
len mohrah. Atik ist ein arabisches Vollblut; der Teufel
wird nie ein Zelt betreten, in dem ein Atik sich befindet.
Hedschin, ein gekreuztes Pferd (vergleiche unter Kameel).
Berdhun, ein Saumpferd von fremden Eltern. Kadisch,
ein schlecht gezüchtetes Berdhun. Die Beduinen nehmen
die sieben folgenden Zuchtarten von Pferden an. 1) Mu-
salsal, mit schmalem Kamm, kurzen weißen Strümpfen (über
dem Huf), rothäugig, kurzhaarig, voll im Leibe, langgezogen.
2) Haikali. 3) Scharthar. 4) Hareifisch, eine in Syrien
sehr bekannte Race. 5) Tubal. 6) Dschidscb. 7) Ku-
meit. Diese sind braun, mit schwarzen Flecken und müssen
ein feines Maul haben, kleinen Kopf und weißen Stern auf
der Stirn. Die Lieblingssarben der Pferde sind kastanien-
brann, grau, schwarzbraun und schwarz. Der Prophet soll
Folgendes gesagt haben: Die besten Pferde sind schwarz,
mit weißer Stirn und weißer Oberlippe; diesen zunächst
kommt eiu schwarzes Pferd mit weißem Stern und drei wei-
ßen Strümpfen; dann ein Brauner mit diesen Abzeichen.
Nach derselben Autorität ist schikal, d. h. der rechte Vorder-
Die Negerherrschc
und linke Hinterfuß, weiß, das Zeichen eines schlechten Pfer-
des. Der erste Mensch, welcher ein Pferd zähmte und ritt,
soll Jsmael gewesen sein. Das erste Pferd erschien, als
Adam bei seinem ersten Erwachen niesete (vergl. die Ge-
schichte von der Katze).
Hyäne (Hyaena striata), arabisch dbaba, auch, am
Sinai, arkudha. Dieses Thier wird überall in der Wüste
und in Palästina gefunden. Es ist ein feiges Vieh, lebt
hauptsächlich von Aas und wird wenig von den Arabern ge-
fürchtet. Wie ich früher erwähnte, essen die Ghawarineh
es. Es soll alljährlich sein Geschlecht verändern. Dieselbe
Fabel wird von den Hasen erzählt.
in Südcarolina. 327
Schakal, arabisch Ibn Awi, oder in Syrien Waawi,
in Marokko Dib und Taaleb Jusuf. Diese Thiere kommen
nicht in der Wüste vor, doch sind sie in den cultivirten Ge-
genden Palästinas und Aegyptens häufig, wo gleich nach
Sonnenuntergang ihr lästiges Geheul vernommen wird. Es
sind furchtsame Thiere, die wenig Schaden verursachen, aus-
genommen in den Weingärten, wo sie große Verwüstungen
anrichten, da sie sehr lüstern auf Trauben sind.
Steinbock (Capra beden), arabischBedan, von bedn,
ein Körper, wohl deshalb, weil sie das größte Wild am
Sinai sind; correct arabisch ist waal. Dieses ist der nörd-
lich von Damaskus gebräuchliche Name. Einige Reisende
Capra, beden.
haben sie Taytal genannt, doch dieses Wort ist nicht arabisch*)
und wird nur von den sinaitischen Beduinen gebraucht, wenn
sie von den Europäern sprechen, „den armen Schluckern, die
kein Arabisch verstehen". Ich bin völlig außer Stande, die
Ableitung dieses Wortes zu geben. Unter sich nennen die
Beduinen den Bock bedan, die Gais anz, die Zickel dlialit.
Ein Böckchen im ersten Jahre heißt Fenaigili; später wird
er nach der Länge der Hörner unterschieden, und im zweiten
Jahre Abu Scbibrain genannt, der Vater von zwei Span-
nen; im dritten thelathi, im vierten rubai, nnd im fünften
*) Tatel oder Tetel nennen die Araber die in Taka, am blauen
und weißen Nil vorkommende Antilope bubalis oder Bubalis mau-
ritanica. Vergl. Baker, Nilzuflüsse, 11,227. Anm. d. Uebers.
khummasi. Sie fügen hinzu, daß die Hörner niemals fünf
Spannen in der Länge übersteigen, und ich halte dieses für
richtig, da das größte von mir gemessene Paar genau fünf
Spannen oder 41 englische Zoll lang war. Die Bezeich-
nnng garimi (roth) wird allgemein angewandt, so wie wir
von Rothwild sprechen. Diese Thiere werden am Sinai
und an beiden Ufern des Rothen Meeres gefunden*). Ich
habe begründete Ursache, daß die bei Palmyra vorkommen-
den einer andern Art angehören.
*) Wie auffallend dieser große Steinbock am Sinai erscheint, er-
kennt man auch daraus, daß er eine der häufigsten Figuren in den
Bildersculpturen des Wadi Mokatteb ist. Eine Abbildung derselben
siehe „Globus" V, 356. Anm. d. Uebers.
Die Negerherrschl
A. Ich habe es schon vor acht Jahren im „Globus"
mehrmals hervorgehoben, daß das Treiben der sogenannten
republikanischen Partei in den Vereinigten Staaten von Nord-
amerika unausbleiblich einen Racenkämpf hervorrufen werde
nnd müsse. Er ist nun schon seit längerer Zeit entbrannt;
er wird theils ganz offen und mit Gewalttätigkeiten aller
Art, theils, mehr oder weniger versteckt geführt.
Die Art und Weise, in welcher die herrschende radi-
cale Partei die Emancipation der Neger ins^Leben rief,
war ein Verbrechen gegen die Schwarzen wie gegen die
Weißen, war eine der schwersten Versündigungen gegen die
't in Südcarolina.
Cultur. Wie hat sich die sogenannte öffentliche Meinung
in Europa doch über diese Maßregel belügen und betrügen
lassen und wie bornirt ist vielfach noch jetzt die Anschauung
in Betreff eines so verhängnißvollen Mißgriffes! Freilich
werden Vielen durch die Menge grauenhafter Thatfachen die
Augen geöffnet, Manche aber lassen sich noch immer durch
die hohle Phrase bestechen.
Ich spreche von planmäßiger Lüge; diese ist von
Seiten der herrschenden Radicalen in ein System auch des-
halb gebracht worden, um die schwächeren Geister und die
Unkundigen in Europa zu bethören. Ich will sie au einem
328 Die Negerherrschc
Beispiel erläutern. Die Neger werden veranlaßt, in jedem
Jahre den Präsidenten Lincoln, als ihren trenesten Hort,
Befreier, Beschützer und Vater zu seiern und Lobreden von
der Kanzel und in Massenversammlungen aus ihn zu halten.
„(£r war unser Bruder und wir sind seine Brüder."
Was sagen aber die Thatsachen? Jener Lincoln
hatte mehr als einmal amtlich erklärt, daß er nicht daran
denke, eine „Bulle gegen den Kometen" zu schleudern, d. h.
die Sklaverei abzuschaffen. Er ließ sich aber durch die Ra-
dicalen, deren Werkzeug er war, dahin drängen, daß er die
sofortige, unvermittelte und unbedingte Befreiung
der Negersklaven verkündete, aber, wohlverstanden, nicht etwa
als eine durch Humanität, sanfte, wenn auch unpraktische
Gefühlsregungen, Menschenfreundlichkeit :c. :c. eingegebene
und veranlaßte Maßregel, sondern aus „ Notwendigkeit,
welche durch den Krieg bedingt werde".
Von da an war dem Racenkriege und der Barbarei Thür
und Thor geöffnet.
Wie dachte Präsident Lincoln, der „Vater, Bruder und
Befreier", über die Stellung, welche den Negern in den
Vereinigten Staaten gebühre? Im Jahre 1862 hatte auf
Lincoln's Antrieb der Senator Pomeroy von Kansas einen
Plan entworfen, so viele Neger als irgend möglich nach
Centralamerika zu schaffen, zunächst nach Chiriqni, im
nengranadinifchen Staate Jstmo (Panama); dort sollten sie die
Kohlengruben bearbeiten und Ländereien zur Ausiedluug er-
halten. In einem Aufrufe an die freien Farbigen erklärte
Pomeroy, daß sie dort zu einem großen, freien und wohl-
habenden Volke heranwachsen würden; am I.October 1862
wolle er selbst zunächst 100 Männer nebst Frauen uud Kin-
dern auf Kosten der Washingtoner Regierung dorthin be-
fördern. Der Plan konnte jedoch nicht ausgeführt werden,
weil die centralamerikanifchen Regierungen gegen denselben
scharfen Protest einlegten; sie wollten keine solche Einwan-
dernng gestatten.
Während Pomeroy die Neger für sein Unternehmen zu
gewinnen suchte, schickten dieselben eine Abordnung an den
Präsidenten, der ihnen dringend rieth, nach Centralame-
rika überzusiedeln. Seine Anrede an die Schwarzen vom
14. August 1862 ist dann amtlich veröffentlicht worden,
und ich will das Wichtigste aus derselben wörtlich mitthei-
len, um zu zeigen, wie verständig Lincoln in einer so bren-
nenden Angelegenheit dachte, und wie er die Stellung der
vier Millionen zumeist völlig rohen Neger in einer aus wei-
ßen Menschen gebildeten Republik auffaßte.
„Weshalb sollen die Leute Eurer Race nicht auswärts
Ansiedelungen gründen? Ihr und wir sind von ver-
schiedener Race. Zwischen uns beiden ist ein größerer
Unterschied vorhanden als zwischen irgend welchen anderen
Racen. Ich will nicht erörtern, ob das recht oder unrecht
sei, aber der physische Unterschied ist ein großer Nachtheil für
uns Beide. Darunter hat Euere Race schwer zu leiden, und
die unsere leidet dadurch, daß Ihr unter uns lebt; mit einem
Worte, wir leiden beiderseits. Wenn man das zugeben muß,
so liegt darin eine Veranlassung, daß wir uns trennen.
Ihr, die Ihr hier steht, seid, glaube ich, freie Leute. (Ja,
Herr!) Meiner Meinung nach leidet Eure Race das größte
Unrecht, welches Leuten zu Theil werden kann. Aber wenn
Ihr auch aufhört, Sklaven zu sein, so seid Ihr doch weit
davon entfernt, mit der weißen Race auf gleichen Fuß ge-
stellt zu sein. Euch gehen manche Vortheile ab, deren die
andere Race sich erfreut. Wenn der Mann frei ist, trach-
tet er nach Gleichheit mit den Besten, aber auf diesem wei-
ten Continente ist kein einziger Mann Eurer Race der un-
sern gleich geschaffen. Gehet, wohin Ihr auch am besten be-
handelt werdet, und doch lastet der Bann auf Euch. Ich
in Südcarolina.
will hier nicht discntiren, sondern eine Thatsache hervor-
heben, mit der wir zu schaffen haben. Diese kann ich nicht
ändern, wenn ich auch wollte; wir Alle, Ihr und ich, den-
ken und fühlen gleichmäßig über dieselbe."
Lincoln betont dann, daß die Sklaverei der Neger auch
auf die Weißen üble Wirkungen habe. „Aber wenn Eure
Race nicht unter uns wäre, dann hätten wir keinen Bürger-
krieg. Obwohl viele auf beiden Seiten Fechtende sich um
Euch gar nicht kümmern (although many men engaged
on either side do not care for you one way or the
other), so wiederhole ich doch, daß ohne die Einrichtung der
Sklaverei und das Vorhandensein der farbigen Leute der
Krieg nicht da sein würde. Es ist am besten für uns,
wenn wir uns trennen (it is better for us both,
therefore, to be separated)."
Der Präsident führt dann den Schwarzen zu Gemüthe,
daß es eine sehr selbstsüchtige Ausfassung sei, wenn sie wähn-
ten, in den Vereinigten Staaten besser leben zu können als
in irgend einem andern Lande; es herrsche die größte Abnei-
gung gegen das Verbleiben der freien Neger im Lande (there
is an unwillingness on the part of our people, harsh
as it may be, for you free coloured people to remain
with us). Er sprach dann Einiges über Liberia; in Betreff
der Auswanderung gebe er Centralamerika, welches sich ohne-
hin mit einem Dampfer in sieben Tagen erreichen lasse, den
Vorzug. Wenn die Neger dort in den Kohlengruben arbei-
ten wollten, fo könnten sie sich zu Wohlstand bringen, und
dort hätte man kein Vorurtheil gegen ihre Race.
Man sieht, wie der „Vater, Bruder und Befreier" über
die Stellung der freien Neger unter weißen Leuten dachte.
Es ist anthropologisches Verständniß darin; der
radicale Congreß kehrte aber diesem den Rücken; die Neger
wurden Knall und Fall sür frei erklärt; man decretirte ihre
sofortige unbedingte Gleichstellung und Gleichberechtigung, und
seitdem haben die Zerwürfnisse, Unruhen, Fehden und Mord-
thaten nicht aufgehört; der Racenantagonismns ist in lichter-
lohe Flammen ausgebrochen.
Hier zeigt sich wieder, wie in den politisch durch und
durch corrnmpirten Vereinigten Staaten Alles in Bezug auf
die Herrschaft der Partei, d. h. die Ausbeutung der Finan-
zen von Seiten der Stellenjäger, geschieht. Der Partei ge-
hört die Beute; sie hält sich am Ruder, so lange sie das
Uebergewicht der Stimmen hat. Die Radicalen, welche mit
Lincoln 1861 „an die Krippe" kamen, wollen an derselben
bleiben. Lincoln war durch eiue Minorität Präsident ge-
worden, weil die demokratische Partei sich in drei Fractionen
zersplittert hatte. Nach Beendigung des Bürgerkrieges wur-
den alle „Rebellen" geächtet und politisch entrechtet; so wur-
den mehr als 400,000 proscribirte weiße Leute, denen man
eine Militärherrschaft aufzwang, ihrer Stimmen beraubt;
dagegen gewann die radicale Partei an etwa 700,000 Ne-
gern eben so viel Stimmvieh. Der Süden wurde durch
ganze Schaaren von stellejagenden Abenteurern aus dem
Norden, den „Carpetbaggers", welche nichts hatten als
ihren Reisesack, ihren Radicalismus und aufdringliche Un-
Verschämtheit, heimgesucht. Dazu kamen dann noch ämter-
jagende Südländer, die „Scall«wags", die nicht minder
gewissenlos sind. Beide haben, vom Gouverneur an, die
Aemter inne, weil jeder respectable Südländer als „Rebell'"
geächtet ist, und nach sechs Jahren ist noch immer keine
Amnestie erlassen worden. Weshalb? Sobald die ehe-
maligen „Rebellen" ihre bürgerlichen Rechte wieder erhalten,
stimmen sie gegen ihre Bedrücker, die Radicalen, und dann
hat es für diese mit der Ausbeutung der Aemter ein Ende.
Präsident Grant geht auf alle Gewaltmaßregeln der Radi-
calen ein, weil er wiedergewählt sein möchte; aber er ist
Die Negerherrfchl
längst selbst der Partei, welche ihn ausnutzt, verächtlich ge-
worden. Es ist ein Verdienst des Senators Karl Schurz,
der im Uebrigen manche Parteisünde abzubüßen hat, daß er
in Missouri, mit Hülse der Deutschen, die Entrechtung der
„Rebellen" beseitigte, so weit das in der Besugniß des Einzel-
staates lag, daß er, selbst der „republikanischen" Partei au-
gehörend, jenen Graut iu seiner völligen Nichtigkeit hinstellte
und nachwies, wie unheilvoll er trotzdem, vermöge seiner
Machtstellung, wirke.
Das, was hier gesagt worden ist, giebt einen Schlüssel
zu derAnarchie in den Südstaaten. Am ärgsten stehen
die Dinge in Südcarolina, wo durch Carpetbaggers,
Scallawags und Neger geradezu schauderhafte Verhält-
uisse eingetreten sind. Das unter Grant's und seiner nach-
sten radicalen Rathgeber Obhut ins Leben gerufene System
ist „gräßlich". „Auf dem Nacken der weißen Leute sitzen
die Blutsauger und Satrapen einer Parteiregierung, Lumpe
und Vagabunden ans allen Theilen des Landes; Vampyre,
welche vom Blute der Südländer sich vollsangen. Die erste
Sorge der deutschen Regierung nach dem Friedensschlüsse
war, die Bevölkerung von Elsaß und Deutsch-Lothriugeu zu
versöhnen, die Wunden, welche der Krieg geschlagen, zu
heilen. Die amerikanische Regierung hingegen scheint
eine satanische Lust daran zn haben, noch Jahre lang nach
Beendigung des Bürgerkrieges die Opfer zu quälen."
Dieser Ausspruch, welchen vor mehreren Wochen das
„Neuyorker deutsche Journal" that, ist vollkommen richtig.
Was weiter mitgetheilt werden soll über die Verhältnisse in
Südcarolina, finde ich in der „Newyork Tribüne". Diese
ist bekanntlich das einflußreichste Blatt der radicalen Partei,
war bis diesen Tag die eifrigste Vorkämpferin der Gleich-
stelluug aller Raceu, selbst wenn sie Botocnden oder Anthro-
pophagen sind; „alle Menschen sind Brüder". Aber das
Treiben ihrer Parteigenossen im Süden und das abscheuliche
Verfahren Grant's ist ihr doch zu arg. Sie hat, um in
Betreff der Thatsachen ins Klare zu kommen, einen Corre-
spondenten zunächst nach Südcarolina geschickt, der ihr
die Wahrheit berichten soll. Wir gewinnen nun eiueu
Einblick in die dortigen Verhältnisse und sehen, wohin die
„Musterrepublik" durch das Verfahren ihrer radicalen Be-
Herrscher bereits gekommen ist. Das Folgende steht in der
„Weekly Tribüne" vom 10. Mai, in einer Correspondenz
aus Columbns vom 27. April.
„Südcaroliua kann als ein typischer Südstaat betrachtet
werden; die südlichen Ideen waren dort am stärksten ent-
wickelt, nnd der Uebergang zum „nördlichen System" in
Bezug aus Regierung und Gesellschaft ist hier am radical-
sten. Es bleibt zu verwundern, daß dieser Wechsel mit so
geringen Gewalttätigkeiten stattgefunden hat, — in der That
ein Wunder, wenn man erwägt, daß niemals ein civilisirtes
Gemeinwesen eine so rasche und plötzliche Umgestaltung in
gewerblicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung er-
fahren hat. Wer gestern Sklav war, ist heute Herr und
Gebieter, und die früher herrschende, stolze Classe ist zu
polnischer Sklaverei verdammt."
„Von 729,000 Bewohnern des Staates sind 425,000
Neger. Als Classe genommen sind sie unwissend, aber-
gläubig, Halbbarbaren und ihre Intelligenz erhebt
sich nur weuig über jene ihrer Stammgenossen in
Afrika. Die große Masse ist überaus träg, und will
nicht mehr arbeiten, als unbedingt zur Stillung des Hungers
nöthig ist. Diese Halbbarbaren begehen nicht häufig schwere
Verbrechen, aber sie verüben unzählige kleinere Diebstähle.
Dem weißen Manne gegenüber nehmen sie noch jetzt schein-
bar unterwürfige Mienen au, sind aber gegen ihn mißtrauisch,
weil sie glauben, daß sie gehaßt werden."
Globus XIX, Nr. 21. (Juni 1871.)
in Südcarolina. 329
„Und diesen Leuten hat man nicht bloß politische Rechte
verliehen, sondern sie üben eine absolute Obergewalt
aus! Sie sind die herrschende und regierende Classe
in Südcaroliua; aber auf der ganzen weiten Ober-
fläche unseres Planeten giebt es sicherlich keine
Classe, die so total unfähig zum Regieren wäre!"
„Im ganzen Staate giebt es nicht ein Dutzend
Neger von einigermaßen höherer Bildung, und
überhaupt können nur fehr wenige lesen und schreiben. Aber
es giebt auch arme Weiße, deren Dürftigkeit, Stupidität
uud Verkommenheit fehr arg ist. Sie wohnen in Hütten,
die keine Fenster und manchmal auch keinen Fußboden haben,
können auch nicht lesen oder schreiben und ihr Sinn dreht
sich nur um Maisbrot, Schinken und Branntwein; sie hegen
grimmigen Haß gegen die Neger, in welchen sie Nebenbuhler
sehen; sie sind träg, lasterhaft, zänkisch, rachsüchtig und bru-
taler Grausamkeit fähig. (— Sie bilden eine Verhältnis
müßig geringe Zahl. —) Die gebildeten nnd wohl erzöge-
nen Weißen sind an Zahl nicht sehr beträchtlich, aber ihnen
gehört das meiste Grundeigenthum. Ihnen erscheint die
Herrschaft der Neger als etwas Unnatürliches und Verab-
fchenenswerthes. Anfangs glaubten sie, die „Reconstruction"
sei nur eine Farce, und meinten, daß 1868, falls die demo-
kratifche Partei siegen würde, dieselbe keine weiteren Folgen
haben werde. Sie waren aber nicht wenig erstaunt, als sie
nun sahen, daß die Neger Gesetze machten, Stenern ausschrie-
ben, Aemter bekleideten und als Geschworene saßen. Dann
folgten Bitterkeit, Ingrimm, nnd Gewaltthaten und Morde
waren die natürliche Folge" *).
Wir lassen den radicalen Berichterstatter der erzradicalen,
negerfreundlichen „Tribüne" weiter reden.
„Es würde schwer sein, sich gesellschaftliche Verhältnisse
und Zustände vorzustellen, die so sehr und so ganz nnd gar
untauglich sind für eine republikanische Regierungsform, als
hier in diesem Staate. Die intelligenten und gebil-
deten Leute haben in den öffentlichen Angelegen-
heiten gar keine Stimme, sind ohne all und jeden Ein-
slnß auf die Regierung uud müssen sich der Herrschaft einer
Classe fügen, die eben erst aus der Sklaverei gekommen
ist, die sich in all und jeder Hinsicht unzulänglich (iucom-
peteut) zeigt, mit sich selber nichts anzufangen weiß und nicht
fähig ist, auch nur die geringsten Bürgerpflichten auszuüben.
Diese Verhältnisse sind so ungesund und so unnatürlich,
daß sie auf die Dauer nicht bleiben können. Im Jahre
1868 hielten die leitenden weißen Bürger sich von
Conventionen und Wahleinflüssen fern und die neue (Car-
petbagger-) Regierung fand nur geringe Opposition. Bei
der nächsten Staatswahl, im Jahre 1870, machten sie einen
*) Allerdings werden sie schamlos ausgeplündert. Vergleiche „Glo-
bus" XVII. S. 304, wo wir folgende Thatsachen mitgetheilt haben:
„Die Legislatur des Staates Südcarolina. Mai 1870, zählte 63 Mit-
glieder; davon sind 50 Neger und 13 Weiße. (Die gebildeten Leute
waren sämnnlich „Rebellen" und sind also entrechtet und geächtet.)
Von diesen 63 Gesetzgebern können acht ordentlich lesen und schrei-
ben, 22 überhaupt können lesen und schreiben; nicht weniger als 41
sind des einen wie des andern unkundig; sie unterzeichnen die Ge-
setze, welche sie geben, und die Doenmente mit einem X his mark."
„Nur neunzehn von diesen 63 Gesetzgebern zahlei^ über-
Haupt irgend welche Steuer und der gesammte Steuer-
betrag dieser neunzehn beziffert sich, den amtlichen An-
gaben znfolge, im Ganzen auf 144 Dollars 60 Cents.
Alle übrigen Gesetzgeber dieses Staates Südcaroliua
z u sa m m e n g e n o m m e n zahlen nicht einen Cent Abgaben;
aber sie haben 1870 für mehr als 4,000,000 Dollars ^ den ent-
rechteten Weißen an Steuern und Abgaben aufgebürdet."
Das System, welches die radieale Partei dort befolgte, verdient
in der That gebrandmarkt zn werden; es ist geradezu beispiellos.
Oder wo wäre ein Nebenstück zu solchen Monstrositäten nachzuwei-
sen? Der schwarze Proletarier ist souverän.
42
330 Die Negerherrsch
Versuch zur Aussöhnung mit deu Negern und be-
müheten sich, eine Reformpartei ins Leben zu rufen, in
welcher der Unterschied der Hautfarbe unberücksichtigt bleiben
solle. Sie nahmen ein von ihnen selbst entworfenes Pro-
gramm an, welches alle den Negern zugesprochenen Rechte
anerkannte, erklärten, daß sie den Negern nicht hinderlich in
den Weg treten wollten, und bewogen einige der letzteren,
Vorfchlagsernennungen (Nominationen) zu Aemtern anzu-
nehmen. Diese Bemühungen waren fruchtlos. Die Neger
(— aufgehetzt von den Carpetbaggers, welche sich ihr schwar-
zes „Stimmvieh" nicht entgehen lassen wollten —) waren
mißtrauisch gegen die Weißen und mochten die Regierung
nicht in die Hand derselben kommen lassen. Sie stimmten
Mann für Mann für die radicalen Candidaten; darüber
ergrimmten die Weißen, um so mehr, da sie sich überzeugt
hielten, daß in den oberen Connties, wo die Zahl der Wei-
ßen jener der Schwarzen die Wage hält, beim Auszäh-
leu der Stimmen die schamloseste Betrügerei und
Fälschung stattgefunden hatte. Und zu dieser An-
nähme hatten sie nur allzu gute Gründe."
„Im Winter vorher hatte die (Carpetbagger-Neger-)
Legislatur ein neues Wahlgesetz gegeben, das, ohne alle
Übertreibung gesagt, schauderhaft und geradezu empörend
ist. Es ist nicht möglich, eine Maßregel auszudeu-
keu, welche raffinirter ausgesonnen werden könnte
lediglich zu dem Zwecke, Betrug im Interesse der
herrschenden Partei auszuüben; eine andere Absicht
hat wohl auch dabei nicht obgewaltet. Der Gouverneur (ein
Carpetbagger ans dem Norden) ernennt drei Wahlcommissäre
für jedes Couuty, diese ernennen drei Aufseher oder Vor-
sicher (Managers) für jede Stimmbude (Poll), natürlich alle
aus ihrer eigenen (radicalen) Partei. Unmittelbar nach dem
Schlüsse der Abstimmung wird das Votum nicht etwa aus-
gezählt, sondern einer der Managers nimmt den
Stimmkasten nebst Inhalt mit in seine Wohnung,
wo er denselben drei Tage lang bei sich behalten
darf; er kann also ganz ungestört so viele falsche Stimm-
zettel hineinpraktisiren, wie ihm beliebt. Am vierten Tage
werden dann die Stimmkasten nach dem Hauptorte des Coun-
tys zu den drei Wahlcommissären gebracht und bleiben bei
diesen fünf Tage lang im Hause. Am sechsten Tage wer-
den sie privatim, insgeheim, geöffnet, denn außer den drei
Commissären und deren Schreiber ist Niemand dabei zugegen.
Sie zählen nun die Stimmen aus und geben ihren Bericht
an das Wahlbureau des Staates ab. Kein Wnnder, daß
die weißen Reformer über Fälschungen klagten."
„Das Alles ist schlimm, sehr schlimm, noch ärger aber
war die Errichtung einer Negermiliz in allen Counties
des Staates. Der Gouverneur gab den Schwarzen
Waffen und Schießbedarf, aber den Weißen ver-
sagte und untersagte er die Bildung von Miliz-
compagnien! Die schwarzen Compagnien dienen als
mächtiger Hebel, um Wahlen für die Partei durchzu-
setzen; militärisch betrachtet sind sie untauglich und unnütz.
Man begreift, daß es die entrechteten Weißen verdrießt, wenn
sie es mit ansehen müssen, wie diese Neger mit den Waffen
in der Hand in Parade an die Stimmbuden marschiren und
ihre Zettel abgeben. Diese Bewaffnung der Neger war,
wie sich voraussehen ließ, geradezu unheilvoll; sie trägt die
Schuld für die vielen Unruhen und Mordthateu in den oberen
Counties. Dabei litten die Neger schrecklich; sie wurden
dutzendweis ausgepeitscht, gemartert und hiugemordet; seit
der letzten Wahl sollen mehr als einhundert auf solche Weise
ums Leben gekommen sein. Die Weißen, deren Versöhnungs-
eintrage zurückgewiesen worden waren, erklärten seit jenen
Wahlfälschungen, daß sie sich nun auch mit Gewalt ihrer
t in Südmrolina.
Haut wehren wollten. In allen Counties, in welchen die
Neger an Zahl nicht stark überwiegen, bildeten sich Kuklux-
vereine, welche es besonders auf solche Weiße abgesehen
haben, die von den Radicalen sich in Aemter haben bringen
lassen. (— Der Correspondent der „Tribüne" meint die
„nördlichen Heuschrecken und Haifische" und die Scallawags,
welche man nun, da sie so viel Uuheil bringen, „ausräu-
cheru" will, weil man sich ihrer auf andere Weise nicht ent-
ledigen kann. —) Wenn sie ihre Aemter nicht niederlegen,
dann wird ihnen angekündigt, daß man sie todtschlagen werde.
Die Neger werden so lange gepeitscht, bis sie versprechen,
künftig nicht mehr für die Radicalen zu stimmen."
„Race und Partei fallen in Südcarolina zusammen;
die eine Partei wird von Weißen, die andere von Schwarzen
gebildet; mit diesen letztern gehen nur sehr wenige weiße Leute
(Carpetbaggers). Kaum einDutzend eingeborene weiße
Lente gehören der republikanischen (radicalen) Par-
tei an, und diese auch nur, weil sie nach einem Amte gier-
ten (greed for office). Die Personen, welche aus dem
Norden hierher kamen, sind, mit Ausnahme von nur ein
paar ehreuwerthen Ausnahmen, Abenteurer und Vaga-
bnnden, die keine Scrnpel kennen."
„In Folge der Betrügereien beim Stimmenauszählen kam
dann eine Legislatur zusammen, die noch viel corrupter
ist als ihre Vorgängerin. Hervorragende Männer der repu-
blikauischen Partei versichern mich, daß sie notorisch nieder-
trächtig ist und gewissenlos vergeudet. Von den nun 124
Mitgliedern des Repräsentantenhauses sind 80, von den 31
Senatoren sind 11 Neger, von denen die meisten nicht lesen
und schreiben können. Keiner weiß etwas von Parlament«-
vischen Gebräuchen und Formen. Vielleicht hätten sie trotz-
dem nicht allzuviel Unheil angerichtet, wenn nicht manche
weiße Mitglieder allerlei Jntrigueu augezettelt und die Ne-
ger in dieselben verwickelt hätten. Sie sagten den Schwar-
zen, welche Bedenken trugen, Gaunerei und Betrug zu be-
fördern: „Es ist ja bei den Mitgliedern aller Legis-
latnren Brauch, nebenbei Geld zu machen." Dann
begann im März die Erhebung der Steuern, welche durch
jene Legislatur exorbitant in die Höhe geschraubt worden
sind. Die Besitzenden sagen: „Wir werden beraubt und
ausgeplündert, um die Extravaganz dieser Nigger-Legislatur
zu unterstützen *)."
„Die Dinge liegen fast so arg, wie inmitten eines Bürger-
krieges. Zum Kukluxvereiu gehört als thätiges oder als
sympathisirendes Mitglied fast jeder weiße Mensch im Staate.
Ein allgemeiner Ansbrnch wird jetzt nur zurückgehalten durch
eine Furcht vor dem Einschreiten des Linienmilitärs. Aber
das Todtschlagen von Carpetbaggers, welche nach erhaltener
Aufforderung ihre Aemter nicht niederlegen und fortziehen,
dauert fort, ebenso das Auspeitschen der Neger." —
Es liegt kein Grund vor, die Richtigkeit dieser Angaben
zu bezweifeln; sie kommen, wie gesagt, aus einer radicalen
Quelle und stehen in einem erzradicalen Blatte. Man sieht,
wohin der Süden dnrch das System der radical-republikani-
schen Partei gedrängt worden ist; diese Partei ist herrsch-
süchtig, ämtergierig, corrnpt und unversöhnlich, und in dem
„edlen Helden Ulysses Grant" hat sie ein Werkzeug, wie sie
es habeu will. Ueber einige charakteristische Merkmale des
Racenkampses und über den Kukluxvereiu, diesen Ueberall
und Nirgends, sollen gelegentlich einige Mittheilungen folgen.
*) Wir haben in Nr. 10 des „Globus", S. 192, gemeldet, daß
diese schwarzen und Carpetbagger-Gesetzgeber sich als Taggelder für die
diesjährige Legislatuisitzuug die Kleinigkeit von 260,000 Dollars zu-
billigten. Sic, die alle zusammen nicht 1000 Dollars Steuer zah-
len, haben binnen zwei Monaten die zinstragende Schuld Südcaro-
linas um mehr als 2,000,000 Dollars erhöht!
Emil Schlagintweit: Die deutsche Herrenhuter-Mission in Tibet.
331
Die deutsche Herrenhuter-Mission in Tibet.
Von Emil Schlagintweit.
Seit fast 20 Jahren bringen die „Annales de la Pro-
pagation de la foi" Berichte über das Vordringen franzö-
sischer katholischer Missionäre in Tibet, über die großen
Gefahren, denen sie dort ausgesetzt sind, und über die Er-
folge ihrer Bemühungen. Ein eigener apostolischer Vicar
wurde vom Papste ernannt, um die neue Bischofsprovinz in-
zwischen zu verwalten; Nachschübe von Missionären fanden
statt; zuletzt aber wurde die Mission wieder aus ihrer schwer
errungenen Position in Bonga, 28°30' nördl. Br., 96°20'
östl. L. v. Gr., vertrieben. Die Bestrebungen der franzö-
fischen Missionäre, die ungeachtet aller Schwierigkeiten immer
wieder von Neuem ans Werk gingen, verdienen alle An-
erkennnng; es darf aber doch nicht verschwiegen werden, daß
in ihren Berichten derselbe Mangel hervortritt an Genauig-
keit in geographischen Verhältnissen und in geschichtlichen
Daten, derselbe Hang zu religiösen Phantastereien, der den
Werth der Berichte von Huc und Gäbet über ihre noch im-
mer nicht wiederholte Reise durch China nach Tibet in so
hohem Grade abschwächt.
In derselben Zeit, welche diese französischen Berichte um-
fassen, vollzog sich still und bisher in weiteren Kreisen noch
unbemerkt die Begründung einer deutschen Herrenhuter-
Mission in Britisch Tibet; mit deutschem Fleiß und dent-
scher Gründlichkeit wurde durch wenige Brüder ungleich mehr
geleistet, als von den katholischen französischen Missionären.
Immer wurde sich nur auf das Erreichbare beschränkt, der
Bau wurde von Grund aus ausgeführt; bei der Uebersetzung
christlicher Lesebücher und Bibeltheile ins Tibetische wurde mit
einer Gewissenhaftigkeit in dem Aufsuchen der richtigen Worte
vorgegangen, wie sie den katholischen Missionären nicht nach-
gerühmt werden kann; Schulen wurden gegründet und dabei
den Anschauungen und den Bedürfnissen der Bevölkerung
wieder so vollkommen Rechnung getragen, daß die englisch-
indische Regierung die Schulen der Herrenhuter mit Geld
und mit ihrer Regierungsgewalt in jeder Weise unterstützt.
Ueber die Entstehung und die Geschichte dieser Mission
theilte mir Missionär Herr H. A. Jäschke Folgendes mit *).
Die Herrenhuter Gemeinde hatte wiederholte Versuche
gemacht, in Asien Missionsstationen zu errichten; die im
vorigen Jahrhundert in Tranquebar, auf den Nicobaren und
in Persien gegründeten Missionen zerfielen wieder, eben so
die im neunzehnten Jahrhundert unter den Kalmücken auf-
gerichtete Station. Gützlaff, der 1848 Europa wieder be-
suchte, gab den Anstoß, diese Bestrebungen unter den Mon-
golen wieder aufzunehmen, unter denen damals keine der
verschiedenen Missionsgesellschaften wirkte. Gützlaff hielt
es selbst für ausführbar, durch China zu ihnen vorzndrin-
gen; die Direction der Herrenhuter überzeugte sich jedoch bald,
daß dieser Weg nicht offen war; der Vorschlag, die Reise
durch die Kirgisensteppe zu gestatten, erwies sich ebenfalls nn-
ausführbar, weil die russischen Behörden Anstand nahmen, den
Durchgang zu erlauben. Da wies Rev. Dr.Prochnow von
') Nichts kann die Ruhmredigkeit in den Briefen der französi-
schen Missionäre deutlicher zeigen, als die schlichte Handlungsweise
der deutschen Herrenhuter, die nicht als großen Erfolg verkünden,
was erst geschehen soll, die aber in stillem Wirken den christlichen
Ideen einen ungleich nachhaltigem Eingang verschafft haben, und die in
wissenschaftlichem Forschen in jeder Richtung eifrig bemüht sind,
unsere Keuntniß dieses merkwürdige» Landes zu vermehren.
Kotgarh (Kotguru) im britischen Districte Simla (31019'
nördl Br., 77°28' östl. L. v. Gr., 7678 Fuß hoch), gele-
geutlich seines Besuches in Deutschland, auf die Möglichkeit
hin, von Indien aus über Tibet nördlich nach der Mongolei
vorzudringen, und erbot sich in liebenswürdigster Weise, die
Missionäre bei sich aufzunehmen. Dieses Anerbieten wurde
gern angenommen, da auf diesem Wege noch die meiste Aus-
sicht zur Verwirklichung des Planes gegeben schien. Als
Sendboten für dieses entfernte Missionsgebiet wurden die
HerrenPagell uudHeyde bestimmt. Sie nahmen zunächst
praktischen Unterricht in der mongolischen Sprache bei dem
Missionär Heinrich Zwick, der sich nach dreißigjähriger
Missionsthätigkeit unter den Kalmücken der Wolgasteppe
nach Königsfeld im Großherzogthum Baden zurückgezogen
hatte. Diesen Hebungen folgte ein Lehrcnrs in der Wund-
arznei in der Charit^ in Berlin, und im August 1853
konnten Pagell und Heyde nach Indien aufbrechen. Das
Jahr 1854 wurde in Kotgarh zugebracht, den Sommer 1855
füllte eine Reise nach Ladak und durch die englischen Pro-
vinzen Lahol, Spiti und Kauaur aus; Zweck der Reise war,
den ttebertritt in das chinesische Tibet gewährt zu erhalten,
die chinesischen Behörden setzten jedoch diesem Vorhaben den-
selben hartnäckigen Widerstand entgegen, der meine Brüder
in demselben Jahre nöthigte, sowohl bei Gartok, jenseits des
Indus, als in Sikkim wieder umzukehren, da die chinesischen
starken Grenzwachen den bestimmtesten Befehl hatten, sich
ihrem Vordringen zu widersetzen. Die Missionäre sahen
sich jetzt darauf angewiesen, möglichst nahe der chinesischen
Grenze eine Localität ansznmitteln, welche ihren Bestrebungen
ein geeignetes Feld bot nnd ihnen zugleich erlaubte, nach Nor-
den aufzubrechen, sobald die Gelegenheit hierzu günstig würde.
Ladak, das feit 1834 zu einer Provinz von Kaschmir wurde,
konnte nicht in Betracht kommen, weil der Radscha von Kasch-
mir damals Europäern den dauernden Wohnsitz in seinem
Gebiete uoch nicht gestattete; es mußte sich deswegen auf die
englisch-tibetischen Provinzen beschränkt werden. Unter die-
fen wurde schließlich Lahol der Vorzug vor Spiti und Ka-
nanr gegeben; in Kyelang, hart bei Kardong (32° 32' nördl.
Br., 77°6' östl. L. v. Gr., 10,242 engl. Fuß hoch), dem
Hauptorte vou Lahol, wurde 1855 der nöthige Grund und
Boden angekauft und ein Missionshaus erbaut; die englische
Regierung unterstützte das junge, bisher noch nie versuchte
Unternehmen in jeder Weise. Der Winter 1855 bis 1856
wurde in Kotgarh unter Leitung eines Lama zu Uebuugen
in dem Dialekte des westlichen Tibet benutzt, im Frühjahr
1856 konnte die Missionsstation bezogen werden.
Die Wahl des Platzes muß als eine sehr umsichtige bezeich-
net werden. Kyelang, am Ufer des Bhayaflusses, liegt im
dichtest bevölkerten Theile von Lahol, und was vor Allem her-
vorgehoben werden muß, an der wichtigsten nnd am meisten
begangenen Handelsstraße nach Centraltibet und Tnrkistan.
Diese Route beginnt bei Mandi nnd geht über Sultanpur
und Kardong uach Dartsche, circa 23 englische Meilen nord-
östlich davon. In Dartsche spaltet sie sich: die eine Route
zieht westlich über Padum nach Unter-Ladak und die westlich
davon liegenden Reiche von Balti, wo sich bei Skardo ein
nur für Lastträger, nicht anch für Pferde, pafstrbarer Weg
nach Yarkand bietet; die andere und wichtigste Straße, die
jährlich an Frequenz zunimmt, nnd durch Anlegnng von
42*
332 Emil Schlagintweit: Die deu
Brücken, Einebnung und Sicherung der gefährlichsten Strecken
in dem letzten Jahrzehnt bedeutend verbessert wurde, über-
schreitet hinter Dartsche den Bara latscha-Paß (16,186 Fuß),
eines der drei Thore, die Tibet nach dortiger Anschauung
vom Süden abschließen, und nimmt die Richtung über Nuk-
tschin (15,764 Fuß), Upschi (11,249 Fuß) nach Le (11,527
Fuß), der Hauptstadt von Ladak, und Stapelplatz für die
Karawanen über den Karakorum nach Turkistan. In Ruk-
tschin zweigt sich auch eine jedoch beschwerliche und wenig
benutzte Straße nach Chassa im chinesischen Tibet ab; die Haupt-
route dahin würde sich der Handel, wenn er einmal von den
Plackereien der chinesischen Behörden befreit sein wird, östlich
von Lahol durch Kanaur, Kamaon und Nepal wählen. In
Kyelang befinden sich die deutschen Missionäre sohin im
Knotenpunkte des jährlich an Ausdehnung gewinnenden Ver-
kehrs mit West-Chiua; sie mußten dadurch von Anfang an
in eine viel größere Berührung mit den Eingeborenen
kommen, als die Franzosen, die sich in Bonga ein kleines
Querthal abseits des großen Verkehrs aussuchten, von wo
aus sie hofften, einmal nach jahrelangem Wirken, gestützt
auf die europäischen Tractate mit China und auf die An-
hänglichkeit der bekehrten Thalbewohner, mit entschiedenen
Forderungen nach den Hauptsitzen des Buddhismus aufbre-
chen zu können. Dieser Unterschied in der Lage bedingte
auch eine ganz andere Missionsthätigkeit; in Bonga sollte
vor Allem das Predigen des Wortes Gottes znr Annahme
des Christenthums führen, Massenbekehrung wurde erwartet;
die Deutschen in Kyelang waren dagegen weniger anfprnchs-
voll und beharrlicher in Lösung ihrer Aufgabe. Dem buddhi-
stischen Gottesdienste ist die Predigt etwas Fremdes uud
Profanes; die Werke und die Früchte, die man aus Ent-
sagungen und moralisch guten Handlungen erntet, bestimmen
das Loos des Menschen jetzt und in den noch kommenden
Geburten. Dieser Grundanschauung der Lehre entspricht
auch der äußere Gottesdienst; das Lesen und Recitiren heili-
ger Schriften, das Umwandeln von Schreinen mit Reliquien
oder Abbildern der Gottheiten :c. bildet das Verdienstvollste,
und mit Opferdarbringuugen den Hauptinhalt des Gottes-
dienstes. Die deutschen Missionäre suchten deshalb vor Al-
dem christliche Werke ins Tibetische zu übertragen und unter
das Volk zu bringen. Die Schwierigkeiten, die dabei zu
überwinden waren, sind ganz außerordentliche. Die Dialekte,
in die sich das Tibetische wie jede Sprachgruppe spaltet, boten
ungeachtet der großen Verschiedenheiten in der Volkssprache
doch weniger Bedenken, weil die Schriftsprache durch das An-
sehen, in welchem die seit dem siebenten Jahrhundert nach
Christus gefertigten Übersetzungen der heiligen Bücher aus
dem Judischen oder Chinesischen und' die Commentare hierzu
stehen, den Gebildeten noch jetzt überall verständlich ist, auch
in Ost-Tibet im Großen und Ganzen noch die Umgangs-
spräche bildet und sohin ein sehr gutes Medium für allseiti-
ges Verständniß bietet. Das Schwierige lag dagegen darin,
im Tibetischen die Bedeutung des Ausdruckes äquivalenter
Worte zu finden für die biblische und christliche Terminolo-
gie. So hielt es äußerst schwer, die Begriffe wiederzugeben
von Gott, Wort des Lebens (1. Joh. 1, 1), Treue, Liebe,
lieben, Kreuzigung u. f. w.; auch hat es sich unausführbar
bewiesen, stets die griechischen Übersetzungen der hebräischen
Eigennamen einzuführen; es empfahl sich um so mehr, hier-
in mitunter auf die ursprüngliche hebräische Form zurückzu-
greifen, als sie sich besser an den tibetischen Lautcharakter
anschließt. Christus wird als Messias aufgeführt; weil aber
maschiach tibetisch nicht sich ausdrücke» läßt, so wurde es
umgestellt zu mashika. Die Missionäre sind hierin mit
mnstergiltiger Genauigkeit und Vorsicht zu Werk gegangen,
und haben hierdurch den Fehler vermieden, der bei so vielen
che Herrenhuter-Mission in Tibet.
Bibelübersetzungen in orientalische Sprachen begangen wurde.
Ein besonderes Verdienst in dieser Arbeit gebührt Herrn
H. A. Jäschke, der im Frühjahre 1857 als drittes Missions-
glied in Kyelang eintraf.
Das Jahr 1858 ging mit Ueberfetznngsverfuchen und
Sprachübnngen hin; Dr. Barth's Biblische Erzählungen
aus dem Alten Testament wurden ins Tibetische übertragen.
Im Winter 1858/1859 erstand Missionär Heyde in Simla
eine lithographische Presse; Barth's Bibelerzählungen, Bü-
cher für den ersten Elementarunterricht wurden lithographirt
und gleichzeitig die Schule eröffnet. Die häuslichen Ver-
Hältnisse der Missionäre gestalteten sich in dieser Zeit eben-
falls besser durch ihre Verheirathung mit drei aus Deutschland
ihnen uachgesaudten Gefährtinnen, die Anfangs November
Kyelang erreichten.
Die Bewohner von Lahol, auf die zunächst einzuwirken
war, sind ihrer Abstammung nach nicht mehr Hindus, son-
dern Tibeter, wenn sie auch den Typus der mongolischen
Race, der die Tibeter angehören, nicht immer so ausgeprägt
zeigen, als er weiter nördlich austritt; sie müssen als Ein-
Wanderer von Norden her betrachtet werden, die frühere An-
siedler verdrängten; diese Vorgänger können keine Hindus
gewesen sein, denn im Mittlern Theile haben sich noch zwei
Dialekte erhalten, von denen das Tibarskad der ansgedehn-
teste ist, die nach Jäschke weder mit der indischen Sprachen-
gruppe, noch mit dem Tibetischen Verwandtschaft zeigen. Ihre
gegenwärtige Bildung uud Empfänglichkeit für Neues ist
durch die Buddhareligion und die hierdurch hervorgerufenen
Einrichtungen bestimmt. Ihre Bestrebungen und ihre Wün-
sche concentriren sich auf eine glückliche Wiedergeburt, die fo
lauge eintritt, bis die Summe der verdienstvollen Thaten
so groß geworden ist, daß sie der Wiedergeburt überhoben
werden und bis die Existenz, der sie in Formen von Unge-
heuern und Thieren bis hinauf zu Wesen mit göttlichen Eigen-
schaften und Functionen unterworfen sein können, für immer
erloschen ist. Der Priester, der Lama, ist der Meister, der es
versteht, die schlechten Wege zu vermeiden, der die Mittel
angiebt, begangene Fehler zu sühnen und Schaden bringende
Dämonen feru zu halten. Die Lamas sind zahlreich und
klösterlichen Vorschriften unterworfen; die Klöster sind mit
Einkünften und Grundbesitz in Ueberfluß ausgestattet, von
Oberen regiert und sind eine der wichtigsten Ursachen, welche
die Entwicklung des Landes verzögern; es giebt auch Nou-
nenklöster, die ebenfalls in hohem Ansehen stehen. Die La-
mas können zwar lesen und schreiben, sie sind aber darin
doch völlig ungebildet, daß die Mehrzahl nicht versteht, was
sie liest oder schreibt; das mechanische Lesen nnd Copiren hei-
liger Bücher gilt an sich schon als großes Verdienst, Laien
lassen die heiligen Schriften gegen Bezahlung lesen, um sich
des Gewinnes, der aus solcher Lectüre entspringt, theilhastig
zu machen. Gebetemurmeln muß jedes Tagewerk und jedes
wichtige Ereigniß begleiten; eine wahre Andacht ist jedoch
dabei nicht zu bemerken, das Beten geschieht gedankenlos und
in den unteren Volksschichten mehr zur Abwehr böser Geister,
als zur Sicherung des Beistandes der buddhistischen göttlichen
Intelligenzen. Die ausgezeichneten moralischen Grundlagen
ihrer Religion und die philosophisch richtige Durchführung
vieler Grundprincipien sind zwar kaum Einigen unter den
Lamas zum Bewußtsein gekommen; aber davon, daß die
Buddhalehre vorzüglicher sei, als jede andere Religion, ist
doch Jeder überzeugt.
Von den Hindus, mit denen die Laholis dnrch Handels-
beziehnngen in stetem Verkehre stehen, wurden Speisevorschriften
und Kastenvorurtheile angenommen, so sehr sie auch der bud-
dhistischen Lehre fremd sind. Das Hans gilt für entweiht,
welches ein Europäer betritt, und das Essen für unrein, wel-
Emil Schlagintweit: Die btud
ches von ihm berührt wird; die Laholis gehen darin sogar
noch weiter als die Hindus, deren untere Elasten solche Be-
rührung uicht mehr sern halten. Die Hauptnahrung ist
ein Brei aus geröstetem Mehl mit Wasser oder Milch oder
vermischt mit einer Art Bier aus gegohrenem Gerstensäfte;
Thee in die Breimasse eingerührt, selten als Absud genom-
men; Fleisch wird zwar ohne Scheu gegesseu, aber man
will es doch nicht wissen lassen, daß man das Thier selbst
getödtet hat. Brot in uuserm Sinne ist unbekannt; dicke
Mehlkuchen, mit Buttermilch als Gähruugsmittel gebacken,
sind gegen Ladak zu bekannt, das Festbackwerk ist in Schmalz
oder Oel gebacken. Die Cerealien müssen zum Theil im
Süden gekauft werden; Vieh, Salz uud Verdienst aus dem
Lasttragen gewähren die Mittel dazu. Die Reiche» lieben
es, den rauhen Winter, der Monate lang die Thäler mit
3 bis 4 Fuß hohem Schnee bedeckt, in den Himalayaland-
schasten zuzubringen.
Bei einer so großen Hinneigung zu Autoritätsglauben
und bei einer so geringen Gewohnheit zu selbständigem, vor-
urtheilssreiem Handeln darf es nicht überraschen, daß das
Missionswerk selbst nach Jahren noch keine nennenswerthe
Fortschritte gemacht hat. Unsere Missionäre räumen dies auch
ohne Rückhalt ein.' Die ersten Christen wurden der Drucker
an der lithographischen Anstalt und sein ältester Sohn, sohin
eine Familie, die ihre Existenz im Missionshause gegründet
hatte und hier gesichert wußte; bis Mitte 1870 folgten nur
wenige diesem Beispiele, alles Leute im Dienste der Missio-
näre, und sämmtlich nicht Laholer, sondern Ladaker, die sich
ans dem Grundbesitze der Mission niederließen. Dagegen
ist viel geschehen, um die christlichen Grundlehren unter das
Volk zu bringen. Die sonntägige Predigt in dem dort ge-
sprochenen vulgären Dialekte, worin es Missionär Pagell zu
einer großen Fertigkeit gebracht hat, sowie die Gottesdienste
an einigen Abenden der Woche wurden zwar anfangs auch
von Leuten aus dem Dorfe, bei manchen Gelegenheiten fogar
recht zahlreich besucht; doch hat dieser Kirchenbesuch spä-
ter sehr abgenommen, und zahlreiche Beispiele ließen er-
kennen, daß auf die Milde der buddhistischen Religion nicht
zu rechnen war, daß die Anhänger der fremden Priester so-
gar Bedrückungen ausgesetzt wurden, die einem ansässigen
Laholer das Leben sast bis zur Uuerträglichkeit verleiden und
erschweren, ohue daß die Thäter zur Zeit von den englischen
Gesetzen erreicht werden können.
Neben der mündlichen Verkündigung von Gottes Wort
wurden Verkeilungen von biblischen Übersetzungen und kur-
zen Tractateu versucht; die Missionäre benutzten hierzu Ex-
cursionen bald in die nächste Umgebung, bald in größere
Entfernung, und hatten die Genngthnuug, bei späterer An-
Wesenheit zu bemerken, daß die zurückgelassenen Bücher, die
natürlich anch in Format und Papier den einheimischen Bü-
chern angepaßt sind, eifrig gelesen waren und zum Nachden-
ken augeregt hatten. Den Lamas blieb dies jedoch uicht
verborgen; ein Lama in einem Nachbardorfe, der durch viel-
fache Dienstleistungen mit den Missionären bekannt gewor-
den war, auch die christlichen Schriften mit Aufmerksamkeit
gelesen hatte und Zweifel aussprach, ob nicht doch diese mehr
Wahrheit enthalten möchten als die ihrigen, starb unter so
verdächtigen Umständen, daß kein Zweifel an der absichtlichen
Herbeiführung desselben durch den Neligionshaß der anderen
Lamas verbleibt. Herr Jäschke knüpft hieran folgende Be-
merkungen: „Das gemeine Volk ist an die geistige und leib-
liche Knechtung nnter Lamas und weltlichen Gewalthabern
so gewöhnt, und selbständiges Denken ihnen so fremd, daß
ich es überhaupt nicht für wahrscheinlich halte, daß unter
der jetzt lebenden Generation etwas Mehreres als einige
wenige Einzelbekehrungen stattfinden möchten. Hat ja doch
He Herrenhuter-Mission in Tibet. 333
auch unter den Bekeuuern der brahmanischen Religion die
Verbreitung des Christenthnms lange Jahre hindurch ver-
hältnißmäßig geringe Fortschritte gemacht, während unter
den ganz nncivilisirten Kols in Tschota Nagpur und bei ühn-
lichen Resten der ursprünglichen Bevölkerung schon nach kurzer
Wirksamkeit der Missionäre Tauseude sich ihnen anschlössen
und um die Taufe baten. Bemerken auch unsere Missio-
näre auf Reifen nicht selten deutliche Spuren, daß früher
ansgetheilte Bücher keineswegs ohne Wirkung auf die Ge-
müther bleibeu, so sind solche Reisen doch nur möglich in
den beiden ganz britischen Provinzen Lahol und Spiti, dann
unter den großentheils etwas intelligenteren Bewohnern des
kaschmirischen Ladak, zu welchem auch Saugkar (Zangkar der
Karten) und Putig gehört, während nach dem unter chine-
sischer Botmäßigkeit stehenden eigentlichen Tibet nur ganz
kurze Ausflüge in die der Grenze zunächst liegenden Dörfer
gemacht werden können.
„Sehr wichtig ist wohl aber auch die Wirkung auf die
heranwachsende Generation durch Schulunterricht, die
in neuester Zeit einen recht erfreulichen Aufschwung genom-
men hat, vorzüglich in Folge der eifrigen und energischen
Thätigkeit des Herrn Forsyth, Obercommissär der Trans-
Satledsch-Staaten und gegenwärtig englischen Residenten in
Uarkand. Dieser (— jetzt gestorben —) bemühte sich, den
durch die Satrapenwirthschast unter der kaschmirer Regierung
fast auf Null reducirteu Handel zwischen Indien und Central-
asien wieder zu heben, dabei aber auch jedes audere Hiuderuiß
des Aufblühens des Wohlstandes der Bevölkerungen in den
britischen Himalayaprovinzeu, auf welches er bei seiner Ver-
waltung aufmerksam wurde, aus dem Wege zu räumen. So
errichtete er eine Centralschnle für die beiden britifch-tibeti-
fchen Provinzen Spiti und Lahol in Kyelang, versah sie
mit allem Röthigen nnd stellte sie unter Aufsicht der Mis-
siouäre, wobei er die Anordnung machte, daß aus jedem Di-
stricte der beiden Provinzen beständig zwei Knaben, im Gan-
zen gegen zwanzig, sich dort fo lange aufhalten müssen, bis
sie eine hinlängliche Kenntniß der hindnstanischen Sprache
erlangt haben. Ferner ist in jüngster Zeit auch die Ein-
richtuug einer Anzahl von Außenschulen in verschiedenen
Dörfern des Landes, ähnlich wie die in den Jahren 1863
und 1864 versuchten, nachmals aber wegen der Unwilligkeit
der Kinder wie der Eltern wieder eingegangenen, möglich
geworden, und zwar nnter günstigeren Bedingungen, indem
jetzt statt tibetischer Lamas einige von den inzwischen erwach-
senen, früher in Kyelang unterrichteten Knaben als Lehrer
angestellt werden konnten; auch hat sich durch alles dies die
englische Obrigkeit endlich bewogen gefunden, die Einwen-
düngen der tibetischen Bauern gegen jeden Schulbesuch ihrer
Kinder zu einer andern Zeit als während der drei Winter-
monate nichts mehr gelten zu lassen, sondern sie zu uöthigen,
dieselben das ganze Jahr hindurch in diese Dorfschulen zu
senden.
„Auch Herr Pagell, der seit 1865 in PusPui beiCun-
ningham, 31° 45' nördl. Br., 78° 40' östl. L. v. Gr.) in
Ober-Kanaor allein steht, ist unter der dortigen tibetischen
Bevölkerung in allen diesen Zweigen geschäftig, nachdem
er den anfangs äußerst starken Widerwillen der Bewohner ge-
gen die Ansiedelung eines Europäers unter ihnen überwun-
den und ihr Zutrauen und freundliches Entgegenkommen er-
langt hat."
Durch die Frauen der Missionäre sind überall Strick-
schulen für die Mädchen eingerichtet. Die Bearbeitung eines
größern Lesebuches ist eben jetzt in Angriff genommen, eine
Arbeit, die deswegen so schwierig ist, weil es fast nichts Vor-
handenes giebt, was man brauchen könnte, und weil der
Jdeenkreis der Tibeter so völlig verschieden ist von jenem
334 Die Befestigung Londons und
der Nachbarländer; die für Jndier geschriebenen Bücher kön-
neu doch immer einige Bekanntschaft mit europäischem Leben
und Treiben voraussetzen, diese Kenntniß fehlt aber bei den
Tibetern noch gänzlich oder ist erst im Entstehen begriffen.
Für unsere Kenntniß des Landes und seiner Religion
und Sprache sind folgende Arbeiten von H. A. Jäschke wich-
tig, der uach zwölfjähriger Missionsarbeit 1869 nachGnadau
in Deutschland zurückgekehrt ist. Die Abhandlung „über
das tibetanische Lautsystem" erschien 1860 in den Monats-
heften der Berliner Akademie; ebendort 1867 eine ausführ-
liche Darstellung der Phonetik. Im Jahre 1865 wurde in
Kyelang eine autographirte, äußerst praktische Grammatik,
1866 ein Wörterbuch, beide englisch geschrieben und das
Lexicon nach der phonetischen Aussprache und in der Reihen-
folge des europäischen Alphabets geordnet, herausgegebeu,
ein sehr schwieriges Unternehmen, das aber für die englischen
Behörden wie für die tibetischen Studien außerordentlich wich-
tig ist. Im Jahr 1869 erschien eine Sprachprobe aus
Milaraspa's Legendenbuche mit einer sehr lehrreichen Wort-
analyse, 1870 Bemerkungen zu den tibetischen Namen in
Huc und Gäbet. Die wichtigste Arbeit ist unter der Presse;
es ist dies ein ausführliches tibetisch-deutsches Wörterbuch, das
nicht bloß den Wortschatz der früheren Lexica aufgenommen hat
und berichtigt, sondern aus einer Reihe bisher noch gänzlich
unbekannter Werke neues Material gewinnt und dabei die
in Europa erschienene» Arbeiten ausbeutet. Das Buch ist
mit reicheu Citaten belegt und zeigt von außerordentlichem
Fleiße und Sprachkenntniß; die mir vorliegenden Aushänge-
bogen, 64 Seiten, reichen bis zum dritten Buchstaben des
tibetischen Alphabets.
Wenige Missionen haben unsere Kenntniß der Zustände
im Missionsgebiete und in seiner Umgebung in gleichem
englische Kriegsbeklemmungen.
Maße gefördert, und für .wenige ist eine so gute Zukunft zu
erwarten, wie für die Mission der deutschen Herrenhnter in
Tibet. Konnte auch der ursprüngliche Plan nicht ausgeführt
werden, und wird die Mongolei von Indien aus auch in
Jahrzehnten noch nicht zu erreichen sein, so haben unsere
Landsleute doch als die Ersten eine feste christliche Mission
in diesen Gegenden begründet und die Schulbildung durch
ihre Lehrbücher möglich gemacht. Der ersten Niederlassung
in Kyelang ist eine zweite in Pu gefolgt, die englischen Be-
Hörden gewähren ihre Unterstützung und ihren Schutz. An
Stelle von Jäschke ist Herr Rechter (früher bei den Kasirs
thätig) getreten, so daß der Mission ursprünglich zwei, jetzt
drei in ihrem Berufe geübte Männer vorstehen; eine neue
tibetische Literatur ist durch die Anstrengungen dieser vier
Missionäre begonnen und wird täglich erweitert, der sernern
Erforschung der schwierigen und noch so wenig ausgebeuteten
tibetischen Übersetzungen der großen Zahl von buddhistischen
heiligen Schriften sind Hülfsmittel geboten, wie sie ohne die
Anstrengungen Deutscher von Engländern ungeachtet ihres
langjährigen Einflusses in tibetischen Gegenden noch nicht
zu Stande kamen. Deutscher Geist und deutscher Fleiß haben
wieder zu einem Erfolge geführt, auf de» wir stolz sein dür-
fen, nicht wegen der Zahl der nenen Christen — diese ist sogar
gering —, sondern wegen der Durchführung so mancher Arbeit
in der Schule und im Missionshause, die ohne Zweifel den
Grund gelegt hat zu einem Fortschritte in Gesittung und
Kenntnissen, der schon in seinen Anfängen größer ist, als
der Erfolg der anderen, mit so viel Selbstüberhebung ange-
kündigten Unternehmungen der Italiener im vorigen Jahr-
hundert und der Franzosen in der zweiten Hälfte des gegen-
wärtigen Jahrhunderts.
Die Befestigung Londons und
Unter dem gewaltigen Eindrucke der deutschen Siege er-
innern die Engländer sich plötzlich, daß vor Jahrhunderten
eimnal hanseatische Orlogschiffe die Themse hinausfuh-
reu und London brandschatzten; auch die Einfälle der Dänen
und Norweger in ihr Land steigen vor den erschreckten Ge-
müthern wieder auf, und dieselben Leute, die uoch vor weni-
gen Jahren über eine deutsche Kriegsflotte spotteten, sehen
dieselbe jetzt schon in der Zukunft London bombardiren —
dem muß also vorgebeugt werden. Verschiedene Generäle
haben sich daher, gestützt auf die bei der Pariser Belagerung
gemachten Erfahrungen, mit dem Plane einer Befestigung
Londons, der Stadt von drei Millionen Seelen, beschäftigt.
Der eine schlug Außenforts, ein gewisser Eddy gar einen
58 englische Meilen langen Riesengraben vor. Der letztere
Vorschlag hat am meisten Aufsehen in England gemacht, und
ihn wollen wir daher auch hier besprechen.
„Seit der Anwendung des Dampfes in der Schisffahrt,"
so beginnt Eddy, „können wir nicht länger darauf rechnen,
der Landung einer feindlichen Macht in unserm Lande zu-
vorzukommen." Eine nebelige Nacht genüge, um aus einer
Panzerflotte eine ganze Armee an die englische Küste zu
werfen, und wenn diese in das unbewaffnete London einrücke,
dann sei es mit Old England so ziemlich vorbei. Eddy zieht
m sein Vertheidigungssystem die Eisenbahndämme mit hin-
ein, vor denen nur Gräben ausgeworfen zu werden bran-
chen, um gute Festungswerke abzugeben. Uni einen 24 Fuß
englische Kriegsbeklemmnngeu.
weiten und 7l/2 Fnß tiefen Graben von 58 englischen Mei-
len Länge rings um London herzustellen, habe man nur
uöthig, 11/2 Millionen Tonnen Erde auszugraben. Die
Sache wäre, meint der praktische Engländer, nicht einmal
sehr kostspielig, denn zu jenem Niesengraben brauche man
nur 162 Acres Land, die, weil sie hauptsächlich in dem für
Bauten ungeeigneten London-Thon lägen, nicht mehr als
162,000 Pfund Sterling im Ankauf kosten würden. Die
Kew-Wasserwerke und die kleinen der Themse zuströmenden
Flüßchen würden hinreichen, zur geeigneten Zeit den Graben
unter Wasser zu setzen.
Mit den topographischen Details verschonen wir den
Leser, nur bemerken wir, daß Eddy hinter seinem Graben
riesige gepanzerte Eisenbahnzüge mit Kanonen und Mi-
trailleusen gespickt umherfahren läßt. Nur rasch müsse man
vorgehen, denn an der Küste von Essex könnten leicht die
wenig tiefgehenden deutschen oder russischen Schisse sich vor
Anker legen, während die tiefgehenden englischen Kriegsschiffe
ihnen dorthin nicht folgen könnten. Deutschland, so argumen-
tirt der Engländer, um seinen Befestigungsplan zu unterstützen,
blutet jetzt aus hunderttausend Wunden uud hat gegenwärtig
nur den Wuusch »ach Frieden. Aber die Zeit wird kommen,
wenn die Gräber grün überwachsen sind, wenn die Wittwen
und Waisen zu weinen aufhören: dann kann das Kriegs-
fieber wieder ausbrechen. Eine halbe Million Männer,
welche Frankreich zerstampft und England bedroht haben,
Aus allen
werden nach frischen Eroberungen lechzen (!!). Es kann
plötzlich für das einige Deutschland nöthig werden, Colonien
zu erlangen, oder einen Haltepunkt in Centralasien, Persien
oder Indien. Der ist ein schlechter Staatsmann, der nicht
einen Vorwand zu finden weiß; man wird uns reizen, der
Krieg ist das Resultat. Die Deutschen, in sechs siegreichen
Monden zu Veteranen geworden, schauen geringschätzig auf
unsere schlecht disciplinirten Volnnteers herab, und sehnen
sich danach, ihre Ueberlegenheit einem friedfertigen und han-
deltreibenden Lande zu zeigen, das auf seiner alten Glorie
ruht. Sie werden direct ans London, den Mittelpunkt un-
seres Neichthnms, vordringen. Unsere Flotte ist nicht länger
mehr im Stande, den Canal zu verbarricadireu. Der Dampf
hat viel gethan, um die Ungleichheit der Völker auszugleichen.
Die Deutschen haben nun nenn große Panzerschiffe, neun
Holzfregatten, die alle weniger als 17 Fuß Tiefgang habeu,
vier Corvetten und zweinndzwanzig Kanonenboote. Deutsch-
land strebt mit aller Kraft dahin, eine herrschende (?!) See-
macht zu werden, und es kann so gut Schiffe kaufen, wie
wir sie bauen können. Die Russen, Preußens standfeste
Verbündete, haben in der Ostsee neunzehn gepanzerte Moni-
tors, jeder mit zwei gewaltigen Geschützen bewaffnet — und
wir bauen immer noch Fahrzeuge, die vielleicht nicht seetüch-
tiger als der unglückliche „Captain" sind. Der Kriegshafen
an der Jahde soll so gut wie fertig sein, und der projectirte
Schiffscanal, der Kiel in der Ostsee mit Tönningen in der
Nordsee verbinden soll, wird die vereinigten russischen und
deutschen Flotten in eine Entfernung von uns bringen, die
bis Aarmouth in 28 Stunden zurückgelegt werden kann.
Zum Truppentransport haben die Deutscheu ihre fünf ame-
rikanischen Dampferlinien, abgesehen von all den englischen
Kohlendampfern, die sie beim Ausbruche des Krieges in der
Ostsee und den deutschen Häfen wegnehmen werden. Um
einem so plötzlichen Schlage zu widerstehen, besitzen wir eine
vertheidignngslose Hauptstadt, ein nnbeschütztes Arsenal (Wool-
wich) und Eisenbahnen, die vollständig unvorbereitet sind, um
plötzlich eine größere Truppenmenge nach der bedrohten Küste
Erdtheilm. 335
zu führen. Alle Eisenbahndirectoren scheinen sich verschwo-
ren zu haben, über diesen Gegenstand nicht ein Wort verlau-
ten lassen zu wollen; aber es ist glaubwürdig, daß uicht eine
einzige Linie bei einem Kriegsausbruche 10,000 Mann im
Laufe eines Tages von London nach der Ostküste zu befördern
vermag, ganz zu schweigen von Pferden und Artillerie.
Unsere Vertheidigungslosigkeit, räsonnirt der Engländer
weiter, ist unsere Gefahr. Es nützt nichts, sich die That-
fache zu verheimlichen. Rußland hat den Krimkrieg zu
rächen, Preußen seine frühere Inferiorität (!). Laßt uns
bei Zeiten Rath schaffen. Mag es absurd sein, Erdwerke
aufzuwerfen, um einem unsichtbaren Feinde zn widerstehen,
so ist es doch besser, dies zu früh als zu fpät thun. Wir
besitzen noch den alten Muth, und unsere Physische Kraft
macht das Bayonnett unwiderstehlich in unseren Händen.
Unsere Bergleute sind noch mit der alten Berserkerwuth aus-
gestattete Riesen. Die Söhne von Nelson's Matrosen wer-
den hinter Panzerplatten so fürchterlich fein, wie hinter Holz-
wänden. Unsere Gentry besteht aus geborenen Cavalleristen
und ist eben so tapfer wie ritterlich. Unsere Ingenieure
überlassen Niemandem die Palme. Latente Moltkes schlum-
mcrn wohl noch zu Sandhnrst und Woolwich. Die Race
der Rapiers und Lyndochs, der Havelocks und Wellingtons
ist noch nicht ausgestorben. In Bezug auf Muth und Reich-
thum streichen wir vor Niemandem die Segel. UnsereFlot-
ten werden schnell in jedem Gewässer sein, ehe der dritte
Kriegstrompetenstoß erklungen. Die unwürdige Panik, welche
über unsere Reichen gekommen, die im Kriege nur eine Ge-
schäftsstöruug sehen, darf uns nicht mit fortreißen. Es ist
jetzt zu spät für uns, in die Reihen der Eroberer noch einzu-
treten, aber wir müssen uns gegen jeden Ueberfall schützen n.s. w.
So weit der Engländer. Wir geben seinen Gedanken-
gang und überlassen das Urtheil dem deutsche» Leser, der
leicht herausfinden wird, wie viel Übertreibung und Schreck-
gespenst?, wie viel Wahres hier gesagt ist. Das Ganze aber
ist wieder ein Beitrag zur Erkenntniß der Machtstellung,
welche Deutschland jetzt einnimmt.
Aus allen
Aus Nord-Europa.
m.— Arktische Expeditionen. Von Christiania
sind bereits zwei Fahrzeuge zum Weißfischfang nach Spitz-
bergen abgegangen. Auch die diesjährige schwedische Expe-
dition ist bereits auf dein Wege nach dem Norden. Es sind
dies zwei der schwedischen Flotte angehörende Fahrzeuge, das
Kanonenboot „Jngegerd" und die Brigg „Gladan", welche der
Akademie der Wissenschaften zu dem Zwecke von der Regierung
zur Verfügung gestellt wurden. Professor Nordenskjöld wird
dieselbe in diesem Jahre nicht begleiten. Die von der Akademie
der Wissenschaften ausgesandten Gelehrten sind der Mineraloge
und Geologe Nauckhoss und der Zoologe Lindahl. Zur
Deckung ihrer Reisekosten hat der König eine Summe von 2500
Riksdalern bewilligt und befohlen, daß die von ihnen heimzu-
führenden Sammlungen dem naturhistorischen Museum in Stock-
Holm überwiesen werden sollen.
— Der Hummersang an der norwegischen Küste,
der im Frühjahr sehr ergiebig zu sein pflegt, ist in diesem Jahre
so spärlich, daß die Fischer es nicht der Mühe Werth halten,
ihre Reusen auszulegen. Sie sehen auch hierin eine Folge des
langen, strengen Winters, indem sie behaupten, das Wasser sei
dem Hummer zu kalt, er ziehe es vor, iu der Tiefe zu bleiben.
E r d t h e i l e n.
Der Export nach England hat noch gar nicht begonnen; in
Strömstad wurde von norwegischen Aufkäufern das Stieg mit
13 bis 14 Riksdalern bezahlt.
— Vou Drontheim wurde kürzlich eine Anzahl Ren-
thiere nach Nordengland ausgeführt, wo sie auf dem Hoch-
gebirge in Freiheit gefetzt werden sollen. Gelingt dieser auf
Lord Sidneh's Kosten gemachte Versuch der Acclimatisation, so
beabsichtigt man noch einige Schiffsladungen dieser nützlichen
Thiere für Nordengland und Schottland nachkommen zu lassen.
— Die Rentekanimer in Uleaborg begann im Februar
d. I. mit ihren Auszahlungen an die Goldgräber, die mit
dein Betrag ihres Antheils wohl zufrieden scheinen. Der Ge-
sammtertrag vom Sommer 1870 beträgt 190,434 Grammes,
zum Werthe von 15,176 Speciesthalern. Der Verlust beim
Schmelzen und Läutern belief sich auf 337 Gr. Der Gehalt
des geläuterten Metalls ist 94 Proe. reines Gold und 5% Proc.
Silber. Es war starke Nachfrage nach Arbeitern; doch ziehen
die Gesellschaften die in Jwalo und Umgegend ansässigen Ar-
beiter den fremden vor; nicht allein um die Reisekosten zu spa-
ren, sondern weil dieselben dort acclimatisirt und an die dortige
Lebensweise gewöhnt sind.
— Marschübungen auf Schneefchuhen. Am21. April
unternahmen die Schüler der Gelehrtenschule in Lulea, einen
336
Aus allen Erdtheilen.
Ausflug in die Umgegend auf Schneeschuhen. Nachdem sie etwa
eine Meile zurückgelegt hatten, wurden unter der Führung eines
Offiziers verschiedene militärische Evolutionen ausgeführt, und
zwar von sämmtlichen Schülern mit einer Gewandtheit und
Präcision, welche bewiesen, daß sie es gewohnt waren, sich auf
Schneeschuhen zu bewegen. Daß aber so spät im Frühjahre die
Wege für derartige Manöver noch günstig waren, wird selbst
von Lulea aus als eine Merkwürdigkeit hervorgehoben.
Capitän Hall's arktische Expedition.
Dieselbe war in der Mitte des Maimonats nahezu fertig
ausgerüstet; der Dampfer „Polaris", welchen die Regierung ihr
zur Verfügung gestellt, hatte bereits seine Masten. Der Dampf-
kefsel ist so eingerichtet, daß er mit Seehundsfett geheizt werden
kann. Die Probe, welche man mit den aus Segeltuch verfer-
tigten Booten angestellt hat, waren durchaus gelungen. Als
man sie wieder aus dem Wasser nahm, waren sie binnen drei
Minuten auseinander genommen und zusammengelegt, d. h.
aufgewickelt.
Wir wollen bemerken, daß Dr. Wessels, welcher die deutsche
Nordfahrt mitgemacht hat, sich bei dieser Expedition betheiligt
und schon seit April in Nordamerika sich befindet. Hall ist be-
kanntlich mit dem Leben und der Sprache der Eskimos durch-
aus vertraut, und feine Eskimobegleiter, welche er mit nach den
Vereinigten Staaten gebracht hatte, sprechen auch leidlich Eng-
lisch. Herrn Wessels liegt nun daran, zu erforschen, wie viel
und was etwa von der Mythologie und dem Aberglauben der
grönländischen Eskimos bei jenen aus der gegenüberliegenden
Seite der Bassinsbai vorhanden ist, alfo im amerikanischen arkti-
schen Labyrinthe. Er hat zu diesem Zwecke die fünf Artikel mit
sich genommen, welche wir jüngst im „Globus" Nr. 1 bis 5 des
laufenden Bandes mitgetheilt haben: „Die altgrönländische
Religion und die religiösen Begriffe der heutigen
Grönländer, von I. Mestorf." Die Forschungen werden
von Interesse sein, und möglicherweise über den Zusammenhang
der Anschauungen bei den verschiedenen Horden jener Eircum-
Polarbewohner Licht verbreiten.
Immer mehr Kohlen und Gold!
Bon den ersteren birgt bekanntlich Nordamerika ganz un-
geheure Borräthe in seinem Schooße. Die geognostischen Unter-
suchungen, welche in mehreren Staaten mit Eifer betrieben wer-
den, weisen nach, daß die Kohlenlager vielfach ausgedehnter und
ergiebiger sind, als bisher angenommen wurde. Die Berichte
des Staatsgeognosten A. H. Worthen enthalten über das
Kohlenbecken in Illinois Folgendes: Adam's County ent-
hält 830 Mill. Tons Kohle; Brown County 400 Mill.; Schuyler
1750, Fulton 7000, Morgan 3000, Caß und Menard 4000;
Jcosewell, M'Lean, Mafon und Logan 30,000, Grundy 900,
Will 66, Kankakee 40, Vermillion 4000, Edgar 6000, Cham-
paign und Ford 10,000 Millionen, demnach mehr als70,000
Millionen allein im Kohlenbecken von Illinois. — Wir lesen
ferner, daß bei den im „Globus" mehrfach erwähnten neuent-
deckten Silbergruben von Caracoles in Bolivia ein reichhal-
tiges Kohlenlager erschlossen worden ist. Ferner hat man Koh-
len, an denen auch die Q uadra-Bancouv er-Insel vor der
Küste von Britisch - Columbia eine große Menge besitzt, in
Alaska, Oregon und Kalifornien gefunden, fodann an
mehreren Punkten an der Centralpacifiebahn und bei Pa-
nama.
Am Ottawafluß in Kanada liegt eine „ganz ungeheure
Menge" von Graphit. Im Bezirke von Buckingham soll ein
Lager reinen Graphits von 20 bis 30 Fuß Mächtigkeit haben.
Man hat begonnen, dasselbe in Angriff zu nehmen.
Diamanten sind in Südafrika schon etwas „ordinäres"
geworden. Nun konmit aber, abgesehen von den vielbesproche-
nen Tatin-Goldfeldern, noch ein Goldseld hinzu, welches
E. Button bei Leydenburg in der Transvaal-Republik ent-
deckt hat, unter 24° 45' südlicher Breite, gerade nördlich von
dem Bezirke, welcher jüngst Neuschottland getaust worden ist,
nördlicher als die Lagoabai. Leydenburg, im östlichen Theile
der genannten Republik, liegt unter 25" 11' S., 30° 10' W.,
etwa 400 Miles von Port Durban in Natal entfernt, ist von hier
aus aber ohne Beschwerlichkeiten zu ereichen. Von Leydenburg
aus erreicht man das neue Goldseld in vierthalb Tagen; die
Strecke, welche Alluvialgold giebt, durchschneidet den Limpopo-
ström, aber auch der Quarz ist dort reich an dem ekln Me-
talle.
# * :f:
— Neufundland zählte zu Anfang dieses Jahres 146,536
Einwohner. Von diesen sind 37,250 mit dem Fang und der
Zubereitung der Fische beschäftigt; 20,647 davon sind als
taugliche Seeleute eingeschrieben und als Fischer thätig. Die
Zahl der Ackerbauer ist sehr gering, 1784; Handwerker 2019.
Die Zahl der Geistlichen ist für die geringe Volkszahl beträcht-
lich: 97 Köpfe. Advocaten find im Ueberfluß vorhanden, 24;
Aerzte 42 Stück; die Schule wird von 16,249 Kindern be-
fucht, während 18,843 keinen Unterricht erhalten. Die ersteren
gehören den 85,504 Protestanten an, die letzteren (zumeist irisch)
den 61,061 Katholiken. In der Fischerei sind 936 Fahrzeuge
beschäftigt. Das urbare Land beträgt, Wiesen mitgerechnet,
41,715 Acres. Der Robbenschlag ist im Frühjahr 1871 so
ergiebig gewesen, wie seit Menschengedenken nicht; man schätzt
den Ertrag auf etwa anderthalb Millionen Dollars.
— Die Unitarier zu Templeton in Massachusetts denken
nicht so streng, wie die Methodisten zu Westboro; sie sind im
Gegentheil der Ansicht, daß „Theetrinken und Abendessen
zur religiösen Observanz gehöre". Deshalb stellen sie
in ihren neuen Kirchen eine Küche auf, und jene zuTem-
pleton haben nicht nur eine Küche, sondern an die Kirche eine
Capelle gebauet, die eine Bibliothek, ein Lesezimmer und einen
Sprechsaal für die Ladies enthält. So vereinigen sie das
Nützliche und Angenehme mit der Frömmigkeit, und finden das
fehr zweckmäßig.
— Alcorn, Gouverneur des Staates Miffiffippi, ein
bekannter Negerfreund, hat eine „Mordstatistik" veröffent-
licht. Aus derselben geht hervor, daß in den Jahren 1369 und
1870 nicht weniger als 170 weiße Leute, zum Theil ganze Fa-
milien, von Negern ermordet worden sind. — In Südcaro-
lina ist vielen ehemaligen Rebellen, obwohl manche derselben
über 1000 Dollars Steuer zahlen, das Stimmrecht noch immer
vorenthalten; aber ihre ehemaligen Sklaven, welche weder lesen
noch schreiben können, noch Steuer zahlen, haben Wahlrecht
und sitzen als Mitglieder in der Staatslegislatur. — Thomas
(5 arlyle schrieb jüngst an einen Amerikaner: „Ihr rennt kopf-
über erschrecklich rasch in die Hölle; in Eurem Lande spielt der
Abschaum der Menschheit die wichtigste politische Nolle, und
nichts kann Euch aus des Teufels Krallen retten." Dazu be-
merkt das „Newyork Daybook": Not a very clieerful idea,
but it, alas! is too true.
Inhalt: Karl Vogt über die Eis- und Höhlenzeit. (Mit neun Abbildungen.) (Schluß.) — Forschungsreise durch die
Wüste El Tih^auf der Sinai-Halbinfel. Von C. F. Tyrwhitt Drake. (Mit zwei Abbildungen.) (Fortsetzung.) — Die Neger-
herrschaft in Südcarolina. — Die deutsche Herrenhuter-Mission in Tibet. Von Emil Schlagintweit. — Die Befestigung
Londons und englische Kriegsbeklemniungen. — Aus allen Erdtheilen: Aus Nord-Europa. — ' Capitän Hall's arktische Expedi-
tion. — Immer mehr Kohlen und Gold! — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Nedacticm verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Hierzu eine Beilage: Literarischer Anzeiger. Nr. 2.
'S
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Band XIX.
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.N 22.
©
it besonclerer Berückst cütigung äer Intkroyologie unä Gtknologie»
ün
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
JuNt Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4Sgr. 1871.
Streifzuge in Florida.
i.
In Jacksonville. — Ein polyglotter Berner als Gastwirth. — Die Plage der Sandflöhe. — Der scalpirte Mann als Schlangen-
bündiger. — Ein französischer Vicomte als Krämer. — Urubugeier. — Kamps zwischen einem Fischadler und einem Neufundländer
Hunde. — Der Oriolvogel. — Eine Begräbnißstätte der Neger. — Magnolienwälder. — Das Spectruminsect. — Kropf-
eidechsen. — Das blutige Haus. — Spottvogel, der rothe Orpheus und der Katzenvogel.
Wir gaben vor einiger Zeit Mittheilungen aus den
Tagebüchern eines „naturforschenden Jägersmannes", Pous-
sielgue, welcher vier Monate darauf verwandte, die in. vie-
ler Beziehung interessante Halbinsel Florida zu erforschen.
Er war in seiner eigenen Goelette von Savannah in Geor-
gien zunächst nach dem Hasen Fernandina und von dort
aus bis nach der Mündung des St. Johns oder Sau Juan
gesegelt. Dieser ist der größte Fluß im Lande („Globus"
XVI, Nr. 7 und 8). Wir wollen ihn jetzt auf seiner Fahrt
nach Jacksonville und Sanct Angustiu begleiten, und, Aus-
züge aus seinen Tagebüchern gebend, ihn selber reden lassen.
Wir verließen ihn am Pablo Creek, wo er eine reiche Jagd-
beute machte; von dort fuhr er nach Jacksonville.
Von der Damenspitze, einer Sandzunge, die sich weit in
den Strom hineinschiebt, bis zum Trout Creek gewinnt der
St. Johns eine so beträchtliche Breite, daß er einem See
gleicht. Jacksonville liegt am linken Ufer am flachen
Strande, hinter welchem stattliche Wälder sich weithin ins
Innere ausdehnen. Der Ort wollte früher nicht recht vor-
wärts kommen; die inneren Theile sehen einigermaßen civi-
lisirt ans; in der Vorstadt, falls dieser Ausdruck anwendbar
ist, findet man nur Negerhütten, die aus Lehm bestehen und
mit Palmblättern gedeckt sind. In der Umgegend arbeiten
einige Sägemühlen, da und dort sieht man auch eine Zucker-
Globus XIX. Nr. 22. sJuni 1871.)
oder Baumwollenplantage. Seit 1863 führt eine Eisenbahn
nach Talahassee; erst seitdem gewinnt Jacksonville, das 1835
gegründet worden ist, einigen Aufschwung und führt Landes-
prodncte aus.
Ich ließ meiueu Hochbootsmann Constant an Bord und
uahm meinen deutschen Begleiter, den Bayern Moritz Stand,
nebst meinem Negerjnugen Hiob mit ans Land ins „Hotel
fran^ais". Der Wirth war ein Schweizer, die Bedienuug
bestand aus Deutschen; ans dem Aushängeschilde prangte
eine Flasche grün und gelb, über einem Wilhelm Tell, wel-
cher seinem Knaben den Apfel abschoß. Der Wirth hieß
Jost, war aus Bern, hatte in der Schweizergarde König
Karl des Zehnten als Unteroffizier gedient, dabei in Patfts
sein Schweizer-Deutsch und in Florida sein Bischen Fran-
zöstsch so ziemlich vergessen, sprach gebrochen Englisch, und
so redete er, gleich seiner Fran Gemahlin, ein polyglottes
Kanderwälsch, das aus Wörtern dieser drei Sprachen zu-
sammengesetzt war. Aber sein Haus hielt er sauber. Alles
wäre ganz gut gewesen, wenn ich nicht schon seit einigen Ta-
gen einen kribbelnden und stechenden Schmerz in meinen
großen Zehen verspürt hätte. Als ich näher znsah, bemerkte
ich mehr als ein halbes Dutzend Pusteln, so groß wie eine
Erbse. Da war keiu Zweifel mehr, ich beherbergte eine
Colouie von Sandflöhen (Pulex penetrans), welche die
43
338
Streifzüge in Florida.
Spanier als Chiqnes, die Engländer als Jiggers be-
zeichnen. Visher war ich von dieser lästigen Plage ver-
schont geblieben, nun aber mußte sofort etwas geschehen, um
mich von derselben zu befreien. Herr Jost holte denn auch
sofort einen Fußdoctor, das heißt ein juuges Mulattenmäd-
chen, welches die Operation vermittelst feiner, mit einem
Haken versehener Nadelu sehr geschickt vollzog. Dieselbe
verlangt sichern Blick und eine gewandte Hand, welche das
kaum sichtbare Jnsect unter der Haut hervorzieht; man muß
dabei höchst vorsichtig verfahren, um die Blase, in welcher
sich die Eier befinden, nicht zn beschädigen, weil sonst eine
gefährliche Entzündung nicht ausbleibt; die Blase muß uu-
versehrt entfernt werden.
Die Mulattin sprach jedesmal, wenn sie eine solche zum
Vorschein gebracht hatte, mit großer Seelenruhe eiu W ell und
hielt sie an eine brennende
Kerze, wo sie dann wie ein
Korn Pulver zerblitzte. Nach-
her wusch sie die Wunde mit
Oel aus, rieb dann Taback
mit Asche ein, legte Feuer-
schwamm auf, verband die
Füße und rieth mir, ein paar
Tage ruhig daheim zu bleiben.
Der Doctor im Unterrock, und
das ist buchstäblich zu nehmen,
denn von einer andern Be-
kleidnng war keine Rede, ver-
langte sehr bescheiden nur sechs
Cents für die Operation, und
war überaus dankbar, als ich
ihr 50 Cents, alfo einen hal-
ben Dollar, gab. Der Jigger
ist ein abscheuliches Thier, das
sich durch Kleider und Schuh-
werk mit deni Kopfe ins Fleisch
bohrt und unter der Haut Eier
legt. Der Bauch der Weib-
chen hat eine Anschwellung,
ist transparent und enthält
eine unzählige Menge röth-
licher, walzenförmiger Eier.
In manchen Gegenden find
die abscheulichen Jiggers in
solcher Menge vorhanden, daß
kein Mensch dort wohnen
kann. Manchmal vernrsa-
chen sie Brand, Geschwülste
am Unterleib und sogar kal-
ten Braud. Die Jäger und
Indianer reiben sich Füße und
Beine mit einem Saft von Taback und giftigen Kräutern
ein.
Der junge Bär, welchen ich vor einiger Zeit am Pablo
Creek gefangen hatte, wurde allmälig etwas zahm; die große
Sultaninhenne, welcher wir die Flügel gestutzt hatten, stolzirte
auf dem Hofe umher und nahm sich stattlich aus, wenn die
Sonne ihr blaues, mit Purpur gleichsam übergossenes Ge-
fieder und ihre rotheu Beine beschien. Aber eines schönen
Morgens war sie verschwunden; eine der vielen verwilderten
Katzen, die in Jacksouville sehr zahlreich waren, hatte sich
ihrer erbarmt! Aber Herr Jost nahm Rache. Er fing zwei
solcher Katzen und steckte sie lebendig in den Käsich meines
großen weißköpsigen Adlers. „Vergeltung muß sein! Sie
haben meinen Vogel aufgefressen und sollen nun ihrerseits
von einem Vogel aufgefressen werden!" Der Adler (ein
Menawa, der Scalpirte.
Haliaetus leucoceplialus) verhielt sich anfangs ganz ruhig
und würdigte die Katzen kaum eines Blickes; diese kletterten
dann an einem Stab hinaus und wollten aus dem Freß-
naps einen Fisch holen. Aber nach wenigen Secunden hat-
ten sie aufgehört zu leben, der Adler fchlug jeder eine seiner
mächtigen Klauen in den Kops und ließ sie dann verächtlich
zu Boden fallen; er hatte sie so zn sagen scalpirt.
Am andern Morgen meldete mir mein Negerjunge: „Der
scalpirte Mann ist da und wünscht seine Aufwartung zu
machen." Ein seltsames Menschenkind trat herein, grüßte
mit einem Kopfnicken nnd blieb drei Schritt von mir stehen.
Das kupferbraune Gesicht war von tiefen Falten durchzogen,
die Nase gebogen, der Mund groß; über dem einen, kleinen
Auge hing eine buschige Braue; das andere Auge war mit
einem großen schwarzen Taffetpflaster bedeckt. Auf dem
Kopfe trug diese Gestalt ein
rothes Baumwollentuch, das
straffe Haar hing weit über
die Ohren herab; der Kopf
nahm sich eigentümlich aus,
es fehlte etwas an demselben.
Dieser Indianer war ein
Mann bei Jahren. Er trug
einen blauen Rock mit vergol-
deten Knöpfen, weißes Hals-
tuch, buutes Hemd, und über
demselben verschiedene Me-
daillen, Glasknöpfe und eine
dicke Uhrkette; unter dem Rocke
sah der Griff eines dreieckigen
Bowiemessers hervor. Der
kupferbraune Gentleman trug
ein rindsledernes Beinkleid,
das er wohl mit Fett und
Blut seiner Jagdopser gegerbt
hatte; von beiden sah ich reich-
liche Spuren. Strümpfe und
Schuhe hatte der Gentleman
verschmäht.
Als ich nach seinem Be-
gehren fragte, blieb er ruhig
stehen und wühlte in seinen
weiten Hosensäcken herum, die
ihm als Jagdtaschen dienten.
Dann brachte er eine Hand-
voll Schlangen zum Vor-
schein, rothe, grüne, schwarze!
Sie ringelten sich um seine
Arme und Beine und um sei-
neu Leib, und dabei zischten
diese liebenswürdigen Thiere.
Es war mir gar nicht wohl dabei und ich trat einige Schritte
zurück. Er aber lächelte ruhig und sagte in gebrochenem
Englisch: „Nette Schlangen für den, welcher sie gern hat.
Die Schlangen kennen Menawa." — „Aber mich kennen
sie nicht; also rasch fort damit!"
Ich rief Moritz Stand herbei, welcher dann unter Bei-
hülfe des Indianers die lebendigen Schlangen in die Spi-
ritusgefäße warf. Der Scalpirte betrachtete mit gierigem
Blicke feine lieben Thiere, die sich nun im Feuerwasser hin
und her wanden und dasselbe einschluckten bis sie zu Boden
sanken. Er liebte das Feuerwasser noch mehr wie seine lie-
ben Thiere.
In den Vereinigten Staaten giebt es etwa 60 Arten
von Schlangen, und bei manchen ist man noch ungewiß, ob
sie giftig seien oder nicht, Menawa aber faßte jede Schlange
Streifzüge
an, die ihm vorkam. Man sagt, die Indianer kennen ein
Kraut, vor welchem diese Kriechthiere sich fürchten, und daß
sie keinen Menschen beißen, der sich damit die Haut einge-
rieben hat.
Der scalpirte Gentleman bat mich, ihn mit mir bis zum
Okeechobe-See mitzunehmen; er sei ein landeskundiger Jäger,
habe eine Meute vortrefflicher Hunde, die er mitnehmen
wolle, und rede auch die Sprache der Seminolen, von
denen zu jener Zeit uoch einige Hundert im Lande waren.
Sie hätten ihm seinen Scalp genommen; er kenne sie nur
allzu gut. Jetzt nahm er das rothe Tuch vom Kopfe uud
zeigte mir seinen Schädel, der, ich kann wohl sagen viereckig
durchgeschnitten und mit einer scharlachrothen, hin und wie-
der blau gefleckten Haut überzogen war. Diese gab nach,
wenn man mit dem Finger darauf drückte; mau fühlte ge-
nau, daß die Knochen des Hinterkopfes herausgenommen
waren. Menawa gehörte zum Stamme der Muskogul-
gen, welche oftmals mit den Seminolen in Fehde lagen.
Sie hatten ihm ein Auge ausgeschlagen und den Schädel
mit einer Streitaxt zerschmettert; obendrein hatte sein Feind
ihm auch noch die Schädelhaut abgezogen. Die Spanier,
welche damals noch im Besitze von Florida und mit den
Mnskognlgen befreundet waren, hatten ihn nach St. Augu-
stiu gebracht, wo er vou einem Wundarzt trepanirt wurde
und so mit dem Leben davon kam. Seitdem war er unter
den civilisirteu Leuten geblieben und nun freier Bürger
Amerikas, wohnte in Jacksonville, ging fleißig auf die Jagd
und trieb Pferdehandel. Ich nahm ihn als Begleiter an,
bereuete das aber schon am andern Tage, weil ein Pflanzer,
an welchen ich ein Empfehlungsschreiben hatte, ihn mir als
einen Trunkenbold, Schwätzer und abgefeimten Patron fchil-
derte. Derselbe Mann rieth mir, einen Mestizen, Paddy
Karr, mitzunehmen, der das Seminolische geläufig rede, und
während des Judiauerkrieges der Regierung als Dolmetscher
gedient habe.
Als ich durch die Straßen schlenderte, um noch einige
kleine Einkäufe zu machen, kam ich an ein niedriges, mit
Stroh bedecktes Haus, das sich recht schmutzig ausnahm.
Uckr der Thür baumelte ein neues Aushängeschild, auf wel-
chcm in goldenen Buchstaben zu lesen stand: Maison de
Commerce du Vicomte A. de B. et Compagnie. Diese
sonderbare Reclame lockte mich au und ich ging hinein. Der
Vicomte war unsichtbar; seinen Kaufladen fand ich kläg-
lich genug ausgestattet; es war freilich allerlei, aber doch
nur wenig in demselben vorhanden. Ich sah langschästige,
noch nicht geschwärzte Stiesel, allerlei Bekleidungsstücke, ein
Faß Theer, Seife, Parfümerien, einige Pflüge, Strohhüte,
Accordeons, falsche Bijouterie, Glasperleu, Sacktücher mit
schreienden Farben, gelb und knallroth, und Haarbürsten, die
einer Pserdestriegel glichen, denn sie waren für die Woll-
köpfe der Neger bestimmt. Ich irre kaum, wenn ich au-
nehme, daß der Herr Vicomte auch das nützliche Gewerbe
eines Barbiers ausübte; daß er auf Negerbällen Violine
spiele, wurde mir mehrfach bekräftigt. Den Verkauf be-
sorgte eine kleine, überaus beleibte Mulattin, neben ihr be-
merkte ich im Magazine zwei Knaben und fünf Mädchen,
kleine Vicomtchen uud Vicomteßcheu, und sie bildeten die
et Compagnie, welche auf dem Aushängeschilde angekündigt
worden war.
Das Negerquartier in Jacksonville besteht aus armseli-
geu, schlecht gebaueten Holzhütten, ist ungemein schmutzig,
nimmt sich aber sehr malerisch aus. Auf den Strohdächern
sitzen oft in ganzen Reihen Urnbngeier, welche als Caviller
der Stadt dienen, allen Unrath fressen und um irgend ein
todtes Thier mit Schweinen und Hunden, um etwas Brot
aber auch mit Hühnern, Katzen und Kindern kämpfen. Ich
in Florida. 339
war Zeuge, wie ein Hahn einem Negerknaben ein Stück
Maiskuchen aus der Hand schnappte, wie er denselben einem
Hunde überlassen mußte, welchem ein Urubu ihn entriß, dem
ein Schwein ihn abjagte; zuletzt bemächtigte sich ein großer
Junge der Beute, und verzehrte sie wirklich. Da war in
der That freier Austausch.
Der Mestize Karr, eiu Mann von etwa 35 Jahren,
hatte ein ganz hübsches Gesicht, aber einen so auffallend
falschen Blick, daß ich lieber dem scalpirten Gentleman ins
Gesicht sah als ihm. Aus den Wangen, durch deren Haut
eine leichte Röthe hindurchschimmerte, hatte er mehrere kleine,
bläuliche Tättowiruugeu augebracht, namentlich ein mit klei-
nen Kreisen umgebenes Herz. Seines Zeichens war er ein
Hausirer, welcher die weißen Ansiedler und die Indianer mit
allerlei Maaren versorgte. Ich gab ihm gern die Erlaub-
niß, unterwegs nebenbei Handel zu treiben.
Als ich Abends am Fenster stand, hatte ich Gelegenheit,
mich von dem Muth und der Kampflust meines Adlers zu
überzeugen. Er konnte wegen der Wunden nicht in die
Höhe fliegen und deshalb ließ ich die Thür feines Käfichs
offen. Auf dem Hofe hatte auch der große Neufundländer
Hund des Herrn Jost feine Behausung. Nun kam Moritz
Stand und brachte Fische für den Adler; diesmal warf er
sie nicht in den Käsich, sondern legte sie dicht vor die Thür-
ösfnuug. Der Hund, als echter Neufundländer, hatte Appetit
auf Fische, lief herbei und schleppte einen auf sein Lager.
Sofort kam der Adler heraus, lies, mit den Fittigen schla-
geud, über den Hof und drang in das Hundehaus. Nach
kaum einer Minute kam der Neufundländer, vor Schmerz
heulend, zum Vorschein, den Schwanz zwischen den Beinen,
mit blutender Nase und Schnauze und verkroch sich. Der
Adler dagegen, welchen ich, als ich ihn schoß, am Fuße ver-
wundet hatte, humpelte hervor, trug den Fisch in seinen Kä-
sich, schuppte ihn ab und verzehrte sein Mahl mit äußerster
Seelenruhe.
Etwa eine deutsche Meile von Jacksonville lag die Säge-
Mühle eines Herrn West, welchem ich einen Besuch verspro-
cheu hatte. Der Gastwirth besorgte mir ein Pferd, ich hing
mein Gewehr um, nahm mein Album mit, stülpte einen
mächtig breiten Panamahut auf uud ritt, sauber iu Weiß
gekleidet, langsam und wohlgemuth ins Freie. Nach einiger
Zeit sprach ich in einer Hütte vor, wo ich in Asche geröstete
Bataten und eine dustige Moschusmelone verzehrte. Als
ich wieder zu Pserde steigen wollte, bemerkte ich auf dem
Zauue ein Paar Oriole (Oriolus tricolor); das Männ-
chen trägt ein prachtvolles Gefieder: Purpur uud Gold.
Diesen Vogel hatte ich noch nicht in meiner Sammlung;
also ließ ich das Pferd am Hause stehen und verfolgte den
Vogel. Dieser ließ mich immer so ziemlich bis ans Schuß-
weite herankommen, sobald ich aber anlegte, flog er weiter
hinter Sträucher oder auf einen Baum; auf näher als etwa
einhundert Schritt ließ er mich nicht herankommen. Ich
wurde hitzig, achtete nicht mehr auf Dornen und Pfützen,
und verfolgte den Vogel immer weiter ins Dickicht. Jetzt
saß er auf einer virginischen Ceder, die in einer mit Pfählen
umgebenen Einzäunung stand. Ich drängte mich hinein
und stand schußbereit, deu Blick nach oben auf den Baum
gerichtet. Plötzlich fühle ich an Hals und Nacken einen war-
men Hauch, eine Art von Moschusgeruch dringt mir in
die Nase, und gleichzeitig legt sich mir etwas Schweres auf
die eine Schulter. Ich drehe mich erschrocken um, und siehe,
da stand dicht neben mir ein Bär, offenbar mit der Absicht,
mich an feine zottige Brust zu drücken. Ich gestehe willig
zu, daß ich an allen Gliedern zitterte. Der Bär wäre leicht
mit mir fertig geworden, denn mein Gewehr, das mir bei
einer Umarmung doch nichts hätte nützen können, war mir
340 Streifzüge
aus der Hand gefallen. Aber Meister Braun war ein ge-
zähmter Bär und hatte mir eigentlich nur eine Liebkosung
in seiner Art erweisen wollen; er gehörte einem Landstreicher,
der ihn auf Kämpfe mit Hunden abgerichtet hatte und mit
ihm von einer Ortschaft zur andern zog. Der Bär schleppte
eine lange Kette am Halse und hatte seine Lagerstelle neben
der Bretterbude seines Herrnr welche ich, da meine ganze
Aufmerksamkeit auf den Vogel gerichtet war, beim Eintreten
in die Umzäunung nicht bemerkt hatte. Inzwischen war
Negerhütte bei
Anhöhe einen Platz, der auf allen vier Seiten mit einer
Hecke von riesigen Cactus eingefriedigt war; diese Stachel-
pflanze bildet einen undurchdringlichen Zaun, doch war an
der einen Seite eine Oesfnuug und durch diese trat ich ein.
Nun sah ich, daß ich mich auf einem Friedhofe befand, wo
die Neger ihre Todten begraben. Hin und wieder bezeich-
nete eine mit Gras bewachsene, leichte Erhöhung des Bodens,
daß man dort einen schwarzen Manu eingebettet habe; da
und dort stand ein Kreuz, entweder noch aufrecht oder vom
in Florida.
mein Oriol davon geflogen uud Nock und Beinkleider waren
beschmutzt und zerrissen; -ich erschien bei Herrn West in einem
Anzüge, der keineswegs ballmäßig war.
Die Schneidemühle lag in einem Walde, der einen präch-
tigen Bestand von immergrünen Eichen, Hickory- und Maha-
gonybäumen hatte. Ich sah sie schon aus weiter Ferne,
nahm aber einen Umweg durch einen grünbewachsenen Grund,
durch welchen ein Bach sich schlängelte, und dort folgte ich
den Spuren eines Pfades. Unterwegs bemerkte ich auf einer
Jacksonville.
Winde schon in eine schiefe Lage gebracht. Auf und neben
den Gräbern lagen allerlei wunderliche Gegenstände umher:
Kochtöpfe, Kalebassen, in welchen Ameisenschwärme die Ueber-
reste der Reiskörner verzehrten, die man dem Todten zur
Reife in eine andere Welt mitgegeben hatte; sodann rohe
Götzenbilder und eben so roh geschnitzte Puppen, welche katho-
lische Heilige vorstellen sollten; diese waren roth angestrichen.
An Banmzweigen hingen Haarbüschel, ausgestopfte Vögel,
abgebrauchtes Schuhwerk, Thierfelle und dergleichen mehr.
Streifzüge
Sodann siel mir ein Kreuz auf, das man aus zusammen-
genagelten Sardinenbüchsen hergestellt hatte; neben das Grab
eines Kindes hatte die Mutter einen Topf gestellt, in wel-
chem Milch gewesen war. Diese hatte die Schlangen an-
gelockt, deren einige sich es in demselben ganz bequem gemacht
hatten. Die Neger sind dem Namen nach Christen, haben
aber bekanntlich eine Menge von wunderlichem Aberglauben
beibehalten und sind in dieser Beziehung echte Afrikaner ge-
blieben. (— Unsere Abbildung zeigt ein Gerüst, auf welchem
in Florida. 341
oben eine eingewickelte Leiche ruhet. So viel ich weiß, ist
der Brauch, die Leichen der Luft anzuvertrauen, bei den Negern
dort nicht nachzuweisen, wohl aber ist er bei vielen Indianer-
stämmen zu finden. A. —) In der Nähe trieb ein Neger-
knabe einige Kühe; er zeigte mir den Weg, und nach etwa
einer halben Stunde war ich in der Sägemühle, wo ich gast-
lich bewirthet wurde.
In der letzten Septemberwoche segelte ich von Jackson-
ville zunächst nach Picolata. Paddy Karr und Menawa
nahmen ihr Quartier auf dem Hinterdeck und speisten mit
uns. Gegen die Neger haben sie, wie alle Indianer, eine
große Verachtung und blicken vornehm auf dieselben herab.
Der Mulatte und die beiden Schwarzen mußten abgesondert
speisen und sich vorn im Schiffe aufhalten.
Bon Jackfonville bis nach der Ortschaft Mandarin
hat der St. Johns eine morastige Uferlandschaft, die bei
Hochfluth unter Wasser steht; doch wächst das Rohr bis zu
einer gewaltigen Höhe; der Strom gleicht einem See. All-
: in Florida.
mälig steigt dann das Gelände etwas an, im Flusse liegen
Inseln und die Strömung wird bemerkbar.
Mandarin bestand zu jener Zeit aus — drei Häusern,
darunter ein Postamt; es liegt aus einer hohen Sandzunge,
die weit in den Strom hinausragt. Die Inseln im St.
Johns boten in dieser Jahreszeit einen wahrhaft prächtigen
Anblick dar. Die Magnolien, welche dort in großer Menge
wachsen, standen eben in ihrer zweiten Jahresblüthe, und
der Dust ihrer tausend und aber tausend weißen Blumen
342 Streifzüge
durchzog die Luft. Die Magnolia grandiflora ist bekannt-
lich nach Europa verpflanzt worden, erinnert aber bei uns
auch nicht entfernt an die majestätische Schönheit, welche sie
in ihrer amerikanischen Heimath zeigt. Ich fah auf diesen
Inseln im St. Johns Magnolienbäume von mehr als
150 Fuß Höhe. Ihr lachendes Grün, die zarte Weiße ihrer
Blumen und der säße Duft derselben erfreuen das Auge und
den Geruchssinn. Tritt man aber unter eine solche Magno-
liengrnppe, dann macht sich ein anderer Eindruck geltend;
die Blätter, welche auf ihrer Oberfläche lebhaft grün erschei-
nen, sind auf der untern Seite grau-weißlich; dem mächtigen
Stamme mangeln Seitenäste; er bildet eine gewaltige graue
Säule, welche sich ausnimmt, als wäre sie von Granit; die
Moose und dickblätterigen Pflanzen mit aufgetriebenen Stie-
len sind eben so einförmig grau an diesen Standorten, zu
welchen Soune uud Luft schwachen Zugang haben. Alles
ist so monoton, unbeweglich und die Formen sind so starr,
da^z man sich in einen Wald von Zink versetzt glaubt.
Auf einer dieser dickblätterigen Pflanzen fand ich ein merk-
würdiges Jnfect, ein Spectrum (Blutsauger, Spectrum
rubro-nigrum, Poussielgue), das noch nicht bekannt war.
Das Spectrum.
manche dreheten den Schwanz und kläfften wie junge Hunde,
liefen an den Bäumen hinauf und versteckten sich im Ge-
zweig, wo sie mit den Saugeballen ihrer Zehen sich fest-
hängen. Die carolinische Anolis, Anolis carolinen-
sis, wird von den Spaniern als Papavento, von den Creo-
len auf den Antillen als Kropfeidechse bezeichnet; sie ist
grün, hat rothe Kehle und ist an den Seiten schwarz ge-
marmelt. Unter dem Halse hat sie einen förmlichen Kropf,
der nuaufgeblasen wie eine fchlaffe Wampe herabhängt. Die
Anolis leben von Jnsecten nnd namentlich vom Spectrnm;
sie ihrerseits sind eine Lieblingsspeise der Weihen, welche aus
den höchsten Bäumen horsten.
Als ich in meinem Kahne in einen kleinen Seitenarm
des St. Johns hineinruderte, bemerkte ich auf einer etwas
erhöheten Landzunge ein Ansiedlerhaus, dessen Dach einge-
fallen war; die Balken waren vom Feuer geschwärzt. „Da
ist das blutige Haus," sagte Paddy Karr. Ich stieg aus.
Der Hammock (Bodenhöcker, der sich über die Fläche erhebt
und gegen Ueberschwemmung gesichert ist) zeigte Spuren
ehemaligen Ackerbaues; ich sah Kohl und Salat zwischen
Unkraut, Hofraum und Ställe waren noch in gutem Zu-
stände, aber keine Thüren mehr vorhanden. Der Fußboden
in Florida.
Es saß auf einem der größten Blätter, Kopf und Brust-
fchild gehoben; es kreuzte die Vorderfüße bald über die Brust,
bald reckte es sie nach allen Richtungen aus. Es kam mir
vor, als ob es bete oder vielmehr eine Leichenpredigt halte.
Ein ähnliches Jnfect in Südeuropa, die Hanta religiosa-,
hat deshalb den Spitznamen kleiner Priester erhalten;
im Mittelalter schrieb man demselben Zauberkräfte zu. Die
Indianer ihrerseits glauben nicht an die Zauberkraft jenes
Spectrums, sie behaupten jedoch Folgendes. Wenn ein
Wanderer sich verirrt hat, dann muß er das Spectrum be-
fragen, nach welcher Richtung er seinen Weg zu nehmen
habe; das Thier deutet ihm dann dieselbe an, indem es ein
Bein vorstreckt. Es thut dieses, um Beute zu erhaschen;
sobald eine solche, z.B. ein kleiner Käfer, in die Nähe kommt,
packt es ihn mit den Beinen, welche scharfe Haken haben,
saugt ihn aus, wirft den Balg fort und nimmt wieder eine
trügerische Ruhe an. Ich habe das genau beobachtet. Das
Spectrum wird bis zu 15 Centimeter lang, hat keine Spur
von Flügeln; Kops uud Dickbein sind roth, das Uebrige dun-
kelschwarz.
Aus den Magnolieninseln wimmelt es von Eidechsen;
Attacus luna.
des großen Wohnzimmers war mit einer schwarzen Kruste
überzogen. Bor mehreren Jahren, als die Fehden zwischen
Indianern und Ansiedlern sich bis zur äußersten Erbitterung
gesteigert hatten, übersielen die Wilden diese Ansiedelung,
welche einem Herrn Montgomery gehörte, steckten das Haus
in Brand und ermordeten seinen Vater und drei Töchter.
Nachdem sie ihnen den Scalp genommen, zogen sie ab;
Montgomery selber entrann dem Tode nur, weil er nach
Jacksonville gereist war; seinen Gärtner, einen Neger, hatten
sie erschossen; Alles wurde ausgeplündert. Solche Episoden
sind während des langjährigen Krieges mit den Seminolen
in Menge vorgekommen. Nun sind diese Indianer längst
aus Florida fortgeschafft uud auf der rechten Seite des Mif-
sissippi im sogenannten Jndian Territory angesiedelt worden.
Am folgenden Morgen bat mich Moritz Stand, in seine
Cajüte zu kommen, welche er als sein naturwissenschaftliches
Laboratorium bezeichnete. Mit großem Fleiß hatte er alle
unsere Reptilien, Käfer :c. in Spiritusflaschen gethan, Eti-
ketten darauf geschrieben und überhaupt Alles wohl geordnet.
Nun fand er, daß der Spiritus in den Gläfern sich täglich
verminderte; das Klima konnte daran nicht schuld sein.
Gestern Abend überraschte Moritz den Scalpirten, als der-
Streifzüge
selbe vermittelst eines dünnen Nohrhalmes den Spiritus her-
auszog und sich eine Güte that mit diesem Alkohol, in wel-
chem Schlangen, Eidechsen, Kröten und dergleichen anfbe-
wahrt wurden. Menawa war stets berauscht, wenn es irgend
anging, und den lieben, langen Tag lag er auf Deck, um
sich zu sonnen und nichts zu thun. Die Indianer sind räch-
süchtig; ich gab ihm keinen Verweis, ließ aber eine Kette
mit Verschluß vor die Cajüte legen.
Als ich in meinem kleinen Nachen eine Fahrt auf dem
Black Creek machte, sah ich fern aus dem Walde einen wei-
ßen Rauch emporwirbeln, uud ging mit meinem Hunde Diggy
ans Land. Eine Strecke am User war, wie hier in der
Regel, morastig; dann gelangte ich an einen Wald hochstäm-
miger Tulpenbäume. Diese ersticken nicht, gleich den Magno-
lien und Fichten, das Unterholz und überhaupt das Wachs-
thum niedriger Pflanzen, sondern ihre breiten Blätter mildern
das Licht und dienen dem, was unten wächst, als Schutz.
Vom Blumensafte nähren sich mancherlei Jnsecten und
Schmetterlinge; an den Zweigen hängen Aristolochien und
Biguouien und bilden oft von einem Baume zum audern
in Florida. 343
luftige Brücken. An den Wurzeln ziehen sich Schlangen-
blumen hin und die Azaleen entfalten ihre üppige Blüthen-
Pracht. Im Gezweig der Tulpeubäume und auf den Fächer-
Palmen ist ein lustiges Treiben der Vögel, die nicht müde
werden, ihr Coucert aufzuführen.
Europäische Naturforscher, wie Bnsfon und Linne,
welche Alles in ihren Studirzimmern classificirten, haben die
Behauptung aufgestellt, daß die prächtig befiederten
Vögel der Tropenländer keinen anmuthigen und lieb-
lichen Gesang hätten, vielmehr eine rauhe oder kreischende
Stimme, welche ihnen die melodischen Töne unserer Sing-
Vögel unmöglich mache. Dieses Vorurtheil, das geradezu
eine Verleumdung einschließt, wird von Männern der Wissen-
schaft auch heute noch wiederholt. Aber wer möchte z. B.
in Brasilien von einigen dort eingeführten Sperlingen oder
Elstern einen Schluß auf alle unsere Singvögel machen!
Das tropische Amerika zählt mindestens 30 Arten Fein-
schnäbler, die wir neben unsere Grasmücken stellen können
uud die einen lieblichen oder auch anmuthigen Gesang haben;
von den Nordamerikanern werden sie als Warblers be-
Katzenvogel.
zeichnet. Dahin gehört der berühmte Spottvogel, dessen
Gesang aus zehn man möchte sagen Silben oder Figuren
besteht; mit diesen ahmt er das Geräusch nach, welches er-
hört, und insbesondere auch die menschliche Stimme. So-
dann verschnörkelt er einen gegebenen Ton mit allen mög-
lichen Variationen, kurz, er ist ein unerschöpflicher Compo-
nist, ein Komödiant unter den Vögeln; aber die Anmnth
in der Melodie und den melancholischen Reiz unserer Nach-
tigal hat er doch lange nicht. — Der rothe Orpheus wird
mit unserer Amsel verglichen, aber sein Ton ist voller uud
melodischer; ein Eomponist wie der Spottvogel ist er nicht.
Beide Vögel sind größer wie unsere Nachtigal und haben
einen schlanken, anmuthigen Wuchs.
Die Tulpenbaumwälder sind Lieblingsaufenthalt der
Katzenvögel. Allemal, wenn ich an einem Gebüsche vor-
überging, wurde ich von ihrem wunderlichen Geschrei begrüßt;
es war als ob junge Katzen erbärmlich mianeten. Diese
Vögel leben gesellig, es scheint, als ob sie gern Menschen
in ihrer Nähe haben, und gewöhnlich folgten sie mir, immer
miauend. Der' Katzenvogel ist eine Art Drossel (Turdus
felivox), braun, mit schwarzem Käppchen, am Bürzel röth-
Spottvogel.
lich-orangegelb. Er macht jedes Geräusch nach, singt nicht,
seine Stimme ähnelt dem hohlen Tone eines Bauchredners.
Er ahmt das Bellen des Hundes und Fuchses nach, das
Gerassel der Klapperschlange, das Quaken des Frosches, das
Niesen des Menschen, das Gekreisch oder Knarren der Wa-
genräder. Gewiß würde man ihn im Zimmer lieber haben,
als irgendwelchen Papagei, er ist aber leider in der Ge-
fangenschast sehr schwer auf längere Zeit zu erhalten.
Jenseits des Tulpeubaumwaldes lag eine sumpfige Nie-
derung, in welcher ich ein ganzes Feld von mir noch unbe-
kannten, eigenthümlichen Farrukräuteru fand. Aus einem
niedrigen Stiel kamen grüne Blättchen nnd unzählige schwarze
Fäserchen, die seidenweich waren, wie das feinste Haar. Ich
schritt in dieses Waldhaar hinein, das mir bis zur halben
Kniehöhe reichte und einen sanften Rosengeruch ausduftete.
Auf den Zweigen eines Liqnidambar fand ich einen prächtigen
Nachtfalter, Attacus luna; sein Leib ist fleischfarbig, die
blau eingefaßten Flügel sind zart grün, mit Karmin nnd
Orange getupft. Jagdbares Wild bemerkte ich in dieser Ge-
gend nicht.
344
Zwei archäologische Funde auf der cimbrischen Halbinsel.
Zwei archäologische Funde auf der cimbrischen Halbinsel.
!♦ Ein Moormensch in Holstein.
m.— Am 2. Juni wurde bei dem zu dem adeligen Gute Both-
kcimp gehörenden Dorfe Nenswühren zwischen Bornhöved
und Nenmilnster in einem Torfmoore ein eben so interessanter
als wichtiger Fund gemacht, über den wir heute die Haupt-
sache in Kürze berichten, ausführlichere Mittheilung uns vor-
behaltend.
Derselbe besteht in einem wohlerhaltenen männlichen
Leichnam, bekleidet mit einem wollenen Gewände von köper-
artigem Gewebe, einem mit ledernen Schnüren zusammen-
genähten Fellmantel und einer ledernen Sandale am rechten
Fuße. Der Körper ist so wohl erhalten, daß die Finder
sich gemüßigt hielten, dem Gerichte Anzeige davon zu machen,
worauf zwei Gerichtsärzte sich nach dem Orte begaben und
Leichenschau hielten. Die Herren scheinen indessen nicht ge-
wüßt zu haben, was von dem Gesellen zu halten sei, wes-
halb sie Proben von ihm selbst und von seinen Gewändern
nicht etwa an die medicinische Facnltät der Landesuniversität,
sondern nach Berlin zur Begutachtung schickten!
Gleich nach der Entfernung dieser Herren trafen zwei
andere zu demselben Zwecke in dem Dorse ein, der Conser-
vator der schleswig-holsteinischen Alterthümer, Herr Professor
Handelmann, und der Prosector an der Universität Kiel,
Herr Dr. Pansch, welche von dem Gutsherrn darum er-
sucht waren, das gefundene Individuum zu besichtigen. Diese
sachkundigen Gelehrten erkannten alsbald, daß dasselbe keinen
„ungarischen Mausefallenhändler", sondern einen Landes-
bewohner aus ältester Zeit repräfeutire. Der Gutsherr ge-
stattete ihnen, den Körper mit nach Kiel zu nehmen, wo jetzt
unter der Obhut der Professoren der Trockeuproceß nach
Wunsch vor sich geht. Sobald derselbe vollendet ist, wird
der Körper mit den Ueberresten seiner Kleider in dem Mn-
seum für vaterländische Alterthümer in Kiel ausgestellt wer-
den. Die Ueberreste der Kleider, sagen wir — denn
leider ist mit unverantwortlicher Nachlässigkeit gestattet wor-
den, daß die zuströmenden Neugierigen die Kleider zerrissen,
um einen Fetzen davon mit nach Hanse zu tragen, lieber
das Alter dieser merkwürdigen Leiche läßt sich noch nichts
sagen. Leider war der Schädel so aufgeweicht, daß die Form
nicht festzustellen ist. Die Zähne zeigen den horizon-
talen Abschliff, welcher die Schädel der dänischen
Steingräber charakterisirt. Vielleicht führt die chemi-
sche Analyse'der Knochen zu näheren Schlüssen; auch der
ursprüngliche Bau der von den Säuren und Gerbstoffen des
Torfes durchtränkten Haut und Muskeln wird, wie wir hören,
mit Hülfe des Mikroskops noch zu erkeuuen sein. Köper-
artige Wollstoffe findet man schon in den ältesten
Gräbern der Bronzezeit. Auch der 1817 in Ostfries-
land gefundene Moormensch war mit einem Gewände von
köperartigem Gewebe, eiuem zweiten von einfachem Leinwand-
gewebe bekleidet. Da indessen dieselben Gewebe auch in
späterer Zeit, ja selbst während der sogenannten jüngern
Eisenperiode vorkommen, so gewähren sie für eine Alters-
abschätznng des alten Holsteiners weniger Anhalt, als die
osteologische Untersuchung, deren Ergebniß noch abzuwarten ist.
2. Ein alter Todtenbanm mit Skelet in
Iütland.
Auf der Feldmark des Dorfes Höjballegaard, iy2
Meilen von Aarhns (Iütland), erhebt sich aus einer Gruppe
kleinerer Grabhügel der 350 Fuß im Umkreis messende, 35
Fuß hohe Borrishöj oder Borums Eshöj, welcher eine weite
Aussicht über das umliegende fruchtbare Land gewährt. An
der Nordostseite dieses Hügels wurden vor circa 15 Jahren
in einer Steinkammer zwei Bronzeschwerter gesuu-
den, welche man dem Könige Friedrich dem Siebenten für
feine Privatsammlung überreichte. Nach der Zeit sind meh-
rere andere Bronzeobjecte zum Vorschein gekommen. Als
der Besitzer vor einiger Zeit den Hügel abermals angrub,
um den Sand zu benutzen, zeigte es sich, daß der Kern des-
selben aus einer schwarzen Erde bestand, die dermaßen von
animalischen Stoffen durchsetzt ist, daß sie sehr wohl zum
Düngen des Ackers dienen könnte.
Bei diesen Grabungen stießen nun die Leute einige Ellen
südlich von der vorerwähnten Steinkiste auf einen jener höl-
zernen Särge der ältesten Bronzezeit, deren mehrere in Jüt-
land gesunden worden sind. Sie bestehen aus einem gespal-
tenen, ausgehöhlten Eichenstamme, in dem die Leiche nebst
Beigaben der Erde übergeben ist. In dem hier besprochenen
Sarge oder Todtenbäume lag ein wohl erhaltenes Ske-
let, bekleidet mit nachbenannten wollenen Gewändern:
einer Jacke, einem Mantel, einem außerordentlich schön ge-
webten, gestreiften dreifarbigen Gürtel mit anhängenden
Franzen, einem kunstvoll geknüpften Haarnetz, einem andern
Netze (Fragment) und einem Stück von einer Thierhaut,
wahrscheinlich einer Ochsenhant, in welche der Todte einge-
hüllt worden. Die Kleider und besonders der Gürtel sind
so vortrefflich erhalten, daß es kaum glaublich ist, daß sie
Jahrtausende in der Erde gelegen haben. An ferneren Bei-
gaben fand man einen schönen Dolch mit Horngriss, einen
großen und zwei kleinere sogenannte Tutuli, zwei Armbän-
der, einen Kopfschmuck und eine Fibula. Diese Gegenstände
sind sämmtlich von Bronze, verziert mit Schlangenornamen-
ten, Strichen und Punkten; endlich lagen noch in dem Sarge
ein Krug und ein Gefäß von Thon. Der Kopf der Leiche
lag nach Südwesten, das lange, reiche Haar scheint blond
gewesen zu sein, obgleich es wie auch die Kleider von der
schwarzen fetten Erde geschwärzt war. Das Skelet wurde
leider bei der Aufnahme beschädigt, es sind sogar einige Glie-
der verloren gegangen; doch ist der größere Theil gerettet
und mit dem Sarge nnd den Beigaben an das antiquarische
Museum zu Aarhus abgeliefert worden *).
*) In der Nähe von Hagestadsborg in Schonen sind kürz-
lich wieder römische Silbermünzen gefunden nnd von dem Gym-
nasialdirector Dr. Benzelius in Aotad bestimmt und für die Wis-
senschaft gerettet worden. Es sind 550 Denare von Nero bis
Septimius Severus, die wahrscheinlich im dritten Jahrhundert unserer
Zeitrechnung dort vergraben worden sind.
Tyrwhitt Drake: Forschungsreise durch die Wüste El Tih auf der Sinai-Halbinsel.
345
Forschungsreise durch die Wüste El Tih auf der Sinai-Halbinsel.
Von C. F. Tyrwhitt Drake.
III.
Wüstenthiere und arabische Thiersagen.
Ratte, arabisch Jerbuah, auch dirs unbdars, zuweilen
Za rumaib (ber Herr der kleinen Lanze). Es giebt ver-
schieden? Arten von Dscherboas und Wüstenratten; einige
von ihnen werden nur an den Felsen gesunden, andere gra-
ben im Sande und Kies. Unter den Arabern herrschen
verschiedene Ansichten darüber, ob es erlaubt sei, die Dscher-
boa zu essen oder nicht; einige verspeisen sie, andere aber
halten sie als „Kriechthier" für unrein. Die Araber sagen,
daß sie niemals trinken, in Gemeinden leben und einen Scheich
ernennen, den sie aber unbarmherzig tobten, falls dessen Re-
giment ihnen nicht znsagt. Ein arabisches Sprüchwort sagt
von einem hinterlistigen Menschen: Er verfährt wie eine
Dscherboa. Dieses wird mit Bezug auf die Höhlen der
Dscherboa gesagt, welche vou außen fest erscheinen, die aber
untermiuirt sind und nachgeben, wenn man darauf tritt.
Leopard (Felis leopardus), arabisch Nimr, zuweilen
am Sinai auch Giblan genannt, weil Giblan der Name
des Häuptlings der Nimr oder Leopardenfamilie der Abwan-
Araber in Moab ist; bie Jungen heißen Weschek. In
ben mehr abgelegenen unb unzugängigen Bergen bes Sinai
sinb biefe Thiere keineswegs selten, unb bei einem frühern
Besuche bieses Landes wurde mir erzählt, daß elf Kameele
von ihnen im vorhergehenden Jahre zwischen Senned und
dem Wady Nasb getödtet worden waren. Wie der Klipp-
schliefer foll der Leopard früher ein Mensch gewesen sein,
der in seine gegenwärtige Gestalt verwandelt wurde, weil er
seine Abwaschungen vor dem Gebete mit Milch vornahm
und so die guten Gaben Gottes ihrem eigentlichen Zwecke
entfremdete. Leoparden sind ziemlich häufig an den Ufern
des Todten Meeres. Ihre Spuren wurden hier von de Sanlcy
fälschlich für Löwenfpuren angesehen, welches Thier jedoch
in Palästina und der Tih ausgerottet ist. Die Beduinen
versichern, daß die jungen Leoparden mit einer Schlange um
den Hals geboren werden, unb baß, wenn ein Leoparb krank
sei, er sich burch Mäusefressen heile. Ihr Fett wirb arznei-
lich benutzt unb ihr Haar wirb als Zaubermittel verbrannt,
um Scorpione unb Tausenbfüße zu vertreiben.
Eibechsen. Die größeren Eibechsen, namentlich Uro-
mastix spinipes, heißen im Arabischen dhabb unb bie klei-
neren Nardhun. Die Bebuinen sagen, baß bie ersteren 70
und mehr Eier legen, welche Taubeneiern gleichen, und daß die
Jungen anfangs blind seien. Sie sollen sehr langlebig sein
und man erzählte mir gar von 700 Jahren als ber Grenze
ihres Lebens. Von einigen Stämmen werben sie gegessen,
doch im Allgemeinen betrachtet man sie als unrein. Die
Syrier verfluchen sie, da sie die Gebetübungen der Recht-
gläubigen verspotten sollen. Sicherlich ist die Art, wie sie
ihre Körper auf- uud niederheben, kein schlechtes Zerrbild
der mohammedanischen Gebetgesten. Die getrockneten Kör-
per einiger Stinke oder Sandeidechsen (arabisch Sakankur)
werden im Orient viel als Aphrodisiaca verlangt. Die be-
sonders beliebte Art kommt im Nedsched vor, von wo die
Hadschkarawanen große Quantitäten mitbringen.
Eule, arabisch bumeh. Dieser Bogel wird an einigen
Globus XIX. Nr. 22. (Juni 1871.)
Orten mit großer Verehrung betrachtet, da, einer Trabition
zufolge, bie Seelen ber Verstorbenen in ber Gestalt einer
Eule auf ben Gräbern erscheinen. Mir würbe gesagt, baß
sie von Vogelstellern zuweilen als Lockvögel benutzt würben.
Taube, arabisch hamam, Wildtaube Jomam. In
Aegypten giebt es sehr viele Tauben, welche in besonberen
für sie erbauteu Thürmen nisten. Sie werben namentlich
des Düngers wegen gehalten, welcher vortrefflich wirkt und
massenhaft ausgeführt wirb. Die meisten Moscheen sind
von Tauben bevölkert, und nicht selten wird von frommen
Mohammedanern eine Summe vermacht, um Korn für sie
zu kaufen. In Jerusalem sind sie besonders häufig. „Si-
cherer als die Tauben bes Harems" ist ein arabisches Sprüch-
wort, auch gebraucht man ben Ansbruck „traurig wie eine
Taube" iu ber orientalischen Poesie so gut wie in ber abenb-
länbischen.
Wachtel, im Arabischen gewöhnlich Summana ober
Selwa. Ich begegnete nur einem einzigen Exemplare in ber
Tih, unb bieses nannten bie Eingeborenen Firreh. Eine
Trabition sagt, baß bas erste Fleisch, welches faul unb stinkenb
würbe, bas von ben Kinbern Israel aufgestapelte Fleisch ber
wunderbaren Wachteln war (2 Mose 16, 20), welches gegen
den Willen des Allmächtigen geschehen war.
Raben. Es kommen drei Arten dieser Vögel zerstreut
über die Wüste vor, nämlich Corvus corax, Corvus um-
brinus und Corvus affinis; alle drei werden von den Ära-
bern Ghorab genannt. Sie werden gewöhnlich in der Nähe
der Kameelherden gefunden, auch sieht man sie oft auf dem
Rücken dieser Thiere nach Zecken suchen. Ihre Hauptnah-
ruug besteht in Reptilien und Insekten, doch zieht jedes todte
oder sterbeude Thier sie an. Einst sah ich zwei Raben ein
vor Erschöpfung niedergesunkenes Pferd angreifen. Ein ara-
bisches Sprüchwort sagt: „Nehmt einen Raben zum Führer
und er wird ench zu einem todten Hunde leiten." — Eine
arabische Trabition, bie, gleich so mancher anbern, bem alten
Testament entnommen ist, schreibt bie erste Jbee zum Be-
grälmiß bem Raben zu. WäHrenb Abatti auf einer Pilger-
reife nach Mekka begriffen war, errichteten Kam nnb Abel
ein jeder einen Opferaltar. Kam, ein Landwirth, opferte
den Abfall ans feinem Garten; Abel dagegen wählte den
schönsten jungen Bock aus seiner Herde und legte ihn aus
den Altar. Sein Opfer wurde gnädig angesehen und der
Bock in den Himmel genommen, wo er blieb bis er statt des
Jsmael benutzt wurde, als dessen Vater Abraham ihn auf
dem Berge Moriah opfern wollte. Kain aber, welcher sah,
baß sein Opfer verschmäht würbe, würbe plötzlich so von
Eifersucht gegen seinen Bruber ergriffen, daß er ihn erschlug.
Bestürzt über bie That, wußte er nicht, was er mit bem
Körper aufaugen sollte; er schleppte ihn baher Jahre lang
mit sich herum. Eublich sah er zwei Raben, bie töbtlich mit
einanber stritten; nachbem ber eine ben andern getödtet, grnb
er ein Loch in die Erde und begrub jeueu. Kain begriff
diesen Wink unb führte nun bas erste Begräbniß aus, wie
er ben ersten Tobtschlag gethau. Adam kehrte heim, trauerte
44
346 Tyrwhitt Drake: Forschungsreise durch 1
über seinen Sohn und verfluchte den Boden, der dessen Blut
getrunken, weshalb nach dem Glauben der Mohammedaner
die Erde nie wieder das Blut eines Ermordeten aufsaugen
wird; im ©egentheil, es bleibt auf dem Boden als belasten-
des Zeuguiß für des Mörders Schuld.
Wüsteuhuhu (Petrocles setarius). Diese Art ist sehr
häufig in der Wüste; doch kommen noch drei andere Arten
vor, nämlich Petrocles exastus, P. senegalensis, welches
Tristram am Todten Meere fand, nnd P. arenarius. Alle
zusammen heißen Kata, oder im Beduineudialekte gata.
(In Marokko Loudri.) Die zuerst und zuletzt erwähnte Art
werden von einigen Beduinen respective Koudrijeh und
Sunifeh genannt. Diese Bogel müssen Morgens und Abends
trinken; sie leisten damit anch dem Reisenden einen großen
Dienst, indem sie ihm die Nähe des Wassers anzeigen. Wäh-
rend ich mich in Damaskus aufhielt, wurde mir versichert,
daß diese Hühner in so großer Menge im Gebiete der Anazeh-
Beduinen vorkommen, daß während der Brütezeit zwei Mann,
die mit einem Kameelhaarfack ausziehen, ihn in der kürze-
sten Zeit mit Eiern füllen. Das Kata foll stets drei Eier-
legen, nicht mehr nnd nicht minder. Die rein geschabten
Knochen sollen als ein Mittel gegen Kahlköpfigkeit gnt sein,
und der Kopf gilt als ein Zauber, um schlafenden Leuten
Geheimnisse abzulocken. Da es so sicher Wasser anzeigt,
haben die Araber das Sprüchwort: „Wahrheitsliebender als
das Gata."
Schaf. Der eigentliche arabische Name ist Dhan;
Ghanem ist eine allgemeine Bezeichnung für Schaf- und
Ziegenherden. In der TiH giebt es wenig Schafe, doch in
Moav und Palästina sind sie sehr zahlreich; dies ist gewöhn-
lich die fettschwänzige Abart (Ovis laticaudata). Eine fein-
wollige Zucht kommt in einigen Districten Vor. Stets habe
ich bemerkt, daß im Orient die Schafmilch besser als jene
Von Kühen oder Ziegen ist.
Schlangen, arabisch hai jeh, taaban offi (ocpig),
dudeh (wörtlich Wurm), rakschah (gesprenkeltes Thier).
Da ich im Winter die TiH passirte, so waren nur wenig
Schlaugen aufzufinden. Die Stellung der Hornschlange
(Cerastes Hasselquisti), welche ich fing, war bemerkens-
wert^ Sobald sie mich erblickte, begann sie zu zischen und,
indem sie sich wie zu einem Knoten zusammenwand, brachte
sie durch Reibung ihrer Schuppen einen eigentümlichen
raspelnden Ton hervor. Diese Schlange wird von den Ära-
bern als die gefährlichste unter allen betrachtet; sie fürchten sich
daher sehr vor ihr. Sie behaupten auch, daß eine Schlange,
welche einen Knochen verschlungen hat, den sie nicht ver-
danen kann, sich so lange kräftig um einen Baum winde,
bis der Knochen in ihr völlig zerbrochen ist.
Schildkröte (Testudo graeca); arabisch Salahfat. (In
Marokko afkah.) Die Wasserschildkröte (Emys caspica)
wird lejah genannt. Die erstete wird zuweilen in der TiH
gefunden; sie ist gemein in Palästina. Die letztere kommt
häufig in den Teichen und Strömen dieses Landes vor. Eine
andere Art Landschildkröte (Testudo marginata) wird von
Tristram erwähnt, der sie am Berge Karmel fand. Man
weiß, daß die Wasserschildkröte Fleisch frißt, und die Araber
sagen, daß die Landschildkröte auch Schlangen fresse; doch
glaube ich, daß dieses völlig unrichtig ist. Schildkröten ha-
ben einen sehr starken Geruch, und ich habe in Marokko Spür-
Hunde vor ihnen stehen sehen, als hätten sie Wild vor sich.
Geier. Der ägyptische (Neophron perenopterus),
arabisch rakhamah, hebräisch racham oder onak, in Ma-
rokko sew. Dies ist der einzige überhaupt in der Wüste
häufig gesehene Geier. Der gelbe Geier (Gyps vulvus)
und der Lämmergeier (Gypaetus barbatus) gehen selten
über die Grenzen cultivirter Gegenden hinaus. Der ägyp-
> Wüste El TiH auf der Sinai-Halbinsel.
tische Geier wird häufig in der Nähe arabischer Lager ge-
sunden, wo er das Amt des Schinders mit den Hunden theilt.
Trotzdem-betrachten manche Stämme in Nordafrika wie im
Orient sein Fleisch als einen Leckerbissen.
Wolf (Canis lupus), arabisch dib. Diese Thicre kom-
men in den Gebirgen des Sinai und Palästinas vor, doch
selten in der TiH. Sie leben nicht, wie die europäischen
Wölfe, in Rudeln, sondern jagen zu zweien und dreien. Die
Beduinen behaupten, daß sie mit einem offenen Auge schlafen,
und haben ein dem unsrigeu ähnliches Sprüchwort: „hungrig
wie ein Wolf." Der Hunger wird zuweilen Da ed dib,
Wolfskrankheit, genannt. Verschiedene THeile des Thieres
dienen als Zaubermittel; so soll ein Wolfskopf im Tauben-
schlag oder der Schwanz im Biehstall andere wilde Thiere
von diesen abhalten.
Im Anschlüsse an die mit wirklichen Thieren verknüpf-
ten Sagen besitzen die Beduinen noch eine Masse Erzähluu-
gen, die sich auf Fabelwesen beziehen, auf feie Ginn, bieEfrit
und Gboul. Diese liegen schwerlich in meinem Bereich und
sind von Lane (Arabian nights, Vol. I.) schon genügend
beschrieben. Aber ich will noch die Nis-nas erwähnen, welche
einem der Länge nach durchgeschnittenen Menschen gleichen
und die einen Arm, ein Bein und einen halben Kopf be-
sitzen. Man sagt, sie würden in Jemen gesunden, wo das
Volk sie jage und verzehre, ungeachtet daß sie arabisch sprä-
chen. Die Hud-bud, so genannt nach ihrem Geheul, ist
ein mysteriöses, am Sinai häufiges Geschöpf. Die Bedui-
nen behaupten es nie gesehen zu haben. Obgleich ich sein
klagendes Geschrei oft in der Nähe meines Zeltes hörte und
mit der Flinte in der Hand sogleich hinausstürzte, konnte ich
doch nie nur einen Schein davon entdecken. In einem Au-
genblicke kam der Schrei aus der Luft dicht über meinem
Kopfe, im nächsten Momente schallte er fern wieder vom
Bergabhange, dann entfernte er sich noch mehr und war
plötzlich wieder nahe. Daraus schloß ich, daß das Geräusch
von einem Vogel, wahrscheinlich von einer Eule, stamme.
Aber die Araber wollen nicht an eine so materialistische Lö-
snng des Räthsels glauben.
Die Botanik der TiH, namentlich in einer dürren
Zeit, wie wir sie vor uns hatten, ist eine sehr beschränkte.
Das Klima ist so trocken, daß ich nicht einmal Moose und
Flechten entdeckte, ausgenommen bei Nakhl, wo ich eine Art
Renthierflechte fand. Sie wächst nur an der nördlichen Seite
der Hügel.
Die Stelle Hiob 30, 4: „Die da Malven ausrauften
um die Büsche" *) scheint fälschlich auf die Seemalve (Atri-
plex halimus) angewandt worden zu fein. In Nordafrika
und im Lande östlich von Bir Erba kommt eine kleine Malve
vor, die gegessen wird. Diese wächst unfehlbar da, wo ein
arabisches Dorf gestanden hat, oder in der Nachbarschaft
einer alten Stadt. Sie hat eine fleischfarbene kleine Blüthe
und übersteigt selten sieben oder acht Zoll Höhe.
In den Höhlen bei Ain Muweileh krystallisirt viel
Salz an der Oberfläche der Kalksteine aus. Obgleich un-
angenehm im Geschmack, wird es doch von den Arabern ge-
gesseu.
In Petra kratzen die Eingeborenen das Innere der Höh-
len aus. Die Bruchstücke des Sandsteins werden zermalmt
und ausgekocht, und ein Salpeter, rein genug, um Schieß-
Pulver daraus zu machen, wird so gewonnen. Den Schwefel
findet man am Lisan und an den Usern des Todten Meeres.
Der obige Bericht enthält natürlich nur eine Skizze un-
serer Arbeit. Er wird aber, glaube ich, einen Begriff von
*) Luther übersetzt „Nesseln". Anm. d. Uebers.
Worsaae: Die bildlichen Darstellungen auf den Goldbracteaten.
347
dem Lande geben, das wir zu erforschen hatten, und von den
Schwierigkeiten, denen wir begegneten.
Zum Schlüsse muß ich hier meinen besten Dank der
Universität Cambridge abstatten, welche mich in der Durch-
sorschung dieser bisher so wenig bekannten und so wichtigen
Gegend unterstützte. Es ist Palmer's und meine Absicht,
sobald als möglich gemeinschaftlich einen ausführlichen und
systematischen Bericht unserer Forschungen zu veröffentlichen.
Die bildlichen Darstellungen auf den Goldbracteaten.
Erklärt von Professor Worsaae. Mitgetheilt von I. Mestorf.
Wir wußten zwar längst aus den isländischen Auszeich-
nungen, daß die alten Nordländer es liebten, ihre Wohnun-
gen mit geschnitzten und gemalten Bildern aus ihrer Götter-
und Heldensage zu schmücken, doch ist erst seit wenigen Jahren
bekannt geworden, daß sich von diesen Bildern einige bis
auf den heutigen Tag erhalten haben. Von. nordischen For-
schern wurde nämlich die überraschende Entdeckung gemacht,
daß in manchen bildlichen Figuren an Runensteinen, Kir-
chenthüren, Möbeln, Gerätheu, Waffen und Schmucksachen
bekannte Gestalten der germanischen Heldensage uns entgegen-
treten, uud zwar sind es vornehmlich die vielbesungenen Hel-
den aus dem Geschlechte der Wölsungen, die beliebten Stoff
zu solchen Bildwerken lieferten. In Norwegen finden wir
z. B. an geschnitzten Kirchenthüren und Kirchenstühlen (so-
genannten Brautstühlen) die Sage von Sigurd Fasne-
tödter, König Gnnnar's Brautfahrt zu Brynhilde
und König Guunar in der Schlangenhöhle bildlich
dargestellt. In Schweden entdeckte Professor Karl Säve
in den eingeritzten Bildern zweier prächtigen Runensteine
gleichfalls eine Darstellung des Liedes von Sigurd Fafue-
tödter, und auf dasselbe Lied habe ich die Figuren auf dem
Steine zu Fahrenstedt in Angeln (Schleswig) zurückgeführt*).
Von diesen Bildern reichen die jüngsten norwegischen Scul-
pturen mindestens ins vierzehnte Jahrhundert zurück, die
schwedischen bis 1000 bis 1050.
Nun aber hat Herr Etatsrath Worsaae neuerdings
gezeigt, daß schon um 400 bis 500 Jahre früher an gol-
denem Schmuck (Bracteaten) derartige Bilder vorkommen
(vergl. Forestillingerne paa Gnldbracteaterne af I. I. A.
Worsaae. Kjöbenhavn 1870 mit 10 lithographirten Ta-
seln). Es gehörte Muth dazu, die grotesken, fratzenhaften
Gestalten der Bracteatenbilder auf die stattlichen Helden zu
beziehen, deren Körperschönheit und Ebenmaß der Glieder
Sage und Sang nicht genug zu rühmen wissen, und Herr
Worsaae hat in der That mehrere Jahre mit seiner Ent-
deckung zurückgehalten. War er auch, nachdem er die nor-
wegischen Holzscnlptnren im Original studirt, von der Zu-
lässigkeit seiner Deutung der Bracteatenfiguren mehr und
mehr überzeugt worden, so waren doch damit nicht alle Be-
') Siegfricdbildcr, beschrieben und erklärt von Karl Säve,
aus dem Schwedischen übersetzt und mit Nachträgen versehen von I.
Mestorf. Hamburg 1870. Bei Otto Meißner. Die Nachträge,
behandeln die norwegischen Scnlpturen und den Schleswiger Stein,
uud weisen auf ähnliche süddeutsche Bildwerke hin. — Die, Abbil-
dung des Schleswiger Steines ist nach einer im Jahre 1836 ent-
worfenen Zeichnung wiedergegeben. Erst im vorigen Jahre hatte ich
Gelegenheit, das Denkmal selbst in Augenschein zu nehmen, und fand
nicht nur die Figureu cormter und besser erhalten als die Zeichnuug
vermuthen läßt, sondern in dem vierten Felde — was von dem
Zeichner nnbegreiflicherweise übersehen ist — anch noch einen Baum
(Eiche). Im zweiten Felde läßt sich kein Reiter entdecken, wohl
aber ein Pferd mit einer Bürde auf dem Rücken. Für die Erklä-
rnng des Monumentes ist diese Berichtigung nnd Bereicheruug der
Figureu von Wichtigkeit.
denken gehoben, indem ihm einestheils der Sprung vom
dreizehnten und zwölften ins achte und siebente Jahrhundert
zu gewagt erschien, anderntheils die allgemeine Kenntniß der
Eddalieder außerhalb Norwegen und Island in so früher
Zeit weder durch literarische noch andere Denkmäler erwiesen
war. Als indessen mit den von Professor Säve entdeckten
und beschriebenen Sigurdbildern in Schweden ein loca-
les und chronologisches Mittelglied gefunden war, zögerte auch
Worsaae nicht länger, die Resultate seiner Studien der Gold-
bracteaten vorzulegen, indem er geltend machte, daß ein Sa-
genstoss, den der Künstler zum Vorwurf eines Bildes machen
durfte, in der gewissen Voraussetzung, daß es von jedem
Beschauer ohne weitere Erläuterungen verstanden werde, keine
Novität im Lande sein konnte, sondern ein Blatt sein mußte
von einem Baume, dessen Aeste über den ganzen Norden
zweigten, der seit Jahrhunderten im Herzen des Volkes wur-
zelte und auch nach Jahrhunderten noch immer frisches Grün
und neue Blüthen trieb.
Seitdem die Hypothese, daß die heutige Bevölkerung der
skandinavischen Halbinsel von Norden her ins Land gekom-
men, hinfällig geworden, dürfen wir ohne Furcht, in neue
Jrrthümer zu fallen, annehmen, daß die Einwanderung
vom Süden nach Norden sich bewegte, und daß mit
dem Volke auch der angeerbte Sagen- nnd Mythenschatz von
Süden nach Norden zog. Es läßt sich demnach mit Sicher-
heit annehmen, daß die Kenntniß der in der Edda bewahr-
ten Sagen in den altdänischen Landen älter ist, als in den
nördlichen Nachbarländern. Weist doch die Edda selbst aus
deutsche Quellen zurück! Und wenngleich die Lieder und
Erzählungen, bevor sie (d. h. ein Theil derselben) auf Js-
land gesammelt und niedergeschrieben wurden, manche Um-
dichtnng und Neugestaltung erfahren hatten, so waren doch
die Grundzüge dieselben geblieben.
Obwohl sonach die von Worsaae versuchte Deutung der
Bracteatenbilder eine durchaus berechtigte ist, läßt sich doch
nicht leugnen, daß dieselbe dem unbefangenen Ange anfangs
äußerst kühn, bisweilen sogar erkünstelt scheint; allein eine
von seinem Gesichtspunkte und nach seiner Anleitung unter-
nommene Prüfung der vorhandenen Abbildungen von Gold-
bracteaten*) überzeugt völlig von der Richtigkeit seiner Er-
klärungen, und man dürfte mir darin beistimmen, daß der
Einblick in das künstlerische Schaffen jener fernen Zeit, der
uns hier eröffnet wird, für Kunsthistoriker nnd Sagenforscher
von eminenter Bedeutung ist, und daß wir Herrn Professor
Worfaae für diesen Hinweis zu Dank verpflichtet sind.
Bevor wir die bildlichen Figuren näher besprechen, sei
ein Wort über das Alter, die örtliche Verbreitung
und sachliche Bedeutung der Bracteaten eingeschaltet.
Die ältesten, meistens von Gold, fallen in die Solidnsperiode
") Vergl. Atlas f. nord. Oldkyndigh., Stephens:^ Old northern
runic mouumeuts, Worsaae a. a. O. Montelins: Frs.n jerimlderen.
44*
1*9*'
348
Worsaae: Die bildlichen Darstellungen auf den Goldbracteateu.
(Hildebrand) oder das mittlere Eisenalter (Engelhardt) 450
bis 700 n. Chr. Sie sind von dünnem Goldblech, nur
aus einer Seite geprägt und von 1 bis 2 Zoll im Durch-
messer. Die 3 bis 4 Zoll messenden sind als Seltenheiten
zu betrachten, uud auch bei diesen mißt das eigentliche Bild
nicht über l1^ Zoll. Man hat Bracteaten in verschiedenen
Ländern Europas gefunden und ihnen deshalb sowohl als
aus sprachlichen Gründen (mit Bezug auf die Runenumschris-
teu) ihren nordischen Ursprung abgesprochen. Die Brac-
teatenrnnen gehören der altern Runenschrift an, die auch
an anderen Schmucksachen, Waffen :c. und an einigen Rn-
nensteinen vorkommt. Professor Rygh hat sie wiederholt
in norwegischen Gräbern des ältern Eisenalters an der in-
nern Fläche der Grabsteine gesunden. Professor StepH ens
erklärt alle außerhalb Skandinaviens gefundenen Bracteaten
für „Wanderer"; Worsaae dagegen räumt ein, daß Nord-
deutschland möglicherweise Theil an ihnen habe; doch lehrt
er uns, daß in skandinavischer Erde neunmal so
viele gefunden worden sind, als in allen anderen
Ländern Europas zusammengenommen, in Däne-
mark allein 170 Stück. Von den altdänischen Landen brei-
ten sie sich, wiewohl dünner gesäet, nach Norden und Süden
aus. Ursprünglich Nachbildungen römischer Kaisermünzen,
haben sie gleichwohl, wie sich schon aus der großen Gewicht-
differenz schließen läßt, nie als Münzen cursirt, sondern
dienten zu Fest- und Ehrengaben und wurden, wie auch die
Oese zum Durchziehen eines Bandes oder einer Kette an-
zeigt, einzeln oder an einander gereiht um den Hals ge-
tragen.
Der Typus der älteren Exemplare erinnert an die Vor-
bilder. Als nach dem Verfalle des weströmischen Reiches
der römische Einfluß auch auf deu Geschmack und die Kunst-
bestrebnngen der germauischeu Völker aufhörte und diese be-
gannen, ihre Vorbilder aus heimischem Stoff zu wählen,
da sahen wir, wie sich in der Kunstgeschichte ähnliche Bei-
spiele nachweisen lassen, daß dieselben Zeichner, welche im
linearen Ornamentstil viel Geschmack und Geschick bekundet
hatten, in der Nachbildung organischer Geschöpfe sich so uu-
beholfen zeigten, daß ihre Leistungen uns an die ersten künst-
krischen Versuche auf der Schiefertafel vou Kindeshand er-
innern.
Dieser Standpunkt des Künstlers darf bei der Auffassung
der Bracteatensiguren eben so wenig außer Acht gelassen
werden, wie die räumliche
Beschränkung der Bildsläche.
Stand dem Künstler eine
Steinplatte von 16 Fuß Länge
(Schweden) oder ein 6 Fuß
hohes Portal (Norwegen) zur
Verfügung, da konnte er, den
Meißel in der Hand, das ganze
Lied von Sigurd Fafnetödter,
vom ersten bis zum letzten Verse
singen. Er konnte darstellen,
wie Regin der Schmied dem
jungen Helden das Schwert
schmiedet, wie Sigurd dasselbe
prüft und nicht stark genug be-
findet, wie er, nachdem der
Schmied ein besseres Schwert geliefert, mit diesem den Drachen
ersticht; — wie er unter einem Baume sitzend auf Regiu's
Geheiß das Herz Fafne's über dem Feuer brät, sich den Finger
verbrennt und denselben in den Mund steckt und darauf die
Stimmen der Vögel versteht, die über ihm in den Zweigen
sitzen; — wie er ihren Rath befolgend Regin ersticht, nnd
endlich das mit dem Schatze beladene Roß, auf dem er da-
Fig. I.
vonreitet zu weiteren Abenteuern. Auf einer Bildfläche von
3/4 bis 1 Va Zoll aber war nur Raum für die Hauptperson,
der zu besserm Verstäuduiß einige charakteristische Nebendinge,
wie Drache, Roß, Vogel, Schmiedewerkzeuge u. s. w., beige-
fügt wurden. Hierauf beruft sich auch Worsaae, dem wir
in der nachfolgenden kurzen Besprechung der verschiedenen
Typen folgen.
Er erinnert daran, daß vor ihm fchon Thomseu eiuen
Versuch gemacht habe, eine häufig vorkommende Bracteaten-
fignr: menschlicher Kops oberhalb eines Pferdes und daneben
ein oder zwei Vögel, — auf Odin mit seinem Roß Sleipnir
und den beiden Raben zu beziehen. Worsaae giebt zu, daß
einzelne Bracteaten auf Göttergestalten hinweisen, die vielen
Varianten des von Thomseu aus Odin bezogenen Typus
aber, der häufig in einen Kampf mit Ungeheuern übergeht,
machen ihm eine Erklärung durch Sigurd's Drachen-
kämpf viel wahrscheinlicher.
Eine Neuordnung der schönen Kopenhagens Bracteaten-
sammlnng und ein gründliches Studium aller ihm zu Ge-
böte stehenden Abgüsse und Abbildungen von Goldblechmün-
zen überzeugten Professor Worsaae bald, daß dieselben nach
den verschiedenen Typen gesondert werden müssen, uud ferner,
daß die an den verschiedensten Fundorten wiederkehrenden
gleichartigen Figuren keine willkürlichen Schöpfungen des
Stempelschneiders feien, sondern jedem einzelnen Typus trotz
der vielen Variationen ein bestimmtes Motiv zn Grunde
liegen müsse; — und endlich, daß eine nicht unbeträchtliche
Anzahl einzelne Momente der norwegischen und schwedischen
Sigurdbilder zur Anschauung bringe. Um dies seinen Le-
sern zu verdeutlichen, giebt er Abbildungen von 64Bractea-
ten, und verweist als Ausgangspunkt auf eiuen Typus, von
dem nebenstehende Figur 1 eine Probe giebt. Wir sehen
auf demselben einen behelmten Mann in sitzender oder
kniender Stellung (Sigurd), welcher seinen (gebrannten)
Finger in den Mund steckt, ein Pferd (Grane) und
einen Vogel (der ihm die Warnung ins Ohr flüstert).
Die Variationen dieses Typus, auf welchen Vogel und
Roß oft viel deutlicher sind, zeigen bisweilen außer den ge-
nannten Figuren noch einen Drachen, bisweilen nur
einen behelmten und mit Armringen geschmückten
Mann, der einen Finger in den Mund steckt (z. B.
auf zwei Exemplaren des Dannenberger Fundes ^Hanno-
ver] und zwei in Fühnen gefundenen).
Zu dieser Gruppe gehört
"'8- auch ein im Amte Hadersleben
(Schleswig) gefundener Brac-
teat, Figur 2, der außer dem
behelmten Manne, Pferd und
Vogel, einen Hirsch und
zwei um einander gewundene
Schlangen im Gepräge führt.
Worsaae schwankt, ob er hier
einen Anklang an die (auch
von Jordan, Sigfridsage, be-
nutzte) Ueberliesernng denken
soll, nach welcher das Knäb-
lein Siegfried oder Sigurd von
einer Hindin genährt wird, oder
an die Sage von Sigurd's
Schwiegersohn Ragnar Lodbrock, welcher Thora Borgarhjort
(Burghindin) von einem Lindwurm erlöst. Die gewöhn-
lichen Nebenfiguren, Vogel und Pferd (?), und die Bewe-
gung der linken Hand nach dem Munde scheinen uns für
die erstgenannte Deutung zu sprechen.
Ein zweiter Typus (Fig. 3) zeigt einen geHarnisch-
ten Ritter im Kampfe mit einem (oder zwei?) Dra-
Worsaae: Die bildlichen Darstellungen auf den Goldbracteaten.
349
chen.— Eine dritte Gruppe hat nur ein (belastetes?) Pferd,
in welchem Worsaae das Roß Grane mit dem Schatze er-
kennen möchte, indem er darauf aufmerksam macht, daß auch
auf Runensteinen nicht selten ein mit Schlangen umgebenes
Pferd vorkommt. — Eine vierte Gruppe zeigt einen beHelm-
ten Mann zn Roß, der allerdings in keiner Beziehung zur
Sage stände, wäre
sich um ihr Lieblingskind, und sie sandte ihre Söhne
aus, den Tod der Schwester an Jörmnnrek zu rächen.
Eine andere Gruppe führt nach Worsaae's Deutung
auf einen ältern Theil der Sage zurück, nach welchem Odin
eine Walküre mit einem Apfel zu König Rerir sendet. Eine
andere erinnert daran, wie Odin in Wölsnng's Halle ein
Fig. 3.
nicht dieselbe Figur
bisweilen von einem
oder zwei Vögeln be-
gleitet, und auf ei-
nein in Mecklenburg
gefundeneu Exem-
plar, Figur 4, von
Schmiedewerk-
zeugen, die aufRe-
gin den Schmied hin-
weisen würden.
Es darf nicht unbeachtet bleiben, daß sich dieser vierten
Gruppe noch eine andere anschließt, welche sich nur dadurch
von ihr unterscheidet, daß das Reitthier statt der Ohren
Hörner hat, die aber bisweilen so seltsam angesetzt sind,
daß man sie eher für einen Schmuck des Pferdes halten
möchte, weshalb diese Gruppe, so lange die Untersuchung
nicht zu einem andern Resultat geführt, als eine Varietät
des Sigurdtypus betrachtet werden darf.
Norwegische und isländische Holzseulptureu bezeugeu übri-
gens, daß nicht dem Sigurd allein die Ehre ward im Bilde
dargestellt zu werden. Eine höchst interessante isländische
Kirchenthür behandelt ein Abenteuer Dietrich's vou
Bern, und die oben erwähnten norwegischen Schnitzwerke
veranschaulichen Gnnnar's und Signrd's Ritt durch die Wa-
berlohe zu Bryuhilde und König Guunar im Wurmgarten.
Dies berechtigt uns auch, auf den allerdings viel älteren
Bracteaten, welche nicht auf Sigurd hinweisen. Anklänge
anderer Sagen zu finden, selbst da, wo keine anderweitig er-
haltenen ausführlicheren Bilder eine solche Deutung nnter-
stützen und bestätigen. Auf einem Exemplare des Danneu-
berger Bracteatenfnndes (Fig. 5), dem zwei norwegische zu
vergleichen sind, möchte Professor Worsaae den Gunnar
im Wurmgarten erkennen. Für die Harfe, die er der
Sage nach „mit den Zweigen der Füße schlug", und die
man auf den norwegischen Scnlpturen deutlich erkennt, scheint
hier der Raum gemangelt zu haben.
Ein in Uppland gefundener Doppelbraeteat zeigt auf der
einen Seite ein weibliches Brustbild mit seltsamer
Kopfbedeckung und einen Schwanenkopf an dem be-
fieberten Halse, auf der andern zwei Männer, von
welchen der eine ein Pferd am Halfter führt, wel-
ches der andere reitet und mit einem Stecken vor-
wärts treibt; ein anderer am Trollhätta gefundener Dop-
pelbracteat zeigt eine Frauengestalt mit langem Haar,
nur mit einem kurzen Röckchen bekleidet, die in der rech-
ten Haud einen unbekannten Gegenstand hält, die linke in
das Maul eines Pferdes legt, und auf der Rückseite schlau-
genartiges Gewürm. Worsaae denkt bei diesen gewiß nicht
absichtlos dargestellten Figuren an die nordische oder nur im
Norden bewahrte Sage von Sigurd's Tochter Swau-
Hilde, die, ein Opfer böswilliger Verleumdung, von ihrem
Gemahl, König Jörmuurek, verurtheilt ward, von den Rossen
zerstampft zu werden. Geblendet von dem Glänze ihrer
Augen — ein Erbtheil ihres Vaters — wagten die edlen
Thiere nicht, sie zu treten, erst als ihr ein Sack über den
Kopf geworfen und ihr hehres Antlitz verhüllt war, ge-
horchten sie, und da ließ Swanhilde ihr junges Leben. Als
der Königin Gudrun diese Kunde gebracht ward, härmte sie
Fig. 4
Fig. 5.
Schwert in den „Kin-
derstamm" stieß und
es dem zu eigen ver-
hieß, der es heraus-
zöge, was von allen
anwesenden Müu-
nern nur Sigmund,
der junge Wölsung,
vermochte. Eine an-
dere erinnert an ein
späteres Abenteuer
Sigmund's, als er
mit seinem Sohne Sinfiötle in die Gewalt feines Schwa-
gers gefallen ist und von diesem vernrtheilt wird, in einem
Steingrabe lebendig begraben zu werden. Ehe der Hügel
geschlossen wird, wirft seine Schwester eine Garbe Stroh
mit einem Stück Speck hinein. In dem Stroh aber finden
die beiden Helden Sigmund's Schwert, mit dem sie einen
gewaltigen Steinblock durchsägen und sich befreien u. s. w.
Der Verfasser legt uns, wie wir sehen, gleichsam ein
goldenes Bilderbuch zur ganzen Wölsuugasage vor; allein
er fühlt, daß er hier auf schlüpferigen Wegen wandelt, da
für diese subjeetive Auffassung keine Belege in jüngeren Bild-
werken vorliegen, auf die er sich, wie bei den Sigurdbildern,
berufen könnte. Er verlangt auch keinen Glauben an die
Unfehlbarkeit seiner Deutung, sondern begnügt sich, die Blicke
auf diese merkwürdigen Bilder hingelenkt zu haben. Denkt
man sich indessen hinein in den Kunststil jener Zeit und
wird die Sage in uns lebendig, so ist nicht wohl einzusehen,
warum nicht der eine Abschnitt so gut wie der andere zu
bildlichen Darstellungen inspiriren konnte, und sonach würde
die Bestätigung der vou Worsaae gewagten Deutung auf den
Ergebnissen weiterer Untersuchungen beruhen, die gewiß nicht
ausbleiben werden. Zu einer solchen mit wissenschaftlicher
Gründlichkeit und Strenge vollzogenen Untersuchung bedarf
es jedoch nicht nur einer Bereicherung des Materials, sou-
deru vor Allem einer kritischen Bearbeitung des vorhandenen,
welche, wie auch Worsaae verlangt, den verschiedenen Typus
der Figuren, Fundort und Alter der einzelnen Exemplare
scharf ins Auge faßt.
Glaubte Worsaae von Thomsen's Erklärung eines oft
vorkommenden Bracteatentypns durch Odin mit den Raben
absehen zu müssen, so behauptet er damit nicht, daß die Göt-
ter von den bildlichen Darstellungen der Alten ausgeschlossen
waren. Die Sagas erzählen (aus späterer Zeit freilich),
daß Baldur, Heimdal, Loke und besonders Thor häufig im
Bilde verkörpert wurden, und auf gotländifchen Runen-
steinen sind unzweifelhafte Reminisceuzeu aus dem
Walhallacnltus entdeckt worden. Worsaae ist auch
geneigt, auf einem in mehreren Exemplaren vorhandenen
Goldbracteaten Gott Frey mit seinem Sonneneber zu erkeu-
neu, auf einem andern vielleicht Odin mit Mime's Haupt;
hauptsächlich aber ist es ein häufig wiederkehrender Typus,
der nach seinerUeberzeugung auf Thor hinweist. Es ward
bereits erwähnt, daß der behelmte Krieger bisweilen ein ge-
hörntes Thier reitet, welches freilich oft wie ein Pferd aus-
sieht und wie dieses Sattelgurt, vielleicht auch Sattel trägt.
Worsaae sondert diese Bilder in zwei Classen, je nachdem
das Thier außer den Hörnern auch einen Bart hat oder
nicht, und diese Unterscheidung scheint um so wichtiger, da
350 Aus allen
der Typus mit dem Barte am häusigsten auf solchen Exem-
plaren vorkommt, die sich durch ihre Größe und Schönheit
vor anderen auszeichnen, was allerdings die Vermuthung
nahe legt, daß hier das Bildniß eines höhern Wesens zu
suchen ist und zwar dasjenige einer Gottheit, welcher der
Bock geheiligt und deren Cultus weit verbreitet war, d.i.
Thor.
Der Thorcultus ist im Norden älter als der ausge-
bildete Walhallacultus. Erst in einer jpätern Zeit, als
Odin, dem hehren Walvater und allwelsen Himmelskönig,
die höchste Ehre erwiesen wurde, sank Thor zum Riesen-
bekämpfer und Gott der Bauern und Leibeigenen herab, wie-
wohl ihm, als adoptirte höchste Gottheit einer ältern
Landesbevölkerung, alle schuldige Ehrfurcht gezollt ward
und im. Volke sein Ansehen auch ungeschmälert blieb. Lie-
ßen die Götter es sich gefallen, die Dauer ihrer Herrschaft
nach der Art weltlicher Regenten begrenzt zu sehen, so möchte
ich Thor als Obergott der Ganten zur Zeit des ältern
Eisenalters, Odin als Obergott der Suionen zur Zeit des
jUngern Eisenalters hinstellen. Danach wäre es denn auch
erklärlich, daß die größten und prächtigsten Bracteaten nicht
auf Odin, sondern auf Thor hinweisen, dessen Majestät in
den dänischen Landen derzeit noch ungeschwächt war; der
ausgebildete Odiucultus scheint sich nämlich von den Mälar-
Provinzen aus über den skandinavischen Norden verbreitet
zu haben.
Nach der eddischen Götterlehre reitet aber Thor nicht
ans einem Bock, sondern er fährt mit zwei Böcken, und
darum darf es nicht übersehen werden, daß auf den Brac-
Erdtheilen.
teaten, welche Worsaae auf Thor bezieht, nicht, wie bei den
anderen Reiterfiguren, die Hand des Reiters auf dem Halse
des Thieres liegt. Zu beachten ist auch, daß auf einem der
prachtvollsten und größten aller bisher gefundenen Exemplare
zwischen den reichen Ornamenten ein Kreis von Menschen-
köpfen, ein zweiter Kreis von Böcken erkannt wird; bei einem
andern sind keilförmig gruppirte Menfchenköpfe, und einmal
kommt ein einzelner Menschenkopf unterhalb der Oese vor.
Worsaae hält diese Figuren keineswegs für zufällig, sondern
gedenkt dabei der Menschen- und Thieropfer, welche dem
Gotte zu bestimmten Zeiten dargebracht wurden.
Wir haben bisher nur der bildlichen Figuren auf den
Bracteaten gedacht und zwei wichtige Nebendinge: die Rn-
nennmschristen und die stets wiederkehrenden mystischen
Zeichen, ganz unberücksichtigt gelassen. Eine Besprechung
der letztgenannten, des Hakenkreuzes und Triskelos, würde
hier zu weit führen. Die Entzifferung der Umschriften, welche
von verschiedenen Runologen versucht worden ist, giebt über
die bildlichen Figuren keinen Ausschluß. Sie bestehen theils
in der mehr oder minder vollständigen Runenreihe, theils in
kurzen Runensprüchen. Wie wenig zuverlässig die Deutung
derselben bis jetzt ist, zeigt ein Vergleich der ganz verschie-
denen Lesarten Dietrich's und Stephen's. Erfreulich ist es,
daß auch der sprachgelehrte Runologe Professor Bugge in
Christiania in dem lausenden Jahrgange der dänischen „Aar-
böger" eine Abhandlung über die Inschriften der Goldbrac-
teaten veröffentlichen wird, wenngleich, nach Worsaae's An-
deutung, auch diese nicht viel Anhalt zum Verstäudniß der
bildlichen Figuren iu Aussicht stellt.
Aus allen
Wilde Kinder weißer Leute in Australien.
In der Industrieschule zu Ballarat in Victoria befinden
sich zwei junge Mädchen, welche eine interessante psychologische
Erscheinung bilden. In der dort erscheinenden Zeitung „Age"
giebt ein Arzt, welcher genaue Beobachtungen angestellt hat,
einen ausführlichen Bericht, aus welchem wir das Wesentliche
mittheilen wollen.
Im Jahr 1867 wohnte bei Eldorado, im Ackerbaubezirke
von Tarawingi, der Farmer James Gordon; er stammt, wie
auch seine Frau, aus Nordirland und ist Presbyterianer. Beide
waren körperlich und geistig in vollkommen normalem Zustande;
ein Gleiches ist der Fall mit dreien ihrer Kinder, zwei Knaben
und einem Mädchen. Ganz anders verhält es sich mit ihren
beiden anderen ältesten Kindern: Mary Jane und Anne. Sie
sind genau so behandelt worden wie ihre übrigen Geschwister,
aber ihre Aeltern haben aus dem Munde dieser beiden Kinder
niemals articulirte, verständliche Laute gehört. Beide
sprachen mit einander in einem Gedibber, durch welches sie sich
unter sich verständlich machten, aber bis zu eigentlichen Wörtern
brachten sie es nicht. Sie waren wild und unbändig und wären
ohne die strenge Aufsicht ihres Vaters gern fort und in den Busch
gelausen. Im Jahr 1867 stellte sich bei dem Vater Geistes-
störung ein und man schaffte ihn nach Beechworth in die Irren-
anstatt. Von da an wurden die Mädchen noch unbändiger, lie-
fen häufig vom Haufe fort, blieben längere Zeit im Busch und
stillten ihren Hunger mit dem, was sie eben fanden. Ihr gan-
zes Benehmen gemahnte an das wilder Thiere und sie wurden
mehr und mehr menfchenscheu. Sobald sich Jemand ihnen
näherte, liefen sie fort. Mit anderen Kindern vermieden sie
Erdtheilen.
jeden Verkehr, sie felber jedoch waren einander anhänglich und
unzertrennlich. Was die eine bekam, theilte sie mit der andern.
Das ging so fort bis zum Juli 1870. Die Mutter wußte
nichts mehr mit ihnen anzufangen und bat bei der Polizei mu
Aufnahme in eine sogenannte Industrieschule. Am 15. Juli
wurden sie von Herrn A. C. Wells, Parlamentsmitglied, vor
die Behörde in Eldorado gebracht als verwarlosete Kinder; die
Mutter machte dann folgende Aussagen: Das älteste ist nun
11, das andere 9 Jahr alt; beide sind völlig wild; sie haben
keine verständliche Sprache; sie laufen, wenn es irgend angeht,
in den Busch. Dort hat vor vierzehn Tagen der Eonstabel
Shoebridge sie eingefangen. — Dieser berichtet feinerfeits: Als
ich nach ihnen suchte, erfuhr ich, daß sie in einer Schäferhütte
gewesen seien und in Abwesenheit des Schäfers Brot und Ham-
melfleifch weggenommen hätten. Als ich sie fand, waren sie
wirklich wild; sie hatten sich schon einige Tage und Nächte im
Busch umhergetrieben und befanden sich in einer jämmerlichen
Lage. Sie benahmen sich wie wilde Eingeborene, aber eigent-
lich viel schlimmer; sie wollten immer wieder fortlaufen. Sie
kletterten an den Bäumen hinauf wie wilde Katzen, oder krochen
in Löcher, wie das Opossum thut; kurzum, sie kamen mir wie
Thiere vor. Das Einsangen kostete Mühe und gelang erst,
nachdem zwei kräftige Burschen sie verfolgt und niedergerannt
hatten, als wären sie auf der Kängeruhjagd. Ich fand ihr
Haar ganz wirr und verfilzt, ihre Haut höchst .unrein und ihre
zerrissene Kleidung war wie Lumpen.
Am 19. Juli brachte man die „wilden" weißen Mädchen
nach Ballarat, mußte aber unterwegs wohl aufpassen, denn sie
versuchten mehrinals zu entfliehen, und das älteste wollte auch
dann noch fortlaufen, als es sich bereits in der Anstalt befand.
Aus allen
Als beide in den großen Saal gebracht wurden, blickten sie for-
schend umher, offenbar um ausfindig zu machen, ob und wo sie
entrinnen könnten. Dann sprang das jüngste auf und verkroch
sich hinter einem Stuhle, während das ältere sich aus den Herd
setzte und einen Augenblick trotzig umherblickte. Alle Versuche,
beide zum Sprechen oder zum Aufblicken zu bewegen, schlugen
fehl; sie liefen allemal fort, fobald Jemand ihnen näher trat.
Sie rührten keine Nahrung an, so lange Jemand im Saale
war; sobald sie sich allein befanden, nahmen sie die Speise und
krochen unter einen Tisch, um sie dort gierig zu verzehren; das
Fleisch zerrissen sie mit Zähnen und Händen.
Das dauerte so eine ganze Reihe von Wochen sort. Die
Mädchen hatten keinen Begriff von Sauberkeit und es hielt
fchwer, sie an einige Reinlichkeit zu gewöhnen. Alles, was sie
sahen, erregte ihre Neugier oder flößte ihnen Furcht ein. All-
mälig gewöhnten sie sich doch an ihre Umgebung und die freund-
liche Behandlung wirkte auf sie, aber fie machten auch nicht den
geringsten Versuch, articulirt zu sprechen. Wenn sie allein
waren, hörte man, daß sie in ihrem Gedibber sich mit einander
unterhielten; sie schwiegen jedoch allemal, wenn Jemand ein-
trat, und nichts war vermögend, sie zur Aeußerung auch nur
eines Tons oder einer Sylbe zu bewegen. Die Mutter sagte
aus, daß das ihr, trotz aller Bemühungen, eben so wenig ge-
lungen sei.
Der Arzt der Anstalt, Dr. Bruce, untersuchte ihre Zungen-
bildung, die er völlig normal fand; er konnte nicht ausfindig
machen, weshalb die Mädchen nicht ebenso sprachen wie andere
Kinder. Als man sie nach einiger Zeit in die Schule zu an-
deren Kindern gebracht hatte, nahmen die Dinge allmälig eine
Wendung zum Bessern; vor den Schulkindern hatten sie keine
Furcht, aber vor Fremden liefen sie immer noch fort, verkrochen
sich und kamen nicht eher zum Vorschein, als bis der Unbe-
kannte fortgegangen war. Nach und nach verschwand die Furcht,
aber die Neugier blieb; nach Verlauf von reichlich anderthalb
Monaten waren sie schon so zahm geworden, daß sie mit den
anderen Kindern spielten und ihnen auch bei dem oder jenem
halsen. Das Vermögen der Nachahmung zeigte sich bei ihnen
stark entwickelt, aber von Originalität, ursprünglichen Antrieben
war so gut wie nichts zu bemerken. Sie versuchten zu thun,
was sie Andere thun sahen, und das gelang ihnen durchgängig
sofort. Als fie dann immer zahmer wurden, zeigte sich, daß sie
freundliche Zuneigung zu jenen gewannen, welche sie gütig be-
handelten; sie wurden der Aufseherin, Frau Wilson, und der
Lehrerin, Johnstone, sehr anhänglich, — aber von Sprechen
immer noch keine Spur! Das Wilde verschwand und ans Ent-
rinnen dachten sie offenbar nun nicht mehr; man ließ sie inner-
halb der Anstalt frei umhergehen. Am meisten schienen die
Vögel im Käfig und verschiedene Möbeln sie zu interessiren; an
denen konnten sie sich gar nicht satt sehen. Unarten begingen
sie nicht; mit der Hausglocke zu läuten war ihr größtes Ver-
gnügen; auch horchten sie theilnehmend, wenn aus dem Forte-
piano gespielt wurde. Jetzt brachte man ihnen auch das Abc
bei; Anne konnte alle Buchstaben hersagen bis auf das S; mit
dem können sie beide nicht fertig werden, auch kein Wort nach-
sprechen, in welchem ein S vorkommt. Im Sprechen macht die
jüngere Schwester mehr Fortschritte als die ältere, welche hin-
gegen gern Buchstaben schreibt.
Mary Jane, die älteste, ist ein hübsches, wohlgestaltetes
Kind, krästig gebauet und von guter Haltung, 4 Fuß 7 Zoll
hoch; die jüngere ist 4 Zoll kleiner, aber fleischiger. Bei beiden
ist das Gesicht regelmäßig, hat intelligente und einnehmende
Züge; die Stirn ist wohlgebildet, Nase und Mund sind propor-
tionirt; Hautfarbe ins Gelbliche spielend, aber die Röthe schim-
mert durch; Augen hellbraun. Die Mädchen sind gegen Unbe-
kannte noch immer scheu. Zu ihrer Lehrerin sagen sie gern:
„Ich thue lieben dich." Mittheilsam sind sie noch nicht; die
Stimme ist etwas schars, aber die Articulirung genau und deut-
lich. — (Dieser Bericht ist vom October 1870.)
rdtheilen. 351
Amerikanische Expedition für Tiefsee-Forschungen.
Bei der großen Wichtigkeit, welche Tiefsee-Forschungen in
wissenschaftlicher wie praktischer Beziehung haben, hat die Regie-
rung der Vereinigten Staaten beschlossen, unter der Leitung des
Directors der Küstenausnahme eine Dredging-Expedition aus-
zurüsten , welche so ziemlich die Meere um den ganzen amen-
konischen Kontinent herum in großen Zügen erforschen soll. Ein
eigener Dampfer ist zu diesem Zwecke gebaut und zur Versü-
gung des Grafen Pourtalös gestellt worden, der auf dem in
Rede stehenden Gebiete sich bereits rühmlich auszeichnete; mit
ihm zugleich wird auch Professor Agassiz thätig sein. Ende
August soll die Expedition in See gehen.
Folgendes ist der für die Expedition ausgestellte Plan. Der
Dampser verläßt Neuyork, kreuzt dann den Golfstrom bis zu den
Bermudas und wendet sich, wenn nöthig, noch weiter östlich.
Der Curs geht dann auf die Jnfel Trinidad, um hier nament-
lich die Tiefsee-Fauna der umgebenden Gewässer und deren Ver-
schiedenheit oder Identität mit der Tiessee-Fauna bei Florida
festzustellen. Die nächste Station wird San Paulo, Brasilien,
sein, um die östlich davon gelegene größte Tiefe des Atlantischen
Oceans zu untersuchen, die hier mindestens 5000 Faden beträgt.
Von San Paulo wendet sich der Dampfer, mit dem brasiliani-
schen Küstenstrom gehend, weiter nach Süden und macht Sta-
tionen in Buenos Ayres und der Magellansstraße. In einem
Zickzackcurfe segelt er auf die Falklandinseln, deren Umgebung
ein reiches Feld für Lothungen darbietet. In der Magellans-
straße soll mindestens ein Monat in der Sommerzeit jener Re-
gion verbracht werden. Dann kommen die chilenische Küste,
Juan Fernandez und Eallao an die Reihe; der Curs geht hier-
auf nach den Galapagos, ferner nach der mexikanischen Küste
zu, wahrscheinlich auf Mazatlan. Die Revillagigedo-Inseln
machen den Schluß; von dort geht der Dampfer nach San
Francisco, um von seiner Arbeit auszuruhen.
Die ganze Expedition wird voraussichtlich zehn Monate in
Anspruch nehmen. Wird sie so ausgeführt, wie projectirt, so
steht sie in ihrer Art fast einzig da. Die Gelehrten an Bord,
die Ausdehnung des Unternehmens, das nicht nur Tiefsee- und
Temperaturmessungen betrifft, sondern auch die Fauna, die che-
mische Zusammensetzung des Wassers u. s. w. in das Bereich
seiner Thätigkeit ziehen soll, werden neues Licht auf die Physika-
lischen Verhältnisse des Oceans werfen.
Douglas Forsyth
Das „Athenäum" vom 20. Mai meldet kurz: „Wir hören,
daß Eapitän Forfyth plötzlich gestorben ist. Er war eben da-
mit beschäftigt, ein neues Werk über Centralindien in die Presse
zu geben." Diese dürstige Notiz der genannten Zeitschrist giebt
weder Ort noch Datum an; auch ist Eentral-„Jndien" offen-
bar falfch; es soll gewiß Central-Asien gemeint sein.
Forsyth war im Juli 1870 als diplomatischer Agent des
indischen Vieekönigs, Lord Mayo, nach O st tu rk est an geschickt
worden, um in Kaschgar mit dem Ataligh Ghasi zu verhandeln,
um freundschaftliche politische und commercielle Verbindungen
mit demfelben anzuknüpfen und außerdem auch Kundschaft über
die Fortschritte der Russen an der Nordgrenze von Ostturkestan
einzuziehen. Wir haben darüber seiner Zeit Nachrichten gegeben
(„Globus" XVH, 268. XVIII, 303). Forsyth richtete in poli-
tischer Hinsicht nichts aus, weil der Ataligh Ghasi nicht in Kasch-
gar und auch nicht in Harkend war, sondern sich auf einem
Kriegszuge im Nordosten des Landes befand. Die Russen haben
erklärt, daß sie ihre Grenze gegen Ostturkestan nicht über das
Thianschangebirge hinausrücken und im Westen, gegen Afghani-
stan hin, nicht über den Oxus hinausgehen wollen. Forsyth
sollte nun dem Herrscher Ostturkestans eine Grenzlinie vorschla-
gen, über welche derselbe sich mit Rußland zu verständigen habe.
Der Ataligh hatte im Anfange des Jahres 1870 einen Gesand-
ten nach Indien zum Vicekönig geschickt und erklären lassen,
daß er einen möglichst lebhaften Handelsverkehr zwischen beiden
352 Aus allen
Ländern wünsche; aber Forsyth konnte es nicht zum Abschluß
eines Handelsvertrages bringen. — Wir wollen hier bemerken,
daß in amtlichen Documenten der indischen Regierung das ehe-
mals dem Kaiser von China unterworfene O stturkest a n immer
Kaschgaria genannt wird. Die unabhängigen Stämme West-
lich von China werden als Dsungaren aufgeführt.
Die Kohlenproduction Oesterreichs. Die Kohlenpro-
duction Oesterreichs, welche zwar von Jahr zu Jahr steigt, ge-
nügt für den gesteigerten Bedarf der Industrie und des Haus-
Haltes bei weitem nicht. So ist es auch begreiflich, daß die
Einfuhr Oesterreichs von Jahr zu Jahr zunimmt. Was die
Production im Jahre 1869 betrifft (für dieses Jahr liegen erst
die Nachweisungen vor), so betrug selbe in den im Neichsrathe
vertretenen Ländern an Steinkohlen 62,064,188 Wiener Centner
(im Jahre 1868 59,l)81,298 Wiener Centner), somit um 2,982,890
Wiener Centner mehr; an Braunkohlen 55,939,050 Wiener
Centner (im Jahre 1868 50,399,248 Wiener Centner), somit
um 5,539,802 Wiener Centner mehr. Die Mehrproduetion an
Kohlen beziffert sich somit auf 8,522,692 Wiener Centner, die
zwar nicht unbedeutend genannt werden muß im Verhältnis^
zur Steigerung des Verbrauchs, aber doch noch viel zu gering
erscheint. Von der Steinkohlenproduetion entsällt eine Menge
von 35,4 Millionen Centner aus Böhmen, auf Schlesien 14,7
Millionen Centner, auf Mähren 7,7 Millionen Centner; von
der Braunkohlenerzeugung auf Böhmen 30,3 Millionen Cent-
ner, auf Steiermark 15 Millionen Centner, auf Oberöfterreich
3,2 Millionen Centner u. f. w.
Jf: * *
— Die Puritaner, welche sich in der ersten Hälfte des
siebenzehnten Jahrhunderts in Massachusetts ansiedelten, diese
Pilgerväter und ihre Hexen und Quäker ermordenden Nachkam-
men, waren bekanntlich schauderhast verhärtete und grausame
Fanatiker. Sie werden deshalb und mit vollem Rechte sehr
streng beurtheilt. Nun erinnert aber E. Neill, amerikanischer
Consul in Dublin, in einem jüngst erschienenen Werk über „die
Kolonisation Nordamerikas durch die Engländer im siebenzehn-
ten Jahrhundert" daran, daß die frommen Bekenner der Hoch-
kirche, die Anglikaner, nicht um ein Haar weniger barbarisch
gewesen sind. Hier die Beweise aus Urkunden: Dem ersten
Gesetzbuche für Virginien zufolge wurde Todesstrafe verhängt
über Jeden, wer eine (sogenannte) Blasphemie äußerte über die
heilige Dreieinigkeit oder den König, oder wer zum dritten
Mal überführt worden war, daß er einen Fluch ausgesprochen.
Wer es an „gebührendem Respect" vor einem Geistlichen feh-
len ließ, wurde öffentlich ausgepeitscht und mußte an drei Sonn-
tagen hintereinander in der Kirche öffentlich um Verzeihung
bitten. Wer zum ersten Male Sonntags die Predigt nicht mit
anhörte und die Katechismusstunden schwänzte, bekam eine Woche
lang keine Lebensmittel geliefert; im Wiederholungsfalle wurde
er ausgepeitfcht, und beging er das gewaltige Verbrechen zum
dritten Male, dann erlitt er Todesstrafe. Wenn ein Auswan-
derer aus Europa angekommen war und sich weigerte, von einem
Geistlichen sich über sein Glaubensbekenntniß examiniren zu
lassen, dann wurde er, im Namen der christlichen Religion der
Liebe, tagtäglich einmal ausgepeitscht, und das wurde fortgesetzt,
bis er beichtete, was uud wie es der Geistliche verlangte. Eine
Waschfrau, die ein Stück Leinen nicht wieder ablieferte, wurde
ausgepeitscht. Dem Bäcker, welcher nichtvollwichtiges Brot
verkaufte, schnitt man die Ohren ab. Neill bemerkt: Man
Erdtheilen.
glaubte dem lieben Gott einen Dienst zu thun, wenn man den
Leuten Dogmen aufzwang, durch welche man ja auch tugend-
hafte Bürger machen zu können hoffte. Und das „Athenäum",
in welchem wir das Vorstehende finden, sagt ganz richtig: „Ge-
wöhnlich wird behauptet, die Opfer der Verfolgung, welche
England verließen, hätten in den Kolonien Gewissensfreiheit
gesucht; aber ganz im Gegentheil: sie wollten gar keine religiöse
Freiheit, sondern religiöse Tyrannei." In dieser Beziehung ha-
ben die verschiedenen „Kirchen" einander nichts vorzuwerfen.
— Die Lynchjustiz hat der falschen Philanthropie gegen-
über, die so häufig den ärgsten Verbrechern eine Pfeudohuma-
nitätsprämie giebt, während sie auf die Sicherheit der recht-
fchaffenen Leute keine Rücksicht nimmt, ihre gute Berechtigung.
Am 12. Mai 1871 wurde von einem „Mob" zu Helena in
Nebraska James Jamison, ein Raubmörder seines Handwerks,
kurz und bündig aus dem Gefängnisse geholt und ausgehängt.
Er hatte eingestandenermaßen schon drei Mordthaten mit kal-
tem Blute verübt, war aber frei von Strafe geblieben, aus dem
Gefängniß ausgebrochen k. Den vierten Mord beging er an
einem deutschen Waldarbeiter, Heinrich Locke, im vorigen Octo-
ber. Der Proceß trödelte sich lange hin; es gewann allen An-
schein, daß der biedere Raubmörder auch diesmal -wieder das
Freie gewinnen würde, und damit waren die rechtschaffenen
Leute gar nicht einverstanden. Jamifon bekannte unter dem
Baume, daß er allerdings vier Mordthaten begangen habe,
jedoch im Augenblicke zum Sterben noch nicht „gehörig vorbe-
reitet" sei. Man schlug ihm aber doch den Strick um. Dieser^
riß, und während ein anderer herbeigeholt wurde, rauchte Ja-
mison ruhig eine Pfeife Taback, die er dann auch zwifchen den
Zähnen behielt. Er war aus Neuyork, erst dreißig Jahre alt,
und es hätte gewiß noch viel aus ihm werden können, wenn
man ihn philanthropisch mit dem Aufhängen verschont und ein
so nützliches Individuum der menschlichen Gesellschaft erhalten hätte!
— Die methodistische Gemeinde zu Westboro in Massa-
chusetts sucht einen Geistlichen, welcher, einem öffentlichen
Ausschreiben zufolge die nachstehenden Eigenschaften hat. „Er
muß hübsch und anständig aussehen; — er darf keinen Ring
am Finger tragen; — er darf sich keinen Schnauzbart wachsen
lassen; — seine Bewegungen dürfen nicht linkisch sein; — seine
Lehre muß gesund sein, er hat sich aber dabei in Acht zu neh-
men, daß er sie nicht allzufrei predigt." — Es giebt eben unter
den Christen auch sehr viele wunderliche, und zu diefen gehören
auch die Methodisten zu Portland in Maine. Ihre Con-
ferenz hat beschlossen, daß kein Geistlicher „sich des indiani-
schen Krautes bedienen" solle; daß er dasselbe (den Taback)
weder kauen, noch schnupfen, noch rauchen dürfe, weil jenes
Kraut unrein sei. Was das indianische Kraut mit Religion
und Evangelium zu schaffen hat, das wissen die Methodisten in
Portland. Mehrere Cigarrenmacher haben sich nun anderen
„Denominationen" zugewandt.
— Eine fehr praktifche und nachahmenswerthe Einrichtung
haben die Vorsteher eines Friedhofes in Philadelphia ge-
troffen. Sie ließen eine bewegliche Capelle bauen, um die
Leute, welche einem Verstorbenen das Geleit geben, vor Regen
und Sonnenbrand zu schützen. Es ist mehrfach vorgekommen,
daß Leidtragende am Grabe vom Sonnenstiche befallen wurden.
Diese wandernde Capelle, welche auf Rädern fortbewegt wird,
kann etwa 75 Personen ein Obdach geben. „Wenn ein Mensch
in Folge einer Verkältung gestorben ist, so ist kein Grund vor-
Händen, daß ein Dutzend Derer, welche ihm die letzte Ehre er-
weisen, sich auch verkälten sollen."
anhält: Streifzüge in Florida. (Mit sieben Abbildungen.) — Zwei archäologische Funde auf der cimbnschen Halb-
insel. — Forschungsreise durch die Wüste El Tih auf der Sinai-Halbinsel. Von Tyrwhitt Drake. (Schluß.) 7- Die bildlichen
Darstellungen auf den Goldbracteaten. Erklärt von Professor Worsaae. Mitgetheilt von I. Mestorf. (Mit fünf Abbildun-
gen.) — Aus allen Erdtheilen: Wilde Kinder weißer Leute in Australien. —' Amerikanische Expedition für Tiefsee-Forschun-
gen. — Douglas Forsyth f. — Die Kohlenproduction Oesterreichs. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andrec in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Brannschweig.
8*
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Band XIX. 1
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Mit htfonttcrcr Herürksiclitigung cker Anttiroxologie un<l Ätknologie.
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Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl A n d r e e.
Jull Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4Sgr. 1871.
Streifzüge in Florida.
ii.
Ein Ansiedler aus Hannover im Urwalde. —• Ein Nachtlager auf dem Speicher. — Rattenconcert und die gute Schlange
Katty. — Das Klimafieber. — St. Augustin; die alte spanische Stadt und ihr Typus. — Aus dem Marktplatze. — Senora
Gonzales. — Ein Jagdrennen im Walde. — Der Guineawurm. — Schwammfischerei und Perlenaustern.
Wer hätte in jenen Waldeinöden Floridas einen An-
sie dl er aus Deutschland vermuthet? Als ich unter den
Tulpenbäumen hinschlenderte, machte meiue Hündin sich mit
einem Stachelschweiue zu schaffen, das sich sofort in eine
Kugel zusammenballte und seinem Verfolger einige Stacheln
in der Schnauze ließ; diese lösen sich bei Berührung eines
fremden Körpers leicht ab. Während ich den winselnden
Hund von denselben befreite, lief das Stachelschwein (Ere-
tliison dorsatus) nach feiner Höhle, wohin nun der Hund
kläffend folgte. Das Gebell fchallte weit hin, und jetzt er-
schien ein Mann, der im Walde beschäftigt war. Mit eini-
gen Axthieben erweiterte er sofort das Loch an den Baum-
wurzeln, zog das Stachelschwein hervor und schlug es todt.
Dieses Bärenstachelschwein, sagte er, schmeckt vortrefflich;
der braune Pelz ist werthvoll und die Stacheln lassen sich
als Nadeln verwenden.
Dieser Mann war aus Hannover und erst seit zwei
Jahren in Florida; er hatte am Black Creek eine Wald-
strecke gelichtet und sich dort eine Hütte gebaut. Ich folgte
gern seiner freundlichen Einladung und that wohl daran,
denn es begann schon zu dunkeln. Aus dem dichten Gewölk
goß der Regen in Strömen herab; wir hatten fast urPlötz-
lich einen tropischen Orcan mit Donner und Blitz, gegen
welchen uns indeß der kleine Schuppen, neben welchem der
Ansiedler die Bäume fällte, leidlichen Schutz gewährte; als
Globus XIX. Nr. 23. (Juli 1871.)
das Unwetter vorüber war, fand er selber in der Dunkelheit
nur mit Muhe den Weg nach seinem Hanse, in welchem
ein Licht schimmerte. Wir wurden vom Gebell eines mäch-
tigen Bullenbeißers begrüßt.
Diese Wohnung war äußerst einfach. Für einen An-
siedler im Walde sind die ersten Jahre allemal sehr mühsam
und beschwerlich; nachher gestalten sich die Dinge immer
besser. Die Familie des wackern Hannoveraners bestand
aus der Frau, einer erwachsenen Tochter und drei Knaben.
Zum Abendessen bereitete uns die freundliche Wirthin
Schweinsrippchen und Fisch, und wir nahmen einen herz-
haften Trunk. Ich war von den Anstrengungen des Tages
ermüdet und fehnte mich nach Schlaf. Mein Ansiedler wies
mir auf dem Speicher eine Ruhestätte an, gab mir als
Kopfkissen einen Strohfack und nahm alle meine Kleider,
auch das Hemd, mit fort, um sie zu trocknen. So hüllte
ich mich in eine wollene Decke, welche er um mich schlug;
meine Hündin legte sich in meine Nähe ins Maisstroh.
Behaglich war dieses Nachtlager allerdings nicht. Zu-
nächst verspürte ich ein sehr unliebsames Prickeln am ganzen
Körper, das nicht länger auszuhalten war. Ich warf die
Decke fort und legte mich fo wie ich war neben meinen Hund
ins Stroh. Aber auch das prickelte; trockenes Maisstroh
ist hart, von Schlaf war keine Rede; denn die Ratten singen
an sich in hohem Grade unverschämt zu benehmen, sie liefen
45
354 Streifzüge
umher, machten Sprünge, schrien, bissen einander; es war
ein Hölleusabbath. Plötzlich wurde Alles still, dann hörte
ich einen lauten Schrei, und nun entfloh in aller Eile die
ganze Rattengesellschaft, — die Hauskatze hatte sich einge-
stellt, eine Ratte erschnappt und verzehrte nun ihre Beute in
aller Ruhe.
Als sie sich entfernt hatten, 'versank ich endlich in einen
Schlummer, der freilich nur kurz war. Ich verspürte Alp-
drücken, es war, als ob irgend ein Monstrum mir centner-
schwer auf der Brust läge und mit Armen und Schwanz mich
umschlänge, um mich zu erwürgen. Ich erwachte tief anfstöh-
nend, der kalte Schweiß stand mir vor der Stirn, ich sprang
empor und schrie in Verzweiflung hell auf. Ja, es war ein
kalter Körper, der mich nun losließ, an Brust und an den
Schenkeln sich hinabwand und im Stroh verkroch. Meine
Hündin heulte. Im Speicher war eine Schlange! Sofort
stieg ich auf die Leiter hinab und rief nach unten hin. der
Ansiedler möge rafch kommen und Licht mitbringen. Der
gute Mann erschien auch bald mit einer Laterne und mei-
nein wollenen Hemde sammt Beinkleidern. Als ich ihm
in Florida.
rasch mein Abenteuer erzählte, lachte er; ich solle mich nur
beruhigen, die Sache sei gar nicht gefährlich; er habe ver-
gefsen, mir zn sagen, daß ans dem Speicher auch Katty
logire, eine sehr gutmüthige Schlange, ein äußerst
nützliches Hausthier, das eine große Menge Ratten vertilge.
Nachdem er mich gebeten, meine Hündin festzuhalten, pfiff
er leise auf den Fingern, und sofort kroch eine etwa sechs
Fuß lange schwarze Schlange hervor, ganz unbefangen und
zutraulich. Auf einen zweiten Pfiff wand sich Katty ihm
um Leib und Beine und rieb den Kopf ganz vergnüglich an
der Haut ihres Gebieters.
Dergleichen hatte ich freilich noch nicht gesehen! Die
übrigen Stunden der Nacht schlief ich unten im Hause auf
einer Bank vor dem Herd, und nahm, sobald es hell gewor-
den war, ein Bad in dem Bache, in dessen Nähe die Hütte
stand. Derselbe war ungemein klar und durchsichtig, und
in aller Muße konnte ich mir die reizenden Goldfische be-
trachten, welche sich in großer Menge umhertummelten.
Dieser Labrus fulgens hat einen blauen Kops, der Bauch
funkelt wie Feuer; das Thiercheu ist nur ein paar Zoll
Haus eines Ansie
lang, goldbräunlich mit ultramarinblauen Streifen; es hat
sehr scharfe Stacheln und Zähne ist auch ein gieriger Fleisch-
sresser und namentlich ans Krebse sehr erpicht, mit welchen
es in unablässiger Fehde lebt.
Nun war ich durch das Bad erfrischt und konnte mir
bei Sonnenschein die Plantage näher betrachten. Der Han-
noveraner hatte Bataten und Jgnamen gepflanzt, welche in
dem fruchtbaren Boden auf das Ueppigste gediehen; dasselbe
war der Fall mit Gurken und Melonen, welche ihre Ran-
ken au den Bäumen hoch hinauf trieben. Bataten und
Jgnamen ersticken das Unkraut, welches seinerseits unsere
Kartoffeln nicht aufkommen läßt, wenn es nicht täglich weg-
gehackt oder ausgegätet wird, und dazu hat ein Neusiedler
nicht Zeit. Er brennt das Strauchwerk ab, Pflanzt wenig-
stens zwei Jahre nach einander Bataten und im dritten Jahre
säet er Mais oder ein anderes Getreide. Die Batate hat
allerdings einen süßlichen Geschmack, der anfangs widersteht,
aber man gewöhnt sich bald daran; das grüne Kraut ist ein
nahrhaftes Kuhfutter. Der deutsche Ansiedler war fleißig
gewesen und hatte schon etwas vor sich gebracht. . Sein
eis aus Hannover.
Maisfeld versprach demnächst eine gesegnete Ernte, sein
Taback stand gut; zwei Kühe, eine Zuchtsau und eine An-
zahl Ferkel nährten sich im Freien, Weib und Kinder hal-
fen rechtschaffen bei der Arbeit.
Leider entgeht in Florida der Ansiedler dem Fieber nicht,
insbesondere im Frühjahr und im Herbst. Jetzt waren Frau
und Tochter daran erkrankt, man sah das auf den ersten
Blick an den hohlen Augen und den eingefallenen Wangen.
Chinin war nicht zu haben, als Ersatz dafür sollte eine Ab-
kochung von Sassafrasrinde dienen, welche übrigens ledig-
lich schweißtreibend ist und gegen eingewurzeltes Fieber nichts
vermag. Mein freundlicher Wirth gab mir das Geleit bis
zu meiner Goölette, und es machte mir Freude, ihm einige
Flaschen Chininwein einhändigen zu können; hoffentlich ha-
ben sie ihre gute Wirkung nicht verfehlt. —
Ich fegelte nun nach Picolata, das am östlichen Ufer
des St. Johns liegt; der Ort hatte bereits einen Ziegel-
macher, Schmied und Zimmermann, und ist feit jener Zeit
leidlich emporgekommen. Zwischen hier und Tocoi lie-
gen Plantagen von Indigo, Baumwolle, Zuckerrohr, und
Streifzüge
in den niedrigen Strichen Reisfelder. Damals führte noch
keine ordentliche Straße nach der wichtigsten Stadt Ost-
floridas, St.Angustin. Der Weg dorthin war ausgefahren
< • und ein Schlagloch lag beim andern; die Strecke beträgt
nur zwölf englische Meilen. Zu beiden Seiten wachsen
Die Straße de la Ml
nem Durcheinander. Ju diese Dschengel, diesen Gestrüpp-
Wald, kann man nur vermittelst der Axt oder des Feuers
einen Weg bahnen.
Sanct Augustin ist schon im sechszehnten Jahrhnn-
dert (1565) von den Spaniern gegründet worden, und noch
heute trägt ein Theil der Stadt das spanische Gepräge aus
jener Zeit. Ein Blick auf unsere Illustration, welche einen
Theil der Straße de la Merced veranschaulicht, macht
in Florida. 355
Eichen, Platanen und hohe Kohlpalmen (Üreodoxa pal-
mata); unter den ziemlich licht stehenden hohen Bäumen
findet man ein dichtes Gewirr von kleineren Palmen (Rha-
pis und Corypha obliqua) mit schneidenden Blättern und
dornigen Stielen, und Lianen und Glycinen in verschlnnge-
in St. Augustin.
das sofort klar. Die Bauart dieser Häuser ist keineswegs
unzweckmäßig, sie sind sehr massiv aufgeführt und gewähren in
diesem heißen Klima eine erfrischende Kühle; im Hofranme
springt zwischen Rasenplätzen eine Fontäne; an Mauern und
Pfeilern ranken sich Kletterpflanzen empor.- Vanille, Lianen
und Passifloren, und das Ganze gewährt einen malerischen
Anblick. Die Straßen der Altstadt sind eng, manche kaum
über sechs und zehn Ellen breit; sie waren früher theils
45*
356 • Streifzüge
schlecht gepflastert, theils gar nicht. Am Sonntag hat ein
fremder Beobachter in St. Augustin ein ganz interessantes
Schauspiel. Die Leute haben sich angeputzt und gehen in
die Messe. Man sieht verschiedene Menschentypen und die
schärfsten Gegensätze der Civilisation. Da ist der Neger,
nur mit einer Art Hosenschurz b.ekleidet, der nicht über den
Nabel und nicht unter das Knie hinabgeht, der weiße Wald-
mann, der Indianer mit Mokassins und einem Kittel von
Hirsch- oder Wolfsfell, der amerikanische Pflanzer in weißer
Leinwandjacke, der Nankee im unvermeidlichen schwarzen
Frack und dem geschmacklosen Cylinderhut. Da sind Nege-
rinnen, die sich das Wollhaar mit einem Baumwollentuche,
dessen Farben recht knallen müssen, umwunden haben; sie
sind mit allerlei Flitter behängt, tragen einen Shawl, aber
Ein Ja
nen sich als Vettern. Mein Paddy Carr führte mich in
eine Tienda, d. h. Krämerbude, in welcher eine seiner Eon-
sinen alle möglichen Gegenstände feil hielt: Glas- und
Eisenwaaren, Kandis, trockene Confituren, Stearinkerzen,
Taback, Drognen ic. Seüora Gonzales stammte von einem
spanischen Vater und einer Creekmutter; den Verkauf be-
sorgte eine Negerin. Die Senora, der ich meine Aufwar-
tuug machte, wiegte sich im Garten unter Palmbäumen an
einer Hängematte und empfing mich mit aller möglichen An-
mnth. Als sie fünfzehn Jahre alt war, soll sie eines der
schönsten Mädchen in St. Augustin gewesen sein, und das
glaube ich gern. Jetzt war sie zwanzig und wurde einiger-
maßen wohlbeleibt; darob war sie untröstlich. Auf ihre
Frage: wie mir Stadt und Sennras gefielen, gab ich eine
durchaus zufrieden stellende Antwort. Sie ließ sich in ihre
in Florida.
weder Strümpfe noch Schuhe und oftmals einen sehr kur-
zen Nock. Die Mulattinnen und Mestizinnen haben eine
Nagna, das heißt ein Stück geblümten Kattunzeuges um die
Hüften geschlungen und tragen ein Kamisol mit offenen
Armlöchern. Blonde Misses stolziren in der neuesten euro-
päischen Mode einher, braune Seuoras haben noch die
altspanische Mantilla und dazu den gelb und weiß gestreiften
Neboso. Vagabundirende kleine Neger und Mestizen spie-
len im Saude; ihre Kleidung besteht lediglich aus einem
Strohhute und so zu sagen einer brennenden Cigarre. Die
Papageyen schreien in den Palmen; im Hafen rancht das
Dampfschiff, indianische Einbüume bringen Früchte nnd Ge-
müse an Bord.
Indianer, welche demselben Stamm angehören, bezeich-
iui Urwnlde.
Hängematte zurückfallen, unterdrückte ein Gähnen und warf
nachlässig die Worte hin: Senor, muchas culehras aqui!
Das heißt: „Hier giebt es viele Schlangen." Da-
gegen war allerdings nichts einzuwenden.
Auf dem Marktplatze standen mehrere mit Ochsen bc-
spannte Karren; sie hatten Früchte uud Gemüse gebracht,
die auf weißen Laken ausgebreitet lagen oder in Körben auf-
gehäuft standen. Schwarze Fischer trugen ihre Beute an
langen Stangen; die Fleischer standen mit dem Messer be-
reit, um Lämmer, Ferkel, Enten und Hühner abzuschlachten;
das Alles muß lebend zu Markte gebracht werden, weil in
jenem Klima das Fleisch nach wenigen Stunden schon an-
geht. An Küchen unter freiem Himmel verzehrten die Leute
gekochte Bohnen, Eier, Reis und geröstete Bananen. Alles
war geradezu fabelhaft billig und die Auswahl groß. Der
Schwammfischerei bei
die verschiedenen Pferde gewettet. Dann blies ein Neger in
rother Livree zum Aufsitzen, die Meute stand bereit und fort
ging es über Block und Stock; man suchte von vornherein
alle Hindernisse auf, um die Nosse rechtschaffen auzumuuteru.
Am Rande des Waldes, der meilenweit von keiner Lichtung
durchbrochen war, blies der roth gekleidete Neger abermals
auf seiner Seemuschel; die Hunde stürmten wie rasend in
das Dickicht, sie witterten Wölfe. Ich ritt einen Hengst,
der mit der Rennjagd im Walde vertraut war. Er flog
so zu sagen in das Dickicht hinein, daß mir Hören und Sehen
verging, über Strauch und Stein und durch Schluchten;
ohne Zögern setzte er in Teiche und Tümpel hinein, kletterte
Anhöhen hinauf wie eine Ziege, brach durch das Gestrüppe
von Schlinggewächsen, — kurzum, kein abgerichtetes Pferd
im Circus hätte seine Sache besser machen können. Der
St. Augustin, Florida.
Hengst war in seiner Art bewundernswürdig, mir aber war
bei seinen Kraftstücken gar nicht wohl zu Muthe. Die Klei-
der gab ich gern preis, sie waren schon in der ersten Viertel-
stunde von Dornen zerfetzt und die Lappen hingen um mich
herum, aber Antlitz und Augen mochte ich doch nicht preis-
geben, meine Gliedmaßen hatte ich auch lieb; ich mußte mich
wohl vorsehen, daß ich nicht mit dem Halse in einer Liane
hängen blieb, und so blieb mir nichts übrig, als mich mög-
lichst niederzuducken. Und das währte so Stunden lang
fort! Der Leser wird fragen, weshalb ich mein Pferd nicht
anhielt, mich weiter nicht mehr um die sogenannte Jagd be-
kümmerte und nach der Plantage zurückkehrte. Ganz wohl;
aber wie hätte ich mich in dem Walde zurecht- und aus dem-
selben herausfinden sollen? Der Hengst kannte den Weg
sehr wohl, der aber wollte, rennwüthig wie er einmal war,
Streifzüge
Markt in St. Augustin bot einen geradezu leckern Anblick
dar, und es war ein Vergnügen, das Auge über alle diese
tropischen Früchte streifen zu lassen. Da sah ich neben ein-
ander Datteln, Oliven, Ananas, Goyaven, Piment, Zucker-
rohr, Granatäpfel, Feigen, Pfirsiche Advocatenbirnen (Ja-
cotes) und Bananen.
St. Augustin liegt unter dem 29. Breitengrade auf einer
Insel am Eingange einer geräumigen und sichern Bucht,
etwa zwei Miles vom Meere. Der Hafen wäre einer der
besten am ganzen Gestade ohne die Barre bei der Einfahrt;
diese hat bei Fluth nur 10 Fuß Wasser, ist jedoch in der
neuern Zeit durch Baggeruugeu vertieft worden. Der flache
Strand erhebt sich nur wenig über das Meer; das Klima
ist mild, die Hitze wird durch die Morgens und Abends
in Florida. 357
regelmäßig eintretenden Winde gemildert, und die Aerzte
aus dem Norden schicken gern Brust- und Lungenkranke zum
Winteraufenthalte dorthin.
Gesunde „Luft- und Badegäste" aus dem Norden finden
allerlei Zeitvertreib und Belustigungen, welche ihnen neu
sind und die in Florida für „Vergnügungen" gelten. Zu
denselben gehört, was man als Jagdrennen zu bezeichnen
beliebt. Auf der Plantage San Geronimo, wo ich freund-
liche Aufnahme und das liebenswürdigste, zuvorkommende
Benehmen fand, habe ich ein solches „Vergnügen" genossen
und denke noch heute nach langen, lieben Jahren daran.
Der Pflanzer hatte eine Anzahl von Nachbaren und Freun-
den eingeladen. Bevor die Steeple Chase begann, wurde
herzhaft gefrühstückt und tapfer getrunken; dabei wurde anf
358
Streifzüge in Florida.
immer vorwärts, und mir blieb nichts übrig, als ihn gewäh-
ren zu lassen. Als er dann des Laufens überdrüssig war,
kehrte er von selbst um.
Diese sogenannten Jagden sind eigentlich nur ein Ren-
nen mit Hindernissen, und um das Wild kümmern sich die
Amerikaner nicht viel. Wenn die Hunde zum Beispiel einen
Wolf auswittern, laufen sie waldein und die Reiter folgen
ihnen. Sobald die Pferde genug haben, machen sie Kehrt,
nm die Hunde bekümmert man sich weiter nicht. Falls das
Rudel Wölfe in der Mehrzahl ist, macht es seinerseits Jagd
auf die Hunde, macht sie müde und drängt sie an einen
Punkt, wo schon andere Wölfe im Hinterhalte liegen. Dann
trifft es sich wohl, daß die ganze Meute zerrissen und auf-
gefressen wird. Die Jäger ma-
chen sich daraus nicht viel und —r\
kaufen eine andere. —
Ans der Plantage San Ge-
ronimo bemerkte ich, daß ein
Reger seinen Arm in der Binde
trug; an demselben war eine
Winde in sehr zweckmäßiger Art
befestigt. Ich meinte anfangs,
der Schwarze habe den Arm ge-
krochen, bemerkte aber bald, daß
er einen Guineawurm unter
der Haut hatte. Der Mann war
etwa vierzig Jahre alt, vor et-
was länger als einem Jahre von
der Dahomeyküste in Afrika nach
Euba gebracht worden und von
dort nach Florida herübergekom-
men. Er meinte, daß er das
Nebel ans seiner Heimath mit-
gebracht habe. Reichlich ein Jahr
lang hatte er nichts von dem-
selben verspürt, es war verbor-
gen geblieben; dann war auf
dem Vorderarme eine Geschwulst
entstanden, die nach und nach
größer wurde. Nun kam auf
der angeschwollenen Stelle ein
schwarzer Punkt zum Vorschein;
das war der Kopf des Wurmes.
Jetzt verfertigte sich der Da-
homeyneger die in seinem Lande
gebräuchliche Maschine, löste mit
einer feinen Nadel die den Kopf
umgebende Haut los, zog den-
selben sorgfältig hervor und wickelte nach und nach mit außer-
ster Vorsicht den Wurmfaden um die Spindel oder Winde; da-
bei mußte er jedoch mit der äußersten Vorsicht zu Werke gehen
und schon sroh sein, wenn er täglich etwa eines Zolles Länge
abwickeln konnte. Der Wurmfaden wird manchmal bis 10
oder 12 Fuß lang. Die Operation ist sehr gefährlich; der
Faden ist dünn wie Zwirn, zerbrechlich wie Glas und mit
mikroskopischen Thiereu angefüllt. Sobald er abbricht, ver-
breiten sich diese in der Wunde; es entsteht eine gefährliche,
äußerst schmerzhafte Entzündung, die manchmal Brand und
Tod im Gefolge hat. Der Wurmfaden ist weiß, roth ge-
ringelt mit schwarzen Punkten; in das eigentliche Fleisch
dringt er nicht ein. —
In den ersten Tagen des Oetober beschloß ich, von St.
Augustiu aus an Bord eines Vivero zu gehen, das heißt
eines Fischerfahrzeuges, das aus Havaua gekommen war.
Der Schiffspatron war ein Mann von den canarischen In-
seln, der Steuermann ein Nordamerikaner. Der Vivero
Herauswmden bcs Guineawurmes.
war als Goölette aufgetakelt, hatte 60 Tonnen Tragsähig-
keit und war für seinen Zweck vortrefflich hergerichtet. In
der Mitte war ein Fischbehälter angebracht, das etwa den
vierten Theil des Ganzen einnahm; man hatte denselben
durch zwei dichte Wände vom Hinter- und Vordertheil her-
metisch abgeschlossen, die Wände mit Zink beschlagen und
den Boden vermittelst einer Anzahl von Löchern offen gehal-
ten, so daß immerfort frisches Seewasser eindringen konnte.
Dadurch wird es möglich, die im offenen Meere gefangenen
Fische lebendig zu erhalten und sie nach den Hafenplätzen zu
bringen, wo überall mit Schleusen versehene Weiher vor-
handen siud, in welchen man sie für die Käufer aufbewahrt.
Der Vivero wollte mich am 5. October bei der Insel
Anastasia an Bord nehmen; ich
fnhr am 3. in einem Fischer-
kahne dorthin, um mir die
Schwammfischerei anzu-
sehen. Diese findet bei niedri-
ger Ebbe statt. Frauen und
Kinder gehen mit großen Säcken
zwischen den Strandfelsen um-
her, um einzusammeln, was sie
dort finden, die Männer fahren
in Nachen hinaus und spähen
mit ihrem scharfen Auge nach
Schwämmen in der Tiefe, bis
zu 3 oder 4 Faden, also 18
bis 24 Fuß. Sobald sie der-
gleichen gewahren, lösen sie die
Beute geschickt vermittelst eines
Dreizacks ab, an welchem zwei
Haken befestigt sind. Gelingt
das Losmachen auf solche Art
nicht, dann nimmt der Taucher
sofort ein Messer zwischen die
Zähne und trennt den Schwamm
vom Gestein ab.
Die Meerschwämme sind
eine seltsame Art von Geschö-
pfen. Von den Tagen des Ari-
stoteles an bis auf unsere Tage
herab war man im Zweifel, ob
sie dem Pflanzen- oder dem Thier-
reiche beizuzählen seien; jetzt
weiß man, daß sie Thiere sind
und die unterste Stufe des Thier-
reichs bilden. Bon einigen Na-
turforschern werden sie zu den
Zoophyten, Pflanzenthieren, gerechnet, von anderen zu den
Protozoen, Urthierchen. Es sind vielgestaltige, aber formlose
Organismen, welche aus lose vereinigten, contractilen Zellen
bestehen, die mit einer gallertartigen, halbflüfsigen Substanz
(einer Sarkode) angefüllt sind; innen sind sie mit einem netz-
artig verwebten Fasergerüste versehen, oft anch noch mit hohlen
Kiesel- oder Kalknadeln. Nach Johann Müller's und Lie-
berkühn's Untersuchungen haben sie keine besonderen Organe,
vielmehr ist das Bewegungs-, Empsindnngs-, Fortpflanznngs-
und Assimilationsvermögeu über die ganze Masse verbreitet.
Diese ist auf einer Unterlage im Wasser sestgewachsen.
Die Fischer auf der Anastasia-Insel wußten, daß die
Schwämme „Leben haben"; sie sprechen von ihnen wie von
anderen Thieren; sie sagen, der Schwamm könne sich klein
machen und sich auf feine halbe Größe zusammenziehen,
um der Hand, welche nach ihm taste, zu entschlüpfen. Um
sich vor dem Auge des Fischers zu verbergen, gebe er einen
gelblichen Saft von sich, mit welchem er das Wasser trübe.
Th. Aube: Politische und commc
Gewiß ist, daß man die Schwämme sehr verschiedenartig
gestaltet findet, rund, kegelförmig, wie Schlüssel, Pilze,
Sterne, Waschbecken und manchmal von sehr beträchtlicher
Größe.
Bei der Insel Anastasia bringen die Schwammfischer
manchmal Perlenaustern mit zu Tage. Ich kaufte ein
Dutzend Stück für einen halben Dollar. Man darf sie nicht
ohne Weiteres öffnen, weil dann die Perlmutterschale an
teile Zustände der Samoa-Inseln. 359
Schmelz verliert, sondern muß sie in Wasser abkochen. Die
Austern an der Küste von Florida sind größer als unsere
europäischen, grün, mit weißen Streifen. Meine Perlen-
austeru wurden eine Stunde lang in demselben Wasser mit
den Schwämmen gekocht; die letzteren enthielten einen setti-
gen Stoff, welcher das Wasser trübte. In meinen Austern
war allerdings eine Perle, aber kaum so groß wie ein Steck-
nadelknopf.
Politische und commercielle
Nach 3
Im Jahre 1869 machte der Franzose Th. Aube iu
der amerikanischen Goelette „Flying Clond" einen Ausflug
nach verschiedeneu polynefifchen Inseln in der Absicht, beson-
ders die politischen und commerciellen Verhältnisse, wie sie
gegenwärtig auf denselben bestehen, und die Einflüsse, welche
durch das Eindringen der Europäer in der Südsee hervor-
gebracht werden, zn studiren. Sein Bericht über diese Reise,
welchen er in der „Revue des deux Mondes" vom 1. Octo-
ber 1870 mittheilt (— diese Nummer ist uns aus Paris
erst im Mai 1871 zugekommen —), enthält viel Neues und
giebt uns namentlich einen guten Einblick in das politische
Jntrignenspiel zwischen Engländern und Franzosen, welches
ans den noch unabhängigen Inselgruppen herrscht.
Am 20. Juli 1869 langte die „Flying Cloud" an den
Samoa-Jnseln an. Tntnita, Upoln und Sevai zeigten sich
den entzückten Blicken, denn Aube kann nicht Worte genug
finden, um die Schönheit dieser Eilande zu preisen, die er
unbedingt über Tahiti stellt. Auf Upolu erhebt sich eine
Bergkette von Osten nach Westen, welche das Rückgrat der
Insel darstellt, mit sanften und regelmäßigen Abhängen, und
entwickelt sich eine Reihe von Hochebenen, die bis zu einer
durchschnittlichen Höhe von 899 Metern stufenförmig über
einander gelagert sind. Von den malerischen Gestaden, vor
denen das Gürtelriff sich hinzieht, bis zu den Gipfeln breitet
sich überall eine reiche Pflanzendecke aus, die ans ungemein
mannichfaltigen Arten zusammengesetzt ist. Nuten zeigt sich
das matte Grün des Pandanns, das Metallgrün der Man-
groven, nach oben, an den Bergabhängen, machen sich die
schwarzen Schattenmassen der riesigen Buraobäume bemerk-
bar. Gleich Silberfäden rieseln die Bäche zwischen dem
Grün der Wälder herab nach der Lagune.
Innerhalb des Upoln umgebenden Korallenriffs warf die
„Flying Cloud" Anker. Vor ihr dehnte sich ein mit Co-
cospalmen bedecktes Gestade aus und erschienen die hohen
Masten und mächtigen Rümpfe zahlreicher Schiffe, auf denen
die deutsche Flagge wehte; ein Anblick, der den Franzosen
Aube sofort mit einer Art Eifersucht erfüllte. Der-Hafen
von Apia, an der Nordseite Upolus, ist erreicht und ein
Lootse kommt an Bord.
Die Ufer der Bucht, an welche sich die durch das Gürtel-
risf schon gebrocheneu Wellen noch sanft anschmiegen, ziehen
sich im weiten Halbkreise von mehr als drei Seemeilen Aus-
dehnung hin, eingefaßt von europäischen Häusern, über wel-
chen hier und da die Flaggenmasten der Consulate und die
Thürme der christlichen Kirchen emporsteigen. Zur Linken
ergießt sich ein gelblicher Fluß an den Bergen hinab in die
Lagune; er begrenzt die Stadt Apia im Osten und trennt
sie von dem Eingeborenendorfe Matagosie (die Schöne). Eon-
Zustände der Samoa-Jnseln.
i. Aube.
fulatsgebäude, katholische Kirchen, protestantische Bethäuser,
gut angelegte Kaie erinnern an Europa; zahlreiche lang-
gestreckte Piroguen, in denen athletische Krieger mit Keulen
und Speeren bewaffnet faßen und mit Gesang ihre Ruder
in die Fluthen tauchten, gemahnen an die alten „Schiffer-
inseln" der Entdecker. Aber so mächtig dieses Mischbild
auch auf den Franzosen wirken mochte, nichts zog sein Auge
mehr au, als „die prächtigen Klipper von 1899 Tonnen,
die alle derselben Nation gehörten. An ihren Masten flat-
teile die hier kaum noch gekannte Flagge des norddeutschen
Bundes", und auch am Lande deckte diese Flagge die zahl-
reichen Wohn- und Packhäuser, Schiffswerften :e. des ganzen
westlichen Thüles der Stadt, wenn wir so sagen dürfen, des
deutschen. Hier residirt der reiche junge Kaufmann We-
ber, deutscher Consul und Vertreter des Hauses Godefroy
iu Hamburg, „das einst souverän war", bemerkt der Frau-
zose mit der gewöhnlichen Unkenntniß seiner Landsleute. Der
Handel mit Eocosöl ist von diesem Hanse im großartigen
Maßstabe organisirt worden; alle Jahre segeln sechs schöne
Klipper von Hamburg nach Oceanien; ein Theil, mit Tausch-
waaren beladen, geht direct dorthin; sie führen Leinenwaa-
ren, Baumwollstoffe, Wollmaaren, Waffen, Pulver, Geräth-
fchaften an Bord. Ein anderer Theil bringt erst Answan-
derer nach Australien. Dann fahren sie nach Apia und
nehmen Eocosöl an Bord oder an der Sonne getrocknete
Eocosnüsse in voller Ladung mit. Von allen benachbarten
Eilanden, von Rotnma im Westen bis zu den Tokelau- oder
Union-Jnfeln im Norden, werden die Ladungen durch kleinere
Fahrzeuge nach Apia hinzugeführt, damit die großen deutschen
Klipper sofort volle Ladung finden, wenn sie anlangen. Der
Gewinn bei dem Geschäfte ist sehr groß. „Uebrigens hat
dieses deutsche Hans heute schon jede Concurrenz erdrückt.
Es beutet den Markt ganz allein aus, und kaum versuchen
es noch einige Kanflente aus Sydney, nicht mit ihm zu
kämpfen, sondern nur noch eine Nachlese nach der reichen
Ernte zu halten."
Zu dem commerciellen Uebergewicht, so meint 1869
schon der Franzose, wird nun, in Folge der energischen Thä^
tigkeit des Consnls Weber, sich noch das politische Ueber-
gewicht Deutschlands im Archipel hinzugesellen. Es wird
die erste Rolle dort spielen. Jusqu'ä quel point la Prusse
songe-t-elle a fonder une colonie aux Samoa, ä prendre
possession de l'archipel ? fragt der geängstigte Herr Aube.
Etwas Genaues meint er darüber nicht sagen zn können,
mais tel est l'objectif du nouveau consul. Jedenfalls
versieht der Consul die deutschen Interessen auf den Samoa-
Inseln in tüchtiger Weise, so daß der englische Consul Wil-
liams in ihm seinen gefährlichsten Nebenbuhler sieht. Wil-
360
Th. Aube: Politische und commercielle Zustände der Samoa - Inseln.
liams, geboren auf Rorotonga, ist der Sohn eines protestan-
tischen Missionärs und genau mit den Verhältnissen Poly-
nesiens vertraut; er ist unter den Polynesiens aufgewachsen,
kennt ihre Sprache und hat dadurch mächtigen Einfluß, den
er im Sinne Englands und des Protestantismus verwendet.
Monsignore Enos, der Vorstand der katholischen Mission zu
Apia, wirkt dagegen im französischen Interesse; einen eigenen
Consul hat Frankreich nicht bestellt; wohl aber Amerika,
doch ist dessen Vertreter, nach Aube, eine Null.
Der Samoa-Archipel besteht aus den drei größeren In-
feilt Tntnita, Upolu und Sevai, zu welchen noch einige klei-
nere Eilande gehören, wie Manono zwischen Sevai und
Upoln, das eiue gewisse politische Nolle spielt, und Manna
im Osten. Etwas übertrieben gab Lapsrouse die Zahl der
Eingeborenen auf 80,000 an; Dnmont d'Urville schätzte sie
1838 auf nur 36,000 Seelen; jetzt haben die Zählungen
der Missionäre 33,000 Einwohner ergeben, wodurch für die
letzten dreißig Jahre, ungeachtet der großen Veränderungen,
welche auf den Inseln vor sich gingen, eine nur geringe Ab-
nähme der Bevölkerung constatirt wird *).
Heute ist die ganze Bevölkerung dem Christenthum ge-
Wonnen. Die protestantischen Missionäre, Wesleyaner und
Jndependenten, haben zusammen etwa 27,000 Proselyten
gemacht; der Rest der Bevölkerung, 5000 Seelen, ist katho-
lisch. Die Insel Upoln, „die schönste Polynesiens", ist
der Größe nach nur die zweite des Archipels; aber sie ragt
hervor durch Reichthum und Bevölkerungszahl; auch spielen
ihre Häuptlinge die hervorragendste politische Rolle, wie ans
Aube's Bericht hervorgeht.
Die sociale und politische Organisation der Sa-
moa-Jnseln festzustellen, ist selbst für die dort angesessenen
und mit den Verhältnissen vertrauten Europäer nicht leicht;
doch kommt man der Wahrheit am nächsten, wenn man sagt,
daß aus den Inseln die Form der Föderativrepublik
herrsche. Die Dörfer oder Districte wählen ihre Häuptlinge
aus privilegirten Familien; mehrere dieser Districte bilden
zusammen eine Provinz mit einer Provinzialhanptstadt, in wel-
cher der Häuptling oder Tni residirt. Upolu zerfällt in drei
Provinzen: Atua, im Osten, mit dem Hauptorte Lufi-Lufi;
der Häuptling nennt sich nach der Provinz. Er heißt also
hier Tui-Atua und wird aus der Familie Mala-Asu ge-
wählt. In der Mitte liegt die Provinz Tuamasaga; ihre
Hauptstadt ist Satuisamau, der Häuptling wird aus der
Familie Malivtoa genommen. Außerdem liegt die halb-
europäische Stadt Apia in dieser Provinz. Ausnahmsweise
wird der Häuptling hier nicht Tui-Tuamasaga genannt,
sondern er behält seinen Familiennamen, also Malietoa.
Die westliche Provinz heißt Ana, Hauptstadt ist Leulumo«zga;
der erwählte Häuptling führt den Titel Tui-Ana-Sevai.
Die kleine Insel Manono hat sich unabhängig von diesen
Provinzen erhalten; spielt aber wegen ihrer starken Bevölke-
rnng und der großen Anzahl Kriegspiroguen, welche sie zu
stellen vermag, eine wichtige politische Rolle.
Jeder District besteht für sich und giebt sich in der Volks-
Versammlung seine eigenen Gesetze. Bedroht alle eine ge-
*) Die Samoa-Jnseln umfassen 54^ Quadratmeilen. Davon
entfallen auf Sevai 34, auf Upolu 17, auf Tutuita 21/2, auf Ma-
nna 1 Quadratmeile. Nach der Zählung der Missionäre von 1853
(Samoan Reporter) hatte
Upolu . . . 15,587 Einwohner
Sevai . . . ] 2,444 „
Manono . . 1,015 „
Apolima . . 191 „
Manua-Gruppe 1,275
Summa . .33,901 Einwohner.
Tutuita ist hierbei zur Manua-Gruppe gezogen. Behm's Jahr-
buch I, 79.
meinsame Gefahr, ein Krieg, dann kann es sich ereignen,
daß aus den drei Provinzialhänptlingen ein gemeinsamer
Häuptling erwählt wird, und dieser ist dann für Zeitlebens
Chef der ganzen Insel. Nach seinem Tode zerfällt diese
Gemeinschaft wieder und jede Provinz wählt sich ihren selb-
ständigen Häuptling. Die Beziehungen zwischen den ver-
schiedenen Provinzen uud Inseln sind sehr rege. Bei dem
geringsten Ereigniß finden Gesandtschaften herüber uud hin-
über statt, denen sich oft die Bevölkerung ganzer Dörfer an-
schließt, zum Schrecken der Missionäre, die in den bei dieser
Gelegenheit stattfindenden lang ausgedehnten Festlichkeiten
einen Rückfall ihrer Neophiteu ins Heidenthum fehen.
Bei dieser Art von politischer Organisation der Samoa-
Inseln muß der geringste Versuch eiues ehrgeizigen Häupt-
lings, sich zum Gesammtchef aufzuwerfen, auf allgemeinen
Widerstand stoßen und zum Bürgerkrieg führen. Das ist
denn auch in der That 1869 der Fall gewesen, wie wir
aus Aube's Bericht ersehen. Wir bemerken bei Wiedergabe
seiner Erzählung, daß sie jedenfalls die fpecififch französische
Anschauung giebt, wie sie von den katholischen französischen
Missionären ihm eingeflößt wurde. Sein Bericht ist reich
an Anklagen gegen den englischen Consul Williams, die im-
merhin begründet sein mögen. Doch müssen sie mit Vor-
ficht ausgenommen werden, denn wie in anderen Gegenden,
herrscht auch in Polynesien eine fortdauernde Rivalität zwi-
schen Engländern und Franzosen, zwischen protestantischen
und katholischen Glaubensboten.
Auf den Samoa-Jnseln geht die Erbfolge nicht vom
Vater auf deu Sohn, fondern aus den ältesten Bruder über.
Der Häuptling der Provinz Tuamasaga, Mali^toa, starb,
und nach samoanischem Rechte trat nun sein älterer Bruder,
gleichfalls Malistoa geuauut, an seine Stelle. Dieses paßte
aber dem englischen Consul Williams nicht; er ernannte
einen Neffen Malietoa's, Laupapa mit Namen, der von
ihm adoptirt worden war, zum Nachfolger und unterstützte
ihn mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln. Lanpapa
war nur ein Werkzeug in der Hand Williams', der, wenn
es gelang, Laupapa zum wirklichen Häuptling zu erheben,
der eigentliche Herrscher der Provinz gewesen wäre. Eine
Provinzialversammlnng, die zu Malinuu abgehalten wurde,
verwarf dieses Vorgehen als ungesetzlich; Laupapa verweigerte
jedoch den Gehorsam und baute sich neben der europäischen
Stadt Apia sein eigenes Dorf Matagofis, um so der eigent-
lichen Provinzialhanptstadt, Satuisamau, ein Paroli zu bie-
gen. Auch verwarf er die „alten" Nationalfarben und schaffte
sich ein Banner mit drei Sternen an.
Maliötoa und seine Getreuen entwarfen nun in einer
am 8. Januar 1869 abgehaltenen Versammlung eine Klage-
schrist an das englische Marineministerium, in welcher sie
um die Abberufung des Consuls Williams petitionirten, der
sich uugerechterweise in ihre inneren Angelegenheiten gemischt
habe. Ob dieses Schreiben an seine Adresse gelangte, ist
nicht bekannt, doch erschienen bald darauf, während beide
Parteien sich zum Bürgerkriege vorbereiteten, die englische
Fregatte „Challenger" und der französische Dampfaviso
„Coetlogon" auf der Rhede von Apia. Man versuchte, die
beiden Capitäne für die Anerkennung des Laupapa zu ge-
Winnen, doch schlugen sie dieses Ansuchen ab und dampften
wieder fort. Lanpapa, der sich also nicht unterstützt sah,
willigte nun in Verhandlungen ein, und die große samoa-
nische Union (Samoa na tazi), die allgemeine Häuptlings-
Versammlung, ließ ihn im Besitze des neu erbauten Dorfes
Matagofis, während sie für alle übrigen Theile der Jnfel
ein gemeinsames Gesetz, nach dem Muster des in der alten
Hauptstadt Satuisamau geltenden, schuf und für die ganze
Insel eine einzige Regierung, mit Malistoa an der Spitze,
Geologische EntWickelung
durchführte. Von Seiten Laupapa's waren die Unterhand-
lungen jedoch nur geführt worden, um Zeit zu seineu Kriegs-
rüstuugeu zn gewinnen. Nachdem diese vollendet waren,
warf er die Maske ab und begann die Feindseligkeiten.
Der Verlauf derselben wird in einem Schreiben Malis-
toa's an den englischen Marineminister geschildert, welches
Anbe in vollständiger Übersetzung mittheilt. Maliätoa be-
schwert sich namentlich darüber, daß man dem Laupapa ge-
stattet habe, in Apia inmitten der Häuser der Weißen sich
ein Fort zu erbauen, trotzdem der katholische Bischof in einem
Schreiben an Williams hiergegen Protestirt habe. Daraus
geht schon hervor, daß Engländer und Franzosen in dieser
Sache verschiedene Interessen verfolgten. Die Leute Malis-
toa's erstürmten nun das Fort, und bei dieser Gelegenheit
wurden mehrere Häuser, die angeblich Williams gehörten,
von den Samoanern geplündert. Auf seine Reclamation
hin stellten sie alle bereits ins Innere geschleppten Waaren
zurück und unterwarfen sich dem „Jsoga", einer demüthi-
genden Abbitte. Williams, nicht zufrieden hiermit, behaup-
tete, die englische Flagge, die ein Samoaner von einem Ne-
benhänschen herabgerissen hatte, sei beschimpft worden. Er
müsse andere Genngthuuug haben, das Ifoga genüge allein
nicht. Er verlangte nicht mehr nnd nicht minder, als die
Abtretung der Inseln Upolu und Sevai!
Als Aube iu Apia war, waren noch überall die Spuren
des Kampfes zu sehen. Die katholische Kirche, das englische
Consulat u. s. w. waren von den Kugeln arg beschädigt.
Drei Kriegsschiffe, ein französisches, „Megere", ein ameri-
kanisches, „Kearsage", ein englisches, „Blanche", waren an-
gelangt, um die Sache zu untersuchen und ihre Landesange-
hörigen zu schützen. Der „Kearsage" dampfte schon nach
48 Stunden wieder ab, da sein Commandant sich nicht in
die inneren Angelegenheiten Samoas mischen wollte. Der
Capitän der „Megere" nahm Rücksprache mit den französi-
Geologische Entwickelmig
Bei der Bildung eines Knochens im thierischen Körper
wird dessen spätere Form zunächst durch einen Knorpel vor-
gezeichnet; dann erst beginnt die Knochenbildung an einer
oder an verschiedenen Stellen. Ob nun dieses Verknöchern
an einem oder an mehreren Punkten vor sich gehe, so wird
er italienischen Halbinsel. 361
scheu Missionären, welche erklärten, um des Friedens willen
von allen Klagen absehen zn wollen. Malietoa kam an
Bord der „Megere" und wurde dort mit Kanonenschüssen
begrüßt. Auf welcher Seite die Franzosen standen, wurde
dadurch klar. Der Capitän des englischen Kriegsschisfes
„Blanche" scheint auch das Uurecht der Samoaner nicht sehr
groß befunden zu haben. Diefe erklärten sich bereit, für die
angerichteten Verwüstungen Entschädigung zu leisten und
zahlten auch an jeden Consul die Summe von 3000 Piastern.
Ursache aller dieser Streitigkeiten ist aber gauz entschieden
die Rivalität zwischen Franzosen und Engländern einer-,
und Katholiken und Protestanten andererseits.
Auch die Tage der Unabhängigkeit der Samoa-Jnseln
werden gezählt sein; auch sie gehen, wie die anderen, ihrem
Geschicke entgegen. Was jetzt dort geschieht, ist nur ein
Vorspiel. Kaum aber werden die Engländer, welche die
Annectirnng der größeren und fruchtbareren Fidfchi-Jnseln
ablehnten, die kleinen Samoa-Jnseln für sich nehmen. Am
meisten fürchtet Aube, daß Deutschland hier seine Macht zei-
gen werde. Consul Weber ist der einzige, welcher schöne
Farmen angelegt hat, aus denen er reichen Gewinn zieht,
während seine englischen und amerikanischen Collegen nicht
Aehnliches thaten.
Kaum giebt es noch einmal einen Boden, meint der Fran-
zose, der so reich und fruchtbar wie jeuer Upolus wäre. Uams,
süße Kartoffeln, Taro, Auauas wachsen fast wild. Gestade
und Felsenriffe sind mit Cocospalmen besetzt. Kaffee, Baum-
wolle, Zuckerrohr, Gewürznelken, Vanille sind mit Erfolg
eingeführt worden. Die Baumwolleucultur hatte sich in
Folge des amerikanischen Bürgerkrieges auf Upolu fo gehoben,
daß die Ausfuhr über Sydney sich auf mehr als 2000 Ton-
nen hob. Aube scheint eine amerikanische Besicdelnng und
Besitzergreifung herbeizuwünschen, für uns Deutsche aber
enthält sein Bericht jedenfalls wichtige Fingerzeige.
er italienischen Halbinsel.
doch schließlich nur ein Knochen gebildet; vereinigen sich die
verschiedenen Centren nicht vollständig, so werden eben so
viele einzelne Knochen als Centren gebildet.
Bei der Entstehung des Festlandes läßt sich etwas sehr
Aehnliches beobachten. Die gegenwärtige Form vieler Län-
Idealer Durchschnitt der italienischen Halbinsel in der Breite von Rom.
a. Juraformation, b. Kreide, c. Eocen. d. Miocen und Pliocen.
der ist im Allgemeinen schon vor langer Zeit gleichsam vor- Ward (Geological Magazine, Januar 1871) aufmerksam
aus skizzirt gewesen; sie ist abhängig von dem Wachsthum macht. .
uni einen einzigen oder um verschiedene Mittelpunkte herum. Ein Querschnitt durch die Halbinsel m der Breite von
Eines der einfachsten, aber belehrendsten Beispiele dieser Art Rom stellt sich, ideal genommen, etwa wie m dem berge-
bietet die geologische' Geschichte Italiens, worauf Clifton gebenen Holzschnitte dar. Die Juraformation, die älteste
Globus XIX. Nr. 23. sJuli 1871.) 46
362
Geologische EntWickelung der italienischen Halbinsel.
des Landes, bildet den Kern der Apenninenkette; an ihren
Abhängen sind Kreide und Eocen abgelagert; einzelne klei-
nere Lager der letzteren beiden Formationen liegen am oder
aus dem Gipfel. Miocen und Pliocen dagegen bilden die
horizontal abgelagerten Schichten des Tieflandes am Fuße
des Gebirges bis zum Meere hin.
Die Centralmasse der Juräschichteu erstreckt sich wie ein
Rückgrat entlang der Mittellinie
der Halbinsel, von einem Punkte
östlich von Neapel zu einem an-
dern, etwas südlich von Florenz.
Nördlich und südlich von diesen bei-
den Punkten ist die Juraformation
von wenig mächtigen Kreideschich-
ten, dann von Eocenschichteu über-
lagert, welche letztere die Kette der
Apenninen bis östlich von Genua
fortsetzen.
Die geologische Geschichte Jta-
liens, insoweit als aus den vor-
handenen Gesteinen geschlossen wer-
den kann, scheint nicht weiter als
bis zur Juraperiode zurückzurei-
cheu; sie ist also ziemlich jung.
Die erste entschiedene Landprodue-
tion, von der wir Kenntniß be-
sitzen, fand nicht vor dem Schlüsse
der Mittlern Eoeenformation statt.
Zu jener Zeit wurde jene mäch-
tige Ablagerung, welche sich lange
Zeit hatte anhäufen können, lang-
sam entlang einer Linie gehoben,
welche jetzt die Apenninen in Süd-
italien und einen großen Theil der
Alpen im Norden bildet. Die Er-
Hebung, verbunden mit einer Ver-
drückung der Schichten, war all-
mälig, so daß unterdessen eine ganz
ungeheure Wegspülung der Eocen-
und Kreidegebilde stattfinden konnte,
welche beiden, kleine Stellen aus-
genommen, auf einem beträchtli-
chen Räume des emporgehobenen
Landes gänzlich weggewaschen wur-
den, so daß die Juraformation an
der Oberfläche bloßgestellt wurde.
Durch diese Wegspülung wurde dem
langsam emporsteigenden Lande ein
großer Theil seiner Höhe geraubt;
würde dagegen die Erhebung schnell
so würden die Apenninen gewiß doppelt so
wärtig erscheinen.
Die Geographie Italiens am Schlüsse der Eocen- und
zu Beginn der Miocenperiode muß sich etwa so wie iu der
beigegebenen Zeichnung dargestellt haben. Die Pnnktirte
Linie zeigt den heutigen Umriß der italienischen Halbinsel;
die schrassirten Theile stellen das damals vorhandene Land
dar.
In dem dieses damalige Land umgebenden Meere wur-
den zunächst die Schichten der Miocen-, dann der Pliocen-
zeit abgelagert. Doch die Gewalt, welche vorher sich durch
ein langsames Emporheben des Meeresbodens ankündigte,
scheint nach dieser Richtung des Emporhebens keiner Aeuße-
rungen mehr fähig gewesen zu sein, denn jetzt brach sie durch
die feste Kruste an verschiedenen Stellen hindurch und gab
verschiedenen Bulcanen ihre Entstehung. Die vicentinischen
Ideale Form der italienischen Halbinsel am Schlüsse
der Eocenperiode.
vor sich gegangen sein,
hoch wie gegen-
und euganeischen Berge bei Padua bestehen aus vulcanischen
Gesteinen, die zwischen den Schichten der Pliocenformation
durchbrachen. Durch mehrere Eruptionen jener Periode im
Meere wurden große Massen von Fischen plötzlich getödtet,
die wir jetzt noch in einer kalkigen Asche aufbewahrt finden.
Gegen Schluß der Plioceuzeit begann die vulcauische Thä-
tigkeit sich entlang der Westseite zu zeigen,nördlich und südlich
von Rom und Neapel, und zu der-
selben Periode fand eine weitere He-
bnng statt, welche die neugebildeten
Pliocenschichten hoch und trocken
legte und so dem alten Lande ein
Gerippe von neuem und verhältniß-
mäßig ebenem Boden gab, der sich
schon außerordentlich der gegen-
wärtigen Form der Halbinsel nähert.
Viele Einzelheiten von dem Umriß
wurden jedoch erst durch Wegspü-
lungen und kleinere Niveauschwan-
kungen während der postpliocenen
und neuen Zeit hervorgebracht.
Nach der vollständigen Erhe-
bnng des Landes fanden dann jene
vulcanischen Eruptionen statt, durch
welche die vielen vulcanischen Berge
gebildet wurden, die jetzt so ange-
nehm die Einförmigkeit der Ebenen
unterbrechen.
Zu welcher Zeit der Vesuv ent-
stand *), ob zuerst als submariner
Vnlcan oder erst als die postplio-
cene Hebung stattfand; ob seine
ersten Eruptionen gleichzeitig mit
jenen der phlegräischen Felder wa-
ren; ob die neapolitanische vulca-
nische Gruppe gleichzeitig mit jener
um Rom in Thätigkeit trat, das
ist schwer zu entscheiden. Doch ist
ziemlich sicher, daß ihre Entstehung
um die Zeit des Endes der Pliocen-
Periode vor sich ging; ihre Erup-
tiousproducte überlagern unmittel-
bar die Schichten der Pliocenzeit.
Das ist eine kurze Skizze der geo-
logischen Geschichte Italiens. Die
Hauptpunkte derselben lassen sich
folgendermaßen zusammenfassen:
1) Die geologische Geschichte da-
tirt nur bis in die Jurazeiten zu-
rück. Es ist keine Spur von Land bis zur späten Secnndär-
oder frühen Tertiärzeit nachzuweisen.
2) Die Bildung Italiens ist in einer sehr einfachen Weise
vor sich gegangen, nämlich durch das Emporheben von drei
einander folgenden Meeresformationen in einer langen Ge-
birgskette und durch die Anlagerung der marinen Schichten
der Miocen- und Pliocenzeit an diese Gebirge, sowie durch
nachfolgende mäßige Erhebung dieser letzteren Schichten.
3) Mit Rücksicht auf die von unten wirkende Thätigkeit
unterscheiden wir in der geologischen Bildung Italiens drei
verschiedene Perioden: Eine Zeit der Ruhe oder langsamer
Depression, während welcher sich ruhig Meeresablagerungen
bilden konnten. Zweitens eine Periode mit kräftigen Aeuße-
rungen innerer Gewalten', die sich durch die Emporhebung
*) Vom Aetna wissen wir, daß er aus der Pliocenzeit stammt;
seine ersten Eruptionen waren submarine.
A. E. Nordenskiöld: Ueber seine Wände
des Landes und Bildung hoher Gebirge kundthaten. Drit-
tens eine noch jetzt fortdauernde Periode, in der dieselben
Gewalten sich durch die Bildung von Vulcanen manifestirten.
Das Studium der alten physikalischen Geographie, das
bisher so sehr vernachlässigt wurde, gewinnt von Tage zu
ig auf dem Inlandeise in Grönland 1870. 363
Tage mehr an Wichtigkeit und Interesse, da nur an seiner
Hand wir im Stande sein werden, die Aufeinanderfolge und
Vertheilung des organischen Lebens auf unserer Erde auf-
hellen zu können.
A. E. Nordenskiöld: Ueber seine Wanderung ans dem Inlandeise
in Grönland 1870*).
F. Unter allen Mineralien, aus denen die Erdrinde
zusammengesetzt ist, kommt keines in so großen zusammen-
hängenden, weder von mechanischen noch von chemischen Mi-
schnngen verunreinigten Massen vor, wie das Eis. Als
eine von der Natur fertiggebildete, feste, chemische Verbin-
dnng gehört nämlich dieser Stoff unbedingt dem Gebiete der
Mineralogie an, wenn er sich auch insofern von denjenigen
Stoffen unterscheidet, welche man gewöhnlich unter diesem
Zweige der Wissenschaft anführt, daß das Dasein desselben
als fester Stoff oder Mineral von unbedeutenden Verände-
rungen in dem Wärmegrade abhängig ist.
Die große Rolle, welche dieser Stoff in der Haushaltung
der Natur spielt, heftet ein Interesse an die kleinsten Eigen-
schaften desselben, auf welches wohl kaum ein anderes Mi-
neral Anspruch machen kann. Eine nur unbedeutende Ver-
änderung in dem Schmelzpunkte des Eises, in seinem speci-
fischen Gewicht oder in seinem Verhältnisse zu salzhaltigem
Wasser würde z. B. ganz gewiß bedeutende Verrückungen
in dem Klima bedingen; die Eigenschaft des Wassers, in
seinen sogenannten Capillarröhren erst bei einer Temperatur
von 15 bis 20 Graden Celsius unter dem gewöhnlichen Ge-
frierpunkte in Eis überzugehen, ist eine Bedingung zu der
Fähigkeit der Gewächse, die strenge Winterkälte der nördlichen
Länder zu ertragen; die krystallinische Gestalt der mikrosko-
pischen Eisnadel und weniger gewöhnliche Eigenschaft, bei
Temperaturveränderuugen polarelektrisch zu werden, bedingt
die schönen Farbenphänomene des Winterhimmels. Die
Eigenschaft des Eises, so hart und spröde es immerhin ist,
unter einem starken Drucke sich wie eine Flüssigkeit zu ver-
halten , seine sogenannte Plasticität, ist eine Bedingung zu
der Entstehung von Gletschern und dadurch auch zu der Bil-
dung eines bedeutenden Theiles der ans Glacialgrus ruhen-
den fruchtbarsten Ebenen in Europa gewesen. Eben diese
*) Ein Vortrag, gehalten an dem Stiftungstage der Akademie
der Wissenschaften in Stockholm, 6. Mai 1871. — Der Stiftungs-
tag der Akademie, 31. März (1741), war diesmal wegen der Krank-
heit und des Todes der Königin Louise bis zum 6. Mai aufgeschoben
worden. Den neueren Statuten vom Jahre 1821 gemäß müssen bei
dieser Gelegenheit nach der Rede des Präses und dem Jahresberichte
des Secretärs über die Thätigkeit der Akademie in dem letztverslosse-
neu Jahre die fünf Intendanten der Akademie über den Fortschritt
der Naturwissenschaften (Physik, Astronomie, Mineralogie nebst Geo-
logie und Geognosie, Botanik und Zoologie) einen Bericht abstatten.
Der Vortrag enthält den Bericht über deu Fortschritt der Minera-
logie, Geologie nnd Geognosie in dem vorigen Jahre, in welchem
außer dem über das Eis Grönlands auch noch andere Gegenstände be-
rührt werden, die ebenfalls mit übersetzt sind. Ueberhaupt wäre zu
wünschen, daß die bei solchen Gelegenheiten gehaltenen Vorträge all-
gemeiner bekannt wurden als jetzt der Fall ist.
Macht des Eises hat auch den Tausenden von Landseen,
denen der Wanderer in dem skandinavischen Norden, in
Schottland, in der Schweiz, in dem nördlichen Theile von
Nordamerika, kurz in allen denjenigen Ländern begegnet,
welche in früheren Tagen von hohen Eismassen bedeckt ge-
Wesen sind, und merkwürdig genug nur in diesen, in den
härtesten Felsen das Bett ausgehöhlt.
Die Beispiele würden sich vervielfältigen lassen; ans dem
bereits Angeführten aber dürfte schon erhellen, daß jeder neue
Beitrag zur Keuutniß des Auftretens dieses Stoffes auf dem
Erdboden, seiner Mineralgeschichte, für die Wissenschast von
Werth ist, und auf Anlaß dessen dürfte mir gestattet sein,
mit einigen Worten Rechenschaft abzulegen über die neue
Erfahrung, welche auf diesem Felde gewonnen worden ist
dnrch die schwedische Expedition nach Grönland im letzten
Sommer, welche, so viel man weiß, zum ersten Mal seit der
Entdeckung Grönlands vor etwa 1000 Jahren im Stande
war, eine bedeutendere Strecke in das Innere dieses
mit Eis bedeckten Landes vorzudringen*).
*) Ueber diese Erpedition nach Grönland heißt es in dem bei der-
selben Gelegenheit vorgelesenen Jahresberichte des Secretärs der Aka-
demie: „Sie wurde ausgeführt unter der Leitung des Professors
Nordenskiöld, und als thätigeMitglieder nahmen daran Theil der
Docent S. Berggren und die Doctorcn der Philosophie T. Nord-
ström und P. Oeberg. Der ursprüngliche und eigentliche Zweck der
Erpedition, zu welcher ein Privatmann die Mittel hergab, war der,
bei den dänischen Colonicn an der Westküste von Grönland verschie-
dcnc vorbereitende Anordnungen zu treffen zu einer größer» Polar-
erpedition, welche im nächsten Jahre, 1872, von Schweden nach dem
Eismeere abgehen soll. Dadurch aber, daß mehrere MänNer der
Wissenschaft sich der Erpedition anschlössen, und daß dieselbe eine
ziemlich vollständige wissenschaftliche Ausrüstung erhielt, zu welcher
die Akademie aus ihrem Justrumentenvorrathe Beiträge hergab, wurde
die Expedition in den Stand gesetzt, wissenschaftliche Forschungen
nach verschiedenen Richtungen hin anzustellen, und an deu Stellen,
welche sie besuchte, Einsammlungen von Naturgegenstäudeu zu machen.
Das zuvorkommende Wohlwollen, welches der Erpedition von den
dänischen Behörden und besonders von den Directoren und Beam-
teu bei dem grönländischen Handel bewiesen wurde, erleichterte und
förderte wesentlich die Pläne unserer Reifenden. Die Expedition,
welche am 15. Mai von Grönland abging und in der Mitte des
November zurückkehrte, hat während ihres Aufenthaltes in Grönland
ausgedehnte Bootfahrten längs der Westküste dieses Landes gemacht
und ist durch eine 5 (schwedische) Meilen lange Wanderung auf dem
Inlandeise tiefer in das Innere des Landes eingedrungen, als der
Annahme nach zuvor irgend Jemand — eine Annahme, welche von
der bekannten Thatfache, daß die Grönländer selbst wegen eines alten
eingewurzelten Borurtheils eine große Furcht vor Fahrten auf dem
Inlandeise hegen und dadurch abgehalten worden sind, sich mit der
innern Beschaffenheit ihres Landes näher bekannt zu machen, noch
bedeutend unterstützt wird. Die Sammlungen, welche die Erpedition
mitgebracht hat, besitzen einen bedeutenden Werth, und unter den-
selben zeichnet sich besonders die reiche Ernte von Pslanzenüberrcsten
46*
364 A. E. Nordenskiöld: Ueber seine Wände
Grönland bildet, wie bekannt, einen zwischen Europa
und dem eigentlichen Amerika belegenen Continent, dessen
Südspitze ungefähr unter dem Breitengrade von Stockholm
liegt, während der nördliche Theil desselben sich vielleicht
100 schwedische Meilen höher gegen Norden hinauf erstreckt
als die skandinavische Halbinsel. Trotz des schönen, aber
uneigentlichen Namens, den das Land von seinem ersten Ent-
decker, dem norwegisch-isländischen Freibeuter Erik Röde (dem
Rothen), erhielt mit der offen erklärten Absicht, Ansiedler
dorthin zu locken, begegnet man überall, wo man in das
Land einzudringen sucht, in unbedeutender Entfernung von
der Küste einem hohen Eiswalle, der Grenze des In-
landeises, welches der Annahme nach das ganze Innere
von Grönland bedeckt. Gewiß wenigstens bleibt, daß man
überall, wo man bis jetzt vorgedrungen, auf den Rand des-
selben gestoßen ist, und daß man überall von den oft sehr
hohen Berggipfeln an der Küste denselben allmälig mit einer
gleichmäßigen Ansteignng sich nach Innen erheben sieht, um
mit seiner gefrorenen Decke, spurlos wie die Woge des Mee-
res, Berge und Thäler zu ebnen.
Dieses Inlandeis wird niemals von dem Grönländer-
besucht, sosern nicht etwa der Iagdeiser ihn ausnahmsweise
verführt, auch auf diesem gefährlichen von bodenlosen Ab-
gründen durchkreuzten Gebiete die fliehende Beute zu verfol-
gen. Weit geht er auf keinen Fall, weil die Bewohner,
vielleicht in Folge der Unglücksfälle bei solchen Jagden, vor
diesem Theile ihres Landes ein abergläubiges Vornrtheil
hegen, welches auch zu einem gewissen Theile aus solche Euro-
päer übergegangen ist, welche eine längere Zeit ansässig in
dem Lande gewesen sind. Deshalb sind bisher nur zwei
ernstliche Versuche gemacht worden, in das Innere des Lan-
des einzudringen: der erste von einem dänischen Kaufmanne
Lars Dalager, welcher im Jahre 1751 anf diesem Wege
nach der vom Meere aus unzugänglichen Ostküste von
Grönland vorzudringen suchte, und der zweite von dem be-
kannten englischen Alpensteiger Whymp er, welcher im Jahre
1867 diesen Theil von Grönland besuchte. Beide mußten
gleichwohl bald umkehren; Dalager in Folge des Mangels
an Feuerung und weil die scharfe Eisrinde seine und seiner
Begleiter Fußbekleidung völlig zerfetzt hatte, nachdem er in
zwei Tagen beinahe zwei Meilen in das Eisfeld eingedruu-
gen war; Whymper gleich zu Anfang seiner Fahrt wegen
der unwegsamen Beschaffenheit des Eises, welche die An-
Wendung der Hundegespanne nicht gestattete, mit denen er
in das Innere einzudringen beabsichtigte.
Wenn in den Eismassen, die das Innere von Grönland
bedecken, keine Bewegung stattfände, so ist es klar, daß die
Oberfläche derselben eben und ununterbrochen werden würde
gleich der Oberfläche einer Sandwüste, und es würde daher
keine Schwierigkeit vorhanden sein, hier vorzudringen. Das
ist jedoch nicht der Fall: das Inlandeis bewegt sich, so an-
scheinend sest es ist, ziemlich nach den Gesetzen, welche die
Bewegung bei den Flüssigkeiten regnliren, ohne Unterbre-
chung, aber langsam und an verschiedenen Stellen mit einer
verschiedenen Schnelligkeit nach dem Meere hin, wo es an
der Westküste von Grönland in mehreren großen Eisströmen
endet, welche in tiese, von hohen Bergen umgebene Meer-
buseu oder sogenannte Eisfjorde münden.
Eine wirkliche Flüssigkeit ist gleichwohl das Eis nicht,
und diese Bewegung bewirkt daher große Spalten und Klüfte,
deren bodenlose Abgründe dem Wanderer den Weg versper-
ren. Diese Spalten müssen natürlich vorzugsweise dort
von 20 Localeu und von 5 verschiedenen geologischen Horizonten, so-
wie ein in mehreren Rücksichten seltener Fund von Meteoreisenstücken
aus. Uebrigens hat die Expedition werthvolle zoologische, botanische,
mineralogische und ethnographische Sammlungen mitgebracht.
ng anf dem Inlandeise in Grönland 1870.
vorkommen, wo die Bewegung des Eises am stärksten ist,
d. h. in der Gegend der großen Eisströme, wogegen man in
einer größern Entfernung von denselben ein spaltenfreieres
Terrain erwarten darf. Auf Anlaß dessen wählte die schwe-
dische Expedition zu ihrem Versuche, auf dem Inlandeise vor-
zudringen, zum Ausgangspunkt eine Stelle, die so weit wie
möglich von den Fjorden entfernt ist, in welche größere Mas-
sen von Eisbergen aus dem Inlandeise auslaufen, nämlich
den im Osten von Egedesminde an der nordwestlichen
Küste von Grönland tief in das Land einschneidenden Auleit-
sivik-Fjord. Hier besteht das schmale Küstenland in Berg-
Hügeln, gebildet aus Gneis und anderen krystallinischen Berg-
arten, zwischen denen sich oft sehr ausgedehnte, von einer
spärlichen Vegetation kaum bedeckte Thonebenen ausbreiten.
Die Berghügel siud, wie iu Schweden, abgerundet und an
mehreren Stellen gereiselt, die Seiten derselben mit gewal-
tigen erratischen Steinblöcken bestreut. Alles beweist, daß
die Eismasse sich in früheren Zeiten auch über dieses jetzt
eisfreie Terrain ausgebreitet hat, daß also die Grenze
des Inlandeises zurückgewichen ist, und durch eine
einfache Berechnung, deren nähere Begründung mir hier die
Zeit nicht gestattet, läßt sich mit großer Wahrscheinlichkeit
darthun, daß dieses Zurückschreiten des Eises wenig-
stens 30,000 bis 40,000 Jahre stattgefunden hat —
eine Zeitperiode, welche, so lang sie auch zu sein scheint, doch
ganz in den allerletzten geologischen Zeitraum fällt. Noch
heute braucht man übrigens nicht weit von dem innersten
Theile des Fjordes gegen das Innere des Landes vorzndrin-
gen, bis man auf einen hier jähen, dort abgerundeten Eis-
rand stößt, welcher der Kante zunächst nur einige hundert
Fuß hoch ist, nach innen zu aber anfangs schnell, weiterhin
langsam ansteigt, bis er sich allmälig in dem unermeßlichen
Eisfelde des Inlandes verliert. An anderen Stellen stürzt
das Inlandeis mit einem schroffen Absätze in einen der nn-
zähligen kleinen Landseen, welche das Küstenland erfüllen,
oder in Buchten des Fjordes selbst. Große Eisstücke stürzen
hier mit starkem Getöse von dem Rande des Inlandeises
herab und veranlassen gefährliche Deinnngen; dies geschieht
zu gewissen Zeiten in solchen Massen, daß der ganze zuvor
eisfreie Fjord in einem oder wenigen Tagen von Eisblöcken
gesperrt wird.
Die Geologen sind im Allgemeinen im Jrrthum, wenn
sie die schweizerischen Gletscher für ein vollständiges Bild in
kleinem Maßstabe von dem Inlandeise Grönlands oder von
dem Inlandeise halten, welches einmal das ganze nördliche
Europa bedeckt hat. Der eigentliche Gletscher (der
Skridjökel) verhält sich zu dem Inlandeise wie ein schnell-
fließender Fluß oder Bach zu einem weit ausgedehnte» ruhi-
gen Landsee. Während der Gletscher in einer beständigen
vorwärts schreitenden Bewegung ist, steht das gefrorene Was-
ser des Inlandeises, gleich dem Wasser in einem Landsee,
vergleichweise still, mit Ausnahme solcher Stellen, wo es
durch die Eisströme in das Meer ausmündet. Ist ein sol-
cher Eisstrom hinlänglich breit und geht er über ein ebenes
Terrain, wo der Boden des Meeres allmälig in das Land
übergeht, so bildet er einen lothrecht abgeschnittenen, an der
Oberfläche ziemlich ebenen Gletfcher, von welchem zwar von
Zeit zu Zeit große Eisblöcke herabfallen, der aber doch keinen
wirklichen Eisbergen das Dasein giebt. Diese bilden sich
dort, wo die Tiefe des vorliegenden Meeres groß, der Strand-
absatz hoch, der Eisstrom eng und zwischen hohen Bergen
eingeklemmt ist. Hier ist der kurze Skridjökel (d.i. Schreit-
gletscher), welcher die mehrere Tausend Fuß über dem
Meere belegene Oberfläche des Inlandeises mit dem Fjord
verbindet, ähnlich einem riesenhaften Wasserfalle, gebildet
von kolossalen, unregelmäßig durch einander geworfenen Eis-
A. E. Nordenskiöld: Ueber seine Wandel
bergen, welche erst, nachdem sie oftmals umgewälzt, zerstückelt
und wieder zusammengeleimt oder geeist worden sind, das
Wasser erreichen, um darauf von den Meeresströmen in weit
südlichere Gegenden geführt zn werden.
Beinahe überall brausen am Fuße des Eiswalles Glet-
scherströme hervor, theils durch Höhlen zwischen dem Eise
und dem unterliegenden Felsen, theils aus tiefen von dem
Wasser in der Eismasse ausgeschnittenen Klüften uud Rissen.
Eine solche damals eben ausgetrocknete Kluft wurde zum
Aufklettern benutzt. Der Küste zunächst war das Eis ge-
schwärzt, aber kaum mit Erde bedeckt, sowie hier und da be-
streut mit kantigen kleineren Steinen, welche gleichwohl nicht
in einer solchen Menge auftreten, daß sie eigentliche Moränen
bilden; im Gegentheil: diese für kleinere Gletscher so charak-
tcristische Bildung fehlt wenigstens in dem von uns besuchten
Theile des Inlandeises beinahe gänzlich, ein für die Be-
nrtheiluug der Glacialbildungen in unserm Lande nicht uu-
wichtiger Umstand.
Einige hundert Ellen weiter nach innen wurde das Eis
rein und völlig frei von Steinen, gleichzeitig aber auch der-
maßen uneben, daß es aussah, als wäre die ganze Masse
gebildet von unregelmäßig durch einander geworfenen Pyra-
miden und Kämmen von Eis, welche hier und dort kleinere
tief liegende Wassersammlungen einschließen und bisweilen
von tiefen uud breiten Gletscherspalten durchschnitten sind.
Die Schwierigkeit, in diesem Chaos von steilen Eisbergen
vorwärts zu kommen, war dermaßen groß, daß ein ganzer
Tagesmarsch zu eiuem Bruchtheile einer schwedischen Meile
verwendet werden mußte. Weiterhin wurde gleichwohl die
Eisfläche etwas ebener, aber doch fortwährend gebildet von
dicht zusammengekitteten, 4 bis 6 Fuß hohen Eisbülten,
welche dem schwerbelasteten Fußwanderer sehr beschwerlich
waren, wenn auch nicht in so hohem Grade, wie das frühere
Terrain. Statt dessen war der Weg hier beinahe bei jedem
zehnten oder zwanzigsten Schritte durchschnitten von boden-
losen Klüften, welche gewöhnlich entweder durch Uebersprin-
gen oder durch eine vorsichtige Benutzung der von den Win-
terstürmen über die Abgründe geschlagenen Eisbrücken passirt
werden mußten. Auch diese Klusteuregion hörte gleichwohl
weiterhin bei einer absoluten Höhe von 1000 Fuß auf, um
daun und wann, wenn auch in geringerer Ausdehnung, auf
höher belegenen Stellen der wellenförmigen Oberfläche des
Gletschers wiederzukehren.
Immerwährend stieg nämlich das Eis langsam
nach innen an, doch mit Unterbrechungen von seichten,
ausgedehnten, muldenförmigen Vertiefungen, so zu sagen
den Sumpfregionen des Gletschers. Der Boden derselben
war gewöhnlich eingenommen von kleineren Seen oder Tei-
chen ohne sichtbaren Abfluß, obgleich sie eine Menge zum
Theil sehr reißender und wasserreicher Gletscherbäche auf-
nehmen, welche sich längs der Seiten der Vertiefung herab-
schlängeln und oft genug dem Vorwärtskommen ein zwar
weniger gefährliches, statt dessen aber mehr zeitraubendes
Hinderniß entgegensetzten als die Klüfte. Großartig, wenn
auch öde und einförmig, war das Gemälde, das sich hier
ausrollte. Ueberall, so weit das Auge reichte, nur eine uu-
unterbrochene, von einem stets wolkenlosen und daher ein-
förmigen, blaueu Himmel bedeckte Eisebene, an der Ober-
fläche etwas uneben nnd dadurch einem plötzlich erstarrten,
vom Sturme erregten Meere ähnlich, dessen in Eis verwan-
delte schäumende Wellenspitzen jetzt unbeweglich in dem Son-
nenscheine glitzern.
Die Eingeborenen berichten, daß bisweilen bedeutende
Renthierherden über das Inlandeis bis an die Westküste
vordringen — vielleicht von einem eisfreien Binnenlande.
Wir dagegen sahen keine Spur von diesen Thieren, auch
lg auf dem Inlandeise in Grönland 1870. 365
keine solche von der übrigens so reichen Vogelwelt Grönlands,
zwei Raben ausgenommen, welche noch ein Paar Meilen
von der Küste über unseren Häuptern schwebten. Ueberall
dagegen gab sich das Dasein von zahlreichen Wasserströmen
in dem Innern des Eises zu erkennen durch ein dumpfes
Brausen, das zuweilen von einem stärkern Knall, ähnlich
einem Kanonenschüsse, unterbrochen wurde, welcher äugen-
scheinlich von der Entstehung einer neuen Kluft in der unter-
liegenden Eismasse herrührte.
Die äußerste Oberfläche des Eises war gleich einem
Schwamm durchbohrt von N/2 bis 2 Fuß tiefen, runden,
verticalen, dicht an einander gehäuften, mit Wasser gefüllten
Röhren, deren Boden bedeckt war von graubraunem Grus,
unter welchem der eine Theilnehmer an der Eiswanderung,
der Doeent Berggren aus Lund, verschiedene, auch anderswo
auf dem Eise zerstreut vorkommende mikroskopische, den Ge-
schlechtem Protoeoccus und Scytonema ungehörige Algen,
sowie auch ein noch nicht mit Sicherheit bestimmtes Ge-
schlecht aus der Gruppe der Coujugateu entdeckte. Es exi-
stirt also wirklich selbst in dieser Eiswüste ein Pflanzenleben,
uud so unbedeutend diese mikroskopischen Organismen anch
sein mögen, so spielen sie doch augenscheinlich eine wichtige
Rolle, indem ihre dunkle Farbe kräftiger als das weiße Eis
oder der Schnee die Wärmestrahlen der Sonne absorbirt
nnd dadurch zum Schmelzen des Eises thätig beiträgt. Die
mächtige Eismasse, vor deren Kraft in der Länge der Zeit
der härteste Felsen weichen muß, wird also wiederum ver-
zehrt und zerstört von einer weichen, dem bloßen Auge nicht
sichtbaren Pflanzenform.
In welchem nngehenern Maßstabe die Eisschmelzung
hier in den Sommermonaten geschieht, beweisen unter
Anderm die zahlreichen Flüsse, welche überall, wo das unter-
liegende Eis nicht allzu sehr zerklüftet ist, die Oberfläche
desselben durchkreuzen. Gewöhnlich fallen diese Flüsse in
die kleinen Seen aus, welche den Boden der zuvor erwähn-
ten muldenförmigen Vertiefungen einnehmen und wahrschein-
lich einen unterirdischen Abfluß haben; oft aber sieht man
dieselben auch plötzlich in dem Innern des Eises verschwin-
den. Ein von dem Eise aufsteigender starker Nebel, ein
gewaltiges Brausen zeigt in solchem Falle schon von weitem
eine ungewöhnlichere Erscheinung an. Die zuvor auf der
Oberfläche des Gletschers hinlaufende Wassermasse hat sich
hier ein verticales Loch gebohrt, ganz bestimmt bis hinab
auf den in einer Tiefe von über 1000 Fuß belegenen Fel-
fett, um vielleicht noch ferner in diesem einen Niesentopf
auszuschlafen, ein Zeichen der Thätigkeit des Gletscherflusses,
das länger dauern wird, als die Eisfelsen von einer wunder-
bar reinen azurblauen Farbe, welche jetzt die Kanten des
Abgrundes begrenzen, in welchem der Gletscherfluß verschwin-
det. An einem Orte sah man dicht neben einem solchen
unterirdischen Wasserfalle einen intermittirenden Spring-
brunnen, einen Eis-Geysir, seinen Wasserstrahl mehre Klas-
ter hoch in die Luft werfen.
Im Ganzen gelang es der schwedischen Expedition wäh-
rend eines sechstägigen Aufenthaltes auf dem Eise, fünf
schwedische Meilen weit in das Innere einzudringen, uud
bei dem mehr als 2000 Fuß über dem Meere belegenen
Wendepunkte gestattete ein ziemlich hoher Eishügel eine nn-
endlich weite Aussicht nach allen Richtungen hin. So hatte
man den Beweis, daß diese Eiswüste mit langsamer Anstei-
gnng sich nach innen ausbreitet, so weit das Auge reichen
kann, vermuthlich bis an die hohen Alpenregionen, welche
die letzte deutsche Expedition an der Ostküste von Grönland
entdeckt hat. Gleichwohl sind Gründe vorhanden, z. B. das
Vorkommen der oben erwähnten Renthierherden, welche auch
dafür sprechen, daß das Inlandeis nur einen hohen aus eine
366 Aus allen
mit der Küste parallel laufenden Gebirgskette gestützten Wall
um ein eisfreies und vielleicht in Vergleich mit dem Küsten-
lande fruchtbares Binnenland bilden. Eine Frage von
außerordentlich großer geographischer und geologischer Wich-
tigkeit wartet also hier noch auf ihre Lösung, nnd die schwe-
dische Expedition kann es sich vielleicht zu einigem Verdienste
rechnen, hierzu beigetragen zu haben durch die Hebung des
Vorurtheils, welches in Betreff der Möglichkeit des Bor-
dringens auf dem Eisfelde des grönländischen Binnenlandes
ein ganzes Jahrtausend geherrscht hat.
Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß die Beschaf-
fenheit des grönländischen Inlandeises für uns (Schweden)
ein besonderes Interesse dadurch hat, daß wir hier ein Bild
von dem Aussehen unseres eigenen Landes in einer geologi-
schen Periode, die unserer Zeit sehr nahe liegt, vor Augen
haben. Die abgeschliffene und gereiselte Oberfläche unserer
Berge, die kolossalen erratischen Steine, welche auf unseren
Ebenen zerstreut liegen, die von einem arktischen Klima zen-
genden Thierüberreste in unseren Muschelbergen und Thon-
lagern beweisen, daß in früheren Zeiten, vielleicht mit Aus-
nähme einiger schmalen von den ersten Bewohnern des Lan-
des sparsam bevölkerten Küstenstriche, unser ganzes Land
oder richtiger der Theil desselben, welcher damals über dem
Wasser lag, eine ununterbrochene Eiswüste gewesen ist.
Daß sich hernach das Land um mehrere hundert Fuß
gehoben hat, kann als etwas Abgemachtes angesehen werden.
Weniger entschieden ist es dagegen, ob eine solche säculare
Hebung des skandinavischen Walles, welche schon in
der Mitte des vorigen Jahrhunderts den Gegenstand der in
der Geschichte der Wissenschaft berühmten Streitigkeiten zwi-
schen Celsius, Browallins u. a. m. bildete, wirklich statt-
findet, ob die beinahe immer von den Zuständen an den
Küsten der Ostsee entlehnten Beweise, welche man hierfür
anzuführen pflegt, in der That nur darauf beruhen, daß die
Ostsee gewissermaßen betrachtet werden muß als ein Landsee,
dessen Wasserstand, als abhängig von dem Verhalten zwi-
schen Zu- und Abfluß, man nicht ohne Weiteres als einen
Jndicator des Wasserstandes im Ocean betrachten kann.
Schon vor 20 Jahren richteten die Herren Chambers,
Lovsn und Erdman die Aufmerksamkeit der königlichen
Akademie der Wissenschaften auf die Nothwendigkeit, zur Be-
antwortung dieser Frage eine genaue Nivellirung zwischen
der Ostsee und dem Meere an der Westküste vorzunehmen.
Diese Arbeit ist gleichwohl erst in den beiden letzten Som-
mern durch das geologische Bureau ausgeführt worden, in-
dem Herr AlgernonBörtzell in diesen Jahren mit be-
sonderer Sorgfalt und Genauigkeit und mit zu dem Zwecke
besonders construirten Apparaten von der Ostsee bei Sunds-
vall durch Medelpad und Jemtland über die norwegische
Grenze bis an die Nordsee bei Levanger im Trondhjemsjord
eine Nivellirung ausgeführt hat. Dabei hat sich ergeben,
daß die Oberfläche der Ostsee bei Snndsvall am
20. August 1869 um 2,44 Fuß höher lag, als die
Oberfläche des Trondhjemfjordes zwischen Ebbe nnd
Fluth an demselben Tage im Jahre 1870.
Die folgenden bei dem Nivellement bewerkstelligten Höhen-
bestimmungen dürften überdies noch von allgemeinem In-
teresse sein:
Höhe des Storsjö (großen Sees) 983 schwedische Fuß *)
(291,85 Meter), des Kall-Sees 1281 Fuß (380,33 Meter),
des höchsten Gipfels der Aresknta 4958 Fuß (1472,2? Me-
ter), Grenze der Nadelhölzer an der nördlichen Seite des
Berges 2040 Fuß (605,65 Meter), Reichsgrenze im Westen
des Sees Anjen 1757 Fuß (521,65 Meter).
*) 3,36812g schwedische Fuß — 1 Meter.
Aus allen Erdtheilen.
Aus Nordamerika.
Die farbige Bevölkerung in den Vereinigten Staaten
wird für 1370 vom Zählungsamt in Washington auf 4,857,000
Seelen angegeben, eine Zunahme von etwa 35 Proc. gegen 1860.
Unter den neuen Staaten hat sich Minnesota rasch ge-
hoben. Dieser Staat, welcher nordwestlich von Wisconsin liegt
und das Quellgebiet des Mississippi umfaßt, sagt schon seines
Klimas wegen den Einwanderern aus Nordeuropa zu. Die
Zählung für 1870 hat 439,332 Seelen ergeben; davon waren
in Minnesota selbst geboren 126,117, in anderen Staaten und
Territorien 152,518, und 160,697 in anderen Ländern. Von
der erster» Kategorie waren mindestens eben so viele Kinder von
europäischen Einwanderern wie von eingeborenen Amerikanern.
Es ist von Interesse zu sehen, wie sich jene 439,332 zusammen-
setzen. Aus dem Staate Neuyork sind gekommen 39,507, aus
Wisconsin 24,048, aus Ohio 12,651, Pennsylvanien 11,966,
Illinois 10,979, Maine 9939, Indiana 7438, Vermont 6815,
Massachusetts 5731. Mit Ausnahme der hier durchschossen
gedruckten Staaten enthalten die übrigen eine starke deutsche Be-
völkerung und viele Einwanderer von dort sind deutscher Ab-
stammung. Von den „Ausländern", d. h. über See Eingewan-
derten, sind 41,364 Deutsche. Die Skandinavier haben be-
greiflicherweise Vorliebe für ein fruchtbares Land, in welchem
sie lange Winter wie in der alten Heimath finden; ihre Ge-
sammtzahl stellt sich auf 56,927 Köpfe, wovon 35,940 Nor-
weger und 20,987 Schweden. Aus England kamen nur 6614,
aus Irland 21,746, aus dem britischen Nordamerika 16,698.
Es ist für den Staat offenbar ein Segen, daß das germani-
fche Element fo entschieden vorwiegt. Man sieht, wie Minne-
sota seine Bevölkerung ganz und gar aus den nördlichen,
nordwestlichen und mittleren Staaten der Union, sodann
aus Nord- und Nordwest-Europa erhalten hat.
Ganz anders sind die Verhältnisse im Süden; ich nehme
als Beispiel die Bevölkerung von Florida. Die amtliche Zäh-
lung sür 1870 ergiebt eine Gesammtmenge von 187,746 Köpfen.
Davon sind 109,552 Eingeborene des Staates, 73,227 aus an-
deren Staaten und nur 4967 Ausländer. Von den in Amerika
Geborenen sind 91,395 Weiße und 91,384 Farbige, so daß
die Zahl beider einander gleich ist. Sie kamen aus Georgia,
Südcarolina, Alabama, Nordcarolina, Virginien, also aus süd-
lichen Staaten; aus Neuyork sind 1015 Weiße (zumeist politi-
sche Abenteurer, Earpetbaggers) und nur 35 Farbige, aus Neu-
jersey 985 Weiße und 7 Farbige; andere Nordstaaten haben
nur ein sehr geringes Kontingent gestellt. Von den Ausländern
sind: 1155 Cubaner, von den Bahama-Jnseln 1011;
Deutsche 597, Jrländer (darunter Soldaten der Union) 737,
Engländer 899, Schotten 114, Franzosen 123 Köpfe. Man
sieht, wie die Bestandteile der Einwanderung durch die klima-
tischen Verhältnisse bestimmt werden.
Ueber die Zustände im Süden, das Treiben des Prä-
sidenten Grant und seiner radicalen Partei im Congresse haben
wir jüngst eingehende Mittheilungen gemacht. Jetzt lesen wir,
daß einer der ärgsten Radicalen, welcher seit dreißig Jahren
Aus allen
eine ungeheure Summe von Unheil angestiftet hat, der Fana-
tiker Wendel! Philipps, Galgen und Rad für den Süden
aufrichten will. Das geht doch selbst der erzradicalen „Newyork
Tribüne" zu weit; sie hält ihrer eigenen Partei (Nr. vom 17. Mai)
eine eindringliche Standrede. Wir theilen dieselbe mit, gerade
weil sie aus einer solchen Quelle komnit und geeignet ist, Vor-
urtheile und salsche Ausfassungen über die angebliche „Partei
der Freiheit, Gottes und der Moralität" zu beseitigen.
„Unsere Berichterstatter entwerfen eine geradezu melancholi-
sche Schilderung über die gesellschaftlichen Zustände im Süden.
Die intelligentesten, einflußreichsten, wirklich nützli-
chen Männer, alle Leute von Erziehung, sind aller
politischen Rechte beraubt, sie sind lediglich mißhan-
delte Unterthanen eines despotischen Eroberers. Eine
Horde niederträchtiger (rascally), aus der Fremde herbeigelan-
fener Abenteurer überbürdet sie mit Steuern und beschwindelt
sie unter Beihülfe einer ganz unwissenden Classe, die noch vor
Kurzem die Erdscholle mit der Hacke umwandte oder in der
Küche diente. Jene intelligenten Leute kümmern sich nicht um
die Politik, sie wollen sich nur eines unerträglich gewordenen
Joches entledigen. Für nationale Interessen haben sie jetzt gar
keinen Sinn. Der Abschaum aus den Städten des
Nordens, der nach Beendigung des Krieges nach den Süd-
staaten zog, Subjecte ohne Erziehung und von schlechtem Eha-
rakter, — die fahren nun dort in glänzenden Equipagen, trin-
ken die theuersten Weine, erglänzen in Diamanten und stehlen
Geld so rasch wie die Straßencommissäre in Neuyork. Ist es
ein Wunder, wenn der ausgesogene und verarmte Pflanzer mit
Ingrimm im Herzen solchen Unsug mit ansehen muß, er, der
alle Tage in größere Dürftigkeit geräth, der Offizier der confö-
derirten Armee, der fo wacker und tapfer für eine Sache focht
und einstand, die er für eine gerechte hielt, der Beamte, welcher
ehrlich und rechtschaffen dem Gemeinwesen gedient hatte? Diese
Männer würden sich wohl der Herrschast von Soldaten beugen,
von denen sie in der Schlacht besiegt wurden, aber nun werden
sie ausgeplündert von ehemaligen Marketendern und Gesindel,
das sich im Lager umhertrieb."
„Es ist in der That ein jammervoller Zustand für eine
republikanische Regierung, eine reine Burleske zur Verhöhnung
des allgemeinen Stimmrechts, wenn es geradezu verboten ist,
den intelligenten und anständigen Bürgern die Stimme zu geben.
Wir haben oftmals unsere Partei im Congresse gewarnt und
haben ihr gesagt, welches Resultat unvermeidlich aus der räch-
süchtigen Art und Weise der Durchführung der Reconstruction
sich ergeben müsse. Wir haben ihnen gesagt und wiederholen:
Es giebt nur ein Mittel, die Union wieder herzustellen, —
allgemeine Amnestie und unparteiisches Stimmrecht."
Dann spricht die „Tribüne" mit Ernst über die Gewalttha-
ten, welcher sich die durch Grant und dessen Carpetbagger zur
Verzweiflung gebrachten Weißen schuldig machen. „Durch Böse-
wichter," so sagt sie, „werden die armen Schwarzen (Werkzeuge
der Abenteurer) bei Nacht und Nebel ausgepeitscht oder durch die
Kugeln von Meuchelmördern niedergestreckt. In den Berichten
über die Kuklux mag wohl Manches übertrieben sein, aber
manche Angaben sind auch richtig. Es ist Thatsache, daß Leute
aus ihren Betten geholt und von bewaffneten, verlarvten Leuten
mißhandelt oder ermordet werden. In einem einzigen County
von Südcarolina sind drei Männer todtgeschossen, dreißig bis
vierzig verwundet, Hunderte ausgepeitscht worden, aber nur in
einem einzigen Falle wurde eine Verhaftung vorgenommen; die
große Jury erklärte jedoch, daß kein Grund zur Anklage vor-
handen sei; der Richter, welcher den Verhastsbesehl ausgestellt
hat, wurde aus der Stadt vertrieben. Steuereinnehmer (Carpet-
baggers) sind ihres Lebens nicht sicher; vielfach wird gegen die
Mißhandelten von Seiten der Kuklux keine andere Beschuldigung
erhoben, als daß sie für die republikanische Partei (die radicalen
Carpetbaggers) stimmen; da die Weißen proscribirt sind, so wol-
len sie mit Kugeln und Peitsche sich die Controle über den
Staat verschaffen. Der Präsident läßt Soldaten marschiren.
Erdtheilen. 367
Aber wenn auch die Kuklux unterdrückt werden, wird dann nicht
die Corruption in der Verwaltung des Staats nur um so ärger
werden? Es ist ein Antagonismus der Racen ins Leben
gerufen worden, der ein paar Generationen andauern kann.
Die Neger werden unter allen Umständen zum großen Theil
die Wahlen in den Südstaaten controliren, und die südlichen
Cavaliere thun jetzt Alles, um diese Stimmen der demokratischen
Partei zu entfremden. Die Gesellschaft ist in zweiTheile
gesondert, die einander auf das Bitterste hassen. Die
Klage geht dahin, daß die eine (Grant's) Partei aus Dieben
besteht; wollen nun die weißen Südländer der Welt zeigen, daß
die andere aus Mördern bestehe?" So weit die „Tribüne".
Man sieht, wie durch die Politik, die Rachsucht und den
Unverstand der radicalen Gott- und Moralitätspartei eine wilde
Anarchie hervorgerufen worden ist.
Aus Australien.
In Warrnambul, Victoria, hat man mit der Fabrika-
tion des Rübenzuckers begonnen; das Actiencapital der Fabrik
beträgt 25,000 Pf. St.
Das Hinwegsterben der australischen Eingebore-
nen, welche mit der Civilisation in Berührung kommen, nimmt
ununterbrochen feinen Fortgang. Wir lesen, daß im Oktober
1870 auch „König Jerry" das Zeitliche gesegnet habe, nach-
dem die meisten Leute seines Stammes ihm vorangegangen
waren. Er starb im Krankenhause zu Geelong, erst 45 Jahre
alt, und galt für einen Christen, von dessen Bekehrung die
Baptisten seiner Zeit großes Aufheben gemacht hatten. Die
australische Regierung hatte ihm als Zeichen seiner Würde eine
Messingplatte gegeben, die er am Halse hängen hatte; die In-
schrist lautete: „Jerry, König von Dan, Dan Noc ist
der schnellste Läuser in Geelong." Der Bericht schreibt:
Seine schwarze Majestät kränkelte schon seit längerer Zeit und
war zuletzt eigentlich nur noch ein Gerippe. Er hatte sich nicht
geschont, ein schlechtes Leben geführt und der fchlechte Rum setzte
ihm auch stark zu. Er ist im Mausoleum beigesetzt worden,
welches vor einigen Jahren auf dem Leichenhofe gebaut wurde,
um die irdischen Ueberreste der Eingeborenen aufzunehmen. Die
Protectoren derselben waren bei seinem Tode zugegen; auf ihre
Frage, wohin er nun, als guter, gläubiger Christ, kommen werde,
wenn feine unsterbliche Seele vom Leib Abschied nehme, entgeg-
neteer: „Ich gehe dann dahin, wo ich jagen und fischen
kann, wo es viele sette Enten und Kängeruhs giebt."
Das ist sein Paradies und so stellt er sich die ewige Seligkeit
vor.
In der Coriabai, Victoria, wurde bekanntlich ein bisher
unbekannter Fisch gefangen; in Europa waren sofort Zoolo-
gen bei der Hand, um ein solches Thier für eine „Unmöglich-
keit" zu erklären. Nun sind jedoch mehrere Exemplare vorhan-
den, auch in London befindet sich ein solches. Herr Mac Coy,
Professor der Naturwissenschaften in Melbourne, schreibt: „Er
ist ein merkwürdiger Fisch, der allerdings abnorm erscheint;
man bezeichnet ihn als südliche Chimära; die Matrosen nen-
nen ihn Elephantensisch, die Ichthyologen haben ihn Callo-
rhynchus antarcticus benannt. In Bau und Lebensweise
nähert er sich dem Hai. An der Küste von Portland kommt er
keineswegs selten vor."
Das allinälige Aussterben der Samojeden.
na.— Nach einem Schreiben aus Ar ch an gel (an die „Rus-
sische Börsenzeitung") gehören auch die Samojeden zu den
Völkerschaften, die einem unvermeidlichen Untergange
geweiht sind. Der einst so zahlreiche Stamm ist gegenwärtig
auf circa 7000 Individuen zusammengeschmolzen, die Zahl der
Geburten verringert sich von Jahr zu Jahr, wohingegen die der
Sterbesälle zunimmt. Die Samojeden sind im Verkehr mit den
Nachbarstämmen verarmt und demoralisirt. Ihre Renthier-
368 Aus allen
Herden (ihr Hauptreichthum) suchen bei Kleinem in die Hände
der anwohnenden Syrjänen und Russen über, bei denen sie
durch stets erneuerte Anleihen an Getreide und Branntwein so
ties verschuldet sind, daß ein großer Theilder ehemaligen Herden-
besitzer zu Arbeitern im Dienste der Gläubiger herabgesunken
ist. Trotzdem sind die Samojeden, wenn auch das harte Leben
in ihnen die thierischen Jnstincte aus Kosten der geistigen An-
lagen entwickelt hat, keineswegs ohne Intelligenz und ohne Ta-
lente. Mehr als einer aus ihrer Mitte hat jsich zum tüchtigen
Geschäftsmann emporgearbeitet, und der Referent aus Archangel
kennt einen Schiffscapitän, der geborner Samojede ist und rus-
fisch, dänisch, deutsch, englisch und französisch spricht. Diese
Ausnahmen bleiben freilich ohne Einfluß aus das Geschick der
Gesammtheit; das Volk stirbt aus, und da es keine Lieder,
keine Traditionen besitzt, so wird auch sein Andenken nicht von
dem poetischen Nachglanz verklärt werden, welcher anderen aus-
sterbenden Völkern das dauernde Interesse der Lebenden zusichert.
4- * *
— Ch. Marshall, von welchem soeben ein Werk über
Eanada erschien, erzählt von einer Betversammlung, die in
einer mit Schindeln gedeckten Halle stattfand. Die Andächtigen
waren alle Neger, bis auf einige weiße Zuhörer. Ein kleiner,
schon bejahrter schwarzer Mann wurde von heiliger Begeisterung
ergriffen, als er verspürte, daß Gott zu ihm sich herablasse. Er
rief der Gemeinde zu: „I ch höre, wie der Herrgott durch die
Schindeln herunterkommt. Komm nur herunter, Herr! Hier ist
ein schwarzer Mann, und das bin ich. Ich will alle Schin-
deln bezahlen, die dabei zerbrochen werden." (Here's
a darkie — dat's nie; — '11 pay for all dem shingles,
what gets broke up dar.)
— Zu Para matta in Neusüdwales wurde ein Herr Lo-
rando Jones zu zweijähriger Gefängnißstrase verurtheilt, weil
er erklärt hatte, daß in den jüdischen Büchern, welche man das
alte Testament zu nennen pflege, Vieles nicht wahr sei, weil
nach den Naturgesetzen unmöglich. Geistliche machten deshalb
einen Proceß wegen „Blasphemie und Gotteslästerung" gegen
ihn anhängig, gruben irgend ein altes englisches Gesetz aus dem
Staub hervor., und diesem gemäß verhängte der Nichter zwei
Jahr Gefängnißstrase über besagten Jones. Nun aber hat der
Gouverneur ihn sofort begnadigt und die gesetzgebende Ver-
sammlung jenes alte Gesetz abgeschafft; die Kritik jener „alten
Judenbücher" ist fernerhin gestattet und straffrei.
— Was die Franzosen Alles aus demDorsnamen
Uebigan machen.
Unterhalb Dresden, am rechten Elbuser, etwa eine Weg-
stunde von der Stadt entfernt, liegt Uebigau. Dort war auf
den ausgedehnten Wiesen Platz genug sür die Anlage eines Ba-
rackenlagers, in welchem seit September 1870 etwa 16,000 sran-
zösische Kriegsgefangene ihr Unterkommen fanden. Es war eine
wunderliche Gesellschaft; die urafrikanische Hyäne bildete zu dem
feinen Pariser oder Lyoner Stutzer einen interessanten Gegensatz.
Die Eorrespondenz mit der Heimath war den Leuten freige-
geben, und Briefe kamen in Menge an. Nur sehr wenige aber
hatten den Ortsnamen Uebigau richtig angegeben. Der säch-
sische Militärbeamte, welcher die Eorrespondenz beaufsichtigen
mußte, hat nicht weniger als 360 verschiedene Schreib-
arten des Wortes Uebigau, welche er aus den Briefadressen
fand, zusammengestellt und in einem Dresdner Localblatte ver-
ösfentlicht; er bemerkt, daß er die Musterkarte noch um minde-
stens das Dreisache hätte bereichern können, wenn ihm Muße
genug dasür geblieben wäre.
Erdth eilen.
Seine „Blumenlese" verdient einem weitern Leserkreise zu-
gänglich gemacht zu werden.
Es ist zu bemerken, daß alle die folgenden Verdrehungen
nicht Ausgeburten einer müßigen Phantasie, sondern Schwarz auf
Weiß geschrieben und nach Hause getragen worden sind. Zu-
nächst einige Beispiele der französischen Arroganz, welche
alles Fremde französisiren zu müssen glaubt und in der Mei-
nung lebt, das Französische werde vom Nord- bis zum Südpol
gesprochen.
So las man denn für Uebigau: Ubigaeux, Ulebigant,
Unebigaut, Ubigneaux, Bignaud, Bigaut, Blebigaux, camp
du Bigot, du Byou, du Ligeau, Aubigaux, Anginau, Ebi-
gault, Ilubigaux, Hue Bigot, Ruligoux ic. :c. Umgekehrt
zeigte sich das Bestreben, das unglückliche Wort barbarisiren
zu wollen, und es wurden der deutschen Sprache Eonsonanten-
Verbindungen zugemuthet, die in Bezug aus den Wohlklang das
Samojedische und Hottentotische weit hinter sich lassen, z. B.:
Hselgun, Ilmbüget, Huilcigo, Mrgan, Nbbigant, Suibgot,
Tsigau. Ucbiquocu, Ucseigau, Ubryau (gedruckt auf dem
Kreuzbande einer regelmäßig eingehenden belgischen Zeitung),
Ubigau, Uekbgai, Ucigtland, Uleidgaut, Vbigun, Wrlgau.
Mit Ausnahme von drei Buchstaben waren sämmtliche Zeichen
des Alphabetes als Anfangsbuchstaben vorhanden, wie folgende
Liste zeigt: Augaubigot, Beikau, Cubigno, Dobigau, Ellu-
ligan, Haubiger, Ibien, Küriko, Lubikot, Migaud, Nebizot.,
Olgau, Pugant, Rebigot, Stebigau, Tlebigau, Ubingen,
Yelgaus, Wigau, Hubigo, Ylibigot und schließlich sonderbarer
Weise camp de Zwickau pres de Dresde. Spanisch klingt
Hecobigos, italienisch Ligua und Ugoli, lateinisch Ubique,
griechisch Meligon, deutsch Nubingen, russisch Dubigoff :c.
Mitunter zeigte die Behandlung des Namens wirklich von Nach-
denken; so hatte vielleicht Einer nach Hause geschrieben, daß in
der Nähe des Barackenlagers Wasser sei, er erhielt einen Brief
mit der Adresse ä lile Bigau. Die gemeldete Nähe du fleuve
de l'Elbe verleitete wahrscheinlich zu den Benennungen El-
bigo und Elbigia. Zu Ehren des Exkaisers wurde das Lager
von Uebigau camp Napoleon genannt, der Uebergang von
Uebigau zu Napoleon wird vermittelt durch das Zwischenglied
camp Naperleon. — Daß die Vorstellungen über die sittlichen
Zustände der deutschen Barbaren nicht gerade sonderlich schmei-
chelhast sind, beweist der Name camp des brigands. Die wun-
derbarsten Wortverbindungen kommen vor, so ue Bignau, ne
Bigau, au Bigui, aue Bego, Condeluco (zusammengezogen aus
camp de Luco), Esse Bigo, Hub-ä-gau, Huet-Bigou, Nuit
Bigaut, O'Rebigau. Ferner eine Auswahl der horribelsten
Monstra, worin sast kein Buchstabe mehr an das ursprüngliche
Wort erinnert: Burlügot, Biosjau, au Baingel Crilot, Cu-
tigo, Duplipian, Kuirko, Mizau, Mecijeau, Neigau, Nebi-
gose, Oervigan, Sapains, Schubiquot, Tanac, Ulgick, Voi-
gnaut. Doch den Bewohnern des gemißhandelten Uebigau zum
Schluß die Mittheilung, daß ihnen auch ein großes Heil wider-
fahren ist. Der Name ihres Ortes ist zu dem eines Heiligen
gemacht worden. 8t. Ubigaud und St. Mligou, in der That
zwei wunderliche Heilige, um welche der Kalender vermehrt wer-
den könnte. Hoffen wir, daß ihnen die Eanonifation zu Theil
werde, wie sie die Märtyrerkrone bereits erlangt haben, denn grüß-
licher als sie wurden selbst die hochheiligen Blutzeugen der Chri-
stenheit nicht gepeinigt und zerfleischt. 0! Sancti Ubigaud et
Mligou orate pro nobis und wollet uns bewahren in Gnaden
vor solchen Blumen des Blödsinns, wie sie unsere geistreiche
Nachbarnativn in ihrer überlegenen Unwissenheit und Oberfläch-
lichkeit täglich erblühen läßt!"
Inhalt: Streiszüge in Florida. (Mit fünf Abbildungen.) (Fortsetzung.) — Politische und commercielle Zustände der
Samoa-Jnseln. Nach Th. Aube. — Geologische Entwicklung der italienischen Halbinsel. (Mit zwei Abbildungen.) —■ A. E.
Nordenskiöld: Ueber seine Wanderung auf dem Inlandeise in Grönland 1870. — Aus allen Erdtheilen: Aus Nordamerika. —
Aus Australien. — Das allmälige Aussterben der Samojeden. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Audree in Dresden. — Für die Nedaction verantwortlich: H. Vicweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
%
%
*d.
JQ 24.
lit besonderer Herücksicktigung äer Antkropologie unä Gtünologie.
Zn
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
Aull Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4Sgr. 1871.
Streifznge in Florida.
in.
Auf einem Vivero. — Kakerlaken. — Hummerfang. — Die Sargassowiesen bei Florida u»d ihr Thierleben. — Die Fische:
Engel, Seewolf, Haifisch, Strumpfband. — Ein Aquarium auf See. — Thunfang. — Ein altes fpanifches Ca stell. — Die
Kupferschlange. — Auf der Eotton-Prairie.
Wir verließen unfern Naturforscher bei den Schwamm-
fischern auf der Insel Anastasia; jetzt begleiten wir ihn au
Bord des Vivero. Es war Abends gegen zehn Uhr, als
in der Cajüte der FischergoÄette befand, von den An-
er
strengungen des Tages ermüdet und des Schlafes bedürftig;
indeß wagte er sich lange Zeit nicht in die Koje wegen der
abscheulichen Kakerlaken, welche überall umherflogen und
einen entsetzlichen Geruch verbreiten. Sie schwirrten ihm
ins Gesicht, auf dem sie rothe Streifen zurückließen, und
nagten an Kleider» und Schuhsohlen. Sobald das Tages-
licht erscheint, verschwinden sie und verkriechen sich im Raum
oder in den Ritzen des Schiffes, welche sie vermittelst einer
Flüssigkeit erweitern, die so ätzend ist, daß ihr auch das
härteste Holz nicht widersteht. Wie im Rothen Meere und
im Indischen Oceane sind sie auch in den Antillengewässern.
widerwärtige Plage. Diese Blatta orientalis
eine
frißt Koffer, Leinwand, Kleider, Eßwaaren, kurz alles Mög
liche an und ist nicht auszurotten.
Das Schiffsvolk suchte inzwischen Seewürmer zum Kö-
dern; Poufsielgne fuhr am Morgen mit dem Schisfspatron
in See nach den Reusen, welche zwischen den Felsen zum
Hummerfang ausgelegt worden waren. Diese Reusen
sind sehr zweckmäßig hergerichtet. Sie bestehen aus galva-
nisirtem Eisen, das vom Seewasser nicht angefressen wird,
GtvbuS XIX. Nr. 24. (Juli 1871.)
sind geräumig, haben zwei Oeffnnngen und in der Mitte
einen bleiernen Klotz als Beschwerer. Der aus Fischen be-
stehende Köder ist vermittelst zweier Haken in der Mitte
derart angebracht, daß der Hummer von außen ihn mit seinen
langen Scheeren nicht fassen kann. Ein Stück Holz ist als
Boye an einem laugen aus Binsen geflochtenen Seile befestigt,
an welchem man die Reuse emporzieht, und vermittelst einer
im Gitter angebrachten Thür langt man den Fang heraus.
Dieser war reichlich ausgefallen; unter den Hummern war
einer über drei Fuß lang, er wog reichlich sechszehu Pfund.
Diese Art an der Floridaküste hat Ähnlichkeit mit der in
unseren europäischen Gewässern; sie ist gleichfalls bläulich
mit gelben Flecken, doch sind die Farben glänzender. Unter
den Krabben war eine Art mit Dornen gleichsam bespickt,
ihre Kralleuzangen waren löffelartig ausgehöhlt. Ich habe
diese schreckliche Krabbe gezeichnet; sie gleicht einem moos-
bedeckten Steine, der sich fortbewegt, und gehört zur Gattung
Parthenope; Cuvier hat sie Mithrax genannt, ich will sie
Partlienope borribilis nennen.
Man darf die mit so gefährlichen Waffen versehenen
Schalthiere nicht mit der bloßen Hand herausnehmen, weil
im besten Falle dabei ein paar Finger verloren gehen könn-
tcn. Der Patron nun setzte Zange gegen Zange; vermit-
telst eines zweckmäßigen Werkzeuges packte er die Thiere im
47
t
4
370
Streifzüge in Florida.
Rücken, ohne sie zu beschädigen, und dann kamen sie in die
Hummerabtheilung. Die Krabben sind nicht verkäuflich und
werden von den Matrosen verspeist.
Diese waren inzwischen mit einer reichlichen Menge Kö-
ders, namentlich mit sogenannten Röhren Würmern, ver-
sehen. Sie haben weder Kopf noch Augen, sind aber an
ihren Füßen mit Haken versehen;'vermittelst derselben können
sie sich auch an sehr glatten Steinen festhalten. Sie stecken
in einer kalkigen Röhre, welche sie sich selber aus ihren Ab-
sonderungen bereiten, oder in einem Gehäuse des allerfeinsten
Sandes, welches sie um ihren Körper gleichsam herumleimen.
Das Schifsvolk bezeichnet diese Serpula gigantea, die bis
zu 40 Centimeter lang wird, als Seeröhre.
Etwa um neun Uhr Morgens fuhr der Vivero nach den
Fifchereiplätzen, und gegen Abend waren wir etwa 30 See-
meilen weit gefahren. Dann warf die GoÄette Anker bei
40 Faden Tiefe an einer offenen Stelle im Sargassomeer.
Auch bei Florida liegen im Meere große Tang wiesen, die
man vollkommen zutreffend als Sargassomeer bezeichnet, denn
der Sargasso, Seetang, bildet den Hauptbestandtheil derselben,
und dieses Seekraut liegt an manchen Stellen in so dichten
Massen, daß ein Segelschiff
nicht Hindurchsahren kann.
Ich habe diese Seewiesen ge-
nan beobachtet. Der Sar-
gasso lebt auf der Oberfläche
des Meeres, wie manche
Moose auf stehenden süßen
Morastgewässern; er hat
lange Stiele, Blätter, Früch-
te, aber keine Wurzel. Er
kommt uicht, wie man früher
wohl annahm, aus der Tieft
empor, wo er sich abgerissen
hätte. Man gewahrt an
einem und demselben Stiele
schwärzliche, fast abgestorbene
Blätter neben neuen Blät-
tern, Zweigen und Körnern,
die eben hervorwachsen. Der-
Sargasso ist eine immense
schwimmende Vegeta-
tio n. An manchen Stellen
hat diese oceanische Wiese eine
schön grüne Farbe, an anderen ist sie rostgelb, überall ist das
Ganze dicht durch einander geschlungen. Man findet aber
auch andere Seekräuter zwischen dem Sargasso; diese allerdings
sind vom Meeresboden abgerissen und vom Golfstrom heran-
getrieben worden. Sie kommen in sehr verschiedenen Formen
und Farben vor: roth, rosensarben, goldgelb, spielen in Regen-
bogensarben, aber das Olivengrün herrscht vor. Ich fand
einen Zweig der Laminaria, der reichlich 90 Fuß Länge
hatte und genau einem grün angestrichenen Lederriemen glich.
Häufig ist neben diesen riesigen Gewächsen eine mikroskopi-
sche Alge von scharlachröthlicher Farbe, Protococcus atlan-
ticus, deren man reichlich einhundert bedarf, um den Raum
eines Quadratcentimeters zu bedecken. Sie waren in fo
großer Menge vorhanden, daß das Meer auf weiten Strecken
blutroth aussah. Jene Meerpflanzen tragen Blüthen und
Früchte, und diese letzteren bestehen aus kleinen runden Kör-
nern, welche Beeren bilden (man bezeichnet sie als tropische
Trauben), oder aus Säckchen oder kleinen Taschen; als Blü-
then kann man die Cavolinen und Aeoliden bezeichnen, selt-
same Mollusken von länglicher Form und mit prangenden
Farben; sie kriechen auf den Blättern hin, von welchen sie
sich nähren. Im Sargasso leben auch kleine Krebse, Krab-
Parthenope liorribilis.
ben, Muscheln :c. Die kleinen Thiere bieten den Fischen
Nahrung, und diesen stellt der Mensch nach.
Die Nacht war sternhell. Ich stand auf dem Hinter-
theil des Vivero und hatte zwei Leinen in See; auch Paddy
Karr fifchte, und der Negerjunge Hiob befestigte den Köder
an den Angelhaken und trug die Fische fort. Mein erster
Fang war eine Sardelle von acht bis zehn Pfund, die ohne
große Schwierigkeit heraufgehißt wurde. Sie hat eine sehr
stachelige Rückenflosse, ist grau mit gelb gesprenkelt. Sie
bewegte sich nicht und schien bereits tobt zu seht; die Augen
traten weit hervor, der Leib war aufgeschwollen, der Magen-
sack in den Rachen hinausgestiegen. Ich wußte aus Ersah-
ruug, daß ein Fisch, der in beträchtlicher Tiefe gefangen wor-
den ist, alle Anzeichen von Erstickung hat, sobald er auf die
Oberfläche kommt. Er zappelt unten im Wasser hin und
her, der Fischer zieht die Leine bald an, bald läßt er sie wie-
der länger sein, und das ermüdet den Fisch. Sobald die
mächtige Wassersäule nicht ferner ihren Druck auf ihn übt,
erweitert sich die Schwimmblase und treibt den Bauch auf.
Das Alles wissen Fischer und Naturforscher längst. Aber
wie kann man nun einen Fisch, der aus einer Tiefe von
40 Faden, also 240 Fuß,
herausgeholt worden ist, le-
bendig erhalten?
Ich brachte meine Sar-
delle dem Patron, der an
einer Luke saß, und warf
diese Frage aus. Er lächelte
und sagte, ich möge meinen
Fisch nur in jene Bütte dort
legen. Dort lag sie, den
Bauch nach oben gekehrt,
neben einigen anderen, bei
welchen ein Gleiches derFall
war. Neben der Bütte stand
ein Tisch, auf welchen Lam-
penlicht siel; auf demselben
lagen eiserne Röhren von
verschiedenem Durchmesser,
die an einem hölzernen Griffe
befestigt waren. Der Pa-
tron nahm eine dieser Röh-
rat, legte die Sardelle auf
den Tisch, hob eine der gro-
ßen Brustflossen und stach mit dem Rohr in die Seite.
Sofort drang ans der Oeffnung die Lust mit einem leich-
ten Zischen hervor und nun bewegte sich der Fisch, rührte
den Schwanz und als er in dem großen Behälter war,
schwamm er ganz munter umher. Mit den anderen wurde
eben so verfahren, und ich war Zeuge, daß an etwa dreißig
Fischen dieselbe Operation vorgenommen wurde. Es kommt
darauf au, daß man die „Pica" vorsichtig an einer Stelle
in den Fisch sticht, wo kein empfindlicher Theil verletzt wird.
Ich stellte selber einige Versuche an, die auch gut gelangen;
man muß die Spitze in die Umhüllung der Schwimmblase
bringen, die sich dann leert; der Magen wird schlaff, tritt
aus dem Nachen zurück und der Fisch kann wieder athmen.
Als der Tag grauete, hatte ich etwa vierzig Fische ge-
fangen, darunter auch einen Engel (Squatina Dumerilii).
Dieser ist eine Species vom Rochen, mit narbiger Haut,
weiß und blauen Flossen und wird Engel genannt als Hohn
dafür, daß er einen so widerwärtigen Anblick darbiet. Auch
einen vier Fuß langen Seewolf fing ich und hatte meine
liebe Roth, ihn auf Deck zu ziehen. Diesen Zoarces mit
den großen Lippen, wie Cuvier ihn benannt hat, zeichnete
ich; er sieht grimmig genug aus; an den Zähnen läuft ein
Vv-iiü- •
4
i
Streifzüge
leimartiger Speichel herab. Fische dieser Art sind nicht ver-
käuflich; man schlägt sie mit einem großen Hammer tobt
und benutzt das Fleisch als Köder.
Es war nun heller Tag geworden und jetzt betrachtete
ich mir den großen Fischbehälfer, welcher wie ein Aqua-
rium sein Licht durch Doppelscheiben erhält. Der Anblick
so verschiedener Seethiere neben und durch einander ist in-
teressant. Die Sardellen und Lippfische, welche nicht über
zwei Fuß lang sind, schwimmen in Gemeinschaft ziemlich
oben im Wasser, während die großen Fische sich dem Boden
nahe halten. Ich zählte fünf Arten, die alle prächtig ge-
färbt waren. Der Creolen- Clepticus ist Purpurroth mit
grünem Schiller; die Colassardelle kupfergelb mit Purpur-
nem Kopfe, und jede Schuppe ist wurmförmig gestippt.
in Florida. 371
Manchmal hob sich ein Trichiurus lepturus, dieses „sil-
berne Strumpfband", auf seinem Schwanz in die Höhe;
sein flacher Leib schlängelte sich und er zeigte seinen unver-
hältnißmäßig großen Rachen, der mit schneidenden Zähnen
besetzt ist, über dem Wasser. Dann stoben die erschreckten
Sardellen nach allen Richtungen aus einander, um in einem
andern Winkel des Behälters Frieden zu sinden. Neben
jenen Bandfischen, welche ihren langen Leib hin und her be-
wegten, wie eine Fahne im Winde flattert, lag wie ein ans
Ufer getriebener Baumstamm unbeweglich der Cavallo oder
Megalopus, ein wohl 12 Fuß langer Riesenhäring, des-
sen Rückenflosse in eine Art von dünnem Faden ausläuft.
Auch die fogeuanten Reiter lagen still da; man erkennt sie
an ihrer dichten Mähne; der sogenannte Reiter mit den
■ I
Operation des Punktirens.
Sternen hat auf blauem Grunde" schwarze und silberweiße
Streifen; der gesteckte Reiter wird von den Fischern, ich weiß
nicht weshalb, als Walfischmama bezeichnet, und sein Fleisch
ist so delicat, daß man in Havana das Psuud mit 12 Sil-
bergroscheu bezahlt. Die Hummer übernehmen die Reini-
gnng des Wassers; an sie wagt sich Niemand, weil sie stets
bereit sind, ihre mächtigen Scheeren zu zeigen. Sobald ein
Fisch abstirbt, machen sie sich gleich über ihn her und ver-
zehren ihn gierig.
Wir hatten binnen 14 Stunden reichlich 400 marktbare
Fische in den Behälter gebracht; derselbe konnte ungefähr
die doppelte Anzahl fassen; in einem Tag- oder vielmehr
Nachtfange hatte der Patron an 3000 Pfund verkäufliche
Waare, die wohl an 400 bis 500 Thaler eingebracht haben
wird. Doch ist der Fang nicht immer so glücklich, denn
wenn die Haifische und andere große Squalusarten erscheinen,
nimmt Alles die Flucht.
Ich lag am Mast, in meinen Mantel gehüllt, und war
eingeschlafen. Die Matrosen hatten eine sogenannte Hai-
sischleine ins Meer gelassen, die aus einer eisernen Kette
besteht und am Ende einen stählernen Angelhaken hat; der
Köder war ein Stück Speck. Jetzt war die Kette angezogen,
und vier Mann hatten aus allen Kräften zu arbeiten, um
sie um die Spille zu winden. Ich war nun auf den Beinen
und sah, wie ein häßlicher Kopf zum Vorschein kam. Es
war kein Hai, sondern ein 20 Fuß langer Squalus, ein
sogenannter Hamm er fisch. Sein Kops gleicht allerdings
einem Zimmermannshammer, die beiden Enden sind fast
viereckig abgeplattet und die beiden runden Augen hatten einen
phosphorescirenden gelben Glanz. Vorn am Kopfe hing
47*
372
Streifzüge in Florida.
eine schlaffe, faltige Hautfranse herab; der graue Leib lief
in eine lange, sichelförmige Flosse ans. Dieses Seemen-
strnm zappelte hin und her und peitschte mit seinem Schwanz
an die Schiffswände; mit seiner dreifachen Reihe gewaltiger
Zähne versuchte es, sich der Kette Lu entledigen. Der Angel-
haken steckte ihm bis an den Ring in der Kehle, und bei
jedem Rucke kam ein Blut-
ström hervor, welcher an dem
weißen Leibe hinablief. Die-
ser Hammerfisch ist ein furcht-
bares Thier und ungemein
gefräßig. Die Matroseu lie-
ßen ihn den ganzen Tag hän-
gen, bis er auch nicht das
mindeste Lebenszeichen mehr
von sich gab; sie wissen gar
wohl, wie gefährlich die
Zuckungen dieser großen Fi-
sche sind, welche schon man-
chen Menschen mit einem ein-
zigen Schlage getödet haben.
Mit den Haifischen verfährt
man gerade so.
Es war verabredet wor-
den, daß der Bootführer mich
an einer Stelle ans Land
setzen sollte, die etwa eine Weg-
stunde von der Plantage Via-
tanzas liegen mochte, auf wel-
cher ich mich während der letzten Tage gastlicher Bewirthnng
zu erfreuen hatte. Während die Goölette dorthin in der Rich-
tnng nach Südwesten steuerte, betrieben wir eine andere Art
des Fischfanges. Man hatte au lauge, schwimmende Leinen
Stücke von Fischhaut befestigt, welche bei dem raschen Laufe
des Schiffes auf den Wellen auf und ab spielten. Mit die-
sein Köder fingen wir wäh-
rend des Nachmittages mehr
als zwanzig Thunfische.
Diese sind sehr gefräßig,
schwimmen auf der Oberfläche
des Meeres und schnappen
nach Allem, was sich auf der-
selben bewegt. Das Fleisch
dieses Thunfisches wird sehr
geschätzt; es ist gelb und hart
wie Kalbfleisch, lieber den
stahlblauen Rücken, der ins
Bräunliche schillert, laufen
braune Querstreifen.
Als wir noch etwa eine
Seemeile vom Strande ent-
fernt waren und in feichtes
Wasser kamen, wurde ich mit
Karr und Hiob in das kleine
Boot hinabgelassen und in der
Nähe des alten Castells
gelandet. Der Verwalter,
welcher dort Pferde bereit hal-
ten sollte, war nicht erschie-
nen; er kam auch uicht, als
es schon finster wurde. Ein seiner, kalter Regen trat ein
und wir konnten den Weg nach Matanzas in der Dunkel-
heit nicht finden. Uns blieb nichts übrig, als in den Rni-
nen des alten Castells ein Unterkommen zu suchen. Diese
schon im sechszehnten Jahrhundert von den Spaniern er-
banete Burg hat man verfallen lassen, seitdem die westindi-
scheu Gewässer nicht mehr von den Flibnstiern heimgesucht
werden. Sie steht auf einer Landspitze und wird auf drei
Seiten vom Meere bespült, das viel Sand an dem Strande
anhäuft; die grauen Mauern sind mit Moos und Schma-
rotzerpflanzen überzogen. Auf den weißen Dünen, über
welche der austrocknende Wind hinfegt und anf welche eine
tropische Sonne herabbrennt,
wächst auch nicht ein Gras-
Halm, dagegen wuchert in den
inneren Hofräumen die üp-
pigste Vegetation, und so
gleicht das alte Castell einer
grünen Oase zwischen Dünen-
sand und Meer.
Wir brachen uns durch
das Gestrüpp Bahn zu dem
großen Hosraume, der mit
Strauch und Kraut bewach-
sen war; in der Mitte rag-
ten noch die runden Mauern
der Brunnenöffnung einige
Fuß empor; da und dort la-
gen große, mit Moos über-
zogene Steine umher, die von
den Ringmauern herabgestürzt
waren. Das Dachwerk war
längst eingestürzt, das Ge-
Seewolf. mäner häusig mit Nissen
durchsetzt, vielfach hatten die
Bäume ihre Wurzeln tief eingezwängt; denn die Vögel
hatten manches Samenkorn dorthin getragen und daraus
war ein kräftiger Pflanzenwuchs auf dem Gemäuer ent-
standen.
Es wurde immer dunkler. Große und kleine Eulen sin-
gen an sich zu regen und ihre beängstigenden Klagetöne ver-
nehmen zu lassen, während
die Raben noch einmal krähe-
ten, bevor sie zur Ruhe giu-
gen; die Füchse kläfften vor
ihrem Bau, zwischen den Stei-
nen, im Gesträuch uud in
den Manerspalten raschelte
es unheimlich, denn Schlan-
gen, Kröten, Scorpione und
schwarze Spinnen begannen
ihre nächtlichen Wanderun-
gen. Nun waren Menschen
gekommen, welche das Gethier
in seinem Treiben störten!
Wir machten, mein Me-
stize Karr voran, eine Rund-
Wanderung, um eine paffende
Stelle für das Nachtlager zu
suchen, und fanden eine stei-
nerne Terrasse an dein Zu-
gange von der Laudseite her
mit einem Durchgänge, wel-
cher zu einem Räume führte,
der wohl früher als Wacht-
stnbe für die Besatzung ge-
dient hatte. Ein Mooslager und einige als Sitze Hergerich-
tete Steine deuteten an, daß hin uud wieder Jäger oder
Hirten einen Ruheplatz gesucht hatten.
Während Karr und Hiob Feuer anmachten, um ein
Abendessen zu bereiten — wir hatten ja Fische —, schlen-
derte ich zwischen den Ruinen umher, welche in der Dämme-
Das silberne Strumpfband.
374 Streifzüge
rang einen Anblick darboten, der gar nicht gehener war. Da
lagen noch alte, halbverfaulte Kanonenlafetten aus der spa-
nischen Zeit; ich sah noch Feigen- und Granatbäume, welche
danials gepflanzt worden waren, und von welchen der Neger-
knabe Früchte pflücken konnte. Das Feuer knisterte ganz
munter, der Ranch wirbelte durch eine Mauerspalte ins Freie
hinaus; die Wärme und das Abendbrot erquickten uns. Dann
legte ich mich zur Ruhe nieder; aber mir wurde unwohl.
Unter dem Stein hervor, anf welchem ich mit dem Kopfe
lag, kam ein fader, Ekel erregender Geruch; ich legte mich
auf die andere Seite, doch das half nichts. Mißmnthig
stand ich auf und rief den Mestizen, der halbschlummernd
den Rücken dem Feuer zugekehrt hatte und seine Pfeife Ta-
back rauchte. Als er den Geruch, welcher immer stärker
wurde, verspürte, legte er einen Finger auf den Mund
und lispelte: „Eine Kupferschlange; durch die Wärme
ist sie wach geworden; wir wollen abwarten, bis sie heraus-
kommt."
Nun gab er dem Negerknaben, der bereits fest schlief,
einen Stoß mit dem Fuße, beide schnitten sich Stäbe ab
nnd stellten sich zu beiden Seiten des Steines auf, nm die
Schlange zn tobten, sobald sie
sich blicken ließe. Mir lief
ein eiskalter Schauer über die
Haut, durch Mark und durch
Bein. Die Kupferschlau-
ge, Copperhead, ist der
furchtbare Trigonocephalus,
dessen Biß den stärksten Mann
in einigen Minuten zur Leiche
macht, und solch ein entsetz-
liches Thier war erwacht, wäh-
rend id) gleichsam anf ihm
schlief! Die Stäbe meiner
beiden Begleiter mochten ganz
gnt sein, ich aber lud mein
Gewehr nnd hielt mich auch
meinerseits bereit. Wir war-
tote« lange, aber die Copper-
head kam nicht zum Vor-
schein. Als ich den Vorschlag
machte, den Stein anfznhe-
ben, war Karr durchaus an-
derer Meinung, und so muß-
ten wir uns in Geduld fassen. So verging ein Theil
der Nacht. Im Freien konnten wir nicht schlafen, weil der
Regen ununterbrochen anhielt, und zwischen den Mauern
mußten wir bei solcher Nachbarschaft wach bleiben. Endlich,
endlich steckte die Schlange ihren Kopf weit heraus und
wurde sofort durch einige Schläge getödtet. Mir fiel ein
Stein von der Brust und ich athmete freier auf, als sie
tobt da lag. Sie war reichlich vier Fuß lang und aus
deu Hakenzähnen quoll tropfenweis ein dickes, gelbliches Gift
heraus.
Es war nun zwei Uhr in der Nacht geworden und ich
schlief ein. Als die Sonne schon am Himmel stand, weckte
mich Hiob; ich sprang auf und sah, daß der Mestize am
Strande mit einem hoch zu Rosse sitzenden weißen Manne
sich unterhielt, der zwei gesattelte Pferde mit sich gebracht
hatte. Er war Verwalter der Plantage Matanzas, ein kräf-
tig gewachsener Mann mit grauen Augen und röthlichem
Bart; zwei große Hunde waren seine Begleiter. Herr Pe-
termann, denn das war sein Name, hatte uns die zwei
Pferde vermiethet, welche wir für den Rückweg zum St.
Johns benutzen wollten, und erbot sich, als der Gegend knn-
dig, in freundlicher Weise, uns als Führer durch den großen
in Florida.
Cypresseu-Sumpfwald zu begleiten; denn dieser lag in un-
serm Wege.
Nun stiegen wir ans; Hiob nahm seinen Platz hinter
dem Mestizen. Die weißen Stranddünen reichen weit ins
Land; an manchen Stellen wachsen in den Vertiefungen
zwischen diesen sandigen Anhöhen verkrüppelte Fichten, Zwerg-
Palmen, verwilderte Orangen, dornige Sträucher, Agaven
und Cactus. Da und dort sieht man Zinnien, indische
Nelken und Stiefmütterchen wild, alfo Blumen, welche wir
bei uns in den Gärten Pflegen. Das Thierleben ist dürftig;
ich bemerkte während eines langen Rittes nur dann und
wann Kaninchen, einige Ketten Hühner und Spuren von
Hirschen und Wölfen.
Nach Verlauf einiger Stunden hatten wir die Cotton-
Prairie erreicht. Diese Savanne nimmt eine Art von
Thalgrund am Ende des Pellissiere-Creek ein; sie ist ohne
Bäume oder Gesträuch, eine unabsehbare Wiese, auf der
Rinderherden weiden und halbwilde Pferde unter der Obhut
berittener Neger sich umhertummeln. Die Gutsbesitzer schicken
von weit und breit ihr Vieh dorthin, und es findet während
der trockenen Jahreszeit, doch nur allein in dieser, reichliche
Nahrung. Am fernen Hon-
zonte stand der große Cy-
Pressenwald. Der Boden der
Prairie ist fest, schwankt aber
unter den Füßen, denn unter
der dünnen Lage von Damm-
erde, welche von Graswnr-
zeln durchzogen ist, liegt Torf.
Nach dem Mittlern Theile hin
gewahrt man Teiche, in de-
nen Rohr wächst; die ganze
übrige Fläche ist grüner Na-
sen. Die Flora ist prächtig;
ich fand Gentianen (Chiso-
nia pulcherrima) mit rosen-
rothen Büschelblüthen, Lo-
bellen (L. cardinalis) mit
scharlachrothen Tranbenblü-
then; behaarte Malven (Hi-
biscus palmatus), deren
lange, weiße Blüthen mit
gelber Mitte ein rothes Auge
haben, viele Knollenpslanzen,
Atanasco-Amaryllis, Pancratien, auf deren langen Stielen
die Hochrothen und weißen Blüthen, die wie Vanille duften,
mit Schwarz getigert sind. Die Seidenpflanze, eine Ascle-
Pias, trägt Seidenkapseln nnd liefert eine vegetabilische Seide;
im vorigen Jahrhundert verfertigte man in Deutschland aus
derselben Sammet nnd Molletons, die Fabrikation ließ sich
jedoch, weil der Rohstoff selten war, nicht weiter fortführen.
In Europa waltet bei den Wiesenblumen die weiße und
die gelbe Farbe vor, in Amerika dagegen findet man vor-
zugsweise alle Abstufungen von Roth, vom dunkeln Purpur
bis zum leicht angehauchten Rosa.
Herr Petermann führte uns zur Hütte, die unweit von
einem Teiche auf einer kleinen Anhöhe stand, und in welcher
einer der zur Plantage Matanzas gehörenden Hirten seine
Sommerwohnung hatte. Sie war ganz und gar ans hohem
Rohr ausgebaut. Während das Frühstück zubereitet wurde,
ging ich auf die Jagd nach grauen Kibitzen, welche dort in
unzähligen Schaaren nmherschwärmen. Als ich wieder in
der Hütte war, brachte man mir ein merkwürdiges Thier.
Dasselbe gleicht unserm Maulwurf und gräbt, gleich diesem,
Gänge unter der Erde. Dieser besternte Condylnrus
ist ein Jnsectensresser, hat braunen Pelz, einen sehr langen
Condylurus.
Einige Bemerkungen über Luxemburg. 375
Schwanz und ist, dem Anscheine nach, ganz blind. Als Bald brachen wir auf, um uach dem großen Cypres-
das Merkwürdigste an ihm erscheint, daß seine Schnauze mit senwalde zu gelangen. Der Ritt durch diesen merkwür-
kleinen knorpeligen Spitzen umgeben ist, welche einen Stern digen morastigen Urwald sott ein anderes Mal erzählt wer-
bilden. den.
Einige Bemerkungen
Sie haben, „Globus" Band XVIII, Seite 71, in dem
Aufsatze über Deutschlands Grenze und Nachbaren, Bemer-
kungen über mein Heimathland gegeben, die vielfach genau
zutreffend sind. Gestatten Sie mir, einige Erläuterungen
hinzuzufügen.
Daß ein so durch und durch deutsches Volk, ein so schö-
nes Ländchen, wie das luxemburgische, dem deutschen Reiche
bleiben muß, darüber kauu kein Zweifel fein; aber auch für
das Land selbst ist es von der größten Wichtigkeit, aus seiner
Jsolirtheit herauszutreten. Es ist daher die Pflicht der Presse,
aus dieses Ziel hinzuarbeiten. Aus diesem Grunde habe ich
mit Freuden Ihren Aufsatz begrüßt, und wenn ich erst jetzt
meine Bemerkungen Ihnen zuschicke, so sind daran Ursachen
schuld, welche aufzuzählen hier zu weit führen würde.
Sie haben ganz Recht, wenn Sie sagen, daß Deutsch-
laud selbst sich die Sympathien der Luxemburger verwirkt hat;
allein das Sündenregister, welches Sie aufzählten, ist lange
nicht vollständig.
1) Von dem unseligen Bundestage haben wir wenig
mehr erfahren, als daß er auch bei uns jede liberale Bestre-
bnng zu unterdrücken fuchte. Er mar es, welcher die Re-
gierung zwang, die liberale Verfassung von 1848 durch eine
„conservativere" zu ersetzen. Für den Fortschritt auf irgend
einem Gebiete hat er nichts gethan, eben so wenig hat er
irgend einen Druck ausgeübt, wo es sich um engern Anschluß
an Deutschland handelte.
2) Die preußische Garnison hat es erst in späteren
Jahren, als das 39. Infanterieregiment anfing, mit der
Stadt zu verwachsen, verstanden, mit den Bürgern in ein
leidliches Verhttltuiß zu treten. Nach 1849 verschlimmerten
sich die Dinge. Selbst der ausgezeichnete Commandant
du Moulin, der persönlich überall beliebt war, trat nicht
entschieden genug für die deutschen Interessen auf. Aus miß-
verstaudeuer Gutmüthigkeit behandelte er die Fransquillons
zu schonend. Selbst noch spät hosste der König von Nieder-
land immer auf die Wiedergewinnung Belgiens; darum durf-
ten die wallonischen Belgier — von den Flamingen sah man
ab — ja nicht „beleidigt" werden, auch nicht durch die
Sprache. In den Salons der Frau des preußischen Com-
Mandanten hörte man mehr französisch als deutsch sprechen!
3) Haffenpflng's Verdienste schlagen Sie zu hoch au.
Ich habe gewiß feine Ursache, persönlich gegen ihn einge-
nommen zu sein; mein Tadel ist daher objectiv. Das Erste,
was Hafsenpslug zur Hebung der Verwaltung that, war,
daß er Tag und Nacht, auch Sonntags, arbeiten ließ, um
das bis dahin von einem niederländischen Generallieutenant
bewohnte Gouvernementsgebäude, d. h. seine eigene Dienst-
Wohnung, den Anforderungen des gesteigerten Luxus gemäß
ändern und mit größerm Glänze ausstatten zu lassen. Sein
Benehmen den Belgischgesinnten gegenüber wurde bitter ge-
tadelt, weil es tactlos war. Die deutsche Sprache suchte er
dadurch zu heben, daß er sich „Chef des gesammten Civil-
') Von einem geborenen Luxemburger.
über Luxemburg *).
dienstes" nannte und jedem Negieruugsbeamten für jeden
deutschen Sprachfehler eine Geldstrafe von 4 Sgr. zudictirte
(Mittheilung des Archivars), wobei er eigenmächtig entschied.
Während man in Luxemburg an ein sehr freies, rein gesell-
schaftliches Verhältniß unjer den Beamten, von der sranzö-
sischen Revolution her, gewöhnt war und von Titulaturen
nichts wußte, führte Haffenpflug die kurhessische und bundes-
tägliche Büreaukratie und Beamtensubordination ein. An-
dere Mißgriffe will ich nicht erwähnen. Jedenfalls aber
konnten auch die vielen Schulden, welche Haffenpfluq bei
seinem plötzlichen gezwungenen Abgange hinterließ, die Sym-
pathie für das durch ihn repräfentirte Deutschland nicht ver-
mehren. Wie sehr Hafsenpslug ein Mißgriff war, beweist
unter Anderm der Umstand, daß der sehr schlechte Wein-
wuchs des Jahres (1841) im Volksmunde Hassenpflug
hieß.
4) Später kam zur Förderung des deutschen Wesens als
Generalviear Laurent nach Luxemburg, aus dem Aachen-
schen gebürtig, Bischos in partibus vom Chersouues, der
jedenfalls den guten Willen hatte, Deutschland zu diene»,
aber seine Stellung von vornherein durch eine Teufelsaus-
treibung, durch Verfolgung der Freimaurer und dergleichen
mehr untergrub. Er hatte auch das Verdienst, eine deutsche
Zeitung: „Wort für Wahrheit und Recht" zu gründen und
zu unterstützen. Der Redactenr dieser Zeitung war ein Bel-
gier, der kein Wort deutsch sprach uud dessen Sohn mit
16 Jahren noch nicht getauft gewesen sein soll. Den Geist
des Blattes bezeichnet der Beiname „für Lug uud Trug",
den es fehr bald erhielt. Im Jahre 1848 sah sich König
Wilhelm genöthigt, diesen Bischos zu entfernen.
Dagegen möchte ich den König-Großherzog etwas in
Schutz nehmen. Daß, wie Sie bemerken, die niederländi-
schen Dränier Deutschland nicht grün sind, weiß ich sehr
wohl. Aber ist hieran nicht zum guten Theil die frühere
Bundestagswirthschaft schuld, welche 1830 bis 1832 den
Bundesfürsten - Großherzog so schmählich im Stiche ließ,
und ihn fogar zur Abtretung eines Theiles feiner Länder
zwang? — Die trostlose unsichere Zeit von 1832 bis
1839, wo die Thore der Festung wenigstens einen Winter
lang von 5 Uhr Abends bis 8 Uhr Morgens geschlossen
waren, ist mir noch sehr wohl im Sinne, und das Wort
Status quo klingt mir noch heute niit seinen Schrecken in
die Ohren. Freilich wurde damals die Hauptstadt mit
einem kleinen Umkreise durch die preußische Garnison dem
Großherzoge erhalten. Mehr als der Fürst ist seine Um-
gebrnig zu tadeln, welche ihm die Zustände und die Wünsche
des Landes so vorspiegelte, wie sie es für ihren Zweck am
vorteilhaftesten hielt, und den König zum Liebäugeln mit
dem Französischen veranlaßte, indem sie ihm höchst wahr-
scheinlich mit der Aussicht auf die Wiedergewinnung Bel-
giens schmeichelte. Willem I. ist, so viel ich weiß, niemals
in Luxemburg gewesen; Willem II. kam in das Land, wurde
aber stets französisch angeredet, nnter Anderen von dem Di-
rector des Athenäums, der mehrere Jahre früher deutsche
376 Einige Bemerkung
Gesinnung zur Schau getragen hatte! Wie konnte der
Fürst an die Notwendigkeit, das deutsche Wesen zu begün-
stigen, glaube», wenn er aus der Straße mit Vive le roi!
begrüßt wurde? Das Volk kannte den Ruf nicht, womit
der Deutsche seinem geliebten Fürsten zujauchzt, und es rief,
was es von den Vornehmen gehört hatte. — Die Civilliste
betrug anfangs 150,000 Fl.; sie wurde später, 1848, aus
100,000 Francs herabgesetzt. Selbst die hohe Summe
war ein Vortheil, da sie zum größten Theil zum Ankauf
von Domänen verwendet wurde, also im Lande blieb, wäh-
rend vor 1839 ein Theil der Einkünfte nach dem Haag
wanderte, und nur das, was des Königs Gnade zurückgab,
für Wege und dergleichen verwendet werden konnte.
Sie werden fragen, warum die maßgebenden Personen
des Landes so sehr gegen Deutschland eingenommen waren.
Ich glaube, es war im Jahre 1859, als ein Luxemburger
äußerte: Wir haben eigentlich keine Ursache dazu, aber unser
Herz neigt sich nnn einmal zu Frankreich! Zwei Gründe
lassen sich dafür anführen, doch scheinen sie mir nicht hin-
zureichen:
a) In der Verwaltung und beim Gerichte ist die fran-
zösische Sprache eingeführt; ein engerer Anschluß an Deutsch-
land würde die deutsche Sprache uothwendig zur Beamten-
spräche machen, und das wäre den Herren, die sich in die
französischen Ausdrücke nnd Redewendungen eingelebt, sehr
unbequem. Dazu kommt, daß die meisten jungen Leute
ihre Studien in Belgien oder Frankreich machen und von
dort die französische Geschästssprache mitbringen.
b) Der Luxemburger fühlt, ohne es sich einzugestehen,
daß er dem deutschen Beamten an wissenschaftlicher Bildung
wie an Tüchtigkeit im Amte und Festigkeit des Charakters
nachsteht; eine Concurrenz mit Deutschland ist ihm daher
sehr gefährlich, während er sich vor Frankreich und Belgien
durch Fleiß hervorthut. Wie charakterlos diese Leute sind,
dafür führe ich als Beispiel an, daß etwa im Jahre 1845
ein Staatsprocnrator seinem Sohne als goldene Lebens-
reget die Lehre mitgab: se teiiir toujours neutre!
Diese Verhältnisse, der frühere Anschluß an die süd-
lichen Niederlande uud an Frankreich, die Anwesenheit ge-
borener Franzosen oder Belgier, die kein Wort Deutsch spra-
chen, der Umstand, daß fast alle Mädchen ihre höhere Aus-
bilduug in Frankreich oder Belgien gefunden, endlich das
Bewußtsein, das Deutsche nicht richtig zu sprechen: das
Alles mag Ursache sein, daß in den Salons der vornehmen
Welt fast nur ein etwas zweifelhaftes Französisch gespro-
chen wird, während man sich im häuslichen Kreise meistens
in der Sprache des Volkes unterhält. Diese ist ein
„reines Oberdeutsch" (freilich von der Schriftsprache weit
entfernt) und nur iu der Hauptstadt mit vielen französischen
Brocken untermischt. In der Schule hört man fast nur
Deutsch. Die Behauptung, der Luxemburger habe eiue
„doppelte Muttersprache", ist ein Märchen, erfunden vom
der oben bezeichneten Claffe von Leuten. Wie wenig sie
selbst an dies Märchen glauben, beweist die Bestimmung,
die wenigstens eine Zeitlang maßgebend sein sollte, aber
nicht immer gehalten wurde, daß die Assisen in deutscher
Sprache abzuhalten seien. Die meisten Maueranschläge
waren deutsch uud französisch. — Aus dem Athenäum
(Gymnasium mit Realclasseu und einem sogenannten höhern
Course) ist die Unterrichtssprache deutsch für Religion,
deutsche Sprache, Griechisch, Geschichte und Geographie,
Philosophie, griechische und römische Alterthümer; fran-
zösisch für französische Sprache, Mathematik, Naturwissen-
schasten, Astronomie, physikalische Geographie, Buchhaltung
und englische Sprache; theils deutsch, theils französisch für
die lateinische Sprache.
t über Luxemburg.
Daß die Luxemburger einen Anschluß an Frankreich wün-
schen, habe ich nie geglaubt und glaube es auch heute nicht.
Diejenigen, welche einen solchen Wunsch behaupten, drücken
nur ihre eigenen Gedanken aus. Beim Abzüge der Fran-
zosen nach Napoleon's des Ersten Sturze hat eine Baronin
Tornaco ihren Abscheu gegen dieselben dadurch kundgethan,
daß sie hinter ihnen die Straße kehrte; in der Mitte nnsers
Jahrhunderts stand diese Familie an der Spitze der fran-
zofenfrenndlichen Bewegung!! Das Unheil, welches die
Franzosenherrschaft angerichtet hatte, war vergessen, die Er-
innerung an das Gute, das sie brachte, ist geblieben. Den-
noch schrecken die hohen Steuern, die Willkürherrschaft und
Anderes vor der Einverleibung in Frankreich zurück, während
die Pariser Moden, die französische Umgangssitte :c. einen
großen Reiz ausüben. Eine Zeitlang war auch Hinneigung
zu Belgien bemerkbar. Zeitweise schwärmte man dafür,
einem großen Staate anzugehören, der natürlich nur Frank-
reich sein konnte. Heute, oder schon 1867, will man nun
entdeckt haben, daß „Selbständigkeit", „eigene Ratio-
nalität" das höchste Gut sei. Ein mir befreundeter Mann,
der zu den besseren Ständen gehört, äußerte: „Ob Deutsch-
land ein Recht hatte, Elsaß und Deutsch-Lothriugen zu ueh-
men, weiß ich nicht; das aber weiß ich, daß wir am besten
bleiben, was wir sind."
Das sind die Stimmungen des kleiner» Theils der
Bevölkerung, der überhaupt denkt; von politischer Ge-
sinnung kann kaum die Rede sein bei einem Grenzvolke,
welches zwischen seinen Nachbaren hin- und hergeworfen wird,
fortwährenden Wechsel seiner Herrscher erlitt und am Ende
jedes der Staaten, denen es der Reihe nach angehörte, gele-
gen, nie vollständigen Antheil an der Fortentwickelung des
Staates nahm, ja, auch wohl nie als vollgültiges Glied des
Staates betrachtet wurde. Meine Ueberzeuguug ist, daß die
Wenigsten eigentlich wissen, was sie wollen; das eigentliche
Volk hat gar keine Meinung, es spricht nach, was ihm vor-
gesprochen wird. An seinen Boden, an seinen Landesfürsten
hat es Anhänglichkeit,-sonst, glaube ich, denken die Meisten,
wie jener Wirth im Norden des Ländchens, der mir 1848
sagte: „Mir ist es ganz gleichgültig, ob ich preußisch, fran-
zösisch oder was sonst bin, wenn ich nur Geld verdiene."
Die materiellen Interessen stehen oben an, die geistigen sind
wenig bekannt und beachtet.
Wenn der Luxemburger wenig von Deutschland wissen
will, so liegt das, außer an den schon angedeuteten Gründen,
auch noch daran, daß er in der That nichts davon kennt.
Der Luxemburger bleibt lieber zu Hause, als sich in die weite
Welt zu wagen. Wagt er sich einmal aus seinem Ländchen
hinaus, so begehrt er zunächst die Wunder von Paris, von
denen er so viel gehört, zu sehen. Von Deutschland kennt
er nur das angrenzende Preußen. Wie wenig aber dieser
Staat es verstanden, seine Vorzüge zur Anerkennung zu brin-
gen, werden Sie selbst wissen. Während nun die Rhein-
laude diese Vorzüge aus eigener Anschauung kennen lernten
und die Vortheile spürten, die ihnen die preußische Regierung
brachte, drangen die moralischen Eroberungen nicht bis nach
Luxemburg. Die erbärmliche Privatpostbeförderung nach
Trier war das einzige Verkehrsmittel, welches einen Luxem-
burger nach Deutschland brachte, nnd Trier konnte trotz seiner
schönen Natur keiuen Eindruck machen auf den Bewohner eines
Landes, welches durch Industrie und Luxus weit vor Trier
voraus war. Luxemburger und Trierer belegten sich gegen-
seitig mit Spottnamen. Die Stimmen, welche sich heute in
Luxemburg erheben für den Anschluß an Deutschland, siild
fast ausschließlich die der Gewerbtreibenden, welche durch ein
Aufgeben des Zollvereins ihre materiellen Interessen geschä-
digt zu sehen fürchten. Von den inneren geistigen Vorzügen
Aus Dr. Abendroth's Reisen in Südamerika.
377
Deutschlands haben nur die Wenigen eine Ahnung, welche
mit offenen Augen und offenem Herzen über Trier hinaus
gedrungen sind. Die Vortheile aber, welche das Aufgehen
in einen Staat, wie es jetzt das deutsche Reich ist, mit sich
bringt, kann man dort nicht schätzen, weil sie sich nicht in
Franken und Centimen ausdrücken lassen, während man sich
vor Vermehrung der Steuern und allgemeiner Militärpflicht
entsetzlich fürchtet. 8.
Aus Dr. Abendrotes Reisen in Südamerika.
Beitrüge zur Kenntnis; des Ucayali.
Tucker's Expedition. — Welche Flüsse bilden den Ucayali? — Verhältniß desselben zum Amazonenstrom. — Einfluß der Jahres-
zeiten. — Handelswaaren. — Verlassene Missionen und Verwilderung der verschiedenen Stämme. — Die Indianer am Ucayali.
Aus den Ergebnissen meiner vor Kurzem beendeten Reise
durch den Continent von Südamerika*) möchte ich zunächst
einige vorläufige Mittheiluugeu über den Ucayali machen,
da dieser neuerdings insofern von allgemeiner»! Interesse ge-
worden ist, als jetzt die peruanische Regierung an einem sei-
ner Nebenflüsse einen Hasen- und Stapelplatz für die Fluß-
schifffahrt gründen will, von wo aus dann die Communi-
cation mit der Küste des Stillen Oeeans leichter zu bewerk-
stelligen ist, als auf dem Wege von Nurimagnas am Pa-
ranapura nach Trnxillo.
Während mit der Ausführung jenes großen, zeitgemäßen
Projectes fchon im vorigen Jahre durch Anlegen einer Eisen-
bahn von Lima nach Tarma und dem zu gründenden Hasen
begonnen wurde, und von Tarma aus auch eiue Zweigbahn
nach Cerro de Pasco gelegt werden foll, war Admiral Tho-
mas Tucker mit einem neuen, in England gebauten, sehr
flach gehenden Dampfer („Tambo") den Amazonas herauf-
gekommen und hatte Mitte November vorigen Jahres die
Mission Caschiboya am Ucayali (zwei Tagereisen ober-
halb Sarayacu) erreicht. Die Bestimmung der Tucker'scheu
Expedition war: den „Tambo" hinaufzufahren und womög-
lich durch denPercne nach dem Chanchamayo vorzudringen.
Indianer von Cafchiboya waren theilweife mit diesen Flüssen
bekannt, sie behaupteten indessen, daß der Tambo bis kurz
vor seiner Vereinigung mit dem Urubamba zu reißend wäre
und daß gerade dort die feindlich gesinnten Campas zu
zahlreich seien, als daß das kühne Unternehmen ausführbar
sein könnte. Gegen Weihnachten wurde Tucker's Rückkunft
in Jqnitos am Amazonenstrome erwartet, doch war sie bis
zum 17. Januar 1871 noch nicht erfolgt.
Soweit der Ucayali bis jetzt bekannt ist, müßte freilich
die Expedition ganz unerwartete Resultate bringen, wenn
für die Hafenfrage ein Nebenfluß des Tambo den Vorzug
vor dem Pachitea erhielte, da letzterer bis zu feinem Ent-
stehen aus dem Palcazu und Pichis (200 englische Meilen
von der Mündung in den Ucayali) selbst in der trocknen
Zeit, während der Regenperiode sogar der Palcazu aufwärts
bis zur Mündung des Poznzu und Mayro mit Dampfern
zu befahren ist. Bon hier aus könnte ein Landweg über
die deutsche Colouie am Pozuzu oder auch direct über Huau-
cabamba nach Cerro de Pasco (drei Tagereisen) hergestellt
werden. Ju der Erwartung, daß am Palcazu der Hafen
') Die Reise, von welcher Herr Dr. R. Abcndroth im Mai 1871
nach Dresden zurückgekehrt ist, ging von Lima über Cerro de Pasco
und Huanuco nach dem Pozuzu; von dort, nach längermlAufenthalte
in der deutschen Colonie, über den Mapro, den Palcazu, Pachitea,
Ucayali (Aufenthalt in 'Caschiboya und Sarayacu) und deu Ama-
zonenstrom von Pebas am Aml'iyacu hinab bis Para. Rückweg
von dort nach Europa über Venezuela (Hafen Laguayra).
Globus XIX. Nr. 24. lJul'i 1871.»
entstehe, ist übrigens schon vom Präsecten von Huanuco ein
Dorf gegründet worden.
Wenn somit der Ucayali binnen Kurzem eine Haupt-
Wasserstraße Südamerikas darstellen wird, so ist zu hoffen,
daß auch bald die Keuntniß seines Flußsystems aus dem
Dunkel einer höchst verworrenen Synonymik und kritiklosen
Aufzählung von Quell- und Nebenflüßchen klarer zu Tage
trete; und wenn es auch jetzt kaum noch einem Zweifel nn-
terliegt, daß der Ucayali (nicht aus Urubamba und Apuri-
mac, sondern) aus Urubamba (Synonyme: Vilcanoto, Rio
de Santa Ana) uud Tambo gebildet wird, welcher letz-
tere eine Vereinigung des Perene mit dem Ene ist (von denen
der Ene aus Apurimac und Mantaro, der Perene aber aus
Pangou und Chanchamayo entsteht), so ist bei dem außer-
ordentlich complicirten Quellsystem dieser Flüsse — zum
Theil auf der Hochebene von Juuiu, nur wenige Meilen von
der Quelle des Maraüon, welcher aus der Lagune Llauri-
cocha kommt — die Frage, ob jenes weit verzweigte Netz
des obern Ucayali oder der Tuuguragua als Ursprung
des Amazonas zu betrachten sei, noch nicht sicher zu ent-
scheiden.
In Peru bezeichnet man gewöhnlich die Gegend von
Cuzco als Quellengebiet des Amazonas, europäische Geogra-
pheu aber, und zwar mit größerm Rechte, den Llauricocha-
See; doch dars alsdann der Ucayali nicht als einfacher Ne-
bensluß des Maraüon gelten, weil er in diesem Falle
schmäler als der andere sein müßte. Die Angabe, daß letz-
teres der Fall sei (Herndon fand ihn z. B. nur halb so
breit als den Maraüon), muß nämlich dahin berichtigt wer-
den, daß das Verhältniß beider Flüsse zu einander je nach
der Jahreszeit sich merklich ändert, indem der Ucayali aus-
schließlich peruanische Wassermassen erhält und in Folge der
dort im October und November eintretenden Regenzeit schon
im December gewaltig schwillt, der Maraüon aber wegen
des spätern Beginns der nassen Zeit in Ecuador durch das
Anschwellen seiner von dort kommenden bedeutenden Zuflüsse
erst im Januar steigt. So fand ich in der That zu Weih-
nachten 1370 den Ucayali deutlich breiter als den Ma-
raüon. — Bei der schwankenden Nomenclatur dieser Flüsse*)
sieht man (nach dem Vorgange Raymonds) am einfachsten
*) Zwischen Nauta und Tabatinga heißt der Fluß bald Ma-
ranon, bald Amazonas. Maraüon (Quichuawort) heißt der Elc-
phantenlausstrauch (Anacardium occidentale), dessen rothe Früchte
man zuweilen im Flusse schwimmen sieht. Den Ucayali nennen die
wilden Indianer „Ptiro" (aus der Panvsprach mit: Fluß zu über-
setzen). „Ucayali- erklärt v. Tschudi aus dem Quichua „nach
innen fließend", Huallaga als: „nach außen fließend",
das heißt mit Bezug auf die Pampa del Sacramento. „Ucayali"
ließe sich auch durch „Fluß des Ueberflusses" (wegen des Fischreich-
thums) übersetzen und Huallaga von Huallayo, die Weide, ableite».
48
378 Aus Dr. Abendroth's
den Amazonas im engern Sinn als durch Conflueuz
des Ucayali mit dem Maraüou gebildet an. Das erwähnte
periodische Schwellen des Flusses ist nun für seineu Gesammt-
charakter von Einfluß. Dies geht schon daraus hervor, daß
die Uferindianer nicht zwischen trockner und nasser Jahres-
zeit unterscheiden. Die letztere trifft vom März bis Juni ein,
doch nie mit der Regelmäßigkeit, wie an vielen Orten Bra-
siliens; die Anwohner theilen vielmehr das Jahr ein in
Hoch- und Tieswasserstand (Höne tea und snzin tea
in Pano, lluclla und urmaua im Quichua), wie ja auch
am Amazonas entsprechende Zeiträume als Eucheute und
Vasante unterschieden werden. Während aber der Ama-
zonas bis 50 Fuß steigt und das tiefe Land alsdann auf
großen Strecken weit überschwemmt ist, bedingt gerade dieses
großartige Phänomen, daß hier die Wald Vegetation sich
weniger kräftig entwickeln kann, als an den Ufern des Ucayali,
der sich nur 30 bis 35 Fuß über seinen Tiefstand erhebt
und darum selbst bei weniger hohen Ufern einem giganti-
fchen Baumwuchs bis unmittelbar an den Fluß zu treten
gestattet; an den Stellen aber, wo das Ufer ganz allmälig
aus dem Flusse steigt, ist der Anblick ein ganz verschiedener:
Einer oft sehr ausgedehnten Strecke sterilen Sandbodens folgt
eine Zone 6 bis 8 Fuß hoher Büsche von weidenartigen
Gewächsen und Gräsern (besonders Gynerium sagittatum),
weiterhin höheres Strauchwerk und erst im Hintergrunde,
oft eine Legua vom Ufer, der Wald.
Abgesehen von diesem ziemlich deutlich ausgeprägten Ein-
slnsse des Hochwassers auf die Pflanzenwelt ist der
Ucayali dem Amazonas ganz ähnlich. Hier wie dort das
gelblich trübe, langsam fließende Wasser (vom Pachitea ab-
wärts selten über drei Miles in der Stunde), zahlreiche, oft
sehr große Inseln, häusiges Treibholz, das sich oft mitten im
Flusse zu verrammelten Massen ansammelt, der große Reich-
thum an Fischen (unter denen dem „Payschi" am meisten
nachgestellt wird), Crocodilen (L a g a rt o s, Gattung Champsa),
Schildkröten (Charupas uud Charupillas, beide dem Genus
Podocnemis augehörend), die wohlschmeckende Baca Marina
(Manatus), Süßwasserdelphine (Inia) u. s. w. Ueberhaupt
erscheinen Fauna und Flora in den gewaltigen Strecken des
südamerikanischen Tieflandes sehr übereinstimmend, und eben
so sind die Naturproducte des Ucayali fast ganz dieselben
wie im brasilianischen Amazonasgebiete.
Indessen ist der Handel des Flusses bisher noch zu kei-
ner bedeutenden Höhe gelangt und hat sogar seit dem Ber-
fall der Dörfer wesentlich abgenommen. Von den reichen
Erzeugnissen der Gegend sind als Handelsartikel nur uam-
Haft zu machen: 1) Die Sarsaparille (verschiedene Smi-
laxarten, die besonders am Aguaitia gesammelt werden),
2) Flor es de balsa (Samenwolle von Bombaceen, zum
Ausstopfen von Matratzen dienend), 3) Salzfische (Ju-
stus gigas, am Ucayali Payschi, in Brasilien, wo er die
Hauptnahrung der Negersklaven bildet, Piraruca genannt),
4) Schildkröten (besonders die Podocnemis expansa)
und etwa noch 5) eine schwarze Seife, welche ausAschen-
lauge und dem Fette der Vaca marina gekocht wird. Diese
Waaren werden von Weißen, die sich jedoch in den Ucayali-
dörfern der Moskitoplage wegen meist nur vorübergehend
aufhalten, nach Nanta und besonders Jquitos gebracht.
Dieses letztere verspricht das eigentliche Emporium Perus
am Amazonas zn werden nnd zählt jetzt schon über 2000
Einwohner. (— Paz Soldan giebt für 1862 die Einwohner-
zahl 300 an —). Der Kautschukhandel auf dem Ucayali
scheiut völlig eingegangen zu sein, dafür liefert aber jetzt be-
sonders der Rio Negro immense Quantitäten dem Handel,
welcher überhaupt erst in neuerer Zeit auf dein Amazonas
mit Macht ins Leben zu treten beginnt und Para rasch zn
Reisen in Südamerika.
einer Stadt von mehr als 40,000 Einwohnern emporge-
bracht hat.
Pläne, das fruchtbare Ucayaliland zu cultiviren, sind
neuerdings mehrfach in Peru aufgetaucht, und auch eine nord-
amerikanische „Sociedad amazonica" hatte ihr Augenmerk
aus die schöne Pampa del Sacramento gerichtet, doch
verlautet gegenwärtig nichts über Ausführung dieser Projecte,
welchen sich besonders Mangel an Arbeitskräften als
Hinderniß entgegenstellen wird. Bisher wenigstens waren
die Bemühungen, die Indianer am Ucayali, deren im
ganzen Flußgebiet etwa 20,000 bis 25,000 leben mögen,
an Civilisation und Arbeitsamkeit zn gewöhnen, erfolglos.
Es würde hier zu weit führen, auf die so vielfach besprochene
Frage nach der Cultursähigkeit dieser letzten Ueberreste der
rothen Race weiter einzugehen. Wenn man dabei immer-
zu dem Resultate gekommen ist, daß nur durch Wahl der
richtigen Mittel Einiges, unter günstigen Umständen schon
etwas mehr sich erzielen läßt, so muß diesen vereinzelten That-
sachen hier entgegengestellt werden, daß eben jenes Grund-
princip für Peru bei der Theilnahmlosigkeit der Regierung
und dem einseitigen Missionswesen der Franziskaner von
Ocopa gar nicht zur Geltung kommen kann. Die peruaui-
sche Regierung hatte im Jahre 1828 zur Erhaltung der
Missionen am Ucayali eine jährliche Summe von 3000
Soles bestimmt, doch ist bis jetzt noch kein Heller davon
bezahlt worden. Daher beschränkt sich die Thätigkeit der
Missionäre einfach auf die christliche Wassertaufe; früher
existireude Schulen sind längst eingegangen, da die Franzis-
kaner zu der Ueberzeugung gekommen sind, daß die Indianer
nichts lernen wollen!
Daß unter solchen Umständen ehemalige Errungenschaf-
ten verloren gegangen sind, kann nicht befremden. In Kürze
sei nur angeführt, daß nach Zerstörung der großen Missions-
dörfer am Pereue und Pangoa im Jahre 1742 die dort
wohnenden Campas nie wieder haben zum Christenthum zu-
rückgeführt werden können. Aber auch die tiefer gelegenen
Missionen am Ucayali, als Santa Rosa und Santa
Maria de los Pirns, Santa Rita und San Miguel
de los Cuuibos, Cuntamana und Canchahnayo (ebenfalls
Cuuibodörfer), Charasmaua am Pisqui (Schipibodorf), das
Schetebodorf am Suaya u. f. w., die fämmtlich Ende des
vorigen oder Anfang dieses Jahrhunderts gegründet wurden,
sind allmälig aufgelöst und vier Jndianerstämme (Pirns,
Cuuibot, Schipibos nnd Schetebos) in den wilden Zu-
stand zurückgekehrt. Aber auch die Dörfer der Pauos,
Omaguas und Cocamas (jetzt die einzigen sogenannten civi-
lisirten Jndianerstämme am Ucayali) sind gegenwärtig
im Untergange begriffen. Die Panodörfer Belen und
Mpaya wurden durch Fieber uudBlattern zerstört, Tierra
blanca (Aurac allpa) vor wenigen Jahren verlassen, Santa
Catalina (in der Pampa del Sacramento am Landweg vom
Ucayali nach dem Hnallaga) von den Missionären auf-
gegeben und ebenso (seit 1858) das altberühmte Sara-
yacu. Zur Zeit bestehen im ganzen großen Gebiete nur
zwei Missionsstationen, nämlich Callaria (1859 gegrün-
det, 30 Legnas unterhalb der Mündung des Pachitea) und
Caschiboya (seit 1866, zwei Tagereisen unterhalb Callaria),
beide am rechten Ucayaliufer.
Endlich fei noch in Kürze der Jndianerstämme ge-
dacht, deren man für den ganzen Ucayali 40 bis 50 auf-
gezählt hat, von denen aber sehr viele synonym sind. Eine
Sichtung des Materials hat mich zur vorläufigen Aufstel-
luug folgender Gruppen geführt, unter denen ich zunächst
Stämme unterscheide, die, so weit es bekannt geworden, am
Ucayali einheimisch sind, von denen, die aus anderen Ge-
genden eingewandert.
Schützende Aehnlichkt
Zu ersterer Gruppe gehören
1) Die Campas (Chuuchos, im Jnkareich Antis, Pill-
copatas) bewohnen das ganze Gebiet zwischen Urubamba
und Chanchamayo, reichen südlich bis zur Mündung des
Tambo und sind vielleicht der zahlreichste aller Indianer-
stamme.
2) Die Pirus (Chontaqniros, Mascos (?), Simirhin-
chos) bewohnen jetzt sast nur die Ufer des Ucayali oberhalb
des Pachitea. Sie zeichnen sich durch Körpergröße und eine
gewisse Intelligenz vor Anderen ans. Ihre Sprache ist,
eben so wie das Campa, eine dem Stamme eigenthümliche.
Dagegen sind durch die Hauptsprache des Ucayali, das
Pauo, folgende acht Stämme verbunden:
3) Die Caschibos (Carapuchos, Callisecas, Fleder-
mausindianer) reichen vom Pachitea bis zum Agnaitia (lin-
kes Ucayalinser) und sind die einzigen AnthropopHägen
von Peru.
4 bis 6) Die Cuuibos, Schipibos und Schetebos
(Zitteraal-, Affen- und Raubvogel-Indianer, zu-
sammen von den Missionären auch Manoitos, Maynas
genannt) sind ausschließlich Uferbewohner und finden sich
ohne feste Wohnsitze vom Pachitea bis fast zur Mündung
des Ucayali (bis zum Tapiche). Am zahlreichsten sind die
Cunibos. Im Innern des Waldes am rechten User da-
gegen leben
7 und 8) die Amahnacas und Schacayas vom Si-
Pahna bis zum Tamayo. Ihnen schließen sich nördlich an
9) die Remos, vom Tamayo bis Caschiboya, ein kräs-
tiger, kriegerischer Stamm, der sich durch die Sitte des Tat-
towirens (Bemalen des Körpers ist bei Anderen allgemein)
von allen Uebrigen unterscheidet. Endlich gehören zu dieser
großen Sprachgruppe noch
10) die Panos, welche früher in der Gegend von La-
lagnna, nahe der Hnallagamündung, lebten, jetzt aber in den
Dörfern des Ucayali als „Christen" wohnen, und zwar
bilden sie in diesen etwa die Hälfte der Bevölkerung.
Zwei Stämme sind dadurch verknüpft, daß sie das Oma-
gna sprechen. Es sind
11) die Omaguas, früher ein ungemein weit verbrei-
teter Stamm, Uber dessen Heimath nichts Sicheres bekannt
ist, doch wird ihrer schon im sechzehnten Jahrhundert am
en in der Thierwelt. 379
Maranon und Ucayali Erwähnung gethan. Einen bloßen
Dialekt des Omagua sprechen
12) die Cocamas, von denen gewöhnlich angegeben
wird, daß sie an der Mündung des Huallaga (Lalaguna),
wo sie mit Panos, Aguauos und Cocamillas wohnten, ihre
Heimath haben. Am Ucayali hört man indessen, daß sie
auf der Insel Pacayas, eine Tagereise von Nanta, wild
zu treffen sind. Die Civilisirten wohnen in einzelnen Hüt-
ten nahe an der Flußmündung, besonders aber in Nauta
am Maranon, einem eigentlichen Cocamadorse, während in
Sarayacn, Santa Catalina, Caschiboya, Collaria u. s. w.
die Bevölkerung aus Panos und Omaguas, zuweilen noch
einigen Cumhuasses vom Huallaga besteht. Alle diese „In-
dios cristianos" sprechen aber nicht ihre besondere Sprache,
sondern Alle das in Peru so weit verbreitete Quichua.
Endlich sind von eingeborenen Ucayali-Jndianern noch
zu nennen
13) die Sensis, deren Bezirk von Sarayacn bis zum
Aanayacn reicht. Sie haben wahrscheinlich eine eigene
Sprache, über die jedoch fast nichts bekannt ist. Zu den
aus anderen Gegenden gekommenen Stämmen zählen nur
zwei:
14) Die Mayornnas (Barbudas), nebst den Campas
und Caschibos die gefürchtetsten Indianer. Sie bewohnen
die Wälder zwischen dem Tapiche und Maranon und unter-
scheiden sich von allen Uebrigen dadurch, daß sie einigen
Bartwuchs aufzuweisen haben. Ihre Heimath ist die Ge-
gend des Rio Mayo (Nebenfluß des Huallaga), wie schon
ihr Name besagt (ruua heißt im Quichua: Manu).
Zuletzt geschehe noch eines Stammes Erwähnung, der
entfernter vom Ucayali an einem Nebenflüßchen zweiten Gra-
des sich findet. Es sind
15) die San Lorenzos am Palcazn und Mayro, von
wo sie schon bis zur Pampa de los Angeles (drei Meilen
von derColouie amPozuzu) gekommen sind. Es sind ver-
wilderte Panataos, welche letztere die Cordillere von
Mnna bewohnen. Speciellere Angaben über merkwürdige
Sitten und Gebräuche des Jndianerlebens, über die auf
der Reise durch das reiche Land gewonnenen Sammlungen
von Thieren u. s. w. seien späteren Veröffentlichungen vor-
behalten.
Schützende Ähnlichkeiten in der Thierwelt.
r. <3. Durch die Darwinsche Schule sind manche längst
bekannte Eigenschaften der Thiere und Pflanzen in ein Sy-
stem gebracht und für die Doctrinen dieser Schule ausgenutzt
worden. Man mag nun ein Anhänger derselben sein oder
nicht, so muß man doch auf jeden Fall das in die Augen
Springende und Schlagende vieler Thatsachen anerkennen,
die von den Darwinianern auf dem Wege der „natürlichen
Zuchtwahl" erklärt werden. Dahin gehört die Erscheinung,
welche das Maskirungsvermögen, die Nachäfferei der Thiere
(mimicry), auch die schützende Ähnlichkeit (protective re-
semblance) genannt wird.
Schon dem Jnsecten sammelnden Knaben mnß es auf-
fallen, wie manche Raupen oder Schmetterlinge den Blät-
tern, Zweigen oder der Rinde der Pflanzen gleichen, auf
denen sie leben. In Form wie in Farbe sind sie von ihrer
Umgebung kaum zu unterscheiden, wenn man nicht ganz
nahe tritt oder die Thiere sich bewegen. Daß sie so durch
diese schützende Aehnlichkeit vor dem Auge der sie verfolgen-
den Vögel, denen sie als Nahrung dienen, leicht verborgen
bleiben, liegt auf der Hand. An einer genügenden Erklä-
rnng hat es für diese Erscheinung gefehlt; man nahm, wie
so häufig, wenn man nicht weiter konnte, zn Klima, Boden,
Nahrung seine Zuflucht; doch stehen dieser Erklärungsweise
viele Thatsachen entgegen. Die wilden Kaninchen z. B.
sind von granbrauner Farbe; sie gleichen so, in ihrem natür-
lichen Kleide, genau dem saudigen oder Haideboden, auf dem
sie gewöhnlich leben, und sind im ruhigen, sitzenden Zustande
schwer von ihrer Umgebung zu unterscheiden. Macht man
aber diese selben Kaninchen zu Hausthieren und züchtet sie
durch einige Generationen hindurch, ohne die Nahrung der-
selben zu ändern, so treten nach kurzer Zeit schon unter ihren
Nachkommen weiße, schwarze oder bunte Spielarten auf —
unsere gewöhnlichen Stallkaninchen. Viele Versuche haben
dieses unzweifelhaft ergeben. Die Notwendigkeit der schützen-
48*
380 Schützende Aehnlichk>
den Aehnlichkeit, so kann man schließen, ist weggefallen und
helle Farben treten an die Stelle des dunklern Schutzkleides,
das im „Kampfe ums Dasein" nothwendig war.
Vorzugsweise sind es nun englische Naturforscher der
Darwinschen Richtung, welche neuerdings die schützenden
Aehnlichkeiten, das Maskirnngsvermögen, im Interesse der
natürlichen Zuchtwahl ausgebeutet habe«. Ein kurzer Ueber-
blick der hauptsächlichen Resultate dieser Schriftsteller, soweit
sie auf Thatsachen beruhen, wird den Lesern gewiß willkom-
men sein. In das Gebiet der daraus abgeleiteten Schlüsse
beabsichtigen wir uns aber nicht allzu tief einzulassen. Bor-
zngsweise sind es so verdiente Reisende und Naturforscher
wie Bates und Wallace, welche auf dem in Rede stehenden
Gebiete gearbeitet haben. Wallace pnblicirte schon im Juli
1867 in der „Westminster Review" seinen Essay On Mimi-
cry and other protective Resemblances among Ani-
mals. Er führte das Thema dann auch an verschiedenen
Stellen seines Malay Archipelago durch, ferner in seinen
1870 erschienenen Contributions to the Theoiy of natu-
ral Selection. Bates behandelte schon früher, 1862, in
seinen Contributions to the Insect fauna of the Ama-
zon, die in den „Linnaean Transactions" abgedruckt sind,
denselben Gegenstand. Auch Andrew Murray beschäftigte
sich viel mit dieser Frage, zuerst im Januarhefte 1860 des
„Edinburgh New Philosophical Journal" in einem Anffatze
On tlie Disguises of Nature. Endlich tritt als der letzte,
abgesehen von Darwin selbst, St. George M ilv art in einem
soeben (bei Macmillan and Comp.) erschienenen Werke On
the Genesis of Species in die Reihe dieser Darwinianer.
Wir bringen nun ans ihren Arbeiten Thatsachen, die wir
hier und da noch aus anderen Quellen ergänzen.
Wüstenthiere und Wüstenpflanzen zeigen im
Allgemeinen ein Wüstengewand. Das steht außer
Frage. Der Löwe, welcher zwischen den Felsen oder auf
dem Sande der Wüste ruht, gleicht genau seiner Unterlage;
er ist in einiger Entfernung nicht von dem Boden zu unter-
scheiden. Ganz ähnlich ist es der Fall mit dem Kameel,
nnd Brehm ergeht sich des Weitern über die Aehnlichkeit
der nnbischen Wüstenhühner bezüglich ihres Gewandes mit
der Wüste selbst. Als sehr beachtenswerth führen wir fol-
gende Stelle des Capreisenden Burchell an (Travels I,
S. 10): „Als ich von dem steinigen Grunde ein Ding
aushob, das ich für einen sonderbar geformten Kiesel hielt,
sah ich zu meinem Erstaunen, daß es eine Pflanze war, näm-
lich eine neue Art des Geschlechtes Mesembryanthemum,
die aber in Bezug auf Farbe uud Erscheinung die täuschendste
Aehnlichkeit mit den Steinen zeigte, zwischen welchen sie
wuchs. ■ Auf demselben Boden fand ich zwischen den Steinen
eine Art des Gryllnsgeschlechtes, so außerordentlich ähnlich
den Steinen in der Farbe und selbst in der Form, daß
ich sie nie entdeckt haben würde, wenn ich sie nicht im Augen-
blicke der Bewegung überrascht hätte, und auch diese Bewe-
gung erfolgte nur selten und dann langsam."
„Die Absicht der Natur," fährt Burchell, also ein älterer
Reisender, fort, „scheint in diesen Fällen dieselbe wie bei dem
Chamäleon gewesen zu sein, dem sie das Vermögen gab,
seine Farbe in einem gewissen Grade dem ihm am nächsten
befindlichen Gegenstande anzupassen, um es für die Mangel-
haftigkeit seines Bewegungsvermögens zu entschädigen. Durch
ihre Form und Farbe bleibt dieses Insect (die erwähnte
Grylle) unbeachtet von den Vögeln, welche sonst diese Art,
welche wenig sähig ist, den Verfolgern zu entgehen, bald aus-
gerottet haben würden, während jenes faftige kleine Mesem-
bryanthemum im Allgemeinen von Rindvieh und wilden
Thieren wenig beachtet werden mag."
Die Beispiele von schützender Aehnlichkeit bei Pslan-
en in der Thierwelt.
zen in der Wüste lassen sich vermehren. Ein zu Brooklyn
bei King Williams Town in Kassraria lebender Natnrsor-
scher, Mansel Weale, machte kürzlich auf folgende That-
fache aufmerksam. Viele in der Karru wachsende Pflanzen,
berichtet er, haben knollige Wurzeln von ähnlicher Form und
Farbe, und es ist besonders merkwürdig, daß unter den As-
clepiadeen viele Arten, z. B. die von Raphionueme, die im
Graslande wachsen, ihre Knollen unter der Erdoberfläche
verbergen, während andere, die in der steinigen Karru vor-
kommen, wie z. B. Brachystelma filiforme, dieselben über
dem Boden trugen. Sie gleichen so vollkommen den Stei-
nen, zwischen denen man sie findet, daß, wenn die Pflanze
nicht im Blattschmuck steht, es fast unmöglich ist, sie zu unter-
scheiden.
Wenden wir uns nach den arktischen Regionen, so
tritt die weiße Farbe bei vielen Thieren in den Vordergrund;
sie entspricht den Gletschern, Schneeflächen, Eisschollen. Der
Eisbär und der amerikanische Polarhase, die niemals frei-
willig ihre Eis- uud Schneeregion verlassen, sind immerfort
weiß, während der Polarfuchs^), der Schnee- oder Alpen-
Hase und das Hermelin nur im Winter weiß werden, „weil
in den Regionen, in welche sie im Sommer wandern, diese
Farbe für sie eher eine Quelle der Gefahr als ein Mittel
des Schutzes sein würde." Unter den arktischen Vögeln
finden die Schneeammer und Schneeeule sicherlich durch ihr
weißes Gefieder großen Schutz. Das beste Beispiel für
Farbenfchutz unter den Vögeln bietet das Schneehuhn oder
das arktische Ptarmigau, dessen Sommerkleid genau mit den
graubraunen, flechtenbedeckten Felsen z. B. ans Spitzbergen,
wo es selbst im Winter bleibt, harmonirt. Im Winter aber
nimmt sein Kleid die weiße Farbe des Schnees an. Unsere
Rebhühner haben fast genau die Farbe des Bodens der Fel-
der, auf denen sie leben; die Rohrdommel gleicht braunem
Schilfrohr oder, wenn sie, Gefahr ahnend, Kopf und Schna-
bel kerzengerade in die Luft streckt, einem alten Baumstrunke.
Nächtliche Thiere besitzen gewöhnlich unscheinbare, graue
Farben; sie sind dadurch mehr geschützt, als durch hellere
oder gar glänzend weiße Kleidung. Nur in den tropischen
Wäldern, die nie ihr Laubkleid verlieren, kommen
grüne Papageien uud andere grün schillernde Vögel vor.
Unsere schön grüne Eidechse, im grünen Laub durch ihre
Farbe geschützt, hält ihren Winterschlaf, wenn das Grün der
Pflanzen bei uns abgestorben ist.
Gegen das Schlagende der hier mitgetheilten Thatsachen
läßt sich, so glauben wir, nichts einwenden. Anders wird
die Sache aber, wenn wir von dem Gebiete der Ueberein-
stimmung zwischen Form und Farbe der Pflanzen und Thiere
und ihrer Umgebung auf das Feld der Anpassung oder
Adaptation gerathen. In diese Kategorie werden z. B.
die schönen Streifen und Flecken der Tiger, Jaguare und
anderer Katzenarten gerechnet. Hier kommen wir schon auf
ein mehr hypothetisches Gebiet, das uns noch schwach bebant
erscheint. Die verticalen Streifen, welche so deutlich auf
dem Körper des Königstigers hervortreten, sagt man, schlie-
ßen sich eng den verticalen Bambusstämmen der Dschengeln
an, welche dem Thiere zum Ausenthalt dienen, und verbergen
den Tiger so vor seinen Verfolgern. Hier muß nun fpeciell
angenommen werden, daß der Tiger, dieser König der Thiere
in Indien, welcher sonst vor nichts sich zu fürchten braucht,
ganz besonders mit Rücksicht auf die indischen Offiziere, welche
*) Nach Robert Brown gicbt es zwei Varietäten des Polarfuchses
(Vulpes lagopus), eine blaue und eine weiße, deren Färbung nicht
von der Jahreszeit abhängen soll. Beide Varietäten vermischen sich,
und wie die Eskimos sagen wirft eine weiße Mutter blaue Junge
und umgekehrt. (Brown, On the Mammalian fauna of Greenland.
Proceedings of the zoological Society of London, 28. Mai 1868.)
Schützende Aehnlichk
ihn jagen, mit seinen verticalen Streifen versehen wurde.
Daß er auch in anderen Gegenden als im Bambusdschengel
vorkommt, ist bekannt. Außer dem der Wüstenfarbe ange-
paßten Löwen, dem Tiger und dem südamerikanischen Puma,
„dessen aschbraunes, einfarbiges Fell fast der Rinde der
Zweige gleicht, auf denen er eng angekauert auf die uuteu
vorüberziehende Beute lauert," haben alle anderen großen
Katzenarten ein geflecktes Fell, „welches sie gleichsam mit
dem Hintergrunde des dichten Laubmerks, in dem sie sich
aufhalten, vermischt." Die hier aus dem Katzengeschlechte
beigebrachten Exempel möchten wir für schwach halten.
Unter den Reptilien finden wir wieder einige anffal-
lende Beispiele in der Uebereinstimmnng zwischen deren Farbe
und der Umgebung. Der Laubfrosch mit seiner grünen Haut,
m in der Thierwelt. 38k
sast alle tropischen Baumschlangen, die Leguane nnd Baum-
eidechseu sind nicht so leicht von dem Laub, in welchem sie
leben, zn unterscheiden. Crocodile und Alligatoren, die sich
ruhig im schlammigen Strome hinabtreiben lassen und oft
mit Wasserpflanzen bedeckt sind, gleichen den in den Flüssen
flnthenden Baumstämmen und überraschen, so vor Erkennung
geschützt, leicht Menschen und Thiers am Rande des Stromes.
Der Franzose Poussielgue, welcher die Diegosümpfe auf
der Halbinsel Florida besuchte, sah dort im Röhricht eine
schwärzliche Masse ans sich zutreiben. „Sie sah aus wie
ein Baumstamm, war mit Wassermoos und Sumpfgewächsen
bedeckt; ein kleiner Strandläufer hüpfte auf derselben hin
und her und pickte allerlei Gewürm auf. Wir ruderten
näher heran und mein Gefährte schlug einige Mal derb aus
Ein Kaiman in den Diegosüms
die Masse, welche nun plötzlich eine Bewegung nach oben
machte. Jetzt kam ein schuppiger Schwanz zum Vorschein;
das, was wir anfangs für Zweigauswüchse gehalten hatten,
verwandelte sich in Füße, und aus dem Wasser gähnte ein
gewaltiger mit Zähnen bewaffneter Rachen hervor. Als
die Masse dann untersank, flog der Strandläufer pfeifend
davon. Wir hatten es mit einem Kaiman von mindestens
15 Fnß Länge zu thun gehabt."
Was die Fische anbetrifft, so können wir auch hier
einige Beiträge verwandter Art anführen. Die See-Znnge
(Solea vulgaris), die gern sich halb im sandigen Seeboden
verkriecht, ist der Farbe nach kaum von diesem zn unterschei-
den. In den Meeren der gemäßigten Zone zeigen die Fische
keinerlei auffallende Farben; „während die in den tropischen
Meeren schwärmenden Fische, was Glanz der Farben be-
a Floridas. Nach Poussielgue.
trifft, mit den Polypen an den Korallenriffen wetteifern."
Wallace lenkt die Aufmerksamkeit auf einen merkwürdigen
Fall von Anpassung bei den australischen Seepferdchen (Hippo-
campus). „Einige derselben haben lange blattartige An-
hängsel, die Tangen gleichen und eine brillant rothe Farbe
zeigen. Sie leben zwischen Tangen von derselben Farbe, so
daß sie, wenn ruhig, völlig ununterscheidbar sind."
Die Mollusken liefern keine zahlreichen Beiträge zu
den auffallenden Ähnlichkeiten. Unter den Annulaten sind
die grünen, rothen und purpurnen Farben der-Seetange
vertreten, zwischen denen sie leben. Die Actinien weisen
einige gute Beispiele von schützenden Farben auf. Brady
berichtet, daß er beim Netzsischen im Clyde zahlreiche kleine
Seesterne (Ophiocoma bellis) fand, die in ein Gewirr von
Laminariawurzelu eingebettet lagen; die tiefe Purpurfarbe
382
Schützende Ähnlichkeiten in der Thierwelt.
der Seesterne wie Wurzeln war so außerordentlich gleich,
daß er keinen der kleinen Ophiuren entdecken konnte, falls
sie sich nicht bewegten, obgleich er eine Wurzel in der Hand
hielt, an der sich ein halbes Dutzend der Seesternchen befand.
Die auffallendsten Beispiele weist das Insectenreich auf.
Hier braucht man nur zuzugreifen, bei unseren Jnsecten oder
noch mehr bei jenen in den Tropen, und die schützende Aehn-
lichkeit bei Hunderten fällt sofort in die Augen. In den
Tropen, sagt Wallace, giebt es zahllose Käfer, die wäh-
rend des Tages anf der Rinde eines abgestorbenen oder ge-
fallenen Baumes sitzen und die fein grau oder braun ge-
sprenkelt sind, so daß sie vollkommen sich mit der Farbe der
Rinde vermischen und
nur äußerst schwer zu
erkennen sind. Zu-
weilen kommt eine
Art nur aus einem
bestimmten Baume
vor, und in solchen
Fällen ist gewöhn-
lich eine Ueberein-
stimmung zwischen
dem Insect und der
Rinde vorhanden.
B ates sand zwei Ar-
ten langgehörnter Kä-
ser (Orjychocerus) in
dieser Weise auf be-
sondere am Amazo-
nenstrom wachsende
Bäume beschränkt;
auch sie glichen der
Rinde derselben so
auffallend in der Far-
be, daß sie nur, wenn
sie sich bewegten, zu
erkennen waren. Ci-
cindela. campestris,
unser gewöhnlicher
deutscher Sandlans-
käser, von schön grü-
ner Farbe, lebt anf
grasigen Flächen, sein
Verwandter, Cicin-
dela maritima, wird
nur am sandigen
Meeresgestade gefuu-
den; aber seine Farbe
ist ein mattes Bronze-
gelb, täuschend ähn-
lich dem Sande. Auf
den malayifchen Inseln entdeckte Wallace einen blassen Tiger-
käfer, der auf weißem Korallensande vorkam, während auf
vulcauifchem und schwarzem Boden eine dunkele Art desselben
Geschlechts sich einstellte.
Die Schmetterlinge haben, wenigstens die Tagfalter,
fast stets ihre schönen Farben auf der Oberseite der vier
Flügel, während, geringe Ausnahmen abgerechnet, die Unter-
fetten dunkle, unscheinbare Tinten zeigen. Diese Anordnung
erweist sich im hohen Grade als schützend, denn im Sitzen,
wenn die Falter ihre Flügel zusammenschlagen, verbergen
sie aus diese Weise ihre glänzenden Farben. Die Schwär-
mer und Spinner zeigen gewöhnlich auf den Unterflügeln
ihre schönsten Farben, diese aber werden beim Sitzen von
den meist grauen und unscheinbaren Oberslügeln bedeckt.
Das merkwürdigste Beispiel von schützender Ähnlichkeit bie-
Der sumatranische Laubschmetterling (KalHma paralek'ta) ruhend und im Fluge.
Nach Wallace.
tet ein von Wallace auf Sumatra entdeckter Tagfalter,
Kailima paralekta, der von ihm in seinem Werke über den
Malayischen Archipel (Bd. I, S. 204 der englischen Ans-
gäbe) im Flug und im Sitzen abgebildet wurde. „Seme Ober-
fläche ist ein reiches Purpur, verschieden mit Aschfarbe ge-
mischt, und über die vier Flügel zieht sich ein breites, tief
orangenes Querband hin, so daß er fliegend sehr schön aus-
sieht. Diese Art war nicht ungewöhnlich in trockenen Wäl-
dern und Dickichten und ich versuchte sie oft zu fangen, doch
ohne Erfolg, denn nachdem sie eine kurze Strecke geflogen
war, pflegte sie zwischen trockene und tobte Blätter sich zurück-
zuziehen und wie sorgsam ich auch den Fleck absuchte, ich
fand sie nicht, bis sie
plötzlich wieder auf-
flog und an einem
ähnlichen Orte wieder
verschwand. Endlich
war ich so glücklich, ge-
nan den Ort zu sehen,
wo dieser Schmetter-
ling sich niedersetzte,
und obgleich ich ihn
einen Moment aus
dem Blicke verlor, eut-
deckte ich ihn doch
schließlich dicht vor
meinen Augen, sah
aber auch, daß er im
sitzenden Zustande so
genau einem dürren
Blatte an einem
Zweige glich, daß er
selbst das Auge zu täu-
scheu vermochte, wenn
es direct auf ihn
blickte." Ein Blick
auf die von Wallace
mitgetheilte Abbildung
zeigt sogleich, wie au-
ßerordentlich die Aehn-
lichkeit der Unterseite
dieses Falters mit ei-
nem Blatte ist. Quer
durch die Flügel geht
eine dunkle Binde, die
der Mittelrippe eines
Blattes gleicht, wäh-
rend die als „Schwän-
ze" bezeichneten Ver-
längerungen der Hin-
terslügel dem Stiele
Selbst den Aderverlauf des
Größe, Farbe, Form,
des Blattes täuschend ähneln.
Blattes glaubt man zn erkennen.
Details — Alles stimmt bei diesem Falter, um ihn einem
dürren Blatte auffallend ähnlich zu machen.
Zunächst diesen Schmetterlingen stehen in Bezug auf
vollkommene Ausbildung der schützenden Ähnlichkeit einige
Orthopteren (Geradflügler). Verschiedene Arten des Ge-
schlechts Mantis (Gebetheuschrecke, wandelndes Blatt) sind
genau nach der Form von Pflanzen modellirt. Die Beine
stellen Stiele vor, der mit häutigen Anhängseln versehene
Körper gleicht dem Blatte; die grüne, helle Farbe, die feinen
Adern, Alles ist täuschend vertreten. Emerson Tennent
bildet in seinem Werke über Ceylon mehrere dieser eigen-
thümlichen Mantis- und Phyllium-Arten ab; ebenso die
merkwürdige Gespenstheuschrecke (Phasma) mit graugrünem,
Aus allen
cylindrifchem, flügellosem Körper, welche eine Länge von fast
fünf Zoll erreicht. Sie gleicht einem dürren, abgefallenen
Banmästchen, während nnfer „wandelndes Blatt" (Mantis
religiosa) aus Süddeutschland kaum vom Baumlaube zu
unterscheiden ist. Den Namen Gottesanbeterin oder Gebet-
Heuschrecke erhielt dieses Thier, weil es seine Vordersüße,
gleichsam wie zum Beten, emporhält. („Globus", S. 342,
haben wir eine Abbildung des floridanischen Spectrum gegeben.)
Genug der Beispiele. Die wichtige Rolle, welche Farbe
und auch die Form als Beschützerinnen von Thieren aus
den verschiedenen Classen spielen, ist damit hinreichend dar-
gethan. Wie aber sind alle diese wunderbaren Aehnlichkei-
ten entstanden? Wallace hat am eingehendsten geantwortet.
Er weist darauf hin, wie äußerst setzen die weiße Farbe
bei Sängethieren und Landvögeln in der gemäßigten wie
tropischen Zone vorkommt, wenn diese Thiere sich im wil-
den Zustande befinden. Ausgenommen in den arktischen
und alpinen Regionen, wo das Weiß als schützende Farbe
auftritt, giebt es keinen weißen Landvogel oder Vierfüßler
in Europa — aber, wie oben schon angeführt wurde, viele
Säugethiere und Vögel (Katzen, Kaninchen, Mäuse, Hühner,
Tauben) nehmen, wenn sie zu Hausthieren gemacht uud dem
„Kampf ums Dafein" entrückt werden, in ihren Nachkom-
men weiße Farben an. Anch im wilden Zustande trifft
man gelegentlich weiße Varietäten, weiße Sperlinge, weiße
Krähen, doch werden sie in Folge ihrer auffallenden Färbung
schnell eine Beute der Raubthiere und können so die Varie-
tät nicht fortpflanzen. Es giebt in der That keinen Grund,
anzunehmen, daß weiße Abkömmlinge im wilden Zustande
nicht fo häufig wie bei gezähmten Thieren sein sollen; aber
jene Individuen, deren Färbung die geschickteste oder passendste
für die Lebensstellung des Thieres ist, werden allein übrig
bleiben. Umgekehrt werden Thiere, die aus einem gemäßig-
ten in einen arktischen District sich begeben, dort wegen ihrer
rdtheilen. 383
dunklen Färbung leichter unterliegen, während dort die wei-
ßen Thiere besser ausdauern. Jene geringe Neigung zur
Variation, welche wir gern als zufällig und kaum beachtens-
Werth ansehen, ist, um Wallace's Worte zu gebrauchen, „die
Ursache aller der wunderbaren und harmonischen Aehnlich-
keiten, die eine so wichtige Rolle im Haushalt der Natur
spielen." Rapide Vermehrung, unaufhörliche geringe Ab-
änderung, durch eiue fast unbegrenzte Zeitperiode fortgesetzt,
und das „Ueberleben des Geschicktesten oder Geeignetsten"
sind die Ursachen, welche alle die aufgeführten Fälle von
schützenden Ähnlichkeiten hervorgebracht haben.
Die Erklärung von Wallace mag die beste sein, aber be-
sriedigend ist sie keineswegs. Warum, so fragen wir, er-
strecken sich die schützenden Aehnlichkeiten nur auf verhält-
nißmäßig wenige „auserwählte" Thiere? Warum sind der
Moschusochse und das Renthier in den arktischen Regionen
nicht auch geschützt und weiß wie der Eisbär? Braucht
überhaupt 'der letztere, der König der Polarregionen, eine
schützende Ähnlichkeit? Wäre diese nicht besser bei den dunkel-
farbigen Robben angebracht, die der Eisbär zu seiner Beute
macht? Warum ist das Hermelin im Winter mit einer
schützenden Aehnlichkeit beglückt, nicht aber sein nächster Ver-
wandter, der Iltis? Warum ist die Alpengrakel, die auf
den höchsten Spitzen in Eis und Schnee lebt, nicht weiß?
Warum fällt der schillernd grüne Rosenkäfer in der rothen
Rose beim ersten Blick in die Augen? Warum ist er nicht
rosenroth geschützt? Wir könnten mit solchen negativen
„Warum" noch lange fortfahren, um zu zeigen, daß das-
jenige, was als schützende Aehnlichkeit hingestellt wird und
in vielen Fällen sicher auch ist, nur als Ausnahme besteht.
Warum aber für besondere auserwählte Thiere eine Ans-
nähme gemacht sein soll, für andere, ihnen ganz nahe ste-
hende und unter gleichen Bedingungen lebende nicht, dafür
ist keinerlei vernünftige Erklärung vorhanden.
Aus allen
Spuren von Ludwig Leichhardt aufgefunden.
Es macht den Australiern alle Ehre, daß sie nicht müde
geworden sind, nach Leichhardt's Spuren zu sorschen; sie haben
zu diesem Zwecke mehrere Expeditionen ausgerüstet, und alle
Reisenden, welche den nördlichen Theil jenes großen Jnselconti-
nentes durchzogen, suchten Erkundigungen über das Schicksal
unseres Landsmannes einzuziehen. Ueber Vermuthungen kamen
sie nicht hinaus; dann und wann hörten sie, bald da bald
dort, von den Eingeborenen erzählen, daß weiße Leute durch
das Land gezogen seien. Unser Landsmann hatte, von der
Küste Queenslands aus, seine zweite Reise in nordwestlicher Rich-
tung im December 1847 angetreten; die leisten Nachrichten von
ihm sind vom 3. April 1848 und seitdem ist er verschollen.
Nun hat ein Zufall das bisherige Dunkel zerstreut. Der
Telegraph ist von Singapore bis Batavia und Surabaya
aus Java schon 1870 hergestellt worden, und nun lag den Au-
straliern daran, die europäischen Nachrichten von dort so rasch
als möglich zu erhalten. Es wurde vorgeschlagen, nach dem
letztern Hasen einen rasch fahrenden Dampfer gehen zu lassen,
und zwar von No rmantown, das an der Küste von Queens-
land liegt, und bis wohin gen Norden der australische Tele-
graph reicht; 'man würde vermittelst dieser Verbindung alle
10 Tage Nachrichten aus Europa haben können. Während die-
ses Project, der großen Kosten wegen, auf Hindernisse stieß, wa-
ren die Südaustralier eifrig am Werke, ihren Telegraphen von
Erdtheilen.
Adelaide aus gen Norden durch das Alexandraland uud durch
das Nordterritorium bis an die Nordküste zu führen, und sie
sind mit ihren Arbeiten schon weit ins Innere vorgedrungen.
Die Ingenieure sanden nun im März 1871 beim Central-
Mount-Stuart oben im Norden eine Flasche, welche vor
Jahren der bekannte Entdecker Stuart dort niedergelegt hatte;
sie war unberührt geblieben, obwohl dort schwarze Stämme
umherziehen. Dort nun zeigten einige Eingeborene nach Nor-
den hin und deuteten an, daß dort bei einem schwarzen Stamme
ein weißer Mann lebe. Dergleichen wird oft erzählt, und
hin und wieder verirrt sich auch ein weißer Mensch unter eine
Horde. Diesmal aber sind vom Jnspector Gilmore einige Ge-
rippe weißer Männer am Paroo Creek, der noch in
Queensland liegt, gesunden worden; den Weg wies ihm ein
schwarzer Führer, welcher den Dialekt der nördlichen Stämme
spricht. Aus den Mittheilungen der Schwarzen am Paroo geht
hervor, daß diese Skelette einer Partie weißer Männer ange-
hören, welche am Wantata Creek zu einer Zeit lagerten, als
die jungen Männer des Stammes noch Knaben waren. Die
Weißen wurden in ihren Zelten überfallen und ermordet.
In Australien ist man der festen Ueberzeugung, daß es sich
hier um Leichhardt und seine Begleiter handle ; die Knochen sind
nach der nächsten Ansiedelung gebracht worden. Gelegentlich
werden wir wohl Näheres erfahren.
384
Aus allen Erdtheilen.
Die Polarfahrt des Capitän Hall.
Wir haben derselben jüngst erwähnt; jetzt lesen wir in Neu-
Yorker Blättern vom 7. Juni, daß der Dampfer „Polaris" in
Washington vollständig ausgerüstet war und in den nächsten
Tagen nach Neuyork kommen sollte; seinen Borrath an Kohlen
will er in St. Johns auf Neufundland einnehmen. Die Reise
wird möglicherweise vier Jahre in Anspruch nehmen. Den
Befehl über das Schiff führt Capitän S. O. Buddington
aus Neu-London, ein in den hochnordischen Gewässern erfahre-
ner Seemann, der bereits 21 Fahrten nach der Davisstraße und
der Baffinsbai gemacht hat. Der zweite Offizier, Ehester, ist
seit zwölf Jahren in den arktischen Meeren gefahren. Dritter
Offizier ist W. Morton, der mit Kane im Smithsunde war,
und der im Norden des Kennedy-Canals eine große Wake, d. h.
eisfreie Stelle sah, welche er dann dreistweg für „das offene
Polarmeer" ausgab. Diese unerwiesne und unbewiesene Be-
hauptung hat seit anderthalb Jahrzehnten viele Gläubige gefun-
den und viel Rumor iu der Welt gemacht.
Der Oberingenieur ist ein Deutscher, Schumann; daß
Dr. Bessels aus Heidelberg sich der Expedition angeschlossen
hat, ist schon früher von uns berichtet worden. Das Schiffs-
Volk besteht aus erprobten, ausgesuchten Leuten, und neben Nord-
amerikanern, Engländern und Schweden sind auch die Deutschen
vertreten. Unter diesen befindet sich der Bruder des „Gold-
selder-Mauch", der Naturforscher Joseph Mauch, der sich alle
Mühe gab, um als Chemiker mitzugehen; die Stelle war aber
schon besetzt und nun trat der brave Mauch als Matrose in
Dienst.
Der Dampfer „Polaris" hieß früher „Periwinkle, hat etwa
400 Tonnen Tragfähigkeit, ist 116 Fuß lang, 21 Fuß breit,
geht 13 Fuß tief und ist als Schooner aufgetakelt. Er hat im
Innern 3 Wandungen von 6 Zoll starkem Eichenholz und am
Bug einen starken Eisenpanzer. Die Maschinen haben neue,
eigentümliche Vorrichtungen und die Kessel können mit Wal-
fifchthran geheizt werden. Der Eskimodolmetscher Joe und
seine Frau Hannah, welche Hall von der Repulsebai mit nach
Neuyork nahm, machen die Fahrt mit. Die „Polaris" soll auf
der Disko-Jnsel an der Westküste von Grönland überwintern,
wohin der Dampfer „Supply" Borräthe bringen wird, und
1872 im Smithsunde so weit als möglich nach Norden vorzu-
dringen suchen. Man hofft in Nordamerika natürlich, daß die
„Polaris" das Sternenbanner auf dem Nordpole flattern lassen
werde! Warum nicht? Unser Dichter sagt: „Leicht bei einan-
der wohnen die Gedanken," und den andern Vers können wir
so abändern: „doch hart im Eise stoßen sich die Schisfe."
m.— Lustreisen nach Spitzvergen. So weit hätten wir
es nun doch schon gebracht! Alpen, Niagarafall, Mittelmeer,
die Alterthümer Aegyptens und dergleichen sind altmodig und
langweilig geworden. Also nun etwas Neues. Von Tromsö
aus ergeht an Touristen der drei nordischen Reiche eine Ein-
ladung zu einer Vergnügungsreise nach Spitzbergen.
Die Abreise ist auf Ende Juli oder Anfang August anberaumt,
die Dauer der Reise auf 14 Tage und der Preis für Beförde-
rung und Beköstigung auf 50 Speciesthaler festgestellt. Um die
Lust zur Betheiligung an dieser Spazierfahrt anzuregen, läßt
das Comite, von welchem die Einladung ausgeht, in den nor-
wegischen Zeitungen Auszüge aus den Reiseberichten der schwe-
dischen Expeditionen nach Spitzbergen abdrucken, welche geeignet
sind, das Land von der günstigsten Seite darzustellen und von
einem kurzen Aufenthalte daselbst den höchsten Genuß zu ver-
sprechen.
Auch von Ehriftiansnnd wird zu einer Lustreise nach
Spitzbergen aufgefordert, welche sich aus ein bis zwei Monate
ausdehnen wird und besonders auf Jagd und Walfischsang be-
rechnet ist.
*
*
m.— In Scandinavien, namentlich in Schweden, herrscht
nicht geringe Bestürzung über die Vorgänge in Helsingsors,
der Universitätsstadt Finnlands. Es ist nicht sowohl der
Umstand, daß 300 bis 400 Studenten von dort relegirt sind,
welcher die Gemüther beunruhigt, als der Befehl des Kaisers,
Vorschläge zu einer gänzlichen Reorganisation der Universität
auszuarbeiten. Man befürchtet, daß die berühmte finnifch-fchwe-
dische Pflanzstätte der Wissenschaften, ähnlich der polnischen Uni-
versität in Warschau, zu einem Beamten- und Priesterseminar
umgestempelt werde. Alle freie Forschung würde damit im
Keime erstickt und dieser Act als ein Todesstoß für alle freie-
ren Institutionen des Landes zu betrachten sein.
— In Neuseeland hat der Krieg zwischen den Kolonisten
und den Maoris aufgehört. Ein Theil der letzteren arbeitet
fleißig und mit Ausdauer am Bau der verschiedenen Land-
straßen, welche die Regierung herstellen läßt. So sind von
der etwa 150 Miles langen Chaussee zwischen Napier und Ma-
nawatu 40 Miles ausschließlich von Eingeborenen gebaut wor-
den, und 50 von Ansiedlern und norwegischen Einwanderern.
Die 100 Miles lange Straße vom Taupo-See nach Tauranga
ist durchaus von Maoris und nur allein die Brücken sind von
Europäern hergestellt worden. Uebrigens sind die Eingeborenen
höchst abgeneigt, die Drähte und Stangen der Telegraphen
durch ihre Gebiete führen zu lassen; sie sehen darin ein Symbol
der Besitznahme durch die Pakehas, d. h. Europäer. — Aus
der Nordinsel wird an der Eisenbahn zwischen Auckland und
Waikato rüstig gebaut; auch auf der Südinsel ist man mit Eifer
daran gegangen, Bahnen herzustellen, z. B. zwischen Dunedin
und Elutha in der Provinz Otago; zwischen Clutha und Ma-
thaura; von Canterbury wird die große Stammbahn theils nach
Süden, theils gen Norden hin bis Raugiora weitergeführt.
— Diplomatischer Verkehr in Sachen von Men-
schenschädeln. Gesetzt den Fall, die „anthropologische Gesell-
schaft auf Honolulu" ließe durch den Gesandten Kamehameas V.
in Berlin an den deutschen Reichskanzler die Frage stellen, ob
er nicht geneigt sei, derselben durch Vermittlung der deutschen
Behörden eine Anzahl typischer Schädel aus Deutschland zukom-
men zu lassen, z.B. alter Keltenschädel, wendische Schädel, dann
Schädel der gegenwärtigen deutschen Stämme, nebst verschiedenen
sür die Culturgeschichte unseres Volkes wichtigen Gerätschaften,
wie Bierseidel und Tabackspfeifen, und der Reichskanzler möge
zu diesem Zwecke die Friedhöfe in Berlin, in anderen großen
Städten durchwühlen lassen, was würde man zu diesem Ver-
langen hier sagen? Man versetze sich nun in die Lage der Re-
giernng der Vereinigten Staaten von Colombia, welcher der
nordamerikanische Gesandte zu Nutzen und Frommen der Smith-
sonian-Jnstitution ein gleiches Ansinnen stellte. Aber die colom-
bische Regierung hat in dem Verlangen nichts Uebles gefunden
und dasselbe in der „Gaceta oficial" veröffentlicht, um die Local-
behörden darauf aufmerksam zu machen. Wie nun die letzteren
die Indianer, welche unter dem Einflüsse der orthodoxen Geist-
lichkeit stehen, veranlassen werden, einen männlichen und einen
weiblichen Schädel zu dem gedachten Zwecke abzuliefern, er-
scheint fehr zweifelhaft. Kenner des Landes behaupten, daß die
Indianer am liebsten die Schädel ihres Präsidenten und des
ganzen Beamtenheeres nach Washington abliefern würden.
Inhalt: Streifzüge in Florida. (Mit sechs Abbildungen.) (Schluß.) — Einige Bemerkungen über Luxemburg. —
Aus Dr. Abendroth's Reisen in Südamerika. — Schützende Ähnlichkeiten in der Thierwelt. (Mit zwei Abbildungen.) —
Aus allen Erdtheilen: Spuren von Ludwig Leichhardt aufgesunden. — Die Polarsahrt des Capitän Hall.
Spitzbergen. — Verschiedenes.
Lustreisen nach
Herausgegeben von Karl Andrer in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vit weg und Sohn in Vraunschweig.
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