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Globus.
XXII. Band.
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Globus.
Zllustrirte
Zeitschrist für Länder- und Völkerkunde
mit
besonderer Derücksrchtrgnng der Anthropologie und (ßtlmologk
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern
herausgegeben von
Karl Undree.
Zweiund zwanzigster Band.
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Hraunsckweig,
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg nnd Sohn.
1 8 7 2.
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HumboIdf-UnlvsrrHat zu Berlin
Philocc "cho >'r>':ultüt
Insti.L i i;. • VCS..C undo
Berlin N 4, Ca-^c-astraöe 110
Inhaltsverzeichnis.
Deutschland. Das Saterland, von
Franz Poppe. 182. 198.
Ein Stück hannoverschen Landes an der
Elbe, von H. Jaftram. 231.
Westschlesien und seine Bewohner. 317 ff.
Der Seebär auf der Ostsee, von Th. No ack.
214.
Aus Preußisch-Littauen. 239: Todtenwa-
chen, Krankheiten, Heilmittel, Volksge-
brauche.
Bernsteinernte. 64.
Neue Ausgrabungen bei Vineta. 236.
Anzahl der Mitglieder religiöser Orden.
32.
Volksmenge im Königreich Sachsen. 16.
Ausfuhr von Corsetten aus Würtemberg.
64.
Fremdwörter in der deutschen Sprache. 30.
190.
Die deutschen geographischen Gesellschaften.
156.
Großbritannien. Die Auswanderung
und die Colonien. 95. — Der auswär-
tige Handel. 237. — Kohlenflöze. 32. —
L u r o p a.
Der Hafen von Liverpool und seine
Dampferflotte. 365. — Weizeneinfuhr.
128. — Zur Statistik des Zeitungs-
Wesens. 165. — Die Bibelchristen. 160.
— Gesellschaft zur Bekehrung der Ju-
den. 127. ■— Anzahl steuerpflichtiger
Hunde. 127.
Nordeuropa. Wanderungen in den drei
Lappländern, von I. A. Frijs. 1. 17.
49. 162.
Norwegische Eisenbahnen. 15.
Eine Expedition nach den Faröern. 256.
Schwedische Polarexpeditionen 1872. 110.
314. 327. 384.
Die' neuesten Berichte aus Spitzbergen.
'286.
Russisches Reich. Aus dem Volksleben
der Russen. 369.
Die Tataren in Kasan und in der Krim.
258.
Am Südgestade der Krim. 289: Sewa-
stopol, Jnkjerman.
Russische Niederlassungen an der Grenze
von Norwegen. 27.
Turkestanische Erzeugnisse auf der Aus-
stellung in Moskau. 174.
Zahl der Altgläubigen. 32.
Nationalitäten in der Armee. 144.
Preßverhältnisse. 336.
Verbot der Kulibeförderung unter russischer
Flagge. 144.
Südost- und Südeuropa. Finanzen
des osmanischen Reiches. 288. —
Eisenbahnen in der Türkei. 175. — Er-
pressungen und Mißwirtschaft. 223.
Volkszählung in Griechenland. 304. —
Öffentliche Zustände. 144.
Die Judenverfolgung in Rumänien. 208.
Zigeunerschlacht auf dem Rakosch bei Pesth.
272.
Volksgebräuche in Dalmatien. 224.
Italien. Orientalisches Gymnasium in
Neapel. 144. — Corssen's Entziffe-
rung der etruskischen Sprache. 142. —
Schulunterricht. 15. — Landkarten. 64.
— Meteorologische Stationen in Nord-
italien. 160. — Die Meuchelmorde in
Rom. 336.
Geographische Unternehmungen deutscher Ge-
lehrten im Orient, von Richard Kiepert.
29.
Aus Palästina. 287. — Die Arbeiten
englischer Gelehrten. Neue Aufnahme der
Sinaihalbinsel. 94.
Otto Kersten am Jordan und am Todten
Meer. 78.
R. Burton's und Tyrwhitt Drake's
Reisen in Syrien. 346.
R. Burton, ein Ausflug von Damascus
nach Palmyra. 217.
Gefährlicher Triebsand in Syrien. 192.
Armenische Keilinschristen. 29.
Arabische Charakterzüge von Dr. A. Zeh-
me, 203 die Männer, 301 die Frauen.
Hungersnoth in Persien. 63.
Ostindien. Staatseinnahmen. 287. —
Länge der Eisenbahnen. 192. :— Han-
delsbewegung. 159. — Volkszahl von
Ealcutta. — Statistik der Unglücksfälle
und Mordthaten in der Präsidentschaft
Madras. 128.
U f i e it.
Erfolge der Missionäre; die Ritualisten und
Evangelicals. 368.
Die Kukas. 96.
Ergebnisse der Expedition gegen die Luschais.
71.
Megalithische Bauten bei den Khassias. 86.
Zustände in Kaschmir. 384.
Der Palast der Seths in Adschmir. 134.—
Skizzen aus Ostindien. 81: Am Hofe
des Maha Rana zu Udäpur, die Ab-
stammung der Radschputen. — 97: Nach
Tschittore und Adschmir. — 113: Int
Königreiche Dschäpur; der Radscha als
Reformer: das Volk der Minas; große
Jahresmesse; in Alwa.
Russisch- Asien. Netschwolodoff's
Reisen an den Grenzen der Dsungarei.
25. Dunganen und Tarantschen. 42.
Schamanen und Schamanismus, von H.
v. Lankenau. 278.
Überschwemmung in den Amurgegenden.
320.
Japan. Die Reformen im Reiche. 124.—
Otto Mohnicke über die geistigen An-
lagen und den moralischen Charakter der
Japaner. 220. 237. — Japanische Ur-
theile über die Civilisation des Abend-
landes. 367. — Betragen mancher Yan-
kees. 256. — Die Bibliothek des Tai'-
kun. 304. — Chemische Studien. 272. —
Schilderungen aus Yokohama. 376. —
Nachfrage nach deutschen Büchern. 112.
China. Hr. v. Richthofen im Innern
Chinas. — 250: Wanderungen in Sze
tschuen und Kuei tschen; Barbareien der
Mandarinen.
Williamson's Reise von Ning Po nach
Tschu tscheu. 335.
Die Handelsbewegung in den Häfen und
die deutsche Schifffahrt. 136. 381.
Die Jnfel Hainan dem Verkehr eröffnet.
191.
Der Kaiser für mündig erklärt. 16. — Chi-
nesische Studenten ins Ausland geschickt.
319. — Allerlei Aberglauben. 349. —
Pekings geographische Lage.
Hinterindien. Im Lande der nördlichen
Laos. 305: Luang Prabang. Märkte,
Tättowirnng der Schwarzbäuche, Volks-
stamme an der Grenze. — 321: Wasser-
scheide zwischen Menam und Mekong;
die Laoskönige; Luong lim.
Fahrten in Kambodscha. 209.
Eine französische Expedition nach Tung king.
175.
Der König von Kambodscha. 368.
Zuckerbau der Franzosen in Eochinchina.
288.
Siam. Der junge König und neue Or-
den. 144.
Zinn in Birma. 287.
Aus dem hinterindischen Archipelagus.
Bevölkerung der Philippinen; Vülcane
aus den Philippinen. 159. — Blattern
aus den Molukken 320. — Verbreitung
des Opiumgenusses auf Java. 144.
Georg Schweinfurth, Völkerskizzen aus
dem Gebiete des Bachr el Ghasal. 74.
88: die Bongo, 225: die Mittu.
Übersichtliches in Betreff der Entdeckungen
Livingstone's. 363.
Stanley und Livingstone in Ostafrika. 12.
57.
Expeditionen nach Jnnerafrika. 384. Gran-
dy von Eongo aus an den Lualaba,
Cameron von Sansibar aus über den
Tanganyikasee nach Westen.
Der Sklavenhandel inr ägyptischen Sudan
und Oftafrika. 119. — Beabsichtigtes
Einschreiten gegen denselben durch Bartle
Frere. 351.
Afrika.
Richard Brenner auf dem Rothen Meere.
138: Schifffahrt auf dem Suezcanale.
Wandelungen im Orient.
Nachrichten von Samuel Baker's Nilexpe-
dition. 285.
Aus Aegypten. 112: Anzahl der Frem-
den in Alexandria und Kairo. Dattel-
Palmen. Die Messen von Tantah und
Dessuk.
Zustände im ägyptischen Sudan. 44: Bar-
barei. Erpressungen von Muntas Pascha.
Abyssinien. 125. Der neue Kaiser. Ein
Blick auf die Wirren im Lande. 46.
Zur Kennzeichnung der Zustände in Tunis,
von H. V. Maltzan. 153.171.188.
Auf den Ruinen von Utica. 20. 33.
v. Fritfch und Rein auf den Kanarischen
Inseln und im marokkanischen Atlas.
208. 318.
Gerhard Rohlfs, Höflichkeitsformeln und
Umgangsgebräuche bei den Marokkanern.
105.
E a p c o l o n i e. 383. West-Griqualand eine
besondere Colonie. Plan zur Consöde-
ration der südafrikanischen Lande. Prä-
mie auf Goldentdeckungen. — Die Dia-
mantfelder Südafrikas. Mitgetheilt von
H. Breithaupt. 177.
Die Sakalaven auf Madagaskar. 268.
Die arktische Expedition Pavy's. 59.
Aus der Eanadian Dominion. Das
große einsame Land. 77. 91: die Region
des Red River und des Winnipeg. —
Die Bahn nach Britisch-Eolumbia. 16.
— Holzexport aus Canada. 351. — Fi-
scherei, Postwesen, Dampferverkehr. 80.
Baldwin's Altes Amerika. 228.
Wilson's Untersuchungen über den In-
dianerstamm der Huronen. 248.
Indianische Ortsnamen. 325.
Reste der Indianer in Iowa. 143.
Vereinigte Staaten. Alaska. Meteo-
rologische Station auf der Insel St.
Paul. 143. — Feindseligkeit der Einge-
borenen gegen die Yankees. 336.
Theodor Kirchhoff. Streifzüge in Ore-
gon und Kalifornien. 121. Eugen City.
Der Willamette. Callapuyaberge. Ump-
quathal. Oakland. — 137: Rogue-River-
berge und Rogue River. Jacksonville. —
184: Goldhill. Siskiyougebirge. Die
Minenstadt 9)reka. Das ^San-Sacra-
mento-Thal.
Austernbänke an der Westküste. 32. — Ein
großes Landgut im südlichen Calisor-
nien. 254. — Ergiebige Weizenernte.
368. — Theehandel mit Japan; Ansied-
ler aus Costa rica. 191.
Nevada. Clarence King's Ersteigung des
Mount Tyndall in der Sierra Nevada.
63. — Silberproduction und ein Vul-
can. 191.
Die Stadt Denver in Colorado und ihr
Ausblühen. 27.
Eine Erforschungsexpedition durch Texas.
127.
Die pacisische Südbahn. 127.
Expedition nach Nicaragua. 32. 64. 128.
Canalproject zur Verbindung des Missis-
sippi mit der atlantischen Küste. 143.
Amerika.
Die Nordpacificbahn. 48.
Neuyork. Dampferlinie mit Cardiff. 319.
— Bevölkerung der Städte in der Um-
gegend. 143. — Zolleinnahmen. 288.
Tabacksbau in Connecticut. 351. — Sil-
ber am Rio Gila. 96. — Mineralreich-
thum Missouris. 352. — Die Silber-
gruben in Utah. 352.
Statistik der Wollefabrikation. 382.
Handel von Milwaukee. 352. ■
Volksmenge in Utah. 192.
Schuldenlast der Südstaaten. 303.
Zunahme des Opiumgenusses. 118. 368.
Brauchbarkeit der chinesischen Arbeiter. 288.
Eine Mulattin als Advocat am Oberge-
richt. 160.
Weibliche Ackerbaustudenten in Iowa. 112.
Amtlicher Polizeibericht von Neuyork. 176.
Zur Statistik der kirchlichen Organisation.
16.
Zeitungswesen. III. — Ton der Presse.
160.
Bestrafung der Verbrecher in Dakota. 352.
Anzahl der steuerpflichtigen Hunde. 80.
Die „verrückten Stimmrechtsweiber". 48.
Fetischdienst der Neger in Louisiana und
Mississippi. 95. 223.
Schwarzes Camp Meeting bei Washington.
383.
Zum Nacenkamps; Uebermuth der Neger.
276.
Westindien. Die indischen Kulis. 254.
Feindseligkeiten der Indianer in Britisch-
Honduras. 352.
Zuckerproduktion von Demerara. 128.
Grausamkeiten auf Euba. 352.
Meteorologische Station auf Barbadoes.
160.
Südamerika. Aus der Republik Neu-
grau ada. 337: Das Caucathal. Die
Königsstraße. Marinilla. Mekllm. Die
verschiedenen Menschenracen. — 353:
Der Markt in Medellin. Maniok. Aus
Autioquia.
Der Nevadoaltar und der Tunguragua in
Ecuador, von Bernhard Flemming.
126.
Bernhard Flemming. Wanderungen in
Ecuador. 225: Guayaquil und Baba-
hoyo. — 266: Ritt nach dem Thale von
Chimbo. — 283: Der Chimborazo; im
Urwalde.
Peru. Die Revolution vom Juli 1872.
207. 299.
Internationale Ausstellung. 240. — Neue
Guanolager entdeckt. 64. — Antikleri-
kales. 319.
Chile. Kohlen bei Arauco entdeckt. 32.
— Die Blatternkrankheit. 224. — Ver-
bot der Hahnen- und Stierkämpfe. 160.
Argentinische Republik. Der trans-
andinische Telegraph. 144. — Die
transandinische Bahn und andere Schie-
nenwege. 240. — Erforschung des Los-
Patos-Passes durch Nicourt, des Plan-
chon durch Crawfurd. 159. — Die
Goldgruben von Gualilan. 48. — Bi-
tuminöse Kohlen in San Juan. 240. —
Handelsbewegung von Buenos Ayres.
272. — Argentinische Staatsschuld. 64.
— Der Clerus gegen die Eisenbahnen.
128. — Einwanderung der Basken und
Italiener. 240. — Die Stadt Patagones
oder El Carmen. 15. — Die Ansiede-
lung der Walliser am Chupat nüßlun-
gen. 15.
Paraguay. Einwanderung. 319.— Ver-
minderte Volksmenge. 304.
Brasilien. Eisenbahnbau. 159. — Das
Fleisch der Amazonasschildkröte als
Volksnahrungsmittel. 351.
VII
Per Hroße Hcean und Australien.
Dampfschifffahrt in der Südsee. 321.
Von Kalifornien nach.Japan, von G.Wal-
lis. 345. 360. 376.
Vorschlag zu einer internationalen hydro-
graphischen Erforschung der Südsee. 80.
Agafsiz im Stillen Weltmeere. 353.
Die Insulaner der Kingsmillgruppe, der
Romanzowinseln und der Markesas. 246.
Tättowirungen. — Die Bewohner der
Neuen Hebriden. 246.
Von den Samoainseln oder Navigato-
ren. 95. — Der Hafen Pago-Pago und
die Nordamerikaner. 47. — Die Unter-
nehmungen des Hamburger Hauses Go-
defroy. 157..
Fidschi-Jnfeln. Deutsches Consulat. 304.
— Handelsbewegung des Hafens Levuka.
47.
Der Mauna loa auf Hawaii wieder thä-
tig. 352.
Neuseeland. Der letzte Menschenfresser
gestorben. 144. — Verminderung der
Maoris; Straßenbau; Gletscher. 96. —
Der neuseeländische Flachs; Verbreitung
des europäischen eingeführten Wildes. 319.
Australien. Der transcontinentale Tele-
graph. 31.— Südaustralien: Ausgaben
für die Einwanderung. 240. — Neusüd-
wales : Ausfuhr von Kohlen nach China.
336. — Wolle und Gold. 64. — Aus-
fuhr und Einfuhr für den Zeitraum von
18 Jahren. 176.
Neumayer über Leichhardt's Reife. 157.
Vermischte Mitteilungen.
Zur Culturgefchichte der Vorzeit, von Lud-
wig Lindenschmit. 39. 55.
Unsere heutige Kenntniß der Uranfänge des
Menschengeschlechts, von Dr. H. Obst.
144. 167.
Das römisch-germanische Museum in Mainz.
252. 263. 274. 295.
Müller's kosmische Physik. 102. 129.
Weltgang der Cholera. 140.
Heimath und Verbreitung der Cholera.
65. 91.
Die Cyelen der Cholera und die Sonnen-
flecke. 91.
Große Hitze und Kälte; Wechsel in den
klimatischen Zuständen; Sonnenstiche. 9.
Telegraphische Witterungsberichte und die
Sturmwarnungen. 145.
Temperaturbeobachtungen in der Tiese des
Atlantischen Oceans. 203.
Eisberge und Eisfelder im Atlantischen
Ocean. 63.
Strömungen im Mittelländischen und
Schwarzen Meere. 367.
Die Peninsular and Oriental Company.
80: Anzahl ihrer Schiffe.
Eine lange Seereise. 16.
Die Nordseeexpedition der „Pomerania".
153.
Die Haßlerexpedition in derMagellans-
straße. 103.
Längenmaße für maritime Verhältnisse. 240.
Geographische Verbreitung der thätigen
Vulcane. 6: in Amerika. 23: in der
Südsee und den Polarländern.
Tyndall's Alpenwerk. 241.
Wachsthum der Korallen. 237.
Ausgestorbene Vögel auf Rodriguez. 272.
Verbreitung der Sperlinge in Nordame-
rika. 272.
Wieder einmal die Seeschlange. 288.
Ein französischer Landkartenmacher. 32.
Eine merkwürdige Fischwanderung. 43.
Eßbare Erde aus Lappland und Persien.
203.
Anthropologische und ethnographische Pho-
tographien aus dem Britischen Museum.
206.
Schweinsurth-Stipendium in Riga. 281.
Agassiz. 108. 303. — Altman. 329. -
Ambert. 110.— Appun. 380.— Baker.
119. 285. — Baldwin. 228. — Boltz.
30. — Brenner. 139. — Butler. 77.—
Chapman'380.— Corßen. 124.— Ellis.
43. 381. — Foyn, Svend. 110. —
v. Fritfch. 208. 318. — Gerstäcker. 381.
— Göbel. 208. — Hall. 59. 335. —
Hatfield. 64. — Haußknecht. 29. — Hil-
ferding. 381.— Jenkins. 91.— Jensen.
110. — Kersten. 29. 78. 287. — King,
Clarence. 63. — King, John. 381. —
Kobell. 29. — Livingstone. 363. — Mac-
pherfon. 65. 90. — Maclay. 208. —
Meyer, Ad. Bernhard. 159. — Mordt-
mann. 29. — Munzinger. 46. 126. —
Nicourt. 159. — Nordenfkjöld. 110. —
Oersted. 381. — Parthey. 381. — Pas-
pati. 174. — .Pettenkoser. 65. — Rad-
cliffe. 140. — Reade, Winwood. 16. —
Rein. 208. 318. — Remy. 261. —
v. Richthofen. 128. — Schimper 126. —
Schweinfurth. 29. 74. — Seiff. 29. —
Shaftesbury. 96. — Steindächner. 303.
— Stanley. 12.57.112.363.- Spring.
381. — Tobiefen. 110. — Walker, Dr.
61.— Wallis. 320. — Welwitfch. 382.—
Williamfon. 334. — Whymper. 110. —
Wiegrebe. 332. — Wiltfcheck. 110.
Illustrationen.
Europa.
Berglappen von Karasjok. 2.
Lappische Gamme oder Erdhütte. 4.
Vadfö. 5.
Lappifcher Runenbanm. 13.
Zur Culturgefchichte der Vorzeit. 40. 41.
55.
Russische „Skoltelappen". 50.
Pasvig. Letzter Fischerplatz auf der norwe-
gischen Küste. 51.
Bauerhof in russisch Karelen. 52.
Blockhaus für Reisende bei Jmandra in
russisch Lappland. 53.
Jsotheren- und Jsochimenenkarte Europas.
103.
Isothermen der Alpen nach Schlagintweit.
104.
Jahresisothermen für Oesterreich. 104.
Karte des Lysgletschers. Nach Schlagint-
weit. 130.
Mer de Glace am Montblanc. Nach For-
bes. 131.
Ansicht des Montovert am Mer de Glace.
132.
Chapan am Mer de Glace. 132.
Wasserhose auf dem Rhein. 132.
Sturm vom 24. bis 25. December 1337.
133.
Hurrikan vom August 1837. 133.
Telegraphische Witterungsberichte und die
Sturmwarnungen. 145. 146. 147. 143.
Die rothen Höhlen bei Mentone. Nach
einer Skizze von A. Ternante. 150.
Der Neanderthalschädel. 151.
Jakostrov bei Jmandra. 162.
Mogilayi Ostrov. Begräbnißplatz auf einer
Insel in Jmandra. 163.
Kandalax. 164.
Strandpartie bei Pääjärvi in Russisch-Ka-
relen. 166.
Das Skelett aus der Rothen Höhle bei Men-
tone. Nach einer Photographie von An-
fossi. 168.
Das Matterhorn und der Furkegletscher.
Der Metschgletscher. 243.
Maximum- und Minimum-Thermometer.
244.
Ansicht von Kasan. 258.
Der Kreml in Kasan. 259.
Palast der Tatarenchane in Baghtschi
Ssarai. 260.
Baghtschi Ssarai in der Krim. 262.
Das römisch-germanische Museum in Mainz.
265. 274. 275. 276. 277. 296. 297.
298. 311. 312. 313.
Ein Schamane (Vorderansicht). 280.
Ein Schamane (Rückansicht). 281.
Sewastopol. Fort Nikolaus. 290.
Russische Soldaten. 292.
Die Anhöhe von Jnkjerman. 293.
Ein karaitischer Jude in der Krim. 294.
VIII
Eine Tarantassa. 370.
Russisches Haus im Norden. 371.
Russischer Dorfmusikant. 372.
Dorfkirche. 374.
Die Kirche des heiligen Basilius in Mos-
kau. 375.
Asien.
Geographische Verkeilung der Cholera-Epi-
demien in der Präsidentschaft Bengalen
nach I. Bryden. 1355. 66.
Geographische Verkeilung der Cholera-Epi-
demien in der Präsidentschaft Bengalen
nach I. Bryden. 1861. 69.
Am Barak-Flusse in Katschar. Nach einer
Skizze von R. G. Woodthrope. 72. .
Der britische Resident beim Maha Rana
von Udäpur. 82.
Tänzerinnen im Palast des Maha Rana.
84.
Grabmal eines Radschputen am Burdi-
Talao-See. 85.
Steinmonument der Khassias, mit Ochsen-
schädeln geschmückt. 87.
Der Chirat Chumb in Tschittore. 98.
Beim Radscha von Bunera. 100.
Der Bazar in Adschmir. 101.
Scheodan Sing, Maharao Radscha von
Alwar. 114.
Goldschmied in Alwar. 115.
Palast am Teiche zu Alwar. 116.
Kegelberg von Alwar. 117.
Freske im Tschisch Mahal zu Radschgarh.
118.
Palast der Seths zu Adschmir. 135.
Kambodschanische Typen. 210.
Auf einer kambodschanischen Reisebarke.
212.
Ordinirung eines Bonzen in Kambodscha.
213.
Abendfest in Luang Prabang. 306.
Münzen in Siam und Laos. 307.
Nächtliches Fest bei einem Mandarinen.
308.
Heiligthum in der Grotte von Pak hu.
' 310.
Häuptling der Wilden von Pak Ben. 322.
Bambusbrücke bei Xieng Khong. 323.
Wilde Lemeth in der Umgegend von Xieng
Khong. 324.
Buddhawagen in einer Grotte. 325.
Rhinoceronten in den Ruinen von Tieng
Sen. 326.
Afrika.
Ein Tunese. 20.
Ansicht der Ruinen von Utica. 21.
Auf den Ruinen von Utica. 22.
Ansicht von Utica, restaurirt. 34.
Kofferträger in Tunis. 35.
Alte Mosaik. Theseus kommt aus dem
Labyrinth, nachdem er den Minotaurus
getödtet. 36.
Phönicische Alterthümer. 37.
Aus den Diamantfeldern Südafrikas, To-
pographie derselben. 177.
Ein Zulukaffer. 178.
Eingeborener von Natal 178.
Ein Kaffer, Hausdiener in Natal. 179.
Bischof Colensos' Haus in Natal. 130.
Unterwegs nach den Diamantfeldern. 181.
Mandoline der Mittu. 226.
Bongo- und Mittu-Frau. (Nach Original-
Zeichnungen von G. Schweinfurth.) 227.
Janga's Grab in Muhdi (Bongo). 228.
Amerika.
Mexicanifche Vulcane. 7.
Vulcane der Anden bei Quito. 8.
Der Pichincha von der Hochebene von Quito
aus. 8.
Der Eotopaxi nach Humboldt. 9.
Der Eotopaxi nach Moritz Wagner. 9.
Der Altar. 10.
Indianische Steinwerkzeuge aus dem Mu-
fchelbette von Keyport. 230.
Ein Tambo in Neugranada. 338.
Hahnenkampf in Marinilla. 340.
Landleute aus dem Thale von Medellin. 341.
In Medellin, Neugranada. 342.
In Medellin. 343.
Früchte auf dem Markte zu Medellin. 354.
Serenade in Medellin. 356.
Eine alte Negerin in Medellin. 357.
Brücke über den Otun im Thale von Me-
dellin. 358.
Orchideen in der Provinz Antioquia, Neu-
granada. 359.
Australien und die Südsee.
Plan und Durchschnitt des Kraters von
Kilauea. 24.
Tättowirte Häuptlinge auf Nukahiva. 194.
Tättowirte Leute von der Romanzoff-Jnfel.
195.
Dorf auf den Kingsmillinfeln. 196.
Waffen der Kingsmill-Jnfulaner. 197.
Stelzen der Markefas-Jnsulaner. 197.
Junger Mann von der Insel Aneiteum. 246.
Frau von der Insel Vanikoro mit ihrem
Kinde. 246.
Das Dorf Vanou auf der Insel Vanikoro.
247.
'• in
"8
■m
Band XXII.
Mit befondcrer Herücksicktizunz der Anthropologie und Gtlinologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1872.
Wanderungen' in den drei Lappländern.
Von Professor I. A. Frijs in Christiania *).
I.
Klimatische Verhältnisse m Lappland und deren Einwirkung auf das Volksleben. — Zunahme der Bevölkerung. — Wie die
Lappen zum Zähmen der Renthierherden gekommen sind. — Die Wichtigkeit derselben. — Abwehr der Wölfe. — Nomaden-
leben. — Das Aussondern aus den großen Herden. — Eindringen skandinavischer Leute in das Gebiet der Lappen.
Seit v. Schubert und v. Buch Lappland durchforschten,
haben sehr viele Touristen einzelne Theile jener Nordregio-
nen besucht, und mehr oder weniger zuverlässige Beschrei-
bungen des Gesehenen und Beobachteten geliefert. Allein
einen so umfassenden Bericht über das weitverbreitete, wenn
auch nicht sehr zahlreiche Lappenvolk konnte nur ein Lands-
mann und Stammesgenosse wie Professor Frijs nieder-
schreiben. Deshalb wollen wir hier seinem Jdeengange
folgen.
In Lappland ist je nach der Stellung und Lage der Berge
der Eintritt der wärmern Jahreszeit sehr verschieden, denn
unter demselben Breitegrade ist oft an dem einen Orte im
April schon Frühling, während man an einem andern Orte
im Anfang Juni noch auf denselben wartet. Dasselbe ist
mit der Schneeanhäufung der Fall. Denn während in ein-
zelneu Gegenden die Schneemenge fo gering und die Kälte
so unbedeutend ist, daß die Schlitten nicht fahren und die
Winterarbeiten nicht ausgeführt werden können, liegen in
*) Ans dem Norwegischen übertragen von Dr. F. Mehwald.
Der Titel des norwegischen Werkes ist: „En Sommer i Finmarken,
Russist Lappland og Nordkarelen. Skildringen af Land og Folk,
af I. ?I. Frijs, Professor and Universitetet i Christiania. 1871.
Fortagt af Albert Cammermeyer. Christiania."
Globus XXII. Nr. 1. (Juli 1372.)
anderen Gegenden des Landes so ungeheure Schneemassen
anfgethürmt und fällt der Thermometer so tief, daß die Ge-
birgslappen ihre Renthierherden nach den Küsten hinabtrei-
ben müssen, weil dieselben die Schneemassen mit ihren Ge-
weihschaufeln nicht zu bewältige» vermögen, um Futter zu
suchen. Steigt gleichzeitig die Kälte, so fallen Hunderte
von Renthieren dem Hunger zum Opfer, und namentlich
gehen die frischgeworfenen Kälber zu Grunde. An den Kü-
sten aber leiden im späten Winter die Bogel entsetzlich durch
Schnee und Kälte. Denn sobald ihre Legezeit kommt, suchen
sie einige nothdürftige Halme zusammen, ordnen sie in Nest-
form auf dem Schnee, legen ihre Eier darauf und brüten.
Durch die Brutwärme schmilzt aber der Schuee unter den
Eiern, diese rollen in dem improvisirten Neste theils znsam-
men, theils aus einander und frieren zu Eis. — Dieser
Eierverlust von Millionen Seevögeln, welche an den See-
küsten nisten, ist für die Strandbewohner sehr empfindlich,
weil die Eier, nachdem ihnen durch Eingraben in die Erde
der Thrangefchmack ausgezogen ist, ein wichtiges und leckeres
Nahrungsmittel bieten.
Das Volk, welches diese Mißhandlungen der Natur am
leichtesten erträgt, heißt das Lappenvolk. Ueber den Na-
men Lappe ist schon viel und Vielerlei geschrieben worden;
1
ZM
2 I. A. Frijs: Wanderunc
doch waren diese Beschreibungen meist Phantasiestücke. Denn
der Name Lappe stammt aus dem Finneschen. Das Ver-
bum lappaa drückt ein Hin- und Herwandern aus, und
von diesem Berdum ist das Substautivum Lappalainen,
ein Nomade, abgeleitet. Die Vorstellung hat ziemlich all-
gemein Platz gegriffen.- die Lappen seien ein kleiner, schwa-
cher Volksstamm, welcher von der Natur auf den Aussterbe-
etat gesetzt worden. Wahr ist, daß^ die Normänner uud
Finnen von stärkerm Knochenbau sind, aber dafür zeigen
sich die Lappen ungemein zäh im Aushalten von Beschwer-
lichkeiten aller Art, in Iteberwinduug der feindlichen Natur,
im muthigen Einsetzen ihres Lebens auf Bergen und auf
der See. Und was den sogenannten Aussterbeetat betrifft,
so zeigen die Steuerlisten von 1567 bis 1815 eine fortwäh-
rende Zunahme der lappischen Bevölkerung in Ost- und
Westsiumarken, und zwar ist die lappische Einwohnerzahl
: in den drei Lappländern.
innerhalb gedachten Zeitraumes auf das Dreifache gestiegen.
Ob in Schwedisch- und Russisch-Lappland dieselben Verhält-
nisse obgewaltet haben, wie in Norwegisch-Lappland, ist nicht
mit Sicherheit anzugeben.
Ehen zwischen Normannern und Lappen kommen nicht
vor; dagegen sind sie zwischen Finnen und Lappen häusig,
und der Lappe wird dadurch in seiner Stellung gehoben.
Die Abkömmlinge aus solchen Ehen werden den Finnen
gleichgeachtet, weshalb wieder Ehen zwischen Normännern
uud halbblütigen Finnen keine Seltenheit sind; dadurch ent-
steht eine Verwandtschaft zwischen den drei genannten Volks-
stämmen. Ueberhaupt zeigt die alte Geschichte, daß früher
zwischen den Normännern und Lappen ein ganz anderes Ver-
hältniß bestanden hat. Denn im neunten Jahrhundert wa-
ren die Lappen keine Nomaden, welche Renthiere zähmten
und sich von denselben ernährten, sondern Jäger und Fi-
Berglappen
scher. In jener Zeit hatten die Lappen als Hausthier nur
den Hund, wogegen sie die Zähmung, das Melken und die
Züchtung der Renthiere von den damaligen Jnuenlands-
bewohnern lernten. Von diesen Nachbaren lernten sie auch
die Zucht der Pferde, Kühe, Schafe, Ziegen, Schweine
und Katzen, sowie den Nutzen dieser Hausthiere kennen.
Dies Alles beweist die Sprache der Lappen. Denn nur
der Hund hat einen echt lappischen Namen; mit der
Aufnahme der anderen gegenwärtigen Hausthiere haben die
Lappen auch die Namen derselben angenommen. Das Ren-
thier aber kannte man nur als Jagdwild.
Wie es gegenwärtig noch in Russisch-Lapplaud der Fall
ist, so wohnten früher auch in Norwegisch-Lappland Jäger-
und Fischerfamilien oft 15 bis 20 Jahre, oder überhaupt
so lange, als sie genug Fische, Jagdwild, Tors und Brenn-
holz in der Nähe hatten, an einer und derselben Stelle.
>n Karasjok.
Gingen aber diese Gegenstände aus und hatten sich die Kü-
chenabfälle um die Gamme (Erdhütte) bis zur Höhe dersel-
beu gehäuft, so brach die Colouie aus uud ließ sich an einer
andern passenden Stelle nieder. Dieses halbnomadische Le-
ben konnten die Lappen so lange fortführen, als es überhaupt
noch passende Stellen für sie gab. Als aber das Wild, auf
welches es hauptsächlich abgesehen war, bedeutend abnahm,
blieb den Lappen nichts übrig, als von den Skandinaviern
das Zähmen der Renthiere zu erlernen, und daß sie diese
Beschäftigung von den Skandinaviern gelernt und angenom-
men, beweist wieder ihre Sprache; denn der Lappe hat
kein Wort für „zähmen" und hat daher das fkandina-
vische Wort dafür angenommen.
Erst als die Lappen Renthierherden gezähmt hatten, wa-
ren sie gezwungen, mit denselben aus einer Gegend in die
andere zu ziehen, um Futter auf den verschiedenen Weide-
I. A. Frijs: Wanderung
platzen zu suchen; und hierdurch entwickelte sich jenes No-
madenleben, das sie bis auf den heutigen Tag fortführen.
Im Jahre 1852 traf die Lappen in Norwegen und
Finnland ein harter Schlag dadurch, daß Rußland den nor-
dischen Lappen die Grenze sperrte. Es bestand nämlich seit
1751 das gegenseitige Recht der norwegischen und finnischen
Lappen, daß die ersteren mit ihren Herden in Finnland über-
wintern durften, während die letzteren im Sommer sich in
den norwegischen Küstenländern aufhalten konnten. Dieses
Recht wurde 1852 von Rußland plötzlich ausgehoben, weil
man fürchtete, Norwegen könne aus diesem Rechte der No-
maden Eigenthumsrechte aus russisches Gebiet herleiten.
Da die Nahrungszweige in jenen Nordländern, wo Tau-
sende von Quadratmeilen öde und wüst liegen, nicht sehr
zahlreich sind, so ist Alles willkommen, was dem Lappen
Beschäftigung und Nahrung bringt. Außer der Renthier-
zucht gewähren Fischerei und Jagd die größten Vortheile,
denn durch die Jagd erhalten sie nicht allein Fleisch im
Uebersluß und außerdem Kleidung und Bettlager, sondern
sie versorgen auch ihre skandinavischen Nachbaren mit deli-
catem Renthiersleisch, Renthierfellen und Geweihen, so wie
sie auf der andern Seite den russischen Nachbaren Fische in
Menge liefern. Wie ergiebig die Jagd in jenen Einöden
ist, beweist die Thatfache, daß im Winter oft an einem
Tage aus der Lappenstation Kautokäino auf Renthieren über
10,000 Rypen (Schneehühner) und mehrere hundert Centner
Renthierfleisch nach Alten auf den Markt gebracht werden,
von wo sie sich dann über ganz Norwegen durch Handels-
leute verheilen und auch massenweise ins Ausland gehen.
Dasselbe ist mit Renthiersellen und -Zungen der Fall, weil
die Lappen nicht die Tausende von geschlachteten Renthieren
verwenden können. Dagegen tauschen sie mit Vortheil rus-
sisches Roggenmehl, Graupen, Butter, Vadmel (ein grober
blauer Flanell) und andere Dinge ein. Dieser Handel wird
von der Regierung sehr begünstigt. Deshalb gehen Dampf-
schiffe regelmäßig um die ganze norwegische Küste, und zwar
einestheils, um die Post zu befördern, anderntheils um die
Handelsgegenstände schneller und billiger von Ort zu Ort
zu bringen, als dies mit Renthieren geschehen kann.
Dennoch bleibt das Renthier in Lappland in vielen
Gegenden ein unersetzliches Communicationsmittel, denn von
Muonio bis Alten (32 norwegische Meilen), von Muonio
nach Lyngen (29 Meilen), von Jukasjärvi nach Lyngen (30
Meilen), sowie zwischen Alten, Kautokäino, Karasjok, Por-
sanger, Tana und Varanger können Post und Fracht nur mit
und auf Renthieren befördert werden, weil in allen diesen
Gegenden das Pferd keinen passirbaren Weg findet. Un-
entbehrlich aber ist das Renthier als Zugthier in Russisch-
und Finnisch-Lappmark, in Utsjok, Enare, Nordkarelen k.,
weil die Fracht an Dorsch, Grausei, Höring, Walroßhän-
ten, Taback, Tuch, Mehl und dergleichen ohne das Renthier
gar nicht transportirt werden könnte.
Die Zucht, Ablichtung und Erhaltung der Renthiere
ist ein so schweres Geschäft, daß eben nur der Berglappe,
welcher durch die Jahrhunderte von Geschlecht zu Geschlecht
abgehärtet worden, und die Natur und Wartung des Ren-
thiers durch tausendfache Erfahrung kennt, fähig ist, Ren-
thierherden zu halten und zu erhalten. Denn er muß Tag
und Nacht auf Wache gegen die Wölfe stehen, da diese, seine
schlimmsten Feinde, theils einzeln, theils in Haufen tückisch
und unausgesetzt die Herden umschleichen und bald in Nu-
deln unvermuthet in die Herden einbrechen, bald die einzelnen
zersprengten Thiere zerreißen und verzehren. Der Lappe
hat daher die Nacht in Wachen getheilt, wie es auf den
Seeschiffen Brauch ist, und nun sitzen wechselsweise Alte
und Junge draußen fern von der Gamme mitten unter der
in den drei Lappländern. 3
Herde und passen genau aus; sie sind um so aufmerksamer,
je schärfer die Kälte, je schlimmer das Schneetreiben und je
finsterer die Nacht ist. Jede Viertelstunde muß der Wächter
die Runde um die Herde machen, muß sie mit Hülse der
Renthierhunde zusammenschaaren, muß schreien, rufen, fchie-
ßen und überhaupt so viel Lärm als möglich machen, um
die Wölfe zu entfernen und sie merken zu lassen, daß nicht
allein Leute zur Stelle, sondern auch auf den Beinen und
wachsam sind. Ist jedoch der Wolf sehr hungerig, so scheut
er nichts, nicht einmal einen blinden Schuß; sonst aber hält
er sich in der Entfernung und lauert aus eine bequeme Ge-
legenheit zum Einbruch in die Herde; denn er kennt seine Leute
und weiß, daß er, wenn der Schnee sehr ties ist, leicht gegen
den Lappen auf Schneeschuhen zu kurz kommen kann. Aber
gerade wenn dieser die Runde um die Herde gemacht und in
ein Loch unter einer Schneewehe gekrochen ist, um etwas
Schutz gegen das Schneetreiben zu suchen und eine Weile
zu ruhen, kann es sich ereignen, daß plötzlich Unruhe im
Lager wird. Die Hunde, welche sich über des Wächters
Beine gelegt, um ihm eine Weile als Fußteppich zu dienen,
fahren plötzlich auf und jagen bellend davon. Die Ren-
thiere, welche gleichfalls Unrath merken, laufen zusammen
und bilden erst einen dichten Hausen; dann aber brechen sie
einzeln aus dem Haufen aus und laufen in Verwirrung bald
dahin, bald dorthin, bis sie die Raubthiere wittern und in
tollen Sprüngen, meist gegen den Wind, das Weite suchen.
Die Wölfe, welche die Herde gänzlich zu zerstreuen suchen,
folgen den Renthieren auf dem Fuße nach und greifen im-
mer zu zweien jedes einzelne Renthier an. Nun heißt es:
Wächter (oft Kinder von 15 Jahren) spute Dich! Der
Eine folgt mit seinen Hunden der Herde; der Andere läuft
auf seinen Schneeschuhen so schnell als möglich zur Gamme
oder zum Familienzelte und weckt die Schlafenden mit dem
Rufe: Der Wolf ist auf den Beinen! Der Wolf ist in der
Herde! Mittlerweile sucht der erstere Wächter die Herde
mit seinen Hunden so gut es geht zu schützen. Die Hunde
thun, was sie irgend vermögen, um die Herde zusammen zu
halten und die Wölfe anzugreifen. Denn obgleich der Lap-
Pen Renthierhunde klein sind (nieist unseren Füchsen sehr
ähnlich), so giebt es doch einzelne, welche Muth genug haben,
um es mit Wölfen und Bären aufzunehmen. Besonders
hat man im District Kautokäino und Enare eine Species
ungeschwänzter Hunde, welche den Wölfen besonders zn schas-
sen machen, da letztere dieselben sehr schwer fassen können.
Denn ein solcher Renthierhund verfolgt den Wols mit unge-
meiner Gewandtheit, indem er ihn von hinten packt, aber
sogleich denselben umkreist, wenn dieser sich wendet, so daß
sich der Wolf, welcher etwas steisrückig ist, fortwährend wen-
den muß, was ihn so ermüdet, daß er oft der Hunde Beute
wird. Ein solcher Hund kostet 20 bis 25 Thaler.
Ist das Terrain für die Schneeschuhläufer günstig, so
werden viele Wölfe von denselben eingeholt, durch einen
Schlag mit dem Schneestabe aufs Kreuz unfähig zum Laufen
gemacht und dann getödtet, mögen sie den Rachen noch so
weit aufsperren und mögen sie im glühenden Athem ganze
Schaumwolken vor dem Munde haben. Mit dem Schnee-
stabe nach dem Kopfe des Wolfes zu schlagen, nützt nichts,
weil er ausgezeichnet gut versteht, den Schlag zu Pariren,
indem er ihn mit den Zähnen aufsängt.
Hat der Lappe, welcher auf seinen Schneeschuhen wie
der Sturmwind von den Bergen herabsaust, einem Wolfe
im Vorüberfahren den Rückgrat (des Wolfes schwächste Stelle)
entzwei geschlagen, so läßt er in der Regel den Krüppel im
Schnee liegen, holt erst das Leichengefolge, d. h. seine Ver-
wandten, erleichtert sein Herz durch eine kurze, aber mit vie-
len Bitterkeiten gemischte Leichenrede seinem Erzfeinde gegen-
Lappische Ganu
Wenn eines Tages eine Renthierherde wie der Sturm-
wind in Todesangst von allen Bergen herabstürzt, aus allen
Klüften hervorschießt, wie verzweifelt unter der Herde eines
andern Lappen sich zu verbergen sucht, so weiß letzterer, daß
der Wols sie versprengt hat. Er sieht daher nur nach den
Zeichen in den Ohren der versprengten Thiere, um zu er-
kennen, ob die Herde Verwandten oder Fremden, Freunden
oder Feinden gehört hat, uud bricht sogleich auf, um sein
Vieh in der Entfernung einiger Meilen vor den Verfolguu-
gen der Wölfe zu schützen. Denn dieselben verzehren erst
die Aase, welche sie in der geschlagenen Herde gemacht, und
lassen mithin den benachbarten Hirten Zeit, mit ihren Her-
den das Weite zu suchen.
Außer diesen Uubehaglichkeiteu, den Renthierdieben, den
Wölfen und den Sorgen für den Winter sind es namentlich
gegen die schwedische und russische Grenze hin die festwohnen-
den viehzüchtenden Lappen, welche den nomadisirenden Lap-
oder Erdhütte.
pen das Leben schwer machen, da den letzteren in keiner Weise
die Benutzung der Gebirge im Innern Lapplands freisteht.
Hingegen nehmen sich die festwohnenden die Freiheit, im
ganzen Lande Heu zu machen und an beliebige Stellen in
Feime zu setzen. Nun haben aber die Renthiere eine un-
gemein scharfe Witterung, d. h. eine so feine Nase, daß sie
viertelmeilenweit die Heufeime riechen, sich dann, wenn sie
auf ihren Zügen von den Küsten in die Gebirge und um-
gekehrt in die Nähe von folchen kommen, wie toll auf die-
selben stürzen, im Nu mit ihren Geweihen den Heuhaufen
in die Lüfte werfen, ihn Wind und Wetter preisgebend auf
großer Fläche zerstreuen. und dann die Heuhalme auflesen
und verzehren. Hat der Lappe zeitig genug bemerkt, daß er
sich iu der Nähe eines Heufeimes befindet und stellt er sich
mit seinen Hunden als Wächter gegen seine Thiere an den
Heuhaufen, so kann er erleben, daß ihn seine eigenen Ren-
thiere angreifen und mit ihren gefährlichen Geweihen ver-
4 I. A. Frijs: Wanderung
über, wirft ihm seine und seiner Väter Missethaten und
Verbrechen vor, verspottet ihn dann in seiner hülflosm Lage
und macht zuletzt seinem Leben ein Ende, indem er ihm ein
Schlachtmesser, wie es die Lappen gebrauchen, in die Seite
wirft oder ihm eine blaue Bohne aus seiner Büchse sendet.
Bei allen Actionen des Lappen sind die Hunde in voller
Thätigkeit; jedoch sind nicht alle so flink und gewandt, wie
die schwanzlosen kleinen Renthierhunde, weshalb bei solchen
gewaltsamen Ueberfttllen, wo die Wölfe in Haufen in die
Herden einbrechen, in der Regel trotz aller Anstrengungen
der Wächter, mehr oder weniger Hunde und Renthiere ver-
loren gehen. Von den letzteren sucht der Lappe besonders
die stärksten und besten Zugthiere zu retten und mit ihnen
zu entkommen; allein es ereignet sich auch oft, daß er in
einer Nacht 10, 20, 30 und mehr Thiere verliert; ja es
kann vorkommen, daß der Renthierlappe Abends als reicher
Mann in sein Zelt oder seine Gamme kriecht und am an-
in den drei Lappländern.
dern Morgen als Bettler dieselbe verläßt: seine Herde ist
theils von den Wölfen zerrissen, von denselben in Felsklüfte
gejagt, versprengt, oder im besten Falle meilenweit fortge-
jagt, so daß er nun Tage lang umHerreisen muß, um seine
Thiere in Klüften und Höhlen zu suchen, oder aus anderen
Herden, bei welchen dieselben Schutz und Unterkunft ge-
sucht, auszusondern, falls nicht uuterdeß Diebe mit den Wöl-
fen gemeinschaftliche Sache gemacht haben.
In denjenigen Jahren, wo sich die Wölfe in diefer oder
jener Gegend nicht zeigen, grüßt der Lappe seine nomadi-
schen Freunde mit dem Worte „Friede!" und verabschiedet
sich von denselben mit „Friede!" Doch dauert dieser Friede
in der Regel nicht lange, weshalb der Mann seinen Wach-
dienst auch nicht eine Nacht aussetzen darf. Träfe ein Hau-
fen Wölfe eine unbewachte Renthierherde, so würde der Be-
sitzer am andern Tage nicht ein einziges unbeschädigtes Thier
wiederfinden.
I. A. Frijs: Wanderung
treiben. In einem solchen Augenblicke ist der Heuhaufen
im Nu zerstört, die Geweihe sind mit Heu beladen und die
Thiere gehen trinmphirend mit ihrer Beute herum.
Wie die Hausthiere in Norwegen am Ende des Win-
ters, d. h. im Mai, auf die Säter (Bergweiden), fo eilen
zu derselben Zeit die Renthiernomaden aus den lappländi-
schen Hochgebirgen nach den Seeküsten. Nach beiden Rich-
tungen werden die Thiere vom Hunger zunächst getrieben,
obfchon auch andere Ursachen maßgebend sind. Doch giebt
es auch nomadisirende Lappen, wie z. B. der schwedische Lars
Jansen Sikko, welcher nie an die KUste kommt mit seinen
über 3000 Renthieren, denen das Wechseln der Winter-
wohnstätten keine Notwendigkeit zu sein scheint. Dennoch
zeigt sich an den Renthieren, welche man in Rnssisch-Lapp-
land in den Wäldern um Jmandra und auf den Inseln
der dasigen Binnenseen, sowie an der Bucht von Kandalax
in den drei Lappländern. 5
hält, daß sie keineswegs so gut gedeihen, als die freien Her-
den der nomadisirenden Lappen, welche im Sommer nach
den Seeküsten getrieben werden, nicht nur um Seewasser
im Eismeere zu trinken, sondern auch um die grünenden
Grasflächen abzuweiden, weil um diese Zeit das Renthier-
moos so vertrocknet ist, daß die Thiere es nicht genießen
können. Ein anderer Hauptgrund, weshalb man die Ren-
thiere im Sommer gern an den Küsten des Eismeeres hält,
ist, damit sie nicht von den zahllosen lappischen Mücken,
d. h. Renthierbremsen, fürchterlich gequält und an ihren Hau-
ten bis zur Unbrauchbarkeit geschädigt werden. Denn der
kühlende und frische Seewind hält die schreckliche Plage für
Menschen und Thiere von beiden ab. Einige schwedische
Lappen halten zwar einen Theil ihrer Renthiere auch über
den Sommer zu Hause, allein dann werden die Thiere von
den Bremsenschwärmen in den heißen Thälern dergestalt ge-
peinigt, daß die Lappen genöthigt sind, Feuer zu unterhalten,
in dessen Rauch sich die Renthiere stellen, und auf diese
Weise die Bremsenplage durch die Rauchqual mildern.
Werden die Renthiere im Sommer an die Seeküsten ge-
trieben, so entgehen sie nicht nur großenteils den genannten
Dualen, sondern vernichten auch nicht das um diese Zeit
trockene und daher leicht zerstörbare Renmoos. Dies ist aber
ein Vortheil für viele Jahre. Denn hat eine Renthierherde
das Moos aus einem Bergstocke einen ganzen Sommer hin-
durch theils abgenagt, theils mit den Klauen niedergetreten
oder abgerissen, so währt es zehn und mehrere Jahre, ehe
solch ein Bergstock wieder eine volle Moosernte giebt. Da-
her sind die nomadischen Lappen sehr vorsichtig bei ihren
Zügen und Weideplatzverändernugen.
Mit Klein und Groß, Renthieren und Renthierkälbern,
Hunden und Hündchen, Erwachsenen und Kindern, Haus
und Hausrath kann sich der wandernde Lappe nur sehr lang-
sam vorwärts bewegen. Der Schnee liegt noch auf den
Feldern und das Eis auf allen Binnenseen ist in der Regel
noch fahrbar, so daß die Zeltsachen und der allerärmlichste
Hausrath fowie eine nicht übermäßig große Bibliothek zu
Schlitten transportirt werden kann. Auch wird das Ren-
thier zum Lastentragen benutzt. Die Klauenschuhe desselben
gleichen aber nur wenig denen des Pferdes. Damit der
wandernde Lappe in jenen unwegsamen Ländern zu seinem
Ziele gelangen kann, ist es erforderlich, daß er die genaueste
Terrainkenntniß besitze. Er muß jeden Felsen, jeden Berg-
stock, jeden Gletscher, jeden Binnensee, jeden Fluß, jeden Bach
und dessen Beschaffenheit in jeder Jahreszeit, jede Furth :c.
kennen, und zwar in einem Umkreise, welcher vielleicht über
200 Binnenseen, eben so viele Flüsse und Bäche und noch
viel mehr Berge, Klüfte und einzelne Felspartien enthält,
6 Die geographische Verbre
und dies Alles muß er so genau kennen, wie ein Gutsbesitzer
seine Feldwege. Zugleich muß der Lappe überall auf seinen
Territorien eine Masse Merkzeichen haben, damit er sich bei
der Wiederkehr selbst zurecht findet und eben so auch Ande-
ren die Wege weisen und beschreiben kann.
Aber das größte Kunststück, welches wohl nur der Lappe
fertig bringt, ist folgendes: Theils auf der Sommer-, theils
auf der Winterweide treiben oft eine Anzahl nomadisirender
Lappen ihre Herden zusammen, so daß Haufen bis zu 10,000
und mehr Renthieren gemeinschaftlich weiden und gehütet
werden. Ist die Sommer- oder Wintersaison (wie wir
sagen) vorüber, so müssen die einzelnen Herden wieder aus-
gesondert und den verschiedenen Besitzern zugetheilt werden.
Diese Aussonderung dauert einige Tage und geschieht mit
solcher Gewissenhaftigkeit, daß Jeder alle seine Thiere bis
zum jiingstgeborenen Kalbe ausgeliefert erhält. Um dies
zu ermöglichen, wird jedes Renthier in den Ohren mit dem
Familienzeichen des Besitzers markirt. Bei der Geburt eines
Kindes in der einen oder andern Lappenfamilie wird dem
Neugeborenen ein junges Nenthier geschenkt und diesem so
wie spater dessen Nachkommen neben dem Familienzeichen
auch noch das Zeichen des Kindes ins Ohr geritzt, welches
Zeichen aber nur der Eingeweihete zu bemerken im Stande
ist. Soll nun die abgedachte Aussonderung vor sich gehen,
so werden die Tausende von Renthieren entweder aus das
Eis eines Binnensees, wenn dasselbe noch tragfähig ist, oder
auf das Hochplateau eines Bergstockes getrieben, und nun
stellen sich die sämmtlichen Eigenthümer der Thiere mit ihren
Lassos um die Herde, werfen und ziehen fortwährend Thiere
und vermindern in kurzer Zeit den Haufen um Taufende.
Ist die Theilung ausgeführt, so zieht jeder Besitzer mit sei-
ner Herde, seinen Hunden und seiner Familie von dannen.
Nun sollte man meinen, daß das Abwehren der Raub-
thiere, der Renthierdiebe, das Aushalten im Freien in den
Winter- und Sommerschneestürmen, der fortwährende Wechsel
der Wohnstätten, der ungestillte Hunger und die Qualen
der Renthierbremse Uebelstände genug wären, dem Lappen
das Leben zu verleiden; allein auch ihm wird der Spruch
des Dichters noch zur leidigen Wahrheit:
„. . . . Der Himmel ist überall j
Wohin der Mensch nicht kommt mit seiner Qual!"
Es hat nämlich der (skandinavische) Mensch dem Lap-
Pen die Tauseude und Abertausende von Quadratmeilen
Land, oder richtiger Fels, dergestalt zerfetzt, daß der noma-
difirende Lappe an vielen Stellen gar nicht mit seiner Herde
durchkommen kann, sondern mit derselben über breite Sunde
schwimmen, über steile Gletscher klettern muß, wobei stets
eine Menge Renthiere verloren gehen.
mg der thätigen Vulcane.
Das Sachverhältniß ist, daß sich eine Anzahl Normän-
ner, Schweden und Finnen an fruchtbaren und warmen
Orten in Lappland niedergelassen haben, sich in meilen-
weiten Umkreisen alles Fruchtland aneigneten, Viehzucht und
Ackerbau trieben und theils auch als Fischer und Handels-
leute ihr Leben fristeten.
Diese festwohnenden Menschen machen nun dem Lap-
Pen täglich klar, wie wahr der obige Vers des Dichters sei;
denn überall, wo der Lappe auf seinen Winter- und Sommer-
zügen mit seinen Herden Fürthen, Klüfte und Schlünde
passiren muß, hat sich ein skandinavischer Mensch ange-
siedelt, und sucht nun für angeblichen Schaden, welchen ihm
die durchziehenden Renthiere gemacht haben sollen, von dem
armen Lappen Fleisch, Renthiere, Geld, Häute u. s. w. zu
erpressen, wozu er sich berechtigt glaubt, weil seine Vorsah-
ren dasselbe Unrecht gethan: denn nur Wenige haben einen
Besitztilel für das, was sie ihr Besitzthum nennen.
Wie bei der stiefmütterlichen Natur Lapplands auch das
scheinbar Unbedeutendste für den Lappen verderblich oder
mindestens zum Unrecht gegen ihn werden kann, zeigt Fol-
gendes: Bekanntlich läßt der Lappe nicht alle Milch der
Mutterthiere den jungen Renthierkälbern zukommen, sondern
melkt einen Theil davon ab, weil diese Milch sehr fett ist,
einen angeuehmern Geschmack wie Schafmilch hat und einen
sehr kräftigen Käse liefert. Um das Melken dieser halb-
wilden Thiere zn vollziehen, macht der Lappe in einem Thale
einen Pferch, läßt zur Melkenszeit die Renthiere von den
Renthierhunden die Berge herab nnd in den eingefriedeten
Raum jagen, zieht dann mittelst des Lasso immer ein Milch-
thier nach dem andern aus dem Pferch zu einer Art Bank,
wirft das Thier nach der Seite auf dieselbe und melkt dem-
selben die wenige Milch, welche es giebt, ab. Durch den täg-
lichen stundenlangen Aufenthalt der Renthiere in der Ein-
friedung wird der Raum derselben geradegetreten, gedüngt
und für den Graswuchs geschickt gemacht. Da dem Lappen
im Frühjahr, welches hier erst um Johanni beginnt, uuend-
lich viel daran liegt, seinen Thieren etwas Grünes zu schaf-
fen, so hat sein Geschlecht von Jahrhundert zu Jahrhundert
Bedacht darauf genommen, diefe Renthiermelkplätze immer
weiter im Thale, wie im Walde, auf Feldern oder Hoch-
Plateaus fortzurücken und dadurch immer größere gedüngte
Grasflächen zu schassen. Damit hat er aber den „skandi-
navischen Menschen" angelockt, welcher sich die hundertjäh-
rige Arbeit der Lappen zu Nutze macht, sich in der Nähe
ansiedelt, auf dem gedüngten Lande Kartoffeln, Gerste, ja
in Alten sogar Weizen (welcher kaum in zehn Jahren ein-
mal reif wird) baut und sich als Eigenthümer gerirt.
Die geographische Verbreitung der thätigen Vulcane.
IV.
Die amerikanischen Vulcane.
Die vulcanischen Jnselreihen Ostasiens finden ihre Fort-
fetzung in den Alenten, die im Bogen von Kamtschatka
nach der Halbinsel'Alaska hinüberschwingen. Es ist Oskar
Peschel's Verdienst, zuerst daraus hingewiesen zu haben,
daß diese reihenförmige Anordnung der Inseln längs des
Nordwestrandes des Großen Oeeans mit deren vnleanischer
Natur zusammenhängt*). „Eine Folge der Anordnung
jener Juselvulcane auf flachen Cnrven ist es, daß der Wöl-
') Neue Probleme der vergleichenden Erdkunde S. 29.
Die geographische Verbreitung der thätigen Vulcane.
bung ihres Bogens ein mehr oder weniger tief in das Fest-
land eintretender Golf entspricht. So liegt nördlich von
den Alöuten das Beringsmeer, nordwestlich von den Kurilen
finden wir das Ochotskische Meer, westlich von Japan das
Japanische Meer, westlich von den Lin-Kiu-Jnseln das Gelbe
Meer, westlich von den Philippinen das Chinesische Meer.
Diese symmetrische Anordnung der Jnselkränze längs des
nordwestlichen Randes des Großen Oceans hatte schon 1811
das scharfe Auge des geistreichen Philosophen Karl Chr. Fr.
Krause entdeckt, aber ohne daß er ihre vulcanische Natur
als die bedingende Ursache erkannte. Selbst von Hoff be-
trachtete in seiner gekrönten Preisschrift über die natürlichen
Veränderungen der Erdoberfläche jene Inselguirlande n als
ehemalige Ufer des asiatischen Festlandes, in welche die Bran-
dnng Lücken hineingenagt habe. Auch Dana schildert in
seinem neuesten Lehrbuche Manual of geology S. 36 jenen
symmetrischen Bau, ohne auf den vulcanifchen Ursprung
dieser Jnselbildungen, der ihm doch ganz genau bekannt war,
die Aufmerksamkeit zu lenken."
Die thätigen Vulcane der Aleuten, wie der 6975 eng-
tische Fuß hohe Bnlcan der Insel Tanaga, der 1852 Fuß
hohe Vulcan Korominsk auf der Insel Atcha, sind noch
wenig untersucht. Die Insel St. Johann Bogoslaw
(54° nördl. Br., 168° westl. L. v. Gr.) wurde erst 1796
durch eine Eruption
gebildet; 1819 hatte
sie einen Umfang
von fast vier dent-
schen Meilen bei ei-
ner Höhe von 2100
Fuß. Eine neue
Messung 1832 er-
gab eine Verkleine-
rnng derselben bis
zu zwei Meilen Um-
fang und 1400
Fuß Höhe.
Die Reihe der
Alsuten fortsetzend
ist die Halbinsel
Alaska mit Vul-
canen besetzt, denen
sich diejenigen anschließen, welche das ehemals russische Nord-
amerika am Gestade des Großen Oceans umgürten (der
thätige Wrangell, der Eliasberg) und die bis zur Insel
Baranow verlaufen, wo die heißen, von den Bewohnern Sit-
kas aufgesuchten Quellen noch eine Ausdehnung der vul-
canischen Region bis in diese Gegenden darthun.
Im Gebiete der Vereinigten Staaten haben wir einen
thätigen Vulcan nicht zu verzeichnen, während im Cascade-
und Felsengebirge zahlreiche erloschene Feuerspeier liegen.
Wir begegnen thätigen Vulcanen erst wieder auf dem Boden
Mexicos. Hier treffen wir auf die thätigen Vulcane der
noch so wenig erforschten Halbinsel Calisornien. Meh-
rere derselben zeigen recente Bildungen, der Vulcan de
las Virgines, etwa in der Mitte der Halbinsel, war
1746 in voller Thätigkeit. Neue Ausbrüche kommen an
anderen Punkten vor. So berichteten 1870 amerikanische
Blätter, daß ein Vulcan in der Nähe des San-Rasael-Thales,
Niedercalifornien, der lange Jahre für erloschen galt, eine
heftige Eruption hatte und dabei Rauchsäulen ausstieß, welche
Asche und Schlacken meilenweit verbreiteten. Telegramme
aus St. Diego berichteten, daß der Rauch von dort deutlich
sichtbar war*). Die Vulcane Centralmexicos sind zu ge-
*) „Nature" 1871. III, S. 35.
SiicLsec.
Mexicanische Vulcane.
nau bekannt und zu oft beschrieben, als daß wir hier näher
auf dieselben eingehen und dieselben aufzählen sollten. „A. von
Humboldt bemerkte zuerst in seinem Essai politique sur la
nouvelle Espagne, welcher 1811 erschien, daß er beim
Eintragen der Feuerberge auf seine Karte von Mexico mit
Betroffenheit wahrgenommen habe, wie sie sämmtlich in der
Nähe des 19. Breitengrades liegen, fo daß, wenn man vom
Tuxtla bis zum Colima alle Vulcane Mexicos durch eine
Linie verbinden wollte, diese auf einer Erdkugel dem Bogen
eines größten Kreises nahezu treu bleiben würde. Verlän-
gert man, fügt Humboldt hinzu, die Linie der mexicanischen
Vulcane in das Stille Meer, so stößt man auf die ebenfalls
vulcanifchen Revilla-Gigedo-Jnseln. Es war eine der
schönsten Entdeckungen A. v. Humboldt's, daß die meisten
Vulcane der Erde in Reihen geordnet liegenDie in die
Region des ewigen Schnees reichenden Vulcane von Ana-
hnac, die in malerischer Gruppirung die Hauptstadt um-
geben, der Popocatepetl und Jztaccihuatl, der Cofre
de Perote, der Orizaba und Doluca, sie sind seit den
Tagen des Ferdinand Cortez uns bekannt wie die heimischen
Berge, und wir übergehen sie, gleich dem unter den Augen
der Menschen hervorgebrochenen Jorullo. Der westlichste
in der Reihe der mexicanischen Vulcane, der 12,000 Fuß
und wieder im März
1872 —) eine ge-
waltige Eruption,
und der Cerbo-
rnco bei Tepic,
den man bisher für
erloschen hielt, ist
1870 in die Reihe
der thätigen Vul-
cane Mexicos ge-
treten, indem er im
Februar einen be-
deutenden Lavaaus-
bruch zeigte *).
Gleichzeitig fast be-
gann der ebenfalls
erloschen geglaubte
Pochutla im Staate
Oajaca, nahe der
Südküste unter 15° 50' nördl. Br. wieder thätig zu wer-
den**). Seiner Lage nach aber darf er nicht mehr zu der
großen Querkette der von Ost nach West verlaufenden mexi-
canischen Vulcane gehörig betrachtet werden; er ist vielmehr
als der erste Vulcan der großen mittelainerikanischen bis
nach Chiriqui reichenden Kette thätiger Feuerberge zu be-
trachten, als deren nordwestlichen Ausgangspunkt man bis-
her den Soconnsco betrachtete. Dieser merkwürdigen Vul-
canreihe wenden wir uns nun zu.
Centralamerika, von Guatemala bis zum Isthmus
von Chiriqui ist so dicht an seiner pacifischen Seite mit Vul-
canen bestanden, daß nach Moritz Wagner auf den
Raum eines Breitengrades durchschnittlich fünf
Vulcane.kommen. Der Soconusco, noch auf mexicani-
schem Gebiete, im Süden des Staates Chiapas, macht den
Beginn. An ihn schließen* sich nach einer Lücke von 13
Meilen die Vulcane Guatemalas. Ueber diese liegt das
neue Werk der französischen Geologen A. Dollsns und E.
de Montserrat vor***), die als Mitglieder derCommis-
sion scientifique du Mexique zur Zeit des mexicanischen
*) Pctcrmann's Mittheilungcn 1870. S. 426. '
**) „Ausland" 1870. S. 880.
***) Voyage geologique dans les republiques de Guatemala et
de Salvador (Paris 1868).
Die geographische Verbreitung der thätigen Vulcane.
Kaiserabenteuers Mittelamerika bereisten und eine Anzahl
Vulcane bestiegen. Die von ihnen mitgetheilte Ansicht der
vulcanischen Kegelberge Guatemalas von der See her er-
scheint durch die außerordentliche Regelmäßigkeit der dem
Gebirge aufgesetzten Zuckerhüte fast unnatürlich. Sie zäh-
len die Vulcane San Salvadors und Guatemalas in der
Richtung von Ost nach West auf und beginnen mit dem
Cofeguina an der Fonsecabai, der noch auf dem Gebiete
Nicaraguas liegt. Der Kegel dieses berüchtigten Vulcaus
wurde während der fürchterlichen Eruption des Jahres 1835
zerstört, indem der obere Theil durch
eine Reihe von Explosionen, die vom
20. Januar bis Ende Februar dauer-
ten, förmlich in die Luft -gesprengt
wurde. Die Explosionen waren 300
Kilometer Entfernung hörbar, und
auf dem Räume von Jamaica im
Norden bis Santa Fs de Bogota im
Süden wurden Land und Meer von
einem dichten Aschenregen bedeckt.
Der ungeheure Krater, welcher bei
diesem Ausbruche entstand, mißt we-
nigstens 10 Kilometer (etwa ändert-
halb deutsche Meilen) im Durchmesser;
er ist einer der größten bekannten
Krater überhaupt, in Mittelamerika
sicher der größte. Innerhalb der
Fonsecabai trägt die Insel Tigre
einen außerordentlich regelmäßigen
Vnlcankegel, der aus basaltischer Lava
und Schlacken besteht. — Am west-
lichen Vorsprunge der Bai erhebt
sich als Gegenüber des Cosegnina
der Vulcankegel des Conchagna,
gleichfalls basaltischer Natur. Zur Zeit, als Dollfus und
Montserrat ihn besuchten, besaß er keinen Krater; seitdem
aber hat (Februar 1868) eine große Eruption stattgesnn-
den. — Einige Meilen weiter westlich liegt der 7000 Fuß
hohe Vulcan San Miguel, der während einer Eruption
im Jahre 1849 nahe von seinem Gipfel einen Strom ba-
saltischer Lava ergoß. — Westlich von San Miguel liegen
verschiedene kleinere vnlcanische Kegel und viele sehr thätige
Schlammvulcaue, die heiße Dämpfe ausstoßen; das Volk
bezeichnet sie als Jnfernillos. — Es folgt der scheinbar
erloschene Vulcan von San
Salvador, der in seinem Kra-
ter einen See von zwei Kilo-
meter Durchmesser birgt. Wie-
der weiter erhebt sich der be-
kannte Kegel des Jsalco, der
durch Schlacken- und Lava-
eruptionen, die im Jahre 1770
begannen, aus einer Ebene
gebildet wurde. Die Anhäu-
fuug derselben dauert ohne Un-
terbrechung bis zum heutigen
Tage fort, und der Kegel hatte,
als die beiden Franzosen 1864' ihn besuchten, bereits eine
Höhe von 10,000 Fuß erreicht. Abermals weiter westlich
gelangt man nach der bemerkenswerthen Gruppe des Pa-
caya nnd den beiden Vnlcanen Fuego und Agna (Feuer
und Wasser). Vom Gipfel des Pacaya hat man einen
prächtigen Ueberblick über den 11,000 Fuß hohen, vollkom-
men regelmäßigen Kegel des Agua, von dem im Jahre 1541
ein Schlamm- uud Wasserstrom herniederstürzte, welcher die
alte Stadt Guatemala zerstörte. Man hat, und dieses thun
Vulcane der Anden bei Quito.
Der Pichincha von der Hochebene von Quito aus.
a Der Rucu-Pichincha, auf welchem der Krater sich befindet
b Guagua-Pichincha. c La Cruz, Signalpunkt von La
Condamine.
auch Dollfus und Montserrat, dabei an den Diuchbruch
eines Kratersees gedacht; dagegen ist nun neuerdings Dr.
G. Bernonlli in Mazatenango aufgetreten (Petermann's
Mittheilungen 1870, S. 461). Humboldt dachte an Schnee-
schmelzen, da aber der Vulcan nicht in die Region des ewi-
gen Schnees reicht, so sind diese ausgeschlossen, wie M. Wag-
ner nachgewiesen hat. Nach Bernoulli sind aber anhaltende
starke Regengüsse allein schon im Stande, noch heftigere Stö-
ruugen hervorzubringen, wie er durch neuere, aus dem Jahre
1869 datireude Thatfachen beweist. Er schiebt den Unter-
gang Guatemalas auf eine solche
Wassersluth, bei der allerdings auch
gleichzeitig die beiden Vulcane Agna
und Fuego thätig waren. Der Fuego
ist von fast gleicher Höhe, wie der
Agua, und stößt noch fortwährend
heiße Dämpfe aus. In einer knrzen
Entfernung weiter westlich, in 14° 50',
erreichen wir die Gruppe von
Qnezaltenango, die aus zwei
Hauptkegeln, dem Cerro Qne-
mado und Santa Maria, be-
steht. Der letztere scheint erloschen
und ist 10,500 Fuß hoch; der erstere,
etwa 2000 Fuß niedriger, hatte 1785
eine Eruption und stößt gegenwärtig
noch Rauch aus.
An die thätigen Vulcaue San
Salvadors, das einen feuerspeienden
Berg im Wappen führt, schließen
sich die gut bekannten Vulcane Ni-
caraguas an. Wir nennen in der
Richtung von Nordwest nach Südost
die thätigen Feuerspeier: Vulcan
Vinjo, Orota, Axusco, Monomotomba am Managuasee,
Masaya und Monomobacho zwischen Managua- und Nica-
raguasee, die vulcanische Insel Ometepe im letztern. Nord-
lich davon, ans der Reihe abweichend, liegt isolirt der Vul-
can Guanapepe.
Die Fortsetzung nach Südosten bis Chiriqui wird durch
die Vulcane Costaricas gebildet, die eine ausgesprochene
Reihe bilden. Moritz Wagner, v. Frantzins, K. v. Seebach
haben sie neuerdings untersucht. In der Richtung von Nord-
west nach Südost sind es folgende: Orofi, Biucon, Mira-
valles, Tenorio, Poas, Barba,
Jrazu, Chiripo, Turrialba.
Diesen, den K. v. Seebach
erstiegen hat *), hielt Humboldt
für den letzten der centralame-
rikanifchen Feuerberge. Es ist
Moritz Wagner jedoch gelun-
gen, in einer Entfernung von
26 Meilen südöstlich den Vul-
can Chiriqui (8°48' nördl.
Br. und 82»30' westl. L. v.
Gr.) als den letzten (resp. ersten)
der mittelamerikanischen Vul-
cane nachzuweisen^). Bestimmte Beweise seiner lange
dauernden Thätigkeit zeigen die ausgedehnten ILavaströme,
und die Tradition der Einwohner berichtet von Ausbrüchen.
Ob der Pico blauco, der 10 Meilen weiter nordwestlich
*) Petermann's Mittheilungen 1865. S. 321. Daselbst 1869.
Tafel 5 die Karte von Frantzins.
**) M. Wagner, Naturwissenschaftliche Reisen im tropischen Ame-
rika. 1870. S. 323.
mm
Die geographische Verbreitung der thätigen Vulcane.
liegt (9^17^ nördl. Br., 83^5^ westl. L. v. Gr.), ein thä-
tiger Feuerspeier ist, erscheint zweifelhaft.
Der Isthmus von Panama, obwohlvulcanisch, trägt
keine thätigcn Vulcane. Hier ist die Reihe unterbrochen
und beginnt erst wieder in den großen Vnlcanen der Repn-
blik Columbia (Neugranada). Ueber die Vulcane, welche
hier die Kette der Cordilleren zwischen Cauca und Magda-
lcnenstrom krönen, dürfen wir bald eingehende Kunde von
Dr. Alfons Stübel und
Dr. W. Reiß erwarten,
welche dort specielle Un-
tersuchungen anstellten.
Was über die Reise bis-
her bekannt wurde, ist im
„Globus" Bd. 14 bis
17 niedergelegt. Die
Vulcane Tolima, Ruiz,
Huila, Purace, durch
den Ausbruch von 1869
bekannter geworden, Pasto
wurden untersucht. Der
als Vulcan bezeichnete
Patascoy ist nicht vnlca-
nischer Natur.
Ihren Culminations-
Punkt finden die Vulcane
der Cordilleren auf dem
durch Humboldt berühmt
gewordenen Hochlande
von Quito in Ecna-
dor. Humboldt's An-
sichten, die hier den Grund
zu allen weiteren Forschungen legten, sind indessen neuer-
dings vielfach modificirt worden, und die Stellung der Vul-
cane zu einander, die, ein enges Thal einschließend, in eine
westliche und östliche Reihe
geordnet sind, erscheint
vielfach anders, ihr Bau
und ihre Wirkungsart
sind besser erkannt wor-
den. Wir folgen hier
der Darstellung Moritz
Wagner's, dessen Ar-
beit über die Vulcane
Ecuadors die neueste ist
(a. a. O. S. 435 f.).
In der westlichen
Cordillere stehen weniger
Andesitkegel und wirkliche
Vulcane an den Rän-
dern gruppirt als in der
östlichen. Während der
Sangai im Osten rast-
los dampft und feurige
Schlacken auswirft, und
der auch der östlichen Kette
ungehörige Cotopaxi
tätigere _ Perioden der
^hätigkeit als der Ruhe zeigt, ist der Pichincha der einzige
Vulcan der westlichen Kette, dessen Krater noch dünne
Dämpfe aushaucht. Alle übrigen Vulcane dieser Kette sind
gegenwärtig im Stadium der tiefsten Ruhe. Dafür ist die
westliche Cordillere ungleich mehr von Erdbeben heimgesucht.
Fast alle starken und sehr verheerenden Erdbeben der drei
letzten Jahrhunderte haben nur die westliche Cordillere mit
ihren Ouerjochen mächtig erschüttert und wurden an der Ost-
Globus XXII. Nr. 1. Qtalt 1872.)
Der Cotopaxi nach Humboldt.
seite viel weniger gespürt. Alle bis jetzt bekannten geologi-
schen Thatsachen scheinen dafür zu sprechen, daß die west-
liche Cordillere von jüngerm Alter als die östliche ist, wäh-
rend umgekehrt die westliche Reihe der Vulcane nach der
Erhebung der Ketten früher sich bildet als die isolirten
Feuerberge der Ostseite. Die zur westlichen Reihe gehören-
den Kolosse Chimborazo, Carrahuairazo, Jlinissa, Corazon
und selbst der Pichincha sind ältere Kegel als der Antisana,
Cotopaxi, Tunguragua
und Sangai, die dem
Westen angehören.
Die Reihe der west-
lichen Vulcane beginnt im
Norden mit dem Vulcan
Chiles, dem Nachbar des
Cumbal, der zum Gebiet
der Republik Columbia
gehört.
Cumbal (der zur
Westreihe gehört) und
Chiles sollen noch thä-
tige Feuerberge sein. Doch
weiß man von beiden
Feuerbergen nichts Nä-
heres, da sie einsam in
unbewohnten Wildnissen
stehen. Aus den Chiles
folgt südlich der Coto-
cachi, ein schöner regel-
mäßiger Kegel, dessen
Schneegipfel, 15,200
Pariser Fuß über dem
Meere ragend, den Pichincha an Höhe übertrifft. — Der
Pichincha ist wohl bekannt und oft erstiegen, selbst von Da-
men (Frau v. Hormayr 1858). Humboldt und Bonpland
waren zweimal oben, an
den schwer zugäugigen
Krater gelangten aber erst
1844 Sebastian Witte
und der Chemiker Gar-
cia Moreno. Was zuerst
am Pichincha ausfällt, be-
merkt Humboldt, ist seine
von der gewöhnlichen Ke-
gelform der Vulcane so
verschiedene Form. Er
bildet eine lange Mauer,
und diese Ausdehnung in
der Länge bei einer im
Verhältniß geringen Höhe
(kaum 15,000 Fuß) ver-
mindert den majestätischen
Eindruck der Ansicht.
Der Atacazo, der
nächste Nachbar des Pi-
chincha im Süden, war
ganz sicher einstmals ein
tüchtiger Feuerberg. Die-
ser Vulcan schließt sich der Erhebungsachse der Pichincha-
gruppe in derselben Richtung an und hat, wie diese, eine
westliche Randstellung.
Der nächste Nachbar des Atacazo gegen Süden ist der
Corazon, dessen Gipfel nach Humboldt's Messungen eine
Höhe von 14,850 Pariser Fuß erreicht und ewigen Schnee
trägt.
Ein anderer merkwürdiger Berg in der großartigen Ge-
Der Cotopaxi nach Moritz Wagner.
10 Die geographische Verbre
birgslandschaft von Quito ist der Ruminagui, besonders
auffallend durch seine von der meridionalen Richtung der
Vnlcanreihe abweichende Seitenstellung. Er erscheint als
ein stattlicher Koloß, dessen zackige Gipfel gerade die Schnee-
linie erreichen und der dem europäischen Montblanc an Höhe
fast gleichkommt. Aehnlich wie der Tunguragua, welcher der
Ostseite der Anden angehört, ist der Ruminagni an einer
Querspalte durchgebrochen, aus welcher sich das brennende
Gebirgsjoch zwischen dem Plateau von Mochache und Ta-
cunga erhob. Dieses Querjoch, welches die beiden Plateau-
decken scheidet, stellt, vom Corazon znm Cotopaxi hinüber-
reichend, eine transversale Verbindung zwischen der östlichen
und westlichen Vnlcanreihe dar.
In dem Gebirgsgemälde von Quito, welches jeden Freund
erhabener Naturscenen mit staunender Bewunderung erfüllt,
felbst wenn er die schönsten Hochgebirge der alten Welt ge-
sehen, spielt eine mächtige Doppelpyramide, welche südlich
vom Corazon und Ruminagui ausragt, eine überaus impo-
sante Figur. Humboldt hat in dem Atlas seiner kleineren
Schriften eine Längenansicht dieser Pyramiden des Jlinissa
'Ng der thätigen Vulcane.
dargestellt. Der Jlinissa, eine der vnlcanischen Pracht-
bauten, welche die unterirdischen Kräfte am Rande der Hoch-
ebene von Tacnnga dem Cotopaxi gegenüber aufgethürmt
haben, erreicht die Höhe von 16,332 Pariser Fuß. Er ist
sicher noch weniger als der Chimborazo je ein thätiger Feuer-
berg gewesen, und erscheint als ein durch locale Concentra-
tion der unterirdischen Dämpfe emporgehobener Kegel von
annähernd pyramidaler Form.
Zwischen dem Jlinissa und dem Chimborazo erhebt sich
in der westlichen Cordillere kein Vulcan bis zur Schnee-
linie. Der Quirotoa, der das Plateau von Tacunga über-
ragt, erreicht kaum die Höhe von 14,000 Fuß. Von die-
sem Vulcan, dessen conisch abgestutzter Gipfel einen tiefen
Kraterfee von einer spanischen Meile im Umsange ein-
schließt, berichtet der Geschichtsschreiber Velasco merkwürdige
Vorgänge aus dem vorigen Jahrhundert. Im Jahre 1725
erhob sich der See gegen 300 Fuß über seinen gewöhnlichen
Stand. Die Seeinsel, die dadurch mit Wasser überdeckt
wurde, verwandelte sich plötzlich in einen Kraterschlund, und
spie feurige Schlacken mit Dämpfen aus. Eine zweite starke
Der
Eruption dieser Seeinsel erfolgte 1740. Der ganze See
stand in einer wunderbaren Illumination von „Flammen",
wie der genannte Historiker berichtet, während es wohl doch
nur der Reflex der glühenden Auswürflinge war, welcher
den See beleuchtete.
Auf den Quirotoa folgt in südlicher Richtung der Cara-
huairazo, der nächste Nachbar des Chimborazo, mit dem
er durch ein Querjoch in Verbindung steht. Die vulcani-
sche Thätigkeit des Carahnairazo gehört der vorhistorischen
Zeit an. Am 29. Juni 1699 ging jedoch von diesem Berge
eine der furchtbarsten Erscheinungen aus, deren die Annalen
dieses Vnlcanlandes gedenken. Ein Erdstoß erschütterte die
Cordillere, und am Carahuairazo, der einen Kratersee gehabt
haben soll, bewirkte der Stoß einen senkrechten Riß. Ans
der geöffneten Spalte ergoß sich mit dem Ausfluß des Krater-
fees eiu ungeheurer Schlammstrom, der größte, welcher je-
mals die Hochebene von Ambato überflnthete.
Die westliche Reihe der colofsalen Nevados, welche ifolirt
an den Rändern der Cordillere oder auf deren Querhöhen
stehen und den Kamm der Kette sehr bedeutend überragen,
endigt mit dem majestätischen Chimborazo. Ob der Chim-
borazo je ein wirklicher Vulcau gewesen, wie Boussiugault
meint, oder als ungeöffneter Andesitkegel betrachtet werden
muß, wie ihn Humboldt darstellt, darüber herrschen noch
heute verschiedene Ansichten. Gipfelkrater hat der Berg
wohl ebenso wenig gehabt wie der große Ararat in Arme-
nien und wie der Kasbeck im Kaukasus.
Wir betrachten jetzt die weit thätigere westliche Vulcan-
reihe Quitos.
Der fernste von den Vulcanen der östlichen Reihe nörd-
lich vom Äquator ist der Cnmbal, der sich zwanzig deutsche
Meilen von Quito, dicht an der Grenze von Columbia
(Neugrauada) erhebt und noch nicht näher erforscht ist.
Ein finsterer Riese folgt südlich, der Vulcan Jmb abura.
Seine dunkle Masse bis zum Gipfel liegt unter der Schnee-
linie. Von ihm berichtet die Sage jene merkwürdigen,
wässerigen, breiartigen Eruptionen, welche von Fischauswür-
fen begleitet waren. Daher auch der indische Name des
Berges, der in der Qnichuasprache „Fischmutter" bedeutet.
Auf diesen Berg folgt südlich der Uana-Urcu, d. h.
Die geographische Verbre
der schwarze Berg, dessen Höhe Villavicencio zu 5720 spa-
nische Varas angiebt. Er ist noch ein schrofferer Felsberg
als der Jmbabura und wurde noch nie erstiegen.
Sein Nachbar ist der gewaltige, regelmäßig kegelförmige
Cayambe, der sich unter der Linie des Erdgleichers bis zu
17,871 Pariser Fuß erhebt und (nach dem Chimborazo) der
höchste unter den Vnlcanen Quitos ist.
Aus den Cayambe folgt südlich der Saca-Urcu, der
mit seinen zackigen Gipselcontnren nicht am Fuße der Cor-
bittere steht, sondern der Kette selbst aufgesetzt ist. Die Um-
risse dieses noch nie erstiegenen Berges würden einen alten
Kraterrand verrathen, auch wenn man nicht aus den alte-
ren Berichten in der Geschichte des Paters Velasco und aus
neueren Beobachtungen in den Jahren 1843 und 1856
wiißte, daß er öfters Feuererscheinungen gezeigt und Asche
ausgeworfen hat.
Eiue interessante Berggruppe bilden die nun folgenden
drei Gipfel des Vulcans Antisana. Der Vulcan erhebt
sich 17,956 Pariser Fuß hoch inselartig am Rande eines
kleinen Plateaus der Audeskette und hat 1590 und 1728
FeuerausbrUche gehabt. Humboldt versichert, daß man noch
im Frühjahr 1801 mehrere Tage lang eine Rauchsäule von
demselben aufsteigen sah. Dieser Berg hat auch durch den
wissenschaftlichen Streit zwischen Humboldt und Boussiu-
gault hinsichtlich des Vorkommens wirklicher Lavaströme eine
literarische Berühmtheit erlangt.
Der Sincholagna, der zwischen dem Antisana und
dem Cotopaxi emporragt, stellt sich als eine riesige Andesit-
grnppe dar, während er von einem andern Punkte bei Quito
betrachtet mehr wie eine hohe Mauer erscheint. Er gehört
mit zur östlichen Reihe der isolirten Vulcankegel, obwohl
man bis jetzt noch nicht weiß, ob er je einen thätigen
Krater gehabt hat, oder als ein von Dämpfen gehobener
Dorn ungeöffnet stehen geblieben ist. In seiner nächsten
Nachbarschaft aber haben die unterirdischen Mächte einen
andern, schönern und höhern Riesen erhoben und als Schorn-
stein für Feuer und Dämpfe benutzt — es ist der berühmte
Cotopaxi (f. die Abbildung auf S. 9), einer der höchsten und
fruchtbarsten Vulcane der Erde.
Humboldt und Bonpland haben 1802, Boussinganlt hat
1831 auf die Untersuchung des Cotopaxi nur wenige Tage
verwandt; Moritz Wagner hielt sich vier Monate am Fuße
des Berges aus und stellte dessen Naturgeschichte sicher. Der
Cotopaxi ist nicht nur einer der schönsten, sondern auch einer
der thätigsten und verheerendsten Feuerberge der Erde, der
nach Bouguer'^s trigonometrischer Messung 17,712 Pariser
Fuß über den Ocean reicht und in Amerika nur von den
thätigen Vulcanen Sahama iu Bolivia und Antisana über-
ragt wird. Was die Symmetrie des Baues, die Regel-
Mäßigkeit der conischen Form betrifft, so steht der Aotopaxi
nicht nur unter den Vulcanen Südamerikas unübertroffen
da, sondern er hat auch in der alten Welt vielleicht nur an
dem japanischen Fnst in dieser Beziehung einen ebenbürtigen
Mitbewerber. „Es hecho somo al torno" — er ist wie
aus der Drehbank gemacht — sagten die spanischen Creolen
zu Humboldt. Damals (1802) war der Cotopaxi freilich
im Stadium vollkommenster Ruhe. Kein Schlackenauswurf,
nicht einmal eine diwne Rauchwolke stieg über den dünnen
Rändern des Kraters empor und der ununterbrochene Schnee-
mantel verdeckte selbst die kleinsten Unebenheiten eines voll-
kommenen Kegels. Nichtsdestoweniger ist die sehr bekannt
gewordene und in Schulbücher übergegangene Darstellung
des Cotopaxi nach Humboldt viel zu ideal gehalten, wäh-
rend M. Wagner's Bild eine richtigere Vorstellung gewährt.
In den Jahren 1858 und 1859, wo dieser den Berg vor
Augen hatte, war der Schneemantel oft von frischen Schlacken-
>ng der thätigen Vulcane. 11
Massen und Kothlaven überdeckt und dadurch die Gleich-
Mäßigkeit der Gehänge etwas gestört.
Der Quilindana, der als nächster Nachbar des Cotopaxi
diesem dampfenden Koloß in südöstlicher Richtung zur Seite
steht, ist allem Anschein nach ein ungeöffneter Andesitkegel.
Der Tnngnragua gehört gleichfalls dem Erhebungs-
fystem der östlichen Cordillere an. In Bezug auf regel-
mäßige Schönheit seines Baues kommt der Tuuguragua dem
Cotopaxi gleich. Nach dem Mittel der ausgeführten trigono-
metrischen Messungen — der Gipsel wurde bis jetzt noch
nicht bestiegen — erreicht dieser schöne Vulcan die Höhe von
15,470 Fuß, ist also um 520 Fuß höher als der Pichincha
und um 2200 Fuß niedriger als der Cotopaxi. Humboldt
rechnet den Tunguragua zu den noch nicht erloschenen Vnlcanen
der Anden. In der That sind aus den Seitenspalten die-
ses Berges in nordöstlicher Richtung zwischen Banos und
Pastaffa-Brücke wirkliche zusammenhängende basaltische Lava-
ströme ausgegangen.
Sehr verschieden in seiner Gestalt von dem Tunguragua,
dem Cotopaxi und allen übrigen Feuerbergen ist der be-
rühmte Altarberg (Cerro del Altar), der, dem Chimbo-
razo gegenüber stehend, die Hochebene von Riobamba über-
ragt und mit der östlichen Cordillere zusammenhängt. Es
ist bereits von Humboldt erwähnt worden., daß nach der
Tradition der Eingeborenen der Cerro del Altar einstmals
der höchste Berg des Landes gewesen fei und den ihm gegen-
über stehenden kolossalen Chimborazo an Höhe übertroffen
habe. Nicht sehr lange vor der Ankunft der spanischen Er-
oberer soll der Gipfel jenes Berges in Folge von Eruption
oder Erdbeben eingestürzt sein. Aus einiger Entfernung
vom Riokambe oder vom Jndianerdorf Quimia aus betrach-
tet, könnte die höchst eigenthümliche, von allen übrigen Vul-
canen Quitos völlig verschiedene, zackig zerrissene Form dieses
wunderbaren Berges allerdings die Meinung bestärken, daß
seine jetzige Gipselform die Folge einer gewaltsamen Ver-
ändernng seiner frühern Gestalt sein müsse. In größter
Nähe, am Fuße des Altarberges selbst, oder vou der Hütte
der Bergleute am Condorasto auf einer Höhe von 12,648
Fuß mit dem Fernrohr betrachtet, erschien Moritz Wagner
jedoch diese zackige Felswand, welche kreisförmig einen tiefen
Schlund nmgiebt, genau den Rändern eines Ungeheuern
Kraters zu entsprechen.
Den Schluß der östlichen Vulcanreihe nach Süden hin
bildet der berühmte Sangai, den man neben dem Jsalco
Ceutralamerikas gewöhnlich als den furchtbarsten Feuerberg
der westlichen Hemisphäre und selbst der ganzen Erde be-
zeichnet. Die Eruptionserscheinungen des Sangai zeigen
sich seit dem Anfange dieses Jahrhunderts in zweierlei Weise.
Kleinere Ausbrüche feuriger Schlacken, von Dampsexplosio-
nen nnd pelotonfenerähnlichem Krachen begleitet, folgen sich
Tag für Tag nach ziemlich regelmäßigen Pausen von 10 bis
15 Minuten. Selten dauern diese Pausen eine halbe Stunde.
Wir treten jetzt nach Peru über. Ein Zwischenraum
von 220 Meilen Länge trennt die gewaltigen Vulcane Ecua-
dors von jenen Perns, denn erst wieder im südlichen Theile
dieser Republik treffen wir auf die thätigen Feuerspeier der
beiden Gruppen von Arequipa und Sahama, welche letztere
zu den Vnlcanen Bolivias überleitet. Bei Arequipa ist der
20,000 Fuß hohe Vulcan Mi st i (Volcan de Arequipa) das
Centrum einer großen Erdbebenzone, der hin und wieder
noch dampft, aber seit der Eroberung des Landes durch die
Spanier keinen Lavaausbruch hatte, dagegen 1542 Asche
auswarf *). Erstiegen wurde er 1828 zuerst von dem dent-
*) Tschudi, Reisen durch Südamerika, Bd. V, S. 356. Tschudi
giebt eine richtige Abbildung des Vulcans. Jene, die der Franzose
2 *
12 Karl Andree: Stanley m
scheu General Althaus, der den Krater zeichnete. Von
den Erdbeben, die auf diesen Vulcan zurückgeführt wer-
den und die Arequipa wiederholt zerstörten, brauchen wir
hier nicht zu berichten. Südwestlich an ihn schließen sich
an die Vulcane Ubinas und Tutupaca, kaum miuder
hohe Bergriesen.
Die bolivianischen Vulcane finden sich bei Hugo
Reck, „Geographie und Statistik der Republik Bolivia" ^),
verzeichnet. Er unterscheidet die bolivianischen Anden, in
denen der 19,000 bis 20,000 Pariser Fuß hohe Vulcan
de Llallayacu (24° 19' südl. Br.) der südliche ist. Mit
ihm beginnt die Reihe der zahlreichen Atacama-Vulcaue,
die in einer strengen Reihe sich in nordsüdlicher Richtung
erstrecken. Eine besondere Gruppe bilden (zwischen 20° 57'
und 20°35') die drei Vulcane Olca, Chela und Tua,
die 15,000 bis 16,000 Fuß Höhe erreichen. In den boli-
vianisch-peruanischen Andes führt Reck folgende Vulcane auf:
den 17,000 Fuß hohen Jsluga (19°14'), den Haallateri
(18° 32', nach Pentland 20,604 Fuß) und den Riesen der
bolivianischen Vulcane, den Sajama (18° 12' südl. Br.,
20,971 Fuß nach Pentland).
Marcoy in „Le Tour du Monde" mittheilt, ist ein reines Phan-
tasiegebilde, wie überhaupt vor den idealen Vcrgzeichnnngen desselben
nachdrücklich zu warnen ist; was auch im „Globus" mehrmals geschah.
*) Petermann's Mittheilungen. 1865. S. 281 f.
Livingstone in Ostafrika.
Vom Llallayacu, der schon auf dem Gebiete Chiles liegt,
beginnt nun nach Süden eine 90 Meilen lange Lücke, ehe
wir auf die eigentlichen chilenischen Vulcane treffen, die
mit dem thätigen Corcovado endigen. Chile zählt etwa
ein Dutzend thätige Vulcane und ebenso viel erloschene. (Der
Aconcagua ist kein Vulcan.) Der Maypu (34° 17' südl.
Br., 16,572 Fuß) ist der höchste thätige Vulcan Chiles;
ihm steht der Villarica (39° 14' südl. Br., 14,625 Fuß)
nahe, während der erst am 3. August 1861 entstandene
Vulcan von Chillan der jüngste ist. Mit dem Corco-
vado endigt die lange Vulcanreihe, welche, verhältnißmäßig
geringe Unterbrechungen abgerechnet, die ganze Westseite des
amerikanischen Continentes durchzieht.
Im Osten Amerikas treffen wir thätige Vulcane nur
auf den kleinen Antillen. Die Inseln sind überhaupt
fast ganz vnlcanischer Natur. Der thätigste ihrer Feuer-
speier ist der 4710 Pariser Fuß hohe Morne Garou auf
St. Vincent, der 1812, einen Monat nach den Erdbeben
von Caracas, eine heftige Eruption hatte. Der Ernptions-
kegel von 1718 versank in den Krater, der jetzt einen Durch-
messer von 2400 Fuß und 500 Fuß Tiefe hat. Schwefel-
dämpfe stoßen die Vulcane von Santa Lucia und Domi-
nique aus; ein entschieden thätiger Vulcan ist die 4568
Pariser Fuß hohe Svufrisre auf Guadaloupe.
Stanley und Livii
Endlich haben wir über beide Reisende positive Nach-
richten, die freilich nicht ganz mit einander übereinstinunen,
aus denen aber hervorgeht, daß beide noch am Leben sind.
Nach Verlauf einiger Zeit dürfen wir das Eintreffen von
Mittheilungen erwarten, welche für die Geographie wie für
die Völkerkunde Jnnerafrikas von hervorragender Wichtigkeit
sein werden.
Wir wollen mittheilen, was bis zur Mitte Juni zu un-
serer Kunde gelangt ist.
Die „Times Mail" vom 10. Juni brachte ein Tele-
gramm aus Bombay, 6. Juni, von Llewellyn Dawson an
Rawlinson, den Präsidenten der Londoner geographischen Ge-
sellschaft: „Die Nilfrage scheint jetzt aufgeklärt worden zu
sein (— „settled", also derselbe Ausdruck, den vor Jahren
Speke gebraucht hatte —). Die unterirdische Ortschaft
(— Underground village —) beschäftigt nun Livingstone's
Aufmerksamkeit. Vorräthe werden uuverweilt abgeschickt
werden."
Diese Nachrichten sind wieder sehr dürftig. Die „un-
terirdische Ortschaft" bezieht sich wohl auf eine frühere Mit-
theilnng Livingstone's über eine Stadt, deren Bewohner un-
terirdische Behausungen haben sollen. Das Telegramm sagt
nichts über den Aufenthalt Livingstone's. Auf dasselbe hin
erklärte Rawlinson in der geographischen Gesellschaft, daß
der Reisende noch am Leben sei.
Alle Zweifel sind gehoben worden, als endlich ein an-
deres, deutlich und klar gefaßtes Telegramm aus Bombay
vom 12. Juni am folgenden Tage in London eintraf. Der
dortige Gouverneur, Sir Philipp Woodhoufe, meldet:
„Arabischen Quellen zufolge befindet sich Livingstone
wohl. Stanley ist in Ugogo und mit den Briefen
Livingstone's unterwegs nach der Küste."
„Es stellt sich jetzt heraus, daß Livingstone auf seinem
zstone in Ostafrika.
Wege von Manyema nach Udfchidfchi um das nördliche
Ende des Tanganyika-Sees herumging, von wo er,
nachdem er seine Vorräthe erhalten, nach Unyanyembe
zurückging." (— Das ist ungenau. Vou Udschidschi konnte
er nicht zurück gehen nach Unyanyembe, das ja östlich
vom See liegt, während er bislang in Manyema sich ans-
gehalten hatte, das im Westen desselben liegt. —) Es
folgt weiter eine unklare Stelle. Sie lautet:
„Er weigert sich, das Innere zu verlassen, da er den
unterirdischen Gang zwischen Unyanyembe und
dem Nyassa zu erforschen beabsichtigt. Es bestätigt
sich, daß derRusidschisluß in den Tanganyika fließt; sonach
steht der letztere nicht mit dem Nil in Verbindung." (—Daß
der Rnsisi von Norden her in den Tanganyika fließt, steht
schon längst aus der Weltkarte von Hermann Berghaus ver-
zeichnet. Was aber die Landschaft Unyanyembe, die unter
5° S. liegt, mit dem Nyaffa zu schaffen haben soll, der
unter 10° S. liegt, das verstehe ich nicht. Daß der Tan-
ganyika nicht mit dem „Nil" — Woodhouse meint wohl
den Ukerewe oder den Albert und deren Zuflüsse — in
Verbindung steht, hat überhaupt wohl Niemand angenom-
men, der sich einigermaßen eingehend mit Jnnerafrika be-
schäftigt. —) ......
„Dawson geht zurück, da es keine Schwierigkeiten macht,
Vorräthe nach Unyanyembe zu schicken, aber Livingstone's
Sohn begleitet die Vorräthe. Kirk fährt nach Bagamoyo
hinüber, um die Angelegenheiten zu beschleunigen." (—Das
heißt wohl, um die Vorräthe rasch ins Innere zu besorgen.
Bagamoyo liegt Sansibar gegenüber an der Küste, und ist
der Punkt, von welchem aus Burton und Speke ihre Reise
ins Innere antraten; auch ist er Ausgangspunkt der Trä-
gerkarawanen, welche unter Leitung arabischer Kaufleute ins
Innere gehen. —)
Karl Andree: Stanley m
Wenn Stanley in Ugogo war, so hatte er schon etwa
zwei Drittel des Weges vom Tanganyika nach der Küste zu-
rückgelegt und konnte in etwa einem Monate in Sansibar
eintreffen. Die Urwälder von Ugogo hat Burton in seiner
Reisebeschreibung vortrefflich geschildert.
Was nun Stanley betrifft, so haben wir früher („Glo-
bus" XXI, S. 76)' gemeldet, daß er im Auftrage des
„New Aork Herald" seine Reise unternahm, um Living-
stone auszusuchen. Wir finden nun in der Nummer des
„New Aork Weekly Herald" Nr. 1816 vom 22. Mai An-
gaben , welche wir mittheilen wollen. Sie beziehen sich auf
eine frühere Zeit als die neuesten Nachrichten, können aber
zur Aufklärung der vielen verschwommenen Telegramme die-
nen, welche wir der Reihe nach, Band XXI, S. 16, 47, 76,
80, 313, 320, 367, mitgetheilt haben.
Der „New Pork Herald" erhielt aus London, 20. Mai,
telegraphisch einen Bericht seines Correspondenten in San-
sibar, welcher direct aus Aden telegraphirt worden war; der
Correspondent schreibt:
„Stanley hat Livingstone aufgefunden und die beiden
Erforscher waren zusammen in Udschidschi. Seyd ben Mad-
schid, einer der reichsten arabischen Häuptlinge (— soll hei-
ßen Kaufleute —) in Udschidschi, verließ diese Stadt
(— soll heißen Ortschaft —) am 12. Januar und kam
in Unyanyembe an, dieser Halbwegsstation der regelmäßigen
und kürzesten Karawanenroute zwischen Udschidschi und der
Küste, am 5. Februar. Dort theilte er dem Scheich ben
Nasib, einem angesehenen Manne, der in Sansibar wohl
bekannt ist, die Nachricht mit, daß der amerikanische Herr-
Stanley vor etwa 50 Tagen in Udschidschi eingetroffen sei
und dort schon etwa einen Monat lang verweilt habe, ehe
er, Madschid, von dort abgereist wäre. Stanley hatte sich
genöthigt gesehen, einen großen Umweg zu machen, um nach
Udschidschi zu kommen, weil unter den Häuptlingen Fehden
ausgebrochen waren; er konnte also den gewöhnlichen Kara-
wanenweg nicht nehmen."
„Als Stanley in Udschidschi ankam, hatte Livingstone
dasselbe zeitweilig verlassen, um die benachbarten Gegenden
zu erforschen; er hatte sein Standlager in Myembe(—Man-
yemba —), welches etwa 20 Tagereifen von Udschidschi ent-
sernt liegt, mittewegs zwischen dem Tanganyika und dem
Victoria Nyanza."
„Livingstone war jedoch, bevor Seyd ben Madschid Ud-
schidschi verließ, dorthin zurückgekommen und mit Stanley
zusammengetroffen. Die beiden weißen Männer lebten dort
mit einander."
„Scheich ben Nasib, welchem Seyd ben Madschid diese
Nachricht gab, übermittelte dieselbe an seinen Bruder Ab-
dallah ben Nasib, der Kaufmann in Sansibar ist, indem er
drei Tage später seinen zuverlässigen Sklaven Said mit der-
selben nach der Küste abschickte. Said verließ Unyanyembe
am 8. Februar und traf am 2. April in Sansibar ein. Dort
führte Abdallah ben Nasib ihn sofort zu dem Corresponden-
ten des „Herald", der mit ihm ausführliche Besprechungen
und Erörterungen hatte. Aus denselben ging Folgendes
hervor:
„Als Seyd ben Madschid Udschidschi verließ, war es
nicht seine Absicht, nach Unyanyembe zu gehen, sondern es
lag ihm nur daran, die regelmäßige Karawanenstraße zu
eröffnen; zu diesem Zwecke hatte er eine bewaffnete Macht
mitgenommen. Er glaubte nicht, daß seine Operationen ihn
so weit wegführen würden, weil es damals in Udschidschi
hieß, daß einer der kriegführenden Häuptlinge, Misambo, sich
zwischen beiden Plätzen festgesetzt habe und sich stark genug
glaube, Madschid Widerstand leisten zu können. Als jedoch
dieser näher kam, wich er zurück, und Madschid war nun so
l Livingstone in Ostafrika. 13
nahe bei Unyanyembe, daß er einen Ausslug dorthin machte
und die willkommene Nachricht erzählte."
„So wird begreiflich, weshalb weder von Stanley noch
von Livingstone Briefe abgeschickt wurden. Sie würden
sicherlich es daran nicht haben fehlen lassen, wenn sie hätten
wissen können, daß eine Gelegenheit da gewesen wäre. Ueber
den Gesundheitszustand beider Reisenden wissen wir nichts
Positives; Madschid hat nicht gesagt, daß sie krank seien;
man darf also wohl annehmen, daß sie sich gesund befanden."
*
* *
Nachschrift. Als wir das Vorstehende schon in die
Druckerei abgesandt hatten, lasen wir in der „Times-Mail"
vom 14. Juni das neueste Telegramm aus Aden vom 13.
Juni, 41/2 Uhr Nachmittags. Dasselbe meldet:
„Stanley ist in Sansibar angekommen; als er
Livingstone verließ, war dieser am Leben und
wjohlauf."
So hat nun alle Ungewißheit ein Ende.
In derselben Nummer des genannten Blattes versucht
Rawlinson einige geographische Erläuterungen zu geben.
Er sagt:
„Unyanyembe, wohin Livingstone sich von Udschidschi
aus begab, offenbar um in leichte Verbindung mit der Küste
zu gelangen, muß sicherlich das Land zwischen dem See und
Sansibar sein."
Wir wollen bemerken, daß Unyanyembe die Central-
Provinz der großen Binnenlandschaft Unyamuesi ist; in
jener liegt der wichtige Platz Kaseh, welcher einen Haupt-
sammelplatz und Begegnungspunkt für die Karawanen der
arabischen Handelsleute bildet. Diese finden dort stets Elfen-
bein und Sklaven und sie haben in diesem Bandari —
so nennt man einen Mittelpunkt des Verkehrs, wo Karawa-
nenwege sich kreuzen — ihre Factoreien, bleiben dort oft
manches Jahr lang und senden ihre Fnndi, d. h. Reise-
diener, und ihre Sklaven weit landein auf den Handel
umher. Nach Speke, Journal of the discovery of the
source of the Nile, London 1863, S. 620, Appendix V,
liegt Kaseh unter 5°0'52" S., 33'1°34" O. Es war,
von Bagomoyo an der Küste aus gerechnet, seine sechsund-
zwanzigste Station; das weiter oben erwähnte Ugogo war
die zwanzigste; als Positionen für dieselbe giebt Speke
6°31'12" S., 35°32'4" O. Ueber den Karawanenver-
kehr der Region zwischen der Küste und den Seen findet
man eingehende Nachrichten in Karl Andree, Geographie
des Welthandels I, S. 190 bis 194. —
Rawlinson vermuthet, daß der „unterirdische Weg"
(underground path), welchen Livingstone untersuchen wollte,
wahrscheinlich derselbe sei, dessen dieser schon in früheren
Berichten erwähnt habe und welchen Grant nach den Aus-
fagen Eingeborener geschildert hat; derselbe müsse also „im
Süden jener Gegend" gesucht werden. In dem weiter oben
mitgetheilten Telegramm Dawson's wird dagegen von einem
Underground village gesprochen, und gewiß mit Recht,
wie ich gleich zeigen werde. Rawlinson schreibt: „Living-
stone nannte diefe merkwürdige Localität in einem frühern
Briefe Rna, und wenn man die Karte vergleicht, so findet
man einen Nnllah (— Nällah nennt man in Indien Fluß-
läufe, die zeitweilig trocken liegen —) oder eine Schlucht,
genannt Ruaha, genau auf der Linie zwischen Unyanyembe
und dem Nyassa-See (— die fünf Breitengrade von einan-
der entfernt sind! —); wir können, ohne zu irren, wohl
annehmen, daß der Doctor nun nach jener Gegend hin For-
schungen anstellt."
Wenn man Livingstone's vorletzten Brief, „Globus" XVI,
S. 249 bis 252, liest, fo wird die Sache klar. Der Rei-
14 . Karl Andree: Stanley u
sende sandte im Juli 1868 diesen Bericht an Lord Clären-
don; in demselben schildert er seine Wanderungen zur Haupt-
stadt des Muata Cazembe und jene am Chambeze,
welcher sich in den See Bangweolo ergieße. Nachdem
der Fluß den See verlassen habe, heiße er Luapula und
fließe gerade nach Norden hin an der Stadt des Cazembe
vorUber; 12 Miles weiter abwärts falle er dann in den
See Moero. „Diesen verläßt er an dessen nördlichem
Ende vermittelst einer Spalte, eines Einrisses, in
die Ruagebirge, heißt dann Lnalaba, nimmt seinen
Lauf nach Nordnordwest und bildet den Ulanga, west-
lich vom Tanganyika-See. Ich habe ihn nur an der Stelle
gesehen, wo er den Moero-See verläßt, und da, wo er aus
dem Einriß in den Rnabergen herauskommt."
Das ist deutlich genug gesprochen. Auf den neuen Kar-
ten, z. B. Hermann Berghaus' Weltkarte, sind der Cham-
bezi, der Bangweolo-See, der Luapula und der Moero-See
nach obigen Angaben verzeichnet; sie alle liegen im Westen
des Tanganyika-Sees, und ich begreife nicht, wie Rawlin-
son auf jene Muthmaßuug verfallen konnte. Bon einem
Nullah ist bei Livingstone gar keine Rede, sondern von einem
wasserreichen Flusse; dieser letztere wird seiner Lage nach ge-
nau bezeichnet; er ist gar nicht in der „Linie zwischen"
Unyanyembe und dem Nyassa-See zu suchen, welche 70 bis
80 deutsche Meilen lang sein miißte und im Osten des
Tanganyika-Sees nach Süden hin zu suchen wäre.
Ich nehme an, daß Dawson in seinem dürftigen Tele-
gramm mit dem Underground village das Richtige ge-
troffen habe. Livingstone sagt in dem erwähnten Schreiben
an Lord Clarendon in einer Nachschrift:
„Immer etwas Neues aus Afrika! In Rua lebt ein
zahlreicher Volksstamm in Häusern unter der Erde.
Einige Aushöhlungen sollen bis zu 30 Miles laug sein und
keine fließenden Gewässer haben. Die in den Höhlen-
Wohnungen befindlichen bildlichen Darstellungen (wri-
tings) sollen, wie ich von Eingeborenen hörte, Thiersigu-
ren, keine Buchstaben, sein. Wäre das letztere der Fall,
so würde ich selber hingegangen sein. Die Leute sind sehr
dunkelfarbig und gut gewachsen; der äußere Augenwinkel ist
schräg nach einwärts gerichtet." —
Es liegt sehr nahe, anzunehmen, daß Livingstone diese
„unterirdischeOrtschaft" hat erforschen wollen. EineWan-
derung nach Süden hin, gegen den Nyassa zn, in eine Ge-
gend, welche er von früher her kannte, wäre jetzt auch zweck-
los gewesen.
Seit jenem Bericht an Lord Clarendon ist von Living-
stone nur ein einziges Schreiben nach Sansibar gelangt,
datirt Udschidschi, 30. Mai 1869; es ist an Dr. Kirk
gerichtet. Seitdem war er verschollen, er ist aber dann
wieder in das Land westlich vom Tanganyika gegangen.
In dem Briefe an Kirk („Globus" XVI, S. 303) ist
er noch in einem Jrrthnme befangen. Er sagt: „Tan-
ganyika, Nzige Chowambe (Baker's Albert-See) sind
ein und dasselbe Wasser, und der Anfangspunkt liegt
300 Miles südlich von Udschidschi. Die westlichen und
centralen Abzugslinien fallen in einen noch nicht besuchten
See, der westlich oder südwestlich von hier liegt. Ich habe
nun nachzuforschen, ob derselbe zum Nil oder zum Congo
Abfluß hat. Das Volk dort heißt Manyema und foll,
> Livingstone in Oftafrika.
wenn die Araber recht haben, Menschen fressen. Dorthin
werde ich mich wohl zunächst begeben müssen und dann,
wenn ich nicht aufgefressen werde, am Tanganyika ab-
wärts."
Verspeist worden ist er nicht im Manyemalande, in
welchem er sich seitdem lange Zeit aufgehalten hat, und am
Tanganyika-See abwärts, d. h. nach Norden hin, ist er ge-
gangen, um das Nordende desselben herum. So hat er er-
Mitteln können, daß seine Annahme über den Zusammen-
hang des Albert-Sees mit dem Tanganyika eine irrige war.
Rawlinson nun, um wieder auf ihn zurückzukommen,
bemerkt:
„Livingstone ist von Manyema aus um das Nordende des
Tanganyika gegangen und hat alle Flüsse gefunden, welche
in denselben einströmen. Ich nehme nun an, daß der
Rnsidschi oder Rusizi, am Nord ende des Sees, der Wasser-
lauf ist, vermittelst dessen die Cazembegewässer (— die oben
namhaft gemacht worden sind —), welche Livingstone etwa
vom zwölften Grade Süd her verfolgt hat, sich in den Tan-
ganyika ergießen. Außerdem drängt sich uns noch eine wei-
tere, belangreiche Erwägung auf. Das Wasser des Sees ist
süß, und es ist deshalb gewiß, daß er wie einen Zufluß,
so auch einen Absluß haben müsse. Auf der westlichen
Seite ist ein solcher nicht vorhanden, wir müssen also an-
nehmen, daß er an der östlichen Seite und zwar im südlichen
Theile derselben zu finden sei. Dort hat schon Mac Queen
vor langer Zeit den Lusidschi aus dem See strömen las-
sen; derselbe mündet unter etwa 8° S. in den Indischen
Ocean."
Rawlinson kommt dann noch einmal auf seine subter-
ranean passage zurück und sagt: „Wenn Livingstone wirk-
lich von Unyanyembe nach Süden geht, um den nnterirdi-
schen Weg bei Rua zu erforschen, fo wird er über diesen
etwaigen Abfluß aus dem Tanganyika ins Reine kommen."
Es ist allerdings möglich, daß der Lufidfchi aus dem
Tanganyika kommt. Er ist der Rhaptus des Ptolemäus,
der ihn etwas östlich von dem östlichen See entspringen läßt,
aus welchem bei ihm der östliche Arm seines Nils kommt.
An oder vor den Mündungen lag Rhapta, eine Handels-
Niederlassung, welche schon in den ersten Jahrhunderten un-
serer christlichen Zeitrechnung unter arabischen Häuptlingen
stand. Die Alten kannten die Ostküste von Afrika nach
Süden hin nur bis zum Prasurn Promontorium, dem
heutigen Cap Delgado, das etwas südlich von 10° S.
liegt; das neuerdings vielbesprochene Ophir darf also nicht
in Ostafrika, im Hinterlande von Sofalla unter 20° Süd
gesucht werden. Für die Identität des Lusidschi mit dem
Rhaptus haben sich auch Beke, the Sources of the Nile,
London 1860, S. 70 und Guillain ausgesprochen; der
letztere in seinen lehrreichen Documenta sur l'histoire, la
Geographie et le Commerce de l'Afrique Orientale.
Paris 1857, S. 120*).
Karl Andree.
*) Der Lusidschi oder Rufidschi hat ein Delta von 11 bis 12
Armen, von denen jedoch nur einer für Dbans, arabische Segelschiffe,
fahrbar ist, die übrigen sind für Kähne schiffbar; er heißt im obern
Lause R u ah a. Vor den Mündungen liegt die Insel Mafia söhne
Zweifel das Rhapta der Alten); ihr Nordpunkt in 7^38^ Süd.
Aus allen Erdtheilen.
15
Aus allen
Die Ansiedelung der Walliser am Chupat in Patago-
nien mißlungen.
Vor etwa sieben Jahren faßte man in Wales den unglücklichen
und unpraktischen Gedanken, eine Anzahl von Familien an der
Ostküste Patagoniens anzusiedeln und zwar im südlichen Theile
desselben am Flusse Chupat (Tschupat). Man setzte dort 132
Individuen ans Land; sobald sie sich häuslich eingerichtet und
Getreide geerntet haben würden, sollten andere Einwanderer
nachfolgen; man gedachte in der patagonischen Einöde ein „Neu-
Wales" zu gründen und die Volkssprache zu bewahren. Dafür
hatte man eine baumlose Gegend erwählt, über welche vom
Lande wie von der See her die Winde hinpeitschen, in einem
Klima, in welchem sich nur die umherschweifenden, mit Fellen
bekleideten Indianer Wohlbefinden können. Die argentinische
Regierung zeigte sich den Ansiedlern in jeder Weise förderlich,
und ohne ihre Beihülfe wären dieselben verhungert. Die Ernten
mißriethen, und als einmal ein Schiff mit Vorräthen aus Eng-
land länger als man erwartete ausblieb, stiegen Noth und Man-
gel auf das Allerhöchste. Mit den Indianern, welche den oft
treulosen argentinischen Gauchos gegenüber sehr feindselig auf-
treten, kamen die ehrlichen Walliser bald in ein leidlich gutes
Verhältniß, im Uebrigen wollte sich jedoch kein Gedeihen ein-
stellen, und es ist, wie ein Bericht sagt, ein wahres Wunder,
daß von den Leuten überhaupt noch so manche am Leben sind.
In ihrer hoffnungslosen Lage machte ihnen der argentinische
Oberst Murga, Befehlshaber in der Stadt Patagones (die
früher Carmen hieß und am Rio Negro liegt), den Vorschlag,
sich bei dieser Ortschaft niederzulassen, die einige tausend Ein-
wohner zählt und in Bezug auf Lage und Klima sich in gün-
stigeren Umständen befindet. Aber die Walliser, die geistig nicht
eben regsam zu sein scheinen, konnten sich von ihrem Fleck Erde
nicht trennen, trotzdem sie dort Hunger litten; nur zehn Män-
ner wanderten fort nach dem Chafo und siedelten sich dort
1868 neben einer von Calisorniern gegründeten Niederlassung
an. Murga mußte seine wohlwollende Absicht aufgeben. In-
zwischen sind die Verhältnisse noch ungünstiger geworden, und
es bleibt den Wallisern nichts übrig als jetzt nach Patagones
zu ziehen. Der Gouverneur Castro hat im Austrage der argen-
tinischen Regierung eine Fläche Landes für sie.bestimmt; sie
werden dort als Geschenk Horn- und Schafvieh, Bauholz und
Saatgetreide bekommen, außerdem Nahrungsmittel fo lange, bis
sie selber dergleichen sich beschaffen können. Sie bleiben zehn
Jahre lang steuerfrei, verwalten ihre Gemeindeangelegenheiten
selber nach ihren Sitten und Gebräuchen, und wenn dieser Ver-
such nicht fehlschlägt, sollen von 1873 an regelmäßig 300 walli-
sische Familien in jedem Jahre an den Rio Negro gebracht werden.
So lauten die letzten Nachrichten aus Buenos Ayres. Ueber
das „Wallisische Utopien" hat Chaworth Musters (At home
with the Patagonians, S. 315) einige Bemerkungen. „Die
Ansiedler hatten keine Vorräthe irgend welcher Art, es fehlte
ihnen auch an Kleidung. Der phantastische Plan, durch welchen
diese unglücklichen Emigranten vermocht wurden, sich dort an-
znsiedeln, darf nicht gefördert werden, denn die Leute müßten
unfehlbar verhungern, und das wäre längst ihr Schicksal ge-
Wesen, wenn nicht die argentinische Regierung sich so wohl-
wollend gegen sie benommen hätte. Der Indianerhäuptling,
mit dem ich mich längere Zeit unterhielt, war gegen die Walliser
ganz gut gesinnt, betrachtete sie aber als Eindringlinge, von wel-
chen er gelegentlich Zahlung fordern werde, d. h. er wollte Vieh
rauben, sobald die Ansiedler einmal solches haben würden."
Patagones (El Carmen) liegt, wie gesagt, am Rio Negro,
18 Miles von der Mündung entfernt; in der Nähe ist die Ort-
schaft El Merced gegründet worden, wo Missionäre aus Eng-
Erdtheilen.
land sich niedergelassen haben, doch ohne Erfolg; Musters (S.
291) bemerkt, daß sie keinen Menschen bekehrt hätten außer
ihrer indianischen Dienstmagd; ihre Schule haben sie aufgeben
müffen. Die sittlichen Zustände sind nicht erbaulich, weil so
viele nach Patagones deportirte Verbrecher, namentlich einge-
sangene Deserteure, Räuber und Missethäter aller Art, eine sehr
schlimme Gesellschaft bilden. „Man zeigte mir einen Menschen
Namens Ruiz, der vier Mal wegen begangener Mordthaten
von Buenos Ayres nach Patagones und eben so viele Mal
zurückgeschickt worden war. Der Kerl rühmte sich vor Jeder-
mann, daß er jedesmal, wenn er einen kleinen Ausflug mache,
einen Menschen umbringe. Ein anderer, welcher den Bischof
von Buenos Ayres bestohlen hatte, war Kellner in einem Hotel.
In jeder Woche kommt eine Mordthat vor." (Murder is of
weekly occurrence.)
Eisenbahnen in Norwegen.
Das Storthing, d. h. Parlament, zu Christiania hat am
3. Mai den Bau einer Eisenbahn zwischen Christiania und
Drontheini beschlossen; derselbe soll unverweilt in Angriff ge-
nommen werden. Nach Vollendung dieses Schienenweges wird
die Bahnverbindung zwischen Süd- und Mitteleuropa nur in
den Velten und im Sund eine Lücke haben und bis in die Nähe
des Polarkreises reichen. Jetzt gebraucht man fünf Tage, um
die 340 Miles lange Strecke zwischen den beiden genannten
Städten zurückzulegen; künstig wird man nur 26 Stunden ge-
brauchen. Das Dosresjeld soll in einer Höhe von 1700 Fuß
überschient werden. Das Storthing hat ferner eine Bahn ge-
nehmigt, welche Drontheim mit Schweden verbindet, die also
gerade durch die skandinavische Halbinsel lausend den Bottni-
schen Meerbusen mit der Nordsee verbinden wird; von den 300
Miles Länge entfällt der größte Theil auf Schweden.
* *
— Die italienische Regierung begreift sehr wohl, daß
sie dem Schulunterricht große Sorgfalt zuwenden müsse;
bisher ist derselbe vielfach vernachlässigt worden und die Geist-
lichkeit hat ihn keineswegs gefördert. Fortan sollen alle Kinder
nach zurückgelegtem sechsten Jahre die Gemeindeschulen besuchen,
falls die Eltern nicht nachweisen, daß dieselben anderweitig nn-
terrichtet werden. Säumige Eltern verfallen in Strafen von
2 bis zu 10 Lire (je zu 8 Silbergroschen.) Die statistischen
Tabellen, welche dem Parlamente vorgelegt wurden, weisen nach,
daß von je 100 Personen 15 die Schule besuchen sollten; in den
acht Jahren von 1861 bis 1868 stieg der Schulbesuch von 4,53
auf 6,05 von je 100 Personen; demnach fehlen noch drei Fünftel
der Pflichtigen Kinder in den Schulen. Bis 1861 konnten in
Italien 71,75 Procent nicht lesen und schreiben. Im Jahre
1863 betrug die Zahl sämmtlicher Schulanstalten sür beide Ge-
schlechter 23,432 und 1868 schon 33,027, aber der Besuch ist
schwach und deshalb sind Zwangsmittel gegen säumige Eltern
unbedingt erforderlich. Die höheren Lehranstalten werden gut
besucht, ebenso jene sür den Mittlern Bürgerstand, in welchem es
an Lerneifer nicht fehlt; es kommt vor allen Dingen darauf
an, das Volksschulwesen in Stadt und Land zu heben.
— Wie steht es mit dem Märtyrerthum der
Menschheit? An wunderlichen Büchern ist kein Mangel; es
giebt immer Leute, welche für die Erheiterung des Publicums
sorgen. Im vorigen Jahre entwarf ein Mnkee eine Schilde-
rung des „Darwinschen Paradieses"; er weiß ganz ge-
nau, wie die Welt aussehen wird, sobald die Transmutation
ihren Höhepunkt erreicht haben wird. Dann ist Alles Freude
und Seligkeit. Winwood Reade seinerseits beschäftigt sich
. .. ..... .... .. .. . . . . ' -.'t i, '»»7.....:-tr- -• •-•-•t-r-r --
16
Aus allen Erdih eilen.
mit dem „Märtyrerthume der Menschheit". Der talent-
volle Mann veröffentlichte vor etwa zehn Jahren ein interessan-
tes Buch über das „Wilde Afrika", aus welchem wir seiner
Zeit im „Globus" Auszüge gaben. Er war an den Gabon
gegangen, um festzustellen, ob es mit dem Dasein des Gorilla
seine volle Richtigkeit habe; vor drei Jahren unternahm er dann
eine zweite Reise nach der Westküste Afrikas und auf derselben
scheint die tropische Sonne einigen Einfluß auf seine Gehirn-
thätigkeit geübt, insbesondere seine Phantasie recht hoch gestei-
gert zu haben. Er transmutirt in bedenklicher Weise. Hier
ein Beispiel: „Die Leiber, welche wir Menschen gegenwärtig
tragen, gehören den niederen Thieren an; unser Geist ist über
dieselben schon weit hinausgewachsen und wir sehen bereits mit
Verachtung auf dieselben herab. Es wird eine Zeit kommen, in
welcher dieselben vermöge der Wissenschaft und durch diefelbe
umgewandelt werden auf einem Wege und durch Mittel, über
welche wir keine Vermuthungen aufstellen können. Selbst wenn
dieser Gang uns erklärt würde, so könnten wir ihn doch jetzt
noch nicht verstehen, ebenfo wenig verstehen, wie ein Wilder
Elektricität, Magnetismus und Dampf begreift. Alle Krank-
heiten werden dann ausgerottet sein, die Ursachen des Verfalles,
der Abnahme der physischen Kräfte sind entfernt und dann
wird die Unsterblichkeit erfunden werden. Und dann wird, da
die Erde doch nur so klein ist, die Menschheit den Raum
und die luftleeren Saharas durchkreuzen, welche Planeten von
Planeten trennen und Sonne von Sonne. Die Erde wird zum
heiligen Lande werden und zu diesem werden Pilger wallfahr-
ten aus allen Theilen des Universums. Und am Ende werden
die Menschen die Naturkräfte bemeistern, sie werden selber Bau-
Meister von Systemen sein, werden selber Welten verfertigen.
Dann wird auch der Mensch vollkommen sein, er wird ein
Schöpfer sein, er wird das sein, was jetzt von der rohen Masse
als Gott verehrt wird." An einer andern Stelle ergeht Win-
wood Reade sich in folgender Lucubration: „Wie glorios ist
das Andenken an jene Männer der Vorzeit, deren Namen ver-
gefsen sind, weil sie lebten und arbeiteten in einer Zeit, die
weit hinter uns liegt und über welche wir keine schriftlichen
Zeugnisse besitzen. Sie sind zu groß, um bekannt zu sein; sie
sitzen auf der Höhe der Jahrhunderte und blicken auf den Ruhm
herab. Das Boot blähet feine weißen, zugespitzten Schwingen
auf, die Matrosen stimmen mit klagenden Tönen einen Gesang
an und das Wasser wirft Blasen auf, indem wir an den Grä-
bern und Tempeln vergangener Tage vorübergleiten. Die Men-
schen sind todt und die Götter sind todt. Nichts ist übrig ge-
blieben als ihr Andenken. Wo wäre denn heute Osiris, der
aus Liebe zu den Menschen aus die Erde kam und der getödtet
wurde durch die Bosheit Satans, der sich, aus dem Grabe
emporsteigend, gegen ihn erhob und zum Richter der Todten
wurde? Wo ist die Mutter Isis, welche das Kind Horus auf
dem Schooße hielt? Sie sind todt, sie sind eingegangen in das
Reich der Schatten. Morgen wirst Du, Jehovah, sammt Dei-
nem Sohne bei ihnen sein." Man sieht, Reade ist würdig, ein
Mitglied des „radicalen Clubs" in Boston zu werden, der in
seinen beiden jüngsten Monatssitzungen wieder höchst ergötzliche
Proben metaphysischer Speculationen zum Besten gegeben hat.
— Der Eensus bort 1870 giebt auch Ziffern über die ver-
fchiedenen religiösen Bekenntnisse in den Vereinig-
ten Staaten. Am I.Juni des genannten Jahres stellten sich
die „kirchlichen Organisationen" auf die Ziffer von 72,451; es
gab 63,074 kirchliche Gebäude, in welchen 21,659,562 Köpfe
„Accommodation" finden. Geldwerth des gesammten kirchlichen
Eigenthums 354,429,581 Dollars. — Von den „Accommoda-
tionen" entfallen auf: die regulären Baptisten 3,997,116, auf
andere Baptisten 363,019; — Römisch-Katholischen 1,990,514; —
Congregationalisten 1,117,212; — Episcopalen 991,051; — Lu-
theraner 997,332; — Methodisten 6,528,209;— reguläre Pres-
byterianer 2,193,900, andere Presbyterianer 499,344. Das
sind die Hauptdenominationen. Der Werth des Kirchen-
eigenthums stellt sich am höchsten bei den Methodisten mit
69,854,121 Dollars; ihnen zunächst steht das der .päpstlichen
Kirche mit 60,985,566 Dollars.
— Die Eisenbahn von Canada nach Britisch Co-
lumbia wird gebaut und damit die Bedingung erfüllt, unter
welcher Britisch Columbia der Canadian Dominion beitrat. Der
Bau soll am 1. Juli 1873 beginnen und spätestens binnen zehn
Jahren vollendet sein. Sie beginnt am Nipissing-See, der
seinen Abfluß in den Huron-See hat. Bis zu diesem reichen
bereits von der atlantischen Küste her die kanadischen Bahnen;
diese nicht mitgerechnet wird die „Canadian Pacific" eine Länge
von 2700 Miles haben. Sie ist, neben den drei pacifischen
Bahnen, welche das Gebiet der Vereinigten Staaten durchschnei-
den werden, der vierte transcontinentale Schienenweg.
— Die Volkszählung im Königreich Sachsen (vom
l.December 1871) ergab 2,556,244 Köpfe; davon waren 1,248,799
männlichen, 1,307,445 weiblichen Geschlechts; das letztere über-
wog also um 58,646 Köpfe. Lutherifch 2,484,075, reformirt
9347, deutsch-katholisch 3015, päpstlich 53,642, anglikanisch 458,
griechisch 554, jüdisch 3358 (gegen 2103 vor 4 Jahren); andere
Bekenntnisse 1041; keine Angabe über eine Konfession 760. Als
Wenden sind 52,097 Köpfe angegeben worden.
— Der Kaiser von China wird im Herbste dieses Iah-
res für mündig erklärt werden und dann muß er Heirathen.
Seine Mutter, die verwittwete Kaiserin, hat in der amtlichen
Pekinger Zeitung drei Erlasse veröffentlicht, welche dem Her-
kommen entsprechen. Der eine macht den Namen der zukünsti-
gen Kaiserin bekannt; der andere verkündigt jenen von drei
Damen, welche als Nebenfrauen in Seiner Majestät Harem auf-
genommen werden, und der dritte fordert das Kollegium der
Astronomen auf, einen in den Monat October fallenden glück-
lichen Tag auszusuchen, an welchem dann die Vermählung statt-
finden soll. Die künftige Kaiserin stammt aus einer mongoli-
schen Fürstenfamilie. Sobald der junge Monarch die Regierung
übernommen hat, werden die europäischen Gesandten darauf
dringen, daß sie Audienz bei ihm erhalten, damit endlich China
formell anerkenne, daß die Monarchen anderer Länder ihm gleich-
gestellt feien; die bisherige Annahme, daß sie gewissermaßen
seine Vasallen seien, wird damit auf einmal hinfällig. Vom
europäischen Standpunkte angesehen, ist sie lächerlich genug, aber
sie ist es nicht in den Augen des chinesischen Volkes, welches
durch sie in seinem Hochmuthe bestärkt wird. Der Kaiser ist
jetzt, nach chinesischer Rechnung, 17 Jahre alt; diese nimmt an,
daß ein Kind am Tage seiner Geburt schon ein Jahr alt sei.
— Eine lange Seereise ist von dem Gallion des mit
Wolle beladenen Schiffes „Blue Jacket" zurückgelegt worden.
Dieses Fahrzeug verbrannte am 9. März 1869 in 53° S., 60°
W., zwischen den Falklandsinseln und Cap Horn; es kam von
Neuseeland. Das Gallion wurde 1872 am Strande der kleinen
Insel Rottenest, unweit von der Stadt Freemantle in West-
australien, gefunden; es hat demnach eine Strecke von 6000
Seemeilen zurückgelegt in etwa dritthalb Jahren, so daß auf
jeden Tag 6^/2 Mile entfallen.
— Unter den 2050 Passagieren, welche über See in San
Francisco während der drei ersten Monate des Jahres 1872
angekommen sind, bildeten Chinesen, 1040 Köpfe, die Hälfte.
Inhalt: Wanderungen in den drei Lappländern. Von Professor I. A. Frijs in Christiania. I. (Mit drei Abbildun-
gen.) — Die geographische Verbreitung der thätigen Vulcane. IV. Die amerikanischen Vulcane. (Mit sechs Abbildungen.) —
Stanley und Livingstone in Ostafrika. Von Karl Andree. — Aus allen Erdtheilen: Die Ansiedelung der Walliser am
Chupat in Patagonien mißlungen. — ^Eisenbahnen in Norwegen. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
MWMM
itx Jlättb
Jß 2.
Mit besonderer JerücksicktiZung üer Antkropologie unä Gtknologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
!5uli Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1872.
Wanderungen in den drei Lappländern.
Von Professor I. A. Frijs in Christiania.
II.
Die Zaubertrommel der Lappen.
Den skandinavischen Eindringlingen gegenüber findet der
Berglappe ein gewisses aristokratisches Wohlbehagen darin,
den uralten Namen seiner Familie beizubehalten. Welche
von den verschiedenen Familien wirklich alt sind, das können
sie leicht aus den Steuerbüchern vom fünfzehnten Jahrhundert
ersehen. Sonst würde es überhaupt oft schwer halten, die
Namen von den Wohnstätten, wie es meistens bei der enro-
Peuschen Aristokratie gebräuchlich ist, abzuleiten, weil diese
Nomaden, Berg- wie Seelappen, keine bleibende Stätte haben.
Im Ganzen genommen ist zu bemerken, daß beide Abthei-
lungen sehr genaue Familieuordnung halten. Um die Ver-
zweigungen genau bezeichnen zu köunen, hat die lappische
Sprache ganz eigentümliche Wörter und Ausdrücke für die
verschiedenen Verwandtschaftsgrade. So z. B. hat der Lappe
eigene Ausdrücke für Vatersbruder und Mutterbruder (in
unserer Sprache Oheim und Muhme schlechtweg), je nachdem
diese älter oder jünger sind als Vater und Mutter.
In den alten Namensverzeichnissen kommen norwegische,
schwedische, finnische und russische Bezeichnungen vor, wel-
ches beweist, daß die Lappen keine reine Race sind,
sondern daß in ihren Adern sehr verschiedenes Blut fließt.
Dagegen gehörten sie gewiß zu den turauischen Völkern,
deren Schamanen überall denselben Hexendienst betrieben.
Globns XXII. Nr. 2. (Juli 1872.)
Bei Ausübung ihrer Künste scheinen sie auch überall das-
selbe Instrument, nämlich die Zaubertrommel, benutzt
zu haben. Denn die grönländische Angakoks-Trommel wird
genan so beschrieben, wie die lappische: beide waren ganz
einfach, klein und bestanden aus einem Ringe oder Reifen
von Holz oder Fischknochen, worüber ein Seehundsfell ge-
fpannt und unter dem Ringe befestigt war. Diese Trom-
mel wurde jedes Mal benutzt, wenn ein Schamane seine
Künste produciren sollte und wollte; doch wurde sie auch
oft profanirt, indem man sie bei Spielen und anderen össent-
lichen Lustbarkeiten gebrauchte. In beiden Fällen schlug
man sie mit einem Holzschlägel und sang dazu.
Die Pjanser der samojedischen Tadiber wird be-
schrieben als eine flache Trommel; nur 4 Zoll hoch und
11/2 Fuß Durchmesser. Die Trommel der Schamanen un-
ter den Barabintzen und Tungusen glich der Lappentrommel
ganz genan. Das Fell solcher Schamanentrommeln war
häufig mit Figuren bemalt, welche Fabelthiere, Vögel oder
Schlangen vorstellen sollten. Was man mit diesen Male-
reien bezweckte, ist bis jetzt noch nicht klar geworden. Es
scheint übrigens, als hätte man unter den vorbenannten Völ-
kern bei Hexenspielen die Trommel besonders darum benutzt,
um dadurch die Einbildungskraft zu steigern, oder durch das
3
18
I. A. Frijs: Wanderungen in den drei Lappländern.
I. A. Frijs: Wanderunge
leidenschaftliche Schlagen dieses Instrumentes und die dazu
gehörigen Zauberlieder die Schamanen und die Zuschauer-
in die rechte Stimmung und Spannung zu versetzen. Viel-
leicht benutzte man auch die Trommel als Mittel, verschie-
dene Taschenspielerkunststücke besser verbergen zu können.
Wahrscheinlich ist auch der lappische Ruuenbaum oder
die Runenscheibe für denselben Zweck von den Hexenmei-
stern benutzt worden; denn was ihn besonders auszeichnete
und ihm Werth und Ansehen in den Augen des Volkes gab,
war der Umstand, daß alle heidnischen Götter der Lappen
durch mehr oder weniger hieroglyphisch aussehende Figuren
auf demselben aufgezeichnet waren, jeder in seinem Kreise,
oder derjenigen Abtheilung im Universum, wo man glaubte,
daß er seine Heimath oder seinen Sitz habe. Eben so wa-
ren Sonne, Mond, Sterne, wilde Thiere, fischreiche Gewäs-
ser, der Lappe selbst, sein Renthier und seine Wohnung auf
dem Runenbaume gezeichnet. Auch die Normäuner oder
Christen mit den ihnen eigenthümlicheu Beigaben hatten hier
ihren Platz. Im Ganzen genommen fand der Lappe auf
seinem Runenbaume von Allem, was ihn interessiren oder
ihm Bescheid wüuscheuswerth machen konnte, entsprechende
Bilder.
Der lappische Runenbaum war somit des Volkes Bibel
und Orakel; gleichzeitig aber auch für dasselbe eine Art Land-
karte von dieser und jener Welt. Wie bei den anderen tura-
nischen Völkern die Schamanentrommeln bei weitem nicht
die Bedeutung gehabt haben, wie bei den Lappen, so war
auch der Ruuenbaum der Lappen größer als der bei den
Samojeden und Grönländern, auch viel sauberer und schöner
gearbeitet als der von den anderen Völkern.
In der Beschreibung dieses Instrumentes weichen die ver-
schiedenen Schriftsteller von einander ab, wahrscheinlich weil
der Runenbaum in den getrennten Provinzen Finnmarken
und Lappmarken etwas verschieden war; oder auch weil wahr-
scheinlicherweise jeder Noaide nach seiner größern oder gerin-
gern Kenntniß der Gottes- oder Götterwelt, oder wegen ganz
besonderer Interessen mehr oder weniger Figuren auf feinem
Orakel gehabt hat.
Der lappische Name für Runebom ist „Gobdas", wel-
ches einen mit Bildern bemalten Gegenstand oder eine Samm-
luug von Bildern bedeutet, fo daß der norwegische Ausdruck
„Runebom" eigentlich nur eine Uebersetzung des lappischen
Wortes ist.
Das Holzwerk des Runenbaumes bestand aus einer flach-
grundigen Schale oder dosensörmigen Schachtel in ovaler
oder eirunder Form. Das Holz konnte von der Birke, Fichte
oder Kiefer genommen werden, nur „mußte es an einer
Stelle gewachsen sein, wo die Sonne nicht gesehen werden
konnte, und wo der Baum seitwärts und entfernt von allen
anderen Bäumen gestanden hatte." Dann mußte der Stamm
nicht in der Richtung gegen die Sonne, sondern gemäß dem
Laufe der Sonn? gewachsen sein, wahrscheinlich um dem
Sonnengott oder der Sonne ein gewisses Behagen zn ver-
schaffen, denn die Sonne war stets in die Mitte der Bilder
des Runenbanmes gestellt. Eine solche ausgehöhlte Schale
war auf der Rück- oder Außenseite mit Holzschnitzereien,
welche Kreise, Triangel, Quadrate und verschiedene andere
mathematische Figuren darstellten, geziert. Aus dem Grunde
in den drei Lappländern. 19
der Schale waren zwei ovale Löcher gemacht," zwischen wel-
chen das Holz stehen blieb und als Handhabe diente.
An mehreren Stellen der Außenseite waren um den Rand
der Schale Löcher gemacht, durch welche man SchnurenMocht,
an deren Enden Messingringe und andere altertümliche
Zierrathen angebracht waren. Diese Ringe waren Opfer
der Dankbarkeit für den Ruuenbaum, wenn Jemand, wel-
cher sich mit dem Runenbaume berathen, in seinen Geschäft
ten Glück gehabt hatte. Ebenso war mit dem Herzblut eines
erschossenen Bären ein Kreuz gemalt, und eingeschlagene kleine
Messingstifte zeigten, wie viele der Besitzer des Runenbaumes
geschossen hatten.
Die Größe der Schale betrug iu der Regel gegen eine
Elle im Durchmesser der langen Seite; doch gab es auch
solche große Scheiben, daß man sie nicht mit sich führen
konnte, weil sie in keinem Renthierschlitten Platz hatten, wes-
halb sie an Ort und Stelle verbrannt werden mußten.
Ueber den concaven Theil vorgedachter Holzschale war
eine waschlederne Renthierhaut gespannt. Diese war an der
Außenseite, nahe unter dem Rande, mit Holznägeln ausge-
nagelt und dabei so stark als möglich angezogen, so daß sie
die gewünschte Spannung erhielt. Aus der Oberseite war
die Haut weiß und glatt, denn auf diese wurden mit einem
Decoct von Renthierblut und Eichenrinde allerhand hiero-
glyphifche Figuren, bald mehrere, bald wenigere, bald bester,
bald schlechter ausgeführt, gemalt: je nach den Kenntnissen
und der Zeichnenfertigkeit des Noaiden.
Name und Bedeutung der Figuren aus dem
Runenbaume.
1) Radien Attschje: der Allmacht Vater. — 2) Radien
Akka: seine Frau. — 3) Jddedes Guovso: die Morgenröthe.—
4) Radien Noaide: des Allvaters Noaide (Zauberer). — 5) Ra-
dien Bardne: sein Sohn. — 6) Hora-gales: der Donnergott.—
7) Des Donnergottes Hund. — 8) Biegga-gales: der Wind-
gott. — 9) Des Windgottes Frau. — 10) Mader-akka: die
Mutter aller Dinge. — 11) Sarakka: Mutter der Schöpfung.—
12) Jaks-akka: specielle Göttin der Knaben. — 13) Sälgge-
ädne: die Hebamme.— 14) Eatoshi-ädne.— 15) 16)17) Aile-
kes Olbmak: der Mann des heiligen Tages. — 18) Bäivve:
die Sonne. — 19) Schützen. — 20) Das Elenthier. —
21) Läibbe-olmai: der Waldgott. — 22) Das Renthier. —
23) Das Elenthier (Elg oder Elch). — 24) Saivo sarvak: das
Renthier in der Unterwelt. — 25) Struk-olmai. •— 26) Die
Finsterniß. — 27) Ein Boot. — 28) Ein Noaide, welcher im
Kirchspiel eine Ziege kauft. — 29) Eine Ziege. — 30) Eines
Festwohnenden Haus. — 31) Die Frau eines Festwohnenden.—
32) Eine Kirche. — 33) Eine Einzäunung, worin die Renthiere
während des Melkens gehalten werden. — 34) Eines Lappen
Zelt. — 35) Ein Vorrathshaus mit Leiter. — 36) Goarmes
Guolle: ein Zauberfisch. — 37) Vuormes Lodde: ein Zauber-
vogel. — 38) Ein Opferschwein. — 39) Kleine Blattern. —
40) Opfer an die Todten. — 41) Jabmi Aibmo: das Reich
des Todes. — 42) Krankheit, welche dem bösen Wesen folgt. —
43) Rota: das böse Wesen, welches auf einem Opferpferde sitzt. —
44) Rota's Frau, welche die Krankheit mit sich führt. —
45) Rota -aibmo: Rota's Heimath in der andern Welt. —
46) Rota's Kirche. — 47) Die Abendröthe. — 48) Der Wolf. —
49) Der Noaiden Kampfrenthier. — 50) Vuolle Aibmo: die
unterste Heimath in der andern Welt. — 51) Die Gandfliege.
20
Auf den Ruinen von Utica.
Alls den Ruinen von Utica.
Als Julius Cäsar bei Thapsus das Heer der republi-
kanischen Partei besiegt hatte, rückte er gegen Utica an,
welches in Afrika den Hanptmaffenplatz seiner Gegner bil-
dete. Die römische Besatzung entfloh, aber Cato blieb.
Nachdem er, wie die alten Schriftsteller melden, beim Scheine
der Lampe Platon's Buch Uber die Unsterblichkeit gelesen,
stürzte er sich in sein Schwert und verschied ruhig und heiter.
Utica war eine Neben-
buhlerin des in seiner Nach-
barschast liegenden Kar-
thago; es war neben dem-
selben und insbesondere nach
dessen Zerstörung durch
Scipio die an Größe,
Glanz und Ansehen bedeu-
tendste Stadt an der nord-
afrikanischen Küste, lieber
beide von Phöniciern ge-
gründete Pflanzstädte ist die
Geschichte mit furchtbar
eisernen Tritten hinwegge-
gangen, und von der einen
wie von der andern ist
nichts übrig geblieben, als
ein ungeheures Trümmer-
seld. Karthagos Lage war
stets bekannt, doch über jene
von Utica war man bis in
die neuere Zeit im Zwei-
sel. Dieser ist durch eifrige
Alterthumsforscher gelöst
worden, und wir können
uns heute ein genaues Bild
dieses einst so bedeutenden
Hafenplatzes entwerfen.
Utica lag in der Zengi-
tana regio, unweit vom
heutigen Tunis. Als Na-
poleon der Dritte sein Buch
über das Leben Julius Cä-
sar's schrieb, schickte er ei-
nen gelehrten Alterthums-
forscher, Herrn Daux, mit
dem Auftrage aus, die Lage
der alten Emporien in der
Zengis und in Byzacium
genau zu bestimmen, die
Pläne derselben aufzuneh«
men und nach Ueberbleibseln
aus dem Alterthume zu forschen. Eine Schilderung Uticas
hat Daux jüngst in „LeTour du Monde" (Nr. 590, April)
mitgetheilt. Aber vor ihm hat Baron Heinrich v. Maltzan
das Ruinenfeld von Utica genau untersucht und mit klarer
Übersichtlichkeit zur Anschauung gebracht (Reise in den
Regentschaften Tunis und Tripolis, Leipzig 1870, I, S.
316 bis 330). Wir folgen in der nachstehenden Darstel-
lung zunächst den Mittheilungen unseres gelehrten Lands-
mannes.
Jamjam periere ruinae.
Daux zog wohl ausgerüstet mit einem Geleitsmanne,
welchen der Bey von Tunis ihm gestellt, von Tunis aus,
um die Ruinen zn suchen, und schlug dann ein Zeltlager
inmitten derselben aus; Baron v. Maltzan benutzte den günsti-
gen Umstand, daß man jetzt von jener Stadt aus Reisen
von fünf- oder sechstägiger Dauer im Wagen zurücklegen
kann, während man früher lediglich auf das Reiten ange-
wiesen war. Er fuhr ganz
bequem uach den Rinnen
von Hippo und von Utica
an zahlreichen Olivenpflan-
znngen vorüber. So ge-
langte er an den Fluß
Medscherda; er ist der
Bagrades der Alten und
wird in der Geschichte der
finnischen Kriege häufig er-
wähnt. Dieser bedeutendste
Fluß der Regentschaft Tn-
ms ist nicht einmal schiff-
bar und sehr schlammig.
Das durch die sortgesetz-
ten Erdablagerungen ange-
schwemmte Alluvialland
füllt jetzt einen viel grö-
ßern Raum aus, als zur
Zeit der Pnnischen Kriege,
und dadurch ist Utica, das
damals Seehasen war, zn
einem Binnenorte gewor-
den, der über eine deutsche
Meile von der Küste ent-
sernt liegt.
lieber den Medscherda
ist in neuerer Zeit eine stei-
nerne Brücke gebaut wor-
den; jenseits derselben kommt
man in ein Hügelland und
bald auf die Ruinenstätte,
welche von den Arabern
als Bn Schatir bezeichnet
wird, nach einigen elenden
Hütten, die man kaun? als
Dorf bezeichnen kann. Auf
dem Trümmergefilde be-
merkt man einige arabische
Kobbas(Grabcapellen); die
Ein Tunese. Ruinen selbst, obwohl sie
so viel Interessantes dar-
bieten, fand Baron v. Maltzan, was ihre Erhaltung be-
trifft, „sehr enttäuschend; sie verdienen eigentlich nur den
Namen von Bauresten oder Fundamenttrünimern."
Der Hanpttheil derselben liegt auf einem länglichen von
Westen nach Osten hinziehenden und mehr und mehr sich
abflachenden Hügel und ist von einer sumpfigen Ebene um-
geben; iu dieser muß niau die Spuren der beiden Häsen
suchen, welche sie unter einander und mit dem nahen Meere
verbanden. Am Fuße dieses Hügels entdeckt man auf der
22
Auf den Ruinen von Utica.
nördlichen Seite eine sumpfige Vertiefung von rundlicher
Form, und sie kann noch heute zur Regenzeit das Bild eines
kleinen Sees gewähren. Mitten in diesem Sumpfe liegt
eine Insel, auf welcher man deutlich die Neste eines großen,
aus Quadersteinen errichteten Gebäudes unterscheidet. Diese
topographischen Grundzüge fand Herr von Maltzan genau
bei dem Kriegshafen von Karthago wiederholt, und er ver-
muthet (wie auch Daux thut), daß es sich bei demselben um
das Kothon von Utica und der auf feiner Insel liegenden
Admiralswohnung handelt. DerCanal selbst bildet nun
theils eine sumpfige Rinne, theils ein gänzlich ausgeflachtes
Bett.
Der höchste Punkt des erwähnten Hügels hat etwa 200
Fuß; die nordöstliche Spitze desselben ragt wie ein Borge-
birge in die sumpfige Niederung hinaus. Auf ihm wird
wohl die Citadelle der alten phönicifchen Colonie und der
spätem Römerstadt gestanden haben. Gegen Westen war
sie durch einen tiefen künstlichen Graben, auf allen anderen
Seiten durch den abschüssigen Felsen geschützt.
Dicht bei den Hütten von Bu Schatir sieht man die
deutlichen Reste eines Amphitheaters. Dasselbe war, ähnlich
wie die Arenen von Caglari auf Sardinien und'von Guelma
in Algerien, in dem Bette eines jener, fast immer trockenen
Gießbäche angelegt, die im Süden so häufig sind. Es war
zum Theil in den Fels gehauen, zum Theil ausgemauert.
Der letztere Theil ist verschwunden, der erstere von wildem
Strauchwerk überwuchert; aber das Gebäude ist durch die
elliptische Form des Terrains in seinen Umrissen deutlich
nachzuweisen. Ein Canal, welcher unter ihm nach dem
Hasen zu durchführte, war ohne Zweifel dazu bestimmt, die
Wasser des Gießbaches, dessen Bett das Amphitheater usur-
pirt hatte, zur Zeit der Regengüsse abzuleiten. Vielleicht
diente er auch, wie schon Davis vermuthet hat, dazu, um
das von einer etwas höher gelegenen Piscina limaria kom-
mende Wasser, nachdem man es in der Arena zu einer
Naumachie benutzt hatte, in demselben Hasen weiter zu füh-
ren. Am besten erhalten zeigen sich die nur wenige Schritte
vom Amphitheater entfernten Piscinae, deren noch sechs zu
unterscheiden sind; auch der Aquäduct, welcher diese Piscinen
speiste, ist noch zum Theil erhalten; derselbe war, je nach
Auf den Ruinen von Utica.
der Bodenbeschaffenheit, bald auf hohen luftigen Arkaden,
bald auf niedrigen Bögen angelegt, stellenweis auch unter-
irdisch. In der Ebene sind Reste eines römischen Brunnens. —
Karthago ist, wie Movers nachgewiesen hat, schon um
1214 bis 1233 vor Christus gegründet worden; aber die
zweite Gründung durch eine tyrische Colonie unter der fabel-
haften Königstochter Elissa fällt in das Jahr 813. Utica
ist 300 Jahre vor diesem zweiten Karthago gegründet wor-
den, etwa um 1100. Jedenfalls reicht die Stadt hoch
hinauf. Die Gründer von Utica scheinen Tyrier, jene
von Karthago Sidonier gewesen zu sein, und dieser Um-
stand erklärt die Rivalität der beiden Städte, welche manch-
mal in Feindschaft überging. Als aber drei Jahrhunderte
nach der Gründung Uticas sich auch in Karthago eine tyri-
sche Colonie niederließ, scheint das Verhältniß ein besseres
geworden zu sein. Selbst nachdem alle anderen Städte der
Küstenregion dem allmächtig gewordenen Karthago, der Me-
tropole, unterthan und zu sklavischem Gehorsam gezwungen
wurden, behielt Utica eine gewisse Unabhängigkeit und hatte
seinen eigenen Senat und selbsterwählte Snseten. Später-
hin verschwand jedoch auch dieser Schein von Freiheit und
Utica mußte der Nachbarstadt unbedingt gehorchen. Aber
es trug dieses Joch nur unwillig und versuchte mehr als
einmal, dasselbe abzuschütteln. Im Jahre 300 ergab es
sich dem kühnen statischen „Tyrannen" Agathokles; später-
hin erklärte es sich zu Gunsten der Söldner, welche sich
gegen Karthago aufgelehnt hatten. —
Wir wollen hier einige Bemerkungen einschieben. Alle
Zeugnisse der griechischen wie der römischen Schriftsteller
stimmen darin überein, den Nationalcharakter derKar-
thager in düsteren Farben zu schildern; sie waren von
mürrischem Wesen, finster, gehorsam gegen ihre Obrigkeiten,
hart gegen ihre Untergebenen, höchst grausam im Zorn, uu-
beweglich durch Schmerz oder Liebkosungen. So kennzeich-
net sie Plutarch, und Polybius, der diese Semiten gründlich
kannte, bemerkt, daß ihnen jede Handlung anständig er-
schien, welche Gewinn nud Vortheil brachte. Sie waren
ganz durchdrungen von jenem Schachergeist, welchen der hei-
lige Augustin den „Syrern", d. h. Juden, Phöniciern und
Syrern überhaupt, zum Vorwurf macht; diese alle seien be-
Die geographische Verbrei
sefsen von einer nisr-caturas vesania. Cicero bemerkt:
„Das ganze Alterthum und die ganze Geschichte lehren, daß
der phönicische Menschenschlag voll Betrug steckt. Ihre Nach-
kommen, die Punier (Karthager), haben durch die vielen von
ihnen verletzten Verträge bewiesen, daß sie nicht anders ge-
worden sind." (Punica fides.)
Karthago war ein kaufmännisch-aristokratischer Stadt-
staat; er hatte also die schlechtestmögliche Verfassung, die sich
denken läßt. Es hatte kein Um- und kein Hinterland, und
mußte seine Kriege deshalb mit Söldnerheeren führen, welche
punische Offiziere hatten. Die Karthager verfuhren geradezu
abscheulich gegen ihre Miethtrnppen. Als eine Schaar der-
selben wegen schlechter Behandlung meuterisch wurde, ließ
man sie auf einer der liparischen Inseln buchstäblich ver-
hungern. Himilko ließ in Spanien ein ganzes Heer der-
selben im Stiche nnd erkaufte den Rückzug lediglich für sich
und seine Karthager. Wir haben dafür das Zeugniß Dio-
ng der thätigen Vulcane. 23
dor's, und aus Polybius, Livius und Strabo könnten wir
noch viele andere Beispiele anführen. —
Um wieder auf Utica zurückzukommen, so bewahrte das-
selbe im zweiten punischen Kriege den Karthagern die Treue,
aber zu Anfang des dritten punischen Krieges ergab es sich
gern den Römern; zum Lohne dafür wurde es 146 v. Chr.
zur Hauptstadt der Proconfularis erhoben. Als das Christen-
thum eingedrungen war, hatte es, von 255 n. Chr. an,
eigene Bischöfe; der elfte derselben wurde von den Arabern
683 verjagt. An Wundern fehlte es auch nicht. „Im großen
Martyrologium besitzt Utica den nicht geringen Ruhm,
die sogenannten Massa Candida hervorgebracht zu haben.
Diese Massa Candida waren dreihundert Märtyrer, deren
Glorie die Kirche unter diesem seltsamen Namen: der wei-
ßen Schaar oder richtiger weißen Masse, celebrirt. Ich
fürchte nur, die Erinnerung an Cato werde lange die der
Massa Candida überdauern."
Die geographische
Vulcane der Südsee
Das Festland von Australien besitzt keinen activen Vul-
cau; eben so wenig die große Insel Nen-Guinea, und was
von dieser wiederholt über thätige Feuerberge berichtet wurde,
beruht auf Jrrthum. Aber gleich auf den nordöstlich davon
gelegenen Inseln beginnt die vnlcanische Zone Mela-
nesiens, die sich noch bis zu den polynesischen Schiffer-
inseln fortsetzt. In der Dampierstraße erhebt sich zunächst
der schön kegelförmige Jnselvulcan Dampier. Als dieser
Seefahrer ihn am 34. März 1570 entdeckte, „spie er jede
Nacht erstaunlich viel Feuer und Rauch, und bei jedem Auf-
stoßen hörte man einen furchtbaren Lärm, wie Donner, und
erblickte darauf die furchtbarste Feuerflamme." D'Entre-
casteanx fand 1793 die Insel in Rauch eingehüllt, als aber
D'Urville im August 1827 vorbeikam, war der Krater voll-
ständig erloschen. Der Vulcan ist 2300 Fuß hoch, sein
Krater liegt an der Südseite. An der Westspitze Nen-Bri-
tanniens (Biraras), zwischen dieser und der Rnkinsel, erhebt
sich unter 6°20' nördl. Br. und 148° 10' östl. L. v. Gr.
ein nnbenannter 2500 Fuß hoher Jnselvulcan aus dem
Meere, der beständig raucht*). Er ist erst seit Kurzem be-
kannt geworden und der Vorläufer der Vulcane Neu-Bri-
tanniens, von denen drei Kegel noch jetzt in Thätigkeit
sich befinden sollen. Die vnlcanische Reihe setzt im Bogen
durch die Salomonen nach dem Santa-Cruz-Archipel.
Hier begegnen wir der Insel Tinakoro (10°23' südl. Br.
und 1550 östl. L. v. Gr.), deren 2500 Fuß hoher Vulcan
beständig in Thätigkeit ist, und dem Mendanavnlcan,
der überführt nach den NeuenHebriden. Ambym(2500
Fuß) hat einen thätigen Vulcan, ebenso Tanna. Diese
Insel besitzt zahlreiche heiße Quellen, und der regelmäßig
auspuffende Vulcan erfüllte die Luft mit einem Schlamm-
und Aschenregen, als Cook ihn auf seiner zweiten Reise ent-
deckte. Südlich von Tanna finden wir den 465 Fuß hohen
isolirten Jnselvulcan Matthew, der auch ein thätiger Feuer-
*) Salcrio in Pctcrmann's Mitteilungen 1862. S. 342.
der thätigen Vulcane.
und Südpolarländer.
speier ist. Bon hier bis zum Dampiervulcan an der Küste
Nen-Guineas zeigt die melanesische Vulcanreihe eine deutlich
geschwungene Curve, deren convexe Seite nach Nordost ge-
richtet ist.
Die übrigen vulcauischen Inseln der Südsee lassen sich
nicht so in Reihen ordnen, wie die melanesischen. Die Sa-
moa-Jnseln (Navigatoren) zeigen jetzt noch Ausbrüche.
Der Kraterberg auf Upolu, der Tofua, erreicht eine Höhe
von 2000 Fuß; er hat lange keine Ausbrüche gehabt, aber
dicht dabei war auf Savai die Thätigkeit des Mauna-Mu
vor 200 Jahren noch nicht ausgestorben. Nur die zeitwei-
lig vorkommenden Erdbeben ließen auf den Samoa-Jnfeln
ahnen, daß die Periode der vnlcanischen Erscheinunojen noch
nicht ganz vorüber war. Um so auffallender mußte ein un-
termeerischer Ausbruch im September 1866 in der Meerenge
zwischen Olesinga und Manna erscheinen, den uns Eduard
Gr äffe nach den Aufzeichnungen eines glaubwürdigen Augen-
zeugen, Prescott, mitgetheilt hat*). Erdbeben gingen voran,
dann erkannte man am 12. September Dampfwolken im
Meere, Rauch- und Dampfwolken, mit Asche und Bimsstein
vermischt, stiegen mit Donnergetöse aus dem Meeresschooße
auf; die Ausbrüche wiederholten sich mit kurzen Zwischen-
räumen, das Meer wurde schlammig. Immer mehr nah-
men sie zu; ein blitzartiges Leuchten zuckte über der Stelle.
Die Ausbruchsäulen erreichten eine Höhe von über 1000
Fuß. Erst am 15. November waren die Eruptionen zu
Ende, die volle zwei Monate gedauert hatten.
Die Fidschi- und Marquesasinseln, wiewohl vulcanisch,
haben keine thätigen Vulcane; dasselbe ist mit den Bonin-
inseln der Fall, und die thätigen Vulcane der nördlichen
Marianen erscheinen zweifelhaft (?). Dagegen sind Neu-
feeland und die Sandwichinseln zwei unzweifelhafte Centren
vulcauischer Thätigkeit.
Sehr thätige Vulcane finden wir auf den Sandwich-
*) „Ausland" 1867, S. 522.
24
Die geographische Verbreitung der thätigen Vulcane.
inseln, drei allein auf der größten derselben, der Insel Ha-
waii. Wir haben von dieser Insel und den vulcanischen
Erscheinungen derselben sehr genaue Schilderungen, beson-
ders von dem Amerikaner Brigham. „Es sind Vorzugs-
weise zwei Punkte, an welchen sich dieselben concentriren,
der Manna Loa, der höchste Berg der Insel, 12,900 Fuß
hoch, und der Kilauea, der eigentlich nur als ein niedriger
Seitenkegel des erstem anzusehen ist. Letzterer zeigte im
Jahre 1789 die erste Eruption, durch welche eine Menge
Einwohner umkamen, und blieb seitdem in ungemein lebhas-
ter Thätigkeit. Die erste Schilderung davon verdanken wir
Ellis, der ihn im Jahre 1823 besuchte und also schildert:
Unmittelbar vor uns gähnte ein furchtbarer Schlund in Halb-
mondform von über zwei englische Meilen Länge, eine Meile
Breite und 800 Fuß Tiefe. Der Grund war mit Lava
angefüllt und der südwestliche und nördliche Theil waren eine
ausgedehnte Fluth flüssigen Feuers im Zustande erschreck-
lichen Wallens. 51 Krater ragten wie Inseln von ver-
schiedener Form und Größe aus dem Feuersee hervor; 22
derselben stießen fortwährend Säulen grauen Rauches aus
oder Pyramiden leuchtenden Feuers, und viele derselben spien
gleichzeitig aus ihrem feurigen Munde Massen flüssiger Lava,
welche in schäumenden Strömen an
den schwarzen Abhängen hinfloß und
sich mit der siedenden Masse an ih-
rem Fuße vereinigte. Die Wände
vor uns sielen senkrecht 400 Fuß tief
ab bis auf ein horizontales Lager von
fester schwarzer Lava, unter welcher
die Wände dann wieder der Schätzung
nach 400 Fuß tief abfielen. Das
obere Lavabett hatte sich offenbar durch
Canäle in die Tiefe entleert. Der
Anblick bei Nacht, nachdem sich die
Nebel und dunkeln Wolken verzogen
hatten, war wunderbar. Die bewegte
Masse flüssiger Lava, wie ein See
von geschmolzenem Metall, tobte
wüthend. Die lebendige Flamme, die
über die Oberfläche hintanzte, leuch-
tete im Schwefelblau oder Stroutiau-
roth und warf eiu magisches Licht
auf die Krater, welche zeltweife unter heftigen Detonationen
kugelige Massen geschmolzener Lava und hellglühende Steine
emporschleuderten." Auch die Thätigkeit des Mauna Loa
ist erst neuern Datums; die erste bekannte Eruption fand
im Jahre 1832 statt, seitdem ist eine ziemliche Anzahl sehr
heftiger erfolgt, die letzte begann Ende März 1868.
Die beigegebene Figur erläutert den Krater des Kilauea.
Der Lavasee bildet eine mittlere Vertiefung (jpp in der Fi-
gur), über welche sich eine scharf abgeschnittene Terrasse von
110 Meter Höhe erhebt, welche den Treppenabsatz on o' in!
bildet, hierauf folgt ein zweiter Absturz von 220 Meter
Höhe, der die äußere Terrasse mm! bildet. Je nachdem der
Lavasee höher oder tiefer steht, erfüllt er die eine oder an-
dere dieser Terrassen, und zuweilen entleert er sich durch
Ausbrüche, welche indessen nur selten von Erdbeben begleitet
sind, sondern im Gegentheil fast ruhig vor sich gehen, indem
Spalten an der Seite des Berges sich öffnen, durch welche
die Lava ihren Abzug iu die auf der Figur (Grundriß) kennt-
lichen Seitenbecken nimmt.
Neuseelands vulcanische Natur ist durch Ferdinand
von Hochstetter hinlänglich erforscht*). Die Nordinsel
zeigt drei vulcanische Zonen: bei Anckland, um den Taupo-
Plan und Durchschnitt des Kraters von Kilauea.
*) Reise der Fregatte „Novara". Geologischer Theil. Wien 1864.
see herum und am Berg Egmont. Auf dem engen Jsth-
mus von Aucklaud wies Hochstetter 63 selbständige Aus-
bruchstellen nach, sämmtlich kleine 300 bis 600 Fuß hohe
Krater, die durch Ausschüttung entstanden sind. Unter die-
scn ist der Rangotito, wie Hochstetter bemerkt, für den Hafen
von Aucklaud, was der Vefuv für die Bai von Neapel, das
Wahrzeichen. „Obwohl ein unbedeutender Hügel (920 Fuß
hoch) im Verhältniß zu den Gerüsten großer thätiger Vul-
cane, zeichnet er sich doch durch seine außerordentlich charak-
teristische Gestalt aus. Der Maoriname Rangitoto bedeutet
wörtlich „blutiger Himmel", er wiederholt sich auf Neusee-
laud noch mehrmals und läßt sich vielleicht auf vulcanische
Feuererscheinungen beziehen, etwa auf den blutrothen Wie-
derschein feurig-flüssiger Lava am nächtlichen Himmel. In
diesem Sinne wäre er denn gleichbedeutend mit dem malayi-
schen Gunong Api, d. h. Feuerberg, und man dürfte vielleicht
schließen, daß die Eingeborenen den Berg in früheren Jahr-
Hunderten noch in voller Thätigkeit kannten und dadurch zu
jenem Namen veranlaßt wurden. Jedenfalls hat der Ran-
gitoto ein äußerst recentes Ansehen."
Ueber allen Zweifel erhaben ist die Thätigkeit des Ton-
gariro, dem wir („Globus" XIX, S. 225) eine ausführliche
mit Abbildungen begleitete AbHand-
luug gewidmet haben. Er hatte bis-
her nur Asche, Dampf und Gase aus-
gestoßen, im April 1870 aber zum
ersten Male einen Lavaausbruch ge-
habt. Der Mount Egmont, an der
Südwestspitze der Nordinsel, welche
2695 Meter hoch ist, und der von
Dieffenbach erstiegen wurde, besitzt
gleichfalls einen Krater.
Endlich sind uns thätige Vulcane
in den Südpolarländern bekannt;
wie Jan-Mayen die thätigen Vul-
caue in hohen nördlichen Breiten re-
präsentirt, so die von Roß entdeckten
Feuerberge Erebus und Terror in
hohen südlichen Breiten. Ein Be-
gleiter von Capitän Roß auf seiner
Expedition nach diesen Gegenden (Mac
Cormick) beschreibt kurz deren Ent-
Januar 1841 unter 71° südl. Br.
Gr. wurde der antarktische Conti-
nent zum ersten Male wahrgenommen. Eine Bergkette
mit unzähligen Gipfeln, gruppenweise vereinigt und mit
ewigem Schnee bedeckt, erschien über dem Meere, wunder-
bar in der Sonne glänzend. Ein spitzer Berg, ähnlich
einem Ungeheuern Bergkrystall, erhob sich bis zu einer Höhe
von 7600 Fuß, ein anderer bis 8800 und ein dritter bis
zu 9200 Fuß. An seiner Seite stiegen über Schichten von
Eis Ströme von Lava und Basalt bis an die Küste herab,
wo sie in steilen Vorgebirgen endigten. Am 28. entdeckte
man unter 77° südl. Br. und 167° östl. L. den Berg Ere-
bus, einen brennenden Vulcan, eingehüllt in Eis und Schuee
vom Fuße bis zum Gipfel, von dem 'eine Rauchsäule sich
erstreckte Uber eine große Zahl anderer Kegel, mit denen
diese merkwürdige Gegend angefüllt ist. Die Höhe dieses
Vulcaues ist 12,300 Fuß, während der Terror, ein erlösche-
ner Krater, eine Höhe von 11,000 Fuß erreicht. In etwas
niedrigerer Breite hat Vellinghausen an der Küste von Alexau-
derslaud unter 69° und Balleny unter 66° aus derAoungs-
insel einen Vulcan gefunden.
Auch eine der Inseln von Südschetland zeigte einen mit
dem Meere in Verbindung stehenden Krater, ebenso hat die
nordöstlich davon liegende Insel Sawadoski einen noch dam-
deckuug.
und 171°
„Den 11.
östl. L. v.
Netschwolodoff's Reisen ci
pfeuden Vulcan, so daß also wohl auch in diesen so wenig
bekannten Ländern eine ziemlich große Anzahl von Vulcanen
angenommen werden kann.
Bei der noch so unvollkommenen Kenntniß, die wir von
großen Strecken der Erde bis jetzt haben, ist es außerordent-
lich schwer, die Zahl der noch gegenwärtig thätigen Vulcane
näher zu bestimmen. Dazu kommt noch der Umstand, daß,
wie schon früher erwähnt wurde, die Unterscheidung zwischen
einem erloschenen und thätigen Vulcane eine höchst unsichere
Sache ist. A. v. Humboldt hat im vierten Bande seines
„Kosmos" eine Zusammenstellung der Art vorgenommen, daß
er neben die Zahl der als thätig ausgegebenen Vulcane der
verschiedenen Länder diejenige setzte, welche angiebt, wie viele
derselben in neuerer Zeit Zeichen von Thätigkeit gegeben
haben. Von ersteren findet er 407, von letzteren 225. Beide
Zahlenreihen sind natürlich fortwährenden Aenderuugeu un-
terworfen; so führt Humboldt in Centralamerika in der
ersten Reihe 29 auf, während jetzt nach den neueren Reisenden
50 nicht zu hoch gegriffen sein dürfte. Wir können daher
die von Manchen angenommene Zahl von 500 Vulcanen
auf der Erde als eine der Wahrheit wohl nahe kommende
dm Grenzen der Dsungarei. 25
betrachten. Ein flüchtiger Rückblick auf die vorhergehende
Ueberficht der geographischen Verbreitung der Vulcane zeigt
ihre außerordentlich ungleiche Vertheilnng über die Ober-
stäche der Erde. Der alte Continent, Europa, Asien und
Afrika, sind äußerst arm an thätigen Vulcanen. Am groß-
artigsten zeigt sie sich in einem großen Bogen, der den Stil-
len Ocean rings umgiebt und einen einzigen Vnlcanengürtel
darstellt, welcher sich von Feuerland längs der Westküste
Süd- und Nordamerikas über die Aleuten auf die Halbinsel
Kamtschatka fortsetzt, und von da auf die ostasiatischen In-
seln übersetzend, sich bis zum Golf von Bengalen verfolgen
läßt. Die Zahl der aus diesem Gürtel und in dem Großen
Ocean selbst in neuerer Zeit noch thätigen Vulcane beträgt
nach A. v. Humboldt sieben Achtel von der Gesammtzahl
derselben.
Noch eine andere Thatsache ergiebt sich bei diesem Rück-
blicke, nämlich die, daß mit höchst geringen Ausnahmen alle
Vulcane auf Inseln oder auf den Küsten der Festländer nahe
dem Meere liegen; 30 bis 40 geographische Meilen Ab-
stand ist das Maximum, was beobachtet wird.
Netschwolodoff's Reisen an den Grenzen der Dsnngarei.
i.
Seit etwa einem Jahre haben die Russen nun auch in
der Dsnngarei festen Fuß gewonnen. Sie besetzten die
wichtigste Stadt des Landes, Kuldscha, im Juli 1871, und
erklärten das Land des Sultans für einen Theil ihres Ge-
bietes der sieben Flüsse (Ssamirjetschenskaja Oblasti). So
rücken sie weiter und immer weiter nach Osten vor, nehmen
einen wichtigen Handelsplatz nach dem andern ein und be-
herrschen nun völlig den ganzen innerasiatischen Verkehr.
Die Dsungarei war bis vor Kurzem eine Provinz des
chinesischen Reiches, und wurde amtlich als Thian schan
pe lu, Land im Norden des Himmelsgebirges, bezeichnet.
Dieses Thian schan bildet die Südgrenze und erhebt sich als
Scheidewand gegen Ostturkestan; im Norden erhebt sich der
Altai, nach Osten liegt die Mongolei, im Westen das schon
seit längerer Zeit russische Jligebiet mit dem Balchasch-See;
es liegt zwischen 41° 30' und 48° 40' Nord. Das Reich
der Dsungaren zerfiel und 1754 nahm der chinesische Kaiser-
Besitz von dem ausgedehnten Lande, in welchem erBesatzun-
gen unterhielt, Steuern erhob und wohin Verbrecher, nament-
lich auch solche, die in politischer Beziehung für gefährlich
galten, verbannt wurden. Die Bevölkerung ist sehr gemischt,
die Mehrzahl besteht aus Dsungaren; im Norden ziehen Kir-
gisen umher; in den Garnisonen standen Ostmongolen und
Mandschu, in den Städten hatten, neben den Sarten, sich
auch Chinesen niedergelassen; dazu kamen Handelsleute aus
Indien, Kaschmir und Turkestan. Die Chinesen wurden
durch die im Lande sehr zahlreichen Mohammedaner oftmals
beunruhigt, und 1827 wurde eine große Rebellion nur mit
Mühe unterdrückt; die Dung aneu, d. h. diejenigen Tur-
kestaner, welche sich mit Chinesen vermischt und Vieles von
den Sitten und Gebräuchen der letzteren angenommen hatten,
aber eifrige Mohammedaner waren, vertrieben die kaiserlichen
Truppen und rissen die Herrschast an sich. Diese ging dann
im Jahre 1867 an die Tarantschen über, d. h. Leute von
ungemischter turkestanischer Abkunft, welche nun die gebie-
Globus XXII. Nr. 2. (Juli 1872.)
tende Classe bildeten bis zum 22. Juli 1871. An diesem
Tage eroberten die Russen Kuldscha und Sultan Abil
Ogln mußte dem Thron entsagen.
Nachdem die Russen einmal das Land der sieben Ströme
im Osten des Balchasch-Sees in Besitz genommen und dort
Festungen gebaut hatten, war es klar, daß sie auch den West-
liehen Theil der Dsungarei sich aneignen würden. Aus
demselben erhält der eben genannte See seine wichtigsten
Zuflüsse, z.B. den Jli; von dort kommt der Tfchuij und der
obere Jrtysch fließt in den Dsaisang-See; über das Tarba-
gatai-, d. h. Murmelthiergebirge, führen bequeme Pässe zum
dsungarischen Plateaulande.
Wir haben im „Globus" oftmals darauf hingewiesen, daß
die Politik der Russen in Jnnerasien eine weitsehende, im
Voraus gut berechnende, langsam aber sicher vorschreitende
ist. Sobald sie den richtigen Zeitpunkt gekommen glaubt,
führt sie dann den entscheidenden Schlag. So war es in
Ostturkestan und so in der Dsungarei. Nachdem diese von
China sich getrennt hatte, brachen innere Zwistigkeiten und
Fehden aus, welche dem mächtigen Nachbar geradezu in die
Hände arbeiteten.
So lange die Chinesen Gebieter waren, hielten sie die
Grenze gleichsam gesperrt und legten dem Handelsverkehr-
alle möglichen Hindernisse in den Weg. Ueber die früheren
Verhältnisse giebt Netschwolodoff's Erzählung ergötzliche Nach-
richten; sie stammen aus der Zeit, als nW) der Kaiser des
Blumenreiches der Mitte für den Herrn im Lande galt.
Wir wollen dieselbe durch Bemerkungen ergänzen, welche
geeignet sind, einen Einblick in ganz eigentümliche Verhält-
nisse zu gewähren.
In Peking hatte man nach und nach begriffen, daß ein
unbedingtes Ausschließungssystem an der vom Reichskörper
weit entfernten Grenze nicht ferner aufrecht zu erhalten fei,
und machte einige Zugeständnisse. Die Russen waren ja
nun doch ein für alle Mal Herren des Landes am Jli und
4
26 Netschwolodoff's Reisen a
am Balchasch, und so gewählte man, daß sie (seit 1852) in
Kuldscha, sodann in der gleichfalls wichtigen Handelsstadt
Tschugutschack Consnlaragenten und Dolmetscher halten durf-
ten. Ehemals mußte bekanntlich der ganze Handelsverkehr
zwischen Sibirien und dem chinesischen Reiche in Kiachta
vermittelt werden, die Übrigen Grenzen zwischen den beiden
kolossalen Reichen waren in ihrer ganzen Ausdehnung geschlos-
sen. Nur ausnahmsweise und in höchst seltenen Fällen
konnten sie überschritten werden. Das geschah, wie das
Beispiel Putimstes's beweist, in eigenthümlicher Weise;
dieser Kaufmann erschien im Jahre 1811 von Tana aus,
um nach Tschugutschack eine Ladung Waaren dorthin zu brin-
gen. Ein Russe hätte die Grenze nicht Passiren dürfen;
der chinesische Gouverneur verstand sich indeß zu der siugir-
ten Annahme, daß Putimstef von Seiten einiger kirgisi-
schen Sultane mit Handelsgeschäften beauftragt worden
sei, und ließ ihn ruhig weiter ziehen. Seit 1852 sind, wie
schon gesagt, solche Beschränkungen gefallen.
Erst im Jahre 1866 haben wir durch Prinz und Krit
specielle Nachrichten über die Art und Weise erhalten, in
welcher der Handel an der Ostseite des Altai zur chinesischen
Zeit betrieben wurde. Dort lagen in einer Entfernung von
3 bis 6 deutschen Meilen viele Wachtposten, deren Besatzung
aus mongolischen Soldaten bestand. An einem derselben,
Sujok, durfte seit 1848 ein Waarenanstausch stattfinden;
zuerst periodisch auf einem Jahrmarkte, dann aber ohne wei-
tere Zeitbeschränkung. Die russischen Händler hatten bei
dem Posten Koschoogatsch Buden und Hütten aufgeschlagen,
an der Mündung des Tschagau Burgask in die Tschuija,
etwa 80 deutsche Meilen von der sibirischen Stadt Biisk,
die an der Bija, südöstlich von Barnaul, liegt. Von Biisk
aus hatten sie auf einer Strecke von etwa 60 Meilen be-
schwerliche Reitwege und gefährliche Gebirgsübergänge, bis
sie zu den „Russischen Buden" gelangten. Sie mußten
namentlich viele Bome passiren. Dieses kalmückische, von
den Russen angenommene Wort bezeichnet einen überhän-
genden Felsen, welcher ein Flußbett einengt und nur einen
schmalen Pfad zwischen Gestein und Wasser übrig läßt;
solche Steige liegen oftmals in fürchterlicher Höhe hart am
Rande eines Abgrundes. Manchmal müssen die Reiter
absteigen, die Saumpferde abgeladen und die Waarenballen
von Menschen getragen werden. Zuweilen aber kann man
in keiner andern Weise fortkommen, als daß man die Pferde
vermittelst der Arkany, d. h. Wurfschlingen, hinter sich her
schleppt. Trotz aller dieser Schwierigkeiten brachten die rus-
sischen Kausteute alljährlich mehrere Waarentransporte an
die Tschuija. Der Handel fand etwa sechs deutsche Meilen
von den Buden entfernt statt, bei der Quelle der Braja.
Zum russischen St. Peterstag erschien allemal eine Abthei-
lung von 120 Mann zumeist mongolischer Soldaten auf
dem Handelsplatze. Sie legten an den Quellen des Argut
ein Katschagatsch nieder, d. h. ein kleines Brett mit
einer Inschrift, welches die Grenze bezeichnete. Die Aus-
legung solcher Zeichen ist uralt; die Chinesen glauben, daß
die Grenzen ihres Reiches ungefährdet seien, so lange solch
ein Brett unangetastet und unverändert bleibt; deshalb wird
es insgeheim und geheimuißvoll an Ort und Stelle gelegt.
Der Jahrmarkt dauerte gewöhnlich zehn Tage; mon-
golisch bezeichnete man ihn als Tscherü, d. h. ein Heer.
Welches waren die Gegenstände des Austausches? Die
Russen brachten baumwollene Stoffe und wollene Tuche,
Juchtenleder, Waaren aus Guß- und Schmiedeeisen, Ga-
lanteriewaaren, Spiel- und Drehorgeln; dagegen gaben die
Mongolen Murmelthierfelle, Ziegelthee, Messer, Feuerstahl,
Tabackspfeifen, Tabacksdosen und Seidenzeuge. Beide Theile
schlugen Zeltlager auf. Genau einen Monat später fand
: den Grenzen der Dsnngarei.
ein zweiter Markt statt, den man als Kalan bezeichnete;
dann wurden die mongolischen Truppen abgelöst. Die
Soldaten traten als Kaufleute auf; sie erhielten ihre
Handelswaren aus Kobdo. Diese wichtige Stadt liegt
am rechten Ufer der Bajanta, etwa 40 deutsche Meilen von
der Tschuija entfernt; die Straße zwischen beiden Punkten
wurde von Kjas, d. h. mongolischen Beamten bewacht,
welche derselben entlang in Stationen wohnten. Die Sol-
daten bekamen die Gegenstände, welche sie verkauften, theils
als Löhnung, theils von Kobdoer Kaufleuten in Commission,
und es ging Alles so redlich her, daß die Russen willig auf
ein Jahr Credit gaben. Den chinesischen Handelsleuten war
es von ihrer Regierung verboten, jenen Handelsplatz zu be-
suchen; sie bedienten sich deshalb der Soldaten als Vermitt-
ler. Die Russen kauften durchschnittlich im Jahre an
300,000 Murmelthierfelle (Ssnrki) ein, welche sie
dann auf die berühmte Messe zu Jrbit im westlichen Sibirien
bringen. Von dort gehen sie nach Europa und werden durch
Zubereitung und Färbung den Jenottensellen ähnlich ge-
macht; sie bilden einen nicht unbeträchtlichen Handelsartikel.
-i-
* *
Wir wollen nun Netschwolodoff's Bericht mittheilen.
Vor mehreren Jahren erhielten wir ein Manuscript aus
St. Petersburg, ohne Begleitschreiben und Namen des Ein-
senders, und mit der Schlußbemerkung, daß die Fortsetzung
folgen werde. Eine solche ist uns nicht zugekommen und
der Einsender war nicht zu ermitteln. Er scheint ein wissen-
schaftlich gebildeter Mann zu sein, der mit Rußland und
Sibirien wohlbekannt ist. Wie sich aus seinem Aufsatze er-
giebt, bekam er die Reisenotizen von Herrn Netschwolodoss
in der Stadt Kasan.
Wir waren bekanntlich kaum in die zweite Hälfte des
laufenden Jahrhunderts eingetreten, als Rußland bei seinem
energischen Vordringen in Asien überhaupt (das noch keine
Macht der Erde aufgehalten hat, wohl auch nicht aufhalten
wird) seine selbst noch junge Grenze im Südosten der sibiri-
schen Gouvernementsstadt Omsk, oder näher bezeichnet in
Transilien, noch im Bereiche der großen Kirgisenhorde, um
etwa 100 Werst vorwärts rückte, die Festung Wärnoje,
d. h. die treue Festung, anlegte, um damit in nicht zu
verkennender Weise die Einwohner der gedachten Horde gegen
die Einfälle ihrer raubgierigen Nachbaren, jener Kirgisen
zu schützen, welche man die Stämme der wilden Felsgebirge,
auch die schwarzen Kirgisen zu nennen pflegt. Nicht un-
wahrscheinlich indeß auch, daß die russische Regierung mit
der Anlage der Festung Wärnoje noch den weitern Zweck
verfolgte, die Handelsbeziehungen ihrer jugendlichen trans-
ilischen Ansiedelungen vorzugsweise mit dem chinesischen
Platze Knldscha sicherzustellen, wo auf Grund eines im
Jahre 1852 zwischen Rußland und China abgeschlossenen
Vertrags bereits ein russisches Cousulat und eine Factorei
errichtet worden waren.
Wer eine Reise nach Asien unternimmt und den beque-
men Weg mittelst Eisenbahn über Moskau, Wladimir nach
der Weltmeßstadt Nischui einschlägt, dann zunächst wolga-
abwärts, später kamaanswärts eines der täglich mehrmals
über Jelabuga, Sarapul bis Perm gehenden Dampfschiffe
benutzt, wird wohl in jedem Falle, selbst bei eiliger Reise,
in Kasan Halt machen, nicht sowohl um die alte Tataren-
Hauptstadt zu sehen oder wiederzusehen, in die man für einige
Silbergroschen von den Restaurationen am Wolgaufer nach
kaum dreiviertelstündiger Droschkenfahrt gelangt, sondern
weil es, trotz der 45,000 Tataren, die in und an ihr woh-
nen, eine gar freundliche Stadt mit vorzugsweise gebildeter
Die Stadt Denver im
Bevölkerung ist, weil man sich da namentlich in der Nähe
des Universitätsgebäudes und des Theaters, wie nicht min-
der in den Ladenreihen der Woskresenska-Ulize, d. h. Sonn-
tagsstraße, fast beinahe so heimisch fühlt, wie in irgend einer
hübschen Stadt des Westens. Wie Anderen, so ging es
auch mir mit Kasan. Ich hätte um keinen Preis vorbei-
dampfen können und wurde dafür reichlich belohnt. War
es mir auch nicht vergönnt, einen der drei Gebrüder Ney
aus Nürnberg wieder zu sprechen, die sich in früheren Iah-
ren durch ihre herzige Gastfreundschaft das treueste Andenken
bei so vielen Reisenden gesichert haben, war auch Artemieff,
der Forscher von Tscheboksar und ehemalige, liebenswürdige
Wegweiser in der Universitätsbibliothek von dannen gezogen,
so erfreute mich doch Grigorowitfch, der auch Nichtslaven
bekannte Sprachforscher, mit einem mehrstündigen Besuche
in meiner immerhin gemüthlichen Hotelclause. Die Haupt-
sache aber: im Hause des Vicegouvernenrs Modest von Co-
niar lernte ich den mit Wenukoff und anderen berühmten
russischen Geographen persönlich bekannten Stabscapitän
Dmitri Alexandrowitsch Netschwolodoff kennen, der, da-
mals als Adjutant des Gouverneurs, bei seiner Beobachtnngs-
gäbe und seinen bereits gemachten Erfahrungen wohl wenig
am rechten Platze, mir, fobald er hörte, daß ich, im fernen
Osten früher zu Hause, mich abermals auf einer Reise nach
Sibirien befand, mit Zuvorkommenheit von feinen mühfeli-
gen, aber um so reizenderen Wanderungen an der chi-
nesischen Grenze erzählte, als das Interessanteste aber
selbst seine Reise nach Kuldscha bezeichnete.
Aus dem Bereiche der großen Kirgisenhorde, so berichtet
er, führt der Weg nach Kuldscha an den Abhängen des dsnn-
garischen Ala-Tau hin, und der Punkt, von welchem aus
der Weg beginnt, heißt Piket Koxn, welches sich auf der
von der Stadt Kopal nach der Festung Wärnoje führen-
den Straße am Flusse gleiches Namens befindet. Anfangs
geht der Weg gegen Südost in wenig ansteigenden Thälern
hin; allmälig indeß wendet er sich gegen Osten und steigt
auf außerordentlich felsigem Grunde aufwärts. Etwa 33
Werst vomKoxu trifft man den Gebirgspaß Jugan-Taß,
Territorium Colorado. 27
eine die Gewässer scheidende Schlucht, von denen ein Theil
in den Jli, der andere in den Kntal fällt. Vor Alters
hatten die Karawanen der Kalmücken die Gewohnheit, beim
Durchgange durch den Paß Jugau-Taß auf jede Seite je
einen Stein hinzulegen, gleichsam als eine Gabe für den
Berggeist; dergestalt haben sich aus der Höhe der Schlucht
förmliche Thore gebildet, die bis auf den heutigen Tag ihre
religiöse Bedeutung nicht verloren haben; fo reißen sich z. B.
die hier durchkommenden, nomadisirenden Kirgisen Theile
ihrer Kleidung ab uud stopfen sie mittelst ihrer Piken zwi-
schen die aufgehäuften Steine.
Der sich dem Jugan-Taß nähernde Reisende merkt bald,
daß die Luft rauher, am Passe selbst die Kälte empfindlicher
wird, in den Nächten, selbst mitten im Sommer, fällt hier
nicht selten Schnee. Hinter dem Gebirgspässe tritt man in
ein ziemlich langes Thal; rechts und links ist es von felsi-
gen, aber unbeträchtlichen Höhen eingeschlossen; eine von
diesen reicht einmal mit zugespitztem Fuße so weit in das
Thal herein, daß ihr die dort herumziehenden Anwohner den
Namen Kuß-Muruu, d. h. Vogelschnabel, gegeben
haben. Diese Stelle bezeichneten dieKirgisen als die Grenze
zwischen China und Rußland, und diejenigen von
ihnen, welche jenseits des Kuß-Muruu Weideplätze benutzen,
zahlen regelmäßig die Abgabe dafür an eine chinesische Be-
Hörde.
Etwa zehn Werst weiter von diesem natürlichen Grenz-
punkte gelangt man zur Schlucht Karasai, und fünf
Werst lang führt nun ein schmaler Weg an einem äußerst
steilen AbHange hin. Zu beiden Seiten der Schlucht ge-
wahrt man nichts als nackte, gerade aufsteigende Felswände,
deren Gipfelmassen immer von Neuem mit Herabsturz dro-
hen. Die Pferde suchen sich mißtrauisch ihre Stellen aus,
gleiten langsam an den glatten Steinen hin und erschrecken,
wenn einmal ein Gebirgshaselhuhu furchtlos Unter ihren
Füßen vorflattert. Ringsum in dieser Wildniß tiefe Stille,
die nur das von der Anstrengung zum Hinfallen müde, den
Hals weit ausstreckende und vorsichtig fortschreitende Kameel
bisweilen mit wildem Schrei unterbricht.
Die Stadt Denver im
Es ist von hohem Interesse zu beobachten, wie in den
Vereinigten Staaten von Nordamerika der ehemalige „weite
Westen", die „große amerikanische Einöde" der früheren
Karten sich mit Ansiedlern füllt. Das ganze Land vom
Atlantischen bis zum Großen Ocean ist nun in Staaten
und „organisirte Territorien" getheilt. Diese letzten liegen
sämmtlich im Westen des Mississippi und Missouri, theils
im Prairielande, wie Dakotah, theils an und in den Felsen-
gebirgen, wie Montana, Wyoming, Idaho, Colorado, Neu-
Mexico und Arizona, theils in einem Binnenbecken wie Utah,
theils am großen Ocean und der Sierra Nevada, wie Wa-
shington Territory.
» Unter diesen organisirten Gebieten nimmt Colorado
einen verhältnismäßig raschen Aufschwung. Dasselbe wurde
1861 aus Theilen von Kansas, Nebraska und Utah gebil-
det, das letztere liegt ihm im Westen, das erstere im Osten;
im Norden hat es Wyoming und im Süden Neumexico,
37 bis 41 o N., 102 bis 109° West, etwa 4900 Geviert-
Meilen. Der Census von 1870 giebt die Zahl der Bewoh-
ner auf 39,964 Köpfe an, dieselbe hat sich jedoch in den
Territorium Colorado.
letztverflossenen zwei Jahren nnl reichlich 20,000 vermehrt.
Das Gebiet zerfällt in drei große natürliche Regionen. Jene
im Westen der Felsengebirge gehört dem Stromgebiete des
Rio Colorado an, ist in ihren nördlichen Theilen erst wenig
erforscht worden und fast ohne weiße Bewohner. Die Cen-
tralregion erstreckt sich durch das Territorium von Norden
nach Süden und wird von mehreren parallel laufenden Ket-
ten durchsetzt, die von 8000 Fuß Höhe bis über die Schnee-
linie emporragen. Auf der Wasserscheide, welche sich gleich-
sam schlängelnd durch Colorado zieht, liegen zwischen den
Ketten ausgedehnte Tafelländer, die sogenannten Parks, in
etwa 6000 Fuß Meereshöhe, wohlbewässerte Gegenden,
welche sich vortrefflich zur Viehzucht eignen. Die dritte Re-
gion liegt ganz im Osten der Felsengebirge, in ihr strömt der
obere Lauf des Südplatte- und des Arkansasflusses.
Colorado ist ergiebig an edelen Metallen; es hat in den
Jahren 1861 bis 1867 für etwa 25,000,000 Dollars Gold
geliefert; bei Georgetown in Clear County liegen reiche Sil-
beradern, dem Gebirge entlang hat man Kohlen gefunden,
auch werden Eisen- uud Kupfererze verschmolzen; auch Pe-
4*
28 Die Stadt Denver im
troleumquellen fehlen nicht. Vor 1853 war kein weißer
Mensch in Colorado angesiedelt, im südlichen Theile zogen
mexicanische Hirten umher, im Gebirge stellten Trappers
den Pelzthieren nach; sie hielten manchmal Rast in den
Parks, wo sie mit den Indianern Handel trieben. Im
Jahre 1858 kam eine Schaar von Abenteurern, die schon
in Calisornien Gold gegraben hatten, an den obern Platte
und Arkansas, um dort zu „prospecten". Sie baueten sich
für den Winter Blockhäuser an der Mündung des Cherry
Creek m den südlichen Platte. Das waren die Anfänge
der Stadt Denver. Dieselbe liegt etwa drei deutsche
Meilen vom östlichen Fuße der Rocky Mountains entfernt;
im Juni 1859 fand man reiche Goldgruben in der Nähe,
am Pikes Pik, wo Central City gegründet wurde.
Denver hatte 1870 erst 4759 Einwohner, deren Zahl
sich seitdem sehr beträchtlich vermehrt hat. Jetzt (Juni
1872) erscheint dort auch eine deutsche Zeitung, welche
in ihrer ersten Nummer eine lebendige Schilderung der ge-
genwärtigen Zustände entwirst. Sie schreibt:
Zwanzig Jahre zurück, was war da das Gebiet westlich
vom Missouri anders als eine unbegrenzte, noch unerforschte
Hochebene, reich an Antilopen und Elk (Elenn), an Büffeln
und Raubthieren, aber scheinbar arm an Naturprodncten,
nur bewohnt von der Rothhaut, dem Trapper, dem Aben-
teurer! Dakotah,Nebraska,Wyoming,Kansas, Colo-
rado —wer kannte dieseNamen damals? Wer ahnte,
daß, wo die Lagerfeuer der Indianer brannten, ein Gemein-
wesen aufblühen würde, das 20 Jahre später mehr als
80,000 Menschen eine glückliche Heimath bietet? Wer ahnte,
daß wenige Jahre genügten, die Jagdgründe der Indianer
mit einem Eisenbahnnetz von über 3000 Meilen Länge zu
überziehen, daß in der „großen Wüste" zwischen dem Mis-
souri und den Felsengebirgen sich noch Dorf an Dorf, Stadt
an Stadt reihen würde, umgeben von fruchtbaren Farmen
und blühenden Gärten; daß ebenda, wo der Wigwam stand,
sich einst Prächtige Landsitze, Paläste, Fabriken, Mühlen,
Hochschulen, kurz die Schöpfungen einer neuen Zeit erheben
würden?
Eine Schöpfung der Neuzeit und wahrlich keine der klein-
sten ist auch Denver. Vor 15 Jahren noch ein Lager-
platz der Indianer, noch vor 12 Jahren ein Conglomerat
von Bretterhütten, Erd- und Loghäusern, ist das Dörfchen
Aurora zu einer Stadt emporgewachsen, die an Solidität,
Eleganz, Thätigkeit, Reichthum so manche ihrer älteren
Schwestern im Westen beschämt. Das Denver jener Tage
war kaum mehr als ein Asyl für Heimathlose, eine Station
der Goldgräber, ein Rendezvous für Speculanten und Judu-
strieritter, während das Denver von heute in seinen massiven
Häusergevierten eine Bevölkerung birgt, stabil, intelligent,
unternehmend, und reich genug, um die Hauptstadt von Colo-
rado zur Metropole der Territorien zu machen.
Wahr ist, der Aufschwung von Denver war weniger
rapid und auffällig als der so mancher andern Stadt; war
es doch fast ein ganzes Jahrzehnt dem Emigranten in so
weite Ferne gerückt, daß es vor dem Ausbau der Union- und
Kansas - Pacificbahn kaum mehr als ein Außenposten der
Civilisation, nur eine Oase in der Wüste sein konnte.
Während aber an vielen anderen Orten die Klagen über
Geschäftsstagnation, Bevölkerungsabnahme und Entwerthung
des Eigenthums stationär und allgemein sind, hat die Be-
völkerung von Denver innerhalb 18 Monaten um 6132
zugenommen, d. h. sich mehr als verdoppelt; ja mehr noch,
im letzten Jahre allein wurden in Denver 783 Gebäude im
Werthe von 2,301,373 Dollars gebaut, und 14,271,700
Dollars im Geschäfte umgesetzt, — und dies Alles in einer
„Zeit der schweren Noth!" Wo ist die Stadt am Mis-
Territorium Colorado.
souri, Mississippi, Ohio, die sich so vieler Neubauten während
des letzten Jahres rühmen kann? Wo die Stadt, deren Be-
völkerung sich in Jahressrist verdoppelte und in der das
Grundeigenthum, statt zu fallen, 20 bis 50 Procent im
Werthe stieg? Wo die Stadt, die mit nur 10,832 Einwoh-
nern ein Geschäft von 14 Millionen Dollars im Jahre
entrirte?
Und doch ist Denver nicht über die Tage seiner Kind-
heit hinaus! Kaum zwei Jahre sind es, daß die erste
Locomotive in das Weichbild der Stadt fuhr, aber diese zwei
Jahre genügten, ihr 6000 neue Emigranten zuzuführen.
Wie groß wird ihre Zahl sein, wenn das Eisenbahnnetz,
das dort einmündet, einst ausgebaut und die südlichen Aus-
läufer der Felsengebirge gründlich erforscht sind, wenn die Na-
tnrschätze zu Kunstprodncten dort verarbeitet werden, und
die Parks im Westen wie dieThäler im Norden und Sü-
den, durch Eisenbahnen zugänglich gemacht, die Heimath
rationeller, unternehmender Ackerbauer, Viehzüchter, Fabri-
kanten oder Handwerker sind! Wie groß die Zahl, wenn
das milde Klima Colorados, die Heilkraft seiner Mineral-
quellen, wie die Romantik seiner Berge jedes Jahr eine
Legion Touristen aus dem Osten nach dort führt! Für
sie Alle giebt es nur einen Einigungs- und Ausgangspunkt,
nur einen Markt für Käufe und Verkäufe, nur ein Han-
delsemporium und nur ein Eisenbahncentrum im fernen
Westen, — Denver.
Ende 1871 concentrirten sich bereits fünf Bahnen mit einer
Bahnlänge von 425 Meilen; weitere 310 Meilen werden
noch vor Ende dieses Jahres in Betrieb sein, während andere
Bahnen nach respective von Denver aus projectirt, ver-
messen oder bereits im Bau begriffen sind. Es sind dies die
Denver-Salt-Lake, die Denver, Georgestown-Utah, die In-
lesburg-Denver und die schmalspurige Leavenworth-Denver-
Bahn. Mit dem Nordosten (Omaha, Chicago, Neuyork)
steht Denver durch die 110 Meilen langeDenver-Pacisic,
die sich bei Cheyenne der großen Union-Pacisic anschließt,
in Verbindung; mit dem Südosten, (Leavenworth, Kansas
City, St. Louis, Cincinnati) verbindet es, ohne irgend einen
Wagenwechsel bis zum Missouri, die Kansas-Pacific. Mit
dem Nordwesten bis Denver und Boulder-Valley; mit dem
Minendistricte die Colorado-Central, und mit dem süd-
lichen Colorado und Neumexico (Santa Fe) die schmalspu-
rige, bereits 100 Meilen fahrbare Denver- und Rio-Graude-
Bahn. Da für lange Jahre noch die letztgenannte Bahn der
einzige directe Verkehrsweg nach den Territorien südlich von
Colorado ist, so fällt Denver factisch der ganze Zwischen-
Handel zwischen dem Osten und Neumexico resp. Arizona
zu, während die Bonlder- und Centralbahn ihm den Handel
nach den Kohlen- und Eisenlagern dort wie nach den
Gold- und Silbergruben hier sichern. Aber nicht bloß
geographisch, auch topographisch ist Denver gut genug gele-
gen, um sich zur Metropole des fernen Westens emporznar-
beiten. Malerisch am Fuße der Felsengebirge hingestreckt,
in weiter Ferne von dem scheinbar nahe gelegenen Longs
Peak im Norden und Pices Peak im Süden überragt, hat
es Raum genug, sich auf dem Plateau östlich vom Cherry
und Südplatte zur Größe von St. Louis oder Chicago em-
porzufchwiugen.
An den Attributen einer Großstadt fehlt es ihm schon
jetzt nicht; nicht an weiten ebenen Straßen, soliden Häuser-
fronten und Seitenwegen, nicht an gutgeleiteten Schulen
und Straßeneisenbahnen, nicht an Wasser- und Gaswerken,
nicht an Chinesen in den Vorstädten und Peannthändlern an
den Straßenecken — mit einem Worte, nicht an Capital,
Verständniß und Unternehmungsgeist.
Daß unter den Pionieren von Denver die Deutschen
Richard Kiepert: Geographische Unter
nicht die letzten waren, daß auch hier deutscher Fleiß, deutsche
Sparsamkeit und deutscher Gemeinsinn sich Geltung ver-
schafften, daß die kleine deutsche Colonie zu einem jetzt
2000 Köpfe starken Gemeinwesen emporwuchs, das lehrt ein
Blick auf die Anzeigespalten der Zeitungen wie auf die
Schilder über den Kaufläden der Larimer, F. Blake und
anderer Straßen. Und wie im Geschäftsleben, so Prä-
imnngen deutscher Gelehrten im Orient. 29
dominiren auch die deutschen Adoptivbürger im ge-
selligen Leben. Die Hebrew Benevolent Society, der
Denver Grütli-Verein, der 1870 gegründete, 65 Mitglie-
der starke Männerchor, der sechs Jahre alte Turn-
verein mit seinen 50 Mitgliedern, — sie alle legen Zeug-
niß dafür ab, daß selbst im fernen Westen das deutsche Ge-
müth einen Einignngs- und einen Ruhepunkt fand.
Geographische Unternehmungen
Von Dr. Ric
Herr Dr. Paul Schröder, Dragoman an der kaiser-
lich deutschen Gesandtschaft in Konstantinopel, bekannt durch
sein Buch über die phönikische Sprache, unternahm im Früh-
liug 1870 eine Reise nach Cypern, um archäologische und
geographische Studien zu machen. Vorzüglich durchstreifte
er die Osthälfte dieser interessanten Insel, die langgestreckte
Halbinsel Karpasia, Mefavoria und das nördliche Gebirge
zu beiden Seiten des Pente dactylon. Dann folgte eine
Tour um die ganze Insel herum unweit der Küste. Un-
längst hat nun der preußische Cultusminister Dr. Falk dem
jungen Gelehrten eine namhafte Summe bewilligt, um seine
Studien fortzusetzen. In diesem Herbste wird er Cypern
wiederum besuchen, und zwar namentlich den Westen, die
Abhänge des höchsten Berges der Insel, des Troodes, dann
die Gebirgslandschaft Tylliria und die Umgegend von
Morfu.
Da im Februar dieses Jahres auch ein Naturforscher,
Herr Seiff aus Dresden, namentlich die geographisch ganz
unbekannten Gebirge im Westen der Insel durchwandert und
seine Routen verzeichnet hat, und gleichzeitig mit Herrn Dr.
Schröder auch Herr Dr. Kobelt aus Frankfurt am Main
dorthin geht, um zoologische Sammlungen zu machen, so
können wir hoffen, daß deutscher Fleiß vollenden wird, was
Drnmmond, de Mas Latrie und Professor L. Roß angefan-
gen haben, uns ein getreues Bild zu schaffen von jenem ge-
schichtlich so interessanten Lande.
In Jerusalem ist der überaus fleißige Dr. O. Ker-
sten (vergl. „Globus" Bd. XX. ©.341 und 369), Kanzler
beim dortigen deutschen Consulate, für unsere Wissenschaft
thätig. Er arbeitet, gestützt auf die englischen Aufnahmen
und die Routen von Robinson, Schick, Kiepert und Anderer,
an einer detaillirten Karte der weitern Umgegend der heili-
gen Stadt. Dieselbe soll von Bab el Wad (an der Jaffa-
straße bei ihrem Austritt aus dem Gebirge) im Westen bis
zum Jordan reichen, von Nabulus (Sichern) im Norden bis
el Chalil (Hebron) im Süden. Es ist erfreulich, melden
zu können, daß die Berliner geographische Gesellschaft aus
den Fonds der Karl-Ritter-Stiftuug dem verdienten Manne
eine Beihülfe zu seiner langwierigen und kostspieligen Arbeit
hat zu Theil werden lassen.
Wer Geograph und Kartograph von Fach ist, wird wis-
sen, wie wenig er meistens aus den Reisewerken von Bota-
nikern hat schöpfen können. Oft durchziehen sie ganz uube-
kannte Gegenden, notiren ihre Route nicht und verlangen
später vom unglücklichen Geographen, daß er ihnen alle die
Fundorte auf der Karte nachweise, die sie allein dem Na-
mensschatze der Karten hätten zufügen können. Dies galt
bislang fast als Axiom, bis Dr. G. Schweinfurth die
deutscher Gelehrten im Orient.
ard Kiepert.
erste glänzende Ausnahme machte. Denn Niemand wird
leugnen, daß in den bisher von ihm publicirten Berichten
über seine letzte Reise der Geograph fast mehr hervortrat,
als der Botaniker. Ein Gleiches gilt von Herrn Dr. K.
Haußknecht in Weimar, welcher im Jahre 1865 und dann
vom October 1866 bis 1869 im Oriente gereist ist. Ver-
öffentlicht sind von ihm bis jetzt nur zwei Briese in der
Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde Bd. 3, S. 464 ff.
Es würde den Leser ermüden, alle seine Routen hier auszu-
zählen, welche er mit der größten Sorgfalt verzeichnet und
constrnirt hat. Nur kurz will ich die ungefähre Begrenzung
des von ihm erforschten Gebietes angeben. Die meisten
Kreuz- und Querrouten zeigt das Land zwischen dem
Mittelmeer und Euphrat, gegen Norden begrenzt durch
die Linie Albistan-Charput-Diarbekir, gegen Süden durch
die Linie Antiochia-Halep-Euphrat. Sodann durchzog er
Mesopotamien von Biredjik am Euphrat über Orsa, Mar-
diu, Ras-el-Ain nach Mosul am Tigris; weiter nach Ker-
knk, Sihna, Kermanschahan, Hamadan, Teheran bis Jssa-
han. Zahlreich sind wieder die Kreuz- und Querrouten in
Luristan, in dem Berglande zwischen Jssahan im Norden,
Schiraz im Süden und Behbehan im Westen. Namentlich
hier ist es, wo Dr. Haußknecht absolut unbekanntes Ge-
biet erforschte. Die Zahl der von ihm kartographisch sixir-
ten Ortschaften, Flüsse, Stämme u. s. f. geht in die Tau-
sende. Namentlich aber gewinnen wir eine ganz andere,
richtigere Anschauung von dem persisch-türkischen
Grenzgebirge, vorzüglich in seiner südlichen Partie, und
diese Arbeit wird von Werth bleiben, wenn auch einmal die
englisch-russische Ausnahme der persisch-türkischen Grenze,
welche mit so großer Geheimnißkrämerei in den Spinden
der Bureaus zu London, Petersburg und Konstantinopel zu-
rückgehalten wird, das Tageslicht erblicken sollte.
Die Originalaufnahmen Dr. Haußknecht's sowie ihre
Redaction durch Professor Kiepert haben der Berliner geo-
graphischen Gesellschaft vorgelegen, und selbe will im nach-
sten Jahre die Mittel der Ritterstiftung zur Herausgabe die-
ses reichen Materials verwenden.
Bisher hatte ich Resultate zu verzeichnen, jetzt kommt
ein Project, aber eines von großem Interesse, welches zu-
gleich zeigt, in wie hohem Ansehen das neue deutsche Reich
im Orient steht. Der als Kleinasienreisender bekannte Dr.
Mordtmann in Konstantinopel hatte in deutschen Zeit-
schriften mehrere Artikel geschrieben über die in Armenien
gefundenen Keilinschriften, deren Sprache er für das älteste
Armenisch erklärte. Jene Artikel wurden ins Armenische
übersetzt und erregten nebst Vorträgen, die Dr. Mordtmann
hielt, die lebhafte Aufmerksamkeit der gelehrten Mechitaristen,
30 Aus allen
die weiter nachforschten und wegen ihrer größern Sprach-
kenntniß eine Menge überraschender Dinge fanden. Nun
steht es fest, daß nur der kleinste Theil der Vorhan-
denen Inschriften publicirt ist. DieArmenier selbst
kannten viel mehr. So wurde Dr. Mordtmann gleich-
zeitig von drei ganz verschiedenen und von einander unab-
hängigen Quellen mitgetheilt, daß zwischen Müsch und Bitlis
beim Dorfe Trmerd mehrere Denkmäler dieser Art sich be-
fänden. In Vaspuragan befindet sich ein Felsen mit
einer sehr langen Inschrift; nach der Versicherung eines
Augenzeugen enthält sie mehr Charaktere, als die bisher ver-
öffentlichten fünfzig Inschriften dieser Art zusammenge-
nommen. Der aus Van stammende Patriarch hat schon in
dieser Angelegenheit ein Circular an die armenische Geist-
lichkeit seiner Baterstadt und Umgegend gerichtet und darauf
hin mehrere neue Inschriften mitgetheilt erhalten.
Die armenische Gemeinde beabsichtigt also eine Erfor-
schnng des Landes hinsichtlich der alten Denkmäler. An
der Spitze der Agitation stehen die durch ihre Erzeugnisse
auch hier bekannten Photographen Gebrüder Abdullah,
zugleich die Hauptwühler gegen die Umtriebe des Vatican
und des jesuitischen Katholikos Hassun, und der Erzbischos
von Beschiktasch, Koren von Narbey. Diese wandten sich
durch Vermittlung von Dr. Mordtmann an den Feldmar-
schall Grafen von Moltke mit der Bitte, ihnen einen Ge-
neralstabsoffizier zur topographischen Aufnahme des erforsch-
ten Gebietes zu senden, und der Graf, als alter Orient-
reisender, hat sich bereit erklärt, diesem Wunsche zu entspre-
chen. Die Expedition soll nun im nächsten Jahre sofort
Erdtheilen.
mit Eintritt der günstigen Jahreszeit abgehen, und zwar als
deutsche Expedition, geleitet von Dr. Mordtmann und dem
betreffenden Generalstabsoffiziere, dessen Reise von der arme-
nischen Gemeinde bestritten wird. Diese gewinnt so einer-
seits den Schutz der deutscheu Regierung und entgeht an-
dererseits möglichen Hindernissen von Seiten der Pforte.
Als vorläufiges Itiuerar ist festgestellt die Route: Tra-
pezuut, Erzerum, Erziugian, Erzerum, Müsch,
Van, Umgebung des Vansees, Vaspuragau, bis an
den Araxes, Nachtschevan, Erivan, Tiflis, Poti.
Aus den Bedingungen hebe ich noch Folgendes hervor:
1) Sämmtliche Resultate der Expedition sind gemein-
schaftlich.
2) Alle Zeichnungen, Skizzen, Abklatsche, Photogra-
phien jc. werden doppelt angefertigt; ein Exemplar erhalten
die deutschen, eines die armenischen Mitglieder.
3) Antiquitäten werden nicht persönlich erworben, son-
dern als Eigenthum der Expedition, und werden später zwi-
schen die beiden Nationen vertheilt.
4) Der Reisebericht erscheint gleichzeitig in beiden Spra-
chen, und so weiter.
Wünschen wir dem Unternehmen einen glücklichen Fort-
gang und guten Erfolg. Es ist an der Zeit, daß Deutsch-
land auch als Staat etwas leiste für die Geographie, nach-
dem bisher seine Reisenden lediglich als Privatpersonen den
ungleichen Wettkampf mit den begünstigteren Genossen eng-
lischer, französischer, russischer und amerikanischer Nationa-
lität so ehrenhaft bestanden haben.
Aus allen
Fremdwörter in der deutschen Sprache.
Was ist ein Fremdwort? Wer setzt es in Umlauf? Wel-
ches sind die Bedingungen seiner Lebensfähigkeit? Wie wird
es einheimisch? Wann erlischt es? Inwieweit ist sein Gebrauch
gerechtfertigt und wann ist derselbe geschmackswidrig?
Auf diese Fragen giebt ein tüchtiger Sprachkundiger, Pro-
fessor August Boltz, Antwort in einer kleinen Schrift: Das
Fremdwort in seiner culturhistorischen Entstehung und Bedeu-
tung. Berlin, Verlag von Rudolph Gärtner.
Ein Fremdwort ist jedes Wort ohne Ausnahme, das nicht
vom Volke in seiner Gesammtheit als einheimisch, d. h. als sei-
nem Sprachschatze organisch zugewachsen und zugehörig empfun-
den wird. In erster Linie tritt der Völkerverkehr als „Im-
porteur" der Fremdwörter auf, indem er die Namen nicht bloß
von Handelsartikeln, sondern auch sehr bald tiefgreifende Be-
Zeichnungen auf dem Gebiete des religiösen und politischen Lebens
zu solchen Völkern trägt, welche bisher auf der Stufe abweichen-
der Anschauungen standen, ja nicht selten ihrem Lande und
ihnen selber neue Namen gaben, ihre Sprache umformten und ihre
ganze Daseinsform veränderten.
Sehr richtig betont A. Boltz, daß man bei Beurtheilung
verwandt scheinender Wörter nie den Boden der Geschichte
verlassen und in zufälligem Zusammentreffen lautlicher Erschei-
nungen nicht Entlehnungen darf finden wollen. Wenn bei
den Samojeden des Kreises Mesen Gott num heißt, so darf
man das nicht etwa mit dem römischen numen, göttlicher Wille,
göttliche Macht, in Zusammenhang bringen.
Alle Völker, welche mit einander im Verkehr standen, haben
sich wechselseitig Wörter entlehnt, z. B. die Phönicier von den
Erdtheilen.
Aeghptern, diese von jenen und den Syro-Arabern; die Hebräer
von den ersteren und von den Aegyptern, von denen sie selbst
den Begriff ihres Gottes Jehova erhielten. Daß Griechen
und Römer eine sehr große Zahl Wörter aus Aegypten, Car-
thago, Persien und überhaupt aus dem Orient annahmen, weiß
Jedermann.
In unsere deutsche Sprache sind die Fremdwörter gekom-
men in Folge der Kriegszüge, von Handel und Gewerbe, durch
Einführung des Christenthums, durch Kunst, Wissenschaft und
Mode. Boltz führt eine Menge von Beispielen dafür an, und
wir wollen einige derselben mittheilen. Manche unserer Leser
werden überrascht sein, in so vielen Wörtern, welche durch Um-
bau völlig so zu sagen eingedeutscht sind, den fremden Ursprung
zu erkennen.
Im Althochdeutschen strömen die Fremdwörter Massen-
hast herein. Durch Gewerbe und Handel: metzeler (ma-
cellarius), Fleischwaarenhändler; tisc (discus) Tisch und satul
(sedile) Sessel; mantal (mantellum) Mantel, und pelliz (pelli-
ceum) Pelz; chorb (corbis) Korb, und chezzil (catlnus, cä-
tillus) Kessel, faz (vas) Faß, und ezzich aus echiz (acetum)
Essig, und oli (oleum) Oel, chalch (calx) Kalk, cridä (creta)
Kreide, pech (pix) Pech, und tegel, ziegal (tegula) Ziegel.
Das Capital (capitale) cursirt und bringt guten Zins
(census), geprägte muniza (moneta) Münze vermittelt den
Verkehr, für den kleinern aus chuphar (cuprum) Kupfer. Auf
dem marchät, merchät (mercatus) Markt erscheinen die kost-
baren Artikel des Auslandes: sinnamin (cinnamomum) Zimmt,
pf'effar (piper) Pfeffer, und ris (ar. er-roz) Reis, ja selbst
beralä (perla) die Perle.
Die Landcultur umfriedet den champh(campus) Camp,
Aus allen
d. i. das bestellte Feld, mit einem pherrich (parcus) Pferdj, mit
phost (postis) Pfoste und phal (palus) Pfahl. Die phlanzä
(planta) Pflanze wird Gegenstand ernster Aufmerksamkeit.
Fenachal (föniculum) Fenchel, chervola (caerefolium)
Kerbel, quiten (cydonius) Quitte, aniz (anethum) Anis, —
minzä (mentha) Minze, rätich (radix) Rettig und chol (colis)
Kohl, — arowiz (tQißwfrog) Erbfe und lins (lens) Linse und
jegliche fruht (fructus) Frucht wird gebaut, — chirsa (cerä-
sum) Kirsche, nuz (nux) Nuß und phersich (persicum) Pfirsich
werden eingeführt; buhs (buxus) Bux und pappula (pöpülus)
Pappel werden bekannt; die chazzä (catus) Hauskatze kommt
ins Land. Inzwischen erhebt sich die chirichä (xvqmcxov, adj.)
Kirche auf ihren Höhepunkt. Stattliche munistri (monaste-
rium) Münster lassen auf ihrem turn (turris) Thurm das
chruzi (crux) Kreuz weit hinaus leuchten Uber die Gemeinden,
denen der prestar, priestar (presbyter) Priester mit seinem
segan (signum) Segen die porte (porta) Pforte des paradis
(paradisus) Paradieses eröffnet, oder aus dem ehelich (calix)
Kelch den geweihten Gedächtnißtrank reicht. Der schlaue Pfaffo
(goth. papa, Ttunag) aber malt ihnen das „Jenseits" mit tracho
(draco) Drache und chetina (cätena) Kette, mit Satanaz (—as)
und seiner pina (poena) Pein vor, wenn sie nicht Buße thun
und sich castikön (castigant) kasteien. — Munich (mönächus)
Mönch und nunnä (nonna) Nonne bevölkern das chloster
(claustrum) Kloster, bis die chruft (crypta) Gruft unter der
chapella (capella) Capelle sie zur Ruhe bringt. — Der emsige
Mönch sitzt nicht selten in einsamer zella (cella) Zelle, um die
Schätze des Wissens auf perimend (mtl. pergamentum) Per-
gament oder dem noch seltenen papir (papyrus) niederzu-
schreiben, und das tihton (dictare) Dichten und trahton'(trac-
tare) Trachten des unruhigen Herzens zu beschwichtigen. Dann
und wann muß der chelläri (cellarium) Keller das Seinige
thun, die stillen Stunden zu unterbrechen u. s. w.
Nach der Zertrümmerung des römischen Weltreiches und
dem Erlöschen der hochrömischen Staats- und Büchersprache ge-
wannen die landschaftlichen Dialekte der sogenannten romanischen
Völker ein selbständiges Leben. Dabei kamen im Fortgange der
Zeit nur diejenigen Mundarten zur Geltung und Schriftherr-
schast, welche durch Glück und Zufall, d. h. durch die tragenden
Kräfte der Geschichte, begünstigt wurden. Jede einzelne entlehnte
für sich und nach ihrer Art Fremdwörter, und manche solcher
Entlehnungen sind dann viel später in romanisirter Form
ins ursprüngliche Heimathland zurückgekehrt. So z. B. das
französische equipage, das, vom skandinavischen skip ausgehend,
altfranzösisch als esquif, Schiff, erscheint, und nun bald ver-
mittelst der Ableitungssilbe age (italienisch aggio, spanisch aje)
zur Bildung des Sammelwortes equipage, Schiffsausrüstung
(Schiffsbemannung), führte; zu uns ist es in der Bedeutung von
Gefährt, Wagen und Pferd zurückgekommen; mit equus, Pferd,
hat das Wort nichts zu fchaffen.
Ebenso ist es mit Infanterie, das vom altnordischen fante,
ein starker Bursche, Kerl, Mann, kommt (die normannischen
Fanten bildeten bekanntlich seit Konstantin dem Großen zumeist
die Leibgarde der byzantinischen Kaiser). So entstand zur Zeit
der ersten stehenden Truppen in Italien das Lehnwort fanteria
und blieb bis auf den heutigen Tag. Auch in Frankreich heißt
der Fußsoldat noch fantassin. Dennoch hat das organisch er-
weiterte Sammelwort infanterie zu der völlig unhistorischen
Ableitung von „intans, Kind" Veranlassung gegeben, als ob „die
Kerle" etwa stumme Kinder gewesen wären, oder bloß „Kinder
(Infanten)" gewartet hätten!
Zu dieser Gattung von ursprünglich germanischen, franzö-
firten und später wieder zurückgeflossenen Wörtern gehören noch
in Bezug auf Krieg: Herold (heraut), alth. hariowalt, Heer-
(ver)walter; Bresche (breche, it. breccia) b. ohb. brechä;—
Bivouak (bivouac, bivac) mhd. bi-wacht, Beiwacht, für Nacht-
wache unter freiem Himmel, im Gegensatz zu Tagesdienst. —
Rapier (rapiere) durchs mit. rapperia vom goth. raupjan,
raufen (?). Fourrage (fourrage) von feurre, Futterstroh,
Erdtheilen. 31
durchs mlt. fotrum v. ahd. vuoter, fuotar, Futter; also gleich-
sam Futtrage, wie Blamage. — Staffete (estafette, it. staf-
fetta, Bügelreiter), d. i. Cursor tabellarius cui pedes in
stapede perpetuo sunt; v. ahd. staffa, Steigbügel.— Etappe
(etape) Ort, wo etwas ausgehäuft wird, Stapelplatz, v. nd.
stapel, Haufen, Ort für Niederlagen. — Galopp (galop, ga-
lopper, prov. galaupar), v. goth. hlaupan, laufen, mit dem
Präfix ga-, oder (nach W. Wackernagel) von ahd. gaho-hloufan,
jach lausen, u. a.
In Bezug auf Schifffahrt: Pilot (pilot, it. fp. piloto)
v. nd. pijloot, st. pil-loot, Lootfe, von peilen (pegelen), die
Tiefe messen, und loots, Lootse, d. i. der Führer. — Havarie
(avarie) durch mlt. havaria, von nd. haverei, Seeschaden, eig.
Hafengeld (fürs Einlaufen und Ausbessern). — Balast (balast,
lest) vom dän. baglast, Schiffslast u. a.
In Bezug auf Hofdienst: Marschall (marechal) mlt.
marescalcus v. ahd. marah, Mähre, Pferd und seale, Knecht,
Diener; also — Sattelmeister, wie Wittekind's erste Vasallen
und Saalgenossen genannt wurden. — Seneschal (senechal) mlt.
senescalcus, v. ahd. sine goth. sin (sineigs ältere, sinista
älteste) und seale; also — ältester (vornehmster) Diener, Haus-
minister. — Marquis (marqnis) von Mark-gras.
Ferner die uns geläufigen Wörter: Boulevard (boulevard)
v. ahd. polwerk, bolwerk, engl, bulwark, Bohlenwerk, Boll-
werk ; in Wollin heißt noch heute der Landungsplatz der Dampf-
schiffe fo. — Fauteuil (fauteuil, altfr. faudesteuil, it. faldi-
storio) v. ahd. valtstuol, Falt- (für Klapp-) stuhl.
Verben wie: engagiren (engager), von gage, Pfand, dies
durch mlt. vadium vom goth. vadi, Wette u. a.
Adjective wie: blasirt (blase), von ahd. plooz, stolz, und
hundert andere.
In gleicher Weife nahmen auch die italienischen Dialekte
viele deutsche, besonders longobardische Wörter auf — das
Spanische viele westgothische, das Rumänische griechische, türki-
sche und slavische u. s. w.
Der transcontinentale Telegraph in Australien.
Von Adelaide aus sind drei Schiffe ausgesandt worden,
um an den Punkt, an welchem der große, das australische Fest-
land von Süden nach Norden durchziehende Telegraph seinen
Endpunkt finden soll, Menschen und Vorräthe zu landen. Sie
waren am 16. Februar glücklich bei der Insel Maria, welche
vor der Mündung des RoPerstromes liegt, angekommen und
waren ohne Schwierigkeit auf demfelben etwa 100 Miles weit
gekommen. Dort landeten sie in aller Bequemlichkeit die Vor-
räthe, welche für die von Patterson geleitete Telegraphenexpe-
dition bestimmt sind. Diese letztere ist auf Hindernisse gestoßen.
Es hat sich wieder einmal gezeigt, wie unberechenbar die Wit-
terungsverhältnisse in Australien sind. Es war so außerordent-
lich viel Regen gefallen, daß man die Arbeiten bis zum Ein-
tritte trockenen Wetters einstellen mußte. In der Mitte Fe-
bruars fehlten noch etwa 200 Miles. Ein Reisender, der in
der Mitte des März in Adelaide aus dem Norden angekommen
war, bestätigt, daß sich hier weite Strecken vortrefflicher Weide-
ländereien befänden; er meldete, daß zwischen 15 und 20° S.
westlich von der sogenannten Ashburtonkette ein großer Süß-
wassersee entdeckt worden sei. Der Reisende war unterwegs
drei Mal von Eingeborenen angegriffen worden; diese beneh-
men sich sehr feindselig. Man hofft bis Ende Juni den Tele-
graphen vollenden und auf seiner ganzen Strecke dem Betriebe
übergeben zu können.
q? * *
— Ein Arzt, Dr. Decaisne, hat neulich in der Pariser
Akademie der Medicin einige Ziffern zur Bevölkerungsstatistik
mitgetheilt und einen Vergleich zwischen Preußen und Frank-
reich angestellt. In Preußen kommen, ihm zufolge, auf 100
Ehen 460 Kinder, in Frankreich kaum 300. Der Procentsatz
der Geburten zur Bevölkerung stellt sich dort auf 3,98, hier auf
32
Aus allen Erdtheilen.
2,55. In Preußen beträgt der Ueberschuß der Geburten über
die Sterbefälle 13,300 auf die Million, in Frankreich 2400.
Die Volksmenge in Frankreich würde sich erst in 170 Jahren
verdoppeln, in Preußen in 42 Jahren, in Großbritannien in
52, in Rußland in 60 Jahren.
— Man ist jetzt vielfach beflissen, die Zahl der Mit-
glieder religiöser Orden zu ermitteln. Die „Norddeutsche
Zeitung" giebt an, daß in Preußen 97 Orden und geistliche
Kongregationen (männliche) 1069 Mitglieder zählen. Davon
kommen 160 Köpfe auf 11 Jefuitenklöster, 69 auf 5 Redempto-
ristenconvente. Bayern hat 61 Klöster mit 1054 Köpfen,
Hessen-Darmstadt 4 mit 29. Die weiblichen Orden und Ge-
nossenschaften zählen 626 Anstalten mit 5586 Nonnen, Schul-
schwestern :c. — 1800 mehr als 1865; dieselben stehen sast alle
unter directem oder indirectem Einflüsse der Jesuiten. Bayern
hat 188 solcher Anstalten und Schwesterschaften mit 2533 Mit-
gliedern. Die Mannsklöster stehen zumeist unter der Controle
italienischer und französischer Superioren, denen gewiß
nichts ferner liegt als bei den zu unbedingtem blinden Gehör-
sam verpflichteten Mönchen einen deutsch-nationalen, patriotischen
Sinn zu Pflegen.
— Die Zahl der Russen, welche der „orthodoxen" Kirche
den Rücken gekehrt haben und ingrimmigen Haß gegen dieselbe
hegen, vermehrt sich so beträchtlich, daß schon die Behauptung
aufgestellt worden ist, sie betrage mindestens die Hälfte des ge-
sammten großrussischen Volkes. Das mag zu hoch gegriffen sein,
gewiß ist, daß die Dissidenten, Raskolniks, nach Millionen
zählen. Pawlosf giebt sie in der jüngst veröffentlichten verglei-
chenden Statistik Rußlands auf 8,000,000 Köpfe an; doch be-
haupten Andere, sie stelle sich auf ungefähr 12,000,000. Sehr
zahlreich sind sie in der Wolgagegend von Twer bis hinab nach
Astrachan. Die Starowerzen oder Altgläubigen, etwa fünf
Millionen, findet man am meisten in den Gouvernements Mos-
kau, Nischni Nowgorod, Samara, Saratoff, Perm, Wjätka,
Tschernigoff, Witebsk und auch in Livland.
— Professor Ramsay hat den Engländern in Betreff der
Steinkohlen eine fehr willkommene Mittheilung gemacht. Er
weist nach, daß in England und Wales die Kohlenflöze viel
ausgedehnter und mächtiger seien als man bisher angenom-
men hat.
— Ueber die Austernbänke an der Küste des nord-
westlichen Amerika erhalten wir von Herrn Theodor Kirch-
hoff aus San Francisco folgende Zuschrift: „In XXI, Nr. 11,
S. 176 des „Globus" lese ich unter dem Artikel: Der Au-
sternhandel in Baltimore, daß an der Küste des Stillen
Oceans noch keine Austernbänke entdeckt sind. Dieses ist ein
Jrrthum. Es befinden sich große Austernbänke in der Shoal-
Water-Bai, gleich nördlich von der Mündung des Columbia,
im Territorium Washington, von wo regelmäßig im Austern-
Handel beschäftigte Schooner nach San Francisco fahren; ferner
kleinere Austernbänke in sast allen Buchten an der Küste Ore-
gons und auch hier und da an der californifchen Küste. In
den letzten Jahren wurden viele Austern von den atlantischen
Bänken hierher gebracht und ausgesetzt (transplanterl). In
der Bai von San Francisco befinden sich bereits große Austern-
bänke zwischen den Orten Alameda und Oakland, der Stadt
San Francisco gegenüber, sowie bei Sancelito, am Eingange
der San-Pablo-Bai. Diese Austern gedeihen hier ganz vor-
züglich, sie werden außerordentlich groß und haben ein schnee-
weißes Fleisch. Die einheimischen californifchen Austern sind
klein. Die bedeutend größeren Ehesepeake-Bai- (Baltimore-)
Austern werden seit der Eröffnung der Pacisicbahn auch frisch,
in Eis verpackt, nach Kalifornien gebracht und finden hier, wo
der Ansternconsum ein ganz ungeheurer ist, einen guten Absatz-
markt. Die in luftdichten Blechbüchsen verpackten Baltimore-
Austern werden massenweise nach den zahlreichen Minenplätzen
an der pacifischen Küste verschifft. Mit der Zeit werden jedoch
ohne Frage die „Transplanted"-Austern alle anderen Sorten
meistens von den hiesigen Märkten verdrängen, da sie bedeu-
tend größer und auch schmackhafter sind als selbst die Chefepeake-
Austern."
— Die nordamerikanifche Expedition zur Unter-
suchung der Landenge von Nicaragua war in der Mitte
des Aprils in San Juan del Norte (Greytown) angekommen.
Sie hat bekanntlich die Aufgabe, zu ermitteln, ob eine prak-
ticable Route für die Anlage eines großen interoceanifchen
Schiffscanales vorhanden sei. Wir unsererseits nehmen kei-
nen Anstand, zu behaupten, daß ihre Bemühungen ebenso er-
folglos fein werden wie jene der übrigen Expeditionen, welche
an anderen Punkten Centralamerikas und am Atrato-Truando
dieselbe Aufgabe verfolgten. Gleich anfangs wurde sie von
einem Mißgeschick betroffen, indem Capitän Croßmann, wel-
cher sie befehligte, nebst sieben anderen Seeleuten seinen Tod
in den Wellen gefunden hat.
— Bei Arauco ist ein sehr mächtiges Kohlenflöz auf-
gefunden und seit März in Betrieb genommen worden. Es
zeigt sich immer mehr, daß das südliche Chile sehr reich an
„schwarzen Diamanten" ist.
*
^ *
— Ein sranzösirter Kartograph. In ihrer letzten
Jahresversammlung hat die Pariser geographische Gesellschaft
dem „National-Franzofen" Herrn Erhard Schiöble eine
Medaille zuerkannt für die schönen Stiche und Lithographien,
welche nach neuer Methode aus seiner Anstalt hervorgegangen. —
Nun, Herr Schieble, der geborene Badener, mag seine Ab-
stammung immerhin verleugnen: wir haben nichts an ihm ver-
loren. Wer eine Probe seiner Kunst kennen lernen will, lasse
sich nur die neue aus Codazzi's Arbeiten beruhende Karte von
Columbien in 8 Blatt (edirt von Manuel Ponce de Leon) vor-
legen. Wenn er an den raupenartigen Gebirgen, den steifen
Flußlinien und geschmacklosen Buchstaben noch nicht genug von
national-französischer gekrönter Lithographie hat, fo stehen ihm
noch andere Dinge zu Diensten, z. B. Karten, deren Gradrand-
eintheilung vom Stecher als willkürliche Verzierung aufgefaßt
und demgemäß behandelt wurde. Aber trotzdem: Nous mar-
chons a la tete de la civilisation!
Wir wollen der vorstehenden Mittheilung, welche wir Herrn
Dr. Richard Kiepert verdanken, noch eine zweite anschließen,
welche zeigt, daß nicht bloß eine französische gelehrte Gesellschaft
sich gründlich blannrt.
Die Wiener anthropologische Gesellschaft, ein Glied
der allgemeinen anthropologischen Gesellschaft, hat am 13. Fe-
bruar 1872 den berüchtigten Erfinder der'rae6 prussienne,
nämlich den Monsieur de Ouatrefages, einen Deutschenfresser
grimmigster Sorte, zu ihrem EhrenMitgliede ernannt.
Das nennen wir Tact! Vielleicht hat von den Herren,
welche das Diplom der Ehrenmitgliedschaft ausgestellt haben,
keiner gelesen, was Adolf Bastian über die haarsträubende
Ignoranz des Herrn Ouatrefages in einem auch als Broschüre
gedruckten Aufsatze gesagt hat.
Inhalt: Wanderungen in den drei Lappmarken. Von Professor I. A. Frijs in Christiania. II. (Mit einer Abbil-
dung.) — Auf den Ruinen von Utica. I. Mit drei Abbildungen.) — Die geographische Verbreitung der thätigen Vulcane.
V. Vulcane der Südsee und Südpolarländer. Mit einer Abbildung.) — Netschwolodoff's Reisen an den Grenzen der Dfun-
garei. I. — Die Stadt Denver im Territorium Colorado. — Geographische Unternehmungen deutscher Gelehrten im Orient. Von
Dr. Richard Kiepert. — Aus allen Erdtheilen: Fremdwörter der deutschen Sprache. — Der transcontinentale Telegraph in
Australien. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
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Band xxil.
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' Mit besonderer Berücksichtigung tler Anthropologie Ittttl Gtknologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
Ault Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1872.
Auf den Ruinen von Utica.
ii.
Der Alterthumsforscher Daux, dessen wir schon erwähn-
tot, war volle drei Monate in ununterbrochener Thätigkeit,
um das Trümmergefilde von Utica gründlich zu untersuchen.
Er stellte Nachgrabungen an, und es gelang ihm, wie er
selber sagt, eine große Stadt des Alterthums aus ihrem
Grabe auferstehen zu lassen; er bürge dasür, daß er der
Wissenschaft volles Genüge geleistet habe und jede Kritik
bestehen könne. Er habe im innern Lande die alten Um-
risse und Küstenlinien der Bucht von Utica nachweisen kön-
nen, eben so die alten Betten der Arme des Bagradas, und
habe auch Cigisa und die von den Alten erwähnte Brücke
aufgefunden. Bei den vielen Durchstichen, welche er machen
ließ, gewann er eine reiche Ausbeute von Alterthümern:
irdene Gefäße, Waffen, Werkzeuge und vieles Andere, und
lebte sich allmälig so ganz in die Zustände des alten Utica
und in das Leben und Treiben der Bewohner ein, daß er
im Geiste die Stadt wieder herstellte; er hat ein ansprechen-
des Phantasiebild entworfen. —
®ie Thore der altphönicischen Stadt sind nun offen; ich
gehe durch die dreifache Reihe ihrer Mauerwälle zu ihr
hinein in das Gewirr der engen und winkeligen Gassen.
Einige Hauptstraßen ziehen sich weit hin, in sie münden die
unzähligen kleineren ein. Auch jene sind unregelmäßig und
eigensinnig, von ungleicher Breite von nur wenigen, 2 bis 4,
Metern, aber sie führen zu den fünf Stadtthoren und zu
den großen öffentlichen Gebäuden. An ihnen lagen die
stattlicheren Wohnhäuser; die Straßen waren gepstastert und
unter dem Pflaster waren Abzugscanäle, die bis ans Meer
Globus XXII. Nr. 3. (Juli 1872.)
liefen. Trotz der Enge der Straßen hatten viele Häuser
drei bis fünf Geschosse.
Wir treten in das Haus eines wohlhabenden Bürgers.
In der Mitte befindet sich ein nahezu viereckiger Hofraum;
er ist mit platten Steinen gepflastert und mit einer Galerie
umgeben, die unten aus Mauerwerk besteht, im Uebrigen
von Holz ist und sich in jedem Geschosse wiederholt. Von
ihr aus gelangt man in die Zimmer, welche durch Thüren
und Fensteröffnungen Luft und Licht erhalten. Nach der
Straßenseite wurden nur wenige Oeffuungen angebracht.
Unter dem Pflaster des Hofes befindet sich die Cisterne,
in welcher man das Regenwasser sammelte. Aus den plat-
ten Dächern schöpfen in der Abenddämmerung die Frauen
frische Luft; sie führen im Allgemeinen ein sehr zurückgezo-
genes Leben. Alle Häuser, groß oder klein, waren so ziem-
lich nach einem und demselben Plane gebaut.
Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, mir das Le-
ben in den Frauengemächern und auf den Terrassen näher
anzusehen; ich weiß wohl, daß ich dadurch mich gegen strenge
Gesetze verfehle, aber ich wage den Schritt. Da ist eine
prächtige Dachterrasse; sie hat auf der Platform ein Gestell
und ist umzogen mit einer großen Wand von farbigem, ver-
ziertem Leinenzeuge. So kann ich noch nicht in den Hof-
räum hineinblicken, in welchem Weiberstimmen laut werden
und Kinder sich munter tummeln. Ich gehe näher und
schlage ein kleines Stück Zeug zurück und sehe nun in den
Hofraum hinab. Die Pfeiler der untern Galerie sind leicht,
schlank und von weißem Marmor. In der Mitte befindet sich
S
Auf den Ruinen von Utica.
35
ein Springbrunnen, der sein Wasser plätschernd in ein Mar-
morbecken fallen läßt. Die Kleinen spielen mit den Händen
darin herum.
Auf dicken Matten aus Espartogras, die mit weißwol-
lenen, purpnrnmsäumten Decken belegt sind, hat sich eine
junge Frau ausgestreckt und liebkoset ihre beiden Kinder;
Kopf und Rücken ruhen auf Polstern. Die Frau ist schön;
ihr dunkles Haar ist mit einem farbigen Bande umschlungen;
dasselbe ist abwechselnd mit Perlen und mit goldenen Dari-
ken garnirt (— per-
sischen Goldmünzen,
so nach König Da-
rins benannt, der
zuerst solche prägen
ließ —). Sie trägt
ein Unterkleid mit
weiten Aermeln, die
bis zur Hälfte des
Armes herabreichen;
das Kleid selbst ist
eine Art Hemd und
geht bis an das
Knie; das Gewebe,
aus Leinwand oder
Baumwolle, ist weiß,
fein und fast durch-
sichtig. Ueber die-
ses Unterkleid wird
eine Sarabale ge-
zogen; sie ist 'von
Wolle und über den
Schultern von zwei
großen Spangen fest-
gehalten; an den
Seiten ist sie von
oben bis unten offen
und um den Gür-
tel wird eine breite
Schärpe geschlungen.
Diese Dame ist
die Hauptfrau ihres
Herrn und Gemahls.
In ihrer Nähe haben
sich andere Frauen
niedergekauert, wel-
che mit ihr eine leb-
hafte Unterhaltung
sehr ungezwungen
führen; sie sind die
Sklavinnen des
Hauses. Die eine
ist blond; sie stammt
aus Europa aus ei-
nem keltischen oder
germanischen Volks-
stamme; es ist ihr
Amt, der Dame Kühlung zuzufächern. Einige andere sind
schwarz, Äthiopierinnen; sie tragen lediglich einen kurzen
Nock und sind in einer Ecke des Hofes mit Spinnen und
am Webstuhle beschäftigt.
Plötzlich verstummt alles Gespräch; es nahet Jemand
mit schwerem Tritt, und der Vorhang der Eingangsthür wird
gelüftet. Da steht ein hoch und kräftig gebaueter Mann
mit gebräuntem Antlitz; der starke, schon etwas mit Grau
gemengte Bart ist sorgfältig gelockt. Auf dem kahl gescho-
renen Haupte trägt er eine zugespitzte Mitra, die mit einer
Kofferträger in Tunis.
goldenen Schlange verziert ist. Sein langer und weiter
Ueberwurf von purpurfarbigem Wolleuzeug hat der ganzen
Länge nach zwei weiße Streifen als Saum; unter demfel-
ben trügt er die nationale Sarapis, eine kurze Jacke, deren
enge Aermel bis ans die Handknöchel hinabgehen. Seine
kurzen, oben zugeschnürten Halbstiefel laufen vorn in gespitz-
ter Krümmung aus; die Beine sind mit einer eng anliegen-
den persische» Hose bekleidet; um dem Arme hat er einen
goldenen, viermal gewundenen Armring und in den Ohren
hängen große gol-
dene Ringe. Dieser
Mann tritt gemesse-
nen Schrittes in den
Hos ein; die Skla-
Vinnen werfen sich
mit dem Gesichte zu
Boden nieder und
ziehen sich dann uu-
ter die Galerie zurück.
Die junge Dame er-
hebt sich und macht
eine Kniebeugung;
er streckt ihr die Hand
entgegen, welche sie
küßt und dann, zum
Zeichen, daß die Frau
dem Manne unter-
than ist, auf ihren
Kopf legt. Die bei-
den Kinder drängen
sich mit Liebkosun-
gen an den Vater.
Er sagt ihnen einige
freundliche Worte
und giebt dann zwei
Sklavinnen eiu Zei-
chen, sie hinaus zu
führen.
Nun nimmt die
Frau neben ihm auf
der Matte Platz; er
spricht leise mit ihr
und sie erbleicht; sie
ist stumm, wie nie-
dergedonnert. Was
mag er ihr gesagt
haben?
Es handelte sich
darum, von Utica
ein drohendes Un-
heil abzuwenden und
die Gottheit günstig
zu stimmen. Des-
wegen haben die Vor-
steher des Gemein-
Wesens im geheimen
Rathe verfügt, daß, ohne den Römern davon Kunde^zn ge-
ben, fünfzig Kinder angesehener Familien dem Baal-Saturn
geopfert werden sollten. Unter diesen befand sich anch der
älteste der beiden Knaben. Der Brauch schrieb vor, daß
die Mutter zugegen sein mußte, wenn ihr Kind den Flam-
mentod starb; sie durfte dabei kein Wort der Bekümmerniß
über ihre Lippen bringen und keine Thräne vergießen*).
*) Die Mutter mußte dastehen „unerweicht und seufzerlos", wie
es bei Plutarch heißt; das Jammern der Kinder wurde durch lär-
5*
36
Auf den Ruinen von Utica.
Wir gehen auf den sehr geräumigen Marktplatz, die
Agora. An der Ostseite erhebt sich ein schöner, mit Säulen
umgebener Tempel, in welchem der Senat dann und wann
geheime Sitzungen hält; zur Linken, an der Nordseite, be-
merken wir ein großes Gebäude, dessen ganze Architektur
sich sehr fremdartig ausnimmt. Viele Bürger gehen aus
und ein; sie haben in diesem Aerarium, wo die öffentlichen
Gelder verwahrt werden, zu thun gehabt. Auf dem Platze
herrscht viel Bewegung und die verschiedenen Gruppen sind
in lebhaftem Gespräche. Die Römer, welche in nicht un-
beträchtlicher Anzahl vertreten sind, blicken mit einem ge-
wissen Mißtrauen auf die Phönicier. Vor wenigen Stun-
den ist ein iberischer Reiter vom Kriegsschauplatze einge-
troffen, und er wird von allen Seiten mit Fragen bestürmt.
Dieser Soldat aus Spanien trägt einen Panzer und Bein-
schienen, die aus feinen Ketten verfertigt worden sind; er ist
eine stattliche Figur. Auf einem Gerüst, um welches die
Menge sich drängt, ermahnt ein Redner zur Ruhe und
warnt das aufgeregte Volk vor jedem Tumult; er zeigt mit
ausgestrecktem Finger auf die von römischen Truppen be-
setzte Citadelle, welche die Stadt beherrscht. Auf den Zin-
nen derselben blinken Helme und Lanzenspitzen.
Im Innern dieser Zwingburg steht ein Tempel. Viel-
leicht ist er, wie jener in Karthago, dem Aeskulap geweiht,
oder der Pallas, der schönen und strengen Göttin der Weis-
heit; sie stammt ja aus Libyen. Ist dieser Tempel das
Heiligthum der keuschen Göttin, dann befindet sich dasselbe
in einer eigentümlichen Nachbarschaft. Denn hart unter
der Citadelle steht ein kokettes von hohen Bäumen beschatte-
tes Gebäude, in welchem aufgeputzte Weiber verkehren. Es
ist der Tempel der Astarte, der sidonischen Venus. —
Die Sonne steht schon hoch, es wird sehr heiß auf der
Agora und wir gehen nach den aus mächtigem Mauerwerk
aufgeführten Kais am Kaufmannshafen. Ein Ruderer
bringt uns in einer Barke nach der andern Seite, wo wir
auf der Insel ans Land steigen. Hier ist Alles ruhig; wir
finden Kühlung unter den Palmen und haben eine Anzahl
stattlicher Gebäude vor uns. Von der etwas erhöheten Spitze
des Eilandes, auf welcher sich die Terrassen der Festungs-
werke befinden, ist die Aussicht ganz herrlich. Zur Rechten
Alte Mosaik. Theseus kommt aus dem Labyrinth, nachdem er den Minotaurus getödtet.
sieht man ein großes, außerhalb der eigentlichen Stadt lie-
gendes Theater. Den Horizont bildet eine Hügelreihe, die
steil ins Meer abfällt; auf dem spitz auslaufenden Vor-
mende Musik übertäubt. Menschenopfer, hauptsächlich von Kindern,
waren gleichsam die Grundlage des karthagischen und überhaupt phö-
nicischen Baaldienstes. Aus Diodorus Siculus wissen wir, daß die
Statue des Baal-Saturn zu Karthago von Erz war; sie hob die
Hände in die Höhe mit einer Beugung nach unten, so daß das in
ihre Arme gelegte Kind hinabrollte und in einen Feuerschluud stürzte.
Diodor weiß auch, daß eigends zu dem Zwecke gemästete Sklaven-
kinder manchmal die Stelle der Kinder vornehmer Eltern vertreten
mußten. Als Agathokles Karthago bedrängte, glaubte man, daß
Baal über diese Stellvertretung zürne und verbrannte 200 vornehme
Kinder zumal, um den Gott zu begütigen; außerdem boten sich noch
300 Leute freiwillig zum Opfer an. Die Römer duldeten in den
ihnen unterworfenen phönicischen Städten solche Greuel nicht; die
Opfer wurden deshalb insgeheim gebracht. Plutarch spricht sich scharf
darüber aus; „nichts Aergcres hätten selbst die Typhonen und Nie-
sen einführen können, diese Feinde der Götter, wenn sie obgesiegt
hätten." Schon der persische König Darius Hystaspis verlangte von
den Phöniciern die Abschaffung der Menschenopfer, und als Gelo
von Syrakus mit den Karthagern einen Vertrag schloß, stellte er in
demselben diese Abschaffung ausdrücklich fest. Die punifchen Greuel
hatten auch in der römischen Kaiserzeit ihren Fortgang. Tertullian
gebirge stehen die Castra Cornelia. Gen Südwesten erhebt
sich -eine andere Hügelkette; von ihr her schimmern weiße
Gebäude, deren Umrisse man freilich nicht erkennt. Dort
ist oder war Karthago, die Metropole der verschiedenen
phönicischen Handelsniederlassungen auf dem Boden Afrikas.
Sie ist ein Trümmerhaufen seit nun einhundert Jahren,
und ihrem Falle verdankt Utica seinen Glanz und seinen
Aufschwung.
Vor uns, in weiter Ferne, erblicken wir ein bewaldetes
Vorgebirge, das von den lauen Fluthen des Mittelmeeres
bespült wird, das Promontorium Apolliuis. Dort stehen
viele Landhäuser in anmnthiger Umgebung; auf dem blauen
Wasser der Bucht schwimmen Kauffahrer mit weithin schim-
mernden Segeln. Wir fehen ein Schiff, das eben aus Bri-
erzählt, daß ein Proconsul, Tiberius, die Vaalspriester, welche Kin-
der geopfert hatten, an den Bäumen des Tempelhaines aufhängen
ließ. Hier mögen noch ein paar Verse des Silius Italiens stehen:
Mos fuit in populis, quos condidit advena Dido
Poscere caede Deos veniam, ac flagrantibus aris,
Infandum dictu, parvos imponere nates.
A.
38 Auf den Rui
tannien kommt, von wo es Zinn geholt hat; ein anderes
kommt noch weiter her, denn es hat aus dem Nordosten
Bernstein geholt. Andere Fahrzeuge kommen aus den ver-
schiedenen phönicischen Handelsniederlassungen in Jberien
und Gallien. Eins läuft eben ein, das mit sardinischem
Wachs beladen ist; wieder ein anderes bringt Soldaten und
numidische Reiter, welche auf Sicilien das dortige Heer ver-
stärken sollen. Auffallend ist eine lange, schmale Galeere,
die vorn und hinten in eine hohe Spitze ausläuft; sie kommt
aus Aegypten; der Pilot sitzt hoch am Mast in einem Korbe
und lenkt das Schisf sicher in den Hafen.
Am andern Tage besuchen wir den Kriegshafen. Wir
gehen den kolossalen Mauern entlang, die 6 Meter dick und
vom Boden bis an die Zinnen 12 Meter hoch sind. Sol-
daten schlendern auf denselben hin und her. Der Eingang
ist wohl bewacht und verwahrt; wir kommen an drei Forts
vorüber, welche viele Schießscharten haben und aus welchen
mit Steinen beladene Katapulten stehen. Jedes Fahrzeug,
welches den Eingang erzwingen will, kann von ihnen bestri-
chen werden. In das Fort zur Linken gehen viele Soldaten
nnd Matrosen, denn unter der Terrasse, welche die Kata-
pulten trägt, befindet sich wohl ein Tempel, in welchem die
Seeleute, welche den Gefahren des Meeres entronnen sind,
dem Gott ihren Dank bringen und ein Gelübde erfüllen?
Nein; in diesem Tempel, in welchen nur mattes Licht fällt,
wird der Venus Amphitrite geopfert.
Den Mauern entlang liegen viele Galeeren verschiedener
Art und von jeder Größe, einmastige und zweimastige; meh-
rere derselben tragen auf dem Verdeck einen hölzernen Thurm.
Neben diesen Kriegsschiffen liegen, in besonderen Reihen,
schwere, plump gebauete Fahrzeuge für den Transport. An
den breiten, niedrigsten Kais liegen die großen Magazine;
oberhalb derselben läuft ein zweiter Kai, in gleicher Höhe
mit den Häusern, und hinter demselben sind wieder Maga-
zine, in welchen man alle zur Ausrüstung von Schissen er-
forderlichen Gegenstände aufbewahrt.
In der Mitte des Kriegshafens erhebt sich ein mächtiges
Gebäude mit vier Bastionen und einer Anzahl von runden
Thürmen. Es ist zugleich Festung und Palast, in welchem
der Sufet-Admiral von Utica residirt. Er hat Gewalt über
Alles, was sich auf das Seewesen und den Seehandel be-
zieht; er ist das Vorbild der venetianischen Dogen. Jetzt
eben steht er oben auf dem Observatorium und überblickt
Hafen, Flotte und Arsenale. Er vernimmt von der Stadt
her ein dumpfes Geräusch und Geschrei; was soll das be-
deuten? Er schauet nach einem länglichrunden Gebäude,
denl Amphitheater, in welchem die Zuschauer, in der über-
wiegenden Anzahl Römer, sich ergötzen. Jetzt eben hat ein
berühmter Bestiarius, ein stämmiger Germane, mit einem
numidischen Löwen gekämpft und ist von demselben durch
Schläge mit den Pranken arg zugerichtet worden. Daher der
Jubel.
Jetzt beginnt im Hafen eine unruhige Lebendigkeit sich
bemerkbar zu machen; von allen Seiten her lautes Rufen;
n von Utica.
Matrosen und Seesoldaten eilen nach den Galeeren und den
Transportschiffen; viele Barken fahren hin und her, die
Kais füllen sich mit einer ängstlich bewegten Menschenmenge;
schwer belastete Sklaven tragen allerlei Sachen ans Ufer;
in aller Eile werden die Schiffe zn möglichst rascher Absahrt
hergerichtet.
Was hat das Alles zu bedeuten? Julius Cäsar hat
bei Thapsus gesiegt; er rückt in Eilmärschen gegen die Stadt
heran, in wenigen Tagen kann er vor den Mauern Uticas
sein, uud dieses ist der Hauptwaffenplatz seiner Gegner. Er-
folgreichen Widerstand kann man ihm nicht entgegensetzen;
deshalb rüsten sich die römischen Edelleute zur eiligen Flucht;
sie wollen sich nach Spanien retten. Die Menge macht
ehrerbietig einem Römer Platz, welcher die Streitkräfte der
pompejanischen Partei in Utica befehligt. Es ist Cato.
Der will nicht fliehen, er bleibt und weiß, was er thun wird;
inzwischen sorgt er eifrig dafür, seinen Freunden das Ent-
fliehen zu erleichtern.
Man vernimmt aus der Ferne Trompetengeschmetter
und der Bucht entlang wirbelt Staub auf, aus welchem man
dann und wann Schilde und Helme hervorglitzern sieht. Die
Reiter der pompejanischen Partei entfliehen ins Innere, nach
Mauretanien hin.
Diese Flucht ist ein Glück für die phönicischen Stadt-
bewohner, denn trotz Cato's Befehlen hatten die Reiter schon
mit dem Plündern begonnen*). —
Hier endet das Phantasiegemälde des Herrn Daux. Er
betont, daß man unbedenklich dasselbe als eine Wirklichkeit
hinnehmen könne. „Ich ersinde absolut nichts und habe
mich streng an Thatsachen gehalten; in den Zeichnungen ist
Alles gewissenhaft genau und mathematisch wiedergegeben;
ich reproducire die Vergangenheit in allen ihren Einzeln-
heiten." —
Weiter oben haben wir, Herrn von Maltzan folgend,
das Ruinenfeld geschildert. Auf die Römer folgten dieBy-
zantiner, Vandalen, Araber und Türken. Seit jenem Siege
Cäsar's sind mehr als neunzehn Jahrhunderte vergangen.
Uns fallen einige Verse aus Lucau's Pharsalia ein. Er
fagt von den Ruinen des alten, puuischen Karthago, was
auch von Utica gilt:
--Da liegt sie im Staub, die besiegte Karthago,
Thürnie und Burgen in Trümmern am unglückseligen Ufer.
Schutt ist die llbermüthige Stadt mit den Schrecken und
Nöthen,
Die sie auf Latium einst und laurentische Fluren gehäuft hat.
Kaum ist ein Zeichen von ihr, ein Nanie geblieben; ver-
schwunden
Ist sie, getilgt von der Erd', unkenntlich bis auf die Ruinen.
*) Thapsus lag in der Provincia Vyzaeene, die zum Gebiete
Karthagos im engern Sinne gehörte. Die Stadt ist historisch mcrk-
würdig durch den plötzlichen Uebersall, welchen Cäsar gegen Scipio,
den Schwiegervater des Pompejus, und König Juba unternahm, und
durch seinen Sieg über beide. 46 vor Christus. Scipio und Juba
gaben sich selber den Tod; Numidien wurde römische Provinz.
Ludwig Lindenschmit: Zur Kulturgeschichte der Vorzeit.
39
Zur Culturgefch
Vou Ludwig
Die Alterthumskuude in ihrer Stellung zur Naturforschung. —
itale Kongreß zu Bologna. — Kritik unhaltbarer Behauptungen
Crauiologisches. -
Die bunte Bilderreihe der Culturgeschichte in aufsteigen-
der Linie zu verfolgen, den letzten Ring in der Kette der
Erscheinungen zu sasseu, liegt so tief begründet in dem
Drange menschlichen Strebens nach Wissenschaft und Klar-
heit, daß Versuche in dieser Richtung mit immer größerm
Nachdruck und Erfolge in einer Zeit hervortreten mußten,
welche für die Beseitigung traditioneller Täuschuu-
gen und Vorurtheile in so vielseitiger Weise thätig ist
wie die uusrige. Je mehr das Bedürfniß einer Übersicht-
lichen Beurtheiluug der Thatsachen zum Bewußtsein gelangte,
je mehr man auf die Ergründung lange und fortdauernd
wirkender Ursachen hingewiesen wurde, um so tiefer mußte
die Untersuchung der Grundlagen späterer Entwicklung in
die früheren Zeiten zurückgreifen und einen immer weitern
Bereich ihrer Beobachtung uud Prüfung unterziehen. Die
Mängel und Lücken der bisherigen systematisch geordneten
Erfahrungen mußten eben fo bald zur Erkeuutniß gelangen
als das Verfehlte ihres Ergebnisses, der ethnologischen und
cnltnrlichen Vorstellungen von den alten Völkerverhältnissen
bis zu den frühesten Perioden hin.
Es sind hier irrthümliche sowohl als absichtlich gefälschte
Auffassungen zur Geltung gelangt, und daß sie Vorzugs-
weise für eine Beschränkung und Zurücksetzung des ger-
manischen Elements wirksam sind, ist ebenso bezeichnend
für die wohlmeinende Gesinnung unserer Nachbaren, von
denen sie zumeist ihren Ausgang nahinen, als für unfern
eigenen schwachmütigen Fanatismus für Unparteilichkeit,
mit welchem wir immer bereit sind, auch den frivolsten An-
sprüchen eine gewisse Berechtigung einzuräumen und leeren
Luftgebilden eine Art wissenschaftlicher Verkörperung zu ver-
leihen. Dank dieser unserer eifrigen Mitwirkung ist uus
denn auch die Bedeutung einer tendenziösen Auffassung
der vorzeitlichen Verhältnisse recht nachdrücklich zum Be-
wußtsein gebracht worden. Wenn wir sehen, wie an der
skandinavischen, slavischen und keltischen Darstellungsmeise
der Vergangenheit die Ueberhebuug der betreffenden Völker
und Völkchen sich steigert und ihre Nationaleitelkeit immer
mehr erhitzt; wenn selbst große politische Ansprüche und Pläne
auf Länderraub, wie neuerdings durch die bekannte Carte de
la Gaule, auf Verhältnisse der entlegensten Vorzeit begründet
werden sollen, so ergiebt sich der praktische Werth einer
Klarstellung dieser fernabliegenden Zustände für manche
recht aufdringlich herantretenden Fragen der neuesten Zeit.
Die Forschung an und für sich vermag dieselben freilich
nicht zu beseitigen, wohl aber der anmaßlichen Tendenzlüge
der Fremden die wissenschaftliche Hülle zu entreißen, und an-
dererfeits aber zugleich auch die nutzlosen, ja schädlichen Täu-
schungen zu zerstreuen, mit welchen uns ein verkehrter Pa-
triotismns im Wetteifer mit nachbarlichen Thorheilen zu
mancher Überschätzung und irrigen Ansicht unserer eigenen
Vorzeit verleitete.
Klarheit und Wahrheit ist Alles, was wir bedürfen,
und wenn dieselben auch erst mit Lösung einiger wichti-
ichte der Vorzeit.
Lindenschmit.
Die sogenannte Bronzecultur des Nordens uud der internatio-
— Beurtheilung der ethnologischen Verhältnisse der Borzeit. —
• Gradforschuug.
gen uud schwierigen Fragen zu gewinnen sind, so bürgen
doch für die endliche Erreichung des Zieles die Resultate einer
vorgeschrittenen Verfahruugsweise unserer Alterthumsfor-
fchnng. Wir haben wenigstens jetzt schon durch die Er-
schließung der Deukmale der Uebergangsperiode
von heidnischer zu christlicher Zeit eine sichere Grund-
läge zur Beurtheilung der früheren Lebens- und Bildungs-
zustände und ihrer Entwickelung erhalten, sobald wir über-
Haupt die letztere als eine naturgemäße und folgerichtige auf-
fassen und nicht als ein sprungweises Vorgehen mit ganz
unbegreiflichen Rückfällen betrachten wollen.
Die so überaus zahlreichen und vielartigen Gräber-
funde aus der Zeit von dem 5. bis 8. Jahrhundert ge-
währen einen vollkommenen Ueberblick über den Gesammtbe-
trag der technischen Erfahrungen und Fertigkeiten, welche
nach einer nahezu halbtausendjährigen Berührung mit den
Römern in unserm Lande heimisch geworden. Sie bieten
damit zugleich den denkbar sichersten Rückschluß auf den Um-
fang derselben vor jenem so vielseitig und nachhaltig an-
regenden Verkehr, und auf den Grad von Ausbildung und
Geschicklichkeit namentlich in der Metallarbeit, welchen
wir für die Erzeugnisse der Bewohner unseres Landes in
jenen ferner liegenden vorausgehenden Perioden anzunehmen
berechtigt sind.
Damit ist im Allgemeinen schon ein unverrückbarer Anhalt
gegen alle abenteuerlichen Combinationen gewonnen, ein Aus-
gangspnnkt, von dem es möglich wird, Schritt aus Schritt
den Denkmalen folgend, ein, soweit es überhaupt vergönnt
ist, verlässiges Bild der alten Culturzustände zu erhalten.
Ebenso ist auch die Aussicht eröffnet, für die Beurtheilung
der ethnologischen Verhältnisse der vorgefchicht-
lichen Zeit eine erweiterte und festere Grundlage herzustel-
len, als sie die bis daher einzig maßgebende Sprachforschung
mit ihren Völkertafeln und indo-germanifchen Völkerzügen
zu bieten vermochte. Wir werden diefe Förderung von
einem Zusammenwirken erwarten können, zu welchem sich
verschiedene andere wissenschaftliche Difciplinen der bisher
isolirten Archäologie genähert, und einen nicht nur gegen-
feitig fruchtbringenden, fondern auch nach allen Richtungen
hin vielverheißenden Verkehr eröffnet haben.
Die Forschungen, welche von naturwissenschaftlicher Seite
über das Alter des Menschengeschlechts und alle mit dieser
Frage zusammenhängenden Verhältnisse ausgenommen sind,
müssen an die Denkmale der ältesten Culturzustände an-
knüpfen und sich auf die Resultate stützen, welche die Alter-
thnmsforfchung aus den Gräberfunden der Vorzeit zu ge-
Winnen vermag.
Andererseits erhält die Grabforschung eine bisher ver-
mißte ebenso wichtige als anziehende Bereicherung in der wis-
senschastlichen Prüfung der körperlichen Ueberreste der alten
Bevölkerung durch Craniologie. Der Gewinn für eine all-
seitige Klarstellung der alten Zustände erscheint so gesichert
und vielversprechend, daß es dagegen wenig in Betracht
40
Ludwig Lindenschmit: Zur Culturgefchichte der Vorzeit.
kommen kann, wenn von den Vortheilen dieses Verkehrs
bis jetzt noch nichts Erhebliches der Alterthumsforschung
zu Gute kam. Bis dahin wenigstens war sie mehr der ge-
bende als empfangende Theil. Wenn sie Uber die verschie-
denen Arten und Bearbeitungsweifen der Werkzeuge aus
Stein und Knochen, Uber die zeitliche Dauer ihres Gebrauchs,
sowie Uber die Merkmale einer Altersverschiedenheit der
Metallgeräthe Auskunft zu ertheilen wußte, so hat sie damit
jene unerläßlichen HUlfsmittel geboten, welche allein die Na-
turwiffenfchaft bei ihren Untersuchungen alter Höhlenwohnun-
gen und anderer Ablagerungen von Ueberresten der Vorwelt
vor den größten und gefährlichsten JrrthUmern in der Alters-
bestimmung von Fundstücken scheinbar oft sehr frühzeitiger
Bildungsperioden bewahren können.
Dagegen hat als Gegengabe die deutfcheAlterthums-
künde bis jetzt noch wenig mehr als Anregung zu einer
Erweiterung und Vertiefung ihrer Stu-
dien und zwar eher durch Aeußeruugen
des Zweifels und des Mißtrauens als
der Anerkennung erhalten.
Nicht einmal aus der verhältnißmä-
ßig späten Zeit der Völkerwanderung,
sUr welche sie aus vielen Tausenden von
Gräbern ein Material beschaffte, wie es
sowohl an Maffe als unbedingte Ver-
lässigkeit aus keinem der früheren Zeit-
räume zu gewinnen ist, konnte sie die
Bestimmung einer wissenschaftlich darge-
stellten und anerkannten Charakteristik des
germanischen Schädels dieser Pe-
riode erlangen.
Neben die Resultate, welche durch
Ecker und Holder aus alamaunischen
Gräbern dieser Zeit gewonnen wurden,
stellten sich alsbald Zweifel, ja die be-
stimmte Negation anderer sehr ausge-
zeichnete; Forscher, wie Welker's und
Virchow's.
Wir sollen annehmen, daß die kör-
perlichen Ueberreste jenes großen Stam-
mes, dessen Eigentümlichkeit und un-
erschöpfliche Volksmenge von allen Seiten
und aus allen Zeiten des Alterthnms be-
zeugt wird, in den Gräbern des Landes,
das als vagina gentium galt, gar nicht
aufzufinden seien, ja wir sollen glau-
ben, daß eine dolichocephale Race nie-
mals existirt habe, obschon wir sie in
den zahlreichen Schädeln aus den alten
Friedhöfen der Alamannen, Bnrgnnden
und Franken in den Händen haben. -
den folche Urteilsspruche, welche zunächst aus einem Zwei-
sel an der Zeitbestimmung dieser Gräber hervorgegangen,
nur aus einer Unterschätzung und einer mangelhaften oder
einseitigen Kenntnißnahme der antiquarischen Leistungen
und Ergebnisse. Es ist noch nicht gar lange her, eigent-
lich erst seit den Funden von Manufacteu im Diluvium
und deu hiermit angeregten Forschungen nach dem Men-
schen der Urzeit, daß sich die Untersuchungen der Cra-
niologen, Anatomen und Paläontologen auf den Bestand
der Alterthumsfunde hingewiesen fanden. Als die hier er-
langte Auskunft Uber die Hinterlassenschaft der frühesten Lan-
desbewohner ausreichend zutreffend und zugleich von sehr
einfacher Art befunden wurde, hielt man für alles Uebrige,
was weiterhin noch wissenswerth erschien, eine rasche Orien-
tirung unter den antiquarischen Resultaten für genügend
Fig. 3.
Erklärbar wer-
und beschränkte sich auf Aneignung deffen, was das be-
kannte System des Stein-, Erz- und Eisenalters bieten konnte.
Jene der Naturforschung geläufige Eintheilung der Objecte
nach ihren stofflichen Eigenschaften in Classen und Genera
empfahl ohnehin diese Auffassung der altertümlichen Funde.
Der Vortheil einer handlichen Terminologie erschien so an-
nehmlich, daß man ihn selbst auf die Species auszudehnen
suchte und daran dachte, die einzelnen Formen der Messer,
Meißel :c. gleich jenen mancher Pflanzen und Thierarten mit
den Namen bekannter Forscher zu bezeichnen, und es ist zu
bedauern, daß dieser Vorschlag vielleicht gar nur in Folge der
Verlegenheit unterblieb, jetzt schon die erforderliche Anzahl der
letzteren für die große Menge der Varietäten zu finden,
selbst wenn man unter den zunächst befreundeten bis zu den
Besitzern und Aufsehern von Sammlungen herabginge.
Man bewegte sich bald mit solcher Sicherheit auf diesem
systematisch abgeheilten Gebiete, daß man
sich zu selbständigem Ausbau der Theo-
rieu und zur Mitwirkung bei der Ent-
scheidung der verwickeltsten Fragen der
Alterthumsforschung genUgend ausgerU-
stet und berufen erachtete. Man ließ
sich nicht durch das Bedenken abhalten,
daß die Beurtheilung vorzeitlicher Cul-
turverhältnisfe doch von anderen Ge-
sichtspnnkten ausgehen muß, als die
Untersuchung jener Objecte, welche Ge-
genstand der Natursorfchung sind, und
daß sich auf die Thatsache der Existenz
eines alten Volksstammes hin noch lange
nicht für denselben Ansprüche auf Pro-
ducte von Bildungszustäuden begründen
lassen, die nur als das Ergebmß eines
Znsammenwirkens sehr bestimmter günsti-
ger Verhältnisse zu betrachten sind, welche
in jener Frühzeit nicht überall vorhanden
und noch weniger gleichartig wirksam sein
konnten.
Daß die englischen, dänischen nnd
auch die französischen Gelehrten für die
gesammten alterthümlichen Metallgeräthe
ihrer Landesfunde die Anerkennung ein-
heimischen Ursprunges beanspruchen, ist
bei deu ersteren aus dem allesbeherrschen-
den nationalen Dünkel und bei den letz-
teren wohl auch theilweise aus demselben
Grnnde, aber doch auch aus der Unzu-
länglichkeit der Resultate einer erst neu
ausgenonimenen Untersuchung zu erklä-
reu; weniger begreiflich ist dagegen, daß
auch deutsche Gelehrte ganz unbefangen auf jene Täuschungen
eintreten, und in diesem Punkte die tiefere Auffassung, die
auf den Grund der Dinge dringende Richtung unserer For-
schuugsweise verleugnen.
Die Art des Uebergangs der mitteleuropäischen
Völker vou demGebrauchederWerkzeuge ausStein,
Holz und Knochen zu jenem der Metalle bleibt die
wichtigste und zugleich schwierigste Aufgabe der
culturgeschichtlichen Studien. Unerklärbar aus sich
selbst ist das unvermittelte Auftreten der Messerklinge aus
Erz neben dem Schneidewerkzeug aus Feuerstein, der Erzlanze
neben dem zugespitzten Knochensplitter und des zweischneidigen
Bronzeschwerts neben dem Beil aus Kieselschiefer. Selbst
die Annahme einer wie immer herbeigeführten Verpflanzung
der Erzkunst nach dem Norden mußte eine Reihe felbstän-
diger Versuche und eine allmälige Ausbildung derselben bis
Kulturgeschichte der Vorzeit. 41
dieser Bildungsverhältnisse aber können wir aus den im All-
gemeinen völlig übereinstimmenden Schilderungen griechischer
und römischer Beobachter aus der ersten historischen Zeit des
Nordens gewinnen. Sie läßt sich im Einzelnen aus einer
Vergleichung der jetzt noch gleichartigen Zustände zurückge-
bliebener Völker ergänzen und bietet, je weiter rückwärts,
immer mehr nur noch ein Interesse in Bezug auf die Be-
stimmung ihrer Zeitdauer, welche allerdings weniger die
Aufgabe der Alterthumskunde als der Naturforschung bleibt.
5.
Fig. 6.
ter Ferne gebrachten Bestandtheile der späteren Grabfunde,
im Ganzen nur als Ueberlieferungen eines zeitweise sehr leb-
haften Verkehrs mit Völkern höherer Bildung zu betrachten
seien, mußten sie auch hier entschlossen bleiben, so wenig als
möglich von den Ansprüchen auf jene vermeintlichen Zeug-
nisse einer alten selbständigen Cultur des Nordens anszuge-
ben und höchstens einige Beziehungen derselben zu jener des
Südens einzuräumen.
Bei dieser bestimmten, vorgefaßten Ansicht war eine volle
Freiheit des Umblicks, eine Unbefangenheit der Prüfung und
6
Ludwig Lindenschmit: Zur
zu der Stufe der Bollendung voraussetzen, welche bereits in
den Fundstücken von Bronzearbeit, die unbedingt als die
ältesten zu betrachten sind, längst erreicht ist. Ihre Erschei-
nung in fortdauernder Begleitung der einfachsten Steinwerk-
zeuge wird deshalb so lange ein ungelöstes Räthsel bleiben
müssen, als dieselbe in unmittelbarer Verbindung mit den
altheidnischen Cnlturverhältnissen des Nordens oder gar aus
denselben hervorgegangen betrachtet wird.
Eine Vorstellung von dem Umfang und der Bedeutung
Fig.
Fig. 4.
Sobald aber die letztere sich auch bei den Untersuchungen der
ungleich wichtigern Periode des Eintritts der Metalle be-
theiligen und, über das anthropologische Gebiet hinaus, un-
mittelbar in die antiquarische Forschung eingreifen wollte, so
mußte sie erkennen, daß ein günstiges Ergebniß dieser Mit-
arbeit unerläßlich bedingt werde von einer umfassenden An-
eignung der bereits durch die Alterthumskunde gewonnenen
Thatsachen, da nur aus diesen erst sich die Formuliruug
Fig. s.
jener Fragen ergeben kann, von deren Beantwortung eine
Klarstellung der Verhältnisse zu erwarten ist.
Wie ungenügende, ja gänzlich nutzlose Resultate solche
Erörterungen ohne vollkommen sichern Ausgangspunkt und
bestimmte Richtung haben müssen, lehren die Ergebnisse des
letzten internationalen Congresses zu Bologna, an
welchem sich auch die Spitzen unserer „Anthropologie archso-
logique" betheiligten.
Sollte hier die Untersuchung aufgenommen werden über
den einheimischen oder auswärtigen, zunächst italischen Ur-
sprung der nordischen Bronzefunde oder, wie man sich aus-
zudrücken vorzieht, der nordischen Bronzecultur, so war für
eine vollkommen objective Prüfung der Thatsachen schon der
Umstand von vornherein ungünstig, daß die nordischen For-
scher mit einer unerschütterlichen Ueberzeugung von der Exi-
stenz einer altheimischen Erzknnst an die Frage herantraten.
Wenig geneigt, nur die Möglichkeit ins Auge zu fassen, daß
die alten Bronzegeräthe ihrer Länder, wie so viele aus wei-
Globus XXII. Nr. 3. (Juli 1872.)
42 Netschwolodoff's Reisen c
Erörterung undenkbar, während eine Entscheidung der Frage
ohnehin nicht herbeizuführen war durch vereinzelte für diesen
Zweck unternommene Ausgrabungen, noch durch die Einsicht-
nähme einer großen Menge der interessantesten, aus allen
Theilen Italiens zusammengebrachten Alterthümer.
War aber einmal die ganze Untersuchung neuerdings
vor Allem dadurch angeregt, daß eine sehr bemerkenswerthe
und immer wachsende Anzahl jener cisalpinischen Bronzen,
insbesondere beinahe sämmtliche Erzgesäße unverkennbare
Merkmale einer hochausgebildeten Technik von bestimmter
Eigentümlichkeit kundgeben, welche in dem alten Italien
nachweisbar und dort in vollem Zusammenhang mit der
übrigen Entwickelung der Cnltur, im Norden aber isolirt
steht, so konnte nur eine umfassende Kenntnißnahme und
Prüfung dieser Fundstücke die richtige Grundlage und den
Ausgangspunkt der Erörterung bilden. An jene besonderen
Merkmale der Technik und des Stils der nordischen Bron-
zen mußte die weitere Nachforschung anknüpfen. Man
mußte wissen, was man zu suchen hatte, um dem Sprüch-
wort gemäß auch zu finden.
Wenn wir dagegen nach der Aenßeruug eines der her-
vorragenden Teilnehmer des Congresses das ganze Ergeb-
niß dieser internationalen Untersuchung danach zu bemessen
haben, daß Thongefäße von der Art unserer Urnen in Form
eines Hauses, und jener mit Verzierungen von Buckeln unh
Masken auch in den alten Gräbern Italiens vorkommen,
und daß eine eigenthümliche Ornamentirnng durch Vogelge-
stalten sehr nahe Beziehungen zwischen nordischen und itali-
schen Bronzen bietet, so bedurfte es zu dieser Beobachtung
gerade nicht eines internationalen Congresses in einer Stadt
Italiens, denn diese Thatsachen waren schon lange Zeit Jedem
bekannt, der sich in irgend eingehender Weise mit dieser Frage
beschäftigte. Die außerordentliche Dürftigkeit dieses Resul-
tates, welches die früheren Forschungsergebnisse nicht um das
Geringste erweitert, erklärt sich einfach nur daraus, daß die
lichtgebenden Entdeckungen diesseits der Alpen früher nur sehr
vereinzelt oder noch gar nicht existirten und heute selbst in
den Kreisen der Teilnehmer an den Congressen unbekannt
oder unbeachtet geblieben sind.
Es rechtfertigt sich diese Annahme wohl aus der Thatsache,
daß auch nicht einer der Anwesenden daran zu erinnern
Willens oder im Stande war, daß gerade ganz in der Nähe
von Bologna, in denGräbern beiMonteveglio, jene ge-
rippten Eimer von Erzblech (zugleich mit der zeitbestimmen-
den Beigabe von bemalten Thongefäßen sehr alten Stils)
den Grenzen der Dsungarei.
zu Tage gekommen sind, welche auch diesseits der Alpen in
dem Grabfelde von Hallstadt (Fig. 4) in namhafter Zahl
gefunden wurden, in der Schweiz und den Rheinlanden
nicht fehlen und in fünf Exemplaren ganz gleicher Art aus
niederfächfifchenGrabhügeln erhoben worden find. Man
bedachte oder wußte nicht, daß, ungerechnet die Schalen und
Becken aus Erz und einen vollständigen Dreifuß, schon 16
Bronzekannen (Fig. 5) und 4 Amphoren und Eimer ganz
unverkennbar etruskischen Stils allein nur aus Grabhügel-
sundeu des Rheinlandes vorliegen, und daß bekanntermaßen
dieselben Erzkessel (Fig. 6), welche einen so charakteristischen
Bestandtheil der Hallstädter Grabfunde bilden, in Italien
ebenso gut als in dem Ostseegebiet und sogar in Irland
gefunden werden. Ebenso unbeachtet blieb es, daß die Er-
zeuguisse jener hochalterthümlichen Werkweise, der getriebenen
und mit punktirten Ornamenten ausgestatteten Arbeit in Erz-
blech (Fig. 8 und 9), welche in Schweden, der cimbrischen
Halbinsel, in Deutschland und der Schweiz zu Tage kommen,
wohl eine genaue Bergleichung mit den überaus zahlreichen,
gleichartigen und nächstverwandten Fundstücken Italiens sor-
dern, wie die Erzarbeiten mit eingehängten Klapperblechen
(Krotalen), welche, ein bestimmtes Merkmal etruskischen Ge-
schmackes, weit über die Alpen nach Süddeutschland und
durch das Elbland bis in das Ostseegebiet reichen.
Es sind dies Thatsachen, die nach Zahl und Bedeutung
nicht etwa nur Anknüpfungspunkte zu einer Prüfung des
Verhältnisses der nordischen Bronzen zu jenen des Südens
darbieten, sondern vielmehr dieselbe als durchaus unerläßlich
darstellen, auch bei den größten Schwierigkeiten, die, wie
man behauptet, gegen die Anerkennung der Verwandtschaft
handgreiflich gleichartiger Objecte erhoben werden könnten.
Freilich liegt die Sache nicht ganz so einfach, daß sie mit
einem Besuche der italischen Museen abgethan werden könnte,
welche bis jetzt bekanntlich nur ausnahmsweise etwas Anderes
als die Erzeugnisse der Kunst und des Kunstgewerbes classi-
schen Stils einer Aufnahme würdigten. Wollte man, wie
früher schon mehrfach versucht wurde, diese Sammlungen
mit der Absicht und dem Anspruch durchforschen, für jede
einzelne Form der nordischen Bronzegeräthe die entsprechende
südliche auffinden zu wollen, so mußte man allerdings jene
Enttäuschung erfahren, welche auch jenen Besuchern des
Congresses nicht erspart blieb, die aufs Gerathewohl Eut-
deckungen zu machen hofften ohne wohlbedachten Plan und
ohne einen durch die weganzeigenden Funde diesseits der
Alpen bestimmten Ausgangspunkt.
Netschwolodoff's Reisen an
Nach Überschreitung des Jngan-Taß senkt sich das
Land merklich und die Luft wird wärmer. Etwa fünf Werst
vom Ausgange der Schlucht Karafai entfernt steht das
erste chinesische Piket am Flusse Borchudschir. Das
Piket oder die Wache, wie die Ortseinwohner es nennen, be-
steht in einem mäßigen, steinernen Gebäude, um das eine
42 Fuß hohe Mauer aus Erdwerk gezogen ist, so daß vom
Piket kaum das Dach heraussieht; dagegen giebt eine Allee
von Weißpappeln im Innern dem Platze doch so viel Leben,
daß sie den müden Blick des Wanderers versöhnen und ihn
die Niedergeschlagenheit vergessen machen, die er aus der
den Grenzen der Dsungarei.
überwundenen Wildniß mitbrachte. Das Thal des Bor-
chudschir, bewässert durch dessen zahlreiche Arme, ist von
Gras und Gesträuchen dicht bedeckt; der Geruch der Feld-
blumeu, der Anblick der dichtbewachsenen Flachsfelder, die
Massen Hagebutten von der Röthe der Johannisbeere, end-
lich der Glanz der nicht mehr vom.Gebirge verdeckten Sonne,
das Alles nach langer und ermüdender Wanderung an Fels-
wänden hin macht einen so freudigen Eindruck, daß man sich
für alle ertragenen Beschwerden vollkommen belohnt fühlt.
Rechts und links ist das Piket von unbedeutenden Höhen
umgeben, und auf dem höchsten Punkte derselben steht fort-
Netschwolodoff's Reisen c
während eine chinesische Wache mit Armbrust und Pf ei-
len. Im Trabe ritt ich zum Piket hinab, an dem Thore
desselben aber trat mir ein Wachtmann entgegen, der mir
mit Zeichen zu verstehen gab, daß ich vom Pferde abzusitzen
und zu Fuß beim Commandanten des Platzes zu erscheinen
hätte. Mein Pferd dem Chinesen überlassend, schritt ich
mit zwei Kosacken durch einen kleinen Hos nach der Woh-
nuug des Befehlshabers, einem niedlichen steinernen Gebäude
mit kaum fallendem Dache, welches letztere aus ziemlich weit
aus einander gelegten Balken mit einem aufgeschlagenen Ge-
menge aus Thon und Kurzstroh bestand. Ueberhaupt be-
merkt man an den Bauten der Chinesen viel Sorgfalt und
Sachverständnis Das Häuschen selbst hatte vier Theile:
die Hausflur, links die Küche, rechts die Zimmer des Com-
Mandanten, daran noch eine kleine Vorrathskammer. Vor
dem Gebäude steht eine kolosfale Pappel, unter welcher der
Mandfchur majestätisch auf einer Bank saß und, seine
Pfeife rauchend, uus erwartete.
Nach erstem Austausch gewöhnlicher Höflichkeitszeichen
mittelst Knix und freundlicher Geberde sahen wir uns in
ziemlicher Verlegenheit darüber, wie wir uns unsere Gedan-
ken mittheilen sollten. Der Mandschur verstand so wenig
Russisch wie ich Chinesisch. Zum Glück sprachen die Ko-
sacken meiner Begleitung (— Herr Netschwolodofs, damals
noch Lieutenant, befehligte einen von Kopal an das russische
Consulat in Kuldscha gehenden Geldtransport —) gut Kir-
gisisch und ein dort anwesender Kirgise radebreche Chine-
sisch. Jedes Wort, das wir sprachen, passirte demnach zwei
Dolmetscher, doch bei all der Umständlichkeit verstanden wir
uns so gut, daß der Mandschur bald liebenswürdig und ge-
sprächig wurde und wir uns später wie beste Freunde
trennten.
Der Anfang der Bekanntschaft war allerdings ein äußerst
ceremouiöfer. Als der Mandschur meinen geringen Rang
erfuhr, ließ er eine so kleine und niedrige Bank bringen,
daß ich kaum sitzen und die Füße unterschlagen konnte. Da-
mit nicht genug, zog er aus der Tasche zwei Aepsel; den
guten davon nahm er für sich, mir aber reichte er ein so
schlechtes Exemplar, daß ich mich ekelte, es in die Hand zu
nehmen. Um indeß den gastfreundlichen Hausherrn nicht zu
kränken, gab ich mir den Anschein, sehr erfreut darüber zu
sein, und steckte den Apfel mit dem Bemerken in die Tasche,
daß ich ihn später verzehren würde; allein der Mandschur
ging darauf nicht ein: er könne unmöglich auf das Vergnü-
gen verzichten, mich den Apfel wirklich genießen zu sehen!
Ich meinerseits schenkte ihm nun einige Cigarren und Pa-
Piros. Als der Mandschur und seine Soldaten diese er-
blickten, kannten sie nicht deren Verwendung, als ich aber
erst eine Cigarre, dann eine Papiros anbrannte, brachen sie
so rückhaltlos in Verwunderung und Gelächter aus, daß die
ganze Würde des Commandeurs dahinschwand; er wurde
lustig und schrie geradeweg. Und als er gar Schweselhölz-
chen bei uns erblickte, begann er mit ihnen zu spielen und
uns deren abzubetteln, wie ein kleines Kind. Einmal der
Würde los und ledig, blieb der Mandschur gemüthlich; er
führte uns nun selbst in seine Zimmer, erklärte uns die Auf-
schriften, ^ mit denen die Wände bemalt waren (wovon wir
aber wenig begriffen, da der als Dolmetscher dienende Kir-
gise offenbar entsetzlich log), zeigte uns dann die Küche und
begann, was mich sehr interessirte, mittelst kleiner Stöckchen
eine Art Nudeln zu verzehren.
Dann ging es zur Caserne und von da in den Tempel.
Die für die Soldaten des Pikets bestimnite Caserne ist ge-
rade so ein Gebäude, wie die Wohnung des Befehlshabers,
nur mit dem Unterschiede, daß dasselbe in zwei Hälften zer-
fällt; in der einen befindet sich die Küche und die Kanzlei,
den Grenzen der Dsungarei. 43
in der andern sind die Pritschen zum Schlafen erbaut. In
der Caserne bemerkt man allenthalben große Reinlichkeit,
und die Soldaten sind selten ohne Beschäftigung. Das Pi-
ket Borchudfchir zählte im Ganzen 15 Mann; der eine
steht auf dem Berge und schaut nach den Karawanen aus,
welche hier Zoll erlegen müssen, sobald sie nicht mit Papie-
ren von den russischen Consulateu versehen sind; ein zweiter
Soldat hält Wache am Thore des Pikets; ein dritter dient
dem Commandanten als Koch; etliche Mann fahren ge-
wohnlich Holz vom Flusse Usjuk herbei; ein oder zwei
Mann kochen und backen für ihre Cameraden; kurz, zu
thun giebt es vollauf. Nach gethauer Arbeit versammelt
sich diese kleine Compagnie gewöhnlich in der Küche, setzt
sich dort im Kreise zusammen und erzählt sich Geschichten,
oder einer von ihnen trägt ein Lied vor und spielt dabei die
Dombra; es ist das eine Art Zither mit Streichbogen, des-
sen Haar mit den Saiten des Instrumentes umflochten ist
und das so weinerliche, verworrene und widerwärtige Töne
von sich giebt, daß man seltsame Begriffe von dem Gehör-
organismus dieser Leute bekommt. Die Speisen bei den
Chinesen sind ganz vortrefflich und, wie ich später erfuhr,
weit besser, als die eines jeden, selbst bemittelten Colonisten
in dieser Gegend. Lange war ich in Zweifel über die wirk-
liche Herkunft dieser Piketsoldaten; ich glaubte, sie wären
Mandschuren, und der Offizier selbst bestätigte das; wahr-
scheinlich schämte er sich zu bekennen, wer seine Untergebenen
seien. Der Kirgise aber, der uns als Dolmetscher diente,
verplapperte sich, und so erfuhren wir, daß diese Soldaten
durchaus keine Chinesen, sondern Kalmücken vom Stamme
Solo n waren *), die in großer Anzahl in der Umgegend an-
gesiedelt sind. Diese Solonen sind verpflichtet, den kaifer-
lichen Dienst in den umliegenden Piketen zu verrichten; ein
Gemeiner dient zwei Wochen, ein Moschkö, d. h. Unter-
offizier, zwei Monate, uud der Commaudaut ein halbes
Jahr. Ist letzterer ein Offizier, so ist er immer ein wirk-
licher Mandschur.
Die Bekleidung des Piketsoldaten ist bei der Kürze der
Dienstzeit sein Eigenthum und unterscheidet sich nicht im ge-
ringsten von dem Anzüge des gewöhnlichen Landbewohners,
ausgenommen durch die mit einer Kugel decorirte Mütze,
die als das Zeichen des dienenden Standes gilt. Die Be-
wassnung dagegen liefert die Regierung und diese besteht Alles
in Allem aus Armbrust und Pfeilen. Es läßt sich nicht
behaupten, daß diese Soldaten besonders geschickt wären in
der Handhabung ihrer harmlosen Waffe, wenigstens von den-
jenigen, welche in diesem Pikete dienten, war nicht Einer im
Stande, im Ritt einen auf die Erde gelegten Bogen Papier
zu treffen. An Pferden wird seitens der Regierung nichts
verabreicht; kommt nun ein Grenzwachtsoldat mit eigenem
Pferde zum Dienste, so wird er veranlaßt, mit ihm Holz
und Proviant zu fahren, es überhaupt je nach Bedarf bald
zum Reiten, bald im Zuge zu verwenden. Die dortigen
Pferde sind klein und unschön, aber sehr dauerhaft und fest
auf den Füßen. Nachdem ich mich von der häuslichen Ein-
richtuug des Pikets und seinem ganzen Dienste unterrichtet
hatte, wurde ich zum Götzentempel und zwar zum Tempel
desHnan-Loi geführt. Derselbe ist in einem kleinen Gar-
ten ganz nahe an der Wohnung des Commandanten erbaut.
Den Eingang bilden hölzerne Thore, welche von oben bis
unten mit verschiedenen Sprüchen beschrieben und nebenbei
mit bunten Schreckbildern chinesischer Malerei bedeckt sind.
*) Hier scheint Herr Netschwolodofs wohl im Jrrthum zu
sein. Die Solonen sind allerdings West-Mandschu und keine
Kalmücken. Sie haben ihre Stammsitze in der Gegend von Tsitsi-
kar, und das Wort Solon bedeutet Vogenschütz („Globus" XXI,
S. 96).
44 Zustände im ü<
Beim Eintreten bemerkte ich zunächst etwa fünf Schritt vor
mir ein wohl 20 Fuß hohes Gestell von Stangen, die zwei
bis drei Ellen von einander standen und quer durch kürzere
verbunden waren. Wie man mir erklärte, dienten sie zu
dem Zwecke, daß man zur Zeit des Neumonds bunte Stoffe
an ihnen aufhängen konnte, um alle Verehrer des Huan-Loi
von diesem Ereigniß zu unterrichten. Der Tempel selbst, ein
kleines viereckiges Gebäude, ist ähnlich wie die anderen Ge-
bände des Pikets hergestellt, aber mit den grellsten schreienden
Farben ausgemalt, auch an der Vorderseite ganz mit buntem
Papier überklebt, welches wiederum allerhand Aufschriften
trägt. Als die Thore des Tempels geöffnet wurden, trat
uns feuchte Grabesluft entgegen. In der Mitte des mit
den scheußlichsten Götzenbildern ganz angefüllten Tempels,
auf einer Erhöhung von etwa drei Fuß, faß der Hauptgötze
von hoher Gestalt und ziemlicher Dicke; er hat einen dün-
nen und langen Schnurrbart. Ein gelbseidener Mantel
und eine Mütze in Form einer Krone bildeten seine ganze
Bekleidung; der rechte Arm war unter dem Mantel versteckt;
in der vorgestreckten Linken hielt er ein weißes Taschentuch.
Der ganze Burchan (Götze) war derartig überstäubt, daß
das weiße Taschentuch grau, der Mantel braun erschien. Ne-
ben dieser Hauptfratze befindet sich ein Altar, d. h. ein klei-
ner Tisch, auf welchem eine Urne steht, auch zwei Talglich-
ter lagen dort, welche zur Zeit der Götzenverehrung ange-
brannt werden. Ferner befinden sich auf dem Altar noch
zwei gutgearbeitete Glöckchen in Gestalt umgekehrter Tulpen;
auf diese wird mit einem besondern Metallstäbchen von außen
geschlagen, wobei sie einen sehr reinen und angenehmen
Klang geben. Beschützt wird der Altar von zwei mit Schwer-
tern bewaffneten Götzen. Rechts und links vom Obergötzen
stehen untergeordnete, und alle Wände und Mauern sind
mit Zeichnungen bedeckt, welche Episoden aus dem Leben des
Huan-Loi darstellen.
Nachdem ich Alles, was Aufmerksamkeit verdiente, be-
sichtigt hatte, sprach ich dem Mandschuren für seine Liebens-
Würdigkeit meine Dankbarkeit aus und reichte ihm, um von
ihm Abschied zu nehmen, die Hand. Der Mandschur der-
stand diese Umgangsform nicht und nahm jedenfalls an,
ich trüge Verlangen, daß er mir im Betreff meines Schick-
fals wahrsage; denn sofort ergriff er meine Hand und stellte
sich, als ob er in tiefes Nachdenken versunken sei, folgte mit
^tischen Sudan.
einem Finger eine Zeitlang den Furchen meiner flachen Hand,
und wie von einer plötzlichen Inspiration ergriffen, prophe-
zeiete er mir dann viel Glück und hohen Rang. Ich stellte
mich von dieser Charlatanerie vollständig hingerissen, bewun-
derte seine tiefe Weisheit und äußerte, daß eine Nothwendig-
keit wohl nicht vorhanden sei, ihm seine Zukunft zu verrathen,
denn nichts liege wohl klarer am Tage, als daß er, gewiß
einer der ersten Männer des himmlischen Reichs, in Kürze
mehr erreichen würde, als ich armer Sterblicher wohl je
erhoffen dürfe. Entzückt von meinen Complimenten, weinte
fast der Mandschur vor Freude, und schenkte mir zum Abschied
in einem Anfall vonGroßmuth ein rofarothesTalglicht
mit der Bitte, recht bald von meiner Reife zu ihm zurück-
zukehren!
Wir übernachteten ganz in der Nähe des Pikets und
setzten am Morgen des andern Tages unsere Reise fort.
Noch hatten wir einen weiten Weg vor uns, denn vom Kok-su
bis zum Borchudschir rechnet man nicht mehr als 80 Werst,
bis Kuldscha aber hatten wir noch 125.
Etwa 15 Werst vom Borchudschir landeinwärts steht
das zweite chinesische Piket am Flusse Usjuk und führt
auch seinen Namen. Wir fanden dort nur eine kleine Wache,
wie es schien, von nur sechs Mann unter dem Commando
eines Moschks oder Unteroffiziers. Das Ueberfetzen über den
Usjuk ist mit großen Schwierigkeiten verknüpft; dieser Fluß
ist nämlich in viele Arme getheilt, äußerst reißend und mit
Unmassen von Felsen angefüllt; fast auf jedem Schritte trifft
man Wirbel oder Strudel, so daß sich das beladene Kameel
kaum auf den Füßen erhalten kann. Beide User des Flus-
ses find mit dichtem Walde bedeckt und liefern dem Vieh
vortreffliche Weide. Nachdem wir in tausend Aengsten den
Uebergang bewerkstelligt hatten, ging es wieder bergauf, berg-
ab, bis wir endlich einige größere sandige Thäler erreichten,
die wie Treppen von einander absetzten, und am Abend des
andern Tages bei der kleinen Stadt Korgos (so schreibt
Herr Netschwolodoff, auf den Karten steht Kurgafch) ein-
trafen. Die Einwohner derselben stehen bei der nachbarlichen
Bevölkerung im Rufe besonderer Vorliebe für fremde Habe;
hiervon unterrichtet, hielt ich es für angemessen, mein Zelt
noch etwa zwei Werst von der Stadt aufzuschlagen und
hier die Nacht zuzubringen.
Zustände im äo
„Glauben Sie mir, es ist in diesem Aegypten das Meiste
weiter nichts als lackirte Barbarei; urwüchsiges Türken-
thum neben französischer Frivolität, Luxus ohne Geschmack,
Plusmacherei der Beamten, ein niedergedrücktes Volk, das
man aussaugt, ein unverschämtes Monopolwesen, ein Hab-
gieriger Vicekönig, der seinerseits von französischen Aben-
tenrern und Projectenmachern ausgebeutet wird, und welchem
ruhige Energie und folgerichtiges Handeln ganz und gar ab-
geht. Für alle möglichen Pläne ist er leicht.zu gewinnen,
sobald ihm vorgespiegelt wird, daß sie ihm viel Geld ein-
bringen können, und namentlich, wenn sich darüber schöne
Redensarten in französischen und italienischen Blättern machen
lassen. Ihm liegt viel daran, in Europa für einen Freukld
der Civilisation zu gelten, aber er möchte außerdem noch
als Eroberer in der Geschichte figuriren. Ruhm, Geld und
recht viel Baumwolle, das sind drei Dinge, welche ihm sehr
Sudan.
am Herzen liegen. Wenn nur Mit- und Nachwelt sagen
könnendieser Vicekönig ist oder war ein großer Mann, er
hat das Reich, in welchem einst die Pharaonen herrschten,
bis zu den Aeqnatorialseen ausgedehnt, bis in die Region
der Nilquellen, welche bis auf unsere Tage ein Geheimniß
sind. — Es ist sein Trachten, den ganzen Sudan zu unter-
werfen, weit über das Land der Schillncks hinaus, und den
Verkehr bis an die großen Seen zu monopolisiren. Pascha
Samuel Baker, der sich auf ein im höchsten Grade aben-
teuerliches Unternehmen eingelassen hat, steckt dort oben bei
Gondokoro im Lande der Bari fest; die ganze Geschichte
wird einen kläglichen Ausgang nehmen; es wird sich am
Ende zeigen, daß man viel Geschrei um wenig Wolle ge-
macht und große Summen unnützerweise buchstäblich ins
Nilwasser geworfen hat. Mir ist unbegreiflich, daß ein
Mann wie Baker, der doch sonst einen klaren Kopf hat,
Zustände im öi
sich überhaupt auf einen solchen Schwindel hat einlassen
können."
So etwa lauten die Worte, welche ein Mann zu uns
sprach, der mit allen Verhältnissen der Nilländer gründlich
vertraut ist. Es traf sich, daß wir einige Tage nachher
einen Bericht aus dem ägyptischen Sudan lasen, wel-
chen die „Mittheilungen der Geographischen Gesellschaft in
Wien" in ihrem Maihefte bringen. Alles, was unser Freund
uns auch sonst über die wüste Wirtschaft mitgetheilt hatte,
wird in jenem Schreiben aus Chartum vom Februar 1872
durch eine Menge von speciellen Angaben bestätigt. Die-
selben gewähren einen tiefen Einblick in die Verhältnisse, und
wir können uns nicht versagen, Einiges aus denselben mit-
zutheilen. Hier ist keine Schönfärberei; wir finden die nackte
Barbarei, eine rechte und echte Türkenwirthfchaft.
Der Berichterstatter hebt zunächst hervor, daß Verwal-
tung, Rechtspflege, Polizei, öffentliche Sicherheit und Ge-
sundheitspflege im ägyptischen Sudan sich in einem so ver-
wahrlosten Zustande befinden, wie sonst nirgends in der
Welt. Der Sudan umfaßt die Mudirien (Provinzial-
eintheilungen) Massaua, Suakim, Taka, Berber,
Dongola, Kordofan, Faschoda, Sennar und Char-
tum. Die Zustände waren so schauderhaft geworden, daß
vor einiger Zeit eine gründliche Umgestaltung wenigstens
decretirt wurde. In Massaua ist Werner Munzinger
zum Gouverneur ernannt worden; in der höhern Verwal-
tung wurden Personalveränderungen vorgenommen. Der
Hokmadar, d. h. Generalstatthalter, Djafer Pascha,
wurde abberufen. Er hat sechs Jahre lang die Verwaltung
in höchst merkwürdiger Weise geführt. Er war der größte
Maurermeister in Chartnm. Seine einzige Sorge war
den Steinbrechern, Ziegel- und Kalkbrennern zugewandt;
vor seinem Palast am Blauen Flusse ließ er einen Damm
bauen, in der Nähe ein Landhaus und eine Moschee für die
Fokara, diese mohammedanischen Frömmler. Aber die
Soldaten waren schlecht untergebracht; das Krankenhaus
wurde nicht ausgebessert. Djafer Pascha, den Baker ganz
richtig als einen Seelenverkäufer bezeichnet hat, haßte die
Christen, er ist fanatischer Muselmann.
Die Unterbeamten konnten nach Herzenslust Erpressun-
gen sich zu Schulden kommen lassen; sie wußten sich vor
jeder Strafe sicher. Ohne Bestechung war nichts dnrchzu-
setzen, die Betrügerei geradezu schamlos; der Chartumer Be-
richt bringt dafür Thatsachen bei. „Die öffentlichen Zu-
stände sind nahezu in räuberische Anarchie ausgeartet, Dieb-
stahl bei Tag und Nacht, Untersuchung keine, Strafe keine,
Patrouille keine. Den armen Fellahs, welche auf Eseln
Getreide, Gummi, Holz :c. transportirten, wurden von den
Soldaten Seiner viceköniglichen Hoheit auf offener Straße
die Thiere vor den Augen weggeführt, den Weibern, welche
vom Flusse Wasser holten, die Krüge vom Kopfe genommen,
weil die Regierung die Krüge nöthig hätte. Schiffe fammt
Bemannung wurden in Beschlag genommen, Menschen in
den Straßen der Stadt aufgefangen, um sie in irgend wel-
chen Dienst zu Pressen, z. B. die Bemannung der Regie-
rungsschiffe zu vervollständigen. Niemand durste eine Ein-
Wendung machen. Es war zuweilen eine wahre Menschen-
jagd, und wer konnte, flüchtete in die Wüsteneien. Die
Landbewohner traueten sich nicht in die Stadt zu Markte,
die Schiffer legten ihre Fahrzeuge außerhalb der Stadt an,
ließen auch wohl dieselben im Stiche und entflohen. Die
Dieberei ging so weit, daß sogar die Staatscasse
auf Befehl des Gouverneur-Stellvertreters, Ali
Bey Aweda, durch die Wache selbst beraubt wurde.
Dieser Ali Bey war früher Mudir in Berber, wo er wegen
eines Caffendeficits von 8000 Pf. St., welchen er heute
Püschen Sudan. 45
noch zu rechtfertigen hat, abgesetzt wurde. Djafer Pascha
stellte ihn um eine Charge höher an; er wurde Regiments-
commandant und Stellvertreter. Ein Europäer meldete,
daß bei ihm ein Dieb eingebrochen sei; Ali Bey entgegnete:
Wenn Du den Dieb hast, so bringe ihn her; hast Du ihn
nicht, so läßt sich nichts machen. — Jedem Hausbesitzer
wurde durch Decret befohlen, sein Gebäude selber zu be-
wachen."
Mit Djafer Pascha sind zehn Beys, also Excellenzen,
sammt ihrem ganzen Anhange dienstlos geworden, — es
heißt, man wolle Ersparnisse machen. Zwei jener Excellen-
zen sitzen im Kerker, um die anderen kümmert man sich nicht.
Im December 1871 kam der neue Statthalter, Mun-
tas Pascha; er schickte sofort 21,000 Beutel nach Kairo
und ließ 25,000 Beutel Staatsgelder aus Kordofan holen.
Das sudanesische Gold und Silber wandert Alles zum Vice-
könig; im Lande selbst herrscht deshalb drückende Geldnoth
und aller Verkehr liegt darnieder. Seit der neue Gouver-
neur im Lande ist, stieg die Brotfrucht, nämlich die Durrah,
um das Doppelte. Als Arbeiter verwendet er nur Sol-
daten, die weiter nichts kosten. Muntas Pascha ist ange-
wiesen worden, recht viel Baumwolle pflanzen zu lassen.
Es ergehen zu diesem BeHufe Zwangsbefehle an die Ein-
geborenen, „Muntas Pascha ist ganz Baumwollen-
mann"; seine Agenten müssen bezirksweise die Pflanzungen
überwachen. Die Steuern sollen fortan in Baum-
wolle entrichtet werden. Am südlichen Blauen Flusse
weigern sich die Leute Baumwolle zu pflanzen, weil sie aus
Erfahrung wissen, daß die Regierung ihnen die Baumwolle
nur um den vierten, höchstens um den halben Preis des
Platzwerthes anrechnet. —
Der Verfasser des Chartumer Berichtes schildert die That-
sachen getreu; er hat ganz Recht, wenn er sagt, daß der
Sudan viel mehr Zucker und Baumwolle erzeugen könne als
Aegypten, vorausgesetzt, daß die Bedingungen dafür gegeben
werden: Bewässerung, Arbeitskräfte und rasche und billige
Communication. Der Sudanese, gleichviel ob Araber oder
Schwarzer, will und mag nicht anstrengend arbeiten; er
liebt die Gemächlichkeit, den Handel, das Reisen; er läßt
den Acker zumeist durch Sklaven bestellen. „Also in Eon-
sequenz Colonien!"
Wir erfahren aus dem Berichte, daß schon vor zwei Iah-
ren eine deutsche Colonie für Unterägypten projectirt
worden sei, um deutsche Cultur bei den Fellahs einzufüh-
ren. Der Bericht nun schreibt: „Eine deutsche Colonie
für Sudan! Da ist ein großes Feld für deutsche Arbeit-
samkeit, für deutsche Agricultur. Fremde Cultur, euro-
päische Civilisation muß ins Land geführt werden, sonst
wird das innere Afrika aus seinem vorsündfluthlichen Zu-
stände nie sich erheben."
Der Chartumer Berichterstatter faselt ins Unpraktische
hinein, wenn er deutsche Colonisten in das Negerland zu
ziehen wünscht. Einen ähnlichen verrückten Plan hat schon
vor etwa einem Vierteljahrhundert der bekannte Baron Mül-
ler gehabt. Das fehlte noch, daß wir unsere deutschen Bauern
der ägyptischen Barbarei preisgeben, daß wir sie in das tro-
pisch-heiße, zum großen Theil ungesunde Land der Schwar-
zen schicken sollten! Es ist barer Unverstand, einen solchen
Gedanken auch nur zu hegen. Unsere deutschen Arbeiter
sind nicht dafür in der Welt, den Neger im Sudan aus
seinem „vorsündfluthlichenZustande zu erheben". Sie wür-
den es auch schon deshalb nicht können, weil sie unbedingt
dem Klima zum Opfer fallen würden. Möge wer wolle
dem ägyptischen Vicekönig Baumwolle bauen, — unsere deut-
schen Bauern verstehen von dieser Cultur nichts und sind
viel zu gut für ägyptisch-sudanesische Wirtschaft. Alle Welt
46 Aus allen
will deutsche Arbeiter haben. Der Pascha von Aegypten
mag sie holen, woher es ihm beliebt; aus Deutschland wird
und soll er keine bekommen, und wenn er zehn Eisenbahnen
vom Wadi Halfa bis Chartum durch englische Ingenieure
nivelliren läßt.
Der in dem eben erwähnten Punkte von einer geradezu
sinnlosen Auffassung ausgehende Berichterstatter aus Char-
tum giebt in einer Nachschrift einige Notizen, wie der neue
Reform-Gouverneur Muntas Pascha, der sich als „Mann
der Humanität" ausspielt, zu Werke geht. Als er
kam, sprach er nur von Bodencultur, Abstellung der Die-
berei und anderen guten Werken. „Aber der Wolf im
Schafspelz hat sich frühzeitig sehen lassen. Die Türken,
welche wir seit zwanzig Jahren im Sudan beobachten, haben
alle am Lande gesaugt, so lange Milch fließt, aber nicht einer
so arg, wie Mnntas Pascha." Es wird dann erzählt, wie
er bald nach seiner Ankunft in Chartum in die Provinz
Sennar zur „Jnfpection" reiste und dort binnen zehn Tagen
135,000 Maria-Theresia-Thaler erpreßte. Der Vicegon-
verneur dort, welcher keinen Backschisch gab, wurde ohne
Erdtheilen.
Weiteres abgesetzt, und an seine Stelle kam einer, welcher
5000 Thaler geschenkt hatte. So hat Muntas Pascha Geld,
aber die Staatscasse ist leer; die Beamten haben seit Decem-
ber, die Soldaten seit November keinen Heller Löhnung ge-
sehen. „In drei Monaten hat Muntas Pascha dem Lande
etwa 40,000 Pf. St. für seine Privatchatulle entzogen, nicht
gerechnet die Geschenke, welche seine Gemahlin aus den Ha-
rems an sich zieht; diese Dame verschmäht sogar kleine Ga-
ben von 5 Thalern nicht. Die Frauen, welche kein Geld
haben, tragen ihr Schmuck zu, damit sie ihre brotlosen Män-
ner der Gnade des Pascha erkläre."
Ein Gauner, der lange mit Ketten belastet im Kerker
saß, ist nun als Director der viceköniglichen Privatgüter in
Chartum angestellt. Dieser Emin Effendi hat alle Armen-
gelder der verschiedenen wohlthütigen Stiftungen eingezogen;
er erklärt jedes beliebige Terrain als vicekönigliches Eigen-
thnm, welches die Bauern in Frohndpslicht bearbeiten müssen.
Wessen würden sich die deutschen „Christenhunde" als
Colonisten in solchem Lande und bei solcher türkischen Wirth-
schaft zu versehen haben?
Aus allen
Ein Blick auf die Wirren in Abyssinien.
Seit dem Donquichotischen Zuge der Engländer gegen Abys-
sinien, der etwa 80,000,000 Thaler gekostet hat, ist das un-
glückliche Land einer heillosen Verwirrung preisgegeben. Seit
dem Abzüge des Lord Napier-Magdala streiten sich Häuptlinge
in den verschiedenen Landestheilen um die Herrschaft. Im West-
lichen Theile, Tigre, hat sich jüngst Prinz Kassa zum „König
der Könige von Aethiopien durch den Willen des abyssinischen
Volkes" krönen lassen und heißt nun 'Zuarnisse, Johann. Ein
Augenzeuge schildert indem anglo-indischen Blatte „Homeward
Mail" die Feierlichkeit. Bei Axum waren etwa 300,000 Men-
schert versammelt; das Lager derselben war etwa acht englische
Meilen lang und das Volk wurde unter einem Bretterschuppen
gespeist, der etwa eine englische Meile weit sich erstreckte. Wäh-
rend des Festes, das volle zehn Tage dauerte, wurden etwa
20,000 Kühe geschlachtet und 40,000 Gallonen Honigwein vertilgt.
Prinz Kassa hat durch den General Kirkham ein Schrei-
ben an das eben genannte Blatt gerichtet, das einen Einblick
in die merkwürdigen Verhältnisse gewährt. Werner Mun-
zinger, der bekannte Schweizer, wird in demselben mit schwe-
ren Beschuldigungen überhäuft. Er hatte sich zum französischen
Consul in Massaua machen lassen, und man hat ihm vorge-
worsen, daß er sich gegen Alles, was Deutsch ist, sehr wider-
borstig gezeigt habe; jetzt ist er ägyptisch-türkischer Gouverneur
von Massaua.
„Aus Wunsch des Königs der Könige Marnisse von Aethio-
pien schreibe ich Ihnen und setze Sie in Kunde über das, was
in Abyssinien geschehen ist, seitdem die Engländer das Land
verlassen haben:
Als Herr Munzinger Consul für Frankreich in Mas-
saua war, schrieb er mir einen Brief, in welchem es heißt:
„Wenn Sie den römisch-katholischen Priestern nicht erlauben,
ihre Religion in Ihrem Lande zu lehren, dann wissen Sie, daß
ich die englischen Truppen nach Magdala brachte und Theodor
und all sein Volk vernichtete." — Nun frage ich (Kassa) bei
Englands Regierung und Volk an, ob es sich für einen Consul
geziemt, derartig an einen König, der außerdem Christ ist, und
obendrein in dessen eigenem Lande zu schreiben? Ich und mein
Volk wir sind alle im Namen der Dreieinigkeit getauft, wir
Erdtheilen.
Alle glauben an das Evangelium und an Christus. Wenn die
römischen Priester ihre Lehren verbreiten wollen, so giebt es
ja im Schankurlande wilde Leute genug, die noch ungetauft
sind. Ich habe über diesen Gegenstand mehrere Briefe an Herrn
Munzinger gerichtet; derselbe will aber auf meine Worte nicht
hören. Ich schickte im vergangenen Jahre meine Beamten nach
Atti, um die Abgaben zu erheben; als sie die Steuern einfor-
derten, sagten alle katholischen Priester und Katholiken, daß sie
keinen andern König anerkennen als die römisch-katholischen
Priester; von diesen seien sie getauft worden; Steuern wollten sie
nicht zahlen. Da mußte ich denn eine bewaffnete Macht hin-
schicken; als sie nun zahlen sollten, liefen sie fort ins Unterland
(Bewia Whuis) und nach Massaua, und ich muß die Abgaben
mit Gewalt erheben lassen, und einige meiner Soldaten ver-
brannten einige unbewohnte Häuser; das geschah indeß nicht
aus meinen Befehl. Ich habe durch Briefe und durch Boten
jenen römisch-katholischen Priestern mehrmals Befehle zugehen
lassen, mein Land zu räumen, aber das hat nichts gefruchtet;
sie wollen nach wie vor meinem Volk ihre Religion aufzwingen
und sagen meinem Volke, sie seien dessen eigentlicher König.
Mehrmals habe ich auch Herrn Munzinger erklärt, daß ich von
jenen römisch-katholischen Priestern nichts wissen wolle, denn sie
leiten mein Volk irre. Gleichzeitig haben diese Priester und
Herr Munzinger und ihre Freunde in Massaua einen meiner
Häuptlinge, welcher gegen mein Königreich rebellirte, unterstützt,
indem sie ihm Waffen und Pulver sandten und mit Allem ver-
sorgten, so daß er mein Land ausplünderte und mein Volk
schädigte. Als ich dann ein Heer gegen ihn ausschickte, entlief
er zum Consul Munzinger und verbarg sich vor meinen Trup-
Pen, so daß sie ihn nicht einsangen konnten. Als ich den Sieg
über Gobzi (Gobassye) erfocht, fand ich in dessen Schatz einen
Brief, den sie in meiner Landessprache geschrieben hatten. Sie
(die Priester) sagten diesem Gobzi, wenn er ihnen erlauben
wolle, daß sie in Abyssinien thun könnten, was ihnen beliebe,
dann wollten sie ihm Kanonen, Musketen, Pulver,
Raketen und überh aupt Alles senden, dessen er nöthig
habe, um mich zu bekämpfen. Da sandte ich dann eine
Armee aus, um sie aus meinem Lande zu vertreiben, sie wollen
aber nicht fortgehen. Ich bitte Sie, das Alles in England,
gegen welches ich freundschaftliche Gesinnungen hege, bekannt zu
Aus allen
Machen." Diesen Brief hat der König datirt aus seiner Haupt-
stadt Adua, Februar 1872.
Aus der Südsee; von den Navigatoren und den Fidschi-
Inseln.
Es regt sich ein ganz merkwürdiges Leben und Treiben in
der weiten Südsee. Dieses ungeheure Becken ist heute gleichsam
zu einem asiatisch-amerikanischen Mittelmeere geworden, das
nach allen Richtungen hin auch von Dampfern befahren wor-
den ist. Eine Gruppe nach der andern wird colonisirt. Die
Zahl der weißen Ansiedler nimmt zu. Der'Handelsverkehr wird
von Jahr zu Jahr bedeutender.
Jetzt ist die Reihe an die schöne Samoa-Gruppe gekom-
men, die man auch als die Navigatoren bezeichnet. Sie
liegen ostnordöstlich von den Fidschi-Eilanden, 13 und 15° S.,
etwa 170° O. von Greenwich, und sind theilweise sehr srucht-
bar. Ein großer Theil des Handels ist in den Händen einiger
deutschen Kaufleute in dem Hafen Apia. Der Schreiber dieser
Zeilen hat schon vor einigen Jahren geäußert: „Da diese Ei-
lande keinen Mangel an gutem Wasser haben, so wäre es zweck-
mäßig, wenn Deutschland einige derselben an sich brächte."
Nun haben die Nordamerikaner zugegriffen. Sie
schickten den Eommandeur R. W. Meade mit dem Dampfer
„Narraganset" nach den Navigatoren; er schloß mit den Häupt-
lingen einen förmlichen Vertrag ab, durch welchen den Bereinigten
Staaten die ausschließliche Benutzung des Hafens Pago-
Pago zugestanden wird. Sie werden dort eine Kohlenstation
für die californisch-australische Dampferlinie einrichten, und man
weiß, was weiter kommen wird. Das „Protectorat" ist von
Bruder Jonathan bereits übernommen worden; man hat aus
Tutuila das Sternenbanner aufgepflanzt, Savia, Upolo und
andere Inseln sollen demnächst annectirt werden.
Ein Blick auf die vortreffliche Weltkarte von Hermann
Berghaus zeigt, daß nördlich von den Navigatoren zwischen 170
und 1800 £>. eine Anzahl von Inseln grün unterstrichen sind;
sie bilden das sogenannte amerikanische Polynesien, wel-
ches durch eine Congreßacte vom 18. August 1856 für Eigen-
thum nordamerikanischer Bürger erklärt worden ist. Im gro-
ßen Ganzen sind diese Inseln, 48 an der Zahl, im Norden
vom 9° N. abgeschlossen und über einen Raum von 21 Breiten-
und 38 Längengraden im Centrum der Südsee zerstreut; dieses
wird verhältnißmäßig wenig besucht, aber auch seine Zeit wird
kommen.
Heute wollen wir unsere Leser wieder einmal auf die Fidfchi-
Inseln hinweifen, wo man, wie wir vor einiger Zeit andeu-
teten, merkwürdige Experimente mit der parlamentari-
schen Regierung macht. Die Exmenschenfreffer sind con-
stitutionell geworden und geben den weißen Civilisationsleuten,
welche sich bei ihnen eingedrängt haben, gesunde, ganz vortreff-
liche Lectionen. Also diese Weißen, zumeist politisch oder auch
commerciell bankbrüchige Politiker aus den australischen Colonien,
und Abenteurer, die von allen Strichen der Windrose herge-
kommen sind, bewogen den vielbesprochenen König Thakombau,
eine von ihnen entworfene Verfassung zu geben. Alles ging
gut, bis der Steuererheber kam. Die braunen Excannibalen
verstehen zwar nicht die Probe von einer künstlichen Verfassung,
aber das macht weiter nichts aus; ihr König hatte dieselbe
veröffentlicht und das genügte ihnen. Die Weißen sagen, daß
Seine Majestät sich dann und wann nach den alten Fleischtöpfen
zurücksehne und daß es wohlbeleibten Männern in seiner Nähe
nicht ganz geheuer sei; doch hat er bisher keinen seiner weißen
konstitutionellen Minister verspeist. Nun traf es sich, daß der
bisherige Ministerpräsident, der Australier Burt, sein Amt nie-
derlegte. Der König beauftragte den vormaligen britischen Eonsul
Thornton, ein neues Cabinet zu bilden. Die Ministerkrisis —
in der Südsee ist man schon so weit in der politischen Cultur —
entstand, weil die weißen Ansiedler sich weigerten, die Steuern zu
bezahlen, welche das doch von ihnen selbst erwählte Parlament
votirt hatte. Deshalb trat Burt zurück; er wollte nichts mit
Erdtheilen. 47
Leuten zu schassen haben, die sehr constitutionell waren, so lange
das nichts kostete, und ungehorsam, sobald sie zahlen sollten.
Dazu kam noch ein anderer Umstand. Ein weißer Pflan-
zer hatte einen braunschwarzen Fidschihäuptling ermordet, und
als jener zur Verantwortung gezogen werden sollte, nahmen
andere weiße Pflanzer diesen Mörder in Schutz. Da berief
König Thakombau die weißen Leute und apostrophirte sie mit
einer Anrede, die ihm Ehre macht. Er fragte, wie er es ver-
stehen solle, daß sie erst Gesetze machen, die sür Alle, weiße und
schwarze Leute, gültig sein sollen, und daß sie dann diese Gesetze
mißachten, ja sich dagegen auflehnen. Er, der König, verlange,
daß man sie ehrlich und unparteiisch in Anwendung bringe. Ver-
ständen die Weißen sich nicht dazu, das Gesetz zu befolgen und
Ordnung zu halten, so werde er in ernste Erwägung ziehen, ob
es für ihn und seine Unterthanen nicht besser sei, wieder zu den
alten Gebräuchen zurückzukehren. Also — er stellte ein Wieder-
aufnehmen des Kannibalismus in Aussicht, und manchem der wei-
ßen Abenteurer mag es dabei wohl in Muskeln und Knochen mehr
oder weniger gegruselt haben. Sie können ja heute noch die
berühmten Pfähle sehen, an welchen in Thakombau's jungen
Jahren solchen Kriegsgefangenen, die zum Verspeisen bestimmt
waren, die Hirnschalen eingeschlagen wurden. Der König äußerte
am Schlüsse seiner Rede, er für seine Person verspüre gerade
keine Neigung, das frühere System wieder einzuführen, begreife
aber wohl den Zorn und das Rachegefühl der schwer beeinträch-
tigten, vielfach von den Weißen mißhandelten Insulaner.
Was geschah? Die Herren Weißen zogen schweigend von
dannen, zahlten die Steuern und lieferten den Mörder aus.
Die Verfassung trat wieder in Wirksamkeit; auch ist ein Ober-
gericht eingesetzt worden, das aus zwei Weißen und dem Fidschi-
mann Ratu Marika besteht.
Vor uns liegen statistische Notizen für 1871, die von In-
teresse find. Ovalau, die Insel, auf welcher die Hafenstadt
Levuka liegt, zählt 430 Weiße und etwa 2000 Eingeborene; —
auf den Inseln der östlichen Gruppe respective 100 und 10,000; —
Kandavu 46 und 12,000; — Taviuni 150 und 1000; — Va-
nua Levu 500 und 33,000; — Vitt Levu 450 und 70,000; —
die centralen Inseln 160 und 9000; — Aassawas 58 und 8000.
Die übrigen Inseln des Archipelagus 126 und 1000, — zu-
sammen 2040 Weiße, die überall zerstreut sind, und 146,000
Eingeborene.
Was den Verkehr betrifft, so besuchten den Hafen Levuka
1 Vollfchiff, 11 Dampfer, 23 Barkschiffe, 10 Briggs, 100 Schoo-
ner, 34 Kutters, zusammen 179. — Auf den Inseln der östli-
chen Gruppe 3 Dampfer und 29 Barken, zusammen 32, —
Total 211 Schiffe. — Werth der Ausfuhren: Sea-Jsland-
Baumwolle 381,860 Dollars; kurzstapelige 19,327; Kokosnußöl
17,820; Tripang 500, und manche kleinere Artikel; zusammen
452,807 Dollars. Werth der Einfuhren: 412,920 Dollars;
darunter für 15,000 Dollars Pferde und Schafe zur Zucht,
Wein, Bier und Spirituosen für 71,160 Dollars.
4- ^
— Vulcane auf den Philippinen. Dieselben sind in
Nr. 22, Band XXI, geschildert worden. Wir erhalten durch die
Güte des Herrn Dr. Richard Kiepert in Berlin einen Nach-
trag. „Der Vulcan auf dem Nordende von Negro heißt Ma-
lespina. — Es giebt zwei Vulcane Eamiguin; einen nördlich
von der Insel Luzon, einen andern auf einer kleinen gleich-
namigen Jnfel zwischen Mindanao und Siquihor. Letzterer
fehlt in dem Verzeichnisse, eben so wie die Solfataren von
Dagami und Danan auf der Insel Leyte. Ich möchte Sie
auf die Arbeit des Professors Roth (Märzheft 1872 der Mo-
natsberichte der Berliner^ Akademie) aufmerksam machen. Die-
selbe wird erweitert in Dr. Fr. Jagor's demnächst erscheinen-
dem, reich ausgestattetem Buche über die Philippinen wieder ab-
gedruckt werden. Die Karte, nebst geologischer Skizze, ist von
mir gezeichnet; sie wird alle thätigen und erloschenen Vulcane,
sowie die Trachytkegelberge angeben."
— Ueber eine merkwürdige Fischwanderung giebt ein
48
Aus allen Erdtheilen.
r» F;
californifcher Arzt, Dr. Fulkerson, folgenden Bericht. Er be-
fand sich, während Hochwasser war, am Kelsey Creek, etwa
dritthalb Miles oberhalb der Mündung desselben in der Cleier-
See. Es kamen in unendlicher Zahl Schapalls (indianischer
Name für Lachs) angeschwommen, zumeist 10 bis 18 Zoll groß;
dann auch Hitsch und Tschi, d. h. zwei Arten von Barschen,
1 bis 3 Fuß lang, und ein „Sucker" (Süßwasserfisch), alle in
so ungeheurer Menge und so dicht, daß sie einander zu vielen
Tausenden aus dem Wasser heraus auf das Trockene drängten,
so daß das Ufer mit Fischen bedeckt war. „Ich hätte mit der
Schaufel ganze Wagenladungen herauswerfen können." Man
wußte fchon früher, daß die Fische aus dem See flußauf ziehen,
wenn derselbe angeschwollen ist. Sie ziehen nur fünf bis fechs
Miles aufwärts und fchwimmen zurück, wenn das Wafser fällt.
Das Laichen hat mit dieser Wanderung nichts zu schaffen. Im
laufenden Frühjahr ist dieselbe allerdings ungewöhnlich stark
gewesen, und die Indianer, welche sich zahlreich am Platze ein-
gefunden hatten, konnten mühelos eine überaus einträgliche
Ernte halten.
— Die Nord -Pacificbahn in den Vereinigten
Staaten. Die Route für dieselbe ist Mn definitiv festgestellt
worden. Sie zieht vom Red River an, welchen sie nördlich von
Fargo überschreitet, bis zum Big Cheyenne River, genau bis
oberhalb der Mündung desselben; von dort in gerader Richtung
nach Westen bis zur Mündung des Heart River in den Mis-
souri; sodann gleichfalls in westlicher Richtung zum ^dlowsione,
welcher in der Nähe des Powder River überbrückt wird. Von
dort über den Bozeman-Paß. Dann, an Hamilton vor-
über, im Thale des Jefferson (eines der drei Quellarme des
Missouri) und des Wisdom River durch den Big Hole oder
den Deer Lodge Paß, den Flüssen Deer Lodge und Hell
Gate abwärts bis an die Mündung des Blackfoot River und
in gerader Richtung weiter am Jocko- und am Flathead River
bis zum Coeur-d'Alöne-See.
— Die „verrückten Stimmrechtsweiber" — die ame-
rikanische Presse geht mit den emancipationslustigen Damen nicht
gerade sanft um — hielten im Mai eine große Convention, um
ihre „Rechte" zur Geltung zu bringen. In dieser Versammlung
spielte Victoria Woodhull die wichtigste Rolle. Wir haben
schon früher („Globus" XXI, S. 58) eine Schilderung dieses
„starkgeistigen Weibsbildes" entworfen. Sie hat genaue Ver-
bindungen mit „Schutzgeistern im Jenseits", welche sich zu ihr
herab bemühen; ihr Rathgeber ist kein geringerer Mann als
der große griechische Redner Demofthenes. Wir schrieben:
„Sie trachtet nach höheren Dingen; sie hat sich steif und fest
vorgenommen, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden;
sie verkündet durch Wort und Schrift, daß der Staat erst dann
gut regiert und verwaltet .werden könne, wenn sie das Ruder
in der Hand habe."
Nun, sie ist auf jener Convention im Mai zum Präsi-
denten „nominirt" worden und ihr ganzer Anhang wird für
sie stimmen; zum Vicepräsidenten ist der Mulatte Frederick
Douglas vorgeschlagen worden. Victoria erklärte mit strah-
lendem Antlitz, daß sie kein Opfer scheue; sie nehme die Nonn-
nation an und werde eine radicale Wiedergeburt des zerrütte-
ten Staats- und Gesellschaftslebens bewerkstelligen.
Seitdem sind aber allerlei unliebsame Dinge vorgegangen.
Wir finden in den Neuyorker Blättern, daß Victoria Woodhull,
die Präsidentfchaftscandidatin und Hohepriesterin der Unzucht
(man nennt das freie Liebe), und ihre Schwester Ten nie
Claflin von ihrem Hauswirthe wegen Nichtbezahlung des Mieth-
zinses an die Luft gesetzt worden sind. Beide bewohnten mit
ihren Freunden ein sehr schönes Haus in der 35. Straße.
Exmittirung hat unter den Bäckern, Fleischern :c. der Um-
gegend große Ausregung hervorgerufen, da beide Schwestern tief
in der Kreide stehen.
Vielleicht bezahlt der Geist des alten Demofthenes die Schul-
den. Was Tennie C. Claflin anbelangt, so will sie, starkgeistig
wie sie ist, dem Kriegshandwerk sich zuwenden. Sie hat sich
öffentlich erboten, Oberst des neunten Regiments der National-
garde von Neuyork zu werden, demnach an die Stelle des be-
rüchtigten Gauners Fisk zu treten. Sie erklärt, daß sie magne-
tischen Einfluß aus das ganze Regiment üben werde; sie zweifle
nicht, daß sie, wie Fisk, sich die Liebe und Bewunderung der
tapfern Schaar erwerben und ihren eigenen Enthusiasmus auch
dem großen Publicum mittheilen werde. „Ich will die Stellung
annehmen und verpflichte mich, dem Recrutiren einen solchen
Aufschwung zu geben, daß binnen dreißig Tagen das neunte
Regiment das erste im Staate sein soll. Es kann nichts gegen
mich vorgebracht werden, als daß ich ein Weib bin. Erlauben
Sie mir, diejenigen, die dies hervorheben, zu erinnern, daß
Jeanne d'Arc auch ein Weib war. Während ich mir nicht
schmeichle, dasselbe militärische Genie zu besitzen, wie sie, kann
ich doch sagen, daß es stets mein Wunsch gewesen ist, in den
activen Militärdienst zu treten, und daß ich meine Leidenschaft,
Regeln und Tactik zu studiren, stets befriedigt habe, so daß ich
jetzt wohlbewandert darin bin."
— Der Genuß des Opiums nimmt in einigen Gegen-
den der Vereinigten Staaten von Nordamerika in höchst be-
denklicher Weise überhand. Der Temperanzfanatismus hat die
schlimmsten Folgen. Der Genuß von Bier, Wein, Apfelwein
ist verboten, von Branntwein gar nicht zu reden; es foll nur
Wasser und Thee getrunken werden. Aber manche „Tempe-
ranzler" wissen sich doch stimulirende Aufregungen zu verschaf-
fen; sie wollen etwas Scharfes haben. Manche kauen Gewürz-
nelken im Uebermaß und schädigen dadurch ihre Gesundheit.
Das Opium ist namentlich in dem puritanischen Massachu-
setts beliebt, als Ersatz spirituöser Getränke. Vor Kurzem ist
ein Bericht der Gesundheitsbehörde erschienen, welcher nachweist,
daß der Opiumverbrauch fast in allen Theilen des Staates stark
zugenommen hat, aber erst nachdem das Gesetz erschien, welches
den Verkauf von Spirituosen verbietet. In Worcester z. B.
weist ein Droguenverkäufer nach, daß namentlich Frauen und
Kinder Opium bei ihm holen; ein anderer, in Boston, hebt
hervor, daß sich unter seinen Kunden eine auffallende Zunahme
von Kleptomanie zeige, d. h. der unwiderstehlichen Sucht, zu
stehlen. — Als Thatsache steht fest, daß ein strenges Verbot
die Fälle von Trunkenheit wesentlich vermehrt. Der eigentliche
Pankee hat keine Vorstellung von einem mäßigen Bier- oder
Weingenusse; er versteht nicht, gemüthlich zu trinken oder zu
zechen; er stellt sich Jeden als einen trunksüchtigen Branntwein-
irländer vor, der kein Maß hält und im Rausche Unfug treibt.
Ein 'Hankee-Temperanzler ist nebenbei durchschnittlich ein Frem-
denhasser und Knownothing.
— Die Goldgruben von Gualilan in Argentinien
geben eine über alle Erwartung beträchtliche Ausbeute; iu Bue-
nos Ayres erwartet man, daß dieselbe andauern werde.
— Der Missionär Ellis ist im Juni, 77 Jahre alt, ge-
storben. Der Wissenschast hat er erhebliche Dienste geleistet,
einmal durch seine Polynesian researches, sodann durch drei
Werke über Madagaskar, die sehr lehrreich und interessant sind.
Es war seine Lebensaufgabe geworden, die Madagassen zu be-
kehren, und so weit dergleichen überhaupt angeht, hat er nicht
ohne Erfolg gearbeitet.
Inhalt: Auf den Ruinen von Utica. II. (Mit vier Abbildungen.) — Zur Kulturgeschichte der Vorzeit. Von Ludwig
Lindenschmit. I. Mit neun Abbildungen.) — Netschwolodoss's Reisen an den Grenzen der Dsungarei. II. — Zu-
stände im ägyptischen Sudan. — Aus allen Erdtheilen: Ein Blick aus die Wirren in Abyssinien. — Aus der Südsee, von den
Navigatoren und den Fidschi-Jnseln. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Vrannschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Mit besonderer Herücksicktigung äer Antkroxologie und Gtknologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1872.
Wanderungen in den drei Lappländern.
Von Professor I. A. Frijs in Christiania.
III.
Da wo im höchsten Norden Europas die Russen, d. h.
die russischen Lappen, mit den norwegischen grenzen, findet
eine seltsame Mischung von Religionen, Sprachen, Sitten
und Gebräuchen statt.
Am Ufer des Pasvigflusses, ungefähr eine Viertelmeile
von der See entfernt, steht eine kleine Capelle, nach zwei
russischen Heiligen Boris-Gleb genannt. Sie wurde, nach
russischen Berichten, im sechszehnten Jahrhundert von dem
russischen Mönche Trifan erbaut, hat aber wegen derUnbil-
den der nordischen Witterung öfters Ausbesserungen erfahren.
Vorgenannter Mönch hat im Bekehrungseifer das Holz —
denn das Gotteshaus ist nur aus Holz, wie alle Häuser dort,
erbaut — im Walde selbst gefällt, auf seinem Rücken zur
Baustelle getragen und dort das Capellchen zusammengesetzt.
Trifan kam aus dem russischen Kloster Nowgorod und war
der erste Missionär unter den Lappen an jenen Küsten.
Durch eine „Offenbarung des Erlösers" war ihm befohlen
worden, sich in ein „durstig" und „unzugänglich" Land zu
begeben; und er ging in das „unzugängliche" Land längs
des Peisen- oder Petschengaslusses, wo er die dort lebenden
<appen noch in tiefster Abgötterei versunken traf; denn sie
beteten Bilder, Würmer uud anderes Ungeziefer an. Seine
Predigten begegneten großem Widerstande, besonders von
den Noaiden oder Hexenmeistern der Lappen. Sie rauften
ihm die Haare aus, schlugen ihn, warfen ihn zur Erde und
drohten ihm mit dem Tode, wenn er ihr Land nicht verließe.
Globus XXII. Nr. 4. (Juli 1872.)
Oft waren sie nahe dabei, ihre Drohungen ins Werk zu
setzen, aber „der Herr hinderte sie daran", denn es glückte dem
Mönche durch fortwährendes Predigen, durch Sanftmuth und
durch sein gottessürchtiges Leben das Herz der Lappen zu er-
weichen. Dann ging er nach Nowgorod zurück, holte vom
dortigen Erzbischof einen Segensbrief, und Baumeister, mit
deren Hülfe er am Peiseuslusse eine Kirche, die erste in
Lappland, erbaute, und taufte und bekehrte nun, nachdem er
sich hatte in der russischen Stadt Kola ordiniren lassen, alle
Völker nach Herzenslust. Sein Name ist daher bis auf den
heutigen Tag bei den griechisch-katholischen Lappen am Pas-
vig- und Peisenflusse wohl bekannt, doch ist ihr Aberglaube,
oder ihr Glaube an die Macht seiner Heiligkeit mit der ge-
ringen Achtung vor seiner Person und seinen Verdiensten
auf ganz besondere Weise gemischt.
Nicht weit von der Mündung des Pasvig sieht man
am Fjord in den Felsen eine Höhle, welche auf den ersten
Blick durch Verwitterung entstanden zu sein scheint und wo
erst später Menschenhände bei ihrer Erweiterung thätig ge-
wesen sind; sie heißt die Trisanshöhle und soll aus sol-
gende Weise ihren Ruhm erlangt haben. Der heilige Tri-
fan hatte sich einmal vorgenommen, die berüchtigte Holmen-
graanase an der östlichen Mündung des Fjords, wo die Berg-
geister hausten und die Seefahrenden hinderten die Felsen-
nase zu umsegelu, zu reinigen, denn bis dahin mußten die
Schiffer ihre Fahrzeuge der Dämonen wegen über die Land-
50
I. A. Frijs: Wanderungen in den drei Lappländern.
znnge ziehen. Als ihm sein Werk gelungen, richtete er sich
auf der Rückreise in dieser Höhle ein kleines Betstübchen ein,
welches bis heute seinen Namen trägt. Wenn man die
Höhle besuchen will, muß man erst an der lothrechten Fel-
senwand einige Ellen hinauf bis zum Eingange klettern,
dann kommt man an einen großen leinenen Vorhang und
hinter demselben tritt man in das Heiligthum selbst, welches
in weiter nichts, als einer unbedeutenden Malerei, einer
„Gottesmutter", besteht, unter welcher ein weißes Tuch hängt,
auf welches ein goldenes Kreuz gestickt ist. Vor dem Bilde
stehen zwei dünne Wachslichter.
Wenn die russischen Lappen bei der Höhle vorüberziehen,
versäumen sie gewiß niemals, ihr Haupt zu entblößen, sich
ehrfurchtsvoll zu verbeugen und sich zu bekreuzen.^ Wenn
sie sich auf der Reise zur Fischerei oder Jagd befinden, so
pflegen sie in der Regel das Heiligthum zu besuchen und
dem Trifan eine Kupfermünze zu opfern, damit er ihnen zu
einer reichen Ausbeute verhelfe.
Nun sollte man glauben, daß Trifan im Laufe der
Zeit durch diese Opfer reich geworden sein müsse, aber dies
ist keineswegs der Fall; er besitzt bis auf den heutigen Tag
vielleicht nicht eine einzige Kopeke. Die Sache ist nämlich
folgende. Wenn die russischen Lappen auf ihren Jagdzügen
und bei ihrer Fischerei Unglück gehabt haben, machen sie auf
ihrer Rückreise dem Trifan abermals einen Besuch und neh-
men sich da nicht bloß das, was sie selbst geopfert, zurück,
sondern auch das, was Andere in der Zwischenzeit etwa dem
Heiligen dargebracht haben, falls nicht etwa Jemand den
wunderlichen Opferern zuvorgekommen ist. Dieser russisch-
lappische Heiligen- und Bilderdienst erstreckt sich auch auf ruf-
fische Heilige. So hatte z. B. iu Vadsö ein Kaufmann das
Bild des heiligen Nikolaus. Bei diesem fanden sich alle
Russische „Skoltelappen".
russischen Lappen ein, welche nach Vadsö kamen, verneigten,
verbeugten, bekreuzigten sich vor demselben und opferten eine
Kleinigkeit. Aber in der Regel stahl der eine Opfernde
nicht nur das, was sein Vormann geopfert, sondern hieß
auch noch das Eine oder Andere aus dem Hause mitgehen,
welches der Eigenthümer keineswegs dem heiligen Nikolaus
geopfert hatte. Deshalb entfernte der Kaufmann den heili-
gen Nikolaus nicht nur aus dem Haufe, sondern auch aus
Lappland.
In nächster Nähe um die Capelle Boris-Gleb wohnen
im Sommer ein Dutzend Lappenfamilien, welche russische
Unterthanen sind und den Namen Skoltelappen führen,
weil sie am bösen Grinde litten und zum Theil noch leiden,
so daß manche haarlose Kopse haben. Die Wohnungen die-
ser Skoltelappen sind elende Hütten in Form der Stabur
in Schweden und Norwegen.
(Stabur sind in der Regel von Holz erbaute, auf vier
Pfosten oder Beinen etwas von anderen Gebäuden abstehende
viereckige Behälter oder Vorrathskammern.)
Da das Hauptgeschäft der armen Skoltelappen im Som-
mer die Fischerei ist, so sind fortwährend die Hütten mit
Netzen, Leinen und Tauen behangen, auf den Dächern aber
sind Massen von Dorschköpfen zum Trocknen ausgelegt.
Renthiere züchten die Skoltelappen nur als Zugthiere;
weil dieselben aber auf einem großen geschützten Räume in
den Wäldern am Pasvig- und Peisenfluße frei umherwau-
dern, so werden sie bedeutend stärker und größer, als die
Renthiere in Norwegisch-Lappland.
Wie der Lappe im Allgemeinen, so kann auch der Skolte-
läppe eine Zeitlang fleißig und eifrig arbeiten; aber wenn
es ihm scheint, daß er Nahrung für eine lange Zeit ins
Hans besorgt habe, so legt er sich aus die faule Seite, schläft,
ißt und trinkt, so lange der Vorrath dauert. — Nun muß
man allerdings einräumen, daß in derjenigen Zeit des Som-
I. A. Frijs: Wanderung
mers, wo die Sonne niemals untergeht, wo es also, wie der
Lappe sagt, „keine Zeit giebt," einem Jeden da oben die
Versuchung nahe tritt, die Zeit zu tobten mit süßem Nichts-
thun. Wenn daher im Herbst oder im Augustmonat der
Skoltelapppe satt und fett ist, so spottet er des Speciestha-
lers Pro Tag einer Skydstonr. Aber ist der Winter vor-
über, der Frühling gekommen, der Vorrath aufgezehrt und
kein neuer durch das Fischnetz zu schaffen, da ist der Skolte-
läppe zuthunlich wie ein Hund und arbeitet gern für niedri-
gen Lohn, denn nun ist er mager und hungerig, ja so huuge-
rig, daß er durch Feuer und Wasser springt, wenn ihm
irgendwo der lockende Anblick eines getrockneten Dorschkopfes
winkt.
Die russischen SkoltelaPPen sind sowohl in Rück-
sicht auf Sprache, als Sitten, Gebräuche und Aussehen ziem-
lich verschieden von den lutherischen Lappen in Südvaranger.
Ihre Tracht ist fast ganz russisch und die Frauen tragen
in den drei Lappländern. 51
schon lange die Kopfbedeckung der Nationalrussinnen. In
Kenntnissen des Christenthums stehen sie den norwegischen
unendlich nach, sie können weder lesen noch schreiben, haben
keine Bücher und nicht den geringsten Schulunterricht. Nur
ein Paar Mal im Jahre kommt der Pope von Peisen zur
abgedachten Capelle, um Gottesdienst zu halten.
An dem hohen Wüchse sowie am reichen röthlichen
Barte der SkoltelaPPen sieht man deutlich, daß sie russi-
sches Blut in ihren Adern haben. Viele von ihnen spre-
chen auch russisch, obgleich ihnen kein Russe näher wohnt,
als der Pope zu Peiseu. Ihre lappische Sprache ist stark
mit russischen Worten gemischt, ihre Taufnamen sind rus-
sisch, ja fogar ihre Renthiere, welche in allen Dialekten ihre
lappischen Namen behalten, werden russisch benannt. So
heißt z. B. ein Renthier, welches ein in Lebensgefahr Schwe-
bender dem heiligen Trifan zum Opfer für die Rettung zu
bringen gelobte, Svitsch. Ist die Gefahr vorüber, so
Pasvig. Letzter Fischerplatz
wird das Opferthier auf den Kirchplatz, wenn gerade Markt
ist, gebracht und dort in Versteigerung dem Meistbietenden
überlassen. Für das erhaltene Geld kaust der Pope Wachs-
lichter, welche in der Capelle Boris-Gleb aufgestellt und an-
gezündet werden, wenn die Betreffenden sich einfinden, um
unter stundenlangem Verbeugen, Verneigen und Bekreuzen
dem Heiligen für seinen Beistand zu danken.
Wenn ein Mann oder eine Frau stirbt, so wird aus der
Renthierherde des oder der Verstorbenen das beste, fehler-
freieste Thier ausgewählt und gegen Bezahlung dem nächsten
Verwandten überlassen. Für das erhaltene Geld werden
„rothe" Wachslichter gekauft, in der Behausung des Ver-
storbenen aufgestellt und zur Ehre und zum Seelcnheile des
Heimgegangenen abgebrannt. Nach dem Volksglauben kommt
nämlich ein Engel und zwar fpeciell immer der Schutzengel
des Betreffenden vom Himmel hernieder und holt dieSeele
des Abgeschiedenen, welche er jedoch nicht direet in den
auf der norwegischen Küste.
Himmel führt, sondern dieSeele muß ganze sieben Wo-
chen im Gefolge des Engels mit dem Renthiere her-
umfahren, und alle Orte, wo der Verstorbene jemals bei
lebendem Leibe gewesen und etwas gethan, gleichviel ob Gutes
oderBöses, besuchen. DieSeele wird dadurch an das ganze
vorhergegangene irdische Leben erinnert, und Gutes wie Böses,
Glück uud Unglück, Freude und Traurigkeit wird ihr noch-
mals vorgeführt. Wenn sie nicht ganz und gar unverbesser-
lich ist, kann es ihr leicht möglich werden, durch Reue sich
noch in der letzten Stunde Eingang in den Himmel zu ver-
schaffen.
Eigentümliche und wie es scheint uralte Sitten nnd
Gebräuche bestehen noch unter den SkoltelaPPen. Bei
Hochzeiten, Kindtaufen und Begräbnissen beobachten sie ziem-
lich das, was Sitte und Brauch bei ihren mächtigeren Nach-
baren ist, mögen diese nun Normänner, Schweden oder Rus-
sen heißen. Doch machen sehr^Viele von ihnen Ausnahmen
7 *
52 I. A. Frijs: Wanderung!
von dieser Regel. So z. B. findet man bei ihnen noch bei
Heirathen den uralten Brauch, welcher bei verschiedenen alten
wilden Völkerschaften des Nordens Volkssitte ist, nämlich
die Braut von einem fremden, am liebsten feindlichen Stamme
zu rauben, um dadurch dem kirchlichen Verbrechen zu ent-
gehen, eiue zu nahe Verwandte zu heirathen.
Ebenso ist es bei ihnen, wie bei den Karelen und Russen,
eine Nationaleigenthümlichkeit, stets eine Menge Kleinvieh
mit sich herum zu tragen, und denjenigen für einen Belei-
diger zu halten, welcher aus diesem Grunde nicht die Schlaf-
stelle mit ihnen theilen mag. Bei denjenigen Skoltelappen,
welche mehr dem Fortschritt huldigen, finden bei Heirathen
folgende Gebräuche statt. Wenn ein junger Mensch mit
einem Mädchen Bekanntschaft gemacht und sich entschlossen
hat, um ihre Hand anzuhalten, so unterrichtet er zuerst seine
Eltern von seinem Vorhaben. Findet die projectirte Partie
deren Beifall, so begiebt'er sich in Begleitung der Eltern
in den drei Lappländern.
und Verwandten, nebst einem Fürsprecher, zu der Wohnung
der Braut. Eine solche Brautsahrt wird fast immer im
Winter unternommen, da man mit Renthieren eben so leicht
über des Nordens wegelose Schneewüsten hinwegkommt, als
mit Kameelen über des Südens unübersehbare Sandwüsten.
Rasch geht es vorwärts über der Tündern öde Fernen
und eisbelegte Binnenseen. Schon aus weiter Entfernung
wird die Ankunft der Reisenden durch das Bellen der alle-
zeit wachsamen Hunde verkündigt, und wenn sie so nahe
gekommen, daß man das Schellengeläute hören kann, eilen
Eltern und Verwandte der Braut heraus aus der Gamme,
um die Ankommenden zu empfangen. Da greift Jedes
nach einem Renthiere und führt es zum Eingange des Hau-
ses, wo die Reisenden von den Schlitten steigen; die Zug-
renthiere aber, froh, endlich befreit zu sein, laufen sogleich
hinaus in die Wildniß, wo sie mittelst Fährten im Schnee
und ihrem außerordentlich scharfen Geruchssinn bald Came-
Bauerhof in n
raden und Freunde finden. Die Gäste aber werden eingela-
den einzutreten. Dies ist nun freilich oft sehr schwierig,
ja unmöglich, weil viele Wohnungen so dürftig und enge
sind, daß die Gäste Einer nach dem Andern durch die nie-
drige und gedrängte Eingangsöffnuug kriechen müssen.
Allein wenn auch vor den Fremden keine Flügelthüren auf-
geschlagen werden, so finden sie doch jederzeit einen gastfreien
Herd, selbst in der allerelendesteu Lappenhütte.
Die in die Gamme Gekommenen werden vom Sprecher
vorgestellt, und dann richtet er im Allgemeinen an Alle den
gewöhnlichen lappischen Gruß : „Friede imHanse!" Dar-
auf wird jederzeit geantwortet: „Gott ist es, welcher ihn
schenkt!" Darauf begrüßt man sich einzeln nach lappischer
Weise durch eine halbe Umarmung, indem man die rechte
Hand auf des Andern linke Schulter legt; Wange an
Wange und Nasenspitze an Nasenspitze reibt mit dem Wun-
sche: Därvan, Därvan! d. h. wohl, wohl! Darauf
nimmt der Sprecher das Wort und fragt: „Ist es uns
fisch Karelen.
erlaubt, nun den Grund unseres Hierseins zu enthüllen?"
„Ja! sei so gut!" antwortet der Vater des Mädchens,
worauf sich der Sprecher dreimal tief verbeugt und für die
freundliche Aufnahme dankt, welche er und seine Begleiter hier
gefunden. Allein statt sein Geschäft, wie man doch erwarten
sollte, in wohlgesetzten Worten kund zu thuu und mit schö-
nen Redensarten um die Hand des Mädchens anzuhalten,
zieht er, ohne ein Wort zu sagen, aus seiner Brusttasche
einen andern Sprecher hervor, welcher allerdings oft kräftiger
auf des Lappen Herz und Sinn wirkt, als fchöne Worte und
schmeichelhafte Redensarten, nämlich eine Branntweinflasche.
Aus dieser schenkt er dem Vater, der Mutter und den Brü-
dern, Jedem drei respectable Schlucke. Während diese trin-
ken, machen sie auf griechische oder russische Weise das Zei-
chen des Kreuzes, verbeugen sich dreimal tief und drücken
dann mit drei Fingern die Stirn, die Brust, die rechte und
linke Schulter. Nachdem sie das dargebotene Geschenk vertilgt
haben, bringt der Sprecher in zierlicher Rede seinen Dank
I. A. Frijs: Wanderuno
dar und dankt dann auch int Namen des Bräutigams und
seines Gefolges dafür, daß die künftigen Schwiegereltern
die drei Schnäpse angenommen und ausgetrunken haben:
denn hiermit ist die Sache aus- und abgemacht. Die An-
nähme des dargebotenen Geschenkes bedeutet nämlich dasselbe,
wie Ja und Amen zu der Partie. Wird dagegen von den
Eltern die Annahme und das Trinken des dargebotenen
Branntweins verweigert, so heißt dies so viel, als: der
Bräutigam hat einen Korb bekommen, weil die Eltern des
Mädchens noch nicht daran denken, ihr Kind mit dem ange-
kommenen Freier zu verheirathen.
Etwas Weiteres wird am ersten Tage nicht vorgenommen.
Am nächsten Tage werden Vorbereitungen zur Einladung
von Hochzeitsgästen in denjenigen Wohnungsraum getroffen,
welcher dem Bräutigam und seinem Gefolge angewiesen ist.
Es werden zwei junge Männer hinüber zu des Mädchens
in den drei Lappländern. 53
Eltern gesandt, welche sich vor denselben dreimal tief vernei-
gen, ihre Namen nennen und bitten, daß sie so gut sein
möchten und sich bei dem Hochzeitsmahle beim Bräutigam
und dessen Gefolge einzufinden. Die Einladung wird ange-
nommen; die Hochzeitbitter sprechen ihren Dank dafür aus
und kehren wieder zum Bräutigam zurück, um die Vorberei-
tuugeu zum Hochzeitsmahle zu beenden. Aber nach kurzer
Frist finden sie sich wieder ein und wiederholen ihre Einla-
dung dreimal auf dieselbe Weise. Erst nach der dritten In-
vitation gehen des Mädchens Vater, Mutter, Brüder und
Schwestern hinüber in die Wohnung des Bräutigams. Die
Braut dagegen geht nicht mit, sondern setzt sich in der Väter-
lichen Wohnung in einen Winkel und verbringt die Zeit
mit Weinen und Wehklagen, während alle Anderen lustig
und guter Dinge sind. Wenn die Eltern des Mädchens
und deren Begleitung bei dem Bräutigam eingetreten sind,
Blockhaus fUr Reisende bei Jmandra in russisch Lnppland.
werden die ersteren eingeladen, auf dem Hochsitze am ober-
sten Ende der gedeckten Tafel sich zu setzen. Die Uebrigen
nehmen Platz auf beiden Seiten des Tisches und zwar die
Männer auf der einen, die Frauen auf der andern Seite.
Die Eltern des Bräutigams aber stehen am Eingange,
oder an der Thür, wenn sie eine hat, und verneigen sich
vor jedem der eintretenden Gäste. Die Hochzeitbitter er-
greifen nun eine Flafche mit Branntwein und schenken rund
nm den Tisch jedem Anwesenden dreimal ein, wobei sie
natürlich bei den Eltern des Bräutigams anfangen. Jeder,
welchem eingeschenkt wird, erhebt sich, verneigt sich dreimal,
bekreuzt sich und trinkt. Nach dem Hochzeitsschmause umarmt
ein Jeder seinen Nachbar, und küßt ihn indem er Wange
an Wange und Nasenspitze an Nasenspitze reibt. Der Va-
ter des Mädchens ladet Alle für den nächsten Tag zum
Hochzeitsmahle bei sich, also zum dritten Hochzeitstage.
Dies ist eigentlich der größte Feiertag, denn die Eltern des
Mädchens laden an diesem Tage so viele Verwandte und
Freunde, als sie nur auftreiben können, bei sich zu Gaste.
Die Braut aber muß auch an diesem Tage in einem Winkel
der Wohnung sitzen und in den dunkeln Raum hineinstarren.
Ihr Gesicht wird mit einem Tuche bedeckt und verborgen,
unter demselben muß sie fortwährend schluchzen und weinen.
Hierin wird sie von ein paar ihrer besten Freundinnen,
welche sich an eine Ecke zu ihr in ihren Schmollwinkel setzen,
unterstützt, denn es ist eine schwere Sache, mehrere Tage
hinter einander zu seufzen, zu schluchzen und zu weinen ohne
Gefühl und auf bloßen Befehl. Sobald alle Verwandte
und Freunde beim Brautvater versammelt finbj, wird eine
Einladung an den Bräutigam übermittelt. Die Gäste stel-
len sich ein, aber sie finden nun zwei juuge Menschen als
Wächter vor den äußern Eingang gestellt. Jede Gamme
54 I. A. Frijs: Wnnderum
hat nämlich zwei Thüren oder Vorhänge und zwischen bei-
den einen schmalen Gang.
Das Gefolge wendet sich an die gedachten Wächter mit
dem Ersuchen: laßt uns hineinschleichen! Diese aber ant-
Worten: wenn ihr bezahlt, so sollet ihr Eingang erhalten.
Es wird darauf ein Tribut von einigen Kopeken erlegt und
der Gesellschaft die äußere Thür geöffnet. Allein nun stehen
vor der iunern Thür ebenfalls zwei junge Wächter, welche
den Eintritt verwehren, und das Hochzeitsgefolge muß auch
hier einen gleichen Tribut an Kopeken bezahlen. Beim Ein-
tritt in den innern Raum erheben sich sofort alle verfammel-
ten Gäste; drei gehen den Angekommenen entgegen und
jagen sie ohne Complimente wieder hinaus. Die Ausgewie-
senen bleiben eine Weile draußen, bedecken sich dann den
Kopf, die Schultern, wo sie können, mit Schnee, und be-
geben sich dann wieder hinein, ohne daß ihnen die Wächter
das geringste Hinderniß in den Weg legen. Eintretend kla-
gen sie über das schreckliche Unwetter, welches rase und tobe,
und bitten meinem jämmerlichen Tone um Unterkunft. Diese
Kriegslist nutzt ihnen aber nichts, denn sie werden ohne
Barmherzigkeit wieder hinaus vor die Thür gejagt. Endlich,
als sie zum dritten Male hineintreten, anscheinend vor Kälte
ganz verkommen, bietet ihnen der Hausherr ein freundliches
Willkommen, führt die Eltern des Bräutigams auf den
Hoch- oder Ehrensitz und weiset Allen rings um den Tisch
ihre Plätze an.
Dann schenkt der Küchenmeister der Braut rund um den
Tisch allen Gästen ihre Trinkgefäße voll; man speiset, trinkt
und macht sich auf alle Weise lustig; nur die Braut sitzt
noch immer in ihrer dunkeln Ecke und weint mit ihren
Freundinnen!
Nach der Mahlzeit begiebt sich der Bräutigam zu ihr,
setzt sich nieder neben sie und guckt uuter das Tuch, mit wel-
chem sie umhüllt ist. Dasselbe thun nach ihm anch sein
Vater, seine Mutter und seine Verwandten. Darauf redet der
Hochzeitsbitter den Vater der Braut mit folgenden Worten
an.- „Haben wir nun endlich Deine Tochter von Deiner
Hand als Hausfrau für N. N. bekommen?" Der Vater
antwortet: „Ja, nun habt Ihr sie erhalten und könnt Ihr
sie behandeln, wie Ihr wollt. Ihr könnt ihre Augen
über Feuer braten, oder sonst mit ihr machen, was
Ihr wollt; denn von nun an habe ich keine Gewalt mehr
über meine Tochter." —
Darauf kommen die Brautjungfern hervor und bringen
der Braut einen neuen Reifeanzug. Allein während sie be-
schäftigt sind, ihr den Reiseanzug anzulegen, leistet sie allen
möglichen Widerstand; sie stemmt sich, schlägt mit den Füßen
aus und hüpft herum wie ein ungezähmtes Renthier, um
den Brautjungfern das Anlegen der neuen Reifekleider un-
möglich zu machen. Deshalb eilen sämmtliche Mädchen
herzu, um die scheinbar Unbändige zu zähmen und den
Brautjungfern die Arbeit möglich zu machen. Während
Einige von diesen ihr die Arme und Beine halten, sind wie-
der Andere bemüht, sie in die Reisekleider zu zwängen.
Zum Schlüsse wird ihr wieder ein dichter Schleier über den
Kopf geworfen und ihr Gesicht damit bedeckt.
Während im Innern der Gamme die Comödie der Braut-
bekleidung spielt, halten außen die Männer eine Wettfahrt
um die Häuser, schreien, lärmen, stampfen und feuern Schuß
auf Schuß ab, so daß man glaubt, sie seien in den Tumult
eines wüthenden Kampfes verwickelt.
Ist die Neuvermählte endlich nach Sitte und Brauch
bekleidet, so nimmt ein Verwandter von Seiten der Braut
und ein anderer von Seiten des Bräutigams jeder eine Hand
derselben und beide führen sie zum Ausgange. Aber bevor
sie durch die Oeffnuug hinausgeht, stellen sich zwei Personen an
t in den drei Lappländern.
die Thür und halten ein Brot, mit etwas Salz und einem
Heiligenbilde, so hoch über der Thüröffnung, daß die Braut
unter dem Brote, Salze und Heiligenbilde die väterliche Hütte
verlassen muß. Außerhalb der Gamme stehen zwei Schlitten,
bespannt mit den größten und schönsten Renthieren. Der
Bräutigam umarmt nun seine Frau und führt sie zu dem
für sie bestimmten Schlitten, worein sie sich setzt und dann
mit Riemen fest eingeschnallt wird, als fürchte man, sie könne
auf der Fahrt nach ihrer neuen Heimath an Flucht denken.
Daraus setzt sich der Bräutigam selbst in den andern
Schlitten, und nun hält sich das Paar umarmt, während
Verwandte von beiden Seiten die Renthiere langsam über
die Felder führen. Inzwischen umkreisen andere Verwandte
das Paar fortwährend und treiben allerlei Mnthwillen zur
Belustigung des Paares. — In einiger Entfernung von
den Häusern nimmt der Bräutigam das Renthier seiner
Braut und bindet es fest an den Hintertheil seines Schlit-
tens. Gleichzeitig aber setzt sich das ganze Gefolge in Galopp
und Jeder jagt so rasch als möglich dahin, so daß der ganze
Zug aussieht, als befinde er sich auf der wildesten Flucht.
In der Nähe der Wohnung des Bräutigams jagen einige
Schlitten voraus, um den Daheimseienden die Ankunft des
Zuges zu ^verkündigen. Unterwegs hat man die Bande
der Braut etwas gelöst, damit sie bequemer sitzen konnte,
jetzt wird sie wo möglich noch fester eingeschnürt als
vorher. Indem sie vorfährt, stürzen die Insassen heraus
und lösen die Stricke und Bande, womit sie festgeschnallt
ist; sie wird zum Eingange der Gamme geleitet, wo sie
wieder zwei Personen findet, welche sich zu beiden Seiten
des Einganges aufgestellt haben und Brot, Salz und ein
Heiligenbild über ihrem Haupte halten, während sie in ihre
neue Wohnung eintritt. In derselben wird sie von der
Mutter des Bräutigams empfangen, welche ihr ein Brot
überliefert mit den Worten: „Von jetzt an wirst Du die
Brotmutter und Wirthin in diesem Hause sein." — Acht
Tage lang bleibt die Braut noch in ihren Schleier ge-
wickelt und Jeder, welcher sie sehen will, muß ihr
einige Kopeken bezahlen. Nach acht Tagen geht man
zum Priester und läßt sich „weihen", d. h. trauen; doch
wird diese Ceremonie nicht für so wichtig angesehen wie die
Beobachtung der alten Hochzeitsgebräuche.
Viele Züge von diesen Ceremonien, z. B. die Wachen
vor den Thüren, die Listen, welche die Hochzeitsgäste an-
wenden, um sich einzuschleichen und freies Obdach zu erhal-
ten, das Kampfgetümmel um die Gamme der Braut, der
Widerstand der Braut und endlich die Flucht mit der ge-
bundenen Braut hinter dem Schlitten des Bräutigams, schei-
uen, wie schon oben gesagt, darauf hinzudeuten, daß es die
Lappen für ehrenwerth gehalten, sich ihre Bräute von einem
feindlichen Stamme zu rauben.
--Auf norwegischem Grunde ist Pasvig der letzte
Hafen und der letzte Fischerauszugsplatz dicht an der rnssi-
schen Grenze. Den Namen hat dieser Hafen wahrscheinlich
von dem lappischen Worte basse, d. h. heilig, weil früher
die Lappen der Umgegend hier eine Opferstätte hatten. Der
Hafen Pasvig ist rund wie ein eiserner Topf, ringsum mit
Klippen eingeschlossen; die Einfahrt ist zwar eng, aber den-
noch ist es möglich, bei jeglichem Winde anzusegeln und
dann in Ruhe, wie in einem umschlossenen Hofe, zu liegen.
Die Fischerei ist bedeutend in der Nähe von Pasvig; zu
Zeiten sind alle Gestänge am Lande mit Dorschen behängt
und alle Fässer, welche man erhalten kann, mit Thran ge-
füllt. — Weiter ins Land hinein wachsen unter dem Schutze
der Klippen ansehnliche Birken und mehrere Fuß hohe
Johannisbeersträuche, welche fast jeden Sommer reife Bee-
ren tragen. Dr. Mehwald.
Ludwig Lindenschmit: Zur Culturgeschichte der Vorzeit.
55
Zur Culturgeschichte der Vorzeit.
Technik bei allen jenen im Rheinlande so zahlreich gesunde-
nen Kannen, Amphoren, Becken :c. (Fig. 10, 11, 12), so
müßten alle Resultate der kunstgeschichtlichen Forschung in
Frage gestellt und Alles, was über die unterscheidenden Merk-
male der Erzeugnisse der verschiedenen Völker und Stilperio-
den festgestellt und anerkannt ist, müßte als nicht existent be-
trachtet werden.
Ebenso würde die Annahme der Möglichkeit einer spä-
tern Zeitstellung der Gräber, welchen diese Bronzen ange-
hören, nur die Unkenntniß der wichtigen Thatsache bezeu-
gen, daß alle ohne Ausnahme in Grabhügeln oder Resten
von solchen gefunden worden sind, bei deren Untersuchung
auch nicht die geringste Spur der sonst in diesen Gegenden
überall unvermeidlichen Münzen und Gerathe der römischen
Kaiserzeit zu Tage gekommen ist. Zudem sollte man ^wis-
sen oder beachten, daß unter den zahllosen Funden in den
Trümmerstätten römischer Niederlassungen diesseits der Al-
Pen weder in den britischen und gallischen noch germanischen
Provinzen Bronzegefäße dieses leichterkennbaren, alterthüm-
lichen Charakters jemals entdeckt sind, und daß selbst die
minder bestimmt charakterisirten gerippten Bronzeeimer der
hannoverschen Grabhügel eine Metallcomposition von
85 Procent Kupfer zu 15 Procent Zinn aufweisen, als ein
Merkmal ihres Alters, welches genau deu völlig gleicharti-
gen Blechgesäßen von Monteveglio entspricht, die durch die
beigesnndenen Thongefäße archaischen Stils weit über die
römische Kaiserzeit hinaufgerückt werden.
Wir sehen in allen diesen Verhältnissen und Thatsachen
nur sehr wichtige Hülssmittel zur Erkenntniß der Identität
eines wesentlichen Theils der nordischen Bronzefunde mit
den südlichen, und nach keiner Seite hin einen Grund zu
Zweifel und Bedenken. Zu finden, wo die erheblichen
Von Ludwig Lindenschmit.
Erzgefäße. — Woher kam die Bronze ? — Der Handelsverkehr. — Thatsachen im Gegensatze zu Vermuthungen.
Wenn hier vorzugsweise nur die Grabfunde Aufschluß
geben können, so war zu bedenken, daß im Norden und Sü-
den je nach einer sehr verschiedenen den Lebens- und Bildnngs-
Verhältnissen entsprechenden Anschauungsweise von dem Werth
der Grabesbeigaben auch eine sehr verschiedene Auswahl der
letzteren stattfinden mußte. Ein noch so elegant verziertes
Messerchen oder Celt, ja selbst ein Schwert von Erz, konnte
in Italien nicht entfernt von der Bedeutung sein, um den
Hanptbestandtheil einer Grabausstattung zu bilden, wie in dem
Norden, und dasselbe gilt weitaus von dem größten Theil
der Bronzegeräthe, die wir in den Schränken unserer heimi-
schen Museen aufgereiht finden.
Wir sind deshalb auf die Untersuchung derjenigen Ge-
genstände hingewiesen, welche sich diesseits wie jenseits der
Alpen als ein wichtiger Theil der Grabesbeigaben erweisen,
und dies sind vor Allem die Erzgesäße. Sie allein bie-
ten das durchgehend Gemeinsame, welches, wie überall, bei
verwandten und doch scheinbar verschiedenen Erscheinungen
Aufschluß gewährt und anch hier für die Stellung des Nor-
dens zum Süden maßgebend ist. Die cisalpinischen Fund-
stücke dieser Art erhalten damit jene Eigenschaften, welche
den Leitfossilien in der Geologie zukommen, und hierdurch
eine Wichtigkeit für die vorliegende Frage, die ihnen durch
keinerlei Bedenken und Zweifel entzogen werden kann.
Diese letzteren können doch wohl einzig nur in Bezug
auf die Merkmale des Stils jener Gesäße selbst, oder des
Alters der Grabfnnde, denen sie angehören, einen Anhalt
suchen. Allein weder das Eine noch das Andere entbehrt
der vollkommensten Sicherstellung. Wäre ein Zweifel zu-
lässig an dem etrnskischen Charakter des Stils nnd der
Fig. II.
Fig. 12.
56 ' Ludwig Lindenschmit: Zur
Schwierigkeiten für die Beurtheilung dieser Funde eigentlich
liegen sollen, bliebe gerade die erheblichste Schwierigkeit,
wäre sie nicht zunächst in der bewußt oder unbewußt wirkenden
Absicht zu suchen, die Selbständigkeit der nordischen Bronze-
cultur unter allen Umständen zu behaupten und dieselbe mit
Ablehnung jeder vermittelnden Ueberlieseruug direct aus Asien
herzuleiten.
Nach dem Orient gelangen wir aber auch auf dem
Wege Uber das alte Etrurien, sobald wir nach dem ersten
und ursprünglichen Ausgangspunkt der sogenann-
ten Bronzecultur suchen, nur daß wir in dieser Richtung
in Italien den nächsten, naturgemäß uothweudigen, durch
die Denkmale sowohl als die Thatsachen der historischen
Zeit verbürgten Vermittelungspunkt haben, wie ihn in glei-
cher Weise nur Griechenland bieten kann und die phöniki-
schen, kleiuasiatischeu und hellenischen Colonien an den Ufern
des Mittelmeeres bis zum Pontus Euxinus hin.
Für nichts mehr als einen Traum dagegen kann die
Annahme gelten, daß gleichzeitig oder gar noch vor der Bil-
duug dieser Pflanzstätten altorientalischer Cultur eine ver-
einzelte Frucht der letzteren, wie die Kenntniß der Bearbei-
tung der Metalle, in directer Übertragung und zwar auf
dem Landwege von Asien nach der Ost- und Nordsee gelangt
sei. Eine Mittheilung dorthin konnte nur von jenen weiter
nach dem Westen geschobenen Colonien und Stationen aus
möglich sein, und es bleibt vor der Hand von untergeordneter
Bedeutung, welche Wege für dieselbe, abgesehen von jenem
zur See, wir als die ersten und ältesten zu betrachten haben,
ob die Straße längs Tyras oder Jster, oder jene von der
Adria über die Alpen, oder von dem Tyrrhenischen Meere die
Flüsse Galliens hinauf; denn auf allen diesen Wegen läßt
sich ein sehr alter Verkehr nachweisen.
Wichtiger bleibt die Frage, welcher Art die Mittheiluu-
gen dieses Verkehrs waren, ob sie in der förmlichen Verpflan-
zung einer umfassenden Kenntniß der Metallarbeit, oder nur
in der Ueberlieserung fertiger Fabrikate, allenfalls mit der
Zeit auch einiger Gußformen für einfache Gegenstände beste-
hen konnte. Die Entscheidung liegt nahe genug, da aber die-
selbe mit socialen Schwierigkeiten und Bedenken umgeben
wird, so verlohnt es der Mühe, zuzusehen, auf welcher Seite
der entgegengesetzten Annahmen sich dieselben finden.
Wenn wir zu diesem Zwecke die Verhältnisse der alten
Culturstaateu ins Auge fassen und ihren Wirkungskreis
nach den entsprechenden Analogien der historischen Zeit bis
zur Gegenwart bemessen, so muß das Gebiet ihres Handels
weit umfangreicher gewesen sein als jenes ihrer directen Ein-
Wirkung aus die wenig oder gar nicht entwickelten Völker
außerhalb ihrer nächsten Berührung. Unmittelbare Mitthei-
lungen ihrer technischen Erfahrungen und Erfindungen konn-
ten zunächst nur auf die Nachbarvölker übergehen uud von
diesen weiter getragen werden, allein diese Verbreitung war
nicht in regelmäßiger Fortbewegung nach der geographischen
Reihenfolge der Völker möglich, gleich der Ausbreitung von
Wellenringen, welche ein fallender Stein in dem Wasser her-
vorbringt.
Sollten wir annehmen dürfen, daß die Bronzecultur
auf diesem Wege eines ungestörten Fortganges bis nach dem
Norden gelangt sei, so müssen wir unbedingt voraussetzen,
daß nicht nur alle zwischenliegenden Völker gleiche Begabung
und Neigung für Aufnahme und weitere Mittheilung be-
saßen, fondern daß vor Allem zugleich überall auch die Mit-
tel zur Ausführung der Bronzearbeit vorhanden waren, welche
auf eine Metallmischung angewiesen blieb, deren Be-
standtheile absolut nicht überall zu haben waren. Müßten zu
ihrer Beschaffung weitreichende Verbindungen, allezeit offene
Verkehrswege zugegeben werden, so ist mit diesen weit eher
Culturgeschichte der Vorzeit.
noch an die Einführung von Fabrikaten als an den Trans-
Port von Rohmaterial zu denken, und diese Annahme müßte
mit der zunehmenden Distanz des Ausganges und Zielpunk-
tes der Sendungen immer größere Berechtigung gewinnen.
Wir gestehen, jede Möglichkeit einer Vorstellung
fehlt uns von einer solchen im Norden heimischen,
aus weiter Ferne importirten Erzkuust, die sich ihr
Material in ausreichender Fülle zu beschaffen wußte, um
zuerst in altorientalischer Weise, also phönikischem (d. h.
ägyptisch-assyrischem) Stile, später auch theilweise nach alt-
etruskischen „Mustern" (die doch aus derselben Quelle flössen)
zu arbeiten, und zwar nicht etwa in mehr oder weniger un-
beholfenen Nachbildungen, sondern mit einer Geschicklichkeit,
welche sich in allen Einzelheiten der Technik mit den Lei-
stnngen der alten Cnlturvölker auf gleicher Stufe hält.
Dabei unter allem Reichthum der Funde keine Spur von
eigentümlicher EntWickelung, von Erscheinungen, die
aus dem abgeschlossenen Formengebiet der südlichen Jndu-
strie heraus etwa eine Andeutung gewährten, von der sich
später doch so nachdrücklich geltend machenden Eigenart der
nordischen Stämme!
Begreiflich würde dies Alles, sobald man den unbedingt
fremdländischen Charakter der Objecte nicht über-
sehen wollte, und ihre in sich vollendete und abgerundete Aus-
führung, welche sie für jedes unbefangene Auge als nnver-
kennbare, wenn auch untergeordnete Erzeugnisse eines voll-
kommen und weit höher entwickelten Bildungszustandes dar-
stellen, als wir dem Norden in jener Frühzeit beizumessen
irgend berechtigt sind. Die während eines langedauernden
Verkehrs unschwer erlangte Fertigkeit, in transportabeln Guß-
formen Lanzenspitzen, Messer und Meißel aus zerbrochenem
Erzgeräthe neu zu gießen, verdient noch lange nicht die Be-
zeichnnng Bronzecultur. Sie ist nicht jene Beherrschung
der gesummten Metalltechnik in Guß und Toreutik, wie sie
von ihrem Ausgangspunkte und ihren nächsten Pflanzstätten
sich bis zum Kunstgewerbe und zur eigentlichen Kunst erhob.
Was wir im Norden finden, ist höchstens ein un-
bedeuteuderAbsall, ein aus der Fremde übertrage-
uer Ableger, welcher bei Unterbrechung seiner Pflege so-
fort absterben mußte, ohne irgend eine Beziehung oder Nach-
Wirkung in der spätern Werkweise zu hinterlassen.
Man hat früher mit Ein- und Auszügen verschiedener
Völker, insbesondere mit den überall verwendbaren Kelten
aushelfen wollen, eben so vergeblich als man heute noch ver-
sucht, für die skandinavischen und deutschen Stämme ein
besonderes Recht auf die Bronze zu wahren und den Slaven
dagegen die alten Waffen und Geräthe aus Eifen znzuthei-
len, unbesehen, ob dieselben nicht zumeist römischer und srän-
kischer Zeit und Herkunft zu überweisen sind. Nur den
Denkmalen selbst uud ihnen allein bleibt die letzte Entschei-
dnng über alle diese gegensätzlichen Anschauungen vorbehal-
ten. Das Uebereinkommen über wissenschaftliche Fragen,
welches auf Cougressen und überhaupt bei größeren Ver-
sammlnngen erzielt wird, bleibt in den seltensten Fällen
von dauernder Bedeutung. Stehen aber solche Resultate in
offenbarem Widerspruche mit maßgebenden Thatsachen und
bekunden nur ein Festhalten an vorgefaßten Ansichten, so
erinnern sie unwillkürlich an die Entscheidung des Magistrats
einer rheinischen Stadt, welcher in dem Wunsche, sobald als
möglich die Gedenkfeier einer wichtigen Erfindung eintreten
zu lassen, übereinkam, zu bestimmen, daß dieses Ereigniß in
dem für das beliebte Erinnerungsfest passenden Jahre wirk-
lich stattgefunden habe. Wie aber die Väter der Stadt fpä-
ter genöthigt wurden, ihr Decretum zu corrigiren, und das
Fest nachträglich noch einmal, zu richtiger Zeit, zu feiern, so
wird auch, freilich nicht in gleich vollkommener Weise, jene
Stanley und Livingstone in Ostafrika. 57
Fragender die Herkunft der Bronzen, welche durch den welcher Art sie sei, hat hier keine Berechtigung, und der
internationalen Congreß nichts weniger als gefördert oder wahre Patriotismus fühlt es eben so sehr als Pflicht, Tau-
gelöst wurde, fo lange wiederkehren, bis über diesen wichtig- schuugeu zu entsagen, als wohlbegründete Ansprüche zu be-
sten Punkt unserer vorhistorischen Culturgeschichte die erreich- haupteu.
bare Klarheit erlangt worden ist. Voreingenommenheit,
Stanley und Livingstone in Ostafrika.
ii.
Alle Zweifel in Betreff Livingstone's sind geschwun-
den; wir wissen nun, daß der unermüdliche und unerschrockene
Forscher lebt, und daß er, mit immer noch frischem Muthe
und mit Begeisterung für die Wissenschaft, feine Reisen auch
jetzt noch fortsetzen will, um das Ziel zu erreichen, welches
er sich vorgesteckt hat.
Es war unsere Zeitschrift, welche zuerst Kunde über die
Expedition des Nordamerikaners Stanley gab („Globus"
Bd. XXI, S. 76). In England wurde dieselbe noch einige
Zeit, nachdem der „New Uork Herald" ausführliche An-
gaben mitgetheilt hatte, ignorirt. Es schien fast als habe
es die Leute in London verdrossen, daß ein Aankee ihnen im
Aufsuchen des Reisenden zuvorgekommen sei. Nach langem
Zögern und Ueberlegen war endlich Llewellyn Dawson aus-
gerüstet worden und eben in Ostafrika angekommen, als man
erfuhr, daß jener Nordamerikaner im Auftrage einer Neu-
Yorker Zeitung, ohne irgend welches Aufheben zu machen,
bis in die Nähe des Tanganyikafees vorgedrungen war. Er
hatte Alles daran gesetzt, ins Klare über Livingstone zu kom-
men, und er hat ihn in der That ausgefunden. Der
Bericht, welchen er an Herrn O'Connor, welcher in London
als Bevollmächtigter und Correspondent des „Herald" lebt,
geschickt hat, ist klar und wahr und läßt keinen Zweifel zu;
das sieht der Unbefangene auf den ersten Blick. Deshalb
ist es um so kleinlicher, wenn sich Londoner Blätter, wie
z. B. die sonst ganz achtbare „Saturday Review", die Miene
geben, als sei Slanley's Bericht ein »Humbug und Alles,
was in demselben stehe, einfach erlogen!
Schon die nächsten Wochen (wir schreiben diese Zeilen
am II.Juli) werden ausführliche Meldungen bringen, denn
Stanley ist auf der Rückreise. Seinen Bericht, den wir
hier folgen lassen, hat er durch Araber, welche ihm voraus-
reisten, nach Sansibar geschickt; die Briefe, welche Living-
stone ihm eingehändigt, wollte er keinem Eingeborenen an-
vertrauen; sie waren ihm dafür zu werthvoll und sie werden
auch das beste Document bilden, welches alle Zweifel zer-
streuen und ihn als einen Mann ausweisen kann, der die
Wahrheit gesagt. Es ist in der That eine geradezu alberne
Annahme, daß er, der doch auch Leben und Gesundheit ge-
wagt hat, sich als unverschämter Lügner zu brandmarken
die Absicht gehabt hätte. Damit wäre auch seinem Auf-
traggeber, dem „New Aork Herald", sicherlich kein Dienst
geleistet worden.
Noch vor Kurzem machten wir darauf aufmerksam, daß
die letzten Briefe, welche Livingstone geschrieben, fehr unklar
seien. Jetzt ist durch Stanley einige Klarheit wenigstens
in den Zusammenhang gekommen. Ob Livingstone's An-
sichten über den Quellfluß des Nils richtig sind, wird erst
später ermittelt werden können.
Stanley übergab seine Aufzeichnung zu Kuetara in
Unyanyembe einigen arabischen Eilboten; er selbst hoffte,
Globus XXII. Nr. 4. (Juli 1872.)
etwa einen Monat nach ihnen an der Küste einzutreffen.
Er war bekanntlich am 23. Januar 1871 von Sansibar
nach dem Innern aufgebrochen. Bevor er Unyanyembe er-
reichte, verlor er unterwegs zwei Mann von feiner bewaff-
neten Bedeckung, acht Pagazis, zwei Pferde und 27 Efel.
Als er sich anschickte, nach Udschidschi aufzubrechen, erfuhr
er, daß ein Negerhäuptling, König Mirambo von Ujowa,
mit den arabischen Kaufleuten und deren Factoren (—welche
bekanntlich weit und breit durch Ostafrika ziehen —) in Ir-
rungen gerathen war. Er erklärte, daß er fortan keine nach
Udschidschi bestimmte Karawane durch sein Gebiet ziehen
lassen wolle. Die darüber erbitterten Araber haben Krieg
mit ihm angefangen, und Stanley war unbesonnen genug,
sich ihnen anzuschließen. Er hatte als Aankee „calculirt",
daß sie Sieger bleiben würden, und zog sammt seinem be-
waffneten Gefolge mit ihnen als Feind in das Land des
Königs von Ujowa. Die Araber und der Aankee überfielen
drei Dörfer Mirambo's; die Leute wurden gefangen genom-
men, theilweise auch getödtet; manche flüchteten. Aber Stan-
ley holte sich gleich zu Anfang dieses unrühmlichen Feldzuges
ein Fieber und mußte deshalb nach Unyanyembe zurück, und
das war gut für ihn, denn bald nachher lockte Mirambo die
Araber in einen Hinterhalt, erschlug siebenzehn ihrer Häupt-
linge und obendrein fünf der Bewaffneten, welche zu Stan-
ley's Gefolge gehörten. Nun waren die Araber entmuthigt;
schon vier Tage nach Eröffnung der Feindseligkeiten zerstreu-
ten sie sich nach allen Richtungen hin, und die Leute, welche
Stanley ihnen zugeführt hatte, rissen gleichfalls aus, in der
Richtung nach der Küste hin. So verlor der Amerikaner
seine Begleiter in Folge seines offenbaren Unverstandes, bei
ihm blieben nur der Engländer Shaw, ein arabischer Bursch
Namens Selm und sechs Bewaffnete. Stanley befürchtete,
daß Mirambo seinerseits ihn heimsuchen werde, und gab sich
Mühe, von den Flüchtlingen so viele zusammen zu bringen,
wie er nur auftreiben konnte; es gelang ihm auch, aus den-
selben eine Schaar von etwa 150 Mann zu bilden und sich
mit Lebensmitteln aus fünf Tage zu versorgen. Dann ver-
rammelte er eine Anzahl von Häusern, zog die amerikanische
Flagge auf uud wartete der Dinge, die da kommen sollten.
Aber der König von Ujowa erschien nicht.
Stanley begriff nun, daß er gescheidter thue, wenn er
die Araber allein ihre Sache verfechten lasse, und daß ihm
nichts übrig bleibe, als zu versuchen, ob er auf einem Um-
Wege nach Norden hin Udschidschi erreichen könne. Aber die
Araber erklärten sich dagegen, ohne Zweifel aus selbstsüchtigen
Handelszwecken, und als Stanley fest blieb, erzählten sie des-
sen Begleitern allerhand fabelhafte Geschichten, die als Ab-
schreckung dienen sollten. Theilweise erreichten sie mit diesen
Einschüchterungen ihren Zweck; der Engländer Shaw wollte
nun nicht weiter mit, und Stanley hatte große Mühe, Trä-
ger für sein Gepäck und sonstige Begleiter zu bekommen.
58 Stanley und Liv
Dann wagte er sich in eine Einöde, welche selbst den Ära-
bern nur dürftig bekannt war; er wurde mehrmals von feind-
seligen Häuptlingen bedroht, aber er kam doch vorwärts und
war am 3. November 1871 im Angesichte von Udschidschi.
Er hielt es für zweckmäßig, mit einem gewissen „Eclat ein-
zuziehen und mit seiner kleinen Schaar so viel als möglich
zu imponiren". Den Zug eröffnete ein Träger mit dem
amerikanischen Sternenbanner, hinter welchem die Bewaff-
ueten einHerzogen; sie mußten viel und rasch hinter einander
ihre Gewehre abfeuern; dann folgten die Gepäckträger, die
Pferde und Esel; Stanley selbst schloß den Zug. Die Ein-
wohner kamen in Menge herbei und beantworteten das Knat-
tern der Schüsse mit lautem Geschrei und mit ihren musi-
Mischen Instrumenten, welche sie tapser bearbeiteten.
Beim Einzüge in die Ortschaft selbst bemerkte Stanley
auf der rechten Seite eine Gruppe von Arabern. Inmitten
derselben stand ein weißer Mann mit bleichem Gesicht und
grauem Barte; er trug eine rothwollene Jacke und eine Ma-
rinemütze, deren Goldstreif sehr verschossen war. Das konnte
wohl kein Anderer sein, als der europäische Reisende. Stan-
ley wäre gern rasch auf ihn zugegangen, um ihn zu um-
armen, aber er besann sich; denn er war unter Arabern, bei
welchen es Brauch ist, die Gesühlswallungen zu verbergen;
ein arabischer Häuptling, der neben ihm stand, rieth ihm
auch, sich keine Aufregung oder Freude merken zu lassen.
Also ging er langsam aus den Mann zu und sprach: „Wie
ich vermuthe, Doctor Livingstone?" — Dieser lächelte
und entgegnete weiter nichts als: „Ja wohl." Erst als
einige Stunden nachher Beide allein waren und auf einer
Ziegenhaut saßen, konnten sie sich offen gegen einander aus-
sprechen.
Nach Stanley's Angaben befand sich Livingstone in sehr
guten Gesundheitsumständen; er war stramm und kräftig;
die vielen Strapazen hatten ihn nicht untergekriegt, und er
war entschlossen, die Aufgabe, welche er sich gestellt hatte,
zu erfüllen. Der Amerikaner erzählte dem Manne, welcher
seit so vielen Jahren außerhalb der Civilisation gelebt hatte,
Neuigkeiten in Hülle und Fülle. —
Der Bericht, welchen der schon erwähnte Herr T. P.
O'Connor aus Stanley's an ihn gelangten, für den „New
Aork Herald" bestimmten Briefen zusammengestellt hat
(„Mail" 3. Juli), giebt dann folgende Nachrichten über
Livingstone's Forschungen.
Im März 1866 hat derselbe seine Reise von der Küste
aus angetreten. Er hatte als Begleiter zwölf indische Si-
pahis, neun Johannaleute (— d. h. Leute von der Insel
Anjuan, einer der Komoren; diese Inselgruppe liegt im
nördlichen Theile des Canals von Mosambik —), sieben frei-
gelassene Sklaven, zwei Männer von Sambesi, in Allem
dreißig Köpfe. Er zog anfangs an: linken Ufer des Rofnma
hin; weiterhin zeigte sich unter seinen Leuten Mißvergnügen
und sie fürchteten sich. Er gab sich alle mögliche Mühe,
sie zusammen zu halten, aber trotzdem liefen die meisten soct
und sprengten in ihrer Heimath das Gerücht aus, er sei
todt. Durch diese Lüge wollten sie sich decken und den Um-
stand erklären, daß sie wieder heimgekommen seien. Die
Sipahis desertirten zwar nicht, zeigten sich aber ungehorsam
und so meuterisch, daß er es für angemessen hielt, sie fort-
zuschicken. Im August 1866 kam er in das Gebiet des
Häuptlings Mponda, der einen Stamm in der Nähe des
Nyassa-Sees beherrscht, und dort wollte Wikoteni, „ein
Protegs des Doctors", nicht weiter mit. Livingstone ver-
weilte kurze Zeit in Mponda's Gebiet und untersuchte dann
den „Hacken" des Nyassa-Sees. Damals war es, daß auch
diejenigen von den Johannaleuten', welche bis jetzt noch bei
ihm ansgehalten hatten, von ihm fortliefen. Als Entschul-
gstone in Ostasrika.
diguug oder Vorwand gaben sie an, daß ein Häuptling Na-
mens Mazitn Plünderungszüge unternommen habe und
die Reisenden schlecht behandele. Die Johannaleute wären
vielleicht geblieben, wenn nicht ihr Obmann Musa sich feig
benommen hätte; als er entfloh, thaten sie ein Gleiches.
Bekanntlich waren sie es, welche die falsche Nachricht aus-
sprengten, daß Livingstone nicht mehr am Leben sei. Im
December 1866 gelang es ihm, eine Anzahl von Eingebo-
renen zu werben, und nun zog er auf seinem Wege gen
Norden durch das Gebiet der Babisa, Bobembena, Bo-
runga und ging nach Lnnda hinein.
Als er dem Gebiete des Königs in Lunda, welcher als
Cazembe bezeichnet wird, sich näherte, kam er an einen
schmalen Strom, den Chambe'zi (Tschambesi). Längere
Zeit ward er sich nicht klar darüber, zu welchem Strom-
systeme derselbe gehöre. Seine „Consusiou" wurde noch da-
durch gesteigert, daß die portugiesischen Reisenden, durch
welche wir Kunde über diesen Fluß hatten, behaupten, der-
selbe sei ein Zufluß des großen Sambesi und folglich ohne
allen Zusammenhang mit dem Nil. Livingstone war nicht
geneigt, das letztere zu glauben, und beschloß, über das Stei-
gen uud Fallen des Chambezi Gewißheit zu erlangen. Von
Anfang 1867 bis Mitte März 1869 wanderte er an den
Ufern des mysteriösen Stromes, verzeichnete den Lauf dessel-
ben, verbesserte die Jrrthümer der Portugiesen und wies
klar nach, daß dieser Chambezi nicht der Quellstrom des
großen Sambesi sei. Er war bei seinen Forschungen und
Untersuchungen so eifrig und so ausdauernd und fragte nach
allen Richtungen so viel hin und her, daß die Eingeborenen,
welche den Zweck von dem Allen nicht begreifen konnten, ihn
für verrückt hielten; sie sagten, er habe wohl „Wasser im
Gehirn". Livingstone ließ sich jedoch durch keinerlei Hin-
derniß abschrecken oder irre machen, und als Ergebniß sei-
ner Forschungen stellt er Folgendes auf:
1) Der Sambesi der Portugiesen und der Chambesi sind
ganz verschiedene Gewässer, welche keinerlei Zusammenhang
mit einander haben.
2) Der Chambezi ist der eigentliche Qnellslnß
des Nils. Er fand, daß von 11° Süd dieser Nil-
strom 2600 Miles lang sei.
Dafür wird er freilich erst gründliche Nachweise beizu-
bringen haben; absolut im Klaren ist er noch nicht; dies geht
daraus hervor, daß er noch ein paar Jahre auf weitere Er-
forfchuugen der Gegend verwenden will, welche ihm zufolge
das Quellgebiet des Nils bildet. —
Der Bericht, welchen O'Connor den Briefen Stanley's
entlehnte, bemerkt: Auf seinen Wanderungen kam Livingstone
an den See Liemba, und er entdeckte, daß derselbe sein
Wasser aus dem Taugauyika-See erhalte. Seine
Karte dieses letztern Sees zeigt, daß derselbe in seinem süd-
lichen Theile der untern Abtheilung Italiens gleicht. Er fand,
daß derselbe entspringt (rises) in 8°0'42" S. und eine
Länge vou 325 Miles hat; er wäre demnach 73 Miles
länger als Burton und Speke annahmen. Der Doctor ver-
ließ den Tanganyika, zog durch Maruugua und kam an
einen kleinen See, den er Muero nennt; derselbe hat 6
Miles in der Länge und erhält sein Wasser aus dem Cham-
bezi. Auf seiner Weiterwanderung verfolgte er den Lauf
des Chambezi auf drei Breitengraden, und nachdem er sich
überzeugt hatte, daß derselbe keinerlei Zusammenhang mit
dem Sambesi habe, ging er wieder in Cazembe's Gebiet.
Von dort begab er sich nach Udschidschi, von wo er im An-
fang 1869 Briefe durch Boten abschickte. Er verweilte dort
nur kurze Zeit, erforschte das Haupt (the head, soll wohl
heißen das Nordende) des Tanganyika, überzeugte sich, daß
Die arktischen Exped
der Fluß Rusizi in den See strömt, nicht aus demselben
abfließt, und traf dann Vorbereitungen zu einer weitern, wie
er damals annahm letzten Erforschungsreise.
Im Juni 1869 brach er von Udschidschi ans, ging dnrch
das Land Ugnbha und kam nach einer Wanderung von
fünfzehn Tagen nach Mamgema (— wohl Manyema —).
Dies war ein noch jungfräuliches Land, dessen Inneres ganz
unbekannt war. Als er weiter vordringen wollte, befiel ihn
eine schwere Krankheit; aus seinen Füßen brachen Geschwüre
hervor und volle sechs Monate mußte er nnthätig liegen
bleiben. Nach seiner Genesung zog er nach Norden hin und
kam bald an einen breiten Fluß, den Lualaba, der in
nördlicher, westlicher und südlicher Richtung floß. Er ver-
muthete, daß dieser Fluß nur eine Fortsetzung des Chambezi
sei, welcher in die Seen Bangnereolo, Lnapula und
Muero fließt; und dann ging Livingstone zurück nach dem
See Kamolondo; von dort wanderte er bis zu 4° S.,
und nach einer langen und sehr schwierigen Reise fand er
den Punkt, wo derLualaba und der Chambezi fich mit
einander vereinigen. - So ist ausgemacht, daß beide den-
selben Fluß bilden.
Er folgte diesem Flusse einige hundert Miles weit und
kam dann bis 180 Miles von demjenigen Theil des Nils,
welcher schon verzeichnet worden ist. Dort aber meuterten
seine Leute und liefen ihm fort. Da er nun weder Bor-
räthe noch Begleiter mehr hatte, mnßte er fich, abgemattet
und verlassen, wieder mach Udschidschi zurückbegeben. Einige
Zeit nach seiner dortigen Ankunft traf Stanley mit ihm zu-
ionen im Jahre 1872. 59
fammen. Livingstone war am 16. October 1871 in Ltd-
schidschi angelangt, wo Stanley am 3. November einzog.
Am 20. November machten beide zusammen eine Reise
an das Nordende des Tanganyika, und durch ihre Unter-
suchungen wurden Livingstone's frühere Beobachtungen be-
stätigt. Sie verlebten 28 fehr angenehme Tage uud feier-
ten den Weihnachtstag mit einander, brachen am 26. De-
cember nach Unyanyembe auf und blieben dort bis zum 14.
März 1872. Stanley nahm die Briefe Livingftone's in
Empfang und brach nach der Küste auf, während der Ent-
decker zurückblieb, um seine Forschungen zu vervollständigen.
Er hat gesagt, daß er noch zwei Probleme in Betreff
desNils zu lösen habe; — einmal will er die 180 Miles
erforschen, welche zwischen den von ihm erreichten Punkten
und den schon verzeichneten Strecken des Nils eine noch nn-
bekannte Strecke bilden. Sodann will er ermitteln, was es
mit den „vier Quellen" auf sich habe, welche, wie man
ihm erzählte, dem Lualaba eine große Wasfermenge zuführen.
Er meint, daß er zu diesen Reisen 16 bis 18 Monate Zeit
nöthig habe. Stanley meint jedoch, daß er damit nicht ans-
reiche.--
In der Hauptsache ist, wie man sieht, noch nichts ent-
schieden. Eine Strecke von mehr als 40 deutschen
Meilen bildet eine Lücke, und auf dieferStrecke muß
sich zeigen, ob Livingstone recht hat, denChambezi-
Lualaba als den Oberlauf des Stromes zu be-
trachten, welcher aus den Aequatorialseen nach
Norden fließt. Quaeritur adhuc Nili caput.
Die arktischen
Capitän Hall. — Octave Pav
A. Die Mysterien der Polargegenden werden mehr und
mehr enthüllt; von dem Schleier, mit welchem diese über-
deckt sind, lüftet man bald hier bald da einen größern oder
geringern Theil und die Nebel verschwinden. Man strebt
mit klarem Bewußtsein nach großen Zielen, und wenn in
den Mitteln zur Erreichung derselben auch dann und wann
fehlgegriffen wird und abenteuerlich scheinende Pläne auf-
tauchen, so verdient doch der Mnth, die Energie und die
Ausdauer der Männer, welche sich zur Erreichung wissen-
schaftlicher Zwecke in das hochnordische Eismeer wagen, un-
sere volle Bewunderung. Der Eifer erkaltet nicht; was in
dem einen Jahre nicht gelingt, wird im nächsten wieder
versucht, und wo man wichtige Resultate erzielt hat, verfolgt
man dieselben weiter. Man hat sich vorgenommen, den
Nordpol zu erreichen; man will aussindig machen, ob ein
offenes Polarmeer vorhanden sei oder nicht, man trachtet
außerdem dahin, die bisher noch unbekannten Theile des
arktischen Oceans zwischen Spitzbergen und Nowaja Semlja
im Westen und dem Wrangell-Land im Osten zu erforschen,
außerdem auch, wo die Umstände es irgend erlauben, so weit
als möglich nach Norden hin vorzudringen.
Gegenwärtig sind drei Expeditionen thätig. Zwei der-
selben haben sich nichts Geringeres vorgenommen, als den
Pol zu erreichen. Der nordamerikanische Capitän Hall
trat seine Reise im Sommer 1871 von den Vereinigten
Staaten aus an, um anfangs auf dem Wege durch den
Dianen im Jahre 1872.
i.
y. — Weyprecht und Payer.
Jonessund, und als dagegen gewichtige Bedenken sich erhoben,
auf dem Wege durch den Smithsund ans Ziel zu kommen.
Octave Pavy, ein Franzose, ist im Mai von Calisornien
ausgesegelt, um durch die Behriugsstraße ins arktische Meer
zu fahren und in dieser Richtung bis zum Nordpol vorzu-
dringen. Weyprecht und Pay er sind am 13. Juni mit
ihrem Dampfer „Tegetthoff" von Bremerhaven aus in See
gegangen. Sie haben sich nicht vermessen, den Pol erreichen
zu wollen; es ist ihre Absicht, um Nowaja Semlja herum
zu fahren und den unbekannten und unerforschten östlichen
Theil des arktischen Oceans wo möglich bis zur Behrings-
straße hin gründlich kennen zu lernen. Falls ihr Unter-
nehmen einen glücklichen Ausgang nimmt und erreichen sie
von Westen her jene Straße, welche Asien und Amerika
trennt, dann würden sie die nordöstliche Durchfahrt ge-
fuuden haben, welche man früher vergeblich gesucht hat.
Hall, der ruhmredig genug aufgetreten ist („Globus"
XXI, S. 344. 352), hat von vornherein kein Glück gehabt.
Eine dänische Brigg, welche im Mai in Neufundland an-
lief, brachte dorthin die Nachricht, daß derselbe genöthigt ge-
wesen sei, am 1. März im Hafen von Disco (70° N.) an
der Westküste Grönlands eine Zuflucht zu suchen. Am 8.
Februar wurde das Schiff „Polaris" — es wird nicht ge-
sagt, wo — von einem heftigen Sturme überfallen, und es
erhielt durch Druck im Eis einen Leck. Nur durch unab-
lässiges Arbeiten an den Pumpen war es möglich, das Schiff
8*
60 Die arktischen Expedii
über Wasser zu erhalten und nach Disco zu bringen; man
hatte unterwegs einen beträchtlichen Theil derVorräthe über
Bord werfen müssen. Hall wollte, sobald er die „Polaris"
wieder seefähig hergerichtet hatte, wieder nach Norden fahren.
Auch in Disco äußerte er sich ruhmredig. Wenn kein un-
erwarteter Umstand ihn hindere, werde er wohl im Septem-
ber 1872 wieder in Nenyork zurück sein; in seiner Ueber-
zeugung, daß ein offenes Polarmeer vorhanden sei, finde er
sich nur bestärkt, denn — „die Mannschaft der „Polaris"
hatte einen Walfisch getödtet, in welchem man eine Harpune
fand, welche den im südlichen Großen Ocean gebräuchlichen
ähnlich ist. Das sei an einer Stelle geschehen, wo, wie
Hall wissen will, niemals das Segel eines nordamerikani-
schen oder europäischen Schiffes entfaltet worden wäre. Be-
sagter Walfisch müsse durch die Behringsstraße und um den
Pol herumgekommen sein. In dem höchsten noch unentdeck-
ten Norden herrsche eine milde Atmosphäre, und man habe
im Eise Pflanzen gefunden, welche südlichen Klimaten an-
gehören. Mitte Januars habe er ein Stück Treibholz an-
getroffen, was sich als Birkenholz auswies. Hall erzählte,
daß er am 14. Februar Nachts auf Deck bei astronomi-
fchen Beobachtungen gelesen und geschrieben habe; Mitte
Januars sei wenig Eis gesehen worden, und darüber dürse
man sich gar nicht wundern. In jeder Nacht habe man die
prächtigsten Lufterscheinungen gesehen."
Es bleibt nun abzuwarten, was aus Hall und seiner
„Polaris" weiter geworden ist. Wenn er überhaupt zurück-
kommt, so werden wir Wahrheit ohne Aufschneidereien wohl
durch Dr. Bessels erfahren, welcher bekanntlich die Expe-
dition mitmacht und unter den Mitgliedern derselben der
allein wissenschaftlich gebildete Mann ist.
* *
Octave Pavy ist, wie bemerkt, im Mai aus San Fran-
cisco in See gegangen, um durch die Behringsstraße
nach Norden hin zu fahren und — „den Pol zu erreichen".
Er war mehrere Jahre mit dem vielbesprochenen Gustav
Lambert eng verbunden, welcher eine geraume Zeit sich
Mühe gab, die Gelder für eine arktische Expedition zusammen
zu bringen; nach und nach wurden auch einige hunderttausend
Francs gesammelt und Lambert ließ ein altes hölzernes
Schiff von 800 Tonnen Trächtigkeit für feine Zwecke her-
richten; er starb jedoch während des deutsch - französischen
Krieges, und somit war er verhindert, seinen Plan anszu-
führen, der ein etwas abenteuerliches Aussehen hatte. Pavy
seinerseits hat denselben auch weiter nicht beachtet; er hofft
auf eine neue, ganz eigentümliche Weise das große Problem
zu lösen. Seit Jahren beschäftigt er sich mit demselben;
man rühmt ihm nach, daß er als Bergsteiger in den Alpen
viel Muth bewährt und sich im Kriege als Anführer „fchwar-
zer Guerillas" ausgezeichnet habe. Mit den hochnordischen
Gewässern war er bisher noch nicht aus eigener Anschauung
bekannt, umfassende Studien über dieselben scheint er ge-
macht zu haben. Es versteht sich, daß er, wie Jeder, der
sich freiwillig in neue, gefahrvolle Bahnen wagt, von Enthu-
siasmus durchdrungen ist und die feste Hoffnung hegt, daß
ihm gelingen werde, was so viele vor ihm vergeblich erstrebt
haben. Jedenfalls ist sein Plan neu und originell, ob prak-
tisch, das wird man bezweifeln können. Doch darüber hat
der Erfolg zu entscheiden.
Wir möchten den Leser bitten, eine gute Karte zur Hand
zu nehmen, etwa die vielfach von uns belobte „Chart of the
World" von Hermann Berghaus, sodann desselben Kar-
tographen Weltkarte zur Uebersicht der Meeresströ-
mungen und des Schnellverkehrs; sie bildet Blatt 7
der neuesten Ausgabe von Stieler's Handatlas (Gotha
neu im Jahre 1872.
bei Perthes 1872), den wir nicht dringend genug empfehlen
können.
Pavy ist, wie gesagt, im Mai aus Californien abgesegelt,
zunächst nach Petropawlowsk in Kamtschatka und nach eini-
gen ostsibirischen Häsen, um dort Hunde für seine Schlitten,
getrockneten und geräucherten Lachs und Renthierfelle zur
Bekleidung an Bord zu nehmen. Gegen den I.August will
er durch die Behringsstraße nach dem vielerwähnten Wran-
gell-Lande fahren (Kellet- oder Longs-Lande), um dort
seine Vorräthe zu landen. Er hat ein Floß verfertigen
lassen, das aus vier einzelnen hohlen Kautschuckcyliu-
dern besteht, deren jeder 25 Fuß lang ist. Diese will er an
einander befestigen und mit einem Deck versehen; das Fahr-
zeug hat Raum genug, um Alles aufzunehmen, was zu einer
Reife nach dem Pole nöthig ist. Sobald er mit den Schlit-
ten nicht weiter kann und an offenes Wasser kommt, wird
er die Kautschuckcyliuder zusammenfügen und sich getrost auf
das Wasser wagen.
Der jedenfalls kühne und willensstarke Mann geht von
der Theorie aus, daß das Wrangell-Land, welches im arkti-
schen Ocean nordwestlich von der Behringsstraße liegt und vom
1800 O. durchschnitten wird, sich gegen den Pol hin ver-
längere, möglicherweise bis zum 80., ja bis zum 85. Grad
Nord. Nun wissen wir, daß derKuro Siwo, dieser japa-
nische oder besser nordpacisische warme Golfstrom, von der
asiatischen Küste her einen Arm nach Osten hin aussendet,
welcher die Westküste Nordamerikas berührt; ein anderer,
viel schwächerer geht nach Norden hin durch die Behrings-
straße; jenseits derselben wird er in Folge von noch nicht
ermittelten Ursachen gegen Westen hin abgelenkt, wäh-
rend seine normale Richtung eigentlich eine östliche sein
müßte. Aus dieser Thatsache folgert nun Pavy, daß im
Norden der Behringsstraße eine continentale Land-
masse hoch nach Norden hinaufreiche und daß dieselbe
die östliche Ausdehnung oder Fortsetzung des Wrangell-Lan-
des sei. An der Nordseite dieses von ihm vermutheten
Festlandes hofft er dann das offene Polarmeer zu finden,
von welchem Morton (auf Kane's Expedition) nur eine kleine
Bucht gesehen habe. Er aber, Pavy, will dieses vermu-
thete Polarmeer mit dem Kautschuckflosse befahren, frisch-
weg über den Pol hinüber und am Smithsunde heraus-
kommen. Nachdem er einmal die Küste der Polynie, wie
er meint, des offenen Polarmeeres, erreicht habe, „dessen
geheimnißvolle Wogen über den Pol hinwegschlagen", werde
er nur geringe Schwierigkeiten finden, um mit seinem Flosse
das so viel ersehnte Ziel zu erreichen.
Möglich immerhin, aber leicht darf man eine Fahrt mit
einem flachen Gummifahrzeuge im Polarmeere doch nicht
nehmen. Leicht bei einander wohnen die Gedanken, doch
hart im Räume stoßen sich die Sachen. Das Wrangell-,
Andrejew-, Long- oder Kellet-Land ist noch ein Problem
(„Globus" XIV, S. 12 ff.: Das neuentdeckte Wrangells-
Land; eine arktischeControverse, von Sophus Rüge); wir
wissen gar nicht, ob dieses Land ein Continent oder eine
Insel, oder eine Gruppe von Inseln ist gleich jenen im ark-
tischen Labyrinthe vor der Nordküste Amerikas; nicht einmal
die Südküste ist einigermaßen genau bestimmt, da die An-
gaben schwanken (73° 30' N. und 70°46' bis 48' Nord).
Wie hoch nach Norden reicht es hinauf, und hat es eine ge-
ringe oder beträchtliche Breitenausdehnung von Osten nach
Westen?
Auf dieses wir können sagen noch ganz verschwommene
Wrangell-Land gründet Pavy seine Pläne und Hoffnungen.
Er hat nur fünf Begleiter; unter diesen befindet sich jener
Capitän Mikes, der vor einigen Jahren in einem kleinen
Fahrzeuge aus Gummi, in einer „Nußschale", eine kühne
Die arktischen Erped
Fahrt zwischen Europa und Amerika wagte; dann Dr.
Chis Holme aus Californien, der früher als Mitglied der
nordamerikauischen Telegraphenexpedition und in Sibirien
war; er kennt etwas vom Eismeere, gleich zwei Matrosen,
die früher auf Walfischfahreru dienten; der fünfte ist ein
Jäger, welcher einst auf den Prairien Büffel gejagt hat.
Man muß die Kühnheit und Zuversicht dieser sechs Man-
ner aufrichtig bewundern; ein größeres Wagestück hat schwer-
lich jemals irgend wer vor ihnen freiwillig übernommen.
Pavy will, wie schon gesagt, seine Vorräthe am Wrangell-
Lande bergen; falls das Eis ihn daran hindern sollte, ge-
denkt er sie entweder an CaP Jakan an der sibirischen Küste
zu landen, also südlich, oder auf der Herald-Jnsel, also
östlich vom Wrangell-Lande. Sobald er das letztere mit
Hunden, Schlitten und Gummicylindern erreicht hat, soll
das Schiff nach Californien zurückfahren, und die sechs Man-
ner bleiben dann aus sich allein angewiesen in der arktischen
Einöde. Sie gedenken zunächst einige Wochen der Jagd
obzuliegen, um frisches Fleisch zu bekommen und mitzuneh-
men, gleichzeitig aber die Vorbereitungen zur eigentlichen
Reise zu treffen „über den Continent". Die ganze Aus-
rüstuug nebst allem Zubehör wird mehr als 10,000 Pfund
schwer sein, und sie rechnen darauf, daß zum Transport der
ganze Winter nöthig ist, da sie ein Vorwärtskommen von
nur vier Miles täglich, also noch nicht einer deutschen Meile,
annehmen. Diese Strecke muß täglich zwei Mal gemacht
werden, da jedes Mal nur 5000 Pfund fortbewegt werden
können. Im März gedenken sie das Wrangell-Land durch-
wandert zu haben und an dessen Nordküste das offene Po-
lärme er zu finden! Dort will Pavy sein Gummifloß deu
Wogen anvertrauen und gerade nach Norden hin zum Pol
steuern. Auf der Heimfahrt hofft er, wie schon bemerkt, in
den Smithsund zu gelangen und bei Port Foulke, dem aus
Kane's Reisen bekannten Punkt an demselben, viel Wild zu
treffen. Das Floß soll etwa 6000 Pfund Lebensmittel
tragen, welche für die fechs Männer auf zwei Jahre voll-
kommen ausreichen.
Für das Interesse der Wissenschaft soll durch meteorolo-
gische und magnetische Beobachtungen und durch solche über
die Meeresströmungen Bedacht genommen werden. —
Diese letzteren sind allerdings von der größten Erheb-
lichkeit. Pavy hat sich, wie wir gesehen, über dieselben eine
Theorie zurecht gemacht, wie sie ihm paßt; aber wir sind
über den Verlauf, den der Kuro Siwo nördlich von der
Behringsstraße nimmt, noch keineswegs sicher, und frühere
arktische Seefahrer sagen nichts davon, daß er in starker
Strömung nach Osten hin um Cap Barrow gehe, wohl
aber, daß er nach Westen und Norden um Cap Jakan
herumfließe. Das ist allerdings eine Anomalie, welche Pavy
daraus erklärt, daß ein großer Continent eine östliche Strö-
mung, welche die normale sein würde, nicht erlaube, indem
er eine Barriere gegen dieselbe bilde und sie ablenke. Mac
Clnre's Beobachtungen am Bankslande über das Eis
im Nordwesten im Vergleiche zu der übrigen Westküste des-
selben erklären sich nur, wenn man annehme, daß von dort
nach Westen hin Land vorhanden sei, welches eine Schranke
gegen das schwere Polarpackeis bilde und den Lauf dieses
Packeisstromes durch die Banksstraße nach dem Lan-
castersnnde hinlenke, welcher den Ausgang aus dem arkti-
scheu Labyrinthe zur Baffinsbai bildet. Pavy nimmt nun
an, daß dieses „vermuthete" Land zusammenhänge mit jenem,
das dem Cap Jakan, also der sibirischen Küste gegenüber
liegt, d. h. mit dem Wrangell-Lande. Einen solchen Zu-
sammenhang, die Coutiuuität, müsse man schon deshalb fol-
gern, weil wir auf der ganzen Strecke zwischen der Barrow-
spitze und dem Bankslande keine von Norden her kom-
onen im Jahre 1872. 61
mende Strömung kennen. Das „neue" Land reicht,
seiner Vermuthung nach, sehr hoch nach Norden hinauf.
Dafür spreche, daß das aus den sibirischen Flüssen ins Meer
gelangende Treibholz bei Spitzbergen, Jan Mayen und an
der Ostküste Grönlands gefunden wird, nicht aber (im Osten)
an den Nordküsten der Parry-Jnseln, und überhaupt
auch nicht im Norden des Smithsundes. Auf den eben ge-
nannten Inseln hat man nur sehr wenig Treibholz gefnn-
den, und dieses gehörte keinen sibirischen Bäumen an. Nach
Pavy's allerdings sinnreicher Theorie bewirkt nun der Con-
tinent des Wraugell-Laudes, wie schon gesagt, die Ablenkung
des Kuro Siwo nach Westen; derselbe „kreuze dann den Po-
larraum und bilde zuletzt den arktischen Strom, welcher nach
Süden gehe, der Ostküste Grönlands entlang bis Cap Fare-
well, wo er dann unter den westlichen oder Davis-Straßen-
Arm des atlantischen Golfstromes sinke."
Dr. Walker, der über Capitän Hall's Polarexpedition
ein so strenges Urtheil fällte („Globus" XXI, S. 344),
knüpft an den Plan und die Theorie Pavy's einige Betrach-
tnngen („Overland Monthly", Juni, S. 549). „Wir
sehen," so sagt er, „in der Natur das Princip der Aus-
gleichuug; wo wir eine warme Oberflächenströmung finden,
dürfen wir auch eine kalte Unterströmung bis zur Tempera-
tur von 39°2' F. voraussetzen und umgekehrt. Die Hy-
drographen nehmen nicht allein eine südliche kalte Strömung
entlang der Ostküste Grönlands an, sondern auch eine Tief-
seeströmung, welche unter dem Golfstrome hindurch geht.
Man meint, daß ähnliche Verhältnisse auch in der Davis-
straße und der Baffinsbai vorkommen. Etwa unter 45° W.
giebt der Golfstrom einen westlichen Zweig ab, der nach
Norden gegen die Davisstraße hinfließt und bei Cap Fare-
well dem kalten ostgrönländischen Strome begegnet; er ist
mächtiger als dieser, denn die Polarströmung taucht unter
und setzt ihren Lauf nach Südwesten fort, läßt aber das mit-
geführte Eis auf der Oberfläche. Diese westgrönländische
Strömung ist nach Norden hin bis beinahe zurDisco-Jnsel
verfolgt worden; wenn sie dort bis zur Maximumsdichtigkeit
des Wassers abgekühlt worden ist, 39°2' F., giebt sie der
kalten Strömung der Baffinsbai nach und sinkt unter diese
hinab. Absolute Beobachtungen über den weitern Verlauf
haben wir noch nicht; da wir aber wissen, daß Eisberge
durch das Packeis der Melvillebai auch nach Norden
schwimmen, so darf man wohl annehmen, daß das in Folge
des Verlaufes dieser Unterströmung geschieht." Walker
fand im März in einer Tiefe von 120 Faden eine Tem-
peratnr von 34°5' F., woraus hervorgehe, daß dieselbe in
69° Br. und 59° L. vorhanden sei. Wenn sie die Breite
von Cap Alexander (— welches, Kane's Angaben zusolge,
den am weitesten nach Westen vorspringenden Punkt der
ganzen grönländischen Küste, etwas nördlich von 78° N.,
bildet —) erreicht, wird sie wohl einen so niedrigen Kälte-
grad erreicht haben, daß sie wieder an die Oberfläche kommt
und die von Jnglefield, Kaue und Hayes beschriebene Nord-
strömung bildet. Man kann also annehmen, daß der grö-
ßere Theil dieser Unterströmung unter der Hauptmasse der
Baffiusbaiströmung hinfließe durch die Lancaster- und die
Barrowstraße und deren nördliche und nordwestliche Aus-
gäuge, und daß er nach Verlust der erforderlichen Wärme
und Dichtigkeit wieder an die Oberfläche komme. Ein ähn-
liches Untertauchen müsse auch bei dem abgezweigten Kuro
Siwo angenommen werden, denn das hydrothermische Ge-
setz ist absolut. Ueber den Punkt, wo dasselbe stattfindet,
haben wir nur Muthmaßungen; es werde wohl etwa unter
80° N. der Fall sein, vorausgesetzt, daß das Wrangell-Land
dort endigt. „Ich fürchte, daß dieser Küste entlang viel
Packeis sein und Pavy's Forschungen große Hindernisse in
62 Die arktischen Expedit
den. Weg legen werde. Ich vermuthe auch, daß dieses
Packeis einen Theil des großen circnmpolaren
Eisgürtels bilde, welcher bisher als uudurchdring-
liche Schranke jede weitere Annäherung zum Pole
verhindert hat; von diesem Eisgürtel lösen sich Flarden
und Felder ab, welche im Spätherbste durch die Behrings-
straße herabschwimmen. Vielleicht ist er auch so zu sagen
die Quelle des großen polaren Eisstromes, welcher aus der
Lancasterstraße hervorkommt."
Walker erklärt, daß er die von Hedenström, Tartaranoss
nnd Wrangell beobachtete Polynie keineswegs für das offene
Polarmeer halte, sondern lediglich für eine Bucht (— offene
Wasserstelle —), welche von dem warmen Wasser des Kuro
Siwo gebildet werde, ähnlich der tiefen Einbuchtung,
welche zwischen Spitzbergen und Nowaja Semlja
beobachtet worden ist; ein offenes Polarmeer (— immer
angenommen, daß ein solches vorhanden sei —) werde man
in jener Region schwerlich im Süden von 80° N. antreffen.
Dr. Petermann habe schon 1852 die Ansicht aufgestellt, daß
jene Polynie eine Ausdehnung des Golfstromes sei, der nach
Osten hin um den Norden von Nowaja Semlja dringe;
aber, allen Respect vor jener Autorität, könne man, da es
an thermometrischen Beobachtungen mangele, bezweiseln, daß
der Golfstrom auf eine fo weite Entfernung die erforderliche
Wärme zu behalten im Stande sei. Außerdem ergaben alle
am Rande der Polynie vorgenommenen Messungen eine
Tiefe unter 2 5 Faden, während man zwischen der Küste
von Spitzbergen und der skandinavischen Halbinsel mehr als
200 Faden Tiefe erhielt. Wenn die Polynie eine Folge
der Einwirkung des Kuro Siwo ist, dieser warmen aus dem
Pacific kommenden Strömung, dann liege der Continent
des Wrangell-Landes wohl weiter nach Westen hin als
Pavy annimmt, bis etwa 50 Miles östlich von der Insel
Neu-Sibirien (— die vom 150. Grad Ost durchschnitten
wird —). Es verstehe sich, daß an den Küsten eines sol-
chen Landes mehr oder weniger breite Eismassen liegen. Die
mittlere Breite des Kuro Siwo in jenem arktischen Ocean
kann nicht wohl viel beträchtlicher sein, als sie in der Beh-
ringsstraße ist, die etwa 40 Miles Breite hat; dagegen ist der
Raum zwischen der sibirischen Küste und jener von Wrangells-
Land (wie Pavy sie annimmt) 250 bis 300 Miles breit.
Pavy folgert aus dem Umstände, daß an den Nordküsten
der Parrygruppe und im Norden des Smithsundes kein
Treibholz sibirischen Ursprungs gesunden w^rde, eine Ver-
längernng des Wrangell-Landes bis hoch nach Norden hin-
auf. Walker meint, daß der warme Strom überhaupt nur
sehr wenig Treibholz mit sich führe und daß dasselbe nicht
weiter könne, sobald dieser Kuro Siwo auf den oben er-
wähnten Eisgürtel treffe, welcher den Rand des Polarbeckens
bilde. Das aus der Lena, dem Ienissei, dem Obi :c. kom-
mende Holz geht in die Hauptpolarströmung, und es er-
klärt sich leicht, weshalb man bei den Parryinseln kein
sibirisches Holz findet.
Ein kleiner Theil des Kuro Siwo (— siehe die erwähn-
ten Karten von Hermann Berghaus —) fließt aus der Beh-
ringsstraße ngch Norden, und in dieser Richtung bis über
die Heraldinsel hinaus. Das würde nicht der Fall sein
können, wenn hier der vermuthete Continent eine Sackgasse
für diese Strömung bildete; daraus, daß diese letztere vor-
Händen ist, gehe hervor, daß eine Oeffnnng nach Norden
hin vorhanden sei, wahrscheinlich nur als Canal oder schmale
Straße, indem ja der stärkere Zweig des Kuro Siwo nach
Westen und nur der schwächere gen Norden gehe. Das
Wrangell-Land kann sich nach Osten hin nicht bis zu dem in
der Nähe von Banksland vermutheten Lande fortsetzen; das'
nen im Jahre 1872.
läßt sich schon durch Analogie schließen. Eine' solche con-
tinentale Ausdehnung kommt im arktischen Ocean überhaupt
nirgends vor, vielmehr hat hier alles Land eine mäßige Aus-
dehuuug und ist insular. Ohnehin muß es Canäle geben,
vermittelst welcher das Wasser der Flüsse, die vom ame-
rikanischen Continent her dem Oceane zuströmen, ihren Ab-
sluß sinden. Eine Längenausdehnung von 1000 Miles wäre
im arktischen Ocean beispiellos. —
Capitän Mikes ist allerdings mit einem Gummifloß
über den Atlantischen Ocean gefahren, aber daraus darf
man nicht folgern, daß ein solches auch im arktischen Ocean
die Erwartungen erfülle, welche Pavy hegt. Solch einem
Floße mögen die Stürme auf offenem Meere nichts anhaben;
inmitten unberechenbarer Eismassen liegt die Sache ganz
anders. Das weiß Pavy auch sehr wohl, er ist aber saugui-
uisch genug, anzunehmen, daß das Eis ihm keine Hinder-
nisse oder Gefahren bereiten werde. Er lebt des festen Glau-
bens, daß der Fleck offenen Wassers, welchen Morton so
überdreist für das offene Polarmeer ausgab, und welchen
auch Hayes gesehen hat, sich über den Pol hinweg bis zur
„vermutheten" Nordküste des „vermutheten" Wrangell-Con-
tinentes ganz offen und eisfrei fortsetze, oder daß er dort
höchstens einzelne schwimmende Eisslarden antreffen werde!
Er will das aus einer Theorie ableiten, der zufolge eine
ausgedehnte Meeresstäche ohne Land nicht gefriere, weil die
Bewegungen des Wassers eine Eisbildung nicht aufkommen
ließen.
Aber diese Theorie ist ohne tatsächliche Grundlage, und
gerade das Gegentheil trifft zu. Die Baffinsbai z. B. hat
eine mittlere Breite von 250 Seemeilen, und sie ist im
Winter ganz mit einer Eisdecke belegt. Diese hat allerdings
da und dort einige Lücken, weil Wind, Strömungen und
Gezeiten, namentlich bei Voll- und Neumond, Brüche und
Spalten verursachen; im Allgemeinen und im großen Gan-
zen steht aber fest, daß im Winter die ganze Bafsinsbai mit
Eis belegt ist, welches durch die Gewalt der Strömung und
der vorherrschenden Windrichtung nach Süden getrieben wird,
während Nachschub aus der Lancasterstraße und dem Smith-
suude kommt. Diese Bewegung hat ununterbrochen ihren
Fortgang, und man muß deshalb annehmen, daß das Po-
larbecken die wahre Ursprungsquelle dieser bestän-
digen Vermehrung sei; von dort kommen diese Eismas-
sen. Und ein Gleiches gilt in Bezug auf den Eisstrom,
welcher im Spätherbst und Winter durch die Behriugsstraße
nach Süden geht; es gilt auch für die ostgrönländische Strö-
mung, welche das ganze Jahr hindurch Eismassen nach Sü-
den hin treibt. Aus alle dem könne man den Schluß ziehen,
daß Pavy im Polarbecken Eismassen finden werde, welche
seinem Gummifloße hinderlich sein müssen; er wird dasselbe
über das Eis, und falls Inseln vorhanden sind, auch über
diese hinüberschaffen. Aber wie? Es liegt in seinem
Plane, die Hunde los und lausen zu lassen, sobald er an
die vermuthete Nordküste des vermutheten Coutineutes an
das vermuthete offene Polarbecken kommt; höchstens ein Ge-
spann will er behalten als Mitpafsagiere auf dem Floß.
Aber ein Gespann und sechs Männer genügen schwerlich,
um das ohnehin mit 10,000 Pfund Vorräthen beladeneFloß
über ausgedehnte Eisfelder und vielleicht sehr unebene In-
seln hinwegzuschaffen, und es fragt sich ja auch, ob und wo
er wieder offenes Wasser findet. Und was wird, falls das
Floß verloren gehen sollte?
Das ganze Unternehmen ist ungeheuer waghalsig; es ist
auf eine bloße Theorie gegründet und die Summe der Hin-
dernisse und Gefahren ist nnberechenbar. Man könnte beben,
wenn man sie im Geist allesammt erwägt, aber man wird
mit Achtung erfüllt vor solchem Mnthe und wünscht aus
Aus allen Erdtheilen.
63
vollem Herzen so kühnen Männern eine glückliche Heimkehr
nach erreichtem Ziele, wenn man auch bange Zweifel nicht
unterdrücken kann.
In einem folgenden Aufsatze wollen wir über Wey-
precht's und Payer's Expedition reden.
Aus allen
King's Ersteigung des Mount Tyndall in der Sierra
Nevada ®).
r.d. Clarence King nahm Theil an der großen geologi-
schen Landesaufnahme Californiens unter Professor Whitney,
die in einem großen Fachwerke geschildert werden soll. Ehe
dieses aber erscheint, giebt uns King in dem angezeigten Werke
einen Vorläufer, der, auf wissenschaftlichen Grundlagen beruhend,
doch für das größere Publicum geschrieben ist und manche inter-
essante Schilderungen enthält. Die Geologen kamen eben in
Theile des Gebirges, die weder der Goldgräber, noch der An-
siedler aussucht. King kennt übrigens das californische Leben
durch und durch, er war Bergbeamter in den bekannten Mari-
posa-Goldminen und als solcher vortrefflich zu der neuen Stel-
lung als geologischer Assistent Whitney's geeignet. Die hohen,
schneebedeckten, noch unerstiegenen Piks der Sierra hatte er
stets vor Augen gehabt, und er beschloß, sie nun, als die Gele-
genheit günstig war, zu ersteigen, obgleich erfahrene Leute vor
dem abenteuerlichen Beginnen warnten.
Leider sind in King's Werke weder Längen- noch Breiten-
grade angegeben, auch eine Karte ist ihm nicht beigefügt, und
fo tappen wir denn über die von ihm geschilderten Gegenden
oft völlig im Dunklen, da die großen amerikanischen Survey-
Maps, welche die Aufklärung geben könnten, nicht immer zur
Hand sind. Wir finden nur, daß der von King erst benannte
Mount Tyndall im Quellgebiete des Kaweah- und Kings-
River liegt. Die Besteigung nahm drei volle Tage in An-
spruch und war gefährlicher als selbst die Erklimmung des
Matterhorns.
King und sein Gefährte Cotter mußten sich, da jeder Füh-
rer fehlte, den Weg selbst fuchen und ihr Gepäck auch selbst
schleppen. Letzteres war in einem großen Sack untergebracht,
der vierzig Pfund wog. Barometer, Thermometer, Compaß,
gekochte Bohnen und Fleisch machten den Inhalt aus, und die
ganze Zeit, die sie in den höheren Regionen verbrachten, muß-
ten sie sich mit kalter Küche behelfen, da an ein Mitschleppen
von Feuermaterial nicht zu denken war. Die Schwierigkeiten
der Besteigung selbst spotteten allem Dagewesenen: Spalten,
Klüfte, jähe Abhänge wären noch zu bewältigen gewesen —
wenn sie aber diese überwunden hatten, gähnte ihnen plötzlich
ein viele tausend Fuß tiefer Ecmon entgegen, der sie zur Um-
kehr zwang — allerdings ein Hindernitz, das wir in den Alpen
nicht kennen. Sehr häufig halfen sie sich dadurch auf eine Höhe
hinauf, daß sie ihr Seil über einen Felsblock derselben weg-
warsen und an den Enden desselben über einem gähnenden Ab-
gründe sich hinaufzogen. Hinabschießen auf ungeheuren Schnee-
flächen, Uebergänge über dünn gefrorene Seen, deren Eisdecke
unter ihnen zu bersten drohte, kamen häufig vor. Die Bestei-
gung verwandelte sich oft in ein Abwärtssteigen von vielen tau-
send Fuß, aber fchließlich wurde doch der Gipfel des hohen
Mount Tyndall erreicht. Zu ihrem Erstaunen entdeckten die
Bergsteiger jetzt aber von diesem aus noch zwei höhere Piks,
deren einen King für den höchsten Berg der Vereinigten Staa-
ten hält. Er gab ihm den Namen Mount Whitney, und sagt,
daß er den 14,400 Fuß hohen Mount Shafta noch bedeutend
übertreffe.
*) Mountaineering in the Sierra Nevada. By Clarence King.
Boston. Osgood and Comp. 1872.
Erdtheilen.
Eisberge und Eisfelder im Atlantischen Ocean.
Wir hatten im westlichen und mittler» Europa einen un-
gewöhnlich warmen Maimonat und einen kühlen Juni mit sehr
wechselnder Witterung. Das Letztere erklärt sich leicht, weil un-
gewöhnlich früh im Jahre beispiellos ausgedehnte Eisfelder und
eine unzählige Menge mächtiger Eisberge aus den hochnordischen
Gegenden nach Süden herabgetrieben worden sind. Bis in die
zweite Hälfte des Juni schwamm im Ocean ein etwa 2000 Miles
langes, 50 bis 200 Miles breites Feld, welches den warmen
Golfstrom aus der Höhe von Neufundland erreicht und der
Küste entlang von Norden her vermittelst der arktischen Strö-
mung getrieben wird. Diese Massen, so kolossal sie auch sind,
zersetzen sich, je weiter sie nach Süden schwimmen, aber die
Schisffahrt ist durch sie in diesem Jahre bisher sehr gefährlich
gewesen. Gewöhnlich finden die Schiffe auf der Fahrt zwischen
Neuyork und Liverpool erst im Juli Eis; diesmal hat sich das-
selbe einen vollen Monat früher eingestellt.
Wir wollen bei dieser Gelegenheit auf die „Mittheilun-
gen aus der Norddeutschen Seewarte" aufmerksam ma-
chen, welche der ausgezeichnete Director der Anstalt, Herr W.
v. Freeden, herausgiebt. Vor uns liegt Nr. 4: „Die Nor-
malwege der Hamburger Dampfer zwischen dem Eanal
und Neuyork, nach dem Journalauszuge desselben in den Jahren
1860 bis 1869." In diesem ungemein sorgfältig gearbeiteten,
in nautischer Beziehung wichtigen und reichhaltigen Hefte sind
auch die Eisverhältnisse des Oceans auf den Wegen der
Dampfer vermittelst einer Karte anschaulich gemacht worden.
Herr v. Freeden hat seine Arbeit auf die Schifssbücher von im
Ganzen 580 Reifen gegründet, welche von den 11 Dampfern
der Hamburger Eompagnie gemacht worden sind. Er giebt die
mittlere Reisedauer in jedem Jahre; die elf Schisse haben aus-
gehend in 279 Reisen binnen 3467 Tagen 865/643 Seemeilen
zurückgelegt; zurückkommend in 301 Reisen in 3475 Tagen
935,503 Seemeilen. Im allgemeinen Durchschnitt aller Reisen
kommen für den Tag ausgehend 249,6 Meilen, auf die Stunde
10,4 Meilen; zurückkommend 269,2 Meilen, auf die Stunde
11,2 Meilen. Von den 11 Schiffen der Flotte macht die „Si-
lesia" die schnellsten Fahrten; sie machte 1869 die Ausreisen in
%, die Rückreise in % der Zeit, welche das älteste Schiff, die
„Borussia", 1860 dazu gebrauchte.
Aus Persien.
Die vielbesprochene Hungersnoth in Persien, welche jetzt
ihrem Ende entgegengeht, war geradezu beispiellos. Es sind
fünf dürre Jahre aufeinander gefolgt. Das Vieh fand
keine Weide mehr und die Felder konnten nicht bewäsfert wer-
den. Es ist Thatsache, daß Hunger und Verzweiflung viele
Menschen zum Kannibalismus trieb. In einem englischen Ge-
sandtschaftsberichte aus Teheran wird geradezu gesagt: „Wenn
die Dürre auch im laufenden Jahre sich fortgesetzt hätte, so
wäre der größte Theil Persiens geradezu unbewohnbar gewor-
den. Aber Trockenheit und Hungersnoth waren nicht die ein-
zigen Heimsuchungen; die Cholera richtete große Verheerungen
an, die Seidenernte in Ghilan schlug abermals fehl und die
räuberischen Turkomanen durchstreiften auf ihren Raubzügen
Chorafsan. Zum Glück ist Ende Februars viel Schnee gefallen
64
Aus allen Erdth eilen.
und damit war die Aussicht auf reichliches Wasser und eine gute
Ernte gegeben." Der erwähnte Bericht hebt hervor, daß gerade
für Persien Eisenbahnen unbedingt nöthig seien; durch sie
kann Rettung gebracht werden. Ein Schienenweg vom Kaspi-
schen Meere bis zum Persischen Golf und ein anderer vom
Mittelmeer nach Bagdad am Tigris würden neues Leben in
das Land bringen. Die Gebirgsketten zwischen Schiras und
Bender Abuschähr können umgangen werden, wenn man von
Jspahan nach Schuschter baut und den Karunfluß schiffbar
macht. Handel und Gewerbe leiden unter einer unverständigen
Besteuerungsart und hohen Ausfuhrzöllen auf Rohproducte. —
Opium wird vorzugsweise in der Umgegend von $ezd und Js-
pahan gebaut; die Ernte von 1871 ergab wegen der Dürre
nur 1200 Kisten; in guten Jahren wird das Doppelte producirt-
Das persische Opium geht nach China.
Australien.
Aus Melbourne wird geschrieben, daß in der Colonie Vic-
toria die männliche Bevölkerung ein beträchtliches Minus
aufweise, daß also das Verhältniß gegen früher, wo man über
Weibermangel klagte, sich umgekehrt habe. Die Zählung von
1361 ergab 540,322 Köpfe und 1871 war sie auf 731,523 ge-
stiegen. Aber aus den Tabellen ergiebt sich, daß die Zahl der
männlichen Personen zwischen 20 und 40 Jahren 1861 betrug
164,592 und 1871 nur 123,701, also eine Abnahme von 40,801.
Aus Neusüdwales lauten die Berichte ungemein günstig.
Wolle, präservirtes Fleisch, Talg, Gold, Zinn und Kupfer wer-
den in steigender Menge producirt und stehen gut im Preise;
die Zucht veredelter Schafe gewinnt an Ausdehnung. Im
März brachte ein Herr C. C. Eox im Mudgeedistrict seine aus
etwa 10,000 Stück bestehende Herde zum Verkauf und sie wurde
ihm mit mehr als 20,000 Pf. St. bezahlt; einzelne Stähre
brachten 125 Pf. St. Beim Verkaufe fragte ein Squatter einen
andern, der jüngst aus Europa zurückgekehrt war, weshalb er
nicht aus Schlesien edele Schafe mit nach Australien gebracht
habe? Die Antwort war: ich fand dort nichts Besseres als
wir selbst hier besitzen. Ein Herr Bayly bekam im Februar
für das Pfund feiner Schur 57 Pence. — Man kann fagen,
daß jetzt überall Gold gefunden wird, oder wenigstens Zinn
und Kupfer; Geld kann man in jeder beliebigen Menge zu 3%
Procent haben. Die Goldernte hat in den drei ersten Monaten
des laufenden Jahres in Neusüdwales 90,691 Unzen ergeben;
die folgenden Quartale werden noch ergiebiger fein, weil eine
große Anzahl von Maschinen nach den Quarzrisfen geschickt
worden ist.
Die Regierung von Queensland hat eine Prämie von
1000 Pf. St. sür die Entdeckung von Diamanten ausgesetzt;
mächtige Opalblöcke sind in der Colonie jüngst gefunden worden.
q- * %
— Italienische Landkarten. Als Sardinien sich zum
Königreiche Italien erweiterte, überkam es von der Bourbouen-
regierung unter Anderm auch die Aufgabe, eine zuverlässige
Aufnahme der Südhälfte der Halbinsel zu veranstalten. Denn
die Karten des neapolitanischen Königreiches, deren beste die
aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts stammende, Anfang
des laufenden publicirte von Rizzi Zanoni ist oder war,
standen auf demselben Standpunkte wie in Europa etwa noch
Spanien, Nassau und die Lappmarken. Die Ausnahmearbeiten
schreiten rüstig vor und als deren Resultat liegen uns jetzt zwei
Blätter vor (Chieti und Sora). Die Karte umfaßt in 33 Blatt
(im Maßstäbe von 1/a6oooo) das ehemalige neapolitanische Reich
und wird mittelst Foto-Jncisione, einer Erfindung des Generals
im Generalstabe, Grasen Avel, hergestellt. Die Originalzeich-
nung wird photographirt; darüber mittelst eines chemischen Ver-
fahrens ein Relief von Gelatine oder durchsichtigen Firnisses
hergestellt, davon mittelst Galvanoplastik ein Negativ in Kupfer
und davon das Positiv, von dem gedruckt wird. Man kann
nicht leugnen, daß die so hergestellte Karte ein klares und deut-
liches Bild giebt, das dem Kupferstiche nahekommt.
— Viel Bernstein. Berliner Blätter enthalten folgende
interessante Notiz, deren Richtigkeit wir freilich nicht verbürgen
können. — „Die Bernsteingewinnung ist in diesem Jahre sehr
ergiebig gewesen. Die Frühjahrsstürme, welche an den Küsten
Norwegens und Dänemarks über 150 Fahrzeuge zerstörten,
viele Menschenleben kosteten und der Fischerei großen Schaden
gethan, haben der Bernsteinküste reiche Beute zugeführt. Durch
die Baggerei im kurischen Haff, durch Fischen und Stechen sind
bis Ende Mai mindestens 80,000 Pfund gewonnen worden.
Der Durchschnittspreis pro Pfund dürfte sich auf 4 bis 5 Thaler
stellen."
— Würtemberg hat im Jahre 1870 an Erzeugnissen
seiner Gewerbthätigkeit für 3,001,087 Gulden exportirt. Den
bedeutendsten Ausfuhrartikel bilden — Corfette. Von diesem
Artikel gingen in den drei ersten Monaten des Jahres 1372
nach dem Hankeelande für 832,525 Gulden.
— Steinkohlen in Afrika. Herr Dr. Georg Schweinsukth
macht uns die Mittheilung, daß bei Edfu in Aegypten ein Koh-
lenflöz gefunden worden sei. Im „Athenäum" finden wir die
Notiz, daß ein Gleiches „im südlichen District von Sansibar",
also an der Ostküste Afrikas, der Fall ist. Der Sultan hat sich
an die Regierung von Bombay gewandt und um fachverstän-
dige Arbeiter gebeten. Diese Funde werden den Ausschwung
der Dampsschifffahrt wesentlich besördern.
— Die Staatsschuld der Vereinigten Staaten von
Nordamerika betrug am 1. Juni 1872 die Summe von
2193,577,378 Dollars 94 Cents. Davon sind 1795,383,900
Dollars, für welche die Zinfen in Gold bezahlt werden müssen;
von 26,763,000 Dollars werden die Zinsen in Papier bezahlt;
Papiergeld, das cursirt und keine Zinsen zahlt, 425,735,664
Dollars. Seit März 1869 hat sich die Schuld um 331,945,831
Dollars vermindert; das ist wenig, wenn man die kolossalen
Steuern in Erwägung nimmt.
— Die nordamerikanische Nicaragua-Expedition
wird nun von Capitän Hatfield geleitet; sie besteht aus 60
Mann, wovon 11 Ingenieure sind, und will drei verschiedene
Routen untersuchen, die übrigens allesammt schon früher unter-
sucht worden sind.
— In Neuyork sind in den drei ersten Monaten 1872
nicht weniger als 92,800 Einwanderer gelandet, gegen 65,993
im Jahre 1371.
— Die Staatsschuld Argentiniens stellte sich zu Ende
des Jahres 1371 auf 15,314,276 Pf. St., die mit 1,278,000
Pf. St. zu verzinsen sind. Auf die auswärtige Schuld ent-
fallen davon 10,792,594, auf die innere 4,521,682 Pf. St. Die
La-Plata-Staaten haben guten Credit, weil sie, völlig im Ge-
gensatze zu Venezuela, ihre Verpflichtungen gewissenhaft erfüllen;
ihre Finanzen sind geordnet und die Zolleinnahmen, welche 1363
nur erst 1,290,000 Pf. St. betrugen, sind 1370 auf 2,970,00(5
Pf. St. gestiegen.
— In Peru hat man neue Guanolager aufgefunden,
sie liegen etwa 25 deutsche Meilen nördlich von Callao, und man
schätzt ihre Mächtigkeit auf etwa 1 Million Tonnen.
Inhalt: Wanderungen in den drei Lappländern. Von Professor I. A. Frijs in Christiania. III. Mit vier Abbildun-
gen.) — Zur Culturgeschichte der Vorzeit. Von Ludwig Lindenschmit. II. (Mit drei Abbildungen.) — Stanley und
Livingstone in Ostafrika. II. — Die arktischen Expeditionen im Jahre 1872. I. — Aus allen Erdtheilen: King's Erstei-
gung des Monnt Tyndall in der Sierra Nevada. — Eisberge und Eisfelder im Atlantischen Ocean. — Aus Persien. — Austra-
lien. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Nedaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
ßänöex-
Iii besonäerer Herücksicktigung äer Anthropologie uiu! Gillnologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
ÄUguA Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1872.
Die Heimath und Verbreitung der Cholera.
i.
Seit nun zweiundvierzig Jahren macht die Seuche ihren
großen Weltgang, und sie behält ihren räthselhaften Cha-
rakter. Ueber die Art und Weise ihrer Entstehung sind sehr
verschiedene Ansichten aufgestellt worden, und ohne Zweifel
schon manche wichtige Momente in Folge sorgfältiger Beob-
achtungen festgestellt worden; aber auf den Grund der Dinge
ist man noch nicht gelangt, und der Forschung bleibt ein
sehr weites Feld eröffnet.
Allgemein und mit Recht werden die großen Verdienste
anerkannt, welche sich Max von Pettenkoser erworben
hat. Bor uns liegt seine neueste Schrift: „Verbrei-
tungsart der Cholera in Indien. Ergebnisse der
neuesten ätiologischen Untersuchungen in Indien." Braun-
schweig 1871 (Verlag von Fr. Vieweg u. Sohn). Mit
einem Atlas von 16 Tafeln. Es ist nicht unsere Aufgabe,
in die Specialitäten dieser Schrist einzugehen, wir wollen
aber Einzelnes, das für einen größern Leserkreis von Jnter-
esse sein kann, hervorheben.
Herr von Pettenkoser bemerkt, daß er mit Freuden ein
Buch Dr. I. Macpherson's begrüßt habe. Dasselbe erschien
unter dem Titel Cholera at home im Jahre 1866; seit-
dem hat Macpherson eben jetzt eine zweite Arbeit veröffent-
licht, welche Pettenkofer, der die seinige im Mai 1871 ab-
schloß, noch nicht unter Augen hatte. Wir kommen weiter
unten auf dieselbe zurück. Unser Landsmann sagt, man
dürfe jetzt mit aller Bestimmtheit annehmen, daß die Cho-
leraepidemien in Indien so alt seien, wie das dortige Men-
schengeschlecht und die indische Cultur; nur habe die Krank-
heit früher sich weniger weit und weniger oft über die Grenze
Globus XXII. Nr. 5. (August 1872.)
von Indien hinaus verbreitet. Ueber die örtliche Ausbrei-
tuug derselben von Bengalen aus hat Bryden eine Anzahl
von Kartenskizzen für die Jahre 1855 bis 1869 veröffent-
licht, welche auch Herr von Pettenkofer seinem Werke bei-
gegeben hat. Wir theilen zwei dieser Tafeln mit. Die
Gegend, in welcher die Cholera epidemisch sich zeigt, ist sar-
big; und der Theil, welcher die Mündungen des Ganges
und Bramaputra, das eigentliche endemische Gebiet der Cho-
lera, umfaßt, ist schrassirt.
Bryden entwirft folgende Schilderung. „Diese Provinz
hat ein ihr eigenthümliches Klima und eine Bevölkerung,
deren physisches Gepräge sich dem Klima angepaßt zu haben
scheint und deren Krankheiten einen besondern Anblick ge-
währen, welcher dazu in Beziehung steht. Die ganze Ge-
gend steht unter Einflüssen von der See her; es ist eine
Gegend ewiger Feuchtigkeit. Ursachen derselben sind die
Drainage der sie umringenden Berge und der Abfluß der
enormen Wassermassen, welche den Ganges und den Brama-
putra bilden; diese führen die Flutheu Indiens von der
Wasserscheide zwischen Dschamna und Setledsch und von
einem großen Theile Centralindiens, von den nördlichen und
südlichen Abhängen des Himalaya und von den Bergläu-
dern zwischen Assam und dem Thale des Jrawaddy fort.
Diese Region ist außerdem der vollen Stärke des Regen-
Windes ausgesetzt, des Monsuns, und der Regenfall, etwa
70 englische Zoll im Jahre, ist doppelt so stark, als in an-
deren Theilen der Präsidentschaft Bengalen. Die Grund-
feuchtigkeit, das Grundwasser, befindet sich immer einige Fuß
oder Zoll von der Oberfläche, und es bedarf bloß des Was-
66
Die Heimath und Verbreitung der Cholera.
sers der Überschwemmung, welche vom Anschlagen des Mon-
suns an die Gebirge herrührt, um weite Strecken unter
Wasser zu setzen; sie bleiben in jedem Jahre so lange über-
schwemmt, bis nach Aufhören des Monsuns und wenn die
Flüsse niedrigem Wasserstand bekommen. Es ist Thatsache,
daß mit der Überschwemmung dieser Striche die Cholera
verschwindet, und mit ihrem Auftauchen aus dem Wasser,
mit ihrem Wiedererscheinen auch die Cholera wieder auf dem
angeschwemmten Boden und den unmittelbar anliegenden,
von ihnen befallenen Districten erscheint."
Im Nordwesten dagegen, im Pendschab, sind die Winde
trocken und heiß, der Regensall beträgt an den Ufern des
Geographische Vertheilnng der Cholera-Epidemien in der Präsidentschaft Bengalen nach I. Bryden.
1 8 5 5*
Epidemischer Bezirk.
Setledfch (Satledsch) kaum 20 Zoll; es ist weniger ange-
schwemmtes Erdreich vorhanden, der Boden vielfach trocken
und steinig, die Sonnenstrahlen fallen mehr im Winkel auf.
Zwischen diesen beiden Extremen liegen naturgemäß die all-
gemeinen Uebergänge, und Bryden hat sein Beobachtungs-
gebiet in mehrere natürliche Choleraprovinzen getheilt.
Zunächst unterscheidet er zwischen dem endemischen und epi-
Endemischer Bezirk.
demischen Gebiete; das letztere theilt er wieder in mehrere
Provinzen, welche sich wesentlich nach ihrem meteorologischen
Charakter gruppiren; dieser ist wesentlich durch den größern
oder geringern Einfluß des Monsuns, also der atmosphäri-
schen Niederschläge bedingt. Das epidemische Stromgebiet
des Ganges zerfällt in ein östliches, welches vom endemischen
Gebiet bis etwa zu 80° östlicher Länge reicht, und in ein
1^1
1&LA//6,
AJAf/R JA/Pl/ff
oJPAHL/
CVAL/O/rf
fSC/fiA T
MAGPUR
Die Heimath und Verbreitung der Cholera.
westliches, das sich bis in das Pendschab ausdehnt. Dieses
Fünfstromland ist, nach Bryden, dem westlichen epidemischen
Gebiete sehr ähnlich, nur hat es im Allgemeinen schwächere
Monsuneinslüsse; wenn jedoch diese die gehörige Stärke er-
reichen, verhält sich das Pendschab wie das östliche und West-
liche epidemische Gangesgebiet.
Bryden nimmt die Zeit oder diejenigen Jahre, wo die Cho-
leraepidemien sich wesentlich auf den endemischen und den
östlichen epidemischen Bezirk, wie z.B. 1855, beschrän-
ken und das übrige Bengalen ziemlich frei von Epidemien ist,
als Anfang oder Ausgangspunkt einer größern epi-
demischen Bewegung an, und die Zeit, wo der östliche
Geographische Verkeilung der Cholera-Epidemien in der Präsidentschaft Bengalen nach I. Bryden.
18 6 1.
Epidemischer Bezirk. Endemischer Bezirk.
epidemische Bezirk von Epidemien frei wird, während sie noch
im übrigen Reiche vorkommen, als Schluß einer solchen epi-
demischen Bewegung. In der That wiederholt sich ein sol-
cher Rhythmus in den vorliegenden 15 Jahren drei Mal.
Die Bilder der Jahre 1855, 1859 und 1863 sind auf den
Karten sehr ähnlich; sie kehren in Abständen von 4 Jahren
jedes Mal wieder. Daß dies aber höchstens eine Regel und
kein Gesetz sein kann, zeigen die Unregelmäßigkeiten von 1867
an, wo das Bild von 1855 hätte wiederkehren sollen.
Um zu zeigen, wie der epidemische Bezirk sich 1855, wo
er sehr klein war, zu dem von 1861 verhält, wo er sehr
groß war und sich nach Nordwesten hin bis nach Afghanistan
ausdehnte, theilen wir zwei Kartenskizzen über jene beiden
Jahre mit.
9*
68 Die Heimath und V
Das endemische Becken verbreitet zeitweis seine Cholera-
wogen über Indien, aber in den epidemischen Bezirken der-
schwinden sie wieder, bis dann wieder eine neue Woge vom
endemischen Becken ausgeht.
„Von jeder Theorie unabhängig hat Bryden gegen jede
Einrede festgestellt, daß die Oertlichkeit einen wesentlichen
Factor der Cholerafrequenz ausmacht, — daß diese mit ort-
lichen Bedingungen in irgend einer Weise zusammenhängen
muß, — daß diese Bedingungen aber außerdem auch noch
an gewisse Jahre gebunden sind, — daß sie nur im eudemi-
scheu Bezirke jedes Jahr gegeben sind und in den außer-
halb gelegenen, sogenannten epidemischen Bezirken sich nur
zeitweis einstellen, — endlich, daß nur zu solchen Zeiten die
Cholera in epidemischer Form in diese Bezirke verpflanzt
werden kann, zu einer andern Zeit dagegen nicht."
Im endemischen Bezirke fällt das Maximum der Cholera
in die heiße trockene Zeit — April —, das Minimum in
die heiße nasse Zeit — August —. Im Nordwesten, wo die
Cholera nur zeitweis und nur epidemisch auftritt, sind ge-
wisse klimatische Verhältnisse das gerade Gegentheil von Nie-
derbengalen, und dort fällt das Maximum auch gerade in
die entgegengesetzte Zeit, in die nasse, die Regenzeit. Es
giebt Orte, welche vorwaltend FrUhlingscholera, andere,
welche vorwaltend Monsuncholera haben, und auch solche,
wo sie regelmäßig zu beiden Zeiten auftritt. Man könnte
Calcutta als typisch für die Frühlingscholera, Lahore,
überhaupt das Pendschab, für die Monsuncholera, Madras
als typisch für Orte mit doppelter Cholerazeit im Jahr an-
nehmen.
„Es ist ein Verdienst Bryden's, die tatsächliche Exi-
stenz einer örtlichen und zeitlichen Disposition für Cholera
in Indien ganz unabhängig vom menschlichen Ver-
kehr über allen Zweifel erhoben zu haben" (Pettenkofer
S. 20). Viele indische Aerzte halten die Verbreitung der
Krankheit durch die Atmosphäre selbst für unzweifelhafter
als durch den Verkehr; andere nehmen an, daß der Verkehr
unter Umständen ein wirksamer und selbst notwendiger Fac-
tor bei der Verbreitung sein könne. Miasmatiker und Con-
tagiouisten stehen sich kämpfend gegenüber, — ein Beweis,
daß man vielfach noch im Ungewissen tastet, ungeachtet der
vielen Tabellen, aus denen sich weiter nichts Positives ent-
nehmen läßt, als daß man die verschiedensten Möglichkeiten
der Mittheilung der Cholera zugiebt und keine entschieden
in Abrede zu stellen wagt. Pettenkofer meint: Das Ver-
halten der Krankheit in Indien passe viel besser auf die
miasmatische Ansicht als auf die contagiöse. Die miasma-
tische Ansicht ist dort auch eigentlich die einheimische. Alle
Gewohnheiten der Bevölkerung und der Behörden bei Cho-
leraepidemien tragen ursprünglich den Stempel des Glau-
bens an das Miasma und nicht an das Contagium. Die
Eingeborenen fliehen nie die Cholerakranken, sondern nur
Choleraorte; ja sie nehmen bei einer solchen Flucht, die bei
heftigen localen Ausbrüchen nicht selten vorkommt, ihre Kran-
ken und Sterbenden mit. Dasselbe geschieht, wenn Truppen
an einem Orte befallen werden und dann aufbrechen nach
einem andern Platze.
Gegen die Monsuntheorie sind wichtige Einwendungen
erhoben, die man bei Pettenkofer (S. 27) nachlesen kann.
Pettenkofer behandelt in verschiedenen Abschnitten: Quarau-
täne, Desinfection, Abtritte, Trinkwasser, Jncubation, Orts-
Veränderung; Cholera auf Schiffen, individuelle Disposition,
örtliche Lage und Bodenbeschaffenheit; Entstehung der Krank-
heit, Vertheilnng, Gründe für Immunität, Richtung des
Windes, Bodenbeschaffenheit in Beziehung zu Grundwasser,
zeitliche Disposition und Grundwasser, und zieht dann seine
breitung der Cholera.
Schlüsse. Alle diese Abschnitte enthalten eine Menge von
Angaben, die auch für den Laien interessant sind. —
Es ist Thatsache, daß die Cholera unter den indischen
und mohammedanischen Pilgern große Verwüstung an-
richtet und daß in den Landstrichen, welche von ihnen durch-
zogen werden, die Seuche sich verbreitet. So erklärt sich,
daß viele Aerzte Contagionisten sind. Die Hoffnung, daß
1872 die Mekkapilger verschont bleiben würden, ist nicht
eingetroffen. '
Wir wollen Herrn von Pettenkofer folgende Schilderung
entlehnen.
H ardwar liegt im nordwestlichen Indien, nur etwa 1000
Fuß über dem Meere, wo der Ganges das Himalaya-Ge-
birge verläßt, und zählt zu den heiligsten Plätzen, welche die
Hindus verehren, wohin sie jährlich aus ganz Indien znsam-
menströmen, um am 12. April zwischen Sonnenauf- und
-Untergang unter Gebet im heiligen Strome zu trinken und
zu baden. Unter diesen Pilgern bricht nicht immer, aber
zeitweise die Cholera aus. Schon in dem vorigen Jahrhun-
dert (1783) ist ein höchst verheerender Ausbruch unter den
Hardwar - Pilgern vorgekommen. Vor dem Jahre 1867
war diese Wallsahrerversammluug neun Jahre lang ohne
Choleraausbruch vor sich gegangen, obschon jährlich aus allen
Gegenden Indiens aus dem endemischen Cholerabezirk und
aus dem epidemischen sich Pilger eingefunden hatten. Aber
fchon im November 1866 näherte sich die epidemische Cholera
der Gegend von Hardwar, von Agra aus, als dort der Ge-
neralgouverneur von Indien Reichstag hielt (Darbar, ein
großartiges Lever oderDrawing room). Von da ab bemerkte
man Verbreitung der Cholera im Nordwesten von Indien
und im Paujab. Vom ersten April 1867 an versammelten
sich Pilger und Kaufleute aus ganz Indien, auch aus dem
sogenannten Tarai, einer verrufenen Cholera- und Fieber-
gegend längs einer Strecke des Himalaya, wo die Cholera
im Winter 1866/1867 gehaust. Andere kamen aus Alla-
habad und Benares, wo die Cholera im März ausgebrochen
war. In diesem Jahre erschien auch der Raja (König)
von Bhortpur mit großem und glänzendem Gesolge beim hei-
ligen Feste. Macnamara und Bryden geben Notizen
über das Pilgerlager von Hardwar. Im Thale des Gan-
ges, welcher hier die Sewalick-Berge, Borberge des Hima-
laya, in einer breiten Schlucht durchschneidet, um dann den
weiten Weg ins Meer (eine Strecke in Europa etwa von
den Pyrenäen durch Frankreich und Deutschland bis Ham-
bürg) mit einem Gesammtgefälle von nur 1000 Fuß zurück-
zulegen, erstreckte sich die Versammlung in einer Länge von
etwa neun englischen Meilen und in einer Breite von 2 bis
6 Meilen rechts und links vom Flusse. Die Entfernung die-
ses großen Lagers von der Stelle, wo der Ganges aus dem
Himalaya tritt, beträgt etwa 15 Meilen. Die Gegend ist
sumpfig und wegen der Nähe des Himalaya windig. Auf
diesem schmalen Streifen Landes, vom Ganges durchströmt,
waren vom 1. bis 12. April 1867 gegen drei Millionen
Pilger zusammengekommen und lagerten auf einer Flüche
von etwa 22 englischen Quadratmeilen (etwas mehr als 1
deutsche Quadratmeile). Vom sanitären Standpunkte waren,
wie in früheren Jahren, die bestmöglichen Vorkehrungen ge-
troffen, und man hoffte damit wieder auch in diesem Jahre
den Ausbruch der Cholera glücklich zu verhüten. In Bezug
auf Reinlichkeit war von Dr. Cutcliffe angeordnet:
1) Das Princip der Abtritte mit trockener Erde (dryearth-
doset) soll überall Auweuduug finden.
2) Aller Schmutz, von welcher Art er auch sei, soll so
schnell als möglich beseitigt, entweder in Gräben oder Oefen
verbrannt werden.
Die Heimath und Vi
3) Anständig gedeckte Abtritte sollen an allen Stellen
errichtet werden, wo sie den Leuten passend sind.
4) Kein Abtritt oder Graben darf unter irgend einem
Zwecke auf einem Grunde angelegt werden, welcher zu irgend
einer Zeit einen Theil eines Wasserlaufes bilden könnte.
5) Die todten Körper von Thieren sollen eilig begraben
werden in Gräbern sechs Fuß tief, auf Gründen unter ähn-
lichen Beschränkungen, wie in 4.
Die Pilger begannen vom 1. April an ins Lager zu
strömen. Am 3. April kann man sagen, daß der Markt
(Messe oder Dult) seinen Anfang nahm, obschon noch im-
mer dichte Menschenströme aus den Ebenen heranzogen und
die wogende Masse im Lager bis zum 12., dem Haupttage,
stetig vermehrten. In der Nacht vom 11. auf den 12.
brauste ein sehr schweres Gewitter über die ungeheure, obdach-
lose Menge, der Regen währte die ganze Nacht und auch
noch den folgenden Tag.
Macnamara bemerkt: „Nur diejenigen, welche diesen
Bergstürmen in den Tropen schon einmal ausgesetzt waren,
haben eine Vorstellung, welche Nacht des Elendes diese drei
Millionen Pilger in der offenen Ebene von Hardwar ausge-
standen haben, kalt und durchnäßt bis auf die Haut, das Was-
ser in Strömen von ihren halbnackten Leibern rinnend, über
den steinigen Boden nach dem Flusse, und wie vollkommen
auch die Anstalten für Reinlichkeit gewesen sein mochten, die-
ser Regenfall muß unvermeidlich Auswurfsstoffe von Abtrit-
ten und der Oberfläche des Bodens während der Nacht vom
11. April in den Ganges gespült haben."
Am 12. April badeten die Pilger von Sonnenaufgang
bis Sonnenuntergang in einer heiligen Furth, welche 650
Fuß lang und 30 Fuß breit durch Geländer vom übrigen
Ganges abgegrenzt ist, damit die Leute nicht ertrinken oder in
den tiefen Strom hinausgerathen. Durch diese Furth be-
wegt sich den ganzen Tag ein unaufhörlicher Menschenstrom.
Das Wasser in diesem Räume war die ganze Zeit dick und
schmutzig, theils von der Asche Verstorbener, welche überle-
bende Verwandte mitgebracht hatten, um sie ins Wasser des
göttlichen Flusses zu streuen, theils vom Waschen der Klei-
der und der Leiber der Badenden. Sobald die Pilger die
heilige Furth betreten, taucht sich jeder dreimal oder auch
öfter unter das Wasser und trinkt dann vom heiligen Was-
ser, Gebete sprechend. Das Wassertrinken wird nie versäumt,
und wenn zwei oder mehrere Glieder einer Familie zusam-
menbaden, giebt jedes mit eigener Hand dem andern zu
trinken.
Schon am 9. April brachte Dr. Kind all einen Cholera-
fall unter den Pilgern zur Anzeige, am 13. April wurden
in einem der Spitäler von Hardwar fchon 8 cholerakranke
Pilger aufgenommen. Bis zum 15. April hatte sich die
Hauptmasse derPilger bereits wieder zerstreut. Dr.Murray
hat sie mit aller Sorgfalt in den verschiedenen Hauptrich-
tungen, die sie nahmen, verfolgt. In allen Richtungen
konnte Murray schon am 13. April Cholerafälle unter
den Pilgern constatiren. Er hat eine Tabelle nach ver-
schiedenen Routen ausgearbeitet, in welcher die einzelnen
Stationen, ihre Entfernung von Hardwar, dann der Tag des
ersten und letzten Cholerafalls, sowohl unter den Pilgern,
als auch unter den Einwohnern des Ortes oder die Dauer
der Epidemie angegeben ist. Auf Grund dieser Tabelle hat
ireitung der Cholera. 69
Murray auch eine Karte entworfen, auf welcher diese Haupt-
routen und Hauptorte verzeichnet sind, mit Angabe des Da-
tums des ersten Falles im Orte, und ob er ein Pilger war
oder nicht. —
Da ergiebt sich nun, daß von Aligarh im Doab bis
Ranlpindi im Panjab die ersten Fälle in allen Orten ganz
vorherrschend, ja fast ausschließlich Pilger von Hardwar wa-
ren. Man hat in der That den Fall vor sich, daß sich ein
Strom von drei Millionen cholerainficirter Menschen von
einem Centralpuukte aus über ganz Indien ergießt.
Murray erzählt: „Die Pilger passirteu zu einer gün-
stigen Jahreszeit ein gesundes Land; die Nahrungsmittel wa-
ren reichlich und ausgedehnte Vorkehrungen zu ihrer Bequem-
lichkeit waren getroffen worden. Sie gingen hauptsächlich
zu Fuß und schliefen in freier Luft, oder unter Bäumen.
Einige hatten Kameele für ihr Gepäck, und dann gab es
eine große Anzahl Ochsenfuhrwerke, welche Familien mit
ihren Vorräthen führten. Die gewöhnliche Länge einer Tag-
reise war 15 bis 20 englische Meilen. Einige wenige rei-
sten schneller mit Pferdepostwagen und viele fetzten ihre Reife
mit der Eisenbahn fort, nachdem sie Goziabad und Am-
retsir erreicht hatten. Die wandernde Masse bedeckte nahe-
zu eine Woche lang in einem unausgesetzten Strom die Straße
zu Mirat, wo ich zurückblieb, um sie zu überwachen.
Dieser Pilgerstrom brachte Cholera mit, welche seine Straße
mit Opfern kennzeichnete, die umliegenden Felder mit Holz-
stößen zur Verbrennung der Leichen bestockte, oder es wurden
die Leichen in den Canal geworfen, oder von der Orts-
Polizei gesammelt und verbrannt. Die Krankheit wurde den
benachbarten Städten und Dörfern mitgetheilt, und die Pilger
brachten sie mit sich in ihre Heimath und über ganz Hin-
dostan."
Daß die Pilger ansteckende Krankheit zu verbreiten im
Stande sind, wird man um so eher zugeben, wenn man be-
denkt, in welchem Zustande sich die Mehrzahl befindet. Dr.
Stewart fagt von denen, die nachPuri (Jagannath) wall-
fahrten: „Die Pilger sind ein Schrecken für die eingeborene
Bevölkerung, und gemieden von allen, welche sie sehen und
kennen. Die Eingeborenen glauben fest, daß die Pilger
Quellen der Jnfection sind. Die Landleute erkennen sie am
Gerüche."
Nicht besser als die Hindu-Pilger scheinen die Mohammed-
Pilger zu sein, welche nach Mekka und Medina wallfahrten.
Macnamara fagt von ihnen: „Ich kann mich nicht wuu-
deru, wenn sich Cholera oder irgend eine mittheilbare Krank-
heit von Indien aus mit diesen Pilgern verbreitet. Nie-
mand kann die Ausdehnung des Elendes und des Schmutzes
ermessen, welche sich an den Personen vieler dieser Pilger
darstellt, wer sie nicht an Bord eines Schisses gesehen hat.
Arme alte Männer, am Rande des Grabes, in Lumpen ge-
hüllt, die von Ungeziefer bedeckt find, ihre langen Bärte und
das Haar von ähnlichen Parasiten schwärmend. Wenn Je-
mand die Aufgabe bekäme, eine Ladung menschlicher Geschöpfe
auszuwählen aus dem endemischen Gebiete der Cholera, um
wo möglich Cholera zu verbreiten, es würde schwerlich ge-
lingen, mehr versprechende Subjecte aufzustöbern, als diese
Pilger, wenn sie auch nicht zu dicht gedrängt sind und das
Aussehen des Fahrzeuges, in dem sie eingeschifft sind, auch
so sein mag. wie es nur zu wünschen ist."
70
Richard Andree: Ergebnisse der Expedition gegen die Luschais.
Ergebnisse der Expedition gegen die Luschais.
Nach indischen Zeitungen von Richard Andree.
Vergeblich wird sich der Leser auf unseren Karten nach
dem Lande umsehen, von dem wir hier Mittheilungen machen
wollen. Die im November vorigen Jahres begonnene und
im Februar 1872 beendigte Expedition der Engländer gegen
die Luschais führte eben in ein Land, das, obgleich dicht
an der Ostgrenze des indobritischen Reiches liegend, voll-
ständig unbekannt und noch von keinem weißen Manne be-
treten war. Ringsum aber ist das Land genau erforscht
und in die Karten eingetragen; daß jetzt der weiße Fleck
auf denselben zwischen 23 und 24 72° nördl. Br. und 92
und 940 östl. L. v. Gr. verschwindet, ist das Verdienst der
englischen Expedition, die neben ihrem kriegerischen Zwecke,
Züchtigung eines räuberischen und unruhigen Nachbars,
auch wissenschaftliche Zwecke verfolgte und die durchzogenen
wilden Berg- und Dschengelgegenden aufnahm. Bevor aber
diese Aufnahmen und Berichte an die Öffentlichkeit treten,
was wohl noch einige Zeit dauern dürfte, möge sich der Leser
mit dem nachstehenden kurzen Berichte begnügen, der müh-
sam aus indischen Zeitungen zusammengestellt ist nnd we-
nigstens das Verdienst hat, einiges Neue zu bringen.
Das in Rede stehende Gebiet liegt im Nordosten der
Bai von Bengalen. Im Norden wird es begrenzt von dem
Districte Katschar, welcher zur Präsidentschaft Bengalen ge-
hört und sich südlich von Afsam ausdehnt, und dem britischen
Schutzstaate Mauuipur. Die Westgrenze bildet Tipperah,
im Südwesten dehnt sich Tschittagong aus, gleichfalls zur
Präsidentschaft Bengalen gehörig; südöstlich vom Lnschai-
lande wohnen die wilden unabhängigen Nagas; im Osten
grenzt das Land an Birma.
In Katschar haben die Briten seit 1832 festen Fuß
gefaßt und ihre Pflanzungen bis an die Südgrenze, dicht an
das Lufchailand unter 240 30' vorgeschoben. Seit der
Theebau inAssam in Blüthe gelangte, wurde er auch nach
Katschar verpflanzt, wo am Barakstrome sich sehr gün-
stige Lagen für denselben fanden. Die wohlcultivirten An-
siedelnnqen reizten die Luschais zu Einfüllen; sie sielen rau-
bend und plündernd über die Ansiedler her, führten die Ku-
lis in die Sklaverei ab und fühlten sich dann in ihren von
dichten Wäldern und sumpfigen Dschengellandschaften um-
gebenen Bergen vor jeder Rache sicher. Diese Raubzüge
mehrten sich; sie wurden besonders großartig im Frühjahr
1871 betrieben; ein Engländer verlor dabei sein Leben und
sein Kind wurde nebst zahlreichen Kulis in die Gefangen-
fchaft abgeführt.
Man beschloß nun. den unruhigen Nachbar zu züchtigen
und gleichzeitig von zwei Seiten anzugreifen. Zwei Co-
lonnen aus einheimischen indischen Truppen wurden gebildet,
Elephanten zum Lastentragen wurden mitgenommen und
auch Bergartillerie wurde verwandt. Die Expedition, auf deren
militärischen Verlauf ich nur gelegentlich zurückkomme, glich
somit einigermaßen dem Zuge gegen Abyssinien, auch in der
Kostspieligkeit, denn sie verschlang in vier Monaten gegen
300,000 Pfund Sterling. Der Angriff erfolgte im No-
vember vorigen Jahres von zwei Seiten her. Von Süden
drang längs des Laufes des Tschittagongslusses General
Brownlow in die Berglandschaften vor, während im Norden
Katschar und der Barakstrom die Operationsbasis für Ge-
neral Bonrchier wurden. Dieser Barak entspringt in
Mannipur; er wendet sich zunächst nach Süden und erreicht
an seiner Krümmung den nördlichen Theil des Luschailan-
des; dann fließt er durch Katschar dem östlichen oder
Megna-Arm des Bramapntra zu. Es ist ein schöner,
breiter Strom mit malerischen Umgebungen, an vielen Stel-
len von Theepslanzungeu begrenzt, schiffbar bis zum Luschai-
lande und belebt von zahlreichen Booten. Betrachten wir
nun zunächst den Verlauf der nördlichen Colonne unter Ge-
neral Bourchier.
Die Schwierigkeiten für den Vormarsch dieser linken oder
Katschar-Colonne begannen erst bei Lukhipur, das am rechten
Ufer des Barak etwa unter 24° 45' nördl. Br. und 93°
östl. L. v. Gr. liegt. Die Elephanten mußten abgeladen
werden bis nach Naraindhnr hin, wo sie auf das andere
Ufer des Barak hinüber transportirt wurden. Dieser Trans-
Port wird hier mit großartigen Bambusflößen besorgt, die
an einem 150 Ellen langen über den Strom gespannten
Rohrseile bewegt werden und zum Zwecke des Gütertraus-
Portes vortrefflich geeignet sind. Naraindhur ist nur ein
gelichteter Fleck im Walde, auf dem die aus Bambusgerüst
und Bananenblättern errichteten Hiitten der Truppen stan-
den. Von hier, wo die Grenze des Lnfchailandes und die
Terra incognita erreicht war, wurde die Colonne nach My-
nadhar in südlicher Richtung vorgeschoben. Ueber die Aus-
dehnuug des Marsches, die Entfernung der verschiedenen
Lager und Stationen von einander finden wir leider keine
Angaben in den vorliegenden Berichten. Der Weg selbst
bis Mynadhar wird folgendermaßen geschildert: „Eine end-
lose Aufeinanderfolge von steilen, schlammigen Tilas oder
Hügeln, die zwischen 100 und 800 Fuß Höhe wechseln, vom
Fuße bis zum Gipfel mit undurchdringlichem Bambusgestrüpp
oder gleich dichtem Forst bedeckt, am Boden verfilzt durch
Gebüsch und Schlinggewächse, an ihrer Basis jedes Mal
durch Schluchten voll dornigen Rohrs und mit trügerischem
Sumpfboden von einander getrennt — das ist die Physiog-
nomie des ganzen Landstriches. Aber er hat den Vorzug,
malerisch zu sein, und er ist auch schattig, denn stundenlang
marschirt man die steilen Pfade auf und ab, ohne die Sonne
zu sehen, welche die hohen mit Farnen und Orchideen be-
deckten Bäume, die wilden Bananen und Fächerpalmen un-
serm Auge entrücken. Die Stille in diesen Wäldern ist
drückend und nur dann und wann durch das entfernte Bel-
len des „Khaknr" oder das klagende Schreien des schwarzen,
langhaarigen Nulukasfeu unterbrochen. Der Weg, welcher
immer erst ausgehauen werden mußte, folgt ziemlich dem
Flußlaufe, so daß die Truppen leicht mit Wasser versehen
werden konnten, doch fand man genug kühles, klares und
aromatisch schmeckendes Wasser in den Knoten der jungen
Bambusschößlinge. Die Soldaten waren alle mit „Kukries",
Schlagmessern, versehen, mit denen sie sich den Weg erst bahn-
ten, den sie zogen."
Mynadhar liegt noch am Barak, 54 Miles südöstlich
von Katschar. Auch die folgenden Stationen der Truppen
(1 bis 3), jede 6 bis 7 Miles von der andern entfernt, lie-
gen noch an diesem, der bis hierher schiffbar ist und ein
schönes, mit Dschengel eingefaßtes malerisches Thal durch-
strömt. Aufwärts von Mynadhar aber besteht der Barak
aus einer Reihenfolge von stillen Tümpeln voller „Snags"
und Baumstämmen. Gelegentlich treten auch Stromschnellen
und Untiefen auf, über welche die Boote mit vieler Mühe
Richard Andree: Ergebnisse d
fortgezogen werden müssen. Mynadhar ist einer der vor-
geschobensten Posten der britischen Theepslanzer in Katschar,
die namentlich hier den Uebersällen der Luschais ausgesetzt
waren. Die Engländer errichteten, als sie Anfangs Decem-
ber dort anlangten, sofort Postamt und Telegraphenbureau,
bauten zahlreiche Baracken und Lazarethe aus Bambus und
traten mit den Eingeborenen der Umgebung in frenndschaft-
lichen Verkehr. Diefe gehören zwei Racen an, einmal den
Nagas, einem Bergvolke, das noch halb im Urzustände
lebt, mit Glasperlen und Kupferringen sich schmückt, aber
friedliche Arbeiter für die Ebenen liefert, und den Manni-
puris, aus Mannipur, dem am weitesten nach Osten vor-
geschobenen britischen Schutzstaate. Letztere waren ein an-
genehmes und intelligentes Volk, das in saubereu Dörfern
lebte, über denen bunte Fahnen flaggten. Namentlich die
Mannipurmädcheu zeichneten sich durch Anmuth, Natürlich-
keit und glänzend gestreifte Kleidung aus.
Langsam, „wie ein Wurm", wanden die Truppen sich
von Mynadhar nach Tipai Mukh durch, das 24 Miles
südöstlich liegt. Tipai Mukh ist kein Dorf, fondern nur
die Mündung (Mukh) des Tipai in den Barak. Der Tipai
ist ein zwischen steilen Hügeln eingeschlossener, kalter, nur
15 bis 20Aards breiter Bergstrom, der natürlich zu irgend
einem Transport nicht benutzt werden konnte. Fünfzehn
englische Meilen südöstlich von Tipai Mukh erreichte die
Colouue des Generals Bourchier den Taibnnfluß, wo auf
einem 3200 Fuß hohen Berge das Lager aufgeschlagen
wurde in 24° 7'30" nördl. Br. Hier und in dem 20 Mi-
les entfernten Dorfe Kholell fanden die ersten Zusammen-
stoße mit Luschais statt, viele Dorsfchaften wurden verbrannt
und große Getreidevorräthe zerstört. Kholell liegt ansge-
dehnt und aus verschiedenen Hüttengruppen bestehend am
Abhänge einer Bergkette, die sich am linken Tipaiuser hin-
zieht und in Bergen von 4450 Fuß gipfelt. Mitten im
Dorfe lag das 40 Ellen lauge Haus und das Grabmal
eines Häuptlings, das mit Thierschädeln verziert war.
Sieben englische Meilen von der Station am Taibun liegt
das am 9. Januar erreichte Tauitu in einer absoluten Höhe
von 1900 Fuß. Für diesen Lagerpunkt, der die Stations-
nummer 8 erhielt, finden wir die erste vollständige Pofitions-
bestimmnug ausgeführt, nämlich 24°1'43" nördl. Br. und
93-10' östl. L. v. Gr. Ueber den Weitermarsch in südlicher
Richtung geben wir folgende das Land betreffende Auszüge
aus den kurzen officiellen Berichten des Generals Bourchier:
26. Januar 1872. Marschirte am 24. über 5 Miles
und lagerte am Ufer eines Stromes in einer Höhe von 3000
Fuß. Poiboy's uud Lalburah's Leute griffe« uns in großer
Anzahl an. Der Boden war abschüssig und felsig, der Wald
sehr dicht. Die Truppen schlugen sich brav und der Verlust
des Feindes muß sehr groß gewesen sein. Wir folgten ihm
aufwärts bis zum Dorfe Kungnun, das 5500 Fuß hoch
liegt in 23-55' nördl. Br. und 93°17'45" östl. L. v. Gr.
13. Februar. Marschirte gestern 91/2 Miles in süd-
östlicher Richtung auf Tultfcheug, einem Dorf, das halb dem
Häuptling Poiboy, halb Lalbnrah gehört. Der Weg war
günstig, obgleich wir 1600 Fuß anstiegen und dann sast
eben so viel abwärts. Wir passirten ein Dorf und ver-
schiedene sehr künstlich angelegte Verpallifadiruugen.
14. Februar. Marschirten gestern 9 Miles; Weg gut,
am AbHange von 5000 Fuß hohen Bergen hinführend, deren
höchster Gipfel 5800 Fuß erreicht. Kein Widerstand. Wir
marschiren heute weiter und kommen durch zwei Berge, die
als Lalburah's Thore bekannt sind. Unser Lager gestern in
Tultscheng ist unter 23-43'30" nördl. Br. und 93«20'45"
östl. L. v. Gr. Heute ist es in 23-38' nördl. Br. und
93° 26' 30" östl. L.
: Expedition gegen die Luschais. , 71
15. Februar. Marschirten gestern 5^/2 Miles und lager-
ten in 23» 34'20" nördl. Br. und 93»25'30" östl. L.
Weg gut, allmälig 1900 Fuß abwärts gehend. Wir rasten
heute.
17. Februar. Die Truppen marschirten gestern 12 Mi-
les und sind nun 3 Miles von Lalburah's Hauptdorf eut-
fernt, welches ich morgen zerstören werde. Die Straße war
gestern für beladene Kulis ziemlich gut zu pafsiren, obgleich
sie 3100 Fuß anstieg, einen Rücken von 6600 Fuß kreuzte,
die höchste Höhe, die wir erreichten, und dann 2000 Fuß
abwärts geht. Die Landschaft war herrlich: Wälder von
Rhododendron in voller Blüthe, Fichten, Eichen und andere
im nördlichen Himalaya vorkommende Bäume.
18. Februar. Marschirte gestern 4 Miles nach Tschanl-
pai, Lalburah's Hauptdorf. Es war nicht besetzt und wir
zerstörten es ohne Widerstand. Das Dorf bestand aus über
500 Häusern, uud Anzeichen sind vorhanden, daß es weit
größer gewesen sein muß. Das Grab des Wonoli liegt im
Mittelpunkte, an der höchsten Stelle, und ist mit verfchie-
denen Schädeln geziert; das jüngste Opfer war der Kops
eines Luschai, der vor wenigen Tagen in einer Stammes-
fehde getödtet worden. Die Position von Tschampai ist
23-26'32" nördl. Br. uud 93-21' östl. L. Höhe 5000
Fuß.
Hier unterwarfen sich die Häuptlinge der Hanlongs, das
Volk von Lalburah, sowie andere Luschaistämme, und stellten
Geißeln. Auch die Gefangenen, um dereuwillen die Expe-
ditiou begonnen war, wurden hier freigegeben. Es waren
etwa 800, die man gerade den „Pnis", einem wilden Dschen-
gelstamme im Südosten, ausliesern wollte, um diese dadurch
zur Hülseleistnug gegen die Engländer zu veranlassen. Nach-
dem die nöthigen Sicherheitsmaßregeln gegen eine Wieder-
kehr der Raubzüge ergriffen worden waren, trat General
Bourchier's Colonne den Rückmarsch an.
Ueber die rechte oder Tschittagong-Eolonne, die in nörd-
llcher Richtung vordrang, sind die nachstehenden Berichte vor-
Händen. Ein Offizier derselben schreibt über die Seenerie
längs des Tschittagongslnsses Folgendes: „Sie können sich
keine Idee davon machen, welch ein herrlicher Strom der
Karrasula (Tschittagong) ist. Er ist nicht breit und führt
keine große Wassermenge mit sich, aber er hat nicht die
schlammigen Ufer, wie die Flüsse des östlichen Bengalen.
Die Dörfer an ihm sind weit besser gehalten, als jeue in
Bengalen, und die wohlbestellten Felder erinnern mich an
die Heimath. Der Fluß windet sich sehr vielfältig und die
Ufer sind, im Gegensatz zu den todteu, ebenen Einfassungen
der Ströme Assams, von Hügeln eingesäumt, die mit Bau-
meu und Schlinggewächsen bewachsen sind, welche über das
Wasser herniederhängen. Es giebt hier landschaftliche Per-
len, die Alles in den Schatten stellen, was ich bisher gesehen,
und namentlich ist es die Abwechselung im Grün der Bäume,
die vortrefflich wirkt. Abwechselung wird auch noch durch
die von Bambus umgebenen Dörfer in die Landschaft ge-
bracht, und bei Rungamutti uudKassaloug (22-45' u. Br.),
wo ein Depot für die Armee angelegt ist, ziehen sich breite
Lichtungen durch den Wald, der fönst meist dicht den Fluß
einsäumt. Unangenehm sind nur die starken Nebel, die sich
Abends acht Uhr erheben und viel Thau hinterlassen."
Der erste Marsch von Kassalong nach Norden, schreibt
ein anderer Berichterstatter, ist vielleicht noch angenehm zu
nennen, dann wird er aber, je mehr der Weg schwindet, sehr
beschwerlich, da es eine lauge Reihenfolge von Bergen ans-
uud abgeht. Ich glaube nicht, daß auf dem ganzen Marsche
bis zur Station Barkal (23-10' nördl. Br.) nur hundert
Aards ebener Boden sind. Von Barkal bis Demagiri, im-
mer in nördlicher Richtung, wird der Weg dann besser, da
Richard Andree: Ergebnisse d
er durch den 2 Zoll bis 3 Fuß tiefen Karrafnla führt, der
wegen der dichten Wälder als die einzige Marschstraße be-
nutzt werden muß. Dafür hat man aber auch von der
Sonne nicht zu leiden, denn so dicht säumeu die starken
Bäume den Fluß ein, daß man nur wenige Quadratfuß
vom Himmel erblickt. Der schönste Baum ist der bis 100
Fuß hohe Gurgeon, aus dessen schwammigem Holze durch
Erwärmen Oel gewonnen werden kann. Kein Baum steht
in dieser feuchten Atmosphäre, der nicht ein halbes Dutzend
der herrlichsten Orchideen trägt, und viele beherbergen bis
zu 20 von diesen Schmarotzern. An schönen Schmetter-
lingen ist die Gegend besonders reich; Schlangen lauern
überall und die Blutegel peinigen den Menschen. Der Un-
terschied zwischen Tag- und Nachttemperatur scheint sehr be-
deutend, wegen des oft regenartig fallenden Thaus, doch
schwankt der Thermometer selten mehr als zwischen 60 und
75» F. (15^2 bis 24° C.).
lieber den fernem Fortschritt der Colonne des Generals
Brownlow in nördlicher Richtung liegen nicht so ausführliche
Daten wie über jene General Bourchier's vor. Wir finden,
daß am 14. December das Dorf des Häuptlings Vauuuah,
eines Chefs der Sailhus (Sylhoos), an der Rai-Jang-Klang-
Kette besetzt wurde, von wo aus Streifzüge nach verschiedenen
Richtungen unternommen, Dörfer zerstört, Kornvorräthe
verbrannt und Viehherden (von Gagalochseu) weggetrieben
wurden. Am 7. Januar wurde das Sailhudors Savunga
besetzt; am 13. Februar befand sich Brownlow, nachdem er
zwei Gebirgsketten und den Dullefurifluß passirt, unter
23018' nördl. Br. und 92° 48' östl. L. Eine weitere, be-
stimmte Position ist Lall Dschika, 23°23' 30" nördl. Br.
und 92° 39' östl. L. v. Gr. Hier und in Tschnnguma un-
terwarfen sich die Häuptlinge der Haulongs und Sailhus,
boten Garantien und so war auch die Expedition auf dieser
Seite Ende Februar beendigt.
Eine Zusammenkunft der beiden Colonuen fand nicht
statt, da zwischen ihren äußersten angegebenen Endpunkten
noch ein ziemlicher Raum sich ausdehnte. Da aber die
Stimmung der Luschais sich nach den erhaltenen Züchtigun-
gen wesentlich geändert hat, so wird man die noch offene
Lücke des Landes in Frieden durchwandern können.
Ueber das bisher fast nur dem Namen nach bekannte
Volk der Luschais, das in seinem unzugäugigeu Berg-
lande sich den Blicken der Europäer entzog, haben wir in
den verschiedenen Berichten folgende Einzelnheiten vorge-
fuudeu.
Capitäu Lewin, der durch seine Werke über die Berg-
Völker Tschittagougs („Globus" XVIII, S. 76) und die „Wil-
den Racen des südöstlichen Indiens" bekannt wurde, fungirte
bei der Colonne General Brownlow's als Unterhändler. Er
schreibt: „Die Loschai oder Knkistämme (nicht zu verwech-
fein mit der mohammedanischen Secte der Kukas!) erstrecken
sich in ziemlicher Anzahl nördlich von den Tschittagongbergen
bis zu den Grenzen Katjchars und bis Birma im Osten.
Sie selbst nennen sich Loschai oder Lhnsai, ein Name, der
merkwürdig an Lhotsa anklingt, womit die Eingeborenen
Bhutans sich selbst bezeichnen. Den Bengalesen dagegen
sind sie als Kukis bekannt, die Birmanen nennen sie Lankhe.
Die zunächst der indischen Grenze wohnenden Stämme sind
die Haulongs, die Sailhu und die Rattau-Poya. Die Zahl
dieser drei mag sich ans 30,000 belausen; am stärksten unter
ihnen sind die Haulongs. Ihre Sprache gleicht sehr nahe
einigen Mundarten, die in Berg-Tipperah und entlang der
Manniporgrenze gesprochen werden. Ohne Zweifel gehört
sie mit dem Tibetanischen und Birmanischen zu demselben
Stamme. Die Luschaimänner erreichen eine durchschnitt-
liche Höhe von 5 Fuß 8 Zoll englisch; die Fragen von
Globus XXII. Nr. 5. fAugust 1872.)
Expedition gegen die Luschais. 73
5 Fuß 4 Zoll. Sie haben eine dunkelbraune Farbe, glatte
Wangen und magere Gliedmaßen. Ihre einzige Kleidung
besteht in einem Streifen von dickem blauem Zeug, welches
die Weiber um die Hüften schlagen, und in einem langen
Mantel von selbstgesponnener Baumwolle, blau, gelb und
roth gestreift, für die Männer. Das Haar wird, in einen
Knoten geschlungen, im Genick getragen. Die Weiber haben
große Scheiben von Holz oder Elfenbein in den Ohrlappen.
Beide Geschlechter sind sehr erpicht auf Bernstein, welcher
in großen Perlen als Halsband getragen wird. Ihre Dör-
fer, die stets aus dem Gipfel eines hohen Berges liegen, und
in Kriegszeiten verpallisadirt sind, werden alle fünf Jahre
von ihnen verlassen, was mit der Art und Weise ihrer Bo-
dencultur zusammenhängt; sie brennen das Dschengel näm-
lich ab, der so bereitete Boden ist innerhalb jener Periode
erschöpft und wird mit neuem vertauscht. Ihre Häuser sind
aus Baumstämmen erbaut und mit Laub eingedeckt; die Flur
derselben erhebt sich einige Fuß über dem Boden. Jedes
Haus besitzt seinen Gayal oder Büffel, der Nachts an der
Thür festgebunden und am Aage zum Weiden ausgetrieben
wird. Mau hält sie wegen der Milch und verzehrt ihr
Fleisch nur an hohen Festtagen. Auch eine weiße Ziege
und einige Lieblingsschweine gehören zu jedem Haushalt. Die
Luschai sind sehr erpicht darauf, wilde Elephauteu zu jagen,
die häufig in ihren Wäldern vorkommen. Wenn sie nicht
unter einander kämpfen, machen sie Einfälle in das britische
Gebiet, um Sklaven wegzuführen oder Menschenköpfe als
Trophäen zu erbeuten. Da sie seit Kurzem mit den Feuer-
Waffen vertraut geworden sind und ihre Uebersälle heimlich
ausführen, so sind sie den friedlichen Pflanzern an ihrer
Grenze gefährliche Nachbaren. Dem Angriffe geht stets ein
Opser und ein Trinkgelage voraus. Kein Weib wird in
den Plan eingeweiht und der Krieg wird ohne jede vorher-
gehende Erklärung begonnen. Anstatt, wie bei ähnlichen
Völkern, durch Genuß von Bhang (Hans) den Muth zu er-
höhen, glauben die jungen Krieger Kräfte und Energie da-
durch zu gewinnen, daß sie die Leber des ersten Mannes ver-
zehren, den sie tödteu.
Ein Correspondent der indischen Zeitung „Englishman"
schreibt Anfang Januar aus der Gegend von Tipai Mnkh
von General Bourchier's Colonne: Die Luschais kommen
täglich in unser Lager, zum Theil aus Neugierde, hauptsäch-
lich aber um Tauschhandel zu treiben, und solche Gegenstände
zu erlangen, für welche sie Liebhaberei haben. Am erpichte-
sten sind sie auf Salz. Es ist ein kräftiger Menschenschlag
mit meist angenehmen, heiteren Gesichtszügen. Sie sind
nicht sehr groß, die meisten sind unter 5 Fuß 5 Zoll eng-
lisch, doch sie sind sehr muskulös und scheinen große Stra-
pazen erdulden zu können. Ihre Gesichtszüge zeigen ein ent--
schieden mongolisches Gepräge, doch sehen sie nicht so grob
und roh aus, wie die übrigen Gebirgsvölker dieser Gegend,
welche ethnologisch zu derselben Familie gehören. Ihr ge-
wöhulicher Anzug scheint ein langer Ueberwnrf zu sein, der
über die Schnltern bis zu den Knien herabhängt. Viele
dieser Ueberwürfe glänzen in bunten Farben, so daß sie schot-
tischen: Tartan gleichen. Bei den ärmeren Männern besteht
er aus grober Baumwolle und sticht gewaltig ab gegen die
elegantere Kleidung ihrer reicheren Brüder. Einige tragen
auch die „Dhoti" oder Kleider nach Hinduweise.
Das Haar wird gewöhnlich lang getragen und in der
Mitte gescheitelt. Die Enden werden zu einem Balle ver-
knotet', der am Hinterhaupte sitzt und mit einer langen Me-
tallnadel versehen ist. Die Mantris oder Minister eines
großen Häuptlings haben ihr „Hinterhaar" zu einem Schwanz
geflochten, welcher in die Luft emporsteht und mit den Fe-
dern des Pfaus oder eines Dschengelvogels geschmückt ist.
10
74 Georg Schweinfurth: Völkerskizzen
Es ist das ein höchst imponirender Zierrath, auf welchen
der Besitzer nicht wenig stolz zu fein scheint. Einige tragen
die gewöhnlichen „Pagri", doch selten. Jedermann hat einen
Sack an der Seite, welcher an einem Bandelier von Tiger-
oder Leopardenfell über den Schultern hängt. Der Sack
besteht aus Netzwerk; darüber tragen sie einen Schild aus
Ziegen-, Tiger- oder Bärenfell. Die aus Ziegenfell gemach-
ten Schilde sind sehr malerisch, da das lange Haar der Zie-
gen von ihnen herabhängt. Sie gleichen den Taschen, welche
die schottischen Hochländer vor dem Leibe tragen. Der Sack
enthält Lebensmittel, Pulver, Kugeln n. s. w., wenn sie auf
dem Kriegspfade oder der Jagd sind.
Unter je sechs Mann scheint Einer eine Flinte zu be-
sitzen, die von sehr alterthümlicher Constrnction ist. Es sind
darunter alte englische, weitgebohrte Towerslinten mit der
Jahreszahl 1745, die ihren Weg hierher gefunden haben.
Als Kugeln benutzen sie rundgehämmerte Eisen- oder Mes-
singstückchen. Zuweilen laden sie auch Nägel, Steine oder
Drahtstücken in ihre Flinten. Das Pulver wird im Lande
selbst bereitet. Es ist grobkörnig und weich, doch helfen sie
diesem Fehler durch sehr starke Ladungen ab. Einige ge-
ladene Flinten, die wir auffanden, waren bis 4 oder 5 Zoll
von der Mündung vollgestopft. Die Schafte der Flinten
sind außerordentlich altmodisch und in einigen Fällen von
den Luschais selbst nach alten Mustern sabricirt. Die nicht
mit Flinten bewaffneten Männer führen eisenspitzige Speere.
Sie Alle aber besitzen „Daos", in deren Gebrauch sie sehr
geschickt sind.
Die jüngeren Männer zieren ihren Hals und ihre Ohren
mit Perlen, Thierzähnen und Papageischnäbeln, die auf Hanf-
stricken aufgezogen sind. Sie scheinen gern zu rauchen.
Jeder führt eine Bambnspfeife, die er nach europäischer
Weise stopft. Gleich allen Wilden sind sie sehr neugierig,
uud das Ticken einer Uhr bereitete ihnen große Freude.
Sie bewunderten unsere Säbel und Pistolen, hielten aber
von unseren Büchsen keine große Stücke; ihre Flinten, sag-
ls dem Gebiete des Bachr el Ghasal.
ten sie, seien besser und um keinen Preis wollten sie diese um-
tauschen.
Die Häuser, in welchen sie leben, sind aus gespaltenem
Bambus und dicken Matten erbaut. Sie stehen auf Pfeilern
hoch über dem Boden, fo daß man auf Leitern hineingelangt.
Auf der Flur liegt der Feuerherd. Rund um die Häuser
dehnen sich allerlei kleinere Schuppen aus, in denen Haus-
geräth, irdene Gefäße, Körbe, Krüge aufbewahrt werden.
Manche Häuser in Kholel waren mit Eber- und Hirsch-
köpfen als Jagdtrophäen des Inhabers geschmückt. Die
Luschais züchten Ziegen, Schweine, Hühner und Tauben;
Schweine namentlich fanden wir in jedem Dorfe in großer
Anzahl. Von Weibern und Kinder sahen wir keine, sie
waren wohl geflüchtet worden.
Ein Berichterstatter des indischen Blattes „Pioneer"
schreibt noch Folgendes: Jedes Dorf bestand aus 80 bis
100 großen Häufern, die auf Bambusplatformeu standen
und sich Stufe über Stufe an den Hügelabhängen erhoben.
Die Hänser waren ferupulös reinlich und voller allerlei
Hausrath: Spinnräder, verschiedene Körbe, Sessel und Tische
aus Bambus; einige waren mit rohem Schnitzwerk und selbst
Malereien an den Wänden geziert. Die Nahrungsmittel
der Luschais werden unter der Flur aufbewahrt; Schweine,
Tauben, Hühner, Ziegen liefern ihnen Speise. Auch den
Hund findet man. Bei ihren nächtlichen Angriffen waren
die Lufchais von ihren Hunden begleitet, welche dem Trupp
voraneilten und ein Geheul begannen, wenn sie auf unsere
Schildwachen trafen, so daß die Lufchais stets über unsere
Stellungen unterrichtet waren. Die Männer, welche in
unser Lager kamen, überraschten Jedermann durch ihre Sau-
berkeit und Intelligenz; es waren kräftige Leute, die an
Allem, was sie sahen, Interesse nahmen und sich besonders
um unsere Waffen bekümmerten. Ihre Bambustabackspfei-
fen find mit einem Saftfacke versehen; die dort angesammelte
Flüssigkeit mischen sie mit Wasser, das sie ihren Weibern zu
trinken geben!
Völkerskizzen aus dem Gebiete des Bachr el Ghasal.
Von Dr. Georg Schweinfurth.
I.
1. D i e B o ug o.
Am südwestlichen Rande des Bachr-el-Ghasal-Tiestandes
und auf der untersten Terrasse, mit welcher das Hügelgesenke
der südlichen Gebiete von der graduell gehobenen Sandstein-
platte Centralafrikas einen Uebergang zu deu unergründ-
lichen Alluvialflächen anzustreben scheint, welche in ihrem
untersten Laufe die sich an der Bildung des Gazellenstromes
betheiligenden Gewässer durchströmen, — dehnt sich zwischen
6 und 8° nördl. Br. das Land der Bongo aus, an Flä-
chenranm dem Königreiche Belgien gleichkommend; was Ein-
wohnerzahl anbelangt eine menschenleere Wildniß mit kaum
180 Bewohnern auf die deutsche Quadratmeile.
Im Süden von den Niam Niarn, im Norden von den
Dinka begrenzt, bot das Land der Bongo den von Chartnm
ausgehenden Handelsunternehmnngen der dortigen Elfenbein-
händler gerade das erwünschte Terrain zur Gründung von
Niederlassungen, um mit möglichster Annäherung an den
Endpunkt der Wasserstraße zugleich eine weit ins Innere
vorgeschobene Lage zu verbinden und Züge nach dem elsen-
beinreichen Süden mit größerer Bequemlichkeit unternehmen
zu können. Die Dinka, bisher nnbezwnngene und nnver-
söhnliche Feinde der Fremden, wegen ihrer alljährlichen Raub-
ziige nach Vieh nnd Korn, boten zu derartigen Niederlassuu-
gen keine Möglichkeit, während auf der andern Seite die
gefügigeren Bongo als ausschließliche Ackerbauer alle Bedin-
gungen zum Uuterhalte derselben leicht gewährten. Als vor
15 Jahren die ersten Chartnmer das Bongogebiet betraten,
sanden sie das ganze Land in eine Unzahl von einander nn-
abhängiger Gemeinden und kleiner Distriete getheilt, deren
Aelteste keinen andern Einfluß auf die Bevölkerung auszu-
üben wußten, als denjenigen, welchen überlegener Besitzstand
gewährt. An Stelle mächtiger einheitlich geleiteter Stämme,
wie bei den Dinka, standen ihnen hier nur die einzelnen
Distriete, in welche sie eingebrochen, feindlich gegenüber.
Leicht wurde es daher den nubifchen Söldnerbanden, sich zu
Georg Schweinfurth: Völkerskizzen
Herren des Landes aufzuwerfen, nnd in wenigen Jahren
war das ganze Bongoland unter die wenigen Elfenbeinhändler
von Chartum vertheilt, während die Eingeborenen, von den
Stellvertretern der ersteren zu Leibeigenen gemacht, theils für
die Herbeischaffung der erforderlichen Lebensmittel Sorge
tragen, theils als Träger auf den Zügen ins Innere oder
zum Flusse harte Frohndienste leisten mußten. Das gleiche
Schicksal theilteu mit den Bongo die kleineren Nachbarvölker
derselben, die Djnr, Golo, Mittn n. f. w.
Der landschaftliche Charakter des Bongolandes ist leicht
geschildert. Ein nur durch sanfte Hügelwellen oder ver-
einzelte Graniterhebungen schwach disserenzirtes Terrain von
rothem Thoneisenstein bietet das Land nichts Anderes den
Blicken dar, als einen unermeßlichen Park, wo im stets wie-
derkehrenden Wechsel weiter Grasflächen mit dichten Bos-
qnets oder um vereinzelte große Bäume angehäufter Ge-
sträuchdickichte alle Ideale dargeboten erscheinen, welche der
englischen Gartenkunst vorzuschweben pflegen. Der weder
an Jahreszeiten noch an die Eigenart der Individuen ge-
bnndene Laubwechsel ertheilt hier dem Buschwalde das ganze
Jahr hindurch ein immergrünendes Aussehen; die Grasstep-
pen, unmittelbar nach der Blüthe vergilbend und dann regel-
mäßig sofort niedergebrannt, sieht man durch den an der
Basis der Halme bereits vorhandenen grünen Nachwuchs in
unaufhaltsamer Folge verjüngt. Die Größe aller Blatt-
formen und die endlose Mannichfaltigkeit des Laubes sind
unter den äußeren Merkmalen des Vegetationscharakters das-
jenige, was am meisten die staunenden Augen des fremden
Beschauers fesselt.
Fünf ansehnliche Flüsse durchströmen als Tributäre des
Gazellenslusses das Land von Süden nach Norden, und außer
diesen verbreiten eine große Zahl kleinerer stets fließender
Bäche und Gräben, welche wenigstens streckenweise das ganze
Jahr hindurch Wasserlachen enthalten, dann noch viele sum-
Psige Niederungen als Reste periodischer Wasserläufe wäh-
rend der Regenzeit ausreichende Feuchtigkeit zur Belebung
der Pflanzenwelt. Mangel an Trinkwasser ist an keinem
Platze und zu keiner Jahreszeit vorhanden, obgleich in den
Monaten November bis Ende März Regen nur ausnahms-
weise und ganz vereinzelt zu fallen pflegen.
Nach einer auf die Hüttenzahl der benachbarten Orte
und die von den verschiedenen Diftricten gestellte Träger-
menge basirten Schätzung habe ich die Einwohnerzahl auf
nicht mehr als 100,000 berechnen können, bei einem Areal
von über 560 deutschen Quadratmeilen. Die Bevölkerung
hatte indeß in Folge der fremden Einwanderung während
der letzten zehn Jahre erstaunlich abgenommen, theils durch
den Sklavenhandel, welcher, als die Territorien noch nicht
endgültig unter die Chartumer Handelsherren vertheilt und
ihre Bewohner zu deren Leibeigenen erklärt worden waren,
das Land aller jungen Mädchen beraubt hatte, theils, wie
es noch fortdauernd jetzt geschieht, durch den Sklavendienst
in den vielen Niederlassungen der Nnbier selbst, theils schließ-
lich als unmittelbare Folge der häufigen Verwendung des
besten Theils der männlichen Bevölkerung als Träger auf
monatelange Dauer, wodurch dem Ackerbau und dem Fa-
milienleben leicht begreifliche Verluste zugefügt werden. Die
Zeit kann nicht fern sein, wo dieser vorzüglich be-
gabte, bildungsfähige Stamm völlig ausgestorben
sein wird, und die beabsichtigte Besitzergreifung aller dieser
Länder durch die Aegypter wird das Ihrige dazu beitragen,
ein solches Resultat möglichst rasch auch auf die übrigen
Völker auszudehnen. Der Nnbier, theils aus Gutmüthig-
keit, theils um seine Handelsinteressen nicht zn schädigen, läßt
den Eingeborenen immer noch einen Theil ihres materiellen
Glücks; weniger die Zukunft in Rechnung ziehend ist der
aus dem Gebiete des Bachr el Ghasal. 75
Türke; er nimmt Alles, und nicht umsonst wiederholt ein
in den verschiedensten Ländern, die er verwüstete, verbreitetes
Sprüchwort die alte Wahrheit, „daß aus seinen Tritten kein
Gras wachse". Dann wird auch das Bongovölklein für
immer vergessen sein, wird sich seine Existenz gleich einem
verdunstenden Tropfen im Meere des centralafrikanifchen
Völkergewoges verloren haben in der Langeweile von Jahr-
Hunderten. Aber wie der Tropfen im Regen wiederkehrt,
der die Flüsse speist und so dem Meere der Verlust stets
von Neuem ersetzt wird, so möchte auch dieses Dasein nicht
spurlos vorüber gezogen sein an dem Prozesse der unab-
lässig vor unseren Augen sich vollziehenden Wanderungen
und Wandelungen jener Völkergebilde; daher wenden wir
uns voll Interesse zu diesem Stückchen echt afrikanischen Le-
bens, wie wir es noch gesehen und frifch mitgelebt, und wir
werden genug des Belehrenden, zum Verständniß des räthsel-
haften Welttheils Mancherlei daran wahrnehmen, das uus
weitreichende Perspectiven in sein dnnkeles Innere zu eröffnen
vermöchte.
Wenn man von Norden her dem Laufe des Bachr el
Abiad und des Bachr el Ghasal folgend in die Negerländer
vordringt und zunächst nur Schilluk, Nuer und Diuka ken-
nen gelernt hat, so wird man, bei den Bongo angelangt,
leicht wahrnehmen können, daß sich mit diesem Volke eine
neue Raceureihe nach Süden zu eröffnet. Wie die Ge-
wachse Kinder des Bodens, dem sie entsprossen, so erscheint
hier gleichsam auch der Mensch als Ausdruck der durch das
rothe eisenhaltige Gestein geschaffenen Terrainverschiedenheit.
Die Bewohner der schwarzerdigen Tiefebene, die durch schwär-
zeste Hautfarbe ausgezeichneten Schilluk, Nuer und Dinka,
stehen denen der rothen Felserde gegenüber, welche trotz aller
sprachlichen Verschiedenheit, trotz abweichender Sitten und
Lebensbedingungen sich als ein zusammenhängendes Ganze
offenbaren. Die wichtigsten Völker dieser Kategorie sind
die sttmmtlich der Rindviehzucht völlig entbehren-
den Bongo, Mittn, Niam Niam und Kredj. Alle
sind sie durch den vorherrschend röthlichen Ton ihrer Haut
ausgezeichnet, welche häufig und namentlich bei den Frauen
völlig ins Kupferrothe übergeht. Zwar läßt sich auch bei
den dunkelsten Individuen der genannten Völker des Tief-
landes der rothbraune Grundton der Hautfarbe nirgends
leugnen, indeß ist der Unterschied von demjenigen, wie er bei
den Bongo zu Tage tritt, so bedeutend, daß man ihn nur
mit dem Wechsel des Grüns vergleichen kann, welchen bei-
spielsweise ein Camellienblatt mit oder ohne Abstreifung der
Epidermis zu erkennen geben würde. Wer einen Bongo
in Oel malen will, und davon war ich selbst Zeuge, muß,
um den richtigen Farbenton heraus zu bekommen, zuerst er-
staunliche Quantitäten jenes bekannten Roths verschwenden,
welches in neuerer Zeit mit Vorliebe zur Ausschmückung
antik sein sollender Borhallen in Anwendung gebracht wird.
Während nun der Maler das Bongoporträt aus dem er-
wähnten Leberrothbrauu heraus zu arbeiten bemüht ist, hat
er bei einem Nubier, einem Dongolaner oder Berberiner,
einem echten Araber und dergleichen, auch bei gleicher Tiefe
der Hautfarbe, den Grundton in einem gelblichen Bronze
zu suchen, malt sie aus dem Gelb heraus, und hierin ist
der ganze specififche Unterschied, welcher sich in der Haut-
färbe documeutirt erklärt, ein Unterschied, welcher, wie ich
mich wiederholt davon zu überzeugen Gelegenheit gefunden,
so durchgreifend ist, daß man ihn noch deutlich an der Fär-
bung der zahlreichen Mischlinge zwischen Nubiern und Bongo,
von denen die Niederlassungen der ersteren wimmeln, nach-
zuweisen vermag.
Wenden wir uns jedoch zurück zu den rothbraunen Kin-
dern der rothen Erde und ihren Raceneigenthümlichkeiten.
10-«°
76 Georg Schweinfurth: Völkerskizzen
Sie bestehen nun noch besonders in einem minder beschränk-
ten Haarwuchse, mittlerer Körpergröße, auffallender Länge
des Oberkörpers, in gedrungeneren Gliedmaßen und schärfer
ausgeprägter Muskulatur, schließlich in durchweg breitem
Schädelbau, der oft genug bereits die untersten Indexzahlen
der Brachycephalie erreicht, im Gegensatze zu den Völkern
des Tieflandes, welche mit oft erstaunlicher Körpergröße eine
Langschüssigkeit der Gliedmaßen verbinden, welche beispiellos
erscheint, und mit welcher die auffallende Schmalköpfigkeit wie
der kurze Haarwuchs gut zu Harmoniren scheinen, und diese
schwarzen, dürren, nackten Völker nennen die Bongo Niam
Niam u. s. w. Weiber, weil sie sich die Scham verdecken,
bezeichneten die nichts weniger als sorgfältig gekleideten Nu-
bier als alte Weiber, hießen mich, den Europäer, das Weib
der Nubier.
Die Bongo, von den Dinka Dor*) genannt, sind zu
ihrem Unterhalt fast ausschließlich aus Ackerbau angewiesen,
welchem sie mit großem Eifer obliegen, Männer und Frauen
ohne Unterschied. Zu gewissen Jahreszeiten, besonders nach
Beendigung der Regenzeit, bietet auch die Jagd mit Fallen
und die Treibjagd im Großen mit Netzen reiche Beute, auch
der Fischfang in den Flüssen ist in den Wintermonaten nicht
ohne Belang. Die Elephantenjagd gehört hier feit nach-
weisbar zwölf Jahren ins Reich der Mythe, von welcher
nur die Aeltesten der Männer (Alte, Greise fehlen über-
Haupt) zu erzählen wissen und wovon riesige Lanzen, jetzt nur
noch als Luxuswassen oder bei der Büffeljagd Verwendung
findend, die einzigen sicheren Zeugen repräsentiren.
Hauptgegenstand des Ackerbaues bei den Bongo ist, wie
im mohammedanischen Sudan, die Cultur des Sorghum
und der Peunicillaria. Reis, Weizen und Gerste sind in
allen Negerländern dieses Theils von Afrika völlig unbe-
kannt. Wilder Reis (Oryza punctata) findet sich während
der Regenzeit in Menge an allen Regenteichen; die Ein-
geborenen verstehen sich indeß durchaus nicht auf das Ein-
sammeln desselben, wozu Ausdauer und Geschick erforderlich
ist. Nur die Baggara-Araber und die Bewohner von Dar-
Für bedienen sich dieses vorzüglich wohlschmeckenden und von
der Natur so freigebig dargebotenen Nahrungsmittels. Von
Kornfrüchten cultiviren die Bongo außerdem noch Mais in
beschränktem Maße, stellenweise in großem Maßstabe die
Eleusine coracana, das im Niam Niam vorwaltende Ge-
treide, welches ein bitterschmeckendes, schlechtes Mehl, gemalzt
aber ein vorzüglich geklärtes, wohl Bier zu nennendes Ge-
tränk liefert, zu welchem letztern Zwecke es die Abyssinier
unter dem Namen Tocusso ausschließlich anzubauen pflegen.
In großer Ausdehnung wird überall die Cultur des Sesams
betrieben, ebenso die der Hyptis, deren sehr wohlschmeckende
ölreiche Samenkörner allgemein als Zuthat zu den Speisen
in Gebrauch sind. Von anderen Feldfrüchten ist besonders
die Erdnuß (Arachis) zu erwähnen, und eine andere unter-
irdische Hülsenfrucht, die Voaudzeia. Von geringerm Be-
lang erscheint der Anbau von Bohnen, Kürbis und eigen-
artigen Gurken. Aams findet sich selten und scheint nur
den Dinka entlehnt; Bataten sind im gesammten Bongo-
gebiete ebenso unbekannt wie Cassaven, Colacasien, Bananen
und andere Producte der Niam-Niam-Länder. Taback da-
gegen ist dem Bongo ein unentbehrliches Reizmittel. Die
*) Da die Chartumer, von Norden her eindringend, zunächst mit
den Dinka in Beziehungen treten und von diesen Führer und Dol-
metscher erlangen mußten, war es nicht zu vermeiden, daß sie viele
Völkernamen der Dinkasprache entlehnten. Jedes Volk in diesem
Theile von Centralafrika hat für seiue Nachbaren andere Bezeichnnn-
gen als die Namen, welche letztere sich selbst ertheilen. Auf diese
Weise bürgerten sich die Dinkanamen Djur für Luoh, Dor für
Bongo, Niam Niam für Sandeb theilweise bei den Nubiern ein.
us dem Gebiete des Bachr el Ghasal.
in Afrika offenbar einheimische Art (Nicotiana rustica) hat
auch in ihrer Sprache den eigenen Namen Maschirr; bei
Nicotiana Tabacum deutet indeß der Name „Tabba" auf
den amerikanischen Ursprung, wie in allen Negersprachen.
Die Hausthiere der Bongo sind Ziegen, Hunde und Hüh-
ner; Schafe fehlen wie Rinder. Die Ziegen gehören einer
eigenen von denen der Dinka verschiedenen Race an. So
wenig wählerisch, wie sich die Bongo in der Auswahl des
Eßbaren zeigen*), so standhaft verschmähen sie unter allen
Umständen den Genuß von Hundefleisch, in welchem ihre
südlichen und südöstlichen Nachbaren excelliren. Der Ekel vor
demselben ist derselbe, welchen sie dem Gennß von Menschen-
fleisch gegenüber an den Tag legen. Die Hühnerzucht hat
"während der Anwesenheit der mohammedanischen Eindring-
linge im Bongolande bedeutend abgenommen; dagegen ver-
sichern Augenzeugen aus der Zeit der ersten Invasion, daß
die Menge der in allen Bongodörfern angetroffenen Hühner
Ihresgleichen gesucht habe in der ganzen Welt.
Die Fruchtbarkeit des Bodens ist eine wegen der meist
geringen Dicke der Ackerkrume und des auf weite Strecken
vorherrschenden nackten Felsbodens (der indeß mit Gras
und Buschwerk bewachsen) nur local begünstigte. Sorg-
fältigere Bodenbearbeitung würde die sich schnell fühlbar
machende und zu beständigem Wechsel der Wohnsitze nöthi-
gende Erschöpfung des Ackerlandes nur noch mehr befchleu-
nigen, bei dem Mangel jeder Art künstlicher Düngung.
Nur die zu Haufen anfgethürmten Massen gejäteten und
ausgerauften Unkrautes und die eine rohrartige Stärke er-
reichenden Stoppeln des Sorghums bieten dem Boden einen
kleinen Ersatz für die ihm durch die Cultur entzogenen Kräfte.
Ein eigentlicher religiöser Cultus fehlt den Bongo, wie
allen Negervölkern des Gebietes, und für die Gottheit ver-
räth ihre Sprache keinen selbständigen Begriff, sondern die-
selbe Bezeichnung „Loma" dient für Glück und Unglück,
für Schicksal und das höchste Wesen, das sie in den Gebeten
der Nubier als Allah anrufen hören. Wird Jemand krank,
so heißt es, Loma hat ihn krank gemacht, kehrt aber Einer
ohne Beute zurück von der Jagd, oder verliert er im Spiel,
so sagt man wörtlich, er hat kein Loma gehabt, und der-
gleichen. Wunderbar dagegen ist ihre Furcht vor bösen Gei-
stern, deren Sitz allgemein in das nächtliche Dunkel des
Waldes verlegt wird, wo sie dann vor der Eule, den Fleder-
Mäusen, Galago-Assen und anderen nächtlichen Thieren eine
gespeusterartige Furcht zu äußern Pflegen. Zur Abwehr
derselben sind ihnen wenig Mittel bekannt, und selten ge-
wahrt man Versuche, Geister zu beschwören und auszntrei-
ben, eine Kirnst, von welcher im Dinkavolke viele Leute gro-
ßeu Vortheil zu ziehen verstehen. Gute Geister sind den
Bongo unbekannt, und nach einer allgemein in den Neger-
ländern vorherrschenden Idee kann von Geistern überhaupt
nichts Gutes kommen. Durch den Besitz gewisser Wurzeln
kann nach ihrer Vorstellung auch der Mensch mit Geistern
in Verkehr treten, Zauberkräfte ausüben und den Uebrigen
Schaden zufüge». Hierauf gründete sich ein Haupttheil des
Einflusses, den die Aeltesten der einzelnen Districte außer
ihrem Reichthum auf die Masse des Volkes auszuüben wuß-
ten. Ferner stehen in solchem Verdachte noch jetzt bei dem
Bongo ausnahmslos alle alten Leute beiderlei Geschlechts,
und nirgends in der Welt ist und war der Hexenglaube
verbreiteter als bei ihnen, sind wirkliche Hexenprozesse mehr
*) Eßbar ist von animalischen Stoffen, gleichviel in welchem Zu-
stände, fast Alles mit Ausnahme von Hunde- und Menscheufleifch;
Gegenstand der Jagd Alles, was da fleucht und kreucht auf Erden,
von den Ratten des Feldes bis zur Schlange, vom Aasgeier bis zur
Hyäne, vom fetten Erdskorpion bis zu den geflügelten Termiten und
Raupen.
„Das große einsame
an der Tagesordnung als im Lande der friedlichen Bongo.
Factum ist, daß bejahrte Leute unter den Bongo zu den
größten Seltenheiten gehören, so daß man bei den benach-
karten Djur durch die Anwesenheit weißhaariger Eingebore-
ner förmlich überrascht wird, da diese den Glauben der Bongo
keineswegs theilen. Die Nnbier, von Hause aus jeder Art
Aberglauben leicht zugänglich, bestärken die Bongo erst recht
in dem ihrigen. So rühmte sich der Ghattas'sche Verwalter
Jdris selbst in meiner Gegenwart, daß er einmal an einem
Tage sechs Hexen habe abschlachten lassen. In dieser Hexen-
furcht aber gipfelt und erschöpft sich auch der gesammte Aber-
glaube der Bongo; haben wir Europäer nun ein Recht aus
unserer geschichtlichen Entwickelung abzuleiten, um ihnen
solches gar zu sehr verargen zu können? Wir gewahren
vielmehr, daß diese Bongo unendlich freier von hundert an-
deren abergläubischen Vorstellungen sind als beispielsweise
die Mohammedaner des Sudan, wo solche tagtäglich in den
Land" in Nordamerika. 77
geringfügigsten häuslichen Angelegenheiten sich offenkundig
verrathen. Roh und ungeschliffen wächst in der freien Na-
tur die Keimanlage des Menschengeistes zu ihrem beschränk-
ten, nie überschrittenen Maße aus, aber iu sorglosem Ver-
trauen auf die Gunst der Vorsehung. Näher als man
glaubt, stellt sich der Mensch auf der untersten Stufe geisti-
ger Entwickelung zu dem Fürsten der Denker, und ein Kreis-
lauf in der Geschichte des Geistes eröffnet sich unseren Blicken,
welchen als Individuum der Greis durchmacht, der zum
Kinde wird. Hier ist aber der fruchtbare Boden, um wie
Beruardin de St. Pierre sich den Phantasien eines zutrau-
lichen Naturcultus hinzugeben, — ein glückliches Land, wenn
keine Moslim da wären mit ihrer morallosen Religion, sorg-
samer bestrebt, die derselben würdigen Seuchen unter die ge-
knechteten Völker auszubreiten, als die Lehre Mohammed's,
denn diese würde ihre Untergebenen in Brüder und Gleich-
berechtigte umwandeln.
„Das große einsame
X. Diesen Titel führt ein Buch des englischen Haupt-
manns W.F.Butler (The great lone land, a narrative
of travel and ad venture in the North-west of Ame-
rica, London 1872), welcher im April 1870 nach Canada
reiste, um an der Expedition gegen die aufständischen An-
siedler französischer Abstammung am untern Red River
Theil zu nehmen.
In der Vorrede rechtfertigt Butler den gewählten Titel,
der kein Sensationsname sei für diesen Nordwesten der bri-
tischen Besitzungen in Amerika. Derselbe verdiene in der
That jene Prädicate. „Es giebt keinen andern Theil der
Erdkugel, in welchem Reisen überhaupt möglich ist, wo so
durchaus Einsamkeit herrscht. Man kann 500 Meilen *) ge-
radeaus wandern, ohne ein menschliches Wesen oder ein grö-
ßeres Thier, als einen Wolf zu sehen. Und wenn Unermeß-
lichkeit der Ebenen und Größe der Seen, Berge und Ströme
einem Lande den Beinamen „groß" verleihen können, so besitzt
keine andere Gegend größere Ansprüche auf denselben."
Die erste Hälfte des Werkes, aus der wir heute einige
Schilderungen mittheilen wollen, enthält die Abenteuer und
Reisen Butler's während der Expedition. Der politische Hin-
tergrnnd, seine Flucht vor den Aufständischen und die Be-
gegnnng mit ihrem Präsidenten Louis Riel, einem kleinen
Gernegroß, der komische Ausgang des Aufstandes, welcher
mit jäher Flucht der Rädelsführer nach den Vereinigten
Staaten endet, daneben die flotte und lebendige Schreib-
weise, Alles das macht die Lectüre spannend und interessant,
so daß mau es den besseren Reisebeschreibungen zuzählen
darf, welche auch in England jetzt selten zu werden anfan-
gen. Butler erhielt den Auftrag, die Lage der Dinge in
Minnesota und womöglich amMed River auszukundschaften;
er fuhr also auf der Bahn und Stage coach durch die Ver-
einigten Staaten bis an den Red River und diesen auf
einem Dampfschiffe hinab bis nahe an Fort Garry, dem
Sitze des Aufstandes. Die Führer desselben, welche um
seine Ankunft wnßten>, ließen ihn anfangs verfolgen, als er
aber nach einem befreundeten Fort entkam, zogen sie mil-
*) Alle Angaben sind in englischem Maß.
" in Nordamerika.
dere Seiten auf, gewährten ihm freies Geleit und eine Unter-
redung, gestatteten auch die Fortsetzung seiner Reise. In
Begleitung von fünf Indianern fuhr nun Butler den Red
River hinab, über den Winnipegsee, den Winnipeg, den Lake
of the Woods (Wäldersee) und den Rainy River hinaus bis
Fort Francis, wo er der Expedition, welche von Fort Wil-
liam am Obern See kam, begegnete und ihr nun als Füh-
rer dienen konnte. Lassen wir ihn nun selbst über diese
Stromfahrten berichten.
Nahe beim See Jtaska, aus welchem der Mississippi
entspringt, befindet sich eine kleine Wasseransammlung, be-
kannt als Elbogensee. Hier in einerHöhe von 1689 Fuß über
dem Meere, 9 Fuß höher als die Quelle des Mississippi,
nimmt der Red River seinen Ursprung. Es ist merk-
würdig, daß die anfängliche Richtung beider Ströme ihrem
spätern Laufe diametral entgegengesetzt ist: der Mississippi
läuft zuerst gegen Norden und der Red River südwärts. Erst
weiter unten, unweit der Breckenridge-Prairien, entschließt
er sich, einen Ausweg zum Ocean gegen Norden zu suchen.
Nachdem sich der Red River mit den Gewässern des Bas-des-
Sionk vereinigt, die aus Lac Travers herkommen (wo auch
der Minnesota, ein Nebenfluß des Mississippi, entspringt), eilt
er zur ebenen Prairie, und alsbald beginnen auch seine
mächtigen Windungen. Dieser Lac Travers entsendet in
der nassen Jahreszeit seine Wasser nach Norden und Sü-
den; der einzige See des Continents, der zu gleicher Zeit
dem Golfe von Mexico und mittelst der Hudsonsbai dem
Polarmeere tributär ist. Früher führte dieses ganze Fluß-
system den Namen des großen Dakotastammes: Sioux River.
Red River hieß nur das Stück vom Red Lake bis zur Ga-
beluug des Assiniboin. Jetzt heißt der ganze Strom so auf
seinem 900 Meilen langen Laufe vom Elbogensee bis zum
Winnipegsee. Das Volk leitet den Namen von einer blutigen
Jndianerschlacht her, die an seinen Usern stattfand und seine
Wogen Hochroth färbte. Sicherlich kann er nicht nach der
Farbe des Wassers so heißen, die vielmehr schmutzigweiß ist.
In unzähligen Windungen und plötzlichen Drehungen
fließt der Red River gegen Norden und bildet die Grenze
zwischen dem Staate Minnesota rechts und dem großen
7 8 Aus allen
Territorium Dakota. Seine Zuflüsse von Osten, welche
auf den Leas Hills in Minnesota entspringen, fließen durch
dichten Wald, die westlichen entspringen aus dem Cotean des
Missouri und durchströmen die gewaltigen Sandwüsten der
Dakota-Prairie, wo Bäume fast unbekannt sind. Die Win-
düngen des Stromes und seiner Zuflüsse sind durch eiue
dunkele Waldlinie bezeichnet, die man viele Meilen weit über
das Grasmeer hin erblickt. Nichts anderes unterbricht die
einförmige Fläche. Wegen der Windungen ist die Strom-
entwickeluug mehr als doppelt so lang, als die Luftlinie zwi-
schen Quelle und Mündung; sie sind oft so scharf, daß der
Dampfer, der eiue Meile weit gefahren ist, sich kaum I0s>
Jards von dem ursprünglichen Flecke befindet.
Bei seiner Mündung in denWinnipegsee bildet er ein
Delta, zahlreiche Canäle, umgeben von Sumpf und einem
Meere von Rohr und Binsen, eine Mischung von Land und
Wasser, über welcher eine unaussprechliche Einsamkeit liegt.
Der Wind seuszt darüber hin, das hohe Rohr mit traurigem
Rauschen niederbeugend, und der wilde Vogel fliegt mit
Klagegeschrei hin und her über den Binsen, die seinen Som-
meransenthalt bilden. Wir tauchten aus dem Ried des Red
River hervor und fuhren hinaus in die Gewässer eines ge-
waltigen Sees, der sich in ungemessene Ferne ausdehnte und
über dessen Spiegel die glühende Junisonne sonderbare Luft-
spiegelungen erzeugte. Das war der Lake Winnipeg, ein
großer See selbst für einen Continent, wo die Seen Bin-
nenmeere find. Aber so groß er auch jetzt ist, so ist er
doch uur ein Zehntel von dem, was er in früheren Zeiten
gewesen sein muß. Die Caps und Vorsprünge des einsti-
gen Binnenmeeres liegen jetzt weit ab von den Ufern des
Winnipeg. Hunderte von Meilen davon entfernt schauen
diese großen Landmarken immer noch auf einen Ocean herab,
aber es ist ein Ocean von Gras. Auf dem Grunde dieses
einstigen Sees lagen das ganze Thal des Red River, der
heutige Winnipeg- uud der Manitobasee und die Prairien
des untern Assiniboin, hunderttausend Quadratmeilen Was-
ser! Schon längst ist das Wasser abgelaufen, weil die zur
Hudfousbai führenden Felscanäle tiefer uud niedriger wur-
den, und das vormalige Seebett ist heute die reichste Prairie
der Welt.
Aber trotzdem sind die Zuflüsse des Winnipeg immer-
noch würdig des mächtigen Seebeckens, in das sie einst ström-
ten. Der Saskatchewan ist länger als die Donau, der
Winnipeg hat zweimal so viel Wasserfülle als der Rhein.
Viermalhunderttanfend Quadratmeilen Landes senden ihre
Gewässer zum Winnipegsee, der ebenso launenvoll ist, wieder
Ocean, aber glücklicherweise für uns heute in feiner besten
Stimmung war. Keine Welle, kein Gekräusel aus seiner
Oberfläche; kein Hauch unterstützte die unermüdlichen Ruder
meiner Indianer. Das kleine, vom Gewichte der Menschen
und der Vorräthe niedergedrückte Canoe hatte kaum drei
Zoll Bord, und doch hielt der Steuermann hinaus in die
gläserne Wüste, weit hinter sich lassend die marschige Land-
spitze, welche die Mündung des Red River bezeichnete.
Eine lange, niedrige Spitze des Südufers war am Horizonte
schwach sichtbar. Nach Mittag erreichten wir sie, legten an
und kochten unsere Mahlzeit, dann ging es weiter. Fern ab
erhob sich hoch über das Wasser die senkrechte Spitze.des Caps
Big Store. Die Sonne sank, aber noch immer bewegte kein
Hauch die Oberfläche des Sees, kein Segel zeigte sich auf
der weiten Fläche; Alles war fo einsam, als ob unsere ge-
brechliche Barke das einzige Lebendige auf den Gewässern
der Welt wäre. Roth tauchte die Sonne in den See und
mahnte uns, daß es Zeit sei, den Strand und ein Nachtlager
zu suchen. Eine tiefe, sandige Bai, von Wald und Fels im
Hintergründe umschlossen, nahm uns auf. Der Strand lie-
ferte in Massen Treibholz, die Spuren so manchen Nord-
sturmes. Hinter uns psadloser Wald; vor uns die goldene
Glorie des Westhimmels. Als die Schatten der Nacht sich
auf uns senkten nnd der rothe Glanz unseres Feuers Wald
und Fels färbte, wurde die Scenerie von seltener Schönheit.
Bei Tagesanbruch schoben wir das Canoe wieder ins Was-
ser und setzten unsere Fahrt nach der Mündung des Winni-
peg River fort. Der See, gestern ganz Sonnenschein, sah
heute schwarz und umwölkt aus. Gewitterwolken hingen
rings am Horizonte uud der See schien bestrebt, uns, ehe
wir von ihm schieden, auch ein Pröbchen böser Laune zu zei-
gen. Da es noch früh am Morgen war, machten wir eine
Portage, d. h. wir trugen Canoe und Proviant über eine
Landenge, wodurch wir vieles Rudern um ein vorspringendes
Cap ersparten. Die Tragekraft der Indianer ist außeror-
dentlich. Ein Junge trabt mit einer Last davon, unter wel-
cher ein starker Europäer, der dies nicht gewohnt ist, taumeln
würde. Solche Lasten werden in der Weise getragen, daß
die ganze Körperkraft bei der Arbeit zur Verwendung kommt.
Um die Stirn wird ein breiter Lederriemen gelegt, dessen
Enden über die Schultern hinabfallen und die Last halten,
welche alfo längs des Rückgrates vom Kreuz bis zum Schei-
tel liegt. Voll beladen steht der Träger vornüber gehängt.
Mit der einen Hand hält er die Last, und munter trabt er
über die Abhänge und steinbestreuten Trageplätze hin, da sein
nackter oder mit Mocassins bedeckter Fuß es ihm erlaubt,
hurtig über die schlüpfrigen Felsen hinzulaufen, wo Schnhe
unfehlbar Träger uud Last kopfüber kopfunter in die Tiefe
senden würden.
Aus alle»
Otto Kersten am Jordan und am Todten Meer.
Dr. Kersten ist Kanzler des deutschen Reichsconsulates in
Jerusalem. Die Muße, welche sein amilicher Beruf ihm dann
und wann gestattet, verwendet er auf Forschungsreisen im „ge-
lobten" Lande. Während der Ostertage 1872 unternahm er
einen Ausflug nach dem Todten Meere und schlug dabei einen
Weg ein, welchen die Touristen nicht zu nehmen Pflegen. Wir
entlehnen das Nachstehende aus seinen Schilderungen.
Jericho ist weder eine Stadt noch ein Dorf, sondern ein
weiter freier Platz, auf welchem sich außer einem „Hotel" ein
E r d t h e i l e n.
sogenanntes Fort befindet — ein mit drei Soldaten bemannter
Thurm — und ein schon vielmals abgebrannter, halbverlassener
Lehmhllttencomplex nebst einigen Zeltlagern der Jericho-Bedui-
nen, die zusammen etwa 120 erwachsene Männer beherbergen.
Das Land ist fruchtbar und von zwei Quellen gut bewässert,
aber zur Zeit noch wenig angebaut, liegt etwa 80V Fuß unter
dem Spiegel des Mittelmeeres, 500 Fuß über dem des Todten,
hier Bahr el Lut (d. h. Lot's See) geheißen. Nach diesen: und
nach dem Jordan hin (zwei Stunden weit) dacht es sich allmälig
ab, nach Westen hin aber wird es von dem eine halbe Stunde
entfernten Abfalle des Gebirges Juda begrenzt.
Aus allen
Von den Höhen des so nahe liegenden Kalkgebirges ist die
merkwürdigste der sogenannte Kuruntel oder Quarantania-
berg, auf welchem der Herr von dem Bösen in Versuchung ge-
führt worden fein foll. Wir bestiegen ihn am Nachmittag nach
unserer Ankunft auf einem beschwerlichen und oft beinahe ge-
fährlichen Pfade, der für Schwindlige ganz unmöglich ist. Schon
vielfach vorher hatte ich von Höhlenwohnungen gehört, auch
solche gesehen, wie z. B. bei einem griechischen Felsenkloster Mar
Saba im Kidronthale, drei Stunden S.-O. von Jerusalem;
daß aber solche Höhlen noch jetzt bewohnt werden könnten, hatte
ich und Niemand von meinen Bekannten geglaubt. Auf dem
Kuruntel aber fand ich, was ich nicht erwartet hatte — Troglo-
dyten oder Höhlenbewohner von menschlicher Gestalt, leib-
haftig und lebendig! Diese biederen Frommen, sieben an
Zahl, darunter ein Priester, sind Abyssinier niit den sanftesten
braunen Pflanzeneffergesichtern, die man sich denken kann. Sie
essen täglich nur einmal — gekochte Blätter eines Strauches
der Ebene und trinken spärlich Wasser, das sie sich aus dem
Abgrunde, der schauerlich unter ihrer Wohnung gähnt, mühsam
herausheben. Ihr ganzes Geschirr besteht aus Krug, Topf und
Schüssel von Thon, m*ist halb zerbrochen, ihr Vorrath aus
etwas Salz, den erwähnten Blättern und etwas Brennholz; in
einem mit dürrem Schilse abgegrenzten Loche schlafen sie. Geld
hat keinen Reiz für diese Einsiedler und nur mit Mühe sind sie
zu bewegen, für ihre Mutterkirche in Jerusalem einige Münzen
anzunehmen. Ob sie das ganze Jahr hier wohnen, oder nur
während der Fastenwochen, habe ich nicht erfahren, bin aber
geneigt, letzteres anzunehmen.
Ihre Höhle, die etwa in % der Höhe des Quarantania-
berges liegt, schaut nach dem weiten Jordanthale hin, das zu
Beginn unserer Zeitrechnung gewiß ein gesegnetes Gefilde dar-
stellte. Hier aber, wie vielleicht nirgend besser, konnte allerdings
der Versucher lockend an Jesum herangetreten sein, und in diese
Tiese hinab sich unversehrt zu senken, mußte sicherlich als Zeichen
göttlicher Macht von den wundersüchtigen Juden aufgenommen
werden — zerschellte doch vor Kurzem erst ein Araber, der einen
falschen Tritt that, in 15 Stücke, wie man sagt, von denen nur
wenige bis nach unten hinabgelangten, wohin ein rollender Stein
minutenlang krachend und polternd stürzt. Dieser Ort ist in
der That glücklich von der Sage gewählt, wenn er nicht gar der
wahre Schauplatz jener Versuchungsgeschichte selbst ist.--
Der Jordan ist ein fischreicher Fluß von 30 bis 40 Schritt
Breite. Zwischen steilabfallenden Lehmufern dahinfließend, ist
er in dieser Jahreszeit zu tief, als daß man ihn durchwaten, zu
reißend, als daß man ihn gut durchschwimmen könnte. Im
November beginnt er an verschiedenen Stellen furtbar zu wer-
den, z. B. an dem gewöhnlichen Pilgerbadeplatz, zwei Stunden
südlich von hier. Hat man indessen Thiere und Gepäck, so ist
es immer rathsam, sich der Fähre zu bedienen. Sie besteht aus
einem starken breiten Boote, welches an einem an beiden Ufern
befestigten Seile hin und zurück gezogen wird. Der Besitzer dieser
an der Straße nach Salt gelegenen Fährte muß einen ziemlich
hohen Preis an die Regierung zahlen; in Anbetracht dessen war
die für unsere Gesellschaft sammt den Eseln zu entrichtende Ge-
bühr — etwa ein Thaler unseres Geldes — durchaus nicht
hoch zu nennen.
Unter den Pflanzen fiel mir auf der andern Seite beson-
ders wilder Hafer auf, dann, gegen das Ende unserer Wande-
rung, ein milchsastführender Baum mit breiten runden Blät-
tern, eine Asclepiadee, deren Frucht der bekannte Sodomsapfel
sein soll, endlich aber der mir schon von Jericho her bekannte
dornige Dttm-Baum mit seinen gelblichen wohlschmeckenden Aepsel-
chen von Haselnußgröße. — Wir sahen einzelne Feuer durch
die Büsche glänzen und kurz darauf befanden wir uns, von
Söhnen der Wildniß umringt, vor einer Anzahl schwarzer, nach
der Wetterseite offener Zelte. Es waren prächtige Gestalten und
Gesichter, mit denen wir es zu thun hatten, unvergleichlich edler
als die Jericho-Beduinen, denen noch ein gut Stück Fellathum
anklebt. Sie gehören zum großen Stamme der Aduan und be-
wohnen ein Sommerlager am Wadi Keferein, weshalb sie sich
Erdth eilen. 79
auch Kefarni-Beduinen nennen. Ihr oberster Scheich (über alle
Aduan) ist der auf dem Konsulate wohlbekannte Schech Kublan,
welcher Herrn Professor Kiepert auf seiner Tour iin Ostjordan-
lande begleitete. Der Kefarni-Schech, mit welchem wir es zu-
nächst zu thun hatten, nannte sich Salim el Mislim. Dieser
alte Schech saß wie ein Wüstenkönig da, auf einem erhöhten
Sitze thronend; jedes seiner würdevoll gesprochenen Worte war
ein Befehl. Ihm zur Seite unterm Zeltdache kauerten die an-
deren Angesehenen, der Rest ihnen gegenüber im Freien, und
aus dem dunklen Hintergrunde beobachteten einige neugierige
Weiber über die Kriegsleute hinweg die seltenen Fremden. Wir
erhielten ohne Weiteres die Erlaubniß zu gehen, wohin wir
wollten. Als dies abgemacht war, sprachen wir von den be-
nachbarten Beduinenstämmen, von den Eigenthümlichkeiten des
Landes und zuletzt auch von dem großen Kriege zwischen Deutsch-
land und Frankreich. Das Meiste war ihnen schon bekannt, aber
die Namen „Kaiser" und „Bismarck" hatten sie noch nicht ganz
fest im Gedächtniß. Ich versprach ihnen, beim nächsten Besuch
deren Bilder mitzubringen. Sehr befriedigt vom Abschlüsse
dieses Tages legten wir uns endlich auf unserm sauber mit Tep-
pichen bedeckten Graslogis zur Ruhe, sorglos inmitten der Frem-
den, vor denen unsere Begleiter noch heute Mittag eine so
mächtige unbestimmte Angst gehegt hatten.--
Obwohl wir uns dem Todten Meere schon ziemlich nahe
befanden, merkten wir noch nichts von der Oede, die an dessen
Ufern herrschen soll. Bis dicht an die Salzfluth reichte die
Vegetation. An höheren Thieren (besonders Vögeln) fehlte es
durchaus, nur Schmetterlinge schwärmten in Menge um die
blühenden Kräuter, während gelbe Heuschrecken (eine Art Wander-
Heuschrecke) an vielen Stellen vom Boden aufflogen. Wir nah-
men auch keine Veränderung wahr, als wir eben gegen Mittag
den Asphaltsee selbst erreichten. Nur so weit die Wellen gingen
war, wie überall am Meere, das Leben verscheucht. Ob in dem
Wasser selbst durchaus nichts Lebendes vorkommt, konnten wir
so schnell nicht ausmachen, doch erscheint dies fast gewiß, da diese
Flüssigkeit eine nahezu gesättigte Lauge von Kochsalz, Chlor-
magnesium und Ehlorcalcium ist, fast % schwerer als reines
Wasser. Beim Umrühren mit der Hand oder einem Stocke bil-
den sich Schlieren in dieser Salzlösung ähnlich wie in einer
Mischung von Syrup mit Wasser, eine Folge ungleicher Strahlen-
brechung, vermuthlich weil das obere Wasser vom Regen der
letzten Nacht noch etwas leichter als die untere Schicht war.
In einer kleinen Bucht des sogenannten Meeres fand ich
etwas wie Froschlaich; ich nahm eine Perle davon in Verwah-
rung und gab sie, ebenso wie etwas Wasser und Schlamm aus
dem Seebecken, einem gerade in Jerusalem weilenden Mikrosko-
pier (Dr. Pitschner aus Genf), der sich sehr für derlei Dinge
interessirte. Am Strande lag viel Treibholz, ohne Zweifel vom
Jordanuferwalde stammend. Merkwürdig war es, den bedeu-
tenden Gewichtsverluft zu beobachten, den der in dieses Wasser
eingetauchte menschliche Körper erleidet. Man schwimmt hier
wie Holz; im Tiefen sich aufrecht stehend zu erhalten ist sehr
schwer, Tauchen ohne besondere Vorrichtung unmöglich. Desto
besser kann man in dem Wasser sitzen; nur Unterleib und Rücken
sinken ein, der ganze Kopf, die Arme und zur Hälfte die Beine
ragen luftig in die Luft hinein. Leider bekommt einem ein solch
sonderbares Bad nicht gut, besonders wenn man blond ist und
demgemäß eine empfindsame Haut besitzt. Sobald der Körper
zu trocknen beginnt, fangen die zerfließlichen Chloride auf das
Empfindlichste zu brennen an, unerträglich besonders an den
dünnen Hautstellen, an Lippen, Nase, Augen und Ohren, und
wie Feuer, wo man sich etwa aufgeritten hat: es ist dann am
besten, sich sobald als möglich im süßen Jordan wieder abzu-
waschen. An mir ging dieser Kelch vorüber, da ich, während
die Anderen mir Gruppen ini Wasser stellten, auf dem Trock-
nen mit einigen Winkelmessungen beschäftigt war. Auch die
Luft ist in dieser tiefen Bodensenkung sehr schwer; der Baro-
meter stand 3% Zoll tiefer als in Jerusalem und etwa 1% Zoll
tiefer als am Spiegel des Mittelländischen Meeres. Wir selbst
aber fühlten uns fehr leicht und wohlgemuth, wennschon wir
80 Aus allen
sehen mußten, daß unser Plan, den Bach Calirrhoe mit seinen
wilden Dattelhainen zu besuchen, nicht mehr ausführbar sein
würde, falls wir noch an demselben Tage Jericho erreichen wollten.
Der von uns erreichte Punkt liegt an der Nordostecke des
Todten Meeres. Nordwärts reitend durchschritten wir nach Kur-
zem den wasserführenden Wadi Nuweimes, diesmal unweit sei-
ner Mündung. Dann ging es in etwas westlich gewendeter
Richtung durch die stellenweise noch etwas feuchte Ebene weiter
bis jenseits des gleichfalls noch nicht ausgetrockneten Wadi Hes-
bon, welchen wir kreuzten, um die Pilgerfurth am Jordan zu
erreichen. Der herrliche Uferwald, durch den wir etwa 15 Mi-
nuten zu wandern hatten, entzückte uns wiederum über die
Maßen und mich noch mehr als die Anderen, da er schöne
Prachtkäfer beherbergte und mir Gelegenheit bot, meine Pflanzen-
sammlung beträchtlich zu vermehren.
Zur Hydrographie der Oceane.
Noch immer sind manche Theile des Weltmeeres mehr oder
weniger unerforscht und der Hydrographie bleibt noch manche
Aufgabe zu lösen. Noch immer ist man nicht genau darüber
im Klaren, welche Routen die besten seien, um den Aequator
zu kreuzen, und ein Gleiches ist der Fall in Betreff der Um-
segelung des Cap Horn, der westindischen Orcane:c. In unse-
ren Tagen gewinnt dieSüdsee eine mit jedem Jahre wachsende
Bedeutung und gerade in ihr bleibt noch unendlich viel zu thun.
Im Nordpacific haben die Engländer schon viel geleistet, aber
es giebt dort noch Tausende von Riffen, Felsen und Eilanden,
die auf den Seekarten noch gar nicht verzeichnet sind; außer-
dem treten neue Korallenformationen auf. Die Geologen neh-
men an, daß das gewaltige Becken des Großen Oceans in der
Erhebung begriffen sei. Der submarine Boden erleidet unab-
lässig Veränderungen durch vuleanische Kräfte. Es ist nun in
Vorschlag gebracht worden, eine internationale hydrographische
Erforschung der Südsee vorzunehmen, an welcher die wichtigsten
seefahrenden Völker sich betheiligen sollen. Im Nordpacific ha-
ben seit etwa zwanzig Jahren die Nordamerikaner Klarheit über
manche Verhältnisse verbreitet; so Kommodore Perry während
seiner Expedition nach Japan über den warmen schwarzen Strom,
diesen Kuro Siwo, und Rodgers über die koreanischen Gewässer.
Zunächst soll ermittelt werden, wie es sich mit der Zuverlässig-
keit der bisherigen Berichte mancher Seefahrer über die Beh-
ringsstraße verhält; diesen zusolge ist sie im Winter mit Eis
belegt und starrt gleichsam von Eisbergen, so daß sie, bei ohne-
hin geringer Tiefe, verschlossen sei und den warmen Strom des
Kuro Siwo nach Norden hin nicht durchlasse. Dieser werde
deshalb in jener Jahreszeit völlig nach der Nordwestküste Ame-
rikas abgelenkt. — Der nordamerikanische Congreß hat zunächst
50,000 Dollars für eine hydrographische Expedition bewilligt;
sie steht unter Commodore Skerret, einem erprobten und wissen-
schaftlich gebildeten Seemanne. Seine Hauptaufgabe ist, genaue
Längenbestimmungen festzustellen.
Aus der Canadian Dominion.
Die britifchen Kolonien am St. Lorenzstrom und dessen
Golf liefern bekanntlich viel Bauholz und Fische in den Handel.
Die Dominion hat ein besonderes Ministerium sür Seewesen
und Fischerei. Der Geldwerth der gefangenen Seefische hat
1871, dem von ihm dem Parlamente vorgelegten Berichte zu-
folge, den Geldwerth von 7,573,200 Dollars betragen, ohne
den inländischen Bedarf, welchen er auf 600,000 Dollars ver-
anschlagt. In den Provinzen der Dominion: Ontario, Quebec,
Erdtheilen.
Neu-Braunschweig und Neu-Schottland, sind 15,000,000 Dollars
Capital in der Fischerei angelegt, welche etwa 87,000 Menschen
beschäftigt, und für das Marine- und Fischereiwesen veraus-
gabte die Dominion 575,916 Dollars in dem genannten Jahre.—
Am 1. Januar 1872 zählte man in jenen vier Provinzen 3943
Postämter und 3039 Miles Poststraßen, auf welchen zu Posta-
tischen Zwecken 11,992,898 Miles zurückgelegt wurden. Die Be-
förderung von Briefen und Postkarten stellte sich aus 27,050,000
Stück, jene der Zeitungsblätter auf 22,250,000, der Packete auf
64,160. Das Postamt hatte Einnahme 1,079,767, Ausgabe
1,271,006 Dollars, Fehlbetrag also 191,239 Dollars. Der letz-
tere erklärt sich daraus, daß noch Francoprivilegien bestehen;
die Post hat 1,218,400 Briefe postfrei versenden müssen. Das
Porto ist gleichmäßig in der ganzen Dominion und man kann
einen Brief von Halifax in Neu-Schottland nach Victoria in
Britisch-Eolumbia, welches letztere bekanntlich jüngst der Domi-
nion beigetreten ist, für 3 Cents schicken. — Quebec und
Montreal haben regelmäßigen Dampferverkehr mit England;
die Durchschnittsreise von Liverpool dauerte 11 Tage 17 Stun-
den, nach dort 10 Tage 15 Stunden, in den Sommermonaten
letztere nur 9 Tage und 20^ Stunden. Der Wohlstand in
der Dominion wächst in sehr gediegener Weise und die Steuern
sind, im Vergleich zu jenen in der Nachbarrepublik, äußerst
gering.
# * *
— Die Peninsular and Oriental Company ver-
mehrt gegenwärtig ihre schon so mächtige und zahlreiche Flotte
noch um acht neue Dampfer; vier derselben werden im Spät-
sommer ihre Fahrten beginnen. Jeder hat 2723 Tonnen Gehalt
und 450 Pferdekrast. Sie führen asiatische Namen: Kathay,
Hydaspes, Malwa, Bokhara. Die Kathay ist Ende Juni
nach dem Suezcanal abgegangen und zunächst nach Bombay
bestimmt, beladen mit Manchesterwaaren, die weiter nach China
bestimmt sind. Die anderen vier Dampfer: Venetia, Lom-
bardy, Gwalior und Nizam haben je 2513 Tonnen und
450 Pferdekraft. Sobald sie in See gegangen find, besteht die
Flotte der Compagnie aus 50 Dampfern, alle Schrauben-
dampfer bis auf drei.
— Die Polizeibehörde in Calcutta hat einen Bericht
für das Jahr 1871 veröffentlicht. Sie nimmt die Zahl der
Bevölkerung auf annähernd 450,000 an. Davon sind Europäer
8920, Eurasier, d. h. Mischlinge von Europäern und Indern,
14,480, Armenier 920, Griechen 880, Parsis 120, Mohamme-
daner 137,120, Hindus 308,220, Chinesen 200, andere Asiaten
1800, Afrikaner 40. Unter dieser großen Menschenmenge, die
aus so verschiedenen Bestandtheilen besteht, kamen nur drei
Mordthaten vor. Die europäische Polizeimannschaft hat sich
sehr schlecht aufgeführt, von 52 Mann wurden 18 aus dem
Dienst entfernt, 36 mit Strafen belegt, 15 degradirt oder ab-
gesetzt, 11 verließen den Dienst. Von den 3071 eingeborenen
Constablern hingegen wurden nur 88 entlassen und 159 traten
aus; übrigens wurden 324 bestraft und 58 degradirt. In der
Stadt befinden sich 275 Branntwein- und Palmweinfchänken, in
den Vorstädten zählte man deren 277.
— In den Vereinigten Staaten von Nordamerika ist die
Anzahl der Hunde auf etwa 21,000,000 veranschlagt wor-
den; die Futterkosten sind, doch wohl etwas hoch, auf jährlich
8 Dollars auf jeden angenommen, was eine Summe von
168,000,000 Dollars repräfentiren würde.
— Eine Zählung hat ergeben, daß in Großbritannien
1,118,293 Hunde gehalten werden. Die Besitzer derselben zahlten
279,573 Pf. St. Hundesteuer, also an anderthalb Millionen Thaler.
Inhalt: Die Heimath und Verbreitung der Cholera. I. Mit zwei Abbildungen.) — Ergebnisse der Expedition gegen
die Luschais. Nach indischen Zeitungen von Richard Andree. (Mit einer Abbildung.) — Völkerskizzen aus dem Gebiete des
Bachr el Ghasal. Von Georg^chweinsurth. I. — „Das einsame Land" in Nordamerika. I. — Aus allen Erdtheilen: Otto
Kerften am Jordan und am Todten Meer. — Zur Hydrographie der Oceane. — Aus der Canadian Dominion. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
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%«s
Band XXII.
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JUS 6.
Mit besonderer VerürksLclrtigung äer AntkropoloZie unä Gtknologle.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1872.
Skizzen aus Ostindien.
1. Am Hofe des Maha Rana zu Udäpur.
.Hosseste in Udäpur. — Die Krokodile. — Die künstlichen Seen und ihr Nutzen. — Jagdgehege in den Gebirgsschluchten.
Die großen Jagdseste. — Brauchbarkeit des Jagdelephanten. — Tiger und Eber. — Die Frühlingsfeste und der Fasching.
Ein Derbar. — Die Abstammung der Radschputen.
Unter den verschiedenen Fürsten des Radschputenvolkes
hat jener von Udäpur unbestritten den höchsten Rang. Er
ist Vasall der Briten, zu welchen er in einem sogenannten
Schutzverhältnisse steht, und hat an seinem Hose einen eng-
tischen Residenten. Der gegenwärtige König heißt Sambn
Singh („Globus" XXI, S. 196). Er empfängt gern
Europäer, führt einen prächtigen Hofhalt und sein Palast
gilt für einen der glänzendsten in ganz Indien. Derselbe
ist von Terrassengärten umgeben, und in einem solchen steht
auch der Kutsch Mahal, Palast des Vergnügens, welchen
der verstorbene Rana Sirdar Singh gebaut hat, um in
demselben seine europäischen Freunde zu empfangen. In
einem See liegt die Insel Jug Navas, auf welcher manch-
mal Hoffeste veranstaltet werden; sie ist mit Gärten und
Palästen gleichsam bedeckt. Als der früher schon mehrfach
von uns erwähnte französische Reisende Rousselet mit seinem
deutschen Gefährten Schaumburg dorthin eingeladen war,
sprangen alle Fontänen, beim Frühstück wurde rheinischer
Schaumwein aufgetragen, und eine Schaar von Bayaderen,
welchen ein besonderer Kiosk eingeräumt war, sangen und
tanzten. Man glaubte sich in ein Capua versetzt.
Nach einigen Stunden kam der Rana in einer glänzen-
den Barke herangefahren; zwei andere Radfchputenfürsten
waren feine Begleiter, und bald fuhr die ganze Gesellschaft
durch enge Canäle nach einer sumpfigen Gegend, in welcher
Globus XXII. Nr. 6. (August 1872.)
eine Jagd gehalten werden sollte. Weit und breit war der
Boden mit hohem Röhricht, Schilf und Binsen bestanden,
und je näher die Boote kamen, um so mehr Wasservögel
stiegen aus; man sah ganze Wolken von Gänsen, Enten
und Flamingos. Binnen kaum zwei Stunden schoß man
drittehalb hundert Paar Bogel und unter denselben befanden
sich sehr viele Bekassinen.
Der Europäer stört bei solchen Jagden die große Menge
der Krokodile; sie erreichen eine kolossale Größe und sind
sehr wild. Der Aberglaube verbietet den Hindus, diese ab-
scheulichen Bestien zu tobten, aber der Rana ist nicht im
Vorurtheil besaugen und hat den Europäern gern erlaubt,
so viele zu tobten, wie ihnen beliebt. Dann begann die Ver-
folgung mit solchem Eifer und Erfolg, daß nun fchon längst
kein Krokodil sich in die Nähe der Stadt wagt und daß sie
alle nach den Sumpfgegenden sich zurückgezogen haben; aber
auch dort bleiben sie nicht ungestört. Inzwischen sind sie
ungemein scheu und vorsichtig geworden; sobald eine Barke
auf dem See erscheint, tauchen alle unter und nur ein klei-
nes Stück von der Schnauze bleibt über dem Wasser sicht-
bar. Aber trotzdem wissen die Jäger ihnen beizukommen.
Reizend ist der See Udä Sager, der ganz von Wald
umsäumt und auf drei Seiten von den Arawalibergen ein-
gefaßt ist. Man hat ihn vermittelst einer Abdämmung des
Flusses Bunas gebildet und hohe, feste Dämme aufgeführt.
11
82
Skizzen aus Ostindien.
Diese künstlichen Seen, deren man im Radschputeulande
eine sehr große Menge findet, sind für dasselbe ein wahrer
Segen, und ihnen verdankt es seine Fruchtbarkeit. Das
Wasser wird im höher gelegenen Lande ausgestattet und in
der trockenen Jahreszeit über das tiefer liegende vertheilt;
auch leitet man es in die Cisternen der umliegenden Dörfer.
Mit Entfernung der Dämme würde die Gegend weit und
breit wieder eine Wildniß werden, weil in der Regenzeit die
Bergströme auf großen Strecken Alles verwüsteten. Das hat
man in Indien schon im hohen Alterthume begriffen, und
deshalb findet man Abdämmungen, die mehrere tausend Jahre
alt sind.
Manche Thäler, zu welchen der Eingang durch einen
befestigten Paß führt, betrachtet derRaua als Jagdgehege,
in welchen die wilden Schweine geschont und durch strenge
Gesetze geschützt werden. In solchen Revieren darf Nie-
mand ohne besondere Erlaubuiß des Königs einen Schuß
thun, und deshalb finden die Schweine im Dickicht und
Waldgestrüpp ein wahres Paradies. In der Nähe der Do-
barrischlucht, im Dorfe Nahrmagra, hat der Raua ein
Der britische Resident beim Mahn Nana von Udäpur.
schmuckes Jagdschloß, in dessen Nähe wohl an 10,000 Men-
schen zusammengezogen worden waren. Bei den königlichen
Jagden wird großer Prunk und Pomp entfaltet. Für uns
Europäer, so schreibt Rousselet, waren neben dem Schlosse
Zelte ausgeschlagen, auf der andern Seite des Engpasses
standen jene für des Königs Gefolge, und dort waren auch
die Umzäunungen für die Elephanten und die Lagerplätze
für die Reiterei und zwei Regimenter Fußvolk, welche die
Treiber stellen mußten. Alles war wohl geordnet und ging
nach der Regel, denn die radschputische Etikette wurde hier
so streng beobachtet, wie am Hose selbst. Das Jagdsest
sollte zwei Wochen dauern, und auch diesmal war derRana
so freundlich gewesen, die Zelte der Bayaderen in der Nähe
der für die Sahibs (europäischen Herren) bestimmten aus-
schlagen zu lassen. Gegen Abend kam der König, lud die
Europäer zu sich ins Schloß und ließ sie in demselben um-
herführen.
In der dritten Woche des Januarmonats begannen die
großen Jagden, welche in jedem Jahre abgehalten werden.
Der Nana bestieg seinen Jagdelephanten und ritt aus dem
Palasthof hervor, umgeben von einer Anzahl Barden, welche
mit Rosen geschmückte Palmzweige trugen und mancherlei
Lieder sangen. Der Oberjägermeister saß auf einem reich
angeschirrten Kameele; hinter ihm wurden die Hundemeuten
Skizzen au
geführt. Dann folgten die eingeladenen Europäer und Edel-
leute, jeder auf einem Elephanten, und den Zug schlössen
radschputische Reiter. Die Treiber sind inzwischen an der
Arbeit gewesen; ein ganzer Trupp Eber bricht aus dem
Dickicht hervor, und die Schützen erlegen, von ihren Ele-
phanten herab, eine Anzahl Keiler. Nach beendigter Jagd
stellen sich die Bayaderen vor der Palastpforte auf und em-
pfangen die Heimkehrenden mit Gesang und Tanz. Die
Waidmannslust dauert Tag für Tag einen halben Monat
hindurch.
Der Scharfsinn des Jagdelephanten giebt jenem des
besten Hundes nichts nach. Er verfolgt die angeschossenen
Thiere. Die Schweine werden vor die in langer Reihe
aufgestellten Elephanten Eingetrieben; der angeschossene Kei-
ler verläßt seinen Trupp und rennt ins Dickicht. Jedes
angeschossene Thier gehört dem Jäger, welcher es zuerst ge-
troffen hat, und es ist seine Aufgabe, dasselbe zu verfolgen.
Dabei hat der Elephant die Obliegenheit eines Spürhundes;
er tritt geräuschlos aus und erspäht sicherlich die Beute. So-
bald der Jäger dem im Dickicht liegenden Keiler noch einen
Schuß gegeben hat, trompetet der Elephant.
Während der Jagd auf der Ebene zieht sich viel Wild
ins Gebirge, wo es in den vielen Schluchten eine Zuflucht
sucht. Auch dorthin wird es verfolgt, und solch eine Jagd
wird als Hahnkh bezeichnet. In den Schluchten sind an
geeigneten Stellen Hudis gebaut worden, d. h. kleine Häu-
ser mit Schießscharten; gewöhnlich stehen deren zwei einander
gegenüber, so daß der ganze zwischenliegende Raum bestrichen
werden kann. Diese Hudis haben eine sehr bequeme Ein-
richtuug; man findet in ihnen Sessel und Divane, Bier,
Champagner, Eislimonade und allerlei Speisen. Hinter
jedem Jäger stehen zwei Schikaris, welche die Gewehre laden,
so daß durch die Zinnen hindurch ein wahres Gemetzel unter
dem in den Engpaß hineingetriebenen Wilde angerichtet wer-
den kann. —
Der Maha Rana kennt die Fauna seines Gebietes sehr
genau. Rousselet äußerte ihm gegenüber seine Verwunde-
rnng, daß man während dieser großartigen Jagden nie einen
Tiger gesehen habe, und erhielt darüber sofort eine Aus-
kuuft. Tiger kommen in solchen Gegenden, wo die Wild-
schweine sich in großer Menge aufhalten, überhaupt nicht
vor. Sie werden von den Ebern nicht geduldet, und wenn
ja einer sich blicken läßt, greifen sie ihn in wilder Wuth an
und machen ihm, falls er nicht schnell entflieht, sicherlich den
Garaus.
Udäpur hat seinen Carneval, und in keiner andern
Stadt Radschputanas werden diese Holi-Feste mit solchem
Glänze gefeiert. Das Holi bezeichnet den Frühlingsanfang
und findet statt zu Ehren der Göttin Holica oder Wassanti,
welche im indischen Pantheon Symbol des Frühlings ist.
Die Festlichkeiten danern vierzig Tage hindurch, und wäh-
rend dieser langen Zeit führt Jedermann, gleichviel welchen
Alters oder Ranges, ein lustiges, lockeres Leben. Es ist
ein Treiben, wie bei den Saturnalien. Puppen von äußerst
obscöner Art, die einem Europäer höchst unanständig erschei-
nen, werden an den Thoren und an allen Straßenecken auf-
gestellt und von Weibern und Kindern mit Blumen uud
Kränzen geschmückt. Lärmende Lustbarkeiten finden übrigens
nur während der letzten sechs Tage statt.
Die großen, oben erwähnten Jagden bilden den Anfang
der Festlichkeiten, und sie haben eine religiöse Bedeutung.
Den Tag des Anbeginns bestimmen die Hofastrologen; die
Jagd selber bezeichnet man als Ahairea oder Mahurat ka
Schikar, d. h. Kriegserklärung gegen den Eber, denn
dieser ist ja ein Feind der Guri, dieser indischen Ceres, also
des Ackerbaues. Wenn der König von den Jagden heim-
Ostindien. 83
kehrt, begiebt er sich in den Tempel des Surya, dieses in-
dischen Phöbns, für dessen Repräsentanten auf Erden er
gilt. Die Radschputen haben ja die Sonne zum Urahn und
hegen große Verehrung für denselben, namentlich in Udäpur.
Hier ist die Suradschpol das Hauptthor der Stadt, als
Surya Mahal wird der Palast des Königs bezeichnet; der
Rana selbst ist für die Eingeborenen eine Sonne, und bei
feierlichen Gelegenheiten zeigt er sich dem Volke aus dem
Balcon der Sonne, dem Surya Gokra. Auch das Pferd,
welches Emblem der Sonne ist, wird hoch geehrt, und ihm
ist der erste Tag der Woche als Adit oder Aitwara geweiht.
In der Mitte des Monats Phalgun geht es Vorzugs-
weise lustig und munter zu. Schaaren von Männern und
Frauen ziehen umher, das Haupt mit Blumen geschmückt und
trunken von Bang; sie tragen Beutel, welche mit einem rothen
Pulver gefüllt sind; mit diesem bewerfen sie Jeden, der in
ihre Nähe kommt. Dagegen werden sie ihrerseits aus den
Fenstern der Häuser mit einer gelben oder rothen Flüssigkeit
beworfen und Niemand, auch der Europäer nicht, wird ver-
schont. Dazu kommen Scherze und Späße, welche selbst der
hoch gestellte Würdenträger sich willig gefallen läßt. Die
Edellente veranstalten Ringelrennen, bei denen auch sie
einander mit Täfelchen bewerfen, die sich in rothen Staub
auflösen, sobald sie das Ziel erreichen. Auch die Elephanten
werden roth bepulvert, und nach ein paar Tagen ist die
ganze Stadt über und über roth bestäubt.
Während des Holi erfreuen sich die Bayaderen einer
uneingeschränkten Freiheit; sie führen Carnevaltänze auf
und geben Kavyas, Gesänge, zum Besten, die man nicht ge-
rade als züchtig bezeichnen kann. Auch die wilden Bhils
haben ihren Fasching im Dorfe Ahar, weil, ihren Ueber-
lieferungen zufolge, dort die Hauptstadt ihrer Vorfahren ge-
standen haben soll. Rousselet fand dort eine große Menge
lärmender Menschen beisammen; Männer, Frauen und Kin-
der hatten sich mit Blumen geschmückt und sich stark mit
Mhowahbranntwein berauscht. Die Orgie bot einen wider-
wärtigen Anblick dar. Ganze Gruppen nackter Menschen,
toll und voll betrunken, wälzten sich im Bach umher und
ergaben sich schamloser Ausschweifung. In den Straßen
war Zank uud oftmals blutiger Streit; manchmal sauste
ein Pfeil durch die Luft. Ein Hindu wagt sich während
dieses Bacchanals nicht unter die Bhils, weil diese gern die
Gelegenheit wahrnehmen, ihre Rache zu kühlen. Denn diese
armen Wilden, welche von den unbarmherzigen Eroberern in
die Gebirge zurückgedrängt worden sind, werden ja auch heute
noch wie unreine Wesen behandelt.
Am letzten Tage des Monats Puuam reitet der König
mit einem stattlichen Gefolge aus und begiebt sich auf einen
Hügel, der überdacht ist. Dort hört er Gesänge an, welche
sich auf das Fest beziehen. Solchen Leuten, welchen er Auf-
merksamkeit und Gunst bezeigen will, schickt er einige Ko-
kosnüsse und ein Chanda nareal, d. h. ein Stück Holz,
das einer Harlekinspritsche ähnlich sieht, aber mit hübschen
Malereien verziert ist. Die Bedeutung des Chanda ist, daß
in einer Jahreszeit, welche der Schutzgöttin des Frühlings
geheiligt ist, Niemand sich scharfer Waffen bedienen solle.
Damit ist der Carneval vorüber; den Beschluß machen Schei-
terhansen in den Straßen, in welchen man Götterpuppen
verbrennt;, das Volk tanzt die ganze Nacht hindurch um
solche Feuer herum. Am andern Morgen, dem ersten Tage
des Monats Tscheys, nimmt jeder Hindu ein Bad, betet,
legt frische Kleidung an und ist nun wieder ein ruhiger, sitt-
samer Mensch.
Nach Ablauf einiger Wochen hält der Rana einige Der-
bars, Raths- und Hofversammlungen ab, bei welchen die
größte Pracht entfaltet wird. Die Abbildung einer solchen
11*
Skizzen m
Action haben wir früher gegeben (XXI, S. 197). Unsere
heutige Illustration stellt einen kleinen Derbar dar, bei wel-
chem die Bayaderen erscheinen. Der Rana trägt ein mit
Diamanten und Juwelen gesticktes Staatskleid; neben und
hinter ihm sitzen mehrere der sechszehn Omras, d. h. großen
Vasallen der Krone, und einige Thakurs, Feudalherren. Sie
Alle tragen Gewander von Brokat, Kaschmirschals, Juwe-
len als Erbstücke und kostbare Waffen. Jeden Stamm er-
kennt man an seinem Turban; der eine ist vom feinsten
Musselin uud mit einer Diamantenschnur umwunden; ein
anderer gleicht einem altgriechischen Helme. Unter den Ge-
stalten ragt Maharadsch Singhdschi hervor, ein Hochgewach-
sener Mann mit weißem Bart. Er ist Oberjägermeister
und steht beim Rana in großer Gunst. Gegenüber den
Ostindien. 85
Hoffesten in Europa, wo Alles wegen der steifen, im höchsten
Grade unmalerischen Uniformen so eintönig uud frostig sich
ausnimmt, gewährt ein indischer Hof einen wahrhaft pitto-
resken Anblick.
Die Radschputen sind stolz auf ihren edeln Ursprung, den
sie bis in ein hohes Alterthum hinauf nachweisen können.
Wenn man die Dynastien, welche über die verschiedenen König-
reiche Radschestans geherrscht haben und noch heute herrschen,
mit den Stammbäumen der europäischen Monarchen ver-
gleicht, dann stellt sich sofort heraus, daß jene einen großen
Vorsprung haben. Sie waren schon in den ersten Jahr-
Hunderten unserer Zeitrechnung Gebieter über ein ausgedehu-
tes Reich, und gegenwärtig sind sie noch Herren Uber große,
reiche Landschaften; sie thronen iu Städten, die mit Herr-
Grabmal eines Nadschp
lichen Denkmälern geschmückt sind und die zum Theil aus
einer Zeit herrühren, da über manchen Ländern Europas
noch das Dunkel der Barbarei lag. Der gewaltige Groß-
mogul Dschehangir hat die Geschichte des edeln Radschputen-
stammes der Sesudias geschrieben, welchen: der Rana von
Udäpur angehört. Er, der Großmogul, welcher über 22
Satrapien in Indien gebot, erwähnt mit stolzem Genügen,
daß er mit dem Radschputenkönig einen Bertrag geschlossen
habe. Er dankt dem Himmel, daß derselbe ihm einen Er-
folg gewährt habe, „den weder sein unsterblicher Vorfahr
Baber, dieser Gründer der Großmoguldynastie, noch auch
Humayun habe erreichen können und dessen sein eigener Va-
ter, der erlauchte Akbar der Große, nur theilweise sich habe
rühmen dürfen."
Der ärmste Radschpute kann auch heute, vermittelst des
m am Burdi-Talao-See.
sorgfältig geführten Stammbaumes seines Clans, seinen
Ursprung bis zu dem Punkte hinauf führen, in welchem die-
ser sich vom Hauptstamme abgezweigt hat, und zwar mit
Sicherheit auf mehr als 15 Jahrhunderte zurück. Und er
ist stolz darauf, daß die Radschputen sich nicht mit fremdem
Blute vermischt, daß sie keine Mißheirathen mit den Mo-
guls eingegangen sind. Die 16 Omras, welche die vor-
nehmste Umgebung des Rana bilden, sind die Nachkommen
und gleichsam Stellvertreter jener Tapfern, welche ein volles
Jahrhundert hindurch die Fahne der Unabhängigkeit hoch hiel-
ten und auch im Drange des Mißgeschicks sich durch glän-
zende Anträge der Kaiser von Delhi niemals verlocken ließen.
Und bis auf den heutigen Tag haben sie ihren alten Stolz
bewahrt, ihre Noblesse in der ganzen Haltung und in ihrem
Auftreten, das in der That einen ritterlichen Charakter zeigt.
86
Megalithische Denkmale und die Steinbauten der Khassias.
Megalithische Denkmale und i
r. d. „Und sehe doch, daß wir nichts wissen können." —
Seit zwanzig Jahren etwa mühen unsere Forscher in den
verschiedensten Ländern sich ab, mit den alten Steindenk-
malen, mit den Menhirs, Dolmen, Steinkreisen, den Tu-
muli, unterirdischen Häusern u. s. w. ins Klare zn kommen.
Sie werden classisicirt, abgebildet, aufs Genaueste beschrie-
ben und auf Karten verzeichnet. Kommt es aber zur Frage
nach Zweck und Ursprung dieser vorhistorischen Bauten, so
betreten wir sofort das Gebiet der Hypothese, und die ver-
schiedenartigsten Vermuthungen werden wach. Beim Mangel
aller oder doch fast aller historischen Nachrichten werden wir
auch niemals ganz ins Klare kommen, und der Phantasie
bleibt immer ein großer Spielraum offen.
Das neueste Werk, welches sich mit dem Gesammtgebiet
der megalithischen Denkmale beschäftigt, ist das des Eng-
länders James Fergusson: „Ru.de Stone Monuments"
(London, Murray 1872); es ist klar und Ubersichtlich ge-
schrieben und zeichnet sich durch eine Fülle sehr lehrreicher
Holzschnitte aus. Der Verfasser beschränkt sich darin nur
auf die Tnmuli, die Menhirs oder Steinpfeiler, die Stein-
kreise und Dolmen, schließt aber die sogenannten Pikten-
Häuser, Brochs und andere Baulichkeiten aus, die aus klei-
ueren Steinen errichtet sind.
Im Ganzen hält nun Fergusson die megalithischen Bau-
ten für viel jünger als die meisten übrigen Forscher. Wir
erwähnen beispielsweise nur das berühmte Stonehenge, den
Steingalgen, in Südengland, der von vielen für einen
„Druidentempel" ausgegeben wird, während der Schwede
Nilsfon in seiner Monographie auf einen phönizischen Son-
nentempel (!!) verfiel. Daß dieses merkwürdigste Stein-
denkmal Englands vorhistorisch sei, darüber sind die Wenig-
sten, die sich damit beschäftigt haben, im Zweifel; Fergusson
aber giebt es für theilweise römisch aus und glaubt, daß
es von Ambrosius zwischen den Jahren 466 und 470 un-
serer Zeitrechuung errichtet worden sei, zum Andenken an
einige zuvor verrätherisch erschlagene britische Häuptlinge.
Der berühmte Ring von Avebury wurde zur Erinnerung an
die in Arthur's zwölfter und größter Schlacht Gefallenen
gebaut; die Stennis-Stones auf den Orkneys sind nach ihm
von norwegischen Jarlen errichtet und gehen wenig über
das Jahr 800 zurück, und so sind denn die vielen Stein-
denkmale in Skandinavien, Deutschland, Frankreich, Spa-
nien, Algerien und Indien nach ihm auch alle sehr jungen
Ursprungs!
Bei der großen Kenntniß, die Fergusson von den alten
Steinbauten besitzt, und der langen, langen Reihe, die er
vergleichend abbildet, sind viele seiner Bemerkungen höchst
schätzbar, wenn er auch mit der Ansicht von der Jugend
dieser Denkmale kein großes Glück machen dürfte. So
sagt er: „Alle diese Denkmale haben einen Stil, gleich
dem gothischen, griechischen, ägyptischen, buddhistischen oder
einem andern! Er hat einen Anfang, eine Mittelzeit und
ein Ende, und wenn mir auch jetzt noch nicht alle Einzel-
heiten desselben nachweisen können, so ist doch klar, daß hier
kein großer Sprung vorliegt, oder daß der eine Theil vor-
historisch, der andere historisch ist. Alle gehören zur einen
oder andern Epoche desselben Stils." Sind aber, wie Fer-
gussou meint, alle die Monumente erst in der Zeit nach
Christus gebaut, so verdanken sie sicher ihren Ursprung auch
verschiedenen Völkern — wie, so fragen wir, kann dann die
ie Steinbauten der Khassias.
wunderbare Stilübereinstimmung stattfinden, da bekanntlich
doch verschiedene Racen — hier kommt Europa, Asien,
Afrika in Betracht — doch sehr verschieden bauen und bau-
ten? Hier muß Fergusson in ein Dilemma gerathen. „Der
Stil der Steinbauten scheint von einem vorkeltischen Volke
erfunden worden und dann von den Kelten, Skandiuaviern,
Briten, Jberiern angenommen worden zu sein." Aber,
wenn Europa einst von einem vorkeltischen, megalithische
Bauten errichtenden Volke bewohnt war, so müssen doch
wohl auch einige unserer Steindenkmäler von diesem herrüh-
ren, und wir kommen damit auf die allgemeine Meinung
der Archäologen zurück, daß uufere megalithischen Denkmale
sehr verschiedenen Perioden und Völkern und nicht einer
Race, einer Epoche angehören.
Am fruchtbarsten und auch interessantesten bei allen Un-
tersuchungen über die vorhistorischen Steinbauten hat sich
noch der Vergleich mit ähnlichen Bauten heute lebender wil-
der Völker erwiesen. Der Steinring, den der Eskimo legt,
um sein Sommerzelt am Boden zu errichten, der Tunnel,
der zu seiner unterirdischen Winterhütte führt, sie sind wahre
Modelle für alte Steinringe nnd Gangbauten. Als den
werthvollsten Vergleich betrachten wir aber jenen mit den
Steinbauten der Khassias, jener Aboriginer, die im gleich-
namigen Gebirge im Süden von Assam Hausen. Schlag-
int weit, der das Khassiagebirge besuchte, sagt (Indien, S.
513) über die Steindenkmale daselbst:
„Monumentale Objecte fehlen nicht im Khassiagebiete,
aber es sind dies Constructiouen so ziemlich der einfachsten
Art, die sich ersinnen läßt. Flache, schmale Steinsäulen
werden in Gruppen von ungerader Zahl, zn 3, 5 bis 13,
aufgestellt; sie sind von ungleicher Länge und werden so
geordnet, daß die mittelste die höchste ist und daß die anderen
ziemlich symmetrisch nach links und rechts abnehmend sich
folgen; sie stehen in einer Linie. Bei den größeren solcher
Gruppen steht gewöhnlich auch noch ein Opfertisch, eine
stäche Steinplatte, auf seitlichen Steinunterlagen ruhend.
Solche Säulendenkinale werden als Garantie von Friedens-
schlüssen und von Privatverträgen errichtet; das Ausfallendste
ist, daß sie ohne alle Jncision sind; nicht nur der Schrift,
auch jedes Bildes oder symbolischen Zeichens entbehren sie.
Geschichte liegt überhaupt bei dem gänzlichen Mangel alles
Geschriebenen für dieses Volk nicht vor, mit Ausnahme des
Wenigen, was von Mund zu Mund sich fortpflanzen konnte,
und was nichts als die Thaten in zahllosen Kämpfen der
Stämme gegen einander zum Gegenstande hat. Viele dieser
Säuleugruppen mögen weit in graues Alterthum zurück-
reichen, wie die Eingeborenen wiederholt es mich versicherten,
denn niemals dürfen solche Steine zu einem neuen Monu-
mente oder gar zu Bauzwecken verwendet werden; die jüng-
sten Vertragsmonumente, die ich sah, reichten bis auf wenige
Jahre vor der Eroberung des Landes durch die Engländer
herab. Sie zeigen sich nicht unähnlich manchen der alten
Steinbauten, die man in den keltischen (?) Stonehenges Eng-
lands findet. Schon ihrer Anzahl wegen lassen sie sich als
Theile der Landschaft im Khassiagebiete nach jeder Richtung
hin bemerken; sie treten auch dadurch besonders hervor, daß
für ihre Aufstellung mit Vorliebe freie, etwas hohe Punkte
und wo möglich zugleich Scheidewege gewählt sind."
So viel Schlagintweit im Allgemeinen. Weit inter-
efsanter aber ist, was jetzt ein Engländer M. T. Sale, der
Megalithische Denkmale und die Steinbauten der Khassias.
lange Zeit mit der Aufnahme der Khassiaberge für die große
indische Karte betraut war, Uber die Art und Weise, wie
diese Monumente errichtet werden, erzählt (Nature, 13.
Juni 1872). „Einstmals, als ich nach vollbrachter Tages-
arbeit mein Lager aufsuchte, wurde ich durch ein lautes
Schreien überrascht, das in der Weise ausgeführt wurde,
wie wenn Seeleute sich beim Ankeraufwinden durch taktmäßi-
gen Zuruf zum gemeinsamen Handeln anspornen. Ich be-
merkte, daß der Lärm von einer Khassiaversammlung aus-
ging, die drei Menhirs zum Andenken an einen Verstorbenen
errichteten. Sie befanden sich in ziemlicher Entfernung von
mir, so daß ich nicht genau die Art und Weise der Errich-
tuug sehen konnte, und da bei Begräbnissen oder den damit
verknüpften Ceremonien die Khassias stets betrunken und
händelsüchtig sind, so wäre es unvorsichtig gewesen, sich zwi-
schen sie zu wagen. Ich war daher gezwungen, bis zum
nächsten Morgen zu warten, und konnte dann erst den
Schauplatz ihrer Thaten untersuchen.
„Ich fand, daß drei nicht allzu große Menhirs errichtet
worden waren und daß man die Steine in sehr einfacher
Weise mit Hebeln gehoben hatte, die gleichfalls in fehr ein-
facher Weise aus jungen Bäumen und Seilen aus zähen
Schlinggewächsen gemacht worden waren. Die ganze Sache
hatte Anlaß zu einer Festlichkeit im großartigsten Maßstabe
gegeben. Knochen von geschlachtetem Vieh und leere Grog-
krüge lagen in großer Anzahl umher, die Schädel der Och-
sen, 14 oder 15 Stück, waren in sehr phantastischer Weise
als Schmuck vor den Menhirs angebracht. Da die Anord-
nung dieser Schädel sofort mir die mögliche Entstehungs-
weise eines bekannten architektonischen Ornaments (der so-
Steinmonument der Khassias, mit Ochsenschädeln geschmückt.
genannte Aaskopf) ins Gedächtniß führte, so nahm ich eine
Skizze der Menhirs und Ochfenköpfe auf. Die Schädel
waren zwischen zwei horizontalen Stangen vor den dreiStei-
nen aufgereiht, und das Ganze wurde getragen von zwei
aufrechten Pfählen. Mühe kostete es mich, den Zweck der
Menhirs zu ergründen, und ich konnte nur erfahren, daß sie
da seien, um die Erinnerung an einen berühmten Mann,
der gerade gestorben war, zu bewahren.
„Was die Dolmen betrifft, die man so oft vor den
Menhirs findet, so wurde mir gesagt, daß sie eine Art rohen
Schutzdaches für die Asche der Verstorbenen sein sollten. Die
Asche wird ein oder zwei Jahre im Hause aufbewahrt und
dann unter den breiten, flachen Deckstein des Dolmen aus-
geschüttet.
„Außerdem benutzen die Khassias diese Dolmen bei ihrer
wunderbaren Gottesverehrung durch Eierzerbrechen.
Diese Verehrung, welche als eine Art religiöser Dienst an-
gesehen werden kann, wird folgendermaßen ausgeführt: Aus
die Spitze des Dolmen legt der Khassiapriester fünf kleine
Häufchen von Thon und gekauter Betelnuß in der Form
eines Halbkreises. Dann steht er auf und beginnt einen
wilden Gesang, der im Rhythmus ganz verschieden von ihren
gewöhnlichen Liedern ist. An einer bestimmten Stelle des
Gesanges nimmt er ein Ei aus der Tasche und wirft es
auf den Dolmenstein, so nahe der Mitte des Halbkreises als
möglich. Wenn die Dottermasse sich über die Häufchen er-
gießt, so ist das ein gutes Zeichen; übrigens hat jedes Häuf-
chen seine besondere Bedeutung; spritzt aber der Dotter weit
von den Häufchen weg, so ist das ein schlechtes Zeichen.
Menhirs und Dolmen der Khassias sind übrigens keine Ver-
sammlungsstätten, denn jedes Dorf hat seinen besondern
Versammlungsort, der mit hübschen, für den Zweck einge-
richteten Steinsitzen versehen ist."
88
Georg Schweinfurth: Völkerskizzen aus dem Gebiete des Bachr el Ghasal.
Völkerskizzen aus dem Gebiete des Bachr el Ghasal.
Von Dr. Georg Schweinfurth.
II.
Das Heirathen, bei den Übrigen Völkern nur vom Besitz-
stände des Einzelnen abhängig, ist bei den Bongo auf ein
Maximum von drei Weibern beschränkt. Umsonst giebt es
hier, wie nirgends in Afrika, keine Weiber; selbst der Aermste
hat immer noch seinen Hausen an Lanzenspitzen und Eisen-
platten dem Vater der Braut als Tribut zu entrichten. Die
allgemein menschlichen Gründe reguliren auch hier die Schei-
düngen, welche stets eine mindestens theilweise Rückgabe des
Heirathspreises zur Folge haben. Den Kindern wird nicht
selten bis zum vollendeten zweiten Jahre die Brust gereicht.
Eine allgemeine unter den Bongo verbreitete Sitte, welche
ihren Ursprung offenbar den Lehren einer natürlichen Moral
verdankt, verbietet allen Kindern, welche nicht mehr gesäugt
werden, das Schlafen in der Hütte der Eltern; die Bongo
beschämen mithin in diesem Punkte einen großen Theil der
Bewohner Europas. Die größeren Kinder bewohnen für
sich eine eigene Hütte; die Mahlzeiten sind gemeinschaftliche.
Im Anschluß an die Sitte, daß größere Kinder nicht mit
den Eltern in einer Hütte schlafen dürfen, ist offenbar auch
die allgemein befolgte Regel zu betrachten, welche die eheliche
Vereinigung, wie bei uns Europäern nur nach völlig erfolg-
ter körperlicher Entwicklung, im Alter von etwa 17 bis 18
refp. 14 bis 15 Jahren gestattet.
Ihre seltsamsten Gebräuche (wir können in dieser kurz
gefaßten Skizze begreiflicherweise nur einen geringen Theil
derselben beleuchten) offenbaren sich indeß bei Bestattung der
Todten, und die ganze Eigenthümlichkeit ihrer Sitten kommt
bei großen Versammlungen zur Geltung, zu welchen Fest-
lichkeiten, Jagd und Kriegszüge die Veranlassung geben.
Die Begräbnisse werden folgendermaßen vollzogen. Man
setzt den Todten, unmittelbar nachdem er verstorben, in hocken-
der Stellung in einen aus Häuten zusammengenähten Sack,
den man schließt *), alsdann wird ein viele Fuß tiefes Grab
gegraben. Der Stollen senkrecht in den Boden gesenkt,
nimmt an seinem Ende eine seitliche Wendung, so daß der
Sack mit der Leiche in eine Art Nische abgestellt werden
kann. Nun wird der auffällige, zu vielem Nachdenken auf-
fordernde Gebrauch befolgt, den Leichnam, wenn es ein Mann
gewesen, mit dem Gesicht nach Norden, Frauen aber nach
Süden **) gewandt zu begraben. Nachdem der Grabstollen
gefüllt, wird ein großer Steinhügel darüber gehäuft, welcher
durch starke Pfähle, die in den Boden eingerammt waren,
an der Basis eine kurzcylindrische Gestalt erhält. In der
Mitte auf den Steinhaufen stellt man einen neuen Thon-
krng, von der kugelförmigen Gestalt der zum Wasserholen
bestimmten, oft denjenigen Krug selbst, aus welchem der Ver-
storbene sein Trinkwasser zu schöpfen pflegte. Schließlich
werden ganze, beschnitzte Baumstämme an dem Grabe in
den Boden gepflanzt; die Zahl derselben sah ich von 1 bis 5
variiren. Alle waren sie mit Benutzung der natürlichen
*) Gleichsam als handelte es sich darum, durch Nachahmung des
Embryonalzustandes der Idee der Unsterblichkeit einen Ausdruck zu
ertheilen, würde der Völkerphysiolog sagen.
**) Die Vongosprache hat für die Himmelsrichtungen nur Be-
Zeichnungen für Nord und Süd; für West und Ost sagt man oft
links und rechts, da man sich den Nord immer en face denkt.
Vergabelung der Aeste an ihren Spitzen zu langen Hörnern
ausgearbeitet, während der Stamm und die Aeste nach unten
zu mit einer ununterbrochenen Reihe von zierlichen Kerben
besetzt erschienen. Die allegorische Bedeutung dieser Gebilde
scheint längst beim Volke in Vergessenheit gerathen zu sein;
so sehr ich auch in ihre Sitten und Gewohnheiten einzndrin-
gen gewohnt gewesen, uud so viel ich mich mit dem Volke
selbst vertraut zu machen wußte, vermochte doch Niemand
mir eine ausreichende Deutung zu geben. Aehnliche Votiv-
pfähle mit Hörnern werden auch auf den Gräbern der Mittu
und selbst auf denen der den Behl verwandten Völker am
rechten Rohlnfer bemerkt. In Mnhdi, einem Districte im
östlichen Theile des Bongolandes, gewahrte ich das Grab
eines verstorbenen Ortsvorstehers, welches mit hölzernen Fi-
guren in Lebensgröße geschmückt war. Dieselben bestanden
aus einer Reihe von roh zugehauenen Baumstämmen, an
welchen nur die Köpfe und die zum Unterschiede der Männer
und Frauen erforderlichen Merkmale en detail ausgeführt
waren, einen Zug darstellend, welcher den Verstorbenen an
der Spitze eines sich vom Grabe nach außen hinzuwendenden
Zuges erscheinen ließ. Aehnliche menschliche Bilder in Holz
sollen sich ehemals nach den Berichten von Augenzeugen in
vielen Dörfern der Bongo als ornamentaler Schmuck der
Umpfählung vorgefunden haben. Zu meiner Zeit fand ich
nur noch die sogenannten moiago-kumara (das Bild der
Frau) vor, 2 bis 3 Fuß lange mit großer Mühe im Detail
aus hartem Holze geschnitzte Figuren, zur Erinnerung an
verstorbene Frauen und angeblich täuschend ähnlich ausge-
sührt, welche vom Wittwer voll Pietät mit Perlenschnüren
umhangen und gleich Penaten im Hause aufgestellt zu wer-
den pflegen. Auch ermordeten Personen männlichen Ge-
schlechts pflegt in dieser Weise eine geheiligte Erinnerung
gezollt zu werden.
Dieser Gegenstand mag unsere Aufmerksamkeit zunächst
den verschiedenen Prodncten des Knnstsleißes der Bongo
zuwenden. Betrachten wir noch andere ihrer Holzschnitze-
reien, so müssen uns besonders die zierlichen vierfüßigen, aus
einem Stück geschnitzten Schemel und Bänkelchen in die
Augen fallen, deren sich fast ausschließlich die Frauen be-
dienen, wenn sie bei Zubereitung ihrer Speisen vor den Hüt-
ten sitzen. Andere Objecte der Holzschnitzerei sind becher-
förmige große Holzmörser zum Stampfen von Korn, Mul-
den zum Oelpressen und dergleichen. Die Gebilde aus Thon,
große und kleine henkellose Krüge vvn kugelförmiger oder
halbkugelförmiger Gestalt, ferner die zierlichen Pfeifenköpfe,
Alles aus freier Hand geformt, zeigen eine außergewöhnliche
Formvollendung, jedoch mangelhafte Qualität der Masse.
Jegliche Art Gerberei ist unbekannt.
Als Bewohner eines eisenreichen Bodens, welcher dem
großen Nachbarvolke der Dinka völlig abgeht, concentrirt
sich die ganze Kunstfertigkeit der Bongo auf die Gewinnung
und Bearbeitung dieses wichtigen Metalls, dessen Besitz ihnen
eine gewisse Ueberlegenheit den Dinka gegenüber ertheilt zu
haben scheint. Es würde uns zu weit führen, die umstand-
liche Manipulation der Eisengewinnung hier ausführlich zu
behandeln, zumal dieselbe an die von vielen Völkern Cen-
Georg Schweinfurth: Völkerskizzen
tralafrikas befolgten Maximen gar zu sehr erinnert, außer-
dem auch bereits von John Petherick in seinem Werke „Egypt,
the Soudan etc." zutreffend beschrieben worden ist.
Die Hauptproducte ihrer Schmiedekunst sind für den
Handel*) bestimmt, und wie die Djur, welche, ein ansge-
wanderter Stamm der Schilluk, sich wie ein Keil an der
Nordostgrenze des Gebietes zwischen die Bongo und Dinka
hineingedrängt haben, häufen sie zu diesem Zwecke erstaun-
liche Quantitäten verarbeiteten Eisens auf, leider seit den
letzten Jahren nur im Dienste ihrer fremden Bedrücker arbei-
teud. Das für den hauptsächlich mit den nördlichen Völ-
kern der Tiefebenen vermittelten Handel bestimmte Eisen
wird nun in dreierlei Gestalt verarbeitet. 1) Als mähi,
d. h. als einfache 1 bis 2 Fuß lange Lanzenspitze **) von
lanzettförmiger Gestalt. 2) Als Loggo-Kulluti, d. h.
schwarzer (oder roher) Spaten, eine tellergroße Eisenplatte
mit einem ankerförmigen Hakenansatz an einem Ende; dies
ist das eigentliche lykurgische Geld der Bongo, das Aes des
Landes, und wurde ehemals, um Schätze zu bilden, in Mas-
sen von den Reichen aufgehäuft. 3) Der fertige Loggo,
der Spaten zum Jäten und zum Ausschaufeln der für das
auszusäende Korn bestimmten Vertiefungen. Dieser Loggo
ist kreisrund, etwas größer als eine Manneshand und mit
einem Stiel versehen, in welchen die hölzerne Handhabe ein-
gesteckt zu werden Pflegt. In dieser Gestalt ist das Eisen
die beliebteste Tauschwaare bei den meisten Völkern, welche
die Ufer des Weißen Nils und seines südlichen Quellflusses,
des Bachr el Gebet, bewohnen.
Außer den genannten roheren Gebilden ihrer Schmiede-
kuust verfertigen indeß die Bongo Waffen, Geräthe und
Schmuck von vollendeter Güte, welche nach dem Ausspruche
von Sachkennern unsere meisten Landschmiede, selbst die eng-
tischen nicht ausgenommen, beschämen könnten, und dennoch
arbeiten die Bongo mit einem Blaseapparat primitivster Art,
mit einem Feuer halbverbrannter Kohlen, ohne Feilen und
Zangen zu kennen, auf einem Ambos von Granit, und mit
einem Hammer, dessen Handhabe die nervige Faust des
Schmiedes darstellt. Am zierlichsten und kunstvollsten sind
Lanzen- und Pfeilspitzen, rautenförmig und in allen Grö-
ßen; dann kommen kleine Zangen, deren sich die Frauen
zum Ausraufen der Wimpern und Brauen bedienen, die
kleinen elliptischen oder blattförmigen Küchenmesser der Frauen,
die Ringe unzählbar an Gestalt und darauf verwandtem
Zierrath, Fußfchelleu und Glocken von jeder Größe, Ketten
zum Schmuck, Angelhaken und Fischstecher, lanzettgroße
Scheermesser u. s. w.
Die Waffen der Bongo sind Lanze, Pfeil und Bogen.
Letztere Waffe wissen sie noch heute, wo der größte Theil
der Bevölkerung kriegerischer Thätigkeit entwöhnt worden,
mit bewunderungswürdiger Geschicklichkeit zu führen. Die
Pfeile sind wie die Bogen sehr groß und von abweichender
Form von den bei ihren südöstlichen Nachbaren, den Mittu,
oder den südlichen Niam Niam gebräuchlichen. Den nörd-
lichen Niam Niam und namentlich den Dinka gegenüber,
welche letztere wohl nur aus Eisenmangel einer solchen ent-
sagen mußten, verleiht diese Waffe den Bongo ein kriegeri-
fches Uebergewicht. Pfeilschüfse sind nur, wenn sie die Brust
treffen, absolut tödtlich, die der Bongo gehen selbst auf 150
Schritt mit Sicherheit durch und durch. Die sogenannten
*) Erst in neuerer Zeit hat auch das Kupfer, wie in allen
Theilen des Gebietes, so auch im Bongolande Geldeswerth angenom-
wen und bildet den beliebtesten Tauschartikel. Die Glasperlen
entwerthen sich von Jahr zu Jahr mehr. Kaurimuschelu sind bei
den Bongo längst in Vergessenheit gerathen.
**) Solche Lanzenspitzen haben im Schilluklande auf Kupfer über-
tragen den Werth von 1 Maria-Theresia-Thaler.
Globus XXII. Nr. 6. (August 1872.)
aus dem Gebiete des Bachr el Ghasal. 89
vergifteten Pfeile scheinen, wie überall in Afrika, wo so ge-
fährliche Pflanzengifte, wie sie die südamerikanischen Urwäl-
der liefern, selten angetroffen werden und den Eingeborenen
wenig bekannt sind, ohne Belang, hauptsächlich, weil der
an der Pfeilspitze angetrocknete Saft (von Euphorbia ma-
millaris) sich nicht in Wasser löst und auch in der Wunde
nicht Zeit findet, sich dem Blute mitzutheilen. Ausfallend
ist bei der Bewaffnung der Bongo der Mangel an Schilden,
die sonst bei Pfeilschützen stets eine große Rolle zu spielen
scheinen. Lanzen giebt es drei Arten. 1) Mähi (Collec-
tivname), die gewöhnliche Lanze in Lanzettform; 2) Golo,
eine spießförmige Lanze mit langen eisernen Widerhaken am
eisernen Stiel, in welchem der Holzschaft steckt; 3) Ma-
krigga, ein Spieß, dessen Stieltheil mit unzähligen in wuu-
derbar symmetrischen Reihen aufgestellten feinen Stacheln,
die sich oft kreuzen, besetzt erscheint. Die Makrigga ist oft
nur Luxuswaffe und alle Kunst eines Bongoschmiedes con-
centrirt sich in der Anfertigung einer solchen.
Zum Schluß haben wir noch die äußere Tracht der
Bongo, gleichsam ihre habituelle Erscheinung, in Betrach-
tuug zu ziehen, ein wichtiger Theil der Charakteristik der-
artiger Völker. In Ermangelung einer wirklichen Kleidung
spielen hier die Verstümmelungen, welche der Mensch an
einzelnen Theilen seines Körpers vornimmt, die erste Rolle,
denn der Wilde zeigt sich in gewissem Sinne noch weit mehr
als Knecht einer freiwillig geduldeten Mode, als der ver-
feinerte Culturmensch. Wie bei allen Völkern des Gebietes
verlangt auch hier das männliche Geschlecht ganz gesondert
von dem weiblichen besprochen zu werden, da die Gewohn-
heiten beider weit auseinander gehen. Gemeinsam ist bei-
den Geschlechtern nur die von der großen Mehrzahl der
Bewohner des Bachr-el-Ghasal-Beckens, mit eminenter Aus-
nähme der Niam Niam, geübte Unsitte, sich die unteren
Schneidezähne auszubrechen, was bei eintretender Pubertät
zu geschehen pflegt. Nur im südlichen, an die Niam-Niam-
Länder anstoßenden Theile des Landes unterbleibt diese Ver-
stümmelung, in Folge deren die Aussprache sehr undeutlich
wird. Mit Hülfe der Süd-Bongo gelang es mir denn
auch, viele Zweifel in Betreff der letzteren bei Abfassung
meiner Vocabnlare und Sprachprobensammlung zu beseiti-
gen *). Das Spitzfeilen beider Reihen Schneidezähne wurde
nur bei den südlichen Bongo wahrgenommen, offenbar einen
Einfluß der Niam-Niam-Sitten in diesen Grenzgebieten
verrathend. Beschneidung ist durchaus unbekannt. Die
Männer gehen nicht schamlos nackt wie die Djur, Schilluk
und Dinka, sondern tragen stets einen Schurz von Fell oder
einen Zeugfetzen, den sie an der nie fehlenden Lendenschnur
befestigen und unter die Schamfuge ziehen, hinten und vorn
ein Ende überhängen lassend. Die Frauen dagegen ver-
zichten hartnäckig auf jederlei Bekleidung mit Fellen, Hän-
ten und Zeug, sondern holen sich jeden Morgen ihre frische
Garderobe aus dem Walde. Ein dichtbelaubter, schmieg-
samer Zweig (gewöhnlich von Combretum, oft auch ein
Bündel feinster Gräser) wird ähnlich an der Lendenschnur
befestigt, wie das Zeugstück bei den Männern. Sehr häusig
ist aber auch bei den Weibern ein langer Schweif aus dem
Baste der Sanseviera, den sie mit einem Safte schwarz fär-
ben, in Gebrauch, welcher an der einem solchen Zierrath
entsprechenden Körperstelle eingefügt, einem Roßschweif gleich,
lang herniederwallt. Alle übrigen Körpertheile, sowohl bei
Männern wie bei Frauen, sind unbedeckt. Das Haar wird
kurz gehalten, nur im Süden, wo Niam-Niam-Sitten in-
*) Die Bongosprache zeigt in keinem Districte des Landes dia-
lettische Verschiedenheiten. Sie ist eine wohlklingende, durchaus voca-
lisirte Sprache, einfach im grammatischen Bau, aber reich an Aus-
drücken für alle concreten Begriffe.
12
90 Heimath und Vi
fluiren, tragen Männer und Frauen ziemlich lange Zöpfe
und Flechten.
Wir kommen nun zu dem letzten und wichtigsten Capitel
der am Körper getragenen Schmucksachen und Zierrathen.
Um den Hals tragen die Frauen zahlreiche Glasperlen-
schnüre; sie sind nicht wählerisch in der Form und Farbe
derselben, wie bei den anderen Stämmen, und schmücken sich
mit allen vorhandenen Sorten, welche die Chartumer ins
Land bringen. Die Männer machen sich nichts aus solchem
Tand, haben dagegen Halsschnüre mit daran aufgereihten
wunderkräftigen Hölzchen und Würzelchen, Eulen- und Adler-
klauen, Zähnen, Schildkrötknochen und dergleichen, gern.
Schmuck in Gestalt von kleinen Kupferringen tragen die
Männer nur am äußern Ohrrande, seltener in der Ober-
lippe, den Frauen gleich, einen nagelartigen Zapfen aus
Kupfer. Ueber dem Nabel ist die Bauchhaut sehr oft durch-
löchert und ein Stäbchen durch die Haut gesteckt. Außer-
dem tragen Männer auch Eisenringe an den Handgelenken,
seltener am Oberarm.
Bei den Frauen, sobald sie verheirathet, besteht der eigen-
thümlichste Schmuck aus einem großen cylindrifchen Holz-
zapfen, mindestens ein Zoll im Durchmesser und ebenso lang,
welcher, in die durchbohrte Unterlippe gesteckt, dieselbe über
alles natürliche Maß verbreitert und weit in horizontaler
Richtung über die Oberlippe hinausragen läßt, daß sie an
ireitung der Cholera.
Botokudeu erinnern. Wie gesagt, ist das nur ein Privile-
gium der verheirateten Frau. In die gleichfalls durch-
löcherte Oberlippe wird nur ein kleiner Kupfernagel mit
conischem Kopf gesteckt. Die Nasenflügel sind gleichfalls
sehr häufig durchlöchert, zur Aufnahme kleiner zierlicher
Strohhalme; in den Mundwinkeln, gleichsam um die Breite
der Mundspalte in Zaum zu halten, werden häufig zierlich
geformte Klammern aus Kupfer getragen. Alle diese neben-
sächlichen Zierrathen finden sich indeß nicht bei allen Frauen
wieder, nur der Pflock in der Unterlippe ist obligatorisch.
Ganz allgemein ist auch die Sitte, den äußern Ohr-
rand mit vielen Löchern zu versehen und in dieselben kleine
Knpferringe oder halbmondförmige Schellen einzuführen.
Zierliche Tättowirung findet sich bei den Weibern gewöhn-
lich am Oberarm; die Muster wechseln zur individuellen
Charakterisirung beständig. Schließlich vervollständigen den
Schmuck einer Bongodame Ringe von Eisen oder Kupfer
am Oberarm, an den Handgelenken und besonders an den
Fußknöcheln, oft mehrfach übereinandergehänft, so daß beim
Gehen ein Geräusch wie von Kettenklirren nie vermieden
werden kann. Daß menschliche Geduld indeß im Stande
sei, sich noch weit größeren Martern der Mode willenlos
preiszugeben, davon werden wir an den Nachbarn der Bongo,
den Mittu, uns zu überzeugen Gelegenheit finden.
Die Heimath und Verbreitung der Cholera.
ii.
Einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Krankheit
verdanken wir der Feder des Dr. I. Macpherson *), der
früher als Arzt in der indischen Armee diente. Sehr ver-
breitet ist die auch von der letzten Choleraconferenz zu Kon-
stautinopel aufs Neue in Umlauf gesetzte Meinung, daß die
Epidemie', welche im Jahre 1817 in Bengalen wüthete,
damals zuerst im Orient aufgetreten sei, und daß die San-
derbands, diese Niederungen des Gangesdeltas, ihre eigent-
liche Wiege seien. Macpherson jedoch weist aus einer Fülle
von nicht immer neuen, aber meist entscheidenden Beweis-
Mitteln nach, daß die Cholera in verschiedenen Theilen In-
diens mindestens schon vom Jahre 1503 an aufgetreten ist,
und in Europa schon seit dem Anfange unserer Zeitrech-
nuug, wenn nicht von früher her, bekannt war. In der
That stammt der europäische Name der Krankheit aus der
Zeit des Hippokrates, d. h. aus dem 5. Jahrhundert v. Chr.,
und seine Beschreibung derselben stimmt ziemlich genau mit
der modernen Erfahrung überein **). Celfus und seine Schü-
ler im 1. Jahrhundert n. Chr. gehen noch mehr auf die
einzelnen Symptome und auf die BeHandlungsweise der da-
maligen Cholera ein, und er erwähnt auch der Fieberzustände,
die zuweilen im letzten Stadium der Krankheit erfolgen.
*) Annais of Cholera, from the earliest periods to the year
1817. London 1872.
**) Die Krankheit trägt sehr verschiedene Benennungen: Cholera,
Morschi, Mordeschin; daraus hat ein Franzose Nord de Chien ge-
macht I Die alten indischen Aerzte bezeichnen sie, nach den Stadien,
mit drei Namen: Vischujika, Brechen und Abweichen, also unsere
Brechruhr; — Alasika, Krämpfe, welche Ermattung, Starre her-
beiführen;— Vilambika, Zusammenbruch. Die Epidemie bezeich-
net man im Sanskrit auch mit dem Namen Mahamari, großes
Sterben. Mordeschin ist ein maharattisches Wort, eigentlich Mo-
dawaschi, d. h. Zusammenbruch. Pettenkofer, S. 7,
Ebenso gedenken Sanskritschriften aus spätestens dem zwei-
ten Jahrhundert unserer Aera der Cholera unter einem in-
dischen Namen. In Büchern alter Tamilärzte ans unbe-
kannter Zeit werden häufig Krankheitsbeschreibungen gegeben,
die sich offenbar auf die Cholera beziehen, obfchon wir dar-
aus nicht auf ein epidemisches Auftreten derselben schließen
können. Auch sind die alten Hindumittel denjenigen merk-
würdig verwandt, die noch heutzutage in Bengalen von Ein-
geborenen und selbst von Europäern angewendet werden.
Endlich scheinen Choleraepidemien schon in sehr früher
Zeit auch in China und Japan bekannt gewesen zu sein.
Ein griechischer Schriftsteller aus dem Jahre 360 kennt
bereits Heilversuche, um einen gewissen, anscheinend die Ur-
sache der Krämpfe bildenden Krankheitsstoss auszuscheiden.
Ebenso wird eine im 10. und 11. Jahrhundert in Bagdad
aufgetretene choleraähnliche Krankheit von arabischen Schrift-
stellern beschrieben. Obwohl vielfach in Einzelnheiten von
einander abweichend, stimmen doch sämmtliche Darstellungen
der orientalischen wie der europäischen Schriftsteller in allen
Hauptzügen überein, namentlich in der Angabe der sehr ver-
schiedenen, aber oft tödtlichen Heftigkeit der Krankheitsanfälle.
Vom Beginne des 16. Jahrhunderts an werden derartige
Angaben häufiger, gehen mehr auf Einzelnheiten ein und
nähern sich den modernen Erfahrungen über die epidemische
Cholera.
Der erste festgestellte Ausbruch mit epidemischemCha-
rakter fand zu Goa im portugiesischen Indien 1543, nur
elf Jahre vor dem ähnlichen zu Nismes in Frankreich con-
statirten Ausbruche statt. Die Krankheit trat von da ab
in Zwischenräumen längs der Malabar- und Canaraküste
bis zum Jahre 1314 hinab auf, dem Jahre der ersten gro-
ßen indischen Epidemie. Während des 17. Jahrhunderts
„Das große einsame
fanden von Zeit zu Zeit gefährliche epidemische Ausbrüche
in Frankreich, Belgien und anderen continentalen Gebieten
Europas statt und schließlich auch in England. Eine schwere
Epidemie scheint in Marwar 1681 bis 1682 geherrscht
zu haben, eine ähnliche in Goa im Jahre 1684 und eine
gleiche in Surate von letzterm Jahre bis 1690. In der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts suchte die Cholera
häufig die Malabar- und Coromandelküsten heim, und ein-
mal wenigstens Calcutta. In Bengalen erschien sie seit
dem Ausbruche von 1781 nicht wieder bis 1817, seit wel-
cher Zeit sie dort nie mehr gänzlich aufgehört hat zu spuken.
Vor jener Zeit war Bengalen ganz besonders frei von jener
Krankheit gewesen, die sich dagegen in manchen Gegenden
des südlichen Indiens völlig eingebürgert hatte. Beim Aus-
bruche von 1817 wurde kein neues Symptom bemerkt, auch
waren die Entwicklung und die allgemeine Erscheinung der
Krankheit die gleichen, wie bei verschiedenen früheren Aus-
brüchen. „Sie hatte sich schon öfter," sagt Macpherson,
„vorher weithin ausgebreitet, und höchstens kann man sagen,
daß diese Fähigkeit der Ausbreitung bei der Epidemie von
1817 unendlich erhöht erschien."
*
* *
Ein Londoner Arzt, Dr. B. G. Jenkins, sucht die
Cyclen der Cholera mit den Sonnenflecken in Ver-
bindung zu bringen, und er hat diese Ansicht in einer an
die russische Akademie der Wissenschaften gerichteten Denk-
schrift zu begründen gesucht („New Uork Herald" vom 29.
Mai 1872).
„Man hat die Sonnenflecke schon längst mit den auro-
ralen Erscheinungen, magnetischen Stürmen und anderen
kosmischen und tellurischen Phänomenen, welche für die Phy-
siker überraschend sind, in Verbindung gebracht. Am 1.
September 1839 war die Sonnenscheibe durch solche Flecke
gleichsam verdunkelt, und zwei weit von einander entfernt
wohnende Beobachter, die sich gar nicht kannten, sahen gleich-
zeitig eine ausfallend blendende Lichtmafse neben einem der
Flecken hervorbrechen, durch denselben hindurchstreichen und
in wenigen Minuten über 35,000 Miles der Sonnenfläche
sich ergießen. Genau um dieselbe Zeit wurde ein heftiger
magnetischerOrkan beobachtet. Der ganze Planet schien
an jenem Tage von elektrischen Zuckungen heimgesucht zu
werden, und die Telegramme meldeten von prächtigen Auro-
ren in Europa, in Westindien, hier bis unter 18° N., wo
sie so selten erscheinen, aus Südamerika und aus Melbourne
an der Südküste Australiens. Vielfach versagten die Tele-
graphendrähte den Dienst und in manchen Städten Eng-
lands empfanden die Beamten heftige elektrische Schläge.
Die Sonnenflecke, welche nach Annahme mancher Phy-
siker in wesentlicher Beziehung zu solchen Convulsiouen stehen,
haben eine geradezu ungeheuere Größe. Es ist keineswegs
selten, daß sie 800,000,000 Quadratmiles aus der Sonnen-
fläche bedecken, und der 1837 von Herschel beobachtete Fleck
ind" in Nordamerika. 91
war noch um das Dreißigfache größer. Es kann demnach
nicht Wunder nehmen, daß die Sonnenflecke auf viele
meteorologische, terrestrische :c. Phänomene Einfluß üben.
Dr. Jenkins behauptet ganz entschieden, daß die Cholera
durch kosmische Einflüsse entstehe und mit den aurora-
len Erscheinungen und den Störungen auf der Sonne in
Verbindung zu bringen sei. Er illustrirt das vermittelst
einer Karte, auf welcher er für die letztvergangenen 50 Jahre
die Choleraepidemien und die Zahl der Sonnenflecke einge-
tragen hat. Aus diesem Verzeichnisse folgert er, daß die
Maxima und Minima der Krankheit mit jenen der Solar-
agitationen, Auroren, Lichtsahnen, Erdströmungen, magneti-
fchen Stürmen und der großen elektrischen Wirbelorkane zu-
sammenfallen.
Es wird insbesondere darauf aufmerksam gemacht, daß
das letzte Jahr eines jeden Säcnlums, z.B. 1800, ein Mi-
nimnm von Sonnenflecken aufweise. Durch verschiedene
Arten des Verfahrens sind mehrere Physiker in verschiedenen
Ländern durch Vergleichung der vorhandenen Angaben und
photographischen Aufnahmen zu der Annahme gelangt, daß
die Zeitperiode, in welche dieses Minimum fällt, etwa
elf und ein halbes Jahr betrage. Das Maximum fällt nicht
in die Mitte dieser Periode, sondern in das fünfte Jahr nach
dem Minimum. Der Aufsteller dieser Hypothese nimmt
ferner an, daß eine Choleraperiode die Dauer von
etwa anderthalb Sonnenfleckperioden habe, und er
meint, daß, so weit wir eine Statistik der Cholera besitzen,
seine Annahme zutreffe. So fällt z. B. das Maximum der
Seuche in das Jahr 1866; das nächstfolgende Maximum
würden wir 1883 zu erwarten haben.
In Bezug auf das Ursprungsland verwirft Jenkins
die hergebrachten Ansichten. Die Heimath ist ihm zufolge
nicht bloß in Asien, insbesondere im Gangesdelta, sondern
man muß sieben von einander getrennte Erzeugungsherde
an den Wendekreisen oder in deren Nähe annehmen; der
gangetische sei allerdings der intensivste. Die übrigen liegen
an der Küste von China; — im Norden von Mekka; —
an der Westküste Afrikas; — im Westen von Untercalifor-
nien; — auf den Sandwichsinseln. Die Karte zeigt, daß
die bislang ermittelten Erscheinungen der Cholera sich ge-
nügend erklären lassen, wenn man sieben atmosphäri-
scheStrömungen annehme; jede derselben habe eine Breite
von 1400 Miles, und sie nehmen ihre Richtung von jenen
Erzeugungsherden aus nach Nordwesten. Es trifft sich oft-
mals, daß Schiffe auf See plötzlich von Cholera heimgesucht
werden; Fahrzeuge, welche den Küsten Indiens entlang segeln,
werden zu verschiedenen Zeiten an denselben Stellen ergrif-
fen; — und dafür finden wir eine Erklärung nur in der
Annahme, daß sie sich in den Choleraströmungen befinden.
Geaenden, welche bisher verschont geblieben sind, liegen außer-
halb solcher Strömungen." —
Wir unsererseits maßen uns kein Urtheil über die Hy-
pothese an und geben sie so, wie wir sie finden.
„Das große einsame Land" in Nordamerika.
ii.
Um Mittag erreichten wir die Mündung desWinnipeg besser zur Ueberwindnng der Stromschnellen geeignetes Canoe
River und ruderten nach Fort Alexander, eine Meile erwarb, und um fünf Uhr Abends ging es weiter. Acht
oberhalb der Mündung, hinauf. Dort traf ich die letzten Meilen oberhalb des Forts tönte das Gebrüll eines mächti-
Vorbereitungen für die Winnipegfahrt, indem ich ein anderes, gen Wasserfalls durch die Dämmerung. Unter Brandung,
12*
92 „Das große einsame
Schaum und Wirbeln macht die riesige Wassermasse des
Winnipeg ihren letzten, großen Sprung, ehe sie den See
erreicht. Auf einem platten Fels, der weit hineinragte in
das schäumende Wasser, zündeten wir unser Feuer an.
Die Fichten, welche dem Fall seinen Namen gegeben, stan-
den in tiefer Finsterniß; in weißen Schaum löste sich das
stürzende Wasser, darüber die schweren Gewitterwolken, eine
wilde Scenerie. Bald sing das Unwetter an, und die
Stimme des Donners mischte sich mit dem Gebrüll des
Wasserfalls. Meine Indianer machten mir ein rohes Ob-
dach aus Stangen und Segeltuch; sie selbst schmiegten sich
allesammt unter das umgewendete Canoe.
Man kann weit reisen, ehe man einen zweiten Winni-
peg antrifft. Bei ihm scheint die Natur darauf ausgegangen
zu sein, aus Erde und Wasser die fremdartigsten und wilde-
sten Combinationen herzustellen. Wenn man sagt, daß der
Winnipeg eine immense Wasserfülle hat, daß er auf 160
Meilen 360 Fuß fällt, daß er voller Strudel und Wirbel
ist, voller Fälle und Katarakten, daß er sich erweitert zu ein-
samen, fichtenumkränzten Seen und weiten, inselreichen Buch-
ten, daß sein Bett verscharrt wird von riesigen, glattpolirten
Felsen, daß seine weiten Einöden schweigend sind und seine
Fälle unablässig thätig — so redet man nur in lauter Wie-
derholungen von Thatsachen von seiner Schönheit. Denn der
Winnipeg spottet wegen der Vielfältigkeit seiner Gefahren und
der ewig wechselnden Schönheit seiner Landschaft ebenso der
schwächlichen Anstrengungen civilisirten Reisens, als der Be-
schreibung eines civilisirten Mannes. Aber wie wohl kennt
die Rothhaut, die ihr kleines Canoe aus Birkenrinde durch
seine schäumenden Schnellen steuert, die verschiedenen Wege!
Ihr scheint er Leben und Jnstinct zu besitzen; sie spricht von
ihm, wie der Araber von einem muthigen Streitroß, das
richtig geleitet vor nichts zurückschreckt. Die Otter Falls
oder die Stromschnellen der Barriere hinabzuschießen, sein
Canoe durch die quirlenden Wirbel von Portage de l'Jsle
hinabzuführen, es sicher durch den Strudel unterhalb Chute-
Ä-Jocko oder durch den Wasserschwall der Seven Portages
zu bringen, das heißt ein braver, gewandter Indianer sein;
denn wer das kann, muß eine Kraft in der Führung des
Ruders, eine Raschheit des Blickes und ein Bewußtsein von
Geschicklichkeit besitzen, die man erst nach Generationen bei
einem Stamme findet.
Was das Pferd dem Araber, der Hund dem Eskimo,
das Kameel dem Bewohner der Sahara, das ist das Canoe
dem Odschibway. Jeder bewaldete Strand bietet ihm stets
alles Material, was er zum Baue desselben bedarf: Cedern
für die dünnen Rippen, Birkenrinde, um sie zu bedecken,
Wachholder, die einzelnen Theile zusammenzuheften — und
Rothfichte liefert ihm Harz für die Fugen und Spalten.
Es ist nicht nur sein Boot: es ist sein Haus. Er kann es
weite Strecken von See zu See über Land tragen. Es ist
über alle Beschreibung gebrechlich und kann doch bis zum
Wasserspiegel beladen werden. Es trägt den Indianer bei
Tage, es schirmt ihn bei Nacht. In ihm steuert er kühn
in einen weiten See, dessen jenseitige Ufer er nicht sehen
kann; in ihm rudert er durch Sumpf und Morast oder über
rohrige Untiefen. In ihm sitzt er, wenn er seine Ernte von
wildem Reis einbringt, seine Fische fängt oder sein Wild
schießt.
Sechs Monate lang ist das Canoe die Heimath des
Odschibway, so lange die Wälder grün sind, das Wasser tanzt
und spritzt, so lange der wilde Reis seine graciösen Aehren
zum Seespiegel niederbeugt und die wilde Ente sich im Röh-
richt tummelt. Aber wenn der Winter kommt und Seen und
Ströme unter dem eisigen Hauche des Nordwindes starr wer-
den, wird das Canoe sorgfältig aus dem Wasser gehoben.
znd" in Nordamerika.
Mit Zweigen und Schnee bedeckt liegt es während des lan-
gen traurigen Winters, bis der wilde Schwan, der nordwärts
zum Eismeere zieht, es aus seinem langen Schlaf erweckt.
So ist das Leben des Canoes, so der Strom, auf dem
es wie ein Pfeil dahinfchießt. Wie schon erwähnt, fällt der
Winnipeg zwischen dem Lake of the Woods und dem Lake
Winnipeg um 360 Fuß, aber nicht in beständiger Neigung,
sondern in einer Reihe von Terrassen, die verschieden weit
von einander entfernt sind. Mit anderen Worten: der
Strom bildet unzählige Seen und weit ausgedehnte Buchten,
welche durch Schnellen und senkrechte Fälle von verschiedener
Höhe mit einander verbunden sind. Wenn der Reisende
z. B. sein Canoe am Fuße der Silver Falls aus dem Was-
ser nimmt und es am Anfang der Schnellen wieder hinein-
fetzt, so hat er 22 Fuß Steigung hinter sich; bei den ge-
fürchteten Seven Portages steigt er auf drei Meilen 60 Fuß.
Am Abend des fünften Tages, nachdem wir Fort Alexan-
der verlassen hatten, erreichten wir den Fuß von Rat Por-
tage, dem siebenundzwanzigsten und letzten Trageplatz auf
dem Winnipeg River. Ueber demselben dehnte sich der Lake
of the Woods, der Wäldersee, aus, welcher hier mit furcht--
barer Gewalt seine Gewässer durch eine tiefe felsige Schlucht
ergoß. Während der fünf Tage hatten wir nur zwei einzelne
Indianer getroffen, welche aber nichts von der Expedition
wußten. Nach kurzem Gespräch und einem Geschenk von
Thee und Mehl waren wir weiter gerudert.
Am Mittag des 31. Juli brachen wir vom obern Ende
des Rat Portage auf und fuhren hinein in den Lake of
the Woods. Derselbe bedeckt einen sehr großen Raum.
In der Länge mißt er ungefähr 70 Meilen, und feine größte
Breite ist ungefähr ebenso groß. Seine Ufer sind noch
wenig bekannt, und nur der Indianer kann mit Sicherheit
durch seine labyrinthischen Canäle fahren. Seine südliche
Hälfte ist ein weites, offenes Wasserbecken, dessen Oberfläche
von Stürmen zu hochgehenden Wogen gepeitscht wird. Zu
den Zeiten französischen Pelzhandels beherbergte er große
Mengen von Bibern und Mardern; aber sein Reichthum an
Pelzen ist dahin. Wenn ihn dagegen erst die Civilisation
erreicht, so wird sie an seinen Ufern und auf seinen Inseln
mächtige Metalladern finden.
Bei den Indianern ist der See hochgeehrt als Lieblings-
aufenthalt des Manitu. Die sonderbaren Felsen, die Inseln
aus weichem Pseisenstein, aus dem so viele Köpfe für Kalu-
mets geschnitten werden, die sonderbaren Erzmassen an und
in den polirten Felswänden, die so oft vom Blitz getroffenen
Inseln, auf denen es von sonst seltenen Eidechsen wimmelt,
— das Alles macht den Wäldersee zu einer Oertlichkeit,
welche in indianischen Sagen oft vorkommt. Da giebt es
Inseln, welche man nicht zw betreten wagt, weil sich der böse
Geist sie erwählt hat; da giebt es Borgebirge, wo man beim
Vorbeifahren dem Manitu Opfergaben bringen muß; da
giebt es Orte, über deren Schätze der große Kennebic oder
die Schlange wacht.
Der Theil des Sees, durch welchen wir steuerten, war
ein vollkommenes Labyrinth und Netzwerk von Inseln und
engen Canälen. Eine leichte Brise von Norden begünstigte
uns, und sanft fuhren wir über glattes Wasser längs der
felsigen Inseln dahin. Nach allen Richtungen hin öffneten
sich unzählige Canäle, bald eng und gewunden, bald gerade
und offen, aber stets mit üppig bewachsenen Ufern. Als
wir gegen Sonnenuntergang landeten, suchte ich die Inseln
ringsum zu zählen: es waren über hundert, die mein Auge
traf. Die wilde Kirsche, der Pflaumenbaum, die wilde Rose,
Himbeeren mit Farnen und Moosen allerlei Art bedeckten
jeden Fleck um mich herum und erfüllten die Luft mit Wohl-
„Das große einsame
geruch, während von den Felsen Fichte und Pappel ihre
Zweige zum Wasser herabhängen ließen.
Am zweiten Morgen, nachdem wir Rat Portage verlas-
sen, kamen wir in offenes Wasser. Ein Gewitter hatte in
der letzten Nacht den See aufgerührt; aber der Morgen war
ruhig. Plötzlich, während wir zum Frühstücken anhielten,
ging der Wind nach Nordwest herum und verhieß uns eine
rasche Fahrt über den Grande Traverse zur Mündung
des Rainy River. Rasch sprangen wir ins Canoe und
gingen nach der Grassy Portage unter Segel, eine Untiefe,
welche wir wegen des hohen Wasserstandes passiren konnten,
ohne auf den Grund zu geratheu. Jenseit derselben dehnte
sich ein weites Becken aus, dessen weißköpfige Wellen von
Westen her sich schäumend jagten. Bald wurde es so un-
gestüm, daß wir das kleine Canoe, was ich für alle Fälle
von Rat Portage aus im Schlepptau mitgenommen hatte,
an Bord nehmen mußten. Dahin jagten wir über die rol-
lenden Wogen mit einem doppelten Reff im Sturmsegel.
Weit vor uns erhob sich ein felsiger Vorsprung, der äußerste
Punkt, bei welchem wir lufwärts vorbeifegelu mußten, um
die Mündung des Rainy River zu erreichen. Wir hielten
das Boot so nahe beim Winde, als es nur gehen wollte und
sausten dahin über den schäumenden See. Unsere Abtrift
war sehr groß, und eine Zeitlang schien es zweifelhaft, ob
wir die Spitze klaren würden; als wir näher kamen, sahen
wir rings um dieselbe eine schreckliche See. So oft die Wo-
gen anschlugen, spritzte der Schaum hoch in die Luft. Der
Wind wurde immer heftiger und das schwer arbeitende Boot
bekam beständig Sturzwellen. Jetzt waren wir den Felsen
gegenüber, nur 100Uards von der Brandung ab. Plötzlich
drehte sich der Wind ein wenig oder ergriff uns die schwere
Dünung — kurz, wir begannen rasch in die Brandung hin-
eingetrieben zu werden. Die Indianer waren alle auf dem
Boden des Bootes zusammengedrängt, und ein oder zwei
Augenblicke lang konnte nichts geschehen. „'Raus mit den
Rutern!" schrie ich. Alles in Verwirrung; die langen
Ruder hinderten sich gegenseitig; Alles steht schlecht. Schließ-
lich sangen drei Ruder zu arbeiten an, aber gegen folche
See konnten sie nichts ausrichten. Wir waren dicht an den
Felsen, so dicht, daß Jeder für den Fall des Scheiterns an-
fing, Vorbereitungen zu treffen, zu — ja, wer weiß, was!
Da, zwei Ruder mehr in Arbeit; für einen Augenblick
schwebten wir in Ungewißheit über den Erfolg. Und wie sie
riemten! Ja, das war die alte Ruderei, um die Schnellen
zu besiegen. Und es fleckte! Trotz Wogen und Wind kamen
wir um die Spitze, aber nur bei einem Haar. Eine Stunde
später liefen wir durch weiten Sumpf und Morast in die
Mündung des Rainy River. Der Lake of the Woods lag
hinter uns, und vor mir 80 Meilen Riviere de la Pluie.
Fünf Meilen weiter stromauf liegt Huugery Hall, eine
kleine Außenstation der Hudsousbai-Compaguie; hier bekamen
wir die ersten Nachrichten von der sich nähernden Expedition.
Vor Sonnenuntergang begegneten wir einem stromabkom-
Menden Indianer. Als er noch ziemlich entfernt war, er-
klärten meine Leute, daß er unlängst Fort Francis verlassen
hätte, und uns darum von dort Nachricht bringen würde.
„Wie könnt Ihr das wissen?" fragte ich erstaunt. „Weil
fein Hemde noch weiß und rein ist!" Und so war es auch.
Gestern hatte er das Fort verlassen und seitdem siebzig Mei-
ind" in Nordamerika. 93
len zurückgelegt. Aber noch hatte keine Rothjacke das Fort
erreicht, und Niemand wußte, wo sie sich befänden. Also
vorwärts.
Als aber am Abend des dritten Tages eine tiefe Wind-
stille eintrat, konnte unser schweres Boot gegen den starken
Strom nur wenig Fortschritte machen. Ich stieg also mit
dreien der Leute in das kleine Canoe, welches wir zuvor über
und über mit Harz verschmiert hatten. Wir nahmen nur
für einen Tag Lebensmittel mit uns und das große Boot
sollte uns langsamer folgen.
Aber bald fing unser Canoe, welches auf den rauhen
Wellen des Wäldersees irgend einen Schaden genommen
hatte, zu lecken an. Wieder ruderten wir ans Land und
verpichten alle Fugen; trotzdem drang noch Wasser ein. Was
war zu thuu? Mir lag vor Allem daran, Fort Francis vor-
der Expedition zu erreichen.
Gerade in diesem Augenblicke stieg am rechten Ufer Rauch
auf und bald sahen wir Jndianerzelte. Zwar sagten meine
Leute, die Indianer von der amerikanischen Seite — das
linke Ufer des Rainy River gehört zu den Vereinigten Staa-
ten — seien recht böse, aber die Gewißheit, ein schlechtes
Boot zu haben, überwog die Möglichkeit, mit schlechten In-
dianern zusammenzutreffen. So landeten wir denn. Eine An-
zahl halbnackter Indianer kam herbei und gab uns für Taback
und andere Geschenke ein prachtvolles Canoe, auch getrock-
neten Stör in Menge. Weiter ging es durch Nacht und Nebel.
Zeitweilig konnten wir zur Rechten die Mündungen großer,
von Westen kommender Ströme sehen. Auf ihnen fahren die
amerikanischen Indianer herab, um im Rainy River Störe
zu fangen. Fast 200 Meilen weit gehört ihnen noch das
Land; und die Pillager- und Red-Lake-Stämme der Odschib-
way-Nation haben noch ihre Jagdgründe auf den weiten
Ebenen Nord-Minnefotas inne.
Diese Indianer haben einen schlechten Ruf, wie schon
ihr Name besagt, und meine Red-River-Leute waren sehr
besorgt, ein Zusammentreffen mit ihnen zu vermeiden; sie
geriethen in großen Schrecken, als einmal in der Nacht ein
mächtiger Stör sich auf den Bord unseres Cauoes schnellte
nnd Alle durchnäßte. In der Morgendämmerung des 4.
August erreichten wir die Chaudiere und bald darauf Fort
Francis. Noch war die Expedition nicht angelangt.
Zwei Meilen weiter durchschnitten wir die Schnellen des
Rainy River bei seinem Ausflusse aus dem gleichnamigen
See; vor uns lag seine weite Fläche.
Sonst ist das Auge eines Halbbluts oder Indianers von
merkwürdiger Schärfe: es entdeckt einen auffallenden Ge-
genstand weit eher, als das eines civilifirten Mannes. Aber
diesmal war das meinige doch schärfer. Ganz in der Ferne
erblickte es einen auffallenden Punkt. Näher und näher-
kam er: und unter dem Gesänge eines alten französischen
Liedes trieben acht Irokesen mit mächtigem Ruderschlage ein
großes Nordwest-Canoe, das erste der Expedition, dem Aus-
slusse des Sees zu. —
So weit für heute. Den Ausgang der Unternehmung
haben wir oben schon kurz angedeutet. Vielleicht begleiten
wir gelegentlich unfern unternehmenden Offizier nach Westen
zu den Rocky Mountains, in das Gebiet der Saskatchewan
und Assiniboin.
94
Die neue englische Aufnahme der Sinaihalbinsel.
Die neue englische Aufna
r. d. Kein Volk ist bekanntlich eifriger bemüht, das hei-
lige Land zu durchforschen, als das englische, welches dafUr
große Summen verwendet. Der Palestina Exploration
Fund verfügt über bedeutende Mittel, tüchtige Leute sind
von der Gesellschaft ausgesandt worden, die auch Tüchtiges
leisten und unsere Kenntniß Palästinas nicht unwesentlich
gefördert haben. Auch die Sinai Halbinsel, der Schau-
platz des Exodus des auserwählten Volks, ist von einer Ge-
sellschaft, die seit 1868 thätig war, zum Gegenstande aus-
sührlicher Untersuchungen und Aufnahmen gemacht worden,
deren Ergebnisse soeben in dem unten angeführten Werke
veröffentlicht wurden. Die zu diesem Werke gehörigen Pho-
tographien wurden indessen schon vor drei Jahren publicirt.
Die Expedition, welche im Herbste 1868 England ver-
ließ, bestand aus Capitän H. S. Palm er und Capitän
Wilson, der die Vermessung Jerusalems ausgeführt hatte.
Ihnen schlössen sich noch an der Geistliche F. W. Holland,
der Naturforscher Wyatt und der Sprachforscher und Ar-
chäolog E. H. Palmer, dessen Aufgabe es war, sinaitische
Inschriften zu sammeln. Seine Arbeit ist noch rückständig,
diejenigen der übrigen Expeditionsmitglieder liegen jetzt vor.
Betrachtet man ältere Karten der Sinaihalbinsel, die-
jenige unseres Landsmannes Rußegger, die seiner Zeit die
beste war, oder die 1868 von Holland veröffentlichte, so
fallen auf der Stelle die bedeutenden Veränderungen ins
Auge, welche ein Resultat der neuen Expedition sind, der
es auch gelang, manche bisher auf den Karten weiß gelassene
Stellen auszufüllen. Die Gegend zwischen Suez und dem
Dschebel Musa, nebst allen Hauptstraßen nach diesem und
dem Dschebel Serbal, ist völlig neu aufgenommen, und zwar
in dem bedeutenden Maßstabe von 6 Zoll auf die englische
Meile. Von den beiden genannten Bergen sind Gipsmodelle
angefertigt worden. Die Hauptkarte dagegen, welche den
ganzen westlichen, dem Golf von Suez parallel verlaufen-
den Theil der Sinaihalbinsel umfaßt, ist nur im Maßstabe
von einem halben Zoll zur englischen Meile ausgeführt.
Ein anderes Blatt umfaßt den innern Theil der Halbinsel
bis zum Dschebel elEdschmeh an der Tihwüste (vergl. „Glo-
bus" XIX. 314).
Es handelt sich bei derartigen Aufnahmen bekanntlich
immer in erster Linie, und namentlich bei den Engländern,
darum, die biblische Topographie festzustellen. Bei der
großen UnVeränderlichkeit des orientalischen Lebens läßt sich
auch, trotzdem über jene Gegenden große Völkerfluthen hin-
gegangen, sehr häufig ein in der Bibel genannter und be-
schriebener Ort heute noch mit voller Sicherheit constatiren,
während über manche andere Localitäten die Gelehrten un-
einig sind. Uneinigkeit herrscht namentlich darüber, ob der
Dschebel Musa oder, wie Lepsius will, der Serbal, der
Sinai der Bibel, der Berg der Gesetzgebung ist, auf dem
Moses mit Gott geredet. Unsere Briten sind mit dem Ser-
bal nicht einverstanden. Diejenigen, welche ihn als den hei-
ligen Berg betrachten, nehmen an, daß das Volk Israel vor
dem Berge, im Wadi Aleyat oder auf einer gedachten Ebene
zwischen diesem Thale und dem Wadi Adscheleh lagerte, in
zwei rauhen und steinigen Thälern, die vom nördlichen Ab-
hange des Serbal nach dem Wadi Feiran zu laufen. Nach
*) Ordnance Survey of the Peninsula of' Sinai. Published by
Authority of the Lord Commissioners of H. M. Treasury. Ord-
nance Survey Office, Southampton,
ime der Sinaihalbinsel *).
diesen soll Aleyat „Kalb" bedeuten und somit einen An-
klang der Verehrung des goldenen Kalbes durch die Ju-
den bewahren. Die Expedition aber zeigt, daß Wadi Aleyat
so sehr mit ungeheuren Steinblöcken erfüllt ist, daß kaum
ein Platz für das Aufschlagen von Zelten vorhanden, somit
hier am Serbal auch der Berg der Gesetzgebung nicht zu
suchen wäre. Wir gehen hier auf diese Frage nicht weiter
ein und erwähnen nur, daß auch eine Erklärung versucht
wird, wie die alten Juden in den jetzt höchst unfruchtbaren
Gegenden ihre zahlreichen Herden so lange ernähren konnten.
Zunächst werden wir da auf die noch vorhandenen Oasen
hingewiesen, die Ueberreste einer einst viel bedeutendem Ve-
getation , und dann wird gezeigt, wie die ägyptischen Berg-
lente die Wälder der Sinaihalbinsel ausrotteten, wodurch
eine Aeuderung in der Regenmenge und dadurch im Klima
und der Vegetation herbeigeführt wurde.
Der geologische Theil ist von F. W. Holland be-
arbeitet und mit einer übersichtlichen Karte versehen worden.
Nach dieser erscheint der Kern der Halbinsel als aus kry-
stallinischeu Gesteinen bestehend, die auf der Karte roh der
Figur eines Eselskopfes gleichen. Holland bezeichnet sie als
Syenit (Hornblende - Granit). Zwischen den Ohren des
Eselskopfes — um den Vergleich fortzuführen — lagert
ein Streifen metamorphischer Gesteine, welcher sich bis zum
Wadi Feiran am Dschebel Serbal ausdehnt. Zwischen den
krystallinischen Gesteinen und dem nach Süden geschwun-
genen großen Plateau der Tihwüste, die zur Kreideformation
gehört, lagert ein rother Sandstein, der nubische Sandstein
der Geologen. Nach aufgefundenen Versteinerungen muß
er zur Kohlenformation gestellt werden. Die Kreideforma-
tion der Tih bildet im Innern eine große Insel, welche nur
an einer Stelle bis zum Golf von Suez reicht. Tertiäre
Schichten umsäumen sie und die älteren Gesteine im Süden.
Endlich umzieht die ganze Halbinsel an den Ufern eine 30
bis 40 Fuß über das gegenwärtige Meeresniveau gehobene
Zone von Driftsand.
Von besonderm Interesse ist der von Capitän Wilson
bearbeitete Abschnitt über die vorhistorische Archäologie
der Sinaihalbinsel. Gruppen von Steinhäusern, oft 20
oder 30 an der Zahl, finden sich nicht selten auf den Kam-
men der Hügel und Berge; sie gleichen höchst ausfallend den
„Bothan" oder Bienenkorbhäusern der keltischen Ar-
chäologen. Sie sind im Grundrisse kreisförmig, die Mauern
erheben sich senkrecht einige Fuß hoch, worauf sie mit einer
Kuppel geschlossen sind, die durch allmälig über den Vor-
gänger vorragende Steine gebildet und mit einem größern
flachern Steine geschlossen ist. Eine kleine, nur 20 Zoll
im Geviert haltende Thür bildet den Eingang. Eine große
Anzahl dieser Hütten ist später zu Gräbern benutzt wor-
den; wann dies aber geschah, ist ungewiß; doch bestatten die
Beduinen noch heute gern ihre Todten in denselben. Auch
Steinkreise sind an verschiedenen Stellen der Halbinsel
entdeckt worden; Wilson untersuchte mehrere und hielt sie
für die Grabstätten der Bienenkorbhüttenbauer. Die Kör-
per waren zusammengezogen und aus die linke Seite gelegt,
doch zerfielen die Knochen so schnell, daß man sie nicht trans-
portiren konnte. Von Zierrathen wurden nur durchbohrte
Meermuscheln, ein Armband aus Kupfer und eine Pfeil-
spitze aus Feuerstein aufgefunden. Vielleicht ist alles dieses,
wie Wilson meint, amalekitischen Ursprungs.
Die mitgebrachten ägyptischen Stelen der Sinai-
Aus allen Erdtheilen. 95
Halbinsel wurden von Dr. Birch entziffert und beschrieben. Traditionen sammelte Palmer, welcher fand, daß sie nur in
Sie reichen von der dritten bis zur zwölften Dynastie und einzelnen Fällen selbständig sind, meist aber nur entstellte
sind theilweise älter als der Exodus. Die christlichen Ueber- Erzählungen der Bibel wiedergeben,
reste aus der Mönchszeit schildert Wilson. Die arabischen
Aus allen
Die Auswanderung aus Großbritannien und Irland.
Sie geht bekanntlich vorzugsweise nach den Vereinigten
Staaten, und das sieht man gerade jetzt in England sehr un-
gern. Ganz kürzlich ist ein Blaubuch veröffentlicht worden, das
sich mit dem Gegenstande eingehend beschäftigt. Im Jahre 1871
verließen 252,435 Auswanderer die britischen Häfen; davon
waren englische Emigranten 102,452, doppelt so viele als vor
vier Jahren; — Schotten 19,232, gleichfalls mehr als ein
Durchschnitt der letztverflossenen acht Jahre ergiebt. In diesen
ist dagegen die Auswanderung der Jrländer von damals
115,423 auf 71,067 zurückgegangen. Die Zahl der dem Aus-
lande angehörenden Auswanderer, welche sich in britischen Hä-
sen einschifften, ist dagegen von 16,942 auf 53,246 gestiegen.
Man sähe es gern, wenn die englischen Auswanderer in die
Colonien gingen. Ein „loyaler britischer Unterthan" kann
für 6 Guineen in 14 bis 17 Tagen nach Toronto in Canada
gelangen, wo etwa 40,000 Leute in jedem Jahre sehr willkom-
men wären. Aber es ist ermittelt worden, daß etwa 1 Million
Pfund Sterling alljährlich aus den Vereinigten Staaten von
früheren Auswanderern nach Großbritannien geschickt werden,
um Angehörigen ihrer Familien die Uebersiedelung zu ermög-
lichen. England giebt jährlich an dieselben ein Fünftel seines
Bevölkerungszuwachses ab, Schottland ein Drittel, Irland etwa
die Hälfte. In starkem Anwachsen dorthin ist die Einwan-
derung der Deutschen und Skandinavier. „Das ver-
dient besondere Erwägung. Es scheint, als ob der Kelte in
der amerikanischen Politik seinen Tag gehabt hat und zwar
ohne den Trost, daß er seinen Einfluß zum Guten angewandt
habe."
Und Australien. Man blicke nur auf Melbourne;
dort wo die Stadt sich erhebt, fand man vor nun 43 Jahren
nur einige Wilde und Kängeruhs; jetzt hat diese Kapitale 200,000
Einwohner, viele Prachtgebäude, schmucke Vorstädte und einen
überaus belebten Hasen. Die Colonie Victoria zählt dermalen
710,982 Einwohner, wovon 17,813 Chinesen und — nur noch
859 schwarze Eingeborene. Das Mißverhältniß in den
Geschlechtern gleicht sich aus; auf 329,016 weibliche Seelen kom-
men 381,966 männliche. Der Arbeitslohn für Handwerker stellt
sich im Durchschnitt täglich auf 10 Schilling (3 Thaler 10 Neu-
groschen), für Feldarbeiter wöchentlich 15 bis 20 Schilling; für
Schafhirten jährlich 35 bis 40 Pf. St. und Kost. Ehepaare
ohne Kinder bekommen 65 bis 80 Pf. St., mit Kindern 40
bis 55 nebst Wohnung und Beköstigung; weibliche Dienstboten
je nach ihrer Befähigung von 20 bis 45 Pf. St. jährlich. Ein
gewöhnlicher Tagelöhner bekommt täglich 6 Schilling. In der
Colonie sind noch etwa 50 Millionen Acker Landes zu verkau-
fen; ein fleißiger Arbeiter kann in 3 bis 4 Jahren so viel übrig
haben, um sich ein ganz respectables Gütchen zu kaufen; aber
die Arbeit trägt mehr ein als der Landbau und deswegen sind
1870 nur 337,506 Acres gekauft worden (für 463,820 Pf. St.).
Nach Herstellung der Telegraphenlinie bis Australien wird sich
der Verkehr sicherlich steigern.
Das Fetischwesen unter den Negern in Louisiana und
Mississippi.
Dasselbe greift immer mehr um sich; „die finsteren Mächte
haben über die fchwarzen Leute eine große Gewalt." Die Zau-
Erdtheilen.
berer und Hexenmeister üben großen Einfluß. Es erscheint auf
einer Pflanzung ein alter Neger; er hat einen Beutel, welchen
die Leute mit abergläubischer Furcht betrachten, denn in dem-
selben befinden sich Knochen, Haare, Köpfe von Eidechsen und
dergleichen Dinge mehr, welche nothwendig sind, wenn eineBe-
schwörung wirksam sein soll. Der Hexenmeister kann anderen
Negern ganz nach seinem Belieben Krankheit, Wahnsinn und
auch Tod anzaubern. Siechthum gilt für eine Folge solch einer
Wodubeschwörung, und wenn der Zauberer irgendwo erscheint,
entsteht ein allgemeiner Schrecken. Der Zaubermann versteht
seine Gaukelkünste ganz geschickt auszuüben. In St. Mary ist
einer, welcher dem Kranken, zu dem er gerufen wird, allemal
eine Eidechse aus dem Arme hervorlockt, — es darf aber Nie-
mand dabei zugegen sein, und erst nachdem das Kriechthier den
Körper verlassen hat, werden andere Leute in der Hütte zuge-
lassen, um das Wunder anzustaunen. Manchmal zaubert er
auch ganz junge Alligatoren aus dem Leibe des Kranken her-
vor. Auf amerikanischem Boden setzt sich bei den „christlichen"
Negern das urwüchsige afrikanische Fetischwesen ungeschwächt fort.
Diesen Negern hat die erhabene Staatsweisheit der radical-
republikanischen Partei das Wahl- und Stimmrecht ertheilt und
sie geben den Ausschlag! Außerdem haben sie das Recht,
Waffen zu tragen, und manche von ihnen sind geradezu wan-
dernde Arsenale. In sehr vielen Staaten wird geklagt, daß die
dreiste Unverschämtheit der Neger, die sich in der Republik Wa-
shingtons nun als Herrscher fühlen, geradezu unerträglich ge-
worden sei. Es vergeht keine Woche, in welcher nicht von da
oder dorther gemeldet würde, daß Neger an weißen Frauen
Gewaltthätigkeiten verüben, die wir nicht näher schildern können.
Die neueste Mode, solche Brutalität zu ahnden, ist die, daß
man den Verbrecher einsängt, ihn an einem Baume aufknüpft
und daß Jeder, welcher sich beim Lynchen betheiligt hat, dem
Gehängten ein paar Revolverkugeln in den Leib jagt. Wem's
beliebt, der kann dann den Strick abschneiden.
Bei einem Processe, der am 12. December 1871 zu Co-
lumbia in Südcarolina verhandelt wurde, lieferten schwarze,
also in diesem Falle unverdächtige Zeugen, den Beweis, daß
der Neger Jim Williams, welchen der weiße Gouverneur, ein
Carpetbagger, hergelaufener 'Zankeestrolch aus dem Norden, zum
Capitän bei der Miliz ernannt hatte, andere Schwarze in
ein Complot verwickeln wollte. Es handelte sich darum, „alle
weißen Leute von der Wiege an niederzumachen und
die Brandfackel gut zu gebrauchen!"
Aus der Südsee.
Die Navigatoren, dieseSamoa-Eilande, welcher wir
jüngst mehrfach erwähnt haben, find nun, wie die neuesten Be-
richte melden, von den Nordamerikanern in Besitz genom-
men worden. Der König und feine Häuptlinge haben zunächst
allerdings nur den Hafen von Paga Paga auf der Insel
Tutuila und eine zu demselben gehörige Gebietsstrecke abge-
treten, auf welcher Amerikaner Ackerbau treiben dürfen; man
weiß aber sehr wohl, was bei dergleichen Abtretungen und
Protectoraten bald hinterher kommt. Die amerikanische Flagge
wurde mit den üblichen Feierlichkeiten aufgezogen und ein vom
Könige bevollmächtigter Eingeborener nach Washington abge-
schickt, um dort den Vertrag ratisiciren zu lassen. Die erwähnte
90 Aus allen
Gebietsstrecke hat 514 Quadratmiles Flächeninhalt, und Capitän
Meade vom Kriegsschiff „Narraganset", welcher den Vertrag ab-
schloß, hat sosort einen bevollmächtigten Agenten dort gelassen.
Der König hat den Regierungen von Neuseeland und Australien
kundgethan, daß er sich des amerikanischen Protectorates erfreue.
Wir erfehen aus einem Berichte aus Wellington in
Neuseeland („Times Mail" vom 23. Juni), daß man dort
mit sehr scheelen Augen auf das Vorgehen der Amerikaner blickt;
die Neuseeländer selbst hatten Lust, eine Kohlenstation auf Tu-
tuila anzulegen; die 'Zankees sind ihnen jedoch zuvorgekommen.
Das deutsche Kriegsschiff „Nymphe" war auf den Fidfchi-
Inseln, wo fortan ein deutsches Consulat die Interessen
unserer Landsleute wahrnehmen wird.
Was Neuseeland anbetrifft, so wächst der Verkehr dieser
Insel mit der Südsee und der Nordwestküste Amerikas unge-
mein rasch. Im Jahre 1370 ging noch nicht ein einziger Ballen
neuseeländischer Wolle nach Kalifornien, 1871 und 1872
aber verschiffte der Hafen Victoria dorthin 11/2 Millionen Pfund,
im Werthe von 80,000 Pf. St.
Mit dem Straßenbau geht es rasch vorwärts und der-
selbe trägt viel mehr dazu bei, die Eingeborenen friedlich zu
stimmen, als die früheren Gewalttätigkeiten. In den letztver-
flossenen Jahren sind etwa 300 Miles Wege gebaut worden,
von den 100,000 Pf. St. Kosten haben die Maoris den größ-
ten Theil verdient. Jetzt dringen sie in die Regierung, ihnen
ihre Ländereien abzukaufen. 'Es ist eine traurige Geschichte.
„Wir wollen essen und trinken, denn morgen leben
wir nicht mehr." Das ist buchstäblich ihr Wahlspruch. Ihre
Zahl nimmt rasch ab; sie wissen es auch selber sehr wohl, daß
sie hinwegschwinden, und sie beschleunigen ihre eigene Vernichtung
noch durch den Genuß starker Getränke. Der Straßenbau giebt
ihnen Geldmittel genug an die Hand, um so viel Rum zu kau-
sen wie sie nur mögen. Jedes Tangi, Fest, wird nach der
Menge Rum geschätzt, die getrunken wird; und bei jeder Orgie
trinken sich Maoris zu Tode.
An der Westküste der Mittlern Insel sind Goldfelder in
Angriff genommen worden. Dort hat Fox dieGletfcher des
Mount Cook besucht; er schildert sie als viel großartiger und
gewaltiger als alle, welche die von ihm besuchte Schweiz auszu-
weisen habe.
Jf: * H
— Die Kukas. Ueber diese in der jüngsten Zeit vielfach
erwähnte Secte in Indien giebt die zu Allyghar in Hindui-
spräche erscheinende Zeitung folgende Nachrichten: Man nennt
sie Kukas, weil sie bei ihren Andachtsübungen sehr häufig
Koh, Koh! ausrufen. Die meisten Angehörigen der Secte ge-
hören den niedrigeren Classen an, z. B. den Zimmerleuten,
Maurern, Schmieden :c. Am stärksten sind sie im südwestlichen
Theile des Pendschab vertreten und im Ganzen mögen sie bis
zu drei Laks (d.h. 300,000)Köpfe zählen. Man erstaunt billig
und begreift nicht wohl, wie ein Mann (der Stifter) von fo
geringen Fähigkeiten in kurzer Zeit eine so beträchtliche Menge
von Anhängern finden konnte. Die armen christlichen Missio-
näre würden trotz ihrer unermüdlichen Arbeiten und ihrer Civi-
lifation in einem ganzen Jahrhundert auch nicht den hundert-
sten Theil so viel zusammenbringen können. Die Kukas haben
keine Sympathie mit Leuten, die einer andern Religion ange-
hören, n^cht einmal mit den Sikhs, obwohl sie behaupten, eine
Unterabtheilung derselben zu sein. Ihre Begrüßungsformel,
welche sie oft auch als Ausruf hören lassen, lautet Akal Pu-
rusch, d. h. Gott ohne Zerstörung; dieselbe wird auch von
Erdth eilen.
anderen Sikhs gebraucht. Im Allgemeinen hält man die Kukas
sür gesellig, gastsrei, und unter einander leben sie sehr ver-
träglich. An der bekannten Meuterei — welche von Cowan
und Forsyth so grausam bestraft wurde — sind, wie sie be-
haupten, einige schlechte Menschen schuld gewesen, dergleichen ja
auch bei den Bekennern anderer Religionen nicht fehlen. Die
Masse der Kukas, die aus friedlichen Arbeitern besteht, hatte
von dem Anschlage gar keine Kunde, war vielmehr sehr ent-
rüstet darüber. Sie leben einfach und verwerfen alle Pomp-
haften Ceremonien der Hindus, z. B. bei Geburten, Heirathen
und Begräbnissen; bei derartigen Gelegenheiten hat auch kein
Priester etwas zu schaffen. Die Hand der Braut wird in jene
des Bräutigams gelegt und der Vater des Mädchens giebt einige
Kleider und messingene Töpfe als Hochzeitsgeschenk. In Betreff
der Leichenbeftattung gilt keine feste Regel; Einige begraben
ihre Todten, Andere verbrennen sie und noch Andere machen es
wie die Parsis, sie fetzen den Todten an irgend einer ablegenen
Stelle aus.
— Der bekannte Graf Shaftesbury, welcher alsFröm-
migkeitsphilanthrop sich in außerordentlich viele Dinge mischt,
hat jüngst auch den Geologen eine neue Entdeckung verkündigt.
In einer Versammlung in der Londoner Exeter Hall, in welcher
Jahr für Jahr fo viele feltfame Sachen zum Besten gegeben
werden, erklärte Shaftesbury: „Ich habe mit hervorragenden
Männern der Wissenschaft eingehende Besprechungen gehabt und
bin von denselben ermächtigt worden, Folgendes zu erklären:
England ist lediglich der Deckel auf einem großen
Feuerbrunnen, und zu jeder beliebigen Zeit kann es sich er-
eignen, daß die ganze Oberfläche der Insel einstürzt und dann
ist sie weiter nichts mehr als ein ungeheurer feuerspeiender
Vulcan." Der Ausbruch kann verzögert werden, wenn die Men-
schen stark, standhaft und fest im orthodoxen Glauben sind.
— Am Rio Gila, Territorium Arizona, hat man Sil-
ber gefunden; die Gruben find schon im Januar in Angriff
genommen worden. Bei den Bauten, welche bei St. Joseph
an der Brücke über den Missouri vorgenommen wurden, san-
den die Arbeiter 43 Fuß unter der Oberfläche goldführenden
Quarz und fehr schöne Amethyste.
— Große Kälte und Hitze. Zu Tobolsk in Sibirien
stieg im Januar die Kälte auf — 40" Reaumur. Genau um
dieselbe Zeit hatte man in Australien eine außergewöhnliche
Hitze. Aus Adelaide wird gemeldet, daß die Temperatur zwölf
Tage und eben so viele Nächte hindurch niemals niedriger als
82° F war, aber vielfach 108° F. im Schatten. An ein kaltes
Bad war nicht zu denken, indem die Temperatur der Wasser-
leitung auf 79° gestiegen war. — Ueberhaupt will man gegen-
wärtig vielfach einen Wechsel im Klima bemerkt haben. In
den Vereinigten Staaten von Nordamerika dauerte der verflos-
sene Winter ungewöhnlich lange; er begann schon mit Schnee
und Eis im November und hielt an bis in den März. Seit
etwa 20 Jahren beginnt er srüher und endigt später. In den
mittleren atlantischen Staaten hatte man sonst Winter ohne
tüchtigen Frost und fast ohne bedeutenden Schneefall in der Ge-
staderegion. Italien hat jetzt mehr Frost und Schnee als ehe-
mals. In Ostindien hatte man um Weihnachten zollhohen
Schnee, und zu Schanghai in China lief man an den Weih-
nachtstagen Schlittschuh und trug Pelzkleider. Es ist Sache
der Meteorologen, die Ursachen dieser klimatischen Erscheinungen
zu ergründen. —
In der ersten Woche des Juli wurden in der Stadt Neuyork
mehr als 1000 Personen vom Sonnenstiche befallen.
Inhalt: Skizzen aus Ostindien. I. (Mit drei Abbildungen.) — Megalithische Denkmale und die Steinbauten der
Khafsias. (Mit einer Abbildung.) — Völkerskizzen aus dem Gebiete des Bachr el Ghasal. Von Dr. Georg Schweinfurth. II.
Die Heimath und Verbreitung der Cholera. II. — „Das große einsame Land" in Nordamerika. II. — Die neue englische
Aufnahme der Sinaihalbinsel. — Aus allen Erdtheilen: Die Auswanderung aus Großbritannien und Irland. — Das Fetisch-
wesen unter den Negern in Louisiana und Misfifsippi. — Aus der Südsee. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Band XXII.
Iii iicfoitdmr Herücksirlltigung der A»tlrroj»ol>iigic und Ätlinologie.
Verbindung mit Fachmännern itnb Künstlern herausgegeben von
Karl A n d r e e.
ÄUgU^! Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweil der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1872.
Skizzen aus Ostindien.
II. Nach T s ch i t t o r e und A d s ch m i r.
Indische Geleitsbriefe. — Habsucht der Brahmanen. — Ihr Grundbesitz; wirtschaftliche Nachtheile. — Tschittore; der Chirat
Chumb als Siegesdenkmal. — Beim Radscha von Bunera. — Nassirabad. — In Adschmir. — Die Bazare. — Grabmal des
Chodscha Seid. — Wunderthaten dieses Heiligen.
Europäische Reisende, welche am Hofe indischer Fürsten
als Gäste behandelt worden sind, erhalten von denselben Ge-
leitsbriese. Der Rana von Udäpnr schickte solche Purwanas
an die Herren Schaumburg und Ronsselet durch zwei Har-
karas, Boten. Diese Schreiben waren gerichtet an die
Thaknrs, Barone, und die Kotwals, Stadtcommandanten,
und die Patels, Dorfschulzen. Sie Alle wurden angewiesen,
die Freunde und Gäste des Rana mit Respect zu behandeln
und ihnen unentgeltlich den Rassad zu liefern, d. h. die
erforderlichen Träger und Nahrungsmittel für sie und ihr
Gefolge. Im vorliegenden Falle war außerdem Hinzuge-
fügt worden, daß man den Sahibs alle Merkwürdigkeiten
zeigen und ihnen genaue Auskunft über Sitten, Gebräuche
und Volkssagen mittheilen solle.
Die Reisenden schlugen den Weg nach Tschittore ein
und zogen durch ein fruchtbares Land, das aber in Folge
früherer Kriege noch an sehr vielen Stellen von Waldgestrüpp
überwuchert ist. Die Dörfer, welche in den angebaneten
Gegenden liegen, sind wohlhabend; sobald die Fremden sich
näherten, kamen die Landleute herbei, um sie zu begrüßen,
und die Frauen sangen, nach altem Brauche, den Knllns.
Wie anderwärts in der Welt, so ist anch in den Radsch-
Putenstaaten das Pfaffenthum eine wahre Landplage und ein
Unheil für das Volk. Dort befindet sich mindestens der
fünfte Theil alles Grundes und Bodens im Besitze der
Globus XXII. Nr. 7. (August 1872.)
Brahmanen. Seit Jahrhunderten haben sie, von Gene-
ration zu Generation, mehr und mehr Land an sich, in ihre
todte Hand gebracht und lassen nichts davon wieder fahren.
Schon die Gesetze Mauu's empfehlen echt pfäfsisch den Für-
sten, noch vor ihrem Tode ihr persönliches Eigenthum den
Priestern zu vermachen; und sie bedrohen Jeden, welcher
den Priestern ein Stück Land wegnehme, mit einer unfläti-
gen Strafe. Er soll nämlich 60,000 Jahre im Leibe eines
von Excrementen lebenden Wurmes verbleiben! Die Könige,
die ja „selig" werden wollten, ließen sich von den Brahma-
Pfaffen einschüchtern und bethören; jeder gab diesen habsüch-
tigen Harpyen Land. So ist es gekommen, daß in Mewar
der fünfte Theil aller Einnahmen an die Brahmanen geht,
und der König wagt nicht einmal, solche Ländereien, die seit
langen, lieben Jahren unbenutzt da liegen, auf welche aber
die Geistlichkeit Ansprüche macht, den Bauern zum Anbau
zu überweisen. So gehören z. B. zur Gemeinde Mainas
5000 Bigahs, etwa 6400 Hektaren Ackerland, von welchen
mehr als 3000 brach liegen.
Uebrigens passen schon seit längerer Zeit die britischen
Behörden den geistlichen Gaunern scharf auf die Finger.
Es ist von ihnen ermittelt worden, daß die Brahmanen viel-
fach betrügerische Mittel anwenden, um ihre Besitztümer
zu vermehren und die rechtmäßigen Eigenthümer schamlos
zu berauben. Eines von ihren Manövern besteht darin, daß
13
98 Skizzen aus
sie unter großem kirchlichen Pompe oxydirte Kupferplatten
ausgraben, welche sie vor einiger Zeit heimlich eingescharrt
haben. Zum allgemeinen Erstannen der Bauern, welche
beraubt werden sollen, liest man dann auf den Inschriften
dieser Platten, daß Gott Krischna oder irgend ein anderer
Ostindien.
mythologischer Heros vor 2000 oder 3000 Jahren die und
die Grundstücke der Geistlichkeit geschenkt habe. Die der-
maligen Eigenthümer werden als Usurpatoren ihres Besitzes
für verlustig erklärt, und die Brahmanen nehmen Besitz von
dem, was sie durch ihre Schurkereien sich aneignen. In
Der Chirat Chuinb in Tschittore.
den englischen Besitzungen ist ihnen Übrigens in dieser Be-
ziehung das schnöde Handwerk gelegt worden und die Bauern
behalten ihre Felder.
In Mainar kam Rousselet mit den reichen Brahmanen
in Streit. Sie weigerten sich, den Geleitsbrief des Königs
zu respectiren und wollten weder Lebensmittel noch Vieh-
futter geben. Die Reisenden gingen sofort mit ihren bewaff-
neten Begleitern in das Dorf. „Dort fand ich in dem
Ortsvorsteher einen feisten Brahmanen; er benahm sich sehr
heilig und überaus unverschämt und verlangte, daß ich mein
Lager eine Wegstunde von seinem Orte entfernt aufschlagen
sollte; in diesem Falle werde er sich vielleicht herbeilassen,
mir einige Lebensmittel zu liesern. Ich entgegnete, daß der
König sein ungehorsames Benehmen erfahren solle. Da
Skizzen ai
sprang er wild und wüthend auf und fuchtelte mit seinem
eisenbeschlagenen Bambusstocke über meinem Kopse herum.
Nun war meine Geduld zu Ende; ich versetzte ihm einen
derben Schlag mit der Faust und warf ihn so unsanft zu
Boden, daß er zwischen seinen Genossen sich umherwälzte.
Gleichzeitig gab ich meinen bewaffneten Begleitern, den
Sowars, Befehl, Lebensmittel und sonstige Vorräthe zu neh-
men, wo sie dergleichen fänden. Die Herren Brahmanen
waren völlig verblüfft; meine Kosacken thaten, wie ich ihnen
befohlen, und nach einer halben Stunde hatten wir Milch,
Mehl und Heu in Menge. Uebrigens ließ ich ein Ver-
zeichniß über Alles aufnehmen und dem Brahmanen ein-
händigen; er kam am Abend zu uns und bat um Entschul-
bigung!"
Tschittore, die frühere Hauptstadt des Königreichs
Mewar, ist eine berühmte Festung und einige Jahrhnn-
derte lang Schutzwall der Hindus gegen die Mohammedaner
gewesen. Die natürlichen Vortheile ihrer Lage auf einem
steil abfallenden Berge sind durch Fortisicationsarbeiten noch
erhöht worden, und Wasser ist oben in Menge vorhanden.
Die Stadt selbst hat mehrere prächtige Tempel, darunter
einen, welcher der Tulsi Bhawani, dieser Schutzgöttin der
Schreiber, gewidmet ist. An einem der großen Sammel-
decken, welche als Wasserbehälter dienen und das als Son-
nenquelle, Surya Chnnd, bezeichnet wird, steht das berühm-
teste Denkmal, derChirat Chumb (Kheerut Khoomb), der
Siegerthurm Chumb's. Der Rana, welcher diesen
Namen führte, ließ ihn errichten zum Angedenken eines Sie-
ges, welchen er über die vereinigten Heere der Sultane von
Malwa und Guzerat erfocht. Der viereckige Thurm hat
37 Meter Höhe; jede Seite hat an der Basis 10, unterhalb
der Kuppel 5 Meter Breite. Das Gebäude hat neun Ge-
schösse und ist innen wie außen mit vielen Statuen und Or-
namenten verziert; das ganze indische Pantheon ist dort ver-
treten. Das neunte Geschoß gleicht einer Laterne unter
einer Kuppel. In diesem luftigen Gemache war auf Mar-
morplatten die Genealogie des Königshauses geschildert; sie
sind von den Mohammedanern bis auf einige wenige Reste
zertrümmert worden. Die Erbauung des Thurmes soll 90
Laks Rupien gekostet haben.
Auf der Straße, die von Tschittore nach Adschmir führt,
liegt Hamigarh, Hauptstadt eines der großen Vasallen,
der Omras; er stammt aus dem Clan der Sesudias, wel-
chem auch der König angehört, und führt den Titel Baba,
Infant. Weiterhin gelangt man an den Bunas, einen
der beträchtlichsten Flüsse in Mewar, der aber jetzt im März
zum großen Theil trocken lag. In der Nähe liegt Bhil-
wara, das seit 1820 durch die Bemühungen derEngländer
eine aufblühende Handelsstadt geworden ist. Auf schlechten
Wegen gelangt man von dort in etwa sechs Stunden nach
Bunera, einer hübschen Stadt an einem malerischen See.
Dort hielten die Reisenden einen Rasttag. Der dortige Rad-
scha ist einer der größten Vasallen des Rana und stammt
gleichfalls vom Clan der Sesudias ab; aber deu Radscha-
titel haben seine Vorfahren vom Großmogul erhalten.
Der Radscha ließ durch seinen Kam dar, Minister und
Hofagenten, seinen Besuch anmelden und erschien etwa eine
Stunde später bei den Zelten, wo er vom Pferde stieg. Nach
altem Brauch umarmte er die Europäer und trat ins Zelt.
Von dort begleiteten sie ihn in seinen stattlichen Marmor-
Palast, wo sie bis spät Abends verweilten. Am andern Tage
wurde eine Jagd auf Wildschweine veranstaltet und nach
Beendigung derselben fehlten Tanz und Gesang der Baya-
deren nicht. Ronffelet bemerkt, daß in Bunera dieselbe Eti-
kette beobachtet wird, wie am Königshofe zu Udäpur; er
spricht mit Anerkennung über das wahrhaft noble Auftreten
Ostindien. 99
des Radscha und über das höfliche Betragen der Radfchputen
überhaupt.
Der nördliche Theil von Mewar bietet mit seinen bäum-
losen Ebenen einen unangenehmen Anblick dar; armselige
Dörfer liegen in weiten Zwischenräumen. Im Juli freilich
ist dort Alles grün, aber aufzuhelfen wäre dieser Gegend
nur durch ein ausgedehntes System von Bewässerungs-
canälen.
Zwischen den Besitzungen des Rana von Udäpur und
Adschmir bildet der Fluß Kahri Nadi die Grenze. Diese
Provinz ist der einzige Theil von Nadschputana, welcher dem
britischen Gebiet, seit 1818, einverleibt ist. Nachdem sie
einst den Großmoguls unterworfen war, kam sie nach Zer-
stückelnng des Kaiserreiches an die Maharattenkönige von
Gwalior, welche sie den Engländern überlassen mußten.
Aus der Mogulzeit sind noch viele Pirs vorhanden, in wel-
chen einst mohammedanische Heilige gewohnt haben. Nas-
sirabad ist eine wichtige Militärstation der Engländer; sie
liegt etwa viertehalb deutsche Meilen von Adschmir entfernt,
wohin man durch eiue augenehme Landschaft kommt; die
Arawaliberge sind in der Nähe, und in den Schluchten be-
merkt man riesige Cactnspslanzen, welche förmliche Wälder
bilden; auf den Hochflächen stehen Akazien, und dort ge-
wahrten die Reisenden eine unzählige Menge von Feldhüh-
nern und am Rande der Gehölze sehr viele Pfauen. Als
sie um einen Bergvorsprung ritten, hatten sie einen prächti-
gen Anblick auf die Stadt Adschmir und ihre berühmte Fe-
stung Tiragarh. Die weißen Gebäude heben sich aus einem
dichten Kranze üppigen Grüns empor; die Felder waren
mit blühenden Rosensträuchen und Verbeuen wie bedeckt; die
Blumen liefern den Stoff zn dem berühmten Attar, diesem
duftigsten aller orientalischen Wohlgerüche.
Wer durch das Thor anreitet, gelangt in den Bazar,
welcher auf den ersten Blick an jenen von Kairo erinnert.
Hier fanden die Reifenden keinen gastfreien Rana oder Rad-
scha, und nicht einmal einen Bangalow, weil Fremde selten
nach Adschmir kommen. Zwar hatten sie Einführungsbriefe
au den Gouverneur der Provinz, aber sie nahmen Anstand,
ihn mit ihrem Gefolge von etwa fünfzig Mann heimzusuchen.
Deshalb wandten sie sich, wie ihnen schon in Udäpur ge-
rathen worden war, an den Bankier Seth Pertab Mnll.
Sie wurden von dessen Dienerschaft sehr aufmerksam empfan-
gen und der Herr selber stellte in liebenswürdiger Weise
ihnen sofort eins seiner Gebäude zur Verfügung. „Nach
einer halben Stuude schon wohnten wir in einem reizenden
Häuschen in der Vorstadt, fern vom Geräusch der Bazare,
und hatten eine Anzahl aufmerksamer Diener zu unserer
Verfügung. Im Garten dufteten die Blüthen der Orangen-
und Citroueubäume. Die Granatbäume prangten in Herr-
lichem Roth und auch Springbrunnen fehlten nicht."
Jetzt konnten die Reisenden die Geleitsmänner heim-
schicken, welche der Rana von Udäpur ihnen beigegeben hatte.
Der Gouverneur, Major Davidson, stellte ihnen Wagen
und Pferde zu Gebot und förderte sie freundlich bei ihren
wissenschaftlichen Forschungen.
Adschmir, eine alte Stadt, ist in den ersten Jahrhnn-
derten unserer Zeitrechnung gegründet worden vom Tschohan
Adscha Pal. Der Ueberlieferung zufolge war er Hirt, bauete
die Festung, unterwarf das umliegende Land und wurde sehr
mächtig. Daher der Name der Stadt: Ad scha mir, Berg
der Hirten, oder Adschi mir, unbezwingbarer Berg. Unter
Akbar dem Großen, im Jahre 1569, wurde sie mit dem
Reiche der Großmogule vereinigt; diese verweilten oft und
gern dort, weil Lage und Klima vortrefflich sind. Sie
baneten in Stadt und Umgegend Paläste und hielten Seen
und Teiche in guter Ordnung.
13 *
Skizzen aus
Nächst Dschäpur hat Adschmir die schönsten Bazare im
ganzen Nadschputenlande, und von Seiten der Engländer
ist für dieselben viel geschehen. Die Straßen derselben sind
breit und mit bequemen Seitenwegen versehen. Das Erd-
geschoß der Häuser besteht aus Kaufläden, das obere Geschoß
hat einen Balcon und Verandas, und im Allgemeinen bietet
Ostindien. 101
die Stadt „einen koketten Anblick" dar. Aber neben den drei-
ten Bazarstraßen, welche ein Werk der Engländer sind, findet
man ein buntes und höchst malerisches Durcheinander von
engen und gewundenen Budengassen, in denen eine lär-
mende Menge sich drängt. Dort würde ein Genremaler
eine überaus reiche Fülle von Stoffen für Bleistift und Pin-
Der Bazar
sel finden, denn keine andere Stadt des Orientes, nicht ein-
mal Kairo, gewährt einen origineller:: Anblick. In den nur
ein paar Schritte breiten Gassen drängen sich Leute aus den
verschiedenen indischen Völkerschaften, und man findet Waa-
ren aus allen Himmelsgegenden aufgespeichert. Tagtäglich
schlenderte ich, sagt Rousselet, allein in diesen Bazaren um-
in Adschmir.
her und traf stets auf Neues, das mich überraschte. Ich
blieb vor den Buden stehen und unterhielt mich mit deu
Verkäufern, die ich stets freundlich und höflich fand. Da
sitzt der Juwelier, ein Mann, welcher zur Brahmiueukaste
gehört, auf dem Auslegebrette; er trägt die geweihete Schnur
der Wiedergeborenen; sein Oberleib ist unbekleidet, aber er
102 Müller's k
hat eine gewaltige Brille, welche für die äußere Würde
eines ciselirenden Goldschmiedemeisters unentbehrlich zu sein
scheint; im Innern der Bude modelliren und schmieden seine
Söhne edles Metall. Als ich ihn begrüße, nimmt er seine
Brille ab und holt aus einem eisernen Koffer allerlei Schmuck-
fachen hervor, erklärt mir die Art und Weise, wie sie ver-
fertigt werden, und ich wähle einige Kleinigkeiten aus. Ne-
beu seiner Bude ist die eines Künstlers, der nur Armbänder
verfertigt; er ist ein Baniane aus Marwar, doch befassen
sich auch Mohammedaner mit dieser Fabrikation. Seine
Frau probirt den Käuferinnen die Arbeiten an, und dieser
Schmuck findet großen Absatz, da Mädchen und Frauen ihn
tragen.
Da finde ich auch Jnstrumentenmacher. Sie verfertigen
eine Art großer Guitarren, Violas und Tamtams; die Kef-
selschmiede sitzen inmitten eines wahren Berges von allerlei
kupfernen Geräthen, von der kleinen Lota, welche zu religiö-
sen Abwaschungen dient, bis zum großen Kessel, der drei
Fuß und mehr im Durchmesser hat. Schuhmacher, Färber
und Töpfer nehmen ganze Budenreihen ein; sie haben be-
greiflicherweise nicht das vornehme Gepräge des Bazars, auf
welchem Kleiderstoffe feil geboten werden. Hier sind die
Buden äußerst sauber und gut beleuchtet; der Kaufmann
sitzt auf blendend weißen Kissen und harrt mit ruhiger Würde
der Kunden, während sein Handlungsdiener auf einem nn-
endlich langen Papierstreifen Zahlen kritzelt. Zu dem allen
kommen die wandernden Kleinverkänfer, welche Hausiren
gehen und ihre Siebensachen laut ausrufen: Kugeln aus
Milch und Zucker geknetet, Grünzeug, Messer und Scheren,
Betel, kurz alle möglichen Dinge.
Die im Allgemeinen recht hübschen Frauen sind keines-
wegs furchtsam und verhüllen sich das Gesicht nicht; sie
scheinen sich ganz frei und zwanglos bewegen zu dürfen. Die
Mische Physik.
Mohammedanerinnen erkennt man an den eng anschließen-
den Beinkleidern, und das ist, da die Männer so eifersüchtig
sind, allerdings eine auffallende Tracht; die Hindufrauen
nehmen sich mit ihrer Kangra, einem kurzen Röckchen, und
der Sarri, Schärpe, recht anmuthig aus. —
Unter den Denkmälern haben einige sür die Mohamme-
daner großen Werth, und eins derselben wird von den iudi-
fchen Muselmännern wie eine Art Mekka betrachtet. Es
ist das Durga des Chodscha Seid, welches das Grab
dieses Heiligen enthält. Er war der erste Missionär, wel-
cher den Ungläubigen in Adschmir jene einzig wahre Lehre
predigte, die im Koran enthalten ist, und kam aus der
persischen Landschaft Sedschistan, wo er im Jahre 527 der
Hedfchra das Licht der Welt erblickte, im Gefolge des Erobe-
rers Kutub. Er wurde 108 Jahre alt; sein ganzes langes
Leben war der Frömmigkeit gewidmet, und er hat eine über-
aus große Menge von Wundern gethan. Der Großmogul
Dfchehaugir hat ihm 1610 das prächtige Mausoleum bauen
lassen.
Im Durga wird das Ursa Kadir Walla abgehalten,
ein großes religiöses Fest, zu welchem Hunderttausende von
Wallfahrern aus allen Gegenden Asiens herbeiströmen. Je-
der bittet sich vom Heiligen eine Guust und Gnade aus;
manche sind so dreist, daß sie ihn um Geld angehen. Es
gehört auch unter die Wunder, daß Chodscha Seid in seinem
Grabe fortlebt und Handlungen verrichten kann, wie ein
Menfch, der sich auf der Oberwelt bewegt. Wem er wohl
will, dem stellt er Anweisungen aus, die er mit seinem Na-
men unterzeichnet; sie sind an reiche Bankiers in verschie-
denen indischen Städten gerichtet, und der Respect vor dem
erzheiligen todten und doch lebenden Wundermann ist so
groß, daß sie unweigerlich honorirt werden. Der blinde
Aberglaube bewirkt viele Wunder selbst bei Geldleuten.
Müller's
Es giebt Bücher, denen der Sachverständige es schon
äußerlich nach kurzem Durchblättern ansieht, daß sie etwas
Werth sind. Sein Auge kann der Glanz nicht bestechen, den
mancher Liebhaber über ein auf seine eigenen Kosten gedruckt
tes Buch ausschüttet; er weiß zu unterscheiden zwischen Flit-
terpntz und gediegenem Schmuck, der unwillkürlich aus dem
Texte hervorgeht. Das letztere ist nun im hohen Grade bei
dem vorliegenden Musterwerke der Fall, und da das Aeußere
eines Buches uns allemal zuerst fesselt, so mag auch von
diesem hier zunächst die Rede sein. Man ist schönen Druck,
kräftiges Papier und gute Holzstiche bei allen Erzeugnissen
des Meweg'schen Verlages ohnehin gewöhnt, und darüber
brauchen wir kein Wort zu verlieren. Bei dem vorliegen-
den sowie anderen Werken dieses Verlegers tritt uns aber
eine äußerst splendide Verwendung des Farbendrucks im
Texte selbst entgegen, die nicht wenig dazu beiträgt, das Ver-
*) Lehrbuch der kosmischen Physik von Dr. Joh. Müller. Zu-
gleich als dritter Band zu sämmtlicheu Auflagen von Müller-Pouillet's
Lehrbuch der Physik. Mit 385 in den Text eingedruckten Holz-
stichen und 25 dem Terte beigegebenen, sowie einem Atlas von 40
zum Theil in Farbendruck ausgeführten Tafeln. Dritte umge-
arbeitete und vermehrte Auflage.' Braunschweig, Friedrich Vkweg
und Sohn. 1872.
Physik *).
ständniß zu heben. In unserer Jugend fanden wir das
Spectrum nur schwarz dargestellt, seine verschiedenen Farben
waren durch verschiedene Schrafsirungen angedeutet; hier
aber leuchtet es uns zwischen den schwarzen Lettern in allen
Regenbogenfarben entgegen. Wir finden dreifarbige Kart-
chen mitten im Texte, und schlagen wir gar erst den schönen
Atlas des Werkes auf, so erfreut sich das Auge an den ver-
fchiedensten Leistungen des Farbendrucks. Die Sonnenpro-
tuberanzen, Nordlichter, Luftspiegelungen prangen hier in
wahrhaft leuchtender Pracht, und jede einzelne Tafel kenn-
zeichnet für sich einen Fortschritt der Typographie. Diese
Verbesserungen sind aber alle erst allmälig eingeführt wor-
den, sie wuchsen mit dem berühmten Werke selbst, das, fast
einzig in seiner Art dastehend, durch die dritte Auflage be-
weist, wie gediegen es ist. Im Jahre 1856 schickte der Ver-
fasser, Professor der Physik an der Universität zu Freiburg
im Breisgau, seine damals weit geringem Umfang zeigende
Arbeit zum ersten Male in die Welt. Angeregt durch Hum-
boldt's „Kosmos", hatte er ein Werk geschafft, in welchem
die Physik des Himmels und der Erdkugel systematisch
zusammengestellt waren, und zwar hielt er, bei aller Gründ-
lichkeit, sein Astronomie, physikalische Geographie und Me-
teorologie umfassendes Werk populär.
Müller's kosmische Physik.
103
Wir können für unsere Zwecke hier das erste und zweite
Buch der kosmischen Physik, in denen die Astronomie und
die Lichterscheinungen der Himmelskörper wie in der Atmo-
sphäre besprochen werden, übergehen. Uns liegt das dritte
Buch näher, das die kalorischen Erscheinungen aus der Erd-
oberfläche und in der Atmosphäre behandelt, und innerhalb
dieses Abschnittes ist es die Meteorologie und das Luftmeer
mit seinen Strömungen, deuen wir uns zuwenden wollen.
Die Meteorologie, so vielfach in das praktische Leben
eingreifend, ist, namentlich auch in Deutschland, zu einer
ungemein gediegenen Wissenschaft entwickelt worden, und doch
fällt ein Vergleich dieser Wissenschaft, die mit der Unter-
suchung der Witterungserscheinungen und den damit ver-
knüpften atmosphärischen Phänomenen sich beschäftigt, mit
der Astronomie sehr zu Ungunsten der Meteorologie aus.
Aus Jahrzehnte, ja Jahrhunderte voraus kann man den
Augenblick berechnen, wo eine Sonnen- oder Mondfinsterniß
beginnen und aufhören wird. Mit gleicher Sicherheit kann
man die Stelle am Himmelsgewölbe voraus bestimmen, an
welcher ein Planet an einem bestimmten Zeitpunkte stehen
wird, so daß man jetzt
ein Fernrohr so auszu-
stellen im Stande ist,
daß ein bestimmter Pla-
net nach zehn, ja nach
hundert Jahren an ei-
nem bestimmten Tage,
zu einer bestimmten
Stunde das Gesichtsfeld
des Fernrohrs pafsiren
muß. Dagegen ist es
meist unmöglich, die
Witterung nur auf we-
nige Tage, oft auch nur
auf wenige Stunden mit
Sicherheit voraus zu bc-
stimmen. Wie vielerlei
ist aber hierbei auch in
Betracht zu ziehen: die
Erwärmung der Erd-
oberfläche durch die Son
nenstrahlen, die Zonen,
die Jahreszeiten, die
täglichen Variationen der
Lufttemperatur, locale
Verhältnisse u. s. w. kommen dabei in Frage. Der Ver-
fasser führt das Alles nach einander aus und wendet sich
dann der Lehre vou den Isothermen zu, wobei zahlreiche
Tabellen und Karten die Anschauung unterstützen. Hier
ein Beispiel, wie er Jsothereu und Jsochimenen behandelt.
Um die Wärmeverhältnisse eines Landes zu kennen, muß
man außer der Mittlern Jahrestemperatur auch noch wissen,
wie sich die Wärme auf die verschiedenen Jahreszeiten ver-
theilt. Diese Vertheilnng kann man auf einer Isothermen-
karte nach Humboldt's Beispiel dadurch andeuten, daß man
an den verschiedenen Stellen einer nich derselben Isotherme
die mittlere Sommertemperatur des entsprechenden Ortes
über, die entsprechende Wintertemperatur aber unter die Curve
setzt.
Eine sehr gute Uebersicht in Beziehung auf die Ver-
theiluug der Wärme zwischen Winter und Som-
mer gewährt eine Karte, in welcher man alle Orte durch
Curveu verbindet, welche gleiche mittlere Wintertemperatur
haben, und dann wieder diejenigen, für welche die mittlere
Sommertemperatnr gleich ist. Die Linien gleicher mittlerer
Sommertemperatur heißen Jsotheren, die Linien gleicher
Isotherm- und Jsochimenenkarte Europa
mittlerer Wintertemperatur heißen Jsochimenen. Die
Figur stellt ein Kärtchen von Europa mit den Jsotheren
und Jsochimenen von 4 zu 4 Grad dar.
Die ausgezogenen Curven sind die Jsochimenen, die
punktirten sind die Jsotheren. Man sieht aus dieser Karte
leicht, daß die Westküste des südlichen Theils von Norwegen,
Dänemark, ein Theil von Böhmen und Ungarn, Siebenbür-
gen, Bessarabien und die Südspitze der Halbinsel Krim
gleiche mittlere Wintertemperatur von 0" haben. Böhmen
hat aber gleichen Sommer mit dem Ausfluß der Garoune,
und in der Krim ist der Sommer noch weit wärmer. Dnb-
lin hat eine gleiche mittlere Wintertemperatur, nämlich 4°,
mit Nantes, Oberitalien und Konstantinopel, und gleiche
Sommerwärme von 12° mit Drontheim und Finnland.
Die Jsothere von 16° geht vom Ausfluß der Garonne
ungefähr über Straßburg und Würzburg nach Böhmen, der
Ukraine, dem Lande der douischen Kosacken, und geht etwas
nördlich vom Kaspischen Meere vorbei; wie ungleich aber
ist die mittlere Wintertemperatur an verschiedenen Orten
dieser Jsotheren! An der Westküste von Frankreich ist sie
4°, in Böhmen 0",
in der Ukraine — 4°
und etwas nördlich vom
Kaspischen Meere gar
— 8«.
Der Verfasser behan-
delt dann die jährlichen
Variationen derLufttem-
Peratur und die ther-
mischen Jsanoma-
len, d. h. die auf einer
Karte gezogenen Cur-
ven, welche eine Reihe
von Orten mit einander
verbinden, denen eine
gleiche thermische Ano-
malie zukommt; unter
letzterer aber versteht
man die Differenz zwi-
schen der Mittlern Tem-
Peratur eines Ortes und
der Normaltemperatur
seines Parallels. Es
folgt eine Abhandlung
über Land- und See-
klima, reich illustrirt durch schlagende Beispiele und Ge-
gensätze. Bekanntlich ist die Temperatur der Meeresober-
fläche eine weit gleichförmigere als die des Landes; fowohl
die täglichen als auch die jährlichen Temperaturfchwankun-
gen sind auf dem Meere geringer, als in der Mitte der
großen Continente, und dadurch ist gerade der Unterschied
zwischen Land> und Seeklima bedingt, welcher dadurch größer
wird, daß an den Küsten der nördlich gelegenen Länder der
Himmel meist bedeckt ist, was sowohl den wärmenden Ein-
fluß der Sonnenstrahlen im Sommer mäßigt, als auch die
starke Erkaltung des Bodens durch Wärmestrahlung im
Winter hindert. Ein Beispiel der Einwirkung des See-
klimas. Edinburg unter 56° nördl. Br. hat bei gleicher
mittlerer Jahreswärme doch mildere Winter und kühlere
Sommer als Tübingen (48° 30' nördl. Br.). Die Disse-
renz der Mittlern Temperatur des heißesten und kältesten
Monats beträgt für Edinburg nur 9,5°, für Tübingen
aber 15,7°.
Im Gegensatze zu diesen horizontalen Abwechselungen im
Klima stehen die verticalen, die Abnahme der Temperatur
in höheren Luftregionen. Die Erwärmung der Luft findet
»St.Bernhard
Gotthard
InSprue k
München
Zürich
Wien i
Turin
Monte Rosa
Finsteraarhorn
Gr. Glockner Ortles
Jungfrau
Simplon-Gipfel
Zugspitze Dachstein
Benedictenvvand.
Peissenberg
104 Müller's k
weniger durch die sie durchdringenden Sonnenstrahlen, als
durch die Berührung mit dem erwärmten Boden statt, daher
die Temperaturabnahme, die man bei Luftballonfahrten wie
Bergbesteigungen constatirt hat. Wie z. B. in den Alpen
die Temperatur abnimmt, je weiter man nach oben gelangt,
zeigen die Isothermen derselben nach Schlagintweit.
mische Physik.
In Ländern, welche von Gebirgsketten namhafter Höhe
durchzogen sind, ist der Verlauf der Isothermen natürlich ein
ganz anderer, als er nach den Andeutungen der oben be-
sprochenen Isothermenkarten sein würde, wie man dies z. B.
aus dem beistehenden Kärtchen ersieht, welches die Jahres-
isothermen für den österreichischen Staat und benachbarten
Isothermen der Alpen nach Schlagintweit.
Länder nach Rkaumur'schen Graden darstellt. Dieses Kärt-
chen läßt den Einfluß des Alpensystems auf den Verlauf
der Isothermen deutlich hervortreten. Der Verlaus derJfo-
thermen in gebirgigen Ländern wird der Natur der Sache
nach einige Aehnlichkeit mit dem Verlauf der Isohypsen
(Linien gleicher mittlerer Höhe über dem Meeresspiegel)
haben, und zwar wird
diese Aehnlichkeit um
so mehr hervortreten,
je größer der Maß-
stab der Karte ge-
wählt ist, je mehr
man also bei der Dar-
stellung der Höhen-
schichten sowohl als
auch der Isothermen
ins Detail eingehen
kann. — Für Ge-
birge, welche nicht be-
deutend ausgedehnte
Hochebenen bilden,
sondern vorzugsweise
aus hohen Kämmen
und Gipfeln bestehen,
wie dies z. B. für die
Alpen der Fall ist,
sind die Temperatur-
schwankungen in der
Höhe weit geringer als in der Tiese, weil isolirte Berge
und Bergreihen auf die Temperatur der höheren Lnftregio-
nen nur einen unbedeutenden Einfluß ausüben können, und
weil die periodischen Temperaturschwankungen des Bodens
in der Ebene, welche sich zunächst den unteren Luftschichten
mittheilen, in der Höhe in ihrer Wirkung schon abgeschwächt
sind, ehe sie merklich werden. So fand z. B. Kämtz auf
Jahresisothermen für Oesterreich.
dem Rigi als Mittel aus einer Beobachtungsreihe von meh-
reren Wochen die Differenz des täglichen Maximums und
Minimums — 3,04° R., während diese Differenz zu Zürich
gleichzeitig 7,6 0 R. betrug.
Bei Plötzlich eingetretener strenger Winterkälte kommt es
öfters vor, daß es an höher gelegenen Orten wärmer ist als
an tiefer gelegenen.
So stand zu Dres-
den das Thermometer
am 23. Januar 1823
auf — 27« R., wäh-
rend es aus dem Kö-
nigsteine nur 17° R.
zeigte. Am 22. Ja-
nuar 1850 fiel das
Thermometer auf dem
Brocken nur auf — 9°
R., während es auf
der umgebenden Nie-
derung aus — 20°9t.
siel.
Nachdem Müller
so die Temperaturver-
Hältnisse und Tem-
peratnrschwankungen
der höheren Luftre-
gionen besprochen, er-
läutert er auch die in
so vieler Hinsicht interessanten Temperatur Verhältnisse
der Hochebenen. Ein isolirter hoch in die Luft hin-
einragender Bergkegel oder ein Bergkamm wird die höheren
Regionen der Atmosphäre nicht merklich erwärmen können,
weil die Winde in jedem Augenblicke nur kalte Luftmassen
an ihm vorbeiführen. Eine Hochebene von bedeutendem
Umfange aber kann sich unter dem Einflüsse der Sonnen-
. Montblanc
Col du Geant
Gerhard Rohlfs: Höflichkeitsformeln und
strahlen bedeutend erwärmen, indem sie von einer weniger
dichten und weniger hohen Luftschicht bedeckt ist als die tie-
feren Gegenden, weil also die Sonnenstrahlen, welche eine
Hochebene treffen, durch Absorption in der Lust weniger
Wärme verloren haben als die, welche zur Tiefe gelangen.
Eine Hochebene kann also auch einen merklichen Einfluß auf
die Erwärmung der höheren Lustregionen ausüben, welche
über ihr schweben und welche eben wegen der größern Aus-
dehnung des Plateaus längere Zeit mit dem erwärmten Bo-
den in Berührung bleiben.
Unter sonst gleichen Umständen muß es demnach auf
Hochebenen wärmer sein als aus isolirten Berggipfeln von
gleicher Höhe. In den mexicanischen Gebirgen zwischen dem
18. und 19. Grade nördlicher Breite hört schon in einer
Höhe von 13,600 Fuß alle phauerogamische Vegetation auf,
die Schneegrenze findet sich in einer Höhe von 14,500 Fuß
über dem Meeresspiegel, während in Peru bei gleicher süd-
licher Breite in größerer Höhe eine zahlreiche ackerbauende
Bevölkerung wohnt; Potosi liegt 13,540 Fuß hoch. Die
Schneegrenze liegt hier in einer Höhe von 18,350 Fuß.
Dies erklärt sich nur durch die bedeutende Ausdehnung und
Höhe der Hochebenen Perus. Das Plateau, in dessen Mitte
der Titicacasee liegt, erhebt sich zwischen zwei Gebirgsketten
bis zu einer Höhe von mehr als 12,350 Fuß; bei einer
Breite von 60 geographischen Meilen erstreckt es sich vom
16. bis zum 20. Grade südlicher Breite, so daß es eine
Oberfläche von 3600 Quadratmeilen hat. Die Plateaus
Umgangsgebräuche bei den Marokkanern. 105
der Andes in der Nähe des Aequators haben höchstens eine
Oberfläche von 10 Quadratmeilen, und die Höhe der mexi-
«mischen Hochebene beträgt nur 6000 bis 8000 Fuß.
Während sich die Hochebenen unter der Einwirkung der
Sonnenstrahlen stark erwärmen, ist natürlich auch aus dem-
selben Grunde der Wärmeverlust, den sie durch die nächt-
liche Strahlung erleiden, viel bedeutender als in der Tiefe.
Auf der Hochebene von Caxamarca in Peru, wo in einer
Höhe von 4300 Fuß die mittlere Temperatur 16° R. ist,
erfriert der Weizen doch häufig des Nachts. Humboldt sah
hier bei Tage im Schatten das Thermometer auf 25" R. stei-
gen, während es vor Sonnenaufgang nur 8" R. gezeigt hatte.
Auf den Hochebenen sind die täglichen Schwankungen
der Temperatur und, wenn sie weiter vomAequator entfernt
liegen, auch die jährlichen, viel größer als unter sonst glei-
chen Umständen in der Tiefe; so hat z. B. die Hochebene
von Tibet sehr heiße Sommer, obgleich die mittlere Jahres-
temperatur ziemlich niedrig ist (die mittlere Temperatur des
Monats October fand Turner 5,7° R>, und dies ist so
ziemlich genau auch die mittlere Jahrestemperatur), weil da-
gegen der Winter um so kälter ist. Auf der Nordseite des
Himalaya liegen die Culturgrenzen und die Schneegrenze
nicht etwa deshalb höher als auf dem südlichen Abhänge,
sondern weil bei der ungleichmäßigen Wärmevertheilung der
Sommer auf der nördlichen Abdachung heißer ist, und dann
auch, weil aus dem Nordabhange viel weniger Schnee fällt
als auf der Südseite.
Höflichkeitsformeln und Umgangsgebräuche bei den Marokkanern.
Von Gerhard Rohlfs.
Es ssalamu alikum ist die allgemeine Begrüßung der
Gläubigen, der Araber, und folglich aller Marokkaner, die der
alleinseligmachenden Kirche Mohammed's anhängen. Alikum
ssalam ist die Antwort. Beiderseits muß der Gruß immer
mit sichtbarem Ernste, mit einer gewissen Feierlichkeit ausge-
sprochen werden, ein freundlich lächelndes Gesicht würde man
für ganz unpassend erachten.
Wie die mohammedanische Religion am Ende weiter nichts
will, als die ganze Menschheit unter Einen religiösen Hut
bringen, und dies dadurch zu erreichen hofft, daß sie jeden
andern Glauben als absolut falsch verwirft, so hat dieselbe
aus alle Völker, die den Islam bekennen, einen merkwürdig
nivellirenden Einfluß ausgeübt. Und wie hauptsächlich Ge-
wicht auf das wörtliche Glaubeusbekenntniß gelegt
wird, und eine fortschreitende EntWickelung in der Reli-
gion aufs Strengste verpönt ist, so sehen wir, daß alle den
Islam bekennenden Völker dahin gekommen sind, wohin der
Buchstabenglaube führt: zur offenen Heuchelei, Scheinheiligkeit
und zu einer entsetzlichen Verdummung und Verthieruug des
Volkes.
Durch Alles, was die mohammedanischen Völker thun und
reden, zieht sich immer ein heuchlerischer, muckerhafter und
pharisäischer Hauch, auch in Höflichkeiten. Der durch den
Gebrauch Mohammed's geheiligte Gruß: „Der Gruß (Got-
tes) sei mit Euch," wird daher auch nie an Ungläubige ver-
schwendet. Ein echter Mohammedaner würde glauben, ewig
verdammt zu werden, wenn er hierin nicht einen strengen
Unterschied machte. Tritt er in eine Versammlung, wo Ju-
den und Christen zugegen sind, so unterläßt er nie zu sagen:
Globus XXII. Nr. 7. (August 1872.)
„Ssalam ala halt," Gruß meinen Leuten, oder will er
den Unterschied noch mehr hervortreten lassen, so sagt er:
„Ssalam ala hal es ssalam," Gruß den Leuten des Gru-
ßes, d. h. den Mohammedanern, da selbstverständlich den un-
gäubigen Hunden kein Gruß zukommt. Oder auch man
sagt: „Gruß denen, welche die Religion befolgen," womit
selbstverständlich die alleinseligmachende Religion des Islam
gemeint ist, alle anderen Religionen, die christliche, die jüdi-
sche :c., führen den Menschen direct vom Diesseits in die
Hölle.
Will ein Marokkaner recht höflich gegen einen Juden
oder Christen sein, d. h. ihn z. B. beim Begegnen zuerst
anreden, so sagt er wohl, Allah iaunek, Gott helfe Dir,
oder auch: Gott gebe Dir zu Essen. Nie aber würde er
einen Glaubensgenossen so anreden, denn Alles, auch die
Höflichkeitsbezeuguugen sind streng vorgeschriebene Redens-
arten und Handlungen.
Und es ist eigenthümlich, während äußerlich eine gewisse
Gleichheit der Menschen zu existireu scheint, denn der ärmste
Mann im Lande ist nicht sicher, eines Tages zum ersten
Minister oder gar zum Sultan, zum Chalis (des gnädigen
Herrn Mohammed) gemacht zu werden, herrscht dennoch ein
strenger Unterschied in den Förmlichkeiten und Gebräuchen
des Umgangs zwischen Hohen und Niederen, zwischen Armen
und Reichen, zwischen Schristgelehrten und Laien, zwischen
Schiirsa *) und anderen gewöhnlichen Sterblichen. Ist es
nicht ähnlich so in der päpstlichen Kirche? Der Sultan von
*) Nachkommen Mohammed's.
14
106 Gerhard Rohlfs: Höflichkeitsformeln m
Marokko betrachtet sich als den rechtmäßigen Nachfolger
Mohammed's, als seinen Verweser auf Erden. Seiner Idee
nach gehört von Rechtswegen die ganze Erde ihm: „Jeder
kann Sultan oder Beherrscher der Gläubigen werden, vor-
nehmlich aber die vom Blute Mohammed's *)." Der Papst
andererseits betrachtet sich als rechtmäßigen Nachfolger Petri
(oder als Stellvertreter Jesu Christi, d. h. eigentlich Gottes),
seiner Meinung nach gehört von Rechtswegen die Herrschaft
Uber die ganze Erde ihm, jeder kann Papst werden, der den
Laienstand mit dem schwarzen Gewände vertauscht; wie der
Sultan vou Marokko behauptet er, nicht fehlen zu können. Wo
ist da der Unterschied vor dem unparteiischen Menschen?
Aber eben so groß wie in der päpstlichen Kirche der Unter-
schied zwischen dem mit dreifach goldener Krone bedeckten
Papste und dem einfachsten Priester der Kirche, oder gar dem
Bettler ist, so groß ist auch der Abstand zwischen dem von sei-
nen tausend Weibern umgebenen Sultan und dem ärmsten
Faki des mohammedanischen Reiches.
Wie es bei uns verschiedene Anreden giebt, so auch bei
den Marokkanern. Der Sultan hat den Titel Sidina,
unser gnädiger Herr; der Scherls, d. h. ein Nachkomme
Mohammed's, den Titel Sidi oder Mnlei, d.h. mein Herr,
eine Scherissran den Titel Lella; einen andern Menschen
redet man mit Si, Herr, an, welches Si dem Namen vor-
gesetzt wird, aber nur, wenn er lesen und schreiben
kann. Andere ganz gewöhnliche Menschen nennt man ein-
fach bei Namen, sowohl Männer und Frauen, wie Kinder.
Will man folche rufen, fo kann man ohne zu verstoßen,
falls der Mann unbekannt ist, sagen: ia radjel, o Mann,
ia marra, o Frau, ia uld, o Sohn, ia bent oder ia
bekra, o Tochter, o Jungfrau.
Man muß sich wohl hüten, in Marokko den Titel Sidi,
mein Herr, gewöhnlichen Menschen zu geben, nur die Juden
müssen alle Gläubigen so anreden. Auch die Minister, Agha,
Kaid, Mufti, Kadi, Jmam u. s. w. haben, falls sie nicht
Schürsa sind, kein Recht auf den Titel Sidi.
Beim Begrüßen fagt man bis Mittag: Dein Tag sei
gut, von Mittag bis Abend: Dein Abend sei gut. Zu jeder
Stunde kann man sagen: Sei willkommen.
Wenn auch vollkommen Unbekannte beim ersten Anreden
sich dutzen, so ist das Dützen doch nicht ausschließlich in Ge-
brauch. Es würde unschicklich sein, den Sultan anders an-
zureden als in der zweiten Person Plnralis, ebenso lieben
es auch vornehme Personen, namentlich Religionsmänner,
sich in der zweiten Person Plnralis anreden zu lassen. Auch
Kinder pflegen ihre Eltern mit „Ihr" anzureden. Der
gebräuchlichste Gruß, es ffalamu alikum, ist ja ebenfalls
in der zweiten Person Plnralis.
Da eine Begrüßung zwischen Leuten, die sich seit Lan-
gem nicht gesehen, immer unendlich lange dauert, manchmal
eine halbe Stunde, so hat man die verschiedensten Redens-
arten, um sich nach dem wechselseitigen Befinden zu erkun-
digen. „Wie ist Dein Zustand? Wie ist Deine Zeit?
Wie bist Du? Wie ist Dem Wie? Wie bist Du gemachte."
Alle diese Redensarten werden mit monotoner Stimme wie-
derholt, und man hat wohl Acht, dieselben mit häufigen
„Gott fei gelobt", „o gnädiger HerrMohammed" zu unter-
mischen. Je öfterer man letzteres thut, desto besser und sröm-
mer glaubt man zu sein und für desto heiliger wird man
gehalten.
Es würde ein großes Verbrechen sein, bei den Leuten
arabischen Blutes sich nach dem Befinden der Frau des An-
*) Sollte ja einer auf den Thron kommen, der nicht Scherif
wäre, so würde er kraft der Jnfallibilität, die jeder Sultan der Glau-
feigen besitzt, schon Papiere beibringen, um zu beweisen, daß er doch
Mohammed's Blut in seinen Adern habe.
Umgangsgebrnuche bei den Marokkanern.
dern zn erkundigen. Und wenn sie am Rande des Grabes
stände, dürfte man das nicht direct thuu. Selbst der Vater,
der Bruder würde es nicht für deeent halten, seinen Schwie-
gersohn, seinen Schwager, ohne Umschweife nach der Gesund-
heit seiner Tochter, seiner Schwester zu fragen.
Da aber der Marokkaner ebenso gut den Trieb der Neu-
gier besitzt wie wir, so braucht er dann allerlei Umwege,
um sich nach dem Befinden einer Frau zu erkundigen: „Wie
befinden sich Adams Kinder?" d. h. alle Menschen, die
Frauen also auch; oder: »Wie geht es dem Zelte?"
d. h. mit Allem, was darin ist; oder: „Wie geht es der
Familie?" — „Wie befinden sich Deine Leute?" :c.
Der Kuß ist allgemein verbreitet. Dennoch kennt man
nicht den Kuß der Liebe: den auf den Mund. Man be-
gegnet einander, ergreift die Rechte, ohne sie zu drücken und
küßt sodann seinen eigenen Zeigefinger. Will man recht
seine Freude ausdrücken über die Begegnung, so wird diese
Procednr 6 bis 8 Mal wiederholt. Ein Untergebener küßt
einem Vornehmen den Saum seines Kleides, oder ist dieser
zu Pferde, das Knie, die Füße; ist der zu Begrüßende ein
großer Heiliger, so kann man auch dessen Pferd, oder irgend
einen beliebigen ihm gehörenden Gegenstand küssen.
Weiß der Vornehme oder der Heilige, daß der Begrüßer
Geld hat oder Geld schenken will, so giebt er wohl seine
Hand zum Küssen, legt dieselbe segnend auf den Kopf oder
wehrt die demüthige Geberde des Begrüßers mit Worten ab.
Ist ein Untergebener zu Pferde, so steigt er schon von Wei-
tem ab, um einen höher Stehenden zu begrüßen. Zwei
Gleiche küssen sich wohl die Wangen, und will ein Vorneh-
mer oder ein Heiliger Jemand besonders auszeichnen, so küßt
er diesem die Stirn. Kommt ein Vornehmer, so erheben
sich alle Anwesenden und verbeugen sich mit vor der Brust
gekreuzten Armen. Vor dem Sultan, vor dem Großscherif
kann man sich auch auf die Erde werfen, wie beim Gebet,
und die Stirn auf den Boden drücken: „Allah ithol
amrok!" Gott verlängere die Existenz Deiner Seele, ruft
man.
Der Marokkaner verläßt eine Versammlung ohne Gruß;
nur wenn er aus längere Zeit verreisen wollte, würde er es
.für uöthig halten, sich förmlich und durch Worte zu verab-
schieden. Ist aber ein sehr vornehmer Mann, ein Heili-
ger in der Versammlung, so geht man zu ihm, küßt seine
Knie, seine Hand, oder den Saum seines Kleides und
verabschiedet sich dann ohne ein Wort zu sagen.
Schon an anderen Orten ist darauf hingewiesen worden,
wie die marokkanische Geistlichkeit, wenn von einer solchen
die Rede sein kann, eben so viel auf äußere Ehreubezeu-
guugen hält, wie die der europäischen Christenheit. Wenn es
auch dort nicht Sitte ist, daß sie sich kenntlich macht von den
Laien durch besondere Tracht (schwarzen Anzug, weiße Cra-
vatte), so liebt es doch Jeder, der sich vorzugsweise dem Stu-
dium der Religion hingiebt, daß man ihn zuerst grüßt,
daß er den Ehrenplatz erhält und daß man auf ihn die meiste
Rücksicht nehme. In einem so durch die Religion fanatisir-
ten Lande ist es daher jedem Reisenden dringend anzurathen,
sich mit dieser Classe von Menschen gut zu stellen, und da
die mohammedanische Geistlichkeit, ebenso wie die christliche,
besondere Vorliebe für Geld hat, weil dieses als die erste Be-
dingung zur Herrschaft erscheint, so ist es wohl gerathen, den
frommen Leuten davon fo viel wie möglich zukommen zu
lassen. Wie richtig handelte z. B. Ali Bey in dieser Be-
ziehuug bei seinen Reisen durch Marokko.
Alle Höflichkeitsbezengungen in Marokko müssen in
fromme Redensarten gekleidet sein. Allah iatik ssaha,
Allah iauuik, Gott gebe Dir Kraft, Gott helfe Dir, ruft
man einem Arbeitenden zu, und wenn einer niest, so rufe ihm
Gerhard Rohlfs: Höflichkeitsformeln und
einNedjak-Allah, Gott rette Dich, zu; der Niesende dankt
mit Rhak-Allah, Gott sei Dir gnädig.
Eine Sitte oder vielmehr Unsitte existirt, die man in
Europa aufs Höchste anstößig finden würde, das laute Auf-
stoßen während des Essens und gleich hernach. Der Auf-
stoßende ruft dann selbstgefällig Staghsr-Allah, Gott ver-
heißt es, oder Hamd' Allah, Gott sei gelobt. Er betrachtet
das als Zeichen, daß der Appetit jetzt gestillt sei und ebenso
fassen die Mitessenden es auf, die ihn vielleicht heimlicher-
weise um dies seh- und hörbare Zeichen seines gesunden Ma-
gens beneiden. Jedes Essen, jeder Trunk wird begonnen,
wie überhaupt Alles, was man unternimmt, mit Bsm-
Allah, im Namen Gottes. Und es würde vollkommen ge-
gen alle Sitte sein, aufrecht stehend zu essen oder zu
trinken. Dem Trinkenden wird ein: Ssaha, Gesundheit,
zugerufen.
Es würde nicht nur ein Verstoß gegen den guten An-
stand fein, wollte man mit der linken Hand essen, sondern
auch gegen die Religionsvorschriften verstoßen. Die linke
Hand, die zu gewissen Ablnitionen benutzt wird, gilt für un-
rein, nur der Teufel, der sich aus religiösen Vorschriften
nichts macht, bedient sich seiner Linken. Man darf sich beim
Essen nie des Messers bedienen, namentlich das Brot darf
nicht geschnitten, sondern muß gebrochen werden. Vor
und nach dem Essen muß mau sich die Hände, und nach dem
Essen die Hände und den Mund ausspülen, aber sorgfältig
darauf achten, daß das zum Mundausspülen benutzte Was-
ser nur aus der hohlen Hand, nicht aus einem Gefäße
genommen wird. Zum Reinigen des Mundes bedient der
wohlerzogene Mann sich nur des Daumens und Zeigefin-
gers feiner Rechten. Man soll nicht zu schnell essen, und
derjenige, der einen Vornehmen oder höher im Range Stehen-
den bei sich empfängt, darf sich nicht mit an die Schüssel
setzen, sondern muß durch Aufwarten seine Sorgsalt für den
Besuch bekunden. Der Besuchende selbst würde sehr gegen
die Lebensart verstoßen, wollte er sich um seine Bagage oder
um seine Dienerschaft kümmern. Daß diese in Obhut ge-
nommen, daß die Dienerschaft mit Speise und Trank ver-
sehen, daß die Thiere abgefüttert werden, darf ihn nicht küm-
mern, es ist das Sache des Wirthes. Präsentirt man Dir
eine Tasse Thee oder Kaffee, so trinke sie nicht rasch aus,
sondern nimm das Getränk schlürfend zu Dir. Wenn
Du beim Speisen bist, so unterlasse es nie, die Hinzukom-
Menden zum Mitessen einzuladen, und diese, falls sie glei-
cheu Ranges sind, erzeigen sich als wohlerzogene Leute, wenn
sie wenigstens Einen Bissen mitessen, selbst wenn sie
satt sind. Sind sie aber niederer Herkunft, fo dürfen sie
das Anerbieten nicht annehmen; sind sie hungerig so erfor-
dert es der Anstand, sich zu setzen und zu warten, bis man
ihnen die Ueberbleibsel reicht.
Gewisse Gebräuche als von den unseren abweichend sind
noch besonders hervorzuheben.
Man darf keinen brennenden Spahn mit dem Hauche
auslöschen, sondern nur durch Hin- und Herfahren durch die
Luft. Wenn man Feuer verlangt zu einer Pfeife oder um
etwas anzuzünden, so sage man nicht, gieb mir Feuer, attiui
nar, denn nar bedeutet auch das höllische Feuer, sondern
man sage attini l'afiah. Das Wort l'afiah bedeutet
Leben, Gesundheit und Feuer, oder attiui djemra, aieb
mir eine Kohle.
Höchst unanständig würde es sein, aufrecht stehend
ein Bedürfniß zu verrichten, man muß das in hockender
Stellung thuu, und hernach die Abluition nicht verabsäu-
men, oder wo Wasser fehlt, die Abluition durch Sand voll-
ziehen.
Man vermeide, mit Schuhen ein Zimmer oder gar eine
Umgangsgebräuche bei den Marokkanern. 107
Moschee zu betreten, an der Schwelle der Thür müssen sie
zurückgelassen werden. Sobald man Jemand auf der Straße
anreden will und hat ihm etwas Ausführliches zu sagen,
dann bleibe man nicht stehen, sondern hocke nieder, denn im
Stehen lange zu sprechen, ist unanständig.
Einen Bittenden muß man nie durch eine abschlägige
Antwort beleidigen; in schah Allah, so Gott will, sagt
man, oder ist der Bittende zudringlich: Rbiatik, Gott wird
Dir geben. Ein guter Mohammedaner darf keinen Zweifel
an der Großmnth Gottes hegen.
Begeht man eine Ungeschicklichkeit, zerbricht oder wirft
man aus Verseheu etwas um, so verflucht man zuerst
den Teufel, denn der ist die Ursache alles Uebels, erst
dann sagt man: smah-li, verzeih mir. Ma si'sche lass,
es ist kein Uebel dabei, erwiedert der Besitzer laut, inner-
lich aber vielleicht den Urheber und Teufel zum Teufel wün>
fchend. Sehr bequem für alle Unfälle sind auch die Redens-
arten Mektnb Allah, es war bei Gott geschrieben, oder
Hakum Allah, es war von Gott befohlen, oder wenn man
einem lästigen Frager durch eine gerade Antwort nicht be-
friedigen will: Baid-alia chabar and Allah, das ist
weit von mir, Gott weiß es, oder Arbi iarf, Gott weiß es.
Hat man sonst nichts zu thuu, stockt eine Unterhaltung,
so ruft man einfach Allah oder Rbi, d. h. Gott, Mei-
st er, oder Allah akbar, Gott ist der Größte, oder man
bezeugt, daß Gott ein Einiger und Mohammed sein Gesand-
ter ist, oder endlich man verflucht die Christen. Grund
und Anlaß zu diesen Reden brauchen nicht vorhanden zu
sein, es gehört aber zum guten Ton, sie so oft wie mög-
lich auszustoßen.
Für eine empfangene Wohlthat muß immer gedankt wer-
den, wäre sie auch noch so gering: Allah ikter cheirek,
Gott vermehre Dein Gut, oder Allah iberk sik, Gott
segne Dich.
Auf das Versprechen eines Marokkaners ist nichts zu
geben, weun er auch von Höflichkeit überfließen würde und
die heiligsten Eide, wie „beim Haupte des Propheten, bei
Gott dem Allmächtigen" jc. geschworen hatte. Es erheischt
denn aber auch die gute Sitte, daß man dergleichen Schwüre
nicht genau nimmt, nicht daran erinnert.
Ist man zum Besuche, so muß man sich ja hüten, die
Gegenstände oder den Besitz des Wirthes zu loben, es könnte
das den Verdacht erwecken, als wolle man etwas geschenkt
haben. Thnt man es ja, so füge man immer hinzu: Mabruk.
Lobt man z. B. ein Pferd: mabruk el aud, das Pferd
möge Dir glücklich sein, oder lobt man ein Kind: Allah
itohl amru, Gott verlängere seine Existenz. Lobt man einen
Abwesenden, so ist es höflich, wenn man seine Eigenschaften
vergleicht mit denen desjenigen, zudem mau spricht: „ich traf
letzthin mit Mohammed ben Omar zusammen, der ebenso-
viel Geist, ebensoviel Ueberlegnng besitzt, wie Du selbst."
Ueberhaupt ist es Norm, jedem die größten Schmeicheleien
geradezu ins Gesicht zu sagen: „Bei Gott, wie geistreich
Du bist, Niemand ist, wenn es Gott gefällt, so großmüthig
wie Du; ich habe, Gott stehe mir bei, noch keinen so guten
Reiter gesehen wie Du einer bist" :c. Der Geschmeichelte
antwortet mit „knlschi and Allah, Alles steht bei Gott",
oder mit sonst einer srommen Redensart.
Bei gewissen Ereignissen im menschlichen Leben haben
die Marokkaner ihre unveränderlichen Höflichkeitsphrasen.
Bei einer Verheiratung: „Gebe Gott, daß sie (die Frau)
Dein Zelt fülle" (mit Kindern). Wenn ein männlicher
Sprößling geboren wird: „DasKind möge Dir Glück brin-
gen." Zu einem Erkrankten: „Sorge nicht, Gott hat die
Zahl Deiner Krankheitstage gezählt;" zu einem, der im Ge-
fecht verwundet wurde: „Du bist glücklich, Gott hat Dich
14*
108 Die Haßler-Expedition i
gezeichnet, um Dich nicht (beim jüngsten Gericht oder beim
Eintritt ins Paradies) zu vergessen." Will man Jemand
Uber den Verlust eines Angehörigen trösten: „Seit dem Tage,
wo er empfangen wurde, stand sein Tod im Buche Gottes,"
oder: „es war bei Gott geschrieben."
Heber den Verlust der Frau tröstet man noch besonders
mit: „Halt Deinen Schmerz an, Gott wird diesen Verlust
ersetzen."
Alle diese Redensarten sind unveränderlich wie bei
uns „guten Tag, wie geht's" !c. Die Marokkaner haben
aber auch noch andere Mittel, um sich unbemerkt oder durch
Zeichensprache ihre Gedanken mitzntheilen. Zum Beispiel
der Magellans-Straße.
in einer Versammlung wäre es vielleicht wünschenswerth,
irgend Jemand über die Gesinnung oder Absicht dieses oder
jenes aufzuklären. Er blinzelt ihm mit dem Auge zu, reibt
die beiden Zeigefinger an einander, d. h. wir sind oder Ihr
seid Freunde und verstehen uns oder Ihr seid Gesinnnngsge-
nossen. Ein kreuzweises Sägen der beiden Zeige-
fing er würde Feindschaft andeuten. Dergleichen conventio-
nelle Zeichen haben die Marokkaner sehr viele, wodurch sie
reden können, ohne damit in eine allgemeine Unterhaltung
eingreifen zu müssen. Und es wird keineswegs als ein
Zeichen der Unhöslichkeit betrachtet, sich solcher Zeichen zu
bedienm.
Die Haßler-Expedition i
r. d. Die „Haßler"-Expedition der Nordamerikaner, mit
Professor Agassiz und Graf Pourtales an Bord, hat im
März die Magellansstraße passirt, dort Forschungen ange-
stellt und war im Beginn des April im chilenischen Hafen
Talcahuano (Concepcion) angelangt, von wo aus Berichte
nach den Vereinigten Staaten gesandt wurden, denen wir
die nachstehenden Mittheilungen entnehmen.
Am 16. März hatte der „Haßler" Pnnta Arenas,
die chilenische Niederlassung an der Magellansstraße, erreicht.
Der Ankergrund, obgleich den Winden ausgesetzt, ist dort
gut, aber die heftige Brandung und die Abwesenheit eines
Molo machen das Landen unbequem. Die chilenische Nie-
derlassung selbst liegt etwa eine Stunde südlich von der
Sandspitze, nach welcher sie den Namen führt, auf einer
etwa 30 Fuß hohen Erhebung, umgeben von einer frucht-
baren Ebene und mit einem dichten Walde im Hintergrunde.
Sie besteht aus einer langen, geschlossenen Doppelreihe von
Häusern, die parallel der Bucht verlaufen, und ist als Straf-
Niederlassung militärischen Gesetzen unterworfen. Seit aber
Dampfschifffahrt und Handel in der Straße zunehmen, wen-
den sich auch andere Ansiedler als Sträflinge dorthin, und
die Kohlenlager, die eine gute Stunde landeinwärts in
1000 Fuß Höhe liegen, werden Ursache zu einem neuen
Aufschwünge der Colonie geben, denn sie bestehen nicht, wie
man wohl gesagt hat, aus Braunkohlen, sondern, wie Agassiz
fand, aus echter Steinkohle. Am Scheidepunkte der beiden
großen Oceane, am Hauptverbindungswege zwischen beiden,
mit gutem Hafen, unerschöpflichem Zimmerholz- und Kohlen-
vorrath versehen, steht Punta Arenas entschieden eine Zu-
fünft bevor. Auch Gold in Klumpen ist gefunden worden,
und fossile Ansternschalenlager liefern Baukalk in großer
Menge *). In dem Walde hinter der Niederlassung stehen
gewaltige antarktische Buchen (Fagus antarctica), die einen
Durchmesser von 6 bis 7 Fuß und eine Höhe von 100 Fuß
erreichen. Sie zeichnen sich durch rauhe Rinde, kleine, eisör-
mige, gesägte Blätter und eine Nuß aus, die kleiner als
unsere Buchecker ist. Ein anderer Baum ist der Winters-
Rindenbaum, der zu den Magnoliaceen gehört und sich durch
immergrüne, lederartige Blätter und weiße Blüthenbüschel
leicht unterscheidbar von den Buchen abhebt; er wird 60
bis 70 Fuß hoch und hat eine glatte graue Rinde, mit der
*) Nach der chilenischen Zeitung „Ferro Carril" vom 11. Oc-
tober 1871 betrug die Zahl der Ansiedler in Punta Arenas 800,
meist Chilenen. Sie führten Pelzwerk und Straußenfedern aus, die
sie im Tanschhandel mit den Patagoniern gewannen. Die Gold-
ausbeute belief sich 1868 auf 25,000 Dollars. Die Red.
der Magellans-Straße.
im 16. Jahrhundert Capitän Winter, ein Gefährte Franz
Drake's, seine Leute hier vom Scharbock heilte. Daher der
Name.
Nachdem der „Haßler" in Punta Arenas Kohlen einge-
nommen, dampfte er weiter; zunächst in südlicher Richtung,
an der Ostküste der Braunschweig - Halbinsel entlang, aus
welcher Punta Arenas liegt. Den 7000 Fuß hohen Sar-
mientoberg vor Augen, durch enge Canäle mit steilen Klippen
eingesäumt, oder durch breite, stille Binnenseen, die üppiger
Gras- und Strauchwuchs umgrünte, dampfte der „Haßler"
nach Port Famine, einem lieblichen Plätzchen, das jedoch
eine traurige Geschichte aufzuweisen hat. Hierher war, um
Franz Drake's Buccanierzügen Einhalt zu thun, Don Pedro
Sarmiento vom spanischen König Philipp dem Zweiten ge-
sandt worden; er legte die Niederlassung San Felipe an,
und wurde dann mit seinem Schiffe so verschlagen, daß er
nicht zurückkehren konnte. Die zurückgebliebenen Ansiedler,
300 an der Zahl, ohne Lebensmittel der Winterkälte preis-
gegeben, gingen bis auf zwei zu Grunde, die von Englän-
dern aufgenommen wurden. Letztere tauften San Felipe in
Port Famine (Hungerhafen) um, und diesen Namen hat es
auch bis zum heutigen Tage behalten. Die Leute vom „Haß-
ler" fanden zwischen mannshohem Brombeergebüsche noch
Reste der alten spanischen Hütten und zwei mit Moos und
Flechten bedeckte Vierundzwanzigpsüuder.
Im Verfolg der Fahrt wurden die landschaftlichen Schön-
heiten der Magellansstraße immer großartiger. Unter senk-
rechten, kahlen Klippen oder phantastischen, schneebedeckten
Gipfeln und an gletschererfüllten Abhängen hin segelte der
„Haßler" seine Bahn. Die Abwesenheit von frischem Schnee
in dieser Jahreszeit (März) ließ das Grünblau des Glet-
schereises prächtig erkennen und abstechen von dem tobten
Weiß der Schneefelder; dann wechselten wieder Wälder mit
Felsen ab, deren regelrechte Schichtung verrieth, daß sie seit
der Periode ihrer Ablagerung nicht gestört worden waren,
oder mit gabelförmig gezackten Piks und Gletschereis ge-
schlisseuen Felswänden. Die „Haßler"-Expedition beobach-
tete, daß die Glätte des nördlichen Gestades stets die des
südlichen übertraf, daß dort sich polirte, regelmäßige, abge-
rundete Oberflächen zeigten, während gerade gegenüber scharfe,
zerrissene und unebene auftraten. Es ergab sich daraus
deutlich, wie Agassiz bereits, vorausgesagt, daß während der
Eiszeit die Passage der Eismassen von Süden nach Nor-
den zu ging.
Der „Haßler" passirte Cap Froward, die südlichste
Spitze des amerikanischen Festlandes, die als steiles, kühnes
Die Haßler-Expedition i
Riff in die Straße hinaustritt nnd Segelfahrzeugen bei star-
kem Winde oft Schwierigkeiten beim Umschiffen verursacht.
In der Nähe tras man das erste Fahrzeug mit Feuer-
ländern, in dem vier oder fünf Männer und Frauen
saßen. Sie waren fast nackt und hatten nur Jeder ein klei-
nes Gnanako- oder Pumafell zum Schutze gegen die Kälte
umgehängt. Die Weiber ruderten und säugten ihre Kinder
dabei, während die Männer im Canoe aufstanden, wild ge-
sticulirten und Zeichen machten, daß der Dampfer halten
solle; die einzigen englischen Worte, welche sie hervorbrachten,
waren: Stop boat und Fire!
Nachdem Cap Froward umschifft war, ankerte der „Haß-
lerw in Port Gallant, in der Forte scuebai, einem der
sichersten und schönsten Häfen der ganzen Straße. Er ist
vollständig von drei Seiten von Bergen umschlossen und an
der vierten liegt eine kleine Insel, die aber Ein- und Aus-
laufen ganz bequem gestattet. Am Ufer fand man errati-
sche Blöcke und Quarzadern, Dickichte von Fuchsia magel-
lanica, Flechten, Moose, Leberkräuter. Die Schönheit und
Ueppigkeit dieser Vegetation unter 55° südl. Br. setzte die
Naturforscher in Erstaunen. Hier, wo die Schneegrenze
nur 1000 bis 2000 Fuß von der See landeinwärts liegt,
wo Schnee und Hagel oft Monate lang fallen und Schnee-
stürme selbst im Sommer vorkommen, fanden sie Fuchsien,
die eine Höhe von 10 und 12 Fuß erreichten, fcharlachrothe
Desfontaineen, rosenrothe Philesien und zahlreiche andere
schönblühende Pflanzen, während Flechten und Moose in
großen Massen das Gestein mit einem bunten Teppich über-
zogen.
Am 22. März segelte der „Haßler" von dieser schönen
Stätte weiter, um nun mit den heftigen Windstößen Be-
kanntschast zu machen, die in der Magellansstraße den ety-
mologisch unaufgeklärten Namen „Willi-Waws" führen.
Nach der Schilderung dieses plötzlich und mit großer Wucht
auftretenden Windes, dem der „Haßler" mit Mühe und
Noth durch Einlaufen in Borjabai an der Nordseite entging,
muß er den Föhnstürmen auf den Schweizer Seen gleichen,
die dort zwischen den Alpenriesen sich fangen. Borjabai,
von Bergen umgeben, bot eine Wasserfläche dar, so eben
und glatt wie ein Spiegel, während außerhalb in der Straße
das Wasser brüllte und schäumte. Zuweilen aber über-
sprang der Sturm mit Gewalt die schützenden Klippen und
verwandelte auch den glatten Spiegel der Borjabai in ein
kochendes, schäumendes Becken, bis plötzlich wieder Alles
ruhig wurde. Einen Begriff von der Gewalt dieser Wind-
stöße erhält man durch die Schilderung der „Haßler"-Ex-
peditionsmitglieder, welche bezeugen, daß ein schöner Wasser-
fall an dem östlichen User der Bucht im Stürzen durch den
Wind gehemmt und in entgegengesetzter Richtung, allen Ge-
setzen des Falls hohnsprechend, bergauf gejagt wurde!
.Die Landschaft zeigte am nächsten Tage frisch gefallenen
Schnee und leichtes Eis auf der Oberfläche des Wassers.
Da noch mehr Willi-Waws in Aussicht standen, so blieb
man in Borjabai und begann die geologische Durchforschung
des umliegenden Landes. Die Matrosen fanden ganze Boot-
ladungen eßbarer Muscheln, die nun das Hauptnahruugs-
mittel bildeten. Am 23. März erreichte der „Haßler" Cap
Notch, das als grauer 650 Fuß hoher Felsen in die Straße
vorspringt, und nachdem dieses passirt, gelangte er nach der
Gletscherbai, die einen großartigen, herrlichen Anblick ge-
währte. Die Bucht ist nur klein, hier und da mit grünen
Inseln besäet und allseits von hohen Felsmauern umgeben,
die theils kahl, theils mit grünem Gras nud Strauchwerk
bestanden sind. Das Hintere Ende wird von einer Kies-
bucht begrenzt, darauf folgt ein Gehölz und dann die Glet-
scher, nach denen die Bai den Namen führt. Der Wald
der Magellans-Straße. 109
ist eine halbe englische Meile breit, sehr dicht und zieht sich
bis zu einer Höhe von 100 Fuß an den Bergen empor.
Durch ihn rinnen drei Bäche, die sich vereinigen, einen Was-
sersall bilden und dann in die Bucht fließen. Ihr Wasser
ist trübe und schlammig von dem darin snspendirten Granit-,
Porphyr- und Quarzpulver, die aus der zermalmenden Thä-
tigkeit des Gletschers resultirten. Die Schwierigkeit, in den
antarktischen Wald einzudringen, war ziemlich groß; gefallene
Baumstämme, wildverschlungene Gesträuche, schlüpferiges
Moos hinderten das Vordringen; stachelige Brombeeren ver-
wickelten sich in die Kleider, an morastigen Stellen sanken
die Füße tief ein. Endlich sah man durch die Bäume den
blauen Gletscher scheinen, dessen Basis sich über eine Strecke
von einer halben englischen Meile Länge ausdehnte, mit
glänzenden Eisthürmen und Spitzen, Bergen und Thälern,
Höhlen und Spalten bedeckt. Der Basis entlang dehnte
sich die 20 Fuß hohe Endmoräne aus, die aus Felsstücken
und Kieseln verschiedener Art und Größe bestand; unter ihr
brachen die mit Detritus erfüllten Bäche hervor, die sich in
die Bucht ergossen. Den Gletscher, der bisher keinen Na-
men trug, taufte man dem Schiffe zu Ehren „Haßler-
Gletscher", den 3500 Fuß hohen Berg, von dem er her-
abkommt, aber Mount Agafsiz. Die Fortbewegung des
Gletschers wurde zu 8 Zoll in 24 Stunden, oder doppelt
so schnell als die Bewegung der Schweizergletscher gefunden.
Nach der Untersuchung des Gletschers wandte sich der
„Haßler" weiter westlich und ankerte in Playa Parda
Code, wo die verschiedenartige Beschaffenheit des Ober-
flächenwasiers und der tieferen Seeschichten auffiel. Eine
Untersuchung ergab, daß das Oberflächenwasser, welches eine
Temperatur von 22" F. (= 572° C.) zeigte, fast so rein
wie destillirtes Wasser war, während nur vier Fuß tiefer
eine Temperatur von 52° F. (= 11° C.) herrschte und der
Salzgehalt jener des gewöhnlichen Meerwassers war. Hier-
aus ging hervor, daß das Oberflächenwasser durch geschmol-
zenes Eis gebildet worden war, das von einem Gletscher»
stammte. Von einem Berge in der Nachbarschaft konnte
man denn anch landeinwärts diesen Gletscher sehen, der seine
Bäche zur Playa Parda Eove herabsandte. So weit und
so oft man auch in das Binnenland hineinschaute, stets
wurde der Anblick desselben gleichmäßig befunden: unregel-
mäßig gebirgig, mit Gletschern und Schneefeldern bedeckt.
Je weiter der „Haßler" nach Westen zu dampfte, desto häu-
figer wurden die Gletscher, so daß schließlich Dutzende in
Sicht kamen. Die Vegetation begann nun auch, je mehr
man sich der pacisifchen Region näherte, sich zu ändern.
Nach der atlantischen Seite, der Magellansstraße zu, war
sie entschieden üppig, wenn auch wesentlich kryptogamisch,
doch fehlte jeder Boden, der sich zur Cultivirung geeignet
hätte. An der pacifischen Seite dagegen wurde das Land
fruchtbarer, grasige Abhänge waren häufig zu sehen und der
Boden war anbaufähig. An der felsigen Desolationinsel
vorbei gelangte der „Haßler" nun nach dem lieblichen Ha-
sen Port Chirrura, wo nach Reiseschilderungen Gletscher
sich bis herab ins Meer erstrecken sollten. Wohl fand man
Gletscher, allein sie lagen an den Spitzen der Berge, Tau-
sende von Fuß über dem Meere. Da man keinen bis zum
Meere herabreicheuden Gletscher fand, fegelte man bald wei-
ter nach Shollbai. Die landschaftlichen Schönheiten an der
Straße wurden jetzt wo möglich noch anziehender als früher;
steil und zerrissen ragten zu beiden Seiten die Felsklippen
empor, über die herabschäumende Cascaden ins Meer stürz-
ten; hinter diesen tauchten grüne mit Buchen und Winter-
rindenbänmen bekleidete Hügel auf, über denen sich wieder
hohe, spitze, mit Schnee gedeckte Piks erhoben. In Sholl-
bai traf man wieder mit Feuerländern zusammen. In
110 Aus allen
einem Boote kamen fünf Männer, vier Frauen und neun
Kinder von verschiedenem Alter herangerudert. Die Männer
stiegen aus und näherten sich in der friedlichsten Absicht dem
am Ufer entzündeten Lagerfeuer der Expedition; gierig war-
fen sie sich über die Reste des Frühstücks her und verlangten
dann laut nach Taback und Galleta (Zwieback); außerdem
verstanden sie noch drei oder vier spanische und englische
Wörter. Gern folgten sie der Einladung, mit an Bord des
„Haßler" zu kommen, zu dem sie in ihrem Boote hinüber
gerudert wurden; letzteres war eine gestohlene Jolle von
einem europäischen Schiffe und diente als einziger Wohn-
platz der armen Leute, die in Seehundsselle gekleidet, mit
ihren sinnlichen Gesichtern, aufgeschwollenen Bäuchen und
dünnen Gliedmaßen einen höchst unangenehmen Eindruck
machten. „Es scheint kaum," sagt ein Berichterstatter,
„zwischen ihnen und den niederen Thieren eine Grenzlinie
zu bestehen, wenigstens verloren sie noch im Vergleich mit
ihren hübschen Hunden."
Otterinsel, am Fuße des Burneyberges, die Cordillera
von Sacramento wurden Passirt, und immer näher kam der
„Haßler" dem Stillen Ocean, dessen Fluthen man schon zu
spüren begann. Hier schoß man eine Dampferente, so
genannt, weil der Vogel seine kurzen, breiten, nicht zum Flie-
gen geeigneten Flügel beim Schwimmen gleich den Schaufel-
rädern eines Dampfers gebraucht und mit ihrer Hülfe un-
gemein schnell dahinschießt. Die Dampferente wird vom
Schnabel bis zur Schwanzspitze gegen 4 Fuß lang und wiegt
15 bis 25 Pfund. Cook, der diese Ente auch schon kannte
und fand, daß sie mit einer Schnelligkeit von 10 bis 12
englischen Meilen in der Stunde schwimmt, nannte sie
„Rennpferdente". Sie bildet den Uebergang zwischen den
Geschlechtern Anas und Aptenodytes.
Am 30. März ward Puerto Bueuo erreicht; von hier
ab bemerkte man eine Abnahme der schneebedeckten Berge;
der Trinidadcanal wurde passirt und am 3. April schwamm
der „Haßler" im Golf von Penas wieder im offenen Wasser
des Stillen Oceans.
Aus allen
Polarexpeditionen im Jahre 1872.
Wir haben jüngst der abenteuerlichen Expedition Pavy's
erwähnt und wollen demnächst einige Mittheilungen über Wey-
precht's und Payer's Fahrt nach dem sibirischen Meere geben.
Hier stellen wir Notizen über einige andere Unternehmungen
zusammen. Der Leser wird aus denselben ersehen, daß der
Eifer für arktische Entdeckungen nicht im Mindesten erkaltet ist.
Die Schweden setzen ihre verdienstvollen Arbeiten rüstig
fort; sie haben sich bekanntlich .die Aufgabe gestellt, aus dem
Polareise so weit als irgend möglich nach Norden hin vorzu-
dringen. Nordenskjöld, der viel Erprobte, wird wohl nun
schon längst in See sein; er wollte zu Anfang des Juli von
Gothenburg aus in See gehen. Die Regierung, welche die Ex-
pedition unterstützt, hat ihm zwei Schisse, Gladam und Pol-
hems, zur Verfügung gestellt. Er will ausderParry-Jnsel,
nördlich von Spitzbergen, überwintern, 800 38' N., also an einem
Punkte, wo er vom Nordpole nur noch etwa 140 geographische
Meilen entfernt ist, und von dort will er dann im Frühjahre
mit Renthierschlitten so weit als irgend möglich vordringen.
Von Italien aus ist ein Marineossizier, Eugenio Parent, nach
Schweden gegangen, um sich, falls er noch zu rechter Zeit ge-
kommen ist, der Expedition als Freiwilliger anzuschließen. Die
geographische Gesellschaft hat ihn mit Instrumenten und anderen
wissenschaftlichen Hülssmitteln versehen.
Capitän Tobiesen, ein mit den hochnordischen Gewässern
sehr vertrauter Seemann, will mit einem norwegischen Segel-
sahrzeuge wo möglich ganz Spitzbergen umfahren. Er ist
im Frühjahr von Tromsö zunächst nach Westspitzbergen gegangen.
Capitän Svend Foyn ist (Petermann's Mittheilungen,
Juni, S. 279) einer der hervorragendsten und unternehmendsten
norwegischen Seecapitäne; er hat in der norwegischen Eismeer-
flotte zuerst Dampfer eingeführt, um mit den Engländern er-
folgreich zu concurriren, und hat zuerst den Fang auf die wil-
den Finwale mit großem Erfolge betrieben. Er will einen seiner
Dampser ins sibirische Eismeer schicken. Dr. Meiner
aus Leipzig wollte, gemeinschaftlich mit Herrn Karen, im Laufe
des Sommers das norwegische Lappland bis Hammerfest und
Wadsö bereisen und in Verbindung mit Svend Foyn Spitz-
bergen und Nowaja Semlja besuchen.
Auch Capitän G. Jensen aus Drammen will mit dem
Dampfer Cap Nor eine Fahrt ins sibirische Eismeer wagen.
Graf Wiltscheck, welcher sich um Weyprecht's und Payer's
E r d t h e i I e n.
Expedition so große Verdienste erworben, ist mit der nur 20
Commerzlasten haltenden Segelyacht Eisbär, auf welcher die
beiden genannten Forscher ihre Vorexpedition unternahmen, nach
Spitzbergen und Nowaja Semlja abgegangen. Er will die Ex-
pedition Weyprecht's durch Herstellung eines von dieser erreich-
baren Proviant- und Kohlendepots „aus einem fernen Punkte
der sibirischen Polarhälste" unterstützen. Der Plan ist folgen-
der: Wiltscheck geht zuerst nach dem Hornsund auf Spitzbergen,
um den 4560 Fuß hohen Hornsund Tind zu ersteigen, dann
fährt er nach der Nordküste von Nowaja Semlja, um die Lage
genau zu bestimmen und das Innere geologisch und topographisch
zu erforschen und dann „Vorstöße nach Norden und Osten, so
weit als möglich ins Eismeer zu unternehmen". Auf der Rück-
reise will Graf Wiltscheck in die Petschora einlausen und mit
Renthierschlitten die Reise nach Archangel und St. Petersburg
machen.
Eduard Whymper will das Innere von Grönland
erforschen; er war im Mai von Kopenhagen aus dorthin abge-
gangen. Ueber den Plan seiner Expedition giebt Moritz Linde-
mann in der „Weser-Zeitung" (9. Juli) solgende Mittheilungen.
„Er will die großen landeinwärts sich erstreckenden Fjorde so
weit als möglich ins Innere verfolgen und ließ sich zu dem
Zwecke eigens construirte Böte bauen: ein Seeboot und ein 14
Fuß engl, langes Boot zur Besahrung der Fjorde. Dieses
Boot wird durch eine Schraube getrieben, welche der Fahrende
mittelst zweier Räder in Bewegung setzt und hält. In einem
solchen Boote hosst Whymper durch die Fjorde „nach Gegenden
vordringen zu können, wo noch nie ein Europäer war". Whym-
per ist ein kühner, ausdauernder Reisender, möge sich die etwas
complicirte Construction seines Bootes bewähren. Um so inter-
essanter wäre die Fortsetzung der deutschen Forschungen im In-
nern Grönlands von der entgegengesetzten, der Ostseite her.
Nachrichten, welche uns von unseren Freunden aus Peterhead,
Schottland, zugehen, melden übrigens nach den Berichten der
zurückgekehrten Dundeer Robbenjäger, daß in dem Meerestheil
vor der Ostküste von Grönland das Eis in diesem Jahre un-
gewöhnlich schwer gewesen sei. Der Robbenfang in jenen Ge-
genden ist gänzlich fehlgeschlagen. Capitän David Gray, D.
Eclipse, war bei Rückkehr der Dundeer Schisse nach Schottland,
Ende April, im Eise besetzt gewesen, so daß er den rückkehrenden
Schiffen nicht, wie sonst, Briefe nach der Heimath hatte mit-
geben können. Andererseits melden uns zugegangene Berichte
aus den Herrnhuter Missionsstationen an der Südwestküste Grön-
Aus allen
lands, daß der Winter dort ein außerordentlich milder gewesen
sei. Es scheint also, daß das schwere Polareis nicht in gleichem
Maße, wie sonst, an der Ostkllste herabgetrieben, sondern im
Norden zurückgeblieben ist."
Auch die Franzosen wollen eine Polarfahrt unternehmen und
aus dem Wege zwischen Spitzbergen und Nowaja Semlja so weit
als möglich nach Norden hin vorzudringen suchen. Führer ihrer
Expedition ist der rühmlich bekannte norwegische CapitänMack;
sie sollte Ende Juli oder zu Anfang des August von Tromsö
abgehen und, falls sie die neusibirischen Inseln im Laufe des
Sommers noch erreichen könnte, auf diesen überwintern, andern-
falls aber an irgend einem Punkte der sibirischen Küste. Mack
schrieb an Dr. Petermann: „Es ist die Absicht, den Weg durch
die Jugorsche Straße und das Karische Meer zu neh-
men, der Küste des Samojedenlandes bis zur Weißen Insel zu
folgen und dann nordwärts zu gehen. Die Expedition ist für
dritthalb Jahre ausgerüstet." Der französische Seemann, wel-
cher Herrn Mack beigegeben worden ist, heißt Ambert.
Die Russen haben den Anfang gemacht, auf Nowaja
Semlja zu überwintern. Auf Kosten des Kaufmanns
Jkhunikoff in Kronstadt waren in Kola fünf Russen und ein
Samojede angenommen worden, um im vergangenen Winter
auf der Westküste, in 72y2° N., an der Kleinen Karmakuly zu-
zubringen und der Jagd obzuliegen.
Zeitungswesen in Nordamerika.
Ueber dasselbe finden wir im „Newyorker Journal" die
nachstehenden Angaben, welche aus den neuesten, wie hinzugefügt
wird, sichersten Quellen zusammengestellt worden sind.
Die Anzahl der in den Vereinigten Staaten erscheinenden
Zeitungen kann annähernd auf 5300 geschätzt werden; eine ganz
genaue Angabe ist deshalb unmöglich, weil Hunderte von Blät-
tern täglich entstehen und ohne Sang und Klang wieder zu
Grabe gehen. Der Staat Delaware zählt die wenigsten, näm-
lich 13, Neuyork (806) die meisten Zeitungen; doch hat Neu-
england die stärkste Tagesliteratur im Verhältniß zur Bevölke-
rung, und auch die Blätter auf dem Lande haben dort durch-
schnittlich eine größere Circulation als anderwärts. Die Anzahl
der wöchentlich ausgegebenen Exemplare eines Localblattes im
Staate Neuyork ist durchschnittlich etwa 700, in Neuengland
1000, im Thale des Mississippi 330, im Süden 250. Es existi-
ren etwa 550 täglich erscheinende Zeitungen, deren Auflagen von
200 Exemplaren bis zu 100,000 variiren. Der Staat Neuyork,
der wichtigste Eentralpunkt des Zeitungsverkehrs, hat 32 Tages-
blätter, von denen 6 in deutscher, 2 in französischer, eine in
schwedischer und die übrigen in englischer Sprache erscheinen.
Es werden hier jährlich 222,000,000 Exemplare ausgegeben, wo-
für incl. Annoncengebühren 87,000,000 Dollars eingehen. Die
halbwöchentlich, wöchentlich, monatlich oder vierteljährlich da-
hier erscheinenden Zeitschriften haben eine jährliche Gesammt-
ausgäbe von 156,000,000 Exemplaren und beziehen dafür etwa
17,000,000 Dollars.
Nach Neuyork kommen in Philadelphia jährlich die größte
Anzahl von Zeitungsexemplaren heraus und ist ebenso diese
Stadt am reichsten an Wochen- und periodischen Schriften. Den
dritten Rang hinsichtlich des Zeitungswesens nimmt, was die
Quantität anlangt, Boston ein, hinsichtlich der Qualität seiner
Tagesliteratur gebührt ihm vielleicht ein besserer Platz. Das
Geschäft ist dort auch in geldlicher Hinsicht in blühendem Zu-
stände, wird jedoch von Chicago, das seine Producte über
sechs Staaten ausgießt, bald übertroffen werden. Chicago ver-
sorgt den Westen wie Neuyork den Osten, und seine Blätter sind
nicht allein wohl redigirt, reich mit Annoncen gefüllt, fondern es
stehen ihnen auch bedeutende Betricbscapitalien zur Verfügung.
Der Staat Illinois nimmt hinsichtlich der Menge der Zei-
tungsliteratur den dritten Rang ein, indem er, obwohl schwächer
bevölkert als Ohio, gleich nach Pennsylvanien rangirt. Die süd-
lichen Staaten zählen wenig Blätter und nur solche von geringer
Bedeutung. Viele der südlichen Zeitungen werden von Männern
Erdth eilen. 111
herausgegeben, die als „Carpetbagger" verschrien sind, und wer-
den ihre Producte darum besonders von den eingeborenen Ari-
stokraten mit großem Mißtrauen und Mißgunst aufgenommen.
An der Küste des Stillen Meeres bietet die dünne Bevölkerung
wenig Gelegenheit zur lohnenden Herausgabe von Zeitungen
und wird das Geschäft darin fast gänzlich von San Francisco
monopolisirt.
Seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurden Zei-
tungen in deutscher Sprache gedruckt; doch schied sich erst
nach der großen deutschen Einwanderung 1848 und in den fol-
genden Jahren das deutsche Zeitungswesen als eine lebensfähige
und selbständige Institution aus. Es giebt jetzt 356 deutsche
Zeitungen in Amerika, wovon die meisten Pennsylvanien ihr
Heimathland nennen. In den Vereinigten Staaten und Canada
zählt man daneben 48 mitunter recht gut geschriebene sranzö-
fische Zeitungen; auch haben die Schweden und Norweger,
als lesekundiges Volk, gleichfalls für ihre literarischen Bedürf-
nisse Sorge getragen, und fünfzehn Zeitschristen, worunter eine
täglich erscheinende, ins Leben gerufen. Die holländische
Sprache, obwohl sie in unferm Staate 250 Jahre lang gefpro-
chen wurde, war in der Tagesliteratur bloß durch eine oder
zwei nicht lebenskräftige und schnell wegsterbende Organe ver-
treten. Dies ist um so mehr zu verwundern, als das hollän-
dische Element hier früher eine bedeutende Rolle gespielt hat
und ums Jahr 1770 die englische und holländische Sprache etwa
in gleichem Range standen. In San Francisco wird jetzt auch
eine Zeitung in russischer und englischer Sprache sowie eine
chinesisch-englische herausgegeben, und wir haben außerdem noch
anzuführen, daß vier italienische, drei welsche, zehn spanische,
zwei böhmische Zeitungen den betreffenden Nationalitäten die
Tagesneuigkeiten zugängig machen.
Die nachstehende Tabelle giebt interessante Aufschlüsse.
Staat oder Terri- Bevölke- Zahl der Seelenzahl
torium. rung. Zeitungen. pr. Zeitung
Alabama . . . 962,201 70 13,774
Arkansas . . . 435,450 43 10,126
Kalifornien . . . 379,994 142 2,676
Connecticut . . 460,147 68 6,767
Delaware . . . 112,216 13 . 8,709
Florida..... 140,424 22 6,383
Georgia . . . . 1,057,276 89 11,878
Illinois..... 1,711,951 425 4,628
Indiana . . . . 1,350,428 224 6,325
Iowa..... 674,699 199 3,390
Kansas..... 107,206 63 1,702
Kentucky . . . 1,155,684 79 16,509
Louisiana . . . 709,002 77 9,200
Maine..... 628,279 59 10,646
Maryland. . . . 687,049 88 7,807
Massachusetts . 1,231,066 238 5,335
Michigan . . . . 749,112 187 4,006
Minnesota . . 172,023 30 2,150
Mississippi. . . 791,395 76 10,410
Missouri . . . . 1,182,012 214 ....
Nebraska . . . . 50,000 26 1,900
Neuhampshire . . 326,073 51 6,394
Neuyersey . . . . 672,036 III 6,054
Neuyork . . . . 3,880,735 805 4,815
Nordcarolina . . 992,622 57 17,415
Ohio...... 2,339,502 360 6,498
Oregon..... 52,465 18 2,804
Pennsylvanien . . 2,906,115 499 5,846
Rhode Island . 174,620 24 7,276
Südcarolina. . . 703,708 52 13,276
Tennessee . . . . 1,109,801 78 14,229
Texas..... 304,215 86 7,026
Vermont . . . . 315,093 41 7,685
Virginia . . . . 1,100,000 77 12,887
Westvirginia. . . 50,000 46 10,870
Wisconsin. . . . 775,871 179 4,335
112 Aus allen
Arizona besitzt eine Zeitung, Colorado 9, Dakota 3, Di-
strict Columbia 17, Idaho 11, Neumexico 2, Utah 4, Washing-
ton 9, Wyoming 9, Neubraunschweig 21, Neuschottland 24, On-
tario 174, Quebec 70, Britisch Columbia 2, Neufundland 12,
Prinz-Eduards-Jsland 13 Zeitungen. Das im Zeitungswesen
angelegte Capital mag sich auf etwa 96,000,000 Dollars be-
laufen; es werden circa 11,000 Redacteure und 23,000 Drucker
verwendet. Diefe Zahlen stimmen nicht mit den Ergebnissen
des letzten Census überein, der in diesem Betreff sehr Mangel-
Haft war; unsere Angaben dagegen haben auf alle mögliche Ge-
uauigkeit Anspruch, indem sieden neuesten und sichersten Quellen
entnommen sind. _
Aus Aegypten.
Auch im Lande der Pharaonen werden jetzt statistische An-
gaben veröffentlicht. So erfahren wir, daß in dem wichtigen
Handelshafen Alexandria die Zahl der Ausländer sich zu
Ende des Jahres 1870 auf nicht weniger als 53,735 Köpfe
stellte. Davon waren, in runden Ziffern, 21,000 Griechen,
14,000 Italiener, 10,000 Franzosen, 4500 Engländer, 3000 aus
Oesterreich-Ungarn, 500 aus dem deutschen Reiche, 220 Hollein-
der, 150 Spanier, 127 Russen, 100 Perser. Im Übrigen Aegyp-
ten zählt man etwa 30,000 Fremde, im Ganzen 85,000, welche
als dauernd oder doch auf längere Zeit ansässig gelten können.
Die Bevölkerung der Landenge von Suez stellte sich auf
22,994 Köpfe, wovon 14,138 Aegypter, die übrigen Fremde
sind. — In dem mohammedanischen Jahre 1286 (vom 12.
April 1869 bis 1. April 1870) entfallen auf Kairo 16,161
Sterbefälle und 15,337 Geburten, auf Alexandria respective
8046 und 10,333. In Ober-, Mittel- und Unterägypten zu-
sammengenommen zählte man in jenem Jahre 186,274 Gebur-
ten, gegen 131,765 Sterbesälle, so daß sich eine beträchtliche
Volkszunahme ergiebt. In Bezug auf die Einwirkungen des
Klimas find folgende Angaben nicht ohne Interesse. In Alexan-
dra zählte die italienische Colonie 130 Geburten gegen 80 Sterbe-
fälle. Die französische respective 70 gegen 58; aber auf die
englische kamen nur 16 Geburten auf 157 Sterbefälle. —
Man nimmt für das Land etwa 5,000,000 Dattelpalmen
an, wovon etwa ein Drittel auf Unterägypten entfällt. Eine
gute Ernte liefert im Jahre 20 bis 25 Millionen (?) Centner
Datteln. Die Anpflanzung dieses nützlichen Baumes gewinnt
mit jedem Jahre an Ausdehnung. — Die drei berühmten
Messen von Tantah in Unterägypten werden theils im Ja-
nuar abgehalten; sie war 1870 von 70,000 Personen besucht,
die Aprilmesse von 200,000, die Augustmesse gar von 500,000,
falls die letztere Zahl nicht etwa übertrieben hoch ist. Jede
dieser Messen währt acht Tage; im Ganzen gelangen auf die-
selben im Durchschnitt 1 Million Stück Vieh aller Art. Die
drei Märkte von Dessuk in derselben Provinz Garbyie sind
nicht so bedeutend, es finden sich jedoch auf denselben immerhin
200,000 Menschen zusammen und es kommen 150,000 Stück
Vieh zum Verkauf.
Stanley,
den man wohl als den Entdecker Livingstone's bezeichnen
kann, ist am 24. Juli, begleitet vom Sohne des Reisenden, in
Marseille angekommen und sofort nach London abgereist. Er
hat eine große Menge Briefe Livingstone's mitgebracht. Die
„Times of Jndia" fchreibt aus Sansibar vom 30. Mai: „Die
Herren Stanley, Henn, New und Morgaro sind am 29. mit
dem Schraubendampfer „Star" nach den Seychellen abgereist,
um von dort nach Europa zu fahren. Herr Stanley miethete
mit seiner gewöhnlichen Energie das Schiff von dem Herrn Os-
Erdtheilen.
wald (dem Hamburger Hause). Zwei Tage vor seiner Abreise
schickte Stanley Leute und Vorräthe an Livingstone ab; dieser
erwartet sie in Unyanyembe. Stanley gab sich alle mögliche
Mühe, selber nach Bagamoyo (— dem Hasenplatz auf dem
Festlande, der Insel Sansibar gegenüber —) hinüber zu gehen,
um bei der Abreise der Expedition zugegen zu sein und sie eine
Tagereise weit zu begleiten; er wollte sich überzeugen, daß sie
wirklich die Wanderung antrat. Er konnte das aber nicht, weil
er sonst entweder in Sansibar oder auf den Seychellen einen
ganzen Monat versäumt haben würde. So ging denn statt sei-
ner der Obmann der im amerikanischen Consulat angestellten
Eingeborenen nach Bagamoyo. Für den Fall, daß irgend ein
Hinderniß einträte, waren alle erforderlichen Vorkehrungen ge-
troffen worden. Der Regen dauerte fort und die Gegend West-
lich von Bagamoyo war vielleicht nicht zu Passiren. Stanley
hat die Vorräthe sür Livingstone unter die Obhut eines Ära-
bers gestellt, der 57 wohl bewaffnete Leute besehligt, die derart
ausgerüstet sind, daß sie sich leicht vorwärts bewegen können.
Diese Leute werden sich zur Verfügung Livingstone's stellen; sie
haben sich dazu verpflichten müssen. Seit Februar regnet es in
Sansibar unaufhörlich." —
Während die Engländer seit vier Jahren unaufhörlich über
Livingstone und dessen Aufsuchung und Rettung hin und her
redeten, handelte der muthige Amerikaner und erreichte sein
Ziel. Noch mehr; er ist es, welcher auf Rechnung einer Neu-
Yorker Zeitung, des „Herald", ihm hinterher noch Vorräthe
schickt und Leute, welche den Entdecker auf seinen ferneren Wan-
derungen begleiten sollen! Wird man in England dasür ein
Wort der Anerkennung und des Dankes haben und werden die-
jenigen Blätter, welche Herrn Stanley für einen verlogenen
Schwindler erklärten, schamerfüllt ihre Verleumdung widerrufen?
In Sansibar scheint es von englischer Seite nicht sauber
hergegangen zu sein, denn die „Bombay Gazette" erhält von
ihrem Korrespondenten in Sansibar eine Notiz, die zu denken
giebt. Dieser, ein Herr Fräser, giebt ihr in einem langen
Schreiben Einzelnheiten über die Zusammenkunst Stanley's mit
Livingstone und enthält gegen Herrn Kirk (den englischen
Consul) Beschwerden, über welche dieser Erklärungen wird
geben müssen. Fräser versichert, daß Dr. Livingstone einen
amtlichen Bericht an Herrn Kirk geschickt habe, in welchem er
ihn beschuldigt, in Betreff der Zusendung von Vorräthen nach-
lässig und saumselig verfahren zu sein. Kirk habe den Leu-
ten, welche nach langem Verzug endlich einige Vorräthe ge-
bracht, befohlen, keine Dienste bei ihm anzunehmen und
nicht bei ihm zu bleiben. Livingstone beschuldigt auch eines
der angesehensten eingeborenen Handelshäuser in Sansibar des
Betrugs und des Sklavenhandels.
„Als Herr Stanley Sansibar verließ, um ins Innere zu
gehen, war er ein gesunder, kräftiger Mann, der seine 178 Pfund
wog; als er jetzt zurückkam, sah er so jämmerlich und abge-
magert aus, daß ihn Niemand wiedererkannte; er war nur noch
120 Pfund schwer."
* * *
— Auf der Ackerbauschule zu Ames im Staate Iowa
studiren 51 ZuHörerinnen. Der Director der Anstalt macht
bekannt, daß der beste Chemiker der Anstalt ein junges Mäd-
chen von 17 Jahren sei.
— In Japan ist große Nachfrage nach deutschen Bü-
chern und die deutsche Buchhandlung in Yokohama macht
gute Geschäfte. Unsere Sprache und Literatur, insbesondere die
wissenschaftliche, findet nach und nach in allen höheren Lehr-
anst alten Eingang.
Inhalt: Skizzen aus Ostindien. II. (Mit drei Abbildungen.) — Müller's kosmische Physik. I. (Mit drei Abbil-
düngen.) — Höflichkeitssormeln und Umgangsgebräuche bei den Marokkanern. Aon Gerhard Röhls s. — Die Haßler-Expedi-
tion in der Magellans-Straße. — Aus allen Erdtheilen: Polarexpeditionen im Jahre 1872. — Zeitungswesen in Nordamerika. —
Aus Aegypten.'— Stanley. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redactivn verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
Band XXII.
lit besonderer HerücksirlüiSung der Anthropologie inut Giknologie.
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
AuguA Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1812.
Skizzen aus Ostindien.
III. Im Königreiche Dschäpur.
Die Königsstadt Dschäpur. — Der Maharadscha Ram Sing als Reformer. — Das Volk der Minas. — Das Klima; die
heißen Winde. — Fromme Bettler und ihre Gaukelkünste. — Die große Jahresmesse. — Die Hannmanassen im alten Königs-
palaste zu Amber. — Das Königreich Alwar. — Die Stadt Radschgarh und ihr Tschisch Mahd, Palast der Spiegel. — König
Scheodan Sing und sein Hos in Alwar. — Das Fest der neun Nächte.
Der Weg von Adschmir nach Agra führt über Dschä-
pur (Jeypore, wie die Engländer schreiben) zum Theil durch
eine sandige Wüstenei, ans welcher nur mageres Gesträuch
fortkommt. Weiterhin folgen grüne Oasen, deren Anlage
man den englischen Residenten verdankt. Seitdem die Ge-
gend künstlich bewaldet ist, stellt sich in jedem Jahre regel-
mäßig Regen ein und die fruchtbare Zone gewinnt an Ans-
dehnnng. Dort, inmitten der Bäume, haben die Europäer
ihre stattlichen Landhäuser, und der politische Agent Eng-
lands am Hofe von Dschäpur bewohnt einen mit wahrhast
asiatischer Pracht ausgestatteten Palast.
Die Stadt ist ganz modern und erst 1728 vom König
Dschey Sing dem Zweiten gegründet worden. Dieser aus-
gezeichnete Monarch bestieg den Thron von Amber 1699,
machte sich unabhängig vom Großmogul Schah Allum, war
ein umsichtiger Staatsmann, führte eine treffliche Verwal-
tung ein und förderte Wissenschaften uud Künste; er selber
war ein ausgezeichneter Astronom. Die damalige Haupt-
stadt Amber lag zusammengedrängt in einer Schlucht der
schwarzen Berge (Kalicho) sehr uuvortheilhast, und deshalb
bauete er die neue, welche er mit der alten, die auch fortan
als ein Palladium des Reiches betrachtet wurde, vermittelst
einer sechs Miles langen Linie von Befestigungswerken ver-
band. Die neue Stadt ist prächtig gebaut; auch die ge-
Globus XXII. Nr. 8. (August 1872.)
wöhulichen Häuser sind aus Granit ausgeführt und mit
polirtem Stucco bekleidet, die Wohnungen der Reichen und
der Edellente haben eine Marmorbekleidung.
Der gegenwärtig herrschende König, Maharadscha Ram
Sing, ist ein Mann von jetzt etwa fünfzig Jahren, klein
von Gestalt, mit feinen Zügen und in seinem Auftreten fast
schüchtern. Er hat eine'sehr sorgfältige Erziehung genossen,
ist wissenschaftlich gebildet, sieht auf Rechtschaffenheit und
Ordnung im Verwaltungswesen und ist eifrig bestrebt, nlitz^
liche Verbesserungen einzuführen. Die Gerichtshöfe hat er
nach englischem Vorbild umgestaltet, Schulen nnd höhere
Lehranstalten auch für Mädchen gegründet, Straßen gebaut
und eine Eisenbahn angelegt. Er wird von der angloindi-
scheu Presse hochgeachtet und gelobt und gilt in Indien für
eine Macht. Der Mann hat Ehrgeiz, aber seine wohlwol-
lenden Bestrebungen treffen vielfach auf Hindernisse von Sei-
ten der Feudalaristokraten und der Geistlichkeit, welche beide
im Besitze ausgedehnter Ländereien sind. Mit beiden lebt
er in einer Art von Kriegszustand; viele Edelleute hat er
von seinem Hofe verbannt und ihnen ihre bisherigen Privi-
legien genommen. Gegen die Geistlichkeit, die Braminen,
ist er kühn genug vorgegangen, indem er sich zum Beschützer
einer Religionsgenossenschaft erklärt hat, welche den Cultns
auf die alte Reinheit zurückführen und ihn vereinfachen will.
15
114 Skizzen ai
Er zieht Ländereien ein, welche Göttern verschrieben worden,
die er längst nicht mehr anerkennt und als nicht vorhan-
den erklärt; die Priester, welche durch diese Confiscation ihre
Einkünfte verloren, sind ausgewandert.
Einst gehörte das Gebiet, welches jetzt als Königreich
Dschäpur dasteht, den Minas, einem alteingeborenen Volke,
die. gleich den Bhils, den Ghonds und Dschats, von den
erobernden Radschputen unterworfen wurden. Die Minas
waren in fünf große Stämme getheilt, behaupteten ihre Un-
Ostindien.
abhängigkeit länger als die Bhils, und sind erst im drei-
zehnten Jahrhundert völlig bezwungen worden. Es ist aus-
gemacht, daß sie leidlich civilisirt waren, aber seitdem sie sich
als Flüchtlinge in die Gebirge zurückziehen mußten, ist ihnen
die frühere Cultur abhanden gekommen.
Alle alteingeborenen Völker in Radschpntana, also auch
die Minas, Bhils und Mhairs, leben in Dörfern, welche
als Pähls bezeichnet werden; man nennt jene deshalb im
Allgemeinen Palitas. Die Minas sind Jäger, rauben wo
Scheodan Sing, Mahl
es angeht', sind stets mit Bogen und Pfeilen bewaffnet und
tragen Lattis, lange, mit Eisen beschlagene Bambnsstan-
gen. Die Hautfarbe ist sehr dunkel, das Haar lang und
seidenweich, ihre Gesichtszüge sind feiner als jene der Bhils.
Die Mischlinge dieser Minas und der braminischen Dschats
bilden die ackerbautreibende Classe im Königreiche.
Das Klima gilt für eins der gesündesten in Radsch-
putana, aber angenehm ist es auf keinen Fall. Die Iah-
reszeiten sind scharf von einander getrennt; im Winter fällt
das Thermometer in den Morgenstunden manchmal bis ge-
o Nadscha von Alwar.
gen Null. Im Mai setzen die heißen Winde ein, welche
man in ganz Oberindien mit Recht als eine wahre Land-
plage betrachtet. Als Vorläufer kommen Wirbelstürme,
welche aus Norden her Sandmassen mit sich treiben; der
Himmel bezieht sich, die Luft ist mit Staub- und Dampf-
wölken erfüllt, die sich in einem höchst unangenehmen Re-
gen entladen. Aus diese Orkane folgen dann die heißen
Winde von Westen her; sie sind über weit ausgedehnte Wü-
steneien hinweggezogen, und sobald sie in Dschäpur sich bemerk-
lich machen, bekommt der Erdboden klaffende Spalten, die
Skizzen aus Ostindien.
115
Bäume werden kahl, alle Vegetation stockt. Dieser bren-
nende Scirocco hält fast einen ganzen Monat lang ohne
irgend welche Unterbrechung an; kein Europäer wagt sich
am Tage aus seiner Wohnung. Alle nach Westen gerichteten
Oessnungen der Häuser werden mit dicken Rohrmatten ver-
stopft und die Dienerschaft muß diese Tattis Tag und
Nacht mit Wasser begießen; nur so wird das Athmen ertrag-
lich. Manchmal läßt gegen Abend der Wind zeitweilig
nach, die Luft ist ganz still, aber dann wird die Hitze erst
recht unerträglich, weil die Tattis nun keine Frische mehr
ausgeben und die Pankahs, diese Luftzuweher, dem Menschen
nur einen glühenden Brodem ins Gesicht fächeln, der keines-
wegs erquickt; dann müssen sogenannte Thermantidoten
aushelfen, „Lufträder", welche von den Kulis fortwährend
rasch gedreht werden.
Während dieser ganzen Zeit ist das Leben im höchsten
Grade unbehaglich. Der Europäer sitzt wie ein Gefangener
in dunkelen Zimmern hinter den angefeuchteten Tattis;
Nachts schläft er unter freiem Himmel, und wenn er Mor-
gens erwacht, sind Augen, Nase, Ohren und Mund mit
jenem feinen Staube bedeckt, der die Atmosphäre erfüllt.
Tag für Tag blickt er nach Südwesten, um zu erspähen, ob
Wolken aufziehen, welche den herannahenden Negen verkün-
digen. Er kommt endlich; ein paar Güsse reichen hin, um
wie durch Zauberschlag den ganzen Anblick des Landes zu
verändern. Der Boden, eben noch dürr und sandig, über-
zieht sich mit seinem, smaragdgrünem Rasen, die Blätter
schlagen aus und die Lust wird köstlich erfrischend. Es ist in
der That ein Wiedererwachen der Natur; gestern noch ein
Sandocean, über welchen wilde Winde hinpeitschten, und
heute feiner Regen, frische Lüfte, keimendes Grün, der Mon-
suu hat eingesetzt, alle Welt ist heiter gestimmt, die Gaul-
ler, Seiltänzer und Schlangenbeschwörer können wieder in
freier Lust arbeiten. Kleine, fast unbekleidete Mädchen rol-
len ihren Körper in eine Kngel zusammen, fädeln mit ihren
Zehen eine Nähnadel ein, verrenken die Glieder auf eine
erstaunliche, geradezu unbegreifliche Art, und biegen sich rück-
wärts, um mit ihren Augenlidern zwei in die Erde ge-
Goldschmied in Alwar.
steckte Halme aufzuheben. Manche Natnis sind überaus
geschickt in einem höchst gefährlichen Spiele mit scharfen
Werkzeugen.
Auch fromme Bettler erscheinen, um das Publicum,
das einfältig genug ist, diese frommen Strolche nicht fort-
zujageu, gründlich auszubeuten. Jeder derselben hat seine
Specialität. Der eine ist unverschämt genug, splitternackt
in den Straßen umherzugehen; statt aller Bekleidung hat
er den ganzen Körper mit Asche beschmiert. Ein anderer
streckt einen abgemagerten Arm ans. und zeigt, daß die Nä-
gel ihm in die Hand eingewachsen sind, natürlich aus Fröm-
migkeit des frommen Mannes und zu Ehren irgend einer
Gottheit. Andere verkaufen in den Bazaren Amnlete oder
angebliche Heilmittel uud was dergleichen mehr ist; auf das
Geldmachen sind sie Alle erpicht.
In jeder Saison ist Einer oder der Andere der wahre
Löwe; diesmal war es ein Fakir, der schnell zu großem Ruse
gelangte. Die Bauern, welche eines Morgens zur Stadt
gingen, fanden im Gehölze unweit vom Palaste des britischen
Residenten einen heiligen Mann, welcher sich damit zu thun
machte, an einigen weit überhängenden Aesten zwei Stricke
zu befestigen. Sie sahen, daß er seine Füße in zwei lau-
sende Knoten steckte und sich vermöge eines dritten Strickes
emporhißte. So hing er in der Luft, wie ein geschlachtetes
Kalb beim Fleischer. Schon nach einer Stunde war er von
einer großen Menschenmenge umgeben; er blieb ruhig hän-
gen, murmelte in einem fort Gebete und zählte die Kugeln
seines Rosenkranzes ab. Erst nach Verlauf einiger Stun-
den ließ er sich nieder und wurde von dem durch solche
Frömmigkeit enthnsiasmirten Publicum zur Stadt geleitet.
Am nächsten Morgen wiederholte er dasselbe Gaukelspiel,
bei welchem auch Ronsselet, Schaumburg nnd mehrere Eng-
länder Augenzeugen waren. Während er an den Stricken
hing und auch diesmal mehrere Stunden lang, war sein
Gesicht ruhig, er redete ohne alle Beschwerde und versicherte,
daß er sich nicht im Mindesten unwohl fühle. Als die Euro-
päer ihn fragten, wie er es angefangen habe, sich an eine
solche Stellung zu gewöhnen, entgegnete er dreist aber ge-
lassen: „Gott hat mir diese Gabe verliehen, um seine Hei-
ligkeit zu offenbaren." Ans weitere Erklärungen ließ er
sich nicht ein. So hing er sich wochenlang auf und machte
erkleckliches Geld. Der König wollte den Gaukler nicht sehen,
aber das Volk war darüber sehr unzufrieden!
Im Augustmonate wird das große Fest des Ganesa
15*
116 Skizzen aus
gefeiert, des Gottes der Wissenschaften und der Weisheit,
und während desselben eine Mela oder Messe abgehalten,
zu welcher vou weit und breit zahlreiche Menschenmassen
herbeiströmen. Die Verkäufer halten neben den Erzeugnissen
Indiens auch europäische Fabrikate feil, Shawls aus Kasch-
mir, seidene Schürpen aus'Tibet und dem Bandelkhand,
Gaze aus Bengalen und Baumwollenwaaren aus Man-
chester, Belgien und türkisch rothe aus Deutschland und der
Schweiz. Die Waffenhändler stellen Dolche aus Herst zum
Verkauf, Krise aus dem Lande der Gorkas und europäische
Metallwaaren. Dschäpur selbst liefert Turbane, Götzenbil-
der von Marmor, kupferne Oefen, gesticktes Schuhwerk, Salz
Ostindien.
aus Sambher und prachtvolle Email auf feinem Golde.
Diese Emailindustrie ist eiu Monopol des Königs; die Ar-
betten sind von einer wunderbaren Lebendigkeit uud Farben-
gebung.
Diese Messe bietet einen sehr bunten Anblick. Da stehen
reich aufgeschirrte Elephauten, man sieht viele Kameele, statt-
liche Reiter sprengen heran und halten im Schatten der Pal-
men vor dem königlichen Palaste, bei welchem die Mela statt-
findet. Am letzten Tage derselben ziehen alle in Dschäpur
wohnenden Europäer in festlichem Zuge auf Elephauten nach
dem Palaste, um dem Radscha aufzuwarten, und bei dieser
Gelegenheit sind alle Söller und Terrassen man kann sagen
Palast am Sei
geschmeckt mit stattlich geputzten Frauen, welche ihr Antlitz
nicht verschleiert haben. Der König empfängt die Sahibs
in großer Audienz und behält sie zur Tafel.
Ein Ausslug nach der alten Hauptstadt Amber ist sehr
lohnend. Ein Europäer sieht dort nicht ohne Verwunderung,
daß die gegenwärtigen Inhaber und Hauptbewohner des ehe-
maligen Harempalastes (Zenana) die Hanumanaffen sind.
Dieselben haben es sich in den Sälen recht bequem gemacht
und Niemand stört sie in ihrem Treiben. Bekanntlich sind
diese Thiers, dem Glauben der Hindu zufolge, heilig, und
schon deshalb würde Niemand ihnen etwas zu Leide thun.
Sie sind aber auch ganz unschädlich und nun schon seit einer
langen Reihe von Jahren im Besitze ihres Palastes, den sie
im Nothfalle allerdings tapser vertheidigen würden.
Als unsere Europäer zum ersten Male sich in dem ver-
ödeten Harempalaste blicken ließen, entstand unter den Be-
wohnern ein großer Tumult. Die Mütter nahmen ihre
'idje zu Alwar.
kleinen Kinder aus den Arm und rissen aus; die Herren
Affen zogen sich langsam zurück, zeigten aber, daß sie mäch-
tige Kinnbacken hätten.
Der Hauumau ist der größte unter den Affen Ostindiens
und wird in einzelnen Fällen bis fast vier Fuß hoch. Er
ist schlank gewachsen, zierlich und außerordentlich behend;
sein kahles Gesicht hat einen ganz intelligenten Ausdruck, ist
schwarz und von einem weißen Backenbart eingefaßt. Der
Pelz ist auf dem Rücken chinchillagrau, am Unterleibe weiß,
und das Haar ist lang und seidenweich; der kahle Schwanz,
der fast so lang ist wie der Körper, hat am Ende einen
Büschel.
Der Langur ist Indiens heiliger Affe. Die Sage
weiß, daß unter Anführung Hanuman's, der König der Äf-
fen war, diese Rama's Hülss- und Bundesgenossen waren,
als derselbe die Insel Lanka (Ceylon) eroberte. Die Hin-
dus nehmen den Inhalt ihres großen Heldengedichtes, des
Skizzen m
Ramayana, wörtlich. In demselben werden die verbündete«
ureingeborenen Stämme mit Affen verglichen, und sie sehen
in den Langurs die Abkömmlinge der Krieger Rama's, des-
halb werden dieselben in hohen Ehren gehalten.
Als die Affencolonie im ehemaligen Franenpalaste zu
Amber sich nach einigen Tagen an den Anblick der Europäer-
gewöhnt hatte, wurden die heiligen Herren und Damen
ganz zutraulich. Selbst bei heiligen Affen thuu Bananen,
Zucker und süßes Brot Wunder, ttebrigens haben diese
Langurs (unsere Urväter sind sie ja!) eine Art von Re-
gierung, denn sie gehorchen einem Oberhäuptling. Jeder
Stamm hat in den Wäldern sein Gebiet, und auch wo er
Ostindien. 117
Ruinen in Besitz genommen hat, duldet er keine Eindring-
linge. Auf dem Zenana in Amber halten die Langurs die
Mauerzinnen besetzt und stellen Schildwachen aus. Der
alte Häuptling war sich offenbar seiner Würde bewußt. —
Von Dschäpnr führt die große Straße uach Agra durch
das kleine Königreich Alwar, das alte Mewar; ein ein-
sacher Stein am Wege bezeichnet die Grenze. Die Gegend
ist sehr ansprechend; das Gebirge mit seinen vielen ausge-
zackten Gipfeln bildet weite Bogen, in denen der Boden forg-
fältig bebauet ist. Auf der Fläche liegen große Dörfer zer-
streut, bis man nach Radschgarh, d. h. Haus des Königs,
kommt. Diese ehemalige Hauptstadt liegt im Hintergrunde
Kegelberg
eines kreisrunden Thales in anmnthiger Umgebung. Die
Reisenden, von deren Ankunft der König im Voraus beuach-
richtigt worden war, hatten sich des besten Empfanges zu
erfreuen und wurden sofort in einen kleinen Sommerpalast
geleitet, der in einem Orangenhain an einem Teiche stand.
Der Kotwal (Dorfälteste, Schulze, Ortsvorsteher) geleitete
sie dorthin und überreichte im Namen des Fürsten Geschenke:
Geflügel, Früchte und Gemüse.
Radschgarh hat hübsche, lauge Gassen. Es ist vou dem
Könige von Matschery gegründet worden und bis vor etwa
70 Jahren Hauptstadt geblieben. Seine Einwohnerzahl hat
sich seitdem vermindert, aber die Bazare sind immer noch
belebt. Im alten Stadtviertel der Edelleute sieht man viele
hübsche Paläste und eine Anzahl von Tempeln. Im Nor-
den der Stadt erhebt sich aus einem steilen Felsen die Fe-
stnng der Raos, die sich vom Thal aus geradezu furchtbar
ausnimmt mit ihren dicken Mauern, den Zinnen, Thürmen
n Alwur.
und vorspringenden Bastionen; innerhalb derselben steht der
Palast, ein elegantes Gemisch feudaler und radschputischer
Architektur. Der Kilidar (Commandant), begleitet von sei-
nem Generalstab, empfängt die Europäer und führt sie
überall umher. Man hat dort oben eine herrliche Aussicht.
Inmitten des Palastes steht ein merkwürdiges kleines Ge-
bände, der Tschisch Mahal, das heißt Palast der Spiegel.
In demselben ist der große Saal mit buntfarbigem Glas
und goldenen Arabesken verziert; an den Wänden sieht man
Fresken, welche Könige von Matschery, mythologische Scenen
und dergleichen darstellen. Sie sind sehr fein ausgeführt
und die Anzahl der Figuren beläuft sich in die Tausende.
An der rechten Seite der Veranda ist die Mauer mit einem
prächtigen Gemälde geschmückt; dasselbe stellt den Eingang
des Königs Pertap Sing in das Paradies des Gottes
Krischna dar.
Sobald die Sonne hinter den Bergen verschwindet, wird
118 Skizzen ai
es auf den Straßen lebhaft und auf den Dächern tummeln
sich Schwärme von Affen umher, Thiere von kurzem, ge-
druugenem Wuchs, mit hellbraunem Haar und ganz kurzem
Schwänze; sie haben niedrigere Kaste als die edelen Langnr-
äffen im Thale von Amber.
In Alwar war auf Befehl des Rao Alles für den
Empfang der Reisenden vorbereitet. Schon vor den Thoren
wurden sie vom Geheimschreiber im Namen des Fürsten be-
grüßt und dann in den Palast Armndschan Baagh geleitet,
welcher ihnen ganz und gar zur Verfügung gestellt wurde
mit dem reichen Inhalte der Keller, mit Pferden, Wagen und
Elephanten. Neben demselben liegt der Sommerpalast des
Königs; früher wurde den britischen Gesandten in demselben
Wohnung augewiesen; er ist außerordentlich geräumig und
seine Garteuanlagen bilden einen englischen Park. Etwas
entfernt liegt ein Kegelberg, Fels der Perlen, der ganz be-
waldet ist und wohin sich der Herrscher Abends zu begeben
pflegt, um die frische, balsamische Lust einzuathmen.
Alwar, Hauptstadt von Mewar, liegt etwa 90 Miles
nördlich von Dfchäpnr, in der Bergkette der Mewatis; der
König ist „Bundesgenosse" der Engländer und zahlt eine
Ostindien.
übrigens nur geringe Snbsidie an die bengalische Regierung;
seine Einkünfte betragen etwa 38 Laks Rupien, der gegen-
wärtige Maharao Radscha heißt Scheodan Sing; er
bestieg 1858 den Thron, 14 Jahre alt. Während seiner
Minderjährigkeit wnrde das Land von einem Regentschafts-
rathe verwaltet, in welchem der britische Bevollmächtigte den
Vorsitz führte. Er ist von heftigem, aufbrausendem Wesen
und die englische Regierung ist mit ihm sehr unzufrieden.
Folgende Hosgeschichte ist kennzeichnend.
Ein junger, sehr reicher Edelmann war beim Maharao
sehr beliebt. Beide sahen eines Abends zu, wie die Frauen
in das Harem (indisch: Zenana) von einem Spaziergange
zurückkehrten. Der Edelmann war taktlos genug, sich über
die junge Königin etwas plump zu äußern. Doch sofort
bat er um Verzeihung und die übrigen Hofleute legten Für-
bitte zu seinen Gunsten ein. Der König jedoch, ergrimmt
wie er war, ließ ihm auf der Stelle allen Schmuck abreißen
und in einem dunkeln Winkel des Palastes durch seine Ennu-
chen den Kopf abschlagen. Als der britische Resident diese
Barbarei erfuhr, verließ er sofort Alwar. Der König, ein
Radschpute, spieltUberhaupt ein gefährliches Spiel; er be-
Freske im Tschijch '
günstigt die Mohammedaner und ihre Religion und man
sagt ihm nach, er sei insgeheim zu derselben übergetreten.
Alle Thakurs (Lehnsträger) waren in Aufregung; denn wenn
er sich offen als Mohammedaner bekannte, hätten sie ihre
Privilegien eingebüßt und nun intriguirten sie gegen ihn.
Dieser junge König war klein, aber sein Wuchs von
wunderbarem Ebenmaße, das Gesicht sehr hübsch mit einem
intelligenten Ausdrucke. Wer ihn so sah, hätte ihn der
Grausamkeiten nicht fähig gehalten, welche er verübt.
Die Europäer hatten an dem Geheimschreiber einen kun-
digen Führer in der Stadt. Sie gelangten von ihrem Pa-
last aus zu derselben auf einer Straße, die von hohen Bau-
men beschattet war; zu beiden Seiten lagen hübsche Land-
Häuser. Dann kommt man durch eine belebte Vorstadt an
den Haupteingang: das Delhithor. Alwar liegt an einem
Hügel, auf dessen Höhe viele Paläste stehen, und ist mit
Festungswerken umgeben. Die Häuser der untern Stadt
find dicht zusammengedrängt, der eigentliche Radschpnten-
Palast des Königs liegt auf einer Terrasse an einem Teiche;
er ist von weißem Marmor und hat gleich den Residenzen
der meisten indischen Könige einen Tschisch Mahal, einen
lhal zu Radschgarh.
„Krystallsaal". Nach Westen hin steigt der merkwürdig
gestaltete Kegelberg Alwar empor.
Scheodan Sing lud die Reisenden zu Jagden ein, welche
er in den Arawalibergen abhielt. Dieselben wohnten auch
den Dassarascsten bei. An denselben genießen die Baya-
deren große Freiheit. Es ist in Alwar Brauch, daß sie sich
unter den angesehensten Hofbeamten einen Patron wählen,
in dessen Palaste und auf dessen Kosten sie länger als eine
Woche bleiben, um die religiösen Tänze der Nanratri, der
neun Nächte, aufzuführen. Rousselet war nicht wenig er-
stauut, als der Haushofmeister des Palastes Armndschan
ihm meldete, daß mehr als 200 Bayaderen, Musikanten
voran, erschienen seien, um den Palast als Nauratriausent-
halt in Besitz zu nehmen; sie verlangten Einlaß, der natürlich
gestattet wurde. Bald wimmelte es von ihnen in dem gan-
zen Garten, und der Anblick dieser orientalisch an- und auf-
geputzten Mädchen war allerdings malerisch genug. Nach-
dem sie umhergegangen und gesprungen waren nnd viel ge-
lacht hatten, richteten sie sich in den verschiedenen Kiosken
ein, auch wurden rasch viele kleine Zelte ausgeschlagen, und
nuu glich der Garten einem Lager.
Der Sklavenhandel im ägyptischen Sudan und in Ostafrika.
119
Bald erschien eine Deputation der Musikanten, um mit
den Europäern über das Ceremouiel des Salam, der Be-
grüßuugsvorstellung, Rücksprache zu nehmen. Diese dauert
ein paar Tage! Die Natschis marschiren in Gruppen vor-
über, die singen und tanzen und, was für sie die Hauptsache
ist, einige Rupien erhalten. Die religiösen Tänze wurden
Abends auf der obern Schloßterrasse ausgeführt, auf grünem
Rasen. Dort hatte man auf Stangen eiserne Körbe be-
festigt, iu welchen harzhaltiges Holz verbrannt wurde; vom
Himmelsgezelt herab flimmerten die Sterne, und die aufge-
putzten Mädchen tanzten nach den Melodien der uns so
fremdartig klingenden Musik. Das Ganze machte einen in
der That feenhaften Eindruck, und volle zehn Tage hindurch
war großes Fest im Palast Armudschan. Der Rao erschien
mehrmals, hauptsächlich um zu sehen, wie die Europäer sich
aus der Assaire ziehen würden.
Den Schluß des Festes bildet eine große Procession und bei
Gelegenheit derselben mustert der König seine Streitkräfte.
Der Sklavenhandel im ägyptischen Sudan und in Ostafrika.
A. Wir haben wiederum seit geraumer Zeit nichts vou
Samuel Baker gehört. Wo mag er gegenwärtig sein?
Seinen letzten Berichten zufolge befand er sich zu Gondo-
koro am Bahr el Dschebel (— so heißt der Weiße Nil von
oberhalb der Mündung des Gazellenflusses an —) und führte
Krieg mit den eingeborenen Bari. Die ägyptischen Ossi-
ziere hatten ihn mit einem großen Theile ihrer Mannschaft
verlassen; Pascha Baker befand sich in einer überaus schwie-
rigen Lage, und es muß ihm selber längst klar geworden
sein, daß er sich in ein ungemein gewagtes, in hohem Grade
abenteuerliches Unternehmen eingelassen hat.
Er wollte dem ägyptischen Chedive Baumwolle in Fülle
aus der Aequatorialgegend verschaffen, und das hätte der
mohammedanische Potentat sich gern gefallen lassen. Er
versprach aber dem civilisirten Europa auch, den Sklaven-
Handel am Weißen Nil lahm zu legen, und rühmte sich in
einem Briefe vom 6. December 1870, dessen Inhalt wir
seiner Zeit im „Globus" nutgetheilt haben, daß er „den
Sklavenhandel am Weißen Nil gänzlich unterdrückt" habe.
Er fügte hinzu, daß die von ihm getroffenen Maßregeln die
Sklavenhändler „ganz und gar einschüchtern"; dieser
Handel bestehe nun nicht mehr; „kein einziger Sklav geht
mehr den Fluß abwärts."
Die Chartumer Handelsleute verfolgten ihn mit ingrim-
migem Hasse, weil er sie im Betrieb ihres schnöden Gewer-
bes störte, und er hat schon in Gondokoro erfahren, was die
Jntrigne dieser Bande von Auswürflingen aus verschiedenen
Völkern bedeuten will. Die Mohammedaner, jene am Hofe
des Vicekönigs von Kairo voran, sehen in ihm lediglich einen
Don Quixote, einen faselnden Philanthropen, der einen Bock
melken will und ein Sieb unter hält. Man muß, so den-
ken diese Bekenner des Koran, ein verbohrter Europäer sein,
um Sklavenhandel für etwas Unrechtes Zu halten; nnd steht
nicht überall der Mohammedanismus auf Sklaverei? Was
geht sie den hergelaufenen Engländer an? So raisonnirt
man in Kairo wie in Chartnm, und Baker hat das von
vornherein wissen können. Die mohammedanische Logik ist
eine andere als die europäische.
Nun ist es richtig, daß 1870, als Baker unter 9°26'N.
am Weißen Nil bei Taufikyia festlag, kein Schiff mit
Sklaven nilabwärts ging, aber der Sklavenhandel nahm
trotzdem seinen lustigen Fortgang. Ueber die Art und Weise
seines Betriebes giebt ein Schreiben „Aus dem Sudau" iu deu
„Mittheilungen der Wiener geographischen Gesellschaft", Juni-
Heft 1872, bündige Nachweise. Baker hatte vier Sklaven-
schiffe aufgebracht; er wußte aber nicht, daß in Folge seines
Einschreitens der ägyptische Mndir den Sklavenhändlern
durch geheime Boten die Weisung gegeben hatte, vor dem
Europäer auf der Hut zu sein. Sie ließen sich das gesagt
sein und beförderten nun ihre Sklaven fernerhin nicht
mehr auf dem Flusse, sondern zu Lande durch das Ge-
bietderSchillnk und dnrchKordosan. Sie selber fuhren
mit ihren Schiffen als ehrliche Kaufleute, die auch nicht einen
Sklaven an Bord hatten, stromabwärts, uud Baker war
recht gründlich hinter das Licht geführt. —
Angenommen, aber nicht zugegeben, daß der Chedive
guten Willen habe, dem Sklavenraube zu steuern, so ist doch
so viel gewiß, daß seine Befehle, welche er gegeben hat, gleich-
viel ob der Europäer wegen nur zum Schein, zumeist unbe-
achtet geblieben sind und bleiben, und wo man sie zum Schein
befolgte, kamen sie nicht etwa den geraubten Negern zu Nutze.
Der Correspondent aus dem Sudan bringt dafür ein Bei-
spiel bei. Der Mudir (Gouverneur) von Faschoda erhielt
die Weisung, gegen die Sklavenhändler scharf vorzugehen;
er fing aber die Sache schlau an. „Von den Schissen,
welche, nach Baker's Abwesenheit nichts Arges ahnend, nach
altem Brauche mit Menschenwaare gut beladen waren, wurde
der übliche Tribut an Baargeld, Sklaven und Elfenbein er-
hoben, und statt den Passirschein (Teskere) auszustellen, dem
Capitän am folgenden Tage erklärt, daß „in vergangener
Nacht" eine Depesche aus Chartum an ihn gelangt sei,
welche ihn anweise, alle Barken, welche Sklaven an Bord
haben, mit Beschlag zu belegen. So wurden jene um ihre
Abgaben betrogen und obendrein als Gefangene nach Char-
tum abgeführt. Die Sklaven, man schätzte ihre Zahl aus
13,000 bis 14,000, waren wie Häringe im Schiffsräume
zusammengepackt; unter ihnen wütheten die Blattern und
viele starben an Bord während der Reife; sie wurden nicht
beerdigt, fondern mußten als corpora delicti nach Chartum
gebracht werden; Quarantäne wurde nicht gehalten. Am
Hafen wurden Kranke und Todte ausgeladen und lagen dort
tagelang in der Sonne. Inzwischen vermehrten sich die
Leichen von Stunde zu Stunde; die Leute unterlagen nicht
allein der Krankheit, sondern auch dem Hunger. Jammer-
volles Trauerbild! In diesem Klima erfolgt die Verwesung
schon zwölf Stunden nach dem Tode; die Leichen verpesteten
die Atmosphäre der Stadt. Die Einwohner beschwerten sich
bei den Behörden; — keine Abhülfe! Die Folge war, daß
eine Blatternepideniie um sich griff, welche sich auch in die
Provinzen verbreitete und bald nachher auch in Kordofan
auftrat. Die überlebenden Sklaven steckte man unter die
Soldaten oder schickte sie auf die Plantagen der Regierung;
die Unmündigen wurden zu Türken „in die Kost gegeben".
Kein Einziger wurde freigegeben oder in feine Heimath zu-
rückgebracht. Die Mannschaft der mit Beschlag belegten
Schiffe schlug man in Ketten. Als ein neuer Gouverneur
nach Chartum kam, erfolgte allgemeine Amnestie, welche sich
auch ans Gefangene, Elfenbein, Schießbedarf, Waffen ?c.
120 Der Sklavenhandel im ägypl
erstreckte, und auch alle Sklaven, selbst die von Baker ge-
caperten, wurden nicht etwa frei gelassen, sondern den Skla-
venhändlern zurückgegeben, nur jene ausgenommen, welche
die Regierung sich angeeignet hatte."
Diese Thatsachen fallen in die zweite Hälfte des Jahres
1871. „Man kommt zu der Meinung, als wollten die tür-
tischen Behörden dem Sklavengeschäft zeitweilig die Zügel
frei lassen, um dann unter dem Glorienscheine, als wären
sie die Unterdrücker der Sklaverei, die Sklaven sich selber
anzueignen. Und da verkündet man, daß der Sklavenhandel
nicht länger bestehe!"
Der Chartnmer Correspondent weist dann nach, daß der-
selbe außer der Linie des Weißen Nils auch auf anderen
Wegen betrieben werde.
Eine bedeutende Sklavenstraße führt aus Darfur nach
Sint in Aegypten; — eine zweite aus Kordofau nach
Dongola und Assuau; — eine dritte von Chartum
nach Berber und Korosko; — eine vierte aus den
Gallaländern Uber Fasogl und Sennar nachChar-
tum. Diese gehen alle auf der Linie nach Aegypten. Eine
fünfte Sklavenstraße führt von Gallabat über Gada-
ref, Taka nach Snakim am Rothen Meere; eine sechste
aus Habesch, über Massawah, nach dem Hedschas
in Arabien. Aber in alle diese Sklavenstraßen münden klei-
nere Linien ein, und auf allen diesen Wegen wird, trotz
aller Verbote und Verträge, der Menschenhandel fortgetrieben.
„Mir ist im Mai 1871 in Assuan, also in Aegypten
selbst, begegnet, daß auf meinem Schiffe, nachdem wir den
Hafen ein Viertelstündchen im Rücken hatten, eine Anzahl
von Negerkindern heimlich einquartiert wurde. Ich verließ
das Schiff und erstattete Anzeige bei der Behörde, habe aber
nichts von einem Einschreiten gegen den Capitän gehört; —
wahrscheinlich war die obligate Zollgebühr von 1
Pfund Sterling für den Kopf schon entrichtet. Der
Sklavenhandel hat in den letzten Jahren eine Art
Legitimation erhalten; denn es ist eine regelmäßige
Steuer theils in Baarem, theils in Natura auf die Sklaven
gelegt worden."
„Aus Erkenntlichkeit für die oben erwähnte Rückgabe
ihres Eigenthums haben die Chartumer Kausteute ihrer gol-
denen Dankbarkeit mit 10,000, sage zehntausend, Pfund
Sterling Ausdruck gegeben, welche sie dem Gouverneur durch
den Vertrauten Genaui Abu Muri zu Füßen legten. Kraft
dieses gewichtigen Einflusses erhielten die Sklavenführer einen
geheimen Wink von hoher Stelle, sie sollten eine Bittschrift
einreichen, in welcher sie der Regierung anzeigen, daß die
Sklaven auf den vom Weißen Fluß heimkehrenden Schiffen
Weiber und Kinder der Besatzungsmannschasten in den ver-
schiedenen Handelsniederlassungen (— Seriben —) seien
und eine Reise nach Chartum machen. Man bäte deshalb,
daß für solche Personen Erlaubniß zu freier Passage ertheilt
werden möge. Die Bittschrift wurde genehmigt und an den
Mndir von Faschoda die Weisung erlassen, kein Schiff an-
zuhalten , welches Familienglieder der Besatzungsmannschaf-
ten, der Seriben, an Bord habe. So können nun die Skla-
Venräuber ihre Beute ungehindert verschiffen, und sie haben
ihre Wakils (—Bevollmächtigten; Factoren —) in den Han-
delsniederlassungen benachrichtigt, daß die Regik (Sklaven)
frei passiren können."
Das sind Zustünde im ägyptischen Sudan.
An der ostafrikanischen Küste wird der Sklaven-
Handel heute so schwunghaft betrieben wie je zuvor. Die
Besitzungen des Sultans von Sansibar reichen an derselben
vom Aequator im Norden bis etwa zu 10" Süd, und auf
dieser ganzen Strecke darf, den Verträgen gemäß, kein briti-
scher Kreuzer ein Sklavenschiff wegnehmen!
chen Sudan und in Ostafrika.
Der größte Theil der Sklaven kommt von der Westseite
des Nyassasees, aus einer Gegend, die fast 100 deutsche
Meilen von der Küste entfernt ist. Die Sklavenhändler
sind zumeist Araber, Unterthanen des Sultans von Sansi-
bar. Sie ziehen mit einem bewaffneten Gefolge ins Innere
und sind mit verschiedenen Waaren, insbesondere mit Glas-
perlen und Kattun wohl versehen. Die Negerstämme liegen
häufig in Fehde mit einander und suchen so viele Gefan-
gene als möglich zu machen. Diese werden verkauft. Wenn
bei Ankunft der arabischen Händler kein Krieg ist, so hetzen
sie Stämme gegen einander, unterstützen eine Partei und
diese bleibt, weil die Araber ihre Schießwaffen anwenden,
insgemein Sieger. Die Gefangenen kosten nicht viel; oft
wird der Menfch für ein paar Ellen Baumwolleuzeug ab-
gelassen. Durch diese Fehden wird große Verwüstung au-
gerichtet; man verbrennt die Dörfer, viele Leute kommen auf
den Schlachtfeldern um, andere sterben an ihren Wunden
oder verhungern; Kinder, junge Weiber und Männer wer-
den in die Sklaverei abgeführt. Weite Strecken sind schon
entvölkert worden, aber Afrika ist ungemein menschenreich,
sonst wäre es nicht möglich, daß allein in jener Gegend von
1862 bis 1869 mehr als 100,000 Sklaven aus dem Ha-
senplatze Kilwa verschifft werden konnten. Wir geben dafür
weiter unten die amtlichen Belege.
Sobald die Araber eine hinlängliche Anzahl Sklaven
beisammen habeu, treiben sie dieselben nach der Küste, um
sie dort zu verschiffen. Die grauenvollen Dinge, welche sich
auf dieser Reise ereignen, sind von Livingstone und Anderen
ausführlich beschrieben worden. Die Männer werden an
einander gejocht; man legt ihnen gegabelte Stangen um den
Hals, die Frauen und Kinder werden gebunden. Wer Be-
freiung versucht oder nur Miene macht, die Bande zu lösen,
wird sofort niedergeschossen; wer krank wird, bleibt liegen
und man bekümmert sich nicht weiter um ihn; denn ein
Kranker hat ja keinen Marktpreis, und ohne diesen gilt ihnen
ein Mensch für nichts. So kommt es, daß viele unterwegs
sterben oder ermordet werden.
Die Ueberlebenden kommen in Kilwa (Quiloa der Por--
tugiefen) matt und abgemagert an, denn ihre Verpflegung
während der Reise war dürftig. Die Mehrzahl wird nach
Sansibar verschifft; dort verkauft man sie auf offenem Skla-
venmarkte oder an Händler; was nicht in den Besitzungen
des Sultans bleibt, wird in arabischen Dhaus nach Arabien
oder Persien verschifft. Dieser überseeische Sklavenhandel ist
zumeist in den Händen von Kaufleuten aus Maskat in
Oman; einige gehören auch anderen ostarabischen Häfen an.
Auf der See gehen ebenfalls viele Sklaven verloren; es ist
amtlich nachgewiesen, daß während der Fahrt zwischen Kilwa
und Sansibar ein Dhan ein volles Drittel verlor, in-
dem 90 Menschen im kranken Zustande oder schon todt über
Bord geworfen wurden.
In Kilwa erhebt der Sultan von jedem Sklaven, wel-
cher von dort nach Sansibar verschifft wird, ein Kopfgeld
von 2 Dollars, und von denen, welche nach Lamu, im Nor-
den seiner Besitzungen, direct befördert werden, 4 Dollars.
Aus den Registern des Zollhauses in Kilwa geht hervor,
daß nach Sansibar und anderen Häfen verschifft wurden:
Jahr. Nach Sansibar. Nach anderen Plätzen.
1862 bis 1863 13,000 5500
1863 „ 1864 14,000 3500
1864 „ 1865 13,821 3000
1865 „ 1866 18,344 4000
1866 „ 1867 17.538 4500
76,703 20,500.
In Summa in diesen wenigen Jahren 97,203 Sklaven.
Theodor Kirchhoff: Streifzüge in Oregon und Californien (1871).
121
Ein Bericht des viel genannten Dr. Kirk in Sansibar vom
1. Februar 1870 weist nach, daß in dem mit dem 29. August
1869 abgelaufenen Jahre in Kilwa 14,944 verschifft wur-
den. Es ist aber wohl Obacht zu nehmen, daß außer in
Kilwa noch in anderen Küstenplätzen Sklaven ausgeführt
werden. Auch geht ein Sklavenhandel zwischen dem portn-
giesischen Ostasrika und Madagaskar im Schwange, und es
ist nachgewiesen worden, daß selbst nach Suez, in das Ge-
biet des biedern, „civilifationsfreundlichen" Viceköuigs von
Aegypten, ostafrikanische Sklaven verkauft werden. („Church
Missiouary Intelligenter" März 1872, S. 92.)
Die Engländer haben an der ostafrikanischen Küste eine
Flottille von Kreuzern, welche auf, die Sklavenschiffe Jagd
machen; sie richten aber verhältnismäßig wenig aus. In
den Jahren 1867 bis 1869 brachten sie 116 Dhans mit
2645 Sklaven auf, während nach den amtlichen Registern
in derselben Zeit aus Sansibar und Kilwa mehr als 37,000
verschifft worden sind, die ihnen entgingen. Den Verträgen
zufolge dürfen sie auf der ganzen Strecke von Kilwa im
Süden bis nach Lamn im Norden kein mit Sklaven belade-
nes Schiff abfangen. Die Dhans fahren also ungehindert
bis Lamu und entkommen von dort nach Arabien oder
Persien.
Man hat in den letzten Jahren die besreieten Sklaven
nach Aden oder Bombay gebracht, wo sie viele Kosten ver-
ursacht haben; einige sind auch uach den Seychellen befördert
worden. Es fragt sich aber, wie dem Unsuge gründlich zu
steuern sei; so lange die bisherigen Verträge gelten, ist das
rein unmöglich. Allerdings bestimmen sie, daß keine Skla-
ven aus Afrika exportirt werden sollen; es ist ausdrücklich
festgestellt worden, daß ihre Einfuhr nach Arabien, Persien
und dem Rothen Meere, überhaupt nach Asien, unter keiner
Bedingung statthaft sei. Aber sie erlauben, daß die Sklaven
an der ostafrikanischen Küste von Kilwa nach Norden hin
verschifft werden dürfen, nach Sansibar und bis Lamu. Die
britische Regierung hat sich verpflichtet, gegen die Sklaverei
im Gebiete des Sultans von Sansibar nichts zu thun, auch
den bona fide Transport der Sklaven von einem Theile
der Besitzungen des Sultans nach einem andern nicht zu
hindern, so lange der letztere nicht als Deckmantel für die
Sklavenverschiffung nach auswärts diene; den letztern zu ver-
hindern sei der Sultan verpflichtet und England sei entschlos-
sen, demselben zu steuern.
Die Verschiffung dauert aber fort, und der Sultan hin-
dert sie mit nichten. Der Bedarf an Arbeitssklaven in sei-
nem Gebiete stellt sich jährlich auf 1700 bis 4000 Köpfe;
es ist demnach klar, daß etwa 16,000 nach auswärts ver-
schifft werden. Die Verträge werden umgangen und bleiben
unbeachtet, und britischerseits will man nun einen neuen
Tractat mit dem Sultan schließen, der folgende Bestimmun-
gen enthält:
An der ostafrikanischen Küste sollen nur allein aus dem
Hasen von Dar Selam und von keinem andern Seeplatze
aus Sklaven verschifft werden, und zwar lediglich nach San-
sib ar. Von diesem letztern aus darf man Sklaven auch nach
Pemba und Mombas bringen, aber nach keinem andern
Platze verschiffen; jede Übertretung dieser Bestimmung wird
mit Wegnahme des Schisfes geahndet. — Die Zahl der
von Dar Selam zu exportireudeu Sklaven soll und darf das
Bedürfniß des Inlandes an Arbeitskräften nicht übersteigen,
und es soll diese Zahl alljährlich durch Uebereinkommen zwi-
schen dem Sultan und dem britischen Bevollmächtigten fest-
gestellt werden, uud zwar so, daß sie nach und nach abge-
mindert wird. Nach Verlauf einer gewissen Zeit soll dann
diese Sklavenlieferung ganz aufhören.
Weiter. Jedes Schiff, welches Sklaven transportirt,
soll aufgebracht werden, falls dasselbe keinen vom Sultan
ausgestellten Paß vorweisen kann; ein solcher gilt allemal
nur für eine einzige Reise. — In Sansibar soll der offene
Sklavenmarkt aufhören. Der Sultan soll jeden seiner Un-
terthanen, welcher direct oder indirect beim Sklavenhandel
betheiligt ist oder freigelassene Sklaven „molestirt", streng
bestrafen. — Es wird den Katschis (— Leuten von der oft-
indischen Halbinsel Katsch —) und anderen Jndiern, welche
britischem Gebiet angehören, verboten, nach Ablauf einer
näher zu bestimmenden Zeit Sklaven zu besitzen; sie dürfen
schon jetzt keine solchen mehr kaufen. —
Abgeschlossen ist ein solcher Bertrag bis jetzt noch nicht;
der gegenwärtige hat seinen Zweck nicht im mindesten erfüllt.
Die Engländer drohen, ihn ohne Weiteres zu kündigen, und
alle Sklavenschiffe wegzunehmen, welche überhaupt auf dem
Wasser schwimmen, falls der Sultan nicht Ernst macht.
Sie wollen ihm einen Theil der erwachsenen Neger, welche
sie etwa aufbringen, als Landarbeiter überlassen, falls er
Garantie für gute Behandlung derselben leistet und sie als
freie Leute betrachtet.
Inzwischen nimmt dieser Sklavenhandel seinen Fortgang
unter den Auspicieu eines mohammedanischen Herrschers.
Streiszüge in Oregon und Californien (1871).
Von Theodor Kirchhoff.
V.
Eugene City. — Die drei Hauptquellengebiete des Willamette. — Der Dichter Joaquin Miller. — Oregonischer Than.
In der Stagekutsche nach Californien. — Regnerische Mondnacht. — Die Callapooya-Berge. — Meine Reisegesellschaft.
Chinesen und Weiße als Eisenbahnarbeiter. — Das Paß-Creek-Canon. — Ein lueullisches Frühstück. — Das Umpguathal.
Oakland. — „Umpqua-Mud". — Reizende Heimstätten für Farmer.
Eugene City (sprich: M-dschien), in welchem Platze
ich einen Tag verweilte, ist ein Städtchen von etwa 800
Einwohnern und der Sitz des Kreisgerichtes von Lane County.
In seiner Nähe verbinden sich die drei Hauptqnellengebiete
des Willamette, welcher während der Wintermonate mit
Globus XXIl. Nr. 8. (August 1872.1
kleinen Dampfbooten bis hierher befahren werden kann. Am
M'Kenzie-Arm (fork), der aus Nordost strömt, erstrecken sich
die Niederlassungen 60 englische Meilen,.an dem vom Kü-
stengebirge herkommenden „Coast-Fork" 40 Miles uud am
„Willamette-Fork", dessen Laus aus südöstlicher Richtuug ist,
16
122 Theodor Kirchhoff: Streifzt
80 Miles aufwärts von ihrer Mündung. Der Boden in
den Thälern aller dieser Stromläufe ist sehr fruchtbar; das
Hügelland bietet vorzüglichen Weidegrund und die Flüsse ge-
ben eine leicht zu verwertende Wasserkraft für Mühlen :c.
Der „Middle-Fork" des Willamette hat bei dem Orte
Springsield, drei Miles östlich von Eugene City, eine Was-
serkraft, die so mächtig wie die des Mill-Creek bei Salem ist.
Die Producte aller jener Thäler finden in Eugene City ihren
nächsten Markt. In diesem Städtchen drehte sich die Unter-
Haltung zur Zeit meines Besuches fast ausschließlich um die
Eisenbahn, welche nächstdem dort erwartet wurde, und die
an dieselbe gestellten Hoffnungen für den Aufschwung dieses
Platzes waren von der sanguinischsten Art*).
Ich will hier erwähnen, daß Eugene City der Geburts-
ort des Dichters Joaquiu (sprich: Wah-kiehn) Miller
ist, welcher durch sein vor Kurzem zuerst in London erschie-
nenes Werk „Songs of the Sierras" einen bedeutenden lite-
rarischen Namen in England und Amerika erlangt hat und
mit einem Male ein berühmter Mann geworden ist. Seine
Stoffe sind meistens aus den westlichen Ländern gewählt und
haben den Reiz des Neuen, und der reiche, volle Klang sei-
ner markigen Sprache sowie die großartig gezeichneten Bil-
der verdienen Bewunderung. Miller hat ein anßerordent-
lich bewegtes Leben geführt: in feiner Jugend begleitete er
die Indianer in Oregon und Californien auf ihren Jagd-
und Raubzügen; war alsdann mit dem Flibustier Walker in
Nicaragua und durchstreifte Arizona; war Herausgeber einer
Zeitung in Eugene City, wo er eine Dame nach einer Be-
kanntschast von nur drei Tagen heirathete und sich später
wieder von ihr scheiden ließ; lebte darauf als Advocat in
dem Minenorte Canyon City im östlichen Oregon und sign-
rirte als Ochsentreiber in Idaho; ging dann nach London,
wo er mit literarischen Celebritäten bekannt wurde und seine
Gedichte veröffentlichte, und hat jetzt San Francisco als
Wohnort erwählt. Ob er die hochgestellten Erwartungen
seiner vielen Bewunderer erfüllen wird, muß die Zukunft
lehren. Interessant ist es, daß einer der bedeutenderen neue-
ren amerikanischen Dichter ein Kind des prosaischsten Landes
der Welt, nämlich des regnerischen „Webfootlandes" ist.
Der Verfasser erfreut sich der persönlichen Bekanntschaft die-
ses Genies. Joaqnin Miller trägt langes, blondes Locken-
haar und ist ein seltsamer Mensch. Es ist fast unmöglich,
eine zusammenhängende Unterhaltung mit ihm zu führen, da
er stets wie halb im Traume ist und wenig oder gar nichts
sagt. Sein neuestes Werk soll das Leben Christi in
Versen behandeln.
Zu meinem Verdruß war in Eugene City mit mir ein
echtes „Webfootwetter" eingezogen, ein Regen, „Oregon
Mist", d. h. oregonischer Thau genannt, der allem Anschein
nach wochenlang anhalten würde, so gleichmäßig rauschte er
vom aschgrauen Himmel herab. Für meine hier zu begiu-
uende Stagefahrt nach Californien war dieser Wechsel der
Witterung nichts weniger als aufheiternd, zumal ich durch
die fonnigen Tage in den letzten Wochen ganz verwöhnt wor-
den war und gar nicht mehr an den Webfootregen gedacht
hatte. Die Bewohner von Eugene hatten aber entschieden
andere Ansicht als ich über das Regenwetter, und ich konnte
an ihren freudestrahlenden Mienen leicht erkennen, daß sie
jetzt recht in ihrem Elemente waren. Mein Wirth, den ich
kleinlaut über die vermutliche Dauer dieses schändlichen Re-
gens befragte, bemerkte zu mir sich vergnügt die Hände rei-
bend: er glaube, daß derselbe wenigstens hundert
*) Ende December 1871 war die Eisenbahn bereits bis 14 Miles
südlich von Eugene vollendet und eine weitere Strecke von 60 Miles
bis in das Umpqnathal für das Niederlegen der Schienen bereit.
D. Verf.
; in Oregon und Californien.
Tage anhalten werde. Eine traurige Aussicht für einen
Reisenden, der, wie ich, erwarten mußte, bei solchem Wetter
während einer Fahrt von beinahe vierhundert Meilen in der
Stagekutsche festgebannt zu fein!
Um ein Uhr Morgens am 27. September nahm ich mei-
nen Sitz in der Stage, welche mich nach der 372 englische
Meilen von Eugene entfernten am Sacramentoflusse liegen-
den Stadt Red Bluff bringen sollte. Es war eine matthelle
stürmische Mondnacht, in welcher ich meine Reise antrat.
Wilde Wolken jagten sich am Himmel und heftige Windstöße
pfiffen um das Gefährt, worin ich mit fünf Leidensgenofsen
Platz genommen hatte und auf der rauhen Landstraße der-
maßen hin und her gerüttelt wurde, daß an Schlaf nicht zu
denken war. Bald verdunkelten die fliegenden finsteren Wol-
ken die Scheibe des Mondes und entluden sich in prasselnden
Regengüssen, bald ergoß sich das matte Licht des Erdtraban-
ten über die waldige Landschaft. Froh war ich als der Tag
anbrach und als Ersatz für die Strapazen der Reife wenig-
stens eine Umschau möglich machte. Wir traten soeben in
den dichtbewaldeten Gebirgszug der Callapooya-Berge, wel-
cher, in der Richtung von Osten nach Westen laufend, die
Thäler des Willamette und des Umpqua scheidet. Diese
Bergkette erhebt sich, nach der Angabe eines mit mir reisen-
den Feldmessers, in einzelnen Kuppen bis zu 5000 Fuß,
bildet aber hier einen natürlichen Paß, der den Namen „Paß-
Creek-Caüon" führt und nur 300 Fuß über dem Spiegel des
Meeres liegt.
Ich fand jetzt Gelegenheit, mit meiner Reifegefellschaft
näher bekannt zu werden. Dieselbe bestand aus folgenden
interessanten Persönlichkeiten: aus einem Lebensversicheruugs-
ageuteu, der von weiter nichts als von Prämien, Dividenden
und Sterbetabellen sprach, einem blinden amerikanischen Musik-
Professor, einem zanksüchtigen, kratzbürstigen Künstler, der
keinen Widerspruch duldete und, wie er sagte, den oregoni-
schen Ladies Singstunden gab und jedes Instrument persect
spielen konnte, von einer Maultrommel bis zu einem Stein-
way'schen Flügel; ferner aus einem Civilingenieur in Dien-
sten des Staates Oregon, der mir manche werthvolle Auf-
schlüsse über die umliegende Gegend gab; aus einem Aankee-
rechenmeister, der sich den „lightning calculator" (Blitz-
rechenmeister) nannte, der mit einer unglaublichen Schnellig-
keit die schwierigsten Rechenexempel im Kopfe löste und den
biederen „Webseet" in den kleinen Städten Vorlesungen
über Arithmetik hielt, und aus einemSchweine?aufmann
aus Chicago, einem rothhaarigen Jrländer, der sich die Re-
fourcen Oregons in Schweinen ansah und, wie er sich aus-
drückte, nur dann wirklich wohl fühle, wenn er die Ferkel beim
Abstechen fchreien hören und in einem Schlachthause bis an
die Knöchel in Blut waten könne. Daß die Unterhaltung
in solcher Gesellschaft nie stockte, wird man mir wohl aufs
Wort glauben!
Eine interessante Abwechselung gewährten bei unserer
Fahrt durch die Callapooya-Berge die vielen Zelt- nnd Hüt-
tenlager nahe an der Landstraße, in denen sich die Eisenbahn-
arbeiter häuslich eingerichtet hatten. Bald waren es Chine-
sen, bald Weiße, die uns einen frohen Morgengruß zuriefen,
wie sie, Kaffee kochend oder ihre Morgentoilette machend, in
Schaaren vor ihren Zelten und Hütten standen, welche sich
oft in überraschend romantischer Lage in dem Hochwalde nn-
seren Blicken zeigten. Die weißen Arbeiter erhalten von der
Eisenbahngesellschaft 60 Dollars Gold per Monat und Be-
köstigung und können leicht 35 Dollars in jedem Monate er-
übrigen, wogegen sich der geringere Bedürfnisse habende
John (Chinese) mit 30 Dollars Arbeitslohn per Monat
begnügen muß. Au den Bäumen in der Nähe der Land-
straße bemerkte ich öfters große Placate befestigt, mit den
Theodor Kirchhoff: Streifzüge i
Worten darauf: „railroad hands wanted!" — oder „One
thousand laborers wanted!" :c., ein Beweis, daß es der
Eisenbahngesellschaft mit dem raschen Fortbau der Bahn vol-
ler Ernst war. Auf dieser Strecke bot der Bau einer Eisen-
bahn nur geringe Schwierigkeiten. Man brauchte nur dem
von der Natur vorgezeichneten Wege durch das Gebirge zu
folgen, und die prächtigsten Waldungen lieferten ganz nahe
am Bahnbett Holz für Schienen, Brücken !c. in uuerfchöpf-
lichem Vorrath.
Nachdem wir auf einem 3Miles langen Knüppel-
damme der primitivsten Construction im Paß-Creek-Canon
halb gerädert worden waren, öffnete sich die Landschaft und
wir traten in das romantische Umpquathal, wohin uns der
Paß-Creek (derselbe fällt in den Elk-Creek und dieser in den
Umpquafluß) das Geleit gab. Bei der Stage-Station Haw-
ley nahmen wir unser Frühstück ein, welches einzig in sei-
ner Art war. Zwei irische Junggesellen in schrecklich ver-
wahrloster Kleidung, die mit nackten Füßen in zerrissenen
Pantoffeln umherschlürften, waren die Wirthe, der Koch ein
Chinese, und es herrschte ein grauenhafter Schmutz in der
aus den Namen eines Hotels Anspruch machenden Spelunke.
Das Essen war dem Personal in derselben vollkommen ent-
sprechend. Froh war ich, als der Kutscher zum Weitersah-
ren die Peitsche knallte und ich dieses Hotel, hoffentlich aus
Nimmerwiedersehen, verlassen konnte. Der Regen hatte jetzt
aufgehört und eine herrliche Landschaft lag im vollen Glänze
der Morgensonne vor uns da. Grasreiche Ebenen, grünes
Hügelland und malerische Waldungen wechselten mit einander
ab; die Nadeln- und Laubhölzer prangten in allen Farben-
schattirnngen des Herbstes und jeden Augenblick öffneten sich
zu beiden Seiten der Landstraße neue anmuthige Thalmul-
den und von grünen Hügeln umschlossene Thalkessel, in denen
sich mitunter Farmen in stiller Abgeschlossenheit idyllisch ein-
genistet hatten. Die Waldungen zeigten meistens nur wenig
Unterholz, welches die Indianer, um die Jagd zu erleichtern,
hier im Sommer fortzubrennen pflegen, und gaben oft das
Bild von natürlichen Parks. Der Boden war schwarz und
fettig und soll sehr productiv sein.
Wolle und Speck (bacon) sind die Hauptausfuhrartikel
des Umpquathals. Mit dem Weizen pflegte man bis jetzt hier-
zu Lande die Schweine zu füttern, weil der Transport von
Cerealien aus dieser abgelegenen Gegend wegen der damit
verbundenen Unkosten keinen Nutzen abwarf. Die Haupt-
Verkehrsader, der Umpquafluß, ist nur bis nach dem Städt-
chen Scottsburg, 30 Miles von feiner Mündung, für Schoo-
ner und kleine Dampfboote befahrbar. Auf Kosten der Ver-
einigten-Staaten-Regiernng werden jetzt die die Schifffahrt
hindernden Felfen in feinem Bette fortgesprengt; aber die Mün-
dung des Flusses ist durch eine Sandbarre gefährdet und
kann derselbe als Verkehrsweg nie von Bedeutung sein.
Daß eine Eisenbahn für diese an natürlichen Hülfsquelleu
reiche aber entlegene Gegend von weittragenden Folgen sein
und einen totalen Umschwung in alle Verhältnisse bringen
muß, liegt auf der flachen Hand. Jedermann redete denn
auch von der Eisenbahn: wie bald die Verbindung sowohl
mit Calisornien als mit dem Willamettethale hergestellt sein,
und welchen Einfluß die Eisenbahn aus die Zukunft dieses
Landes haben würde? :c. In den kleinen Ortschaften leb-
l Oregon und Calisornien (1871). 123
ten die Bewohner theils in der Hoffnung, daß ihr Platz sich
bald durch die Eisenbahn zu ungeahnter Blüthe emporschwin-
gen müsse, theils befürchtete man die Concnrrenz von neuen
an der Bahnlinie entstehenden Städten, und Schwarzseher
prophezeiten, daß bald das Gras in den Straßen der alten
Ortschaften wachsen und die ins Land strömenden Fremden
allen Handel an sich reißen würden: und so war wechselnd
Zweifel und Hoffnung, Furcht und Freude in diesem Lande
über den nahen Advent des mächtigen Civilisators der Neu-
zeit, — der Eisenbahn.
Nach einer ununterbrochenen Fahrt von 57 englischen
Meilen, die uns durch eine an landschaftlichen Reizen reiche
Gegend führte, erreichten wir um Mittag das Städtchen
Oakland. Dieser Ort liegt ganz zwischen Bergen versteckt und,
wie mir schien, auf einem höchst unpassenden Platze. Ein
heftiger Regen machte die steilen Straßen nichts weniger als
einladend, so daß ich froh war, als die Stage den hohen Hü-
gel, auf dem das Hotel lag, erklommen hatte und ich von -
der windschiefen Veranda desselben wie aus einem Adlerhorste
die schmierige, von Regen überfluthete Umpquastadt in aller
Gemüthsruhe betrachten konnte. Der Ausdruck schmierig ist
für das Umpquathal bei Regenwetter fehr bezeichnend, und
denUmpqna-„Mud" hat jeder Reisende in Oregon in schlim-
mer Erinnerung. Als wir nach eingenommenem keineswegs
sybaritischen Diner Oakland wieder verließen und nach dem
Städtchen Roseburg weiter fuhren, wurde mir eine bleibende
Erinnerung an den „Umpqua-Mud". Der schwarze Boden
war nach dem letzten Regen dermaßen fettig und klebrig ge-
worden, daß er die Oeffnnngen zwischen den Speichen der
Wagenräder ganz ausfüllte. Alle paar hundert Schritt
mußten wir halten, weil die sechs Pferde, welche den Vor-
spann bildeten, die Stage nicht weiter vorwärts bringen konn-
ten, und reinigten die Räder mit Fenzriegeln; eine sehr
ermüdende Arbeit, von welcher nur der blinde Musikprofessor
vom Kutscher dispensirt wurde. Da ich der Stage-Company
50 Dollars in Gold für einen Platz in der Kutsche hatte
zahlen müssen, so war eine solche Arbeit doppelt hart; doch
ist es in den westlichen Ländern Amerikas nichts Seltenes,
wenn ein Reisender, der sein gutes Geld für Beförderung
in der Stage gezahlt hat, den halben Weg neben dem über-
füllten Wagen zu Fuß gehen mnß, weil die Pferde denselben
sonst nicht von der Stelle zu bringen vermögen.
Die Gegend behielt ihr anmuthiges Bild und dieselbe
auf der Eisenbahn oder ans einer guten Chanssee, statt im
„Umpqna-Mnd", zu durchfahren, wäre ein Capitalvergnn-
gen gewesen. Die kleinen von waldigen Hügeln eingeschlos-
senen grünen Thäler, von denen sich dem Blick alle paar
Miles neue ausschlössen, bildeten meistens Heimstätten für
nur eine Farmerfamilie, und es war eine Seltenheit, zwei
oder mehrere Wohnungen in einem Thale zu sehen. Ein
Farmer in Umpqua pflegt alles Land in einem dieser klei-
nen Thäler von der Regierung anzukaufen und hat dann die
nahe liegenden bewaldeten Hügel als vorzüglichen Weidegrund
umsonst, weil diese allein keine Käufer finden. Wer, nach-
dem die Eisenbahn dieses Land mit der Außenwelt verbnn-
den hat, ein solches kleines Paradies sein Eigenthum nennt,
der ist in der That ein Glücklicher unter den Ackerbauern
Amerikas! —
124
Die Reformen im
japanischen Reiche.
Die Reformen im
A. Wir geben gern zu, daß wir für die Japaner große
Borliebe hegen. Sie sind ein braves, civilisirtes, in hohem
Grade anch der Cnltur, der geistigen Entwickelung fähiges
Volk; tapfer, fleißig, erfinderisch, sinnreich. An ihnen zeigt
sich recht deutlich, wie unrichtig die einst landläufige Be-
hauptuug ist, daß „die mongolische Race stationär" sei.
Wir sind aber mit der Raceueintheiluug noch nicht weit ge-
kommen, und auch mit der modernen „turauischen" Gruppe
sieht es sehr schlimm aus. Wir haben nur ein Wort mehr
und zwar eins, das nicht einmal so viel Verständniß dar-
bietet, wie das Wort mongolisch.
Die Japaner sind den Völkern der mongolischen Race,
den „Turanern" zugezählt worden; aber daß sie nicht „sta-
tionär" sind, dafür liefern sie uns die bündigsten Beweise.
Sie hatten sich zwei Jahrhunderte von allem Außenverkehr
möglichst abgeschlossen, und sie brauchen das nicht zu be-
reuen. Die Christen, welche im sechszehnten Jahrhundert
zu ihnen ins Land gekommen waren, betrugen sich dort über-
aus schlecht und nichtswürdig, und auch in Japan waren es
insbesondere die Jesuiten, welche Zerrüttung und Bürger-
krieg in das Reich brachten.
Bis vor nun 19 Jahren gelang es dem Jnselreiche des
Sonnenaufganges, die Fremden von sich abzuhalten; dann
kamen die Aankees und schlugen iu brutalster Weise die
langverschlossenen Pforten ein. Nachdem sie den Eingang
ertrotzt hatten, folgten die Europäer. Es lag im Zuge der
Dinge, daß Japan nicht ferner abgeschlossen bleiben konnte,
seitdem in der Südsee ein so reges Verkehrsleben zu pulsiren
begann und China den Fremden eine beträchtliche Anzahl
von Häfen eröffnen mußte. Es sah die Ausländer nur un-
gern; diese waren nicht gerufen worden, sondern drängten
sich auf, um Gewinn zu machen, und die Erinnerung an
das frühere Betragen der Christen, die ja auch Missionäre
mitgebracht hatten, war keine angenehme. Jndeß die Frem-
den waren nun einmal da und man sah sich gezwungen,
mit ihnen zu verkehren. Es hat einer Reihe von Jahren
bedurft, ehe beide Theile gegenseitig zu einem leidlichen Ver-
ständniß und zum Ausgleich gelangten; allerlei Irrungen
waren nicht zu vermeiden. Als aber die Japaner sich die
Dinge einmal zurecht gelegt halten, als sie begriffen, daß
das Alte unwiederbringlich dahin und daß eine durch und
durch neue Aera gekommen sei, schritten sie zur Neugestal-
tnng ihrer staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse mit
einer Kühnheit und Energie, zu welcher wir in der Ge-
schichte auch Europas kein Nebenstück finden.
Japan macht einen Bürgerkrieg durch. Der Taikun
oder Sjoguu, Nachfolger der früheren Kronfeldherren, welche
die Macht nsurpirt hatten, wird besiegt und muß dem altlegi-
timen Erbkaiser weichen, dem Mikado oder Tenno, der von
den alten Götterheroen abstammt und dessen sicherer Stamm-
bäum weit über 2000 Jahre hinaufreicht. Die großen Va-
fallen und die übrigen Lehnsherren verzichten auf ihre Pri-
vilegieu zu Gunsten der Reichsregierung und bilden ein der-
selben berathend zur Seite stehendes Parlament. Die Be-
ziehnngen zu den Fremden gestalten sich befriedigend für beide
Theile; man gestattet den Ausländern das Reifen im Lande,
und diese gewinnen durch nähern Verkehr mit dem Volke
vor demselben eine größere Achtung. Die Regierung selber
nimmt das Werk der Reform in die Hand, sie bricht völlig
mit allem Alten, in so weit sie dasselbe als unhaltbar er-
kannt hat; wir wollen hoffen, daß sie manche Schritte nicht
japanischen Reiche.
als allzu rasch wird beklagen müssen. Die Masse des Vol-
kes begreift schwerlich so viele Veränderungen, die gleichzeitig
kommen, und althergebrachten Gewohnheiten und Anschauun-
gen widersprechen.
Der richtige Ausdruck für das heutige Japan, so weit
die Regierung und die gebildeten Volksclassen in Betracht
kommen, ist Aufklärung. Von Ausschließlichkeit, Hoch-
muth und Vorurtheil ist nichts mehr zu verspüren; man
stellt sich als ebenbürtig und gleichberechtigt neben Europäer
und Nordamerikaner und eifert ihnen nach. Von dem Vie-
len, was zur Auswahl vorliegt, wählt man das, was für
das Land nützlich sein kann und was man als ersprießlich
für dasselbe erachtet, nicht bloß in materieller Beziehung,
sondern auch in geistiger. Man hat mnthig ganz neue Bah-
nen beschritten, bis jetzt mit Geschick und Erfolg.
Gewiß, diese friedliche Revolution, welche in ihrem gan-
zen Charakter und in allen ihren Einzelnheiten kein Ana-
logon hat, gehört zu den interessantesten Erscheinungen in
der Weltgeschichte. Durch sie ist, im fernsten Ostasien, ein
Culturvolk in den großen Völkerverkehr eingetreten, und es
wird ohne Zweifel ein wichtiger Factor in demselben werden.
Noch mehr; diese Umgestaltung.wirkt in Asien selbst schon
weithin; sogar China fängt an, wenn auch mürrisch und
widerwillig, dem Beispiele Japans in dem Einen und An-
dern zu folgen, und es liegt in der Beschaffenheit der Dinge,
es liegt in dem ganzen Zuge unserer Zeit, daß es bei die-
sen schwachen Anfängen nicht bleiben kann. Nur die ersten
Schritte kosten die meiste Ueberwindung.
Der ganze asiatische Osten ist in Gährung, in Umge-
staltung und Revolution begriffen, und es ist der Handels-
verkehr, welcher das Alte aus den Fugen treibt. Der junge
König vonSiam hat jüngst eine Reise durch Ostindien von
Calcutta nach Bombay gemacht; eine Gesandtschaft des Kai-
sers von Birma ist eben jetzt in Europa; der Sultan der
mohammedanischen Panthays in Mnnan hat eine Gesandt-
schaft an den Vicelönig von Indien geschickt, um mit dem-
selben freundschaftliche Verbindungen anzuknüpfen; und der
Handelsverkehr der Europäer und Nordamerikaner mit Siam,
Birma, Annam, China uud Japan stellt sich jährlich auf
die Summe von mindestens 4,000,000,000 Mark.
In Japan tritt der Tenno selbst, wie man den Mikado
heute betitelt, als Reformer auf. Man sieht aus Allem,
daß dieser junge noch nicht zwanzig Jahre alte Monarch die
neuen Ideen mit einer Art von Inbrunst sich aneignet; er
treibt keine Koketterie, sondern meint es offenbar ehrlich mit
feinen Bestrebungen.
Wir wollen aus den Berichten, welche wir in nordame-
rikanis hen Blättern und in der „Overland China Mail"
vor i' °s haben, eine bunte Mosaik von Notizen zusammen-
stelle;.; die Anführung der Thatfachen genügt, um dem Leser
einen Einblick in das zu geben, was in Japan vorgeht.
Die japanische Gesandtschaft, welche in Nordamerika
eine glänzende Aufnahme fand, wird demnächst die großen
europäischen Höfe besuchen und auch in der Hauptstadt des
deutschen Reiches erscheinen. Es handelt sich für sie dar-
um, aus eigener Anschauung Europa kennen zu lernen. Die
neuen Handelsverträge werden auf voller Gegenseitigkeit
beruhen.
In'Japan sind Behörden und Privatleute eifrig beslis-
sen, das Unterrichtswesen in zweckmäßiger Weise umzu-
gestalten,' damit es den neuen Verhältnissen entspreche. Aus
Die Reformen im
Ueddo wird gemeldet, daß allein dort reichlich 300 europäi-
sche Lehrer sofort würden Anstellung finden können. Die
Städte sollen in Schulbezirke eingetheilt werden; jeder Bür-
ger hat eine mäßige Abgabe als Schulsteuer zu entrichten
und es wird allgemeiner Schulzwang eingeführt. Die
Staatsmänner und höheren Beamten liegen mit Eifer dem
Studium der Weltgeschichte ob und beschäftigen sich auch mit
jenem der Volkswirtschaft. Für die arbeitenden Classen
werden Schulen gegründet, die unseren deutschen Real- und
polytechnischen Schulen entsprechen, und mit jeder sind prak-
tische Lehrgänge verbunden. Europäische Mechaniker und
Ingenieure finden sofort Anstellung.
Unter den höheren Ständen weicht die unbequeme japa-
nische Kleidung mehr und mehr der abendländischen.
In Kioto ist eine große Kunst- und Gewerbeaus-
stelluug eröffnet worden. Die Fremden, welche dieselbe
besucht haben, loben insbesondere die Bronze-, Porcellan-
und lackirten Maaren und eine Sammlung von Rüstungen
und Waffen aus früheren Jahrhunderten.
Schon vorher hatte Ueddo eine Ausstellung gehabt. Auf
derselben sah man z. B. eine Reihenfolge von Waffen nach
den Jahrhunderten geordnet; zu den ältesten gehören solche
aus Feuerstein; Aufmerksamkeit erregte eine Kriegssäge;
ihr Stiel ist von Holz und die Säge besteht aus Haifisch-
zähnen; — sehr alte Bogen und Pfeile; — ein Schwert
und eine Pike, sehr roh gearbeitet, aus der frühesten Eisen-
zeit, neben den herrlichen Schwertern unserer Zeit, die scharf
wie ein Rafirmefser und ausgezeichnet gearbeitet sind. Be-
merkenswerth war auch das Papier, in dessen Verfertigung
die Japaner bekanntlich Meister sind und in dessen Falten
und Zusammenlegen ihnen kein Europäer gleichkommt. Etwa
einhundert Puppen machen den Wechsel und die Veräude-
rungen in der Kleidertracht anschaulich. Man sah ferner
Rüstungen, Pferdegeschirr, Bronzen und Antiken sehr ver-
schiedener Art, Statuen, Gemälde, Maschinen :c.
Auch Fossilien waren ausgestellt, darunter eine ante-
diluvianische Auster von vier Fuß Durchmesser. Bon
Porcellan sah man japanische Nachahmungen der Sevres-
porcellane; sie werden wegen ihrer vortrefflichen Anssüh-
ruug allgemein bewundert.
Die Regierung hat ein Patentgesetz veröffentlicht.
Wer eine Erfindung gemacht hat, muß sich an denKobuscho
wenden, welcher dieselbe prüfen läßt und im günstigen Falle
das Patent ausstellt.
Der Mikado wird Nordamerika und Europa besuchen.
Einem kaiserlichen Erlasse zufolge wird er sich fortan von
keiner Leibwache begleiten lassen, wenn er ausfährt; sie soll
nur bei Staatsgelegenheiten aufziehen. Auch hat er einen
alten Brauch abgeschafft, dem zusolge Jedermann, wenn der
Kaiser vorüber kam, auf Hände und Füße niederfallen mußte;
er wünscht nur eine achtungsvolle Verbeugung.
Im Maimonat hat die Regierung acht höhere Lehr-
an st alten eröffnen lassen.
Der deutsche Gesandte, Herr von Brandt, ist vom
Tenno am 13. Mai in einer Privataudienz empfangen wor-
den. Sie währte anderthalb Stunden, und Herr von Brandt
wurde aufgefordert, zur rechten Seite des Kaisers Platz zu
nehmen. Die Audienz fand im Prachtsaale statt, der ganz
nach europäischer Weise eingerichtet ist. In demselben steht
ein silberner Pfau von Lebensgröße, der für ein Meisterstück
der Goldschmiedekunst gilt. Herr von Brandt ist über San
Francisco nach Berlin gereist, um dort zu sein, wenn die
japanische Gesandtschast den Hos unseres deutschen Kaisers
besucht.
In Aeddo, wo bekanntlich ein Stadttheil niederbrannte,
geht es mit dem Aufbau rüstig vorwärts. Die Leitung
japanischen Reiche. 125
hat der englische Ingenieur Waters. Die Häuser werden
von Backsteinen aufgeführt und zwar auf Kosten der Regie-
ruug; wer ein Haus bezieht, kann dasselbe in der Art an-
kaufen, daß er jährlich 10 Procent der Anlagekosten abzahlt
und das Uebrige zu einem niedrigen Ansätze verzinst, bis er
das Ganze entrichtet hat. Die Häuser werden in vier Clas-
sen getheilt; jene der ersten sind zwei Stockwerk hoch, jene
der zweiten und dritten gleichfalls, aber kleiner; jene der
vierten haben nur ein Geschoß. Die Hauptstraßen werden
90 Fuß breit, die Gehwege (wofür man in Deutschland
„Trottoir" sagt!) ans jeder Seite 15 Fuß; die anderen
Straßen werden 60 bis 48 Fuß breit.
Die japanische Flotte macht eine Uebuugssahrt in den
chinesischen Gewässern.
In Yeddo wurde ein Mann verhastet, welcher „die Re-
ligion des unfehlbaren römischen Papstes" verkündigte, dem
allein der Christ zu gehorchen habe.
Bisher war es den Frauen verboten, manche Tempel
und heilige Stätten zu besuchen. Dieses Verbot ist jetzt
aufgehoben worden.
Alle anstößigen Schaustellungen in den Theatern sind
verboten worden; eben so dürfen keine unzüchtigen Bilder
und Statuetten mehr verkauft werden.
Aokohama wird mit Gas beleuchtet und in Aeddo eine
große Kettenbrücke gebaut.
Die deutsche Bank in Berlin hat in Yokohama ein
Zweiggeschäft errichtet; sie steht unter Leitung des Herrn
I. Mammendorf.
Das Jingischo oder Departement für die Schintogötter
ist abgeschafft worden; an die Stelle desselben tritt eine Be-
Hörde für den religiösen Unterricht.
Die Aebte der in Abgang decretirten buddhistischen Haupt-
tempel haben den Rang vonKuazoke, Edelleuten, erhalten.
Sie waren ursprünglich nur Kuge oder Hofadelige, hatten
aber als Mönche keinen Rang.
Die Volksmenge in Japan ist bisher auf etwa35Mil-
lionen angegeben worden; die Ziffer ist entschieden zu hoch;
sie wird zwischen 18 bis höchstens 22 Millionen betragen.
Die Regierung läßt eine Staatszeitung erscheinen,
welche im ganzen Reiche verbreitet werden soll. Sie hat
die Aufgabe, das Volk mit dem Gange der Weltbegebenhei-
ten bekannt zu machen und über Fortschritte in Wissenschaf-
ten, Künsten und Gewerben zu berichten.
Nun einige Schattenseiten. Am 10. Mai erhoben sich
die Bauern in mehreren Dörfern, zogen bewaffnet umher,
zwangen andere Dörfer, sich ihnen anzuschließen und waren
bald etwa 30,000 Mann stark. Sie rebellirten, weil sie
eine für den Canalbau in ihrer Gegend ausgeschriebene
Abgabe nicht bezahlen wollten. Man ließ vier Bataillone
gegen sie ausrücken und trieb sie aus einander, doch nicht
ohne Blutvergießen.
Die Soldaten des Mikado in Ieddo sind in einem demo-
ralisirten Zustande; sie betrinken sich und streiten unter ein-
ander; die Offiziere haben nicht Ansehen genug, um die
Ordnung aufrecht zu erhalten. Sie beleidigen auch Aus-
länder. Die Seesoldaten und Matrosen der Nordamerikaner
treiben nicht selten denselben Unfug'; die japanische Polizei
muß dann einschreiten, falls die Yankees sich auch an Ja-
panern vergreifen.
Der neue Gouverneur der Insel Peso hat mehrere Ja-
paner eingesperrt, weil sie sich zum russischen Christen-
thnm haben bekehren lassen. Dort haben sich?russische Mis-
sionäre niedergelassen und treiben das Bekehrungshandwerk
gleich den Anglikanern, Katholiken, Methodisten, Baptisten :c.
im übrigen Japan; daher so viele Wirren und Unzuträg-
lichkeiten.
126
Aus allen Erdtheilen.
Aus allen Erdtheilen.
Handelsbewegung der chinesischen Häfen im Jahre 1871.
Wir finden über dieselbe in der zu Hongkong erscheinenden
„Overland China Mail" vom 8. Juni amtliche Angaben. Sie
zeigen, wie großartig sich auch dort der Handel und
die Schifffahrt Deutschlands entwickelt haben; wir neh-
men im fernen Osten, in welchem wir erst seit kaum zwanzig
Jahren aufgetreten sind, die dritte Stellung ein, und mit jedem
Jahre wächst unser Verkehr mit Ostasien beträchtlich an. Auch
im Binnenlande wird Jeder begreifen, wie nöthig es ist, daß
wir dort durch Gesandte und Kriegsschiffe würdig vertreten
werden und eine Flottenstation in jenen Gewässern als ein
Bedürsniß erscheint.
In den durch Verträge eröffneten Häfen Chinas, welche
wir weiter unten namhaft machen, sind im verflossenen Jahre
ein- und ausgelaufen: 14,963 Schiffe von 7,381,557 Tonnen.
Dieselben vertheilen sich in folgender Weise:
Engländer.......7160 mit 3,330,881 Tonnen
Schweden und Norweger
Russen.......
4600 3,187,643
1480 428,747
277 135,829
203 59,791
273 59,371
50 18,454
218 45,884
88 34,340
140 50,604
474 30,013
Man sieht, daß die deutsche Handelsbewegung in China
jene aller anderen europäischen Flaggen, die englische allein aus-
genommen, übertrifft.
Der Gesammtwerth aller ausländischen und küstenweis ein- und
ausclarirten Güter, welche in jenen Fahrzeugen befördert worden
sind, stellte sich auf 394,434,056 Taels oder mehr als 130,000,000
Pfund Sterling. Davon entfielen auf die britischen Fahrzeuge
145,062,734 Taels; 145,062,721 Taels auf die amerikanischen
und 16,240,680 auf die deutschen; was auf die übrigen Flaggen
kommt, ist verhältnißmäßig nicht bedeutend.
Die chinesische Regierung erhob in den Vertragshäfen an
Zöllen 10,302,732 Taels und an Tonnengebühren 204,797
Taels.
Die folgende Tabelle zeigt die Anzahl der Firmen und der
„Residenten" der verschiedenen Nationen in jenen offenen Häfen:
Firmen. Residenten.
Britische....... 226 1671
Amerikanische..... 40 480
Deutsche....... 41 414
Französische...... 16 224
Holländische...... 2 57
Dänische....... 11 24
Spanische....... — 65
Schweden'und Norwegen. 2 29
Russische....... 9 42
Oesterreichische..... — 19
Belgische....... — 6
Italienische...... 1 17
Von Völkern ohne Verträge 5 345
Total . . 343 3239
Die chinesische Bevölkerung finden wir für die ver-
schiedenen offenen Häsen folgendermaßen, annähernd wohl rich-
tig, angegeben: Niu tschuang 60,000; — Tien tsin 930,000; —
Tschi fu 26,491; — Hanksu 600,000;— Kiu kiang 40,000; —
Tschin kiang 130,000; — Schang Hai 250,000; — Ning po
115,000; — Futscheu 600,000; — Tamsui 50,000;— Ta kau
220,000; — Amoy (Gmtuh) 350,000; — Swatau 45,000 und
Canton 1,000,000 Köpfe.
Es stehen demnach 4,416,491 Chinesen in directer Berüh-
rung mit 3239 Fremden, und diese Hand voll Menschen übt
bekanntlich einen großen Einfluß aus. Auf den wichtigen Han-
delsplatz Hong kong, welcher den Engländern gehört, ist, wie
man sieht, in Obigem kein Bezug genommen worden.
Der neue Kaiser von Abyssinien.
Neulich gaben wir (S. 46) einige Mittheilungen über die
Wirren in Abyssinien. Wir erhalten nun über dieselben
von einem uns befreundeten, mit den dortigen Verhältnissen aus
eigener Anschauung bekannten Manne folgende Ergänzungen:
„Kassa hat sich im März 1872 als Johannes.der Zweite
zu Negus Nagast krönen lassen. Er hat seinen Regierungs-
antritt auch unserm deutschen Kaiser in einem in amharischer
Sprache geschriebenen, mit dem abyssinischen Siegel versehenen
Briefe angezeigt. Dieses Siegel ist dasselbe, welches Kaiser
Theodor besaß; dasselbe stellt einen Löwen dar und hat eine
amharische und eine arabische Legende. Ein älteres Siegel von
Theodor, welches im Besitze des Dessauers Herrn Zander war
und sich auf dem Berliner Museum befindet, ist kleiner als das
des Kaisers Kassa-Johannes.
Der letztere hat schon im vorigen Jahre mehrere Schreiben
an unsern Kaiser gerichtet und ihm zu dem Siege über die
Franzosen Glück gewünscht.
Sollte der im „Globus" mitgetheilte Brief (— welcher aus
der „Times" übersetzt war —) acht sein? Was Werner Mun-
zinger anbelangt, so war derselbe, früher wenigstens, mit Kassa
befreundet. Gegen die Deutschen hat er sich, so viel ich weiß,
stets freundlich benommen, z. B. auch gegen Graf Secken-
dorff, Gerhard Rohlfs und Lieutenant Stumm. Er hat
in einem Jesuitencollegium seine Erziehung erhalten, ich glaube
jedoch, daß er trotzdem nicht in kirchlichen Vorurtheilen befan-
gen ist.
Dr. Schimper berichtet unterm 30. April in einem Briefe
an Dr. Krapf in Würtemberg, daß Johannes der Zweite sich
grober Ausschreitungen gegen seine Tochter schuldig gemacht habe.
Diese war an Rebel Aba Keisi verheirathet, der ehemals die
Stelle eines Gouverneurs in Tigre inne hatte. Eines Tages
überfiel dieser Aba Keisi die Stadt Adua, ging zu seiner dort
von ihm getrennt lebenden Frau (eben der Tochter Dr. Schim-
per's) und ließ sich von ihr Essen bereiten. Bald darauf wurde
er von Kassa-Johannes wieder vertrieben. Dieser ließ die Toch-
terSchimper's vor sich holen und sie vor eine Kanone stel-
len. Vor derselben mußte sie von 8 bis 12 Uhr Morgens
nackt stehen bleiben und wurde dann mit Peitschenhieben
entlassen. Johannes begnadigte sie insoweit, daß sie fortan
Sklavin Sr. christlichen Majestät fein solle. Das ist sie noch.
Es kennzeichnet diesen biedern Kaiser, daß er von Dr. Schimper
1000 Theresienthaler gefordert hat; nur wenn er diese, als Löse-
geld, bekommt, will er die unglückliche Sklavin freigeben!"
Der Nevado Altar und der Tunguragua in Ecuador.
Der Reifende wird beim Betreten der equadorianischen
Hochebenen aufs Höchste überrascht durch die gewaltigen For-
men der Vulcane, an deren Fuß er unmittelbar vorüberreitet.
Aufs Unangenehmste enttäuscht nach einem Ritt durch den Oran-
genhain der Küste wird man durch eine kaum geahnte Sterili-
tät, die sich besonders auf der Hochebene von Tapi um Rio-
bamba herum bemerkbar macht. Einen etwas freundlichem An-
blick als diese Hochebene gewährt die vom Chambo mit dem
Flecken gleichen Namens, südöstlich vom Riobamba und etwas
höher am rechten User des gleichnamigen Flusses. Der Boden,
Aus allen
obgleich von derselben Beschaffenheit wie der von Tapi, ist durch
Bewässerung ertragsfähig gemacht worden, und Landhäuser und
Gärten mit europäischen Früchten ziehen sich bis an den Fuß
des Capac Urcu, des Vaters der Berge. Dieser ist heute nur
noch eine Ruine des früher gewiß riesigen Vulcans. Seit Hum-
boldt's Zeiten, dessen Skizze dieses Berges von Schinkel so ge-
mal ausgeführt wurde, hat sich der Nevado Altar, wie er auch
genannt wird, etwas verändert. Die möglichst getreue Skizze
zeigt, daß die einst überhängenden Ränder verwittert und ein-
gestürzt sind. Die Linie der östlichen Kraterwand hat auch eine
andere Form erhalten. Der Krater selbst ist wie der Fuß des
Berges mit Bimsstein und vulcanischer Asche und Sand ange-
füllt und bildet ein kleines Plateau, umgeben von den bis
16,380 Fuß hohen Trümmern des Berges. Nach Volkssagen
fand dieses Ereigniß, das die östliche Andeskette seines höchsten
Gipfels beraubte, im fünfzehnten Jahrhundert noch vor der
Eroberung des Reiches Quito durch Tupac Hupanqui statt.
Ich will hier eine Notiz über den Tunguragua beifügen.
Dieser thätige Vulcan, dessen gefährlichster Ausbruch nach
Südwest 1777 stattfand und der viel dazu beitrug, die früher
gut bebauten Abhänge steril zu machen, liegt nordöstlich vom
Riobamba. An feinem Nordabhange fließt der Rio Chambo.
Mit der füdlichen Cordillere steht er nur durch ein schmales
Joch in Verbindung. Von der 6000 Fuß hohen Ebene gesehen,
erscheint er uns trotz seiner absoluten Höhe von 17,470 Fuß
dennoch riesiger wie selbst der Chimborafso, aus demselben Grunde
wie der Aconcagua in Chile. Er ist ein Trachytkegel auf einer
Basis von Thonschiefer. Dasselbe Gestein der Grundlage tritt
auch am Ufer des Flusses Chambo zu Tage, der mit dem nörd-
lichen Patate sich hier, als Pastafsa, vereinigt und die östliche
Cordillere durchbricht. Bernhard Flemming.
Aus Nordamerika.
Eine Erforschungsexpedition nach Texas ist in der
Mitte des Juni von St. Louis abgegangen; ihr Zweck ist eine
geologische Untersuchung des nordwestlichen Texas. Diese Gegend
ist sehr reich an Mineralien; sie hat Eisen, Kupfer, Blei, Koh-
len; auch sollen Gold und Silber vorhanden fein. Sie wird
die vergleichweise noch wenig bekannten Flüsse Big- und Little-
Washita, Pease River, Salt und Double Mountain Fork und
den Brazos genau erforschen und dann nach Westen hin über
die ausgepfählte Ebene (Llano estacado, Staked Plains) nach
dem Rio Pecos und weiter bis an den Rio Grande vordringen.
An der paeifischen Südbahn sind die Ingenieure sehr
thätig. Im Frühjahre ging Phelps von Los Angeles in Ca-
lifornien ab, um eine Strecke zu vermessen, welche vom Teha-
chepi-Passe nach Fort Auma am Rio Gila führt. Diese
Route geht von dem eben genannten Passe nach den Willow-
Springs am äußersten Rande der Mohavewüste, von dort über
den Ansang des Santa-Clara-Thales, Soledad Canon und San
Fernando-Paß nach Los Angeles. Von dort führte ihn fein
Cours über El Monte nach einer durch den Santa-Anna-Fluß
bewässerten Gegend und durch den San-Gorgonio-Paß in
das Cabezonthal, das bewässert, aber noch ohne Ansiedelungen
ist. Er zog durch dasselbe etwa 100 Miles weit, ehe er die
große Wüste erreichte. In dieser war von der letzten Wasser-
stelle im Cabezonthale bis Fort Auma eine 90 Miles lange
Strecke ganz ohne Wasser; Alles, was seine Leute und
Thiere gebrauchten, mußte 14 Tage lang auf Mauleseln herbei-
geschasft werden. Der Boden dort ist zur Anlage einer Bahn
tresflich geeignet, und Phelps meint, daß nian mit Erfolg arte-
fische Brunnen werde graben können. Durch den San Fernando
müsse man einen Tunnel schlagen. Durch den projectirten Schie-
nenweg soll die Texas-Pacifie- (die 32^) Bahn mit der San
Francisbai durch das Kern-Riverthal in Verbindung gebracht
werden. — Bei Vermessung dieser Linie ist ermittelt worden,
daß die Coloradowüste 300 Fuß unter dem Meeres-
spiegel liegt, und ans einer Strecke von 50 Miles wird die
Bahn in dieser Depression geführt werden.
Erdtheilen. 127
Die chinesische Einwanderung in Nordamerika.
Das statistische Bureau der Vereinigten Staaten weist nach,
daß von 1654 bis 1871 115,582 Chinesen in San Francisco
landeten. Die Berichte unseres Zollhauses hier — so schreibt die
zu San Francisco erscheinende „California-Staatszeitung" —
differiren etwas hiervon, indem sie 118,553 als angekommen
angeben, 42,437 als abgereist, und die Ueberzahl der ersteren
über letztere als 1920. Der alle zehn Jahre in denjVereinigten
Staaten aufgenommene Cenfus giebt die Anzahl der Chinefen
innerhalb der Vereinigten Staaten wie folgt an: Im Jahre
1850 758, in 1860 35,565, in 1870 60,264. Oregon hatte in
1870 3300 und Kalifornien im selben Jahre 49,310. Eine
sorgfältige Durchsicht der statistischen Berichte über deren Ein-
treffen, Abreisen und Bevölkerung zeigt eine durchschnittliche
jährliche Sterberate unter den Chinesen von etwa 1 : 41 vor-
dem Jahre 1860, oder 2,44 Procent, und von 1 : 49 von
1860 bis 1870 oder 2,04 Procent per Jahr. Bei solcher Be-
rechnung kann also die Anzahl idieser Race im December 1870
nicht über 62,100 betragen haben. Vom I. Januar 1867, wo
die China-Post-Dampferlinie begann, bis zum 31. December
1871, wo diese fünf Jahre im Betriebe war, betrugen die Ge-
sammtankünste von Chinesen in San Francisco, sowohl mit
Segel- als Dampfschiffen, 45,005 und die Abreisen 19,370.
Von diesen waren etwa 10,000 der ersteren mit Segelschiffen ge-
reist. Der Ueberschuß der Angekommenen betrug 25,635, ab-
geschätzte Todesfälle 6500, der Zuwachs zur Bevölkerung in den
fünf Jahren 19,125 und der jährliche durchschnittliche Zuwachs
3326. Vom 1. Januar 1867 bis zum 31. December 1871
machten die Steamer im Ganzen 55 Reisen, welche sie in Stand
gesetzt haben würden, 71,503 Chinesen herüberzubringen. Jndeß
die Gefammtzahl der Angekommenen mit Segel- und Dampf-
fchiffen betrug nur 45,005, von denen 10,000 mit ersteren an-
gekommen waren. Es wird auf das Eintreffen von 1300 Chi-
nefen hier Bezug genommen, als Beweis, daß die Einwanderung
derselben sich reißend vermehrt, indeß ist es eine durch Erfahrung
bewahrheitete Thatsache, daß die Steamer der Monate April,
Mai und Juni, auch zuweilen im März, also vier Steamer im
Jahre, gewöhnlich von 1200 bis 1300 Chinesen mitbringen. —
Die große Masse der Einwanderer derselben trifft hier jedenfalls
in diefen vier Monaten ein. Die Auswanderung beginnt in
Hongkong sofort nach Ablauf des chinesischen „Neuen Jahres",
im Januar oder Februar, und endigt im Mai oder Juni. Der
Rückstrom beginnt von San Francisco im September oder Octo-
ber und endigt im December, wo dann die letzte Gelegenheit
gegeben ist, China noch vor Beginn der Neue-Jahr-Festlichkeiten
zu erreichen.
* #
— Die englische Gesellschaft, welche sich die Bekehrung
der Juden zur Aufgabe gemacht hat, fendet unablässig Mis-
sionäre nach verschiedenen Ländern aus. Zumeist sind dieselben
Israeliten, welche den Glauben ihrer semitischen Vorfahren mit
dem englischen Christenthum vertauscht haben und sich nun, da
sie „gere?tete Seelen" sind, recht gut bezahlen lassen. Der Be-
richt der Gesellschaft für 1871 ist jüngst veröffentlicht worden
und wir unsererseits finden ihn höchst merkwürdig. Den vielen
Sendlingen ist es im Laufe des Jahres allerdings gelungen, in
sämmtlichen Ländern, welche von ihnen heimgesucht worden, 13,
sage dreizehn Judenseelen zu bekehren, und dabei verwendeten
je zwei der Missionäre ihre ganze Thätigkeit auf einen
Juden. Der Bericht fagt, daß jede einzelne Bekehrung etwa
4000 Pf. St., fage 26,000 deutsche Thaler, Kosten verursacht
habe, so daß es eine Ausgabe von reichlich 325,000 Thalern
verursacht hat, um 13 Hebräer in zweifelhafte Nazarener um-
zuwandeln. Die Gesellschaft findet selbst, daß der Preis sehr
hoch fei, „aber," so schreibt der Bericht, „kein Preis ist zu hoch,
um eine Menschenseele von: Verderben zu erlösen, selbst wenn
sie um den Preis der ganzen Welt gekaust werden müßte." —
Die Zahl der Juden auf dem Erdball kann auf etwa 6,000,000
Köpfe angenommen werden und sie ist stark im Anwachsen, da
128
Aus allen Erdtheilen.
die Kinder Israel das Talent haben, sich unter jedem Him-
melsstriche stark zu vermehren und zu gedeihen. Wie viel würde
die „Seligmachung der Verstockten" in Summa kosten, wenn
man den Preis durchschnittlich auf 26,000 Thaler für den Kopf
annimmt? Da thun es die Kaffern in Südafrika noch billiger;
selbst in Indien kostet eine bekehrte Seele nicht ganz so viel.
— Die Weizeneinfuhr Großbritanniens hat in den
ersten fechs Monaten des laufenden Jahres 15,636,842 Centner
betragen, im Geldwerthe von 9,370,736 Pf. St., also etwa 60
Millionen Thaler in sechs Monaten. Von anderen Getreide-
arten wurden für 8,672,637 Pf. St. eingeführt, Mehl für
1,334,133 Pf. St., — im Ganzen an Cerealien 19,376,938
Pf. St., also mehr als 125 Millionen Thaler. Von den Ein-
fuhren entfallen auf Rußland, das die Hälfte lieferte, 50 Pro-
cent, die Vereinigten Staaten 19, Deutschland 10, Aegypten 8,
Chile 4, Türkei 3, Dänemark, Frankreich und Canada je 1
Procent, auf andere Länder zusammen 3 Procent.
— Die britische Colonie Demerara ist in der Lage,
ihre Production an Rohrzucker steigern zu können, weil sie
an den indischen Kulis tüchtige Arbeiter hat und nicht auf die
Neger angewiesen ist. Sie hat im Jahre 1871 nicht weniger
als 106,042 Hogsheads producirt, wovon 75,743 auf Plan-
tagen, die mit Vacuumpfannen arbeiten; Geldwerth zu 106
Dollars das Hogshead, 8,026,758 Dollars; sodann 30,299 auf
solchen, welche noch die alten Methoden haben, zu 85 Dollars
— 2,575,415 Dollars. Dazu kamen noch 39,376 Puncheons Rum
zu 50 Dollars — 1,968,500 Dollars. Somit stellt sich der Ge-
sammtbetrag der Ernte auf die Summe von 12,572,673 Dollars.
— Baron von Richthofen ist gegen Ende des Mai-
monats aus dem südwestlichen China nach Schanghai zurückge-
kommen. Er war bis nach Aünnan vorgedrungen, mußte
aber dort umkehren. Seit Cooper, aus dessen Reiseberichte
wir im „Globus" Auszüge gaben, ist unseres Wissens kein Eu-
ropäer in jener Provinz gewesen. Wir ersehen aus der „Over-
land China Mail", daß es in derselben mit den Kaiserlichen
schlecht steht. Vor Kurzem wurde von Peking aus gemeldet, die
Mohammedaner (Panthays) seien mehrmals von der Armee
der Mandarinen aufs Haupt geschlagen worden; bald nachher
kam aber die Wahrheit an den Tag, sie haben die Oberhand
nach wie vor. Der Gouverneur von Wnnan hat einen Bericht
nach Peking geschickt, welchen die amtliche Zeitung vom 27. April
abdruckte. Er sagt: „Der größte Theil der Provinz befindet
sich in einer solchen Verwirrung, daß ich die Beamten nicht
mehr auf ihren Posten festhalten, also auch über sie nichts sagen
kann. Alle Cassen sind leer, alle Städte entvölkert und es kom-
men nur wenige Steuern ein."
— In der SUdsee ist es schon mehrfach vorgekommen, daß
Insulaner einander befehdet und todtgefchlagen haben, weil auf
dem Eilande ein Theil der Leute von katholischen, ein anderer
von protestantischen Missionären „bekehrt" worden ist. Diese
Seelenfänger machen einander grimmige Concurrenz und be-
weisen die Praxis ihrer Religion der Liebe dadurch, daß jeder
Theil den ihm anheimgefallenen Wilden sagt, der and^e sei in
Irrlehren befangen, von Gott verflucht und wer ihm glaube,
komme in die Hölle. Natürlich verstehen die Wilden nichts von
all dem dogmatischen Zeuge, das man ihnen aufpfropfen will,
aber verwirrt im Kopfe werden sie dadurch und liefern einander
blutige Gefechte, die einen für, die anderen gegen die „Mutter
Gottes Maria". So ist es im vorigen Jahre auf der Insel
Rotuma geschehen, die nördlich von den Fidschi-Jnseln liegt.
Der russische Capitän Nasimow kam mit der Corvette „Witjas"
nach Rotuma. Er schildert in seinem Berichte, welchen der
„Kronstädter Bote" mittheilt, daß die protestantischen und katho-
lischen Missionäre, an der Spitze ihrer bethörten Wildenschaa-
ren, eben daran waren, sich eine Schlacht zu liefern. Der Russe
las beiden den Text und verhinderte ein Blutvergießen, das,
wie er schreibt, sehr leicht mit Vernichtung der katholischen Mis-
sionäre hätte endigen können. Thatsache ist, daß das ganze
Missionswesen in der Südsee bei allen Kundigen, welche sich
nicht durch die bekannten Floskeln und gesalbten Schwindel-
berichte irreführen lassen, des allerschlechtesten Rufes genießt.
Die Wahrheit kommt an den hellen Tag. In dieser Beziehung
ist das Buch des Lord Elgin, welches er als „Blafen aus der
Südsee" betitelt hat, entschieden von Interesse. Es ist eine
offene Kriegserklärung gegen den Missionsschwindel und bringt
eine Menge von Thatsachen, deren Zeuge der Verfasser war.
Wir werden Auszüge aus diesem Werke mittheilen.
— In Argentinien erklärt der römische Clerus die Eisen-
bahnen für „ketzerisches Teufelswerk". Im Mai wurde der
Zug, welcher von Rosario nach Cordova fuhr, in der letztern
Stadt überfallen. Der von den Geistlichen aufgehetzte Pöbel
begrüßte die ankommenden Fahrgäste mit einem Steinhagel, riß
die Schienen auf und brüllte, daß die Locomotive ein „Fabrikat
des Satans" sei. — In Guatemala, wo man die Jesuiten
als Ruhestörer ohne viele Umstände aus dem Lande geschafft
hat, verfährt man ohne Nachsicht gegen alle Geistlichen, welche
die Kanzel mißbrauchen und Aufruhr predigen. Sie werden
verhaftet und sofort über die Grenze geschafft.
— Die nordamerikanische Expedition in Nicara-
gua will bekanntlich eine praktikable Route für einen inter-
oceanischen Canal ausfindig machen. Nachdem, wie wir früher
schon gemeldet, Capitän Crosman im Hafen von San Juan er-
trunken war, übernahm Capitän Ehester Hatfield die Leitung.
Seit Ende Aprils sind drei Routen untersucht worden; von
einem Punkte am Pacific nach El Cojin oder San-Joss-Paß,
20 Miles; höchster Punkt über dem Nicaragua-See 40
Fuß; — von Ochomoga am See nach Escalanta am Pacific,
etwa 30 Mikes, 34 bis 36 Fuß über dem See; auf der Scheitel-
höhe würde nur eine Strecke von 500 bis 600Hards zu durch-
stechen fein. — Von Ochomogo nach Nagualapa, 26 Miles,
mit etwa derselben Höhe wie die vorige Route; hier würde ein
tiefer Durchstich von 2 Miles nöthig sein. In Nicaragua gebe
es wenigstens fünf praktikable Routen. — Diese Angaben find,
wie man sieht, ganz allgemein gehalten, und es wird nichts
über die Schwierigkeiten gesagt, welche der steile Abfall nach
Westen hin darbietet. Im besten Falle würde die Sache auf
einen Canal mit vielen Schleusen hinauslaufen, also nicht
das leisten, was ein interoceanischer Wasserweg sein soll.
Die Nordamerikaner sind in solchen Dingen sehr sanguinisch,
und Selfridge's Beispiel hat bei Untersuchung der Atratoroute
gezeigt, daß man ihre Angaben und Behauptungen sehr vor-
sichtig aufnehmen müsse.
— Eine Statistik der Unglücksfälle, Mordthaten :c.
in der ostindischen Präsidentschaft Madras ist bemerkenswerth.
Im Jahre 1871 kamen 268 Mordthaten vor (151 an Män-
nern, 117 an Frauen); 97 Todtschläge, wovon 3 als durch
Nothwehr gerechtfertigt; 1607 Selbstmorde (600 Männer,
1007 Frauen!); — sodann 8456 Todesfälle durch „zufällige
Umstände"; davon entfallen auf Ertrinken 6000; durch Tiger
zerrissen und fortgeschleppt 247; durch Schlangenbiß 585; auf
Eisenbahnen nur 15; die übrigen sind nicht specificirt worden.
Von den Selbstmorden kommen 1055 auf Ertränken, und zwar
806 Fälle auf Frauen; erhängt haben sich 482, wovon 399
Männer.
Inhalt: Skizzen aus Ostindien. III. (Mit fünf Abbildungen.) — Der Sklavenhandel im ägyptischen Sudan und
in Ostafrika. — Streiszüge in Oregon und Calisornien (1871). Von Theodor Kirchhoff. V. — Die Reformen im japani-
schen Reiche. — Aus allen Erdtheilen: Handelsbewegung der chinesischen Häfen im Jahre 187!. — Der neue Kaiser von Abys-
sintert. — Der Nevado Altar und der Tunguragua in Ecuador. — Aus Nordamerika. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redactivu verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vrauuscbwcig.
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Band XXll.
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Mit besonllerer JerücksicktigunZ än AntkroxoloZie und Gtknologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
Eep^emlier Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1872.
Müll er's kosmische Physik.
ii.
Die vielen physikalischen Fragen, welche mit der Welt
des Eises, mit der Schneegrenze, den Gletschern, der Rege-
lation, dem Eismeer in Zusammenhang stehen und die
gegenwärtig von besonderm Tagesinteresse sind, finden eine
ausführliche Behandlung in dem Müller'schen Werke. So
ist z. B. den Gletschern über ein Bogen gewidmet. Hier
tritt nun die splendide Ausstattung des'Werkes besonders in-
structiv dem Studirenden zur Seite. Das nach Schlagint-
weit's Karte des Monte Rosa copirte Kärtchen des Lys-
gletschers ist sehr geeignet, einige der Umstände anschaulich
zu machen, welche die Gletscherbildung bedingen. Das in
der Tiefe ganz enge Lysthal breitet sich in der Höhe zu einem
weiten Thalkessel aus, welcher auf der Nordseite durch den
Lyskamm, im Osten durch den Kamm der Vincentpyramide
und im Westen durch einen diesem parallel lausenden, fast
eben so hohen Gebirgskamm eingeschlossen ist. Die uuge-
heure' Schnee- und Firnmasse, welche sich in diesem hoch
über der Schneegrenze liegenden Thalkessel anhäuft, ist es
nun, welche den Lysgletscher ernährt, von den Firnfeldern
aus wie ein Strom langsam herabfließt und sich in das
nuten enger werdende Lysthal keilförmig einzwängt. Das
untere Ende dieses Gletschers findet sich in einer Höhe von
6200 Fuß, die mittlere Höhe der Firnlinie, d. h. der Ge-
gend, in welcher die Firnmasse in Gletschereis übergeht, be-
trägt ungefähr 9230 Fuß. Die mittlere Neigung der Firn-
masse ist 13°20', die mittlere Neigung des Gletschers
ist 18".
Betrachten wir ferner das Mer de glace, das Eis-
Globus XXII. Nr. 9. (September 1372.)
meer, im Chamonnithale, welches an Masse alle Gletscher der
Schweiz übertrifft, obgleich es an Länge vom Aletschgletscher
übertroffen wird. Es sammelt sich, wie man aus dem nach
Forbes copirten Kärtchen (S. 131) ersieht, von den Schnee-
seldern der unmittelbar nördlich vom Montblanc gelegenen
Berge, von denen mehrere, wie Grande Jorasse, die Aignille
verte (a), die Aignille du g«ant(d), die Aiguille du midi (c)
und die Aignille du Dru (cl), nur um 2000 bis 3000 Fuß
von dem Montblanc überragt werden. Die Schneeselder,
welche an den Abhängen und in den Thalkesseln zwischen
diesen Bergen liegen, sammeln sich in drei Hauptströme, den
Glacier du Gäaut, Glacier de Lächaud und Glacier du Ta-
lvsre, die schließlich zusammenfließend das Eismeer bil-
den, welches sich als ein 2600 bis 3000 Fuß breiter Eis-
ström bis in das Thal von Chamouui hinauszieht, wo aus
seinem untern Ende ein starker Bach, der Arveyron, hervor-
bricht, der sich in die Arve ergießt. Der unterste Absturz
des Eismeeres, welches vom Thale von Ehamouni ans sicht-
bar ist und eine gewaltige Eiscascade bildet, wird gewöhn-
lich Glacier des Bois genannt (Helmholtz, populäre wissen-
schaftliche Vorträge, Braunschweig 1865).
Auf den ersten Anblick erscheinen die Gletscher als eine
völlig bewegungslose Masse, starr wie die sie umgebenden
Felsen; eine etwas genauere Beobachtung zeigt aber alsbald
eine thalabwärts gerichtete Bewegung.
Von der Wengernalp aus sieht man eine gewaltige Glet-
schermasse, welche von dem Sattel zwischen Mönch und
Jungsran nach Norden hin abgedacht ist und sich bis zu
17
130 Müller's k
einer steilen Felswand vorschiebt, welche fast senkrecht gegen
das Trümletenthal abfällt. Hier erscheint nun der Glet-
scher durch eine verticale Eiswand begrenzt, welche gleichsam
die Fortsetzung jener Felswand bildet. Durch das langsame
Voranschreiten des Gletschers wird dann bald da bald
dort eine Partie der Eismasse Uber den Rand der Felswand
hinausgeschoben und stürzt, von der hintern Gletscher-
masse sich trennend, unter furchtbarem Donner, im Ansehen
einem Wasserfalle ähnlich, in die Tiefe hinab. An heißen
Sommertagen, wo das Voranschreiten der Gletscher am
schnellsten ist, kann man hier oft 3 bis 4 solcher Lavinen-
stürze in der Stunde beobachten.
mische Physik.
Im Jahre 1788 ließ Saussure beim Herabsteigen an
den Felsen an der Seite der Eiscascade des Glacier du
G6ant (siehe Forbes' Karte bei g) eine hölzerne Leiter zu-
rück. Im Jahre 1832, also 44 Jahre später, wurden
Bruchstücke dieser Leiter bei 6 gefunden, woraus sich ergiebt,
daß jene Theile des Gletschers in jedem Jahre durchschnitt-
lich um 375 Fuß abwärts gewandert waren.
Im Jahre 1836 fiel ein Führer beim Uebergange nach dem
aus der Masse des Glacier de Talösre (vergl. dieselbe Karte)
hervorragenden Felsen e, welcher unter dem Namen des
„Jardin" bekannt ist, in eine Gletscherspalte, und es gelang
ihm, nur unter Zurücklassung seines Tornisters, wieder her-
1
Nach Schlagintweit.
man sie schon im Laufe eines einzigen Tages wahrnehmen
und messen. Solche Messungen haben ergeben, daß die
Mitte des Eismeeres bei Chamonni im Sommer täglich um
20 Zoll fortschreitet, eine Geschwindigkeit, welche gegen die
untere Eiscascade hin auf 35 Zoll steigt.
Die Geschwindigkeit, mit welcher die Gletscher in das
Thal hinabschieben, hängt natürlich von localen Verhältnis-
sen, z. B. von der Neigung der Thalsohle, von der Mäch-
tigkeit der Gletscher- und Firnmasse:c., ab. Auch schwankt
die Größe der Gletscherbewegung mit der Jahreszeit; sie ist
größer im Sommer, wenn durch Wegschmelzen der Basis
und durch das Wasser, welches die feineren Klüfte und Spal-
Karte des Lysgletschers,
auszukommen. Dieser Tornister wurde aber im Jahre 1846
in der Nähe von l, 4300 Fuß weiter abwärts, wieder auf-
gefunden; er hatte also mit dem Gletscher durchschnittlich
einen Weg von 430 Fuß im Jahre zurückgelegt.
Im Jahre 1827 hatte sich Hugi auf der Mittelmoräne
des Unteraaregletschers eine Hütte gebaut, um dort Beobach-
tungen anzustellen. Im Jahre 1841 stand sie 4884 Fuß
tiefer, sie hatte also im Jahre einen Weg von durchschnitt-
lich 349 Fuß zurückgelegt.
Um sich von dem Fortrücken der Gletscher zu überzeugen
und seine Geschwindigkeit zu messen, bedarf es übrigens nicht
so langer Perioden; mit genaueren Meßinstrumenten kann
Müller's kosmische 3
Grando ,W,isse
ten ausfüllt, die Beweglichkeit der Gletschermasse erhöht wird;
sie ist dagegen am geringsten im Winter, wenn das Wasser
im Innern des Gletschers theilweise gefroren und das Weg-
schmelzen am Boden auf ein Minimum reducirt ist.
Auf dem Kärtchen nach Fordes, welches das untere Ende
des Mer de glace darstellt, ist der Montovert mit m bezeich-
net. Der Standpunkt, von welchem aus die Ansicht auf-
genommen ist, liegt dem Montovert gegenüber auf dem
rechten Ufer des Gletschers.
Wenn aber große Unebenheiten in der Thalsohle vor-
kommen, namentlich wenn die bis dahin sanfte Neigung des
Gletscherbodens an einer bestimmten Stelle steiler abzufallen
beginnt, wie dies z. B. bei dem Glacier du Gsant bei g,
auf dem Glacier de Talösre bei l, und auf dem Mer de
Glace bei Tc der Fall ist, so muß nun eine stärkere Zerklüf-
tung des Eises eintreten. Bei dem raschern Voranschreiten
des untern Gletschertheiles muß an einer solchen Stelle ein
Abbrechen der Eis-
massen stattfinden,
welche den vorange-
gangenen nachstür-
zen, und so ein Chaos
von Eisblöcken und
Eisnadeln erzeugen,
wie man es auf dem
beistehenden Holz-
stiche sieht, welcher
das Mer de Glace
darstellt, wie es von
der auf der Karte mit
n bezeichneten, unter
dem Namen des Cha-
pan bekannten Stelle
aus erscheint.
Das zweite Ca-
pitel des meteorolo-
gischen Theils um-
faßt das Luftmeer,
seinen Druck und
seine Strömungen.
Das Barometer, seine
Variationen, die Hö-
henmessnng mit dem-
selben, die atmosphä-
rische Ebbe und
Fluth, die Entstehung
der Winde werden
hier behandelt. Die
Geschwindigkeit des
Windes ist eine sehr veränderliche Größe; ein Wind, dessen
Geschwindigkeit nicht über 4 Fuß in der Secunde beträgt,
ist kaum merklich. Bei einer Geschwindigkeit von 6 bis 8
Fuß in der Secunde ist der Wind angenehm. Ein starker
Wind hat 30 bis 40, ein heftiger Wind 40 bis 60 Fuß
Geschwindigkeit in der Secunde. Geht die Geschwindigkeit
des Windes über diese Grenze hinaus, so wird er Sturm
genannt, und die stärksten Stürme, deren Geschwindigkeit
120 bis 150 Fuß in der Secunde (30 bis 37 deutsche Mei-
len in der Stunde) beträgt, werden Orkane genannt. Da
in der letzten Zeit die Orkane in Sansibar, Madras u. s. w.
so bedeutende Verwüstungen angerichtet haben, so wird es
dem Leser angenehm sein, wenn wir hier gerade das aus
Müller's Werk hervorheben, was sich auf die Stürme be-
zieht. Der Verfasser behandelt zunächst die Verminderung
des Luftdruckes bei Stürmen.
Der tiefste Punkt der Witteruugsfcala an unseren ge-
Mer de Glace am Montblanc. Nach Fordes.
wöhnlichen Zimmerbarometern ist mit „Sturm" bezeichnet,
und in der That sind die Stürme stets von einer bedeuten-
den Verminderung des Luftdruckes begleitet. Während des
großen Sturmes vom 2. August 1837, welcher Westindien
verwüstete, sank zu Portorico das Barometer um 18, zu
St. Thomas um 21 Linien. Auf Mauritius stand das
Barometer am 6. März 1836 Morgens 5 Uhr noch auf
337 Linien und fiel bis zum 8. März um 8 Uhr bis auf
318 Linien, während ein furchtbarer Orkan auf der Insel
hauste.
Scoresby empfiehlt den Seeleuten dringend den Gebrauch
des Barometers. Durch ein Fallen seines Schiffsbarome«
ters um 9,3 Linien aufmerksam gemacht, entrann er am
15. April 1819 in der Baffinsbai den Gefahren eines zwei
Tage lang wüthenden Sturmes.
Jedenfalls sind die Stürme stets die Folge einer bedeu-
tenden Störung im Gleichgewicht der Atmosphäre, und höchst
wahrscheinlich rührt
^ diese Störung von
einer raschen Eon-
densation der Wasser-
dämpfe her. Durch
eine solche Conden-
sation wird aber
nicht bloß unmittel-
bar eine Luftverdün-
nnng erzeugt, sou-
dern auch, weil bei
Rückkehr der Dämpfe
aus dem gasförmi-
gen in den tropfbar
flüssigen Zustand
stets viel Wärme frei
wird, ein mächtig
aufsteigeuder Lust-
ström, in Folge des-
sen dann von allen
Seiten die Luft mit
Gewalt nach den Or-
ten der Verdünnung
hinströmt, während
das Minimum des
Luftdruckes selbst eine
fortschreitende Bewe-
guug hat. — Dies
ist die Erklärung,
welche Brandes von
der Entstehung der
Stürme gegeben hat.
Dov e hat aber nachgewiesen, daß diese Theorie einer wesent-
lichen Modificirung bedarf, wenn sie mit der Erfahrung
in Übereinstimmung gebracht werden soll; er hat gezeigt,
daß die Windrichtung, wie man sie zu Anfang und zu
Ende des Sturmes beobachtet, nicht mit der Annahme eines
einfachen, geradlinigen Hinströmens der Luft nach dem Orte
der größten Luftverdünnung harmonirt, daß vielmehr die
Luft um das im Raum fortschreitende barometrische Minimum
rotirt, kurz, daß die Stürme Wirbel im großartig-
sten Maßstabe sind.
Während des Sturmes vom 24. auf den 25. December
1821 schritt das Minimum des Lustdruckes von Brest bis
zum Cap Lindenäs (an der Spitze von Norwegen), also in der
Richtung des Pfeiles A C auf der Karte S. 133, vor. Nach
der frühern Theorie hätte also in London zu Anfang des
Sturmes ein Nordost, zu Ende desselben ein Südwest wehen
müssen, während in der That zu London die Windfahne
17 *
Müller's kosmische -
anfangs Südost zeigte und dann rasch in Nordwest um-
schlug.
Nach Dove's Sturmtheorie schreiten in der nördlichen
gemäßigten Zone bei Stürmen die barometrischen Minima,
Theorie mußte in der That London Südostwind haben, ui»
die Luft um den Punkt A wirbelte), dagegen mußte in Lon-
Wasserhose auf dem Rhein.
don Nordwest wehen, nachdem B und später C der Mittel-
punkt der Wirbelbewegung geworden war.
Chapan am Mer de Glace.
richtnng die in der Figur angedeutete ist, nämlich entgegen-
gesetzt dem Laufe des Zeigers einer Uhr. — Nach dieser
Ansicht des Montovert am Mer de Glace.
also die Mittelpunkte der Wirbelbewegung, in der Richtung
von Südwest nach Nordost vorwärts, wobei die Rotations-
Müller's kosmische P
133
Südöstlich von dem Wege, auf welchem die Mittelpunkte
der Wirbel fortschreiten,
muß nach Dove's Theorie,
wie man aus der Betrach-
tung des Punktes o in der
Figur ersieht, der Wind
zu Anfang des Sturmes
mit S.S.O. einsetzen und
dann durch S., S.W., W.
nach W.N.W, umschlagen,
wie es zu Hartem wirk-
lich stattfand. In Orten,
welche von dem Mittel-
punkte des Sturmes ent-
fernter liegen, wie r oder
s, muß der Wind nach
der Theorie zu Anfang des
Sturmes S. oder S.S.W.,
zu Ende desselben W.S.W,
sein, und in der That drehte
sich zu Karlsruhe während
des Sturmes die Windfahne
von S. nach S.W.
Auf der Nordseite des
Sturmes schlägt der Wind
von O.S.O. durch O.,
N.O., N. nach N.N.W, um.
Für die Seefahrer er-
geben sich daraus folgende
praktische Regeln, um
in der nördlichen gemäßig-
ten Zone soviel als mög-
lich dem Bereich eines sie
treffenden Wirbelsturmes
zu entgehen: Wenn bei stark fallendem Barometer der Wind
als Südost einsetzt und sich durch Süd nach West hindreht,
so muß das Schiff nach Südost hinsteuern; setzt hingegen
der Wind in östlicher Richtung ein, um nach Nord hin um-
zuschlagen, so muß das Schiff nach
Nordwesten steuern (Dove in Pog-
gendorff's Auualen LH).
Redfield in Neuyork ist durch
sorgfältige Untersuchung der Er-
scheinungen, welche die an den Kü-
sten der Vereinigten Staaten häu-
sigen Stürme begleiten, ganz zu
denselben Resultaten gelangt, welche
Dove für Europa erhalten hatte.
lieberbte tropischenStürme
hat Rtid, Gouverneur der Bermu-
das-Inseln, ein reiches Material
in einem Werke niedergelegt, wel-
ches inl Jahre 1808 zu London
unter dem Titel: „An attempt to
develop the law of storms" :c.
erschien. Aus Reid's Untersuchun-
gen ergiebt sich, daß auch die Stürme
der tropischen Zone Wirbel sind.
Die Richtung, in welcher die Wirbel rotiren, ist für die
nördliche Hälfte der heißen Zone dieselbe, wie die soeben be-
trachtete; dagegen schreiten die westindischen Hurrikans in
der Richtung von Südost nach Nordwest vor, so lange sie
in der tropischen Zone bleiben, sobald sie aber in die gemä-
ßigte Zone gelangen, biegen sie fast rechtwinkelig aus und
gehen nun von Südwest nach Nordost, wie man dies auf
dem mitgetheilten Kärtchen sieht, welches den Verlauf des
Sturm vom 24. bis 25. December 1837
Hurrikan vom August 1837
Sturmes darstellt, welcher in der Mitte August 1837 die
östlichsten der westindischen
Inseln traf.
Von den zahlreichen
Beispielen, welche Reid für
dieses Verhalten der West-
indischen Stürme beibringt,
wollen wir nur noch eines
anführen. Der dicht bei
den kleinen Antillen vorbei-
streifende Sturm vom Au-
gust 1830 traf St. Tho-
mas am 12., war am 13.
in der Nähe der Tnrksin-
seln, am 14. bei den Ba-
Hamas, am 15. an den
Küsten von Florida, am
16. längs der Küste von
Georgien und Carolina, am
17. an denen von Virgi-
nien, Maryland und Neu-
York, und am 18. aus
der Georgsbank und Cap
Sable, ani 19. auf der
Neufuudlandsbank. Das
Fortrücken dieses Sturmes
betrug also im Durchschnitt
13 Va deutsche Meilen in der
Stunde. Die Geschwindig-
feit, mit welcher der Sturm
überhaupt fortschreitet, ist
übrigens wohl zu unter-
scheiden von der ungleich
größern Geschwindigkeit, mit
welcher die Luft in den Wirbeln fortgerissen wird. — Was
die Wirbelwinde und Orkane im großen, sind die Trom-
ben und Wasserhosen im kleinen Maßstabe. Wahrschein-
lich werden sie dnrch den Kampf zweier in den oberen Luft-
regionen in entgegengesetzter Rich-
tung wehenden Winde erzeugt.
Wenn solche Wirbel über das Land
hinziehen, bilden sie Sand- oder
Staubsäulen, während sie auf Flüf-
sen oder Meeren Wasserhosen her-
vorbringen, ja es kommt vor, daß
die Wirbel, vom Lande auf das
Wasser überspriugeud, erst eine
Staubsäule, dann aus dieser her-
vorgehend eine Wasserhose erzeugen.
So bildete sich, wie G. vom Rath
beobachtete, am 10. Juni 1858
bei dem Dorfe Honnef am Rhein,
nahe dem Siebengebirge, eine Land-
trombe, deren Höhe auf 2000 Fuß
geschätzt wurde. Als sie in ihrer
fortschreitenden Geschwindigkeit den
Spiegel des Rheins erreichte, er-
hob sich das Wasser im Umfange
eines Kreises, dessen Durchmesser 50 Schritte betragen
mochte, und bildete eine Schaumsäule, deren Anblick an einen
gothischen Thurm erinnerte. Ein mittlerer Strahl sprang
hoch über mehrere seitliche hervor, aus der Wolkenmasse aber
senkte sich eine helle Wolkenspitze herab, welche sich nach
einiger Zeit mit der Spitze der Wassersäule vereinigte, wor-
auf denn der den Wasserspiegel mit den Wolken verbin-
dende Streif seiner ganzen Länge nach in gleicher Breite
134 Der Palast der Seths
erschien. Zwischen Rolandseck und Mehlem erreichte die
Trombe das linke Rheinufer, um alsbald wieder auf den
Rhein zurückzukehren. Das Phänomen endete, nachdem es
ungefähr 35 Minuten gedauert hatte, bei Rhöndorf auf
dem rechten Rheinufer. Von den Häusern, welche die Wet-
tersäule traf, wurden die Ziegel heruntergeworfen, starke
Aeste wurden von den Bäumen gerissen und die Saaten
zu Adschmir in Indien.
niedergelegt. Die Breite der so bezeichneten Bahn betrug
im Durchschnitt 50 Schritt.
Mit der Schilderung der Hydrometeore, der atmosphärischen
Elektricität nnd des Erdmagnetismus schließt das schöne, mit
großem Fleiß gearbeitete Werk, das nicht nur zum Nachschlagen,
sondern auch zur Lectüre dient. Zwei Register, ein systematisches
und ein alphabetisches, erleichtern die Benutzung ungemein.
Der Palast der Seths
Wir haben vor einiger Zeit eine Schilderung der Stadt
Adschmir und ihrer Bazare gegeben; wir wollen heute, als
Nachtrag, Einiges Uber die Prachtgebäude anmerken, deren
dort so manche vorhanden sind. Jene der reichen Leute,
namentlich der Bankiers (— Adschmir ist das „Frankfurt
Radschestans" —), sind aus weißem Marmor ausgeführt, und
wie Rousselet sagt, welcher Indien durchreiste, um die Archi-
tektur des Landes zu studiren, von „unerhörter Schönheit".
Er hebt in dieser Beziehung insbesondere den Palast der
Seths hervor, von welchem wir eine Abbildung geben.
Derselbe ist ein modernes Gebäude, gehört aber zu dem
Schönsten, was die Kunst im Radschpntenlande hervor-
gebracht hat. Balcone, Säulen und Karnieße sind mit
Sculpturen bedeckt und alle Einzelnheiten sind höchst ge-
schmackvoll und ungemein sorgfältig ausgeführt. Der Pa-
last ist Eigenthum einiger Bankiers von der Secte der
Dschainas. Im Allgemeinen sind alle Wohnhäuser der
wohlhabenden Leute gut gebaut, und wenige Städte in der
Welt nehmen sich so zu sagen koketter aus als Adschmir mit
seinen unzähligen Terrassen und den marmornen oder mit
blendend weißem Stucco bekleideten Mauern der Häuser.
Im Allgemeinen ist es einem Ungläubigen verboten, das
Mausoleum zu betreten, in welchem der berühmte heilige
Kaudscha Seyd begraben ist, dessen wir schon in einem frü-
Hern Aufsatze erwähnt haben. Rousselet hatte einen Empseh-
lnngsbries vom Gouverneur an den Vorsteher, es wurde ihm
aber von vornherein gesagt, daß er eine höfliche Aufnahme
nicht erwarten dürfe. In der That fand er schon an dessen
äußerer Eingangspforte eine Gruppe von Leuten, welche er
als düstere, finstere Fanatiker schildert; sie sagten ihm barsch,
daß er seine Schuhe ablegen müsse, wenn er weiter gehen
wolle. Das that er uud folgte einem Mollah, der ihm als
Führer diente. Zunächst betrat er einen großen Hofraum,
der mit weißem Marmor gepflastert ist und so gut gehalten
wird, daß auf seiner glatten Fläche die Sonnenstrahlen wie
auf einem Wasserspiegel spielten. Dieser Raum ist eingefaßt
mit Moscheen und Gräbern, alle von glänzend weißem Mar-
mor, gleich dem vom Großmogul Dschehangir im Jahre
1610 errichteten Mausoleum, das iu der Mitte des Platzes
steht und von Bäumen überschattet ist. Das Grün der-
selben hebt sich scharf von dem Marmor ab und macht einen
angenehmen Eindruck. Alles war still; einige alte Mollahs
lagen platt auf den Steinen und murmelten ganz leise Ge-
bete her. Wir glauben gern, daß der Reisende in eine ganz
eigenthümliche Gemüthsstimmung gerieth; er setzte sich unter
einen Baum und gab sich der Träumerei hm. Nach einiger
Zeit erhielt er mit Mühe die Erlanbniß, einen photographi-
schen Apparat aufzustellen.
Berühmt ist auch die Moschee des Araü Diu ka
Dschhopra, deren Ruinen höchst malerisch in einer bewal-
deten Schlucht liegen. In architektonischer Hinsicht ist sie
zu Adschmir in Indien.
eines der merkwürdigsten Gebäude in Indien und auch in
archäologischer Hinsicht bemerkenswerth als eines der ersten
Bauwerke, welche die Mohammedaner errichten ließen, und
eines der schönsten Muster der Dschaina-Architektur. Dieses
Beisammensein zweier so entgegengesetzter Motive erklärt
sich leicht. Als die Muselmänner Indien überflutheten,
dachten ihre Horden zunächst nur an Raub und zerstörten
viele Prachtwerke; es lag ihnen gar nichts daran, ob das
von ihnen Zertrümmerte wieder aufgebaut würde oder in
Ruinen liegen blieb. Als sie jedoch dauernd festen Fuß im
Lande gefaßt hatten und dessen Beherrscher geworden waren,
lag ihnen daran, ihrem Allah, dem wahren Gotte, Tempel
zu errichten. Aber mohammedanische Baumeister gab es
nicht, und so mußten sie sich an die Hindus wenden. Die
Prachtpaläste der alten Könige und die herrlichen Tempel-
bauten der Götzendiener lieferten ihnen in Hülle und Fülle
Material, das sofort verwandt werden konnte und überhaupt
für ihre Zwecke brauchbar erschien. Sie ließen die Götter-
statueu und die heidnischen Embleme fortnehmen, fügten
charakteristische Einzelnheiten ein, ließen Vorderseiten mit
Spitzbogen anbringen und so entstand der sogenannte indo-
sarazenische Stil. Das eben erwähnte Verfahren fand
zuerst Anwendung unter dem Kaifer Kutub Udin Eübeck,
von welchem die Moscheen in Adschmir und in Alt-Delhi
herrühren sollen; seine Nachfolger verfuhren in ähnliche
Weife in Ahmedabad, Mandu, Kanudfch :c.
Der Arai Diu ka Dschhopra, das „Werk der drittehalb
Tage", steht auf einer hohen Terrasse, zu welcher große
Steintreppen hinaufführten, die jetzt nicht mehr vorhanden
sind; statt ihrer ist ein großer Perron vorhanden. Der Fuß
der Terrasse ist jetzt bewaldet und von unten sieht man nur
die oberen Theile des Gebäudes. Durch eine hübsche Thür,
auf welcher man arabische Schriftzeichen und Symbole be-
merkt, gelangt man in einen großen Hofraum, dessen Pfla-
ster zum größten Theile zerstört worden ist; die Vorderseite
der in demselben stehenden Moschee ist durch hohe Bäume
gleichsam verdeckt. Die drei anderen Seiten sind von mas-
siven Gebäuden eingenommen, die als Wohnungen dienten;
sie sind in ernstem, strengem Stil aufgeführt und haben
Kuppeln. Sie schlössen sich an die Südseite des Palastes
der Ghoriankaiser, von dem noch viele Ruinen da sind. Bei
näherer Betrachtung der Moschee findet man, daß in der
Mitte der Vorderseite eine majestätische Eingangspforte vor-
Händen ist; zu beiden Seiten befinden sich noch je drei Ein-
gänge, so daß deren sieben vorhanden sind; jeder einzelne
ist einem Wochentage geweiht. Die ganze Außenseite dieses
Theils der Fatzade ist mit einem wahren Netze von Scul-
pturen überzogen, und diese sind so sein und zierlich, daß
man sie als Spitzenwerk bezeichnen kann. Alles ist Arbeit
von Dschainasküustleru, aber nach mohammedanischen An-
gaben ausgeführt.
13G
Theodor Kirchhoff: Streifzüge in Oregon und Californien (1871).
Streifzüge in Oregon und Californien (1871).
Von Theodor Kirchhoff.
VI.
Rasttag in Roseburg. — Geographische Lage des Umpquathales. — Die Coos-Bai. — Nachts über die Nogue-River-Berge. —
Ein romantischer Engpaß. — Ins Rogue-River-Thal. — Der Cow-Creek. — Bergab aus einem Knüppeldamm. — Heiliger
indianischer Felsblock. — Manzanitasträuche.' — Fernsicht auf das Siskiyougebirge. — Verlassene Goldplacers. — Der Rogue-
River. — Goldwäschereien im Flusse. — Prächtige Wald- und Gebirgslandschaft. — Alte Stockade. — Jndianerkriege im südlichen
Oregon. — Nock-Point. — Eine gefährliche Brücke. — Annoncenhumbug. — Die Thalebene von Jacksonville. — Mount
M'Laughlin. — Ankunft in Jacksonville.
Nachdem wir den North-Umpqna, der sich mit beut süd-
lichen Arme des gleichnamigen Flusses unterhalb Roselmrg
vereinigt, bei der aus einem Hause bestehenden Stadt
Winchester auf einer Fähre überschritten hatten, erreichten
wir endlich gegen fünf Uhr Abends das in idyllischer Um-
gebung liegende Städtchen Roseburg, 75 Miles von Eugene
City, die Hauptstadt von Umpqua, in welchem Orte ich bis
zum nächsten Abende verweilte.
Roseburg, ein freundliches Städtchen von etwa 500 Ein-
wohnern am South-Umpqua, gefiel mir recht gut. Die un-
gepflasterten Straßen allerdings waren in Folge der letzten
Regengüsse in einem bedanernswerthen Zustande; aber die
Umgebungen des Ortes, die grünen Felder und sanft an-
schwellenden Hügel, die Myrthen-, Eichen- und Akazienhaine
waren reizend. Das Städtchen ist der Regierungssitz von
Donglaß Connty, welches einen Flächeninhalt von 6000
englischen Quadratmeilen hat. Die dünn gesäete Bevölke-
rnng des Countys bezieht von hier aus ihren Bedarf an
Waareugütern aller Art, und die Kaufleute in Roseburg ha-
ben das ganze Exportgeschäft der Landesproducte in Händen.
800,000 Pfund Wolle, 400,000 Pfund Speck und etwa
4000 Stück Schlachtvieh werden jährlich von Roseburg aus-
geführt. Die im Couuty geernteten Cerealien werden im
^ande selbst verbraucht. Die Schafzucht ist bedeutend in
dieser Gegend und eine Quelle namhaften Wohlstandes für
die Bevölkerung. Douglaß County prodncirt mehr Wolle,
als irgend andere drei Counties in Oregon znsammenge-
nommen.
Deutsche trifft man in Umpqna, einige jüdische Kaufleute
und Bierbrauer abgerechnet, fast gar keine, und diese wenigen
haben sich auf traurige Weise amerikanisirt. Ich redete in
Roseburg einen deutschen Schenkwirth in Gegenwart mehrerer
Amerikaner aus Deutsch au. Der gute Mann wurde ganz roth
vor Scham, als ich ihn rücksichtslos so vor den Amerikanern
als einen Dntchman bloßstellte, uud antwortete mir aus Eng-
lisch, er habe sein Deutsch längst vergessen. Roseburg ist
sicherlich einer der gesundesten Orte in der Welt. Ein Arzt,
der hier von dem Honorar leben wollte, das ihm etwaige
Patienten zahlten, müßte elendiglich Hungers sterben. Es
ist in dieser glücklichen Gegend eben nie Jemand krank und
die Leute sehen alle aus, als ob Jeder von ihnen noch ein
Jahrhundert leben sollte. Im Durchschnitt rechnet man
hier einen Todesfall per Jahr auf 500 Einwohner. Der
letzte Todesfall fand in Roseburg, wie man mir erzählte, im
Frühjahr 1870 statt.
Selbstverständlich besitzt die Stadt Roseburg auch ihre
Localzeitung; aber die geistige Speise scheint dieser kerngesnn-
den Bevölkerung nicht sonderlich zu behagen. Nur eine
Wochenzeitung, „The Plaindealer", fristet in Umpqua eine
precäre Existenz. Der Redacteur einer hier früher erschei-
nenden zweiten Localzeitnng, „The Ensign", wäre vor etwa
anderthalb Jahren fast Hnngers gestorben, da kein Rosebnr-
ger mehr auf das Blatt abouniren wollte. Er kam deshalb
zu dem vernünftigen Entschluß, ein Schafszüchter zu werden,
und handhabt jetzt die Wollschere statt der Papierschere.
Wie zu erwarten stand, fand ich die Bürger dieser natur-
wüchsigen Commune über den nahen Advent der Eisenbahn
in großer Ausreguug, und um dieselbe drehte sich hier wie
in ganz Umpqua das Tagesgespräch. Auf Herrn Holladay,
der sechzig Acker werthvollen Bodens in der Nähe von Rose-
bürg geschenkt haben wollte, um daraus einen Bahnhof an-
zulegen, war man wegen diefer Anmaßung fnchswild. Die
Eisenbahn müsse doch Roseburg berühren, sagte man, und sie,
die Roseburger, ließen sich durch keinen Millionär bange
machen! sie nicht — Gott bewahre! — Aber man wird
es hier wie in allen kleinen Städten Oregons an der pro-
jectirten Eisenbahnlinie voraussichtlich beim Raisonniren be-
wenden lassen und sich schließlich noch freuen, wenn Herr
Holladay die Schenkung in Gnaden annimmt und nicht die
Eisenbahn so und so viele Meilen von der Stadt entfernt bauen
läßt und neue Oppositionsstädte dort „auslegt".
Der für die Cultur den meisten Werth habende Theil
des Umpquathales liegt zwischen der Cascade Range und
dem Küstengebirge und hat eine Ausdehnung von etwa 40
Miles von Ost nach West und fast 100 Miles von Norden
nach Süden. Diefer ganze Landstrich ist durch die zahlrei-
chen Verzweigungen des Umpqua, dessen Hauptstrom sich in
nordwestlicher Richtung durch einen natürlichen Paß zwischen
den Callapooya- und Umpqnabergen einen Weg nach dem
Ocean gesucht hat, sowie durch eine Menge von vereinzelt
austretenden Hügeln und kleineren Bergzügen in eine große
Anzahl von Längenthälern und Thalkesseln gleichsam durch-
schnitten. Die schönsten und größeren von diesen sämmtlich
sehr fruchtbaren Thälern führen Namen wie „looking glass
valley" — „happy valley" — „garden spot valley" :c.
Sechszig Miles oberhalb Roseburg werden seit einer Reihe
von Jahren bei dem kleinen Minenorte Bohemia ziemlich
ergiebige Goldplacers am Umpqua bearbeitet. Die Ausfuhr
der Landesproducte fand, wie schon erwähnt worden, bis jetzt
auf dem für die Schifffahrt sehr unzuverlässigen Umpquaslusse
statt. Doch werden sich für diese Gegenden bald neue und
bessere Verkehrswege öffnen. Außer der fchuell vorschreiten-
den „Oregon- und California-Eiseubahn", welche von Nor-
den her bereits die Grenze des Umpquathales erreicht hat, ist
eine neue Wagenstraße über das Küstengebirge nach der 60
Miles westlich von Roseburg liegenden Co os- (sprich: Kuß)
Bai im Bau begriffen, deren Gewässer 20 Miles weit von
der See ins Land einschneiden und einen vortrefflichen Ha-
fen bilden. Binnen fünf Wochen, hieß es, sollte die Wagen-
straße von Roseburg nach dem an der Coosbai liegenden
kleinen Hafenorte Empire City dem Verkehr übergeben
werden. Die User der Coosbai sind mit majestätischen Fich-
Theodor Kirchhoff: Streifzüge in
tenwaldnngen bedeckt, deren fchlankaufragende Stämme für
die vielen dort angelegten Sagemühlen ein Rohmaterial von
unübertrefflicher Güte liefern. Auch vorzügliche Kohlen wer-
den hart am Ufer jener Bai gefunden und direct aus den
Gruben in Schiffe verladen.
Am Abende des 28. September verzögerte sich meine
Abfahrt bis halb zehn Uhr, da die Stage wegen des Regen-
wetters fechs Stunden länger Zeit als gewöhnlich gebraucht
hatte, um sich durch den „Umpqna-Mnd" hindurchzuarbeiten.
In Heller Mondnacht fuhren wir am hohen Ufer des Umpqna
hin. Silbern durchschlängelte tief unter uns der breite Fluß
den Thalgrund, dessen jenseitiges Gelände sich in sanft an-
steigenden parkähnlich bewaldeten Höhen emporbaute. Aber
bald kamen wir in eine düstere Gebirgslandschaft. Während
der nächsten 13 englischen Meilen führte die schrecklich rauhe
Straße durch ein Canon der Rogue-River-Berge. Finstere
Waldungen bedeckten zu beiden Seiten des Engpasses die
Abhänge; ein im Forste Beute suchender Panther schrie mit
dem diesem Raubthiere eigentümlichen Laute wie ein wei-
nendes Kind mehrmals ganz in unserer Nähe, so daß die
Pferde, welche seine Nachbarschaft witterten, kaum zu halten
waren; dabei stieß der Wagen, als ob Alles an ihm in Stücke
brechen müßte. Endlich traten wir bei der kleinen Ortschaft
Canyonville aus dem düstern Eugpasse heraus und fuhren
in offenerer Gegend Uber die „Burnt Hills" und „Grave Creek
Hills", welche niedrigen Bergzüge die Wasserscheide zwischen
den Thälern des Umpqua- und des Rogueflusses bilden.
Die Eisenbahn wird beim Überschreiten der Rogue - River-
Berge ein schwierigeres Terrain als in den Callapooyaber-
gen finden, es müssen, obgleich ihre Erhebung nicht bedeu-
tend ist, dort tiefe Einschnitte gemacht und Trestlebrückeu bis
zu hundert Fuß Höhe gebaut werden. Die nivellirte Linie
der Eisenbahn verläßt den Umpquasluß beim sogenannten
„Benet of Umpqua" und läuft 2x/2 Miles südlich von
Canyonville durch den Cow-Creek-Paß.
Bei Tagesanbruch traten wir bei der Stagestation
Levens, 40 Miles von Roseburg, in das Quellgebiet des
Rogueflusses, der sich 15 Miles nördlich von der californi-
schen Grenze in den Ocean ergießt. Das landschaftliche Bild
hatte sich wesentlich verändert. An Wald war die Gegend
reicher als das Umpqnathal; aber der röthliche und lehmige
Boden schien für Agriculturzwecke kalt und unfruchtbar zu sein.
Nur selten bemerkte ich Farmen, und diese waren arg ver-
wahrlost. An den verfallenen Fenzen und den augenscheinlich
jahrelang brach gelegenen Feldern war deutlich zu erkennen, daß
die Farmer es für verlorene Mühe hielten, Geld und Arbeits-
kraft zur Verbesserung ihres Besitzthums zu verwenden. Obst,
welches in den nördlicheren Districten Oregons in nnerfchöpf-
licher Fülle wächst und dort für Spottpreise zu erlangen ist,
war hier eine Seltenheit. Obgleich wir Passagiere uns
öfters in den spärlich an der Landstraße liegenden ärmlichen
Wohnhäusern darnach umsahen, blieben unsere Nachforschuu-
gen doch sast ganz nubelohnt.
Im schlanken Trabe ging es jetzt bergab, auf deu schäud-
lichsten Knüppeldämmen und über Stock und Stein, so daß
wir bedauernswertheu Reisenden in der grauenhafte Sätze
machenden Stage „wie lofe Knochen durch einander gerüttelt
wurden". Der blinde Musikprofessor und der Lebensversiche-
rnngsagent, mein Freund, der Civilingenienr, der Blitz-Re-
chenmeister, der rothhaarige Jrländer und ich beschworen den
Kutscher, langsamer zu fahren. Aber dieser lachte uns aus
und hieb noch toller auf die Gäule ein, um, wie er sich aus-
drückte, die im „Umpqua-Mud" verlorene Zeit wieder einzn-
holen. Neben uns rauschte der Cow-Creek durch den Wald,
als wollte er sich mit lautem Brausen über unsere Leiden lustig
machen; mehrere Male passirten wir den gewundenen Bach
Globus XXII. Nr. 9. (September 1872.)
Oregon und (Kalifornien (1871). 137
auf den polizeiwidrigsten Brücken unter Gottes Sonne, — lose
Knüppel, die auf runden Querbalken neben einander gelegt
waren und beim schnellen Hinüberfahren wie vor Vergnügen
klappernd hoch emporsprangen; die alten knorrigen Eichen
streckten ihre mit langem Moos behängten Aeste mitunter
neckisch in die Wagenfenster, oder rasselten damit über das
Kutschendach, als ob auch sie ihre Freude bei der famosen
Fahrt haben wollten. Als die Knüppeldämme hinter uns
lagen und wir auf glatter Straße eine offene Gegend erreich-
ten, athmeten wir freier auf. Ich nahm beim ersten Halte-
platze meinen Sitz neben dem Kutscher auf dem Bock, um
eine freiere Umschau zu genießen, als im Innern des Wagens
möglich war. Mit schlanken Fichten dichtbestandene Berg-
züge folgten jetzt in stets wechselnden Contnren auf einander
und erschlossen sich, beim raschen Weiterfahren sich allmälig
hinter einander hervorschiebend, dioramenartig dem Auge.
Das Wetter war, als die Sonne höher stieg, prachtvoll ge-
worden, und ein tiefblauer Himmel, klar und unbewölkt,
wölbte sich über der wildromantischen Landschaft.
Auf der Höhe eines steinigen Bergrückens machte mich der
Kutscher auf einen links nahe an der Landstraße isolirt da-
liegenden abgerundeten Felsblock aufmerksam, zu dem, wie er
mich belehrte, die Umpqua-Jndianer mitunter pilgerten, um
ihn anzubeteu. Ich ließ den Wagen eine Weile halten
und stieg ab, um den heiligen Stein etwas näher in Augeu-
schein zu nehmen, bemerkte jedoch weder eingeschnittene Zei-
chen noch sonst etwas Außergewöhnliches an demselben. Ob
die Indianer eine Gottheit in dem Felsen verehren, oder was
es sonst für eine Bewandtniß mit demselben hat, konnte ich
nicht in Erfahrung bringen. Die Landstraße führte jetzt
meistens durch Hochwald, in welchem eine Menge von halb-
verbrannten umgestürzten Stämmen, wild über einander ge-
worfen, den Boden bedeckten, — die Spuren eines verheeren-
den Waldbrandes. Auf den Hügeln wuchsen zahlreiche Man-
zanitastränche, deren hartes und knorriges dunkelbraunes Holz
viel zu Pfeifenköpfen verarbeitet wird und einen Exportartikel
bildet. Wir begegneten einer Fuhr, die mit diesem Holze
schwer beladen war.
Aus dem „Grants Paß", 65 Miles von Roseburg, her-
austretend, überraschte uns eine herrliche Fernsicht in das
Thal des Rogueflusses. Weit vor uns im Süden lag die
mächtige dunkelviolette Bergkette der Appelgate- und Sis-
kiyon-Gebirge, welches letztere nur 20 Miles nördlich von
der Grenzscheide zwischen Oregon und Calisornien liegt,
während das nähere Hügelland mit zerstreuten Laub- und
Nadelholzwaldungen in verschiedenen Farbenschattirnngen mar-
morirt war. Ab und zu kamen wir an verlassenen Goldpla-
cers vorbei, welche das allen solchen Minenplätzen eigenthüm-
liche wüste Durcheinander von Gräben, Löchern, hölzernen
offenen Rinnen, umgewühlter Erde, Haufen ausgewaschener
loser Steine, verfallenen Hütten :c. zeigten. Bald darauf
erreichten wir den Rogue-River und kntschirten mehrere
Meilen auf seiner steinigen Uferbank hin. Mit schäumender,
wirbelnder Fluth brauste uns der wilde Bergstrom entgegen,
von dessen jenseitigem Strande sich prächtig bewaldete Berge
emporbauten. Im Flnsse waren Miner fleißig beim Gold-
waschen beschäftigt. Ein halbes Dutzend große nnd kleine
Wasserräder drehten ihre breiten Schaufeln in der reißenden
Fluthund pumpten durch Mühlenkraft das Wasser hinauf in
die bretternen Goldwaschrinnen (sluice boxes), zn denen die
Miner (Chinesen) die goldhaltige Erde hinaufkarrten und in
dieselben hineinschaufelten, — ein buntes und bewegtes Bild!
Eine Weile verließen wir jetzt den Rogue -River und
durchkreuzten einen Nebenfluß desselben, den flachen nnd brei-
ten Evans-Creek. Das Wald- und Gebirgspanorama war
hier außerordentlich großartig und erinnerte an die weltbe-
18
138 Richard Brenner: l
rühmten Scenerien in der Sierra Nevada. Die Beleuch-
tnng der Gebirge durch die Strahlen der tiefer sinkenden
Sonne, welche mit langem Schattenschlag die hohen Fichten
in seltener Schärfe an den grünen Abhängen abzeichnete,
trug nicht wenig dazu bei, hier ein Landschaftsgemälde von
fesselnder Schönheit vor Augen zu stellen. Nur die häusiger
auftretenden verlassenen Minenlager drängten sich wie Denk-
steine einer rauhen Civilisation in diese prächtige Natur.
Eine alte verfallene, aus gewaltigen aufrecht neben einander
stehenden Baumklötzen errichtete Stockade nahe am Wege er-
innerte an die blutigen Kriege der Indianer des südlichen
Oregon mit den Weißen, welche noch in den fünfziger Jahren
hier mit teuflischer Wuth geführt wurden. Erst als die In-
dianer die Unmöglichkeit eines fernern Widerstandes gegen
die bei Tausenden vom Goldfieber ins Land gelockten Weißen
begriffen hatten, vergruben sie ihre Tomahawks und sind
seitdem die friedlichsten Geschöpfe auf Gottes Erdboden gewor-
den. Aber ihr alter Männerstolz ist ganz dahin, und wer
jetzt in diesem Lande einer Gesellschaft von Rothhäuten in
ihren Bettleranzügen begegnet, der kann sich in diesen Jam-
mergestalten nur schwer die Nachkommen jener kriegerischen
Umpqna- und Pitt-River-Jndianer vorstellen, welche den
Weißen hier viele Jahre lang jeden Fußbreit Bodens mit ver-
zweiselter Tapferkeit streitig machten.
Aufs Neue erreichten wir das felsige User des Rogne-
fluffes, der in abwechselnder Breite von 50 bis 200 Ellen
uns seine klaren reißenden Finthen entgegenrollte, und ich
bemerkte mehrere große Räder vonGoldwäschereien, welche lang-
sam in dem schnell fließenden Wasser ihre Drehungen mach-
ten. Wohlbestellte Farmen und schmucke Wohnungen lagen
an beiden Ufern des Flusses und der Mais stand mit vollen
goldgelben Kolben auf den Feldern, — ein angenfcheinlicher
Beweis, daß wir uns rasch einer civilisirtern Gegend näher-
ten. Bei dem freundlichen Weiler Rock-Point, 13 Miles
von Jackfouville, überschritten wir den Rogne-River auf
einer hohen und laugen Holzbrücke. Schon der Name des
Ortes bezeichnet seine Lage. Das Bett des Flusses war
hier von schwarzen Felsen gleichsam übersäet, und wie ein
Vorgebirge hatten sich dieselben an einer Stelle am Ufer
ansgethürmt. Die Brücke war keineswegs mustergültig. Ein
Fuhrmann in Deutschland würde schwerlich sich und seiu Ge-
spann einer solchen elenden Strnctnr über einen so reißenden
Strom, wie den Rogne-River, anvertrauen, dessen Bett
unter der Brücke von Felsen starrt. Aber in Oregon nimmt
man es nicht so genau mit der Sicherheit. Unser Kntscher
knallte lustig mit der Peitsche und jagte sein Biergespann
mit der schweren Fnhr über die hohe Brücke, daß dieselbe
dabei in allen Fngen knarrte und krachte und höchst bedenk-
lich schwankte.
:§ dein Rothen Meere.
Von der Brücke sahen wir das Rogne-River-Thal in
Perspective, wie eine lange Vista, hinunter; in der Mitte der
wild brausende Fluß, an seinem Strande schwarzes basaltar-
tiges Felsgetrümmer, zu beiden Seiten hochaufsteigende, präch-
tig bewaldete Berge, und die weißen Gebände von Rock Point
reizend am nahen Ufer, — eine hochromantische Aussicht.
An dem Geländer der Brücke las ich, vielleicht zum tausend-
steu Mal, die mit großen weißen Lettern hingemalte An-
zeige einer Patent-Fiebermedicin „Unk Weed Remedy!" —
ich sage zum tausendsten Mal, denn seit ich Portland verlas-
sen, schienen mich diese Worte gleichsam zu verfolgen; an
jeder Fenz, an jedem dicken Baume, auf jedem hervorragen-
den Felsblock, an Schweineställen, Häusern :c., überall waren
dieselben Worte hiugemalt, um die Aufmerksamkeit der Rei-
senden zu fesseln. „Buy it! — Buy it! — Unk Weed
Remedy! — Oregon Rheumatic Cure!" — Dem Fabri-
kanten der Mediän müssen diese Anzeigen, welche sich bis
nach San Diego erstrecken sollen, ein bedeutendes Capital
gekostet haben; aber in Amerika belohnt sich nichts besser als
der Humbug! —
Einige Meilen weiter verlassen wir die Canons am
Rogneslnsse und es öffnet sich vor nnserm Blick die mit
Bäumen, Feldern und Farmen übersäete fruchtbare Thal-
ebene von Jackfonville. Meilenweit schweift das Auge hin
über eine herrliche Landschaft bis nach der dichtbewaldeten
Gebirgskette der Siskiyonberge, an deren Fuße die Stadt
Jacksonville liegt, der Hauptort des südlichen Oregon. Etwas
nach links und vor uns ragt die gewaltige Schneekuppe des
gegen 11,000 Fuß hohen Monnt M'Laughlin (sprich: Laslin),
ein Nachbar des 90 Miles entfernten großen Klamathsees,
hoch empor in den blauen Aether und blickt, das silberne
Haupt mit einem Wolkendiademe umkränzt, wie ein König
herab in das grüne Thal. Schnell jagen wir Hinunter
in die Ebene, und bald liegen die Rogne-River-Berge im
blauen Dufte weit hinter uns. Die auf allen Feldern zer-
streut wachsenden breitgeästeten Eichen machen heimische Er-
innernngen wach an das nahe Calisornien und der Anblick
der Landschaft hat nichts mehr mit Oregon gemein. In
lustiger Fahrt auf glattem Wege, zwifchen wohlangebauten
Feldern und frnchtbeladenen Obstgärten hinkntschirend und
vorbei an freundlichen Wohnungen, geht es nun nach dem
nicht mehr fernen Jacksonville; wir passiren die ganz in der
Nähe jenes Ortes liegenden, zu dieser Jahreszeit nicht bear-
beiteten wüsten, ausgedehnten Goldplacers und rasseln end-
lich, um süns Uhr Abends, durch die Straßen der ersehnten
Stadt, nach einer ununterbrochenen Stagesahrt von 95 eng-
lischen Meilen, seit wir in der letzten Nacht Rosebnrg am
Umpqna verlassen haben.
Aus dem Rothen Meere.
Von Richard Brenner.
Aden, 15. Juli^).
Die Strecke des Snezeanals von Port Said bis Suez
legten wir ohne die mindeste Störung in 15 Stunden zu-
*) Consul Vrenner's Brief ist erst am 4. August bei uns in
Dresden angekommen.
rück, lU Meile vor uns ging die französische Panzerfregatte
„La Belliqneuse" mit 20 Fuß Tiefgang in derselben
Zeit bis Suez.
Von Sandverwehnngen kann keine Rede sein, denn seit
Monaten arbeitet auf der Strecke von Port Said bis Suez
kein einziger „Elevateur"; die Böschungen sind unter
Richard Brenner: 5
dem Wasserspiegel, so weit man sehen kann, durchaus mit
dichtem Moos bewachsen, jedenfalls also unbeweglich. Seit
längerer Zeit ist den Schiffen auch schnelleres Fahren ge-
stattet, weil die Wellenbewegung den Uferbau nicht mehr
schädigen kann. — Die Erdarbeiten im Canal beschränken
sich sactisch auf die Einfahrt nach Port Said, vom Mittel-
meere her, und hier wird allerdings so lange ein schwacher
Punkt bleiben, bis die Steindämme in das Meer hinaus
verlängert worden sind. Von den Nilmüuduugen her setzen
sich Schlamm- und Sandmassen an der Einfahrt ab, und
deshalb muß hier jeden dritten Tag eine Baggermaschine
thätig sein. Als ein Fehler stellt es sich jetzt heraus, daß
die Betonblöcke, aus denen die beiden Dämme vor dem Hasen
von Port Said hergestellt worden sind, nicht massiv aufein-
ander gemauert, sondern nur lose hingeworfen wurden; eine
nachtheilige Folge dieses Verfahrens ist das Durchsickern fei-
ner Sandmassen und eine allmälige Versandung der ganzen
Strecke. Rechnen wir diesen allerdings ernstlichen aber kei-
neswegs unüberwindlichen ttebelstand ab, so findet sich in der
That Nichts, was technische Besorgniß erwecken könnte.
Im Uebrigen mußte ich die Bemerkung machen, daß sich
die hochgehenden Wogen des Verkehrs und der überspannten
Hofsnungen allgemach eiu wenig beruhigt haben. Nachdem
hier und da ein tüchtiges Lehrgeld gezahlt worden, ist Alles
in das richtige Geleis gekommen. In Port Said ist man-
ches Geschäft, welches mit großen Erwartungen eröffnet
wurde, still schlafen gegangen, nndJsmailia, welches nach
dem bekannten französischen Prognostikon ein blühendes
Handelsemporinm werden sollte, ist sactisch eine todte
Wüstenstadt geworden. In den breit angelegten Straßen pro-
meniren nur französische Canalbeamte mit ihren Maitressen
und in den zahllosen Kneipen blicken die Wirthe vergeblich
nach Gästen aus.
Aber das Nord und Süd der neuen Straße liegt nicht
in Port Said und Suez, sondern in Europa und Asien
respective Afrika, und da sind die Resultate des neuen Wer-
kes wohl wahrnehmbar.
In Aden sind im vergangenen Monat (Juni) 92
Dampfer paffirt, und die Canalgebühren haben bereits mehr-
mals die Summe von 1,000,000 Francs erreicht. Wenn
nun auch zugegeben werden muß, daß die Actionaire bei
dieser Einnahme noch keine Reichthümer erwerben können,
so erhellt daraus doch eine Zunahme der Frequenz, welche
von vielen Seiten für unwahrscheinlich gegolten hat. Viel-
leicht werden Sie bereits davon unterrichtet sein, daß seit dem
1. Juni dieses Jahres die Canalgebühren wesentlich erhöht
worden sind; zwar beträgt die Abgabe noch wie früher 10
Francs per Tonne, aber während sonst nur der wirkliche
Laderaum in Betracht kam, werden jetzt auch die Maschinen-,
Kessel- und Passagierräume (Cajüten :c.) mit berechnet und
dies ergiebt ein Mehr von 40 Procent. Herr von Les-
seps, der nach wie vor der Vater und die Seele des Canals
ist, hat sich bei diesem kühnen „Elan" doch nicht ganz sicher
in den Schuhen gefühlt, denn feit dem 1. Juni ist auf der
afrikanischen Seite eine ägyptische, und auf der asiati-
schen Seite eine französische Fregatte als Stationsschiff
in Permanenz verankert, um allfällig Refpect einzuflößen.
Die Messagerie maritime, die russische und einige englische
Compagnien haben gegen diese Auflage protestirt, werden sich
aber doch wohl fügen müssen. (— Die Pforte hat Einspruch
erhoben und ihn dann wieder fallen lassen. —)
Aus dem Rothen Meere weiß ich heute nur zu berich-
ten, daß es mit der türkischen Herrschaft an der arabischen
Seite schnell dem Ende zugeht. — Der Aufstand ist neuerdings
mit voller Macht wieder ausgebrochen: in Sana fand eine
blutige Maffacre unter den Türken statt, und die Pforte thäte
^ts dem Rothen Meere. 139
besser, freiwillig zu resigniren, ehe der letzte Söldner anHnn-
ger, Krankheit oder unter dem Dolche der Araber verhaucht.
In Dschidda befindet sich zur Zeit kein Europäer,
Türken ausgenommen. Der Warnungsruf, welchen
Burton vor fast 20 Jahren bezüglich der Rothen
Meeresländer ertönen ließ — (undder ihm so schlech-
ten Lohn eintrug) — ist heute wiederum in voller
Gültigkeit! — Auch die italienische Regierung hat
ihre Colouisationspläne in der Bai von Assal fal-
len lassen und dazu kann jeder Wohlmeinende nur gra-
tuliren, denn abgesehen von allen anderen Gründen verbie-
tet schon „das höllische Klima" eine europäische Niederlas-
snng.
Daß sich hier im Orient Wandlungen und beden-
tende Veränderungen in althergebrachten Gewohnheiten
nur sehr allmälig vollziehen, ist eine bekannte Thatsache,
und ich fand hier bereits Gelegenheit, dies wiederholt bestätigen
zu können. Die Länder im südlichen Theile des Rothen Mee-
res, Aden, und die Küstenländer des Golfs von Aden, stehen
von Alters her mit Indien und dem persischen Golf in in-
timer Handelsverbindung, und seltsamerweise hat der Canal,
welcher einen nahen Weg nach Europa eröffnet, diese gewohn-
ten Verbindungen bisher nur wenig zu lösen vermocht.
Noch immer gehen drei Viertel der gesammten Production
von Mocha- und Härrar-Kassee nach Boston, ein
Achtel nach Indien und nur ein Achtel nach Europa.
Noch immer geht das Gnmmi von der Somaliküste im
Golf nach Makalle (an der Südküste Arabiens) zum Ver-
kauf, von Makalle nach Bombay und ein Theil dann über
Bombay nach Europa. So haben sich in der That die
Import- und Exportverhältnisse von Aden seit der Canal-
eröffnung nur wenig verändert, und nur das „Shipping
Business" ist in voller Blüthe. Und daß die Waaren dieser
Länder noch immer die alten Bahnen ziehen, ist ganz natür-
lich, denn wenn die Karawanen von Abyssinien, aus dem
Dankalilande, Härrar uud aus den verschiedenen Gegenden
des Somalilandes in Zeila und Berbera eintreffen, dann
finden sie sofort ihre Geschäftsfreunde von Persien und Indien,
wie zu ihrer Väter Zeit, während es noch kein Europäer
gewagt hat, dieMesse in Berbera, Geschäfts halber, znbe-
suchen. So lange aber keiner dieser wichtigen Plätze an der
afrikanischen Seite im vollen Besitze der Europäer ist, so
lange wird auch in diesen Verhältnissen keine schnelle Aende-
rung möglich sein. Ich denke in nächster Zeit nach Mas-
saua und vielleicht auch nach der Somaliküste hinüber zu
gehen, und will Ihnen für den „Globus" darüber berichten.
-i-
* -i-
A. Wir wollen dem vorstehenden Schreiben einige erläu-
terude Bemerkungen hinzufügen.
Was deu Suezcanal anbelangt, so nimmt allerdings
der Verkehr mit Dampfern einen großartigen Aufschwung.
Das war vorauszusehen und ist vielfach, auch von unserer
Seite, oftmals betont worden; dagegen sind die Vorfpiege-
lnngen des Herrn von Lefseps in Betreff der Segelschiff-
fahrt phantastisch geblieben. Wer die Beschaffenheit des
Rothen Meeres kennt, wußte auch das von vornherein. Wenn
Clipper in China Thee zu laden haben, nehmen sie noch
immer den alten Weg um das Vorgebirge der Guten Hoff-
nung. Aber die Segelclipper sind überflügelt worden von
den Dampfern auch in China. Wir ersehen aus zwei vor
uns liegenden Nummern der zu Hongkong erscheinenden
„Overland China Mail" (vom 25. Mai und 8. Juni 1872),
daß die Concurrenz der Dampfer, welche mit dem Thee der
neuen Saifon über Suez nach Europa wollten, eine sehr
lebhafte war. Der „Agamemnon" eröffnete den Reigen;
140 Weltgang i
er hatte in Hanksn im Binnenlande seine Ladung einge-
nommen; am Tage nachher ging dort die „Moqune" ab,
'von Schanghai der „Deccan"; dieser Dampfer mit 25,750
Packen Thee und 118 Ballen Seide. Der „Erl fing" und
der „Parnassus" folgten am 1. Juli. Wo sind die schönen
Tage der alten stolzen Ostindienfahrer und nun auch jene der
Clipper geblieben? Der Dampfer „Chihli" verließ Glas-
gow am 30. März und lief am 22. Mai in Schanghai
ein; 53 Tage war er unterwegs von Hafen zu Hafen, aber
unter Dampf ist er nur 45 Tage gewesen.
Maaren, welche Dampferfracht und die Canalgebühren
tragen können, werden zu nicht geringem Theil den Canal
benutzen, besonders wenn es auf rasche Ablieferung und Be-
nutzuug der Conjnncturen ankommt. Aber eine gewisse Eon-
cnrrenz wird von Ostasien aus der Canal doch an der Pa-
cificbahn haben. Diese gewann, wie wir im „Globus"
mehrsach nachgewiesen haben, doch schon jetzt einen Antheil
an der Beförderung von Thee nach Europa. —
Die Bemerkungen Couful Brenner's über den guten
Zustand, in welchem sich der Canal befindet, werden auch
von anderer Seite bestätigt. Anfangs gab es Ausweiche-
stellen nur bei Kautara und im Timsahsee, jetzt sind deren
mehrere vorhanden und der Zeitverlust für die einander be-
gegnenden Schiffe erscheint nur noch gering. Es ist schon
mehrfach vorgekommen, daß ein Dampfer von Suez nach
Port Said in 9 bis 10 Stunden gefahren ist. Auch die
Tiefe reicht.jetzt aus, denn der große Dampfer „Edinburgh",
der 23 Fuß Tiefgang hatte, fand keine Schwierigkeiten.
Im Jahre 1870 pafsirten 486 Schiffe von 435,911
Tonnen den Canal, — 1871: 765 Schiffe von 761,467
Tonnen; die Transitgebühren stellten sich in den beiden Iah-
ren respective auf 5,159,327 und 8,993,732 Francs. Fi-
nanziell ist der Canal in einer sehr schlimmen Lage, da er
weit über 400,000,000 gekostet hat, und weder an die ver-
schiedenen Actionäre noch an die Inhaber von Prioritäten
Zinsen zahlen kann*).
Als Werk der Jngenienrkunst steht der Canal als ein
Triumph da. Ein englischer Dampfer von 3001 Tonnen
mit 1421 Mann Soldaten für Indien an Bord passirte
bequem; von Handelsschiffen hatte der Postdampfer der Pen-
*) Am 31. Juli fand in Paris die Versammlung der Actionäre
statt; Lesseps verlas den Bericht. Die Einnahmen für das ab-
gelaufene Jahr gab er auf 13,776,074, die Ausgaben auf 15,918,000
Francs an. In den ersten sechs Monaten des Jahres 1872 betru-
gen die Einnahmen 7,240,000; die Ausgaben schätzte Lesseps im
Durchschnitt für den Monat auf 1,300,000 und die Jahresaus-
gäbe auf 16,000,000. Er nimmt die Iah res ein nähme auf
22,000,000 an, so daß sich einUeberschuß von 6,650,000 Francs
herausstellen würde. Derselbe wäre eine Folge der neuen Methode,
die Canalgebühren zu erhöhen. Für diese Erhöhung sprach sich
die Versammlung, in welcher 61,130 Actien durch 2173 Stimmen
vertreten waren, einstimmig aus. — Im ersten Halbjahr 1872 haben
887 Schiffe den Canal passirt und an Gebühren 7,244,000 Francs
gezahlt, demnach ein Mehr von 45 Procent gegen das vorige Halb-
jähr.— Im Juli sind 83 Schiffe durch den Canal gefahren. („Mail"
vom 2. August.)
?r Cholera.
infularcompagnie „Mirzapore" 2090 Tonnen; der „Hol-
land" 2462, „Nebraska" 2983 Tonnen:c. Diese Frage
ist also zu Gunsten des Canals entschieden.
Was Richard Burton betrifft, so ist er einer der aus-
gezeichnetsten Reisenden, die je gelebt haben. Bekanntlich
unternahm er im Jahre 1853 das große Wagniß, wie spä-
terhin Baron von Maltzan, als Mohammedaner verkleidet
die heiligen Stätten des Islam in Arabien zu besuchen —
und er hat über seine Wanderung ein ganz ausgezeichnetes
Werk veröffentlicht. In demselben schildert er „die er-
bärmliche Ohnmacht des türkischen Regimentes" in
Arabien, und seine Bemerkungen sind heute, wo die yemenischen
Araber gegen die Türken in Waffen stehen, von Interesse.
„Der Sultan zahlt den Häuptlingen Jahrgelder und sie
stehen mit ihren Leuten gegen ihn in Waffen. Die türki-
fchen Paschas rauben was und wo sie irgend können. Der
Sultan selbst hat wohl niemals die Wahrheit über die kläg-
lichen Zustände im Hedschas erfahren, und seine gierigen
Höflinge schwatzen ihm vor, daß sein Name im ganzen Reiche
geehrt und gefürchtet werde. Aber das heilige Land der
Muselmänner verschlingt in Hülle und Fülle das Gold der
Pforte und das Blut ihrer Soldaten. Die Türken sind dem
Namen nach Herren und Gebieter, befinden sich jedoch that-
sächlich in einer geradezu schimpflichen Lage. Sie wagen
nicht einmal einen Dieb zu verhaften, den sie auf frischer
That betreffen. Sie zahlen, wie gesagt, den rebellischen
Häuptlingen Jahrgelder und werden dafür mit Flintenfchüs-
sen belohnt, sobald ein türkischer Soldat sich ins Gebirge
wagt. Sie thun so, als wären sie Gebieter, die vornehm
auf die Araber herabsehen, und werden doch von diesen ver-
achtet. Das sind in Arabien die Folgen des Hattischerifs
von Gülhane, der als Heilmittel verkündigt wurde und von
dem man Beseitigung aller Leiden erwartete, unter welchen
Türken, Kurden, Araber, Syrer, Griechen, Armenier und
Albanesen seit Jahrhunderten seufzten. Das sind ferner
die Früchte des Tansimat, der weiter nichts ist als eine
elende Nachahmung der albernen abendländischen Bureau-
kratie und Civilisation. Unter dem kräftigen Despotismus
Mehemed Ali's hätte ein Menschenalter genügt, um das
Hedschas von allen Plagen zu säubern. Er wußte geschickt
die Zerwürfnisse unter den einzelnen Stämmen zu benutzen,
unterstützte die Schwächeren gegen die Starken, welche mit
ihrer Macht Mißbrauch trieben, warf alle Häuptlinge nie-
der, sobald sie sich Uebergriffe erlaubten; er übte streng und
unbarmherzig Gerechtigkeit. Die Räuber, welche aus dem
Lande ein Schlachtfeld machen, wären längst zu Paaren ge-
trieben worden, wenn die Türken verführen, wie Mehemed
Ali. Man braucht gerade kein Prophet zu sein, um voraus-
zusagen, daß die Wahhabis und die Beduinen, wenn sie
sich einmal in Masse erheben, die Türken aus dem Hedschas
fortjagen werden." —
Uebrigens bezeichnet Burton das Rothe Meer als ein
nichtswürdiges Wasser, das von Felsen und Korallen-
rissen starrt und viele gefährliche Untiefen hat.
Weltgang der Cholera.
Wir können die Mittheilungen, welche wir vor einiger den obersten Medicinalbehörden Englands eingereicht hat.
Zeit („Globus" XXII, S. 65) über die räthselhafteKrank- Derselbe liefert viele Thatsachen über die geographische
heit gaben, vervollständigen durch Auszüge aus einem Be- Verbreitung und die Verschleppung. Die Cholera
richte, welchen ein Londoner Arzt, I. Netten Radclifse, verbreitet sich auch in solchen Gegenden, in welchen gar kein
Weltgang
„Grundwasser" vorhanden ist, und es bleibt über ihre Ent-
stehung immer noch Vieles aufzuklären.
Im Herbst 1869 trat sie in Kiew auf und verbreitete
sich von dort rasch Uber viele Gegenden im südlichen, mitt-
lern und westlichen Rußland; im Januar 1870 erreichte sie
Moskau und im Februar kamen in Nowgorod Fälle vor.
Im Sommer und Herbst war sie sehr stark in dem ganzen
Landstriche zwischen Moskau und der Nordküste des Schwar-
zen Meeres sammt jener des Asowschen Meeres, in St. Pe-
tersburg, an der Nordostküste des Schwarzen Meeres, von
der Straße von Kertsch bis Poti, im Thale des Rion und
in Transkankasien bis zur russisch-persischen Grenze. Im
Jahre 1871 war sie über das europäische Rußland verbreitet
von der Nordküste des Schwarzen Meeres bis zur Küste des
Weißen Meeres (Archangel und Onega) im Norden; so-
dann von der polnischen Grenze und den baltischen Gestaden
nach Osten hin bis zum Ural. Sie trat auch in Sibirien
auf, in Astrachan an den Wolgamündungen, in Ciskaukasien
dem Kuban entlang, in Transkaukasien, in Baku an der
Westküste des Kaspischen Meeres und in Eriwan. Gleich-
zeitig überschritt sie in Europa die russische Grenze nur an
vier Stelleu; im Juli erschien sie in Königsberg, drang im
August nach Memel, Danzig, Elbing, Stettin, Swinemünde
und Umgegend; einzelne Fälle wurden aus Berlin berichtet;
auch in Hamburg und Altona trat sie aus; am 3. Septem-
ber zu Hernösand in Schweden und in Konstantinopel. Im
October ergriff sie Ortschaften an der untern Donau, an
der Sulinamündung und war in Galatz, im November in
Tultscha.
Zu Anfang des August brach sie zu Brussa in Klein-
ästen ans; sie war gleichzeitig, nach Norden hin, am Asow-
schen Meere in den Hafenstädten Cherson, Nikolajew, Ta-
ganrog und Rostow am Don, — nach Süden hin in Bag-
dad und in einigen Gegenden von Türkisch-Kurdistan, in
der Nähe der persischen Grenze und in Persien selbst; nach
Osten und Südosten hin in der Provinz Aserbeidschan. Schon
bevor sie hier sich zeigte, hatte sie sich weit verbreitet am
Euphrat und am Tigris im Paschalik Bagdad, und war
bis ins östliche und nördliche Arabien vorgedrungen. — Von
Brussa aus ergriff sie die Umgegend, und nachdem sie in
Konstantinopel aufgetreten war, kamen Fälle in den Spi-
tälern von Salonichi und Warna vor; sie erschien auf Ce-
rigo, einer der ionischen Jnfeln, zu St. Jean d'Acre an der
syrischen Küste, in Samsun und Trapezunt an der Süd-
küste des Schwarzen Meeres und zu Amasia landeinwärts
in Anatolien. Die Fälle in Salonichi und Warna traten
bei Leuten auf, welche mit den Dampfern von Konstant!-
nopel gekommen waren; der erste Fall in St. Jean d'Acre
ereignete sich bei einem Manne, der in einem russischen
Dampfer gleichfalls von Konstantinopel kam.
Am 10. October fuhr ein sehr mangelhaft ausgerüsteter
Dampfer von Stettin mit Auswanderern nach Neuyork und
legte unterwegs bei Kopenhagen und Christiansand an; nach-
dem er das letztere vor einer Woche verlassen hatte, trat
unter den 610 Fahrgästen die Cholera auf. Der Dampfer
lief am 6. November zu Halifax in Nenfchottland ein und
verschleppte sie dorthin und nach dem Dorfe Chezetcook, das
25 Miles nördlich von jener Stadt liegt. Im September
wurden zwei Fälle von Hamburg aus nach Hartlepool in
England eingeschleppt.
Während dieser ganzen Zeit verbreitete die Seuche sich
stark vom obern Ende des persischen Golfes her am Schat
el Arab, dem Euphrat und Tigris; im Frühjahr 1871
wurde eine Abtheilung türkischer Truppen, welche von Basra
nach Koweyt an der Ostküste Arabiens eingeschifft wurde,
ergriffen und verbreitete die Krankheit im östlichen Arabien.
ix Cholera. 141
In der Mitte des Juni trat sie zu Hayel im Dschebel Scho-
mer, also in Nordarabien, auf; sie war durch Pilger einge-
schleppt worden, welche von Mefched Hussein in Babylonien
kamen. Von Hayel aus verbreitete sie sich bis Chaiber, das
drei Tagereisen von Medina entfernt liegt, wo sie im Sep-
tember erschien, als sich dort viele Pilger befanden. Im
November kamen Fälle in Mekka vor; im December trat sie
sehr heftig im Hafenplatze Gunfnda an der Ostküste des
Rothen Meeres auf, besonders unter türkischen Soldaten,
die von Konstantinopel gekommen waren; sie war am inten-
sivsten in der Garnison. Auch in Dschiddah und Aambo
erschien sie. —
Radclisse fragt: Wie kam es, daß sie am 25. August
1869 in Kiew ausbrach? Entweder war sie nur das Wie-
deraufleben der frühern, noch nicht erschöpften Epidemie des
Jahres 1866, oder sie ist von einem insicirten Orte her
eingeschleppt worden.
„Man kann als sicher ausgemacht annehmen, daß die
Uebertragung der Cholera auf weiten Entfernungen allemal
das directe Resultat menschlicher Bewegung ist. Die Krank-
heit geht nicht, sie wird fortgetragen. In der unmittelbaren
Umgebung eines Punktes, an welchem sie vorhanden ist,
kann sie von Kranken auf Gesunde übertragen werden, wahr-
scheinlich durch verschiedene Canäle, z. B. auch durch Triu-
ken von Wasser, welches durch cholerische Ausleerungen ver-
unreinigt worden ist. Wir müssen den specisischen Charak-
ter der Entleerungen sofort zerstören und nicht bloß das
Wasser, sondern auch die Erde und die Luft gegen Verun-
reinigung schützen. Wasser, Erde und Luft, von denen wir
wissen oder vermuthen, daß sie Träger der Ansteckung aus
kurze Entfernungen oder kurze Perioden sind, würden im
Fortgange der Zeit den Ansteckungsstosf auf chemischem Wege
vernichten. Wären sie die einzigen Träger der Krankheit,
so würde dieselbe sich mehr oder weniger langsam von ihrer
Ursprungsstätte aus in concentrischen Kreisen bewegen und
nur so weit, als sie eine Bevölkerung vorfände; sie wäre
nicht im Stande, weite Entfernungen und vergleichweise un-
bewohnte Gegenden zu überspringen. Hier erscheint der
Reisende auf der Scene; wenn er der Ansteckung unterlag,
trägt er sie mit sich fort. So war es z. B. in dem Falle
mit dem Dampfer aus Stettin, der die Cholera nach Hali-
fax brachte und vermittelst eines Zimmermannes, welcher
nach dem 25 Miles entfernten Dorfe ging, auch hierher.
In Indien kommt dasselbe constant vor, und seitdem die Ver-
binduugsmittel mit Bengalen vermehrt worden sind und der
Verkehr so sehr erleichtert worden ist, tritt die Cholera sehr
häufig in solchen Provinzen aus, in welchen sie früher nur
vielleicht im Laufe eines Menschenalters einmal erschien."
Als Resultat stellt sich heraus, daß die neueren Epi-
demiologen die alten Hypothesen über atmosphärische
Strömungen und dergleichen bei Seite gelassen
haben und die Verbreitung der Krankheit aus den großen
Verkehrslinien ins Auge fassen. Radclisse hat schon früher
dargethan, wie die Krankheit mit den Karawanen der moham-
medanischen Pilger sich fortbewegt und, nachdem sie Alexan-
dria erreicht hat, von dort aus strahlenförmig auf allen Reise-
wegen sich verbreitet hat, auf welchen Pilgerschiffe gingen.
Kiew liegt im Binnenlande, etwa 300 Miles nördlich von
Odessa und hatte 1869 ununterbrochen Eisenbahnverbin-
dung mit der letztern Stadt. Dr. Pelikan, Director der
russischen Obermedicinalbehörde, ist der Ansicht, daß der Aus-
bruch in Odessa als Wiedererscheinen der Epidemie von 1866
betrachtet werden müsse; diese habe nur geschlafen und sei
nicht erloschen gewesen. Radcliffe weist nach, daß diese Er-
klärnng unzureichend sei und hebt seinerseits hervor, daß von
1865 an die Cholera in Persien ununterbrochen vorhanden
142 Aus allen
gewesen sei; Manche, welche an Ort und Stelle beobachtet
haben, möchten nun fast annehmen, daß sie dort sich natura-
lisirt habe. Von 1865 bis 1868 bewegte sie sich im All-
gemeinen von Westen nach Osten, es begann jedoch eine Be-
wegung in umgekehrter Richtung, als die Pilger im Juli
1868 von Mesched (in Chorassau) zurückkamen, und sie ge-
wann seitdem eine stärkere Verbreitung. Aber die Epide-
mien in Persien muß man mit dem, was in Indien vorgeht,
in Beziehung bringen.
Hier brach sie mit großer Heftigkeit in Hardwar ans,
wo am heiligsten Festtage während der großen Jahresmesse
etwa 2,800,000 Pilger versammelt gewesen sein sollen.
Die Krankheit kam mit denen, welche in der Richtung nach
Norden heimzogen, zuerst nach Kabul, gegen Ablauf des
Jahres. Im Jahre 1869 trat sie wieder epidemisch auf
in der ganzen Präsidentschaft Bombay und im nördlichen
Indien, verbreitete sich auch abermals nach Afghanistan hin-
ein. Den großen Handelsweg zwischen Indien und
Persien durch Afghanistan Uber Herat nach Me-
sched hat die Cholera vorzugsweise auch bei früheren Ein-
brüchen aus dem nördlichen Indien her nach Persien genom-
men. Mesched ist ein großes Handelscentrum zwischen den
genannten Ländern und hat zugleich HeiligthUmer, zu wel-
chen aus allen Gegenden Persiens (schiitische) Pilgerschaaren
strömen. Diese Stadt hat, wenn die Krankheit dort einmal
eingeschleppt war, allemal eine wichtige Rolle in Bezug auf
Verbreitung derselben gespielt. Radclisse hat Allem, was
damit zusammenhängt, sorgfältig nachgeforscht; er hält es
für sehr wahrscheinlich, daß der Ausbruch zu Mesched im
Jahre 1868 und die Verbreitung der Krankheit von diesem
Punkte aus eine Folge neuer Einschleppung aus Nordindien
gewesen und nicht eine Wiederbelebung der Epidemie von
1865 bis 1867. Er fügt hinzu: „Der Parallelismus
zwischen der Andauer uud der wiederkehrenden Thätigkeit
der Cholera in Persien und Rußland ist klar," und glaubt,
daß die Erklärung für die Erscheinung in beiden Ländern
in einer und derselben Richtung gesucht werden müsse; aber
sie trat in Kiew auf, und in diesem Falle ist ein Einschlep-
Pen auf dem Handelswege aus den ersten Blick nicht anzn-
nehmen.
Bevor Radcliffe hier eine Recrudescenz, ein Wiederauf-
tauchen für statthaft oder unstatthaft gelten läßt, geht er in
eine Prüfung ein über die Veränderungen, welche in
der Richtung des Handelsverkehrs zwischen Per-
sien und dem europäischen Rußland stattgefunden
haben. Die Haupthandelswege waren erstens: die von den
kaspifchen Häfen Persiens und durch Transkaukasien und
dessen Häfen am Kaspifchen Meere, durch den Kaukasus
und nach Astrachan. Zweitens: von Tebris in Aserbeid-
schan durch türkisches Gebiet nach Trapezuut und von dort
über das Schwarze Meer.
Auf der ersten dieser Routen ist die Cholera nach Europa
Erdth eilen.
gekommen 1829, 1830 und 1847; auf dem Wege über
Trapezuut ist sie nicht nach Europa gelangt. Aus den
amtlichen Berichten der britischen Cimsulate und Gesandt-
schaften der hier in Betracht kommenden Gegenden stellt sich
heraus, daß seit 1864 in der Richtung der Handelswege
zwischen Persien und dem europäischen Rußland eine große
Verschiebung stattgefunden hat, eine Ablenkung von den Ron-
ten über Trapezuut und Astrachan. Der Waarenzug geht
nun durch Transkaukasien nach Poti am Schwarzen Meere
und von dort nach den südrussischen Häfen. Die russische
Regierung hat Straßen gebaut (— von Poti nach Tiflis
soll die Eisenbahn 1872 vollendet werden —), um den per-
sischen Handel nach Poti zu ziehen. Baku, an der West-
feite des Kaspischen Meeres, ist Importhafen für die kaspi-
schen Provinzen Persiens geworden und die Eisenbahn soll
auch nach Baku fortgeführt werden. So kommt es, daß ein
beträchtlicher Theil des Verkehrs mit Persien nicht mehr wie
früher die Richtung nach Astrachan und die Wolga aufwärts
nimmt.
Das Wiederauftreten und die Verbreitung der Cholera
in Südrußland in den Jahren 1869 bis 1871 folgt dem
Vorwalten derselben in Nordpersien seit der Verbreitung
der Krankheit in beiden Ländern in den Jahren 1865 bis
1867 auf der jetzt vergleichweise kürzern und directern Han-
delsstraße. Im Jahre 1869 wurde die Eisenbahn von
Taganrog nach Kursk eröffnet. Die leichte und schnelle
Communication, welche durch Dampf ermöglicht wird, übt
einen wichtigen Einfluß auf die Verbreitung der Cholera.
Radclisse giebt darüber Nachweise („Mail" 28. Juni).
Er betont dann, daß durch die Ausdehnung der Verkehrs-
mittel zwischen Centralenropa, Rußland, dem Schwarzen
Meere, den Ländern an der untern Donau und mit Trans-
kaukasien Persien mit uus in immer nähere Berührung
komme, und es werde kaum fehlen, daß die ansteckende Strö-
mung aus Persien sich auch über Europa verbreite. Und
es sind Pläne entworfen worden, auch Indien und Persien
durch Eisenbahnen in directe Verbindung mit unserm Erd-
theile zu bringen und somit eine westliche Route für An-
steckungen und Verschleppungen zu eröffnen. Rußland will
eine Bahn von Rostow am Don nach Wladikawkas in Cis-
kaukasien bauen und von hier nach Petrowsk am Kaspischen
Meere, das sonach mit Europa in directe Verbindung kommt.
Von Petrowsk projectirt man einen Schienenweg über Baku
uach Räscht und Mendschil nach Teheran, wo derselbe an-
schließen würde an die durch Rawliusou empfohlene Bahn
über Mesched und Herat nach Schikarpnr oder Peschawer
in Nordindien. Der Bezirk von Peschawer hat, in Folge
seiner lebhaften Verbindung mit Bengalen, in den letzten
Jahren sehr häufig Cholera gehabt. Es unterliegt keinem
Zweifel, daß die Leichtigkeit im Commnnicationswesen, welche
die Krankheit nach Peschawer bringt, dieselbe auch weiter
verbreiten würde.
Aus allen Erdtheilen.
W. Corssen's Entzifferung der etruskischen Sprache.
Zu den manchen großen wissenschaftlichen Entdeckungen, so
schreibt die „Kölnische Zeitung", welche wir deutschem Scharf-
sinne auf sprachlichem Gebiete verdanken, ist jetzt eine neue höchst
solgenreiche getreten. Das Geheimniß der etruskischen
Sprache und damit des etruskischen Volkes selbst ist
endlich enthüllt. Daß man diese Sprache nach und nach
von den allerverschiedensten Sprachen hat herleiten wollen, ist
bekannt; vor einer Reihe von Jahren wurde einige Zeit mit
ihrer semitischen Abkunft starker Schwindel getrieben, während
in Wahrheit die Untersuchung nach K. O. Müller keinen Schritt
weiter gefördert hat. W. Corssen, dessen Forschungen über
die altlateinische und die ihm verwandten italienischen Sprachen
Aus allen
so Vieles aufgeklärt haben, hat nun nach jahrelanger Beschäftig
gung mit dem bisher aller wissenschaftlichen Bemühung spotten-
den Etruskischen den Zauber gelöst; es hat sich ihm ergeben,
daß dasselbe eine rein italienische, mit dem Lateinischen,
Umbrüchen und Oskischen blutsverwandte Sprache ist, in ihrer
Lautgestaltung und Formbildung so regelmäßig und sinnreich
wie eine der verwandten. Gründliche und vorsichtige Kenner,
denen einzelne Theile der Untersuchung bekannt geworden, haben
sich durch das Schlagende der Entdeckung überrascht gefühlt.
Das druckfertige Werk, welches eine so weit reichende Enthül-
lung wissenschaftlich darlegen soll, wird unter dem Titel: „Ueber
die Sprache der Etrusker, von W. Corssen, mit Abbildungen
von Alphabeten, Inschriften und Bildwerken" in der Teubner'-
schen Buchhandlung in Leipzig erfcheinen. Der Verfasser, der
1870 die großen Todtenstädte Etruriens und die Museen Jta-
liens und Siciliens bereist hat, um aus eigener Anschauung die
genaueste Kenntniß der etruskischen Inschriften und sonstigen
Alterthümer zu gewinnen, wird auch die neuesten Ausgrabungen
noch verwerthen und besucht deshalb jetzt jene Stätten noch einmal.
Das Buch wird im ersten Theile die sämmtlichen etruskischen
Sprachdenkmäler, auch die in Oberitalien und Rhätien, erklä-
ren; im zweiten eine vollständige Formenlehre (Laut-, Wort-
biegungs- und Wortbildungslehre) bieten, wobei auch die Eigen-
namen volle Berücksichtigung finden, und mit der Darstellung
des Charakters und der Herkunft des Etruskischen schließen.
So dürfen wir denn hoffen, bald das Dunkel einer Sprache
vollständig gelichtet zu fehen, von der noch Niebuhr trotz Lanzi
unter Anderm behauptete, nur zwei Wörter seien richtig ge-
deutet, nämlich avil ril (vixit annos). War Bopp's Ent-
deckung des indogermanischen Charakters der keltischen Sprache
höchst bedeutend, fo wird diese an Wichtigkeit durch Corssen's
Entzifferung des Etruskischen weit überboten, die dadurch, eine
bisher uns stumme Sprache, erst zu reden und zugleich Zeugniß
von einem so wunderbaren Volke zu geben beginnt. Ehre dem
deutschen Forscher, dessen eindringendem Scharssinne es gelang,
den in nächtliche Tiefe versenkten Schlüssel glücklich an das Licht
des Tages zu bringen!
Eine meteorologische Station in Alaska.
Das Signaldepartement hat Herrn Georg P. Fish ab-
geschickt, um aus der Insel St. Paul eine solche einzurichten.
Seine Thätigkeit dort erstreckt sich aus Beobachtungen der Fluth ;
der Stürme, der Wellen und Gezeiten; der Temperatur des
Meeres; der Eisberge im Behringsmeer; Vergleichung der Winter-
temperatur auf den Inseln mit jener des Festlandes. Außer-
dem foll er ermitteln, welche Aussichten der Fang des Sperm-
Wales, d. h. des Potsisches, im Behringsmeere habe. Auch
hat er besondere Aufmerksamkeit auf das Nordlicht zu richten,
auf die elektrischen Erscheinungen, das Verhältniß der klaren
Tage zu den nebeligen; auf Strömungen und Treibholz. Der
Versperrung der Behringsstraße durch Eis und „Eisbrücken"
hat er gleichfalls seine specielle Aufmerksamkeit zuzuwenden, ebenso
dem großen pacisischen Golfstrome, diefem japanischen Kuro
siwo, welcher seine klimatischen Einwirkungen auch aus Alaska
äußert.
Aus Nordamerika.
Wir haben jetzt eine Abschätzung der Ernte in den Ver-
einigten Staaten für 1871. Sie betrügt, in Bufcheln ge-
rechnet: Mais 991,898.000; — Weizen 230,782,000; — Hafer
255,743,000;— Kartoffeln 120,461,700; — Gerste 26,718,500!
— Roggen 15,355,500;— Buchweizen 8,328,328.
Die Tabacksernte hat 263.196,100 Pfund ergeben; die Heu-
ernte 22.239,460 Tons; die Baumwollenernte 3,100,000 Ballen.
— Die Umgebung vonNeuyork umfaßt eine ziemliche
Anzahl von Städten, zum Theil bewohnt von Leuten, die hier
ihr Geschäft haben oder arbeiten und täglich hin und her reisen.
Erdth eilen. 143
Folgende sind die wichtigsten unter ihnen, mit den Bevölkerungs-
zahlen von 1870, die seither bedeutend gewachsen sein müssen:
Brooklyn, L. 1...... 396,090
Flushing, L. 1......14,650
Newtown, L. 1...... 20,274
Morrisania....... 19,609
Honkers ........18,357
Newark, N. 1...... 105,059
Jersey City, N. I. ... 82,546
Hoboken, N. I...... 20,297
Paterson, N. I...... 33,579
Elizabeth, N. 1...... 20,832
Total . . 731,293
Dazu kommen aber noch viele andere, wo der größte Theil
der Bevölkerung von Neuyork abhängig ist, wie Greenburgh,
Eastchester, Westfarms, Westchester, Jamaica, Oyster Bay, und
es lassen sich selbst sernere Orte dahin bringen, wie Bridgeport,
Croton Falls, Peekskill, Sommerville und Neu-Brunswick. Neu-
York selbst dürste seit dem letzten Census seine Bevölkerung auf
eine Million vermehrt haben.
— Reste der Indianer im Staate Iowa. Bei To-
ledo Hausen die Muskwakis; ihre Zahl beträgt keine dreihun-
dert mehr; sie sind die letzten der beiden einst mächtigen Stämme
der Sahks- und Fox-Indianer, „schmutzig, träge, verkommen,
und sie werden bald von der Erde verschwunden sein." Vor
einiger Zeit wurde einer ihrer Häuptlinge bestattet oder viel-
mehr erhöht, denn sie legten ihn in ein großes Stück Baum-
rinde, welche in etwa 70 Fuß Höhe auf einer Ulme mit Leder-
strängen festgebunden wurde. Dort bleibt die Leiche zwei Jahre
lang. Eine Squaw wurde in sitzender Stellung begraben, und
zwar so, daß der untere Theil des Körpers mit Erde überschüttet
wurde, der Rumpf mit dem Kopfe freiblieb; fo ließ man das
Gerippe fünf Jahre lang unangetastet. Bei einem Manne, wel-
cher in derselben Weise begraben worden ist, stand sein Schieß-
gewehr, das er mit beiden Knochenhänden umspannt hielt, lange
noch an die Schulter gelehnt, bis es zuletzt umfiel. Manchmal
werden die Gräber bis zu 10 oder 11 Fuß tief gemacht; zu-
weilen legt man die Todten platt auf die Erde, überschüttet sie
mit Erde und bezeichnet das Grab mit Stangen und kleinen
Stäben mit weißen Fähnchen, dergleichen auch an den über-
hängenden Baumzweigen befestigt werden. Die Muskwakis gel-
ten für ehrlich; auf Zahlenverhältnisse lassen sie sich nicht ein,
führen aber ihre Rechnungen im Gedächtniß ganz genau. Wer
mit ihnen Handel treibt, muß ihnen den Betrag auf ein Blatt
Papier schreiben, das sie zwar nicht lesen können, aber allemal
vorzeigen, wenn die Rechnung ausgeglichen ist, und sie wissen ge-
nau, was sie beträgt. Von Zinszahlen haben sie keine Vorstellung.
— Es ist im Vorschlage, im Süden einen Cana l zur Ver-
bindung des Mississippi mit der atlantischen Küste
zu bauen. Die Canäle in den nördlichen Staaten sind während
der Wintermonate nicht zu benutzen; die Straße des St. Lorenz-
stromes mindestens fünf volle Monate auch nicht, des Eises
wegen, Die Maaren müssen dann auf den Eisenbahnen beför-
dert werden, gegen deren Monopolwesen und hohe Frachtansätze
sich nichts thun läßt. Der Mississippi mündet in den mexicani-
schen Golf und die von Neuorleans nach den atlantischen Häfen
verschifften Waaren müssen den langen und gefährlichen Weg
um die Südspitze von Florida herum nehmen. Nun ist es im
Plane, die Flüsse Tennessee und Coosa mit dem Oakmulgee zu
verbinden. Diese Wasserstraße würde niemals durch Eis ver-
sperrt werden und keine Assecuranzgelder nöthig machen. Die
nordwestlichen Getreidestaaten sänden einen sichern und billigen
Abzugsweg für ihre Producte und die Fracht von St. Louis
bis zum georgischen Seehafen Savannah würde sich sür die
Tonne aus nur 4 Dollars 56 Cents stellen.
* * *
— Die Zustände in Griechenland lassen viel zu wün-
schen übrig. „Die materielle Lage in den Provinzen ist nicht
144 Aus allen
weit von Barbarei entfernt. Keine Straßen, keine Brücken,
keine Gasthäuser, keine Sicherheit sür den Reisenden und kaum
sür den Bauer; dazu kommt ein unvernünftiges System der
Besteuerung." Der britische Gesandtschaftssecretär Watson in
Athen hat in einem Berichte an seine Regierung die Schäden
offen dargestellt. Die Universit ät zu Athen hat 1244 Stu-
denten; davon sind 26 Theologen, 622 Juristen, 423 Medi-
einer, 120 Philosophen, 53 Pharmaceuten. Der Unterricht wird
in allen öffentlichen Lehranstalten gratis ertheilt. An der Uni-
versität ist die Ablichtung vorzugsweise eine rhetorische und auf
Politik gerichtete; man drängt sich, Jurist zu werden, um nach-
her eine politische Rolle zu spielen und als „Patriot" ein Amt
zu erjagen. Es scheint, als ob die Mängel des griechischen
Volkscharakters gesteigert worden seien durch die ganz unpraktische
Richtung, welche man dem Universitätsstudium giebt. Es herrscht
ein trostloser Mangel an Leuten, welche dem Lande ersprießliche und
nothwendige Dienste leisten können: an Geometern, Landwirthen,
Straßen- und Brückenbauern :c.; aber es wimmelt von Advo-
caten, Schriftstellern über Politik und Amtsbewerbern, die keine
regelmäßige Beschäftigung haben und als Agitatoren und Kaffee-
Hauspolitiker sich unnütz machen. Es ist allzeit ein großer An-
drang zu irgend einem besoldeten Amte, und doch kann der
Staat nicht Alle besriedigen. Aber die Stellenjäger sind einmal
da; sie haben ein Interesse daran, jedes beliebige Ministerium
zu stürzen, um dann für sich im Trüben zu fischen; denn kein
Civilamt ist dauernd, in Griechenland gilt dieselbe Maxime wie
in Nordamerika: dem Sieger gehört die Beute. Wer sich also
einer Partei oder Clique angeschlossen hat, welche siegt, hat
Aussicht und macht Anspruch auf ein besoldetes Amt, das er
dann behält, so lange seine Partei am Ruder bleibt. Uebrigens
bleibt kein Minister so lange auf seiner Stelle als nöthig wäre,
ihn mit den Erfordernissen des Dienstes bekannt zu machen; die
Unterbeamten im Ministerium werden bei jedem Wechsel be-
seitigt und wissen auch nur wenig Bescheid. Kein Wunder, daß
Alles stagnirt. Wenn die Dinge eine Wendung zum Bessern
nehmen sollen, so muß der Eifer der Jugend auf praktische und
nützliche Dinge hingelenkt werden; mit rhetorischen Phrasen
kommt man nicht weiter. An die Stelle der schönrednerischen
Müßiggänger, die nach Aemtern jagen, muß eine nützliche
Menschenclasse treten. Der Grieche gleicht in Manchem dem
Hindu; er lernt rasch etwas, woraus er Nutzen ziehen und wo-
mit er in der Welt vorwärts kommen kann; er ist im Allge-
meinen nicht ohne Talent, hat aber keine Vorliebe für irgend
ein bestimmtes Fach. Er wird, was man aus ihm macht, und
eine verständige Regierung wäre allerdings im Stande, eine
Generation nützlicher Menschen heranzuziehen.
— Das orientalische Eollegium in Neapel ist in
ein asiatisches umgewandelt und wesentlich erweitert worden.
Es soll als höheres Seminar betrachtet werden und die Lehr-
gänge sind beträchtlich vermehrt worden. Als Hauptgrundlage
der Studien gelten Geographie, Geschichte und mehrere Zweige
der Mathematik; von neueren Sprachen werden Deutsch, Englisch
und Französisch gelehrt; der linguistische Eursus der orientali-
schen Sprachen umfaßt: das Arabische, Persische, Türkische, Chi-
nesische und das Hindustani.
— Für die russische Armee sind 1872 als Recruten ein-
gestellt worden 132,151 Mann. Die Zeitschrift der „Russische
Invalide" giebt die Nationalität derselben in folgender Weise
an: Großrussen 83,525; Kleinrussen 32,265; Weißrussen 3300;
Letten 2416; Tataren 2059; Lithauer 1650; Esthen 1518; Ju-
den 1090; Samogitier 959; Wotjaken 500; Tscheremissen 297;
Rumänen 33; Baschkiren 13; Tschuwaschen 9; Zigeuner 6.
Erdtheilen.
Wenn der „Invalide" die Zahl der eingestellten Deutschen auf
33 und jene der Polen auf 229 angiebt, fo ist diese Angabe
offenbar falsch. Das rufsische Heer bildet auch in kirchlicher Be-
ziehung eine bunte Mosaik. Bon jener Gefammtziffer der Re-
cruten sind 117,130 Orthodoxe, 397 Raskolniks, 6291 Römisch-
Katholische, 3017 Protestanten, 2002 Mohammedaner, 55 Heiden,
1090 Juden. Von jenen 132,151 Leuten konnten nur 14,478
lesen und schreiben; wieder ein Beweis, daß der russische Clerus
rein gar nichts für die Bildung des Volkes thut.
— Die russische Regierung erlaubt Schiffen, die unter
ihrer Flagge fahren, die Kuliausfuhr aus China nicht. Im
Uebrigen geht diefelbe schwunghaft fort. Das'französische Schiff
„Urania" nahm in Macao am 29. Februar nach Havanna eine
Ladung an Bord. Als es nach 120 Tagen hier ankam, brachte
es 265 Kulis ans Land; 26 waren unterwegs gestorben. Das
peruanische Barkschiff ging am 20. Mai von Macao mit 193
unter Segel, die peruanische Bark „Hongkong" am 22. Mai
mit 314 Köpfen; beide sind nach Callao bestimmt. Von Macao
wurden im Mai überhaupt 3511 Kulis verschifft. Die amtliche
portugiesische Zeitung bringt solgende Ziffern über den Kuli-
Handel jenes Hüsens im Jahre 1871. Es gingen nach Havana
5705, nach Peru 10,813 Kulis.
— Der Telegraph von Buenos Ayres nach Val-
paraiso wurde am 13. Juni vollendet. So ist nun auch in
Südamerika der Atlantische Ocean mit der Südsee in Verbindung.
— Der junge erste König von Siam erreicht im Herbst
sein zwanzigstes Lebensjahr. Er wird sich dann, nach altem
Landesbrauch, auf einige Zeit in ein buddhistisches Kloster zurück-
ziehen; bis dahin verwaltet ein Kalahome, Regent, fein Amt.
Wohl aus Civilifationsdrang hat er das lebhafte Bedürfniß ge-
fühlt, zwei neue Orden zu schassen, deren jeder fünf Claffen
zählt. Damit ist der bisherige Orden vom Elephanten
hinfällig geworden. Das Großkreuz des Ordens der fiame-
fifchen Krone hat Seine Majestät verliehen an den Krön-
Prinzen des deutschen Reiches, an den Prinzen Friedrich Karl
und Feldmarschall Moltke. Der Kaiser und der Kronprinz von
Oesterreich sind mit dem neuen Orden des Weißen Elephan-
ten bedacht worden. Der König hat außerdem, aus Anlaß des
Abschlusses von Handelsverträgen, mehrere Oesterreicher und
Italiener, außerdem auch einige Holländer, mit Orden bedacht.
— Auf der Insel Java nimmt der Genuß des Opiums
in höchst bedenklicher Weise überhand. Den Batavia-Zeitungen
zufolge beträgt der Verbrauch in der Residentschaft Samarang,
welche 1,254,589 Javaner und Chinesen zählt, jetzt monatlich
im Durchschnitt 60 Pikols (zu 133 Pfund jedes), ohne das,
was die Regierung den Bauern liefert. Der Verbrauch hat
einmal sogar 20 Pikols in zwei Tagen betragen! In der Re-
sidentfchaft Japara mit 671,618 Seelen wurden vom 23. März
bis 8. April dieses Jahres, also in kaum einem halben Monate,
33 Pikols verbraucht; dazukommt noch das geschmuggelte Opium.
— Saraca, der letzte Menschenfresser auf Neu-
seeland, ist im April 1872 in Olunemuri gestorben. Er be-
fehligte auf dem letzten, Kriegszuge, nach welchem ein Canni-
baienfest veranstaltet wurde. Zum Begräbniß hatten sich viele
Maoris versammelt; sie legten ihn in einen Sarg, an dessen
Kopsende ein Fenster angebracht war. Beim Leichenschmaus
wurde präservirtes Schasfleifch genossen, das schon jetzt als Han-
delsartikel eine wichtige Rolle spielt. Die Compagnie, welche
dergleichen sabricirt, hat in der jüngsten Saison 170,000 Schafe
geschlachtet und eingekocht, dazu mehr als 3000 Stück Rindvieh.
Der Kannibalismus ist bei solchem Reichthum an Vieh ein über-
wundener Standpunkt.
Inhalt: Müller's kosmische Physik. II. (Mit sieben Abbildungen.) — Der Palast der Seths zu Adfchmir in In-
dien. (Mit einer Abbildung.) — Streisziige in Oregon und Calisornien (1871). Von Theodor Kirchhofs. VI. — Aus dem
Rothen Meere. Von Richard Brenner. — Weltgäng der Cholera. — Aus allen Erdtheilen: W. ^orssen's Entzifferung der
etruskischen Sprache. — Eine meteorologische Station in Alaska. — Aus Nordamerika. — Verschiedenes.
Herausgegeben vvn Karl Andree in Dresden. — Für die Redactivn verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag vvn Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
September Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1872.
Telegraphische Witterungsberichte und die Sturmwarnungen*).
Es ist bekannt, welch großer Unterschied zwischen der mungen besteht. Unter vielen anderen Ursachen, welche diese
Sicherheit astronomischer und meteorologischer Vorausbestim- Verschiedenheit bedingen, spielt aber auch jedenfalls der Um-
Fig. 1. Fig. 2.
Band XXII.
10.
lit htfondcrtr VerücKsirlrtigunz der Jlnihropolajic und EiKnologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
5. Februar 1367.
Beobachtungen die Data gar nicht enthalten, aus welchen
man etwa auf die Veränderungen schließen könnte, welche sich
im Zustande der Atmosphäre vorbereiten.
Zu diesem Zwecke ist für den Zeitpunkt, in welchem
man die zunächst zu erwartenden Witterungsänderungen er-
19
10. Januar 1867.
stand eine Rolle, daß die zu einer bestimmten Stunde an
irgend einer einzelnen meteorologischen Station gemachten
*) Müller, Lehrbuch der kosmischen Physik. 3. Aufl. Vraun-
schweig. Friedrich Vieweg und Sohn.
Globus XXII. Nr. 10. (September 1872.)
146 Telegrafische Witterungsberi
Mitteln will, die Kenntniß der gleichzeitig über einem grö-
ßern Umkreis herrschenden Witterungsverhältnisse unumgäng-
lich nöthig, eine solche Kenntniß kann aber nur durch den
elektrischen Telegraphen vermittelt werden.
Der erste, welcher diese Idee realisirte, dürfte wohl Le
Verrier gewesen sein, welcher der Pariser Akademie nach den
auf telegraphischem Wege eingegangenen meteorologischen Be-
obachtungen von verschiedenen Stationen eine Karte vorlegte,
welche den atmosphärischen Zustand Frankreichs für den 26.
Februar 1855 darstellte. Aus diesem Anfang gingen dann
später die telegraphischen Witterungsberichte hervor, welche
in dem „Bulletin international de l'Observatoire de Paris"
zusammengestellt für jeden Tag eine Uebersicht des Zustan-
des der Atmosphäre von fast ganz Europa liefern.
Von 21 französischen (darunter Dünkirchen, Brest, Bor-
deaux, Bayonne, Lyon, Marseille und Ajaccio) und 42 aus-
wärtigen Stationen (darunter 7 englische: Nairn in Schott-
land, Valentia in Irland, Greenwich :c.; 8 spanische: Ta-
rifa an der Meerenge von Gibraltar, Palma, Coruna :c.;
6 italienische: Rom, Neapel, Palermo :c.; 7 russische: Pe-
tersburg , Moskau, Odessa:c.; 3 schwedische: Stockholm,
Fig. 3.
le und die Sturmwarnungen.
Haparanda am nördlichen Ende des bosnischen Meer-
busens ic.; 2 norwegische, 2 portugiesische: Lissabon und
Oporto; 2 niederländische und endlich Bern und Brüssel)
wurden bis zur Belagerung von Paris jeden Tag die Mor-
gens im Sommer um 7 und im Winter um 8 Uhr auge-
stellten meteorologischen Beobachtungen, nämlich: der aufs
Niveau des Meeres reducirte Barometerstand, die Lufttem-
peratur, Richtung und Stärke des Windes, der Zustand des
Himmels und der Zustand des Meeres für die Seestädte
nach Paris telegraphirt. Die auf diese Weise eingelaufenen
Nachrichten über den Luftdruck wurden sodann (vorzugsweise
im Interesse der Schisffahrt) an 15 verschiedene Stationen
(darunter 6 französische) telegraphirt, so z. B. nach Florenz
und Rom für die italienischen Küsten, nach Wien für die östliche
Küste des Adriatifchen Meeres, nach Brüssel und Utrecht für
die Nordsee, nach Petersburg, Stockholm, Lissabon, Madrid
und Bern. Sämmtliche in Paris angekommenen Data
werden aber in dem täglich durch die Post versendeten Bul-
letiu international zusammengestellt, welchem seit 1867 eine
Karte von Europa mit der Lage der Isobaren (Linien glei-
chen Barometerstandes) für jeden Tag beigegeben ist. Die
Fig. 4.
2. März 1867.
Figuren 1 bis 6 sind die Copien von sechs solchen dem Bulle-
tin entnommenen Kärtchen. Die mit 74, 75 .... 78 be-
zeichneten Curven entsprechen einem Barometerstande von
740, 750 .... 780 Millimetern. Die Curve zwischen
74 und 75 verbindet die Orte, für welche im bezeichneten
Momente der Barometerstand 745™™ betrug; die Curve jen-
seits 74 entspricht dem Barometerstand von 735™™, welche
der Karte Fig. 1 zufolge am 10. Januar Morgens 8 Uhr
in der Gegend von Cambridge und einem Theil der Nord-
see geherrscht hat.
In den Kärtchen des Bulletin international ist für jede
Station der telegraphisch gemeldete Barometerstand eingetra-
gen und die^Windrichtung durch einen kleinen Pfeil bezeich-
net. Die Stärke des Windes ist durch Strichelchen ange-
deutet, welche auf der einen Seite des Pfeilschaftes um so
zahlreicher angesetzt sind, als der Wind heftiger weht. Ein
Pfeil ohne Seitenstrich (->) bezeichnet einen ganz
schwachen Wind, während- seitliche Strichelchen (*-
oder ^->) um so stärkern Wind anzeigen, je mehr ihrer
angebracht sind. Sechs Strichelchen (^s—oder
W->) sind das Zeichen für den heftigsten Sturm.
In unseren Kärtchen sind der Kleinheit des Maßstabes
12. Juni 1867.
wegen die Barometerstände der einzelnen Stationen wegge-
lassen und die Windpfeile des Beispiels halber nur hier und
da aufgetragen.
Außer der tabellarischen Zusammenstellung der telegra-
phisch eingetroffenen Data und der erwähnten Karte enthält
das Bulletin unter dem Titel „Situation generale" noch
eine Charakterisiruug der Witterungsznstände für den ge-
nannten Tag; so z. B. für den 10. Januar 1867.
Heute giebt es iu Europa zwei Depressionscentra. Das
eine in Rußland entspricht einem Windstoß (bourrasque),
welcher aus nördlichen Regionen kommend nach Südost fort-
schreitet und zu Haparanda Schneefall veranlaßt. — Das
zweite barometrische Minimum befindet sich über der Nord-
see; es ist dies das Centrum des stürmischen Wetters, welches
seit dem letzten Freitag (4. Januar) an den Küsten des
Canals La Manche und des Atlantischen Oceans herrscht.
Dieses von Südwest nach Nordost fortschreitende Centrum
ist durch den Einfluß der skandinavischen Gebirge in der
Nordsee aufgehalten worden; es scheint sich jetzt in südöst-
licher Richtung gegen Dänemark und Polen zu wenden.
In dem Bulletin vom 2. März heißt es: im Norden Euro-
pas ist der Druck der Atmosphäre im Zunehmen; er betrügt
Telegraphische Witterungsberi
heute Morgen 783'"'" zu Skudesnäs (Norwegen) und Grö-
ningen. Zu Paris ist er 777mm.
lieber dem größten Theile Europas wehen Nordostwinde
und zwar meist in mäßiger Stärke. Die Erkaltung der
Luft wird mehr und mehr merklich. Um 8 Uhr Morgens
betrug sie — 2,6° zu Paris, — 1,0° zu Boulogne, — 2,3°
zu Besanxon, — 4,3° zu Wien, -f 2,0° zu Skudesnäs,
— 19,1° C. zu Petersburg.
Früher enthielten die Pariser Depeschen als Anhang die
sogenannten Probabilites, d. h. Vorherbestimmungen der
wahrscheinlichen Witterung für den nächsten Tag. Seit
dem 27. October 1865 ist die Veröffentlichung dieser Pro-
babilites, wahrscheinlich in Folge von Meinungsverschieden-
heiten zwischen Le Verriet: und Marie Davy, eingestellt
worden.
Ein sehr interessantes und instructives Beispiel bieten
die Witterungsverhältnisse vom 15. November 1864, 8 Uhr-
Morgens, welche, soweit es die Kleinheit des Maßstabes
erlaubt, in Fig. 6 dargestellt sind. Ein barometrisches
Minimum von 729"™ befindet sich auf den Westküsten Eng-
lands, umgeben von einer fast kreisförmigen Isobare von
Fig. 5.
te und die Sturmwarnungen. 147
730""". Die Isobare von 735""" streift die Westküsten
von Irland, schneidet Schottland, tangirt die Ostküsten von
Schleswig-Holstein und läuft durch Holland und Belgien
nach der Mündung der Loire.
Dieses barometrische Minimum bildet das Centrum
eines Wirbelsturmes; wir finden östliche und nordöstliche
Winde in Schottland, nordwestliche zu Valentia und Plymonth,
westliche in L'Orient, Rochefort, Bordeaux, Bilboa, südwest-
liche und südsüdwestliche in Bourbon-Vendee, Cherbonrg,
Paris, Havre, Mezieres, Boulogne, Brüssel :c.
Ein Blick auf die Karte zeigt, daß bei einem derartigen
Sturme die Windrichtung im Allgemeinen nicht weit vom
Parallelismus mit den benachbarten isobarischen Cnrven
abweicht.
Eine andere höchst wichtige Bemerkung, welche sich bei
Betrachtung der Karte Fig. 6 aufdrängt, ist die, daß die
Winde auf der Nordost-, Nord- und Nordwestseite desCen-
trums von mäßiger Stärke sind, während sie auf der Süd-
west-, Süd- und Südostseite mit großer Heftigkeit wehen.
Die Südhälfte des Wirbelsturmes ist also bei weitem gefähr-
Fig. 6.
3. December 1863.
licher als die Nordhälfte. Es ist dies leicht zu erklären.
In Fig. 7 stelle der kleine Kreis einen Wirbelsturm dar,
welcher, wie dies ja für die europäischen Stürme der Fall
ist, in einer dem Zeiger einer Uhr entgegengesetzten Rich-
tung rotirt, und dessen Centrum in der Richtung des gefie-
derten Pfeiles fortschreitet, so ist klar, daß bei a die Rota-
tionsrichtung des Wirbels der Richtung entgegengesetzt ist,
nach welcher er fortschreitet, daß also hier der Wind nur
mit der Differenz der beiden Geschwindigkeiten auftreten
kann, während er bei b mit der Summe dieser beiden Ge-
schwindigkeiten wüthet. (S. die Figur Seite 148.)
Leider hat das Bulletin international durch die Belage-
rung von Paris eine Unterbrechung erfahren. Möge die
Reorganisation desselben recht bald erfolgen und möchten bei
dieser Gelegenheit die Lücken des Netzes ausgefüllt werden,
welche bis dahin noch bestanden.
Ein eigenes System telegraphischer Witterungsnachrich-
ten besteht in Oesterreich sowohl wie auch in Rußland.
Bereits im Jahre 1858 sandten 32 Stationen Nordameri-
kas ihre meteorologischen Beobachtungen auf telegraphischem
Wege nach Washington, wo in dem Gebäude der Smith-
sonian Institution täglich eine große Karte ausgestellt wurde,
15. November 1864.
welche die gleichzeitig über einem großen Theile der Vereinig-
ten Staaten herrschende Witterung darstellte.
Welche Vortheile dem Studium der Witterungskunde
aus diesen telegraphischen Witterungsberichten erwachsen wer-
den, ist zu einleuchtend, als daß man deshalb noch viele
Worte zu verlieren nöthig hätte.
Die telegraphischen Witterungsberichte fördern aber nicht
allein die wissenschaftliche Entwickelung der Meteorologie, sie
sind auch für die Schifffahrt von dem größten unmittelbaren
Nutzen. Der elektrische Telegraph kann die Nachricht von
dem Auftreten eines Sturmes an irgend einem Kostenpunkte
verbreiten, seinen Lauf verfolgen und rechtzeitig die Häfen
warnen, welche derselbe möglicherweise heimsuchen kann. Ja I
aus der Gestaltung der nach telegraphischen Witterungs-
berichten constrnirten Isobaren läßt sich das Eintreffen von
Stürmen voraussehen, ehe man dieselben an irgend einer
Station wirklich beobachtet hat.
Bei tiefem Barometerstande ist allerdings eher stürmische
Witterung zu erwarten, als bei hohem, doch kann man einen
tiefen Barometerstand allein keineswegs als ein sicheres Vor-
19*
"148
Telegraphische Witterungsberichte und die Sturmwarnungen.
zeichen von Stürmen betrachten; viel bedenklicher als ein
tiefer Barometerstand überhaupt ist ein rasches Sinken des
Barometers; das sicherste Vorzeichen hereinbrechender Stürme
besteht aber darin, daß die Isobaren
dicht gedrängt unl ein barometrisches
Minimum herum liegen, wie dies
z. B. am Z.December 1863 der Fall
war (Fig. 5).
Aus dem Verlans der Isobaren
läßt sich aber nicht allein das Her-
einbrechen eines Sturmes überhaupt,
sondern auch die wahrscheinliche Wind-
richtung angeben, denn ein Beobachter,
welcher sich so aufstellt, daß er die
Stelle des barometrischen Minimums
zur Linken hat, wird ungefähr nach
der Weltgegend Hinschanen, nach wel-
cher der zu erwartende Wind hinweht.
Die erste Regierungsverordnung in
Betreff einer regelmäßigen Veröffent-
lichung telegraphischer Witternngsbe-
richte zum Besten der Schifffahrt
wurde auf wiederholtes Audriugen
Bnys-Ballot's von der uiederlän-
difchen Regierung am 21. Mai 1860
erlassen. Im Februar 1861 geschah
dasselbe für England, im August 1863
für Frankreich u. f. w.
Die englischen Sturmsignale,
welche an den verschiedenen Hafen-
orten aufgehißt werden, wenn denfel-
ben die telegraphische Meldung atmo-
sphärischer Störungen zukommt, welche
das Hereinbrechen eines Sturmes ver-
mnthen lassen, besteht bei Tag aus
einem Cylinder von Weidengeflecht,
welcher 3 Fuß Durchmesser hat und
3 Fuß hoch ist, des Nachts aber aus
vier Laternen, welche in solcher gegen-
seitigen Stellung angebracht sind, daß
sie ein Quadrat von 4 Fuß Seite
bilden. Die gleichen oder ähnlichen
Sturmsignale sind auch in anderen
Ländern eingeführt worden.
In den Niederlanden hat Buys-
Ballot Sturmsignale eingeführt,
welche er Aeroklinoskope nennt und
welche den Vorzug haben, jederzeit den
Zustand der Atmosphäre anzudeuten.
An dem quadratischen Pfahle AB,
Fig. 8, ist eine starke eiserne Röhre
CD angebracht, welche mittelst des
Hebels L um ihre verticale Achse ge-
dreht und in einer bestimmten Stel-
lnng festgestellt werden kann, indem
man den Hebel L in eine der Ein-
kerbungen des gleichfalls an A B be-
festigten eisernen Bogens JJ einsetzt.
Die eiserne Röhre CD trägt an
ihrem obern Ende einen beweglichen
Arm NS, dessen Neigung gegen die
Horizontale mittelst der Stange BP
regulirt werden kann, indem man ihr
unteres Ende an den einen oder den andern der zwischen
o und u befindlichen eisernen Stifte ansteckt.
Der Zweck dieser Vorrichtung ist, die Differenz der Ba-
rometerstände zwischen zweien der vier niederländischen Sta-
tionen Gröningen, Helder, Vliessingen und Mastricht anzu-
deuten, deren telegraphisch nach Utrecht gemeldete Beobach-
tnngen von hier aus den verschiede-
nen niederländischen Häfen mitgetheilt
werden. Nach diesen Mittheilungen
wird dann die Einstellung des Aero-
klinoskops besorgt. Der Hebel L wird
in die Einkerbung bei 1 eingesetzt,
wenn die Differenz des Barometer-
staudes zwischen Gröningen und Hel-
der oder zwischen Mastricht und Vlies-
singen bezeichnet werden soll; er wird
bei 2 eingesetzt, wenn es sich um Grö-
ningen-Vliessingen, bei 3, wenn es sich
um Gröniugeu-Mastricht oder Helder-
Vliessingen, bei 4 endlich, wenn es
sich um Helder-Mastricht handelt.
Der bessern Unterscheidung wegen
ist die nördliche Hälfte des Armes N S
roth, die südliche aber weiß ange-
strichen, außerdem aber ist an dem
südlichen Arme eine aus Blechstreifen
gebildete Kugel B befestigt.
Zwischen o und u sind im Gan-
zen 9 eiserne Stifte angebracht. Wird
das untere Ende der Stange BB an
den Mittlern Stift angesteckt, so steht
der Arm NS wagerecht, was anzeigt,
daß der Barometerstand auf den nörd-
licheren Stationen dem aus den süd-
licheren gleich ist. Steht das Baro-
meter auf der nördlichen Station um
1, 2, 3, 4 Millimeter tiefer als auf
der südlichen, so wird das untere Ende
der Stange BB an dem 1., 2., 3.,
4. Stift unter dem mittler» ange-
steckt, umgekehrt wird das untere
Ende von BB an einen der vier oberen
Stifte angesteckt, wenn das Barometer
auf der südlichen Station tiefer steht
als auf der nördlichen. Die in Fig. 8
abgebildete Stellung des Apparates
würde also anzeigen, daß das Baro-
meter zu Gröningen um 3'™ höher
steht als in Mastricht, oder in Helder
um 3mm höher als zu Vliessingen.
Man hat zunächst keinen Sturm
zu befürchten, wenn das Nordende des
Armes NS höher steht als das Süd-
ende, oder wenn die Lage dieses Ar-
mes überhaupt nicht viel von der Ho-
rizontalen abweicht; dagegen ist das
Wetter um so bedenklicher, je höher
das Südende des Armes -ZV >S in die
Höhe steht.
Da der Herd der Stürme, welche
über Europa hereinbrechen, zum größ-
ten Thcil aus dem Atlantischen Ocean
zu suchen ist, so wäre es von der
größten Wichtigkeit, in telegraphi-
schein Verkehr mit einer weit von
den europäischen Küsten nach Westen
gelegenen meteorologischen Station zu stehen, und als solche
hat Bnys-Ballot die azorischen Inseln vorgeschlagen. Es
wäre von internationalem Interesse, nicht nur von dort
H. Obst: Unsere heutige Kenntniß der Uranfänge des Menschengeschlechtes. 149
Warnungen zu erhalten, sondern anch solche dorthin zu I submarines Kabel mit Nordamerika (Neufundland) verbun-
dirigiren, welche vorbeisegelnden Schiffen bekannt gemacht den werden,
werden könnten. Die Azoren könnten dann weiter durch ein |
Unsere heutige Kenntniß der Uranfänge des Menschengeschlechtes.
Von Dr. med. H. Obst.
I.
Wenn auch nur langsam, so doch stätig schreiten unsere
Kenntnisse über die vorgeschichtliche Zeit unseres Geschlechtes
ihrem Ziele entgegen. Da ist kein Aufenthalt mehr; aber
wie eifrig man sich auch bemüht, wie conseqnent man vor-
wärts dringt ans der einmal eingeschlagenen Bahn, das Ende
derselben, das Ziel unserer Hoffnungen liegt noch in weiter,
weiter Ferne. Mit Träumereien, wie sonst, mit den Kräf-
ten einer üppigen Phantasie läßt sich hier nichts ausrichten,
auch mit Sturm läßt sich das Bollwerk, das eine in grauer
Ferne hinter uns liegende Zeit unseren Blicken verbirgt,
nicht einnehmen. Nur durch Geduld und rastlose Arbeit
läßt sich hier erringen, was sonst ewig im Schooße der Crde
verborgen bleiben würde.
Ein wichtiges Glied in der Reihe dieser Forschuugen
bildet das Suchen nach menschlichen Ueberresten aus jener
vorhistorischen Epoche. Die Zeit liegt noch nicht allzu weit
hinter uns, wo der Zweifel hemmend in den Gang unserer
Erkenntniß eingriff. Auch er hatte sein Gutes und war
wohl begründet in dem kritiklosen Versahren zwar nur eini-
ger Wenigen, denn die Zahl derer, welche sich mit dem Ge-
genstande beschäftigte, war nur klein, aber deshalb doch
nicht minder gefährlich. Die Skepsis hat zwar den Gang
der Entwicklung für einige Zeit aufgehalten, dafür hat aber
die Reaction uns die richtigen Mittel gebracht, um zum
Ziele zu gelangen, während wir auf der alten Bahn immer
mehr in der Irre herumgesucht und immer weiter von der
Wahrheit uns entfernt hätten.
Der vergleichenden Anatomie wie der Geologie gebührt
ein großer Theil der Verdienste, welche unsere Wissenschaft
auf die Höhe unserer Tage gebracht; mit ihrer Hülfe, nach-
dem sie sich hinreichend entwickelt hatten, ist es erst gelun-
gen, klar in die Verhältnisse zu schauen, und was in früheren
Zeiten gerade auf diesem Gebiete gefehlt worden ist, hat mehr
seinen Grund in dem damals noch unreifen Zustande jener
beiden Wissenschaften, ohne deren Unterstützung eine erfolg-
reiche Thätigkeit ganz unmöglich ist.
Ohne in das Reich vager Hypothesen uns zu verirren,
können wir die Spuren menschlichen Daseins bis in die so-
genannte Eiszeit, jene Epoche der Diluvialzeit, die Lyell als
die zweite Coutiueutalperiode bezeichnet, verfolgen, eine Pe-
riode, in welcher gleichzeitig mit der Verbindung vieler In-
seln mit dem Festlaude und einer bedeutenden Ausdehnung
der Gletscher die Bevölkerung der Erde durch Menschen statt-
sand, mit dem gleichzeitig die großen Säugethiere Elephas
antiquus, Rhinoceros hemitöchus, Hippopotamus ma-
jor und manche andere lebten. Was man von noch älteren
Resten, namentlich aus den Miocenschichten, sabelt, gehört
bis jetzt in das Bereich der Mythe, oder ist wenigstens noch
keineswegs sicher erwiesen. Dabei wollen wir aber keines-
wegs die Möglichkeit in Abrede stellen, daß nicht noch ein-
mal auch aus jenen Zeiten sichere Spuren des Daseins des
Menschengeschlechtes sollten erwiesen werden; verneinte man
doch einst überhaupt das Vorhaudeufeiu fossiler Menschen-
knocheu, während dieselben doch jetzt sicher erwiesen sind und
aller Orten auftauchen, so daß eine Fluth versteinerter Men-
schengebeine uns zu überschwemmen droht. Mag anch Ein-
zelnes auf Jrrthum beruhen, die Thatsachen lassen sich nicht
mehr hinwegleugnen, und so hat unsere heutige Anthropolo-
gie eine Errungenschaft zu verzeichnen, die geeignet ist, alles
Borhergehende zu übertreffen.
Aus derselben Zeit der ersten Spuren des Menschen-
geschlechtes finden sich auch die ältesten Ueberreste desselben,
wenngleich bedeutend seltener, jedoch von Anatomie und Geo-
logie sicher constatirt.
Wir wollen uns nicht zu weit zurückverirren, denn die
frühesten Funde von Menschenknochen sind allzu oft erörtert
worden, allein es fei uns gestattet, nach einem kurzen Rück-
blick einige der wichtigsten neueren und weniger
bekannten Entdeckungen in Bezug auf menschliche
Ueberreste hier vorzuführen.
Die Länder, die bei einer Erörterung der ältesten Spu-
ren und Ueberreste des Menschen vorzugsweise müssen er-
wähnt werden, sind Frankreich, England, Belgien und Däne-
mark; namentlich ist es Frankreich, das sogar bis in die
mittlere Tertiärperiode das Vorhandensein des Menschen will
erwiesen haben. Auch Afrika und Amerika hat seine Prä-
historischen Menschen. So fand man beim Grundgraben
für eine Gasanstalt zu Neuorleaus 16 Fuß tief unter der
Oberfläche einige Menschenschädel, für welche Dr. Dawler
mit Berücksichtigung der jetzigen Flußanschwemmung ein
Alter von 50,000 Jahren berechnet, ein Zeitraum, gegen
dessen Länge sich doch wohl Manches einwenden ließe. Auch
im Ohiothale sind Menschenreste aus einer sehr frühen Pe-
riode gefunden worden, doch entziehen sich auch diese wie die
meisten oder wohl fast alle anderen Funde einer positiven
Zeitbestimmung.
Kehren wir jedoch nach Europa zurück. Hier steht
Frankreich in erster Linie. Seit dem Anfange der sechs-
ziger Jahre reiht sich hier Entdeckung an Entdeckung, und
ältere bisher angezweifelte Funde wurden nach ihrem wahren
Werthe erkannt und kamen zu ihrem verdienten Rechte. So
fand Tourual schon 1828 in der Höhle von Bize im
südlichen Frankreich Knochen und Zähne vom Menschen so-
wie Topfscherben, zusammen mit Knochen ausgestochener
Säugethiere, welche letzteren sich nach Marcel de Serres
genau in demselben chemischen Zustande befanden, wie die
Menschenknochen. Beide waren auch derart eingelagert, daß
man daraus schließen mußte, sie seien nicht etwa später ge-
meinsam in der Höhle eingeschwemmt worden, sondern viel-
mehr ursprünglich darin niedergelegt worden.
In Bezug auf das Aussehen der Knochen entscheidet das-
selbe keineswegs über das Alter dieser. Es sei uns hier
150 H. Obst: Unsere heutige Kenntniß der Uranfänge des Menschengeschlechtes.
erlaubt, eine Beobachtung von Fraas anzuführen, die am Reste nichts entnehmen können, wird wohl Jedem klar sein,
besten geeignet ist, das Verhältniß klar zu macheu. Der- dem schon paläontologische Funde durch die Hände gegangen
selbe sagt: „Daß wir aus dem Erhaltungszustande der sind. Die Erhaltung hängt doch nur von localen Verhält-
Die rothen Höhlen bei Mentone. Nach einer Skizze von A. Ternante.
nissen ab, in welchen diese Kuochen liegen, und wie weit der Staub zerfallen sind, liegen andere noch frisch im Grabe.
Zutritt der Luft durch die Umgebung der Erde möglich ist. deren Beigabe in die Zeit der fränkischen Herrscher zurück-
Während Knochen aus Friedhöfen vom Anfang dieses Jahr- weist, oder in die Zeit der germanischen Neihengrüber fällt.
Hunderts je nachdem schon vermodert und die Gebeine zu Sobald dem Kuodien als erste Bedingung seiner Erhaltung
H. Obst: Unsere heutige Kenntniß der Uranfänge des Menschengeschlechtes.
151
Funde auf französischem Bo-
So wurde 1852 eine offen-
die Feuchtigkeit gegeben und eben damit der Abschluß der
Luft bewerkstelligt ist, sobald entzieht er sich aller uud jeder
Berechnung, und die Reste können eben so gut 4000 Jahre
alt sein und mehr, als nur 1000 und 100 Jahre. Es
geht an ihnen die Zeit eben so spurlos vorüber, als an den
mit Erdöl getränkten Mumien der ägyptischen Gräber. Im
Zustande der Erhaltung der Knochen liegt also durchaus
kein Anhaltspunkt, der uns zur Annahme eines hohen oder
eines geringen Alters nöthigte. Etliche der Renthier- und
Bärenknochen, die gerade in recht saftigem Letten gebettet
lagen, fchauen so frisch darein, als wären erst wenige Jahre
seit ihrer Abfleischung verstrichen. Dies dürfte uns aber
nicht abhalten, wenn anderweitige Gründe dafür sprächen,
ihnen Jahrtausende zu vindiciren."
Ferner fand in der Höhle von Pnndres im Languedoc
Christal Menschenknochen und Topfscherben zusammen mit
Knochen von Hyänen und Rhiuoceros. Die Verdienste,
welche Boucher de Perthes um die Vorgeschichte des Men-
schengeschlechtes sich erworben, wollen wir hier nicht weiter
erörtern, jede Seite seiner „Antiquites celtiques antedilu-
viennes" legt davon laut redendes Zeugniß ab, ebenso wie
die zahlreichen Aufsätze in den „Conxptes rendues".
Nur noch einiger wichtiger
den wollen wir hier gedenken,
bar als Grabstätte
benutzte Höhle bei
Aurignac im süd-
lichen Frankreich auf-
gedeckt, in welcher
man die Knochen-
reste von 70 Men-
schen fand, und da-
bei nicht nur einige
Feuersteinmesser, sou-
dern auch Geräthe,
welche aus den Kno-
chen vom Höhlenbär
uud vom Renthier
angefertigt sind. Auf
einer Art Opferplatz
vor der Oeffnung
dieser Höhle fand
man ebenfalls verschüttete Geräthe und Knochen von
ausgestorbenen, theils noch lebenden Thierspecies.
Zu den interessantesten Funden, welche in neuerer Zeit
gemacht worden sind, gehören die in der Höhle von Cro
Magnon in Perigord. Sie vervollständigen die früher an
anderen Stellen der Dordogne gemachten Entdeckungen nach
einer sehr wichtigen Seite hin. Haben uns diese die un-
zweifelhaften Beweise des Zusammenlebens des Menschen
mit dem Mammuth geliefert, und über die Sitten der alten
Troqlodyten die interessantesten Aufschlüsse gegeben, so haben
wir diese, so zu sagen, nicht von Angesicht zu Angesicht ken-
nen gelernt. Diese Lücke ist nun durch die Auffindung der
Skelette und Schädel von Les Eyzies (Höhle von Cro
Magnon) in erwünschter Weise ausgefüllt worden. Mag
nun auch zwischen der Periode, in welcher die Verfertiger
der Zeichnungen und Schnitzereien von la Madeleine :c.
lebten, und derjenigen, welche den Renthierjäger von Les
Eyzies lebend sah, eine beträchtliche Spanne Zeit liegen, in-
dem dort das Renthier schon viel mehr vorherrscht als hier,
so haben doch wohl beide unzweifelhaft demselben Volke an-
gehört, und wir sind berechtigt, die hier aufgefundenen mensch-
lichen Reste als die der Voreltern derjenigen zu betrachten,
denen man — ob durchweg mit Recht oder nicht, lassen wir
für heute dahin gestellt — die Kunstwerke der Dordogne
Der Neanderthalschädel.
theils
in Renthiergeweih zuschreibt, jener Sculpturen, die ihrer
Zeit die ganze gelehrte Welt in Bewegung setzten, die auf-
tauchend Alles erstaunen machten, dann wieder stark ange-
zweifelt, ja sogar als eine Betrügerei hingestellt wurden,
zuletzt aber doch zu ihrem Rechte kamen und wieder als echt,
wenngleich mit einigenModisicationen, anerkannt wurden*).
Alles, was sich auf die eben erwähnten Funde in der
Höhle von Cro Magnon bezieht, hat Professor A.Ecker in
Freiburg im Breisgau in einer Abhandlung, die sich im
„Archiv für Anthropologie" befindet, zusammengestellt, und
namentlich was französische Forscher darüber geschrieben ha-
ben, kritisch beleuchtet. Die menschlichen Skelettreste bilden
den wichtigsten Theil des Fundes, sind verhältnißmäßig gut
erhalten uud nehmen unsere Aufmerksamkeit insofern ganz
besonders in Anspruch, als in ihnen uns ein Bild des frühe-
sten vorhistorischen Menschen entgegentritt. Von einigen
unbedeutenden Schädelresten abgesehen, welche die eines Er-
wachsenen und eines Kindes waren, gehörten die gefundenen
Menschenknochen drei Individuen an, doch konnte kein Ske-
lett vollständig zusammengesetzt werden. Dessenungeachtet
lassen sich aus denselben Schlüsse ziehen, die von großer Wich-
tigkeit sind. Wenn auch diese drei Individuen, wie dies wohl
nicht anders möglich ist, zahlreiche Verschiedenheiten zeigen,
so weisen sie doch so viele gemeinsame Züge auf, daß man
sie als nahe verwandt
und zu einer und
derselben Race ge-
hörig erkennen muß,
und zwar zu einer
Race, die von allen
bis jetzt bekannten
sehr verschieden ist.
Was zunächst die
Statur dieser Jndi-
vidueu betrifft, so war
sie eine sehr große
uud übertraf die bei
uns die Regel bil-
dende um ein Bedeu-
tendes. Konnten
auch directe Messuu-
gen nicht vorgenom-
men werden, so ließ sich doch aus der Länge einzelner Kno-
chen die Gesammtlänge des Körpers erschließen. Diese er-
gab nun eine Größe, wie sie sowohl von Europäern als
auch von anderen Racen sonst selten erreicht wird, bei die-
sem Volke der Troglodyten aber gewöhnlich zu sein schien,
denn die Knochen sämmtlicher drei Personen zeigten diese
außergewöhnlichen Verhältnisse. Es ist diese Thatsache um
so bemerkenswerther, als der qnaternäre Mensch in Belgien,
nach den dortigen Höhlenfunden zu schließen, die heutige
mittlere Größe bei Weitem nicht erreichte, und es hat der
frühere Maubeussatz, daß der vorhistorische Mensch durch-
weg von kleiner Statur uud brachycephal gewesen sei, durch
den Fund von Les Eyzies einen weitern bedenklichen Stoß
erhalten. Richt minder als durch die Statur zeichneten sich
diese alten Renthierjäger durch die Stärke ihrer Knochen aus.
Einer besondern Erwähnung ist noch der Schädel Werth.
Den bisherigen Ansichten entgegen zeigt er sich sehr bedeu-
tend dolichocephal, wobei die Dolichocephalie keineswegs die
Folge einer besondern Schmalheit des Schädels, sondern, da
die Breite eine ziemlich beträchtliche, sogar größer als die
der meisten brachycephalen Schädel, das Resultat einer be-
*) Vergl. „Globus"
ducte abgebildet sind.
XX, S. 215, wo einige dieser Kunstpro-
152 H. Obst: Unsere heutige Kenntniß
deutenden Länge ist. Ebenso war der Rauminhalt, der frei-
lich nur bei einem der drei Schädel wirklich gemessen, bei
den anderen immerhin aber nachgeschätzt werden konnte, ein
sehr großer. Hierbei darf man jedoch die Statur nicht außer
Acht lassen, da das Gehirn — freilich nicht in Proportion,
denn große Personen haben ein relativ kleineres Gehirn —
mit der Statur wächst; dennoch ist, alles dies wohl berück-
sichtigt, nicht zu verkennen, daß die Renthierjäger von Les
Eyzies sich durch ein sehr großes Hirnvolumen auszeichneten.
Es wird um so mehr erlaubt sein, hieraus einen günstigen
Schluß auf die Intelligenz dieser Race zu ziehen, als die
Geräumigkeit der Schädelhöhle, insbesondere im Stirntheile
des Schädels, eine sehr bedeutende gewesen. Die Stirn ist
vertical gewölbt, besonders an der Mediumlinie. Die größte
Breite des Schädels findet sich in der Nähe der Scheitel-
Höcker, während die Schläfengegenden keineswegs vorsprin-
gend sind.
Besondere Auffälligkeiten zeigt noch der Gefichtstheil des
Schädels. Der obere ist sehr senkrecht gestellt, während der
untere sehr prognath erscheint, ohne daß deshalb die Schneide-
zahne, wie dies aus der Stellung der Alveolen hervorgeht,
schief gestellt gewesen waren. Der Unterkiefer ist besonders
durch die starke Divergenz der beiden Nasenhälften ausge-
zeichnet und unterscheidet sich hierdurch sehr auffallend so-
wohl vor dem Unterkiefer von Naulette als dem des Affen.
Das Kinn ist sehr hervorragend, die Aeste steigen, obschon
der Winkel abgerundet ist, ziemlich senkrecht auf und sind
von einer Breite, welche nach Broca's Begleichungen von
keinem europäischen Schädel erreicht wird, ja selbst nicht
einmal von solchen wilder außereuropäischer Racen. Durch
diesen Charakter stellt sich, so schließt Broca, der eine männ-
liche Schädel von Cro Magnon zwischen die wilden Racen
und die anthropomorphen Affen, von welchen letzteren sich
jedoch der Unterkiefer in allen anderen Beziehungen ganz
entschieden unterscheidet. Der Gefichtstheil des andern, eines
weiblichen Schädels, läßt nach Broca's Ausspruch, obgleich
er auf den ersten Anblick von dem eben beschriebenen sehr
verschieden zu sein scheint, doch die meisten Charaktere des
ersten, wenn auch sehr gemildert, wieder erkennen. An dem
Schädel des dritten Individuums fehlt der Gefichtstheil, so
daß dieser nicht mit in Betracht gezogen werden kann; es
genügen jedoch die beiden anderen, um in ihren übereinstim-
Menden Eigenschaften Charaktere zu finden, wodurch sie von
anderen quaternären Schädeln, wie z. B. denen der belgi-
schen Höhlen, hinreichend unterschieden werden.
Wie charakteristisch nun auch die Schädel dieser alten
Höhlenbewohner sind, so ist man doch nicht im Stande,
sie mit irgend einer bestimmten Völkergruppe zu
ideutificiren. Fast will es scheinen, daß sie ganz isolirt
dastehen und innerhalb einer Grenze entstanden sind, die —
nur von sehr beschränkter Ausdehnung — zu weiter keinen
Schlüssen berechtigt, als wozu der Fundort befähigt.
Diese menschlichen Ueberreste wurden mit den Knochen
von 14 bis 15 Süugethieren und eines Vogels zusammen
gefunden. Als charakteristisch erwähnen wir den Bär, Wolf,
ein großes Raubthier aus der Gattung Felis, den Fuchs,
Hasen, Elephanten oder das Mammnth, ferner das Pferd,
das Renthier, den Auerochsen, Hirsch, Steinbock und das
Wildschwein. Von einzelnen dieser Thierarten fanden sich
nur Zähne vor. Der einzige Vogelknochen, welcher ange-
troffen wurde, mag einem Kranich angehört haben.
Bon allen anthropaläontologifchen Funden haben keine
ihrer Zeit so viel Aufsehen erregt, als der Engis- und
r Uranfänge des Menschengeschlechtes.
Neanderthalschädel. Was den erstem betrifft, so stammt
er aus der Eugishöhle, ungefähr 8 Meilen südwestlich von
Lüttich, an dem linken Ufer der Maas. Es wurden daselbst
von wenigstens drei menschlichen Individuen Ueberreste auf-
gefunden. Der Schädel des einen, einer jungen Person,
lag neben einem Mammuthszahn. Er war vollständig, aber
so zerbrechlich, daß er bei der Ausgrabung beinahe ganz in
Stücke zerfiel. Ein zweiter Schädel, der eines erwachsenen
Individuums und der einzige, der in einem leidlichen Zu-
stände erhalten werden konnte, fand sich fünf Fuß tief in
einer Breccie, in welcher Rhinoceroszähne, verschiedene Kno-
chen eines Pferdes und einige des Renthieres zusammen mit
denen einiger Wiederkäuer vorkamen. Es ist bereits über
diesen wichtigen Fund so viel in die Öffentlichkeit gelangt,
daß wir füglich über denselben hinweggehen können, dagegen
müssen wir über den mindestens eben so oft besprochenen
Neanderthalschädel noch einige Worte hinzufügen, da wir
an denselben die Mittheilung einer andern Entdeckung an-
zuknüpfen haben.
Derselbe stammt aus einer Höhle im sogenannten Nean-
derthale, einer tiefen und engen Schlucht, unweit Düffel-
dorf. Die Höhle befindet sich an der linken Seite des ge-
wundenen Thales, ungefähr 60 Fuß über dem Spiegel der
Düffel und 100 Fuß unterhalb des obern Randes des Ab-
Hanges. Ursprünglich war das ganze Skelett, das wahr-
scheinlich durch eine Spalte an der Oberfläche in die Höhle
hineingespült worden sein mag, vorhanden und lag nahe dem
Eingange der Höhle, in einer horizontalen Lage, unter dem
den Boden bedeckenden Lehme. Es war ohne Zweifel voll-
ständig, aber die Arbeiter zerstreuten und verloren die meisten
Knochen, und nur die größeren, worunter der Schädel oder
wenigstens einen Theil desselben, behielten sie zurück.
Als der Schädel zuerst einer wissenschaftlichen Versamm-
lung in Bonn vorgelegt wurde, entstanden anfangs Zweifel,
ob man es wirklich mit einem menschlichen zu thun habe.
Der Schädel war von ungewöhnlicher Größe und Dicke, der
Vorderkopf schmal und sehr niedrig, die Angenbranenbogen
enorm vorragend. Die Länge der Skelettknochen entsprach
zwar den Größenverhältnissen eines heutigen Europäers, aber
dafür waren sie außerordentlich dick und die Knochenvor-
sprünge, an welche sich die Muskeln ansetzen, ungewöhnlich
entwickelt. Einige der Rippen waren von einer Gestalt,
welche eine ungewöhnliche Kraft der Brustmuskeln voraus-
setzen läßt.
Professor Scha äff Hausen, der den Fund am genauesten
untersucht hat, sprach dem Menschen, von dem er herrührt,
eine sehr geringe geistige Fähigkeit zu, da die Entwickeluug
des Gehirnes auf eine sehr tiefe Stellung des Individuums
schließen ließ, dagegen schrieb er demselben eine sehr große
körperliche Stärke zu, nach den außerordentlich stark hervor-
tretenden Knochenvorsprüngen. Die Abplattung des Vor-
derkopfes, welche man häufig als Folge künstlicher Entstel-
lung findet, und wie sie noch heutzutage von manchen wilden
Völkern geübt wird, leugnete Schaafhausen als artificiell.
Professor Huxley, dem ein Gypsabguß des Schädels
vorlag, bemerkte dazu, daß dies der affenähnlichste Schädel
sei, den er je gesehen, außerdem machte er noch die Beob-
achtung, daß die Gestalt des Hinterhauptes eben so regel-
widrig sei, wie die des Borderkopfes. Dazu machte noch
ein Herr Bufh die Bemerkung über die charakteristischen
Punkte, in denen der Schädel sich denen des Gorilla und
Chimpanse nähere.
Heinrich v. Maltzan: Zur Kennzeichnung der Zustünde in Tunis.
153
Zur Kennzeichnung der Zustände in Tunis.
Ein tunisischer Prinz als Rebell.
Von Heinrich Freiherrn von Maltzan.
I.
Tunis hatte im letzten Jahrzent (1860 bis 1870) zwei
wichtige Empörungen zu bekämpfen. Die eine war die große
Erhebung arabischer Stämme im Jahre 1864, und
nur durch List und Verrätherei, nicht aber durch Waffen-
gewalt gelang es der Regierung, dieselbe zu unterdrucken.
Die Truppen des Bey waren von den Aufwieglern überall
geschlagen worden. So weit ging schon die Ohnmacht der
Regierung, daß sie den Empörern versprach, alle ihre Be-
dingungen zu erfüllen und deshalb mit ihnen in Unterhand-
lung stand. Diese Zeit der Unterhandlung gab aber der
schlauen Diplomatie des Tuniser Hofes Gelegenheit, ihre
Kunst zu zeigen und durch jene Kniffe und Schliche, an
welchen sie so reich ist, das Ziel zu erreichen, das die Waffen
nicht hatten erringen können. Namentlich die Bestechung
war ihr beliebtes und erfolgreichstes Mittel. Man benutzte
diese Frist also, um die einzelnen Häupter der empörten
Stämme theils durch baare Summen, zum größten Theil
aber durch jene goldenen Versprechungen, deren ein orienta-
lischer Minister Dutzende aus dem Aermel schüttelt, um sie
bei der nächsten Gelegenheit wieder zu vergessen, zu bestechen,
sie zum Verrath an ihrer eigenen Sache zu bewegen und
dann allmälig die Auflösung des feindlichen Heeres herbei-
zuführen.
Ein Häuptling nach dem andern, durch klingende Gründe
bewogen, verließ das Lager. Endlich fah sich der Haupt-
anführer der Aufwiegler mit einem kleinen Häuflein Ge-
treuer allein. Er allein hatte sich nicht bestechen lassen wol-
len, denn er hatte zu viel zu verlieren und nichts zu gewin-
nen. Darum traf ihn auch jetzt die ganze Wuth und Rache
der auf einmal aus ihrer Ohnmacht geretteten Regierung.
Es war eine Kleinigkeit, das Häuflein zu umringen, das
Oberhaupt gefangen zu nehmen und seine Anhänger zu zer-
streuen, denn im Orient hat der Tod oder die Gefangen-
nähme des Feldherrn stets die Auflösung seiner Truppen im
Gefolge.
Nun begann das grausame Rachewerk dieser feigen Re-
gierung und ihrer habsüchtigen Generäle. Die aufgewiegelten
Stämme waren vereinzelt in ihre Zeltlager zurückgekehrt.
Sie wähnten ihre Straflosigkeit erlangt zu haben, ja sie
bildeten sich ein, die Regierung werde ihnen für ihren Ab-
fall von der Sache der Rebellen noch dankbar sein. Aber
die Regierung schonte sie nur so lange, als sie mußte. Un-
fähig, in ihrer Vereinzelung der nen organisirten Armee des
Bey einen kräftigen Widerstand entgegenzusetzen, wurden
die schwercnttäuschtcn Rebellenvölker, die es jetzt bitter be-
reuten, sich zu früh zur Ruhe begeben zu haben, eines nach
dem andern das Opfer ihrer Rache. Ganze Stämme wur-
den durch die in Afrika so vielbeliebten, weil einträglichen
Rhasiyas (Raubzüge) an den Bettelstab gebracht. Nicht
Nur das; fast alle kräftigen Männer starben eines grau-
famen Henkertodes. Der große General Saruk, tunisischer
Kriegsminister, der oberste Leiter dieser Raubzüge, hatte aus
der Gelderpressung durch die blutigsten Mittel eine Art von
Wissenschaft gemacht. Alle seit dem Mittelalter in Berges-
senheit gerathenen Foltermittel wurden von ihm wieder her-
Globus XXII. Nr. 10. (September 1872.)
vorgesucht und mit Erfolg zur Anwendung gebracht. Man
spricht von Lenten, die mit glühenden Zangen gezwickt, denen
die Glieder stückweise verstümmelt, die an Bäume über Amei-
feuhaufeu oder Strohfeuer mit dem Kopfe nach unten ge-
Kunden wurden, kurz denen keine grausame Peinigung erspart
blieb, Alles, um sie zum Eingestehen ihrer Geldverstecke zu
bringen. Von Jedermann nahm man an, daß er Geld
versteckt habe. Wehe dem, der nichts eingestehen konnte. Er
wurde bis zum Tode geschunden. Aber auch denen, die etwas
eingestanden, ging es nicht viel besser. „Wo etwas ist, da
wird auch uoch mehr sein," ist ein arabisches Sprüchwort,
und diesem zufolge wurden die Folterqualen unerbittlich fort-
gesetzt.
Nach Einigen soll auch General Saruk der Erfinder
der sogenannten „Schlangengrube" gewesen sein. Nach
Anderen freilich gebührt dies Verdienst einem gewissen Sadik
ben Ali Gassem, Gouverneur der Insel Dscherba, der sie
zur Steuererhebung in Scene zu setzen pflegte. Aber ich
glaube, Sadik war nur ein Nachahmer des Kriegsministers
und will dem General deshalb nicht das Verdienst der Er-
sindung absprechen. Die „Schlangengrube" war ein tiefes
Loch im Boden, in dem man alle „Unholde der Schöpfung",
als da sind Schlangen, Skorpione, Eidechfen, ekelhaftes Ge-
Würm aller Art, d. h. wirklich schädliche und nebenbei auch
nur grauenerregende Thiere, in scheußlichem Gemisch ver-
einigte. An diese Grube führte man die Araber, drohte
ihnen, sie hineinzuwerfen, wenn sie ihre Geldverstecke nicht
verriethen, führte es auch, des fchreckenerregenden Beispiels
wegen, manchmal aus und ließ dann zum Schrecken der
noch Auszubeutenden die Leichname darin liegen. Man
kann sich denken, daß keinGeheimniß der „Schlangengrube"
widerstand. Wer nur irgend ein Schätzlein, und war es
auch nur ein erbärmliches, versteckt hatte, der gestand im
Angesicht der Schlangen und Skorpione. Wer nichts zu
gestehen hatte, wurde freilich manchmal das Opfer der Grube,
manchmal aber auch rettete er sich durch eine falsche Angabe,
jedoch nur für den Augenblick, um nachher einer granfamern
Todesart zu erliegen.
Es ist recht bezeichnend für arabische Sitten, daß alle
diese Grausamkeiten die Tuniser weniger empörten, als eine
andere Seite des Raubsystems, die gegen jene verhältniß-
mäßig gelinde war. Es bestand darin, daß man den arabi-
schen Frauen ihren Schmuck wegnahm. Jede arabische Frau,
selbst das Weib eines Bettlers, besitzt einen solchen. Der
Mann bringt im Schmuck seiner Frau seine Ersparnisse an.
Oft sieht man eine ganze Familie in den ärmlichsten Lum-
pen, aber Frauen und Töchter derselben sind doch stets mit
Schmuck bedeckt. Der Schmuck einer Frau gilt nämlich
nach gewöhnlichen moslimischen Begriffen für heilig. Wer
ihn raubt, ist fchlimmer als ein Mörder. Deshalb legen
auch die Leute in solchem Zierrath ihr Erspartes an. Es
ist in diesen Ländern noch das einzige einigermaßen sichere
Mittel, um ein Capital vor Räubern zu bewahren, denn
selbst der gewöhnliche Straßenränder refpectirt den Schmuck,
wenigstens den einer Frau aus dem Volke. Den letzten
20
154 Heinrich v. Maltzan: Zur Ken
Nothpfennig einer Familie stellt der Schmuck dar. Auch
soll eine Frau an sich schon unantastbar sein, und deshalb
begeht der, welcher sie ihrer auf dem Leibe getragenen Kleino-
dien beraubt, eine Sünde, die für ebenso schwer gilt, wie
die Entweihung eines Harems.
Aber so groß auch dieses Unrecht ist, so war doch das
Gewissen Saruk's noch größer oder vielmehr, wie wir sagen
würden, weiter. Er befahl feinen Soldaten, fämmtliche
Beduininnen ihres Schmuckes zu berauben und diesen in
Körben zu sammeln. Die Kostbarkeiten, womit sich die
Beduinenweiber schmücken, sind freilich nur von Silber.
Da sie aber sehr massiv sind und ein verhältnißmäßig gro-
ßes Gewicht haben (namentlich die schweren Armbänder
und dicken Beinringe), so brachten Saruk's Henkersknechte
dennoch eine höchst ansehnliche Werthsumme zusammen, die
sogleich in die Münze wandern konnte, denn das Silber war
eben so gut, als das des tunisischen Geldes. Zart gingen
die Henkersknechte nicht eben mit den zu beraubenden Weibern
um. Die Ohrgehänge abzulösen machte ihnen zu viel Mühe.
Sie fanden es einfacher, gleich das Ohrläppchen dnrchzurei-
ßen. Ein Jude in Tunis, der einen Theil dieser Kriegsbeute
erstanden hat, versicherte mich, er habe an manchen dieser
Silbergegenstände noch Fetzen von Haut nnd Fleisch ge-
funden. Wehe besonders denjenigen armen Weibern, die
einer bei den Beduinen viel verbreiteten Sitte gemäß Nasen-
ringe trugen. Diese sind hier nur an einem Nasenflügel,
der zu dem Zwecke durchbohrt wird, befestigt, nicht an bei-
den, wie bei den Negerinnen. Der Nasenflügel theilte in
diesen Fällen das Schicksal des Ohrläppchens und die armen
Personen, welche auf so gewaltsame Weise ihres Nasenrin-
ges ledig geworden waren, konnten Zeitlebens nicht mehr
auf die Benennung von „Schönen" Anspruch machen.
So hansten Saruk und seine „Armee" so lange, bis
außer in seiner und seiner Frennde Taschen kein Werthge-
genstand mehr vorhanden war, der einen Räuber hätte an-
locken können. Mit dieser Verarmung der Stämme hörte
natürlich der Zweck derRhasiyas ans. Es war nichts mehr
bei den an den Bettelstab gebrachten Stämmen zu holen.
Der „Feldzug" besaß also keinen Zweck mehr. Die tapfere
„Armee" kehrte nach Tunis zurück, um hier im Schooße aller
Lüste einer verderbten Großstadt das Geraubte zu vergeuden.
Tunesien genoß nun drei Jahre lang einer verhältnißmä-
ßigen Ruhe, die Ruhe der Erschöpfung freilich, denn znfriede-
ner als vorher war es auch in keinem einzigen Stück. Jm Ge-
gentheil, von allen Bedingungen, die der Bey den Rebellen
versprochen hatte, war nur eine einzige gehalten worden, und
diese war gerade dem Bey selbst sehr erwünscht gewesen.
Sie betraf die Abschaffung der sogenannten „Verfassung",
eines modernen Undings, das der Bey auf Aurathen euro-
päischer Schwindler in Scene gesetzt hatte, um Europa zu
täuschen und es glauben zu machen, er sei ein sehr „civili-
sirter" Fürst. Diesen Zweck hatte er nun erreicht. Er war
von europäischen Fürsten mit Orden behangen worden (eine
Eitelkeit, auf die er hohen Werth legt), hatte Glückwunsch-
adreffen und Gesandtschaften empfangen und Pariser Zeituu-
gen hatten sein Lob gesungen. Die „Verfassung" hatte
somit ihren Zweck erfüllt; sie konnte nun beseitigt werden.
Im Grunde war sie dem Bey nur unbequem, nicht etwa
der Freiheiten wegen, welche sie seinem Volke verlieh, denn
diese waren null und lediglich auf dem Papier vorhanden,
sondern weil sie ein beständiges Komödienspielen mit sich
brachte. Man mußte parlamentarische Versammlungen ab-
halten, parlamentarische Formen beobachten, einen regel-
müßigen Gerichtshof constituiren und Sitzungen veranstalten,
kurz eine Menge Dinge vornehmen, die der Tuniser- gar nicht
begreift und die er folglich nur mit großer Mühe, sei es
Zeichnung der Zustände in Tunis.
auch nur als ein leeres Schauspiel, ins Werk setzen kann.
Das war dem Bey zu langweilig. Deshalb war er Herzens-
froh, als die Rebellen, denen auch wieder europäische und
zwar französische Intriganten (diesmal aus einem andern
Grunde, indem man nämlich befürchtete, die Algierer könn-
ten durch die vermeintlichen Freiheiten der Tuniser zur Rebel-
liou gereizt werden) vorgeschwatzt hatten, die „Verfassung" sei
ein großes Uebel und „der Untergang des Islam", deren
Abschaffung verlangten. Diefe Bedingung wurde also ein-
gehalten. In allen anderen Punkten aber geschah nichts,
im Gegeutheil, die Erpressungen wuchsen und das Land war
schlimmer daran, als je zuvor.
Aber, wie gesagt, das Land war erschöpft. Es bedurfte
einer absoluten Ruhe. Deshalb störte während der drei
Jahre, welche jener großen fast allgemeinen Stammeserhe-
bnng folgten, kein Aufruhr die Heiterkeit des politischen Him-
mels von Tunis. Aber die Stämme schlummerten nur aus
Ermattung, sie waren nicht wirklich zur Ruhe gebracht.
Plötzlich, es war im Sommer des Jahres 1867, tauchte
in Tunis von Neuem das Gerücht aus, einzelne Gruppen
von Beduinenstämmen hätten dem Bey den Gehorsam auf-
gesagt und ständen in offener Rebellion. Sie hatten ihre
Kaids (Gouverneure) theils erschlagen, theils fortgejagt, sie
zahlten keine Steuern mehr, kurz sie waren sactisch nicht
mehr Unterthanen des Bey. An und für sich war dies nun
freilich noch nichts, worüber der Bey und sein Minister sich
graue Haare wachsen ließen; sie waren an dergleichen schon
gewöhnt. So lange nur einzelne Stämme und Stammes-
gruppen, deren Lager fern von der Hauptstadt waren, am
Anfruhr Theil nahmen, konnte man ihn sogar in Tunis
osficiell ganz ignoriren.
So schlecht sind nämlich die Verbindungen der Haupt-
stadt mit dem Innern, daß man in jener oft viel weniger
weiß, was sich in diesem zuträgt, als was zum Beispiel in
Paris und London geschieht. Die Regierung freilich ist davon
unterrichtet, aber sie hütet sich, schlechte Nachrichten ins Pu-
blicnm dringen zu lassen. Die Stadtbewohner selbst sind
friedliche Leute, die sogar dauu, wenn die Revolution, wie
man sagt, „in der Lust ist", von ihr kaum angesteckt wer-
den. So gab man sich denn dem holden Wahn hin, die-
ser Aufruhr werde bald, wie so viele kleinere Erhebungen
früherer Zeiten, sich theils „todtschweigen", theils durch
schlaue diplomatifche Mittelchen, man lese Verrath, beseitigen
lassen. Aber aus diesem süßen Wahne sollten Bey, Hof und
Minister nuu mit einem Schlage auf eine für sie erschreckende
Weise aufgestört werden.
Ein Gerücht verbreitete sich, welches allen tunisischen
Hofschranzen und sogenannten Staatsmännern die Haare
zu Berge trieb. Es hieß, der eigene Bruder des Bey, der
Prinz Sidi elAdel, habe plötzlich Tunis verlassen, sei ins
Lager der Aufwiegler geflohen, habe sich an deren Spitze
gestellt nnd fei von ihnen als Landesherr, als künftiger „Bey
von Tunis" begrüßt und ausgerufen worden. Alles, was
dies Gerücht sagte, war buchstäblich wahr. Nur versuchte
der Hof anfangs noch es zu leugnen. Wenn man die Hof-
fchranzen hörte, fo befand sich der Prinz ganz ruhig im Palast
des Bardo, wo der Bey und alle seine Brüder und Vettern
wohnen. Er sei sogar krank, ja so krank, daß er sich nicht
zeigen könne. Da man ihn nun nicht zu Gesicht bekomme,
so habe man sein Nichterscheinen durch seine Abwesenheit
erklärt, mit dieser rebellische Absichten verbunden. So be-
hanptete die Hofpartei. Aber au alle dem war kein wahres
Wort. Sidi el Adel war so wenig krank, daß er täglich
Truppenschau hielt, weit über Land ritt, seine Ausrüstung
nach Kräften betrieb — Alles aber viele Meilen von Tunis
Heinrich v. Maltzan: Zur Ken
entfernt und im feindlichen Gebiet, wo er als „Souverän"
auftrat und anerkannt wurde.
Sidi el Adel Bey (alle Brüder des regierenden Bey füh-
ren gleichfalls den Titel „Bey" als Anhängsel an ihre Na-
men, nie aber nennt man sie schlechtweg „der Bey", wie den
Souverän) war der jüngste Bruder des regierenden Fürsten.
Er mochte eben im dreißigsten Jahre stehen, war ein leb-
hafter und, wie man sagte, aufgeklärter uud strebsamer juu-
ger Mann. Auch besaß er einen unabhängiger«, stolzern
Sinn, als seine zahlreichen anderen Brüder, die, obgleich
Prinzen, dennoch von den unmittelbaren Günstlingen des
Fürsten, namentlich von dem Wesir, sich wie Sklaven be-
handeln ließen. Die Politik des allmächtigen ersten Mini-
sters, arabisch „Wesir" genannt, Mustapha Chasuadar, des
wahren Beherrschers des Landes, dem der Bey wie ein Schul-
kuabe zu gehorchen pflegte, brachte es mit sich, daß die Priu-
zeu ganz auf die Seite geschoben wurden. Nicht nur ge-
stattete man ihnen gar keinen Einfluß aus irgend welche
öffentliche Geschäfte, sondern man suchte sie auch von der
Person des regierenden Fürsten so viel als möglich fern zu
halten, was doppelt verletzend erscheint, da sie in demselben
Palaste wie jener wohnten, und als seine nächsten Verwand-
ten Anspruch hatten, täglich, ja stündlich mit ihm zu ver-
kehren. Aber nicht nur das. Man bereitete ihnen auch
noch Demüthigungen aller Art.
Der Minister hatte die Prinzenguter eingezogen und die
Brüder des Bey auf eine sogenannte „Apanage" gesetzt.
Dies wäre kein Verlust gewesen, denn die Prinzen verwal-
teten ihre Güter schlecht, wenn nur die Apanage regelmäßig
ausgezahlt worden wäre. Dies geschah aber nur in den
ersten Monaten. Die allgemeine vom Minister zu seinen
Privatzwecken künstlich herbeigeführte uud von ihm ausge-
beutete Finanznoth, welche alle Cassen, außer der Privat-
casse des Wesirs, brach legte, brachte es mit sich, daß auch
die Prinzen bald nichts mehr erhielten. Wollten sie nicht
hungern, so mußten sie vor dem ersten Minister wie Bettler
kriechen, die ein Almosen erbitten. Als Almosen gab man ihnen
dann wohl manchmal das, was sie eigentlich zu Recht ver-
langen konnten. Oft aber stieß man sie mit Schimpf und
Schande zurück. Zuweilen auch erfüllte man ihre Bitte in
rein illusorischer Form. Das heißt man gab ihnen söge-
nannte Schatzscheine (arabisch Teskeres) auf irgend eine
öffentliche Casse zur Zahlung angewiesen. Da aber alle
diese Cassen leer waren, so lachte man sie nur aus, wenn
sie von deren Beamten Zahlung forderten. Die besten uu-
ter diesen Schatzscheinen sind bei den gegenwärtigen banke-
rotten Verhältnissen in Tunis noch diejenigen, welche auf
die Steuererheber der öffentlichen Märkte ausgestellt werden.
Es war bekannt, daß der erste Minister, wenn er sich für
seine Privatzwecke Geld verschaffen wollte, sich mit Vorliebe
solcher Schatzscheine bediente. Die Prinzen bildeten sich
deshalb ein, auch sie könnten auf diese Weise zu Gelde kom-
men. Aber jetzt mußten sie es zu ihrer Schande erfahren,
wie klein ihr Ansehen und wie nichtig selbst die sonst besten
Schatzscheine wurden, weuu sie sich in ihren Händen besan-
den. Ganz dasselbe Papier, dessen nominellen Betrag der
Steuererheber al pari auszahlte, wenn es im Namen des
Ministers vorgezeigt ward, galt keinen Pfifferling in Hän-
den der Prinzen. Wenn ein Prinz ein solches Papier vor-
zeigte, fand er stets die vollkommenste Ebbe in den Cassen.
Das gewöhnliche tunisische Mittel, sich bezahlt zu machen,
nämlich Drohungen und Gewaltthaten, versuchten zwar die
Prinzen den Steuererhebern gegenüber in Anwendung zn
bringen, aber es brachte ihren Abgesandten nur schimpfliche
Behandlung, oft auch Prügel ein, denn die Beamten hatten
handfeste Helfershelfer, die sich nicht scheuten, Gewalt mit
Zeichnung der Zustände in Tunis. 155
Gewalt zn erwidern, um so mehr, als sie wußten, daß ihr
Widerstand voul Minister gebilligt wurde.
Was sollten die armen Prinzen unter solchen Umständen
machen? Was anders als Schulden? Diese machten sie
nun auch kühn darauf los, so lange es ging, und zwar
so riesige, daß bald in Tunis ihre Wechsel in so zahlrei-
chen Exemplaren im Umlauf waren, wie etwa anderwärts
die Zeitungen. Ein tunisischer Prinz hat natürlich keinen
Begriff von Handelsverhältnissen und Zahlungsverpflichtuu-
gen. Er versteht nur, daß wenn er ein „lumpiges Papier"
unterzeichnet, er Geld dafür bekommt. Nie aber sieht er
das Papier so genau au, um zu wissen, für welche große
Summe er Verpflichtung eingeht, wenn er auch oft nur eine
sehr kleine erhält. Noch weniger denkt er an den Tag der
Zahlung. Dieser Tag wird hoffentlich noch fern sein. Wenn
er nur niemals käme! Kommt er aber doch, nun so ist
Allah groß und wird schon helfen, selbst einem überschuldeten
tunisischen Prinzen.
Die Unglücklichen stellten Wechsel für Summen aus, von
denen sie nicht fünf Procent erhielten. Natürlich hütete sich
jeder Moslem oder andere Unterthan des Bey, den hohen
Herren anch nur einen Pfennig zu borgen. Ein tunisischer
Unterthan erhält nie sein Geborgtes zurück, d. h. wenn der
Entleiher ein Großer ist. Die Europäer und uuter euro-
päischem Schutz stehenden afrikanischen Juden bildeten des-
halb die eiuzige Zuflucht der Prinzen. Sie konnten ver-
mittelst der Consuln auf die Zahlung bestehen, ja die Prin-
zen beim Bey oder vielmehr beim ersten Minister verklagen,
und dies thaten sie auch, sowie ihnen die Umnassen der Prinz-
lichen Wechsel über den Kopf zu wachsen drohten.
Der erste Minister mußte die Sache ausnehmen. Zuerst
beschied er die Prinzen zu sich, der Form nach, um sie über
ihre Finanzmittel, die Niemand besser kannte, als er, da er
sie selbst ans Nnll redncirt hatte, auszufragen, in Wirklichkeit
aber, um ihnen gehörig den Text zu lesen. Dies that er in
einer so schimpflichen Weise für die Opfer seiner Strafpre-
digt, sagte ihnen so maßlose Grobheiten, überhäufte sie mit
so unerhörten Schmähungen und Schimpfworten, daß es
das allgemeine Erstaunen nicht nur der Europäer, die davon
hörten, sondern selbst der an Vergewaltigung gewöhnten Ära-
ber erregte, und mau sich fragte, wie es möglich sei, daß die
Prinzen sich so etwas gefallen lassen konnten, und noch dazu
vou Seiten eines Mannes, den sie als einen ehemaligen
Sklaven, der durch ihren Vater aus dem Staube erhoben
worden war, als tief unter ihnen stehend ansehen mußte»,
deuu der Minister war ein geborener Grieche und als
Sklave an den Hos gekommen, wo er sich durch uicht sehr
erbauliche Dinge die Gunst des Herrschers erworben, der
ihn zn so hohem Range befördert hatte.
Aber diese apathischen orientalische» Fürsteusöhne ließen
es sich ruhig gefallen, Alle, nur uicht Einer. Dieser Eine
war Sidi el Adel Bey. Er war, da er als jüngster Bruder
des Fürsten dem Throne am fernsten stand, vom Minister
immer auf eine noch geringschätzendem Weise behandelt wor-
den, als die anderen. Er jedoch war nicht der Mann, dies
zu ertragen. Jetzt lehnte er sich offen wider den übermüthi-
gen Staatsmann auf. Er drohte ihn beim Bey zu verkla-
gen. Das war ein ernster Punkt, denn der Bey, obgleich
er immer dem Minister nachgab, wenn dieser ihn bearbeiten
konnte, war nur zu schwach, um sich nicht auch von Anderen,
wenn diese Gelegenheit fanden, auf seine Entschlüsse einzu-
wirken, bestimmen zu lassen. Dem mußte der Minister vor-
beugern Hierzu gab es aber kein anderes Mittel, als die
augenblickliche Gefangennahme Sidi el Adel Bey's.
Keiner seiner Brüder wagte es, sich der Inhaftnahme
Sidi el Adel's zu widersetzen. Der Minister triumphirte.
20 *
156 Die geographische Section der i:
Um seinen Triumph ganz zu genießen, ließ er sich sogar von
den Prinzen feierlichst ihren Dank abstatten dafür, daß er
ihre finanziellen Angelegenheiten geordnet habe. Das Mit-
tel zu diesem finanziellen Kunststück war höchst einfach und
kostete ihm keinen Heller. Er ließ nämlich die Prinzen in
aller Form öffentlich „Bankerott machen". Die Kaufleute
schrien freilich Zeter und drohten mit dem Zorn der Eon-
snln. Einer sogar, ein deutscher Wagenfabrikant, fnchte sich
mit Gewalt zu seinem Recht zu verhelfen und mit Erfolg.
Er hielt die Equipage, die er einem Prinzen geliefert und
welche dieser nicht bezahlt hatte, auf offener Straße an,
brachte sie in seine Remise zurück und der hohe Herr mußte
zu Fuß nach Hause zurückkehren. Jedoch die Mehrzahl der
Kaufleute sah sich gezwungen, die elenden Summen, die der
Minister ihnen bot, und noch dazu iu Schatzscheinen, anzu-
nehmen. Die Consnln hatten zu viel anderweitige Ansprüche
zn unterstützen, um der speciellen „Prinzenschuld" eine ein-
gehende Aufmerksamkeit zu widmen. Der Kopf schwirrte
ihnen von den vielen Reclamationen von Zahlungen, die
ihre Schutzbefohlenen von ihnen beim Bey und Minister zu
machen verlangten. Auch verhinderte die Eifersucht der Eon-
suln auf einander, daß solchen Reclamationen Folge geleistet
wurde. War die Regierung bereit, die Geldansprüche des
einen Consnls für seine Schutzbefohlenen zu berücksichtigen,
so kam gleich ein anderer und erklärte dies für eine einseitige
Vergünstigung einer einzelnen fremden Macht. Alle zu be-
friedigen, dazu hatte man aber kein Geld. So befriedigte
man lieber keinen. Dazu kam noch, daß nun plötzlich durch
ein wichtiges politisches Ereigniß die ganze Regierungs-
Maschine ins Stocken gerieth, die größte Verwirrung im
öffentlichen Leben zur Herrschaft gelangte, und an Regelung
von finanziellen Angelegenheiten einstweilen gar nicht mehr
zu denken war. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nach-
richt durch ganz Tunisien und lähmte alle Geschäfte.
Dieses wichtige politische Ereigniß war nichts Anderes,
als die Flucht Sidi el Adels Bey's und die Empörung, an
deren Spitze er sich, wie man sagte, gestellt hatte.
Sidi el Adel's Absicht war es eigentlich nicht gewesen,
eine Empörung anzuzetteln, noch an einer solchen Theil zu
nehmen. Er wollte weiter nichts, als der unausstehlichen
Hast entrinnen und sich an einen sichern Ort flüchten, wo
er in Ruhe seine Freiheit genießen konnte. Wäre es ihm
tschen Naturforscherversammlung.
möglich gewesen, nach Europa zu entkommen, so hätte er
dies bei weitem vorgezogen. Aber dazu hätte er sich mit
irgend einem Europäer iu Verbindung setzen und dieser seine
Flucht begünstigen, ja selbst veranstalten müssen. Das wäre
nicht gegangen ohne die Mitwisserschaft eines oder des an-
dern Consnls. Nun sind aber die Consnln in Tunis vor-
sichtige Diplomaten, kleine Diplomaten freilich, die aber das,
was ihnen an Wichtigkeit abgeht, durch Wichtigthuerei er-
setzen. Zu dieser Wichtigthuerei gehört auch, daß sie eine
entsetzliche Angst an den Tag legen, sich politisch zu com-
promittiren. Nach dem Buchstaben des Gesetzes hätte sie
freilich die Begünstigung der Flucht eines Prinzen compro-
mittiren können, das heißt, wenn die tunisische Regierung
den Rechtspunkt nach europäischem Maßstab ins Auge ge-
faßt hätte, was jedoch ganz gegen ihre Gewohnheit war.
Aber, wie jetzt in Tunis die Sachen standen, würde kein
Hahn danach gekräht haben, wenn sich die Consnln einer
kleinen Unregelmäßigkeit im Dienst aus Menschenliebe schul-
dig gemacht hätten. Da jedoch der Buchstabe des Gesetzes
und die diplomatische Kleinigkeitskrämerei diese Herren regiert,
so war an Sidi el Adel's Rettung durch ihre Hülfe oder
selbst bei ihrer bloßen Mitwissenschaft nicht zu denken. Auch
hierbei spielte die Eifersucht der Cousuln auf einander eine
Rolle. Hütte einer dem Prinzen diefen Dienst erwiesen
und sich dadurch das Mißfallen der Regierung zugezogen,
so würden die anderen dies nach Kräften zu seinem Schaden
ausgebeutet haben. Die Consulu hüteten sich also, hierzu
Gelegenheit zu geben, und ihre Schutzbefohlenen, die Rheder
und Schiffscapitäne, mußten ihrem Beispiel folgen.
Sidi el Adel konnte also nicht nach Europa und über-
Haupt nicht zur See fortkommen. Auf dem Festlande, we-
nigstens auf dem ihm erreichbaren Theil desselben, gab es
aber kein freies Gebiet, als das der Rebellen. Also sah
sich Sidi el Adel gezwungen, zu ihnen seine Zuflucht zn
nehmen. Er that dies gewiß ungern und nur durch die
äußerste Roth gezwungen. Mau behauptet sogar, er habe
versucht, auf algierifches Gebiet zu kommen. Aber sein Weg
dorthin siihrte ihn durch die aufgewiegelten Gebietsteile.
Dort siel er den Aufrührern in die Hände, die ihm nur die
Wahl ließen, entweder ihr Führer und oberster Häuptling
zu werden oder zu sterben. Sidi el Adel wählte das Erstere
und ward dadurch zum Rebellen.
Die geographische Section der deutschen Naturforscherversammlung.
Die deutschen geographischen Gesellschaften. — Neumayer über die Leichardt-Expeditionen und die fernere Erforschung Austra-
liens. — Die Unternehmungen des Hauses Godefroy auf den Samoa-Inseln. — Historische Karte Polens. — Project des
Großherzogs von Weimar zur Erforschung Eentralafrikas. — Rohlfs über Nachtigal und das Verhältniß Aegyptens zu Abes-
sinien. — Livingstone und die Nilquelleu. — Der tättowirte Suliote. — Professor Karsten über die neue Expedition der
„Pomerania".
R. A. Deutschland besitzt gegenwärtig sieben geographi-
sche Gesellschaftern Zu Berlin (gegründet 1828 mit gegen-
wärtig 380 Mitgliedern), Frankfurt am Main (gegründet
1836 mit 150 Mitgliedern), Darmstadt (gegründet 1845
mit 80 Mitgliedern), Leipzig (gegründet 1861 mit 250
Mitgliedern), Dresden (gegründet 1863 mit 270 Mitglie-
dern), Kiel (gegründet 1867 mit 100 Mitgliedern) und
München (gegründet 1869 mit 400 Mitgliedern). Das
ergiebt 1600 Mitglieder, und rechnet man hierzu noch die
500 Mitglieder der 1856 gegründeten Wiener geographi-
fchen Gesellschaft, so kommt eine Zahl heraus, welche etwa
der Mitgliederzahl der Londoner Royal Geographica! So-
ciety gleichsteht, die der Pariser Socwts de g^ographie aber
um das Dreifache übertrifft. Großbritannien und Frank-
reich besitzen je nur eine große geographische Gesellschaft,
die vermöge ihrer Concentration und namentlich wegen ihrer
großen Mittel bedeutender zu wirken vermögen, als die ein-
zelnen kleinen deutschen Gesellschaften, deren Wirksamkeit
aber wohl aufgewogen werden könnte, wenn sämmtliche deut-
sche geographische Gesellschaften gemeinsam arbeiteten. Es
Die geographische Section der d
ist dabei aber auch nicht zu verkennen, daß die Vertheilnng
unserer Vereine Uber das ganze Land wieder ungemein an-
regend und befruchtend wirkt, und daß diese Zersplitterung
keineswegs aufgegeben werden darf, wenn auch im Interesse
des Ganzen eine Art von Centralisiruug der deutschen geo-
graphischen Gesellschaften wünscheuswerth erscheint. Bereits
1865 wurde auf dem geographischen Congresse zu Frank-
fnrt am Main, der keine großen Resultate lieferte, etwas
Aehuliches angebahnt, und 1871 kam auf der 44. Ver-
sammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Rostock die
Angelegenheit abermals zur Sprache. Mau beschloß, auf
der nächstjährigen Versammlung in Leipzig mit der Grün-
dnng einer geographischen Section vorzugehen, und diese ist
denn auch, zumal auf Anregung des Dr. Neumayer (vom
hydrographischen Bureau des Reichsministeriums), erfolgt.
Große Vorbereitungen und Einladungen waren nicht ergan-
gen, das Ganze trug noch einigermaßen den provisorischen
Charakter an sich, kann aber als ein vielversprechender An-
fang begrUßt werden. An den Sectionsverhandluugeu nah-
men durchschnittlich 40 Mitglieder Theil, unter denen wir
Dr. Neumayer, Gerhard Rohlfs, Dr. Jagor, Dr. Ratzel,
O. Ule, L. Friederichsen, Dr. Börger, Professor Karsten :c.
bemerkten*). Die Borträge waren mannichfaltig, die Dis-
cufsiouen wurden lebhaft und unter reger Theiluahme ge-
führt.
Aus den Verhandlungen heben wir Einiges hervor. Dr.
Neumayer gab eine vollständige Uebersicht der Reisen, die
zur Auffindung unseres verschollenen Landsmannes Lei-
chardt ausgerüstet wurden, an deren Organisiruug er selbst,
als er noch in Melbourne sich befand, lebhaften Antheil
nahm. Gegenwärtig ist abermals eine neue Expedition im
Gange, die jedoch eben so wenig wie alle früheren zu irgend
einem Resultate führen dürfte, da die letzten Nachrichten von
Leichardt vom 3. April 1848 datiren, und ein Vierteljahr-
hundert, welches seitdem fast vergaugeu ist, in einem austra-
lifcheu Klima genügt, fast alle Spuren von Reisenden zu
verwischen. Höchstens kann man noch darauf rechnen, etwaige
Ueberreste von feinen Instrumenten zu finden. Möglich,
daß Leichardt im westlichen, bisher noch ganz unbekannten
Theil des australischen Continentes verschollen ist. Dr.
Neumayer nahm Gelegenheit, über dessen wahrscheinliche
Consiguratiou einige Worte zu sprechen, wobei er hervorhob,
daß der Westen dem Osten gleichen müsse und ähnlich jenem
große Flnthstromgebiete besitzen würde, die in Binnenland-
lagnnen (wie Lake Eyre, Lake Torrens im Osten) endigten
und verdampften. Auch auf seinen bekannten Plan zur ser-
nern Erforschung Australiens kam Dr. Neumayer zurück,
der darauf hinausgeht, vom Burdekiu aus mit eiltet großen
Gesellschaft, die in drei Theile getheilt werden sollte, West-
wärts den Continent zu durchschneiden und in Entfernnn-
gen von jedesmal 40 bis 50 geographischen Meilen Depots
anzulegen, von welchen aus Seitenexcnrsionen zur Unter-
suchung über die Natur des Landes, des Bodens, des Kli-
mas und der Producte zu unternehmen wären. Der Auf-
enthalt in einem solchen Depot hätte jedesmal vier bis fünf
Wochen oder länger zu dauern; die ganze Reise würde etwa
31/2 Jahre in Anspruch nehmen. Durch regelmäßige Ver-
binduug mit den colonisirten Districten, Anwendung des
Feldtelegraphen, der amerikanischen Brnnnenbohrrohre, vor-
sichtiges Vorgehen, rationelle Ernährungsweise glaubt Dr.
Neumayer das Mißlingen der tut großartigen Maßstabe
geplanten Expedition unmöglich zu machen. Indessen in
England wie in Australien ist eine Uebersättignng an Ex-
*) Gustav Statte traf leider erst bei Schluß der Verhandlungen
aus Tiflis ein.
tschen Naturforscherversammlung. 157
peditionen ins Innere des Continentes eingetreten, und Neu-
mayer's bereits 1868 veröffentlichter Plan blieb liegen.
Er hat aber Aussicht, jetzt wieder aufgenommen zu werden,
da die ihrer Vollendung entgegengehende transcontinentale
australische Telegraphenlinie von Adelaide nach Port Dar-
win eine neue Basis für denselben darbietet.
Weitere Mittheilungen des Herrn Dr. Neumayer be-
zogen sich aus die hydrographischen Verhältnisse des süd-
atlantischen Oceans und auf die von der deutschen Admira-
lität vorbereitete Entsendung eines Kriegsschiffes zu Hydro-
graphischen Aufnahmen an der Westküste Mittelamerikas und
in den ostasiatischen Gewässern.
Von großem Interesse waren die Mittheilungen des Herrn
L. Friederichsen (Inhaber der Geographischen und Nau-
tischen Verlagshandlung in Hamburg), welcher eine im gro-
ßen Maßstäbe ausgeführte Specialkarte eines Theils der
Samoainfel Upolu vorlegte. Dort besitzt das Hambur-
ger Handelshaus Godesroy großartige Ländereien, mit seinen
40 Kansfahrern monopolisirt dasselbe fast den Handel der
Schifferinseln, trotzdem die Amerikaner Tutuila jetzt als
Kohlenstation eingerichtet haben. Die Hamburger Kaufleute
sind in der That die Herren der Samoainseln, deren Cocos-
nnßöl in riesigen Fabriken bei Hamburg verarbeitet wird.
Das Haus Godesroy sendet eigene Naturforscher (Dr. Grä sfe)
aus, welche die Inseln der Südsee in seinem Interesse er-
forschen, es besitzt ein großes Museum und hält die Capi-
täne feiner Schiffe zu nautischen Ausnahmen an. Die Ver-
Messung und Aufnahme Upolus ist auf Kosten des Hauses
Godesroy durchgeführt worden, und nach diesen Materialien
konnte Herr Friederichsen seine Karten construireu. Sie
zeigen so recht, wie fehlerhaft in manchen Stücken die briti-
schen Admiralitätskarten, bisher unsere einzige kartographische
Quelle über die Sainoainseln, sind; Aehnliches ist bei der
Kingsmillgrnppe der Fall, von der viele Inseln nach den
Ausnahmen der Godefroy'fchen Capitäne durchaus andere
Positionen erhalten *).
Sodann legte Herr Friedrichsen eine im gegenwärtigen
Augenblicke höchst zeitgemäße „Karte des ehemaligen
Königreichs Polen von Dr. C. Wolff" vor, welche
in seinem Verlage erschienen ist und zu der er einige er-
läuternde Worte sprach. Die Karte zeigt die Grenzen Polens
von 1772 nebst Angabe der Theilungslinie von 1772,
1793 und 1795 im Maßstabe von 1 :3,000,000. Große
Klarheit, Angabe der polnischen Ortsbenemmugeu neben
den deutschen, Gliederung Polens und seine natürlichen Ab-
theilungen (Klein- und Großpolen, Lithauen, Kurland und
Semgallen) zeichnen die Karte aus. Drei Abstusuugeu der-
selben Farbe geben bei Preußen und Rußland die drei nach-
einander folgende» Theilungen an, während bei Oesterreich
nur zwei Farben nöthig waren, da dieses von der zweiten
Theilnng sich fern hielt. Die Karte, die übersichtlichste des
*) „Globus" Bd. XIX. sind nach dem Franzosen Aübe die politi-
schen und eommerciellen Zustände der Samoa-Jnseln besprochen wor-
den. Auch er hebt hervor, daß das deutsche Hans Godesroy schon
jede Conenrrenz erdrückt habe und fürchtet die Aunectirung der Samoa-
Inseln durch die „Preußen". — Der Neuseeländer Korrespondent
der „Times" schreibt aus Wellington vom 21. Februar 1872: „Die
Samoa-Jnseln haben eine einheimische Bevölkerung von 33,000
Seelen und dazu kommen 400 Europäer, namentlich Briten und
Deutsche. Im Jahre 1871 beliesen sich die Einfuhren der ganzen
Gruppe auf 25,000 Pf. St., die Ausfuhren aber auf 45,000 Pf. St.
Sie bestanden vorzugsweise aus Tripang, Cocosnußöl und Cobra, d. h.
getrockneten Cocosnüssen. Baumwolle wird mit Erfolg auf einigen
Inseln angebaut. Der Schiffsahrtsverkchr stieg im Jahre 1871 bis
auf 14,282 Tonnen, nämlich 26 britische Schiffe mit 4856 Tonnen,
3 amerikanische mit 500 Tonnen, 36 deutsche mit 8696 Ton-
nen, 2 tahitische mit 230 Tonnen." Man steht, die deutschen Schiffe
übertreffen noch alle übrigen Fahrzeuge zusammengenommen. A.
L 58 Die geographische Section der dt
alten Polens von 13,000 Quadratmeilen, die wir kennen, ist
gegenwärtig, wo Westpreußen die hundertjährige Jubelfeier
seiner Vereinigung mit der preußischen Monarchie begeht,
von entschieden zeitgemäßem Interesse.
Mit afrikanischen Mittheilungen verschiedener Art er-
freute Gerhard Rohlfs. Er verkündigte zunächst, daß der
Großherzog von Weimar den Plan angeregt habe und zu
verfolgen gedenke: den noch unbekannten und unerforschten
äquatorialen Centralkeru Afrikas durch großartige deutsche
Expeditionen aufschließen zu lassen. Die Expeditionen sollten
so ausgerüstet werden, daß sie von verschiedenen Seiten: vom
Golf von Benin, vom Tfadsee her und von Kordofan aus
nach dem Innern vordringen könnten. — Rohlfs sprach
auch seine Besorgniß über das Schicksal Dr. Nachtigal's
aus, von welchem die letzten Nachrichten ans dem Januar
1871 datiren. Damals hatte er bekanntlich in Knka die
Geschenke des Königs von Preußen dem Scheich Omar über-
geben. Seitdem sind überhaupt aber auch keine Nachrichten
aus den: Süden nach Tripolis gelangt und der Verkehr auf
der Bilmastraße scheint gründlich gestört zu seiu. Immerhin
giebt es aber zu einigen Sorgen Anlaß, daß nun seit 20
Monaten alle Berichte von Nachtigal fehlen.
Rohlfs besprach schließlich das Verhältnis Aegyptens
zu Abessinien. Das Ende Abessiniens scheine gekommen
zu sein, wenn Aegypten ernstlich zugreifen wolle. Seit
langem schon habe die ägyptische Regierung die Eroberung
Abessiniens geplant gehabt, aber den Plan nicht ausführen
können, da England hindernd in den Weg getreten sei. Käme
der Kamps, wie es scheint, wirklich zum Ausbruch, so müßte
es ein Vernichtungskrieg werden, da der christliche Abessinier
sich nicht gutwillig dem mohammedanischen Eroberer unter-
werfen würde. Rohlfs erläuterte dann die Stellung, welche
der im Interesse Frankreichs und des Katholicismus arbeitende
Schweizer Werner Munzinger, der zugleich französischer Consul
und ägyptischer Pascha ist, in dieser Angelegenheit einnimmt.
Auch die große geographische Frage des Tages: Stan-
ley, Livingstone und dieNilquellen kam zurDisenssion.
und die Ansicht der Section einigte schließlich sich dahin,
daß der New-Ä)ork-Herald und Stanley sich um die Erd-
künde Wohl verdient gemacht hätten, daß aber die Living-
stone'schen Nilquellen, sowie überhaupt die ganze Hydro-
graphische Darstellung des verdienten Reisenden, noch ein
Räthsel bildeten, daß aber, mit Rücksicht auf die Constatiruug
der Wasserscheide des Bachr-el-Ghasal durch Schweinfurth,
keine Rede davon sein könne, daß Livingstone die oberen
Zuflüsse des Gazellenstromes aufgefunden habe.
Karl Müller aus Halle zeigte die glückliche Rückkehr
des deutschen Reis enden Gustav Wallis mit reichen Schützen
an und knüpfte daran eine Lebensskizze des verdienten Man-
nes. Otto Ule sprach über seine Gletscherbeobachtungen
in der Schweiz und der bekannte tüchtige Reisende Dr. Ja-
gor stellte einen ans höchst merkwürdige Weise tättowir-
ten Snlioten, Georgios Konstantinn, vor. Dieser Grieche
(Arnaute) hatte in der französischen Fremdenlegion gedient,
war nach Cochinchina gekommen, dort desertirt und im nörd-
lichen Birma in eine Revolution verwickelt worden. Dort
wurde die Partei, welcher er sich angeschlossen, besiegt und
er nebst einigen anderen Europäern „zur Strafe" (?) tättowirt.
Er entkam später auf der Route über Mnnan und durch
China nach Amoy, wo er unter den dort wohnenden Euro-
päern gerechtes Aufsehen erregte. Ist in der Geschichte
dieses Mannes auch vieles noch unklar, so ist er doch eine
der wunderbarsten Erscheinungen, die man sehen kann.
Georgios Konstantin:: ist vom Kopfe bis zu den Füßen völlig
tättowirt; nur Nase, Lippen und Skrotum sind davon aus-
genommen; selbst die empfindlichen Fingerspitzen und Achsel-
tschen Naturforscherversammlung.
höhlen sind tättowirt. Abgesehen von taufenden und aber
tansenden feiner Ornamente, Linien und Schriftzeichen ist
der Körper mit 388 Figuren bedeckt, die meist in dunkel-
blauer Farbe ausgeführt sind, zwischen denen sich dann klei-
nere rothe Zeichnungen abheben. Die Figuren sind nnge-
mein realistisch gehalten und rühren offenbar von Künstler-
Hand her; sie zeigen, in Pnnktirmanier ausgeführt, Menschen-
gestalten, Elephanten, Tiger, Schlangen, Schildkröten, Kroko-
dile, Pfauen, andere Vögel n. s. w., alles symmetrisch ver-
theilt und mit Geschmack durchgeführt, fo daß der schöu
gewachsene Mann in einem förmlichen teppichartig gewebten
Tricot zu stecken scheint. Der Begriff des Nackten schwin-
det hier völlig, und man begreift, wie viele wilde Völker-
stämme die Tättowirung au Stelle der Bekleidung setzen.
Konstantinu zeigte auch das Instrument vor, mit welchem
er tättowirt worden war; es gleicht einer Reißfeder, und die
Operation, welche 3 Monat dauerte, soll äußerst schmerzhaft
gewesen sein.
Zum Schlüsse erfreute Prof. Dr. G. Karsten aus Kiel
die Section dnrch Mittheilungen über den Zweck der dent-
schen Nordseeexpedition auf der „Pomerania",
von deren Mitgliedern aus Ediuburg ein Begrüßungstele-
gramm an die Naturforscherversammlung eingegangen war.
Das letzte Ziel der Expedition ist ein praktisches: Hebung
der deutschen Seefischerei. Dies praktische Ziel wird er-
reicht sein, wenn es gelungen ist, die Lebensbedingungen der
Thiere in den deutschen Meeren zu erforschen und nachzn-
weisen, bis zu welchem Grade diese Lebensbedingungen an
bestimmten Stellen vorhanden sind. Um dahin zu gelangen,
werden die physikalischen Verhältnisse, die Entwickelnng der
Flora und Fauna der Meere in ihrer örtlich und zeitlich
wechselnden Manuichfaltigkeit stndirt werden müssen. Für
die genauere Kenntniß der physikalischen Verhältnisse sind
oder werden Beobachtungsstationen eingerichtet, woselbst re-
gelmäßig und dauernd über Strömung, Wasserstand, Salz-
gehalt und Temperatur des Wassers :c. Beobachtungen ver-
zeichnet werden.
Die Fauna und Flora kann durch Beobachter in der
Nähe der Küsteu nicht genügend erforscht werden, hierzu ist
es erforderlich, auch Beobachtungen über Thier- und Pflau-
zenwelt und die gleichzeitigen physikalischen Verhältnisse ans
offener See anzustellen. In diesen: Sinne ist schon in:
Jahre 1871 die Expedition auf den: Schiffe „Pomerania"
in der Ostsee ausgeführt worden. Worauf dann in diesem
Jahre die Durchforschung der Nordsee erfolgt.
Als Hanptgesichtspunkte bei Erforschung der Lebensbe-
dingungen der Seethiere sind folgende von der Commifsion
(Dr. H. A. Meyer, Dr. V. Heuseu, Dr. K. Möbius, Dr.
G. Karsten) aufgestellt worden.
1) Die zoologischen Beobachtungen. Bei diesen
haben die systematischen Arbeiten gegen die biologischen und
speciell vergleichenden zurückzustehen. Es soll festgestellt wer-
den, wie sich der Gesammtsaug eines Fundortes zudem eines
andern verhält; ob die Thiere derselben Species an einen:
Orte größer und kräftiger, ob sie an irgend welchem äußern
Merkmale zu unterscheiden sind; welche Thierarten an jeden:
Fundorte, in jeder Tiefe die vorherrschenden, welche die
seltenen siud; auf welcher Bodenart und zwischen welcher
Vegetation sie sich finden; wie^ weit die geschlechtliche Reife
fortgeschritten ist, ob diese mit der Tiefe oder Temperatur
zusammenhängt, ob mit der Küstenbeschasfenheit oder ob
überall das Fortschreiten der Geschlechtsreife gleichmäßig
mit der Jahreszeit stattfindet. Ferner sollen außer den sel-
tenen Thiereu besonders die an allen Orten am häusigsten
vorkommenden gesammelt werden, um, soweit dies an Spiri-
tusexemplaren wöglich ist, die Vergleichungen zu Hause fort-
Aus allen
setzen zu können. Der Fang an der Oberfläche solle überall
lebend untersucht werden, ebenso die sich zwischen den Algen
und sonst am Grunde findende mikroskopische Thierwelt.
Fischlaich, Fischembryonen und der Mageninhalt frifchgefan-
gener Fische verdienen besondere Beachtung.
2) Die botanischen Beobachtungen sollen weniger
systematische als vergleichende sein. Es ist für den aufgestellten
Zweck wichtiger, die Unterschiede zwischen den an verschiede-
nen Orten gefundenen Exemplaren bekannter Algen kennen
zu lernen, als neue Algenarten aufstellen zu können. Es
sollte vor Allem festgestellt werden, wie sich die Flora nach
der Küstenbeschasfenheit, Bodenart, Tiefe :c. des Meeres ver-
theilt, wo sie kräftig und reich, wo dagegen dürftig und arm
ist; wo am frühesten und wo am spätesten entwickelt. Au-
ßerdem erfordern auch hier die mikroskopischen Organismen
so wie jede das Thierleben beeinflussende Erscheinung beson-
dere Beachtung.
3) Die physikalischen Beobachtungen werden sich
Erdtheilen. 159
einerseits dem an den festen Landstationen eingeführten Beob-
achtuugsfysteme anschließen müssen, um vergleichende Daten
von verschiedenen Punkten zu erhalten, anderntheils in
stetem Zusammenhange mit den zoologischen und botanischen
Beobachtungen stehen müssen, um die zu jedem Thier- und
Pslanzensnnd gehörenden physikalischen Verhältnisse fest zu
stellen. Temperatur, Strömung, Tiefe, Salzgehalt und
Luftgehalt des Wassers und Bodenbeschasfenheit werden die
regelmäßig zu bestimmenden Elemente sein.
Obwohl die Section, namentlich was Vorträge betraf,
einen improvisirten Charakter zeigte, so bewies sie sich doch
lebensfähig. Das wird sich bei der Natnrsorscherversamm-
lnng im nächsten Jahre in Wiesbaden zeigen. Ein Aus-
schuß, bestehend aus den Herren Prof. Bastian, Prof. Peschel,
Dr. Neumayer, Gerhard Rohlfs und Richard Andree, wurde
schließlich niedergesetzt, welcher die Vorbereitung für die
nächstjährige Sectionsversammlnng in die Hand nehmen soll.
Aus allen
Die Bevölkerung der Philippinen.
Unser Landsmann Adolph Bernhard Meyer, der Uebersetzer
des Wallace'schen Reisewerkes, bereist gegenwärtig als Natur-
forscher die ostasiatische Inselwelt. Im April d. I. befand er
sich in Manila, von wo er die Resultate der neuesten Volks-
Zählung der Philippinen an die englische Zeitschrift „Nature"
(27. Juni 1872) eingesandt hat. Danach haben die Philippinen
7,451,352 Einwohner, die in 43 Provinzen und 933 Ortschaf-
ten leben. Nur 1,232,544 zahlen der spanischen Regierung
Steuern und diese Anzahl ist durch den Census festgestellt. Die
Steuerzahler machen aber annähernd nur den sechsten Theil
aller Bewohner aus und durch Multiplication mit 6 hat man
denn 7,451,352 als Gesammteinwohnerzahl festgestellt. Bekannt-
lich bewohnen selbst Luzon und Mindanao eine Anzahl unab- ■
hängiger Stämme, bei denen eine Volkszählung nicht borge-
nommen werden konnte. Nach Inseln vertheilt sich die Zahl
von 7,451,352 folgendermaßen:
Luzon. . . . 4,467,111 in 508 Ortschaften
Panay . , . 1,052,586 „ 92
Cebu . . . . 427,356 51
Leyte . . . . 285,495 43 „
Bohol . . . . 283,515 36
Negros . . . 255,873 43
Samar . . . 250,062 35
Mindanao . . 191,802 64
Mindoro - 70,926 „ 18
Der Rest vertheilt sich auf die kleineren Inseln.
Die Handelsbewegung Ostindiens.
Dieselbe hat sich in den zwölf Monaten bis Ende März
1872 folgendermaßen herausgestellt: Total der Einfuhren
31,083,747 Pf. St. gegen 33,413,905 Pf. St. im Vorjahre.
Ausfuhren 63,185,847 Pf. St. gegen 55,331,825 Pf. St.
Es ist bemerkenswerth, daß die Eröffnung des Suez-
canales eine große Umgestaltung im indischen Handel im Ge-
folge gehabt hat und daß dieselbe ihren stetigen Fortgang nimmt.
Die alten berühmten „Ost indienfahr er", diese einst vielge-
priesenen Segelschiffe, vermindern sich an Zahl; man baut keine
neuen mehr. Der alte Weg uin das Cap der Guten Hoffnung
wird von Passagieren nicht mehr benutzt, und was die Fracht-
Erdtheilen.
güter anbelangt, nur noch von solchen, bei denen es nicht auf rafche
Ablieferung ankommt. Dagegen vermehrt sich die Zahl großer
Dampfer, welche große Massen Güter fassen können, daneben
Bequemlichkeit für die Fahrgäste darbieten und rasch fahren.
Sie bedürfen durchschnittlich 2000 Tonnen Kohlen für die Hin-
und Rückreise.
Ueber die Baum wollen ernte in den Nordwestprobinzen
liegen für die Saison 1871/1872 amtliche Angaben vor. Es
waren mit Baumwolle bestellt worden 1,072,479 Acres; sie lie-
ferten 822,425 Maunds (zu 80 Pfund); im Vorjahre betrug
die Ernte von 1,248,306 Acres 954,845 Maunds. Sie ver-
theilt sich auf die Bezirke Mirat, Kamao, Rohilkand, Agra,
Dschhansi, Allahabad und Benares.
Aus Südamerika.
In Brasilien herrscht in Bezug auf den Bau von Schie-
nen wegen eine große Regsamkeit. In der Mitte des laufenden
Jahres waren nicht weniger als dreißig Bahnen theils im
Bau, theils in Vermessung. Von jenen sind wichtig die Bahn,
welche in der Provinz San Paulo nach der wichtigen Stadt
Sorocaba und nach den Eisengießereien von Ppanema ge-
baut wird, 135 Kilometer; sodann jene von Porto Alegre in
der Provinz Rio grande nach Uruguayana am Uruguay;
durch sie wird die atlantische Küste mit dem Stromgebiete des
letztern verbunden. In Rio grande werden mehrere Kohlen-
bahnen gebaut. In den Nordprovinzen: die Linien von Ceara
nach Baturik und eine Zweigbahn der Bahiabahn von Lazaros
nach Soledade.
Der französische Ingenieur Nicourt hat einen der Ueber-
gangspässe der Eordillere zwischen Chile und Argentinien unter-
sucht, nämlich den Pafo de losPatos; er ist der Ansicht, daß
derselbe sich für den Uebergang einer in Aussicht genommenen
Bahn zwischen der Stadt Felipe de Aconcagua und der argen-
tinischen Stadt San Juan in der gleichnamigen Provinz eigne.
Nicourt fand nur sechs schwierige Stellen; doch würden durch
Tunnels von unbeträchtlicher Länge die Hindernisse überwunden;
die beiden höchsten Stationen liegen 2922 und 3200 Meter
hoch. — Gleichzeitig hat Crawford den Planchon-Paß zu
gleichem Zwecke untersucht.
Dem Kongreß in Chile ist ein Gesetzentwurf vorgelegt
worden, demgemäß die Privilegien der Geistlichkeit aufge-
hoben werden sollen; sie haben dieselben in unverantwortlicher
160 Aus allen
Weise mißbraucht. Deshalb soll auch die Civil ehe eingeführt
werden. Auch ein Gesetz über Ehescheidungen ist vorgelegt worden.
Die chilenische Regierung hat alle Hahnen- und
Stierkämpfe verboten und außerdem alle öffentlichen Schau-
spiele, bei welchen Menschen und Thiere mit einander kämpfen.
Es wird behauptet, daß die bisher in Betrieb befindlichen
Kupfer gruben in Chile sich in ähnlicher Weise erschöpfen
wie es bei jenen in England der Fall ist. Chile lieferte 1369
Kupfer 56,400 Tonnen, 1870 nur 52,000 und 1871 nur 42,400
Tonnen. In England ist die Kupfererzeugung allerdings in
viel stärkerm Maße gefallen, nämlich von 24,257 im Jahre 1856
auf nur 6500 im Jahre 1871.
q- ^
— Meteorologische Stationen follen in Norditalien
auf den Hauptpässen der Alpen und auf den Ausgängen der
großen Thäler errichtet werden. So z. B. auf dem kleinen St.
Bernhard, 2160 Meter hoch; — bei Cuneo 1543 Meter; —
auf dem Col von Valdobbia, im Süden des Monte rosa, 2548
Meter. Dieses letztere Observatorium wird das höchst gelegene in
Europa sein. Alle Beobachtungen werden nach einem und dem-
selben System angestellt.
Auch auf der westindischen Insel Barbado es soll eine
meteorologische Station errichtet werden, die mit allen anderen
Stationen der Antillen telegraphisch in Verbindung gebracht
wird. Barbadoes liegt, wie eine Blick auf die Karte zeigt, außer-
halb der Antillenreihe, im Osten vor derfelben, und wird häufig
von Stürmen heimgesucht, welche aus jener Himmelsgegend kom-
men. Sie berühren Barbadoes zuerst; sobald sie verspürt wer-
den, wird der Telegraph davon zunächst in nördlicher Richtung
nach St. Thomas und von da in westlicher Richtung nach Ha-
vana Meldung machen. Das ist ohne Zweifel für die Schiff-
fahrt von großer Wichtigkeit.
— England zählt gegenwärtig 1111 Zeitungen und
Zeitschriften, wovon 268 auf London entfallen; Wales hat
60, Schottland 134, Irland auch 134, die Canalinseln 17; ins-
gesammt 1456. Davon erscheinen nur 117 täglich.
— Die Mormonen beklagen sich, daß man in Dänemark,
wo sie bekanntlich sehr viele Proselyten gemacht haben, ihre
Apostel überaus schnöde behandle. Die Kopenhagener Regierung
habe einen Besehl erlassen, demzufolge jeder Mormonenprediger
festgenommen und. im Beisein des Dorsschulzen recht tüchtig
ausgepeitscht werden solle. An einem Apostel sei dieses bar-
barische, der Religionsfreiheit widersprechende, überaus unhumane
Verfahren bereits praktisirt worden. — Wir lassen dahingestellt
sein, ob der Behauptung Wahrheit zum Grunde liegt.
— In England und in den Vereinigten Staaten taucht in
jedem Monate mindestens eine neue religiöse Secte auf. Gegen-
wärtig machen in London die „Bibelchristen" einigen Rumor.
John Hulme wurde am 14. Juli in London vor Gericht gestellt.
Die„Mail" erzählt, daß derselbe am Pfingstsonntag Nachmittag
in die Capelle der Bibelchristen gekommen sei und gelacht, auch
mit den Füßen gestampft habe. Der Beklagte vertheidigte sich.
Man hatte ihm geheißen, die Capelle zu verlassen; er blieb je-
doch und äußerte schmutzige Redensarten. „Ich ging in die Ca-
pelle; die Leute dort lachten über die Shakers, welche sangen,
hin und her taumelten, einander küßten und sich überhaupt
seltsam ausführten. Ich habe nicht mit den Füßen gestampft."
Herr Haase, Eigenthümer der Capelle, wird als Zeuge vernom-
men und sagt aus: Die Glaubenssätze der Secte kann ich hier nicht
auseinandersetzen. Sie werden Bibelchristen genannt; ihr Tan-
Erdth eilen.
zen ist die Folge einer Einwirkung des heiligen Geistes, und
wenn sie diesen in sich verspüren, springen sie vor Freude.
Manchmal, doch nicht oft, fallen sie auch zu Boden; das ist
auch eine Offenbarung des heiligen Geistes. Am Pfingsttage ließ
sich derselbe auf die Stätte herab, wo seine Jünger versammelt
waren. — Ein anderer Zeuge, W. Finnity, sagt aus, Hulme
habe nichts gethan und nichts gesprochen; es wurde viel ge-
tanzt, Männlein und Weiblein umarmten und küßten einander ;
sie führten sich nicht indelicat auf. Alle, die in der Capelle
waren, lachten. Er, Finnity, fragte die Dame, welche die Predigt
hielt, wer, falls sie mit Tode abginge, ihr Nachfolger sein werde.
Die Predigerin antwortete: „Ich bin schon einmal sieben
Jahre lang tobt gewesen." Finnity fragte sie auch, ob es
richtig fei, daß König David vor der Bundeslade getanzt habe;
darauf erhielt er indeß keine Antwort. Er fragte weiter, ob es
der heilige Geist sei, der sie zum Tanzen bewege; sie sagte, daß
sie oftmals mitten in der Nacht aufstehe und tanze. — Er, Fin-
nity , habe ebensowohl getanzt wie die Anderen in der Capelle,
und wenn sie zu Boden fielen, gab es allgemeines Gelächter.
Er glaube übrigens nicht an die Lehren der Secte und fei kein
Mitglied.
— Besonders sein und nach europäischen Begriffen anstän-
dig ist der Ton der nordamerikanifchen Prefse im All-
gemeinen überhaupt nicht; wenn es sich aber, wie gegenwärtig,
um Präsidentschaftswahl handelt, leistet sie an massiver Grob-
heit das Menschenmögliche. Man läßt an den Gegnern auch
nicht ein gutes Haar, schimpft entsetzlich und speculirt aus den
Geschmack des politischen Janhagels. Die sogenannte republi-
kanische Partei hat sich bekanntlich gespalten, da ein Theil der-
selben, die sich „liberale Republikaner" und Reformer nennen,
den Hauptredacteur der „Tribüne", Horace Greeley, als Prä-
sidentschaftscandidaten aufgestellt hat. Die „regulären Republi-
kaner" dagegen halten anGrant fest. Wie das fo im gewöhn-
lichen Leben zu gehen pflegt, fo auch in der Politik; die ehe-
maligen Genossen und Spießgesellen sind nun einander spinne-
seind geworden. — Ein Grantblatt, „Washington Chronicle",
hat gesagt, daß Greeley, als er erklärte, während der Campagne
von der Redaction der „Tribüne" fernbleiben zu wollen, sich
schäme, ein Buchdrucker zu sein. Das nimmt die Zeitung
übel (Nummer vom 26. Juni); sie erklärt den Menschen,
welcher so etwas behauptet, für den „merkwürdigsten und wun-
dervollsten Efel. Ohren, wie er sie hat, bringen offenbar die
Gerber in Versuchung, welche Material suchen, um lederne
Medaillen sür die Grantpartei zu prägen." — Ein Grantblatt,
der „Phönix", schreibt: „Herr Greeley trägt unter seinem zer-
krempelten Hut seinen alten Flachkopf, und sein Herz ist so dick
wie ein Scheffelmaß." — Die „Tribüne" rühmt von sich, daß
sie politische Angelegenheiten „gewissenhaft und in durchaus deli-
cater Weise" erörtere!
— Der Stadtrath in Boston hatte die Erlaubniß ertheilt,
daß die öffentliche Bibliothek auch Sonntags während der Nach-
Mittagsstunden geöffnet sein solle. Er war dringend darum
angegangen worden, weil sehr viele Leute in den Wochentagen
keine Zeit haben, sich geistig fortzubilden und die Bibliothek zu
benutzen. Der Bürgermeister der Stadt, Gaston, hat gegen einen
so durchaus unchristlichen Beschluß sein Veto eingelegt und die
Bibliothek darf am Sonntage nicht benutzt werden.
— Eine Mulattin, Fräulein Lottie Ray, welche an der
Harvard-Universität ihre juristische Prüfung bestanden hat, ist
im District Columbia als Obergerichtsadvocat zugelassen
worden.
Inhalt: Telegraphische Witterungsberichte und die Sturmwarnungen. Mit acht Abbildungen.) — Unsere heutige
Kenntniß der Uranfänge des Menschengeschlechtes. Von Dr. med. H. Obst. I. Mit zwei Abbildungen.) — Zur Kennzeich-
nung der Zustände in Tunis. Ein tunisischer Prinz als Rebell. Von Heinrich Freiherrn v. Maltzan. I. — Die geographische
Section der deutschen Naturforscherversammlung. — Aus allen Erdtheilen: Die Bevölkerung der Philippinen. — Die Handels-
bewegung Ostindiens. — Aus Südamerika. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
ufrcVft str Jandet-
°4
%
hl
J? 11.
Mit besonderer HerücksiclüLZung äer Antkroxologie unä Giknologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl A n d r e e.
Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 18^72.
Schilderungen aus Russisch-Lappland.
Von Professor Z. A. Frijs in Christiania.
Russisch-Lappland war früher eine unabsehbare Fel-
seuwüste ohne Menschen und Thiere — ja sogar ohne Baum
und Strauch. Das Weiße Meer vermittelte die geringe Ver-
bindung zwischen Finnen, Lappen, Karelen, Normannen und
Samojeden. In den Südthälern und Schluchten zeigte sich
hier und da etwas Baumwuchs; allein wenn man die Bäume
wegschlug, so ging es, wie auf allen norwegischen Bergen:
es kam kein Nachwuchs. Dieselbe unerklärliche Erscheinung
trat besonders in Finland als Mißwachs hervor, erzeugte
Hungersnoth und zwang die Menschen, sich unter anderen
Himmelsstrichen und in anderen Ländern ihr Fortkommen zu
suchen. Ihr Ziel waren zunächst Norwegisch-Lappland und
die südöstlichen Theile von Rnssisch-Lappland, welche an ihren
Küstenstrecken sehr fischreich sind, daher den Einwanderern
nicht allein Nahrung, sondern auch Verdienst brachten, indem
die Russen sehr viele eingesalzene Fische holten und dagegen
wieder Graupe, Hirse, Branntwein, Leinwand, Vadmel
(grobes Wollzeug) und dergleichen brachten. Dieser Handel
erheischte die Fertigkeit in mehreren Sprachen und führte bei
den russischen Einwanderern eine zweckmäßigere Tracht ein,
welche theils in einem bis auf die Füße reichenden Kaftan,
theils in einem solchen kürzern, einer Blouse ähnlichen Klei-
dungsstücke von grobem Vadmel bestand. Unter diesem trugen
sie ein Hemd, welches unter dem Leibgürtel über die Bein-
kleider wie eine Schürze herab hing und wie es heute noch
die Krakauer Fuhrleute tragen. Die Kinder jener Aus- und
Einwanderer liefen barfuß in den Schneewehen herum, mit
weiter nichts anderm als einem Hemde bekleidet. Nach dem
Globus XXII. Nr. 11. (September 1872.)
ziemlich allgemeinen Brauch in Nußland, sich abzuhärten,
liefen die Einwanderer nackt, mit von Hitze geröthetem Körper
und rauchender Haut direct aus der Badestube und stürzten
sich in den Fluß, um sich abzukühlen. In ihrer Wohnung
hatten diese russischen Unterthanen das national-russische
große Geräth, welches sie zum Kochen, zum Brotbacken und
zur Aufwärmung gebrauchen. Läugs der beiden Wände
in der Wohnstube standen Schlafbänke (Pritschen), welche
mit Renthierfellen bedeckt waren, auf Allem aber lag der
Schmutz viel dicker, als er in den norwegischen Lappenhütten
zu finden ist. Da indeß die Russen sehr häusig sowohl
warm als kalt baden, so hilft dies etwas zur Reinlichkeit.
Ueberhanpt findet sich das „Slovakenvolk" um das Weiße
Meer nur noch unter dem schmutzigen Landvolk, welches von
etwas Viehzucht und Fischerei lebt, wogegen man unter den rus-
fischen Handelsleuten wirklich schöne Menschen antrifft, welche
sich durch ein sehr ansprechendes Aeußere, hohen, schlanken
Wuchs, volles, dunkles Haar und gesunde Hautfarbe auszeich-
nen und dadurch dem Ethnologen auf den ersten Anblick zei-
gen, daß sie zu einer edlern Race gehören. Ueberhaupt scheint
die Mischung von Russen, Finnen, Karelen und Lappen in
jenen fernen Gegenden weniger aus die Vermehrung der
Slovakenrace, als auf die Veredlung des finnischen Volks-
stammes eingewirkt zu haben. —
Drei wichtige Dinge sind in jenen Gegenden schwer zu
finden: Kirchen, Apotheken und Aerzte. Da es Landstriche
giebt, wo ein'Geistlicher bis 35 Meilen Amtshandlungen
vornehmen, ein Arzt Krankenbesuche machen und ein Apo-
21
162 I. A. Frijs: Schilderun
theker Medicin versenden muß, so ist leicht abzusehen, wie es
dort mit der geistigen und leiblichen Pflege der spärlichen
Bewohner steht. Denn wenn in schon mehr bewohnteren
Gegenden Aerzte den Spruch im Munde führen: ein schlecht
ter Kranker, welcher nicht 24 Stunden auf den Arzt warten
kann, so mUssen in Normandsttt, Kola u. s. w. die Kranken
die gedachten 24Stunden zu Zeiten in Tage umwandeln.
Und die Wandervölker in jenen Einöden pflegen ihre Täns-
linge erst zur Kirche zu bringen, wenn sie auf ihren Roma-
denzügen einmal eine Kirche erlangen können. Eben so be-
graben sie ihre Todten selbst, wie es das patriarchalische
Verhältniß erheischt, und lassen die kirchlichen Begräbnißcere-
monien erst dann vornehmen, wenn sie nach langen Zügen
endlich einmal einer Kirche nahe kommen. Im letztern Falle
werden auch die Confirmationen der Kinder vollzogen. Da
wo sich Einwanderer in größerer Zahl dauernd ansässig ge-
n aus Russisch-Lapplaud.
macht, haben die norwegische wie die russische Regierung zu-
nächst für Kirchen gesorgt, so daß sich in dieser Hinsicht
gegen früher Vieles gebessert hat. Allein da die Pfaffen
überall nur Streit und Zwietracht säen, so kann es auch in
jenen Schneegegenden nicht fehlen, daß die lutherischen und
die griechisch-katholischen Lappen einander in Bezug auf den
„Glauben" mit Mißtrauen betrachten! Und weil sich da,
wo sich Zwei streiten, sehr leicht der böse Feind eindringen
kann, so ist in Norwegisch-Lappland derselbe in der That in
Gestalt von Jesuiten eingedrungen, und der Adjutant der-
selben, der Pietismus, hat schon ziemlich viel Terrain gewon-
nen. Auch dieses Verhältniß zeigt wieder recht deutlich die
Wahrheit des Spruches: „der Himmel und Friede sind über-
all, wohin der Pfaffe nicht kommt mit seiner Qual."
An der Mündung des Varangersjords liegen die
Fischer- und Handelsinseln, welche nicht groß und auch nicht
Jnkostrov bei Jmandra.
hoch sind, aber den Fisch- und Vogelfängern viel Ausbeute
liefern. Im Sommer versammeln sich nämlich auf diesen
Inseln ganze Schaaren von großen Seemöven, Wild- und
Eiderenten und Landvögeln, um daselbst zu brüten. Zu die-
sen Vögeln kommen in jedem Jahre verhältnißmäßig viele
russische Lappen, um Eiderdunen zu sammeln und Bogeleier
auszunehmen, denn es besteht in jenen Einöden noch kein
Jagd- und ebensowenig ein Schongesetz. Jeder schießt da-
her, wann, wie und wo er kann; und ebenso sammelt Jeder
so viel Eier, als er findet. Im Sommer nährt sich daher
die ganze Bevölkerung von Vögeln. Im Winter dagegen
ist die Bevölkerung fleißig beim Robbenschlägen und beim
Walfang. Sind die Früchte der Sommerbeschäftigung, die
Eiderdunen, ein sehr angenehmer und beliebter Handels-
artikel, so ist die Ausbeute der Winterbeschäftigung, der
Thran, ein ebenso beliebtes Nahrungsmittel wie werthvoller
Handelsartikel.
Diese Inseln sind mit üppigem Grase bewachsen, unter-
mengt von ganzen Wäldern von Angelica, welche hier wild
wächst, über drei norwegische Ellen hoch und von den Lap-
Pen fast täglich unter ihre Speise im Kochkessel gemengt
wird. Die sumpfigen Stellen auf den Inseln sind mit
Waldgras und niederm Weidig bedeckt. Die Fruchtbarkeit
auf jenen im hohen Norden gelegenen Inseln ist nur erklär-
lich, wenn man sieht, wie dick die Humuslage aus denselben
ist, und bedeukt, daß zahllose Vogelschwärme durch Jahrtau-
sende ihren Guano auf dieselben niedergelegt haben. Uebri-
gens nisten die verschiedenen Vögel nicht unter einander, son-
dern die Seemöven brüten in den Haidekrantstrecken, die
Eiderenten im Schilfe, andere Wasservögel dicht am User :c.
Mit der Beschaffenheit der gesammelten Eier nehmen es
die Lappen nicht so genau; wenn sie auch schon bebrütet sind
und in keiner Weise die Wasserprobe aushalten, werden sie
doch von den Lappen als „frische" Eier verzehrt. Obschon
I. A. Frijs: Schilderun
die lutherischen Lappen auch gern Eier speisen, so sind diese
für die russischen Lappen doch die größte Wohlthat, weil
dieselben bei den vielen Fast- und Feiertagen, wo sie kein
Fleisch genießen dürfen, in Eiern den besten Ersatz desselben
finden. Dabei gehen die lutherischen Lappen in keiner Weise
des Segens obgedachter Inseln verlustig, im Gegentheil dür-
sen sie mit ihren Nenthierherden im Sommer auf die gras-
reichen Fischerinseln kommen und können dort ein Herrenleben
führen, weil sie erstlich Raum genug finden und dann, weil
sie nicht nöthig haben, ihre Herden zu hüten, weder vor den
zweibeinigen noch vor den vierbeinigen Wölfen.
Eine Erscheinung, welche sich allerdings in anderen Län-
dern auch bemerkbar gemacht, findet sich in Rufsisch-Lapp-
land wieder, nämlich, daß der Protestantismus den Protestan-
ten ein offeneres Auge, ein besseres Aussehen und vorwärts-
C strebende Körper- und Geisteskräfte verleiht. Die lutheri-
n aus Russisch-Lappland. 163
schen Lappen — Männer, Frauen und Kinder — zeichnen
sich in jeder Hinsicht vor den Skoltelappen wie vor den rus-
sischen Fischerlappen aus, was sie wohl hauptsächlich dem
Umstände verdanken, daß sie das ganze Jahr kräftigere Spei-
sen genießen, während sich die Skoltelappen mit den langen
Fasten Geist und Körper zerstören, da namentlich in jenen
hochnordischen Gegenden Fleischspeisen eine Notwendigkeit sind.
Angreifend ist auch die fortwährende Arbeit der Lappen
während der kurzen Sommerzeit. Man reist nämlich in
Lappland im Sommer zu jeder Tageszeit, und zieht sogar
die sogenannte Nacht dem vermeintlichen Tage vor, weil
man des Nachts weniger von der Hitze sowie von den noch
lästigeren Mücken geplagt wird. Ist man von der allge-
meinen bürgerlichen Zeiteintheiluug unabhängig, so reist
man ab, wann man Lust hat, und kommt wieder, wann man
kann. Jede Tageszeit ist gut, weil jede gleich licht und es
Mogilayi Ostrov. Begräbnißp
ganz gleich ist, ob man in der Nacht um 12 Uhr, oder am
Tage um 12 Uhr reist oder kommt: die Sonne bleibt immer
über dem Horizonte. Man sieht daher die Lappen im Som-
mer fortwährend beschäftigt, und fragt man sie, wann sie
denn schlafen, so antworten sie: schlafen können wir im
langen Winter genug; jetzt müssen wir in der kurzen Zeit
des Sommers Alles anschaffen, was wir in der langen
Winterzeit bedürfen. Sie sind daher leicht zu gewinnen für
Bootdienst wie für Gepäcktragen auf Reifeu pro Tag einen
Rubel. Für letztern Dienst ist ein gewisses Normalgewicht
festgesetzt, womit sie belastet werden dürfen; darüber braucht
der lappische Reisebegleiter sich nicht aufpacken zu lassen,
wenn er nicht will.
Wie überall die sogenannten Führer sehr redselig sind
und viel zu erzählen wissen von allerlei merkwürdigen Diu-
gen auf den Wegen, welche sie zeigen sollen, oder gehen müs-
; auf einer Insel in Jmandra.
sen, so haben auch die skydsenden Lappen Wunder über Wun-
der zu berichten, welche sie theils auf dem Wasser, theils in
Klüften, theils auf Hochgebirgen gesehen oder erlebt haben
wollen. Der Grundstoff dieser Erzählungen ähnelt sehr der
Geschichte David's und Goliath's: immer hat ein Riese oder
ein Berggeist eine Gegend unsicher gemacht, die Bewohner
gequält, beraubt und zu horrenden Abgaben gezwungen, bis
endlich ein dreister, tapferer junger Mann oder ein frommer
Heiliger durch List, Klugheit oder Tapferkeit dem Unwesen
ein Ende gemacht. Bei diesen Erzählungen werden oft alte
Geschichten mit neueren Vorkommnissen gemischt, so daß der
spätere Geschichtschreiber niemals mit Sicherheit angeben
kann, wieviel Geschichte und wie viel Dichtung in dieser oder
jener Erzählung steckt. *
Am Orafjord liegt Rußlands einziger eisfreier,
schützender und daher bei den Fischern uud Schiffern sehr be-
21*
164 I. A. Frijs: Schildere
liebter Hafen im Eismeere. Weil dieser Hafen oft gesucht wird,
hat er eine Anziehungskraft für Geschäftsleute, und deshalb
haben sich auch mehrere Lappenfamilien, und zwar protestan-
tische, in der Rühe angesiedelt. Unter diesen sollen einige
reiche, welche über mehr als 2000 Renthiere ä Familie ge-
bieten, zu treffen fein. Diese Familien zeichnen sich auch
aus in ihrer Kleidung (was sonst unter den Lappen nicht
gebräuchlich ist), da sie in blauen und rothen Männer- und
Frauen-Kaftans einhergehen, Gürtel mit goldenen, silbernen
oder vergoldeten Bracteaten tragen, bunte Schnupftücher
anwenden und an den Messingringen an den Gürteln allerlei
Nähsachen sowie an den Fingern Bronzeringe tragen.
Bei diesen Lappenfamilien ist es Brauch, daß Besucher dem
weiblichen Personale Geschenke machen, wobei aber der Grund-
satz beobachtet wird : „Gabe fordert Gabe und ein gutes Wort
heifcht eine Antwort."
n aus Russisch-Lappland.
Sie sind auch stets wohlversehen mit Allem, was ein
Lappe benöthigt, sie haben aufgebauschte Renthierhäute, See-
Hundsfelle, Töpfe, Renthierpelze (welche nach ununterbroche-
nem Gebrauche während des langen Winters in der Luft
hängen) und getrocknetes Renthierfleisch, das in der Regel
an den der Wohnung am nächsten stehenden Birkenstämmen
hängt und dessen Fett die Raben mit ihren großen und die
Fleischmeisen mit ihren kleinen Schnäbeln aushacken und sich
dadurch ein gutes Frühstück bereiten.
Da in jenen Gegenden nur selten ein Wolf zu sehen ist,
so brauchten die Lappen ihre Herden nicht zu hüten, wenn
ihnen die zweibeinigen Wölfe, Skoltelappen und Russen,
nicht jährlich hundert und mehr Renthiere raubten. Da sie
wissen, daß sie bei den russischen Beamten selten Recht sin-
den, so lassen sich die reichen Lappen den Renthierraub
schweigend gefallen, das Silbergeld aber, von welchem sich
viel in Lappcntaschen befindet, vergraben sie an verschiedene
Stellen in Schluchten auf den Hochgebirgen, denn kein ruf-
sischer Lappe würde sein baares Vermögen einem russischen
Geldinstitut anvertrauen. Dagegen wissen die norwegischen
Lappen sehr wohl, daß Geld Geld bringt, wenn es in den
Banken zweckmäßig verwaltet wird, und tragen daher alle
Spargelder in die Geldinstitute. — Ob in Russisch-Lapp-
land die Ausstellung vieler russischer Kreuze mit diesem Geld-
vergraben zusammenhängt, ist nicht mit Bestimmtheit zu be-
haupten. Aber auffällig ist, daß im obengenannten Theile
Russisch-Lapplands an verschiedenen Stellen hohe Holzkreuze
errichtet worden sind, ohne daß man genau weiß, welchem
Zwecke das eine oder andere dient. Denn zum Theil sind
sie Verstorbenen zu Ehren errichtet, zum Theil sind sie
Erinnerungszeichen an besondere Begebenheiten, als Errettung
ans schwerer Krankheit, oder einer andern Gefahr, zum
Theil dienen sie unbekannten Zwecken. Wenn sie die Stätte
eines Verstorbenen heiligen sollen, so muß der Sarg ohne
Boden auf das betreffende Grab gestellt werden. Diefe
Kreuze werden so hoch als möglich gemacht, haben an der
äußersten Spitze zwei rechtwinkelige Kreuze mit einem Pult-
dache darüber und weiter unten am Schaft ist ein schiefes
griechisches Kreuz angebracht. Am Hauptstamm und an den
Querbalken finden sich lange Inschriften, welche die Namen
des darunter Liegenden oder des Kreuzerrichters enthalten.
Da Rußland überall ein offenes Auge hat, so blickte es
auch auf sein Lappland und begünstigte die Colonisation
der lutherischen Finnen mit seltener Güte, denn es schützte
der Einwanderer Religionsfreiheit, sicherte den Colonisten
volles Eigenthumsrecht an dem von ihnen beanspruchten
Grund und Boden zu, gewährte ihnen volle Sicherheit Vör-
den Behelligungen untergeordneter Beamten, versprach ihnen
eine neue Kirche zu bauen und für sie einen Prediger aus
Finland kommen zu lassen.
I. A. Frijs: Schilderun
»Da im südlichen Russischen-Lappland Kartoffeln, Möh-
ren, Wasserrüben und andere Küchen- und Futtergewächse
in geschützten Lagen gedeihen und auch Gras wächst, nicht
allein für das gewöhnliche Hausvieh zur Weide, sondern auch
für den Heuschlag, so kann Russisch-Lappland für die einge-
wanderten Finnen zum Dorado werden, zumal da die Flüsse
und Fjorde viele Fische, namentlich Lachse, enthalten. Aus
diesem letztern Umstände läßt sich für die Einwanderer ein
hübsches Stück Geld schlagen, wenn sie die Leidenschaft der
Engländer fürs Angeln auszubeuten wissen. In Norwegen
haben nämlich die Engländer so ziemlich alle Flüsse, Bäche
und Gräben sowie die Meeresränder gepachtet, so daß die
unfruchtbaren Felsküsten, welche früher den Besitzern gar
nichts brachten, jetzt zur Geldquelle geworden sind. Denn
die Engländer zahlen nicht nur jedes Jahr höhere Pachten,
sondern liefern auch das, was sie fangen, an den Grund-
eigenthümer ab. — Da jetzt zur Sommerzeit Dampfschiffe
regelmäßig nach jenen rufsisch-lappischen Küsten fahren, be-
darf es nur weniger Tage, um nach Rnssisch-Lappland zu
kommen, und diesen geringen Zeitverlust werden sie nicht
beachten, wenn sie lachsreichere Flußmündungen für niedri-
gere Pachtsummen zu ihrem Vergnügen erhalten können.
Ueberhaupt gäbe es für einen englischen Sportsman kein
größeres Vergnügen, als auf den großen russischen Flüssen
meilenweit hinauf zu fahren, neue Binnenseen, Wasserstriche
und Wasserfälle zu entdecken und dann ein paar Monate bei
Wind und Wetter am See- oder Flußufer zu stehen und den
Fliegenköder, welcher noch nie von einem russischen Gewässer-
getragen wurde, in das Wasser zuwerfen und Lachse, Dorsche,
Forellen und dergleichen mit demselben heraus zu ziehen.
Allerdings sind die Lebensverhältnisse in Russisch-Lapp-
land etwas unbequem, weil noch die Menschen fehlen. Denn
wenn z. B. jenfeits Kola den Fischern das Brot ausgeht, so
sind sie genöthigt, erst nach Jeretik zu reisen, um Mehl zu
kaufen und diefes zu dem drei norwegische Meilen am
Flusse hinauf wohnenden Landhändler zu bringen, damit die-
ser das Mehl zu Brote verbacke: es müssen also hin und
zurück 26 norwegische Meilen zurückgelegt werden, um ein
Brot zu erhalten. So sind dermalen noch die Verhältnisse
in Russisch-Lappland!
Die russische Stadt Kola liegt lang gestreckt an der
einen Seite des Fjords gleiches Namens und hebt sich ge-
gen den langen Bergrücken hinter derselben Vortheilhaft ab.
Seit dem Bombardement 1854 hat sich diese alte und
ehemals merkwürdige Stadt noch nicht erholen können.
Doch hat sie eine im russischen Stile erbaute Kirche, welche
eigenthümlich aussieht, besonders aber durch ihre ungeheure
Kuppel imponirt. Der ganze Zuschnitt der Bauten, der
Stubenmöbel, der Kleider und alles deffen, was man öffent-
lich sieht, ist echt russisch. Sogar das Hängen der Heili-
genbilder in den Stuben immer an die rechte Wand vom
Eingange und das Bekreuzen und Verneigen vor denselben
Seitens der Eintretenden ist russisch. Wohlhabende fromme
Russen pflegen vor diesen Heiligenbildern Glasvasen auf-
zuhängen, in welchen Lampen brennen.
In Karelen empfängt man die Fremden mit Thee, weil
die Russen im Ganzen genommen leidenschaftliche Theetrin-
ker sind. Zu Mittag aber kommt, wenn man es irgend
machen kann, Kalybaka, d. h. Lachssuppe, und darauf Lachs
in Weizenbrot eingebacken und dann gebraten. Dieses Ge-
richt ist allgemein und besonders geliebt in Karelen. In
Kola liebt man nach Tische Spiele, worunter das Gangspiel
zahlreich, besonders von der Jugend, besucht wird. Dieses
ist, wie Alles im hohen Norden, triste, es sieht sich so an,
wie die Lust der Sklaven in den Colonien nach gethaner
Arbeit, und besteht eigentlich darin, daß man immerfort geht
en aus Russisch-Lappland. 165
und nicht von der Stelle kommt. Die Spielenden stellen
sich nämlich paarweise in einer Reihe hinter einander auf,
gehen dann rückwärts bis zu einem bestimmten Flecke, lösen
die Paare auf und bilden zwei Reihen einzelner Hinterein-
anderstehender, welche wieder etwas vorschreiten, einander die
Hände geben und dann wieder paarweise rückwärts gehen.
Dieses Spiel wird unter Absingen eines russischen Volksliedes,
welches eine sehr monotone Melodie hat und mit einem
eigenthümlichen lang anhaltenden Nasentone endet, gespielt.
Während dabei die jungen, unverheiratheten Leute die beste
Gelegenheit haben, einander zu sehen und zu sprechen, sitzen
die verheiratheten Frauen mit oder ohne ihre Männer auf der
Erde oder stehen in Haufen umher und machen die Zu-
schauer oder Zuhörer. In den hochnordischen Städten und
namentlich in Kola würde ein deutscher Ethnolog unter die-
sen Hausen von Zuschauerinnen schwerlich ein erträgliches
Gesicht finden, denn alle diese Frauen haben eine gelbe oder
räucherige Hautfarbe, stumpfe Nafen und hervorstehende
Backenknochen, so daß Fremde leicht zu dem Glauben ver-
führt werden können, die Bevölkerung Kolas sei eine Mi-
schung von russischem und lappischem Blute, was aber
keineswegs der Fall ist, da die Lappen von den Russen ver-
achtet werden und Heirathen zwischen beiden Volksstämmen
sehr selten vorkommen. Das Ballspiel ist wie bei uns,
nur mit dem Unterschiede, daß die jungen Mädchen dabei
Schuhe und Strümpfe ausziehen und barfuß den Bällen
nachrennen.
Das unvorteilhafte Aeußere der Kolaer Frauen wird
durch ihre Tracht nicht gehoben, vielmehr noch verschlechtert.
Denn der Rock des Kleides reicht von den Zehen bis unter
die Arme, so daß er den Busen vollständig bedeckt und die
Taille, welche unter dem Kinn sitzt, nur ein paar Finger-
hoch ist. Zu beiden Seiten des Rockes hängen die Arme
heraus, welche mit langen weißen Hemdärmeln bedeckt sind,
deren Umfang namentlich oben an der Achfel so groß ist,
daß die bauschigen Hemdärmel bis über die Ohren hinauf-
gehen, so daß der verhältnißmäßig kleine Kopf zwischen den
Ungeheuern von Hemdärmeln beinahe verschwindet. Diese
steife, matronenhafte Tracht verunstaltet selbst das bestgewach-
sene Mädchen. Die verheiratheten Frauen tragen, um sich
von den unverheiratheten zu unterscheiden, im Haare eine
filirte oder gestickte Perlenarbeit, während die Mädchen ein
buntes in breite Falten gelegtes Tuch so um den Kopf bin-
den, daß es auch die Ohren bedeckt. Es kann also einem
Kolenser nicht Passiren, daß er eine Frau mit „Fräulein"
anredet. Die Männertrocht unterscheidet sich wenig von der >
westeuropäischen.
Die natürlichsten nnd daher beliebtesten Vergnügen sind
im höchsten Norden die Wintervergnügen. In Kola
belustigt sich das jüngere Geschlecht mit der Katschatscha.
Männlein und Fräulein ziehen paarweise mit Renthierschlit-
ten, dem unbequemsten Fuhrwerke, welches auf der Erde zu
finden ist, hinaus auf den hinter der Stadt liegenden Lap-
penberg, stellen sich hinter einander auf und fahren dann
pfeilschnell an der steilen Seite des Berges hinab. Die
kleinen Jungen freuen sich über die blitzschnelle Fahrt, die
Jünglinge sind stolz darauf, wenn sie der Damen schützende
Ritter sein dürfen, und Niemand achtet aus die Rosen, welche
die Winterkälte theils weiß auf die Nasen, theils roth auf
die Wangen malt. Denn bei — 26° R. erscheinen die
Mädchen noch in dünnen Pelzjacken, einem Schnupftuche um
den Kopf und Sammethandfchnhen auf den Händen. Die
Junker aber treiben allerlei Allotria. Der Eine spannt
zum Ueberflufse noch einen Hund vor seinen Lappenschlitten
(welcher einer geöffneten Flußmuschel nicht unähnlich ist)
und quält das Thier dadurch, daß die Spitze des Schlittens
166 I. A. Frijs: Schilderur
fortwährend dm Hund in die Hinterlende sticht. Der Andere
wirft sich plötzlich mitten auf die Bahn und verursacht allen
von oben Herabschießenden das ärgerlichste Kunterbunt, wenn
die Damen kopfüber in den Schnee schießen. Ein Dritter hat
sein Mädchen auf dem Schooße und fährt ohne Schlittenlen-
kung pfeilschnell die Bahn hinab. Unterwegs verliert sie ihr
Kopftuch und die Locken flattern im Winde. Lächelnd sieht
sie ihren Geliebten an und dieser schlingt heroisch seinen
Arm um ihren schlanken Leib, verliert aber in demselben
Augenblicke das Gleichgewicht und der poetische Exceß endet
damit, daß Beide zum großen Ergötzen der Zuschauer
Gelegenheit bekommen, ihre Gefühle in der nächsten Schnee-
wehe abzukühlen. Bald darauf erscheint eine muthigeAma-
zoue mit einem Schlitten, lenkt ihn felbst und fährt unter
Hurrah die lange Bahn hinab. Dieser folgt ein Schlitten
voll Gassenjungen, welche durch Schreien, Schellen, Klingen
und Pfeifen so viel Lärm als möglich machen und bald
m aus Russisch-Lappland.
darauf zum allgemeinen Gelächter das Parterre küssen.
Dieses Vergnügen wiederholt sich während des Winters fast
täglich und läßt auch im hochnordischen Kola die Erde nicht
zum Jammerthale werden.
Der Name Kola wird von verschiedenen Forschern aus
dem Finnischen, von anderen aus dem Ostjakischen, wieder
von anderen aus dem Altkarelischen hergeleitet, doch dürste
der sinnische Ursprung wohl der wahrscheinlichste sein, da in
alten Zeiten an der Küste von Kandalax bis Ponvi Finnen
gewohnt haben, wenn auch jetzt ihre Zahl eine geringe ist.
Dagegen waren wohl zu allen Zeiten die Küsten des nörd-
lichen Eismeeres von Lappen bewohnt. In Kola ließ Peter
der Große von Rußland ein Blockhaus mit Thurm bauen,
und dieses hölzerne Gebäude mit noch einer Anzahl hölzerner
Stadthäuser forderte die Courage der Engländer 1869 und
1854 dergestalt heraus, daß sie in beiden Jahren Kola mit
einer Kriegsslotte heimsuchten und abbrannten! Da jedoch
Strandpartie bei Pänj
die beiden bedeutenden Flüsse Kola und Tnlom, an deren
Oberlauf schöne Kieferwälder prangen, Holz genug herbei-
flößen, so ersteht nach und nach eine neue hölzerne Stadt,
welche sich bald wieder erholen würde, wenn sie nicht so weit
von den Fischereiplätzen läge und Rußland etwas für den
Platz thun möchte. Wie es in dieser Hinsicht mit Kola steht,
zeigt schon der Umstand, daß es keine Postverbindung hat,
weder mit Rußland noch mit dem Auslaude. Wenn daher
ein Kolaer Kausmaun an einen Geschäftsfreund indem nahen
Norwegisch'Lappland schreibt, so muß der Brief über Archau-
gel, Stockholm und Christiania, d. h. im ganzen nördlichen
Europa herumgeschickt werden, ehe er wieder in die Nähe von
Kola gelangt. Die Kolenser können daher nur auf Privat-
wegen mit ihren auswärtigen Geschäftsfreunden correspon-
diren, und diese Privatwege sind meist sehr unsicher.
Nicht besser geht es den Kolensern, wenn sie Briefe und
Waaren aus ihrer Kreisstadt Archangel beziehen müssen:
vi er Monate müssen sie sich in Geduld fassen, uud überhaupt
)i in Rnjsisch-Karelen.
noch froh sein, wenn sie Geldbriefe und Werthsachen richtig
bekommen, weil die Post nur bis Kein geht und dort Alles,
was nach Kola gehört, einer Privatbestelluugsgelegenheit
übergiebt. Keiner weiß daher, wann diese Privatpost kommt,
noch wann sie geht, denn sie lebt Jedem zn Gefallen und
wartet bei jedem Einzelnen, bis er seine Briefe geschrieben,
seine Packete fertig gemacht hat. Ist der Steuerbeamte,
welcher die nach Kola gehenden Sachen revidirt, bei Ankunft
der Privatpost zufällig abwesend, so muß er erst durch einen
Expressen auf Kosten des Empfängers herbeigeholt werden.
Ist aber für Jemanden in Kola ein Geldbrief nach Kem
gekommen, so muß der Kolenser denselben durch einen beson-
ders Bevollmächtigten von Kem holen lassen. Noch viel
verwunderlicher ist es, daß die Post Kandalax passirt, aber
keine Verbindung mit Kola, oder den östlich davon liegenden
Fischer- und Lappenstationen bisPonoi hat. Eben so müs-
sen die wichtigsten Handelsartikel, wie Salz, Zucker und
dergleichen, erst nach Archangel gehen, um dort verzollt zu
H. Obst: Unsere heutige Kenntniß der Uranfänge des Menschengeschlechtes.
167
werden, ehe der Kolaer Kaufmann sie weiter verwerthen
kann.
Die Bemittelten in Rnssisch-Lappland haben fast Alle
dieselben häuslichen Einrichtungen, als: ein großes Helles
Gastzimmer mit dem gewöhnlichen Meubelmeut, mehreren
Spiegeln und hübschen Heiligenbildern, aber kein Sopha.
Die Gastfreiheit herrscht in jedem von diesen Häusern, und
Kaffee, Thee und Wein wird dem Besucher bald vorgesetzt,
aber nicht von der Hausfrau. Ebenso öffnet nicht
der Wirth die Weinflaschen und schenkt in die Gläser, son-
dern das müssen die Gäste thuu. Der Mittagstisch in Karelen
besteht in der Regel in Hühnersuppe mit Hühnerfleisch, einer
mit angebackenem Ei versehenen Eier- und Mehlspeise, Hüh-
nerfricasse, Fleischfricandos, Backwerk mit einem Glase Milch.
Darauf erscheint Kaffee und mit demselben die Hausfrau im
größten Glänze.
An diese Küche und Einrichtung hat sich der in Kola
ansässige Arzt Dr. Lauterstein, ein Deutscher, ebenso
gewöhnt wie die Russen.
Kola hat drei Kirchen, von denen die eine so flach liegt,
daß man nur bei Ebbezeit mit trocknem Fuße aus der Stadt
zur Kirche kommen kann, zur Fluthzeit aber sich eines Kah-
nes bedienen muß. Da der Gottesdienst sehr lang ist, so
muß man abwechselnd beide Beförderungsmittel benutzen.
An sogenanntem Gottesdienste fehlt es nicht, denn es ist früh
drei Uhr, sechs Uhr, neun Uhr und Nachmittag sechs Uhr-
Kirche. Die Besucher bestehen meistens ans alten Leuten
beiderlei Geschlechts, haben aber in der Regel nicht nöthig,
sich in der Kirche sehr zu drücken, was der Gesundheit sehr
zuträglich sein soll, da dieKirche jederzeit, auch in der
größten Julihitze, sehr stark geheizt wird. Sitze
giebt es nicht, es müssen vielmehr die Kirchenbesucher stehen
und zwar die Männer auf der rechten, die Weiber auf der
linken Seite. Wie dies mit der biblischen Anschauung, daß
die Böcke zur Linken und die Schafe zur Rechten stehen,
sollen, stimmt, ist schwer zu errathen.
In den russischen Kirchen werden unzählige Wachskerzen
verbrannt, weil vor allen Heiligenbildern so viele aufge-
steckt werden, als eben Platz haben.
Wenn die rechtgläubigen Kareler in die Kirche kommen,
verbeugen sie sich und berühren mit drei Fingern Stirn, Brust,
rechte und linke Schulter, wobei sie sich bald nach Ost, bald
nach West wenden. Dann gehen sie zum kirchlichen Wachster-
zenhändler, welcher Jedem für einige Kopeken eine kleine Kerze
verkauft. Der Gläubige zündet diese Kerze an und stellt
sie vor seinem Schutzheiligen hin, wobei er sich wieder be-
kreuzt und verbeugt und, wie es scheint, das Götzenbild als
lebenden Gott betrachtet.
Der „Gottesdienst" besteht erstlich in Absingung einer
höchst einförmigen Litanei, wobei der Schlußreim: „Herr
erbarme Dich unser!" besonders laut ausgestoßen wird.
Während dieses Gesanges geht der Pope im bunten Ueber-
wurf mit dem Rauchsasse in der Kirche herum, schwingt es
vor den Heiligenbildern und beräuchert dann auch die audäch-
tige Gemeinde.
In der doppelten Hitze im Sommer halten Viele den
beschwerlichen Ranch nicht aus und müssen die Kirche ver-
lassen, um außen frische Luft zu schöpfen. Die Starkner-
vigen aber bleiben während des ganzen Dienstes in der Kirche,
verneigen und bekreuzen sich fortwährend, nehmen dabei ehr-
furchtsvolle Mienen an und zeigen sich in ernsteren Gesich-
tern, während Andere unachtsam und gleichgültig drein sehen.
Die Frauen pflegen in der Regel auf dem Fußboden zu
knien und bei jeder Verneignng mit der Stirn den Fußbo-
den zu berühren. Damit sie sich und die Kleider bei diesen
Verbeugungen nicht beschmutzen, breiten sie ein Tuch auf den
Boden, knien und neigen die Stirn auf dasselbe. Andere,
welche keine Tücher zur Unterlage haben, müssen ans den
blanken Steinen knien und dieselben mit der Stirn berühren.
Fremde, welche russische Kirchen besuchen, bewundern die
Fertigkeit der Russen im Verbeugen vor Gott und Menschen.
Diese zur Hauptsache in der russische« Kirche gewordenen
Ceremouieu lassen dem Popen wenig Zeit für eine Predigt.
Deshalb zieht er am Schlüsse der sogenannten Hochmesse
ein dickes gedrucktes Buch in slavonischer Sprache, welche
bei allen gottesdienstlichen Handlungen gebraucht wird, hervor
und liest eine kurze Predigt ab, von welcher aber Niemand
etwas versteht, weil eben, außer den Popen, Niemand die
altslavonische Sprache lernt.
Nach den Gottesdiensten folgen Tanfen, wofür zwei
Taufsteine vorhanden sind, ein kleinerer in Form einer gro-
ßen Terrine, worin die kleinen Kinder durch Untertauchen
getauft werden, und ein sehr großer, worin die Erwachsenen
getanst werden, wenn es nicht angeht, daß die Taufe im
Flusse, wie gewöhnlich, stattfinden kann.
Dr. Mehwald.
Unsere heutige Kenntniß der Uranfänge des Menschengeschlechtes.
Von Dr. med. H. Obst.
II.
Der Engisschädel sowie der Neanderthaler haben zu sehr
entgegengesetzten Meinungen Veranlassung gegeben. Diese
sich oft so sehr widersprechenden Urtheile finden nun eine directe
Erklärung in Bezug auf den Neanderthalschädel in einer
neuerdings gemachten Entdeckung, wodurch auch indirect die
Zweifel über den Engisschädel beseitigt werden. Dann lag
ein nicht zu erklärender Widerspruch darin, daß der Engis-
schädel bei seinem unzweifelhaft festgestellten höhern Alter
so entschieden die Spuren des kaukasischen Typus an sich
trug, also in einem Stadium von schon hoher Entwicklung
sich befand, während der Schädel aus dem Neanderthal, aus
viel jüngerer Zeit stammend, doch weit hinter der Bollen-
dung des erstem zurückstehend, sich mehr der Thierähnlichkeit
näherte, so wird derselbe dadurch gelöst, daß sich ergeben hat,
daß der Neanderthalschädel nicht normal, sondern das Pro-
dnct krankhafter Verhältnisse ist. Es hat sich nämlich ge-
zeigt, wie Professor Virchow in einer Sitzung der anthro-
pologischen Gesellschaft zu Berlin am 27. April dieses Jahres
mittheilt, daß der Schädel die evidenten Spuren rhachitischer
Störungen an sich trage. Virchow fand bei seiner Unter-
suchung desselben außer den schon von Schaafhausen beschrie-
benen Merkmalen traumatischer Einwirkungen eine große
168 H. Obst: Unsere heutige Kenntniß
Knochennarbe am Hinterkopfe, ferner eine sehr charakteristi-
sche sterile Atrophie der Scheitelbeinhöcker und eine innere
Hyperostase der Schädelknochen. Er bestätigte ferner die
schon durch Meyer erwähnte Krümmung der Extremitäten-
knochen, welche in der That an rhachitische Störungen er-
innert, sowie die Zeichen ausgedehnter Gelenkassectionen,
welche bestimmt der Arthritis chronica deformans zuzu-
schreiben sind. Es handelt sich demnach um einen ganz
augenscheinlichen pathologischen Fund, der nur einen indivi-
dnellen Werth hat, dafür aber für Racenbestimmuugeu höchst
untauglich wird und keineswegs Schlüsse auf die damalige
Entwickelnng der Menschen jener Gegenden zuläßt. Wie
eine Hemmungsbildung, z. B. die Mikrocephalie, die heuti-
gen Tages noch vorkommt, uns einen Zustand unseres Ge-
schlechtes aus frühesten Zeiten vorführt, aber deshalb ganz
unbrauchbar für eine Bestimmung der gegenwärtigen Zu-
stände des Menschengeschlechtes wird, so verhält es sich ähn-
lich mit dem Neanderthalschädel, der auch auf seine Zeit
- Uranfänge des Menschengeschlechtes. .
keine Anwendung finden kann, und daher konnte es kommen,
daß ein Schädel aus bedeutend früherer Zeit doch eine viel
höhere Entwicklung zeigen konnte.
Neuerdings haben sich nach dem Neanderthalschädel ver-
schiedeue analoge gefunden. Außer den in Kopenhagen be-
findlichen ist in der Plenarverfammlung der Wiener anthro-
pologischen Gesellschaft am 12. December 1871 ein höchst
merkwürdiger Fund vorgelegt. Die „Mittheilungen" der
Gesellschaft berichten in ihrer ersten Nummer von diesem
Jahre kurz wie folgt: Herr von Heuer legte einen sehr
schön gearbeiteten Steinhammer, dann Theile eines mensch-
lichen Skelettes vor, welche Herr Johann Fitz, Director der
Miröschauer Steinkohlengesellschaft in Rokytzan (Böhmen),
an die k. k. geologische Reichsanstalt zur Untersuchung ein-
gesendet hatte. Das höchste Interesse unter diesen Gegen-
ständen erregte das Fragment eines Schädels mit dem Stirn-
bein und dem obern Theile der Augenhöhlen. Die außer-
ordentlich flache und niedere Stirn desselben erinnert beim
Das Skelett aus der Rothen Höhle bei Me
ersten Anblick sofort an den Neanderthalschädel. Die Fund-
stelle der gedachten Gegenstände befindet sich bei Brüx in
Böhmen, 3 Fuß über der Braunkohle. Die Ackerkrume be-
trägt an dieser Stelle 2 Fuß, und dann kam Diluvialsand,
in welchem bei 1/2 Fuß Tiefe zunächst die prächtig gearbei-
tete Steinaxt gefunden wurde, und dann 2 Fuß darunter
erst das Gerippe, welches mit dem Kopfe in der angegebenen
Tiefe, mit den Füßen jedoch noch tiefer lag.
Außerdem wurde in der Sitzung der Berliner anthropo-
logischen Gesellschaft am 10. Februar 1871 ein Brief eines
Herrn Kaufmann verlesen, in welchem derselbe über die
Aufdeckung einiger Steindenkmäler in der Umgegend von
Danzig berichtete, in welchen Skelette in sitzender Stellung
enthalten waren. In einem derselben soll sich ein dem Nean-
derthaler sehr ähnlicher Schädel befunden haben. Nähere
Nachrichten, namentlich über die Bildung des Schädels, sind
noch abzuwarten.
Sehen wir nun zu, welche vorhistorischen Schätze uus
der deutsche Boden in der jüngsten Zeit noch gespendet
>ne. Nach einer Photographie von Anfossi.
hat. Da ist zunächst der Menschenschädel von Dömitz an
der Elbe zu nennen. Es berichtet darüber der um die Vor-
geschichte Mecklenburgs so hochverdiente Geheime Archivrath
Lisch in Schwerin Folgendes: Bei Gelegenheit des Brun-
ueuseukeus behnss der Fuudamentirnng eines Fluthpfeilers
für die Eisenbahnbrücke über die Elbe ward in der Tiefe ein
merkwürdiger Menschenschädel gefunden. Der Pfeiler steht in
der Nähe eines alten verlassenen Stromarmes, der nur bei
höherm Wasserstande noch Wasser führt. Einige Fuß unter
der Oberfläche fand sich eine nicht mächtige Kleischicht, welche
offenbar von Elbschlick herrührt. Unter dieser Schlamm-
schicht liegt Sand, welcher von kleinen Stückchen Kohle und
mit Schichten von Torf durchsetzt ist. In diesem Sande
ward der Schädel gesunden; er ist 28 Fuß rheinländisch unter
der Oberfläche und ungefähr 20 Fuß rheinländifch unter
dem niedrigsten bei Dömitz beobachteten Wasserstande der Elbe
ausgebaggert. Es ist freilich bei Baggerarbeiten die Tiefe,
in der ein kleiner rundlicher Gegenstand seine Lagerstelle
hatte, nicht immer sicher anzugeben, da der Boden im Bag-
H. Obst: Unsere heutige Kenntniß d
gerbeutet hervorgeholt wird, es also^wohl möglich ist. daß
ein derartiger Gegenstand oft lange Zeit vom Bagger bei
Seite geschoben wird und später oder nach und nach beim
Baggern tiefer sinkt und so recht wohl viele Fuß tiefer auf-
gefunden werden kann, als er vor Beginn der Baggerarbeit
gelagert war. Jedoch wird der Schädel immerhin in gro-
ßer Tiefe gelagert gewesen sein.
Von Bedeutung für die Beurtheilung des Schädels ist
die Erkenntniß des Erdreiches, aus welchem die Lagerstelle
besteht.
Der Sand ist Kiefelfand von der Art des Sandes des
Meeresufers. In demselben finden sich ganz kleine Stück-
chen Kohle, d. h. Braunkohle, welche sich jedoch während des
Baggerns in der Tiefe leicht unter den Sand mischen konnte.
Das ganze Sandlager ist ohne Zweifel ein Diluvialgebilde
und kein Alluvialgebilde durch die Elbe.
Der sogenannte Torf liegt, nach der Angabe des Bau-
meisters, tief und fest, in Schichten gesondert. Es war jedoch
von vornherein daran zu zweifeln, daß so tief im Dilnvial-
gebilde Schichten von eomprimirtem Torf liegen follten. Bei
unserer Untersuchung ergab sich denn auch, daß diese Schich-
ten nicht Torf, sondern Braunkohle waren, welche leicht mit
dem eine Meile von Dömitz entfernten großen Braunkohlen-
lager zu Mallitz oder Bockup in Verbindung stehen können.
In Bezug auf die Verhältnisse des Schädels selbst machte
unter Vorzeigung desselben Professor Virchow in der Sitzung
der anthropologischen Gesellschaft zu Berlin am 10. Februar
dieses Jahres folgende Mittheilungen. Der Schädel ist mit
Ausnahme des linken Oberkieferrandes und der inneren Theile
der Augenhöhlen vortrefflich erhalten, nur fehlt leider der
Unterkiefer. Er trägt vollständig den Charakter eines uralten
Torffchädels an sich und kann als ein Muster dieser Art
von Schädeln hingestellt werden. Er hat jene dunkelbraune,
fast schwarzbraune Farbe, jenes dichte, glänzende Aussehen,
jene Festigkeit und Schwere, welche einen nahezu fossilen
Zustand anzeigen. .Di? starke Abschleifuug der Zähne, wie
die mächtige Entwicklung aller Knochenabschnitte bezeichnen
einen ältern Mann. Die starken und ausgedehnten Kno-
chenvorsprünge für den Ansatz der Muskeln deuten zugleich
auf große Stärke und Wildheit hin. Am Hinterhaupte ist
die sogenannte Linea nuchae superior sehr stark abgesetzt
und die ganze Fläche der Schuppe unterhalb durch zahlreiche
längliche Gruben uneben. Wir übergehen die Masse der
einzelnen Theile, welche nur bei einer Begleichung mit an-
deren Schädelmassen von Interesse sein können, versichern
müssen wir aber, daß die Jochbogen, obwohl nur mäßig aus-
gelegt und auf der Fläche stark gebogen, abstehend sind. Der
Charakter der Wildheit wird sehr verstärkt durch einen leich-
ten Prognathismus der oberen Alveolarfortfätze, durch einen
kolossalen Knochenwulst über der Nasenwurzel und durch eine
stark zurückgelegte, fast ganz flache Stirn, deren Glabella
gegen die Horizontallinie fast einen Winkel von 45 Grad
macht. Die Augenhöhlen sind breit und groß, die Supra-
orbitalräuder dick und stark überragend, die Jncisnr fast ganz
verstrichen. Die Nasenwurzel von mäßiger Breite, etwas
tief liegend, der Nasenrücken schmal, die ganze Nase auffällig
niedrig (kurz).
Mit diesen Charakteren harmonirt die verhältnißmäßig
geringe Capacität des Schädelraumes, welche einigermaßen
überraschend ist gegenüber dem Eindruck der Größe, welchen
der Schädel macht. Es erklärt sich dieser Umstand wohl
hauptsächlich durch die Depression der Stirn, da fast alle
Maße verhältnißmäßig große sind. Die allgemeine Schä-
delform ist die eines mäßigen Brachycephalos, der sich der
von Virchow als trachacephalisch bezeichneten Varietät an-
schließt.
Globus XXII. Nr. 11. (September 1872.)
Uranfänge des Menschengeschlechtes. 169
Noch hätten wir auf deutscher Erde eines jüngst bei
Gauernitz, einem Dorfe des Meißener Kreises unweit
Dresden, gemachten Fundes vorgeschichtlicher Reste des Men-
schen iu Kürze zu gedenken. Am erwähnten Orte fanden
nämlich Arbeiter beim Abgraben einer Böschung verschiedene
Menschenknochen. Unter den stark verwitterten Knochen-
resten, welche beim Herausnehmen aus der Erde meistens
zerfielen, gelang es, die Stücke zweier ziemlich gut erhaltener
Schädel zu erlangen, sowie ein Stück Oberschenkel und Becken.
Sämmtliche Skelette, mehr als zwanzig, sollen sich in einer
drei Ellen starken Schicht von Diluvialsand gesunden haben
und lagen mit dem Gesichte nach Sonnenaufgang gerichtet.
Die Abwesenheit aller sonstigen Geräthe, außer einer nn-
durchsichtigen Perle und eines rohgearbeiteten Thongefäßes,
veranlaßten zu der Vermuthuug, daß diese Menschenreste
der jüngern Steinzeit angehört haben. Später wurden auch
in demselben Gräberfelde noch einige Knochenreste und einige
rohe Feuersteinwerkzeuge, die jedoch sämmtlich zu ungenügend
waren, um daraus bestimmte Schlüsse über das Alter der
einst hier lebenden Menschen zu ziehen, gefunden.
Weiter füdlich gehend haben wir des interessanten Fun-
des in der Bytschiskalahöhle bei Adamsthal in Mähren
zu gedenken. Es schreibt darüber Dr. H. Wankel an die
anthropologische Gesellschaft in Wien: „Das Vorkommen
von Menschenknochen in dieser Höhle ist ein dreifaches, und
zwar: in dem in Seitenstrecken abgelagerten Sande, dann in
der obersten und zuletzt in der untersten Schicht der die Ein-
gangshalle der Grotte ausfüllenden Ablagerungen."
In Betreff des erstern läßt sich Nachstehendes bemerken:
An mehreren Stellen der Höhle, vorzugsweise dort, wo eine
15 bis 20 Klafter lange Strecke nach Südost abbiegt, der
eine kleine gegenüber liegende nach Nordwest laufende 3 bis
4 Klafter lange capellenartige Halle entspricht, befindet sich
eine 5 bis 6 Schuh mächtige Ablagerung eines feinen allu-
vialen Sandes. In demselben wurden 2^ Fuß tief mehrere
Menschenskelette gefunden, die, der Lage der Knochen nach
zu urtheilen, darauf hindeuteten, daß die Menschen, denen
sie angehörten, dort begraben wurden. Die Knochen sind
durch Uukenntniß und Unverstand sast alle zu Grunde ge-
gangen, so daß nichts Näheres darüber hat erwiesen werden
können. Außerdem sollen noch Topfscherben und zahlreiche
kleine Silbermünzen ohne wahrnehmbare Prägung gefunden
worden sein.
Unter dieser Sandmasse, in welcher noch dendritenfreie
Knochenfragmente von Hirsch, Reh, Schaf, Wolf oder Hund zc.
vorkamen, liegt ein Grauwackengefchiebe, vermischt mit vielen
Knochen der soeben genannten Säuger sowie des Pferdes und
mit Fragmenten von Pachydermenknochen u. f. w. Diese
sind oft durch Travertiu an einander oder an Granwacke an-
gekittet und nicht selten von einer Tropfsteinhülle eingeschlos-
sen. Spuren einer menschlichen Thätigkeit zeigten sich nicht,
doch sprechen verschiedene Umstände dafür, daß diese Thier-
reste durch Menschenhände in die Grotte gelangt seien.
Ganz anders verhält sich dagegen die Höhlenausfüllung
an der Eingangshalle der Grotte, indem man in einer Tiefe
von 1V2 bis 2 Klaftern unmittelbar auf die felsige Sohle
der Grotte gelangte. Die oberste Schicht bildet ein 2 bis
3 Schuh mächtiges Lager Schotter mit scharfkantigen Kalk-
trümmern, fandigem Lehm, Knochen von Wiederkäuern und
hier und da Menschenknochen. Auch fanden sich zerstreut
bald größere, bald kleinere Partien feiner Holzkohle, die offen-
bar von einzelnen Feuerherden herrühren. Auf diese Auf-
schüttung folgte durch den ganzen Raum der Vorhalle aus-
gebreitet eine 4 bis 6 Zoll dicke Lage eines weißen, bröck-
lichen, zerreiblichen, locker zusammenhängenden kohlensauren
Kalkes, der einem gelöschten Aetzkalke vollkommen ähnlich
22
170 H. Obst: Unsere heutige Kenntniß d
sieht, welche kalkige Lage mit der unmittelbar unter derselben
liegenden 5 bis 6 Zoll mächtigen feinen Holzkohlenschicht
in sehr nahem genetischen Zusammenhange stehen muß, da
an vielen Stellen die Kohle in den Kalk und der Kalk in
die Kohlenschicht eingedrungen erscheint. Unmittelbar auf
dieser Kalk- und unter der Kohlenschicht fanden sich wiederum
Menschenknochen.
Auf diese Schicht folgt eine 5 bis 6 Fuß mächtige Ab-
lagerung eines sandigen Lehmes mit Grauwackengeschiebe
und Kalktrümmern, welche Ablagerung jedoch einen ganz
andern Charakter als den der Lage nach ihr entsprechende
in der Mitte der Grotte sich ausbreitende diluviale Anschwem-
mung trägt.
Die Beschaffenheit der in dieser untersten Schicht der
Eingangshalle gefundenen Menschenknochen deutet auffallend
auf ein viel höheres Alter als die in den oberen Schichten
gelegenen; sie sind dunkelbraun und mit Dendriten bedeckt,
sie bestehen in einem Unterkieferfragment, einem Lenden-
Wirbel und einer Fibula, alle ziemlich wohl erhalten und
neben den Knochen von Wiederkäuern und von Ursus spelaeus
gelagert.
Endlich haben wir noch zum Schluß einen Fund zu ver-
zeichnen, der im April dieses Jahres bei Mentone in einer
ungefähr 70 Meter Uber dem Meere gelegenen Grotte der
„Rothen Felsen" zugleich mit verschiedenen Geräthen aus
Stein und Knochen unter einer mehrere Meter hohen Erd-
schicht durch den Dr. Riviöre gemacht worden ist. Ein
Brief von A. Ternante giebt darüber nähern Aufschluß,
wir lassen ihn hier in der Übersetzung folgen:
„Mentone, 20. April 1872. Ich war auf einem
Ausfluge in die Umgebung von Mentone begriffen, als der
Zufall und der den Künstlern eigene Spürsinn mich in die
Felsen der Grottes-Rouges gerathen ließen. Ein Regen
überraschte mich, und das einzige Obdach, das sich mir dar-
bot, um mich trocken zu erhalten, war der Eingang einer
jener Grotten, die, beiläufig erwähnt, von weitem viel inter-
essanter schien, als sie in der Nähe war. Ich wurde jedoch
für die Mühe und die Anstrengungen, die mich das Eindrin-
gen in die 60 bis 80 Meter über dem Niveau des See be-
sindliche Höhle gekostet, reichlich entschädigt. Sie können
sich das Erstaunen denken, welches mich überkam, als ich
wahrnahm, was sich meinen Blicken darbot.
Ich erblickte nämlich einen Mann vor einem Ungeheuern
Skelette kauernd, der so in die Betrachtung desselben versnn-
ken war, daß er meine Anwesenheit gar nicht bemerkt hatte.
Ich war deshalb genöthigt, mich dem, der mir der Herr die-
ser eigentümlichen Behausung zu sein schien, selbst vorzu-
stellen; wir wurden auf der Stelle mit einander bekannt.
Ich befand mich vor dem gelehrten Dr. Riviöre, der mir
mittheilte, daß ich gerade zu einer der merkwürdigsten Ent-
deckungen komme, zu der des Skelettes eines Troglodyten! Ich
vernahm ferner von ihm, daß er von der französischen Re-
gierung mit einer wissenschaftlichen Reise behufs des Stu-
diums der paläontologifchen Naturgeschichte Ligurieus beauf-
tragt worden sei.
Nachdem Herr Dr. Riviöre in den benachbarten Stein-
brüchen eine ungeheure Menge fossiler Knochen, Zähne und
Hörner von Bären, Riesenhirschen, Rhinoceronten, Hyänen
und anderen Vierfüßern, die er an die Staatsmuseen ge-
sendet, entdeckt hatte, so hatte er sich in der letzten Zeit mit
der Durchsuchung der Höhlen beschäftigt.
Das Skelett, das soeben von ihm entdeckt worden war, be-
fand sich, auf dem Rücken liegend, unter einer Erdschicht von
mehreren Metern, und war in merkwürdig gut erhaltenem Zu-
stände, was um so größeres Erstaunen erregen muß, wenn man
bedenkt, daß es, wie sehr es auch im Augenblick unmöglich
Uranfänge des Menschengeschlechtes.
sein mag, sein Alter mit Genauigkeit zu ermitteln, doch jeden-
falls in die vorgeschichtliche Zeit zu versetzen ist. Die Un-
tersuchung der Erde, in welcher es gefunden worden ist, wird
wahrscheinlich Auskunft darüber geben. Um das Skelett
herum hat man eine Menge von Feuersteinwerkzeugen aus
der Steinzeit entdeckt: Striegeln, Spitzen und Hacken sowie
Pfriemen aus Knochen, deren eigentümliche Bearbeitung
durch Reiben bewerkstelligt sein muß. Die Entdeckung die-
ser Merkwürdigkeit hat hier so viel Aussehen erregt, daß die
italienische Regierung, auf deren Gebiete sie geschehen ist,
die Wegführung der entdeckten Gegenstände verboten und
bewaffnete Zollwächter aufgestellt hat, um den kostbaren Fund
zu hüten und dessen Wegführung zu verhindern.
Dies sind die Notizen, die ich habe sammeln können, und
die ich Ihnen mit einer Photographie und einer Skizze sende.
Die Skizze, welche nach der Natur gemacht ist, stellt die in-
nere Ansicht der Grotte im Augenblicke der Entdeckung dar.
Was die photographische Aufnahme anlangt, so kann ich
deren vollkommene Genauigkeit verbürgen; sie ist an Ort
und Stelle von Herrn Anfofsi aus Mentone gemacht wor-
den, den Herr Dr. Riviöre mit der photographischen Dar-
stellung von mehr als 2000 in seinen verschiedenen Nach-
grabungen gefundenen Gegenständen beauftragt hat.
A. Ternante."
Ueber dieses Skelett hat denn auch Quatrefages der
französischen Akademie Bericht erstattet. Er sagt: Das
Skelett lag auf der linken Seite und zwar in der Stellung
eines Schlafenden, der plötzlich vom Tode überrascht wird.
Abgesehen von einigen durch Druck verursachten Verletzun-
gen und Verschiebungen hat das Skelett seine Form bewahrt.
Der Kopf besitzt die Merkmale eines Dolichocephalen (Lang-
kopses) und läßt nichts Auffallendes erkennen, als etwa die
kräftige Entwickelung des Unterkiefers. Interessant ist es,
daß dieser vorsündfluthliche Mensch einen Gesichtswinkel von
80 Grad, also ein wahrhaft clafsisches Profil zu besitzen
scheint. Auch im übrigen Skelettbau läßt sich kein Merkmal
nachweisen, welches den Höhlenbewohner von Mentone dem
Affen näherte, dagegen besitzen die menschlichen Schädel und
Knochen, welche vor einigen Jahren in der Höhle Cro
Magnon im Departement de la Dordogne ausgegraben wnr-
den und ebenfalls der ältern Steinzeit angehören, die größte
Ähnlichkeit mit den neuaufgefundenen. Man weiß aus die-
seu Funden nun, daß Süd-Frankreich während der ältern
Steinzeit, also in einer Periode, wo noch die großen Höhlen-
raubthiere, Mammuth, Rhinoceros und Renthiere Europa
bevölkerten, von einer ungemein starken, hochgewachsenen
Menschenrace bewohnt war, welche mit keiner der jetzt existi-
renden übereinstimmt. Aus der wichtigen Entdeckung Ri-
viöre's scheint hervorzugehen, daß die Race des Perigord auch
am User des Mittelmeeres hauste. —
Zunächst haben wir ergänzend hierzu zu bemerken, daß
durch diplomatische Verhandlungen, nachdem die italienische
Regierung die Auslieferung lange verweigert hat, dieselbe aber
doch schließlich herbeigeführt worden ist, und so wandert denn
dieser interessante Fund an die französische Academie des
Sciences in Paris.
Da der Berichterstatter durchaus kein Sachkenner ist, so
muß man nähere Aufschlüsse noch abwarten. So viel kann
man aber schon jetzt voraussehen, daß dieser Mensch aus der
Steinzeit, denn in diese Zeit müssen wir ihn nach allen An-
gaben Ternante's versetzen, eine höchst wichtige Entdeckung
ist, zumal da die Reste, wie man aus der Abbildung (S. 168)
ersehen kann, so vortrefflich erhalten sind.
Dies wären die neuesten anthropopaläontologischen Funde,
wenn auch nicht alle, so doch die wichtigsten und interessan-
testen. Daß dabei wohl noch hier und da manche Zweifel
Heinrich v. Maltzan: Zur Ker
wach gerufen werden, wird man natürlich finden, wenn man
die Schwierigkeiten und die Neuheit der Wissenschaft berück-
sichtigt, aber immer mehr klären sich die Verhältnisse ab, und
was man vor noch nicht so langer Zeit als Täuschung
oder als Gebilde einer allzu lebhaften Phantasie hinzustellen
eichnung der Zustände in Tunis. 171
beliebte und Auge und Ohr gegen laut redende Thatsachen
absichtlich verschloß, das kann man jetzt nicht mehr leugnen,
wo mit jedem Tage neue Funde unanfechtbar von der Wirk-
lichkeit einer Existenz des Menschen wenigstens schon in der
zweiten Continentalperiode, wie sie Lyell nennt, erzählen.
Zur Kennzeichnung der Zustände in Tunis.
Ein tunisischer Prinz als Rebell.
Von Heinrich Freiherrn von Maltzan.
II.
Glänzend soll der Empfang gewesen sein, welchen die
Insurgenten dem Prinzen bereiteten. Man erzählt sich, der
angesehenste Häuptling habe ihn vor ein Zelt geführt und
ihm gesagt: „Dieses Zelt ist das kostbare Geschenk, das
wir uuserm erwählten Oberhaupt und Fürsten, das heißt
Dir zum Willkommen darbringen." Sidi el Adel wunderte
sich, daß man ein Zelt, das noch dazu ein ganz gewöhnliches
war, ein „kostbares Geschenk" nenne. Aber er hörte auf
sich zu wundern, als er den Versuch machte, hineinzugehen.
Letzteres war ihm zwar unmöglich, denn das Zelt war von
unten bis oben gestopft voll, aber womit war es angefüllt?
Mit lauter harten Thalern. Wenigstens eine Million!
So die Berichte der Araber. Der Leser wird wissen, was
er davon glauben kann, wenn ich ihm sage, daß ein alter
Soldat Abd el Kadir's mir eines Tages versicherte, der
Emir habe ein ganzes Zimmer voll Goldstücke besessen.
Ein anderes Beispiel. Ein junger Beduine, Sohn eines
freilich reichen, aber keineswegs Millionären Häuptlings der
algierischen Sahara, erzählte mir einmal, sein Vater besitze
eine Cisterne, die statt mit Wasser von oben bis unten mit
Duros (spanischen Thalern) angefüllt sei. Das Zelt voll
Thalern ist eine sehr beliebte arabische Uebertreibung.
Jedoch, abgesehen von der Uebertreibung in Bezug auf
das mit harten Thalern angefüllte Zelt und von dem wahr-
scheinlichen Mangel an irgend welchen baaren Mitteln, folg-
lich der gänzlichen Nichtigkeit der Geldgeschenke an den küus-
tigen Fürsten, der Prinz wurde von den Rebellen sehr gut
und sehr ehrenvoll empfangen. Wohl war es ganz gegen
seine ursprüngliche Absicht, sich an deren Spitze zu stellen,
aber jetzt blieb ihm nichts Anderes übrig.
Sidi el Adel Bey war zu klug, um auch nur einen
Augenblick ans Gelingen der Empörung zu glauben. Er
wußte, welches elende Ende alle früheren Schilderhebungen
genommen hatten. Die Rebellion von 1864 war imposant
und mächtig aufgetreten, sie vereinigte wirklich die Mehrzahl
der kriegerischen Stämme der Regentschaft, und dennoch hatte
sie der schlauen Diplomatie des tunisischen ersten Ministers
unterliegen müssen. Die Schilderhebung von 1867 dagegen
war Kinderspiel im Vergleich mit jener. Sidi el Adel zählte
die Reiter und Schützen, die er gegen die Regierungstrnp-
Pen sichren konnte, und fand ihre Zahl sehr gering. Es
waren eigentlich nur zwei Stämme, über die er gebieten
konnte, und selbst diese waren nicht vollzählig. Diese Stämme
waren zwar gut beritten, aber schlecht mit Feuergewehren
versehen, und was sind Reiter gegen einen Artillerie ins
Feld führenden Feind? Die Kanonen des Bey von Tunis
waren zwar nicht die allerbesten, aber die Rebellen besaßen
deren gar keine! Sidi el Adel sah bald ein, daß er gezwnn-
gen worden war, sich an die Spitze einer durchaus hoff-
nungslosen Unternehmung zu stellen, und daß er sich in
einem recht unangenehmen Dilemma befand. Der Kampf
gegen den Bey und die freiwillige Unterwerfung unter den-
selben, das waren die beiden Dinge, zwischen denen er zu
wählen hatte, beide gleicherweise Verderben drohend.
Indessen der Prinz war jung nnd leichtblütig, wie ein
echter Araber. Ueber die düsteren Betrachtungen, zu denen
ihn der Ernst der Lage nöthigte, setzte er sich mit kühnem
Galgenhumor hinweg. Es giebt ein türkisches Sprüchwort :
„Entweder in die Wüste oder an den Galgen." „An den
Galgen" konnte es gehen, das wußte Sidi el Adel Bey.
Aber er tröstete sich mit dem Gedanken, daß es vielleicht
nur „in die Wüste" gehen werde. Leichtlebig wie er war,
genoß er den Augenblick. „Wein und Braten kommen zu-
erst, Rechnung und Zahlung kommen erst später," so dachte
er nach einem andern türkischen Sprüchwort und genoß einst-
weilen „Wein und Braten", unbekümmert um „Rechnung
und Zahlung", die ja erst später nachfolgen sollten.
Der Augenblick bot ihm allerdings herrliche Freuden
dar. Eine derselben war seine mit Pomp gefeierte Ver-
mählnng mit der Tochter des angesehensten Häuptlings der
Rebellen. Das ist stets die Art der nordafrikanischen Land-
araber, wenn sie einen Fürsten zu Gast haben, ihm ihre
Töchter auszuschwatzen. Gewöhnlich freilich können sie dies
nicht wagen. Ein selbständiger Fürst würde einen solchen
Antrag mit Schimpf zurückweifen. Denn die hiesigen Land-
araber sind nicht „edlen Blutes", wie die Beduinen Ära-
biens und Syriens. Einer der letzteren würde die Ehe mit
einem Fürsten, und sei er auch der mächtigste, gar nicht für
wünfchenswerth ansehen, denn die heutigen orientalischen
Fürsten sind Plebejer im Vergleich mit den stammesstolzen
Beduinen Arabiens und Syriens, nicht aber im Vergleich
mit denen Nordafrikas, deren reine arabische Abstammung
nur selten nachweisbar ist. Der Prinz beging also eigent-
lich einen Standesfehler. Aber er mußte ihn begehen, um
den Stämmen zu gefallen. Was ihn tröstete, war der Um-
stand, daß das Mädchen von den Arabern, die sie Alle ge-
sehen hatten, denn die Landfrauen gehen nicht verschleiert,
als ein Ausbund von Schönheit geschildert wurde.
Sidi el Adel war für weibliche Schönheit im höchsten
Grade empfänglich. Als ihm Sir«, so hieß die junge Ara-
berin, zugeführt wurde, ward er aufs Leidenschaftlichste hin-
gerissen. Er glaubte in den Himmel des Propheten einzu-
22*
172 H'einrich v. Maltzan: Zur Kenn
treten. Ein fesselnder Sinnenrausch bemächtigte sich seiner
und machte ihn gegen die ganze übrige Welt, ja gegen sein
eigenes Schicksal unempfindlich. Wochenlang beschäftigte
ihn nur die Geliebte. Wie im Rausch ließ er alle Festlich-
keiten, welche die Araber zu seiner Ehre und zur Feier seiner
Vermählung veranstalteten, an sich vorübergehen. Er sah
ihre Phantasias, ihr Dscherridwersen zwar an, aber er sah
sie wie durch einen Nebelschleier, so sehr waren seine Sinne
von der Leidenschaft berauscht. Seine Blicke ruhten auf den
arabischen Tänzerinnen, jenen braunen Terpsichoren der
Wüste, die ihren Körper wie eine Schlange zu winden und
wie ein Vogel zu entfalten verstehen, aber nur die Blicke
seiner Augen, nicht die seines Geistes. Sein Geist war bei
der Neuvermählten, und es dünkte ihm eine harte Probe,
daß die Feste ihn oft Tage lang aus deren unmittelbarer
Nähe entfernten, denn der Anstand gestattet nicht, daß Mann
und Frau sich zusammen öffentlich zeigen. So viel Zeit
aber, als er nur immer konnte, widmete er seiner Braut.
Überschwengliche Glückseligkeit! Aber leider auch die letzte,
die Sidi el Adel in diesem Leben genießen sollte.
Die Stunden, die der Prinz nicht bei seiner Braut zu-
brachte, mußten sogenannten „wichtigen Geschäften" gewid-
met werden. Eins dieser „Geschäfte" war, daß er in Ge-
fellfchaft der Stammesältesten Kußkussu aß und nebenbei
„Kriegsrath" hielt. Kriegsrath! Dies Wort erschien ihm
wie die bitterste Ironie, denn die ganze Berathung legte
eben nur zu deutlich an den Tag, wie die beiden Stämme
zum Kriege gegen europäische Waffen, wie sie der Bey von
Tunis besaß, durchaus untüchtig seien. Die Stammeshäupt-
linge freilich sahen das nicht ein, ja konnten es nach ihren
hergebrachten Ansichten gar nicht begreifen, denn ein Araber
räsonnirt so: „Wenn zwei Feinde auf einander stoßen,
von denen einer beritten, der andere zu Fuß ist, so muß doch
dem der Vortheil bleiben, der etwas vor dem andern „voraus
hat". Nun haben wir die Pferde vor dem Bey „voraus".
Darin hatten sie nicht ganz Unrecht. Aber der Bey, ob-
gleich seine Reiterei schlecht war, hatte Kanonen. Bei allen
schwachen Völkern, die Krieg führen wollen, gilt es für Ver-
rath, ihnen ihre Schwäche zu beweisen. Sidi el Adel mußte
sich also stellen, als nähme er den Kriegsrath ernsthaft auf.
Er gab sogar zuweileu seine eigene Meinung knnd, und diese
war nicht die schlechteste. Da die Stämme nur Reiterei
besaßen, so rieth er, den Feind auf einem für diese Massen-
gattnng günstigen Terrain zu erwarten. Man solle ihm
gar nicht entgegengehen, sondern abwarten, bis er, selbst die
Offensive ergreifend, durch die Gebirgsschluchten in die Wü-
stensteppe desiliren würde. Hinter den letzten Vorfprüngen
der Gebirge möchte man sich versteckt halten, erst die Hälfte
des Feindes aus den Bergen in die Ebene vordringen lassen,
dann ihm mit einer kräftigen Reitercharge in den Rücken
fallen, ihn zersprengen und die noch nicht in die Wüste vor-
gedrungene andere Hälfte ins Gebirge zurückdrängen.
In diesem Plane war noch die einzige Rettung für die
Sache der Rebellen. Wäre er angenommen worden, so hät-
ten sie sich vielleicht eine Zeitlang halten können. Aber die
ungestümen Araber fanden ihn zu langsam. Auch konnten
sie gar nicht begreifen, was denn der Bey ihren Truppen,
die, wie sie sagten, doch die Pferde vor den tunisischen Sol-
daten „voraus hatten", als Aequivalent gegen diesen Vor-
theil entgegenstellen könne. Hätte der Prinz ihnen gesagt,
„Artillerie und bessere Schießgewehre, als die Eurigen," so
würde dies, weit entfernt, sie aufzuklären, nur die Folge ge-
habt haben, den Prinzen zu verdächtigen. Wer den Arabern
von der Überlegenheit des Feindes redet, gilt für einen Ver-
räther. Sidi el Adel durfte also die wichtigsten Bestimmungs-
gründe seines Kriegsplanes nicht einmal zur Geltung bringen.
ichnung der Zustände in Tunis.
Der Prinz wurde überstimmt und man beschloß, die bei-
den Stämme sollten dem Feinde kühn auf dem ebenen Ter-
rain entgegen reiten und ihm eine offene Feldschlacht bieten.
So unsinnig dieser Plan auch war, so verfehlte er doch nicht
eine gewisse Wirkung hervorzubringen. Er wurde nämlich
von den verblendeten Häuptlingen mit solcher Zuversicht vor-
getragen, der Sieg schien den kühnen, aber beschränkten Män-
nern so gewiß, daß auch das Volk sich dem Wahne hingab,
unbezwinglich zu sein und schon berechnete, was es mit den
Truppen des Bey, die man bereits als Gefangenen ansah,
und der durch deren Besiegung ihm preisgegebenen Regent-
schast machen wolle.
Der Knegsplan eines arabischen Stammes, wenn über-
hanpt ein solcher vorkommt, kann niemals Geheimniß blei-
ben. So drang auch die Kunde von diesem kühnen An-
griffsplane bald durch die ganze Regentschaft, aber mit ihm
auch die Berichte über die siegesgewisse Haltung der Rebel-
len. Die Spione, an denen es in Nordafrika zu allen Zei-
ten und überall Ueberflnß giebt, brachten die Kunde nach
Tunis. Natürlich vergrößerten sie und schilderten in über-
triebenen Farben, wie es die Art aller arabischen Spione
ist. Die Folge davon war, daß die Rebellen für viel mäch-
tiger gehalten wurden, als sie es in Wirklichkeit waren. Die
Kuude von ihrer Absicht, eine offene Feldschlacht zu liefern,
machte, daß man ganz irre an ihrer Zahl wurde. Man
hatte geglaubt, es nur mit zwei Stämmen zu thun zu haben,
aber jener Plan schien eine viel bedeutendere Macht zu ver-
rathen. Daher großer Schrecken in Tunis! Unter den
Bürgern entstand sogar eine wahre Panik, nachdem ein be-
liebter öffentlicher Erzähler die große Macht der Empörer
und die kleine des Bey in lebhaft übertriebenen Farben ge-
schildert, zum Gegenstand eines feurigen Vortrages gemacht
hatte.
Die Tuniser hatten wenig Vertrauen zu den Truppen.
Sie ahnten nicht, daß selbst die erbärmliche Artillerie des
Bey im Stande sei, die Rebellen in einer Viertelstunde zu
Paaren zu treiben. Sie glaubten vielmehr mit Sicherheit
an den Sieg der Insurgenten.
Der jähe Schrecken, welcher sich der Bürgerschaft bemäch-
tigt hatte, verfehlte nicht, auch nach oben hin ansteckend zu
wirken. Der feige Hof zitterte in feinen Schnhen vor dem
Zorne der Rebellen. Der Bey und fein Minister waren
nahe daran, den Kopf zu verlieren. Die gewöhnliche Aus-
flucht aller feigen Menschen, die Gefahr bedroht, wurde auch
hier hervorgesucht. Man schrie über Verrath. „Verrath",
dieses Wort von ungeheurer Tragweite, dessen falsche Deu-
tung die Unschuldigsten an den Galgen bringen kann, dies
Wort beherrschte Stadt und Hof und war die Parole des
Miuisterrathes geworden. Der Bey schrie, man habe ihn
verrathen. Der erste Minister durfte dem nicht widerfpre-
chen, denn der Bey war hierin im Einklang mit der Volks-
stimme, und die Volksstimme ist in Kriegszeiten eine fana-
tische Macht, der selbst die Größten unter den Großen ge-
horchen müssen.
Da der Bey von „Verrath" sprach, so mußten doch
„Verräther" vorhanden sein. Diese Verräther ausfindig
zu machen, war der Befehl, welchen der Fürst dem ersten
Minister gab. Der verblüffte Staatsmann mußte also aus
allerhöchstes Geheiß seinem Gebieter durchaus einige „Ver-
räther" als Opfer feines Zornes liefern. Wo sollte er sie
hernehmen? Ein Anderer wäre in Verlegenheit gekommen,
denn wirkliche „Verräther" waren schlechterdings nicht vor-
Händen. Aber der Minister wußte sich zu helfen. Er be-
sann sich einen Augenblick und wählte die angesehensten unter
seinen persönlichen Feinden, die er so auf gute Manier unter
dem Titel „Verräther" dem Henker überliefern konnte.
Heinrich v. Maltzan: Zur Kenn
Es gab zu jener Zeit in Tnnis zwei hochangesehene
Männer, welche dem Minister schon lange ein Dorn im
Auge gewesen waren. Der eine hieß Mohammed es Sunny
und war eine Art von Staatssecretär, hatte auch Sitz und
Stimme im Miuisterrathe. Dort hatte sich Mohammed
erfrecht, den habsüchtigen Plänen des ersten Ministers ent-
gegenzutreten. Er war sogar so weit gegangen, das ganze
System von Diebstahl und Lüge, das den Staat an den
Bettelstab gebracht, den Minister aber zum Erzmilliouär
gemacht hatte, auszudecken. Dies Verbrechen mußte gesühnt
werden.
Mohammed es Snnny wurde also nun als der erste
„Verräther" bezeichnet. Auf welche Weisser deu„Verrath"
begangen, war freilich schwer zu ermitteln. Es fehlte an
jeglichem corpus delicti. Aber der Minister war nicht iu
Verlegenheit, ein solches zu entdecken, man lese: zu erfinden.
Er ließ seinem Feinde dessen schönstes Pserd aus dem Ställe
herausstehlen, auf die Seite schaffen und trat dann mit der
kühnen Anklage auf, Mohammed habe dies Pferd dem Priu-
zeu Sidi el Adel Bey zu dessen Flucht geschenkt.
Der Unglückliche wurde vor den Bey, als höchsten Nich-
ter, beschieden. Der Minister klagte ihn an und zwar in
den allerhärtesteu Ausdrücken, die Rebellion begünstigt zu
haben. Mohammed versuchte zwar seine Rechtfertigung, aber
umsonst. Der Bey, zum höchsten Zorn aufgestachelt, fchrie
ihn an: „Wo ist das Pferd, das Du früher bei Festen zu
reiten pflegtest? Wo ist Dein bestes Reitpferd hingekom-
meu? Führe es mir vor und Du bist gerechtfertigt."
Mohammed hatte gut sagen, das Pferd fei ihm gestohlen
worden. Der Bey war schon so gegen ihn eingenommen
und vom Minister bearbeitet, daß er kein Wort glaubte. Auch
hatte der Minister seine Mittel zu schlau gewählt, um eine
Widerlegung wahrscheinlich erscheinen zu lassen. Denn ein
solcher Pserdediebstahl wäre in der That in Tunis etwas
Unerhörtes gewesen. Kein gewöhnlicher Dieb konnte es
wagen, ein durch seine Schönheit so wohlbekanntes Pferd zu
stehlen. Er hätte es nie verkaufen oder selbst reiten können,
ohne seine Hant zu Markt zu tragen. Kostbare Pferde kön-
nen in Tunis nnr von hohen Personen gestohlen werden.
Aber solche des Diebstahls anklagen, ist Todesgefahr.
Mohammed es Suuny's Entgegnung wurde also mit
Hohn zurückgewiesen. Das Gerichtsverfahren orientalischer
Despoten ist schnell. Der Bey gab ein Zeichen und vor
ihn trat ein kräftiger Kerl mit unbekleideter, haariger Brust,
einem Strick in der einen, einem Schwert in der andern
Hand. Es war der Scharfrichter von Tunis. An seiner
nackten, haarigen Brnst war er in der ganzen Stadt kennt-
lich, und der Ausdruck „Haare auf der Brust" galt fyno-
nym mit Todesstrafe. „Wirf Dein Schwert fort," rief ihm
der Bey zu. Dies war das Zeichen, daß er den Strick ge-
brauchen sollte. Im Nu war dieser zu einer Schlinge ge-
wunden und um Mohammed's Hals geschlungen. Der
Scharfrichter warf deu Unglücklichen auf den Boden, trat
auf ihn und zog dann die Schlinge fest und immer fester,
bis der Erdroffelungstod die Leiden des Hingerichteten be-
endet hatte. Bey und Minister sahen dem schauerlichen
Schauspiel zu, ohne eine Miene zu verziehen.
Das andere Opfer der persönlichen Rache des ersten Mi-
nisters war ein gewisser Sidi Reschid. Sein Verbrechen
war, daß er früher als Kaid (Gouverneur) einer Provinz
dieselbe ehrlich verwaltet, d.h. dem Minister nicht die Hälfte
der Einkünfte ausgezahlt, sondern diese dem Staatsschatz ge-
schickt hatte. Für solche Frevel sollte er nun büßen. Der
Minister stempelte ihn zum „Verräther". Die Geschichte
mit dem Pferde ließ sich nicht gut ein zweites Mal in Scene
setzen, ohne den Verdacht der Erfindung zu erregen. Des-
chnung der Zustände in Tunis. 173
halb mußte etwas Anderes erfunden werden. Sidi Reschid
hatte dem rebellischen Prinzen Geld geliehen und zwar gleich
eine „Million". Geringe Summen machen auf Orientalen
keinen Eindruck. Das wußte der Minister. Eine „Mil-
lion" aber ist für sie ein so „mysteriöses" Ding, daß das
bloße Nennen des Wortes stummes Staunen, in solchen
Fällen, wie der vorliegende, selbst Grauen erregt.
Eine Million hatte freilich Sidi Reschid nie besessen.
Aber der Minister wußte es besser. Er behauptete, genaue
Keuntniß von dem Vermögen Reschid's zu besitzen, und
brachte sogar Zeugen, die man immer für Geld haben kann,
dafür auf, daß Sidi Reschid noch vor acht Tagen eine Mil-
lion sein genannt habe. Eine Million in harten Thalern!
So sagten die gemieteten Zeugen aus. Wo war diese
„Million" hingekommen? Sie befand sich nicht mehr in
den Kellern Sidi Reschid's, wo sie die wahrhaftigen Zeugen
noch vor Kurzem gesehen (und wahrscheinlich gezählt?) hat-
ten. Die „Million" war verschwunden. Wo war sie hin-
gekommen? Wohin anders, als zu den Rebellen?
Sidi Reschid wurde also gleichfalls vor den Bey beschie-
den und aufgefordert, das Verschwinden seiner „Million"
zn erklären. Sprachloses Erstaunen ergriff ihn, denn er
war sich bewußt, auch nie den fünfzigsten Theil dieser Summe
besessen zu haben. Nun sollte er über etwas Rechenschaft
geben, wovon er vor einer Stunde noch nicht geahnt habe,
daß die boshafte Erfindung seiner Feinde es aushecken könne.
Er vermochte es natürlich um so weniger, als diese Million
nie vorhanden gewesen war, mithin nicht hatte verschwinden
können. Alle seine Betheuerungen halfen jedoch nichts. Die
Zeugen waren gegenwärtig. Gläubige Moslems sind stets
wahrhaftige Zeugen, und Moslems waren die Leute, welche
„die Million" gesehen zu haben behaupteten und dies be-
schworen.
Das Loos Sidi Reschid's war demnach unwiderruflich
entschieden. Doch beging man diesmal nicht die Rohheit,
ihn öffentlich und im Gerichtssaal selbst erdrosseln zu lassen,
denn schon hatten sich Stimmen in der europäischen Colonie
über diese Barbarei empört geäußert uud man mußte das
menschenfreundliche Zartgefühl der Europäer schonen. Ein
Recht, Vorstellungen in dieser Sache zu machen, besaßen
freilich jene nicht. Aber man hatte die Europäer durch frü-
here Nachgiebigkeit verwöhnt. Zudem ist der Regierung
stets daran gelegen, die Billigung ihrer Handlung und Zu-
stimmung von Seiten der Europäer zu erhalten. Man
stand also von der öffentlichen Hinrichtung ab. Den Eon-
sulu sagte man sogar, Reschid solle gar nicht hingerichtet
werden. Aber das war nur diplomatische Lüge. Sidi Re-
schid wurde ins Gesängniß znrlickgesührt. Dort empsing
er bald den Besuch des „Maunes mit der haarigen Brust",
der in der Erdrosselung eine solche Praxis besaß, daß Sidi
Reschid wenigstens eines schnellen Todes starb. Noch ehe
der Abend kam, hatte der erste Minister auch diesen blutige»
Zweck erreicht.
Indessen wie geheim auch Sidi Reschid's Hinrichtung ge-
halten worden war, so drang ihre Kunde doch ius europäi-
sche Viertel. An derjenigen von Mohammed es Sunny
war ohnehin gar nicht zu zweifeln gewesen. Dieser doppelte
Justizmord empörte die Europäer, namentlich die Confuln,
von denen mehrere in freundschaftlichen Verhältnissen zu den
Hingerichteten gestanden hatten. Ein Recht, Einwendungen
zn machen, hatten sie, wie gesagt, dem Buchstaben des Ge-
setzes nach nicht. Aber zur Ehre der Menschlichkeit wichen
sie diesmal von ihrer Buchstabenkrämerei etwas ab. Einige
begaben sich zum Bey und sagten ihm in kurzangebundenen
Worten, wie tief eine solche Barbarei ihn in den Augen der
civilisirten Welt stelle und wie sehr sie im Widerspruch mit
174 ° Aus allen
seinen eigenen Prätensionen, als ein „civilisirter" Fürst gel-
ten zu wollen, stehe.
Der Bey glaubte wirklich, die Hingerichteten seien Ver-
räther gewesen. Seine Entschuldigungen hatten also wenig-
stens die Grundlage eines gute» Gewissens, denn er ver-
meinte, in vollem Rechte gehandelt zu haben. Aber den
ersten Minister trafen die gerechten Borwürfe desto em-
psindlicher, indem er allein die ganze Sache angezettelt und
zwei unschuldige Menschen, bloß weil sie seine Gegner ge-
wesen waren, durch seine Jntriguen zum Henkertode ge-
bracht hatte.
Indessen das Geschehene ließ sich nicht wieder gut ma-
chen, wohl aber die Wiederholung ähnlicher Grausamkeiten
verhindern. Zu solchen konnte die bald darauf erfolgte Ge-
fangennahme Sidi el Adel's neue Gelegenheit bieten. Die
Confulu befürchteten, und mit dem triftigsten Grunde, denn
sie kannten den Haß des Wesirs gegen den Prinzen; sie
ließen sich deshalb vom Minister das Versprechen geben,
den Prinzen nur uach regelmäßig gepflogener Untersuchung
zu strafen. Der Minister versprach es. In Versprechun-
gen war er überhaupt unerschöpflich. Er ging sogar noch
weiter als die Cousuln verlangten. Er verpfändete sein
feierliches Ehrenwort, nicht nur für die unparteiische Unter-
suchung der Handlungen Sidi el Adel's, sondern auch dafür,
daß derselbe in keinem Falle, selbst nicht bei dem ungünstig-
sten Resultat der Untersuchung, hingerichtet werden solle,
und dieses Versprechen wurde vom Bey bestätigt.
A « s allen
Turkestanische Erzeugnisse auf der Ausstellung zu
Moskau.
Dieselben bilden eine eigene Abtheilung und man kann so-
fort mit einem Blicke übersehen, welchen Productenreichthum
Turkestan aufzuweisen hat. Dasselbe ist eine wichtige Erwer-
bung Rußlands nicht bloß der geographischen Lage und der Po-
litischen Stellung halber, sondern auch in volkswirtschaftlicher
Hinsicht. Vor nun eis Jahren begann Rußland dort feine Er-
oberungen; Tafchkend wurde zur Hauptstadt erklärt, Samarkand,
die Stadt Timurs, vor vier Jahren, Kuldscha, das nicht minder
wichtig, im Juli 1371 in Besitz genommen.
In der turkestanischen Abtheilung sind die Wände mit Kar-
ten von Jnnerasien bedeckt. Auf der einen ist das Bordringen
der russischen Wasfen nach Sllden hin anschaulich gemacht; eine
andere zeigt die Operationen während der verschiedenen Feld-
züge; auf wieder anderen findet man Pläne der wichtigsten
Städte. Sodann sind auf besonderen Blättern das Borkommen
der Steinkohle, der Anbau der Baumwolle, die goldführenden
Bergströme verzeichnet. Man sieht Photographien von Städten
und Dörfern. — Sehr reichhaltig ist die Mineralogie vertre-
ten, namentlich durch Kohle, Kupfer, Eisen, Blei, Graphit und
einige Arten von Türkis. Bon großem Werth ist die botani-
fche Abtheilung mit den vielen neuen und nützlichen Pflanzen
aus den Gebirgen von Kafchgar und dem Thian fchan, z. B.
Delphinium hybridum, das eine glänzend gelbe Farbe giebt,
Horodasma foetidum, eine Umbellifere, aus welcher Asa foe-
tida gewonnen wird; Dorema ammoniacum, Athagi came-
lorum, Papaver somniferum, Ricinus rheum und andere
Arzneipflanzen, alle in ausgezeichneten Exemplaren. Bon Wich-
tigkeit ist der Keudir, eine Art Hanf, welchen die Kirgisen
bauen; er giebt eine längere und stärkere Faser als unfer Hanf.—
Die Baumwolle hat eine besondere Abtheilung für sich; man
sieht dort alle Arten von Samen und Stapeln, roh, gereinigt-
Jene von Buchara und Samarkand liegt neben der feinern von
Taschkend, welche von einem Herrn Rajewski und anderen rufst-
fchen Pflanzern theils aus turkestanifchem, theils aus amerika-
nifchem Sanien gezogen wird. — Man sieht ferner Baum-
wottenpapier aus Chokand und Kartenblätter aus Kuldscha,
Baumwollengewebe aus Kuldfcha und Scherisebs, übertrieben
bunt mit allen Farben des Regenbogens. Auch fehlen gemischte
Gewebe aus Seide und Baumwolle nicht, in deren Herstellung
die Tataren Tüchtiges leisten. In der Kleiderabtheilung findet
man alle Trachten Jnnerasiens vertreten, auch Pelze und Pelz-
kappen vom Bär, Wolf, Marder, Fuchs, Tiger ?c. Ziegen-
und Schaffelle, die in Jnnerasien eine so große Rolle spielen,
sind vollständig vertreten.
Erdt heilen.
WaS Seide anbelangt, so findet man eine Sammlung
von Cocons aus Samarkand, Chokand, Chodfchend, Taschkend,
Buchara und Margilan. Die Seidenverfertigung ist vom Ab-
haspeln an in allen ihren Stadien veranschaulicht, und die ver-
fchiedenen Werkzeuge und Maschinen sind gleichfalls aufgestellt.
Man sieht Satins, Atlas, Foulards und allerlei andere ein-
heimische Gewebe, die man in Europa nicht einmal dem Namen
nach kennt. — Auch in Goldschinied- und Juwelierarbeiten lei-
stet Turkestan Vorzügliches. Dafür liefern die Geschenke der
Chane von Buchara und Chokand an den russischen Kaiser und
den Statthalter von Turkestan den Beweis; freilich zeichnen sie
sich mehr durch Masfenhaftigkeit und, wenn man will, durch bar-
barischen Glanz als durch zierliche Arbeit aus; sie sind alle für
russische Damen bestimmt. — Wir erwähnen ferner der Pferde-
zäume von Sammet mit Goldstickereien, eines goldenen Sattels
und silbernen Husbeschlages. Die Türkise sind in der Regel
nur halbpolirt. Die Tischler und Drechsler leisten Borzügli-
ches; sie liefern hölzerne Kasten, die wahrhaft künstlerisch sind;
die alte Kunst der Holzmosaik lebt noch heute in Taschkend. Die
Modelle von Moscheen bezeugen, daß auch die Holzschnitzerei
nicht etwa zurückgegangen ist.
Die ethnographische Abtheilung verdient ganz beson-
dere Aufmerksamkeit. Man sieht zunächst viele Gruppen Hölzer-
ner Figuren; jede derselben stellt einen Typus der eingeborenen
Bevölkerung dar; Physiognomien, Hautfarbe und Kleidung sind
mit der größten Treue wiedergegeben. Auch sieht man diese
Asiaten bei ihren verschiedenen Beschäftigungen. In der Bude
eines Schneiders hängen weite, lange Gewänder; der Herr
Schneidermeister spielt Karten mit einem seiner Kunden, der die
neueste Mode zur Anschauung bringt. In der Barbierbude —
bis zum „Haarschneide- und Rasirfalon" haben es die tnrke-
stanifchen Bartkratzer und Kopfputzer noch nicht gebracht — be-
arbeitet der Künstler den Kopf eines ernst vor sich hinblickenden
Türken. In den Kaffeehäufern sitzen Gruppen umher, still und
ruhig; sie bilden einen Gegensatz zu der Lebhaftigkeit in der
Bude eines Kochs, wo viele Leute ein Frühstück einnehmen. Der
Kirgife singt in seinem Zelte, der Usbeke zieht mit seiner Herde
auf einen frischen Weidegrund; auch fehlt nicht der bucharische
Jude mit seinem verschmitzten Blick und einer superaquitinen
Semitennase. Sodann sieht man Modelle turkestanifcher Häufer;
sie gewähren einen Einblick in das Familienleben. Im großen
Vorderzimmer sitzen Gäste, denen die Tabackspfeife und Confect
gereicht wird. Selbst das Harem ist uns nicht verschlossen; wir
sehen, wie die Frauen mit Kleidermachen und Korbflechten be-
schästigt sind.
Die Waffen nehmen einen ganzen Saal ein. Wenn man
die alten Lanzen und Kanonen betrachtet, wird einem sofort
Aus allen
klar, weshalb die Russen mit ihren gezogenen Kanonen und
Hinterladern so große und rasche Erfolge haben konnten. Ein
bucharischer Soldat trägt eine Art von Uniform aus Baum-
wolle und hat ein Zelt von Filz. — Kuldscha ist Vorzugs-
weife durch buddhistische Götzenbilder und Proben von Kohlen
und von Metallen vertreten. Es liesert Salpeter in großer
Menge. Auch sind einige chinesische Marterwerkzeuge von dort
ausgestellt worden.
Aus der Türkei.
R. K. Die türkischen Bahnbauten schreiten rüstig vor-
wärts. Allein auf europäischem Boden sind nahe an 550 Kilo-
meter in Bau oder bereits vollendet. So die Linie Banjaluka-
Nowi (100 Kilometer), freilich eine der unglücklichsten Anlagen,
da ihr im Westen jeder Anschluß an die österreichischen Bahnen
fehlt, wodurch sie allein Bedeutung erhalten könnte, und ihr im
Osten die bosnischen Berge und Thalschluchten gar bald ein
„Bis hierher und nicht weiter!" gebieten werden, zwar nicht
hinsichtlich der technischen Schwierigkeiten, aber wohl des Kosten-
Punktes. Weit vernünftiger und voraussichtlich rentabler sind
die Bahnen im Maritzathale, wie die etwa 148 Kilometer
lange von Adrianopel nach Dede aghatsch, einem kleinen
Häusercomplexe am Meere, nördlich von Enos, welcher durch
Hafenanlagen und als Eifenbahnendpunkt voraussichtlich bald das
ohnehin ungünstig zwischen Sümpfen gelegene Enos weit über-
flügeln wird. So die Linie Adrianopel-Philippopel, von
der fchon 63 Kilometer bis Harmanly vollendet sind, und die
Wardarbahn von Salariki nach Ueskub. Letztere soll dieser
Tage bis Mirooce (162 Kilometer) eröffnet, der Rest bis Ueskub
im November vollendet und dann die weitere Strecke bis Pri-
stina in Angriff genommen werden. Ihre Stationen sind Sa-
loniki, Topschin, Jajaly, Amatowo, Karafuli (hier geht sie auf
das rechte, westliche Ufer), Gjewgjelu, Mirovie (nun auf dem
linken Ufer durchs eiserne Thor), Demirkapu, Negotin (von hier
an wieder aus dem rechten User), Kjöprülü, Seleniko, Uesküb.
So wäre denn bald der Wunsch des verstorbenen Generalconsuls
v. Hahn, für den er fo rastlos gearbeitet hat, wenigstens zur
Hälfte erfüllt. Aber auch nur zur Hälfte, denn so lange nicht
fein Project einer directen Verbindung von Belgrad mit
Saloniki längs des Wardar und der Morava, jener von ihm
entdeckten bequemsten Bahnlinie zwischen Donau und Aegäischem
Meere, ganz ausgeführt wird, und so lange die kurzsichtige tür-
tische Politik oder besser Eifersucht auf das emporstrebende Ser-
bien jenen Bau verhindert und der Wardarbahn ihre Fortsetzung
gegen Nordwesten ins bosnische Gebirge anweist, so lange wird
auch letztere wie Banjaluka-Nowi ein verfehltes Unternehmen
bleiben. Schließlich wäre noch die 71 Kilometer lange Bahn
Konstantinopel-Tschatoldscha zu nennen, welche von Jedi
Kule, den als ehemaliges Staatsgesängniß bekannten sieben Thür-
men im äußersten Südwesten Stambuls, bis Kutschuk-Tschek-
medsche eröffnet ist. Dieselbe hat sogar eine Verlängerung nach
Osten durch die Türkenstadt Stambul selbst hindurch erhalten.
Bei Sirkedschi Skelessi (Landungsplatz der Essighändler) zwischen
der großen Galata und Stambul verbindenden Hafenbrücke und
Serai-Burun (Palastspitze), wo die Gewässer des goldenen Horns
mit denen des Bosporus sich mischen, ist ein provisorischer Bahn-
hos hergerichtet. Von dort geht die Bahn in südlicher Richtung
quer durch das sonst so unnahbare, jetzt aber unbewohnte alte
Serail, das mit seinen zum Theil niedergerissenen Umfaffungs-
mauern und Gebäuden einen wüsten, unordentlichen Anblick
darbietet. Die Schienen durchschneiden die Türkenstadt und,
nach Westen umbiegend, sobald sie das Marmorameer erreichen,
führen sie längs desselben bis Jedi Kule. Beim Abreißen der
im Wege stehenden Gebäude und bei den Erdarbeiten ist man
auf zum Theil recht interessante Alterthümer gestoßen, z. B.
aus große unterirdische Gewölbe, auf zwei kolossale steinerne
Löwen u. s. w. An der Küste wurde eine steinerne Fa^ade
bloßgelegt, welche der beste Kenner des alten Byzanz, Dr. Pas-
pati, ein Grieche, gestützt auf Angaben byzantinischer Autoren,
Erdth eilen. 175
für den Palast des Justinian hält. Derselbe Herr fand auch
vor einiger Zeit beim Thurme des Isaak Angelos die bis dahin
unbekannten Gefängnisse des Anemas, unterirdische Gewölbe, in
welche bei Palastrevolutionen die entthronten Kaifer gesperrt
wurden.
Es ist zu bedauern, daß die neugriechisch geschriebenen Ar-
beiten dieses Herrn, welche in den Schriften der dortigen griechi-
fchen philologischen Gesellschaft (o lv Kwyarccrzn'ovnoXei cEk-
h]vr/.og cpv'koXoyiy.og (rvhkoyog) erfchienen sind, bei uns keine
Beachtung und Würdigung finden. Jene Gesellschaft erwirbt
sich übrigens jetzt das Verdienst, unter Aufsicht ihrer archäolo-
gischen Section einen vergleichenden Plan des alten und neuen
Konstantinopel (Skambul) durch eigens dazu engagirte griechische
Ingenieure neu aufnehmen zu lassen, auf welchem die Reste der
einzelnen großen Epochen durch verschiedene Farben hervorge-
hoben werden, und welcher nach den bis jetzt vorliegenden Pro-
ben viel verspricht. Dies ist um so wichtiger, als der beste
vorhandene Plan der türkischen Hauptstadt, der des verstorbenen
Ingenieurs Stolpe, viele Unrichtigkeiten enthält und z. B. die
berühmten dreifachen Ziegelmauern Stambuls (welche übrigens,
nebenbei bemerkt, auch schon hier und da, wie in unserm deut-
schen Nürnberg, moderner Bau- und Zerstörungslust zum Opfer
fallen), namentlich in ihrem nördlichen Zuge am Blachernen-
quartier ungenau darstellt. —
Fast scheint es, als stiege in den Köpfen der Türken die
Einsicht auf, daß bei zunehmenden Eisenbahnbauten und wach-
senden: Verkehr mit dem Westen es mit ihrer faulen, betrüge-
rifchen, nichtswürdigen Herrschaft auf europäischem Boden ein-
mal ein Ende nehmen könne, und daß sie darum den drohenden
Verlust im Westen durch neue Erwerbungen im Osten einzu-
bringen bemüht sind. Zuerst kam vor einigen Wochen ein Tele-
gramm nach Europa, wonach die Türken nach kurzem Kampse
Sana besetzt hätten, jene Stadt in Bemen, welche den Lesern
dieser Zeitschrist durch Halsvy's Reisen bekannt ist („Globus" XXI;
S. 253 und 298). Auf den meisten Karten von Arabien wird
übrigens die türkische Grenze im Süden der Halbinsel viel zu
weit gegen Osten gezogen. Wie schon aus dem Verzeichniß der
Liwa- und Kasahauptstädte im alljährlich erscheinenden Salname
oder Staatshandbuch hervorgeht, erstreckte sich bisher ihre Herr-
schaft südwärts von Mekka nur aus einen schmalen, kaum 10
bis 12 deutsche Meilen breiten Küstenstreifen.
Aber auch von Osten her rücken die Türken dem freien
Centralarabien zu Leibe, und zwar schon seit zwei Jahren, und
das ganz im Stillen. So berichtet die englische Zeitschrift „Ocean
Highways", nach einer arabischen, zu Bagdad erscheinenden Quelle.
Bis jetzt haben sie einen großen Theil der Landschaft el Hafa
oder Ahsa am Persischen Meerbusen besetzt, wo sie in ihrer
Hauptstation Hofuf eine Politik des Abwartens befolgen und
sich vorläufig häuslich einrichten, indem sie Baracken, Hospitäler,
Ställe, Windmühlen ;c. erbauen. Der Berichterstatter schildert
das Land als sehr verarmt, aber überall mit Anzeichen frühe-
rer Fruchtbarkeit und Wohlstandes. Das Volk im Innern,
sagt er, lebt meist von Datteln und gesalzenen Heuschrecken und
weiß kaum, was Brot ist. Bisher wurde der ganze Proviant
für die Truppen von Basra herbeigeschafft; aber Dank den
Anstrengungen, die man machte, um an Ort und Stelle Ge-
treide zu säen, wird man in Zukunft nur noch die Hälfte der
erforderlichen Eerealien einzuführen brauchen. Die Hauptdinge,
woran Nedschd reich ist, sind Datteln und Glas. Hinsichtlich
des letztern Artikels scheint es, daß man eine feine Art Letten
gefunden hat, aus der man das feinste Glas herstellen kann.
Midhat Pascha, welcher Proben davon sah, soll dieselben nach
Indien gesandt haben, um aus diesem Funde möglichsten Nutzen
zu ziehen.
Eine Expedition nach Tung king.
r. k. Ein neues Land soll der Wissenschaft erschlossen wer-
den, und zwar diesmal durch die Franzosen. Die Pariser geo-
graphische Gesellschaft hatte nämlich beschlossen, ihren Reservefond
176
Aus allen
Erdth eilen.
von 19,000 Francs einen: wissenschaftlichen Reisenden zurDispo-
sition zu stellen. Der Schisfslieutenant De la Porte, welcher
die Mekhong-Expedition mitmachte, ist der Erwählte. Er will
sich überzeugt haben, daß eine rasche und leichte Verbindung
mit Centralchina durch Tung king, das nördliche Annam, sich
herstellen lasse, und will nun den Lauf des Flusses Song-ka
so weit als möglich verfolgen. Das Land ist in der That
eine terra incognita. Außer einigen englischen Küstenausnah-
men und ein paar Erkundigungen Gützlaff's ist nämlich unsere
einzige Quelle für die Geographie Annams Taberd's Karte,
welche auf einheimischen Quellen beruht und in einem seltenen,
1838 zu Calcutta gedruckten annamitisch-lateinischen Wörter-
buche versteckt ist.
A u st r a l i c n.
Wenn man erwägt, daß die Kolonie Victoria nur etwa
so viel Einwohner zählt wie einer der Verwaltungskreise z. B.
des Königreichs Sachsen, dann darf nian billig über die Han-
delsbewegung derselben erstaunen. Sie hatte 1869 und 1870
durch Dürre gelitten und die Wollpreise waren niedrig, aber
das Jahr 1871 war sehr günstig; durch das Steigen der
Wollpreise gewann sie mehr als eine Million Pfund Sterling;
die Getreideernte war gut, die Goldproduction im Steigen. Die
Einfuhren betrugen ldas aus Neuseeland importirteGold, das
nach Melbourne kommt, um von dort nach Europa verschifft zu
werden, nicht mitgerechnet) 9,834,472 Pf. St.; demnach etwa 1 y2
Million weniger als 1869. Die Ausfuhren stellten sich (das
aus anderen Colonim angebrachte Gold nicht mitgerechnet) auf
14,557,820 Pf. St.
In den achtzehn Jahren von 1854 bis 1871 betrug der
Werth der
Exporte.... 245,841,193 Pf. St.
Importe . . . 254,220,037 „
Summa . . 500,061,220 Pf. St.
Also mehr als drei Milliarden deutscher Thaler. Der
intcrcoloniale Verkehr ist sehr unverständiger Weise durch hohe
Einfuhrzölle erschwert, und indem die Kolonien sich von dem
frühern Freihandel, der unter ihnen bestand, abgewandt haben,
leiden sie sämmtlich. Von Wichtigkeit für Victoria ist das Prä-
servirte Fleisch geworden. Davon wurden 1867 für erst
5864 Pf. St. ausgeführt, 187! schon für 355,273, Talg für
469,069 Pf. St.
Die „präservirte Fleischcompagnie" zu Melbourne hat für
das abgelaufene Verwaltungsjahr 10 Procent Dividende gezahlt
und andere Kompagnien, z. B. in Geelong, Warnambool und
Salt Water River, machen gleichfalls gute Geschäfte.
* * *
— Die Portugiesen besitzen einen Theil der Insel Ti-
nior im östlichen indischen Archipelagus; sie bezahlen aber ihre
Beamten manchmal Jahre lang nicht. Kein Wunder, daß
namentlich die Justizverwaltung in traurigem Zustande ist.
Weder der Oberrichter noch der Staatsanwalt sind des Schrei-
bens kundig.
— „Solche Einrichtungen sollte man in unserer
corrumpirten Republik einführen, sie wären hier
wohl angebracht." So äußert sich ein nordamerikanisches
Blatt mit einem gewissen Galgenhumor und erzählt Folgendes:
„Diesmal nicht in Washington, sondern zu Peking in China
sind wieder Fälle amtlicher Korruption in großartigem Maß-
stabe an den Tag gekommen. Der Kaiser hatte den armen
Leuten in der Provinz Tschi li in Folge der durch die Rebellen
angerichteten Verwüstungen die Landtaxe (Grundsteuer) erlassen;
trotzdem wurde diese von den Mandarinen erhoben. Die Bauern
setzten den Kaiser vermittelst einer Bittschrift von Allem, was
vorging, in Kunde, und sofort wurde ein Obermandarin von
Häschern gefangen genommen. Er mußte die erpreßten Steuern
zurückzahlen, 62 Taels für den Unterhalt der Häscher blechen und
wurde, in einen Käfig gesperrt, dem Volke zur Schau ausgestellt.
Außerdem bekam er nach und nach nicht mehr und nicht weniger
als siebenhundertHiebe mit dem Bambus und mußte auch
den Halsblock tragen. — Freilich die Chinesen sind Barbaren,
wir aber sind christlich - civilisirte Republikaner und hüten uns
wohl, den Schurken (rascals), welche Volk und Staat bestehlen
und betrügen, auch nur ein Haar zu krümmen."
— Der amtliche Polizeibericht für dieStadtNeu-
York weist nach, daß im Jahre 1871 verhaftet worden sind
84,514 Personen. Davon waren 60,179 männlich, 24,335 weib-
lich; verheirathet waren 32,553, die übrigen ledig; 77,624
konnten lesen und schreiben, 3422 nur lesen, 3467 keins von
beiden. Eingeborene der Vereinigten Staaten waren 30,916;
aus Irland 38,009, England und dessen Besitzungen 4385, aus
Deutschland 9597, aus anderen Ländern 1607. — Wegen
Trunkenheit wurden verhaftet 31,184; — wegen Trunken-
heit, verbunden mit Unfug 10,330; wegen Unfugs und
unordentlicher Aufführung 18,671; — wegen anderer Kontra-
ventionen 24,329. Was schwere Verbrechen betrifft, so sind ver-
haftet worden wegen Brandstiftung 31; — Einbrechen 459; —
Mord und Todtschlag 63; — Ausgabe falschen Geldes 34; —
großer Diebstähle 1503; — Raub 336 Personen.
— Der Branntwein spielt in den Vereinigten Staaten
eine böse Rolle; die amtlichen Angaben des Departements der
inneren Steuern geben dafür den Nachweis. Die Zahl der
Brennereien beträgt 215; dieselben liefern täglich 267,682 Gallo-
nen. Nimmt man die Zahl der stimmberechtigten Männer auf
etwa 5 Millionen, so kommt auf jeden täglich x/3 Pinie, oder
1,741,456 Pinien; man kann für einen „mäßigen Trinker und
Toper" eine halbe Pinte annehmen. Es giebt aber auch viele
geheime Brennereien, welche die Steuer umgehen und deren
Production also nicht bekannt wird. Der „Herald" bemerkt
dazu: „Wer könnte behaupten, daß die Amerikaner kein Brannt-
wein trinkendes Volk sind? Vom I. August an betrügt die
Steuer 70 Cents auf die Gallone. Wenn die Production so
bleibt wie bisher, dann wird die Branntweinsteuer der Re-
gierung täglich mehr als 150,000 Dollars und im Jahre etwa
50,000,000 Dollars einbringen!"
— In San Francisco hielt am 24. Juni ein verstän-
diges Mädchen, Fräulein Loomis, einen öffentlichen Vortrag
über die „Frauenstimmrechtsfrage". Als sie auseinandersetzte,
daß das geeignete Feld sür eine segensreiche Wirksamkeit der
Frauen das Haus und die Familie, nicht aber politische Partei-
kämpfe:c. seien, wurde sie ausgezischt und verhöhnt, denn es
hatten sich viele weibliche „Suffragisten" (so bezeichnet man die
emancipirten Stimmrechtlerinnen jetzt) eingefunden, welche kei-
nen Widerspruch ertragen konnten. Ein Herr David Meeker
wies sie zurecht und erklärte ein solches Betragen sür ungezogen.
Darob ergrimmte Mistreß Emily Pitts Stevens; sie zog einen
Revolver, hielt denselben Herrn Meeker unter die Nase und
verlangte Abbitte. Die Umstehenden fielen ihr in den Arm
und setzten sie an die Luft. Diese Madame Stevens ist Re-
dactrice des „suffragistischen Organs, der Pioneer".
Inhalt: Schilderungen aus Russisch-Lappland. Von Professor I. A. Frijs in Christiania. (Mit vier Abbildungen). —
Unsere heutige Kenntniß der Uranfänge des Menschengeschlechts. Von Dr. med. H. Obst. II. (Mit einer Abbildung). — Zur
Kennzeichnung der Zustünde in Tunis. Ein tunisischer Prinz als Rebell. Von Heinrich Freiherrn v. Maltzan. II. — Aus
allen Erdtheilen: Turkestanische Erzeugnisse auf der Ausstellung zu Moskau. — Aus der Türkei. — Eine Expedition nach Tung
king. — Australien. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
<8
ftoJWer- m
Band XXII.
%
%
J? 12.
Mit besonäerer VerücksicktiZung äer AntkropoloZie unä Gtknologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl A n d r e e.
^ep^emüer Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1872.
Aus den Diamantfeldern Südafrikas.
Mitgetheilt von Hermann Breithaupt in Freiberg.
Ein in Du Toits Pan am Vaalfluß lebender Deutscher
giebt über die Lagerungsverhältnisse, Wäschereien und den Hau-
Fig. 1.
Leben hier ist unerträglich schlecht, doch findet sich ganz
gute Gesellschaft zusammen, da Alle, die irgendwie aus den
Fig. 2.
del der Diamauten in Briefen, welche im März
und April dieses Jahres geschrieben wurden, sol-
gende Mittheilungen:
Den letzten Briefen aus England zufolge sind
die Preise der Diamanten, namentlich der größeren
Steine, welche nicht vom reinsten Wasser sind, so
außerordentlich gefallen, daß mir von dem Erlös
meines 19 Karatsteines wahrscheinlich sehr wenig
übrig bleiben wird. In der Hoffnung, durch au-
gestrengte Arbeit das Glück zu erzwingen, habe
ich die Zeit daher mit sechs Kaffern gearbeitet und
somit ein tüchtiges Loch in meinen Geldbeutel sowohl
wie in meinen Claim gemacht. Der letztere ist
nun 27 Fuß tief ausgearbeitet und wird höchstens
noch eine Woche aushalten, dann werde ich ihn des Wassers Colonien wegkommen können, hierherströmen, weil in der
wegen anfgeben müssen und einen andern beginnen. Das armseligen Colonie das Diamantengraben doch immer noch
Globus XXII. Nr. 12. (September 1872.) 23
178 Hermann Breithaupt: Aus
das beste Geschäft ist. Seit meiner Ankunft, im März 1871,
hier sind die Diamanten aller Qualitäten durchschnittlich um
75 Procent gefallen, doch hofft man auf ein baldiges aber-
maliges Steigen der Preise.
Mein Umgang hier beschränkt sich fast ausschließlich aus
einen ehemaligen Pastor, zwei Advocaten, einen Arzt und
einen jungen Beamten.
Steine vom reinsten Wasser und vollkommener Krystall-
bildung (kaum ein Exemplar unter hundert entspricht diesen
Anforderungen) werden hier bezahlt von
1 Karat Gewicht mit 3 Pf. St. 10 Sch. per Karat
2 n » n ^ » 1 0 » »
3 >, » ii 6 „ >, ii
4 „ » n ^ „ „ „
5 8 —
u 55 ?? 55 ^ 55 55 55
10» » n » »
20 » » »10 „ » »
m Diamantfeldern Südafrikas.
Weiße, etwas beschädigte oder gelbliche Steine von an-
genehmer Form werden bezahlt von
1 —10 Karat Gewicht mit 2 Pf. St. — Sch. per Karat
10 30 „ „ „ 2 „ 15 „ „
30—60 „ „ „3 „ — „ „
Weiße Splitter jeder Größe oder gelbe Steine von
schlechter Form holen 1 Pf. St. per Karat.
Bei der außerordentlichen Seltenheit der wirklich guten
Steine ist es selbstredend, daß bei solchen Preisen und der
Höhe der Kosten augenblicklich mit Graben nicht viel zu ver-
dienen ist, und wer nicht wenigstens 2000 Thaler einsetzen
kann, ohne den Verlust zu fühlen, und wer nicht wenigstens
2 bis 3 Jahre hier zu bleiben entschlossen ist, der möge da-
heim bleiben.
Der Sommer, der sehr heiß war, ist nun glücklich vor-
über, mit ihm sind auch die bösartigen Fieber, die so Viele
dahin gerafft haben, so ziemlich verschwunden.
Ein Zulukaffer.
Im zweiten Briefe steht.-
Das Diamantengraben ist für die meisten Gräber eine
sehr heikle Sache geworden, da Diamanten bei Weitem nicht
den Werth besitzen, den man ihnen hier in Afrika im ersten
Rausche der Begeisterung beimaß. Die natürliche Folge
dieses unnatürlichen Verhältnisses konnte nicht ausbleiben,
und so Mancher hat sich gründlich verrechnet; viele verlassen
die Diamantfelder und die Zahl der alten Diggers schmilzt
zusehends zusammen. Auch von meinen hiesigen Bekannten
und alten Nachbaren sind die meisten in den letzten Wochen
abgezogen, drei von ihnen sind leider auf der Heimreise im
Oranjefluß und Thooifluß ertrunken. Aber die Zahl der
Neuankommenden ist überwiegend und ebenso nimmt die
Zahl der Kaufleute und Handwerker zu; da aber die meisten
Anfänger nur sehr beschränkte Mittel haben, während ein
Claim, der sich bezahlt macht, nicht unter 100 Pf. St. zu
pachten ist, so wird es wahrscheinlich bald hier viel Noth
geben.
Eingeborener von Natal.
In Bezug auf die geologischen Verhältnisse der Dia-
mantfelder kann ich leider nicht viel Klares berichten, son-
dern muß mich darauf beschränken, meine eigene unmaßgeb-
liche Meinung auszusprechen, da mir keine der von den hie-
sigen Gelehrten (?) aufgestellten Erklärungsweisen den Stem-
pel der Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit oder nur Möglichkeit
zu haben scheint. Die Einen behaupten, der diamanthaltige
Boden sei zusammengeschwemmt und die Diamanten seien
einfach aus dem Gestein der nun liegenden Gebirge heraus-
gewittert. Andere behaupten, sie seien von Winden (!) nach
den Fundorten geweht (aber woher?). Freilich sind die
hiesigen Stürme nicht zu verachten und wehen Sand und
Staub wie Schnee auf fußhohe Wehen zusammen, dennoch
möchten Hundertkaratsteine etwas zu schwer sein *).
*) Ich will aus den Juni berichten, welche wir aus Kapstadt
haben, folgende Notizen mittheilen: Die Diamantenfelder in
Südafrika lassen nach, der Ertrag scheint seinen Höhepunkt hinter
sich zu haben und im Mai war der Preis der Steine auf den Fel-
Hermann Breithaupt: Aus den Diamantfeldern Südafrikas.
179
Die hiesigen Diamantgruben zerfallen in zwei Haupt-
classen, nämlich in River-Diggings (Flußgruben) und Dry-
Diggings (trockeneGruben); die ersteren erstrecken sich nörd-
lich von hier längs des Baalslnsses auf vielleicht mehr als
100 Meilen, haben sich jedoch bisher nur in der Gegend
von Puiel, Klip Drift und Hebron als lohnend erwiesen.
Die Hauptfundorte sind meistens an Stellen, wo der Fluß
eine Biegung macht und wo namentlich am äußern ausge-
höhlten Ufer sich ein Conglomerat von gewöhnlichen Fluß-
uferablagerungen, von thoniger Erde, Kieseln, Blöcken von
einer Art von Thonschiefer, häusig auch von Agaten, Gra-
naten, Bergkrystallen n. s. w. findet. Das Waschen selbst
ist höchst einfach; der Grund wird ausgegraben, mit Ochsen-
karren nach dem Flusse gefahren, dort in einer Art Wiege
mit einem groben und einem feinen Siebe verwaschen und
dann auf einer Tafel ausgebreitet und sortirt. Die Dry-
Diggings sind vorläufig nur auf Du Toits Pan und Um-
gegend beschränkt und zwar auf
Du Toits Pan, Butt Fon-
tein, De Beers und Colesberg-
Kopje. Letzteres hat sich bei
Weitem am reichsten erwiesen,
jedoch verhältnißmäßig eine
außerordentliche Menge sehler-
haster Steine geliefert, dadurch
aber wieder hauptfächlich zum
Fallen der Preise dieser Gat-
tung beigetragen. Die For-
mation des Gesteins in dieser
Gegend ist entschieden vulca-
nisch, und viele der von den
Bergkuppen eingeringten Ebe-
nen sind unzweifelhaft alte
Krater. Diese Ebenen nei-
gen sich alle ein wenig nach der
Mitte hin und bilden dort, we-
nigstens während der Regen-
zeit, einen Teich. Dieser nie-
drigste Punkt der Ebene ist
wiederum von einer mehr
oder weniger vollständigen Er-
höhung, einer Art Wall, um-
geben, und diese Wälle (Kopjes)
sind die Fundorte derDiaman-
ten in den Dry-Diggings.
Diese Hauptcharakterzüge
treten am deutlichsten in Du
Toits Pan und Bult Fontein
hervor; Fig. 2 (S. 177) giebt einen ungefähren Begriff von
der Topographie: 1 ist ein Teich (Dam), 2 Du Toits Pan,
3 Bult Fontein; die Entfernung des äußern Ringgebirges
von dem innern ist aber in der Wirklichkeit verhältniß-
mäßig etwa fünfmal größer als hier angegeben.
dern selbst um 10 bis 20 Procent gestiegen. Große und feine Steine
fand man nur noch sehr sehr selten. Hunderte von Gräbern sind
heimgegangen, in zwei Tagen einmal nahe an 900 Eingeborene,
welche keine Beschäftigung mehr fanden. Die reichste Fundstätte,
nämlich die Kolesberg Kopje Mine, scheint zwar noch nicht ganz er-
schöpft zu sein, aber Viele sind doch nach den früheren Diggings
von Klip Drift und Du Toits Pan gegangen. Nach und nach sei
man zu der Annahme gelaugt, daß alle die Stellen, an wel-
chen Diamanten in größerer Menge gefunden wurden,
Krater erloschener Vulcane seien. Manche Diamantensucher
haben sich nun zum Goldsuchen entschlossen und eine Erpedition
nach Marabastadt vorbereitet. Daß in der Transvaal-Republik Gold
vorhanden ist, unterliegt keinem Zweifel, denn es sind sehr schöne
Probestücke von dort nach Kapstadt gekommen. Es fragt sich nun,
ob die Arbeit lohnen wird. A.
Ein Kaffer, Hausdiener in Natal.
Die Formation der diamanthaltigen Kopjes ist nun fol-
gende: Die Mitte der Anhöhe besteht bis zu einer Tiefe
von etwa 80 Fuß, soweit man dies bis jetzt in Erfahrung
gebracht hat, aus einer heterogenen Masse, deren Hanptbe-
standtheil verwitterter oder sonst wie zersetzter Schiefer zu
sein scheint, vermischt mit Basalt, Eisenstein, Magnesia (?) :c.
in ähnlichem Zustande. Ein verticaler Durchschnitt durch
diese Masse bietet ein buntes Bild; zu oberst ist eine Lage
von rothem Sand von 1 bis 6 Fuß Mächtigkeit mit einer
Menge Granaten, Olivinen, Agaten und dann und wann
kleiner Wassermuscheln; hierunter kommt eine ziemlich gleich-
förmig gemischte Lage von bröckeligem weißen Kalkstein und
einer Art Conglomerat von verwittertem Gestein mit viel
Glimmer und Gips, letzterer in rothen, grünen und weißen
Farben, die marmorartig in verschiedenen Adern durch ein-
ander lausen. Unter dieser Schicht befindet sich die söge-
nannte „harte Bank" in einer Mächtigkeit von 6 bis 10
Fuß. Die obere Abtheilung
dieser Bank wird von einer
Lage schwarzer, runder Knol-
len gebildet, die in einer bröck-
lichen, schwarzen Schale stecken,
und die fest mit dem umgeben-
den Conglomerat derselben
Substanz verbunden ist. Dicht
über dieser harten Bank und
namentlich zwischen den schwar-
zen Knollen, die in größerer
und geringerer Menge überall
verstreut sind, werden die mei-
sten Diamanten gefunden. Die
untere Seite der harten Bank
ruht gewöhnlich auf einer Lage
rothen Sandes, hat meist ei-
nen tropfsteinartigen Ueberzug
und enthält viel Neste von
Pflanzen und Thieren. Unter
anderen Umständen deutet das
Aufsinden von vollständigen,
auf dieser Basis erbauten Ter-
mitenhügeln unter der Erd-
obersläche darauf hin, daß die
auflagernden Schichten den
jüngsten Bildungen angehören
dürften. Weiter unten wieder-
holt sich diese Reihenfolge von
Schichtungen, wenn auch nicht
mit der geschilderten Regel-
Mäßigkeit. Nach außen hin wird diese diamanthaltige Masse
von einem senkrecht in die Tiese gehenden Schieserriss be-
arenzt, welches, wenn es bloßgelegt wird, stellenweise einen
Tropfsteinüberzug zeigt.
Meine Theorie nun ist, daß diese diamanthaltigen Kop-
jes ehemalige Krater sind und die Diamanten nebst all dem
andern Material aus ihnen ausgeworfen, nach und nach
aber wieder uach den Mittelpunkten dieser Krater hinge-
schwemmt und dort abgelagert wurden. Auch möchte ich
annehmen, daß diese Bildungen wiederholt durch Convnl-
sionen und Eruptionen durch einander geworfen wurden.
Die Eröffnung von Diamantgruben geschieht in folgen-
der Weise: Ist ein neuer Fundpunkt entdeckt worden, so
wird in einer von mindestens 100 Personen unterzeichneten
Eingabe an den Regieruugscommissär die Verleihung bean-
spracht. Die Behörde nimmt dann Besitz von der Gegend,
läßt sie vermessen und in Felder (Claims) theilen, die 30
Fuß lang und eben so breit sind. Solche Claims werden
23*
180
Hermann Breithaupt: Aus den Diamantfeldern Südafrikas.
Sri
äs>
R
NUN an diejenigen Personen ab-
gegeben, die den ersten Anspruch
darauf erheben. Die Abgabe be-
trägt dann monatlich für ein Claim
10 Schilling. Der Beliehen?
kann nun sein Feld beliebig aus-
beuten, verpachten, abtreten; das
Feld selbst aber darf bei Strafe
des Verlustes der erworbeneu
Rechte nicht länger als eine Woche
unbearbeitet bleiben. Claimver-
kaufe kommen auch theilweise vor;
so wurde bei Colesberg-Kopje ein
Achtel Claim für 400 Pf. St.
verkauft. Solche Zeiten sind frei-
lich vorüber, denn obgleich man
immer noch viel zu hohe Preise
bezahlt, ist doch die anfänglich
wahrhaft unsinnige Speculations-
wuth schon bedeutend abgekühlt
worden.
Die große Entwerthuug der
Diamanten in Afrika, die sich
auf Europa noch nicht, wenigstens
bei Weitem nicht in dem Maße,
ausgedehnt hat, ist zum Theil
darin begründet, daß betrügen-
sche Personen Bergkrystall- oder
Straßstücke in der den Diaman-
ten eigenthümlicheu Form auserti-
gen ließen, nach den Diamant-
grnben schafften und dort an un-
wissende Aufkäufer verkauften.
Solche gefälschte Diamanten nah-
men nun ihren Weg zurück nach
Europa und wurden hier als solche
erkannt. Die uothweudige Folge
war, daß der afrikanische Dia-
mantenhandel in einen schlechten
Ruf kam, daß einmal geprellte
Aufkäufer zu einer übergroßen Bor-
ficht sich veranlaßt sahen und nun
wiederum sehr niedere Preise für
die Steine boten.
Der Briefschreiber bekennt
offen, daß er nicht Mineralog oder
Geognost sei; seine Theorie, daß
die Diamantfelder Erzeugnisse, be-
ziehentlich Auswürflinge ehemali-
ger Vnlcane wären, ist wohl
unhaltbar, sofern man unter vul-
canischer Thätigkeit eine solche mit
feurig-flüssigeu Erscheinungen sich
denkt; eine derartige Thätigkeit
ist unverträglich mit dem wieder-
holt erwähnten Vorkommen pflanz-
licher und thierischer Ueberreste.
Wohl aber ist es denkbar, daß
jene Ablageruugen Producte von
sogenannten Schlammvulcauen
oder Mineralquellen seien. In
Südamerika hat man z. B.
Schlammvnleanernptionen beob-
achtet, bei denen sich in den aus-
Hermann Vreithaupt: Aus
den Diamantfeldern Siidasrikas. 181
geworfenen oder ausgepreßten
Schlämmen noch Fische befanden,
die erst vor wenig Stunden ge-
storben sein konnten. Auf die
Wirkung von stark kalkhaltigen
Wassern deuten auch die geschil-
derteu Tropfsteinbildungen. B.
-i-
* *
Es ist für die Speculanten in
den Diamantfeldern ein günstiger
Umstand gewesen, daß sie Einge-
borene, welche sie auf Zeitdauer
miethen, als Arbeiter verwenden
können. Das östliche Südafrika
wird bekanntlich von Kafferstäm-
men bewohnt, welche das Gebiet
im Nordosten der Hottentoten nach
Norden hin bis über den Sambesi
hinaus iuue haben. Sie sind von
den Negern wesentlich verschieden,
haben patriarchalische Einrichtun-
gen, haben scharfen dialektischen
Verstand, der schon nianchem Mis-
sionär was aufzuratheu gegeben
hat, sind streitbar und tapfer, was
^ insbesondere auch von den Zulu-
B kaffern gilt, und haben keine Skla-
verei unter sich. Sie sind sehr
H zahlreich und allein im Bereiche
5 der britischen Colonie Natal leben
mehr als 100,000 Kaffern.
g Als Nordgrenze der Capcolo-
% nie wird der Gariep- oderOranje-
IT ström angenommen; er ist, wie
^ andere südafrikanische Flüsse, sehr
S3 breit aber wasserarm und nicht
D schiffbar. Weit im Binnenlande
Z bildet er zwei Arme, welche den
Oranje-Freistaat einschließen. Der
nördlichere der beiden Arme ist der
Baal, und an diesem liegen die
Diamantfelder. Die edlen Steine
wurden durch Zufall entdeckt. Man
sah, daß ein Kind mit einem
glänzenden Steine spielte, wel-
chen ein Hausirer sei« sogeuaun-
ter Togteugäuger) au sich nahm;
man sand in Capstadt, daß er
ein Diamant von 16 Karat sei.
Sofort brach ein Diamantenfieber
ans; Leute aus aller Herren Län-
dem zogen nach dem Baal, und
die Ortschaft Pniel wurde urplötz-
lich ein sehr belebter Platz. Aber
wie in den Goldgegenden, so ist
auch in den Diamantengegenden
solch eine Grubeustadt häufigen
Wechselfällen unterworfen; heute
wimmelt es in ihr von Menschen
und vielleicht schon nach wenigen
Tagen ist sie verödet, weil die
Diamantenjäger an anderen Stel-
len bessere Aussichten zu haben ver-
meinen. So erging es auch mit
Pniel; Colesberg-Kopje und
182 Franz Poppe:
Du Toits Pan übten eine stärkere Anziehungskraft aus.
Bei letztem Orte wurde der allergrößte Diamant, ein Pracht-
stein von 154 Karat, gefunden. Der Ort liegt in einer
durchaus öden Gegend, ganz in der Nähe einer sogenannten
Salzpfanne. Bei Colesberg hatten 1871 die Diamanten-
sncher in einen mit Gras bewachsenen Hügel Löcher bis 30
Fuß Tiefe gegraben; sie fanden „ganze Hände voll Dia-
manten", und für einen Fleck von nur 15 Quadratfuß wur-
den vergeblich 1000 Pf. St. geboten. Allerdings wurden
dort sehr viele Diamanten gefunden, sie sind aber weit wem-
ger werthvoll als jene ani Baal.
Das Saterland.
Die Diamantenregion ist im Sommer außerordentlich
heiß und obendrein wasserarm; die Leute sind vielen Ent-
behrungen ausgesetzt, und es bleibt zu verwundern, daß keine
Seuchen ausgebrochen sind und der Gesundheitsstand ganz
gut ist. Mau muß nun abwarten, welchen Verlauf die
Dinge nehmen; jedenfalls ist durch die Diamantenentdeckungen
Leben in jene Gegenden gebracht worden. Sollten künftig
keine edlen Steine mehr gefunden werden, so werden doch
die Menschen, welche in die Grubengegenden strömten, in
der Colonie bleiben und sich hier anderen Beschäftigungen
zuwenden.
Aus deutschen
Das Sa
Von Frai
Das zum Großherzogthum Oldenburg gehörende Sater-
land liegt wie eine langgestreckte Sanddüneninsel mitten im
Moore, zu beiden Seiten eines kleinen Flüßcheus, der Sater-
Ems, und erstreckt sich von Süden nach Norden etwa drei
Stunden, von Osten nach Westen eine halbe bis eine Stunde.
Die Sater-Ems entsteht aus der Vereinigung zweier kleinen
Flüsse, der Ohe und Marka, die von den sandigen Hügeln des
Hümling kommen und nördlich von Neuscharrel sich zur Sater-
Ems („Sater Deep") vereinigen. Diesem unscheinbaren
Wasser verdankt das Saterland sein Entstehen; denn die bei-
den Quellflüsse führten nach und nach vom Hümling Stein-
geröll und feine Sandtheilchen mit sich, die sie in den Nie-
derungen des jetzigen Saterlandes ablagerten.
Als das Moor noch nicht fest geworden war, als die
Ufer der Flüsse sich noch nicht verengt hatten, da strömten
die Gewässer gewiß mit größerer Kraft dahin, bis sie in
diese Niederung kamen und zu bedächtigerm, sriedlicherm
Fortgange genöthigt wurden. Sie kamen allmälig zur Ruhe,
rissen Sand und Steine nicht mehr mit sich fort, sondern
benutzten sie in stiller, Jahrhunderte langer Arbeit, die in-
mitten der tiefen Einsamkeit des Moores durch nichts ge-
stört wurde, zum Aufbau des merkwürdigen LündcheNs.
Wie die Weser in ihrem untern ruhigen Laufe durch Nie-
derschlag der Schlammtheile die Marsch Butjadingens bil-
dete, so bildete die Sater-Ems diese Sanddüneninsel. Das
Wasser ist aber nicht der alleinige Baumeister gewesen, auch
die Winde und Stürme, die frei über das weite Moor da-
her wehten, werden mit bauen geholfen haben, indem sie
den Sand zu Dünen zusammen wehten, wie die Meeres-
stürme an der Nordseeküste, den von den Fluthen hergetra-
genen weißen Flugsand in wechselvollem Spiele zu der Reihe
friesischer Düneninseln aufthürmten. Wie die Sater-Ems,
so haben auch ihre Nachbarflüsse, die Soeste, Vehue :c., kleine
Inseln im Moore aufgebaut, auf denen Edewecht, Friesoythe,
Altenoythe :c. liegen. So viel über die muthmaßliche Ent-
stehung des Saterlandes.
Kurz vorher, in demselben Sommer, in welchem ich
durch das Saterland wanderte, hatte ich auch Wangeroge
besucht, und ich muß gestehen, daß der Eindruck, den Land
und Leute machten, mich aufs Lebhafteste an das Auge im
Landschaften.
e r l a n ö.
Poppe.
I.
Meere erinnerten. Wie Wangeroge *) ein Auge im Meere
ist, so ist das Saterland ein Auge im Moore. Die abge-
schlossene Lage beider, dort durch das Meer, hier durch das
Moor bedingt, hat die Bewohner hier wie dort uuvermischt,
in fast ursprünglicher Reinheit friesischer Sprache und Sit-
ten erhalten. Wer weiß, ob nicht diese weiten Moore an
der Ems einst einen großen Meerbusen, ein ausgedehntes,
ödes Watt bildeten, aus dem die jetzigen Heide- und Geesthü-
gel wie Inseln hervorragten! Hat man doch bis in die neueste
Zeit im Lehmboden des Saterlandes größere und kleinere
Bernsteinstücke gefunden, ganz wie am Meeresstrande bei
Wangeroge. Das Gepräge einer Düneninsel fällt uns
namentlich im südlichen Theile des Saterlandes bis zum
Kirchdorfe Scharrel auf. Zu beiden Seiten des Weges lie-
gen zerstreute, theilweise mit Föhren bewachsene Sanddünen,
und manchmal müssen wir tief durch den Sand waten.
Nach Norden zu wird der Boden allmälig niedriger und
gleichförmiger. Der nackte, dürre Dünensand hört nach und
nach auf, humusreicher Ackerboden wird vorherrschend, nament-
lich im Kirchspiele Ramsloh, das in der Mitte liegt; und ganz
im Norden, im Kirchspiele Strücklingen, geht der Boden in
feuchte, niedrige Moorwiesen über, die oft vom Herbste bis
zum Frühlinge dermaßen überschwemmt sind, daß das Land
einer See gleicht, und aller Verkehr zu Fuß und zu Wagen
nach dieser Richtung hin aufhört. Vor 50 Jahren war
das Land auch nach Süden hin völlig unwegsam, da kein
Pfad durch das weite, sumpfige Moor nach Friesoythe führte.
Erst später, in der „französischen Zeit", hat man einen
Sandweg hindurchgelegt. Kein Wunder, daß das Völkchen
der Saterländer in solch gänzlicher Abgeschlossenheit seinen
friesischen Charakter bis auf die Gegenwart fast unverwischt
erhielt. Freilich, die alten Trachten sind fast ganz, und das
alte freie, friesische Gemeindewesen ist spurlos verschwunden,
aber Sprache und Lebensweise sind geblieben.
Dort kommt ein erwachsenes Mädchen aus einem klei-
*) Wir behalten die volkstümliche Deutung des Namens bei,
wenn sie auch sprachlich nicht richtig ist. Wangeroge heißt Ursprung-
lich so viel als die Wanger-Insel, Eiland. Das „Oge"ist nur
mundartlich verschieden von dem dänischen Ö (Farör — Schafinseln),
von Ei in Nordern ei u. s. w.
Franz Poppe:
nen Hause gelaufen. Sie trägt einen kurzen, faltigen, feuer-
rothen Rock. Das Mieder — wenn bei ihr überhaupt
von einem Mieder die Rede sein kann — ist schlicht, an
der Schulter schauen weiße, leinene Aermel daraus hervor;
auf dem Hinterkopfe trägt sie ein kleines dichtanliegendes
Käppchen. So ist die Alltagstracht der Frauen durchweg.
Schöne, schlankgewachsene Frauen und Mädchen habe ich nir-
gends gesehen, alle waren kleinen gedrungenen Wuchses.
Die Männer sind höher und schlanker. In ihrer Tracht
ist mir nichts Abweichendes aufgefallen. Früher hatten die
Saterländer eine eigentümliche, ich möchte fast sagen Na-
tionaltracht. Die Männer trugen einen runden Hut, ein
langes, auf die Brust herabhängendes Halstuch, ein hellblaues
Kamifol oder Wamms mit langen Schößen und Seitenta-
fchen, über die eine Klappe fiel, eine buntgestreifte Weste mit
einer dichten Reihe silberner Knöpfe, kurze Schifferhosen, blaue
Strümpfe und lederne Schuhe mit großen silbernen Schnal-
len. Die Frauen trugen einen flachen, weißen, mit vielen flat-
ternden Bändern besetzten Hut von Holzgeflecht, unter dem
Hute eine eigene altfriesische, mit rothem Bande stark besetzte
Mütze, welche durch ein silbernes sogenanntes Ohrisen (d. i.
ein durch den Rand der Mütze gehender, hinten um den
Kopf liegender Bügel, dessen Enden in Platten auslaufen,
welche die Backen eng umschließen) befestigt wird, ferner ein
kurzes, ebenfalls mit rothem Bande geschmücktes Kamifol,
im Hemde auf der Brust eine silberne Schnalle und an bei-
den Seiten derselben große, gestickte Buchstaben, auch wohl
Blumen, die zwischen dem auf eigene Weise umgeschlagenen
Tuche hervorschienen, kurze bis auf die Waden reichende
Röcke mit unzähligen Falten, und endlich blaue Strümpfe
mit rothen Zwickeln und auf den Schuhen silberne Schnal-
len. Der Röcke trug man mehrere über einander, so daß
sie volle Hüften und düuue Taillen bildeten.
So schilderte Nieberding noch im Jahre 1337 die wirk-
lich malerische Tracht der Saterländer, fügt aber hinzu:
„Doch fängt die Mode fchon an, auch in dieses abgesonderte
Ländchen sich einen Eingang zu verschaffen." -— Ich habe
von all diesem nichts mehr gesehen, habe auch auf meine
Nachfrage zur Autwort erhalten, nur die ältesten Frauen
erschienen wohl an Feiertagen noch in der Nationaltracht.
Heber das Saterland und seine Bewohner ist von jeher
viel gefabelt worden. Die Leute sollten nackt in Erdhütten
wohnen, eine barbarische Sprache reden, ihre Lebensweise sollte
sich in nichts von der der alten Germanen unterscheiden und
dergleichen mehr. Da wurde unter Anderm erzählt: Die
Saterländer haben keine Schüsseln, sondern sie essen von
einem in der Mitte ausgehöhlten Tisch; ferner: Heber jedem
Kaffeetische fchwebt an einem Faden ein Stück Zucker, das
beim Trinken von Mund zu Mund wandert. Solche und
ähnliche Märchen wurden von den wenigen oberflächlichen
Touristen verbreitet, die abenteuernd in das Ländchen ein-
drangen. Von mir können die Leser solche pikante Reise-
früchte nicht erwarten; nur berichten will ich, was ich be-
obachtet und als wahr erkannt habe.
Die Saterländer gehörten zum friesischen Stamme, da-
für zeugen ihre Sprache, ihr Körperbau, ihre große Sitten-
strenge, ihre Freiheitsliebe und ihr früheres selbständiges Ge-
meindewesen.
Die Sprache der Saterländer ist kein verdorbener
plattdeutscher oder niedersächsischer Dialekt, wie irrthümlich
behauptet worden ist, sondern dieselbe trägt unverkennbar die
Spuren des Altfriesifchen an sich; das hat Professor Dr.
Minssen znr Genüge nachgewiesen. Das Satersche ist vom
Niedersächsischen so sehr verschieden, daß ein Plattdeutscher es
eben so wenig verstehen kann, wie die Sprache der Wangero-
ger, zumal wenn es schnell gesprochen wird. Doch giebt es
Das Saterland. 183
auch manche Formen und Ausdrücke, die dem Niedersächsi-
scheu verwandt sind. Beide sind ja im Laufe der Zeit ebenso
mit einander verschmolzen wie die beiden Volksstämme. Im
Saterlands konnte das aber nicht in demselben Grade ge-
schehen, wie in anderen Gegenden Niederdeutschlauds, weil
die natürliche Lage des Landes zwischen großen unwirthbaren
Mooren es verhinderte. Ist es doch noch nicht lange her,
daß man dahin nur auf einer Wasserstraße, wie zu einer
Insel, gelangen konnte. Das Studium des Saterschen wird
daher für Sprachforscher stets von hohem Interesse bleiben.
Die Saterländer halten wie alle friesischen Stämme mit
unwandelbarer Liebe an ihrer Muttersprache sest, die sie
möglichst in ihrer Reinheit zu erhalten suchen. Unter sich
sprechen sie nur ihre Sprache; im Umgange mit Nichtsater-
ländern und Fremden reden sie zwar Plattdeutsch und in
der Schule Hochdeutsch, allein nichts destoweniger kehren sie
mit echtfriesischer Zähigkeit stets wieder zur Muttersprache
zurück. Die Kinder von Eingewanderten lernen daher bald
das Satersche. Trotz dieser angeborenen Zähigkeit wird
doch der satersche Dialekt nach uud nach, wenn auch sehr
laugsam, verdrängt werden. Ausfallend ist es mir gewesen,
daß in der plattdeutschen Sprache der Saterländer manche
Ausdrücke vorkommen, die man auch im Jeverlande hört:
z. B. „Loog" = Dorf, „kollt" statt költ = kalt, „ollt"
statt ölt — alt, „Schinfatt" — Laterne, „Mallmöhl" —
Caroussel, „ji frnut" statt ji sünd — ihr seid :c. Schon
diese uud andere Wörter weisen auf einen gleichen Ur-
spruug, einen gemeinsamen Stamm der Jever- und Sater-
länder hin; es ist der friesische.
Im Saterlands findet man auch noch manche Namen,
die in dieser besondern Form nur in friesischen Gegen-
den vorkommen; z. B. die Männernamen Focke, Haye,
Dedde, und die Frauennamen Antje, Folke, Grietje,
Noontje:c.
Früher waren im Saterland? keine feste Stammnamen
im Gebrauche. Der mit einem s als Auslaut versehene
Vorname des Vaters wurde der Stammname des Kindes.
Hieß z. B. der Vater Sicke Eds, so hieß der Sohn Ed
Sickes, und der Enkel wieder Sicke Eds. Aehnlich war
es auch noch in anderen Gegenden, z. B. im Jeverlande.
Es ist dies eigentlich die uralte Weise, wie sie z. B. bei den
alten Griechen und Juden auch herrschte, während im altert*
Rom mit seinen strengen Formen für das öffentliche wie
private Recht das Bedürfniß fester Familiennamen schon
früh durchgriff. Bei den Juden hat es sich feit Jahrtau-
senden bis in die neueste Zeit erhalten. Fürs Herzogthum
Oldenburg verordnete ein Gesetz im Jahre 1826, zur Ver-
meidung häufiger Irrungen, feste Familiennamen einzufüh-
reu, was zwar für die Kirchenbücher und bei den Behörden
durchgeführt wurde, aber im täglichen Leben erst fehr allmä-
lig durchdrang. So werden namentlich im Saterlands die
Vornamen noch immer nach dem altherkömmlichen Gesetze
der Namengebung ertheilt.
Der älteste Sohn wird nach dem Großvater väterlicher
Seite, die älteste Tochter nach der Großmutter väterlicher
Seite, das zweite Kind nach dem Großvater oder der Groß-
mutter mütterlicher Seite benannt. Beim dritten Kinde
haben Oheim und Muhme väterlicher Seite, beim vierten
die der mütterlichen Seite die Ehre, dem Täufling ihren
Namen zu leihen. So geht es wechselweife weiter und zwar,
da die Ehen der Saterländer meist mit Kindern reich geseg-
net sind, eine ganze Reihe hindurch; zuletzt kommen auch
Vettern und Basen an die Reihe. Nun, wir machen es ja
ähnlich, wenn wir auch nicht so ängstlich an dieser Gevatter-
Rangordnung festhalten, und die älteste Tochter manchmal
184
Theodor Kirchhoff: Streifzüge in Oregon und Californien (1871).
Emilie oder so taufen, wenn z. B. Großmutter Geschtrin
oder Talklene hieß.
Früher gab es nur drei feste Familiennamen im Sater-
lande, nämlich dieAwiks, Blocks und Kirchhoffs. Der
Sage nach sind diese drei alten Familien, sogenannte Häupt-
lings- oder Junkerfamilien, frUher aus Westfriesland einge-
wandert, was auch nicht unwahrscheinlich ist. Nach dem
Einbrüche des Dollart (1277), heißt es, flüchteten die Awiks,
Blocks und Kirchhoffs nach dem Saterlands und gründeten
hier eine neue Heimath; von ihnen stammt die ganze Bevöl-
kerung im Saterlands ab.
Im 13. Jahrhundert wurde die friesische Sprache noch
auf dem langen, schmalen Küstenstriche von Antwerpen bis
zur Königsau gesprochen, gegenwärtig nur noch an fünf
Punkten, nämlich auf Wangeroge, Helgoland, im Saterland?,
Nord- nnd Westsriesland. So hartnäckig der Kampf des
Neufriesischen gegen die hereindrängenden mächtigeren Schwe-
stern, die niedersächsische oder plattdeutsche und die hochdeutsche
Sprache auch ist, endlich wird sie der Flnth weichen müssen,
und auch von ihr wird es heißen, wie von manchem friefi-
fchen Seefahrer und mancher friesischen Insel: „Sie sind
verschollen!" —
Dem Leser nur annähernd eine Vorstellung von dem
saterfchen Dialekte zu gebeu, würde über den engen Nahmen
meiner Skizze hinausgehen^). Doch will ich es nicht unter-
lassen, ein friesisches Liedchen und daneben eine freie Heber-
tragung von mir hierher zu setzen.
Skippers Sankje.
Forjit my net as bolle wyntjes waie,
In ik ven't roer myn sankje sjong;
As kroese weagen't gledde skip omaie;
Forjit my net.
Forjit my net as millionen stjerren,
In't frjeunlik moantje my beskynt,
In dou swiet droäm' hest yn'e seafte fjerren;
Forjit my net.
*) Wer speciell über diesen Gegenstand eingehendere Belehrung
sucht, dem empfehle ich: „Friesisches Archiv" von Ehrentraut.
Forjit my net as wrede touwerfleagen
My stingerje dear God it wol.
As ik ompolskje mei de dead foar eagen;
Forjit my net.
Forjit my net as wreed de stormen bylje,
In't libben hinget oen ien tried ;
As wy forslein oen't neadtou ride in fylje,
Forjit my net.
Forjit my net as swarte tommelweagen
Oertruselje it Warles skip,
An alle elleminten tjen ues teagen,
Forjit my net.
Forjit my net as we einling yet forsinke,
In tere yn'e djippe se;
Wol den mei trjinnen om my tinke;
Forjit my net.
Schiffers Sang.
Vergiß mein nicht, wenn sanft die Winde säuseln,
Und ich am Ruder sing' mein Lied;
Wenn sich um's glatte Schiff die Wellen kräuseln,
Vergiß mein nicht.
Vergiß mein nicht, wenn mich das Heer der Sterne,
Wenn freundlich mich der Mond bescheint,
Wenn träumend Du hinaus schaust in die Ferne,
Vergiß mein nicht.
Vergiß mein nicht, werd' ich von wilden Stürmen
Geschleudert, so wie Gott es will,
Wenn sich die Wogen mir zum Grabe thürmen,
Vergiß mein nicht.
Vergiß mein nicht, wenn hohl die Stürme gellen
Und wenn am Haar mein Leben schwebt,
Wenn wir am Nothtau treiben auf den Wellen,
Vergiß mein nicht.
Vergiß mein nicht, wenn schwarze Wogen rollen
Und umstürzen unser Schiff,
Wenn alle Elemente tobend grollen,
Vergiß mein nicht.
Vergiß mein nicht, wenn ich nicht wiederkehre
Und rolle in der tiefen See,
O, weihe mir dann eine stille Zähre,
Vergiß mein nicht.
Streifzüge in Oregon und Californien (1871).
Von Theodor Kirchhoff.
VII.
Jacksonville, als Minen- und als Landstadt. — Eine schläferige Bevölkerung. — Reiche Metallschätze. — Gold Hill. — Das
Thal des Rogue-Flusses. — Der Blitz-Rechenmeister. — Mit der <stage nach 'Areka. — Ashland. — Ein oregomscher äoIon.
Das Siskiyougebirge. — Mount Shasta. — Der Klamathfluß. — Herrliches Panorama bei Abendbeleuchtnng. — 'greka, die
Hauptminenstadt im nördlichen Californien. — Verheerende Feuersbrünste. ■— Verfall und Vlüthe neben einander. Kaleidoskop
einer calisornischen Minenstadt.
Die Stadt Jacksonville, welche am Jackson-Creek, einem
Nebenflüßchen des Rogue-River, liegt, 293Miles von Port-
land und etwa 130 Miles von der Seeküste entfernt, zählt
gegen 1500 Einwohner uud ist der Hauptort im südlichen
Oregon. Die Bevölkerung dieses Platzes ist eine sehr ge-
mischte. Chinesen sind dort ungewöhnlich stark vertreten
und fast ein Drittheil der Gesammtkopfzahl besteht aus
Deutschen. Jrländer, Portugiesen und Kauakas (Sandwichs-
insulaner), welche letztere als fleißige Arbeiter in den Gold-
minen sehr geschätzt werden, bilden starke Brnchtheile der Be-
völkeruug.
Jacksonville verdankt sein Entstehen dem Entdecken von
reichen Goldablageruugeu im südlichen Oregon, welches sich
bereits vom Jahre 1850 herdatirt. Zur Zeit seiner Blüthe
rivalisirte dieser Platz mit der jenseits der Siskiyouberge
liegenden calisornischen Minenstadt Meka (sprich: Weirika),
und noch jetzt ist der Ertrag seiner Placers bedeutend. Der
Platz sieht übrigens nichts weniger wie eine Minenstadt aus,
Theodor Kirchhoff: Streifzüge in
wo die Bevölkerung sich stets in einer Fieberhitze von geisti-
ger Aufregung zu befinden Pflegt, sondern hat vielmehr das
Ansehen eines gewöhnlichen stillen amerikanischen Landstadt-
chens. Der in allen Minenorten Californiens stets rege
Unternehmungsgeist scheint diesen schläfrigen oregonischen
Goldgräbern ganz abhanden gekommen zu sein. Man klagte
viel über die Trockenheit der letzten Jahre, wodurch der Ertrag
der immer noch sehr reichen Placers sich von 300,000 Dol-
lars Werth Gold im Jahre auf etwa 35,000 Dollars ver-
mindert habe. Dem Mangel au Wasser würde jedoch durch
das Herstellen eines großen Minengrabens von etwa 92
Miles Länge leicht abzuhelfen sein. Ein derartiges Unter-
nehmen, das die verhältnißmäßig geringe Capitalanlage von
nur 75,000 Dollars erfordert, wäre leicht auszuführen und
müßte Ungeheuern Nutzen bringen. In einer californischen
Minenstadt wäre ein solcher Graben natürlich längst angelegt
worden; aber in Jacksonville gilt das Motto: „nur immer
langsam voran!" — und der große Graben fignrirt hier
seit einem Decenninm nur auf dem Papier.
Die Gegend bei Jacksonville ist nicht nur reich an Ab-
lagerungen von körnigem Freigold (Placers), sondern auch
an gold- und silberhaltigem Quarz, und würde eine mit
Benutzung der neuesten Betriebsmethoden im Bergbau aus
energische Weise durchgeführte Bearbeitung dieser Erze er-
stauuliche Resultate liesern. In den Quarzminen bei Gold-
Hill, 7 Miles nördlich von Jacksonville, wurde das reichste
Golderz an dieser Küste gefunden. Ans einer Tasche
(pocket) von nur 12 Cubikfuß gewann man dort 130,000
Dollars Werth an Gold. Silbererze, in Stücken von der
Größe einer Wallnuß bis zu 25 Pfund Schwere und von
großem Reichthum, sind über die ganze Gegend zerstreut;
ein kleiner Haufen eingesammelter Quarzstücke hatte einen
Metallwerth von 7000 Dollars in Silber. Aber die Aus-
beute der gold- und silberhaltigen Quarzgänge (ledges) ge-
schieht hier auf einem sehr primitiven Wege. Die zwei be-
deutendsten der bei Gold-Hill angelegten Minenschachte haben
nur eine Tiese von 150 und von 80 Fuß, uud sonst ist
keiner in der ganzen Umgegend tiefer als 14 Fuß. Die
Quarzpochwerke und dieAmalgamationsapparate sind schlecht
construirt, Schmelzöfen sind keine vorhanden und die Minen
werden sehr nachlässig bearbeitet. Eine thatkrästige califor-
nische Bevölkerung würde den Ertrag der Minen im süd-
liehen Oregon leicht verzehnfachen.
Jacksonville ist nicht bloß als Minenort von Bedeutung,
auch eines der fruchtbarsten Thäler Oregons liegt in seiner
unmittelbaren Nähe und macht es zum natürlichen Stapel-
platze für seine Prodncte: das in einer Breite von 15 Miles
von Norden nach Süden und einer Länge von 50 Miles
von Ost nach West sich erstreckende Thal des Rogueslusses.
Weizen, Hafer und Gerste, sowie Aepfel, Birnen, Pflaumen,
Aprikosen und alle Arten von Beeren (Stachelbeeren, Him-
beeren :c.) und von Gartenfrüchten gedeihen dort vortrefflich.
Ansehnliche, wohlcnltivirte Farmen sind zahlreich in jenem
Thale. Ein lebhafter Handel findet mit dem 90 Miles
entfernten Fort Klamath statt, wo einige Compagnieu Ver-
eiuigte-Staaten-Militär in Garnison liegen, die ihren gan-
zen Bedarf an Lebensmitteln :c. von hier aus erhalten.
Von auswärts werden die Waarengüter meistens durch den
120 Miles von Jacksonville entfernten am Meere liegenden
Hafenort Crescent City bezogen; doch wird mit dem Fort-
bau der Eisenbahn bald ein radicaler Umschwung in alle
Handelsverhältnisse kommen nnd sich der Kostenpunkt des
Waarentransportes bedeutend geringer stellen. Gegenwärtig
berechnen die Dampfboote von San Francisco nach Eres-
cent City 5 bis 6 Dollars per Tonne (zu 2000 Pfund)
Fracht, außer 2^/s Dollars per Tonne Hafengebühren, und
Globus XXII. Nr. 12. (September 1872.)
Oregon und Kalifornien (1871). 185
der Wagentransport vom Landungsplatze nach Jacksonville
kostet außerdem drei Cents fürs Pfund. Ich will noch
erwähnen, daß die in der Stadt Salem tagende Legislatur
des Staates Oregon dem Rogue-River (Schurkeufluß) den
ihr civilisirter dünkenden Namen Gold-River (Goldfluß)
ossiciell beigelegt hat. Aber den Bewohnern des südlichen
Oregon scheint der hergebrachte Name passender zu sein und
ist ihnen als Erinnerung an die gute alte Zeit lieb und
theuer geworden; der neue Name wird hier nicht anerkannt,
und als „Schurkenfluß" strömt der wilde Bergstrom aus
goldhaltigem Grunde nach wie vor dem Ocean zu.
Am Abende während meines Aufenthaltes in Jackson-
ville brachte niein Reisegefährte, der Blitz-Rechenmeister, die
ganze Bevölkerung des Ortes aus die Beine, redete bei Fackel-
beleuchtung auf der Straße „das intelligente Publicum von
Jacksonville" an und hielt ihnen eine Vorlesung überArith-
metik und eine zu vereinfachende Rechnungsmethode. Mit
Kreide rechnete er an einem schwarzen Brette die verwickelt-
sten Aufgaben fabelhaft schnell ans; addirte eine ellenlange
Colnmne von langzisferigen Zahlen im Handumdrehen;
multiplicirte in nur einer Reihe Billionen und Quatril-
lionen, daß es wie ein Hexenkunststück aussah; schlug sich an
den Kopf und zog bei ihm gestellten Fragen die Zahlen wie
mit einem Pfropfenzieher daraus hervor; machte Zinsenbe-
rechnungen, wie mir Aehnliches nie vorgekommen, und schwa-
dronnirte dabei mit einer unglaublichen Suade, erzählte
Anekdoten :c., daß das „intelligente Publicum von Jackson-
ville" ihn mit offenem Munde anstaunte und seinen Witzen
entzückt zujubelte. Zum Schluß verkaufte er seine Rechen-
bücher, die alle jene Zahlengeheimnisse enthalten sollten — 144
Seiten, broschirt, zu drei Dollars die Copie — so schnell
wie warme Semmeln. In jedem kleinen Platze Oregons
hatte ich während der letzen Woche allabends dasselbe ergötz-
liche Schauspiel gehabt; aber in Jacksonville übertraf der
„Nankee-lightning calculator" sich selbst. Seine Vorlesungen
sind mir eine interessante Erinnerung dieser Reise geblieben!
Am Morgen des 1. October setzte ich bei herrlichem
Wetter meine Stagesahrt fort, deren nächstes Ziel die 62
englische Meilen von Jacksonville entfernte californische
Minenstadt Nreka war. Durch eine wohlangebaute Gegend,
in welcher die Felder mit zerstreut wachsenden Lebenseichen
malerisch bestanden waren, kutschirten wir lustig auf guter
Straße dem bewaldeten Gebirgszuge der Siskiyouberge ent-
gegen. Der Name Siskiyou ist ein indianisches Woit und
bedeutet „bob tailed horse", zu deutsch „Pserd mit Stutz-
schwänz". Die äußere Form des Gebirges soll einem sol-
cheu Pserde ähnlich sein; daher der Name. Mir war es
nicht möglich, eine derartige auch nur entfernte Aehnlichkeit
zu entdecken, welche die lebhafte Phantasie der Rothhäute sich
ausgedacht hatte.
Fünfzehn Miles von Jacksonville passirten wir eine rechts
nahe am Wege liegende warme Schwefelquelle, an der ein
Badehaus errichtet war, und erreichten bald darauf das in
freundlicher Umgebung liegende Städtchen Ashland, die süd-
lichst gelegene Ortschaft Oregons, in deren Nähe die Aus-
läuser der Siskiyouberge beginnen. In Ashland beuierkte ich
die ansehnlichen Gebäulichkeiteu einer Wollenwaareusabrik
und eine Steinhauerei, und der Platz hatte ein hübsches
Aussehen. Hier verließ uns zu meiner Freude der zauksüch-
tige blinde Musikprofessor und räumte seinen Platz einem
Mitglieds der Legislatur Oregons ein, der mit uns nach Areka
reiste. Leider zeigte sich dieser Personenwechsel in der Folge
nicht so angenehm als ich erwartet hatte, denn jener oregonische
Staatsmann machte sich durch seine rohen Manieren bald ganz
unleidlich. Er entwickelte im Laufe der Unterhaltung unter
Anderm die barocke Ansicht, daß Kinder nicht vor dem
24
186 Theodor Kirchhoff: Streifzüge i
Alter von 14 Jahren zur Schule gesandt werden sollten;
es sei weit besser, sagte er, sie liefen so lange im Busch
herum, um ihren Körper zu entwickeln, als daß sie auf den
Schulbänken säßen, wo sie, wie bekannt, nur Dummheiten und
Liederlichkeit lernten! Die meisten seiner Collegen in Salem,
fügte er hinzu, seien derselben Ansicht wie er, und er hoffe,
daß der Staat Oregon bald ein diesen gesunden Grund-
sähen entsprechendes Schulgesetz erlassen würde. Er habe erst
nach dem fünfzehnten Jahre angefangen, die Schule zu besu-
cheu, und doch noch genug gelernt, um ihn ins Repräsentan-
tenhaus seines erleuchteten Staates zu bringen. Gegen
derartige Beweisgründe ließ sich natürlich nicht anstreiten,
und wir anderen Reisenden schwiegen beschämt vor jenem
oregonischen Solon.
Nachdem wir bei der Stagestation „mountain view"
unser Mittagsmahl eingenommen hatten, wo vor dem Wirths-
Hause auf einer gewaltigen quer über den Weg angebrachten
Tafel die falsch buchstabirten Worte „tole road"statt „toll
road" (Schlagbaum-Straße) Einem entgegenstarrten und
polizeiwidrige Gedanken gegen den erleuchteten Staat
Oregon wach werden ließen, ging es mit einem Vorspann
von sechs Rossen ins Gebirge. Die trefflich angelegte Straße
wand sich zwischen den mit herrlichen Nadelholzwaldungen
bestandenen Abhängen allmälig empor. Auf der Höhe au-
gelangt, hatten wir eine prachtvolle Fernsicht auf dichtbe-
waldete bläuliche Bergketten, über welche sich uns zur Linken
die schneebedeckte Gebirgsmasse des 14,440 Fuß hohen Mouut
Shasta (auch „Shasta Butte" genannt) emporthürmte — ein
herrliches Bild! Jetzt ging es auf gewundener Straße rasch
wieder bergab. Neue Aussichten auf das Gebirge, eine schö-
ner als die andere, entzückten das Auge. Hier lagen hell-
grüne Wiesen idyllisch zwischen den duukelen Tannenhölzern,
dort brauste ein Bach schäumend thalab, dessen Ufer mit
Ahorn und Cottonwood, weißstämmigen Birken und dem
goldgelben Laube der Sumpfeschen reizend umrahmt waren,
während sich in der Ferne die dunkelvioletten Bergzüge ma-
krisch hinzogen und der alte Shasta Butte darüber seinen
Silberdom hoch im blauen Aether emporgebaut hatte.
Bei der Station Coles, 35 Miles von Jacksonville,
lag die Hauptkette der Siskiyouberge hinter uns. Das
freundliche Stationsgebäude mit dem langen weißen Stacket
nahm sich ganz sommerlich aus, die Lust war südlich warm
uud die Landschaft mit dm braunen Hügeln hatte bereits
ein echt californisches Aussehen. 400 Ä)ards jenseits Coles
Station überschritten wir die Südgrenze des Staates Oregon,
welche auf den 42. Grad nördlicher Breite gelegt worden ist.
Auf staubiger Straße kutfchirten wir weiter, kamen an ver-
lassenen Placers vorbei und kreuzten ausgetrocknete weite
Flußbetten, welche im Winter von brausenden Fluthen ange-
füllt sind, bis wir nach einer Fahrt von 8 Miles das
Minenstädtchen Cottonwood erreichten. Nach eingetretenem
Winterregen herrscht hier ein reges Leben, aber zu dieser
Jahreszeit fehlt das Alles belebende zum Bearbeiten der
Minen unumgänglich nothwendige Wasser, und die Placers
liegen ganz verödet da. Zweieinhalb Miles jenseits Cotton-
wood trafen wir den Klamathfluß, einen reißenden Strom
mit felsigen, baumleeren Ufern, den wir vermittelst einer
Fähre paffirteu. Er ist der natürliche Abfluß des kleinen
und des großen Klamathfees — jener 35, dieser 60 Miles
in nordnordöstlicher Richtung von hier entfernt — und er-
gießt sich westwärts in den Ocean. Am Nordwestufer des
großen Klamathfees erhebt sich der 11,000 Fuß hohe Mount
M'Langhlin (auch „Monnt Pitt" genannt), den ich zuerst
vom Thale des Rogueflusses aus erblickt hatte, der aber von
hier, durch dazwischen liegende Höhen verdeckt, nicht gesehen
werden kann. Der Klamathfluß hat ein sehr tückisches Ge-
Oregon und Californien (1871).
Wässer, voll von Wirbeln und Stromschnellen, das schon
manchem verwegenen Schwimmer einen gewaltsamen Tod ge-
bracht hat. Die Fähre über denselben, welche an der Haupt-
straße zwischen Oregon uud Californien liegt, ist ein einträg-
liches Monopol; einen Wagen und zwei Pferde hinüberzu-
schaffen kostet z. B. 2^ Dollars. Als die Goldminen im
südlichen Oregon zuerst entdeckt wurden und Miner, Kaufleute
und Abenteurer zu Tausenden von Californien dorthin ström-
ten, war diese Fähre eine echte Goldgrube und soll ihrem
Besitzer zu damaliger Zeit durchschnittlich 300 Dollars per
Tag eingebracht haben.
Wir fuhren jetzt über ein viele Meilen breites bäum-
leeres Plateau, wo der Boden überall Gold enthält, das
aber wegen der gänzlichen Abwesenheit von Wasser nicht
ausgebeutet werden kann. Rechter Hand lagen die gleich-
falls an Gold reichen „Oregon Hills", deren Minen nur
im Winter während der Regenzeit bearbeitet werden, jenfeits
des Klamath der Höhenzug der „Bogus Hills" und nach „
links hinüber der majestätische Monnt Shasta in prachtvoll-
ster Abendbeleuchtung. Nicht vergessen hatte ich sein Herr-
liches Bild, welches sich meinem Geiste unauslöschlich ein-
geprägt , als ich ihn vor sechs Jahren zum ersten Male
von eben diesem Standpunkte und bei ähnlicher Beleuchtung
sah: die seinen Fuß umkränzenden blänlich-violetten Wälder,
den wie eine riesige Bastion aus der Gebirgsmasse hervor-
tretenden großen Krater und den von den Strahlen der sin-
kenden Sonne goldig umleuchteten Silberdom, — ein wun-
derbar großartiger Anblick! Mehr als 40 Miles dehnte
sich die Ebene zwischen uns und dem Shasta Butte aus, und
jenseits derselben stand der riesige Schneekoloß, ein Gebirge
für sich, majestätisch da. Gerade vor uns lagen die Scotts-
berge, ein Gebirgszug von beträchtlicher Höhe, dessen Gipfel
hier und da Spuren von Schnee zeigten; zwischen ihnen
und dem Shasta Butte ein isolirter Bergkegel, der „Zucker-
Hutberg" (sugar loaf mountain) genannt. Aber die Sonne
sank schnell und bald verwischten sich die dustigen Contoureu
des Riesengemäldes, und als wir nach dem Scheiden des
Tagesgestirnes den großen Shasta (big Shasta), einen
Nebenfluß des Klamath, überschritten, lag die gewaltige
Schneekuppe des Shasta Butte kalt, weiß und farblos am
dunkelnden Horizonte da. Die Nacht war bereits eingetre-
ten, als wir das Ziel unserer Tagereise, die Stadt Ureka,
erreichten.
In Nreka (sprich: Weirika), an welchem Platze ich zwei
Tage verweilte, sah es wüst aus. Die halbe Stadt lag in
Trümmern, in Folge eines verheerenden Brandes, welcher
den Ort am vergangenen 4. Juli heimgesucht hatte. Das
Feuer war durch das Abbrennen von „fire crackers" ent-
standen, womit Alt und Jung an jenem Tage, dem Jahres-
datum der Unabhängigkeitserklürung der Union, jeden Platz
auf diesem Continente unsicher macht. Es ist ein trauriges
Zeichen der Rohheit einer Nation, wenn dieselbe, wie hier
der Fall, ihren höchsten Festtag hauptsächlich mit Spectakel-
machen feiert! Aber trotz des widersinnigen Lärmens und
der vielen Unglücksfälle, welche an jenem Tage alljährlich
stattfinden, bleibt es beim Alten, und ganz Amerika ist an
seinem höchsten Festtage nicht viel besser als ein großes Toll-
Haus. Das Wort Areka, welches früher Wyreka gefchrie-
beu wurde, ist der Sprache der Shastaindianer entnommen,
welche den Mount Shasta Ei-i-ka nennen, und bedeutet
wörtlich übersetzt: „großer Fels". Die im obern Sa-
cramentothale ansässigen Indianer nennen jenen Berg, einen
jetzt nicht mehr thätigen Vulcan, Bulrumptum, ein be-
zeichnender Name!
Ureka war in den fünfziger Jahren das reichste „mining
camp" im ganzen Staate und ist immer noch der bedeu-
Theodor Kirchhoff: Streifzüge in
tendste Minenplatz im nördlichen Califormen; viele der Groß-
Händler in San Francisco legten hier den Grund zu ihrem
jetzigen Wohlstande. Die in unmittelbarer Nähe jenes Or-
tes zu damaliger Zeit aus deu Minen erlangten Reichthümer
belicfeu sich auf über 8 Millionen Dollars Gold im Jahre.
Jetzt kommt der Ertrag sämmtlicher Minen in einem Um-
kreise von 8 Miles von Meka kaum dem vierten Theil jener
Summe gleich und beträgt in Areka selbst nicht mehr als
300,000 bis 500,000 Dollars an Gold per Jahr. Jedoch
beläuft sich das Goldproduct des ganzen Conntys immer-
noch auf etwa fünf Millionen Dollars im Jahre. Das be-
rühmte „Ireka flat", ein ausgedehnter Minengrund in UN-
mittelbarer Nähe westlich von der Stadt, wo in früherer
Zeit hundert Dollars Werth Goldstaub aus jeder Wagenla-
dnng Erde gewonnen wurde, ist fchon zwanzig Mal überge-
arbeitet worden, und das edle Metall in demselben ist keines-
wegs erschöpft. Doch wird jetzt das meiste Gold nicht mehr
dort, fondern aus den in der Nähe des Ortes liegenden Hü-
geln und Bächen gewonnen. Die Stadt Areka ist so zu
sagen auf Gold gebaut, denn der ganze Grund und Boden,
auf dem sie steht, ist goldhaltig. Es ist eine Eigenthümlich-
keit des goldhaltigen Bodens in dieser Gegend, daß das edle
Metall dort nicht inAblagerungen auf dem Grundfelsen vor-
kommt, sondern gleichmäßig durch die Erde vertheilt ist.
Das Bett des Areka-Creek, welcher in den Shastastuß fällt, ist
bis zum Grundfelsen außerordentlich reich an Gold, und sollte
es, wie es im Plane liegt, gelingen, dasselbe mit „ground
sluices" zu bearbeiten, d. h. den Bach selbst in eine riesige
Goldwaschrinne zu verwandeln und die ganze Erde, von
seiner Mündung aufwärts gehend, bis auf den Grundfelsen
fort- und auszuwaschen, so würden sich unzweifelhaft die frü-
Heren glänzenden Zeiten von Areka erneuern. Man hat
versuchsweise zwei Miles oberhalb amUreka-Creek, nahe der
Mündung des Greenhornbachs in denselben, einen Schacht,
127 Fuß tief bis auf den Grundfelsen ausgegraben und
fand die Erde von oben bis unten reich mit Gold geschwän-
gert. Die Schwierigkeit bei „ground sluicing" liegt darin,
den nöthigen Fall für das Wasser und dieses in genügender
Menge zu erhalten; doch glaubt mau, daß sich das Unter-
nehmen mit einem Kostenaufwands von etwa einer Viertel-
Million Dollars erfolgreich beginnen lasse.
Die Hauptminendistricte in der Umgegend von Meka
sind die folgenden: die Hawkinsville-Minen; die Minen am
Humbug-Creek, die sich 14 Miles an jenem Bache entlang
erstrecken uud wo iu einzelnen „claims" bis 1000 Dollars
an Goldstaub per Tag ausgewaschen wurde; der 6 Miles lange
Greenhornbach, au welchem in früheren Jahren ein einzelner
Miner irgendwo eine Unze Goldstaub per Tag gewinnen
konnte, und dessen Placers noch lange nicht erschöpft sind;
der Cherry- und der M'Adams-Creek; der Jndian- und der
Areka-Creek, sowie der Scott-, Shasta- und Klamathfluß.
Am Klamath sind alle Sandbänke in seinem Bett goldhaltig,
bis 140 Miles aufwärts von seiner Mündung, und alle in
denselben fallenden Bäche führen mehr oder weniger Gold
mit sich. Der Goldstaub in den Areka-Minen hat einen
Werth von 16 bis 18 Dollars per Unze.
Man sollte glauben, daß in einem Orte, in dessen un-
mittelbarer Nähe immer noch Millionen Dollars in Gold
der Erde abgewonnen werden, Handel und Wandel blühen
müßten, und daß ein solcher Platz seinen Reichthum auch
äußerlich zur Schau tragen müßte. Aber dieses ist in
Meka keineswegs der Fall, und die Stadt hat ein sehr ver-
wahrlostes Aussehen. Die sage zwölf großen Feuersbrünste,
welche hier seit der Gründung des Ortes gewüthet haben,
scheinen deu Bewohnern die Lust zum Bauen ganz verleidet
zu haben. Namentlich hat das letzte verheerende Feuer,
Oregon und Califormen (1871). 187
welches während eines Sturmwindes binnen 40 Minuten
den Hauptgefchäftstheil der Stadt in Afche legte und an
Häusern allein, ohne die zerstörten Waarengüter mitzurech-
nen, einen Verlust von mehr als einer Viertelmillion Dollars
verursachte, einen sehr deprimirenden Eindruck hinterlassen.
Obschon drei Monate seitdem verflossen waren, war mit
Ausnahme einiger Holzhäuser kaum ein Anfang zum Wie-
deraufbaueu der Stadt gemacht worden. Nach den großen
Feuersbrünsten von 1852 und 1854, bei denen sogar die
eben angekommenen und kaum von denPackthieren abgelade-
nen Waarengüter mitten in der Straße verbrannten, entstand
Preka jedesmal wie ein Phönix schnell wieder aus der Asche;
aber seit deu letzten sieben Jahren baute man nur die uoth-
wendigsten Gebäude wieder auf. Ich bemerkte ein vor sieben
Jahren zum Theil niedergebranntes Eckhaus an der Haupt-
straße, das nur nothdürftig ausgebessert worden war und
wo nicht einmal die angebrannten Balken auf der Veranda
durch neue ersetzt waren. Der früher aus einer Umgegend
von 30 Miles in Areka concentrirte Handel hat sich nach
vielen kleinen Minenplätzen, wo jetzt allenthalben „Stores"
zu finden sind, zersplittert, und die Kaufleute, welche fönst
ihre Waaren mit hundert und mehr Procent Profit verkauf-
ten, müssen sich nun mit weit geringerm Nutzen begnügen.
Die Miethe für Läden ist von 200 und 300 Dollars per
Monat auf 20 bis 30 Dollars per Monat herabgegangen;
Gebäude, deren Bau 9000 bis 10,000 Dollars gekostet hat,
finden jetzt zu 1500 Dollars kaum einen Käufer. Gegen-
wärtig zählt Areka etwa 1200 weiße Einwohner, worunter
der vierte Theil Deutsche. Unter den Fremden bilden die
Portugiesen einen starken Procentsatz. Chinesen, von denen
1000 bis 1200 im Connty leben, sind zahlreich in Areka
vertreten, und viele Indianer lungern in zerlumpter Klei-
dung iu den Straßen herum. Letztere gehören zu den
Stämmen der Modoes, Shastas, Lalacs und Klamaths.
In und um Areka giebt es deren etwa 200, und alle ge-
nannten Stämme zusammen sind etwa 1400 Köpse stark.
Eine angenehme Abwechselung für das Auge bilden im
Gegensätze zu dem verwahrlosten und zum Theil in Trüm-
mern liegenden Geschäftstheile der Stadt die denselben um-
gebenden Privatwohnungen, welche den verheerenden Feuers-
brünsten entgangen sind. Vor jedem dieser ländlich-hübschen
Häuser liegen reizende mit weißen Stacketen umgebene
Blumengärten, voll von blühenden Rosensträuchen, Pracht-
vollen Georginen und hundert anderen Blumen; Weinreben,
mit saftigen Trauben beladen, ranken an den Birnbäumen
empor; ans den von Epheu und anderm Immergrün um-
kränzten Verandas hängen niedliche Kästche, in denen Ka-
narienvögel zwitschern; die reinlichen Wege sind von Präch-
tigen Laubbäumen beschattet. Ich machte einen Spaziergang
durch die Stadt, bei welchem sich die verschiedenartigsten Bil-
der wie in einem Kaleidoskop einander drängten. Verfall und
reges Leben neben einander, wohin ich sah! — Hier der ab-
gebrannte Stadttheil mit den geschwärzten Ruinen, neuen
Bretterschuppen, die sich an die stehengebliebenen Stein-
mauern der ausgebrannten Häuser lehnten, verborgenen
eisernen Thüren und Fensterläden, Schutt und Trümmern
im chaotischen Durcheinander; dort die idyllischen Privat-
Wohnungen und dicht hinter ihnen die wüsten Goldplacers;
verfallene Gebäude uud elende chinesische Waschhäuser neben
eleganten „Stores"; in den Straßen Kaufleute und Fremde
in modischen Stadtkleidern, und sonnverbrannte Miner, kräf-
tige Gestalten, in Bloufeu und rothen Hemden und breitkräm-
pigen Hüten, den Revolver im Gürtel; große Frachtwagen,
welche Waarengüter mitten in der Straße abluden.
Eine staubige Stagekutsche, „Jones Fiat and Yreka"
steht in flammenden Lettern darauf gemalt, jagt die Straße
24*
188 Heinrich v. Maltzan: Zur Ken
entlang und hält vor meinem Hotel. Hier ist ein Schau-
spiel, wie es in der ganzen Welt nur eine echte Minen-
stadt Einem vor Augen führt! Der Wagen ist innen und
obenauf von Goldgräbern überfüllt, Weiße und Chinesen
durch einander, und die auf dem Kutschendache zwischen Post-
sacken und Gepäck Sitzenden lassen die Beine seitwärts her-
unterbaumeln; der Staub liegt auf den Kleidern nnd Gesich-
tern der Neuangekommenen fingerdick. Bald ist die Stage
von einer dichten Menge der Stadtbewohner umlagert.
„Hallo, John! Struck it rieh?" — „What's the news
in the diggins, Jimmy?" — „How goes it, Bob?" 2C.,
so ungefähr lautet der gewöhnliche Gruß. Die wilde Ge-
sellschast springt vom Wagen, Postsäcke werden herabgeschleu-
eichnung der Zustände in Tunis.
dert, bestaubte Koffer unsanft auf die Erde gesetzt und aus
der Stage kommen alte Mantelsäcke, Bündel von Wolldecken,
Flinten, Pistolen:c. zum Vorschein, als ob zugleich ein Tröd-
lerladen und ein Arsenal darin verborgen sei, — während
einzelne Glückliche, von Freunden umgeben, mit ihren schwe-
ren Cantenas (Goldtaschen) auf dem Arm langsam die
Straße entlang schlendern. Hier tritt einer von jenen wild
aussehenden vom Glücke gesegneten Minern in ein elegantes
Schenklocal und tractirt alle Anwesenden und ruft, da
die Gesellschaft ihm nicht zahlreich genug ist, noch ein
Dutzend Fremde von der Straße herein, der Schluck, die
Cigarre je ein viertel Dollar; Champagner! Für Jeden,
der ihn trinken mag! — wie gewonnen, so zerronnen!
Zur Kennzeichnung der Zustände in Tunis.
Ein tunisischer Prinz als Rebell.
Von Heinrich Freiherrn von Maltzan.
III.
Der unglückliche Prinz fiel wirklich in die Hände seiner
Feinde, und zwar ohne daß er irgend welche Gelegenheit
gefunden hätte, seine Tapferkeit zu zeigen. Eine Zeitlang
feierten die Rebellen noch ihre Feste fort, hielten tagtäglich
den lächerlichen „Kriegsrath", entwickelten eine große Kampf-
lust und kühnen Muth, — aber Alles nur in Reden. Zum
Kampf zu marschiren waren sie noch nicht bereit, und den
Marsch vorzubereiten, dazu ließen sie sich einstweilen noch
Zeit, eben so wie die Regierung ihre Rüstungen mit dem
üblichen Schlendrian betrieb, der alle Staatsgeschäste der
modernen Reiche des Islam kennzeichnet. Einstweilen waren
die beiden Feinde nur in Worten thätig.
So hätte es Jahre lang fortgehen können, und dem Bey
wäre nicht viel daran gelegen gewesen. Denn die ausgewie-
gelten Landstriche lagen fern und an Steuerzahlung war
ohne eine stcuereintreibende Armee dort ohnehin nie zu den-
ken gewesen. Jedoch der erste Minister sorgte dafür, daß
die Dinge einen schnellern Verlauf nahmen. Er kannte
das Mittel, um eine feindliche Armee auch ohne Truppen
unschädlich zu machen. Das gewöhnliche Mittel, die Be-
stechung, das schon im Jahre 1864 dem Staate so schöne
Früchte getragen, indem es ihn von einer weit gefährlichem
Rebellion befreite, wurde auch hier versucht und hatte, wie
gewöhnlich,' den besten Erfolg. Gerade diejenigen Häupt-
linge, die im „Kriegsrath" sich am mnthigsten geberdet hat-
ten und am ärgsten gegen die Regierung loszogen, waren
die ersten, die sich bestechen ließen. Sie perorirten gegen
Bey und Minister selbst dann noch fort, als sie schon das
Geld des letztern in ihren Taschen hatten. Natürlich nur
zum Schein und um den Prinzen zu täuschen, bis sie ihn.
den Feinden ausliefern konnten.
Hierzu bot die Komödie des Feldzuges, die sie bald dar-
aus in Scene fetzten, die beste Gelegenheit. Der Minister
war ihrer so gewiß, daß er nur ein einziges Bataillon ihnen
entgegenschickte. Sidi el Adel zog an der Spitze derer, die
er noch immer für Rebellen hielt, kampfbereit und kühn auf
den Feind zu. Selbst von Muth beseelt und begierig, den
tunisischen Truppen zu begegnen, wurde er dnrch den an-
scheinend noch viel größern Kriegseifer feiner Anhänger nicht
wenig überrascht. Denn diese tollkühnen Reiter sprengten,
kaum daß sie den Feind erblickt hatten, schnurstracks und im
Galopp ihrer Pferde auf das feindliche Bataillon los. Schon
hatten sie es erreicht, und noch immer erfolgte von Seiten
der tunisischen Infanterie keine Gewehrsalve. Welche fchänd-
liche Kriegslist mochte dahinter stecken? So fragte sich
Sidi el Adel. Aber nur zu bald ward er inne, daß er
allein hier noch Krieg führte und daß die Anderen lediglich
eine Komödie, die aber für ihn ein Trauerspiel werden sollte,
in Scene setzten. Denn plötzlich gaben die Feinde eine Pul-
versalve, die freilich keinen Menschen verwunden konnte, die
aber trotzdem eine schleunige Flucht der Rebellen zur Folge
hatte. Sidi el Adel sah sich von Allen verlassen und fiel
als Gefangener in die Hände seiner Feinde. So endete
durch Verrath, wie alle Aufstände der tunisischen Beduinen
in den letzten Jahrzehnten, auch diese lächerliche Rebellion,
die Tunis Schrecken eingeflößt hatte, und so zerstob zu Nichts
die ephemere Macht des unglücklichen Prinzen, den die Ver-
räther noch kurz vorher als ihren Landesherrn ausgerufen.
Sidi el Adel Bey wurde nun nach Tunis gebracht. Der
erste Minister, eingedenk des Versprechens, welches er den
europäischen Consulu gegeben, legte bei dieser Gelegenheit,
zum nicht geringen Erstaunen Aller, eine ungewöhnliche
Mäßigung an den Tag. Er hatte ja sein Wort verpfändet,
daß den Prinzen die Todesstrafe nicht treffen solle. Aber
er ging noch viel weiter, als die sanguinischen Menschen-
freunde hoffen konnten. Der Prinz wurde kaum wie ein
Gefangener betrachtet und durchaus seinem Range gemäß
behandelt. Ja noch mehr; er wurde sogar ehrenvoll empsan-
gen. Nicht nur mit den seinem Stande gemäßen Ehren-
bezeigungen, sondern selbst mit zärtlicher Berwandtenliebe
schien man ihm von Seiten des Hoses entgegenzukommen.
Der schlaue Staatsmann veranstaltete sogar eine Versöh-
nnngsscene zwischen Sidi el Adel und seinem Bruder, dem
Bey. Letzterer, ein von Herzen gutmüthiger, wenn auch
überaus charakterschwacher Manu, welcher sich nur auf den
Alles bei ihm geltenden Rath Mustapha's zuweilen und nur
mit Widerstreben zu Grausamkeiten hinreißen ließ, hieß die
Gelegenheit willkommen, seiner natürlichen Verwandtenliebe
Heinrich v. Maltzan: Zur Kem
freien Lauf zu lassen. Das Wiedersehen der Brüder war
wirklich rührend. Sie fielen sich unter Thränen um den
Hals, weinten lange, umarmten und küßten sich aufs Herz-
lichste ; kurz, es schien die vollkommenste, innigste Herzens-
Versöhnung zwischen Beiden stattgefunden zu haben. Und
dennoch sollte Sidi el Adel Bey in seinem Kerker erdrosselt,
nach Anderen vergiftet sterben!
Der erfahrene Staatsmann Mustapha Chasnadar hatte
sich bei dem Zusammentreffen des Bey mit dessen Bruder
nicht blicken lassen. Wenn er auch im Stande gewesen wäre,
dem von ihm mißhandelten Prinzen gegenüber Versöhnung
zu heucheln, so wußte er doch, daß der aufrichtige und ganz
unter dem Eindruck des Augenblicks zu handeln gewohnte
Sidi el Adel Bey dies nicht thun werde. Aber je weniger
auch er sich dem Prinzen näherte, desto mehr beschäftigte er
sich mit dessen Schicksal. Für die ersten Tage wurde Sidi
el Adel in eine eigens für ihn bereit gehaltene Wohnung im
Bardo (der Palaststadt des Beys von Tunis) gebracht. Ge-
fangen war er darin dem Namen nach nicht, wohl aber der
That nach. Eine sogenannte Ehrengarde stand vor seiner
Thür. Ausgehen, daran ist in Tunis für keinen ttnterthan
zu denken, der eine solche Ehrengarde erhält.
Sidi el Adel führte zwar in den ersten paar Tagen ein
materiell nicht unangenehmes Leben. Er empfing sogar
Besuch. Seine Sehnsucht nach der im Beduinenlager ge-
bliebenen Neuvermählten suchte man dadurch zu zerstreuen,
daß man ihm die schönsten Tänzerinnen von Tunis kommen
ließ. Aber Sidi el Adel's Herz war krank. Bald wurde
es auch sein Körper. Nun ließ man einen Arzt kommen,
und zwar einen Arzt, welcher zufälligerweise zu meinen per-
sönlichen Bekannten gehörte und dem ich die folgenden Mit-
theilungen verdanke, das Einzige, wenn auch Spärliche, was
über des Prinzen letzte Tage jemals bekannt geworden ist.
Der Prinz schien von einem Fieber befallen. Nichts
war natürlicher, denn das Innere der Regentschaft ist für
einen an das Tuniser Klima Gewöhnten oft gefährlich. Mein
Bekannter, ein deutscher Arzt im Dienste des Bey von Tu-
nis, wurde zu ihm geschickt. Mau hatte also die Absicht,
den Prinzen heilen zu lassen. Oder war auch dies uur Ko-
mödie, berechnet, die europäischen Consuln zu täuschen? Der
Arzt fand Sidi el Adel Bey zwar etwas fieberhaft, aber
durchaus nicht gefährlich krank. Der Prinz unterhielt sich
mit ihm ganz unbefangen. Er nahm dankbar die Arzneien
an, die ihm der Deutsche gab. Aber — er versteckte sogleich
diese Arzneien, so daß sie nicht in die Hände der Agenten
des Ministers fallen konnten. Wer weiß, mit welchen fchäd-
lichen Dingen sie sonst vertauscht worden wären? Auch
bemerkte der Arzt eine sehr mangelhafte Ernährung an sei-
nem Patienten, dem es doch wahrhaftig nicht an Lebensmit-
teln fehlte. Auf die Frage, warum er nicht esfe, antwortete
der Prinz nicht. Wozu auch? Der Arzt konnte den Grund
von selbst errathen.
Als der Deutsche sich eben entfernen wollte, merkte er,
daß Sidi el Adel noch etwas auf dem Herzen habe, was
er ihm sagen wolle. Gewöhnt an die Spioniereien orien-
talischer Höse und gewandt im Umgehen derselben, benutzte
der Arzt den Moment des Abschiedes, um den Prinzen, der
ihn bis an den Ausgang begleitete, zwischen der äußern und
innern Zimmerthür einen Augenblick allein zu sprechen, denn
bis jetzt hatte er nicht allein mit ihm sein dürfen. Die
Hofschranzen, man lese Spione, verließen Sidi el Adel keinen
Augenblick. Ein Wort genügte, um den Arzt von dem
Wunsch des Patienten in Kenntniß zu setzen. Dies Wort
lautete: „Eier!" Der Deutsche verstand natürlich, daß der
Prinz wünsche, er solle ihm das nächste Mal einige Eier
mitbringen. Es war klar, daß er sich scheute, die ihm ge-
eichmmg der Zustände in Tunis. 189
botenen Speisen zu genießen, und der Hunger ihn peinigte.
Eier in der Schale befanden sich niemals unter jenen ihm
gebotenen Speisen. Wer aber jemals Verdacht vor Ver-
giftung gehegt, der weiß, daß es nur ein einziges Lebens-
mittel giebt, bei dessen Genuß kein solcher Verdacht aufkom-
men kann. Dies Lebensmittel sind Eier in der Schale.
Unser Landsmann wußte also jetzt, wie es mit dem
Prinzen stand. Von dem Wunsche beseelt, ein Verbrechen
zu verhindern, so lange es möglich war, brachte er ihm nun
in den nächsten Tagen regelmäßig eine kleine Anzahl Eier,
die er dem Prinzen in derselben heimlichen Weise zusteckte,
in welcher die Bitte ausgesprochen worden war. So fristete
Sidi el Adel einige Tage lang fein Leben. Von den ihm
aus der Hofküche gebrachten Speisen aß er nichts. Den-
noch wurde er nicht schwächer. Im Gegentheil, sein Fieber,
das nur von der durch mangelhafte Ernährung herbeigeführ-
ten großen Schwäche herrührte, nahm ab. Er schien der
vollen Genesung nahe. Seine Wangen gewannen wieder
ihre natürliche Farbe, sein Körper verlor das hinfällige Aus-
sehen. Die Hofschranzen waren außer sich vor Erstaunen
über ein so ungewöhnliches Resultat der freiwilligen Hunger-
knr. Damit konnte es nicht mit rechten Dingen zugehen.
Der Prinz mußte eine geheime Speise haben, die sein Leben
unterhielt. Da Niemand unter allen Personen, die densel-
ben umgaben, verdächtig, d. h. da Niemand unter ihnen war,
der nicht Spionier- und Henkerdienste für den ersten Mini-
ster versah, so fiel der Verdacht natürlich auf den Arzt. Man
errieth das Einverständniß zwischen ihm und Sidi el Adel,
und man beschloß, von nun an den Deutschen nicht mehr
zum Prinzen zu lassen.
Als der Arzt sich das nächste Mal zum Krankenbesuch
einfand, wurde er nicht angenommen. Man wies ihn mit
dem Bescheid zurück, der Prinz sei jetzt ganz wieder herge-
stellt und bedürfe eines Arztes nicht mehr. Unser Lands-
mann konnte von nun an kaum mehr etwas über den wah-
ren Zustand Sidi el Adel's erfahren. Er hielt es jedoch
für seine Gewissenspflicht, noch täglich sich an der Palast-
thür einzufinden und zu fragen, wie es dem Prinzen gehe
und ob dieser seiner nicht bedürft. Letztere Frage wurde
stets verneinend beantwortet. Ans die erstere gab man ihm
unabänderlich den Bescheid, der Prinz befände sich ausge-
zeichnet.
So verging eine Weile feit Sidi el Adel's Einsperrung.
Plötzlich verbreitete sich das Gerücht, der Prinz sei gefähr-
lich erkrankt. Dies Gerücht gelangte auch zu Ohren des
Arztes. Natürlich wünschte dieser nun seinen Patienten
wiederzusehen. Aber wieder verweigerte man ihm die Thür
mit dem Bescheid, der Prinz sei gesund und bedürfe seiner
nicht. Da aber das Gerücht eine nur zu bestimmte Form
angenommen hatte, so ging der Deutsche diesmal direct zum
Bey und bat sich von ihm einen Passirschein zum Prinzen
aus, der gefährlich erkrankt fei.
Der Bey schien nichts von der Krankheit zu wissen. Aber
bei ihm war ein Mann, der nur zu genau von dem wahren
Sachverhalt unterrichtet war. Dieser Mann war der erste
Minister. Nie ließ es Mustapha zu, daß der Bey allein
war, wenn ein Fremder Audienz hatte. Da der Minister
Alles wußte, so wandte sich der Bey natürlich an ihn um
Aufklärung. Mustapha verzog keine Miene, sondern ant-
wortete in der unbefangensten Weise, er habe den Prinzen
vor einer halben Stunde im besten Wohlsein verlassen, ein
ärztlicher Besuch sei also überflüssig. In demselben Augen-
blicke mußte aber Sidi el Adel Bey schon im Tode liegen.
Jedoch orientalische Fürsten sterben geheimuißvoll. Der
Prinz war schon acht Tage tobt, und noch sprach Niemand
davon. Als der Arzt sich nach dieser Frist wieder nach sei-
190 • Aus allen
nem frühern Patienten erkundigte, da stellte man sich er-
staunt, daß er so unwissend sein könne: „Weißt Du es
denn nicht," sagte man ihm, „der Prinz ist ja schon lange
todt."
Man hatte sich nämlich jetzt die Parole gegeben, den
Tod einzugestehen und ihn als ein längst stattgefundenes
„fait accompli" auffassen zu lassen. Die Consuln mußten
sich wohl zufrieden geben, als der erste Minister sie zu sich
befchied und ihnen mit gerührter Stimme in seiner üblichen
höflichen Weise sagte: der arme Prinz „sei vor Kummer
gestorben," weil er den regierenden Bey durch seine Re-
bellion so schwer gekränkt habe.
Daß der Prinz nicht „vor Kummer" gestorben, wußten
Erdtheilm.
Alle, Niemand besser, als der deutsche Arzt. Nur war es
ihm noch unklar, ob er an Gift, oder in Folge eines Be-
fuchs von „dem Mann mit der haarigen Brust" verendet
war. Eine Aufklärung über die Wahrheit konnte er jedoch
nie erlangen. Was hätte sie auch genutzt? Das Verbre-
cheu war begangen und kein irdischer Richter konnte den
Verbrecher zur Rechenschaft ziehen.
So endete auch dieser unglückliche Prinz als ein Opfer
der perfiden Staatskunst, die ihn erst zum Rebellen gemacht
und dann als solchen gerichtet hatte, bloß weil er persönlich
dem Manne verhaßt war, der die Geschicke der schwer heim-
gefuchten Regentschaft Tunis nun schon seit einem Menschen-
alter lenkt.
Aus allen
Fremdwörter in der deutschen Sprache.
Wir erwähnten vor Kurzem eines Büchleins von August
Boltz: „Das Fremdwort in feiner kulturhistorischen Entstehung
und Bedeutung" (Berlin, Verlag von Rudolf Gärtner) und
gaben einige Proben aus demselben. Wir lassen aus der beleh-
renden kleinen Schrift heute einen Nachtrag folgen.
Das ganze frühe Mittelalter zeigt ein buntes Gewirr des
Ringens nach lautlicher Gestaltung, ein Hin und Her der Ent-
lehnung, ein fast regelloses Anpassen der Wörter in allen Stu-
fen der Wandelung, nach allen Richtungen des Verständnisses —
ein treues Abbild des Ringens und Werdens auch in politischer
Beziehung, das aber seine vollständige Erklärung in der lang-
samen Entwickelung und der Unzulänglichkeit der Mittel findet.
Im Gewerbe begegnen wir den neuen Fremdwörtern:
Meister (magister), Schuster (ein zusammengesetztes, halb deut-
sches, halb lateinisches Wort — ©chuh-sutor = mhd. schuoch-
suter, schuohstaere, schuoster), Stiefel (stiful aus aestlväle),
Kappe (capa), Käfig (cheviä aus cävea), Spiegel (speculum),
Uhr (bora), Rad (rota, das deutsche scipä, Scheibe, wurde auf-
gegeben), Apotheke (apotheca), Flasche (flasca aus vasculum),
Kelter (mhd. kalter aus calcatura).
Im Handel begegnen wir dem Briefe (breve), der Ta-
verna (taberna), der Auster (ostrea), der Feige (ficus), feineu
Spezereien (spezerie von species), dem Kampfer (perf. käfur,
vom sskr. karpüra), der Seide (sida von seta) u. a.
Beim Land bau finden wir: Wir-sing (aus viridia, Grü-
nes) , Veilchen (Kol aus viöla), Mispel (mespilum), Salbei
(salvia), Pflaume (phlum-boum aus prunus), Maulbeere (mul-
boum aus murus, die also nichts mit dem Maulthiere [mulus]
noch mit dem Maule zu thuu hat) und den Spargel (aspä-
rägus).
In der Sprache der Kirche u. a.: Tempel (templum)
und Pilger, Piligrim (peregrlnus), Pult (pulpltum) und Chor
(chorus), Schule (schola), Probstet und Clerisei.
Für das Staatsleben: Krone (corona), Scepter (sce-
ptrum) und Thron (thronus) und eine Unmasse technischer Aus-
drücke für die Verwaltungssprache.
Die Cultur bringt uns die Copie (cöpia) der alten Fabel
(fabula) und mit dem Vers (versus) die Poesie (poesia aus
poesis) und die Melancholie und unzählige Wörter auf ie und
ei und die Verben auf iren, wie Probiren, prüfen, proben (von
probare), die das Sprachmaterial unendlich vermehren, und
bald noch selbständige Nachahmungen hervorrufen, wie Bumme-
lei, Betrügerei, Halbiren, inhaftiren, Verlustiren u. f. w. u. s. w.
bis ins Unendliche. Einmal den fremden Silben Thür und Thor
geöffnet, drängen sie sich — wie der Böse, der die ganze Hand
Erdtheilen.
nimmt, wenn man ihm bloß den kleinen Finger darreicht —
massenhaft herein, und Wörter wie Blumist, Hornist, Glasur,
Schmieralien und andere solche Bastarde ftolziren bald einher
in dem bunten Gewirr mit dem Vollbewußtsein höchsteigener
Naturwüchsigkeit, um so mehr als neben ihnen ein lustiger Chor
von Taufnamen, trotz dem Kalender, dem sie entlehnt waren,
ihren Taufschein verloren zu haben schienen, ohne sich dessen im
Geringsten zu schämen, vom groben Töffel oder Stoffel (Christo-
pherus) und der Trine (Catharine) und der Mine (Wilhel-
mine) bis zum kleinen Tönnjes (Antonius) und den gar zu
kurz gerathenen Kraz (Pancratius) und Max (Maximilianus)!
Vielen war indem Getümmel der Accent auf die letzte Kante
gerutscht, wie Nation, Sermon, Rumor, Facultät u.a.; bei an-
deren schwankt er noch heute von einem Ohr zum andern, wie
bei: Altar, Pallast (Palast), Orient u.a.; ja einigen ging sogar
ihr Geschlecht verloren, als sie in dieses bain de jouvence stie-
gen : als alte Männchen sprangen sie hinein und kamen als
verjüngte Schöne am andern Ufer heraus, oder umgekehrt. So
die Passage (lep.), dieCaprice (le c.), die Etage (l'etage m.),
die Equipage(I'ey. in.); gar manchen war es unwiderruflich ab-
Händen gekommen wie das Fenster (fenestra), Rad (rota) u. a.
Mitten in diesen Wirbel gestaltungssüchtiger Laute drängt
sich plötzlich noch eine dunkle Schaar, die über Spanien aus
dem Maurenlande bei uns eindrang. In fremder Gala
(ar. chalaat, Ehrenkleid) schreitet sie einher, mit Pauke (ar. el-
buk) und Laute (el-aud), mit Hellebarde (el-harbet) und Tart-
sche (tars); die Karbatsche (karbatsch, Geißel aus Nilpferdhaut
in Nubien) schwingend gegen den riesigen Elephanten (ar. E'Fil)
wie gegen das fremdartige Kameel (gemel) und die noch felt-
famere Girafe (sirafet), die wie eine Maske (mescharet) unse-
rer Thierwelt gegenübersteht. Ihnen solgt der Admiral (emir-
al-bahr, Fürst des Meeres), der das Kabel (habl) der Zukunft
in seinem Wappen trägt. Züge von Kaufleuten bringen Kaffee
(kahwe), Safran (saferan), Ambra (el-anber), Juwelen (ar.
johar, sp. joya, it. gioiello), Reis (ar. er-roz) und den dar-
aus gewonnenen Arak (ar. araqi) und Kattun (el-kothn, sp.
algodon, fr. coton, Baumwolle); und mit den indischen Pro-
ducten Moschus (sskr. mushka, ar. el-musk), Zucker (sskr. sar-
karä, ar. sukker), Orange (sskr. näranga, ar. narendsch, sp.
naranja) auch den schwatzhaften Papagei (ar. babaghän), die
werthvollen indischen Ziffern (dsehefr, ursprünglich die den
Einern erst Werth gebende Null), mit welchen wir erst in Brü-
chen zu rechnen vermögen; — Magazin (el-machsen), Tara
(tharaka, Verminderung), Tarif (tarif, nähere Bestimmung),
Koffer (el-kofaat), Alkove (el-kubet), Caraffe (al-caraffa),
Elixir (el-iksir), Stein der Weisen, bei uns ein Getränk, En-
divie (hindba) gehen von ihnen aus, wahrend ihre Weisen uns
Aus allen
Erdtheilen.
191
mitZenith, Nadir, Algebra, Alchymie, Almanach, aber auch mit
dem Alkohol bekannt machen.
Und hinter ihnen allen hält das Ritterthum seinen Einzug,
mit seinen Abenteuern in der Wüst-e, seinem Märchenwesen, sei-
nem Minnecultus, seiner Lieder- und Wanderlust und seinen
poetischen Wettkämpfen, die die Sprache mit unzähligen Fremd-
Wörtern bereichern.
Und daß das Ritterwesen in Europa von den spanischen
Mauren ausging, steht über jeden Zweisel erhaben.
Der hochentwickelte Zustand unserer Civilisation rief eine
Erscheinung hervor, die bisher nie existirt hatte, nie existiren
konnte, er schuf Weltwörter, wie ich die Wörter Post, Photo-
graphie, Telegramm, Telegraphie u. a. nennen möchte, denen bei
dem Drängen der Erfindungen gar bald noch mehrere folgen
werden und zwar aus dem Material und nach Analogie der bieg-
samsten der bekanntesten Sprachen der alten Welt, der griechischen.
Viele derselben sind unverändert absolutes Volkseigenthum
geworden; andere hat sich der Volksmund zurechtgelegt nach
vorhandenen Lautanklängen, wie Athems-sähre für Atmosphäre,
Flitzentasche (der Name eines Bergwerkes in Westsalen) für das
unverstandene Felicitas; blümerant für bleu mourant; Stellage
für etalage; Schleuse für ecluse; Scharwenzel für it. ser-
vente; Potentaten für die Füße, in Rücksicht auf Poten, Pfo-
ten u. a. Solche Anpassungen finden sich in fast allen Sprachen.
Noch andere hat der Volksmund mit bereits verständlichen
fo in Eins verbunden, daß das neue Wort die Sache eigentlich
zweimal benennt, wie Domkirche, Blumenflor, Maulthier, Tiger-
thier, Bimsstein, Marmelstein, Kutschwagen, Eisgletscher, Grenz-
mark, Salweide, Damhirsch (dama), Kometstern u. a.
Von der paeisischen Küste Nordamerikas.
Man nimmt in der Regel an, daß das erste Gold in Ca-
lifornien 1348 bei Sutter's Mühle von dem Mormonen
Marshall gesunden worden sei. Jetzt aber ist bekannt gewor-
den, daß schon im Jahre 1833 ein Mexicaner das edle Metall
in den Kieshügeln der obern Grenze des heutigen Los Angeles
County gefunden hat. Ein Yankee, Abel Stearns, war 1629
von Boston nach Los Angeles gekommen, untersuchte den Gold-
staub, schickte ihn nach Philadelphia in die Münze und erhielt
von dort nicht bloß eine Empfangsbescheinigung, sondern auch
einige aus diesem Goldstaube geprägte Münzen.
Neue, sehr ergiebige Quecksilber gruben werden in der
Nähe von San Luis Obispo bei Cambria bearbeitet. In der
Keystone Grube ist die Ader 18 Fuß breit.
Boden und Klima in Südcalifornien eignen sich ganz vor-
trefflich für denAnbau von Feigen; auch die weiße Smyrna-
feige gedeiht. Kalifornische Feigen bilden schon jetzt einen Aus-
fuhrartikel.
Eingemachte Kokosnüsse sind nun auch ein Handels-
artikel in San Francisco geworden. Eine dortige Firma hat
im Juni zunächst die am Platze vorhandenen etwa 20,000 Stück
aufgekauft und mit einem .Handelshaufe auf den Gesellschafts-
inseln einen Vertrag über die Lieferung einer halben Million
Stück abgeschlossen. Das Innere der Kokosnuß soll, „delicat
präservirt", ein Leckerbissen sein.
Am 30. Mai sind von San Francisco auf der Eisenbahn
nach Neuyork nicht weniger als zwanzig mit Seehundsfellen
aus Alaska befrachtete Wagen abgegangen.
Einen nicht unbeträchtlichen Ausfuhrartikel bilden im Terri-
torium Washington, in Oregon und Kalifornien die Eisen-
bahnschwellen für die Schienenwege in Südamerika. Am
15. Mai ging von San Francisco ein Schiff ab, das 30,320
Schwellen für die Pacasmayobahn in Peru geladen hatte.
Die Silbe rproduction im Staate Nevada ist für
1871 auf reichlich 22,000,000 Dollars veranschlagt worden. Da-
von entfielen auf den Comstockdistrict 11, auf Pioche 4, auf
Eureka 2 Millionen.
Chinesischer und japanischer Thee geht jetzt auch
auf der Pacificbahn nach Europa. Mit dem Dampfer,
i welcher in der Mitte des Mai aus Ostasien in San Francisco
einlief, kamen auch 3659 Kisten Thee; von denselben waren
629 nach Neuyork bestimnit und 1245 nach Montreal in Ca-
nada, von wo sie nach Liverpool verschifft werden sollten. So
macht jene Bahn dem Suezcanal Wettbewerb.
Also schon jetzt geht eine Menge chinesischen Thees nach San
Francisco und Neuyork und die bei weitem größere Quantität
des für letztere Stadt bestimmten Thees kommt über San Fran-
cisco. Großartig ist die Zunahme der Theeausfuhr von Ja-
pan; in Folgendem geben wir eine Zusammenstellung des Ex-
Ports der letzten sieben Jahre, während der Zeit vom 1. Juli
bis 22. April:
1864/1865 . . . 4,430,000 Pfund Thee
1865/1866 . . . 7,205,000 „
1866/1867 . . . 5,946,000 „
1867/1868 . . . 7,914,000 „
1868/1869 . . . 10,091,000 „
1869/1870 . . . 9,127,000 „
1870/1871 . . . 11,701,000
Aus dieser Zusammenstellung ersieht man, daß der Export
nie so bedeutend war als im vergangenen Jahre und daß er in
demselben sast dreimal so bedeutend war als sieben Jahre vorher.
Bemerkenswerth ist der Umstand, daß im Mai 1872 neun
Familien, im Ganzen 69 Personen, aus Costa rica nach Ca-
lifornien eingewandert sind, unter Leitung des Don Jose Ma-
ria Montealegre, der vor einiger Zeit Präsident von Costa rica
war. Sie alle sind wohlhabend und haben sich in San Rasael
angekaust. Diese Auswanderung ist auffallend, da Costa rica
ein Land ist, das höchst selten von Revolutionen angestreift und
in der nächsten Zeit einen beträchtlichen wirtschaftlichen Auf-
schwung nehmen wird. Ein solcher kann nicht sehlen, sobald
die im Bau begriffene Bahn von Port Limon nach der Haupt-
stadt San Jofe vollendet ist und das Binnenland feine Pro-
ducte zur Verschiffung an die atlantifche Küste bringen kann.
Ein Vulcan in Nevada. Wir finden in einem califor-
nischen Blatte folgende Notiz aus Los Angeles vom 31. Mai:
„Capitän Moß, der aus den Minen im südlichen Nevada zurück-
gekehrt ist, erstattet Bericht über den Ausbruch eines Vulcans.
Derselbe sand am 21. April, dem Tage des gewaltigen Erd-
bebens in Jnyo County, statt, in der Nähe von Death Valley.
Abends gegen 8 Uhr fchoß eine 30 bis 40 Fuß starke Flamme
einige 100 Fuß hoch in die Luft und erleuchtete die ganze Um-
gegend bis zum folgenden Morgen. Die Luft war mehrere
Tage lang mit Asche, Schwefel und Eisen geschwängert. Ein
zweiter Ausbruch ist nicht ersolgt."
Aus Portland in Oregon schreibt man vom 29. Mai:
„Der Mount Hood stößt heute Abend ziemlich starken Rauch
aus; schon seit Mittag wird eine starke Rauchsäule beobachtet."
In den letzten Tagen des Mai hatten sich am Clear Lake
in der Gegend von Calistoga etwa tausend Indianer aus ver-
schiedenen Gegenden zusammengefunden. Man hatte ihnen den
Untergang der Welt prophezeiet und diesem suchten sie zu ent-
rinnen. Diese armen Leute leben in einer entsetzlichen Angst
und wissen vor Seelenbeklemmung nicht, was sie mit sich an-
fangen follen. Die civilisirte Nachbarschaft hat ihnen nicht bloß
die Blattern gebracht; in den letzten Jahren sind viele von ihnen
auch der Schwindsucht erlegen. Sie selber schreiben diese Krank-
heit der Berührung mit den Weißen zu und ihrer eigenen An-
nahme civilisirter Sitten und wollener Decken. „Thatsache
bleibt, daß mehr als die Hälfte solcher Indianer,
welche durch Weiße aufgezogen werden, an der
Schwindsucht sterben."
Die chinesische Insel Hainan.
Auch auf diesem Eilande ist nun Kiung tscheu für den
Handelsverkehr der Fremden eröffnet worden. Die Jnfel wird
an ihrer Nordküste vom 20« N. durchschnitten; sie hat, wie ein
Blick auf die Karte zeigt, im Westen den Golf von Tong king,
die Ostfeite wird vom chinesischen Meere bespült. Wir haben
192 . Aus allen
vor längerer Zeit eine kurze Notiz gegeben über den Besuch,
welchen der englische Konsularagent Swinhoe (der auch über
Formosa manche Nachrichten gegeben hat) auf Hainan 1868 ab-
stattete ; er ist dann auch um die ganze Insel herumgefahren.
Zuerst fuhr Swinhoe nach der kleinen Insel Nao tscheu;
dort tritt die Kokospalme auf, welche weiter nach Norden hin
nicht mehr vorkommt; man bauet dort Reis, Zucker, Baum-
wolle und sehr viele süße Kartosfeln. Er dampfte dann nach
Hoihau, d. h. Seehafen, auf Hainan selbst; die Stadt Kiun
tscheu liegt etwa 4 Miles von demselben landeinwärts. Der Em-
pfang von Seiten des Gouverneurs war sehr freundlich, und
Swinhoe stellte seinen Dampfer, die „Algerine", gegen die Pi-
raten zur Verfügung. In der Stadt war Alles in gutem Zu-
stände; es zeigte sich keine Spur von Verfall. Viele Einwohner
beschäftigen sich mit Herstellung von allerlei Schnitzereien aus
Kokosschale und wohlriechenden Hölzern.
Etwa 10 Miles von der Stadt, im Dorfe Liang schan tscheu,
besuchte Swinhoe einen katholischen Missionär, der in einer be-
scheidenen Hütte wohnt. Die Mission datirt aus dein Jahre
1651; die Zahl der Christen, welche über die Insel vereinzelt
und zerstreut sind, hat sich sehr vermindert; die Kirche in Kiung
tscheu ist in einen chinesischen Tempel verwandelt worden.
Der Gouverneur begleitete den Engländer auf einem Aus-
flug ins Innere, zunächst nach Schu wei ssi, dem Platze, an
welchem die unabhängigen Bergbewohner, die Li, mit den Kauf-
leuten aus Hoi hau Tauschhandel treiben. Der Ackerbau war
in keinem guten Zustande, doch sah man Büffelkarren, die mit
Reis, Baumwolle, Häuten und Hirschhörnern beladen waren.
Höchst interessant war es, zu sehen, wie eine Gruppe von Fich-
ten unmittelbar neben einer solchen von Kokospalmen stand, und
daß ein Elsternpaar sein Nest auf einer solchen Palme hatte.
Der Platz, an welchem der Tauschhandel stattfindet, liegt einige
Meilen von der Stadt entfernt im Gebirge, in einer ungesun-
den Gegend. Swinhoe verkehrte dort mit einigen Li, die er
sehr uncultivirt fand; sie besorgten anfangs, daß er sie todt-
schießen wolle. Von ihnen erhalten die Chinesen Hirschhörner,
Felle von Hirschen, Büffeln und Rindvieh; Häute vom schuppi-
gen Ameisenfresser und anderen kleinen Thieren; Stuhlrohr,
Holz und Betelnüsse. Sie zahlen keine Steuern, und die weni-
gen, welche unter chinesischer Verwaltung leben, zahlen jährlich
eine ganz geringe Abgabe von jeder Arekapalme.
Im Innern leben auch Miao tse, Nachkommen von denen,
welche vor einigen Jahrhunderten aus der Provinz Kuang si
vom Festlande nach der Insel herübergekommen find. Sie sind,
eben so wenig wie die Li, nicht so wild wie man sie geschildert
hat, fürchten sich vielmehr vor den Chinesen.
Die Städte Fun ming und Ling mun, über welche wir
zum ersten Mal etwas hören, treiben lebhaften Handel. In
der letztern findet man viele Läden der Papierhändler, der Ta-
backs- und Droguenverkäufer; die Eisen- und Kupferschmiede
liefern Messer und Geräthschaften für die Li, insbesondere auch
Ohrringe und andern Schmuck. Die dortigen Kaufleute halten
Buchrechnung mit den Handelsleuten der Li, welche sehr an-
ständig gekleidet an den Markttagen zur Stadt kommen. Dann
sind zum Verkauf ausgestellt: Salz, eiferne Pfannen, Haus-
geräthschaften, Beile, Messer, blaues und weißes Baumwollen-
zeug, Kämme, Knöpfe, Haarputz :c. Der Verkauf von Pulver
und Schießgewehren ist nicht erlaubt, wohl aber der von Pfei-
len und Speerspitzen für die Jäger. Die Li bringen auch Tien
tscha, d. h. Himmelsthee, eine ziemlich grobe Sorte; sie sieht
aus wie getrocknete Camelienblätter und hat einen erdigen
Geschmack.
Erdtheilen.
Hainan ist reich an Mineralien, namentlich an Kupfer und
silberhaltigem Blei; auch Gold, Silber und Kohlen sind vor-
Händen, wahrscheinlich auch Zinn. In Kiung tscheu hat bereits
ein amerikanisches Haus ein Geschäft eröffnet; wir lefen, daß
einige englische und deutsche''Firmen demnächst ein Gleiches zu
thun beabsichtigen.
Gefährlicher Triebsand in Syrien.
r. k. Aus Herrn v. Maltzan's Aufsatz über „Adolph v.
Wrede's Reise in Havhramaut" kennen die Leser dieser Zeit-
schrift jene staubbedeckten Brunnen, von den Arabern „Bahr ess
Ssafi" oder „sandiges Meer" genannt, in denen schwere Ge-
genstände unaufhaltsam versinken. Des Nähern sind diese wun-
derbaren Phänomene von Wrede selbst geschildert, worüber man
seine, von v. Maltzan edirte Reise (Brannfchw eig, Fr. Vieweg
und Sohn, 1870) S. 243 vergleichen mag. Es war vornehmlich
diese Schilderung, welche ihm seiner Zeit in Berlin mit Unrecht
als Aufschneiderei vorgeworfen wurde und ihm die Aussicht auf
Unterstützung Seitens des Hofes abschnitt. Etwas ganz Ähn-
liches berichtet jetzt der als Beauftragter des Palestine Explora-
tion Fund und Reifegenosse Palmer's in der Wüste Tih bekannte
Tyrwhitt-Drake aus Syrien. Diese Schilderung findet sich
in dem von ihm und Richard Burton herausgegebenen, fehr
inhaltreichen Buche „Unexplored Syria", auf welches wir fpäter
noch einmal zurückzukommen gedenken.
Zu meinem größten Bedauern, erzählt er daselbst (Bd. II,
S. 124), war ich gezwungen, einen lange beabsichtigten Besuch
des Harroh aufzugeben, eines trockenen Triebsandes in der Wüste
südöstlich vom Hauran. Viele Beduinen, welche ihn gesehen
haben, beschrieben ihn mir als eine kreisrunde Ebene von Sand,
aus deren Mitte sich ein schwarzer Felsblock erhebt. Alle be-
haupteten übereinstimmend, daß Kameele, Gazellen oder andere
Thiere, falls sie diese Stelle betreten, stracks verschlungen wer-
den. Wenn auch viele alberne und übertriebene Dinge von
diesem Orte erzählt werden, so halte ich doch das Wesentliche
für wahr. Ich felbst traf in der Wüste auf ein ähnli-
ches Phänomen, obwohl in kleinem: Maßstabe. Mitten auf
einer großen Ebene wich plötzlich der Boden unter den Tritten
der Kameele, und sie sanken sast bis zum Bauche ein. Ihr
Schrecken war so groß, daß sie wie betäubt waren. Mit Mühe
herausgezogen, standen sie zitternd da und wollten nicht vor-
wärts. Die Fußgänger passirten dagegen die Stelle, ohne auch
nur ein wenig einzusinken. Ich untersuchte den Boden, es war
der seinste und trockenste Sand, in den ich einen Stab 4 Fuß
tief einbohren konnte. Die Oberfläche war vom Regen 3 oder
4 Zoll tief zufammengebacken worden und war so im Stande,
das Gewicht eines Fußgängers zu tragen.
# * *
— Die sämmtlichen Eisenbahnen Ostindiens hatten
am 1. März 1872 eine Länge von 8125 Kilometer.
— Zu Lowell in Massachusetts wuchert das alte Puri-
tanerthum sort. Die Genossenschaft junger christlicher Männer
hielt jüngst eine Versammlung, in welcher mehrere Redner des
Breitesten nachwiesen, „daß Genuß des Tabacks sich platter-
dings mit dem Christenthum nicht vertrage"!
— Der Census von Utah hat ergeben, daß dort 44,121
Männer und 42,665 Frauen leben. Die Männer sind also dort
in der Mehrheit, und schon hieraus geht hervor, daß die Poly-
gamie daselbst unter den Mormonen verhältnißmäßig als ein
Luxus bestehen muß.
Inhalt: Aus den Diamantfeldern Südafrikas. Mitgetheilt^on Hermann Breithaupt in Freiberg. (Mit sieben Ab-
bildungen.) — Aus deutschen Landschaften. Das Saterland. Von Franz Poppe. I. — _ Streiszüge in Oregon und Kalifor-
nien (1871). Von Theodor Kirchhofs. VII. — Zur Kennzeichnung der Zustände in Tunis. _ Ein tunisischer Prinz als Rebell.
Von Heinrich Freiherrn v. Maltzan. III. (Schluß.) — Aus allen Erdtheilen: Fremdwörter in der deutschen Sprache. — Von
der pacifischen Küste Nordamerikas. — Die chinesische Insel Hainan. — Gefährlicher Triebsand in Syrien. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redactivn verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vmunschweig.
kr Jätid
M
Jo 13.
Mit besonderer HerücksiektiSunZ äer AntkroVoloZie unä Gtdnologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1872.
Aus der Südsee.
Tättowirte Leute. — Auf den carolinischen Inseln. — Die verschiedenen Muster für den Hantschinuck. — Aberglauben in Bezug
auf denselben. — Die Bewohner der Kingsmillgruppe, ihre Wohnungen und ihre Waffen. — Merkwürdige Todtengebräuche. —
Das Tättowiren auf den Markesasinseln. — Stelzenlaufen.
In Deutschland reist gegenwärtig ein von der griechi-
schen Insel Suli gebürtiger Arnant umher, der ein aben-
teuerliches Leben hinter sich hat. Der Mann nennt sich
Konstantinn und mag etwa 40 Jahre alt sein; er war nach
Nordafrika gegangen, diente in der Fremdenlegion in Algier
und wurde von dort nach Saigong in Cochinchina geschickt.
Gemeinschaftlich mit einem Nordamerikaner und einem Spa-
uier entfloh er von dort, kam nach Birma, ging den Jra-
waddy hinaus, trieb sich in den nördlichen Grenzgebieten um-
her, wurde in die Streitigkeiten der dortigen Stämme ver-
wickelt, war, wie er sich uns gegenüber ausdruckt, unter den
„Tataren", worunter er wohl die Mohammedaner in Aua-
uan (die Pauthays) verstand, und zog gen Osten durch China,
bis er in der Hafenstadt Emuy (Amoy) das Meer erreichte
(vergl. S. 148).
Leider ist er ein Mann ohne höhere Bildung und kann
nicht einmal über die Namen der von ihm durchzogenen Ge-
biete Auskunst geben. Merkwürdig an ihm ist die Art, wie
er bei irgend einem Stamme, wie er angiebt, „zur Strafe"
tättowirt worden ist. Man hat ihn Tag für Tag sestge-
bunden und die schmerzhafte Operation unausgesetzt an ihm
vollzogen; daß sie ungemein schmerzhaft gewesen ist, glauben
wir ihm gern. Denn vom Kopfe bis zu den Füßen ist,
einzelne Stellen des Gesichts, z. B. die Nase, ausgenommen,
auch nicht ein Fleckchen, das nicht tättowirt wäre; selbst die
geheimsten Körpertheile sind nicht verschont gebli»beu, eben
Globus XXII. Nr. 13. (Octvber 1872.)
so wenig die Schädelhaut. Während aber am ganzen Kör-
per in Folge der Tättowirung all und jedes Haar verschwun-
den ist, hat der mächtige schwarze Bart allein sich wieder
Bahn gebrochen und ist voll und üppig. Als wir jüngst
im Verein für Erdkunde zu Dresden den sehr wohl gewach-
senen Mann vor uns sahen, konnten wir uns des Staunens
über diesen seltsamen Hautschmuck nicht erwehren, denn wir
hatten ein Kunstwerk höchster Vollendung vor uns. Ultra-
marinblau und Rosenroth sind bei den Figuren in ihren ver-
schiedenen Nünancen mit dem feinsten Kunstverständniß an-
gewandt worden, und so, daß sie bei den Bewegungen der
Muskeln zu voller Geltung kommen. Die verschiedenen
Arabesken, Thiergestalten, Blumen :c. sind in schönstem
Ebenmaße vertheilt, und man kann sich keine schönere Klei-
dung denken. Aus Allem, auch aus den Schriftlichen in
den beiden Handflächen geht hervor, daß er irgendwo im
nördlichen Hinterindien sich der Operation hat unterwerfen
müssen und sicherlich nicht unter einem Stamme von Wil-
den; dagegen würden schon die Buchstaben zeugen, die, so viel
wir unsererseits abnehmen konnten, birmanisch sind.
Der ganze Charakter jener Tättowirung ist von jenem
der Südseeinsulaner unterschieden. Als wir zu Hause
kamen, nahmen wir sofort das Buch Georg Gerland's
zur Hand. Dieser vortreffliche, überaus fleißige und gewis-
senhaste Gelehrte hat bekanntlich das Werk des verstorbenen
Professors Theodor Maitz („Anthropologie der Naturvölker")
25
Aus der Südsee.
fortgesetzt und in der zweiten Abtheilung des fünften Theils
(Leipzig, Friedrich Fleischer, 1870) die „Mikronesier und
nordwestlichen Polynesier" sehr gründlich behandelt, insbe-
sondere auch den Archipelagus der Carolinen, welche
sich von den Palaos- (Pelew-) Inseln im Westen, zumeist
etwas südlich von 10" N., weit nach Osten in den Ocean
sich hinaus erstrecken und zu welchen man auch noch die
Marschalls- und die Gilbertsinseln rechnet.
Die Bewohner dieses Archipelagus lieben den Schmuck
sehr; sie tättowiren sich stark, aber dieser Hantschmuck ist in
verschiedenen Gegenden auch verschieden. Die Seefahrer
fanden, daß die Bewohner von Palaus neben anderen Kör-
perstellen, namentlich von den Knöcheln bis in die Mitte der
Schenkel, so sorgfältig tättowirt sind, daß die Beine dadurch
wie mit Hosen be-
kleidet erscheinen.
Man beobachtete aus
einzelnen Inseln
auch allerdings nn-
deutliche Figuren
von Fischen und
Vögeln, einzeln
und in Reihen an
den Knien, Armen
und Schultern; ein
Bewohner von Luku-
nor hatte sogar eine
Landkarte an sich,
d. h. er hatte die ihm
bekannten Inseln auf
die Haut tättowirt.
Derartige Figuren
bilden aber im Gro-
ßen Ocean eine Aus-
nähme, während sie
in der Tättowirnng
des oben erwähnten
Sulioten Konstan-
tinu ein wesentli-
cher Bestandtheil des
Hautschmuckes wa-
ren. Bei den Po-
lynesiern beste-
hen die Muster
zumeist aus re-
gelmäßig stehen-
den Punkten und
Linien, runde Fi-
guren kommen nur
selten vor. — Am
stärksten sind die Be-
wohner der westlichen
Carolinen mit Hantschmuck versehen, der sich auf mehr oder
weniger großen Gebietsstrecken ziemlich gleichbleibt. Auf ein.
zelnen Inseln sind besondere Arten des Tättowirens für ein-
zelne Körpertheile heimisch, welche dann nach diesen Eilanden
benannt werden. So hat man auf Molen ein Muster für
die Brust, auf anderen für die Arme und die Beine. Im
westlichen Mikronefien tragen die Weiber noch eine andere
Hautverzierung, welche den Männern ganz besonders gefällt;
es sind mehrere Reihen kleiner Narben auf Schultern und
Armen.
Der Suliot zeigte in Dresden das Instrument vor, mit
welchem man ihn tättowirt hat; es glich einer Neisfeder,
war aber am Ende rund und hatte einen Spalt; wenn man
in denselben ein Stückchen Holz hineinbringt, kann man die
Tättowirte Häuptlinge auf Nukahiva.
Nundung erweitern und die runden Figuren also ganz nach
Wunsch und Bedürfniß kleiner oder größer herstellen. Auf
den Carolinen dagegen bedient man sich eines knöchernen
Kammes, welchen man in die mit Oel angefeuchtete Asche
der Nuß von Aleurites triloba taucht. Er wird dann mit
einem hölzernen Hammer unter die Oberhaut getrieben und
dann schimmert der schwarze Farbestoff mit einem blau-
grauen Ton hervor. Auf den Gilbertsinseln wird die Ope-
ration von bestimmten Leuten vorgenommen, welche das
Tättowiren als Handwerk treiben; sie lassen sich dafür sehr
gut bezahlen, und Sklaven können den Preis nicht erschwin-
gen; es ist ihnen übrigens nicht verwehrt, sich die Hant
schmücken zu lassen. Auf den Palaos dürfen nur tät-
towirte Mädchen heirathen; also müssen die, welche den
theuern Preis nicht
bezahlen können, ledig
bleiben. Auf Po-
napi vollzogen, wie
Kotzebue meldet, alte
Frauen die Opera-
tion, anfRatackfchei-
nen es die Häupt-
linge gethan zu ha-
ben. Man begann
damit bei beiden Ge-
schlechtem zur Zeit
der eintretenden
Mannbarkeit, auf
Ponapi aber schon
mit dem zehnten bis
zwölften Jahre. Da
es sehr schmerzhaft
und manchmal auch
gefährlich ist, so wird
es immer nur theil-
weife und in bestimm-
ten Zwischenräumen
vorgenommen. Man
kann also an der
Tättowirnng das Al-
ter erkennen.
Auf einzelnen In-
seln sind die Zeich-
nungen an Männern
und Frauen streng
geschieden; aus man-
chen sind die letzte-
ren nur sehr schwach
tättowirt, auf einigen
gar nicht. Auf den
Carolinen sind die
Vornehmen stärker
tättowirt als die Lente aus dem Volke. Die Tättowirung
hat auch eine religiöse Bedeutung. Die Bewohner der
Insel Tobi wollten einige Engländer, welche zu ihnen ver-
schlagen worden waren, mit Gewalt tättowiren, damit ihr
Eiland nicht zu Grunde gehe. Die heilige Tempel-
stätte dort darf nur ein Mann besuchen, der ganz tättowirt
ist. Dagegen weigerten sich die Ratackinsulaner, die Ope-
ration an Fremden vorzunehmen; sie meinen, die Insel
werde vom Meere verschlungen werden, wenn man den hei-
ligen Schmuck Jemandem, dem Willen der Gottheit zuwider,
mittheile. Es sind nicht bloß Gedächtnißzeichen, wenn man
auf den Carolinen sich Figuren zum Andenken an die Vor-
fahren eintättowirt.
Die östliche Gruppe des Marschalls-Archipelagus be-
Aus der Güdsee.
zeichnet man als die Radackkette, die aus Koralleninseln be-
steht; sie sind erst 1788 von Marschall und Gilbert entdeckt
worden. Eine dieser Inseln, welche bei den Eingeborenen
Otdia oder Wotje heißt, wird von den Seefahrern als Ro-
manzosfinsel bezeichnet. Unsere Illustration zeigt, daß
die Eingeborenen hübsch und schlank gewachsene Leute sind
und sich auch ganz geschmackvoll tättowiren; sie tragen als
Kleidung ein Stück Mattenzeug um den Gürtel, das bei den
Frauen bis auf die Fußknöchel herabfällt. Auf Ohrringe
legen sie großen Werth.
Die Gilberts- oder Kingsmillgruppe liegt süd-
lich von der vorigen und nordwestlich von den Samoainseln.
Auf einzelnen dieser zumeist langgestreckten Eilande gelten
die Bewohner für außerordentlich wild und grausam; am
wenigsten sind sie es noch auf Makin, welche von den
Seefahrern als Pitt
Island bezeichnet
wird. Die Kings-
millinsulaner haben
eine weit dunklere
Hautfarbe als dieBe-
wohner der Samoa-
und der Tongainseln;
schlanken Wuchs, lan-
ges schwarzes Haar,
breiten Mund, aber
keine aufgeworfenen
Lippen, und gebogene
Nasen. Die sried-
lichen Pittinsulaner
haben hellere Haut-
färbe als die übri-
gen, und eine ovale
Gesichtsform. Von
der Art und Weise,
wie die Kingsmill-
infulaner ihre Häu-
ser bauen, giebt un-
sere Illustration eine
Borstellung. Der
untere Theil der
Wohnung ist offen,
der obere, verdeckte,
enthält den Schlaf-
räum. Es ist bemer-
kenswerth, daß jene
Häuser die größte
Ähnlichkeit mit de-
nen aus den Niko-
baren im Indischen Tättowirte Leute von
Ocean haben. In
jedem Dorfe findet man ein Rath- oder vielmehr Berathungs-
Hans, in welchem die Gemeinde sich bei passender Gelegen-
heit versammelt; dasselbe ist allemal sehr geräumig.
Die Jusel Pitt ausgenommen hören auf den übrigen
Eilanden die Kriege nicht auf, und es ist nur zu verwnn-
dern, daß diese streitsüchtigen Leute sich noch nicht bis auf
den letzten Mann ausgerottet haben. Selbst ihre Haupt-
belnstigungen bestehen in Kampfspielen, und Hahnengefechte
werden tagtäglich veranstaltet. Die Waffen entsprechen dem
Naturell des Volkes; man begnügt sich nicht, wie bei ande-
ren Polynesiern der Fall ist, mit der Keule und dem Speer,
sondern hat an den Schwertern Haisischzähne angebracht, um
Wunden einreißen zu können; jeder Zahn ist so scharf wie
eine Lanzette, wie unsere Illustration zeigt. Man sieht an
der Seite einen Haifischzahn abgebildet-und die Art, wie
derselbe befestigt wird. Die Zähne sind nicht nur scharf,
sondern auch noch wie eine Säge eingezackt. Diese Waffen
müssen selbst von dem, welcher sie trägt, sehr vorsichtig ge-
handhabt werden. Das Schwert in der Mitte hat sogar
drei Nebenblätter und nicht weniger als vier Reihen Zähne,
zwei an jedem Blatte. Diese Waffe ist geradezu furchtbar,
wenn man bedenkt, daß sie gegen die nackte Haut geführt
und daß mit ihr gerissen wird. Das Schwert zur Rechten hat
ein Stich- oder Handblatt, und hat man dafür wahrschein-
lich ein europäisches Muster als Vorbild genommen. Auch
die Speere, welche man bis zu 15 Fuß Länge hat, sind mit
Haisischzähnen besetzt.
Die Häuptlinge, welche zum Kampf ausziehen, tragen
eine Kappe, welche aus der aufgeblasenen Haut des Stachel-
schweinfifches besteht; aus derselben ragen Stacheln nach allen
Richtungen hervor
und oben wird ein
Federbüschel befestigt.
Beide Geschlechter
ziehen in den Krieg,
in welchem Männer,
Weiber und Kinder
ohne Unterschied hin-
weg gemordet wer-
den. Die einzelnen
Häuptlinge sind von
einander unabhän-
gig; bei gemeinschast-
lichen Berathungen
führt der älteste den
Vorsitz. Jeder ein-
zelne hat sein beson-
deres Merkzeichen,
und wenn ein Frein-
der sich nnter seinen
Schutz begiebt, wird
dasselbe auch bei ihm
angebracht. In je-
dem Dorfe ist ein
Mariapa, großes
Berathungshaus.
Eigentliche Canni-
baten sind diese Leute
nicht, doch ist erwie-
sen, daß bei gewis-
sen Gelegenheiten
Menschenfleisch ver-
zehrt wurde, so z. B.
wenn ein berühmter
der Romanzoff-Jnsel. Krieger im Kampf
erschlagen wurde.
Dann kochen ihn die Sieger und jeder genießt ein kleines
Stück Fleisch von ihm, offenbar in dem Wahne, daß dann
von seiner Tapferkeit etwas in sie übergehen werde.
Die Schädel der Gestorbenen werden aufbewahrt. Man
legt den Todten zuerst eine Woche lang aus eine Matte,
wäscht ihn jeden Tag, ölt ihn eben so oftmals ein und legt
ihn um Mittag so, daß die Sonne ihn bescheint; die Ver-
wandten und Freunde führen den Trauertanz auf und singen
das Lob des Todten. Dieser wird dann für einige Zeit be-
graben; später nimmt man den Schädel heraus, um ihn zu
reinigen, einzuöleu und dann aufzubewahren. Die merk-
würdigste Leichenfeier auf der weiten Welt findet auf der
schon erwähnten Pittinsel statt. Man wäscht und ölt die
Leiche ein, wie eben gesagt, aber nach dem ersten Trauer-
tanze bringt man den Todten auf ein großes Brett, das mit
196 ' Aus der
einer neuen Matte belegt worden ist; das Brett besteht aus
an einander gefügten Schildkrötenschalen. Die Verwandten
und Freunde setzen sich dann so hin, daß dieses Brett auf
den Knien Aller zumal ruhet; wenn einer müde wird, nimmt
ein Anderer seine Stelle ein. Das dauert so zwei volle
Jahre lang, und während dieser Zeit wird Tag und Nacht
ein Feuer im Hause unterhalten. Dann erst nimmt man
den Schädel ab und reinigt ihn zum Aufbewahren.
Die Begräbnißstütte der Krieger wird mit drei Steinen
bezeichnet.
Die Illustration, welche zwei Häuptlinge von den
Markesasinseln darstellt, macht auf einen Blick anschau-
lich, wie ganz anders dieselben tättowirt sind, als die Leute
auf der Romanzoffinsel. Diese Inselgruppe liegt nördlich
von den Gesellschaftseilanden und von dem Tuamotuarchipel,
unter dem 10. Grade südlicher Breite; sie ist vom Spanier
Südsee.
Menduna 1593 entdeckt worden. Sie ist vnlcanisch, gut
bewässert, hat üppigen Pslanzenwuchs und gute Häfen. Sie
wird nicht selten von Walfischfahrern besucht, welche dort
Wasser und Lebensmittel einnehmen, Bananen, süße Kar-
toffeln, Brennholz und Geflügel; sie geben dafür Beile,
Schießgewehr und Pulver, rothes Wollenzeug und dergleichen
Sachen mehr. Die größte Insel ist Nukahiva; sie wurde 1842
von den Franzosen in Besitz genommen, welche sie als De-
portationsort benutzen wollten; doch sind nur einige Missio-
näre bei einem kleinen Handelsposten zurückgeblieben.
Was wir als Bekleidung bezeichnen, besteht aus einem
Lendenschurze; im Uebrigen gilt für dieselbe die Tättowi-
rung, welche bei den Markesanern fast den ganzen Körper
einnimmt und nur wenige Stellen frei läßt. Diese Leute
haben einen prächtigen Bau und die Form ihrer Gliedmaßen
läßt nichts zu wünschen übrig.
Dorf auf den Kingsmillinseln.
Ein wohlhabender Mann, der seiner Frau eine Aufmerk-
samkeit erzeigen oder sich bei seinen Nachbaren einen guten
Tag machen will, veranstaltet ein Festmahl; vor demselben
hat sie sich ein Armband eintättowiren lassen, vielleicht auch
eine Figur am Ohre. Dann wird ein Schwein geschlachtet,
man ladet die Freunde beiderlei Geschlechts ein und ist heiter
und froh. Das ist eine der wenigen Gelegenheiten, bei
welchen es den Frauen erlaubt ist, Schweinefleisch
zu genießen.
Bei der Auswahl der einzugrabenden Figuren verfährt
man mit großer Sorgfalt; jedes Muster muß dem Körper-
theil angepaßt sein, für welchen es bestimmt ist. Sie be-
stehen theils aus Thieren, theils aus Gegenständen, welche
Beziehung auf die Sitten und Gebräuche der Insulaner
haben, und jede Figur hat, was auch auf den Freundschafts-
inseln der Fall ist, ihren besondern Namen. Stets wird
strenge Symmetrie beobachtet, der Kopf des Mannes überall
tättowirt, die Brust gewöhnlich so, daß sie wie mit einem
Panzer bedeckt erscheint; auf Armen und Schenkeln sind die
Streifen manchmal breiter, manchmal schmäler, und sie lau-
seu so, daß man fast glaubeu könnte, diese Markesaner hät-
ten sorgfältige anatomische Studien gemacht und wären mit
den Dimensionen und dem Spiele der Muskeln genau be-
kannt. Aus dem Rücken befindet sich ein großes Kreuz, das
am Nacken beginnt und den ganzen Rücken hinabgeht; auf
den Vorderschenkeln sieht man Figuren, welche entfernte
Ähnlichkeit mit einem menschlichen Antlitz haben. Auf jeder
Seite der Waden befindet sich eine länglich runde Figur,
das Ganze zeugt von Geschmack. Einige der zartesten Kör-
pertheile, z. B. die Augenlider, werden nicht tättowirt, wohl
aber die Hände, und diese allemal mit der äußersten Sorg-
salt. Jeder Finger hat sein eigenes Muster und die Hand
sieht aus, als stecke sie in einem eng anliegenden gemusterten
Handschuh. Lange Nägel sind ein Zeichen hohen Ranges;
Aus der Südsee.
sie liesern den Beweis, daß der Inhaber nicht nöthig hat,
schwere Arbeit zu verrichten.
Einen so eleganten Körperschmuck darf man doch nicht
durch Kleider dem Blick entziehen; deshalb behelsen sich beide
Geschlechter mit einem Lendenschurz. Die Frauen aus dem
Volke sind untersetzt und nichts weniger als hübsch, und es
Waffen der Kingsmill-Jnsulaner.
fällt auf, daß die Söhne solcher Mütter so schön und kräftig
sind. Die Frauen von Rang jedoch sind schlank und hübsch;
vor Fremden werfen sie ein Gewand von Rindenzeug über.
Obwohl ihre Haut heller ist als jene der gewöhnlichen Frauen,
Stelzen der Markesas-Jnfulaner.
bleichen sie doch obendrein die Haut, indem sie dieselbe mit
Säften einreiben, die aus drei verschiedenen Bäumen ge-
wonnen werden. Zuerst wird dadurch der ganze Körper-
schwarz und man läßt die Einreibung sechs Tage lang un-
Durchschn.
198 ' Franz Poppe:
berührt, auch verläßt die Frau während dieser Zeit das Haus
nicht. Wenn sie dann aber ein Bad nimmt, wird die ganze
Haut hell und glänzend.
Zum Tättowiren bedienen die Markesaner sich eines
Kammes, der aus den Flügelknochen des Tropikvogels ver-
fertigt wird; die Operation findet zu gewissen Tageszeiten
statt in einem Hause, welches keine Frau betreten darf. Ein
geschickter Tättowirer ist ein wichtiger Mann und steht in
großem Ansehen; er läßt sich für seine Bemühungen sehr
gut bezahlen. Die Geschicklichkeit in seinem Handwerk er-
wirbt er sich dadurch, daß er ärmere Leute vornimmt, die
zu arm sind, ihn zu bezahlen, und welche doch auch gern
den Schmuck an sich tragen wollen; es kommt ihnen ja nicht
darauf an, ob alle Figuren gleich gut gerathen. Unter drei
Monaten kann ein Körper nicht fertig tättowirt werden;
manchmal verwendet man ein halbes Jahr darauf. Es wird
aber von Zeit zu Zeit nachgeholfen, und vor vollendetem
dreißigsten Jahre ist der Schmuck nicht in allen seinen Thei-
Das Saterland.
len tadellos vollkommen. — Die Männer lassen anfangs
das Haupthaar lang wachsen und sie tragen es derart, daß
es oben auf dem Schopf in einem Bündel liegt. Wer reich
genug ist, sich die Schädelhaut bemustern zu lassen, läßt es
abscheeren, und nur an beiden Seiten bleibt es stehen, um
kegelförmig zusammengewickelt zu werden und eine Art von
Horn zu bilden, das nach vorn hin übersteht.
Zu den beliebtesten Vergnügungen gehört das Tanzen
mit Stelzen und das Pahooa, das heißt ein Wettren-
nen mit Stelzen. Die Markesaner sind wohl die gewandte-
sten Stelzenläufer auf der Welt, und unsere gewandtesten
Akrobaten würden sicherlich Mühe haben, es ihnen gleich zu
thuu. Bei den Wettrennen sucht Jeder die Uebrigen um-
zuwerfen. Es gewährt einen eigentümlichen Anblick für
den Europäer, wenn er sieht, wie ein tättowirter Marke-
saner mit den Stelzen von der Erde hinauf zum Dache sei-
nes Hauses spazieren geht.
Aus deutschen
Das S a 1
Von Frar
Auch der Körperbau der Saterländer spricht für ihre
friesische Abkunft, da derselbe in mancher Hinsicht von dem
ihrer Nachbarn, die zum sächsischen Stamme gehören, ab-
weicht. Die frische Gesichtsfarbe, das hellblonde, ins Hell-
gelbe übergehende Haar, die hellblauen Augen der meisten
und die reckenhafte Gestalt einzelner Frauen aus unvermisch-
ter Familie kennzeichnen sie uns sofort als Friesinnen. Be-
gegueu wir solchen mit schwarzem Haar, dunkeln Augen,
weniger frischem Teint, so können wir sicher annehmen, daß
sie aus einer Vermischung des friesischen und sächsischen
Blutes entsprossen sind. Die Männer sind durchweg grö-
ßer und schöner als die Frauen. Die Saterländer sind im
Ganzen ein kräftiger Menschenschlag. Die Frauen arbeiten
wie die Männer, ja, viele Haus- und Feldarbeiten sind ihnen
allein überlassen. In großen Schaaren ziehen sie im Herbste
mit Hacke und Spaten aufs Moor hinaus, schießen Abzugs-
grüben und hacken es, um es für den Buchweizenbau vorzu-
bereiten. Die Männer nehmen auch au diesen Arbeiten Theil,
namentlich an den Feldarbeiten auf dem sandigen Ackerbo-
den des Saterlandes, vorzüglich betreiben sie aber Bienenzucht,
Torfgräbern und Schifffahrt, worauf die Lage und Beschaf-
fenheit des Landes sie angewiesen hat. Der Tors und andere
Landesproducte werden zu Schisse nach Ostfriesland gefah-
ren, und Kaufmannsgüter werden wieder zurückgebracht.
Die Sater-Ems ist die Lebensader des Landes. Von
den Saterländern wird sie e genannt, d. h. Wasser. In
vielen Krümmungen durchfließt sie das Ländchen, ist anfäng-
lich sehr schmal, so daß nur Kähne an Tauen aus ihr fort-
gezogen werden können, wird aber weiterhin, namentlich beim
Ausflusse aus dem Saterlands, schon ziemlich bedeutend und
trügt alsdann auch schon größere Schiffe, sogenannte Mut-
ten. Auch bei der oft sauern Schifferarbeit müssen die
Frauen den Männern helfen. Hinwiederum verrichten die
Landschaften.
e r l a n d.
I Poppe.
Männer aber auch Frauenarbeiten. Nie lungern sie müßig
umher, nie schauen sie gaffend der Arbeit ihrer Frauen und
Töchter zu, wie ihre Stammesbrüder, die Wangeroger und
Helgoländer, vielmehr sind sie stets beschäftigt. Bleibt ihnen
nichts Anderes zu thuu übrig, so setzen sie sich mit den
Frauen hinter den Spinnrocken oder greifen zu den Strick-
nadeln.
Sehr unrecht würden wir aber den Männern thuu,
wenn wir sie auf Grund des Obigen für philiströs halten
wollten. Sie haben vielmehr den echt männlichen Friesen-
charakter ihrer alten Vorfahren bewahrt, der sich ausprägt
in unwandelbarer Heimath- nnd Freiheitsliebe, im zähen
Festhalten an ihren alten Sitten und Gebräuchen, Rechten
und Privilegien. Es ist nicht ihre Schuld, wenn die aus
dem Heidenthum stammenden Sitten uud Gebräuche von den
Priestern nach und nach ausgerottet, wenn auch ihre Rechte
uud Privilegien ihnen eins nach dem andern verkümmert
und genommen wurden. Nur mit Murren sind die Friesen
der Uebermacht gewichen, ja sie haben sich häusig auf Leben
und Tod zur Wehr gesetzt. Manche Priester sind, wie uns
die Sage erzählt, von den Friesen erschlagen worden, und
ein Münsterscher Bischof soll deshalb aus den Priestermord
eine Strafe von 60 Mark gesetzt haben.
Die Saterländer gleichen auch darin ihren alten Vorsah-
ren, daß sie in geschlechtlicher Hinsicht auf die größte Sitten-
strenge halten. Zwar herrscht im Saterlands wie in manchen
anderen Ländern, z. B. in Tirol und Steiermark, die Sitte
des „Feusterlus". Der junge Bursche geht Abends, wenn
Alles zur Ruhe ist, zu seiner Braut, die manchmal seiner
heißen Liebeswerbung nachgiebt uud ihn heimlich in ihre
Kammer führt. Aber die in der Stille unter sich verlobten
Brautleute betrachten sich bereits als Ehegatten, und nie
kommt es vor, daß der eine Theil den andern treulos ver-
^ — 0 m&FW*' - ,v g|
Franz Poppe:
läßt. Nach Verlauf einiger Wochen holt der Bräutigam
vielmehr die Erlaubniß der Eltern ein, und eine baldige
Hochzeit endet alle Heimlichkeit. Wollte der Bursche sein
Mädchen im Stiche lassen, so würden Schande und Verach-
tung ihn dermaßen treffen, daß er entweder gezwungen wäre,
der Heimath auf immer Lebewohl zu sagen, oder das verlas-
sene Mädchen nachträglich heimzuführen.
Ich glaube übrigens nicht zu viel zu sagen, wenn ich
behaupte, daß unter den jungen Landlenten vielfach die oben
angedeutete Sitte herrsche. So fand ich über der Seiten-
thür eines Hauses im Münsterlande ein Herz eingeschnitzt,
mit einem Hammer darüber, und daneben die Inschrift:
„Wer klopft an meine Thür?
Mein Schatz ich bin dafür." —
Sollte diese Inschrift nicht auch auf die Sitte der „Komm-
nächte" hindeuten?
In den vierziger Jahren entwickelte sich auf dem Boden
dieser Verhältnisse ein Trauerspiel, dessen Fortgang in nah
und fern mit der größten Theilnahme und Spannung verfolgt
wurde. Ein Bursche hatte heimlichen Umgang mit einem
Mädchen gepflogen und wollte sie später, als er die Folgen
merkte, verlassen. Um aber der unvermeidlichen Schande zu
entgehen, ermordete er das Mädchen. Der Mörder wurde
jedoch entdeckt, gefänglich eingezogen, zum Gestündniß gebracht
und bald darauf zu Friesoythe hingerichtet. Von nah und
fern hatte der traurige Schlußact Zuschauer herbeigezogen.
Als nun der Verurtheilte niederkniete, um den Todesstreich
zu empfangen, brachen einige saterschc Frauen in lautes
Weinen aus, und eine derselben rief durch die Todtenstille:
„Och, dat dat ok just 'n Saterlanner wesen mot!" —
War das nicht ein unwillkürlicher Ausbruch des in seiner
Ehre verletzten Nationalgefühls?
Das Alter wird im Saterland hoch in Ehren gehalten.
Wenn der älteste Sohn sich verheirathet hat, so überlassen
die Eltern ihm und seiner Frau die Führung der Wirth-
schast uud ziehen sich in Ruhe und Gemächlichkeit zurück.
Sie können das unbesorgt thnn; denn sie sind sicher, daß sie
von ihren Kindern nicht zurücksetzend, kalt und lieblos be-
handelt werden. Nie wird man ihnen die schuldige Ehre
und Achtung versagen, nie ihre wohlgemeinten Rathschläge
überhören; stets wird man ihnen den Vorrang lassen, ihnen
den Ehrenplatz am Tische und Feuerherde einräumen, für
sie arbeiten und sorgen, durch kleine Beweise der Aufmerk-
samkeit und Zuvorkommenheit sie zu erfreuen, ihren Lebens-
abend zu verschönen und so die Schuld kindlicher Liebe und
Dankbarkeit abzutragen suchen. Das Sprichwort: „Wer
seinen Kindern giebt sein Brot, den schlag' man mit der Km-
leu tobt!" findet somit auf das Saterland durchaus feixte
Anwendung.
Die jüngeren Söhne bleiben gewöhnlich so lange im
Hanse, bis sie sich verheirathen, dann aber gründen sie entwe-
der einen selbständigen Haushalt, oder sie ziehen, wenn die
Braut das älteste Kind ist, zu den Eltern der Braut.
Früher herrschte eine eigenthümliche Hochzeitssitte;
wenn nämlich das copulirte Paar aus der Kirche kam, so
wurde der Bräutigam von den Jünglingen als ein Abtrün-
niger mit Schnupftüchern und Hüten geschlagen. Diese
Sitte wurde jedoch auf Vorstellung der Geistlichen abgeschafft.
Dagegen ist es noch jetzt Gebrauch, daß des Abends, wenn
die Frauen der Braut die Haube auffetzeu, die Mädchen ihr
dieselbe im Scherze wieder herunter zu reißen suchen, wäh-
rend die Frauen die Braut in Schutz nehmen. Dieselbe
Sitte habe ich auch auf der Delmenhorster Geest gefunden.
Die Lebensweise des Saarländers ist sehr einfach und
mäßig; nur der Branntwein wird häufig unmäßig genossen.
Letzteres bringt wohl das feuchte Klima und das Schiffer-
Das Saterland. 199
leben mit sich. Der westphälische Pumpernickel, den man
überall im benachbarten Münsterlande findet, wird im Sa-
terlande nicht gebacken, sondern gewöhnliches, langes Schwarz-
brot.
Die Saterländer sind trotz ihrer Abgeschlossenheit ein
sehr verständiges, freundliches, gegen Fremde gastliches und
zuvorkommendes Völkchen. Sie zeichnen sich durch einen
praktischen, scharfen Verstand, ein klares, sicheres Urtheil und
eine eiserne Charakterfestigkeit aus, lauter Eigenschaften, die
man bei Leuten unter solchen Verhältnissen nicht erwarten
sollte. So auffallend dies auch sein mag, so ist es doch
sehr erklärlich. Die Charaktereigenthümlichkeiten der Sater-
länder sind begründet in der frühern Verfassung ihres Länd-
chens, in der freien friesischen Selbstregierung. Die Sater-
länder nannten sich von jeher freie Friesen und waren stolz
auf diesen Namen. Das Land blieb, Dank seiner abgeschlos-
senen Lage, sich mehr selbst überlassen. Es glich den mit
Wällen umgebenen Städten, die den herrschsüchtigen Rittern
und Fürsten im Mittelalter Trotz boten und ihre inneren
Angelegenheiten selbst verwalteten. Zwar stand es unter
der Hoheit des münsterschen Bischofs, dessen Vögte auch die
Landesabgaben erhoben, aber die Selbstregierung ließ das
Volk sich nicht nehmen. Zur Leitung der inneren Angele-
genheiten, zur gewissenhaften Verkeilung der Abgaben, zur
Entscheidung etwaiger Grenzstreitigkeiten und zur Bestrafung
kleinerer Vergehungen wurden für jedes der drei Kirchdörfer
vier Bürgermeister gewählt, die man auch scherzweise die
zwölf Apostel nannte. In einer freien Volksversammlung,
die jährlich am zweiten Fastnachtstage auf dem erhöhten
Kirchhofe zu Ramsloh stattfand, und zu welcher sich sämmt-
liche volljährige Männer des Saterlands, ohne Unterschied
des Vermögens, einfinden mußten, wurden diese zwölf „Bor-
gemesters" gewählt. Ihr Amt dauerte zwei Jahre, sechs
von ihnen gingen jährlich ab, und sechs wurden neu gewählt.
Das Resultat der Wahl wurde der Gemeinde durch deu Vor-
sitzenden der Bürgermeister bekannt gemacht.
In minder wichtigenAngelegenheiten entschieden die Bürger-
meister nach eigenem Gutdünken; zur Entscheidung wichtigerer
Sachen mußten sie aber das gesammte Volk befragen. Zu
dem Ende beriefen sie alsdann auf den Kirchhof zu Rams-
loh eine Volksversammlung, die Sonntags, gleich nach been-
digtem Gottesdienste, stattfand. Jeder Hausvater, der der
Einladung nicht folgte, mußte zur Strafe eine Tonne Bier
ausgeben, die gleich vertrunken wurde.
Den zwölf Bürgermeistern standen noch sechs Schütt-
meister zur Seite, für jedes Kirchspiel zwei. Sie hatten
die Ausführung der Beschlüsse zu besorgen, waren gleichsani
die Polizei. Einmal jährlich wurden sie umhergeschicktz, um
die gebräuchlichen Maße und Gewichte nachzusehen. Auch bei
dem Natioualfeste, dem jährlich am zweiten Pfingsttage statt-
sindenden Vogelschießen, bei dem Tanz und Musik natürlich
nicht fehlten, hatten sie die Aufsicht zu führen.
Die Bürgermeister hielten in der Kirche zu Ramsloh ihre
Versammlungen ab. Hier stand auch das größte National-
Heiligthum, eiue Lade, in welcher die Normalmaße und -Ge-
Wichte und das Landesarchiv aufbewahrt wurden. Es war
gleichsam die Bundeslade der Saterländer. Drei Schlösser
verschlossen das Heiligthum, und nur die vier Bürgermeister
eines jeden Kirchspiels hatten einen Schlüssel dazu, so daß
die Lade also nur iu Gegenwart aller geöffnet werden konnte.
In der Lade wird auch „des Sageterlaudes Gerecht" und
Siegel aufbewahrt sein. Ersteres war eine Instruction über
das gerichtliche Verfahren der Bürgermeister, die am 24.
Januar 1587 festgestellt wurde; letzteres trug das Bilduiß
Karl's des Großen im kaiserlichen Ornate, von sogenannten
Bienen (— es ist die Franciska, Streitaxt, der Franken —)
200 Franz Poppe:
umgeben und die Umschrift: 8. Parochinarum in Sagel-
ten*). Leider soll die Lade im Jahre 1812 von den Fran-
zosen verauetionirt worden sein. Wo sie geblieben ist, habe
ich nicht erfahren können.
Ein solch freies Gemeindewesen, wie die Saterländer
von jeher hatten, mußte im Volke immer mehr jenen freien
Friesencharakter ausprägen, der auch jetzt, nachdem ihm die
alten Rechte und Privilegien laugst genommen sind, nicht
ganz verwischt ist. Er tritt noch zn Tage in dem Miß-
trauen, mit dem alle Negiernngsmaßregeln überwacht werden,
in der Oppositionslust gegen alles Fremde und Nene.
Auch in religiöser Hinsicht sind die Saterländer, obgleich
sie sich zum Katholicismns bekennen, weit freisinniger, als
ihre südlichen Nachbarn im Münsterlande. Gegen die Ueber-
griffe der Priester haben sie sich stets mit erstannenswerther
Hartnäckigkeit zur Wehr gesetzt. Alle Friesen thaten das,
und die vielen Sagen von erschlagenen Priestern, die man
sich überall in friesischen Ländern erzählt, enthalten gewiß
viel Wahres. Ich erinnere nur an den Junker vom hohen
Wege (Butjadingen), der einen Priester in der Langwarder
Kirche vor dem Altare erschossen haben soll, an Bolko von
Bardenfleth im Stedingerlande, der einen frechen Pfaffen er-
schlug, an Bonisacins, der in Dokkum von Friesen ermordet
wurde.
Ueber die Geschichte des Saterlandes läßt sich wenig
sagen. Es wurde früher Sagelterlaud, auch Sigilter-, Sä-
gelter-, Sagterlaud genannt. Dieser Name umfaßte alles
Land, das um Sögel (lateinisch Sighiltra) lag. Sögel,
ein Kirchdorf im Hümling, war früher der Mittelpunkt der
Grafschaft Sagelterlaud (comitia Sighiltra), die bis 1400
den Grafen von Teklenburg gehörte. Durch Abkürzung ist
aus Sagelterlaud Saterland geworden, welcher Name nur
noch dem Theile des alten Sighilterlaudes, von dem hier die
Rede ist, beigelegt wurde. Weun auch die Saterländer selbst
ihr Laud noch immer Sagelter- oder Sagterlaud nennen, so
ist doch der Name Saterland jetzt überall gebräuchlich.
Höchst wahrscheinlich gehörte das alteSigilterland früher
zur Republik der sieben friesischen Seelande. Als aber diese
Republik zerfiel, kam das Saterland unter die Herrfchaft
der Grafen von Teklenburg, die es im Jahre 1400 an den
Bischof von Münster abtraten.
Von nun an beginnt ein fortwährender Kampf der Sa-
terländer gegen die Eingriffe der Bischöfe in ihre Freiheit,
gegen neue Gesetze, Lasten, Abgaben :c., die ihnen von den
Bischöfen octroyirt wurden. Eiue Freiheit nach der andern
schwand jetzt dahin. Zum Zeichen der Anerkennung der
münsterschen Oberhoheit mußte das Laud jährlich 4 Vz Tonnen
Butter zahlen. Wie vielerwärts so wurde während des drei-
ßigjährigen Krieges auch im Saterlande die Reformation
eingeführt, allein die Jünger Loyolas haben das verlorene
Gebiet der alleinseligmachenden Kirche nach und nach wieder-
gewonnen. Seit 1803, in welchem Jahre die münsterschen
Aemter Kloppenburg und Friesoythe als Ersatz für den anf-
gehobenen Weserzoll an Oldenburg abgetreten wurden, kam
mit diesen anch das Saterland an Oldenburg, zu welchem
es bis jetzt gehört.
Eine Wanderung durch das Saterland ist immerhin in-
teressant, wenn das Auge auch uicht so viel Neues und Ab-
weichendes erblickt, als man vielleicht vorher erwartet hatte.
Das Ländchen bietet doch auf kleinem Räume große Abwechs-
lung. Bald wandert man über einen ansteigenden Acker,
bald durch niedrige Wiesen, bald über grüne Weiden, bald
an einem kleinen, aus Eichen, Erlen oder Föhren bestehenden
*) Alle Friesen leiten ihre Rechte und Privilegien von Karl dem
Großen her,
Das Saterland.
Gebüsch hin. Da die Theiluug von Grund und Boden ge-
rade hier leider allzu weit getrieben worden ist, so gewährt
das Land fast den Anblick eines Gartens. Die Abwechselung
wird noch dadurch erhöht, daß der Boden nicht eben, sondern
wellenförmig ist, namentlich südlich von Scharrel, und daß
sich hin und wieder bufchgekrönte Hügel erheben. Durch
das Ganze schlängelt sich in tausend Windungen die Sater-
Ems bald durch eine moorige Wiese dahin, bald um sandige
Dünen herum, und verleiht durch ihr Wasser der Landschaft
Leben und Reiz. Wo die Aussicht nicht durch Boden-
erhebuugen und Gebüsch versperrt wird, da schaut das Auge
hinaus aufs weite, öde Moor, wie wenn sich plötzlich zwischen
den Dünen einer Insel eine Aussicht aus die unendliche Was-
serwüste des Meeres eröffnet.
Die Häuser liegen zerstreut in nicht allzu großer Eut-
sernnng von einander zn beiden Seiten des Hauptweges,
nur um die Kirchen rücken sie zu Dörfern zusammen. Nur
einige größere, neu ausgeführte Häuser sind massiv; die klei-
uereu dagegen bestehen aus Fachwerk, das entweder mit Ziegel-
steinen oder mit geflochtenem Strauchwerk und Lehm ausge-
füllt ist, und sind mit Stroh gedeckt.
Treten wir einmal unter dem Borwande, unsere Reise-
pfeife anzünden zu wollen, in eins der kleineren Häuser, um
uns die innere Einrichtung desselben zu besehen.
Eine Frau und ein Knabe sind auf der Diele (Tenne)
mit Buchweizendreschen beschäftigt. Wir beginnen ein Ge-
spräch, um uns während desselben die Localitäten zu beschauen.
Zn beiden Seiten der Diele befinden sich, wie beim westphä-
tischen Bauernhause, Viehställe, auch Räume für Torf, Vieh-
futter und dergleichen. Eine große Einfahrtsthür führt vorn
auf die Diele. Hinten sehen wir uns indeß vergeblich nach
einem offenen Herde um. Treten wir aber durch die in der
hintern Scheidewand befindliche kleine Thür, so kommen wir
in einen Raum, dessen Anblick es zweifelhaft läßt, ob er
Küche, Wohnstube, Schlafzimmer oder Vorrathskammer ist.
Er ist Alles in Allem. An der Hinterwand brennt ein Feuer
auf dem Herde, gerade unter dem Fenster. Binsenstühle
stehen umher; an den Seiten stehen Schränke für Milch,
Butter, Eßwaaren :c.; an den Wänden und auf dem Fuß-
boden bemerken wir allerlei Acker- und Kücheugeräthe bunt
durch einander, auch einige mit Buchweizen gefüllte Säcke.
Links von dem Feuerherde befinden sich die Schlafräume.
Sehr zuvorkommend reicht uns die Frau Feuer zum Anzün-
den unserer Pfeife. Statt eines Trunkes Wasser, um den
wir bitten, will sie uns Milch in einem Milchguß geben.
Sie fängt an zu erzählen, unter Anderm, daß ihre drei Söhne
Matrosen, die von Brake aus in See gegangen seien, sie
wisse aber weder wohin, noch mit welchem Schiffe. Ob sie
noch leben, ob bereits verschollen sind? — Wer giebt der
Mutter Nachricht darüber? Sie muß geduldig warten, bis
sie wiederkehren, und wenn es sein muß, ist das Mutterherz
stark genug, für immer auf ihre Heimkehr zu verzichten. —
Die größeren Bauernhäuser sind ganz im holländischen
Stile erbaut, wie im Jeverlande, und sehr bequem und wohn-
lich eingerichtet, überhaupt gemahnt uns das Benehmen, die
Sprache :c. des Saterländers lebhaft an den stammverwand-
ten Jeverländer und Ostfriesen, noch mehr aber an die Be-
wohner der friesischen Inseln.
Die Kirchdörfer des Saterlandes liegen etwa eine kleine
Stunde von einander entfernt. In Scharrel befindet sich
eine schöne neue, in gothischem Stile erbauete Kirche, deren
hoher, schlanker Thurm weithin sichtbar ist. Eine Frau, mit
der ich über die Kirche ein Gespräch anknüpfte, sagte mir:
„Wenn m' in de Kark henin trett, is't rein, as weun m'
in' n Himmel knmmt." _
Diejenigen, welche dem Niedern Volke allen ^chönheits-
Theodor Kirchhoff: Streifzüge i
sinn, alle höheren Gefühle absprechen möchten, können aus
dieser Aenßernng der schlichten Frau sich eines Bessern über-
zeugen. Treffender als durch die mitgetheilten einfachen Worte
läßt sich der gewaltige, tiefe Eindruck, den die Gothik auf
den Menschengeist übt, nicht bezeichnen.
Als Scharrel im Jahre 1821 zum großen Theile nie-
derbrannte, bauten sich mehrere Abgebraunte südlich von
Scharrel zwischen der Marka und Ohe an und gründeten
so die Colonie Neuscharrel.
Die Kirche zu Ramsloh ist alt und gewölbt. In der-
selben befindet sich ein sehr schönes Schnitzwerk, ein Christus
in Lebensgröße, sein Kreuz tragend. Die Kirche zu Strück-
lingen ist alt und schlecht. Sämmtliche Kirchen liegen wie
die Friesenkirchen in den Nordseemarschen auf künstlich auf-
geworfenen Erdhügeln oder Warfen. Die älteste Kirche
Oregon und Kalifornien (1871). 201
ist wahrscheinlich die zu Ramsloh, welche schon vor 1400
erbaut wurde. Vor dieser Zeit befanden sich im Saterlande
keine Kirchen. Erst im 14. Jahrhundert, als mit Aufhebung
des Templerordens, der im Saterlande bedeutende Besitzuu-
gen hatte, auch die Klöster und Capellen desselben eingingen,
waren die Saterländer gezwungen, sich selbst Kirchen zu bauen.
Zu Bokelesch, nördlich von Strücklingen, stand früher ein
Kloster der Tempelherren. Ein Schutthaufen bezeichnet noch
die Stelle, wo es stand, und noch jetzt wird das Dörfchen
vom Volke „Kloster" genannt. Es liegt im Gebüsch ver-
steckt, bedeuteud höher als die Umgebung.
Bei Bokelesch lassen wir uns über die Sater-Ems setzen
und gelangen in wenig Minuten nach der neuen Colonie
am noch unvollendeten Hunte-Ems-Canal.
Streifzüge in Oregon und Californien (1871).
Von Theodor Kirchhoff.
Aussicht auf den Shasta Butte.
Valley. — Soda Springs. -
Furcht vor Straßenräubern. —
VIII.
— Eine Stage von Straßenräubern überfallen. — Weiter nach Red-Bluff. — Strawberry
- Ins Sacramentothal. — Urwilde Panoramen. — Der M'Cloudfluß und der Pitt-River. —
Die Ebene des Sacramento. — Eine werthvolle Stageladung. — Vierzig Meilen im Galopp. —
Ankunft in Red-Bluff.
Am Nachmittage machte ich einen Spaziergang vor die
Stadt und erstieg einen östlich von derselben liegenden an
300 Fuß hohen Berg, von dem herab eine schöne Aus-
sicht sein sollte. Mit bedeutender Anstrengung erreichte ich
den Gipfel in der brennenden Sonnenhitze; aber ich bereute es
nicht, diesen Ausslug gemacht zu haben, denn die Rundschau
belohnte mich mehr als geuug für die gehabte Mühe. Der
Rückblick auf den mir zu Füßen liegenden öden Thalkessel
von Hreka, mit Stadt und Umgebung, war freilich nicht sehr
anziehend, zumal die umliegenden Berge statt mit Waldun-
gen nur mit Gestrüpp bewachsen waren; dagegen war das
auf der andern Seite vor mir ausgebreitete Panorama über-
aus prächtig. Eine weite Landschaft, Shasta Valley, dehnte
sich vor mir aus, mit Hügeln übersäet, und jenseits dersel-
ben erstreckte sich malerisch eine ansehnliche Bergkette; im
Süden, 45 Miles von meinem Standpunkte, aber scheinbar
nur halb so weit entfernt, stand die gewaltige schneebedeckte
Kuppe der Shasta Butte, welche seinen mir jetzt zugeweu-
beten breiten Kratergipfel überragte; links neben ihm ein
niedrigerer Bergrücken, „little Shasta" genannt, ein groß-
artiges Bild! Die östlich vom Monnt Shasta liegende Berg-
kette führt keinen geographischen Namen; hier nennt man
sie die „sheep rock ränge", nach den vielen Schafen,
welche dort ihre Heimath haben. Ein runder Berg auf der-
selben wird „Goose Nest" geuauut, weil sein ausgehöhlter
Gipfel Ähnlichkeit mit dem Neste einer wilden Gans haben
soll. Die sinkende Sonne schmückte das prachtvolle Pano-
rama und den Silberdom des Shasta Butte wie mit magi-
schem Lichte.
Als ich nach eingetretener Dunkelheit nach der Stadt
zurückkehrte, fand ich die Einwohner in großer Aufregung.
Soeben war die Nachricht gekommen, daß die Stage auf
der Straße nach Red Bluff von Straßenräubern angehalten
und der Schatzkasten von „Wells, Fargo u. Co. Expreß" von
Globus XXII. Nr. 13. (Octobcr 1872.)
denselben mit Gewalt entführt sei. Da dieses seit kurzer
Zeit der zweite Raubanfall auf jener Straße war, so schien
mir die Aussicht eines Rencontres mit einer Räuberbande
nichts weniger als gemüthlich. Dazu kam, daß die Abends
von Jacksouville anlangende Stage bereits mit zwölf Paffa-
gieren besetzt war, so daß ich durchaus feine Lust verspürte,
als Dreizehnter 28 Stunden lang in derselben Platz zu neh-
meu. Ich beschloß, einen Tag länger in Areka zu verwei-
len, und erst in der nächsten Nacht, wenn, wie ich hörte, eine
bewaffnete Bedeckung die Kutsche begleiten sollte, meine Stage-
fahrt fortzusetzen. Auf meiner letzten Reise von Oregon
nach Californien machte ich die Fahrt von Meka aus über
die Scotts- und die Trinityberge; seitdem hatte die Stagecom-
pagnie ihre Route weiter östlich nach dem obern Sacramento-
thale verlegt, wodurch die genannten Gebirgszüge ganz
umgangen werden, eine Aendernng der Reiseroute, die mir
deshalb besonders lieb war, weil ich die Gegenden, durch
welche dieselbe führte, noch nicht kannte.
Abends zehn Uhr am 3. October setzte ich meine Stage-
fahrt nach der 140 englische Meilen von Areka entfernten
am Sacramentoflnffe liegenden Stadt Red Bluff fort.
Das Innere des Wagens war mit neun Passagieren besetzt;
ich hatte mir bei Zeiten einen Platz oben auf der Kutsche
neben einem bis an die Zähne bewaffneten Expreßboten
(messenger) von Wells, Fargo u. Co. gesichert. Nachdem wir
einen mit Gold gefüllten eisenbeschlagenen Kasten, den zwei
Mann kaum heben konnten, an Bord genommen und unter
dem Bock in Sicherheit gebracht hatten, ging es vorwärts,
und im Galopp jagte unser Viergespann mit der schweren
rasselnden Kutsche durch die Straßen von Preka, und bald
waren wir im Freien.
Es war eine herrliche Mondnacht, in welcher wir durch
eine wilde Gegend hinfuhren. Häuser sah ich nur wenige
an der Landstraße und diese lagen in meilenweiter Entfer-
26
202 Theodor Kirchhoff: Streifzüge i
nung von einander, und die Phantasie hatte vollen Spiel-
räum, sich einen Ueberfall zwischen den einsamen Bergen
auszumalen. An Schlaf dachte Keiner von uns in die-
ser Nacht. Die leise geführte Unterhaltung, begleitet vom
Schnauben der Pferde und dem Raffeln der Kutfchenrä-
der, drehte sich fast allein um die Unsicherheit des Reifens
in diesen Gegenden. Mein Gefährte, der Expreßbote, er-
zählte mir von mehreren haarsträubenden Abenteuern, die er
mit Straßenräubern erlebt hatte, welche Mordgeschichten
keineswegs dazu beitrugen, die Lage gemüthlicher zu machen.
Um Mitternacht kamen wir durch das pittoreske „Strawberry
Valley" und fuhren durch Waldungen, wo wir ab und zu
das Bild des hier nur 15 Miles entfernten Shasta Butte
vor Augen hatten, dessen weißer Gipfel sich über die Wipfel
der Bäume emporhob.
Bei Tagesanbruch erreichten wir, 46 Miles von Areka,
einen romantisch gelegenen dichtbewaldeten Thalkessel, in wel-
chem mehrere natürliche Sodaquellen liegen. Während bei
der Stagestation die Pferde gewechselt wurden, gingen wir
Passagiere nach einer der Quellen, über welche ein Häuschen
erbaut war, und nahmen Jeder einen Morgentrunk von dem
Mineralwasser. In einem altern Culturlande, als dieses,
-würden jene Quellen gewiß eine Menge von Besuchern her-
locken, und es wäre leicht möglich, daß in der Nähe ein be-
rühmter Kurort entstände. Die Natur hat hier einen rei-
zenden Thalgrund geschaffen, und Taufende würden alljähr-
lich herpilgern, um in dieser herrlichen Gebirgs- und Wald-
natnr umherzuschwärmen, vorausgesetzt nämlich, daß „Soda
Springs" nicht zwischen Meka und Red Bluff, sondern z.B.
in leicht zu erreichender Entfernung von San Francisco läge.
Bald nachdem wir die „Sodaquellen" verlassen hatten,
kamen wir an den Sacramentoslnß, den wir auf einer Brücke
überschritten, hier einen schäumenden direct vom Mount
Shasta herkommenden Bergstrom, der im jugendlichen Ueber-
mnthe mit seinen krystallhellen Finthen thalab eilte. Nach
der Versicherung des Expreßboten drohte uns während dieser
Tagereise keine Gefahr eines Uebersalls, weil die Indianer
in dieser Gegend den Weißen freundlich gesinnt seien und das
Entkommen von Räubern unmöglich machen würden; und
so überließ ich mich denn ungestört dem Anschauen von der
malerischen Landschaft. Wir fuhren auf gewundener Berg-
straße am linken Ufer des Sacramento hin, der uns brau-
send begleitete, bald nahe an seinem felsigen Strande, bald
auf der Höhe entlang. Dichtbewaldete pittoreske Bergzüge
lagen jenseits des Flusses, und einige Male begrüßte uns
der alte Mount Shasta und hob sein Silberhaupt über den
Wipseln der schlanken Fichten in den blauen Aether. Im
Flusse bemerkte ich zahlreiche Fischwehren, die für den Forel-
lenfang angelegt waren, und hin und wieder sah ich verlas-
sene Goldwäschereien. Das Thal des Sacramento behielt
sein hochromantisches Aeußeres, und wenn wir mitunter höher
an den Bergabhängen entlang fuhren, so erschlossen sich Fern-
sichten von entzückender Schönheit, während der wilde Berg-
ström tief unter uns zwischen den waldigen Ufern brauste
und schäumte.
Gegen Mittag überschritten wir den bereits bedeutend
größer gewordenen Sacramentosluß, 82 Miles von Areka,
auf einer Fähre. Langsam erstiegen wir dann die steile
Wasserscheide zwischen ihm und dem Pik River, mit Fern-
sichten in dichtbewaldete Thäler. Jetzt ging es schnell wie-
der bergab, und bald hatten wir den M'Cloudfluß (sprich.-
Mac Claud) erreicht, einen wilden Bergstrom, der in den
Pitt River fällt, und in rasender Eile neben gewaltigen
nackten Sandsteinmassen in felsigem Bette hinströmt. Aus
dem Plateau hinter jener riesigen Sandsteinfatzade liegen
Marmorbrüche, die ein vortreffliches Material für Häuser-
Oregon und Kalifornien (1871).
bau liefern. Am jenseitigen Ufer des M'Clond gewahrte
ich ein Jndianerdorf in romantischer Umgebung, sowie meh-
rere an Weiden gebundene Canoes. Wie die Indianer es
möglich machten, in diesem reißenden Gewässer mit ihren
gebrechlichen Booten zufahren, war zum Erstaunen; es schien
als ob ein solches Canoe keine Minute in den tobenden Was-
serwirbeln vor dem Umschlagen geschützt werden könnte. Nach
einer Fahrt von sechs englischen Meilen, im wilden Thale
des M'Clond, kamen wir nach dem ansehnlichen Pitt River,
den wir bei Sonnenuntergang etwas unterhalb der Mün-
dnng des M'Clond auf einer Fähre überschritten. Der
Pitt River, welcher fünf Miles von dort in den Sacramento
fällt, ist eigentlich der Hauptstrom und übertrifft den obern
Sacramento bedeutend, sowohl an Wasservolumen als an
Länge.
Jenseits des Pitt River lag das Stationshaus, wo wir
unser Abendbrot einnahmen. Von hier bis Red Bluff, hieß
es, sei die Gefahr groß, von Straßeuräubern angefallen zu
werden. Interessant war es zu sehen, wie sich Jeder der Rei-
senden nach seinem besten Dafürhalten auf ein solches Aben-
teuer vorbereitete. Die Uhren wurden meistens in die Stie-
sel gesteckt; die Ringe, die Brustnadeln und goldenen Ketten
verschwanden auf seltsame Weise in den Aermeln, in Hüten,
im Unterfutter:c.; in der Tasche ließ man nur eine Hand-
voll Silbergeld zurück, um bei den Herren Straßenräubern
nicht den Verdacht von verborgenen Goldstücken zu erregen,
die, so gut es ging, versteckt wurden; Andere sahen ihre Pi-
stolen nach, steckten frische Zündhütchen auf und schworen,
sich bis auf den letzten Blutstropfen vertheidigen zu wollen.
Zwei mitreisende jüdische Kausleute aus Oregon, die schwere
Goldtaschen bei sich hatten, waren besonders nervös beim
Anblick aller dieser Vorbereitungen, da es unmöglich war,
die Goldsäcke erfolgreich zu verbergen. Unfer Wirth behanp-
tete freilich, daß die Räuber es nur auf den Schatzkasten der
Expreßgesellschaft abgesehen hätten und die Passagiere stets
uubelästigt ließen. Bei dem letzten Ueberfall habe einer der
Reisenden eine schwere Goldbörse fallen lassen, die ein Räu-
ber 'aufgehoben und ihm höflich zurückgegeben. Aber auf
solche Großmuth wollen wir uns lieber doch nicht verlassen.
Die Stage wurde hier mit sechs muthigen Rossen bespannt,
damit wir im Nothsall gut Fersengeld geben könnten. Ein
alter Hinterwäldler mit silbergrauem Haar, der eine lange
Kentuckybüchse mit sich führte, erbot sich, als Bedeckung bis
nach der nächsten Station mitzufahren und nahm neben dem
bewaffneten Expreßboten oben auf der Kutsche Platz. Als
die Passagiere alle ein- und aufgestiegen waren, knallte der
Kutscher mit der Peitsche, und fort ging es wie ein Don-
n er weiter nach den Bluffs, mit welchem Namen man
hier zu Lande die 41 Miles vom Pitt River am Sacramento
liegende Stadt Red Bluff kurz zu bezeichnen pflegt.
Gleich jenfeits des Pitt River beginnt die große Thal-
ebene des Sacramento, deren einförmige Leere bis nach Red
Bluff nur selten von Gebüsch und kleinen Holzungen un-
terbrochen ist. Ein Whippoorwill sang sein wie Klage tönen-
des Lied und der rothe Halbmond stieg soeben vom Hori-
zonte empor, als wir aus der Waldung in die große Ebene
heraustraten. Fast immer ging es im Galopp, als ob die
Hölle hinter uns drein sei. An der nächsten Station tra-
sen wir eine von der Minenstadt Shasta gekommene Stage-
kutsche, welche uns einen zweiten schweren Goldkasten über-
lieferte, aber auch noch einen mit einem Hinterlader bewaff-
neten „messenger" von Wells, Fargo n. Co. Expreßgefell-
fchaft als Schutzwache brachte, der die Stelle des uns hier
verlassenden alten Hinterwäldlers einnahm. Da die genannte
Compagnie für alle ihr anvertrauten Schätze den Absendern
verantwortlich ist, so war eine solche Vorsicht ihrerseits wohl
Albrecht Zehme: 5
angebracht. Wir hatten über 60,000 Dollars in Gold-
staub in unserer Kutsche, und die Straßenräuber hätten da-
mit ein lohnendes Geschäft machen können.
An jeder Wegstation sprachen die Leute von den Stra-
ßenräubern und warnten zur Vorsicht; jedesmal wurden da-
selbst Räder, Achsen und Geschirr untersucht, damit ja nichts
daran bräche, falls so eine interessante Hetzjagd losgehen
sollte. Die gefährlichste Stelle war ein zwei englische Mei-
len breites GebUsch vor der Stagestation Cottonwood, 27
Miles vom Pitt River, wo auch der letzte Uebersall stattfand,
und ich muß gestehen, daß ich herzlich froh war, als unser
im gestreckten Galopp hindurchstürmendes Sechsergespann
das jenseits gelegene freie Land glücklich erreicht hatte. Jetzt
bische Charakterzüge. 203
war die größte Gefahr vorüber, obgleich unsere beiden Schutz-
wachen stets schußbereit blieben nnd die wilde Fahrt in dem-
selben Tempo weiterging. Endlich, Nachts um zwei Uhr,
rasselte unsere Stage wohlbehalten durch die Straßen von
Red Bluff, und todtmüde nach den zwei schlaflosen Nächten
und abgespannt von der Aufregung während der letzten
Fahrt suchte ich ein Lager auf in einem mit allem Comfort
versehenen Hotel. 495 Miles hatte ich zurückgelegt, seit
ich das letzte Mal die Stadt Portland am Willamette ver-
ließ. Meine Stagefahrt hatte jetzt ein Ende, und einige
Tage später befand ich mich wieder wohlbehalten in meiner
Wohnung in San Francisco.
Arabische Ch
Von Dr. Albrecht Z<
„Die Menschen begreifen lernen heißt sie entschuldigen."
Religiöse Unduldsamkeit, Glaubenshochmuth und Bekehrnngs-
sucht werden ebenso wie nationaler Dünkel umso lächerlicher,
je mehr das Wissen über die Mitbewohner unserer Erde zu-
nimmt. Das wäre ein vollgültiger Grund, um ethnogra-
phische Erdbeschreibung ganz anders als bisher an unseren
Schulen zu betreiben: die Zeit wird auch das bringen. In
solchem Sinne bitten auch die folgenden Seiten aufgefaßt
zu werden, in welchen ich einige Züge aus demCharak-
terbilde der neueren Araber zusammenstelle, wie sie in
den Berichten der Arabia-Reisenden seit Niebuhr mir auf-
gefallen sind. Dabei setze ich voraus, daß der Leser nicht
die altmodische Ansicht theilt, als ob irgend eine Religion
nur negativ, d. h. abfällig, zu beurtheilen sei. Auch der
Mohammedanismus war für seine Zeit und die Völker sei-
nes Bereiches werthvoll, er ist es in Afrika noch, wo er im-
merhin einen Fortschritt gegen den blanken Fetischismus be-
zeichnet. Mohammed einen Betrüger zu nennen ist heutzu-
tage nicht mehr verständig; der geniale in Selbsttäuschung
lebende Mann hat eine lange nachwirkende politische That
mit der Gründung des Islam vollbracht, insofern er wenig-
stens einen großen Theil der vaterländischen Halbinsel unter
einemDogma und damit zu eiuer Kraftentfaltung verband.
Das aber wollte viel sagen bei einen: zwar äußerlich schein-
bar compact einheitlichen, in Wahrheit aber durch Wüsten
gründlich zertheilten und von verschiedenen, wenigstens drei,
Völkerfamilien bewohnten Lande. .
Dennoch wird man sagen dürfen, daß dem Islam zur
Entwicklungsfähigkeit, zur ethischen nämlich, nicht zur dog-
matischen, eines fehlte, die so zu sagen kosmopolitische Hu-
mauität. Dabei jedoch hat er dem Leben der Stämme auf
der Halbinsel selber eine Zeitlang neuen Inhalt gegeben,
gewisse Zweige der literarischen Production in Blüthe ge-
bracht , andere geknickt, kein Talent der Araber indeß völlig
unterdrückt, der Sittlichkeit freilich nur wenige Ideale vor-
gehalten, andere verunziert, Alles in Allem aber der Nation
das Erbtheil nicht der Verweichlichung, sondern der rauhen
Krastentfaltuug hinterlassen und dadurch die Möglichkeit,
uoch jetzt nach 12 Jahrhunderten, nun nicht mehr durch
Koran und Tradition, eine neue und frische Blüthe erwar-
ten zu können.
Wenn also die europäischen Reisenden, von Niebuhr an
arakterziige.
hme in Frankfurt a./O.
bisvonMaltzan undHalevy, dieBnrckhardt, Seetzen,
Wellsted, Botta, Fresnel, Arnaud, von Wrede,
Wallin, Burton, Pelly, Gnarmani und Palgrave,
wenn sie nicht umhin können, die Nationalaraber im Gan-
zen für eine an Adel des Charakters und Grazie des We-
sens hervorragende Völkerrace zu erklären, so wird dazu ge-
wiß vor Allem die nationale Anlage gewirkt, aber immer-
hin auch der Islam dieser Anlage keinen allzu großen Ab-
bruch gethan haben. Paradox mag es klingen, aber es
dürfte wahr sein, daß der Islam, indem er das Volk sei-
nes Stifters von dem Flusse der Weltbildung fernhielt, dem
Nationalcharakter genützt hat. So ist Arabien in die Ver-
knechtung der übrigen mohammedanischen Staaten uud
Völker nicht verstrickt, auch mit den theilweis problemati-
schen Culturgescheuken Europas nicht beglückt worden. Ja,
was die Araber einst von den Europäern, vor Allem den
Portugiesen erlebten, war ganz geeignet, ihnen einen grenzen-
losen Abscheu vor dieser Sorte Christen beizubringen.
Dies glaubte ich zur richtigen Würdigung der folgenden
Charakterbilder vorausschicken zu müssen, zugleich mit der
Versicherung, daß mir die argen Schwächen und Fehler der
Halbinselbewohner in den Erzählungen der Reisenden nicht
entgangen sind. Ueberall aber rede ich nicht von dem
Mischvolke, wie es sich etwa in Nordafrika, Aegypten, Mekka
und anderen Orten von Hedfchas aus allerlei Elementen zu-
sammeugebraut hat, sondern von den echten Arabern des
Innern, von der syrischen Wüste bis nach Hadramant, von
el Hasa bis nach Jemen.
Zunächst einige allgemeine Urtheile: Der durch
die Sorgfalt und Verläßlichkeit seiner Beobachtungen hoch-
schätzbare Carsten Niebuhr nennt gerade vor 100 Iah-
ren, September 1772, in der Widmung seiner „Beschrei-
buug von Arabien" an den König von Dänemark das Land
„von einer Nation bewohnt, die nie von einem fremden
Volke bezwungen worden ist, die vielmehr ihre Herrschaft,
Sprache, Wissenschaften und Religion weit umher verbrei-
tet hat". In dem trefflichen Werke selber, ebenso wie in
der „Reisebeschreibung nach Arabien", verfällt er nirgends
in einen Argwohn erregenden Panegyrikus, sondern er ur-
theilt so, daß er überall Glauben an die Richtigkeit seines
Urtheils erweckt. Niemand dürfe sich, meint er, dadurch
abhalten lassen, eine Reise nach Arabien zu unternehmen,
26*
204 Albert Zehme: Aral
weil die Arab/r gemeiniglich als ungesittet, habsüchtig und
räuberisch beschrieben würden. Er habe diese Nation nicht
so schlimm gefunden. Die Europäer verlangten so geschwinde
zu reisen als in ihrem Vaterlande mit der Post. Und weil
die wenigsten die verschiedenen ganz oder größtentheils unab-
hängigen Stämme kannten, so hielten sie alle diejenigen
Araber für Räuber, welche ihnen etwa auf ihrer Reise hin-
derlich sein wollten. Die Einwohner des Landes seien Höf-
lich gegen Fremde, und man könne wenigstens im Gebiete
des Jmams, d. h. iu Jemen, mit ebenso großer Freiheit
und Sicherheit reisen als in Europa.
Hierbei will ich erwähnen, daß Niebnhr nur in Land-
schaften alter Cultur, wie in Jemen, und da auch wesentlich
innerhalb des Städtegebietes gereist ist. Daß die Sicherheit
in anderen Theilen nicht gleich groß ist, wissen wir von
Reisenden unseres Jahrhunderts. Nichtsdestoweniger ist
mir kein einziger Fall bekannt, mit Ausnahme der heiligen
Stätten Mekka und Medina, der sogenannten hadramanti-
schen Länder im Süden und des östlichen von Halevy vor
zwei Jahren mit rühmlichem Mnthe durchwanderten Jemen,
wo das Bekennen des Christen- oder Judenthums irgend welche
Gefahr gebracht hätte. v. Wrede wäre allerdings in
Hadramant, dem „Lande des Glaubens", Beled ed din, und
v. Maltzan in Mekka ernstlich gefährdet gewesen, wenn
ihr Christenthum früher ruchbar geworden wäre, sowie das
ja im hochgebildeten Europa sich wohl ähnlich ereignen
könnte. Aber Wallin, Palgrave, Gnarmani haben
nicht einmal in dem als fanatisch verschrienen eigentlichen
Wahhabi-Lande ihre Religion verleugnet, natürlich eben so
wenig die englischen officiell austretenden Offiziere, wie Well-
sted in Oman und Pelly bei dem Wahhabi-Fürsten.
Oman ist zudem ein Land absoluter religiöser Toleranz,
um so glücklicher, je weniger es an orthodoxem Islam leidet.
Was die Erziehung betrifft, so gelten Niebuhr's
Bemerkungen hierüber auch nur der ansässigen Bevölkerung,
wenn er sagt, daß die Knaben zeitig gewöhnt werden, ernst-
Haft unter den Aelteren zu verkehren. Hören wir daneben,
was der fleißige und tapfere Heinrich Burckhardt 1814
über die Erziehung bei den Aneze-Bedninen, dem mächtig-
sten Stamme nordöstlich von Medina, mittheilt. Einen
jungen Aneze dürfe man in Wahrheit ein Kind der Natur
nennen, seinem eigenen Willen überlassen, selten gezüchtigt,
aber zeitig an die Strapazen und Gefahren des Nomaden-
lebens gewöhnt. Ganze Gefellschaften nackter Knaben habe
er gesehen, welche mitten im Sommer und um die Mittag-
zeit im brennenden Sande spielten und umherliefen und,
wenn sie dann ermüdet zu den Zelten ihrer Väter kamen,
ausgescholten wurden, daß sie ihre Laufübungen nicht fort-
setzten. So auch das Wort eines Beduinen bei Richard
Burton 1853 — in der trefflichen Bearbeitung seiner
Personal narrative von Karl Andres —, als man ihm
für seine Kinder ägyptische Spielsachen anbot: Meine
Kleinen spielen auf desKameelsRücken. — Georg Wal-
lin, einer der am besten für Forschungen in Arabien wissen-
schastlich vorgebildeten Reisenden, der leider durch einen srü-
Heu Tod den Seinen und der Wissenschaft entrissen wurde, sagt
1345 in Bezug aus die Erziehung des arabischen Knaben im
Schammargebiete, wo seitdem eine in hohem Grade fesselnde
Staatenbildung unter dem großen Fürsten Telal ibn Raschid
von der Hauptstadt Hail aus sich vollzogen hat, daß es damals
keine Schulen gegeben habe. Vom Vater hätten die Kin-
der die ersten Grundsätze der Religion, Koran lesen, Gebete
recitiren gelernt. Was sie sonst wußten, wurde im müud-
lichen Verkehr mit den Eltern erworben. „Und doch sah
ich nirgends in der Welt feiner fühlende, besser geartete und
gehorsamere Kinder als die der Beduinen." — William
sche Charakterzüge.
Palgrave endlich, der englische Exjesnit, über dessen Ver-
läßlichkeit die Acten freilich noch nicht geschlossen sind, er-
klärt sich 1862 bei Gelegenheit seines Zusammentreffens
mit Scherarat-Bedninen dahin, daß er trotz aller an ihnen
sichtbaren Folgen eines gesetz-, religions- und Unterrichts-
losen Lebens doch keine edlere Race auf der Erde kennen ge-
lernt habe, als die echten ungemischten Stämme des östli-
chen und Mittlern Arabiens. — Eben in Hail erlebte er
unter vielen anderen Beweisen feiner Gemüthsanlage auch
den, daß ein junger Patient, zu welchem er als Arzt gerufen
wurde, trotz großer Schwäche den Eintretenden bat, zuvor die
Gastfreundschaft seines Vaters anzunehmen und erst dann
sich mit der Cur zu befassen. Des Fürsten Sohn, Bedr, den
Palgrave in einem leichten Fieberanfall glücklich behandelt
hatte, „zeigte eine Anhänglichkeit und Dankbarkeit mehr als
unter Kindern, wenigstens vornehmen, gewöhnlich ist, wäh-
rend seine bescheidenen und höflichen Sitten der Erziehung
an einem europäischen Hose Ehre gemacht hätten."
Um noch einige allgemeine Urtheile anzuführen, so er-
klärt der als französischer Consnl in Dschidda längere Zeit
mit Arabern in Berührung gekommene Gelehrte Fnlgence
Fresnel 1840, daß der Nationalaraber, was Schönheit
der Formen, natürlichen Anstand und Grazie seines ganzen
Wesens betreffe, ebenso wie seine ausgebildete edle Sprache
jede andere Völkerrace übertreffe. — Die Araber nennt
Burckhardt eine freieNation; dieUnabhängigkeit der
Einzelnen grenze beinahe an Anarchie. Der Beduine könne
mit Wahrheit sagen, daß er keinen andern Herrn als den
Beherrscher des Weltalls über sich anerkenne. Aus laug-
jähriger Erfahrung aber ergebe sich, daß ihre Civilinstitn-
tionen ihrer Lebensweise ganz angemessen seien. Der Scheikh
habe nur durch seine persönlichen Eigenschaften Einfluß; seine
Befehle würde man verachten, seinem Rathe folge man.
Nur das Gegengewicht der Familien gegen einander erhalte
den Frieden im Stamme. — Aehnlich bezeichnet Burton
die Regierung der Beduinen als Autonomie. Er charakteri-
sirt die Wüstensöhne besserer Art als entschlossen, leutselig,
edelmüthig, insgemein aber zugleich pfiffig verschlagen, ein-
fach und einfältig, reizbar und empfindlich, nicht ohne eine
gewisse Gutmütigkeit, im BeHaben etwas feierlich und wür-
dig. Bei allem Ernst lieben sie doch den Scherz. Ihre leiden-
schaftliche Aufwallung läßt bald wieder nach, aber jede Be-
leidignng hat eine unversöhnliche Rachsucht im Gefolge.
Wie ist nun aber, fragt Burton, unter solchen Lenten eine
Gesellschaft möglich? Sie haben, antwortet er, eine Art
Löwengesellschaft; der stolzeste, tapferste, ausdauerndste erhält
die Obergewalt.
Dazu kommt die Blutrache (Thsar), das wahre Cor-
rectiv gegen die persönlichen und die Stammesfeindschaften,
ferner, bei der anerkannt ungenügenden Bedeutung des Ko-
ran als weltlichen Gesetzbuches für die Wüste, die uralte
Einrichtung des Kadi el arab, des Richters der Araber,
der, beredt und verständig, das Herkommen und die Genea-
logien der Stämme genau kennt und vor welchen man Pro-
cefse bringt.
Körperliche Züchtigung ist unbekannt, Geldbuße
ist seit undenklichen Zeiten die Form der Strafe für die
meisten Verbrechen. Ein anderes Mittel, Frieden unter
einer Menge stolzer und unruhiger Krieger zu erhalten, ist
die Wahl eines Wasi, Schirmvogtes. Wenn ein Araber
für die Sicherheit seiner Familie noch nach seinem Tode zu
sorgen beabsichtigt, so wendet er sich mit der Bitte an einen
Andern, der Wasi seiner Kinder zu werden. Nimmt dieser
das zugeführte weibliche Kameel an, so werden er und seine
Descendenz erbliche Beschützer der Nachkommenschaft des
Andern.
Albert Zehme:
Was die Blutrache betrifft, so ist sie durch das Her-
kommen geordnet. Die Generationskreise, innerhalb deren
sie wirksam sein, und der Geldbetrag, durch welchen sie ab-
gelöst werden darf, unterliegen genauen Festsetzungen. Bei
den Aneze z. B. ist, nach BurckHardt, das Blut eines
Mannes fünfzig weibliche Kameele, ein Reitkameel, eine
Stute, einen schwarzen Sklaven, einen Panzer und eine
Flinte Werth; anderswo 1000 Piaster (Uber 300 Thaler)
oder 500 :c. Doch gilt es nicht Uberall für wacker, sich die
Blutrache durch solche Zahlungen abkaufen zu lassen.
Räuber (Harami) sein, gilt unter vielen Stämmen
als ehrenvoll: das Object des Raubes sind wesentlich die
Kameele. Selbst dieses Geschäft und die eventuelle Ergrei-
fung des Räubers hat alte Formen und Formeln. Dabei
wird dann fcharfc Vorsorge getroffen, daß der Gebundene
nicht durch BerUhrung irgend wen zu seinem BeschUtzer oder
Geleitsmann (Dakheil) machen könne. Dakheil sind
auch die Begleiter, die man sich als Reisender verschafft, z. B.
v. Wrede in Hadramant. Lösegeld, Entkommen, gewalt-
same Befreiung endigen schließlich des „Räubers" Gesau-
genschaft. — Aehnlich dem Dakheil ist der Rasik, den
man sich gegen Erlegung einer kleinen Summe erwirbt.
Bei Gelegenheit seiner Bekanntschaft mit dem slldarabi-
schen Stamme Akaibere giebt v. Wrede einige interessante
Details Uber eine Stammversammlung von drei Tagen
Dauer. Der sonst so unabhängige Beduine ist während
dieser Zeit dem Scheikh und dem Aeltesten-Rath unterwor-
fen. Streitigkeiten werden geschlichtet, Urtheile gefällt und
vollzogen, Krieg und Frieden beschlossen. Verrath am
Stamm wird mit dem Tode bestraft, Bestehlen eines Stamm-
genossen oder Schützlings mit Ausstoßen aus dem Stamm.
Diese letztere Strafe ist so hart wie der mittelalterliche
Bann; der Ausgestoßene verliert alle Rechte und alle Habe
und wird von keinem Stamm aufgenommen. Drei Tage
nach der Vernrtheilnng darf Niemand ihm folgen, um etwa
seine Zufluchtsstätte zu erfahren; dann aber ist er vogelfrei.
So schlägt er sich in unwirthbare Oeden, um mit anderen
Banwak zusammen gefährliche weil der Ehre baare Ban-
den zu bilden.
Hierbei mag schließlich erwähnt sein, daß die Stämme
in einer der drei folgenden Beziehungen zu einander stehen;
sie sind entweder Aßchab (Gefährten), in Schutz- und Trutz-
bUudniß mit einander, oder Kim an (Feinde), in Blutfehde,
oder endlich stehen in Achwat (Brüderschaft) die Fremden
zu den Beduinen und zahlen einen Durchgangszoll durch
deren Gebiet.
Von weltbekannter Berühmtheit ist die G a stfr e u nd f ch a f t
der Araber; sie verdient es. Die Beispiele der auch den
europäischen Reisenden gewährten großartigen Gastlichkeit
sind Uberreich. Wie sie mir unter die Hände kommen, will
ich einige mittheilen. Niebnhr kehrte zwischen Loheia
und Beit el Fakih in einer Mansale ein, einem Unter-
kunstshanse, wo man für die mäßigen Darreichungen nichts
zahlt. Sobald der Herr der Mansale von den Gästen hörte,
kam er, um zu sehen, ob sie gut bedient wUrden, ließ besse-
res Brot backen und Kuhmilch bringen, da er sah, daß die
Europäer noch nicht an Kameelmilch gewöhnt seien. Be-
zahlnng lehnte er ab. — In Beit el Fakih nahm der
Kaufmann Ambar Seif sie mit der größten Höflichkeit
auf, ließ ihre Sachen vom Zollhause holen und lud sie zu
sich. In Loheia war der Dola (Gouverneur) auf das
Aengstlichste um die ihm unbekannten Männer besorgt. Er
wollte ihnen zwar erlauben, allenthalben umherzureisen, allein
er verlangte immer davon vorher benachrichtigt zu werden,
um seine Unter-Dolas und andere Dorfhäupter im Interesse
der Reisenden zu instruiren. Ueberall im Gebirgslande von
'abische Chnrakterzüge. 205
Jemen fanden sich Brunneneinrichtungen zum Nutzen der
Reisenden, hölzerne Löffel oder trockene KUrbisschalen in den
zumeist mit SchutzhUtten gegen das Wetter verbundenen
Wasserhäuschen. Aehnlich fand v. Wrede in der
Einsamkeit desWadiHadhena inHadramaut eine fromme
Stiftung zur Kaffeebereitung, eine HUtte mit allem nöthigen
Material. — In Tai'z nahm der Kadi sich der Europäer
nachdrücklich gegen einen gewinnsuchtigen Beamten an und
lehnte jedes Geschenk ab, so daß Niebuhr, allein von der
gesammten wissenschaftlichen Expedition nach Europa zurUck-
gekehrt', sich verpflichtet fUhlt, den wackern Mann rUhmlich
zu erwähnen.
Daß Burckhardt bei seinen Wanderungen nach
Mekka und von dort Uber Medina nach der KUste viele
Gelegenheit hatte, die arabische Gastlichkeit zu erfahren, begreift
sich. So sagt er von den vornehmen Mekkanern, daß sie in
wahrhaft liebenswürdiger Weise ihre Gäste bewirthen. Wer
immer zufällig in der äußern Halle sitzt, wenn das Mittags-
essen aufgetragen wird, ist eingeladen. Wenn ein Fremder in
der Moskee der Sonne ausgesetzt ist, so macht der Mekkaner
ihm gewiß Platz; wenn er bei einem Kasfeehause vorbeigeht,
rufen ihn Stimmen, um ihm Kaffee anzubieten. Wenn
ein Mekkaner von einem öffentlichen Wasserverkäufer einen
Krug zum Trinken entnimmt, so bietet er ihn sicherlich erst
dem Fremden an. — In Medina wurde eine alte freund-
liche Sitte bei Begräbnissen noch immer beobachtet: die Bahre
wurde von Freunden und Verwandten des Verstorbenen auf
den Schultern getragen und jeder Umstehende oder VorUber-
gehende beeilte sich, die Träger einige Zeit abzulösen. So
ging die Bahre von Schulter zu Schulter bis zum Grabe.
Fürstliche Gastfreundschaft erfuhr 1837 der französische
Botaniker Botta bei feiner Besteigung des an 7000 Fuß
hohen pflanzenberUhmten Sabbr-Gebirges in SUd-Iemen.
Der kUhne und ehrgeizige später von Ibrahim Pascha meuch-
lerisch ermordete Scheikh Hussein sah es, wie einst die
Jmame von Sanaa, als sein Vorrecht an, jeden Fremden
im Lande als seinen Gast zu betrachten. Drei Monate be-
stritt Hussein alle Ausgaben und Transportkosten des Fran-
zosen, die bei der großen wissenschaftlichen Ladung sehr be-
deutend waren; mehrere Wochen war Botta unmittelbarer'
Gast des ritterlichen Scheikh, der ihm solide FUhrer sorg-
sam aussuchte und diejenigen besonders belohnte, mit denen
Botta zufrieden war. Auf dem hohen Bergschlosse Maamera
sah der Franzose Massen von Armen, die beschenkt von dan-
nen gingen, bewunderte dabei die mit scharfem Blick fUr
Naturschönheit ausgewählte Lage mit einer entzückenden
Aussicht in die tiefen waldigen KlUfte, Uber welchen die
Adler schwebten.
Merkwürdig ist die gastliche Aufnahme v. Wrede's
1843 bei einem Scheikh in der weltabgelegenen Stadt Amd
in Hadramaut, nicht fern dem mit Ortschaften reich besetz-
ten Culturthale Doau, fast am Saume der großen fUdara-
bischen WUste Roba el Khali. Dieser imponirend schöne
Mann, Abderrahman ba Dhiak ben Amudi, hatte in seinem
Zimmer außer Tisch und Lehnsessel — beides keine arabi-
schen Geräthe! — auch einen Bücherschrank mit englischen
Werken, und zwar Scott's Napoleon, ein Lehrbuch der Physik,
eines der Geographie und einen Atlas. Bald zeigte sich, daß
der Hadramanter Englisch sprach, eine Frucht seines Verkehrs
mit Europäern in Indien. Zu Wrede's augenblicklichem
Schreck sagte er ihm geradezu, daß er, Wrede, kein Moslim
sei. „Jndeß sind Sie mir deshalb nicht minder willkom-
mem" Er entließ ihn gegen das Versprechen, auf der RUck-
kehr länger bei ihm zu verweilen. — Des Abends Gast
bei einer Hochzeitsfeier fah Wrede Riechflaschen von böh-
mischem Glase, die alljährlich aus den Glashütten des schö-
206 Aus allen
nett Moldaulandes den weiten Weg in diese den Fabrikan-
ten sicherlich sogar dem Namen nach unbekannte Weltferne
machen. Ebenso ist Wrede auf seiner gezwungenen Rück-
kehr der gerngesehene Gast höhlenbewohnender Beduinen im
Wadi Koteifa, zu deren Stamm sein Escorteur gehörte.
Als er diesen dahin zu bestimmen gesucht hatte, ihn auf
einem Umwege über die Königsgräber im Wadi Hadscharin
und nicht direct an die Küste zu führen, war die Antwort
des Beduinen gewesen: Ich habe mein Wort gegeben und
muß es halten.
Auch die englischen Offiziere Wellsted und Crutten-
den wurden 1837 bei ihrem Zuge nach den himjaritifchen
Ruinen von Nakb el Hadschar von Dorfbewohnern, die nie
einen Europäer gesehen hatten, bei glühendem Mittagbrande
freundlich eingeladen, in ihren Häusern auszuruhen. Von
hohem Interesse ist Wellsted's Erlebniß bei den Abu
Ali im Südosten Omans. Gegen diese hatte 1820 der
Jmam in Maskat englische Unterstützung von der Insel
Kischm erbeten, welche ihm auch in Folge von Gewaltthätig-
keiten der Abu Ali an einem englischen Unterhändler gewährt
wurde. Die 400 englischen Sipahis und die 2000 Solda-
ten des Jmam erlitten eine schwere Niederlage, so daß vom
ostindischen Gouvernement in Bombay sofort Züchtigung
beschlossen und ins Werk gesetzt wurde. Fast wäre die
Sache wieder unglücklich abgelaufen, wenn die Verbündeten
der Abu Ali rechtzeitig eintrafen. So griffen die Abu Ali,
nur 800 Mann stark, viele ihrer Weiber in den Reihen,
mit unvergleichlichem Muthe an und gaben den Kampf ge-
gen die Artillerie nicht eher auf, als bis sie fast alle gefal-
len oder schwer verwundet waren. Als das befestigte Dorf
nun auch beschossen wurde, riefen die Weiber endlich ihr
Aman (Pardon). Aber sie vergossen, umgeben von ihren Todten
und Verwundeten, keine Thräne, die Männer als ob die
Welt um sie nicht da wäre, knieten beim Sonnenuntergänge
zum Gebet, in vollem Vergessen von Tod und Verderben.
Wellsted war nun seit 1821 wieder der erste Brite, der
ihr Land betrat, und was er fand, war die rückhaltloseste
Gastfreundschaft. „Kaum hatte ich mich als einen Englän-
der zu erkennen gegeben und erklärt, daß ich einige Tage
in ihrer Mitte zubringen wollte, so erscholl das ganze Lager
in lautem Freudengeschrei; ihre paar alten Kanonen wurden
abgefeuert, ihre Luntenflinten waren bis Sonnenuntergang
im Gange und Alt und Jung, Männer und Weiber beei-
ferten sich ihr Bestes zu meiner Unterhaltung zu thun. Ich
war durch so gastliche Aufnahme nicht wenig überrascht.
Vor uns lagen die Ruinen des Forts, das wir zerstört hat-
ten; mein Zelt stand auf demselben Flecke, wo wir ihren
Stamm fast vernichtet hatten. Aber Alles war vergessen
bei dem Vertrauen, das ich ihnen zeigte, indem ich mich in
ihre Mitte begab." Der Abend verging in lebhaftem Ge-
spräch, wobei Wellsted die für einen Mohammedaner vor-
urtheilslose Meinung eines alten Abu Ali mit wahrer Hoch-
achtung vernahm, daß wohl jede Religion für das Land
gut sein möge, wo sie herrsche. „Die Weiber an den Spinn-
rocken, die Männer an ihr Schwert," sagte ein Anderer,
als er sich nach dem Leben der englischen Frauen erkundigt
hatte. Ein Zug von feiner Höflichkeit war es, daß. als sie
merkten, wie Wellsted aus Rücksicht auf ihre wahhabitische
Tabacksfeindschaft keine Cigarre rauchen wollte, sie nicht ruh-
ten, bis er angezündet hatte. Auch der Frau und Schwester
des abwesenden Scheikh machte er seinen Besuch und fand
verständige und ernste Charaktere in ihnen. „Wir haben
mit einander gefochten und sollten nun Freunde sein," sagte
die Frau des Scheikh. Am nächsten Tage ging Wellsted
mit fünfzig Dfcheneba-Beduinen auf einige Tage in ihr
Gebiet. Charakteristisch war auch bei ihnen die männliche
Verachtung aller Beschwerden. „Du wünschest das Land
der Beduinen zu sehen?" Dieses ist, rief der Dscheneba-
Scheikh, das Land der Beduinen, indem er den Speer auf
den festen Sand der Wüste stieß.
Einige Wochen später als Wellsted von schwerer Krank-
heit genesen noch schwach in der Stadt Semail (am grü-
nen Gebirge in Oman) an einem schönen Wasserlaufe vor
seiner Hütte saß, blieb ein Araber, durch des Briten schwer-
müthiges Aussehen bewogen, stehen und, nachdem er den
Selam gesprochen, zeigte er auf den krystallenen Strom
und sagte: Schau hin, Freund, fließend Wasser macht das
Herz heiter. „Ich war in einer Lage," setzt Wellsted hinzu,
„wo ich das Mitgefühl zu schätzen wußte, und dieses drückte
sich in so hohem Grade bei dem Sohne der Wüste aus, daß
ich nie ohne Rührung an diesen unbedeutenden Vorfall zu-
rückgedacht habe."
Noch andere zahlreiche Beispiele der Wellsted und anderen
Offizieren der englischen Küstenvermessung erwiesenen Gast-
sreundschast bester Art wären zu verzeichnen, so z. B. wie
der Lieutenant Smith bei den Mahra-Stämmen des
Gebirgslandes (östlich von Ras Fartak an der Südküste)
immer den wärmsten Platz am Feuer erhielt, die beste Milch
und überall willfährige Führer. Ein Weib und eine kleine
Herde wollte man ihm geben, wenn er unter ihnen wohnen
bliebe. Ebenso hat Wall in in den Zelten der Stämme
zwischen Rothem Meer und Central-Arabien, ebenso Pal-
grave in Städten, Dörfern und Zelten vielfach die gastliche
Noblesse der Araber erfahren.
Für heute sei das Gesagte genügend. Ist es mir ge-
stattet, so bringe ich später einige Züge aus dem Leben der
arabischen Frauen.
Aus allen
Anthropologische und ethnographische Photographien aus
dem' britischen Museum.
r. d. Das britische Museum in London, das reichste und
großartigste seiner Art, beginnt jetzt seine gesammten Schätze
systematisch durch herrliche Photographien zu veröffentlichen. Wie
umfangreich das Gesammtwerk sein wird, erkennt man daraus,
daß ein vollständiges gebundenes Exemplar sämmtlicher Photo-
graphien auf 143 Pfund Sterling, sage auf beinahe 1000 Thaler,
zu stehen kommen wird. Uns liegen nur die Serien der vor-
E r d t h e i l e n.
geschichtlichen und ethnographischen Sectionen vor, und diese
sind es, die wir hier kurz nach dem Catalogue of a Series
of photographs from collections of tbe British Museum,
taken by S. Thompson (London, Mansell and Comp. 1872)
anzeigen wollen. Sie sind von A. W. Franks erläutert, wäh-
rend Dr. Samuel Birch die britischen Alterthümer, die ägypti-
schen, assyrischen, griechischen und etruskischen Schätze des Mu-
seums behandelt.
Das Ganze ist chronologisch geordnet, aber begreiflicher-
weise läßt sich von einer Chronologie bei den vorhistorischen
Aus allen
Alterthümern nicht reden. Diese beginnen mit einer Auswahl
unpolirter Steingeräthschaften aus der Drift von Hoxne, Herne
Bay, Gray's Inn Lane und Abbeville. Man kann nicht leug-
nen, daß diese überaus rohen Instrumente uns den frühesten
Culturzustand des Menschen vorführen. Etwas höher stehen
die zahlreichen zugehauenen Feuersteine von Poitou, aus dem
Aveyron, die alle starke Spuren des Gebrauchs aufweisen. Die
Tafeln 5 und 6 zeigen siebzehn Harpunenspitzen aus Renthier-
geweih, von denen einige an den Seiten mit Widerhaken ver-
sehen sind und die wahrscheinlich zum Fischfang dienten. Sie
stammen aus Bruuiquel, Departement Tarn et Garonne. Zu
derselben paläolithischen oder frühesten Steinepoche gehören die
Nadeln und anderen Instrumente, namentlich aus Pferdeknochen,
die mit Thierfiguren bedeckt sind. Das britische Museum hat
Gypsabgüsse jener bekannten Mammuthfiguren auf Renthierhorn
aus der Höhle von Montastruc bei Bruniquel, welche wir auch
bereits im „Globus" (XX, S. 215) besprachen und deren Aecht-
heit nicht unbezweiselt dasteht. Der Bericht sagt: These rüde
drawings are of infinite value as unmistakable proofs of
man having lived in Company with the mastodon. Daß
der Mensch mit diesem zusammen lebte, ist anderweitig ja ge-
nügend dargethan; unsere Zweisel au der Aechtheit dieser Kunst-
producte stehen übrigens nicht vereinzelt da. Der Bericht meint
serner, es sei von großem Interesse, mit diesen Höhlenschnitze-
reien die modernen Gravirungen und Schnitzereien in Walroß-
zahn, Horn und Holz (Tafel 91, ethnographische Serie) zu ver-
gleichen, die von den Eingeborenen der amerikanischen Nordwest-
lüfte stammen. Diese Art Schnitzereien und Figuren, ähnlich
denen, die Whymper in seinem „Alaska" abbildet, sind doch sehr
verschieden von den problematischen Schnitzereien der Höhlen-
menschen. Viel eher trifft der Vergleich der frühesten aus der
Eiszeit stammenden Feuersteingeräthe mit den Steininstrumenten
verschiedener arktischer Stämme zu; diese möchten wir als Be-
weise der Persistenz der einfachsten Formen menschlicher Kunst
bis auf den heutigen Tag anerkennen. Die neolithische oder
„Periode der polirten Steine", die der Bronze und des Eisens,
sind reich unter den Photographien vertreten. Es sind dieses
die bekannten Aexte, Hämmer, Celte u. s. w., die wir bloß an-
zuführen brauchen. Tafeln 77 und 78 zeigen uns eine der
kolossalen nach London gebrachten Götzenfiguren von der Oster-
insel, den Hoa-haka-nana-Ja, der aus hartem Granit gehauen
ist, ein gorillartiges Gesicht zeigt und auf der Rückseite mit
Thierbildern und Symbolen geschmückt ist. Der Bericht meint,
dies kolossale Idol sei von einer Race gearbeitet worden, welche
den Gebrauch des Eisens nicht kannte.
Von den Photographien solcher Gegenstände, welche bereits
der historischen Zeit angehören, erwähnen wir nur kurz die
herrlichen ägyptischen und assyrischen Sachen. Man sehe nur
das älteste Glasgeräth der Welt, ein Riechsläschchen, wel-
ches den Namen Thothmes III. (achtzehnte Dynastie, 1450 vor
Christo!) trägt. Die ganze Kulturgeschichte Aegyptens, Assy-
riens und Babyloniens liegt hier in diesen prächtigen Photo-
graphien vor uns ausgebreitet, so schön und deutlich, wie bisher
noch in keinem einzigen Werke.
Barbarei in Peru.
Die Präsidentenmacherei ist in sämmtlichen sogenannten Re-
publiken Amerikas ein Kreuz und eine Qual. In den ehemals spa-
nischen Ländern geht sie nur ausnahmsweise unblutig ab. Auch
Präsident Balta in Peru kam vermöge einer Rebellion an die
Spitze; er hatte sich als Oberst an der Spitze seines Regiments
zum Präsidenten aufgeworfen, war in Lima als solcher aner-
kannt worden und Versuhr sehr willkürlich; indessen hat er we-
nigstens die äußere Ordnung aufrecht erhalten. Im August
war sein Amtstermin abgelaufen; die Wahlen waren für einen
bürgerlichen Mann, Pardo, günstig ausgefallen und der vom
Balta empfohlene Kandidat hatte nur eine geringe Anzahl von
Stimmen erhalten. Es ist Obliegenheit des Kongresses, die
Erdtheilen. 207
Wahlzettel zu prüfen und dann zu erklären, welcher Eandidat
gesetzlich Präsident sei.
Während in Lima eine große Industrieausstellung veran-
staltet worden war uud die neuentdeckten Salpetergruben bei
Arica eine neue Einnahmequelle in Aussicht stellten, begaben sich
Dinge, welche selbst in Peru, wo kaum der zehnte Mensch ein
Weißer ist, Staunen erregten.
Am 22. Juli rückte General Gutierrez, Balta's Kriegs-
minister, mit Fußvolk und Geschütz vor den Regierungspalast,
nahm den nichts ahnenden Präsidenten Balta gefangen, sperrte
ihn in eine Caserne und erklärte sich zum Oberhaupt des Staa-
tes. Gleichzeitig verkündigte er für Lima das Kriegsgesetz. Das
erstaunte Volk verhielt sich ruhig und wartete den Verlauf der
Dinge ab; die fremden Gesandten erklärten, daß sie Gutierrez
nicht anerkennen würden; in der Armee, über welche kurz vorher
eine glänzende Musterung abgehalten war, fanden viele Desertionen
statt; die Kriegsschiffe waren auf See und ihre Bemannung er-
klärte sich gegen den Usurpator. Alle Banken und Kaufläden
hatten geschlossen.
Nach der auch in Venezuela und Mexico hergebrachten und
sehr beliebten Praxis begann Gutierrez damit, daß er Zwangs-
an leihen erpreßte. Die Herren Dreysus (ein deutscher Jsrae-
lit, welcher als Geldmann großen Einfluß auf die Finanzver-
Hältnisse Perus hat) und der um das Eisenbahnwesen hochver-
diente Nordamerikaner H. Meiggs wurden jeder um 50,00(1
Dollars angezapft und jede der vier Banken mußte eben so viel
hergeben. Der Director der London-Bank, Dawson, wurde
eingesperrt bis er blechte.
Die Zeitungen erschienen nicht, das Volk wagte sich nicht
auf die Straßen, in Lima herrschte ein Schreckensregiment. In
einigen Easernen und auch in Callao wurde revoltirt; Pardo
und andere angesehene Leute flüchteten sich in die Gesandtschaften
oder auf die Schiffe.
So verliefen die Dinge bis zum 26. Juli. Als an jenem
Tage Oberst Sylvester Gutierrez, Bruder des Generals, sich auf
dem Bahnhofe blicken ließ, wurde er von der dort Versammelten
Menge verhöhnt und verflucht; als er seinen Revolver zog,
schoß man auf ihn und im Nu lag er als Leiche am Boden.
Das Volk stürzte sich über ihn her und zerriß ihn förmlich.
Als der Dictator, welcher sich im Regierungspalast einge-
richtet hatte, diese Vorgänge erfuhr, gab er Befehl, Balta zu
erschießen. Als seine Schergen in die Caserne eindrangen, fan-
den sie ihn im Bette liegen. Einer zog den Revolver und feuerte
drei Schüsse hintereinander auf ihn ab und dann wurde auf
seinen Besehl die Leiche mit Bayonnetten durchbohrt. Inzwischen
hatten viele Männer ein Herz gefaßt und das Volk versammelte
sich in Masse, während Gutierrez solche Soldaten, auf welche
er sich noch verlassen zu können glaubte, um sich schaarte. Den
Revolver in der Hand zog er vor ihnen her nach dem in der
Vorstadt liegenden Fort Santa Catalina, wo er sich verschanzte.
Jetzt stellte sich der Vicepräfident Herencia Zevallos an die Spitze
des Volkes, zog nach dem Regierungspalast, übernahm in aller
Form die Regierung, ernannte ein Cabinet und sorgte für Her-
stellung der öffentlichen Ordnung. Der Dictator aber sah bald,
daß es mit ihm zu Ende gehe, denn seine Soldaten rissen aus.
Er warf gegen Abend einen Mantel um, stülpte einen breit-
krämpigen Hut auf den Kopf, schlich sich insgeheim aus dem
Fort heraus und war so verwegen, eine der Hauptstraßen zu
betreten. Als er dort erkannt wurde, flüchtete er sich in einen
Apothekerladen, aber die Menge zerrte ihn auf die Gasse und
nach wenigen Minuten war von diesem Thomas Gutierrez nur
noch ein zerstampfter und zerrissener Fleischklumpen übrig, der
erst auf dein Pflaster umhergeschleift und dann an einen Later-
nenpfahl gehängt wurde. Mit den Leichen zweier Brüder ver-
fuhr man eben so, und zuletzt wurden alle drei Fleischklumpen
au Stricken in die Lust gezogen, so daß sie am Hauptthurme
d er Kathedrale hingen und allem Volke sichtbar waren. Dann
ließ man den Strick los und die Leichen stürzten aus einer
Höhe von etwa 100 Fuß herab. Unten begoß man sie mit
208 Aus allen
Petroleum und so wurden sie vor dem Hauptthor der Käthe-
drale zu Asche!
Dann übernahm am 2. August Pardo die Regierung.
4: * *
— Die nachfolgenden geographischen Notizen erhielten
wir von Herrn Dr. A. Ernst in Caracas:
Temperaturbeobachtungen in der Tiefe von 1000
Faden, im äquatorialen Theile des Atlantischen
Oceans, von N. v. Maclay. Während der Ueberfahrt von
den Cap- Verde -Inseln nach Rio de Janeiro gelang es dem
Reisenden, in der Region der Calmen (unter 3° nördl. Br. und
24°24' westl. L. von Gr.) die Temperatur in der Tiefe von
1000 Faden (6000 Fuß) zu ermitteln. Sie ergab sich gleich
3,5^ C., während zugleich die des oberflächlichen Wassers 27,6°
war, der Unterschied betrug also 24,l°. Es ist dies die erste
Beobachtung, die in der äquatorialen Region des Atlantischen
Oceans in dieser Tiefe gemacht worden ist. („Bulletin de l'Aca-
dsmie Imperiale des Sciences de St. Petersbourg", August 1871.)
„EßbareErden" aus Lappland undSlldpersien. Der
Reisende A. Göbel erhielt von den Bewohnern des Dorfes
Ponoi an der Mündung des gleichnamigen Flusses, 67° 5' nördl.
Br. und 41°12' östl. L. von Gr., auf der Halbinsel Kola, ein
weißes, leichtes, talkähnliches Pulver, das als Beimischung zum
Mehl beim Brotbacken verwandt wird. Es bildet ein bedeuten-
des Lager von 2 bis 3 Fuß Mächtigkeit unter Sand- und Lehm-
schichten. Die chemische Untersuchung, welche Professor C. Schmidt
in Dorpat ausführte, ergab, daß diese „eßbare Erde" ein fein-
zermalmter und geschlämmter Kali glimm er war. Derselbe
zeigt bei 200- bis 300sacher Vergrößerung weiße dünne Schup-
Pen von 0,02 bis 0,06 Millimeter Durchmesser ohne bestimmte
Krystallsorm. Dieses Glimmermehl dürste oberhalb gelegenen
Glimmerschiefern entstammen, deren Detritus, zum feinsten
Schlamme zermalmt, durch Schnee- und Regenwasser ins Thal
hinabgeschwemmt und durch natürliche Schlämmung in flachen
Sedimentirbecken abgelagert wird. Daß dieses Glimmerniehl
beim Brotbacken völlig nutzlos ist, nur als füllender Ballast
unverdaut den Darm passirt, ist selbstverständlich. Bei der
Schwerzersetzbarkeit des Kaliglimmers durch verdünnte Säuren
kann von irgend welcher Betheiligung dieses „Mineralmehls"
am Ernährungsprozesse, sei es auch nur als Kaliquelle, nicht
die Rede sein. Es gehört in die Kategorie mit dem Thonessen
der Ottomaken, als Mittel, das Hungergefühl durch Füllung
des Verdauungscanals einigermaßen zu beschwichtigen.
Eine wesentlich andere Bedeutung hat das von demselben Rei-
senden bereits vor zehn Jahren aus Kirman, der 5000 Fuß hohen
Salzsteppe Südpersiens (circa 30° 10' nördl. Br. und 58° 10' östl.
L. v. Gr.) mitgebrachte „G'hel-i-G'iveh". Es bildet weiße, hier
und da etwas graue, unregelmäßige Knollen von Nuß- bis Apfel-
große, im Wasser zum unfühlbaren, weißen Schlamme aufwei-
chend, in verdünnter Salzsäure, Salpetersäure, ja selbst in war-
mer 10procentiger Essigsäure unter starker Kohlensäureentwicke-
lung und geringem Kieselrückstande löslich. Göbel erhielt diese
Substanz als „eßbare Erde", die in größeren Nestern und Lagen
vorkomme und beim Backen dem Mehl zugesetzt werde. Die
chemische Untersuchung ergab als Hauptbestandtheile kohlensaure
Magnesia (fast 67 Procent), kohlensauren Kalk (23,6 Proc.) und
Kochsalz (3,5 Proc.). Diese Substanz ist wahrscheinlich durch
Zusammenfluß von Steppenbächen und Frühjahrswasserläufen
entstanden, welche reich an Chlormagnesium und Chlorcalcium
sind. Das Fällungsproduct, eine Art natürlicher kalkreicher
roher Magnesia alba, spielt beim Backen als Kohlensäure-
Inhalt: Jlnf der Südsee. (Mit sechs Abbildungen.)
Poppe. II. — Streifzüge in Oregon und Kalifornien. Von
züge. Von Dr. Albrecht Zehme in Frankfurt a./O. — Au
graphien aus dem britischen Museum. — Barbarei in Peru. —
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für t
Druck und Verlag von Friedrich V
Erdtheilen.
quelle zur Auflockerung des Teiges, beim Genuß als diäteti-
sches Mittel, eine wohlbegründete Rolle. („Bulletin de l'Acade-
mie Imperiale des Sciences de St. Petersbourg", Mai 1871.)
Die geographische Lage Pekins, von H. Fritsche
Die aus zahlreichen Beobachtungen ermittelte Breite für den
auf beigegebener Skizze des Planes der Stadt mit a bezeichne-
ten Punkt ist 390 56' 48,52". Die Länge wurde aus 42
Mondculmiuationen abgeleitet und gefunden 7ü45m54,55s oder
116°28' 38,25". („Bulletin de l'Academie Imperiale des Sciences
de St. Petersbourg", November 1871.)
— Die Doctoren K. v. Fritfch und',I. I. Rein sind wohl-
behalten von ihrer wissenschaftlichen Reise nach den Kanarischen
Inseln (wo Dr. v.Fritsch bereits 1862 war) und nach Marokko
zurückgekehrt. Diese Reise wird von Vortheil für die Erdkunde
und die Naturwissenschaften sein. Begünstigt durch Empfehlun-
gen der deutschen Reichsregierung und durch den großbritanni-
schen Generalconsul in Tanger, Sir John Drummond Hay,
fanden sie, wie der „Weser-Ztg." geschrieben wird, im Reiche
Marokko nicht die Schwierigkeiten, von welchen Dr. G. Rohlfs
und Herr v. Maltzan berichten. In der Stadt Marokko waren
sie Gäste des Kaisers (Sultan), welcher ihnen ein eingerichtetes
Haus zur Verfügung gestellt hatte. Den Kaiser selbst, welcher
bekanntlich in Fes residirt, haben sie nicht gesehen, da die bei
dieser Gelegenheit nach orientalischer Sitte notwendigen Ge-
schenke die Reise unverhältnißmäßig vertheuert hätten. Die
Reise nach Fes selbst, so wurde den deutschen Gelehrten überall
versichert, sei wohl ausführbar. Ueber ihre Forschungen hin-
sichtlich der Geologie (Entdeckung von Salzlagern), Botanik,
Zoologie und Alterthumskunde des Landes, zumal des Atlas
werden die Reisenden demnächst selbst berichten.
— Die Auswanderung aus Skandinavien, welche
bisher vorzugsweise nach den nördlichen Staaten der nordame-
rikanischen Union gerichtet war, hat sich auch nach Neusee-
land gelenkt, wo bisher nur vereinzelte Schweden ansässig wa-
ren. Im Frühling sind in Wellington an der Cooksstraße 70
derselben gelandet, um Ackerbau zu treiben. — Nach Unter-
canada wandern Franzosen immer noch spärlich ein; bis
zum 1. Juli 1872 waren in Riviere du Loup, Quebec und
Montreal nur 235 angekommen; die meisten stammen aus der
Gegend von Mümpelgart, Belsort und Nancy, einige auch aus
der Champagne und der Provence. Auch eine Anzahl von
Wallonen ist aus Belgien nach Canada gekommen; einige
Flamingen haben Ländereien am rechten Ufer des untern St.
Lorenz erhalten, an der Grenze von Maine, in der Nähe eines
von flamischen Trappisten gegründeten Klosters. Die Wallonen
sind am Ottawa, im Thale des Flusses La Petite, Station im
Waldland, angesiedelt worden.
— Die Juden in Rumänien haben sich, falls die Zei-
tung „La Turquie" recht hat, in geradezu beispielloser Weise ver-
mehrt. Nach angeblich amtlichen Nachweisen zählten die Kinder
Israel 1859 im ganzen Lande etwa 67,000 Seelen, 1869 sollen
sie auf 612,000 Köpfe angewachsen sein. Das erscheint uns
übertrieben. In England kommt 1 Jude auf 1000 Personen,
in Frankreich 4, in Oesterreich 33; für die Walachei rechnet man
112 auf 1000 und für die Moldau gar 200; sie würden also
hier den fünften Theil der Bevölkerung ausmachen.
— Nachdem die von Wallifern gegründete Colonie am
Chupat in Patagonien so kläglich gescheitert ist, taucht doch
wieder ein ähnliches Project auf. Ein Franzose, Crozat de
Sempierre, hat von der argentinischen Regierung eine Küsten-
strecke dort erhalten, auf welcher er binnen drei Jahren 200
Familien ansiedeln will.
— Aus deutschen Landschaften. Das Saterland. Von Franz
Theodor Kirchhoff. VIII. (Schluß.) — Arabische Charakter-
allen Erdtheilen: Anthropologische und ethnographische Photo-
Verschiedenes.
ie Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
ieweg und Sohn in Vraunschweig.
Hierzu eine Beilage.
Prospekt: Preußische Geschichte von Dr. William Pierson. Verlag von Gebrüder Paetel in Berlin.
MW | 1 M _L_
ixt cßänö
yp 14»
Mit besonderer HerücksicktiZung äer Antdroxologie unä Gtknologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Kar! Andree.
iDttcbC? Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1872.
Fahrten in Kambodscha.
Nachdem die Franzosen dem Könige von Annam das
ganze Delta des Mekongstromes abgenommen hatten, griffen
sie weiter um sich, und in den Pariser Blattern wie in der-
fchiedenen Reiseberichten ist kein Geheimniß daraus gemacht
worden, daß es sie anch nach Kambodscha gelüste. Die-
ses ehemals mächtige und blühende Reich der Khmer, in
welchem so manche Prachtruinen zerstreut liegen, ist nun
längst in Verfall, der König dem Beherrscher Siams tribut-
pslichtig. Das aber hat die Franzosen nicht gehindert, ihm
ihr Protectorat aufzuzwingen und ihn wie einen Basallen
zu betrachten. Wir haben in unserer Zeitschrift schon mehr-
fach darauf hingewiesen, daß sie mit Eifersucht den Einfluß
betrachten, welchen England sowohl in Birma wie in Siam
ausübt; sein Handel beherrscht die beiden großen Ströme
jener Länder: den Jrawaddy und den Menam. Nun mün-
det in dem französischen Cochinchina der Mekong, der als
Lan tsan kiang aus der chinesischen Provinz Mnnan her-
abkommt. Heber feinen Sauf im Norden des 13. Grades
nördlicher Breite wußte man nichts, aber es fragte sich, ob
er nicht etwa eine eben so Praktikabele Fahrbahn bis in die
Nähe der chinesischen Grenze darbiete, wie der Jrawaddy.
Es war die Aufgabe der oft vou uns erwähnten Expedi-
tion Lagrse's seit 1866, darüber ins Klare zu kommen;
sie überzeugte sich, daß der Mekong unbrauchbar sei und sei-
uer ganzen Beschaffenheit wegen zn einer Handelsstraße sich
platterdings nicht eigne. In wissenschaftlicher Beziehung
ist jene Reise von nicht unerheblichein Belang; der Weg
führte durch Gegenden, welche früher von keinem Europäer
Globus XXII. Nr. 14. lOctober 1872.)
befncht worden waren; Monhot war nur bis Lnang Phra-
bang gekommen, also bis gegen den 19. Grad Nord, und
zwar von Westen her; Lagräe's Expedition zog stromauf mit-
ten durch die Laosländer und erforschte manche Strecke zu
beiden Seiten des Flusses, indem einzelne Mitglieder Ab-
stecher ins innere Land unternahmen. So zum Beispiel
wurde eins ihrer Mitglieder beauftragt zu einem Streifzug
in südwestlicher Richtung von Ubong aus. Dieser Platz
liegt am Semnm, der (nach H. Kiepert's Karte zu Adolf
Bastian's Reifen in Hinterindien) von Westen her, etwas
südlich von 19" N., in den großen Strom mündet.
Die kambodschanischen Boote sind aus Bambus sehr
elastisch gebaut und die Fahrt mit ihnen ist in ruhigem Was-
ser recht angenehm, gefährlich dagegen, wenn es sich darum
handelt, über die vielen Stromschnellen hinwegzukommen,
deren es in den Flüssen jener Gegend unzählige giebt. Gar-
nier hatte Mühe, über einen derselben hinwegzukommen, der
im Se mung nur etwa eine Viertelmeile oberhalb der Mün-
dung liegt. Es war am letzten Tage des Jahres 1866;
die Barken mußten völlig geleichtert und dann an langen
Rottantauen aufwärts gezogen werden. An der Mündung
liegt das Dorf Pak Munn; das Wort Pak bedeutet Mün-
dung. Da es sich darum handelt, den Wasserweg nach We-
sten hin in der Richtung zunächst nach Korat so weit als
möglich zu verfolgen, mußten noch mehrere dieser Halbkata-
rakten überwunden werden, die „wie Stufen oder Leiterspros-
stn" von der Hochebene bis zum untern Stromlaufe des
Mekong einander folgen.
27
Kambodschanische Typen,
Freien. Die Peguauer waren britische Unterthanen und
zeigten ihre englischen Pässe vor; sie waren weit und breit
in den Laosländern umhergewandert und gaben willig Aus-
kiinst über Alles, was sie beobachtet hatteu. Sie baten um
einen Empfehlungsbrief an den französischen Consul in Bang-
kok. Garnier schreibt: „Ich war erstaunt über den Einfluß,
welchen die Worte Consul salaug (d. h. europäischer) aus-
üben; das salang bezieht sich auf alle Europäer in diesen
Gegenden, wo man die Unterschiede der Nationalität noch
nicht versteht. Das kleinste mit lateinischen Buchstaben be-
schrieben? Stück Papier ist ein Paß, der nichts zn wünschen
übrig läßt, und ein abgerissenes Stück von einem Briefe ist
eben so viel Werth, wie ein regelrechtes, von der Behörde
untersiegeltes Document." In Si Saket besteht ein Theil
der Bevölkerung aus Kambodschanern, deren Sprache dort
sehr viele Leute verstehen. Weiter nach Westen hin dehnt
sich eine kahle Ebene aus; an den Teichen wächst Gebüsch,
und dort stehen die von Fruchtbäumen umgebenen Dörfer.
Dann tritt wieder Wald auf, durch welchen der Weg sich
schlängelt. Die Fahrt auf einem solchen Ochsenkarren, der
nicht etwa auf Federn ruht, ist alles Andere als bequem,
Rippen und Schultern verspüren es. Merkwürdig ist, daß
dort inmitten einer ganz tropischen Vegetation die Fichte
neben Palmen auftritt.
Kukan liegt schon im Khmerland und das Kambodscha-
nische wird allgemein gesprochen; das Land steht schon seit
längerer Zeit unter siamesischer Herrschaft. Der Reisende
wurde vom dortigen Gouverneur arg belästigt; der Mann
kam mit einem zahlreichen Gefolge und suchte den Falang
heim, als dieser eben ein Bad nahm! Er war ein Kuy,
Kambodscha.
Landschaft auf größeren oder geringeren Strecken wieder offen
und der Boden sandig. Dort haben die Eingeborenen ihre
Dörfer am Rande der Hochebene gebaut und benutzen für
den Verkehr mehr die bequemen Landwege als den Strom-
lanf; hin und wieder sieht man Hütten, welche von Fischern
bewohnt werden.
In Si Saket, das unweit der Mündung des Sam
Lan in den Se mnng liegt, verließ Garnier seine Barke und
schlng den Landweg ein. Die Ortsbehörde stellte ihm vier
Karren, die mit Rennochsen bespannt waren. Diese sind
jenen Gegenden Hinterindiens eigenthümlich und haben bei
den Ochseureunen in Saigong wegen ihres schnellen Laufes
die Aufmerksamkeit der Europäer erregt. Neben der Stadl
campirten einige chinesische und pegnanische Hansirer im
210 Fahrten in
Oberhalb Pimun wurde der Se niuug frei und floß in
einem ruhigen Bette. In Ubong wurde der Reisende vom
„König" empfangen, das heißt von dem Landesfürsten, wel-
cher vom siamesischen Hof als Statthalter eingesetzt wird,
aber den Königstitel erhält. Er war ein pfiffiger, gewand-
ter Mann, der am Hofe zu Bangkok von der europäischen
Civilisation einigermaßen angestreift war und den Einfluß
der Ausländer wohl zu würdigen verstand. In dem Orte
ging es ganz lebhaft her; er gilt noch für ein Dorf, hat
aber mit seinen vielen Waarenläden und zwei in chinesischem
Stil erbaueten Pagoden das Aussehen einer Stadt. Ober-
halb derselben strömt der Se mnng durch eine wohlange-
banete Gegend, wo auf den üppigen Wiefen viel Vieh weidet.
Das Ufer ist mit dichtem Gebüsch bewachsen; dann wird me
Fahrten in
also aus einem Volke, das zwischen dem großen Strome und
dem großen See (Talesab) wohnt und sich gern für halb-
wild ausgiebt; er war überglücklich, als er ein rothgewürfel-
tes Taschentuch und eine Schachtel mit Zündhölzchen er-
hielt.
Nach einer sehr beschwerlichen Fahrt, aus welcher die
drückende Hitze überaus lästig war, kam Garnier nach
Tschongkong; er war bis dorthin 25 Tage unterwegs ge-
wesen. Diese kambodschanische Provinz steht gleichfalls unter
siamesischer Herrschaft. Der Stellvertreter des Statthalters
lud den Falang zu einem Festmahle ein; dasselbe war ver-
anstaltet worden zu Ehren eines reichen Kambodschaners,
der eben die Weihe als Bonze erhielt. Man schor ihm das
Haar glatt weg, zog ihm die Kleider aus und unterwarf ihn
einer strengen Prüfung. Nachdem seine Freunde und Ber-
wandten viele Opfer gespendet hatten, zog man ihm das
gelbe Gewand an und er war nun ein heiliger Mann. Diese
ganze Gegend ist ungemein fruchtbar und vortrefflich durch
eine Menge von Gefließen bewässert, die alle in den Talesab,
den großen See, münden.
Durch uusern Landsmann Adolf Bastian erfahren wir
Manches über die Steuerverhältnisse in dem von Siam ab-
hängigen Theile Kambodschas. Jeder aus dem Rasadon,
d. h. aus dem gemeinen Volke, muß eine Abgabe an den
Ortsvorsteher entrichten, welcher sie dem Gouverneur der Pro-
viuz übermittelt. Bienenwachs spielt dabei eine Hauptrolle,
weil es einen wichtigen Handelsartikel bildet. Die Edel-
leute bezahlen keine regelmäßigen Abgaben, werden aber
bei außergewöhnlichen Gelegenheiten in Anspruch genommen,
müssen z. B. Elephanten liefern oder Geld für Priester-
gewänder, welche der König, um sich fromme Verdienste zu
erwerben, den Klöstern schenkt. Von der Destillation ge-
brannter Wasser wird keine Steuer erhoben. Jedermann
muß vom 50. bis zum 70. Jahre Raxakan, d. h. Frohn-
dienste, thun, sobald die Regierung zu solchen auffordert.
Der Vater kann feinen Sohn als Ersatzmann stellen; von
zwei Söhnen im Hause muß der eine zur Frohnarbeit
ausgehen, der andere bleibt zurück, um seinen Eltern be-
hülflich zu sein; mehrere Söhne können unter sich eine Ver-
einbarnng über die Verrichtung des Herrendienstes treffen.
Die Mönchsweihe, denn überall schafft die Geistlichkeit sich
Privilegien auf Kosten der anderen Classen, befreit vom
Raxakan; glücklicherweise ertragen nur verhältnißmäßig we-
nige die klösterliche Beschränkung. Die Natur wirkt; sie
sehnen sich ins weltliche Leben zurück, um Franen nehmen zu
können, und leisten dann Frohndienst. Der Sklav, That,
der feinen Körperpreis (K ha tua) hat und seinem Gläubiger
für die demselben schuldige Summe dienen muß, ist vom Raxa-
kan ausgenommen. Der That bleibt, bis er sich losgekauft
hat, beständig in der Gewalt seines Meisters, Nai. Dagegen
hat ein Bao nur während der Arbeitszeit den Befehlen des
Nai zu gehorchen. Der Bao wird als „Köuigssklav" von
dem That unterschieden, der ein „verschuldeter Sklav" ist.
Die der Sklaverei verfallenden Schuldner können frei ge-
kauft werden; der Herr muß sie entlassen, sobald ihm die
Bezahlung der Schuldsumme augeboten wird. Gekaufte
Sklaven dagegen, wie z. B. die Pnom uud andere wilde
Stämme, bedürfen zum Loskauf der Einwilligung ihres Herrn,
der nach Belieben über sie verfügen kann, sie heißen deshalb
That mai khat, immerwährende Sklaven. Rebellen,
welche man in eroberten Dörfern gefangen nimmt, wer-
den vom Könige den siegreichen Offizieren als Sklaven ge-
schenkt.
Im siamesischen Gesetzbuche (Phra Dhamosat) werden
sieben Classen aufgeführt, die gesetzlich als Sklaven behan-
delt werden können:
Kambodscha. 211
1) Leute, denen durch Vorschuß an Geld und sonstigen
Werthsachen geholfen worden ist.
2) Kinder, welche während der Schuldhaft ihrer Eltern
geboren wurden.
3) Solche, die in der Kindheit als Pfänder gegeben
wurden.
4) Leute, die als Pfand für andere eintreten.
5) Losgekaufte Personen oder von schweren Strafen be-
freiete.
6) Personen, die sich in Notzeiten verkauften.
7) Kriegsgefangene.
Sechs Classen dürfen nicht als Sklaven behandelt wer-
den.-
1) Freigelassene.
2) Schuldner, die mit Erlaubniß der Gläubiger in den
Mönchsstand eingetreten sind.
3) Diener, welche von ihren Herren den Brahma-
nen geweiht worden sind.
4) Priester dürfen Ihresgleichen nicht in Haft halten.
5) Der Frömmigkeit ergebene Personen, welche in den
Häusern ihrer Nachbaren zu verweilen pflegen, dürfen dort
nicht als Sklaven zurückgehalten werden.
6) Auf dem Grund uud Boden eines Andern lebende
Leute dürfen von ihm nicht als Sklaven betrachtet werden.
Die Kambodschaner haben viele, recht hübsche Thier-
fabeln, in welchen merkwürdigerweise derElephant, der doch
als ein kluges und höchst nützliches Thier in großem An-
sehen steht, selten eine glänzende Rolle spielt. Es ist bei
den Siamesen eben so. Einst lebte in den Wäldern ein
Elephant, der hieß Aukunson. Aus seinen Stirndrüsen
schwitzte Oel hervor, als er in der Brunstzeit grimmig um-
herstürmte. Im Walde wohnte ein Pärchen Zaunkönige;
die hatten ihr Nest in einen Bambus gebaut und fütterten
emsig ihre Jungen. Der Elephant aber rannte in toller
Wulh umher, riß das Nest herunter und stampfte es mit
den Jungen, die darin waren, in den Boden. Die Zaun-
könige sahen das jammernd mit an und wünschten sich auch
den Tod; sie riefen klagend: „Ach, wenn wir doch stürben!
hier müssen wir doch die Gewalttätigkeiten eines so über-
mächtigen Feindes dulden!"
Da slog eine Krähe vorbei. Als sie sah, wie betrübt
die Zaunkönige waren, fragte sie nach der Ursache ihres
Kummers. Sie antworteten: „Es ist ein schlimmer Feind
des Weges daher gekommen; wild und grausam hat er unser
Glück zerstört und unsere Kinder getödtet. Nun werden wir
wohl die Folgen unserer sündhaften Handlungen tragen müs-
sen. Uns sehlt jede Möglichkeit ihn zn bekämpfen, er ist
ja viel zu stark für uns."
Die Krähe entgegnete: „Groß und schreiend ist das
Unrecht, welches euch zugefügt worden ist, aber laßt nur das
Wehklagen. Wir wollen uns Verbündete fuchen uud es
wird uns schon gelingen, diesen Uebermüthigen zu demüthigeu."
Die Zaunkönige aber, Männchen und Weibchen, weinten
fort; sie schluchzten: „Laß uns nur sterben, unser Herz
will brechen."
„Was würde damit genützt sein, wenn ihr todt wäret?"
sprach die Krähe. „Dadurch würde dem Feinde kein Leid
zugefügt, er bliebe ja dann gesund und munter, wie jetzt.
Es gilt aber, ihn todt zu machen, wie er eure Kinder ge-
tobtet hat; wir müssen ihm das euch zugefügte Böse vergel-
ten; dann wird dem Rechte genügt."
Die Zaunkönige sprachen: „Groß ist die Güte des
Herrn Wohlthäters; in Allem, was er räth, wollen wir seinen
Worten folgen."
Nun begab sich die Krähe mit den beiden Zaunkönigen
auf die Wanderschaft, um den Frosch aufzusuchen. Sie
214 Th. Noack: Der
begrüßten ihn recht höflich und sagten: „Dürsten wir,
Freund, dich bitten, uns Beistand zu leisten?"
„Wozu und wofür, meine Freunde, bedürft ihr meines
Beistandes? Theilt mir mit, um was es sich handelt."
Sie erzählten nun Alles dem Frosche, der recht aufmerk-
fam zuhörte. Dann sprach er: „Da ist ja ein ganz schänd-
licher Gewaltstreich verübt worden! Wir wollen uns, ehe
wir etwas thun, niit der Fliege befreunden; die soll uns
helfen und wir können dann mit vereinten Kräften ans
Werk gehen."
Nun begaben sie sich Alle mit einander: Zaunkönige,
Krähe und Frosch zur Fliege und zu der sagten sie: „Höre,
Freund, wir bitten dich, unser Verbündeter gegen den Ele-
phanten zu sein; er ist ein Tyrann, der das Gesetz verachtet."
Die Fliege warf ein: „Was können wir thun, wir sind
ja so schwach. Wie wollten wir einen so starken Gegner
unterkriegen?"
„Ei was," entgegnete der Frosch, „weißt du denn nichts
von der alten Geschichte, daß geringere Stärke oftmals die
mächtigste überwunden hat?" Und dann erzählte er einige
Beispiele. Darauf kamen sie zu einem Entschlüsse.
Sie suchten den Elephanten auf. Die Krähe hackte ihm
die Augen aus. Die Fliege legte ihre Eier in die Wnnden
und dadurch wurden die Augenhöhlen entzündet. Das that
dem Elephanten sehr weh, und hungern mußte er auch, weil
er seiner Blindheit wegen keine Nahrung suchen konnte. Er
schleppte ein gar elendigliches Dasein hin. Nun setzte sich
der Frosch an den Rand einer tiefen Grube und quakte so
laut, daß der Elephant ihn hören mußte. Er dachte, wo
ein Frosch quakt, muß auch Wasser sein, obwohl er sich auf
einem hohen Felsen befand. Er hatte großen Durst. Die
Zaunkönige unischwirrten ihn, zwitscherten ihm Schimpfreden
in die Ohren und fragten: „Ha, wie befindest du dich jetzt,
du jammervoll ausgehungerter, du elender Schurke? Willst
du noch einmal herkommen und unsere Kinder zerstampfen.
Jetzt siehst du kläglich genug aus, du Raubmörder, du ab-
schenlicher Bandit!"
Der Elephant fühlte bittere Reue. Er sagte zu sich
>bür auf der Ostsee.
selbst: „Ja, was ich gethau habe, war unrecht. Nun kom-
men die Folgen Uber mich; die unschuldigen jungen Zaun-
könige hatten mir nichts Böses gethan, und dennoch tödtete
ich sie!"
Er war nun sehr durstig geworden; der Stimme des
Frosches folgend kam er an den Rand der Grube, stürzte
hinein nnd fand dort Lohn und Tod. —
Erst zu Ende des Februarmonats war Garnier wieder
in ttdong; er ging von dort in die Provinz Ban Muk, um
in Kemarat mit der Expedition wieder zusammen zu treffen.
Dort fand er statt der platten Ebene einen wellenförmigen
Boden mit Hügeln, zwischen welchen klare Bäche sich hin-
schlängelten. Die Wälder schildert er als wunderbar präch-
tig, und die gewaltigen Baumriesen in denselben erregten
sein höchstes Erstaunen; er hatte dergleichen nie zuvor ge-
sehen. Sein Gepäck wurde von stämmigen Laosmännern
getragen, und sie legten im Tage acht deutsche Meilen zu-
rück, ohne gerade überangestrengt zu sein. Abends wurde
Rast gehalten im Walde, wo die Bauern darüber aus wa-
ren, ein neues Dorf anzulegen. Als der Reisende sich eben
auf seine Matte hingestreckt hatte, vernahm er ein durchdrin-
gendes Gefchrei. Wir wollen ihm glauben, was er erzählt.
„Keine zehn Schritte von mir entfernt brach ein Tiger mit
einem gewaltigen Sprunge aus dem Gebüsch hervor und
verschwand; er hatte ein Kind fortgeschleppt. Ich feuerte
meinen Revolver ab, rief meinen Leuten zu, sie sollten mir
folgen, und sofort setzten wir Alle dem wilden Ranbthiere
nach. Ganz in der Nähe fanden wir das Kind, einen vier-
bis fünfjährigen Knaben; der Tiger, durch den Knall er-
schreckt, hatte ihn fallen lassen und war fortgerannt. Der
Junge schrie ganz erbärmlich, es war ihm also nicht ans
Leben gegangen; als ich ihn genau betrachtete, fand ich, daß
er völlig unverletzt war. Als nun die Bauern herankamen,
priesen sie mich als ihren Schutzgott, welcher den Donner
in seiner Hand habe; sie baneten mir sofort eine Hütte, wa-
ren überaus dienstfertig, hätten mich gar gern bei sich be-
halten, und als ich am andern Tage weiter zog, gab mir
die dankbare Mutter wohl noch eine Stunde weit das Geleit."
Aus deutsch
Der Seebär a
Von Th. No
Unter dem Seebären verstehen die Bewohner der Pom-
merschen Ostseeküste nicht die bekannte in den südlichen Meeren
lebende Robbenart, überhaupt kein Thier, sondern eigenthüm-
lich heftige, aber relativ selten eintretende, scheinbar von
der Windrichtung unabhängige und nicht durch Stürme her-
vorgerufene Fluthbewegungen der Ostsee. Diese bemer-
kenswerthe Erscheinung ist im vorigen und in diesem Jahr-
hundert wiederholt beobachtet worden, ermangelt indessen,
so viel ich weiß, noch einer eingehenden wissenschaftlichen
Untersuchung, daher mögen die bekannt gewordenen Fälle,
welche bis in die neuere Zeit reichen, hier zusammengestellt
werden.
cn Laudeu.
uf der Ostsee,
ack in Köslin.
Die Strandbewohner erklären sich den Namen Seebär
aus einem eigentümlichen der Erscheinung vorhergehenden
Brummen oder Donnern aus der See, indessen wahrschein-
licher ist die Ableitung des berühmten KolbergerHelden Net-
telbeck (in den Pommerschen Provinzialblättern von Haken
1821, II, S. 160) von dem holländischen Bar (französisch
la barre), einer hohen Sturzwelle, die sich im Ocean quer
vor der Mündung von Strömen oder engen Buchten be-
sonders dann zu erheben pflegt, wenn die Fluth mit der Ebbe
wechselt und die zurückweichenden Wassermassen den neu her-
anwogenden begegne». Bekanntlich bezeichnet man mit
Barre noch heute die vor der Mündung größerer Ströme
Th. Noack: Der See
im Meere liegenden Sandbänke, an denen eine besonders hef-
kige Brandung den Schiffen gefährlich wird.
Der Seebär auf der Ostsee ist zuerst vou Brüggemann
in seiner ausführlichen Beschreibung vou Vor- uud Hinter-
pommern, Stettin 1779 I, S. 30, beschrieben worden.
Er sagt: „Auch hat die Ostsee oft ihre eigene Witterung,
die mit der Landwitternng nicht übereinstimmt; bisweilen,
jedoch nur selten ist ein unterseeisches Gewitter in selbiger
vorhanden, welches man aus dem bei klarem uud stillem
Himmel längst an den pommerschen Strandküsten bemerkten
rollenden Donner, den ans Land getriebenen vielen todten
und häufig gefangenen halbtodten See- und Strandfischen
und anderen Erscheinungen hat schließen wollen. So ist
z. B. den 23. April 1757 um Mittag, bei stillem und hel-
lem Wetter, die Ostsee am Strande bei Treptow an der
Rega plötzlich so stürmisch geworden, daß hohe Wellen weit
auf den Strand getrieben find, welche einen großen Prahmen,
der im Hafen lag, weit anfsLand warfen. Nachdem solches
dreimal geschehen war, wurde die See wieder ruhig. Die
seefahrenden Anwohner am Strande nennen dieses als eine
ihnen bekannte Begebenheit den Seebär."
Daun wird durch einen ungenannten Verfasser so wie
durch den Prediger Müller in Lassehn bei Kolberg in den
PommerschenProvinzialblättern I, S. 458, und II, S. 159
bis 177, ausführlicher über dieselbe Erscheinung, und zwar
nach eigenen Erfahrungen berichtet.
Der Berichterstatter fah den Seebären in einem Zeit-
räume von 3V Jahren nur zweimal und zwar zuerst auf
einer Reise von Kolberg längs des Strandes nach dem fünf
Meilen entfernten Amte Kasimirsburg. Er fuhr bei heiterm
Himmel und leichter Seebrise unmittelbar an der See auf
dem festen feuchten Sande, als er plötzlich einen heftigen
fernher rollenden oder mehr knarrenden Schall hörte, der
gegen zwei Minuten (?) dauerte und welchen er mit dem
Getöse eines starken Schusses vergleicht, der über eine weite
Eisfläche hin abgefeuert wird. Er hatte, obwohl der Schall
aus großer Ferne aus Nordosten kam, die Borstellung, als
ob in Kolberg ein großes Gefchütz abgefeuert würde oder gar
ein Pulvermagazin in die Luft flöge. Da die Pferde Plötz-
lich stutzten und nicht weiter wollten, als wenn sie Triebsand
vor sich witterten, und gleichzeitig ein alter Mann oben auf
einer Düne den Reisenden zurief: „Na, war jy nich malen,
datt jy rupp kamen! Jy hev'n cm doch woll sacht mächtig
noog brummen hört, und können frooden, datt wy körtlings
hart Uuwedder Hebben!" so fuhr er vom Strande in die
Höhe. Nach einer Viertelstunde fing die See ohne starken
Wind an, mit Geräusch in hohen uud immer höheren Wel-
len zu steigen und den eben verlassenen Strand mehrere
Fuß hoch zu überströmen. Eine halbe Meile weiter be-
merkte der Reisende am Strande einen Mann, welcher mit
seinem Wagen durch die Fluth überrascht war, in der höch-
sten Noth. Schon hatten die Wogen das Obergestell des
Wagens fortgerissen und eine Menge Butterfässer in die
See gespült; bald zertrümmerten sie auch das Untergestell.
Der Besitzer des Wagens hatte die Stränge zerschneiden müs-
sen und das eine Pferd über die hohe Lehmwand auf die
Düne gerettet, das andere kämpfte mit den Finthen und
wurde nur mit Hülfe der Reisenden mühsam empor gezogen.
Die Trümmer des Wagens und die Fässer wurden am sol-
genden Tage von der wieder beruhigten See ausgeworfen.
Merkwürdig ist, daß diefe Bewegung anch anf dem Lande
auf dem Gute eines eine halbe Meile vom Strande woh-
nenden Besitzers gespürt wurde. Derselbe ließ an jenem
Tage die Knechte auf dem Acker pflügen und ritt zu ihuen.
Plötzlich fuhr fein Pferd zusammen, war kaum von der Stelle
zu bringen und behielt anch nachher einen scheuen und nn-
>ür auf der Ostsee. 215
sichern Gang bei. Als er zu deu Arbeitern kam, fand er sie
in lebhaftem Gespräch, und die Pferde am Zügel haltend.
Zur Erklärung sagten sie, sie wären noch bestürzt über das
sonderbare Ereigniß, daß eben erst alle Pferde in der ganzen
Reihe der Pflüge auf einmal und ohne sichtbare Veranlas-
snng schüchtern zusammengefahren wären und nicht von der
Stelle gewollt hätten. Sie selbst hätte dabei ein dunkles,
befremdendes Gefühl überlaufen, ohne daß sie eigentlich sagen
könnten, was es gewesen sei. (Daß bei der Gelegenheit ein
Knall oder Ton auf dem Laude gehört wurde, sagt Bericht-
erstatter nicht.) Derselbe folgert allerdings mit Recht, daß
beide Erscheinungen als zusammengehörig zu betrachten seien
nnd daß die Erschütterung ihren Herd mehr seewärts gehabt
habe, daher tiefer ins Land hinein nicht mehr so fühlbar
gewesen fei.
Ein zweiter noch eclatanterer Fall, welcher die Stadt
Leba in Hinterpommern betraf, wird von demselben Gewährs-
manne unter dem 1. oder 3. März 1779 berichtet. Kurz
uach Mitternacht während eines starken Windes, der indessen
nicht den Charakter eines wirklichen Sturmes trug, wurde
in dem Städtchen Sturm geläutet, denn die tobende Ostsee
stand im Begriff, in die Stadt zu treten; fchon hatte sie den
östlichen Strand, welcher niedriger als der westliche, aber doch
bei gewöhnlichem Wasserstande 12 bis 15 Fuß über dem See-
spiegel lag, völlig überfluthet nud die dicht vor der Stadt lie-
geude Mühle unter Wasser gesetzt. Und noch immerfort blieb
die See im Steigen, überschwemmte sämmtliche Gärten, sie
drang bis in die ungepflasterten Gassen des Ortes und in
einzelne niedriger gelegene Wohnungen. Gegen Morgen
wurde die See wieder ruhig und sank anf ihre gewöhnliche
Höhe zurück. Noch ärgere Verwüstungen hatte die Fluth
in derselben Nacht eine Viertelmeile westlich von Leba auf
der schmalen Nehrung zwischen dem Lebasee uud dem Meere
angerichtet. Dort hatte früher das Tief und an ihm der
Ort Lebamllude gelegen, von dem noch 1779 ein rnndge-
manerter Schwibbogen als letzte Ruine dicht an der See
stand. Nachdem mau dort thörichterweife den schützen-
den Eichenwald zerstört hatte, dessen Stubben noch 1821
weit in der See zu finden waren, hat die Ostfee, welche immer
weiter vordrang, den Ort vertilgt (das Jahr wird nicht
überliefert).
In den Jahren 1776 bis 1773 war, um den Lebasee
abzulassen und die Leba schiffbar zu machen, unweit des
alten Lebamünde ein 300 Rutheu langer und 108 Fuß brei-
ter Durchstich aus dem Landsee in die Ostsee gemacht wor-
den. Da in der That der Strom sein altes Bett ver-
ließ und den neuen Weg einschlug, so träumte man von
einem neuen Hasen, und stapelte große Holzvorräthe auf,
welche zwei auf der Rhede liegende Schiffe fortschaffen soll-
ten. All diesen Hoffnungen machte die See in der einen
Nacht ein Ende: die heftig einströmenden Flutheu rissen den
neuen Canal mehr als 300 Fuß weit auf, schwemmten die
Holzvorräthe weg und vernichteten die beiden Schisse, von
denen das eine in die Gärten der Stadt Leba ans Seeuser
gesetzt wurde. Da man die vollständige Vereinigung des
Meeres mit dem Lebasee fürchtete, mußte der mit 15,000
Thaler Kosten gegrabene Canal schleunigst verstopft, und
der alte mittlerweile verschwundene Ausfluß wieder herge-
stellt werden. Außerdem rückte seit der Zeit eiue mehr als
20 Morgen bedeckende Wanderdüne, welche seitdem die
Wiesen und Weiden zwischen Schmolsin nnd Leba in eine
Sandwüste verwandelt hat, trotz aller Verzäunungen und An-
Pflanzungen unaufhaltsam gegen Leba vor und wird einiger-
maßen nur durch das wieder hergestellte Tief, welches eiuen
Theil der Sandmaffen der See zuführt, zurückgehalten.
Auch am I.März 1779 war das eigentümliche Brnm-
216 Th. Noack: Der
men des Seebären von den Bewohnern Lebas vernommen
worden. Merkwürdig ist ferner die unten bestätigte That-
fache, welche auch in Berliner Zeitungen berichtet wurde,
daß etwa 3 Stunden nach dem »Ereigniß in Leba in der
Frühe des folgenden Tages die See in dem gegen 20 Mei-
len entfernten Kolberg bei anhaltend ruhigem Wetter
und heiterstem Himmel so weit vom Ufer zurücktrat, daß
man trocknen Fußes eine weite Strecke hineingehen konnte.
Jedenfalls war also durch irgend eine locale Ursache eine
sehr erhebliche Niveauveränderung in der See und damit eine
Flnthwelle entstanden, welche nach 3 Stunden in einer Ent-
fernnng von 20 Meilen ein bedeutendes Zurücktreten der See
bewirkte. Ob freilich die Angabe der Zeitdifferenz znverläf-
fig ist, muß dahingestellt fein. Das Zurückströmen des
Waffers bei Kolberg muß allmälig erfolgt fein, davon einem
starken Rückfluthen nichts berichtet wird.
Ein ferneres Beispiel einer ungewöhnlichen Bewegung in
der Ostsee wird ans dem Ende des vorigen Jahrhunderts
(etwa 1795) bei Heukenhagen, einem Dorfe östlich von Kol-
berg, erwähnt. Dort war ein Schiff an den Steinriffen ge-
strandet und bei ganz ruhiger See fuhr eine Gesellschaft auf
Booten dorthin, um das Bergen der Ladung anzusehen.
Plötzlich erschien ein kleines Wölkchen über der See, aus wel-
chem einer der anwesenden Schiffer sofort Unheil prophe-
zeite. Kurz darauf erhob sich das Meer und brauste unter
fürchterlichem Toben mit solcher Gewalt dahin, daß die Wel-
len über dem gestrandeten Schiffe zusammenschlugen, und
die darauf anwesende Gesellschaft mit Mühe auf einem mit
Leinsamen beladeueu Boote gerettet wurde. Ein ähnliches
von demselben Prediger Müller zehn Jahre später beobach-
tetes Ereigniß der Art ist zweifelhafter und gehört vielleicht
weniger zu der Claffe der „Seebären". Als der Beobachter
an einem Abende in der Dämmerung bei fast klarem Himmel
von Kolberg fuhr, zog ein ganz kleines Wölkchen neben ihm
in die See; plötzlich erfolgten drei heftige Gewitterfchläge,
begleitet von wolkenbruchartigem Regen (wahrscheinlich erhob
sich eben so plötzlich ein Sturm, der dann das Meer erregt
haben wird).
In hervorragendem Maße aber und an das Jahr 1779
erinnernd ereignete sich der Seebär im Juli 1867 bei Reist,
einem Strand- und Badedörfchen nördlich von Köslin. Frei-
lich war ich an dem Tage nicht selbst am Strande anwesend,
habe aber so viele mündliche Berichte von Augenzeugen dar-
über gehört, daß die Glaubwürdigkeit ganz nnbezweifelt tst.
Etwa eine Stunde vor dem Ausbruch eines heftigen Gewit-
ters, aber noch bei klarer und ruhiger Lust, brauste plötzlich
Nachmittags um 3 Uhr, fo weit man sehen konnte, eine
mehrere Fuß hohe Fluthwelle mit hohem Schaumkamme gegen
den Strand heran. Ein alter Gastwirth und früherer
Schiffer war gerade beschäftigt, fein Pferd an einer Leine in
der Ostsee zu schwemmen, was die Leute natürlich nur bei
ganz ruhiger See unternehmen können. Ehe der Mann sich's
versah, stand er bis an den Hals im Wasser. Die Wogen
brandeten bis an die Dünen, was sonst dort, da der Strand
breit ist, nur bei heftigem Sturme geschieht, und mit großer
Mühe wurde der Mann mit dem Pferde gerettet. An dem-
selben Nachmittage trat die See in dem 5 Meilen entfern-
ten Kolberg ausfallend weit zurück und von vielen an den
Strand geworfenen tobten Fischen wurde mir, dem damals
die Sache vollständig neu war, auch erzählt. Das etwa
etxte Stunde nachher eintretende Gewitter war allerdings von
starkem Sturm begleitet, doch hatte sich vor dem Gewitter
die See schon wieder beruhigt.
Dies sind die mir bekannt gewordenen Fälle. Die An-
ficht der Strandbewohner und Brüggemann's, daß der söge-
nannte Seebär durch unterseeische Gewitter oder Stürme
Seebär auf der Ostsee.
entstehe, muß natürlich ohne Weiteres verworfen werden, eben
fo wenig Grund hat Haken'sAnnahme von Wasserhosen oder
einem Meteorfalle. Es bleibt also nur übrig anzunehmen,
daß eine so ungewöhnliche locale Niveauveränderung der Ost-
see durch einen local wirkenden Stoß oder Druck vou unten
oder oben hervorgerufen wird, denn an den Einfluß von Ebbe
und Fluth, deren angeblicher Nachweis an der hinterpom-
merfchen Küste mir nach jahrelangen Beobachtungen mehr
als zweifelhaft ist, kann ebenfalls nicht gedacht werden. Der
erste der angeführten Fälle und auch das Ereigniß aus dem
Jahre 1779 macht entschieden den Eindruck, als ob die
Fluthwelle die Folge eines unterseeischen Erdbebens gewesen
wäre. Es ist ja bekannt, daß bei den großen Erdbeben am
und im Stillen Ocean Fluth wellen quer über den letztern
von der japanischen Küste bis nach Californien laufen,
während an der entgegengesetzten Küste das Meer Plötz-
lich zurücktritt. Auch scheint das oben erwähnte Dröhnen
wie die eigenthümliche Unruhe der Leute und Pferde auf
dem Lande dafür zu sprechen. Jedenfalls wäre es interessant,
wenn nachgewiesen würde, daß eine plötzliche Flnthbewegnng
der Ostsee gleichzeitig mit einem etwa im nördlichen Europa
stattfindenden Erdbeben eingetreten fei. So lange dieser
Nachweis fehlt, muß auch diese Erklärung verworfen werden,
und es bleibt nur die Annahme eines local über der Ostsee
ausbrechenden Gewittersturmes übrig. Daraus würde sich
zunächst das Rollen uud Brummen des Seebären erklären
lassen. Donner, auch Kanonendonner, pflanzt sich sehr weit
über das Meer fort. Im Juli 1870 während des Krieges
mit Frankreich manöverirte eine russische Flottenabtheilung
in der Ostsee etwa 15 Meilen von der ostpreußischen
Küste, und wir Badegäste in Bauerhufen (nordwestlich von
Köslin) hörten jeden Kanonenschuß wie einen lang hinge-
zogenen Donner und fürchteten eine Beschießung von Dan-
zig durch die Franzosen. In den beiden letzten Fällen war
die Fluth wirklich von einem Gewitter begleitet oder gefolgt,
und da die meisten Ereignisse der Art in die warme Jahreszeit
fallen, fo ist diese Erklärung in der That die wahrscheinliche.
Auch die durch die Fluth ans Land geworfenen Fifche haben
ihren Tod durch die wiederholt ins Wasser fahrenden Blitze
gefunden. Die Ausdehnung eines Gewitters ist eine fehr
verschiedene, oft nur auf wenige Quadratmeilen beschränkt;
wenn dasselbe sich nur über der See entwickelt uud von
einem heftigen Winde, der natürlich zunächst die Breite des
Gewitters hat, begleitet ist, fo wird ein fo localisirter Gewit-
tersturm auf feiner Bahn, welche vielleicht, wie die der Cy-
clone, eine Cnrve beschreibt, eine entsprechende Fluthwelle vor
sich her treiben. Diese plötzliche und starke Niveauverände-
rnng des Meeres hat dann auf der entgegengesetzten Seite
eine auffallende Ebbe zur Folge. Wenn nach den jahrelan-
gen Beobachtungen des Geheimen Baurath Bausch (früher in
Köslin, jetzt in Berlin) auch die Meeresströmungen an der
hinterpommerschen Küste durch die entsprechende Luftströmung
entstehen und bedingt sind, erscheint die Erklärung noch wahr-
scheinlicher. Die Fluthwelle ist dann gleichsam ein über dem
ruhenden oder in einer andern Richtung strömenden Was-
ser dahinfließender Meeresstrom, wie der Gewittersturm ein
zwischen den ruhenden oder entgegengesetzt sich bewegenden
Luftschichten fluthender Luftstrom. Eine eigenthümliche Be-
stätigung findet sich in der unter dem 29. Juli dieses Jahres
von der Insel Man berichteten Flutherscheinuug. Am Frei-
tag um ein Uhr Morgens, als gerade Halbfluthzeit war,
rauschte, während der Wind frisch vou Ost-Nord-Ost blies,
in den Hasen von Douglas auf der Insel Man die Fluth
in drei schnell auf einander folgenden ungeheuren Wogen.
Eine große Anzahl von Schiffen wurde durch die Gewalt
des Wassers von ihren Ankern losgerissen und erlitt beträcht-
Richard Burton: Ein Ausflug
lichen Schaden. Wenige Minuten später kehrte das Wasser
auf seinen Normalstandpunkt zurück. Zur Ebbezeit bemerkte
man eine sonderbar zitternde Bewegung und ein ganz nnge-
wohnliches Vor- und Zurückfließen der See. Man glaubt,
daß die letzten elektrischen Störungen die Flnth in der oben
geschilderten Weise beeinflußt haben. („Hannoverscher Cou-
rter" vom 1. August 1872.) Vielleicht regt dieser Aufsatz
Andere zu neuen und möglichst genauen Beobachtungen an,
deren das Studium unserer pommerschen Seeküste noch so
sehr bedarf.
Im Anschluß an den „Seebären" möchte ich noch einige
Bemerkungen über die Veränderungen hinzufügen, welche die
Küste in Hinterpommern durch das stetige und bis jetzt uu-
aufhaltsame Vordringen der See erlitten hat uud welche be-
stätigen, was darüber bereits in Bezug auf den Preußischen
Strand veröffentlicht worden ist.
Auch in Pommern hat, wie das oben für Leba nachgewie-
fen wurde, der Mensch durch seinen Unverstand den eindrin-
genden Fluthen die Bahn gebrochen. Die Küste war, wie
sich das für viele Stellen noch urkundlich nachweisen läßt, im
Mittelalter durch einen Waldessaum geschützt, durch dessen
Vernichtung die langsame oder plötzliche Zerstörung der
Küste durch Fluth und Wind, welche fast das ganze Jahr
hindurch von Nordwest, Nord oder Nordost angreifen, erleich-
tert wurde. Denn ob sich unabhängig davon ein langsames
Sinken der pommerschen Küste wie die Hebung des gegen-
überliegenden schwedischen Gestades nachweisen läßt, ist doch
fraglich; wenigstens lassen sich die unbestreitbaren Thatsachen
auch ohne dieselbe erklären. Der Küstenstrich amJamuderSee
bei Köslin hatte im Mittelalter, wie ich an einer andern Stelle
ausführlicher nachgewiesen habe, eine erhebliche Breite uud
war nach einer Urkunde von 1308 mit Wald, Gebüsch und
Wiesen bedeckt. Große Baumstümpfe habe ich dort an ver-
schiedenen Stellen nach Stürmen aus der See hervorragen
sehen. Noch im vorigen Jahrhundert führte dort, wo jetzt
die Wellen am ersten Riff branden (bekanntlich liegen an der
hinterpommerfchen Küste drei Riffe hinter einander), eine
Landstraße von Kolberg nach Rügenwalde. 1552 wurde, wie
Val. v. Eichstädt in seinen Annalen berichtet, diese Nehrung
durch einen großen Sturmwind verwüstet, „daß die Dünen
und großen Benme umbwehete undt die depschen heußen in
den jamischen See flößen". Auch das Dorf Reist wurde
damals größtenteils fortgerissen und mußte näher am Ja-
müder See wieder aufgebaut werden. Es gelang, dasselbe
durch einen hohen noch jetzt vorhandenen Sandberg zu
schützen, der durch immer wieder angepflanzte Strandweiden
erhalten wurde. Doch hat bereits an einer Stelle der Wind
von Damaskus nach Palmyra. 217
einen tiefen nicht mehr zu stopfenden Kessel hinein geweht.
Am 26. November 1690 brach die See von Neuem durch,
so daß das frühere für Seeschiffe benutzbare Tief versau-
bete und der Jamnder See aufhörte, als Hafen zu dienen.
Bei einer Reihe von Dörfern zwischen Köslin und Kolberg
habe ich in einer Reihe von Jahren das Vordringen der
See constatiren können. In Bauerhufen ist in drei oder
vier Jahren ein Gehöft mit einer Scheune halb im Sande
begraben und im benachbarten Sohrenbohm dringt das See-
wasser bei Stürmen bereits bis in die Dorfstraße. Den
Dörfern Henkenhagen und Boruhagen steht in nicht zu lau-
ger Zeit das Schicksal bevor, von den Fluthen der Ostsee
fortgerissen zu werden. In Kolberg ist es nur durch kolos-
sale Unterbauten und Spundwände gelungen, das wiederholt
von der See fortgerissene Strandschlößchen mit seinen An-
lagen zu sichern, während auf der andern Seite der Per-
fante die stärker bewaldete Maikuhle der See erfolgreichern
Widerstand leistet.
An der Mündung der Rega und dem Campschen See
lag einst Regamünde, der alte Hafen von Treptow, von wel-
chem noch im vorigen Jahrhundert Spuren in der Ostsee
zu sehen waren, nachdem ein heftiger Sturm das Städtchen
durch Meeresfluthen vernichtet hatte.
Ob endlich die Sage vom Untergänge Vinetas so ganz
ins Gebiet der Erfindungen zu verweisen sei, wie allerdings
jetzt angenommen wird, ist die Frage. Die nochmalige Un-
tersnchnng eines Kundigen an Ort und Stelle wäre vielleicht
nicht überflüssig.
Leider muß man sagen, daß der Staat diesen trau-
rigen Verhältnissen an unserer Küste bisher nicht die nöthige
Aufmerksamkeit geschenkt und nicht durchgreifende Mittel, den
Strand zu schützen, angewandt hat. Mit vereinzelten An-
Pflanzungen und Maßregeln zum Schutze des Strandes ist
nichts geholfen, wenn nicht der Dünenschutz systematisch
auf der ganzen Küste geübt wird und sehr erhebliche
Geldopser gebracht werden. Ein paar hundert oder tausend
Thaler hier und dort gespendet sind vollständig ins Wasser
geworfen. Erst strenge Verbote, besonders gegen die Bade-
gaste in vielen Stranddörfern, die Dünen herunterzutreten
und mnthwillig, wie das sehr oft geschieht, zn zerstören, und
gleichzeitige Anpflanzungen längs der ganzen Küste,
wo es nöthig ist, auch Befestigungen durch Steinwälle wer-
den mit der Zeit Erfolg haben. Selbst Flugsanddünen
lassen sich durch verständige Behandlung befestigen und nicht
bloß Strandhafer und Strandweiden wachsen im Dünen-
sande, sondern auch Eichen und Eschen.
Ein Ausflug von Damaskus nach Palmyra.
Von Capitün Richard Burton.
r. d. Bis zum Frühling des Jahres 1870, schreibt Ri-
chard Burton in „Cassell's Magazine" (April 1872), würde
jeder Reisende, der Monate lang in Damaskus sich ausge-
halten hätte, zu dem speciellen Zwecke von da nach „Tadmor
in der Wildniß" zu gelangen, enttäuscht umgekehrt sein.
Nur ein sehr reicher Mann konnte sich die dazu nöthige Be-
Globus XXII. Nr. 14. (October 1872.)
duinenescorte verschaffen, für die er 6000 und mehr Fran-
ken zu zahlen hatte. Man nehme zu diesen Schwierigkeiten
noch die Mühen und Gefahren der Reise, die Hitze der bren-
nenden Wüste, den Wassermangel, die Möglichkeit eines
Uebersalls, die langen forcirten Märsche bei Nacht und das
Verstecktliegen bei Tage, und das Alles endigt dann mit
28
218 Richard Burton: Ein Ausflug
einem ungenügenden Halt von 48 Stunden an einem Orte,
für dessen Besichtigung und Erforschung man mindestens
14 Tage braucht.
Seit dem Beginn des Jahrhunderts schon hat die Pforte
ihr Augenmerk auf die militärische Besetzung der Karawanen-
straße zwischen Damaskus und dem Euphrat gerichtet. Der
militärische Cordon wurde von Damaskus über Jairud,
Karyatayn, Palmyra (Tadmor), Sachne nach Deir am gro-
ßen Strome gezogen. Die Quellen sollten durch Blockhäu-
ser geschützt und die Straßen durch fliegende Colonnen ge-
fäubert werden. So wollte man Herr der plündernden Be-
duinen werden, die dem Sultan jeden Gehorsam verweigern.
DasProject wurde durch Omar Bei, einen ungarischen Ossi-
zier, der seit 1848 in Diensten der Pforte steht, auch eini-
germaßen ausgeführt. Von Hamah (Epiphania) marschirte
er mit 1600 Mann aus — genug, um das ganze arabische
Ungeziefer zu verjagen. Nachdem er Palmyra besetzt, dort
Baracken gebaut und das alte Druseucastell wieder herge-
stellt hatte, wandte er sich weiter nordöstlich nach Sachne,
wo er mit den von Bagdad ausgesandten Truppen in Ver-
binduug treten wollte. Die willkommene Nachricht wurde
mit Freuden begrüßt, Palmyra, das so lange kaum zu errei-
cheu war, lag nun dem europäischen Reisenden offen; es
bildete den Halbscheid des Weges nach dem Euphrat. In
Damaskus war man froh, eine weiter nach Osten vorge-
schobene Grenze Syriens zu besitzen, und die Kaufleute gra-
tulirten sich, daß nun ihre Karawanen nicht mehr der Plün-
deruug unterworfen sein würden.
Aber das schöne Bild sollte bald schwinden! Nachdem
die Occupation etwa ein halbes Jahr gedauert, bekam Omar
Bei, dessen Truppen in Palmyra fast verhungerten, das
Ding satt und kehrte nach Damaskus zurück. Die Garni-
son wurde auf 200 Mann reducirt und unter einen Haupt-
mann gestellt, dessen einziger Freund die Rakislasche war.
Natürlich erhoben nun die Beduinen wieder ihr Haupt, und
im Frühjahr 1871 mußte ich Reisende nach Palmyra auf
einem langen Umwege über Norden und Nordwesten spe-
diren.
Ein amtliches Geschäft (Burton war damals Consnl in
Damaskus) nöthigte mich, Karyatayn (Karjetein), das noch
innerhalb des Gerichtsbezirks von Damaskus liegt, zu be-
suchen, und meine Frau entschloß sich, mich zu begleiten.
Ein französischer Reisender und Schriftsteller, Vicomte Fer-
dinand de Perrochel, der zweimal vergeblich nach Palmyra
vorzudringen versuchte, und mein russischer College Jonin
schlössen sich uns an. Der Generalgouverneur und com-
mandirende Feldmarschall der syrischen Armee, sowie andere
hochgestellte Offiziere unterstützten uns auf jede nur mög-
liche Weife. Wir engagirten zwei Dragomane, sechs Die-
ner, einen Koch und acht Maulthiertreiber; vierzehn Maul-
esel und acht Packesel, welche die Zelte, Küchengeräthschasten,
das Gepäck und die Lebensmittel tragen sollten. Wir ritten
unsere eigenen Pferde, da man uns abgerathen hatte, Esel
zu nehmen; doch würden letztere auf den langen Märschen
eine angenehme Abwechslung gewesen sein.
Den Beistand Mohammed's, des Scheichs des Mesrab-
stammes, der seit Jahren alle Reisenden auf diesem Wege
systematisch geschoren hatte, schlugen wir aus. Er verlangte
zwei Napoleons für jeden seiner elenden Araber und schickte stets
einen ganzen Haufen, wenn wir nur eiuen Mann verlangten.
Wie alle anderen Häuptlinge garantirte er seinen Schütz-
lingen Börse und Leben nur gegen seine Freunde, nicht aber
gegen seine Feinde. Schließlich erlaubte er nur einen Auf-
enthalt von zwei Tagen in Palmyra, führte die Reifenden
auf Umwegen und ließ durch seine Spießgesellen Schein-
Überfälle ausführen, nur um recht viel zu erpressen. Diesen
von Damaskus nach Palmyra.
Gesellen schafften wir uns vom Halse. Ich freue mich übri-
gens mittheilen zu können, daß Mohammed's Rolle nun
ausgespielt ist. Sein elender Stamm wurde dreimal binnen
18 Monaten ausgeplündert, und statt zu fechten ließ er sich
in die Wüste treiben.
Bis an die Zähne bewaffnet zogen wir unter allerhand
Unglücksprophezeiungen aus. Unsere Partie war die erste
nach Palmyra seitdem Dubois aus Angers so gefährlich ver-
wundet, beraubt, der Kälte und dem Hunger preisgegeben
war, da er die unvermeidlichen Beduinen nicht befriedigen
wollte. Viele hätten uns gern zerlumpt und beraubt heim-
kehren sehen; auch fehlte es nicht an Gerüchten während
unserer Abwesenheit, daß wir von den Jsmaeliten ausge-
plündert worden seien. Doch lief schließlich Alles glück-
lich ab.
Die erste Nacht unserer Reise verbrachten wir zwischen
Karawanen in den Ruinen des Khans Kuseir im Merdsch
oder Ager Damascenus, der fruchtbaren Thalebene im Osten
der syrischen Hauptstadt. Das Wetter wurde ungewöhnlich
kalt, als am nächsten Morgen wir die nebelige Niederung
verließen und uns nordöstlich wandten, um die Hügelkette
zu passiren, welche vom Antilibanon abzweigt und von der
Hauptstadt nach der Wüste hinzieht, um schließlich Palmyra
zu umgeben. Der Weg führt durch eine Oefsnung des Ge-
birges, des Darb el Tanijah, welches auf den Karten fälsch-
lich als Dsthebel el Tinijeh (Feigenberg) verzeichnet steht.
Sanft dann abwärts steigend, kamen wir in die nördliche
Depression, einen Theil des ausgedehnten Thales des Anti-
libanon, welches, sehr verschiedene Namen tragend, fast ge-
rade nordöstlich aus Palmyra zuläuft. Nichts kann einfacher
sein, als die Geographie dieses Landes. Der Wanderer
kann feinen Weg im Palmyrathale nicht verlieren, wenn er
nicht über die hohen und rauhen Berge wegklettert, die ihn
beiderseits umgeben.
Während unserer Reise hatten die beiden kleinen Räu-
berstämme, die Schitai und Ghijas, das Land bis auf fünf
Tageritte östlich von Damaskus förmlich gesperrt, während
die Subai- und Anirsah-Banditen den Merdsch zu ihrem
Schlachtfelde erwählten und die feindlichen Dörfer mit Nie-
derbrennen bedrohten. Gerade als wir den Darb el Tani-
jah pafsirten, wurde uns berichtet, daß dort am Tage zuvor
ein friedlicher Bauer von den Beduinen' ermordet worden
war. Dieser ganze Stand der Dinge ist ein Scandal für
die Pforte, welche übrigens nie die Wahrheit erfährt.
Wir entschlossen uns, nur langsam zu reisen, jeden Ge-
genstand genau zu untersuchen und nur indirecten Pfaden
zu folgen. Daher brauchten wir zu unferm Marsche nach
Palmyra acht Tage, während wir rückwärts nur vier nöthig
hatten; allerdings waren unsere Pferde auch übel zugerichtet.
Am zweiten Tage entließen wir unsere Bedeckung, einen Os-
sizier und zwei Reiter von der unregelmäßigen Reiterei, da
sie schlimmer als unnütz waren. Wir schliefen im Hanse
des Daas Agha, des erblichen Häuptlings von Jayrud. Ein
tüchtiger Haudegen, der 150 Lanzen ins Feld stellen konnte,
wurde er von den Behörden systematisch vernachlässigt, da
man annahm, er stände mit den Fremden auf sreuudfchaft-
lichem Fuße. Kurz nach meiner Abreise quälte er aber ein
paar unglückliche Araber auss Schrecklichste; er warf sie in
ein Loch, in welchem ein großes Feuer brannte, und tractirte
sie dabei mit dem Revolver. In Folge dessen kam er in
hohe Gunst und erhielt das Commando in Hasyah. Dieser
Daas Agha geleitete uns von Jayrud aus mit zehn seiner
Verwandten, die auf ihren besten Pferden ritten. In dem
rauhen Hochlandthale litten wir stark vom Wetter und ein
mit Schlössen vermengter Südwest peitschte unsere Gesichter.
Die Reisenden müssen sich eben hier auf weit rauhere Wit-
Richard Burton: Ein Ausflug von Damaskus nach Palmyra.
219
terung als in Damaskus gefaßt machen und während der
heißen Jahreszeit in der Nacht reisen.
In Karyatayu, das wir am fünften Tage erreichten,
empfing uns Omar Bei auf das Freundlichste; er wartete
hier auf Lebensmittel, Geld, Transportmittel — kurz aus
Alles. Er gab uns 8 reguläre Infanteristen und 25 irre-
guläre Reiter fammt 2 Offizieren mit, ein Corps, groß ge-
nug, um alle Beduiuen in die Flucht zu jagen. Ich bin
tiberzeugt, daß jetzt sogar 2000 Manu uns nicht angegriffen
haben wUrden und daß eine Schaar von 30 mit Hinter-
ladern und Revolvern bewaffneten Europäern hinreichen
würde, die ganze Wüste am Euphrat von einem Ende bis
zum andern frei zu fegen.
In Karyatayn mietheten wir 17 Kameele zum Wasser-
tragen; das wäre eine vollständige Geldverschwendung ge-
Wesen, wenn wir gleich anderen Reisenden die Hauptstraße,
den Darb el Sultani, gezogen wären, denn drei Stunden
südlich von der Straße, zwischen den das Palmyrathal um-
gebenden Bergen liegt eine schöne Cifterne, Ai'n el Wu'ul,
der Steinbockbrunnen, dessen Wasser niemals ausgeht. Es
giebt auch noch einen geradern Weg entlang den Ueberresten
eines Aquädncts und an den Ruinen des kirchenartig aus-
sehenden Kasr el Hayr hin.
Wir wählten indessen die wenig bekannte östliche oder
Bagdad-Straße, Darb el Basir genannt, nach einer Quelle
dieses Namens. Am nächsten Tage rasteten wir bei einem
großen verlassenen Khan oder Karawanserai und am achten
zogen wir in Palmyra ein, wo wir vom Scheich Faris
gastsreundschastlich empfangen wurden. Unsere Maulthier-
treiber schlugen ihre Zelte ganz nahe bei der sogenannten
großen Colonnade, an einer sieberschwangern, ungesunden
Stelle auf. Wer mir folgen will, möge sich nicht im Dorfe
der Eingeborenen einlogiren, dessen Schlammhütten, gleich
Wespennestern, alle in den alten Tempel der Sonne hinein-
gebaut sind; dort treten sicher Fieber und Augenkrankheiten
auf. Gegenwärtig ist das Wasser von Tadmor sehr schlecht,
das Klima ungesund und die Einwohner sind zerlumpt und
kränklich. Der Mai ist hier, wie in den meisten Gegenden
der nördlichen Halbkugel, die beste Zeit zum Reisen, uud in
jedem andern Jahre braucht der Reisende nicht zn fürchten
Schnee, Hagel und Sciroccos zusammen zu treffen, wie wir
ausnahmsweise 1870.
Fragt man, ob Palmyra all dieser Mühseligkeiten Werth sei,
so antworte ich ja und nein. Nein, wenn man nur für zwei
Tage dorthin geht und das schönere Baalbek vorher gesehen
hat. Gewiß nicht um die große Colonnade von verwitter-
tem Kalkstein zu sehen, den man aus Höflichkeit Marmor
nennt. Sie ist vom Regen zerwaschen, von Erdbeben rui-
nirt und sieht aus wie eine Reihe von Galgen. Auch nicht
wegen des Sonnentempels, der ein Bauwerk zweiten Ranges
ist, aus der Zeit des römischen Verfalls. Aber ich sage
„ja", wenn Ihr hierher geht, um die Lage und die Umge-
bung zu studiren, die höchst interessant uud erst theilweise
erforscht sind, wenn Ihr Ausgrabungen machen, Münzen
und Tesserä sammeln wollt, die leicht zu erlangen sind.
Die Lage Palmyras ist höchst interessant. Gleich Pä-
stum steht es zwischen Bergen uud der „See"; gleich Da-
maskus hängt es aus einem östlichen Ausläufer des Anti-
libanon, gegenüber dem Chol, der Wildniß. Aber unglück-
licherweife besitzt es nur ein trockenes Strombett, den Wadi
el Sail, anstatt des rauschenden Barada (des Flusses von
Damaskus), Es ist gebaut am Straudabhauge, an dem
sich die sandigen Wogen des Wüstenoceans brechen. Dieser
Ocean ist die mysteriöse Wildniß des Euphrat, deren Schiffe
die Kameele, deren Lastboote Pferde und Esel sind. Und
diese Lage ist der Art, daß wir noch nicht das letzte Wort
über Tadmor gehört haben werden, denn es ist nicht allzu
schwer, der alten Stadt der Zenobia wieder Leben einzu-
hauchen. Ein ganz bedeutender Landstrich kann hier wieder
für den Ackerbau gewonnen werden, sobald Schutz für Leben
und Eigenthum vorhanden ist. Alte Brunnen findet man
in den Ruinen; eine Bewaldung der Hochlande im Norden
und Westen wird Regen herbeizaubern, und die Aquäducte,
welche von den drei bis vier Tage entfernten Städten Homs
und Hamah Wasser herbeiführten, können leicht wieder her-
gestellt werden.
Eine Schilderung der Ruinen des großen alten Ortes
hat schon viele tüchtige Federn beschäftigt. Aber nur sehr
wenig ist über die Begräbnißthürme gesagt worden, welche
in Palmyra die Stelle der ägyptischen Pyramiden einnah-
men. Hier, wie überall im alten Syrien, fanden die Be-
erdigungen außerhalb der Stadtmauern statt, und nach jeder
Niederlassung gelangte man durch eine oder mehrere Viae
Appiae, die jenen des alten Roms sehr glichen. In Pal-
myra sind oder waren wenigstens zwei; eine südwestliche auf
der Hauptstraße nach Damaskus; die andere, nordwestlich
von der monumentalen Stadt, bildete ohne Zweifel den Zu-
gang von Homs und Hamah (Emesa und Epiphania im
Alterthum). Diese zwei Straßen sind an beiden Seiten
mit den interessanten Denkmälern eingefaßt, deren gedrungene,
solide Formen aus düsteren, unbehauenen Sandsteinen scharf
mit dem classischen Bastardstil und der römischen Architektur
contrastiren, die schon von fern durch den glänzend weißen
Kalkstein auffällt. Inschriften in palmyrenifchen Charak-
teren bezeugen, daß sie aus den Jahren 314 bis 414 der
Seleucidischen Aera stammen, doch sind sie offenbar restau-
rirt worden*).
Es ist wahrscheinlich, daß die heidnische Sitte der Mu-
mieneinbalsamirung unter der römischen Herrschaft verfiel,
besonders nach dem Jahre 130, als das große, aus halbem
Wege gelegene Homs seinen Namen mit Hadrianopolis ver-
tauschte. Aber noch werden Spuren des alten Gebrauches
im Hauran und in den drusischen Gebirgen westlich vom
großen Anranitisthale gefunden, die sich bis tief ins zweite
Jahrhundert erstrecken, als, wie man glaubt, die himyariti-
schen Benn Ghassan (Gassamden) von Damaskus ihren Heid-
nischen Glauben mit dem Christenthum vertauscht hatten.
Ich fand in den Zellen Fragmente der Mumien, und diese
sind vermutlich die ersten nach England gebrachten. Fast
alle die Schädel enthielten mehr oder weniger Dattelkerne,
und auch ein Pfirsich- uud ein Aprikosenkern wurden in ähn-
licher Lage gesunden. In Sachne, dem alten Saccaea, sam-
melten wir geöffnete Mandelschaleu in den Mumienthürmen.
Es giebt in Palmyra drei noch stehende Grabthürme,
deren Durchsuchung gute Resultate liefern dürfte. Das Volk
nennt sie Kasr el Zajnah (hübscher Palast), Kasr el
Asba (Mädchenschloß) und Kasr el 'Arn (Palast der
*) Hier möge, zur Auffrischung des Gedächtnisses, eine kurze
Notiz über die Geschichte Palmyras stehen. Die Bibel nennt
Salomo als den Gründer, der die Stadt als Stapelplatz des Han-
dels zwischen Euphrat und Mittelmeer anlegte. Palmyra erscheint
unter diesem Namen zuerst in den Kriegen des Antonius gegen die
Parther. Später (zweites Jahrhundert) wissen wir, daß Hadrian es
begünstigte und seinen Namen in Hadrianopolis umtaufte. Unter
Caracalla (gegen 212) römische Kolonie mit dem jus italicum, wurde
Palmyra einem eingeborenen Senator Odenathus vom römischen Se-
nate übergeben. Odenathus nahm den Königstitel an und stiftete
das palmyrische Reich, welches nach seiner Ermordung unter dem
Scepter seiner Gattin, der berühmten Zenobia, sich unabhängig
erklärt und erst nach tüchtiger Gegenwehr vom Kaiser Aurelian 273
zerstört wurde. Diocletian und später Justinian suchten die Stadt
wieder herzustellen, die noch einmal, 744, von den Arabern vernichtet
wurde. A.
28*
220 Otto Mohnicke über die geistigen Anlagen
Braut). Sie besitzen vier bis fünf Stockwerke, doch die
Treppen, welche durch die dicken Wände emporfiihren, sind
zerstört, eben so die monolithischen Platten, welche die Thurm-
fluren bilden. Entdecker müssen daher Seile und Haken
mitnehmen, Leitern von 80 Fuß Höhe und Planken, die als
Brücken dienen können. Wir hatten nichts von diesen Ge-
räthschasten und das elende Dorf konnte auch nichts zu un-
serm Gebrauch liefern. Ich zweifele nicht daran, daß die
oberen Stockwerke Tesserä, Münzen, Töpserwaare, vielleicht
ganze Mumien enthalten. Der Werth der letzteren mag
danach benrtheilt werden, daß Dr. C. Carter Blake, welcher
die vier Schädel, welche ich dem britischen anthropologischen
Institut übergab, sorgfältig untersuchte, sie für altsyrische
oder phönicische erklärte.
Die kurze Zeit unseres Aufenthalts gestattete mir nur
anderthalb Tage Ausgrabungen in Palmyra zu veranstalten.
Es war leicht, eine beträchtliche Anzahl Arbeiter zu 21/2
Piaster per Tag und Kopf zu miethen, also für 5 Groschen
etwa. In anderen Gegenden stehen die Löhne mindestens
doppelt so hoch.
Die Arbeiten begannen am 15. April an der als „Kirch-
hos" bekannten Gruppe der Grabthürme, westsüdwestlich vom
großen Tempel der Sonne. Ich wählte diese Gruppe, weil
sie die älteste der ganzen Reihe zu sein scheint. Bei den
Fellahs oder Bauern ist sie als Kafar abu Sayl (Paläste
des Vaters des Stromes) bekannt, und sie wundern sich,
wenn man ihnen sagt, daß diese massiven Gebäude nicht Kö-
nigsschlösser, sondern Gräber sind. Hier wurden die Loculi
in den verschiedenen Stockwerken leicht durch meine 45 Ar-
beiter gereinigt, die nichts als sehr kleine Hacken und Hauen
hatten, sowie Getreidesäcke und ihre Kleider, die sie zum
Wegtransportiren des aufgesammelten Schuttes und Sandes
benutzten. Aber diese Zellen und diejenigen der anstoßenden
Ruinen waren schon früher geplündert worden; sie lieferten
daher nichts weiter als Schädel, Knochen und Fetzen von
und den moralischen Charakter der Japaner.
Mumiengewändern, deren Farben bemerkenswerth frisch
waren.
Die Arbeiter wnrden dann am benachbarten Schutthügel
angestellt. Er zeigte eine täuschende Aehnlichkeit mit den
Bodenwellen, welche die complicirten, schon geöffneten Kam-
merkatakomben bedecken, in die vor wenigen Jahren ein Ka-
meel stürzte; das Dach war eingesunken. Nachdem wir eine
Lage von schneeweißem Gips erreicht hatten, der künstlich
schien, obgleich sämmtliche Arbeiter anderer Ansicht waren,
gaben wir die Sache auf, da die Zeit zu sehr drängte. Der
dritte Grabeversuch legte die Fundamente eines Hauses auf
und zeigte uns den Brunnen oder die Regencisterne, die, wie
alle solche Reservoire im heiligen Lande, wie eine Sodawas-
serflasche ^) gestaltet war. Der vierte Versuch war erfolg-
reicher. Während unserer Abwesenheit stießen die Arbeiter
auf zwei eiförmige Platten von weißem Kalkstein, jede mit
einem Hochrelief-Brustbilde. Das eine zeigte einen Mann mit
strengem Gesichte, kurzem, gelocktem Barte und das Haar in
drei runde Rollen gethcilt, wie es Mode bei beiden Geschlech-
tern gewesen zu sein scheint. Das zweite war eine weibliche
Büste mit so prononcirten Gesichtszügen, daß sie negerartig
waren. Noch ein drittes, ähnliches Werk, doch ohne Kopf,
wurde gefunden. Es ist schwer das Erstaunen zu schildern,
das uns bei dieser Entdeckung überkam. Vor uns her eilte
das Gerücht, wir hätten goldene Bilder in Lebensgröße ge-
snnden, oder daß Kisten mit Goldmünzen in unsere Hände
gefallen seien.
Am nächsten Morgen verließen wir Palmyra, und nach
einem angestrengten Galopp, welcher den größern Theil von
vier Tagen iu Anspruch nahm, befanden wir uns wieder zu
Hause in Damaskus.
*) Eine englische Sodawasserflasche, die ganz anders als eine
deutsche aussieht und einem Schlauche gleicht, unten und oben spitz
ist und nicht auf dem Tische stehen, sondern nur liegen kann.
Otto Mohnicke über die geistigen Anlagen und den moralischen Charakter
der Japaner.
1.
Eine Gesellschaft des Kaisers von Japan ist über Nord-
amerika nach Europa gekommen und wird auch am Hofe unseres
deutschen Kaisers erscheinen. In Berlin wird sie eine Anzahl
ihrer Landsleute finden, welche dort den Studien obliegen und
sich durch ihren Fleiß, ihre ausgezeichnete Intelligenz und ihr
in jeder Beziehung angemessenes Betragen allgemeine Hochachtung
erworben haben.
Der Berkehr Deutschlands mit Japan wächst mit jedem
Jahre mehr an und auch die große Wiener Ausstellung im Jahre
1873 wird aus dem Jnselreiche des Sonnenaufgangs mit Er-
zeugnissen des Bodens, der Industrie und der Kunst beschickt
werden. Die Japaner sind rüstig und frisch als ein sehr will-
kommenes Mitglied in die große Familie der civilisirten Völker
eingetreten; sie versuchen mit großer Energie ihre staatlichen und
gesellschaftlichen Verhältnisse der neuen Zeit anzupassen und
geben der Welt ein geradezu wunderbares Schauspiel. In einer
kurzen Reihe von Jahren hat ihr Reich eine völlige Umgestal-
tung erlitten und schon deshalb ist es von Interesse, zu hören,
wie ein unbefangener und sachkundiger Mann über das hoch-
begabte Volk urtheilt. Dr. Otto Mohnicke, jetzt in Bonn,
verweilte als dirigirender Sanitätsoffizier der ersten Classe über
ein Menschenalter in Ostasien und namentlich auch längere Zeit
in Japan. Soeben ist von diesem ausgezeichneten Beobachter
eine ethnographische Monographie erschienen: „Die Japaner,"
Münster bei Aschendorss 1872, welche ganz geeignet ist, allge-
meines Interesse in Anspruch zu nehmen. Der Verfasser schil-
dert namentlich den physischen Charakter des Volkes; er giebt
Bemerkungen über den „Ursprung der Japaner in Centralasien",
und schildert die geistigen Anlagen und den moralischen Charak-
ter. Aus diesem letztern Abschnitte geben wir die nachfolgenden
Mittheilungen, auch um zu zeigen, wie vortrefflich Mohnicke
seinen Gegenstand behandelt. Hoffentlich wird er mit einem
größern Werke über „Japan und seine Bewohner" nicht mehr
lange zurückhalten.
* :
Eine der hervorstechendsten Eigentümlichkeiten in dem psychi-
schen Charakter der Japaner, wodurch sie sich überhaupt von
allen anderen Asiaten unterscheiden, ist sowohl ihre merkwür-
dige Befähigung für die Aufnahme fremder Bildungs-
demente, als auch ihr Streben nach Aneignung der-
selben.
Die Schnelligkeit, mit welcher sich in den ersten Jahrhun-
Otto Mohnicke über die geistigen Anlagen
derten unserer Zeitrechnung die chinesische Cultur über Japan
verbreitete, nachdem sie über Korea dorthin gelangt war; die
Aufnahme, welche das katholische Christenthum und mit ihm die
europäische Bildung, deren Vertreter damals noch hauptsächlich
die lateinischen Völker waren, im sechszehnten Jahrhunderte in
diesem Lande fanden; vor Allem aber die überraschenden Fort-
schritte seiner Bewohner in der europäischen Kunst und Wissen-
fchaft während der letzten Jahre dienen zum Beweise sowohl
ihrer Bildungsfähigkeit als auch ihres Strebens nach höhe-
rer, zeitgemäßer Entwickelung. Es sind noch nicht zwei
Decennien verflossen seitdem die Pforten dieses während der letz-
ten Jahrhunderte fast hermetisch geschlossenen Reiches sich mehr
und mehr geöffnet haben und zugleich seinen Bewohnern der
Besuch fremder Länder verstattet wurde. In diesem kurzen Zeit-
räume sind sie aber schon jetzt in der Kriegskunst, dem Baue
von Dampfschiffen, dem Gebrauche von Maschinen für mannich-
fache Zwecke, sowie in der Heilkunst und einigen anderen Fächern
der Wissenschaft allen anderen asiatischen Völkern weit
vorausgeeilt.
Dieses bei den Japanern so sehr hervortretende
Vermögen, fich fchnell die Bildung anderer Völker
anzueignen, bildet den hauptfächlichsten Unterschied
zwischenihrer geistigen Anlage und jener der Chinesen.
Die letzteren erfanden schon in der ältesten Zeit, wahrschein-
lich gleichzeitig mit der Gründung ihres Staatswesens in der
spätem Provinz Schensi, vielleicht sogar noch früher, ihre eigen-
thümliche, gegenwärtig aus unmittelbaren Bildern und Begriffs-
zeichen, verbunden mit phonetischen Elementen, bestehende Schrift.
Zugleich entwickelte fich aus ihnen felbst, ohne irgendeine
Uebertragung oder Beihülfe von einem andern Volke, ihre
merkwürdige und reiche, alle Lebensverhältnisse durchdrin-
gende Cultur, zu deren Eigentümlichkeiten in erster Stelle die
starreste UnVeränderlichkeit und ein wunderbares Widerstands-
vermögen gegen fremde, verändernde und umgestaltende Ein-
flüffe zu rechnen sind.
Diese Cultur, welche sich im Laufe der Zeit über einen gro-
ßen Theil Asiens ausbreitete und jetzt Hunderte von Millionen
Menschen umfaßt, war fchon vor Jahrtausenden dieselbe wie
gegenwärtig. Alle fremden Eroberer eigneten sich dieselbe an.
China hat in dieser langen Zeit kein einziges aus-
heimisches civilisatorisches Element in sich aufgenom-
men als den Buddhismus. Aber auch diefer wurde, anstatt
felbst umgestaltend auf die Denkweife des Volkes einzuwirken,
durch das fpecifisch chinesische Element durchaus entstellt und um-
gestaltet. In Folge hiervon hat diese Religion für China in
ethifcher Beziehung lange nicht die Bedeutung gehabt, und war
für feine Bevölkerung nicht von so wohlthätigem und veredeln-
dem Einflüsse, wie sie es für viele andere, hinsichtlich ihrer
Bildung im Allgemeinen viel niedriger stehende mongolische
Volksstämme in Centralasien gewesen ist.
Auch in der Literatur der Chinesen zeigt sich diese Unver-
änderlichkeit. Diejenigen ihrer Schriftsteller, welche für classtfche
gelten, lebten fchon Jahrhunderte vor Christus. Die allerge-
naueste Bekanntschast mit ihnen ist die erste Bedingung für
einen Gelehrten und bildet zugleich den einzigen Weg zu allen
hohen und höchsten Staatsämtern. Noch immer aber erscheinen
Kommentare zu diesen Schriften und zu den unzähligen älteren,
schon vorhandenen Commentaren wieder neue.
Ich erwähne dieser allgemein bekannten Thatsachen nur um
hieran die Bemerkung knüpfen zu können, daß die merkwürdige
UnVeränderlichkeit der chinesifchen Cultur nicht, wie häufig ge-
fagt wird, eine Folge ihrer monosyllabischen Sprache und ideo-
graphischen Schrift ist, sondern durch eine ihnen durchaus eigen-
thümliche, ursprüngliche Geistesanlage bedingt wird. Ihre
von denen der übrigen Völker so sehr abweichende Schrift und
Sprache sind ebenfalls nur aus dieser, man könnte fagen fpeci-
fischen geistigen Organisation hervorgegangen.
Die Japaner eigneten sich die Schrift, Bildung und Lite-
ratur der Chinesen an; nicht aber in Folge innerer geistiger
Verwandtschaft, sondern nur weil letztere das Kulturvolk waren,
und den moralischen Charakter der Japaner. 221
womit sie zuerst, und als sie selbst noch rohe Barbaren waren,
in Bekanntschaft kamen.
Der Umstand, daß sie später zu der Bildung eigener pho-
netischer Syllabare übergingen, um sich ihrer neben den ideo-
graphischen Schriftzeichen der Chinesen zu bedienen, wurde nicht
allein durch die Unbequemlichkeit, welche die genaue Anpassung
derselben an ihre eigene polysyllabische Sprache mit sich
führte, sondern wahrscheinlich hauptsächlich durch ihre eigenthüm-
liche von der jenes Nachbarvolkes abweichende Geistesanlage im
Allgemeinen verursacht.
Auch in der Literatur der Japaner, wiewohl fie aus
der chinesifchen hervorgegangen ist, zeigt fich der verfchie-
dene Geist beider Völker. Ihre ältesten Schriften tragen
durchaus das eigentümliche Gepräge der chinesifchen. Dasselbe
verliert sich aber allmälig aus ihnen und sie nehmen, je jünger
sie sind, einen mehr davon abweichenden, selbständigen Cha-
rakter an. Die so sehr dogmatisirende, das eigentliche Wesen
der chinesischen Literatur bildende Scholastik tritt immer mehr in
den Hintergrund, während die eigene geistige Thätigkeit sowie
ein gesunder, auf die Wirklichkeit und objective Wahrnehmung
gerichteter Sinn sich in zunehmendem Grade bemerkbar machen.
Unter den Geisteskräften der Japaner findet im Allgemei-
nen das Vorherrfchen des Verstandes vor der Phantasie statt.
Dieses zeigt sich vornämlich darin, daß von einer Kunst, in der
höhern Bedeutung des Wortes, sich bei ihnen bis jetzt kaum
die ersten Spuren zeigen, und der Begriff des Idealen noch
nicht zur ersten Entwickelung gekommen ist. Hauptsächlich aber
ist die Ursache hiervon darin gelegen, daß auch ihre künstleri-
fchen Anlagen, feit dem ersten Anfange ihrer Cultur, in die be-
engenden, das freie Aufstreben des Geistes hemmenden, typi-
fchen Formen der Chinesen eingezwängt wurden.
Aber eben wie in der Literatur der Japaner, macht sich
schon feit Langem und in zunehmendem Maße in ihren künst-
lerischen Bestrebungen ihre eigenthümliche geistige Anlage
geltend, und entzieht sich dem chinesischen Formzwange mehr und
mehr. Ihre Zeichnungen und Gemälde, ihre Schnitzwerke aus
Holz und Elfenbein, ihre fchön geformten Vasen und andere
Gerätschaften aus Kupfer, Bronze u. s. w. dienen hiervon zum
Beweise. Alle diese Gegenstände übertreffen die der
Chinefen bei Weitem, und zeigen in ihrer innernAuf-
assuug eine bemerkenswerthe Annäherung an die
der Culturvölker des Westens. Mit Beziehung auf wirk-
liches, angeborenes Schönheitsgefühl stehen die Japaner auf
einer ungleich höhern Stufe als die Chinesen, bei welchen, un-
geachtet ihrer mannichfachen Kunstfertigkeiten, hiervon kaum
einige Spuren bestehen.
Auch die Musik der Japaner offenbart in ihrem Charak-
ter eine gewisse Annäherung an die unsere, wie wenig sie auch
dem Grade ihrer Entwickelung nach mit derselben verglichen
werden kann. Von der lauten und lärmenden, einem europäi-
scheu Ohre beinahe unerträglichen chinesischen unterscheidet die
japanische sich in ihrem innersten Wesen.
Die Dichtkunst der Japaner hat bis jetzt gleichfalls keine
bemerkenswerte Höhe erreicht. Das didaktische Element herrscht
darin vor, doch besitzen sie eine gewisse Anlage zur Lyrik. Mir
sind einige kleinere Gedichte und Dichtproben, selbst von japa-
nischen Damen, bekannt geworden, die durch die Tiefe des in
ihnen fich aussprechenden subjectiven Gefühls bemerkenswert
erschienen.
Dieses Volk hat eine besondere Anlage für die
mathematischen Wissenschaften und übertrifft hierin noch
die Chinesen. Im Rechnen bringen die Japaner es ohne viele
Mühe zu einer großen Fertigkeit. Ich bin selbst zu meiner
Verwunderung Zeuge davon gewesen, mit welcher Schnelligkeit
und Sicherheit Beamte der Handeskammer zu Nagasaki über
Millionen laufende, sehr verwickelte Rechnungen nachzufehen ver-
' mochten, wenn bei dem jährlichen Abschlüsse des Credit und Debet
mit der niederländischen Factorei zu Desima zwischen den bei-
derseitigen Buchhaltungen sich eine Differenz, mitunter nur von
Bruchtheilen eines Tail, ergab. In allen diesen Fällen war
222 Otto Mohnicke über die geistigen Anlagen
aber der Jrrthum selten auf der Seite der Japaner. Ich be-
merke hierbei, daß in Japan alle Rechnungen mit Hülfe des be-
kannten, über das ganze östliche und mittlere Asien bis nach
Rußland hin verbreiteten Rechenbrettes geschehen.
Schon in der außerordentlichen Genauigkeit, mit welcher
japanische Handwerker darauf sehen, daß alles, was aus ihren
Händen hervorgeht, durchaus rechtlinig und scharfeckig ist, zeigt
sich ihr mathematischer Sinn. Sie bedienen sich des Zirkels
und Winkelmaßes bei den unbedeutendsten Gegenständen und
selbst da, wo europäische Arbeitsleute sich in der Regel allein
auf das Auge verlassen.
Auch sind sie sehr gewandte Kaufleute und ebensowenig
im Großhandel wie im Handverkaufe leicht zu überlisten. In
dieser Beziehung stehen sie allen, sich durch ihren Handelsgeist aus-
zeichnenden Völkern, fowohl den europäischen als den asiatischen,
vollkommen gleich. Die schlauen, Alles so sehr berechnenden und
ihren Vortheil stets im Auge haltenden Chinesen geben zu, daß
die Japaner, als Kaufleute, sie noch übertreffen.
Unter ihren moralischen Eigenschaften verdienen Vater-
landsliebe, Tapferkeit und ein Muth, der sich nicht sel-
ten zu heroischer Todesverachtung steigert, in erster Stelle ge-
rühmt zu werden. Diese Tugenden aber sind nicht allein das
Erbtheil der Männer, sondern finden sich auch bei den Frauen
in einem gleichen Maße. Den unwidersprechlichen Beweis hier-
für liefert die Gefchichte des Christenthumes in Japan während
der letzten Hälfte des sechszehnten und den ersten Jahrzehnten
des siebzehnten Jahrhunderts. In dieser langen Periode zu-
nehmender und immer schonungsloserer Verfolgung, deren Ende
die gänzliche Vertilgung der neuen Lehre war, starben für sie,
als Märtyrer, viele Tausende japanischer Christen jeden Alters
und Geschlechts.
Auch noch in späterer Zeit und bis auf die Gegenwart
ist die japanische Geschichte reich an Beispielen edler, heroischer
Selbstaufopferung für eine Idee. Selbst solche Fälle, wo, wie
Arria dem Pätus, die treue Gattin ihrem Mann in den Tod
voranging, um ihm zu zeigen, daß dieser nicht schmerze, sind
gar nicht selten. Ein Beispiel dieser antiken Seelengröße bot
unter anderen die Gemahlin des fünften Sjogun der letzten
Dynastie, Minamoto no Jje Tfouna, als sie im Jahre
1703, um ihr Vaterland vor großen inneren Unruhen zu be-
wahren, erst ihren Gemahl und auf der Leiche desselben sich
selbst um das Leben brachte.
Andere Tugenden der Japaner sind ihre Geduld, ihre
feste, vor keiner Mühe und Schwierigkeit zurückbebende Beharr-
lichkeit in dem Verfolgen und Ausführen vorgenommener
Pläne, sowie ihre Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit.
Sie sind außerdem in einem hohen Grade gastfrei, mildth ätig
gegen Arme und dankbar für empfangene Wohlthaten. Gegen
Freunde sind sie treu und jeder Aufopferung fähig;
nehmen aber nur Wenige und nie anders als mit vieler Vor-
ficht und nach sorgfältiger Prüfung in die Zahl derselben auf.
Es fehlt nicht an Beispielen, wo Freunde für und mit einander
in den Tod gingen. Die erst im Jahre 1664 durch strenge
Befehle des Sjogun außer Gebrauch gekommene Gewohnheit,
daß Diener sich auf dem frischen Grabe ihrer Gebieter freiwillig
um das Leben brachten, allein um zu zeigen, welche Liebe und
Anhänglichkeit sie denselben zutrügen, beweist schon wie sehr die
Japaner der Selbstaufopferung für Andere fähig sind.
Eine andere Tugend, die bei ihnen in einem sehr hohen
Grade allgemein und um so auffälliger ist, als sie den meisten
übrigen tnranischen Völkern nicht nachgerühmt werden kann, ist
ihre außerordentliche Reinlichkeitsliebe. Dieselbe macht
sich sowohl in ihrer persönlichen Erscheinung, wie in ihrer
häuslichen Einrichtung, der Weise wie sie ihre Speisen zuberei-
ten, mit einem Worte in ihrem ganzen Sein und Leben auf
den ersten Blick erkennbar und verleugnet sich selbst nicht bei
den Allerärmsten. Ich habe in Japan bei Personen aus der nie-
drigsten und ärmsten Volksclasse nicht selten geflickte und selbst
mit Lappen von verschiedenen Farben ausgebesserte Kleider ge-
sehen, niemals aber solche, die ein offenes Loch gezeigt hät-
und den moralischen Charakter der Japaner.
ten. In ihrer Liebe für Reinlichkeit übertreffen die
Japaner sogar die europäischen Völker, welche dieser
Tugend wegen gewöhnlich am meisten gepriefen werden.
Auch die Mäßigkeit und Einfachheit ihrer Lebensweife
sind anerkennenswerth. In dieser Beziehung findet zwischen
den Japanern und Chinesen ein außerordentlicher Unterschied
statt. Gleichwie die hochentwickelte und verfeinerte Kochkunst der
letzteren, welche sehr widerstrebende Bestandtheile zu vereinigen
versteht, sich nicht nach Japan überpflanzte, findet man daselbst
auch nicht die chinesische Feinschmeckern und Vielesserei. Auch
von ihrem einzigen berauschenden Getränke, dem aus Reis ge-
brauten Saki, machen die Japaner im Allgemeinen nur einen
mäßigen Gebrauch, wie beliebt dieser Trank auch bei allen Volks-
classen sein möge. Trunksucht gehört nicht zu den nationalen
Fehlern dieses Volkes.
Die Gemüthsart der Japaner ist ruhig und gleichmäßig.
Vielleicht aber ist sie dieses mehr scheinbar als wirklich, da eine
große Selbstbeherrschung ein Gemeingut Aller ist,
und Jeder sich frühzeitig daran gewöhnt, jede Aufwallung des
Gefühls oder der Leidenschaften in seinem Aeußern nicht sichtbar
werden zu lassen. Ihr Charakter ist im Allgemeinen ein
gutherziger. Meines Erachtens stehen sie in dieser Beziehung
höher als die anderen Völker des südöstlichen Asiens, vornäm-
lich als die Chinesen. Bei sehr vielen Japanern, Vornehmeren
sowohl als Geringeren, mit welchen ich in nähere Berührung
kam, sprach sich in dem ganzen Wesen die gemüthliche Gut-
müthigkeit, welche das französische Wort Bonhommie am besten
bezeichnet, so unverkennbar aus, daß ich sie unmöglich für eine
bloß äußerliche halten konnte.
Diese Gemütlichkeit zeigt sich in ihrem ganzen häuslichen
Leben, besonders aber in ihren Vergnügungen. Diese sind mehr
still und einfach als laut, lärmend und prunkend. Das Lieb-
lingszimmer, fast eines jeden Hauses, sieht auf kleinere oder
größere, stets sehr wohl unterhaltene Gartenanlagen. Hier im
Kreise einiger weniger durchaus erprobter und zuverlässiger
Freunde, in vertraulichem Gespräche, rauchend und Saki trin-
kend zu verweilen, während das Auge auf die Blumen und
mannichfachen Zierpflanzen des Gartens geheftet ist, bietet den
Japanern schon einen großen Genuß. Oder sie erfreuen sich
hier an dem Gesänge ihrer Töchter und Frauen und deren
Spiel auf der dreisaitigen, San-sin genannten Laute, oder
aber bewundern die anmuthigen, mimischen Körperbewegungen
einer jugendlichen Tänzerin.
Bei vielen der Vornehmeren besteht wirklicher Adel der
Gesinnung und das Bewußtsein der durch ihre höhere Stel-
lung ihnen aufgelegten größern Verpflichtung des Vermeidens
aller niedrigen Handlungen. Zur Unterhaltung dieses Sinnes
bei dem hohen Adel in Japan trugen die eigentümlichen poli-
tischen Verhältnisse dieses Landes, welche sehr an die mittelal-
terlichen feudalen Zustände in Europa erinnerten, wesentlich bei.
In China findet sich weder von diesen Staatszuständen, noch von
diefer Gesinnung auch nur eine Spur, wie daselbst ja über-
Haupt kein eigentlicher erblicher, sondern nur ein Beamtenadel
besteht.
Im Umgange mit einander sind die Japaner freund-
lich, wohlwollend, aber, nach unseren Begriffen, übertrieben
höflich. Haltung und Benehmen des Vornehmern und Hoch-
gestellten, ihnen von früher Jugend an zur Gewohnheit gewor-
den, sind einfach, würdig und abgemessen, aber ohne Stolz, An-
maßung und Gemachtheit. Gegen ihre Diener und Untergebe-
nen zeigen sie sich im Allgemeinen fehr wohlgesinnt und wissen
sie, mit Vermeidung aller Vertraulichkeit, an sich zu fesseln.
In dem Verhältnisse und dem Benehmen der einzelnen
Glieder einer Familie gegen einander herrschen Güte, Wohl-
wollen und Freundlichkeit. Die Eltern sind gegen ihre Kinder
liebevoll und sanft; diese ehrerbietig, gehorsam und unterwürfig
gegen ihre Eltern. Die japanischen Frauen sind im All-
gemeinen Muster ehelicher Zucht und Sitte, dabei
häuslich, sparsam, fleißig und verstehen die Leitung
eines Hauswefens aus dem Grunde.
Aus allen Erdth eilen.
223
Aus alle»n
Fetischdienst der Neger in Neuorleans.
Ich finde, daß die Zählung von 1870 für die Stadt Neu-
orleans 191,418 Köpfe ergeben hat; davon waren 50,456
Farbige. Seitdem der Neger dem Weißen politisch gleichge-
stellt ist und Uberall in den Südstaaten bei den Wahlen den
Ausschlag giebt, demnach in jener Republik des allgemeinen
Stimmrechts eine Macht geworden ist, lebt er sich frei und
ungehindert feinem afrikanifchen Naturell gemäß aus. Von dem
„Fortschritt zu progressiver Intelligenz", der als unausbleib-
lich verkündet wurde, ist beiladen Massen nichts zu verspü-
ren, wohl aber ein Rückschlag zu urafrikanischer Barba-
rei nicht zu verkennen, und die Verehrung der Schlange greift
immer mehr um sich bei den Negern, die allesammt dem Na-
men nach Christen sind und nebenbei auch in die Kirchen gehen,
am liebsten in jene der Baptisten. Weshalb gerade in diese?
Weil in der Bibel die Rede ist von einem Johannes Baptista,
aber nicht von einem Johannes Methodista. Also ist, der
Negerlogik zufolge, das Baptistenthum dem Methodistenthum bei
Weitem vorzuziehen!
Die Schwarzen in Neuorleans feiern in jedem Jahre ein
großes religiöses Fest zur Verehrung der Schlange; sie thun es
so ungenirt, daß sie auch weißen Leuten den Zutritt nicht ver-
wehren, und so konnte ein Berichterstatter der „Neworleans
Times" sich diese religiöse Feier gemächlich mit ansehen. Er
schildert diesen Woducultus (dessen.Oberpriester auf Haiti Kaiser
Faustin Soulouque war) in folgender Weise.
Am Montag (im Juli) ging ich auf den französischen Markt,
um eine alte Negerin aufzusuchen, die dort seit Jahren an ihrem
bestimmten Platze Grünwaaren feilhält. Ich wußte, daß sie
„dazu gehörte" und mir Auskunft geben konnte. Sie verstand
sich dazu, ich mußte ihr jedoch versprechen, über die Sache selbst
reinen Mund zu halten.
Abends 8 Uhr saß ich auf der Pontchartrainbahn und als
ich am Portchartrainsee ankam, sah ich mehrere Gruppen schwar-
zer Leute, die sich lebhast unterhielten. Ich wollte bis zum
Festplatze nicht gehen oder fahren und nahm deshalb einen Na-
chen, in welchem ich bis an die Mündung des Bayou St. John
gerudert wurde; die Feier selbst sollte am Bayou Tschoupitoulas
stattfinden. (Bayous sind Nebenarme des Stromes.) Dort war
eine große Bude ausgeschlagen, dicht neben derselben standen
einige hundert Leute: Weiße, Neger und Mulatten, und Manche
waren mir bekannt und ich wurde ganz freundlich aufgenom-
men. Die Ceremonien hatten noch nicht begonnen.
Etwa eine Viertelstunde später kamen noch etwa hundert
Leute in einem großen Boote an und gleich nachher in einem
kleinern Fahrzeuge noch zehn Personen; unter diesen befand sich
Marie Lavoux, die Wo du Königin. Sie wurde beim Aus-
steigen mit Jubelrufen begrüßt.
Die Zahl der Anwesenden betrug jetzt mehr als dreihun-
dert, Männer und Frauen so ziemlich in gleicher Menge; die
überwiegende Mehrzahl bestand aus Schwarzen und Mulatten,
etwa einhundert waren Weiße, so ungefähr 40 Männer und
60 Frauen.
Marie Lavoux hielt eine Anrede in '„Gumbo-Französisch"
und sang dann:
Salya ma coupeca.
Die Menge klatschte dazu in die Hände und fiel im Chor
ein und sang:
Mam'selle Marie chouffezca!
Es war etwa elf Uhr Nachts. Nach beendigtem Gefange
befahl die Königin, ganz dicht am Seeufer ein Feuer zu machen;
jeder Schwarze mußte ein Stück dazu herbeischaffen, und wenn
er es in die Flamme warf, dabei einen Wunsch aussprechen.
Erdtheilen.
Dann wurde ein großer Kessel über das Feuer gestellt und mit
Wasser angefüllt, das in einem Bierfaß herbeigebracht worden
war. Ein alter Mann warf Salz hinein und fprach dabei
einige Worte in Kreolen-Französisch. Nach ihm trat ein junges
Quadroonmädchen an den Kessel, in welchen sie Pfeffer schüt-
tete, und sang dabei. Alles war in gespannter Erwartung, als
dicht neben das Feuer eine Kiste gestellt wurde. Aus dieser
wurde eine schwarzeSchlange herausgenommen, die man, als
Dreieinigkeit, in drei Stücke zerhieb. Das eine Stück wurde
von Marie Lavoux in den Kessel geworfen, das zweite von dem
alten Manne, das dritte vom Quadroonmädchen. Dabei wieder-
holte der Chor das Mam'selle Marie chouffezca.
Nun verlangte die Königin eine Katze, welche sie in den
Kessel warf, nachdem sie ihr den Hals abgeschnitten hatte; auch
dazu fang der Chor dieselben Worte.
Die Königin verlangte einen schwarzen Hahn; sie band
ihm die Füße zusammen und steckte ihn lebendig in den Kessel.
Der Chor sang wieder.
Marie ILavoux rief nun, daß Jedermann sich entkleiden
solle und das geschah auch sofort; Alle fchrien und sangen da-
bei. Die Königin zog einen mit weißem und farbigem Pulver
gefüllten Beutel hervor und befahl, daß alle einander bei der
Hand fassen und rund um den Kessel tanzen sollten. In diesen
warf sie dann das Pulver und stimmte einen Gesang in Kreo-
len-Französisch an, in welchen der tanzende Chor einfiel:
C'est l'amour; oui maman c'est l'amour!
Sie nahm ihre Uhr hervor, warf einen Blick auf das Ziffer-
blatt und schrie:
Li minuit! Tous moune a l'eau !
Also: es ist Mitternacht; alle ins Wasser hinein! Alle
sprangen in den See und blieben etwa eine halbe Stunde im
Bade. Als sie wieder auf dem Trockenen waren, sangen und
tanzten sie eine volle Stunde lang und dann hielt die Königin
eine Predigt, die mit den Worten endigte: „Jetzt dürft Ihr
Alle Euch eine Stunde ausruhen." Die Menge zerstreute sich
bunt durch einander.---
Alles blieb ruhig, bis auf der Seemuschel geblafen wurde;
die Zerstreueten fanden sich wieder bei der Königin ein und es
wurden dieselben Gesänge angestimmt. Marie Lavoux sprach:
„Wer etwas zu essen mitgebracht hat, darf nun fpeifen." Sie
aßen und tranken, bis wieder auf der Seemufchel geblasen wurde.
Dann liefen sie zum Kessel und vier nackte Negerinnen, die
einen weißen Turban um den Kopf gewunden hatten, schütteten
Wasser ins Feuer, das nun nicht weiter brennen durfte. Auch
dabei sang der Chor das Mam'selle Marie chouffezca. Der
ganze Inhalt des Kessels wurde in das Bierfaß gethan und
dabei sprach die Königin: „Das ist fürs nächste Jahr. Nun
müßt Ihr Euch alle ankleiden." Nachdem sie das gethan und
um die Königin im Reigen herumgetanzt waren, ertönte die
Seemuschel abermals.
Dann hielt sie eine lange Predigt; am Schlüsse derselben
fielen Alle auf die Knie und sie spendete ihnen den Segen. Nach-
dem derselbe ertheilt war, sang der Chor wieder das C'est
l'amour etc. Inzwischen war die Morgendämmerung herein-
gebrochen und die Königin sprach: „Der Tag kommt; wir müf-
sen ihn mit Gesang begrüßen und dann Alle heimgehen."
Ich stieg in meinen Kahn und fuhr mit dem ersten Zuge
der Pontchartrainbahn nach der Stadt zurück.
Türkische Erpressung.
r.k. Tyrwhitt Drake, welcher im Jahre 1870 das
basaltische Hochland 'Alah östlich von Hamah und seine zahl-
reichen Ruinen erforschte, weiß in „Unexplored Syria" nicht
224 Aus allen
genug von der Mißregierung und dem schändlichen Treiben der
Türken in dem einst so blühenden und menschenreichen Syrien
zu erzählen, einem Treiben, welchem anscheinend alle Theile des
morschen Osmanenreiches gleichmäßig ausgesetzt sind. Ein Bei-
spiel genüge sür viele.
In Mo'arrah el No'aman, so erzählt Drake, sand ich eine
Quarantäne für Reisende von Bagdad in dem großen Khane
Said Jusuf eingerichtet. Dahinein wollte mich eine Anzahl
türkischer Soldaten wider meinen Willen stecken; aber meine Ein-
wendungen waren durchschlagend genug, daß sie davon abstan-
den und sich entschuldigten. Aber zu spät; denn als ich nach
Aleppo kam, beschwerte ich mich beim Gouverneur Suraya Pa-
scha — und bei meiner Rückkehr nach Mo'arrah hatte ich die
Genugthuung, die Hauptanstifter im Gesängniß zu sehen. Sie
hatten natürlich gehofft, daß ich ihnen ein paar Piaster sür
meine Freilassung zahlen würde, wie jeder Einheimische gethan
haben würde, um diese Plage zu umgehen.
Diese Quarantäne ist nämlich eine Quelle beträchtlicher Ein-
künste sür ihren jedesmaligen Pächter. Denn nicht allein alle
Reisende, mögen sie von Nord oder Süd, Ost oder West kom-
men, werden hineingesperrt; nein, selbst die Stadtbevölkerung,
wenn sie sich nur zwei Stunden weit von ihrem Heim entsernt
hat, wird in diese Hölle geworfen, oder muß bei der Rückkehr
100 Piaster (1 Napoleond'or) bezahlen. Die Quarantäne dauert
10 Tage; sie kostet für die Person 10 Piaster, sür ein Kameel
5, ein Maulthier 3, einen Esel 2 und für jede Ladung oben-
drein noch 2 Piaster per Tag. Wie vorauszusehen, hat ein sol-
cher Alp die Stadt Mo'arrah fast ruinirt, und die Geschäfte
stocken fast gänzlich.
So gutmüthig und gastfreundlich der türkische Bauer dem
Fremden begegnet, ebenso niederträchtig und gewissenlos beneh-
men sich die Beamten und Machthaber Schwächeren gegenüber.
Der „Globus" brachte neulich dergleichen Beispiele aus Aegyp-
ten; Schreiber dieses war Zeuge eines ähnlichen Beispiels von
türkischer Willkür und Erpressung, deren die geheime Geschichte
jedes Paschaliks im ganzen weiten Reiche ungezählte enthalten
mag. Fast alljährlich begehen die Beduinen, welche südlich von
Ghazah Hausen (wie man behauptet, von den Bewohnern dieser
Stadt angestiftet) einige Räubereien, bis der Pascha von Jeru-
salem ein paar Eompagnien hinsendet, von deren Anwesenheit
die Ghazahner natürlich manchen Vortheil ziehen, wie sie auch
zuvor die Beute der Beduinen für Billiges an sich gebracht ha-
ben. Ausgerichtet wird von diesen Truppen nie etwas; aber
mit leeren Händen können sie auch nicht zurückkehren. So neh-
men sie denn, was sie unterwegs finden. Wir hatten wenige
Stunden von Jafa bei einigen ärmlichen Beduinenzelten ge-
lagert; die Eigenthümer derselben, gutmüthige Bursche, kochten
uns willig Kaffee. Sie fahen nicht aus, als könnten sie Jeman-
dem Böses thun. Schafe und Kameele bildeten ihren ganzen
Reichthum. Einige Tage später hörten wir in dem sonst stillen
Jerusalem lautes Paukenschlagen und Schreien und Jubeln. Es
waren die tapferen Nizams, welche unverrichteter Sache von
Ghaza heimkehrten. Vor sich her trieben sie eine Menge Schafe
und Kameele; sie waren unseren Gastfreunden geraubt worden,
deren Einziges und Alles sie gewesen. Das war freilich ein
leichterer Triumph, als er bei Ghazah zu holen gewesen wäre. —
Der damalige Pascha sprach zwar sehr gut französisch, hielt
einen offenen Abend und war auch sonst ziemlich von Bildung
beleckt; aber wie weit seine Provinz sich erstreckte, wußte er uns
nicht zu sagen. Jetzt ist er natürlich längst wegen Erpressungen
abgesetzt, wie ein würdiger Vorgänger, der das in England zur
Crdtheilen.
Wiederherstellung der alten Wasserleitungen gesammelte Geld
in seine Tasche steckte.
* * *
— Gebräuche in Dalmatien. Die Wiener „Juristi-
scheu Blätter" enthalten eine interessante Darstellung über die
dalmatinische Sitte der Entführung, welche noch in voller
Blüthe ist. Der Mann muß die Frau entführen, felbst wenn
die Familie ihre Einwilligung zur Ehe ertheilt hat. Fortschlep-
Pen muß er sie fern vom elterlichen Hause und seiner Gewalt
unterwerfen, noch bevor der Priester oder der Pope die Ver-
bindung gefegnet haben. Der Entführer und die Entführte
bringen dann gemeinschaftlich einen Theil des Tages oder der
Nacht an einem einsamen Orte, gewöhnlich unter freiem Him-
mel zu. Dann kommen die Verwandten, die Angehörigen, und
überraschen das liebende Paar, entweder um es zum Altar zu
führen oder um den Bräutigam den minder zärtlichen Um-
armungen der Gerechtigkeit zu überliefern, falls die Entführung
ohne oder gegen den Willen der Familie geschah. In den mei-
sten Fällen ist die Entführte damit einverstanden, und nicht fel-
ten ist der ganze Act eine Speculation ihrer Eltern oder Ver-
wandten, um den Entführer oder dessen Familie zu einem Geld-
opfer zu bewegen und somit die üblen Folgen eines Prozesses
zu vermeiden. Dies ist mir (sagt der Correspondent) aus eige-
ner Erfahrung bekannt. Ich wohnte vor Jahren einer Schluß-
Verhandlung in Zara bei, in welcher die Mutter überwiesen
ward, ihre Tochter verleitet zu haben, sich von einem reichen
Bauer entführen zu lassen. Mag aber auch die Entführung
wirklich gewaltsam geschehen sein, so findet doch gewöhnlich unter
den zwei am meisten Betheiligten bald eine Verständigung statt.
Ja, ein ganzer Tag oder eine ganze Nacht unter freiem Him-
mel ist unstreitig ein sehr wirksames Mittel. Kommen die Ver-
wandten, die inzwischen dem Verführer nachgejagt haben, dazu,
so finden sie dann gewöhnlich mit großer Entrüstung, daß sein
Kopf auf dem Schooße der Entführten ruht, und daß sie ihn
kämmt, bei den Slaven ein Zeichen besonderer Zärtlichkeit.
Manchmal gelingt es den beiden, die Verwandten zu besänsti-
gen und ihre Einwilligung zur Ehe zu erhalten, besonders wenn
der Entsührer wohlhabend ist. Manchmal hat man aber auch
blutige Scenen zu beklagen und die Rache zwischen der Familie
des Entsührers und jener der Entführten pflanzt sich wie „eine
ewige Krankheit" fort. Zu gerichtlichen Verhandlungen kommt
es felten, und wenn sie gepflogen werden, betreffen sie zumeist
die nicht tragisch, sondern heiter genommenen Fälle, die dann
Anlaß zu den ergötzlichsten Scenen und Episoden geben.
— Die Blattern treten in Chile, wo das Impfen noch
nicht allgemein im Gebrauch ist, sehr gefährlich auf. Doch hat
die Geistlichkeit ein gewiß höchst probates Mittel gefunden, die
Seuche zu bannen; sie hält Umgänge. Ein spanisches Blatt in
der Hauptstadt Santiago hat folgende Schilderung: „Die Pro-
cession zog aus der Mercedkirche nach der Kathedrale. Die
Bilderpuppen des heiligen Isidor und des heiligen Sebastian
standen auf Tragbahren und hinter ihnen ging einher der ge-
sammte Elerus, die kirchlichen Brüderschaften, die Zöglinge des
geistlichen Seminars, der Bürgermeister sammt den städtischen
Behörden; die Bürgergarde machte Spalier. Leider haben die
Umzüge und Litaneien nicht geholfen und die Krankheit hat
nicht im Mindesten nachgelassen."
— DieMormonen haben während des Jahres 1871 sehr
erfolgreich in Schottland Propaganda gemacht. Es sind von
dort mehr als 200 neue Heilige an den Salzsee ausgewandert.
Inhalt: Fahrten in Kambodscha. (Mit drei Abbildungen.) — Aus deutschen Landen. Der Seebär auf der Ostfee.
Von Th. Noack in Köslin. — Ein Ausflug von Damaskus nach Palmyra. Von Capitän Richard Burton. — Otto Moh-
nicke über die geistigen Anlagen und den moralischen Charakter der Japaner. I. — Aus allen Erdtheilen: Fetischdienst der
Neger in Neuorleans. — Türkische Erpressung. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Nedaction verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
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Band XXII.
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M
Js 15.
Mit besonäerer HerücksicktiZunZ xtcr AntkroxoloZie und Gtknologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
^e^oöer Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1872.
Völkerskizzen aus dem
Von Dr.
2. Die Mit tu.
Das Mittuland, dessen größter Theil zwischen 5 und
6° nördl. Br. fällt, lehnt sich einerseits an die Bongo und
den östlichsten Ausläufer des Niamniamgebietes an, wird
gen Osten von der Niederung des Rohlflusses begrenzt und
reicht nordwärts bis an die Territorien der Dinkastümme
Röhl und Agar. Auch nach Süden zu sind die Mittu von
den Niamniam begrenzt, wo letztere sich bereits unter dem
Namen Makaraka auf den Karten eingebürgert haben. Ma-
karaka oder Kak araka aber ist der Name, mit welchem die
Mittu das ganze große Volk der Sandel) im Allgemeinen
belegen, eben so gut wie die Sandeh bei den Bongo den
Namen Mundo führen und bei den Dinka Niamniam hei-
ßen, eine Bezeichnung, welche auch vom Sud an arabischen
adoptirt schließlich in den Gebrauch der europäischen Geo-
grapheu gelangt ist. Der Name Mittu kommt indeß nur
den Bewohnern des nördlichsten Theiles zu, einem selbst
dem Namen nach bisher unbekannten Volke. In
Ermangelung einer Collectivbezeichuung für eine Gruppe
von Völkerschaften, die kaum Stammesunterschiede darthnn,
habe ich mich dem Sprachgebrauche der Nubier angeschlossen;
sie Pflegen denselben den Generalnameu Mittu zu ertheileu,
welcher außer dem genannten nördlichen Stamme noch die
Madi*), Abaka und Luba umfaßt.
*) Ein Name, der sich häufig in diesem Theilc von Afrika wie-
Globus XXII. Nr. 15. (October 1872.)
iete des Bachr el Ghasal.
Schweinfurth.
Die Sprache dieser vier Stämme besitzt dialektische Ver-
schiedenheiten, welche bei den größeren Völkern, die zusam-
menhängende Länderstrecken bewohnen, wie die Dinka,
Bongo und Niamniam, durchaus nicht nachzuweisen sind.
Die Mittusprache enthält vereinzelte Anklänge an die der
Bongo, ist aber als eine von dieser total verschiedene, die
auch mit denjenigen der anderen Nachbarvölker nichts gemein
hat, zu betrachten. In der Summe seiner Merkmale scheint
sich indeß das Mittuvolk am meisten den Bongo zu nähern,
mit welchen es eine große Menge von Gebräuchen, Einrich-
tuugen und Gerätschaften gemein hat. Die Unterwerfung
unter die Gewalt der Chartumer, erst im Laufe der letzten
Jahre begonnen, ist für die südlichen Stämme, namentlich
die Luba und Abaka, noch als unvollendet zu bezeichnen,
während das Land der Mittu, bereits vollständig unter die
das Gebiet terrorisirenden Compagnien vertheilt, seine Be-
wohner zu denselben in jenem Verhältniß von Leibeigenschaft
stehen sieht, unter welchem die Djur und Bongo bereits seit
zehn Jahren schmachten.
In Bezug auf Nace den Bougo nachstehend unterscheiden
sich alle Mittustämme durch eiue weit schwächlichere, minder
zu Strapazen und Anstrengungen taugliche Constitution von
ihren Nachbarn; namentlich als Träger, wie man es auf
den Zügen ins Niamniamland wahrnehmen konnte, leisten
derholt und nichts gemein hat mit den Madi südlich von den Bari
und den Madi der Niamniamfürsten Jndimma und Uando.
29
226
Georg Schweinfurth: Völkerskizzen aus dem Gebiete des Bachr ei Ghasal.
sie bei Weitem nicht die vorzüglichen Dienste der ersteren.
Selten erblickte man in den Reihen der Mittuträger die
untersetzten, kräftigen Gestalten der Bongo, bei fortgesetztem
Nahrungsmangel magerten sie zu Skeletten ab und versagten
bald jeden Dienst, während die Bongo Unglaubliches leisteten,
ohne ihr Aussehen wesentlich zu ändern. Ein besonderes
Privilegium, das sich die Mitturace erworben, schien der
Guineawurm zu sein; unter den großen Schaaren von
Bongo, Djur, Dinka und Niamniam, welche unsere Elsen-
beincampagne gen Süden begleiteten, waren die Mittn in
auffälligster Weise am meisten mit diesem Uebel behaftet,
welches erwiesenermaßen sich nicht gleichgültig ge-
gen die Verschiedenheiten der Menschenracen zu
verhalten pflegt.
Die Mittuvölker sind wie die Bongo vorzugsweise ein
ackerbautreibendes Volk. Die fruchtbarsten Territorien wer-
den von den Madi und Abaka eingenommen, und diese pro-
ducireu derartige Mengen der verschiedensten Getreidearten,
Hülsen- und Oelsrüchte, auch Knollengewächse mannichfacher
Art, daß ihr Gebiet als Vorrathskammer für die Nieder-
lassungen in einem großen Theile des südlichen Bongo-
landes dient. Besonders sind es die unter 5
bis 51/,0 nördl. Br. gelegenen Districte am
obern Roah (Nam-Djan der Dinka) und am
Uohko (einem Nebenflusse des Röhl), wo der
Feldbau einen vorzüglichen Ertrag liefert, we-
niger begünstigt durch die Thätigkeit des Meu-
scheu als vielmehr begünstigt von einer im
Gebiete nur selten auf derartig ausgedehnte
Strecken sich gleichbleibenden Fruchtbarkeit des
Bodens. Sorghum, Pennicilaria , Elensine,
Erdnüsse und drei Arten Bohnen (Catjang,
Mungo und Fisolen) bilden überall den Haupt-
gegenständ der Cultur, Mais wird stellenweise
im großen Maßstabe auf Feldern gezogen, na-
mentlich im Districte des Mbomo zwischen
Roah und Lehssi, während dieses Korn sich
in allen übrigen Theilen des von mir berei-
sten Bachr-el-Ghasal-Gebietes nur wie Ge-
müse in nächster Umgebung der Hütten an-
gebaut findet. Schließlich Sesam und Hyp-
tis als Oelsrüchte in Masse producirt, und
von Knollengewächsen süße Bataten, Aams
und Helmia in vielen Spielarten aller Orten
anzutreffen, vervollständigen die Mannichfaltig-
keit der in dieser wohlbebauten Gegend dargebotenen Lebens-
mittel.
Die einzigen Hausthiere der Mittu sind Ziegen, Hunde
und Hühner. Schafe sind ihnen eben so unbekannt, wie
den Bongo, und wegen des Mangels an Rinderzucht ran-
giren sie in den Augen. der Dinka unter diejenigen Völker,
denen diese die verächtliche Bezeichnung Djur, d. h. Wilde,
zuertheilen. Auch die östlichen Nachbarvölker der Mittu,
welche die Rohlniedernng bewohnen, die von ihnen durch
Sprache und Sitten abweichenden Lehssi und Ssosi wer-
deu aus dem angeführten Grunde von den Dinka mit dem
Namen Djur bezeichnet; Petherick befand sich in einem gro-
ßen Jrrthnme, als er aus seiner Reise im Jahre 1862 in
jene Gegend sich dem Glauben hingab, die ihm als Djur
angegebenen Stämme wären identisch mit den Djur am un-
tern Djurflnffe, welche einen ausgewanderten Stamm der
Schilluk, Namens Lnoh, darstellen.
Die Stämme, welche ich unter dem Namen Mittu zu-
sammengesaßt habe, scheinen durch das Verspeisen von
Hunden, die sie wie die Niamniam eigens zu diesem Zwecke
mästen, zu verrathen, daß sie zum Cannibalismus hinneigen,
Mandoline der Mittu.
denn nur noch unter den Niamniam und Monbnttu, den
einzigen Völkern in dem von mir bereisten Theile von Afrika,
bei welchen Menschenfresserei erwiesen, ist solche Leckerei be-
kannt, während im Gegentheil Bongo und Dinka das Eine
wie das Andere aufs Tiefste verabscheuen, und zu betheuern
pflegen, daß sie eher Hungers sterben als das Fleisch von
Hunden genießen wollten. So äußert sich hier die Huma-
nität in dem Grade der Verehrung, welche der Mensch sei-
nem treuesten Genossen zollt.
Die Geräthschasten der Mittu zeigen wenig Verschieden-
heit von denen der Bongo. Lanzen, Bogen, Fischereigeräth
(Reusen, Ketscher und dergleichen), Pauken, Flöten, Signal-
hörner und Signalpfeifen, Schemel, Schellen, Tabackspfei-
fen :c. sind genau dieselben. Verschieden in Form sind die
Pfeilspitzen, welche mit ihren zahllosen und vielgestalteten
Widerhaken diejenigen der Bongo an teuflischer Erfindnngs-
gäbe weit übertreffen. Von den musikalischen Instrumenten
der Bougo fehlen hier die großen bis 6 Fuß langen Holz-
röhre zum Blasen. Bei allen Mittustämmen steht die Ton-
kunst in hohem Ansehen, und bei keinem andern Volke dieser
Region vermochte ich ähnliche Leistungen auf diesem Gebiete
wahrzunehmen, wie sie hier von Jedermann
geübt werden. Die Musik wird hier zum er-
sten Male melodisch und entsagt dem gewöhn-
lichen Negercharakter, d. h. sie ist nicht aus-
schließlich abwechselnd recitativisch mit bloßer
Allitteration und einfallendem Brüllfngen zu
nennenden Chor, die Mittu singen, denn so
darf man es nennen, ein genau innegehaltenes
Motiv in gradnalem Tonfalle variirend, und
taktmäßig, Weiber und Männer, Alt und Jung
in huudcrtstimmigem Chor. Auf der Flöte,
welche im Princip vollkommen nach europäi-
fchem Muster geformt erscheint, sind namentlich
die Madi Meister, auch sie üben sich mit Be-
harrlichkeit und vielem Zeitanfwande in melo-
dischen Modulationen. Bei den Mittu findet
sich auch ein Saiteninstrument; dergleichen
besitzen außer ihnen nur noch die Niamniam
in dem bereisten Theile Centralafrikas. Merk-
würdigerweise ist dasselbe vollkommen gleich an
Form und Herstellung mit der Robaba der
Nnbier, und stellt eine Art Lyra vor, an deren
Basis ein Resonanzkasten angebracht ist. Die
fünf Saiten sind über einen Steg gespannt, den
die Schale der Anodonta bildet. Auch Schalllöcher fehlen
nicht in der den Resonanzkasten darstellenden über ein Holz-
gerüst gespannten Haut. In ähnlicher Weise wie das
Wiederfinden der nnbischen Mungala (ein Brett mit Grn-
ben zum Unterhaltungsspiel) bei den Niamniam gab mir
hier die Robaba viel nachzudenken; ich erkannte in diesen
und vielen anderen Anzeichen untrügliche Beweise für die
Verwandtschast der heutigen und ehemaligen Bewohner des
Nilthals mit denen der centralsten Gegenden des Continents.
Ans der Übereinstimmung, welche in ihrer äußern Ein-
richtung die Gräber der Mittu mit denjenigen der Bongo
an den Tag legten, durfte ich schließen, daß beiden Völkern
auch die gleichen Gebräuche bei der Bestattung ihrer Todten
eigen sein möchten. Aehnliche Gräber fand Petherick auch
noch jeuseit des Röhl, und für die weitere Gleichheit der
Sitten in den eis- und transrohlschen Ländern schien auch
das Vorkommen der bei den Bongo beschriebenen Penaten
aus Holz, die sich sowohl bei den Mittu wie bei den Ssosi
wiederfanden, zu sprechen, bei sonst ausfallender sprachlicher
Verschiedenheit.
Die Mittuvölker galten bei ihren Nachbarn insgesammt
Georg Schweinfurth: Völkerskizzen
für noch bessere Bogenschützen als die Bongo. Wie diese
verschmähen sie den Gebrauch von Schilden, legen aber gro-
ßen Werth auf eine tüchtige Handvoll kräftiger Lanzen.
Wurfeisen und säbelartige Messer, wie überhaupt jede Art
Schneidewaffen find ihnen fremd. Im Faustkampfe bedienen
sie sich mehr noch als ihre Nachbarn der scharfen Zacken
und Dornfortsätze, welche zum Ertheilen gefährlicher Hiebe
an den Ringen des Handgelenks angebracht sind, überhaupt
sind ihre Arm- und Halsringe von weit roherer und massi-
gerer Arbeit als die der Bongo, welche ihnen in den vnlca-
nischen Künsten überlegen zu sein scheinen.
Was nun zum äußern Putz des Körpers gehört, Schmuck
und Zierrath, mit einbegriffen die unvermeidlichen Verun-
staltungen gewisser Körpertheile, mit einem Worte die Mode
umfaßt alles dasjenige, was uns bei diesem Volke, wie bei
vielen anderen, als wesentlichste Stammeseigenthümlichkeit
aus dem Gebiete des Bctchr el Ghasal. 227
erscheint. Die einzelnen Mittustämme zeigen indeß in die-
sem Punkte große Verschiedenheit. Bei den eigentlichen Mittu
überbieten die Frauen an Verunstaltung des Gesichts,
Durchbohren von Lippen, Ohrenrand und Nasen alles Aehn-
liche, was bei den übrigen Völkern dieses Theils von Afrika
constatirt werden konnte, und belasten sich, wie die Männer,
mit den schwersten Eisenringen. Beide Geschlechter tragen
als Zeichen von Wohlhabenheit zwei, drei und selbst vier
mehr als singerdicke, plnmpgearbeitete Eisenringe um den
Hals. Heber einander geschichtet hemmen sie nicht selten
jede Bewegung des Halses und ertheilen der Schädelbasis
jene unnatürliche Lage, welche wir bei den hohen Cravaten
auf alten Modebildern bewundern. Von kunstfertiger Hand
wird solcher Schmuck dem lebenden Körper als unveräußer-
liches Glied hinzugefügt. Sehr mußte ich bedauern, daß
sich mir keine Gelegenheit darbot, selbst Zeuge des Versah-
Bongo- und Mittu-Frau. (Nach 5
rens beim Anschmieden sein zu können, wie ich es bei Arm-
ringen häufig gewesen. Um diese Ringe wieder vom Halse
zu entfernen, müßte zuerst der Kopf abgeschnitten werden.
So quält und peinigt auch hier mit dämonischem Rafsine-
ment eine Mode die armen Menschenkinder, und in diesen
entlegensten Wildnissen Afrikas vielleicht noch in höherm
Grade als im großen Gefängniß unserer (Zivilisation. Erst
Tod und Verwesung erlösen den Mittu von der Mode und
ihren Fesseln in des Worts verwegenster Bedeutung.
Einen weit schreiender», factischen Eingriff in die Na-
tnr erlauben sich die Mittufrauen. Sie begnügen sich nicht mit
der durchbohrten Unterlippe der Bongosranen, auch die
obere muß bei ihnen durchlöchert und zu unförmiger Größe
erweitert sein. Kreisrunde, thalergroße Platten, bald Schei-
ben von Quarz, seltener von Holz oder von Horn mit Kupfer-
Verzierung, aber stets 2,5 bis 3 Centimeter im Durchmesser
haltend und bis 3 Millimeter dick werden in die allmälig
gialzeichnungen von G. Schweinfurth.)
mit den Jahren erweiterten Lippenlöcher hineingezwängt.
Diese Scheiben zwingen die Lippen, sich in der Fläche zu
einem enormen Umfange auszudehnen und geben denselben
eine horizontale Lage, zur Bildung eines Vogelschnabels die
Hand reichend. Das Klappern der Lippenplatten
beim Sprechen und Essen erinnert lebhaft an dasjenige
von Lösselgänsen, Löffelenten und Löffelreihern, und eine
Mittufrau kann, wenn sie in Zorn gerathen ist, „knacken"
wie Storch und Balaeniceps rex. Außer den Platten wer-
den nicht selten auch kegelförmig geschliffene Quarzstücke bis
6 Centimeter lang und von nicht geringem Gewicht durch
die Lippen gestoßen. Letzteres ist besonders bei den Lnba-
frauen Mode, deren Ideal wiederum der Kopf eines Rhino-
ceros und Dinotherium zu sein scheint. Gar nicht selten
gewahrt man auch Männer mit solchen Quarzkegeln von
Gestalt eines Belemniten in der Oberlippe. Tättowirnng,
wo sie vorkommt, beschränkt sich bei den Frauen aus zwei
29*
228 Baldwin's „
horizontale Punktreihen auf der Stirn. Die Mittu- und
Madimänner tragen solche Zeichnung stets in zwei von der
Nabelgegend aus divergireud nach den Schultern verlaufen-
den Reihen.
Beide Geschlechter verhüllen, wie die Bongo, ihre Scham,
die Weiber vermittelst eines Bündel grünen Laubes, die
Männer der eigentlichen Mittu mit einem Fellstück; die der
Madi sind durch eine Schürze ausgezeichnet, welche aus
seinen mit Eisenschmuck reich verzierten Lederriemen gebildet
ltes Amerika".
wird, einer Knute nicht unähnlich, oder einem Stücke vom
sudanischen Rachad. Andere haben ein dreieckiges Fellstück
an der Lendenschnur hängen, dessen Rand mit eisernen Rin-
gen und Schellen behangen ist. Bei den Madi sind auch
breite Gürtel in Gebrauch, welche mit Kauris bedeckt erschei-
uen, überhaupt spielen hier diese sonst im Gebiete bereits
überall völlig entwertheten Conchylien (Cypraea caurica)
noch eine große Rolle unter den Schmuck- und Werthgegen-
ständen des Landes. Das Haupt ist bei den Weibern fast
Janga's Grab in Muhdi (3
immer geschoren oder sehr kurzhaarig, undW die nördlichen
Bongo unterlassen es die Männer des ganzen Volkes, ihre
Zeit mit Haarkünsteleien zu vergeuden. Der vornehme
Madi bedeckt sich das Haupt häufig mit einem aus bunten
Glasperlen hübsch gestickten Käppchen, welches sich dem Schä-
del eng anschmiegt und eine eiserne Spitze trägt, andere be-
dienen sich einer Art voluminöser Alongeperrücken aus fein
gedrehten, aber wohl durchfetteten und eingeockerten Schnüren
gebildet, welche in Gestalt von tausend Zöpfen Gesicht und
igo). (Vergl. Text S. 88.)
Nacken beschatten. An Eisenzierrath, namentlich langen
Halsketten, Armspangen, Fußringen und dergleichen, über-
bietet der männliche Putz bei Weitem den der Weiber, was
an die Sitten der Niamniam erinnert und zu der einfachen
Nacktheit der Dinka einen grellen Gegensatz bildet.
Das Gebot der von den Bongo beobachteten Trigamie
wird bei den Mittu nicht respectirt, und Vornehme pflegen
sich mit einem Dutzend Weiber und mehr zu umgeben, von
denen sie oft gewöhnliche Sklavenarbeit verlangen.
Baldwin's „Al
r. d. Nicht immer sind die ältesten Reste des Menschen-
geschlechtes, die wir nachweisen können, zugleich Zeugen von
ursprünglicher Barbarei des Menschen. Mögen auch die
ältesten Menschen noch so primitiv gehaust haben, die ersten
Spuren in manchen Ländern weisen darauf hin, daß vor
barbarischen oder halbbarbarischen Nationen, welche sie jetzt
bewohnen, civilisirtere vorausgingen, und daß aus diese ein
*) Ancient America; or Notes on AmericanArchaeology. By
John I). Baldwin A. M., Author of „Prehistoric Nations".
Witli Illustrations. New-York, Harper and Brothers 1872.
>s Amerika" *).
Verfall folgte. Eine Regel läßt sich aber nach keiner Seite
hin aufstellen. In Assyrien und Aegypten tritt uns sogleich
eine volle, hoch entwickelte Cultur entgegen und das ägypti-
sche Steinzeitalter („Globus" XIX, 218) ist zum mindesten
problematisch; in beiden Ländern ist dann tiefer Verfall ge-
folgt, den wir historisch nachweisen können. In Griechen-
land deuten die alten Mauern von Mycenä darauf hin, daß
vor der Zeit des Homer der Peloponnes von einem Volke
bewohnt war, dessen Bauten den Zeitgenossen des Homer
geradezu übernatürlich erschienen, dessen Kunde aber schon
zu Homer's Zeiten verschwunden war. Solche Ueberbleibsel,
Baldwin's „
wie diese, deuten auf eine dichte Bevölkerung, einen ausge-
dehnten Ackerbau, eine starke Regierung, die zahlreiche Kräfte
zum Bau vereinigen konnte.
Aber nicht nur in der alten Welt finden wir jüngere
Barbarei gegenüber einer altern Civilisation. Ueber weite
Gebiete, die zur Zeit der Entdeckung Amerikas seit Jahr-
Hunderten von wilden Jägernomaden bewohnt waren, die
höchstens Mais cultivirten, steinerne Pfeilspitzen und Pfeifen
verfertigten, finden wir die Ueberbleibsel eines altern civili-
sirtern Volkes zerstreut. In Aucatan, Mexico, durch ganz
Centralamerika dehnen sich die mächtigen Ruinen aus, die
Ueberbleibsel eines weit stolzern und höher cultivirteru Reichs,
als jenes des Montezuma. Die Azteken im Süden, die
Irokesen und Algonquiner im Norden hatten sich auf den
Grabstätten einer untergegangenen Civilisation nieder-
gelassen, welche sie beide nicht zu würdigen verstanden. Von
allen diesen Denkmälern ist weit weniger bekannt geworden,
als von den Alterthümern der östlichen Halbkugel; die gro-
ßen und theuern bisher existirenden Werke sind den europäi-
schen Lesern nur in Bibliotheken zugänglich, und aus diesem
Grunde ist die an größere Leserkreise sich wendende, alles
Bekannte zusammenfassende Arbeit Baldwin's eine gewiß
willkommene Gabe. Geben' wir kurz deren Gedankengang
wieder.
In allen den zerfallenen Monumenten des alten Amerika
läßt sich eine gewisse Übereinstimmung und Ähnlichkeit
nachweisen, die in vieler Beziehung jedoch nur als eine zu-
fällige betrachtet werden darf. Die namenlosen Aboriginer
im Ohiothale und die Vorgänger wie Nachbarn der Azteken
errichteten nämlich große Erdhügel (Mounds), welche als
Grundlage ihrer Baulichkeiten dienten. Die abgestumpfte
Pyramide ist hier überall die natürliche Basis. Reliquien,
welche in den Mounds, im Norden wie im Süden, gefunden
werden, zeigen an, daß ihre Erbauer Sonnenanbeter wa-
ren, gleich den Peruaner« und den meisten Völkern Central-
amerikas. Aber die bezeichnendste Eigenthümlichkeit der
nördlichen Denkmale fehlt bei den südlichen. Die erstem:
bestehen fast ausschließlich aus Erde, sehr wenige Stein-
mauern und kein einziges Steingebäude findet sich zwischen
ihnen. Die Mounds von Aucatan und Mexico dagegen
dienten nur als Grundlage der Steintempel, Steinthürme,
Steinhäuser. Es ist ein ganz natürlicher Schluß, daß die
sogenannten Erdhügelbauer (Moundbuilders) in Nordamerika
keine Steine benutzten, weil sie hauptfächlich in den weiten
Alluvialebenen der Flüsse wohnten, die von Wäldern bedeckt
waren und in denen man nur fchwierig sich Steine verfchaf-
fen konnte*). Sie hinterließen dafür aber auch Erdwerke,
die kaum ihres Gleichen haben. Man unterscheidet von die-
sen zwei Arten: Hügel (Mounds) und Einfriedigungen (En-
closures). Die ersteren, die meist Pyramidenform, doch auch
andere Gestalten zeigen, haben 2800 Fuß Umfang im höch-
sten Falle und sind 6 bis 90 Fuß hoch, doch im Durchschnitt
nur 30 Fuß. Einige derselben, namentlich in Wisconsin,
sind in der Form von Thieren erbaut. Die Einfriedigun-
gen oder Wälle dagegen sind meist viereckig oder rund, mit
mathematischer Genauigkeit erbaut, was auf großes geome-
trifches Geschick der Erbauer hinweist, und eingehägt von
großen, festen Erdwerken, die wohl als Fortisicationen ge-
dient haben. Man hat Vierecke in Kreise hineingebaut oder
Vierecke in Oblongen gefunden, auch kleinere Quadrate in
größere hineingeschachtelt, aber Alles schön symmetrisch. Die
*) In den Mounds der nach dem mexikanischen Golf bin liegen-
den Gegenden trifft man Spuren von Backsteinen in den Hügeln
und in den Mauern der Nmwallungeu. Anderwärts sind die Steine,
auf welchen der Hügel errichtet wurde, der Oertlichkeit ganz fremd,
also ohne Zweifel weit hergeholt worden. A.
lltes Amerika". 229
Mounds mögen als die Grundlage von Tempeln oder Wacht-
thürmen erbaut worden sein, namentlich zu erstem Zwecke,
da die Erbauer Mond und Sonne verehrten. Die Nieder-
lassungen dieses Volkes scheinen ihren Mittelpunkt im Ohio-
thale gehabt zu haben, doch verbreiteten sie sich auch entlang
dem Mississippi und durch einen großen Theil des Südens
und Nordwestens.
Diese Monndbuilders im Ohiothale müssen ein acker-
bautreibendes Volk gewesen sein, da einzig und allein
der Ackerbau die Existenz eines so dicht beisammenwohnen-
den Volkes ermöglichte; daß dieses Volk aber sehr zahlreich
war, läßt sich eben aus den gewaltigen von ihm aufgeführ-
ten Bauten schließen, die zu ihrer Herstellung vieler Hände
bedurften. Man kann ferner als sicher annehmen, daß das
Regierungssystem dieser Mouudbuilders ein sehr entwickeltes
war; denn ohne eine wohlorganisirte Verwaltung ließen sich
die Menschenmassen nicht sammeln und zusammenhalten,
welche zur Erbauung so großer öffentlicher Werke nothwendig
waren. Wir wissen auch, daß dieses Volk den Bergbau
betrieb, denn Kupfer, von dem eigenthümlichen Charakter,
wie es am Obern See gefunden wird, ist in den Mounds
ausgegraben worden, und ganz bedeutende uralte Bergwerke
lassen sich in jener Kupferregion noch nachweisen, in denen
man auch noch die alten Bergmannsgezähe und die Roll-
walzen auffand, auf denen jenes Volk die schweren Erzmasfen
forttransportirte. Da nun gerade in der Kupferregiou der
Vereinigten Staaten keine Mounds vorkommen, so nimmt
man an, daß das Volk aus dem Ohiothale u. f. w. zu Berg-
Werksexpeditionen nach dem Obern See zog. Aber, wo das
Land weit und breit mit Urwald bedeckt war, wo keine Straßen
existirten, da mußten die herrlich entwickelten Flüsse als Ver-
kehrswege dienen, und dieses führt uns wieder darauf, daß
jene alten Moundbnilders auch die Schifffahrt in weit
ausgedehnterm Maße betrieben haben, als die heutigen In-
dianer. Jedenfalls haben sie größere Schiffe besessen, als
die heutigen Jndianercanoes, dafür liegt ein indirecter Be-
weis vor. Die in den Mounds aufgefundenen vom Obern
See stammenden Kupfererzblöcke sind nämlich theilweise fo groß
und schwer, daß sie in kleinen Fahrzeugen keineswegs bis
ins Ohiothal geschafft werden konnten. Die Moundbnilders
besaßen auch Gerätschaften aus Kupfer und Silber; sie
verstanden sich vortrefflich auf Töpferei und manche der in
.den Einfriedigungen gefundenen Gefäße zeigen künstlerisch
vollendete und schön verzierte Figuren. Daß sie das Weben
verstanden, geht aus den Zeugfetzen hervor, welche man wohl-
erhalten zwischen den alten irdenen Gefäßen fand. Wenn
Baldwin sagt: „sie verstanden vielleicht etwas von Astro-
norme,", so wollen wir hierauf keinen großen Werth legen,
denn der Beweis, den er beibringt, erscheint uns nicht stich-
haltig. Man fand nämlich in einem Mound eine eigen-
thümliche Röhre, „die genau einer Röhre gleicht, welche eine
in Mexico entdeckte Silberfigur vor die Augen hält und da-
mit die Sterne zu beobachten scheint." Das ist uns viel
zu unsicher, um darauf einen Schluß bauen zu können.
Von Schriftzeichen und Sculpturen*) hat man bei den
*) Ich erlaube mir, daraus hinzuweisen, daß ich in meinem Werke
„Nordamerika in geographischen und geschichtlichen Umrissen", Braun-
schweig 1851, S. 290 bis 316, ausführlich über die Hügelerbauer
gesprochen habe. Baldwin ist entschieden im Jrrthnm, wenn er be-
hauptet, daß sie keine Sculpturen gekannt hätten. Gerade diese
erscheinen als die interessantesten unter allen amerikanischen Alter-
thümern und sind in Menge vorhanden. Ich habe S. 311 ff. einen
Pfeifenkopf, drei menschliche Köpfe und einen außerordentlich fein
geschnitzten Papagey abbilden lassen. Diese Sculpturen beweisen,
daß die Hügelerbauer über die ersten Anfänge der Kunst weit hin-
aus waren. Die Zeichnungen sind einfach, aber genau, und das Ver-
hältniß der einzelnen Theile zu einander ist richtig; sie zeugen von
230
Baldwin's „Altes Amerika".
Moundbuilders keine auffinden können, man müßte denn die
sogenannten „Pictured Nocks" dahin rechnen wollen.
So viel steht fest: die Moundbuilders waren ein zahl-
reiches, wohlorganisirtes Volk, das Ackerbau, Bergbau, Schiff-
fahrt trieb und auch in den Künsten nicht ganz unerfahren
war. Aber was ist aus diesem Volke geworden, wo ist es
hingekommen? Sind die heutigen Rothhäute seine gesuu-
keueu Nachkommen? Die Antwort fehlt und in wilde Spe-
culationen mögen wir uns nicht einlassen. Es ist aber jeden-
falls von Interesse zu wissen, und für die Theorie, daß Bar-
batet oft aus die Civilisation folge, nicht ohne Belang, daß
an Stelle der cnltivirten Moundbuilders in Nordamerika
ein Volk trat, welches auf dem Staudpunkte des Volkes der
Kjökkeumöddinger, also auf einer sehr tiefen Stufe.stand.
Die künstlichen Muschelhügel, den dänischen Küchen-
abfüllen entsprechend, sind in ganz Nordamerika und auch in
Südamerika nachgewiesen worden. In Georgia, Neujersey,
Massachusetts, Neufundland, Neuschottland, Florida, Cali-
formen sind sie häufig. Sie
rühren entschieden von den
Vorfahren der jetzigen Roth-
häute her und datiren nur
aus weit späterer Zeit als
die Kjökkenmöddinger, zu de-
nen sie übrigens einen voll-
ständigen Paralleliömus bil-
den. Die Untersuchungen,
welche C. Ran in Nenyork
über die Muschelhügel von
Keyport an der Raritanbai
(Neujersey) angestellt hat,
lassen die angeführten That-
fachen außer allem Zweifel.
Er fand bei dieser Stadt an
einem durch Generationen
von den Indianern als La-
gerplatz benutzten Orte die
Schalen der amerikanischen
Auster (Ostrea borealis)
uud der Venus mercenaria
über eine Fläche von 6 bis
7 Acker ausgedehnt, meist in
langgestreckten 5 Fuß hohen
und bis 8 Fuß in den Bo-
den reichenden Haufen. Indianische Steinwerkzeuge aus
„Beim Durchsuchen der Fig. I und 2 Tomahawks. Fig.
Muschelhaufen," schreibt
Ran, „fand ich mehr wie 300 Gegenstände indianischer In-
dustrie, bestehend in steinernen Aexten, Pfeil- und Lanzenspitzen,
sehr genauer Beobachtung, die Natur wird möglichst treu wieder-
gegeben uud die Ausführung, welche nichts zu wünschen übrig läßt,
ist um so bewundernswürdiger, da jene Bildschnitzer nur über sehr
mangelhafte Werkzeuge verfügten. Aus deu Darstellungen des mensch-
lichen Hauptes ersieht man, daß die Hügelerbauer ihr Gesicht tätto-
Wirten, Ringe in den Ohren und Perlenbänder um den Kops tru-
gen. Diese Art des Stirnschmuckes deutet auf irgend eine Weise
nach Merico; nach Süden deuten gleichfalls die Darstellungen des
Manati (Seekuh, Lamantin), deren man in den Hügeln am Ohio
nicht weniger als sieben gefunden hat. Dieses Seethier kommt nach
Norden hin nur bis au die Küsten von Florida und auch hier nicht
häufig vor, dagegen sehr häufig bei den Antillen. Die im Gebiete
der heutigen Vereinigten Staaten lebenden Vierfüßer und Vögel,
z. B. Biber, Otter, Luchs, der Kopf des Elen, Reiher, Gans, Ente,
Schlangen, Kröten, sind in einer großen Menge so außerordentlich
schöner Darstellungen vorhanden, daß sie sich, wieSquier und Da-
wis betonen, „mit den hübschesten Bronzearbeiten unserer Tage mes-
sen können." Die Künstler müssen eine unendlich mühselige Arbeit
gehabt haben, mau sieht es den Sculptureu an, daß sie ihre Gestalt
zum großen Theil durch Reibung mit einem Sandpulver erhielte»;
Schneidewerkzeugen und vielen Bruchstücken von Thongefäßen.
Die „ Tomahawks", welche aus Grünstein und Sandstein be-
stehen, haben die gewöhnliche Gestalt dieser Werkzeuge, nämlich
diejenige eines Keils mit ringsherum laufender Vertiefung,
welche das Anbringen eines Griffes erleichterte. Das Ma-
terial der Pfeil- und Lauzenfpitzen ist entweder Hornstein,
Jaspis, gewöhnlicher Quarz, Grünstein oder eine Art von
duukelm Schiefer. — Eine der von mir aufgelesenen Pfeil-
spitzen ist aus durchsichtigem Bergkrystall angefertigt. Wäh-
rend meiner Durchsuchung dieses Muschelbettes gelangte ich
zu der Ueberzeuguug, daß hier an Ort und Stelle Pfeil-
spitzen verfertigt wurden, denn ich bemerkte nicht nur zahl-
lose scharskantige Hornsteinabfälle zwischen den Muscheln und
Geschieben, sondern fand auch etwa ein Dutzend halbfertige
Pfeilspitzen, welche wegen eines verkehrten Sprunges oder
eines sonstigen Fehlers des Materials bei Seite geworfen
wurden. — Die von mir gesammelten Bruchstücke von
Thongesäßen bestehen aus einem dunkeln Thone, der ent-
weder mit grobem Sande ge-
mischt oder rein ist. Die
Gefäße müssen von außer-
ordentlich rohem und primi-
tivem Charakter gewesen sein,
nnglasirt, wie alle Töpfer-
waaren der nordamerikani-
fchen Indianer und ganz ober-
flächlich gebrannt."
Wenden wir uns nun
noch kurz zu den oft geschil-
derten nnttelamerikauischen
und mexicanischen Alterthü-
mern. Die Ueberbleibsel in
diesen Ländern lassen sich in
zwei scharf getrennte Abthei-
lungen bringen: die alten,
eine höhere Civilisation an-
zeigenden Denkmäler, die be-
reits in Ruinen lagen, als
die Spanier ins Land kamen,
und die von den Azteken,
Quiches und anderen noch
heute existirenden Racen her-
rührenden weit jüngeren
Bauten. Die letzteren fallen
in die historische Zeit und
müssen hier übergangen wer-
den; aber die alten in Rui-
nen liegenden Schlösser, Tempel und Städte, welche, als
die Conquistadoreu landeten, bereits mit Wald überwachsen
die feineren Linien wurden mit scharfen Werkzeugen gezogen und ein-
geschnitten. Viele Figuren bestehen aus rothem Porphyr von einer
solchen Härte, daß sich auf demselben das beste Stahlmesser umbiegt.
Alles wohl erwogen, stellt sich Folgendes heraus: Die Mound-
builders waren in dem weiten Gebiete von Wisconsin im Norden
bis nach Florida im Süden heimisch; sie bildeten eine gleichartige
Bevölkerung, wohnten als Ackerbauer in dichten Gruppen neben ein-
ander, kannten Silber, Kupfer und Blei. Sie verstanden sich aus
die Sculptur, waren geschickte Töpfer, kannten und genossen Salz,
baueten mit großem Geschicke Festungswerke und hatten einen ziemlich
ausgebildeten religiösen Cultus. Aber sie waren nicht etwa auf
einerhohenCivilisationsstusea nge langt, standen vielmehr weit
hinter jener der Mericaner und Peruaner zurück. Ihr Ackerbau mnß
primitiv geblieben sein, denn sie besaßen keine Lasttbiere; sie verstan-
den nicht einmal das Metall zu schmelzen, hatten keine Töpserschei-
ben und zumeist auch keine Backsteine; sie verstanden nicht, massive
Bauwerke aufzuführen oder Steine zu behauen. Sie waren mehr
oder weniger Halbbarbaren, mit Ansätzen zu einer Civilisation, aber
sie haben allerdings weit über den heutigen Jndianerstämmen sowohl
der Wald- wie der Prairieregion gestanden. A.
dein Muschelbette von Keyport.
3 bis 7 Pfeil- und Lanzenspitzen.
H. Jastram: Ein Stück hau
waren, die einem Volke angehören, welches den Azteken
voranging, gehören in den Rahmen der Betrachtung Bald-
win's. Die Ruinen von Palen que werden von den
Alterthumsforschern einer Periode zugeschrieben, welche noch
Jahrhunderte vor der christlichen Aera liegt, und es ist nicht
nur möglich, sondern auch wahrscheinlich, daß die Stadt
Jahrhunderte lang stand, eheste zerstört wurde. Das Mauer-
werk, die Verzierungen, Scnlptureu und Mosaiken dieser
Ruinen sind weit kunstvoller und schöner als Alles, was die
späteren indianischen Bewohner des Landes zu schaffen ver-
mochten. Wo später in oder neben den alten Ruinen ein
neueres Haus errichtet wurde, da zeigt sich sofort der große
Unterschied in der Festigkeit und der Schönheit des Baues,
so daß kaum ein Zweifel bleiben kann, daß hier zwei ganz
verschiedene Völker bauten. In Ceutralamerika also wie in
Nordamerika stoßen wir auf die Reste einer alten Civilisatiou,
an welche die Erinnerung völlig erloschen ist. Die Jnschris-
ten auf den mittelamerikanischen Alterthümern werden viel-
leicht noch einmal, wenn sie entziffert werden können, Licht
über deren Geschichte verbreiten, was aber die Moundbuilders
betrifft, so dürfen wir in Bezug auf diese dasselbe kaum je-
mals hoffen.
Was noch das Alter der Mounds anbetrifft, so hat
man, da alle historischen AnHaltepunkte fehlen, aus Physi-
Mischen Verhältnissen auf deren Entstehungszeit zu schließen
versucht. Die Gegend, in welcher sie liegen, war oder ist
völlig mit Urwald überwachsen uud, wie Ueberreste von Bäu-
men, hohe Lagen von Humus aus verrottetem Holze u. s. w.
beweisen, ist mehr als eine Generation uralter Riesenbäume
über die alten Mounds und Einfriedigungen hingegangen.
Man schätzt danach einen Zeitraum von 8 bis 10 Jahr-
Hunderten. Skelette, die man in trockenen Lagen in den
'verschen Landes an der Elbe. 231
Mounds saud, zerbröckelten im Momente ihrer Aussinduug,
und kaum ein einziger Schädel ist aus ihnen in dem guten
Zustande der Erhaltung ausgegraben worden, wie die zahl-
reichen in Europa aufgefundenen alten Grabschädel, von
denen doch viele nachweisbar 2000 Jahre und darüber alt
sind. Man mag daraus schließen, daß die Skelette in den
Mounds schon vor mehr als 2000 Jahren beigesetzt wur-
den. Einiges Licht verbreitet auch über das Alter
der Mounds die Veränderung, welcher die Physi-
kalische Beschaffenheit des Landes unterworfen
war. Einige der Werke des alten Volks sind von Strömen
zerstört worden, die jetzt in einer Entfernung von einer Vier-
telstunde von denselben fließen. Die Moundbuilders waren
nämlich fast allein in den Thälern der größeren Flüsse und
an deren Nebenflüssen angesiedelt. Die Ströme aber haben
entlang ihrem Laufe Verschiedeue auf einander folgende, durch
die Fluth veraulaßte Terrassen hinterlassen, je nachdem sie
tieser und tiefer ihr Bett in den Boden einwühlten. Jede
Terrasse aber zeigt einen langen, langen Zeitraum an und
die letzte derselben muß, so bemerkt Baldwin, am jüngsten
sein, am meisten Zeit zu ihrer Bildung erfordert haben.
Aber gerade diese letzte Terrasse ist bei allen amerikanischen
Strömen frei von den Werken der Moundbuilders! Ist es
richtig, zu schließen, daß sie zu deren Zeit noch nicht vorhan-
den war, so rücken die Mounds damit in eine ungeheuer ferne
Zeit zurück, da sie nur auf den alten, vor Urzeiten vom
Flusse gebildeten Terrassen stehen. In welches Alter wird
damit aber die untergegangene nordamerikanische Civilisation
verrückt! Sie war vielleicht schon zu Grunde gegangen,
als Europa noch im Zeitalter der Kjökkeumöddinger und
anderer eine niedrige Culturstufe beweisender Alterthümer
stand.
Aus deutschen Landschaften.
3. Ein Stü ck hannoverschen Laitde3 an der Elbe.
Von H. Jastram.
Gestatten Sie mir, Ihre Leser in einen fernen, entlege-
nen „Winkel" meiner Heimathsprovinz zu führen, den wohl
noch kein Tourist aufsuchte und der wenig gekannt ist, aber
dennoch einige Beachtung verdient. Es ist das Amt Neu-
Haus im Laueuburgischen. Schon der Name deutet an,
daß es früher zu dem Herzogthume Lauenburg gehörte.
Dieses stand anfangs unter den sächsischen Herzögen aus
Billung's Stamme, kam aber nach dem Tode des Herzogs
Magnus 1106 durch dessen Tochter Wulfhilde an Herzog
Heinrich den Schwarzen von Baiern uud 1230 an Albrecht
den Ersten, Herzog von Sachsen, aus askanischem Stamme.
Im Jahre 1687 erhoben sich bei dem Tode des Herzogs
Franz Julius, des Letzten seines Stammes, Ansprüche
auf das Land von Seiten Sachsens, Braunschweigs, Hol-
steins, Schwedens und selbst des Kaisers; doch behielten Kur-
sachsen und Brauuschweig-Celle das Uebergewicht, und beide
verglichen sich 1697 dahin, daß der Herzog von Braun-
schweig-Celle und Kurfürst von Hannover Lauenburg erhielt
gegen Zahlung einer Summe von 110,000 Gulden an
Sachsen, welches nach dem Abgange des ganzen Hauses
Brauuschweig-Lüueburg folgen sollte. Auch der Titel eines
Herzogs von Westfalen und Engern wurde bei dieser Gele-
genheit erworben. Jedoch erst im Jahre 1716 erhielt Georg
der Erste von Brannschweig-Lüneburg die kaiserliche Beleh-
nung über Lauenburg, welches 1803 mit den übrigen han-
noverschen Landen unter französische Herrschaft kam und uu-
ter derselben bis 1813 verblieb. Im Congreß zu Wien
wurde es, mit Ausschluß eines kleinen Theils, an Preußen
gegeben, von dem es an Dänemark überlassen wurde für
Vorpommern, das Schweden als Aequivaleut für das erhal-
teue Norwegen an die dänische Krone abgetreten hatte. Zu
dem bei Hannover verbliebenen Theile gehörte namentlich
auch das überelbische Amt Neuhaus, der Lauddrostei Lüne-
bürg später unterstellt.
Neuhaus ist an der Südwestseite von der Elbe begrenzt,
sonst aber ganz von Mecklenburg umschlossen. Doch liegen
auch noch einige altlüneburgische Dörfer auf dem rechten
Elbufer innerhalb des Amtes Neuhaus. Diese gehörten den
Aemtern Bleckede uud Hitzacker an, wurden aber bei der
v. Borries'schen Umgestaltung der Aemterversassung in den
fünfziger Jahren dem Amte Neuhaus zugewiesen.
Im Westen ist dies Amt durch die Elbe begrenzt. Diese
232 H. Jastram: Ein Stück ha?
berührt das Hannoversche zuerst bei Schnackenburg, und
zwar als „mächtiger, schiffetragender Strom". Ihr linkes
Ufer ist von Schnackenburg bis Hitzacker, wo die Jeetzel
in sie mündet, von fetter Marsch begrenzt. Unterhalb
Hitzacker wird es anders, denn von hier bis nach Bleckede
stößt der östlichste Theil der Lüneburger Heide mit seinen Hü-
geln an die Elbe. Die meist kahlen, nackten „Berge"
spiegeln sich in eigenthümlicher Weise in den blauen Fluthen
der Elbe, und man hat von einzelnen derselben, die sich
höher erheben, eine reizende Fernsicht. Hierzu gehören
namentlich der „Weinberg" bei Hitzacker, und der „Kniep-
berg", I V2 Stunde nordwestlich davon. Ersterer soll sei-
nen Namen von den früheren vergeblichen Versuchen des
Weinbaus führen. An seinem Fuße steht eine uralte Linde
mit weithinausragenden Aesten. Sie beschattet einen Raum
von vielleicht 40 Fuß Breite. Der „Kniepberg" erhebt sich
steil und abschüssig am Elbufer und ist im Volksmunde als
Wetterscheide bekannt, denn „er läßt die Gewitter nicht über
die Elbe kommen". In seinem Innern birgt er nach der
Sage eine goldene Wiege, die noch kein Glücklicher gehoben
hat. Einmal gelang beinahe der Versuch, doch wurde er
noch im letzten Augenblick durch die Arglist des „Bösen"
vereitelt.
Von Bleckede an ist das linke Elbufer wieder flach und
muß durch stärkere Dämme geschützt werden. Das rechte
Elbufer innerhalb unsers Amtes ist durch mächtige Deiche
schon lange gegen das trügerische Element gewahrt. Die
erste Anlegung derselben wird den aus den Niederlanden her-
gezogenen Colonisten (vor etwa 700 Jahren) zugeschrieben,
welche sich auch um die Viehzucht bedeutende Verdienste er-
worben haben sollen. Diese Dämme erstrecken sich von
Wehningen an bis zur Mündung der Elbe. Die durch-
schnittliche Höhe beträgt im Amte Neuhaus 20 Fuß, die
obere Breite 10 bis 15 Fuß, die untere vielleicht 40 bis 80
Fuß. Der Deich nähert sich der Elbe zuweilen bis auf
einige Fuß, zuweilen entfernt er sich aus 5 bis 8 Minuten
von derselben. Der Raum zwischen Deich uud Elbe besteht
aus Werdern, Weiden und Wiesen. Die Werder sind große
Plantagen von Weidenbüschen und -Stämmen, welche nicht
nur zum Verkauf für Korbmacher und für Dachdecker einen
bedeutenden Ertrag liefern (— stehen doch die königlichen
Werder unter eigenen Beamten, „Buschpänder" vom Volke
genannt —), sondern auch das Material für Strombau-
ten („Stacke") und zum Brennen geben. An Bau- und
Brennholz fehlt es an der Elbe, uud da ist denn die Weide,
welche hier so recht in ihrem Elemente lebt, ein Gegen-
stand sorglicher Pflege. Ein solches Werder macht auf den
Wanderer, der es durchschreitet, einen gar melancholischen
Eindruck. Weiden, Weiden und abermals Weiden — das ist
Alles, was er sieht, wenn nicht die „Schnaken" (eine große
Mückenart), welche hier vorzugsweise hausen, ihn gar em-
pfindlich aus seinen Träumereien aufstören. Nun, er muß
die Pfeife „mit kräftigem Taback" nicht vergessen; dann um-
spielen sie ihn nur in ehrerbietiger Entfernung. Im Schat-
teu einer Weide erblickt man auch wohl einen vereinsamten
Angler oder ein Kahn rauscht durch das Wasser, um aus
dem Werder von einer sonst unzugänglichen Stelle Gras
zu holen oder die Netze in der Elbe nachzusehen. Lie-
sert doch diese den Fischern einen reichen Ertrag! Wird
doch das „Hüfatt" oft ganz mit Fischen gefüllt. — „Hü-
fatt"? — nun, das ist ein hölzerner Kasten, der zur Auf-
bewahruug der Fische dient, mit denen gefüllt er ins Was-
ser gesetzt wird. Er ist mit Löchern versehen, so daß die
Gefangenen im Genüsse ihres Elementes bleiben. Doch wir
verlassen das Werder und betreten die setten Wiesen und
Weiden, — Ackerland liegt nur wenig zwischen Elbe und
overschen Landes an der Elbe.
Deich —, die dem Vieh sein Futter geben. Ist doch der
Boden ein fetter und empfängt er doch alljährlich seine Dün-
gnng durch die Elbe selbst, wie Aegyptens Fluren durch den
Nil!
Der Deich ist für das ebene Marschland eine nicht üble
Abwechselung. Er dient als Landstraße für Wagen und
Fußgänger. Da er höher ist, als das Land, so bietet er
eine trockene „Passage", und man vermeidet bei nassem
Wetter gern die feuchten Wiesen und die grundlosen Wege,
welche nur mit „Kniestiefeln" zu Passiren sind. An der rech-
ten Seite des Dammes liegt eine lange Reihe von „Marsch-
dörsern", die alle denselben Typus haben. Das ganze Dorf
streckt sich mit wenigen Ausnahmen am Deiche entlang.
Am letztern liegt das alte sächsische Haus mit Strohdach, sel-
ten mit Ziegeln, die Wohnräume sind von einem Blumen-
und Obstgarten umgeben, dessen Bäume oft zu sehr die Fenster
verdüstern. Auf dem Dache thront gravitätisch der Storch.
Die „große Diele" mit der „großen Thür" — manchen
Lesern ist ja die Einrichtung des Sachsenhauses bekannt —
ist dem Hofe zugewandt, der hinter dem Hanse und Garten
liegt umgeben von Scheunen und Speicher.
So gewährt ein solches Dorf vom Deiche aus einen net-
ten Anblick, besonders wenn im Frühjahr die Bäume im
Blüthenfchmucke prangen oder im Herbste das Obst uns ent-
gegenlacht. Da bleibt der Wanderer stehen und wundert
sich, wie doch auch solch ein Dorf so übel nicht sei. Aber,
lieber Wanderer, sei auf Deiner Hut! Des Dorfes Wächter,
„Waffer, Schüteu, Netter, Wittfoot, Wiedu :c.", eilen her-
bei und umkreisen Dich mit wüthendem Gebelle. Ja, da
muß man schon einen derben „Heister" in der Hand haben,
um sich zu schützen.
Verlassen wir das Dorf, so sehen wir rechts nur die
Ebene, die fette Marsch, in welcher der herrliche Gottessegen
prangt: Klee, Weizen, Raps, wir sehen auch grüne Wie-
sen. Ist doch der Boden so schwer, daß der Pflug mit 4
bis 6 Pferden bespannt werden muß! Die sämmtlichen
„Stücken Land", die einzelnen Aecker, sind durch breite Grä-
ben getrennt, welche behufs der höchst mangelhaften Ent-
Wässerung angelegt sind. Hier und da stehen vereinzelte
Bäume oder Weidenhecken. Lustig tummelt sich das bunte
Vieh umher, vom Dorfhirten oder Hütejungen bewacht, den
„Wasser" zurSeite. Ja, solch einHütejunge — die Söhne
der reichsten Bauern müssen das Vieh des Vaters weiden —
muß es lernen, Wind und Wetter zu trotzen. Bei Sturm
und Regen wickelt er sich fest in seinen „Sack" und sucht
einen schützenden Baum, eine Hecke auf, oder er hat sich gar
eine Hütte von „Wasen" erbaut. Doch hat er auch der
Freuden viel. Die Weidenbäume liefern ein unerschöpfliches
Material zu Schiffen, Körben, Flöten :c. Im Frühjahre
werden Kibitzeier gesucht; im Sommer singt die Lerche oder
der Storch macht seinen Besuch. Im Herbste werden Kar-
tosseln gebraten. Daneben giebt es eine wilde Jagd über
alle Gräben. Wenn nur der „Bauer" nicht sieht, daß die
Kühe am Weizen gewesen sind! Bald wird auch das Ves-
perbrot verzehrt und dann der Katechismus hervorgeholt,
denn der gestrenge Herr Schulmeister wird böse, wenn die
Lection nicht ganz gut gelernt worden ist. Kann man aber
mal auf „Nawers Perd" heimreiteu oder gilt es, die eige-
neu Pferde von der Weide zu holen, dann hat die Lust ihren
höchsten Grad erreicht. Hier und da winkt auch auf den
„Bracken" geheimnißvoll eine „Mummel", die gepflückt wird,
auf die Gefahr hin, daß Stiefeln, Hosen und Strümpfe
die Spuren des Einsinkens daheim verrathen.
Die Bracken! Ja, da erwachen alte, traurige Eriu-
nernngen von Deichbrüchen und Überschwemmungen. Da,
wo die Bracken sind, — große teigartige Wassertümpel
H. Jastram: Ein Stück han
mit Binsen, Teichrosen nnd Fröschen, — dort war frü-
her auch ein fettes Stück Land; aber die Elbe durchbrach
den Damm und hinterließ als unheimliches Denkmal die
Bracke, die der Deich im weiten Bogen umzieht. Die Elbe
liegt im Sommer so ruhig da, belebt von Möven, Schif-
fen, Dampfern u. f. w., aber wenn die Stürme brausen,
dann hat schon der „Fährmann" seine Noth mit dem „Ueber-
holen" der Wanderer, dann ist die Elbe wild und erregt.
Doch einen ganz andern Eindruck macht sie noch, wenn Eis-
gang ist und dicke Schollen die stärksten Bäume wie Gras-
Halme knicken oder das Ufer und den Deich aufwühlen. Da-
zu kommt noch das „große Wasser", wenn in den Mit-
telgebirgen Deutschlands im Frühjahr der Schnee schmilzt.
Dann steigt das Wasser bis zu 20 Fuß über Null und steht
oft auch eben so viel höher, als das Niveau des Landes, das
hinter dem Deiche liegt. Die Breite der Elbe beträgt dann
stellenweise über eine Viertelstunde. „Die Elemente hassen
das Gebild der Menschenhand." Kann die durch den Deich
eingeengte Wassermasse irgendwo „Luft bekommen", so durch-
bricht sie den Damm, vergrößert mit furchtbarem Druck das
„Loch" und übersluthet Alles. Deshalb ist das Hochwasser
für den „Märscher" eine sorgenvolle Zeit. Zwar süh-
reu „der Deichvogt" und der Schulze scharfe Aufsicht, daß
im Sommer alle Schäden gebessert werden und der Deich
immer mehr verstärkt wird, aber fast jedes Jahrzehnt
weiß von Deichbrüchen zu erzählen. Es gilt also, scharfe
„Wacht" zu halten. Ist Noth am Mann, so wird das ge-
saminte männliche Personal der Marschdörfer aufgeboten,
dieses auch oft durch die weiter zurück liegenden Dörfer ver-
stärkt. Patrouillen gehen fortwährend anf dem Deiche auf
und ab, ihre Wachsamkeit durch Hornsignale docnmentirend.
Des Nachts führen sie Laternen bei sich. An den gefährlich-
sten Stellen liegt eine Masse von Sandsäcken, Pfählen, „Flä-
ken" (Geflechte aus Weiden in Form rechteckiger Platten) und
Dünger, um gleich jedes entstehende Loch verstopfen zu köu-
nen. Ist die Gefahr vorüber, so athmet man erleichtert aus.
Eigentümlich ist es, daß, mit Ausnahme von Wasnn-
gen, die Marschdörfer im Amte Neuhaus keine Kirchen be-
sitzen. Sie sind entweder in den weiter nach Osten gelege-
nen Mitteldörfern eingepfarrt oder zu Kirchspielen, die ihre
Kirche jenseits der Elbe haben. Obwohl für Taufen, Tramm-
gen, Consirmandeubesuch:c. hieraus große Unzuträglichkei-
ten erwachsen, ist doch bis jetzt an keine Aenderung gedacht
worden. Doch sieht man sonntäglich ganze Schaaren von
Kirchgängern über die Elbe fahren.
Parallel mit der Elbe fließen zwei Arme der aus Meck-
lenburg kommenden Regnitz'. Diese theilt sich nämlich hin-
ter Tripkau an der Grenze der Provinz Hannover in die
Krainke (sprich Krähnke) und die Sude. Die erstere
durchfließt das Amt Neuhaus in der Mitte, die letztere an
der Ostseite. Beide vereinigen sich unten im Amte mit der
eigentlichen Sude, welche gleichfalls aus Mecklenburg kommt
und weiter unten bei Schwarzenwaffer in die Elbe mündet.
Die Krainke ist jetzt seicht und trübe, nachdem sie von dem
Quellslusse Regnitz in den vierziger Jahren durch eine Schleuse
abgesperrt wird, weshalb auch die Wassermühle zu Tripkau
abgebrochen wurde. (Das Amt Neuhaus ist meines Wissens
nur aus Windmühlen angewiesen.) An beiden Seiten' der
Krainke findet sich eine große Masse Seen und Weiher, die
sehr fischreich sind. Ein besonderes Vergnügen ist hier das
„Fischblenden". Ein Kahn, mit etwa drei Leuten bemannt,
durchschneidet geräuschlos die Wellen. Auf einer Pfanne
brennt vorn am Schnabel ein Kienfeuer. (Unter „Kien"
versteht man harzreiche Kiefernstückchen.) Mit einem Nep-
overschen Landes an der Elbe. 233
tunsspeer werden die arglosen Bewohner der Tiefe, welche
sich verwundert die Helle anschauen, erlegt.
Der Boden an beiden Seiten der Krainke ist theils sum-
psig, weshalb Erle und Mummel hier ihre Residenz ausge-
schlagen haben, theils ein Gemisch von Marsch, Lehm und
Sand, „Kleiboden" genannt. Diesem Flüßchen entlang liegt
eine ganze Reihe von Dörfern, die sogenannten „Sand-
dörser". Diese Reihe läuft parallel mit den Marschdör-
fern; doch haben die Sanddörfer einen wesentlich andern
Charakter. Die Häuser liegen bunt grnppirt durch einander,
nicht in einer Reihe, und die Dörfer sind im Allgemeinen
bedeutend größer als jene in der Marsch. Auch der Flecken
nnd Amtsort Neuhaus liegt an der Krainke. Hier wie in
den Dörfern Tripkau, Caarßen und Stapel befinden sich
Kirchen, denen die meisten Marsch-, die anderen Sand- und
die nachher zu erwähnenden Moordörfer eingepfarrt sind.
Parallel mit Krainke uud Sude und zwischen beiden
länst eine Reihe von Sandhügeln, welche als westlichste
Ausläufer des uralisch-baltischen Landrückens, aus dem nahen
Mecklenburg herüberkommend, anzusehen sind, so daß an die-
ser Stelle die genannte Erhebung sich dem uralisch-karpathi-
scheu Landrücken, der die östlichen Ausläufer zwischen Hitz-
acker und Bleckede an die Westseite der Elbe entsendet, wie
schon gesagt, sehr, vielleicht am meisten nähert. Diese Sand-
berge haben freilich ganz das Ansehen von Dünen und beste-
hen aus scharfem Flugsand, aber durch einen Kiefern- und
Tannenwald, der 4 bis 5 Stunden lang und eine halbe bis
anderthalb Stunden breit ist, verlieren sie viel von ihrer
Oede. Dieser Wald bietet nicht nur den Anwohnern und
dem Fiscus durch Bau- und Brennholz-Gewinnung reichen
Ertrag, er ist auch der Tummelplatz der Dorsjugend, die
gar gern hier verweilt. Sind doch Füchse, Goldhähnchen,
Pirole :c. nichts Seltenes in ihm. Die östliche Seite der
Sandberge geht in eine fruchtbare Niederung über, nament-
lich uuweit Stapel und Neuhaus, wo der stundenlange
„Rang" bedeutende Eichenbestände auszuweisen hat. In
einer lieblichen Eichenwaldung bei Neuhaus, „Rosengarten"
genannt, wird alljährlich das Neuhäuser Schützenfest abge-
halten, welches sich eines weitverbreiteten Rufes erfreut,
und nicht selten sogar von Hamburgern besucht wird.
Oestlich von den Sandbergen, an der Sude, ist der Bo-
den sumpfig, die reichen Torfmoore liefern eine bedeutende
Ausbeute. Hier liegt die Reihe der „Moordörfer", mit
den Marsch- und Sanddörfern parallel laufend. Unter den
ersteren war früher Laave ein unansehnlicher, räucheriger
Ort. Bei der Verkoppeluug ist er nach westfälischer Art
weit aus einander gebaut, fo daß jeder Bauer aus seinem
Grund und Boden „sitzt" und Wald, Land, Wiese und
Moor beisammen hat. Das alte Laave, wo nach einem
derben Witze „die Leute nur von Torf und dicker Milch"
lebten, ist einer sreundlichen Colonie gewichen.
Unser Terrain ist in seiner eigentümlichen Vereinigung
von Elbe, Krainke und Sude, vou Marsch, Sand und
Moor, sowie durch die große Annäherung der beiden Land-
rücken in geographischer Beziehung doch ein interessantes.
Warum soll der „Globus" sich nicht auch einmal mit einer
weniger bekannten Ecke Hannovers beschäftigen und fo zur
Mehrung der Kuude des Vaterlandes beitragen?
Ich könnte nun noch Mancherlei erzählenvon dem ein-
fachen patriarchalischen Leben der Bewohner, von alten Sagen,
die hier nachklingen aus ferner Heidenzeit, wie aus den Kämpfen
der Germanen und Slaven, aus dem dreißigjährigen Kriege,
wie von Erinnerungen „vom Kofacken und Franzosen" :c.,
aber das muß ich mir für einen fpätern Bericht vorbehalten.
Glvbuö XXII. Nr. 15. (October 1872.)
30
234
Bernhard Flemming: Wanderungen in Ecuador.
Wanderungen
Von Bernhard
1. Guayaquil und Babahoyo.
Ecuador, von demselben Flächeninhalt wie Deutschland,
ist Gebirgsland und läßt an großartigen Dimensionen seiner
Berge und Thäler unsere Alpenländer und selbst die Nach-
barrepubliken Peru und Neugranada (Colombia) hinter sich
zurück. Es wird darin nur von den Hochgebirgen Asiens
übertroffen. Wie letztere ist es arm an Seen, welche der
Schweiz und Tirol fo großen Zauber verleihen, an mttchti-
gen, wild über Granit- und Porphyrblöcke stürmenden Ge-
birgsströmen überreich.
Wenn Einige bei den Andes eine Vielseitigkeit der land-
schaftlichen Scencrie vermissen, wie zum Beispiel die Schweiz
sie bietet, so kann man von den Thälern der Flüsse Mira,
Daule und Esmeraldas das Gegentheil behaupten, indem
dieselben großartige und liebliche Fernsichten gestatten. Beim
Flecken Esmeraldas selbst schweift der Blick über Zucker-
rohr- und Tabacksselder, Bananen- und Kokoswaldungen,
Cacao- und Kaffeeplantagen mit ihren so verschiedenartigen
Formen und Färbungen bis zum vielgestaltigen Hochgebirge
hin, das wieder von den Schneepyramiden des Jllinisa über-
ragt wird.
Die Andes durchziehen die Republik von Südsüdwest
nach Nordnordost in parallelen Cordilleras (Ketten). Die
Gebirgsknoten von Savanilla, Assuay, Chisinche und Huaca
bestimmen und begrenzen die drei Hochplateaus, welche noch
in kleinere Becken zerfallen. Hier ist ein Culturleben ent-
wickelt, das der Reisende nicht ahnt, der von den spärlich
cultivirten West- oder ganz wilden Ostabhängen aus sich
einen Weg ins Innere bahnt. Selbst Guayaquil, der
einzige ordentliche Hafen mit seinen 20,000 Einwohnern
und seinen zum großen Theil ärmlichen Wohnungen, ent-
spricht dem Fortschritte nicht, den man landeinwärts in vie-
len Flecken, Städtchen und dem 80,000 Einwohner zählen-
den Quito findet.
Diese drei Plateaus, aus denen Alles erzeugt wird, was
bei uns in Deutschland gedeiht, haben alle Annehmlichkeiten
unseres Frühjahrs und Sommers, wenig Regen und keinen
Winter. Nur aus dem etwa 15,000 Fuß hohen Passe des
Chimborazo wird der Reisende zuweilen durch etwas Hagel
und Schneefall und heftige kalte Winde zu seinem Erstaunen
gewahr, daß man auch in Tropenländern vor Frost zittern
kann, nachdem man einen Tag zuvor unter Orangenbäumen
geritten ist.
Nach der Südsee zu drängen sich übervolle Ströme, bald
in Cascaden und Stromschnellen, bald geräuschlos aber rei-
ßend zwischen breiten Usern dahineilend, an dem nndurch-
dringlichen grünenden Chaos des Urwaldes vorüber, der
durch die absonderlichen Stimmen seiner Bewohner uud dauu
wieder durch feierliches Schweigen aufs Neue anziehend wirkt.
Je näher der Küste, um so mehr sieht man Spuren von
Cultur. Pflanzungen, Hütten und, wo durch den Andrang
der Meeresfluth das Flußwasser salzig wird, ganze Waldun-
gen von Kokospalmen. Den Abschluß gegen die See bilden
bald hohe Felsen von jüngerm Sandstein und Sedimentär-
gebilden, bald Mangrovewälder, die mit ihren abenteuerlichen
Wurzeln in die flache See hinausgewandert scheinen, um
hier im Verein mit dem Detritus der Flüsse, der sich zwi-
in Ecuador.
Flemming.
scheu ihnen absetzt, neues Land zu bilden. Von ihnen stürzt
Generation auf Generation zusammen, uud es entsteht ein
brauchbarer, vor der höchsten Flnth sicherer Boden, der ge-
wöhnlich vom Tabacksbauer zuerst ausgebeutet wird. Be-
sonders überraschend wirkt die Küstenscenerie, wenn man
Peru verlassen hat. Gestern noch auf der Rhede von Paita
mit seinen gelbbraunen Uferwänden ohne jede Spur von
Vegetation, — heute aus dem gewaltigen, im Sonnenlichte
blitzenden Rio Guayaquil, der dem Mississippi an Breite
wenig nachgiebt, an rascher Strömung ihn übertrifft. Am
Horizonte bezeichnen Mangrovebüfche die Ufer.
Die Fahrstraße auf See führt an Tumbez mit seinen
Erdölquelleu, der dichtbewaldeten Felseninsel Puua und dem
Estero von Jambeli vorüber. Hier war es, wo der jetzige
Präsident Garcia Moreno mit einem geborgten britischen
Handelsdampfer den einzig brauchbaren, in den Händen einer
kläglichen Revolutionspartei befindlichen Kriegsdampfer der
Republik in den Grund rannte. Das arme Land hatte das
Schiff kurz vorher dreimal zu theuer gekauft. Es war ein
Mittel wie das Niederbrennen jenes Hauses, um das Uuge-
zieser zu vertilgen.
Am Fuße der Sierra de Ehougon steigen die Thürme
Gnayaquils auf; die Ufer nähern sich ein wenig und die
Masten verschiedener Kauffahrer werden sichtbar. Canoes
in gefälligen Formen, aus einem Banmstamme zierlich ge-
arbeitet oder aus Stücken zusammengesetzt, Balsas, d. h.
schwimmende Häuser auf Flößen, die den Cacao von höher
gelegenen Pflanzungen bringen, liegen am Ufer. Unser
Dampfer geht gegenüber dem Malecon vor Anker. — Das
Leben und Treiben des Hafens ist hier wie anderswo, nur
daß weiße Gesichter in der Minderzahl sind. Cholos, Mu-
latteu und besonders Neger führen am Strande das große
Wort. Um eine Ananas, groß wie ein Kürbis, entsteht ein
Wortgefecht, obgleich sie nur 1 Real (4 Sgr.) Werth ist und
das Geld hier so leicht verdient wird. Die Meisten ent-
laden den Inhalt ihrer Canoes: Bananen, braunen Zucker,
Mangos, Orangen, Limas (Citronen), die Kaffee- und Ca-
caoernte ihrer Tuedra, um Callicostosfe, Macheten (Hau-
messer), Pulver und Schrot dafür eiuzntaufchen. Nicht im-
mer wird der letztere Artikel von den Negern nur zur Jagd
gebraucht. Mit ungezähmter Wildheit lauern sie zuweilen
dem Opfer ihrer Rache auf, und den höhnischen Worten
Tapa se! (deck' Dich!) folgt der tödtliche Schuß. Andere
entledigen ihre Maulthiere und Esel der Lasten, die auf
schlechten Wegen von Guaranda am Fuße des Chimborazo
hergebracht wurden: geflochtene Matten, Hüte aus Gninne
(dem Stroh der Carludovica palmata) und den Fasern
des Ranpirastengels, Hängematten aus Mocorabast. Eug-
tische und deutsche Matrosen, peruanische, chilenische Küsten-
fchiffer rudern zwischen den Ufern und ihren Fahrzeugen
hin und her, die wie auf Commaudo mit eintretender Ebbe
oder Flnth ihre gewaltigen Körper stromab oder aufwärts
drehen.
Der Malecon mit einer Straßeneisenbahn ist die einzige
nette Straße mit zum Theil eleganten, weißlackirten, bis
vier Stockwerke hohen Häusern aus Holz, mit Dächern aus
Zink, galvauifirtem Eisen oder Ziegeln. Diese Bauart er-
laubt den Bewohnern, mit der größten Kaltblütigkeit das
Bernhard Flemming:
heftigste Erdbeben in ihren Wohnnngen durchzumachen, wäh-
rend der Ruf: Feuer! Alle elektrisirt. In der That finden
die Flammen auch so viel Nahrung, daß der Schaden ge-
wohnlich mehrere Häuser, ja Straßen trifft, ehe man diesen
Feind bezwingt. Die Stadt ist seit ihrer Gründung durch
Belalcazar im Jahre 1635 von etwa 40 großen Bränden
heimgesucht worden, nicht minder durch gelbes Fieber, das
1589 zum ersten Male epidemisch auftrat. Endlich waren
es englische, holländische, französische Seepiraten, die im
siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert fast jedesmal durch
Androhung der Einäscherung große Summen erpreßten und
theils durch eigene Kühnheit, theils durch Verrath der Stadt
sich bemächtigen konnten. Im Jahre 1816 war dieselbe
noch so nnbewehrt, daß der englische Corsar William Brown
die Behörden gefangen wegschleppen konnte. Gegen das
Feuer hat man sich durch viele Dampfspritzen uud sehr gute
freiwillige Bedienungsmannschaft verhältnißmäßig gesichert.
Gegen das gelbe Fieber, welches sporadisch auftritt, kämpft
man vergebens. Gegen auswärtige Feinde hat man strom-
abwärts Schanzen aufgeworfen. Der Baumeister der einen
war ein junger Vogel von Falckenstein, Nesse des be-
rühmten preußischen Generals gleiches Namens.
Um jedes Stockwerk der auf unverweslichem Eisenholz
(Guayacau) ruhenden Gebäude lausen dicht verhangene Gal-
lerien, und selten wird es am Tage gelingen, eine der vielen
anmuthigen Frauengestalten Guayaquils dahinter zu eut-
decken, während nach Sonnenuntergang das gesellige Leben
seinen Anfang nimmt. Die Hinteren Straßen sind zur Re-
genzeit, wo mit der größern Hitze auch mehr Moskitos sich
einstellen, ein Sumps. Wie Gnayaquil der heißeste Ort
der Küste ist, wird es durch staguireude Canäle, morastige
Straßen, schlechtes Trinkwasser (da der Fluß im Sommer-
wegen seines geringen Widerstandes gegen die Meeressluth
ganz salzig wird) auch zu einem sehr ungesunden und für
Epidemien sehr empfänglichen Platze. Die Passage geht bei
gutem und schlechtem Wetter unter den hervorspringenden
Gallerien der Häuser hin, und der schwärzeste Neger scheut
nicht minder wie die blendend weiße zarte Creolin die Tro-
pensonne und die daraus entspringende Calentura (Calofrios),
das ist ein Wechfelfieber, dem crsahrungsmäßig die Einge-
borenen wegen ihrer schlechten Diät und Unremlichkeit mehr
als Europäer ausgesetzt sind. Gegen das Vomito prieto
(Yomito negro), das schreckliche gelbe Fieber, sind die besten
Präservative sicher Unbefangenheit und eine rationelle Lebens-
weise, d. h. große Mäßigkeit im Essen und Trinken und
häufige Waschungen des ganzen Körpers. Den ersten Sym-
ptomen, Kopf- und Rückenschmerzen, folgen das schwarze Er-
brechen oder nur häufige Entleerungen. Das Fieber endet
meistens mit Blutzersetzung und dem Tode bald nach wem-
gen Stunden, bald nach mehrtägigem Leiden. Ricinusöl,
Jpecacuana sind beliebte Heilmittel. Man wird nur ein-
mal von der fürchterlichen Krankheit befallen; wer dem Tode
entrinnt, hat sie nie mehr zu fürchten.
Guayaquil mit feinen 22,000 Einwohnern macht nicht
den Eindruck des ersten Hafens eines so großen und reichen
Landes. Trotz seines Verkehrs und Handels, seiner Schiffs-
werften, auf denen ganz nette Küstenfahrer gebaut werden,
der Sägemühlen und Chocoladesabriken ist die Entwicklung
der Stadt in sehr ungünstigem Verhältniß zur Cultur des
Innern, — eine Folge der schlechten Wege. Selbst der
Verkehr auf dem schönen Strome mußte erst durch Smyrk,
einen Nordamerikaner, mit Dampfern belebt werden, die bis
Bodegas (Babahoyo) und Savanetta und die anderen Fluß-
arme hinauf fahren. Die ältere Stadt, Cindad vieja, er-
streckt sich von dem schwach befestigten Hügel Sta Ana bis
zur Calledela merced, von dieser stromaufwärts zur Werfte
Änderungen in Ecuador. 235
ist die Ciudad nueva. Hinter diesen Stadttheilen mit ihren
fünf Kirchen und zwei Hospitälern dehnt sich die Savana
bis an den Fuß der Cordillera de Chongon hin. Wie in
Quito die weiße Farbe vorherrschend ist, so hier die schwarze,
und sie bildet einen enormen Contrast mit dem blendenden
Weiß einzelner Abkömmlinge der Conqnistadoren. Criol-
los (Creolen), wie man die von europäischen und auch asri-
kanischen Eltern im spanischen Amerika geborenen Kinder
nennt, können Weiße uud auch Schwarze, d. h. Creolueger,
sein im Gegensatz zu Eingeborenen und deren Abkömmlingen.
Die fortgesetzte Vermischung der kaukasischen, der äthio-
pischen und amerikanischen Race haben die herrlichsten aber
auch die abschreckendsten Erzeugnisse geliefert. Sprößlinge
von Negern und Indianern heißen Zambos, die mit dem
Wollhaar und aufgeworfenen Lippen der elfteren nnr zu oft
die schlechten Eigenschaften beider Racen verbinden. Die
Kinder der Weißen und Indianer sind Cholos (die Me-
stizen Nordamerikas), mit sanftem, trägem Wesen. Weiße
und Neger erzeugen Mulatten, und diese Mischrace ist es,
welche die meiste Aufmerksamkeit erregt. In ihnen vereini-
gen sich ein Gemisch von Gutherzigkeit und Rachsucht, große
Fähigkeiten und Indolenz, Hingebung und Dankbarkeit,
Verschlagenheit und Sinnlichkeit. Die Abkömmlinge von
Europäern nnd Mulattinnen sind oft, und besonders die
Frauen, Gestalten von vollendeter Formenschönheit, weißer
Hautfarbe und graziösem, liebenswürdigem Wesen.
Da nur sehr wenige Ecuadorianer von sich behaupten
können, ganz reiner, weißer Abkunft zu sein, so wäre eine
Aristokratie der Farbe, wie sie heute noch in den Ver-
einigten Staaten besteht, nicht möglich. Der Neger verachtet
zwar den Indianer und umgekehrt; der Weiße und Alle,
die nur einen Tropfen spanischen Blutes in ihren Adern
haben, sehen mit Geringschätzung aus die ersteren beiden
Racen hinab, aber der eigentliche Rangunterschied liegt im
Geldbesitz. Neben dem allmächtigen Piaster haben Farbe
und selbst Tugend und Talent keine Geltung mehr.
Eine Machtentwickelung der Republik sieht man in
Guayaquil nicht, und die kränklichen, schwächlichen Gestalten
in Uniform, die dem Träger mit dem französischen Zuschnitte
des Rockes jedenfalls auch solchen Mnth verleihen soll, die
elenden Kanonen auf halbverrotteten Lafetten sind mehr ein
Kennzeichen der Ohnmacht. Dabei liegt ein abgetakelter
Kriegsdampfer, dessen durchlöcherter Kessel ein treues Abbild
der Verfassung und der Staatscasse ist, die beispielsweise nur
12,000 Piaster für Schulen bewilligen kann, wenn auch
126,000 Piaster für diplomatische Vertretung! Bei einer
Staatseinnahme von nur 1^/z Millionen Pesos (1 Dol-
lar — 5 Francs), einer äußern Schuld von 9l/i Millionen
und einer inucru von 31/2 Millionen Pesos, deren Zinsen
fortwährend zu zahlen sind, findet man diesen verhältniß-
mäßig viel zu hohen Posten für Repräsentation nur erklär-
lich, wenn man erfährt, daß man unruhige Geister, die man
nicht gut verbannen oder erschießen kann, als Gesandte ins
Ausland schickt und sie für ihr ruhiges Verhalten gut be-
zahlt. So geschah es seiner Zeit mit dem nun verstorbenen
General Flores, der in der Verfassungsgeschichte des Lan-
des eine mehr zweideutige als bedeutende Rolle spielte. Man
kann sich denken, wie ein Land vertreten wird, wenn es auf
diese Weise geschieht.
Eine bedenkliche Thatsache ist auch, daß die Einfuhrzölle,
die vor einigen Jahren noch die Hälfte der Einnahmen be-
trugen, jetzt eine halbe Million nicht übersteigen, denn leider
giebt es kein Aequivaleut, Hebung der inländischen Indu-
strie, dafür. Die Geldverhältnisse bessern sich, waren aber
bis vor Kurzem noch ganz abnorm. Wechsel auf London
und andere große Plätze wurden mit bis 29 Procent Prämie
236 Bernhard Flemming:
gekauft. Francs und Zweifrancsstücke cursirten im Werthe
von 2 resp. 4 Reales, während der fünfte Theil eines Franc
(20 Centimes) — 1/'2 Real galt. Eine Folge davon war
die Überschwemmung des Landes mit 20-Centimesstücken,
was einem Verluste von 20 Procent entspricht. Den sehr
fühlbaren Mangel an Metall hat man durch Papiergeld
(Papel monear) ersetzt, das man in Guayaquil zum vollen
Werthe nimmt, wenn es nicht etwa als gefälschtes zurück-
gewiesen wird. In Quito, Esmeraldas :c. verlieren diese
Billetes del Bauco de Guayaquil, jetzt Banco Ecuadoriauo,
25 Procent ihres Werthes und im Auslande sind sie gar
nicht an den Mann zu bringen. Viele Equadorianer haben
eine heilige Scheu, es überhaupt zu nehmen, vielleicht haben
sie gegründete Ursache, denn die öfteren Revolutionen sind
derartigen Bankoperationen nicht günstig. In der neuesten
Zeit ist einige Ordnung in diese merkwürdige Geldwirth-
schast gekommen, und man hat mehrere Hunderttausende der
papierenen Pesos aufgekauft uud verbrannt. Wenn aber
ein weniger folider Präsident als Garcia Moreno ans Ruder
kommt, bleibt keine Garantie für einen normalen Zustand,
denn für ephemere Machthaber ist es zu verführerisch, mit
Papier statt mit Geld zu zahlen.
Ecuador ist übrigens, was Revolutionen betrifft, im
Vergleich mit Peru und besonders mit Neugranada (jetzt
Colombia) ein Musterstaat. Es sind, der Verfassung zu-
wider, genug politische Verbrecher füsilirt worden, so unter
Garcia Moreno der General Maldonado in Quito, trotz
des Protestes der ganzen Stadt und der fremden Gesandten;
so nach dem Kampfe von Jambell 25 Gefangene auf ein-
mal, so der Doctor Viola aus der argentinischen Republik,
von Allen bedauert, und in der letzten Zeit der General
Veinsemillo, Garcia's früherer Günstling. Selbst der alte,
sehr angesehene neugranadinische General Mosquera wurde
mit Erschießung bedroht, wenn er Ecuador beträte. Aber
Grausamkeiten sind nicht begangen worden, wie in Colom-
bia, wo man die Gefangenen, nachdem sie ihr eigenes Grab
gegraben hatten, knien hieß und mit der Lanze durchbohrte,
Andere zwischen zusammengebogene Bäume baud und diese
dann aus einander schnellen ließ, oder nackt in nasses Leder
mit Lederschnüren nähte uud sie dann in die Sonnengluth
warf, wo das trocknende Leder tief in die Haut einschnitt.
Man nannte Garcia Moreno, der auch jetzt (1871)
wieder Präsident ist, ein Ungeheuer, weil er viele angesehene
Männer verbannte. Allerdings trennte er sie auf viele Jahre
von ihrer Familie und forderte, um sicher zu gehen, daß die
Exilirten nicht länger als nothwendig in dem ihm feindlichen
Nachbarstaate verweilten, Cautioueu bis zu 10,000 Dollars.
Aber wer will es ihm verdenken, wenn er Garantien für
die Sicherheit des Landes und seiner Person suchte, denn
jeder der Verbannten würde feierlich Urfehde geschworen
haben und — sein Wort gebrochen haben. Da das Ge-
waltige und selbst in schrecklicher Gestalt stets imponirt, so
ist er der rechte Mann zur Beherrschung einer charakterlosen,
ehrgeizigen, leidenschaftlichen Bevölkerung.
Uebrigens sind die Ecuadorianer nicht bösartig oder gar
Meuchelmörder, wie manche Chilenen und Mexicaner uud
wie der frühere amerikanische Gesandte Hassaureck sie hin-
stellt. Er sagt, daß bei den Wahlen an der Urne selbst
zum Dolche gegriffen wird, um die Majorität für diesen oder
jenen Candidaten zu erzwingen; aber ihr Wesen ist zu Pas-
fiö und indolent, um große Verbrechen zu begehen.
Wanderungen in Ecuador.
Dagegen wird jeder Fremde freudig die außerordentliche
Gastfreundschaft und das gefällige, bescheidene Wesen der
Bevölkerung anerkennen. Unternehmungsgeist, der Wunsch
und das Verständniß, die großartigen Hilfsquellen des Lau-
des zu entwickeln, die Energie zum Guten wie zum Bösen
fehlen, und einer andern Race wird es vorbehalten sein, die-
ses üppige Land, das Balbi mit Recht ein irdisches Paradies
nannte, zur höchsten Blüthe zu entwickeln.
Fährt man von Guayaquil aufwärts und folgt man den
gewaltigen mäandrischen Krümmungen des Stromes, so
schwelgt das Auge in den tausend Reizen eines färben- und
formenreichen schimmernden Tropenbildes.
Im Verano, der trockenen Jahreszeit, zeichnet sich das
nahe Hochgebirge oft in scharfen Linien, überragt vom rosi-
gen Schneegipsel des Chimborazo, in der reinen Lust ab.
Die üppig bewaldeten Ausläufer der Sierra mit breiten,
finsteren Schluchten, an ihrem Fuße breite Savanen und
Wälder, über denen die Negritopalme in tausend und aber
tausend Exemplaren wieder einen Wald bildet, sind der für
uns sichtbare Hintergrund.
Zwischen üppigen Pflanzungen von Zuckerrohr, Kaffee,
Cacao leuchten die weißen Gebäude mit flachen Dächern
hervor und spiegeln sich im glatten Wasser, dessen Geschwin-
bigfett wir nur an vorüberschießenden Booten und treiben-
den Stämmen sehen. Ueber reifende Reis- und Maisfelder
ziehen paarweise Papageienschaaren mit Gekreisch dahin, ein
sanfter Wind trägt uns den Wohlgeruch seltsam geformter
Orchideen zu, die den Ueberrest des Urwaldes wie Festons
und Guirlanden verbinden. Im tiefen Schatten am Saume
solcher Waldpartien liegen zu Dutzenden Kaimane, die kaum
durch einen Schuß zwischen sie aus ihrer trägen Ruhe auf-
gescheucht werden; die weiße Garca (Egretta) stiegt höch-
stens empor, um dem majestätisch einherschreiteuden Phoeni-
copterus ruber (Flamingo) allein den gestörten Fischfang
zu überlassen. Ein tiefblauer Himmel spannt sich aus über
diesem Bilde der Ruhe und des Reichthums, das nur in der
Productivität der Havana seines Gleichen findet.
Babahoyo, das Endziel der Dampferfahrt, liegt am
rechten Ufer des gleichnamigen Flusses, der weiter unten mit
dem Rio Caracol zusammen in den Guayaquil mündet.
Hier bemerkt man für sechs Monate des Jahres die regste
Thätigkeit. Die Waaren werden von Flußschiffen und
Dampfern auf den Rücken von Maulthieren, Pferden und
Eseln Verladen und umgekehrt. Dem Fremden fällt hier
zunächst die Höhe der Häuser auf, die sich sonst durch nichts
von denen in Guayaquil unterscheiden. Der Grund für
diese Bauart ist das jährliche Austreten des Flusses, der
buchstäblich bis zum 24. December die ganze Stadt und
Ebene unter Wasser setzt, mit Ausnahme der Kirche und
weniger anderer Gebäude. Der Verkehr in den Straßen
und der Besuch der Kirche geschieht dann in Canoes und
Booten. Durch Parterrewohnungen und Läden, deren Holz-
werk übrigens gegen Fäulniß unempfänglich ist, strömt das
trübe Wasser, von Crocodilen und Fischen bevölkert.
In dieser Zeit fahren die Dampfer weiter hinauf bis
Savaneta, um auszuladen, bis auch dieses durch Ueber-
schwemmung vom Verkehr mit dem Innern abgeschlossen
ist. Im darauf folgenden Mai verlaust sich das Wasser
und der Handelsverkehr beginnt von Neuen«.
Otto Mohnicke über die geistigen Anlagen und den moralischen Charakter der Japaner. 237
Otto Mohnicke über die geistigen Anlagen und den moralischen Charakter
der Japaner.
Wie geschickt die Japaner in dem Erwerben von Vermögen,
besonders durch Handel, auch sind, und wie sehr sie solches zu
schätzen wissen, so sind sie doch weder geizig noch verschwende-
risch. Neigung zu Luxus und prunkender Entfaltung von Reich-
thum besteht in Japan bei keiner Volksclasse. Wenn während
der Dauer des letzten Sjogunates die großen Lehnträger des
japanischen Reiches, Daimio, aus einem sehr großen und kostba-
ren Fuße lebten und bei ihren Reisen nach der Hauptstadt Heddo,
sowie während ihres Aufenthaltes daselbst, einen großartigen
Luxus zur Schau trugen, fo geschah solches haupsächlich auf
Veranlassung der Regierung der Sjogune, die hierdurch eine zu
große Anhäufung von Reichthümern bei ihnen vermeiden wollte.
Man wollte, daß sie die theilweise außerordentlich beträchtlichen
Einkünfte ihrer Ländereien verzehren sollten.
Diesen Tugenden der Japaner gegenüber stehen ihre große
Neigung zu sinnlichen Ausschweifungen, selbst den entehrendsten;
eine Rachsucht, die ihr Opfer nicht selten Jahre lang unter dem
Anscheine von herzlicher Freundlichkeit verfolgt und gegenseiti-
ges Mißtrauen. Europäer haben außerdem ost genug, in ihren
Beziehungen sowohl zu Beamten, selbst den höchststehenden, als
zu Personen aus dem Volke, die Gelegenheit wahrzunehmen,
wie wenig ihnen daran liegt, ein gegebenes Wort zu halten,
und daß Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit nicht zu ihren her-
vorstechenden Tugenden gehören.
Im Allgemeinen ist die Zahl der Tugenden bei den Japa-
nern größer als die ihrer Fehler. Die letzteren sind auch zum
Theil weniger in ihrer ursprünglichen und eigenthümlichen Cha-
rakteranlage begründet, als eine Folge ihrer merkwürdi-
gen Staatsverfassung während der letzten dritthalb
Jahrhunderte. Diese war in ihrem innern Wesen so im
Streit mit den Gesetzen der höhern Sittlichkeit, daß sie unver-
weidlich im Laufe einer fo langen Zeit einen nachtheiligen Ein-
fluß auf den Charakter des Volkes ausüben mußte. Sie war
zugleich eine so durchaus eigentümliche, daß es schwer
hält ihres Gleichen in der Geschichte älterer oder neuerer Völ-
ker wieder zu sinden. Es können daher Ausdrücke, mit denen
man gewohnt ist die Verfassung anderer Länder zu bezeichnen,
nur theilweise und in einem beschränkten Sinne auf sie ange-
wendet werden.
Am meisten würde man irren, wenn man die Regierungs-
form des japanischen Reiches während der letzten Jahrhunderte
eine absolute oder despotische Monarchie nennen, und sie mit
der von China oder jener der mohammedanischen Staaten
Asiens vergleichen wollte. In Japan übte nicht der Wille eines
unbeschränkten Machthabers nach Grundsatz oder Laune bald
härtern, bald leisern Druck aus, sondern es war die Art der
Staatseinrichtung selbst, welche dadurch, daß sie allein zum
Zwecke hatte sich unerschütterlich und gänzlich unverändert fort
zu erhalten, auf der ganzen Masse der Bevölkerung lastete.
Die japanische Staatsmaschine in dieser Zeit war eine höchst
künstliche und zusammengesetzte, in welcher alle Theile in einem
abgemessenen und unverrückbaren Verhältnisse zu einander stan-
den. Diejenigen, in deren Händen sich die oberste Leitung des
Ganzen besand, waren selbst am meisten beschränkt und gebun-
den, damit nicht möglicherweise durch sie gerade der Gang
der Maschine verändert, beschleunigt oder gar gehemmt werde.
Hieraus ergiebt sich schon, wie wenig ein so geordnetes Staats-
wesen ein despotisches im Sinne der meisten übrigen asiatischen
Reiche zu nennen ist.
Am meisten stimmte dasselbe mit Beziehung auf den von
II.
ihr beabsichtigten Zweck mit der Republik Vendig überein, wie
verschieden auch die äußeren Formen beider Staaten waren.
Während des Bestehens dieser von dem Stifter der letzten
Dynastie der Sjogune, Minamoto no Jje-Jasou, gegründeten und
von seinem zweiten Nachfolger, Jje-Mitsu, in ihre letzte, über
zwei Jahrhunderte unverändert gebliebene Form gebrachten
Staatsverfassung herrschte in Japan, unter allen Classen der
Bevölkerung, ein hoher, immer zunehmender Grad materiellen
Wohlseins. Der gänzlich ungestörte Friede, sowohl im Innern
als auch mit dem Auslande, von welchem dieses Reich hermetisch
abgeschlossen war, wirkten günstig aus die Entwickelung des
Ackerbaues, des innern Handels sowie eines vielseitigen Kunst-
und Gewerbefleißes ein. Alle, Vornehme wie Geringe,
erfreuten fich derselben, außerordentlich strengen
aber durchaus unparteiischen und unerbittlichen Ge-
rechtigkeitspflege, und für einen jeden Eingeborenen, wel-
cher Volksclasse er auch angehören mochte, bestand Gleichheit
vor dem Gesetze sowie die vollkommenste Sicherheit der
Person uud des Eigenthumes, wovon selbst die mit den
übrigen Japanern außerhalb der Gemeinschaft von Feuer und
Waffer lebende Claffe der Jetas ader Jetoris nicht ausgeschlos-
sen war. Sklaven aber bestanden in Japan nicht.
Es entwickelte sich ferner in Japan jener hohe Grad
socialer Bildung in dem Umgänge mit einander, wodurch
jeder Anstoß und jede Reibung zwischen den anders schroff ge-
fchiedenen Volksclassen vermieden wurde, die vollkommenste
gegenseitige Duldung aller Religionsparteien und
Secten, sowie endlich eine in jedem andern Lande beispiel-
lose Seltenheit nicht allein von groben Verbrechen und
Missethaten, sondern selbst von leichteren Uebertretnngen poli-
zeilicher Vorschriften und Verordnungen.
Auf der andern Seite aber wirkte diese Staatseinrichtung
auf den Volkscharakter so nachtheilig ein, daß das durch sie be-
wirkte Gute wenigstens großenteils ausgewogen wurde.
Wir sehen nämlich durch das System der Abschließung von
dem Auslande, in Verbindung mit dem der gänzlichen Unver-
änderlichkeit aller inneren Zustände und Verhältnisse, ein zahl-
reiches, kräftiges und geistig reichbegabtes Volk, von dem schon
bemerkt wurde, daß es vor allen übrigen Asiaten ganz beson-
ders für die Aufnahme europäischer Bildung befähigt fei, län-
ger als zwei Jahrhunderte in feiner geistigen Entwickelung ge-
hemmt und ohne alle erregende Impulse von außen, gewisser-
maßen aus der Weltgeschichte ausgeschlossen, allein ein pflanz-
liches Leben führen. Seitdem der dritte Sjogun aus der letz-
ten Dynastie derselben, Minamoto no Jje-Mitsu, im Jahre
1637, durch die Abschließuug von der Außenwelt das letzte Sie-
gel auf die Verfassung dieses Reiches drückte, erscheinen daselbst
alle inneren Zustände während eines langen Zeitabschnittes in
einem ewigen, geisttödtenden Einerlei und wie durch einen bösen
Zauber in Stein verwandelt. Dieser Zustand war aber um so
unnatürlicher, je mehr er sich mit dem eigentlichen Wesen des
japanischen Volkes im Widerspruch befand.
Die Geschichte dieses langen Zeitraumes hat keine großar-
tigen Ereignisse zu berichten und meldet nirgends die Namen
hervorragender Männer, weder auf dem Gebiete der Thaten
und des Handelns, noch auf denen der Wissenschaft und Kunst.
Von eigentlicher Wissenschaft war bei ihnen nicht die Rede.
Wenn sich die Keime einiger, durch die wenigen, in strenger
Beschränkung wie in einer Art ehrenvoller Staatsgefangenschaft
auf Desima lebenden Niederländer hinverpflanzten, angewandten
238 Otto Mohnicke über die geistigen Anlagen
Wissenschaften, wie der Median, der Pflanzenkunde, der Che-
mie u. s. w. forterhielten und zum.Theile selbst langsam ent-
wickelten, so liegt hierin nur ein neuer Beweis der großen Bil-
dnngsfähigkeit dieses Volkes. Zugleich aber ergiebt sich hieraus
ein Maßstab, um beurtheilen zu können, wie bald dasselbe jetzig
wo bei der neuen Ordnung aller inneren Verhältnisse dieses
Reiches zugleich die Schranken zwischen ihm und dem Auslande
täglich mehr wegfallen, zu höherer wissenschaftlicher Bildung ge-
langen dürfte.
Auf die EntWickelung der Kunst in Japan wirkte das Regie-
rungssystem der Sjognne während der letzten Dynastie dersel-
ben eben so nachtheilig ein, wenn anders von einer Kunst, in
der höhern Bedeutung des Wortes, in diesem Lande bis jetzt
gesprochen werden kann. Abgeschlossen von Allem, was die
Phantasie erwecken, nähren und befruchten konnte, dabei hin-
gewiesen auf bestimmte, durch das Herkommen geheiligte typische
Formen, vermochten japauifche Künstler keine Werke einer höhern,
idealischern Auffassung zu erschaffen. Von der außerordentlich
entwickelten, mehr handwerksmäßigen Kunstfertigkeit, worin die
Japaner alle asiatischen Völker, die Chinesen nicht ausgenom-
men, weit übertreffen, kann hier nicht die Rede sein. Diese sich
der Kunst annähernde Kunstfertigkeit wurde selbst durch die
Sjogune seit Jje-Jasou sehr aufgemuntert und begünstigt, da
ihr eigener Vortheil sie daran denken ließ, ihre Hauptstadt
Mddo zu dem Mittelpunkte eines vielseitigen, hochentwickelten
Kunstfleißes zu erheben.
Während dieses langen Zeitabschnittes war die Aufmerksam-
keit der übrigens sehr kraftvollen und sich stets aus bewunderns-
würdige Weise gleichbleibenden Regierung allein darauf gerichtet,
die Staatsmaschine in gänzlich unverändertem Gange zu erhal-
ten. Alle inneren Verhältnisse wurden anhaltend mit einer
Sorgsalt, die selbst das Geringfügigste und Allerunbedeutendste
der Beachtung Werth hielt, zugleich aber mit einem unbegrenz-
ten Mißtrauen überwacht. Die letzten Aeußerungen diefer Re-
gierungsweise erschienen oft in einer Weise kleinlich, von der
man sich, ohne sie in der Nähe mit angesehen zu haben, kaum
eine Vorstellung machen kann.
Nach der Weise des Staatslebens aber formte sich mehr und
mehr das Leben in den Familien. Bei aller Geschäftigkeit und
unermüdlichem Fleiße zeigte sich nirgends höheres Streben, Ehr-
geiz und hierdurch geleitete Thätigkeit. Der Sohn folgte seinem
Vater, so wie dieser dem seinen gefolgt war, in dessen Amte,
Stande und Beschäftigung. Die stets durch Gesetze oder das
Herkommen vorgeschriebene Beobachtung einer Menge kleinlicher
Gebräuche und Ceremonien nahm den besten Theil der Zeit
hinweg und machte die Gesinnung selbst mehr und mehr kleinlich.
Noch nachtheiliger, ja in hohem Grade entsittlichend wirkte
die Regierung auf die Gesinnung des Volkes durch ein tausend-
gliedriges, über das ganze Land verbreitetes Spionirsystem
ein. Sie bediente sich desselben als eines Hauptmittels, um von
Allem, was selbst im Innersten der Familien geschah, unterrich-
tet zu bleiben. Hiervon aber waren Mißtrauen und Argwohn
im gegenseitigen Verkehre selbst nahe stehender Personen, über-
triebene äußere Höflichkeit, Augendienerei, Falschheit und Unzu-
verlässigkeit die unausbleiblichen Folgen.
Auch darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Regierung den
Hang der Japaner zu sinnlichen Ausschweifungen als Hülssmit-
tel sür die Erreichung ihrer Absichten benutzte. Je mehr ein
Volk sich in diesen Genüssen wohlgefällt und je leichter es sich
dieselben verschaffen kann, um so weniger wird es gefährlich sein
und nach politischen Veränderungen verlangen.
Aus diesem Grunde war die öffentliche Prostitution und
das Bvrdellwesen, welches in Japan ausgebreiteter wie in irgend
einem andern Lande, und sehr eigentümlich organisirt ist, für
die Regierung eine Sache von der größten Wichtigkeit. Die
hierzu gehörenden Anstalten bilden die einzigen öffentlichen Ver-
gnügungsörter der Japaner und ihr Befuch ist mit keiner
Schande verbunden. Die Regierung beschützte und begünstigte
diefe Anstalten, da sie ein vortreffliches Mittel zur Ueberwachung
und Beobachtung eines großen Theiles der Bevölkerung gewährten.
und den moralischen Charakter der Japaner.
Wenn zu den wohlthätigen Folgen der japanischen Regie-
rung unter der letzten Dynastie der Sjogune das auffallend sel-
tene Vorkommen von Verbrechen und groben Missethaten er-
wähnt wurde, so liegt die Ursache hiervon zum Theil in der
eigentümlichen Weise der Rechtspflege, die, wie unerbittlich und
unparteiisch sie sich auch zeigen mochte, doch nur ein bedingtes
und beschränktes Lob verdient. Durch ihre furchtbare und scho-
nungslose Strenge war sie mehr geeignet unter dem Volke Furcht
und Schrecken zu verbreiten, als dasselbe wesentlich besser, edler
und sittlicher zu machen. Hierzu kommt noch, daß dem japani-
schen Strafrechte ein Princip zu Grunde gelegt war, welches
sich zwar praktisch nützlich zeigte, mit den Rechtsbegriffen der
heutigen europäischen Völker aber den vollkommensten Gegensatz
bildet. Es ist dieses die gesetzliche Bestimmung, daß nach dem
Grade des verübten Verbrechens nicht nur alle Bewohner des Hau-
ses, von welchem die Missethat ausging, sondern auch die von
den beiden Nachbarhäusern zu jeder Seite und dem gegenüber-
liegenden, ja selbst alle Einwohner einer ganzen Straße für
das Verbrechen eines Einzelnen zur Verantwortung gezogen
und bestraft werden. Mit Beziehung hierauf hat sich bei mir,
wenn ich die Zustände in China mit den japanischen verglich,
häusig der Gedanke aufgedrängt, daß während in erstgenanntem
Landesich ein jeder, von dem höchsten Staatsbeamten bis zu dem
Kuli, unter dem Bambus befindet, über dem Haupte eines jeden
Japaners ein scharf geschliffenes Schwert an einem Haare hinge.
Dieser -eine Umstand bedingt schon eine große Verschiedenheit in
dem Charakter beider Völker im Allgemeinen. —
Das hier über die inneren Zustände und die Staatseinrichtung
in Japan während der beiden letzten Jahrhunderte Mitgetheilte
ist sür den Beweis, daß die erwähnten Charakterfehler dieses
Volkes wenigstens zum Theil als die unvermeidliche Folge sei-
ner durchaus selbstsüchtigen und unsittlichen, wiewohl in eben
dem Maße kräftigen und folgerechten Regierung anzusehen sind,
mehr als genügend.
Die Sjogune aber aus dem Hause Minamoto, welche seit
dem Ende des sechszehnten Jahrhunderts die Regierung dieses
Lahdes tatsächlich in den Händen hatten und von denen das
System seiner Jsolirung von dem Auslande sowie die voll-
kommenste Stabilität im Innern in das Leben gerufen und bis
auf die neueste Zeit mit merkwürdiger Festigkeit gehandhabt
wurde, sind vor wenigen Jahren von dem Schauplatze abge-
treten. Der Mikado, der Vergegenwärtiger des uralten, von
Zin-Mu-Sen-Woo, dem Stifter des japanischen Reiches im
Jahre 66s) v. Chr. gegründeten Fürstenhauses, ist zu der Macht-
Vollkommenheit seiner früheren Vorfahren zurückgekehrt. Andere
wichtige und folgereiche Veränderungen im Innern, wie z. B.
in der Stellung der großen und mächtigen Reichsvafallen, be-
reiten sich vor oder sind fchon in das Leben getreten.
Zugleich aber fallen die Schranken zwischen Japan und dem
Auslande mehr und mehr. Die Zahl der sich daselbst, und
nicht allein des Handels wegen, aushallenden Europäer nimmt
immer zu, während in einem gleichen Verhältnisse sich ihnen
das'Innere des Landes öffnet und ihr Verkehr mit der Bevöl-
kerung sich immer freier und mannichfaltiger gestaltet. Schon
jetzt sind die japanischen Inseln, die noch vor zwanzig Jahren
zu den entlegensten und am wenigsten besuchten Gegenden auf
der ganzen Erde gehörten, durch Dampfschiffslinien und Tele-
graphendrähte in den Weltverkehr gezogen.
Auch Japaner besuchen in wachsender Anzahl das Ausland.
Die japanische Regierung ist mit der von Nordamerika und den
vornehmsten europäischen Staaten in diplomatischen Verkehr ge-
treten, und zu Berlin befindet sich ein fest angestellter Gesandter
des Mikado. Eine Anzahl junger Japaner aber aus den vor-
nehmsten Familien besuchen die Universität und andere höhere
Bildungsanstalten daselbst.
Alle diese Umstände dienen, um in Japan europäische Bil-
dung, Kunst und Wissenschaft in immer weiteren Kreisen zu
verbreiten. Unter dem Einflüsse hiervon wird der Geist des
Volkes sich um so schneller von den niederdrückenden Einflüssen
der frühern Staatseinrichtung erheben, als feine ursprüngliche
Aus allen
Anlage eine so besonders günstige ist. Auch die jetzt noch scharf
hervortretenden Fehler im nationalen Charakter der Japaner-
Werden wahrscheinlich in dem Grade abnehmen, als ihre That-
kraft, ihre Wißbegierde und ihr geistiges Aneignungsvermögen
einen unbeschränkter» Spielraum gewinnen werden.
Die Lage des japanischen Reiches und seine physikalische Be-
schassenheit, vor Allem aber die geistige Organisation seiner Be-
wohner, machen es wahrscheinlich, daß die Vorsehung demselben
eine große Zukunft vorbehält. In diesem Sinne bemerkte bereits
Erdtheilm. 239
vor vielen Jahren der große Kenner des Orients, Sir Wil-
liam Jones, daß Japan vielleicht eines Tages eine ähnliche
Stellung im östlichen Asien einnehmen werde wie im Westen
von Europa England, mit dem es in seiner insularen Lage eine
so große Uebereinstimmung besäße. Nach dem Maße aber, in
welchem Japan in den letzteren Jahren auf verschiedenen Ge-
bieten europäischer Cultur vorausgegangen ist, dürfte diese Vor-
hersage in einer nicht sehr fernen Zukunft erfüllt und bewahr-
heitet werden.
Aus allen
Aus Preußisch-Littauen.
Todtenwachen. — Krankheiten und Heilmittel. — Besprechen. —
Volksgebräuche.
M. L. Die Littauer halten nach einem Sterbefalle vom Tage
des Todes bis zu jenem, an welchem das Begräbniß stattfindet,
Todtenwachen ab, zu welchen sich die Verwandten und Nach-
barn einfinden. Man begießt die Leiche oftmals mit kaltem
Wasser. Von demselben hofft man eine „erweckende Wirkung"
binnen drei Tagen, da sie sich jedoch nicht einstellt, denkt man
dann an das Begräbniß. Man zündet möglichst viele Lichte an
und es werden geistliche Lieder gesungen bis der neue Morgen
heraufdämmert. Nach dem sogenannten Aussingen hält am
Sarge des Todten der Schulmeister eine Rede, deren Güte nach
der Länge bemessen wird, am Grabe spricht dann der Geistliche.
Beim Begräbnißmahle bleibt ein Platz am Tische für den
Todten frei; Messer, Gabel und Lössel liegen unberührt davor,
denn man glaubt, daß die Seele des Verstorbenen noch Theil
an dem Gastmahle nehme. Die Särge werden oft mit den
grellsten Farben bemalt; rothe, grüne und gelbe Kleckse, die
Blumen vorstellen follen, machen sie dem Beschauer „schön".
Kein Leidtragender verläßt eher den Kirchhof, als bis der Grab-
Hügel gewölbt ist. Dem Besucher des Kirchhofes fällt es auf,
daß derselbe meistens öde und wüst erscheint. Die Grabhügel
sind verfallen und den Verstorbenen gesetzte Erinnerungszeichen
selten; keine Blume, kein Bäumchen sind Zeugen wehmüthigen
Andenkens.
In Krankheitsfällen bedient der Littauer sich selten
des Arztes, denn er scheut die baaren Auslagen. Gegen die
verschiedensten Uebel hat er eine Menge Hausmittel, die er sich
zu billigen Preisen zu verschaffen weiß. Kleine Uebel achtet er
nicht, da er von Jugend auf abgehärtet ist. Knaben und kleine
Mädchen haben oft im Sommer und Winter nur das Hemd
als einziges Kleidungsstück. Kommt es mit der Krankheit hart,
fo daß der davon Betroffene sich nicht mehr fortbewegen kann,
so legt er sich. Universal mittel sind ihm folgende: Man
läßt Wasser von dazu besonders geschickten Personen bespre-
chen, geht, ohne ein Wort zu reden, damit nach Hause und
hegt es sorgfältig auf, um es gegen jede Krankheit als äußeres
oder inneres Arzneimittel zu gebrauchen: „Besprechen und
Rathen" sind bei dem Littauer hochgeachtet. Sehr wichtige
Heilmittel sind ihm Belladonna, Branntwein und Aderlaß;
Verschlucken von Fieberzettelchen und das Liegen auf
dem Kirchhofe des Nachts helfen gegen das Fieber. Glaubt
man, daß das Fieber durch Schreck entstanden sei, so muß es
durch Schreck wieder vertrieben werden; zu dem Schrecke wen-
det man unvermuthetes Uebergießen mit kaltem Wasser an.
Schornsteinruß mit Branntwein sollen gegen die Cholera
helfen. Rheumatismus heilt man so: der leidende Theil wird
unter Hersagen von Zauberformeln mit Garn oder Zwirn um-
wickelt; ist's geschehen, so wird der Faden abgewickelt und um
einen Baum gewunden; sobald der Faden am Baume verwit-
tert ist, hält man das Uebel für beseitigt. Geschwulste heilt man
xrdtheilen.
dadurch, daß man Kröten lebendig spießt, an der Sonne
trocknet oder sie auch lebendig mit dem Rücken auf den leiden-
den Körpertheil bindet. Ist Jemand nach dem Glauben des Lit-
tauers durch den „bösenBlick" behext und dann krank geworden,
so wird geräuchert und Spießglanz in Branntwein dagegen ein-
genommen. Bei Hautausschlägen braucht man eine Einreibung
von Quecksilberseise, heizt den Backofen, und nachdem man die
Gluth herausgezogen hat, hebt man den Kranken hinein, der
allerdings dann, wie es wohl vorgekommen ist, nie mehr eine
Cur durchzumachen braucht. Die kirchlichen Feste feiern die
Littauer wie wir Deutschen, und mancher Rest von Aberglauben
zeigt sich gerade zu solchen Zeiten.
Am Christabend vermummen sich junge Leute, gehen
dann in die Häuser, um Erwachsene zu züchtigen, Kinder zu
ängstigen — Alles auf Rechnung des heiligen Christ. DerJo-
hannistag erfreut sich einer besondern Auszeichnung. Am
Vorabend dieses Tages brennen an unzähligen Orten Feuer,
überall knallen Schüsse, und viele Hände sammeln Kräuter, die
dann besonders heilkräftig sind. Mit Gesang und Gebet feiert
man den Tag, und bei den Zusammenkünften (Surinkim-
mas) in den Dörfern halten die Aeltesten erbauliche Reden.
Am Fast nachts tage, an dem, beiläufig gesagt, auf jedem
Tische Szuppims (Brei von weißen Erbsen, mit Kartoffeln) mit
geräuchertem Schweinskopf prangt, werden die jungen Pferde
zum ersten Male angespannt, und es wird mit denselben spa-
zieren gefahren, damit der Flachs im folgenden Sommer lang
wachse.
In den sogenannten Zwölfen, das ist die Zeit zwischen
Weihnachten und Epiphanias, darf man nichts leihen gehen,
will man nicht für eiuen Hexenmeister gehalten werden, den
man mit seiner Bitte hart abweist. Fast allgemein ist noch der
Glaube herrschend, daß man im Besitze fremden Eigenthums
Anderer Vieh bezaubern könne.
Sauerteig und Hefe leiht man nur gegen Hergabe eines
Brotstückchens. In die Milch, die man verkauft oder verschenkt,
streut man einige Körnchen Salz, damit sie nicht behext, das ist
„reckrig" — krümlich und unbrauchbar— gemacht werden könne.
Das Besprechen der Krankheiten bei Thieren und Men-
schen hat unfehlbar das Gesunden zur Folge. Wird dem All-
aus, einem Honigbier, Hefen zugesetzt, so kreischt man tüchtig,
damit die Flüssigkeit gut gähre und reichlich berauschende Kraft
erhalte. Saatgetreide und Thiere zur Zucht werden gar nicht
oder höchst selten fortgegeben oder selten verkauft, damit der
Segen nicht fortgehe.
Die Roggenernte und das Flachsbrechen sind Volksfeste.
Beide Arbeiten müssen, wenn sie Segen bringen sollen, an
einem Tage beendet werden. Nach dem Einbringen des Roggens
wird ein Aehrenkranz gewunden, den der „Vorarbeiter" auf die
Sense hängt. In feierlichem Zuge begiebt man sich nach der
Wohnung des Herrn und begießt sich dort gegenseitig tüchtig
mit Wasser, während der Vorhauer mit folgender Anrede den
Erntekranz der Wirthin übergiebt: „Guten Abend, Frau Wir-
240
Aus allen Erdth eilen.
thin! Hier bringe ich Ihnen einen Ehrenkranz zu Ihrer Ehre!
So viel Aehrlein, so viel Lichtlein, so viel Körnlein, so viel
Schesslein, so viel Hälmlein, so viel Gläschen Schnaps für mich
und alle Häuer!"
Das Gelage nach solchen Arbeiten wird „Talk" genannt.
Aus Südamerika.
Der transandinische Telegraph zwischen Buenos
Ahr es und Valparaiso ist am 29. Juli dem Betriebe über-
geben worden und somit die Verbindung zwischen dem Atlanti-
scheu Ocean und der Südsee hergestellt. Das Werk ist im No-
vember 1870 von Villa Maria aus in Angriff genommen wor-
den. Buenos Ayres ist mit dem am linken Ufer der La-Plata-
Mündung liegenden Montevideo durch ein Unterwasserkabel
verbunden und der Anschluß an die brasilianischen Drähte wird
noch im Laufe dieses Jahres erfolgen. Das europäisch-brasilia-
nische Kabel, für welches die Kapitalien gezeichnet sind, soll dem-
nächst in Angriff genommen werden.
Argentinien ist im Allgemeinen holzarm, es erscheint
daher von Wichtigkeit, daß bei Maraye in der Provinz San '
Juan ein bituminöses Kohlenlager ausgefunden worden ist-
Dasselbe nimmt einen Flüchenraum von etwa 18 bis 20 Qua-
dratleguas ein, die Mächtigkeit an der Oberfläche beträgt 2y2
'Zards, und die vom Geognosten Graham Stuart vorgenom-
mene Analyse hat ein sehr günstiges Resultat ergeben. Die
Marayekohle ist besser als die von Lota in Chile. Der argen-
tinische Congreß setzte 1870 für das Auffinden von Kohle eine
Prämie von 5090 Pf. St. aus; dieselbe wird an einen Deut-
schen, Herrn Klappenbach, ausgezahlt, welcher auch die Be-
arbeitung des Kohlenlagers in Angriff genommen hat und eine
Bahn baut, um das Product an den Markt zu schaffen.
Am 9. Juli, als die Argentiner das 56. Jahr ihrer Unab-
hängigkeit feierten, hatten sie 620 Miles Eisenbahnen und
abgesehen von den ini Bau begriffenen Linien waren nicht wem-
ger als 51 andere zur Genehmigung an den Congreß gelangt. Es
handelt sich dabei um ein Experiment, das interessant genug er-
scheint. Man will, wenigstens aus Nebenbahnen, das Fofter'sche
System einführen und statt der jetzt so theuren eisernen Schie-
nen dergleichen von zähem harten Holze anwenden, das im
Lande wächst. Die Ausbesserung sei leicht, die Locomotive laufe
sanft und geräuschlos, die Kosten seien gering, da die Herstellung
der laufenden ^)(U'd nur auf etwa einen Dollar zu stehen komme. —
Für die Eisenbahn von Cordova nach Tucuman soll die schmale
Spurweite in Anwendung kommen; die Unternehmer Telfener
und Lumb wollen dieselbe binnen vier Jahren für 1,515,974
Pf. St. herstellen, während die breite Spur auf 2,700,000 ver-
anschlagt worden war. Die Entfernung bis Tueuma beträgt,
von Buenos Ayres aus gerechnet, 320 Miles.
Die Einwanderung von Basken aus Spanien und Frank-
reich und von Italienern hat bis zum 1. Juli 15,702 Köpfe
betragen.
Auch Peru hat eine „internationale Ausstellung" ver-
anstaltet, die am I.Juli zu Lima eröffnet wurde. Die Engländer
ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen, ihre Producte zur Schau
zu stellen; von Baumwollen- und anderen Fabrikaten abgesehen,
paradirten auch! Ale und andere Biere, Gloucesterkäse, Choco-
lade, Wolle, Branntwein :c.; dann auch Maschinen aller Art.—
Am interessantesten war die peruanische Abtheilung. Im
ersten Saale sah man eineSammlung von Alterthümern, an
welchen das Land ja so reich ist, viele Mumien, Kleider aus
Federn, Steinbeile, Bogen, Pseile :c. Vier von den ausgestell-
ten Mumien sind in der Sierra von Guanta im Departement
Ayacucho gefunden worden; der Schädel der einen ist entschie-
den langköpfig. Alle vier haben die bekannte kauernde Stellung;
die Hände werden vor die Ohren gehalten. Bei einer fünften
Mumie hat man die Hände nach rückwärts über den Nacken
gebogen und ihr ist ein mehrmals gewundener Strick um den
Hals gebunden; man meint, daß sie einem hingerichteten Ver-
brecher angehöre. Am rechten Fuße einer weiblichen Mumie
findet man noch ein Stück Sandale. Bemerkenswerth find die
Reste von alten Kähnen und eine Maske aus Leder; diese letz-
tere ist in beträchtlicher Tiefe auf den Chinchainseln gefunden
worden.
Am Tage nach der Ausstellung, 2. Juli, wurde
dieselbe von nicht einhundert Menschen besucht, wäh-
rend am 30. Juni mehr als 10,000 sich an einem
Stiergesechte vergnügten.
H * $
— Das hydrographische Bureau der kaiserlichen Admirali-
tät veröffentlicht das Verhältniß der Längenmaße für maritime
Verhältnisse. Danach ist: 1 Seemeile — 1852 Meter, 1 Kabel-
länge, der zehnte Theil der Seemeile, — rund 1.85 Meter,
1 Kartenlänge für das 14 Secundenglas — 6,84 Meter. —
1 Meter — 3,186 rhnl., — 3,456 brem.. = 3,4895 Hamb.,
— 3,425 Hann., — 3,877 lübeck., — 3,476 mecklb., — 3,379
oldenb., — 3,281 engl. Fuß. — Wo die Sichtweite von Feuern
angegeben ist, bezieht sie sich aus eine Augenhöhe von 4,5 Meter
über Wasser.
— Die argentinische Universität zu Cordova zählte im
Sommersemester (das dort in den Winter fällt) 86 Studenten.
An der Hochschule halten sechs deutsche Professoren naturwiffen-
schaftliche Vorträge.
— Mit den von den europäischen Päpstlingen so hoch ge-
priesenen Jesuiten ist man doch selbst in Centralamerika nichts
weniger als zusrieden. Sie sind dort, wo man ihrer unerträg-
lichen Anmaßungen gründlich müde war, ausgetrieben worden,
und den übrigen Mönchsorden, welche man für unnütz und ge-
meinschädlich erklärt hat, ist dasselbe Schicksal bereitet worden.
Die Post vom 15. Juli meldet Folgendes: Aus Guatemala.
Zu Queseetenango ist eine Freischule für das Volk gegrün-
det worden; der Clerus hat nichts für den Unterricht gethan.
Aus Sau Salvador: Hier ist eine Verschwörung gegen
die Regierung entdeckt worden; die Rädelsführer sind der Erz-
bischof Pinol, die Jesuiten und andere Geistliche. Sie
wühlten auch in den Zeitungen, und es ist deshalb ausnahms-
weise eine strenge Censur eingeführt worden.
— Die Kolonie Südaustralien hat von 1861 bis 1871
nahezu eine Viertelmillion Pfund Sterling verausgabt, um
Einwanderer anzuziehen; trotzdem find nur etwa 4000 im
Lande geblieben, während viele über Adelaide nach Victoria
gingen. Der Kopf hat also durchschnittlich 40 Pf. St. gekostet.
Die Regierung will nun kein Reisegeld mehr zahlen, sondern,
nach dem Vorbilde von Queensland, das sogenannte Land-
Warrants-Ordersystem einführen, um Personen, die ein kleines
Capital besitzen, zu vermögen, daß sie auf eigene Kosten kom-
men und nachdem sie gelandet sind, Scheine im Nominalwerthe
von 16 Ps. St. ausgehändigt bekommen, salls sie sich verpflich-
ten, dauernd in der Colonie zu bleiben. — Im Jahre 1871
sind 85,650 Acres neu unter den Pflug genommen und alle-
sammt mit Weizen bestellt worden. Es waren schon 10,070,367
Acres eingezäunt worden; die Wein- und Kartoffelernten waren
sehr besriedigend ausgefallen.
Inhalt: Völkerskizzen aus dem Gebiete des Bachr el Ghasal. Von Georg Schweinfurth. III. Mit vier Abbil-
dungen.) — Baldwin's „Altes Amerika". (Mit einer Abbildung.) — Aus deutschen Landschaften. Ein Stück hannoverschen
Landes an der Elbe. Von H. Jastram. — Wanderungen in Ecuador. Von Bernhard Flemming. I. — Otto Mohnicke
über die geistigen Anlagen und den moralischen Charakter der Japaner. II. (Schluß.) — Aus allen Erdtheilen: Aus Preußisch-
Littanen. — Aus Südamerika. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
lit besonäerer Herücllsicktlgung äer AntllroxoloZie unü Gtknologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andrer.
Oetober Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1873.
Tyndall^s Alpenwerk^).
Ueber die Alpen zu schreiben ist jetzt so sehr Modesache
geworden, daß in besonderen Büchern und zahlreichen Zeit-
schriften alljährlich eine wahre Sündflnth von Alpenliteratur
sich über uns ergießt. Mehr als bei anderen Fächern heißt
es jedoch hier: Viele sind berufen, aber wellige sind aus-
erwählet. Namentlich iu den verschiedenen concurrireuden
Alpenjournalen und Jahrbüchern finden sich eine Menge
Artikel, die, von Dilettanten herrührend, sehr häusig das Le-
sen nicht werth sind. Auch bei den Engländern, wo „Moun-
taiueering" immer mehr in Ausnahme kommt, wird viel Un-
tergeordnetes producirt, und es erfrischt daher, wenn aus
dem großen Wüste wieder ein Werk hervortritt, das, wie das
vorliegende, von einem Manne ausgeht, der zugleich Mei-
ster in der Wissenschaft, in der Darstellung und
im Alpeusteigeu ist. Diese Dreieinigkeit ist es, dieTyn-
dall's Werke vor Allem Werth verleiht, und so können wir
uns denn nur freuen, daß zu den übrigen ins Deutsche über-
setzten Werken des hervorragenden englischen Physikers auch
noch dieses gekommen ist. Mit Recht bemerkt Professor
Wiedemaun in dem Borworte zur deutschen Ausgabe, daß
Tyndall es verstanden habe, die schwierigsten Probleme der
Wissenschaft in aller Strenge und zugleich vollkommen popn-
lär vorzutragen. So ist das Werk, das wir nicht dringend
genug empfehlen können, auch größeren Kreisen zugängig;
wer die Alpen kennt, möge daraus seine Erinnerung auf-
frischen und zugleich neue Belehrung über dieselben sammeln;
*) „In den Alpen" von John Tyndall. Autorisirtc deutsche
Ausgabe. Mit einem Vorwort von Gustav Wiedmann. Mit in
den Text eingedruckten Holzstichen. Braunschweig. Fr. Vieweg u.
Sohn. 1872.
Globns XXII. Nr. 16. (October 1872.)
wer sie aber noch nicht geschaut, der wird durch Tyndall's
meisterhafte Darstellungen angeregt werden, sie zn besuchen.
Es sind prachtvolle Naturschilderungen darin; wir lernen
die Gefahren des Bergsteigens an der Hand des kundigen
Führers kennen und es „gruselt" uns bei manchem Abenteuer,
das er besteht und das ihn an den Rand des Grabes bringt.
In die 26 Capitel wurden überall streng wissenschaftliche Aus-
führuugen eingestreut, welche doch allgemein verständlich sind,
und ein Anhang recapitulirt, durch neue Beobachtungen
Tyndall's vermehrt, unser Wissen vom Eis und den Glet-
schern. Als Zugabe endlich erhält der Leser die Schilde-
rung eines Aufenthalts an den Seen von Killarney in Ir-
land, eine Beschreibung des Snowdon in Wales im Winter
und eine Reise nach Algerien zur Beobachtung der Sonnen-
finsterniß im December 1870. So mag denn auch von die-
sein Buche gelten: „Wer Vieles bringt, wird Allen etwas
bringen." Unbefriedigt legt es Niemand aus der Hand,
nicht der Gelehrte und nicht jener, der bloß eine Unterhal-
tungslectüre wünscht.
Tyndall sagt selbst, er habe das Buch geschrieben zur
Erinnerung an mühevolle und frohe Stunden, die er auf nun
mehr als zehnjährigen Wanderungen in den Schweizer Alpen
erlebt. Ursprünglich ging er wohl nur in die Alpen, um
die angegriffene Gesundheit durch die frische Bergluft herzu-
stellen, und in dieser Beziehung hat er denn auch Wunder
erlebt. „Sicher ruht," schreibt er, „eine moralische Kraft
im Sauerstoff der Berge, wie eine unmoralische in den Aus-
dünstungen der Sümpfe, und eine edlere Kraft, als nur die
rein thierische, ist latent im Hammelfleisch der Alpen. Wir
erkennen immer mehr den Einfluß der Physischen Elemente
31
242 Tyndall'
auf unser Leben, denn wenn das Blut in einem retnern
Luftstrome rollt, fo ist das Herz für alles Schöne empfang-
licher. Geist und Materie durchdringen sich; die Alpen ver-
edeln uns ganz und wir kehren als klügere und stärkere
Menschen von ihren Abgründen nach Hanse zurück."
Ehe wir auf Tyndall's Bergfahrten hier eingehen, müssen
wir den Leser kurz mit seinem langjährigen Begleiter be-
kannt machen, der viel Mühsal und Noth mit ihm getragen.
Es ist dies der Führer Johann Bemten aus Laax im obern
Rheinthal, den er als den Typus eines einfachen und heroi-
schen teutonischen Bergbewohners hinstellt, „welcher gänzlich
von dem geschmeidig listigen, französisch sprechenden Bewoh-
ner von Chamonni verschieden ist." Es werden ganz sabel-
hafte Dinge von der Ausdauer nnd Umsicht dieses Benuen
Alpenwerk. ■»
berichtet, der allen Gefahren an den schreckvollsten Stellen
entging, und der von einer Lawine aus dem Haut de Ery
bei Sitten verschüttet wurde. Gestürzt wäre er in den Al-
Pen nicht, meint Tyndall.
Mit diesem Bennen und in Begleitung eines Lands-
mannes, Vaughan Hawkins, unternahm Tyndall im Jahre
1860 den ersten Versuch zur Ersteigung des unnahbar
geglaubten Matterhorns von Brenil aus. Es war ein
schwieriges Stück Arbeit, da sie noch keinen Vorgänger ge-
habt hatten, und stets mußten sie die „Vorschriften" der
Alpensteiger im Auge behalten, nämlich: „Wenn Dein
Fuß von den Stufen ausrutscht, wirf Dich gleich auf Dein
Gesicht und bohre Deinen Alpenstock mit beiden Händen tief
unter Deinem Körper ein; so kannst Du Dich möglicher-
Das Matterhorn u
weise festhalten. Einmal auf dem Rücken ist Alles verloren."
Langsam geht es bergauf und das erste Stück Arbeit ist ge-
than. In der Schilderung heißt es: „Wir stehen auf einer
großen rothen Granitplatte, der untersten Stufe des eigent-
liehen Gipfels des Matterhorns. Niemand hat vor nns
dort gestanden. Die Platte bildet das eine Ende des Schnee-
randes, der am andern Ende von überhängenden, 50 Fuß
hohen Felsen überragt wird, dem Ende des Kammes. Auf
einer Seite ist der Schneekrater, um den wir uns herumge-
wunden hatten; auf der andern Seite fällt eine abgedachte
und genarbte Schneeflüche steil nach Norden herunter, wo,
wie wir wissen, der Zmntt-Gletscher liegt. Die Hoffnung,
die ich gehegt hatte, daß man durch diese Spalte einen Paß
von Breuil nach Zermatt gewinnen könnte, wurde gänzlich
vernichtet. Ueber uns erheben sich die Thürme und Fels-
der Furkegletscher.
zacken des Matterhorns, ein furchtbarer Aufbau. Ein wirk-
liches Betreten dieses ernstesten nnd steilsten aller Alpenberge
steigert seinen gewaltigen Eindruck noch ungemein; seine
Form ist merkwürdiger, als die irgend eines andern Berges,
nicht zufällig, sondern weil er aus massiverm und daner-
hafterm Material aufgethürmt und fester in einander ge-
fügt ist: ich habe nirgends ein so bewundernswürdiges Mauer-
werk gesehen. Die großen Gneißblöcke sind meist glatt und
sest, mit wenig Anzeichen von Zersplitterung oder Verwitte-
rung." Indessen diese Besteigung mißlang; das Matter-
Horn wurde dann einige Jahre daraus recoguoscirt und im
folgenden Jahre ein zweiter Versuch unternommen, da der
erste „eine Wolke von Unzufriedenheit" hinterließ. Diese
sollte indessen noch andauern. Das war zur Zeit als Whym-
per wirklich das Matterhorn erstieg. Von zwei Führern
Tyndall's Alpenwerk.
und zwei Trägern begleitet, mit Zelt und allem Röthigen
versehen, wanderte Tyndall durch das Val Touruache auf-
wärts bis zu dem Sattel, der sich an den Fuß des Matter-
Horns erstreckt. Hier wurde das Nachtlager aufgeschlagen.
„Der Nebel, der Feind aller Bergbesteiger, kroch inzwi-
schen die Thäler herauf, während sich dichte Wolkenflocken
um die Hügel zusammenzogen. Als die Nacht hereinbrach,
verdichtete sich der Nebel unter wechselnden Erscheinungen,
wie es nur in einem Berglande möglich ist. Ost rissen
plötzliche Windstöße die Wolken in verticalen Strömen auf-
wärts, während horizontale sie wild hin- und herwarfen.
Oft stürzten sich verschiedene Strömungen auf einander und
bildeten wirbelnde
Wolkenkreise. Ver-
gebens suchte die Lust
in wildem Gewoge
ihr Gleichgewicht zu
finden. Bisweilen
wurde jeder Blick auf
die untere Welt ab-
geschnitten — dann
zerstob der Nebel und
wir sahen die son-
nigen Weiden von
Breuil tief unter uns
lächeln. Plötzliches
Donnergetöse von
den Höhen, dem der
Schall der fallenden
Steine folgte, zeigte
uns eine Sendung
des Matterhorns an.
Wir waren ganz in
Nebel eingehüllt, als
wir schlafen gingen,
und hegten kaum die
leise Hoffnung, daß
die Morgensonne das
trübe Dunkel zer-
streuen könnte. Die
Felsen donnerten
ununterbrochen die
Nacht hindurch, wie
sieden nahenSchrund
herunterstürzten. Ich
öffnete um Mitter-
nacht die Augen und
erblickte durch ein
kleines Loch in der
Leinwand meines
Zeltes einen Stern.
Ich stand auf und Der Aletschgletscher.
fand, daß der Him-
mel von Wolken rein gefegt war, während über mir die stolzen
Festungsmauern des Matterhorns sich gegen den verdunkel-
ten Himmel abhoben."
Wir übergehen die Einzelnheiten dieses zweiten erfolg-
losen Versuchs und erwähnen nur, daß Tyndall bis zu einer
Stelle kam, wo der Kamm, aus dem er vorging, durch einen
tiefen Riß gespalten war, der ihn vom letzten Absturz trennte.
„Nie hatte ich einen so wilden Ort gesehen, und ich setzte
mich hin mit dem Schmerz der enttäuschten Hoffnung."
Endlich gelingt der dritte Versuch. Von den 14,800 Fuß,
welche das Matterhorn hoch ist, waren bei dem zweiten Ver-
suche nur 14,200 erstiegen worden. Die letzten 600 Fuß
überwand man beim letzten Ansteigen mit Hülfe eines frem-
den Seiles, das ein Vorgänger, Maquiuaz, an einer Klippe
zurückgelassen. „Wir erreichten das Ende dieses Seiles und
mein Führer brauchte viel Zeit, um sich zu überzeugen, daß
es nicht durch die Reibung gelitten habe. Es war doppelt
nothwendig, es genau zu prüfen, da die schon an sich selbst
schlecht zu passirenden Felsen hier mit Eis überzogen waren.
An einigen Stellen war das Seil nur ein in Eis eingehüll-
ter hänfener Kern, über den die Hände hülslos glitten. Wir
mußten selbst mit Hülfe dieses Seiles viel Kraft aufwenden,
um auf die Höhe des Abgrundes zu kommen, und gern ruhten
wir hier einen Augenblick, um Athem zu schöpfen. Der
eigentliche Anstieg war vorüber; noch einige Minuten raschen
Kletterns, und wir
waren aus dem vom
Blitz zerrissenen Gi-
psel. So endete mein
langer Kampf mit
dem Matterhorn."
Andere Bergbe-
steiguugen Tyndall's
glückten gleich das
erste Mal. So war
er aus dem Weiß-
Horn und Aeggisch-
Horn, auch fand erden
von ihm „Lawinen-
thor" genannten Paß
über den Gebirgs-
wall, der den Can-
ton Bern von dem
Wallis trennt, so
daß er in einem Tage
von Lauterbrunnen
nach dem Aeggisch-
Horn kam, und auch
die Jungfrau de-
stieg. Vom Faul-
berge aus gelangte
Tyndall in 6 Stun-
den bis auf den Gi-
pfel, den er früh 7
Uhr erreichte. Von
hier aus nun bewun-
dert er die erhabene
Pracht der Alpen, die
in ihrer ganzen Ma-
jestät vor ihm auf-
gerollt lagen. „Wir
können wieder und
immer wieder von den
verschiedensten Punk-
ten aus auf diese
Berge sehen, es um-
giebt sie solch ein ewiger Glanz, daß er jeden neuen Blick mit
frischen Eindrücken verbindet. Ich meinte, die Alpen nie
schöner gesehen zu haben. Ihre Großartigkeit war wohl nie-
mals vollkommener enthüllt oder überwältigender. Die Fär-
buug der Luft trug eben so viel zum Eindruck bei, 'als die
gewaltige Größe der Massen, aus die diese Farbe fiel. Ein
ruhiger Glanz breitete sich über die Berge aus, der die har-
ten Linien der Umrisse milderte, ohne ihnen von ihrer Schärfe
etwas zu nehmen. Doch ist das halbe Interesse solcher Bil-
der ein psychologisches; die Seele nimmt den Ausdruck der
sie umgebenden Natur an und wird selbst erhaben.
Als ich über diese wunderbare Scene nach dem Moni
Blanc, dem Grand Combin, der Dent Blanche, dem Weiß-
31 *
244
Tyndall's Alpenwerk.
Horn, dem Dom und den tausend kleineren Spitzen hinüber-
sah, die Alle sich zur Feier des erwachenden Tages vereint
hatten, fragte ich mich, wie schon früher: Wie ward dieses
ungeheure Werk vollbracht? Wer meißelte diese gewaltigen
und malerischen Massen aus den gewöhnlichen Erhebungen
auf der Erde? Und die Antwort war gesunden. Ewig
jung, ewig allmächtig — die Kraft von noch tausend Wel-
ten in sich tragend — stieg die wahre Meisterin eben jetzt
am östlichen Himmel auf. Sie hob die Wasser, die diese
Schluchten eingeschnitten hatten; sie legte die Gletscher auf
die Bergabhänge, um dem Gesetze der Schwere den Pflug zu
geben, der die Thäler öffnete; und sie ist es, die, thätig
durch Jahrhunderte hindurch, auch endlich diese mächtigen
Monumente niederwerfen und sie allmälig der See zurollen
wird —
Den Samen säend für kommende Welttheile,
so daß die Völker einer spätern Erde fruchtbares Land sich
ausbreiten und Kornfelder
sich wiegen sehen werden
über den verborgenen Fel-
sen, die in diesem Augen-
blicke die Last der Jung-
srau tragen."
Bei so vielen Bergbe-
steignngen und Gletscher-
fahrten, von denen wir nur
einige andeuten konnten, ist
Tyndall natürlich selbst oft
in Gefahr gerathen, und
er war einige Male nahe daran, sich der langen Reihe seiner
waghalsigen Landsleute anzuschließen, die im Eis und Schnee
der Alpen begraben liegen. Im Jahre 1864 bestieg Tyndall
mit zwei Landsleuten, Hutchinson und Lee-Warner, den Piz
Morteratsch. An einem Eis- und Schneeabhange angelangt,
in welchen Stufen zum Hinabsteigen eingehauen wurden, setz-
ten sie Alle, durch ein Seil verbunden, sich in Bewegung,
um die Stufen hinabzusteigen, aber sofort wurden Alle, der
Führer Jenni voran, mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit
den steilen Abhang hinabgerissen. Diese Höllenfahrt schildert
Tyndall folgendermaßen:
„Ehe ich den Abhang betrat, hatte ich mir nach meiner
Gewohnheit klar gemacht, was im
Falle eines Mißgeschicks znthnn
wäre, und so hatte ich mich, so wie
ich umgerissen wurde, sogleich auf
das Gesicht geworfen uud meinen
Stock durch den sich bewegenden
Schnee auf das darunter liegende
Eis gestoßen. Es wurde mir aber
keine Zeit gegönnt, die Bewegung
zu hemmen; denn kaum hatte ich
den fest gehalten, als ich auf eiu
Gewalt durch die Luft geschlendert wurde; Jenni wurde zur
selben Zeit aus mich geworfen. Wir verloren hier Beide
unsere Stöcke. Wir waren über eine Spalte getragen wor-
den, hatten ihren untern Rand getroffen und statt hineinzu-
fallen, hatte unsere große Geschwindigkeit uns weit darüber
hinausgetrieben. Ich war für einen Augenblick ganz be-
täubt, doch fand ich mich gleich wieder zurecht uud kounte
die Männer vor mir halb im Schnee begraben und von den
Felsen, über die wir kamen, hin- und hergeschleudert, sehen.
Plötzlich sah ich sie durch einen Sturz der Lawine kops-
über geworfen und mußte selbst wenige Augenblicke darauf
ihre Bewegung nachahmen. Dies rührte von einer zweiten
Spalte her. Jenni wußte von ihrer Existenz nnd stürzte
sich, wie er mir sagte, gerade hinein — eine kühne That,
Maximum- und Minimum-Thermometer.
aber dieses Mal nutzlos. Er hoffte dadurch, daß er in die
Schlucht sprang, eine Spannung auf das Seil auszuüben,
die genügte, um die Bewegung zu hemmen. Aber, obgleich
er über 250 Pfund wog, wurde er doch heftig aus dem Spalt
geschleudert und durch den Druck des Seiles fast zu Tode
gequetscht.
Ein langer Abhang war unter uns, der zu einem Rande
führte, von dem aus der Gletscher steil herunterfiel. Am
Fuße dieses Absturzes war das Eis von einer Reihe tiefer
Spalten zerrissen, zu denen wir rasch geführt wurden. Die
drei vorderen Männer fuhren aus der Spitze der Lawine
uud waren zeitweise ganz mit Schnee bedeckt; aber die beweg-
liche Schicht war hinten dünner und Jenni stand nnaushör-
lich auf und stemmte mit der Kraft der Verzweiflung feine
Füße in die festere untere Masse. Seine Stimme, die „Halt!
Herr Jesus, halt!" rief, war die einzige, die man während
des Niederfahrens hörte. Alle meine alten Erinnerungen
standen plötzlich vor mir,
wie es bei Leuten der Fall
ist, die dem Ertrinken nahe
waren, und meine geisti-
gen Fähigkeiten blieben nn-
berührt. Ich dachte an
Bennen auf dem Haut de
Ery, und murmelte: „Jetzt
kommt die Reihe an mich."
Dann betrachtete ich kalten
Blutes die Männer vor mir
und überlegte, daß, wenn
neutralisirt werden müßte,
sie aber und
ihn so wenige Secnn-
Hinderniß stieß und mit
nur ihre lebendige Kraft allein
Jenni nnd ich sie wohl zurückhalten könnten!
die Schneemaffe aufzuhalten, in der sie gefangen waren, war
unmöglich. Ich empfand keine besondere Furcht. Der
Sturz war zu schnell gekommen und die Aufregung des
Rutschens zn groß, als daß Schrecken und Angst auskom-
men konnten."
Endlich gelangten sie an eine Stelle, wo der Abhang
weniger steil abfiel, und hier gelang es den Hinabrutschen-
den, zum Halt zu kommen. Zwei oder drei Secnnden weiter
wären aber Alle in einen tiefen Schlund gestürzt. So
kamen sie mit Quetschungen und leichten Wunden davon.
Bei Besteigung des Aletschhorns
schildert er auch den schönen großen
A letschgletscher, über den er drei
Stunden lang wandert. „Unser
Weg zog sich den Bergabhang pa-
ralleldem Oberaletsch-Gletscher ent-
lang, dessen seitliche Moräne gleich
rechts von uns war. Nachdem wir
verschiedene Grashalden hinansge-
klettert waren, stiegen wir auf diese Moräne und erwählten
sie für einige Zeit zu unferm Wege. Der schieferige Kamm
senkte sich an einer Stelle nnd öffnete dem Gletscher einen
natürlichen Durchgang. Wir fanden das Eis höckerig und
gingen deshalb auf eine Mittelmoräne hinüber, die ans
Granittrümmern bestand und hin und wieder ungeheuer große
Granitblöcke trug. Wir fanden jenseits dieser Moräne glat-
teres Eis und besseres Licht, denn wir waren bisher im
Schatten der Berge gegangen.
Dieser Gletscher, dem wir zuerst entlang gingen, war
der Hauptstamm vieler seitlicher Gletscher, und folglich auch
vieler Mittelmoränen, von denen immer eine weniger als
seitliche Gletscher vorhanden waren. Zwei Hauptarme nah-
men aber alle anderen als Bestandtheile in sich auf. Einer
von ihnen kam vom großen und kleinen Nesthorn und ihren
Ausläufern herunter, der andere vom Aletfchhorn. Diesen
Tyndall's
letztem Arm stiegen wir hinter der Vereinigung hinauf. Bis-
her hatte die Oberfläche des Gletschers, geschmolzen von der
gestrigen Sonne und durch den nächtlichen Frost wieder Uber-
froren, unter unseren Füßen gekracht; auf dem Arm des
Aletfchhorns war aber das Eis mit einem fammtartigen
Pelz Uberzogen; er war weich wie ein Teppich und doch zu
gleicher Zeit für das Aufsetzen des Fußes vollkommen fest.
Die Sonne war hinter dem Berge verborgen, und so koun-
ten wir, tief in Schatten gehUllt, nnbelästigt von der Wärme,
die Schönheit und Großartigkeit der Scenerie genießen.
Gerade vor uns stand die Pyramide des Aletfchhorns
mit ihrer fchweren Gletscherlast, und Uber diese hinans ragte
ihr felsiger Gipfel, während rechts und links von uns andere
Spitzen sich erhobeu und zu schneeigen Satteln senkten, wie
sie einen Berg von 14,000 Fuß Höhe stets umgeben. Und
zwischen ihnen allen in der tiefen Ruhe, die der Einsamkeit
des Ortes entsprach, wanden sich die wunderbar schönen
Gletscher, auf denen wir jetzt fast drei Stunden gewandert
waren. Ich weiß nichts, was ich an erhabener Pracht mit
diesen Winterpalästen der Bergbesteiger in der anbrechenden
Morgenbeleuchtung vergleichen könnte. Und das Beste ist,
daß kein Eigenthumsrecht den Werth des Anblickes erhöhen
kann."
Zahlreich sind nun die eingestreuten wissenschaftlichen
Beobachtungen, die der Leser gleichsam spielend mit in
den Kaus bekommt, während Tyndall tragisch oder komisch
schildert. Gleich das vierte Capitel schildert uns, wie er auf
der Spitze des Mont-Blanc eine Thermometerstation ein-
richtete uud mit 26 Trägern den Bergriesen hinaufkletterte,
um Überall 12 Fuß lauge Pfähle einzurammen, welche die
Maximum- und Minimumthermometer trugen. Diesen Un-
tersnchungeu Tyndall's, welche im Austrage der British
Association ausgeführt wurden, verdanken wir die Kenntniß
der Temperaturverhältuisse des Montblanc in verschiedenen
Höhen. Die niedrigste Temperatur auf der höchsten Spitze
des Jardiu war im Winter 1858 —21° C. Was die
angewandten Thermometer betrifft, fo sind sie unter dem
Namen Rnthersord's Thermometrograph bekannt.
Er besteht aus zwei Thermometern, deren Röhren wagerecht
liegen, und von denen das eine ein Onecksilberthermometer,
das andere ein Weingeistthermometer ist. In der Röhre
des Qnccksilberthermomcters liegt ein Stahlstiftchen, welches
durch die Quecksilbersäule fortgeschoben wird, wenn sich das
Quecksilber in der Kugel dieses Thermometers ausdehnt;
wenn uuu aber das Thermometer erkaltet, so zieht sich die
Quecksilbersäule wieder zurUck, das Stahlstäbchen aber bleibt
an der Stelle liegen, bis zu welcher es bei dem höchsten
Stande des Thermometers geschoben worden war; ein sol-
ches Thermometer giebt also das Maximum der Temperatur
an, welches innerhalb einer gewissen Periode geherrscht hat.
In der Röhre des Weingeistthermometers liegt ein ganz
feines Glasstäbchen, welches an beiden Enden etwas dicker
ist, wie man in beistehender Figur deutlich sieht; das Glas-
stäbchen liegt noch in dem Weingeistfänlchen, uud wenn der
Weingeist in der Kugel erkaltet und sich die Weingeistsäule
in der Röhre bis an das erste Knöpfchen des Glasstäbchens
Alpenwerk. 245
zurückgezogen hat, so wird bei fernerm Sinken der Tempe-
ratnr das Glasstäbchen in Folge der Adhäsion zwischen Wein-
geist und Glas von der noch weiter sich zurückziehenden
Weingeistsäule mitgenommen; wenn aber die Flüssigkeit in
der Kugel wieder wärmer wird, so geht beim Steigen des
Thermometers die Flüssigkeit an dem Stäbchen vorbei, ohne
es fortzuschieben; das Stäbchen, welches von duukelfarbigem
Glase gemacht sein muß, damit man es deutlich sehen kann,
bleibt also an der Stelle liegen, welche dem Minimum der
Temperatur entspricht, die innerhalb eines gewissen Zeitran-
mes herrschte.
Bon Wichtigkeit sind Tyndall's Beobachtungen über die
Gletscherbewegung, namentlich jene am Mer de Glace
angestellten (vergl. das Kärtchen auf S. 131 nach Fordes).
Er bestätigt das Gesetz, daß der mittlere Theil eines Glet-
schers sich rascher bewege, als seine Seitentheile. Fünf Li-
nien von Stangen hatte er über den Gletscher gezogen und
deren Maximalbewegung bestimmt; durch Verbindung der-
selben erhielt Tyndall die Gesammtlinie der Mamualbewe-
gung. „Die puuktirte Linie in der Figur aus Seite 244
bezeichnet die Mittellinie des Mer de Glace, die fcharf aus-
gezogene Linie, die die Axe des Gletschers bei den Punk-
ten A A schneidet, ist dann die Linie der Maximalbewegung.
Die Curve ist gewundener als das Thal selbst, und sie
schneidet die Mittellinie des Thalxs, wo dasselbe sich nach
der entgegengesetzten Seite hinwendet. Die Städte liegen
gewöhnlich am couvexeu User des Flusses, wo der Strom
des Wassers keine Schlammablagerung zuläßt; und dasselbe
Gesetz, das den Lauf der Themse regelte und die Lage der
Städte an ihren Ufern bestimmte, arbeitet auch noch in die-
fem Augenblicke mit stiller Kraft in den Gletschern der Alpen."
Wir ersuchen den Leser nochmals, einen Blick auf die
Seite 131 dieses Bandes des „Globus" mitgcthcilte Karle
zu werfen. Bei Betrachtung derselben wird er gewahren,
wie die drei Gletscherzuflüfse des Mer de Glace sich durch
das enge Thal bei Trslaporte drängen. Die Großartigkeit
der Kräfte, welche hierbei ins Spiel kommen, vergegenwärtigt
Tyndall durch die Angabe der von ihn: nachgewiesenen nume-
rischen Resultate. Vor seiner Vereinigung mit seinen Zu-
flüsseu mißt der Gletscher du Gsant quer hinüber 1134
Nards (zn 0,91 Meter). Vor dem Zusammenfluß mit dem
Talefre hat der Gletscher de Lächaud eine Breite von 825
Aards, während die Breite des Armes des Talöfre am Fuß
des Falles vor feiner Verbindung mit dem Lschaudgletfcher
annähernd 688 Aards beträgt. Die Summe dieser Breiten
ist 2597 Aards. Bei Trslaporte werden diese drei Arme
durch eine Schlucht von 893 Dards Breite und mit einer
centralen Geschwindigkeit von 20 Zoll für den Tag hindurch
gepreßt! Noch überraschender ist das Resultat, wenn wir,
nns nur auf einen der Zuflüsse — ans den Sechaud be-
schränken. Dieser breite Eisfluß, der vor seiner Vereinigung
mit dem Talöfre eine Breite von 825 Aards hat, wird bei
Trelaporte zu einem schmalen Strome von weniger als 88
Aards Breite, das heißt zu etwa einem Zehntel seiner frühern
transversalen Ausdehnung zusammengepreßt.
246
Aus der Südsee.
Wir gaben jüngst die Abbildungen einiger tättowirten
Südseeinsulaner, welche dem braunen Menschenschlag ange-
Höven; heute lassen wir einige Bemerkungen Uber die schwar-
zen Bewohner auf deu Neuen Hebriden folgen. Schon
im Vorigen Jahre, als wir den Menschenraub im Großen
Oeean schilderten, haben wir über einige dieser Inseln, ins-
besondere Tanna, gesprochen.
Die Gruppe liegt südöstlich vou den Salomonsinseln,
welche gleichfalls vou schwarzen Leuten bewohnt wird, und
enthält aus einer Strecke von etwa 80 deutschen Meilen eine
beträchtliche Anzahl größerer und kleinerer Inseln; manche
derselben sind vulcauisch und nicht wenige überaus fruchtbar
und malerisch. Die Bewohner sind im Allgemeinen sehr
wild und grausam und zumeist den weißen Leuten sehr feind-
lich gesinnt. Grund genug haben sie, gegen die Fremden
auf der Hut zu sein, weil diese bisher den Menschenraub
in systematischer Weise getrieben haben, und es ist auch jetzt
noch allemal ein gefährliches Wagestück der Missionäre, sich
unter jenen Melanesien: niederzulassen.
Im Allgemeinen haben die Leute auf den Neuen Hebri-
den einen kräftigen Körperbau, der aber doch auf den ein-
zelnen Inseln verschieden ist. Während auf Vat6, einer
dichtbewaldeten Insel mit einem wenigstens für Ausländer
sehr ungesunden Kliuia, schlanke Gestalten allgemein sind,
Junger Mann von der Insel Aneiteum.
erreichen die Bewohner von Tanna keinen hohen Wuchs;
die Frauen sind überall wohl gestaltet. Viele Gebräuche
sind Allen gemeinsam. So legen sie zum Beispiel großen
Werth auf deu Schmuck der Ohren, wie unsere Abbildungen
zeigen; häufig wird auch der Nasenknorpel durchbohrt uud
das Tättowiren ist allgemein. Die Frauen scheeren das
Haar kurz und bekleiden nur einen Theil des Körpers mit
sehr geschmackvoll gemustertem Mattenzeug.
Aneiteum, eine der wichtigsten Inseln der Gruppe,
wird nicht selten von Schiffern besucht, welche dort Sandel-
holz laden. Seit einigen Jahren ist dieser Handel in zweck-
mäßiger Weise geregelt worden, indem einige verständige
und wohlwollende Europäer eine Factorei gegründet haben,
an welche das Product von den Eingeborenen abgeliefert
Frau von der Insel Vanikoro mit ihrem Kinde.
»
wird; so kommen diese nicht mit den Fremden in Berührung
und sind nicht in der Gefahr, geraubt zu werden.
Eine andere, Vanikoro oder Pitt seil and, ist dadurch
berühmt geworden, daß der französische Entdecker La Perouse
an den Korallenriffen, von welchen auch diese Insel umgeben
ist, strandete und daß, seitdem er verschollen war (im Jahre
1788), etwa vierzig Jahre vergingen, bevor man durch Dil-
lon über sein Schicksal Gewißheit erhielt. —
Der Seefahrer, welcher sich deu Inseln nähert, wird
angenehm überrascht durch die landschaftliche Seenerie, welche
sich vor ihm entfaltet. Bei Aneiteum zum Beispiel erkennt
man das etwa eine englische Meile vom Lande entfernt lie-
gende Korallenriff schon von Weitem an einer langen, wei-
ßen Schaumlinie. Das ist die Brandung. An zwei Stel-
Aus der
len erhebt sich dieses Riff über den Meeresspiegel, und so
entstehen zwei kleine, flache Inseln; diesen gegenüber bildet
die Küste der Hauptinsel eine tiefe Bucht; hinter dem Strande
derselben steigen in kurzer Entfernung die Berge in abwech-
selnden Formen empor, und das Ganze bildet ein wahres
Mustergemälde einer Jnfellandfchaft. Die von malerischen
felsigen Vorgebirgen umgebene Bucht hat etwa eine englische
Meile im Durchmesser. Von Palmen beschattet liegt ein
hübsches Dorf am Strande; in demselben steht eine kleine
Kirche. Zu einer im Hinterlande sich ausdehnenden Ebene,
die wohl angebaut ist, ziehen sich den engen Pfad entlang
sorgfältig gehaltene Bambushecken; auf den Feldern werden
Mms, Taro, Zuckerrohr und Bananen angebaut, an man-
chen Stellen erheben sich Brotfruchtbäume mit ihren dicht
belaubten Kronen. Der Abhang des Berges ist mit riesigen
Bäumen bewachsen und die Zahl der Farrnkräuter ist über-
rascheud groß. Der Schweizer O. Riet mann (Wanderun-
gen in Australien und Polynesien, St. Gallen, Scheitlin
und Zollikofer, 1868) bemerkte dort eine geradezu kolossale
Schlingpflanze, welche mit ihrem armsdicken Stamme
Südsee. 247
bis in die höchsten Baumwipfel hinaufreicht; sie trägt fuß-
lange, glänzend grüne, ovale Blätter.
Die Eingeborenen hielten sich, den Weisungen der Mis-
sionäre folgend, von den weißen Wanderern fern, und erst
am sechsten Abend kam ein alter Schwarzer mit einem Korbe
voll Muscheln, für welche er ein blaues Hemd verlangte.
Es waren riesige Schnecken, sechs Zoll hoch und eben so
breit, die größten Einschaler, welche Rietmann je gesehen,
mit dicker, außen fchmutziggriwer, innen perlmutterglänzender
Schale. „Bald loderte am Strande ein großes Feuer, über
das wir einen Kessel stellten, in welchen die Muscheln gewor-
sen wurden. Der Glanz des Feuers lockte dann eine Menge
Eingeborener herbei, die sich im Sande lagerten und beim
Scheine der Flamme malerische, wilde Gruppen bildeten.
Das Thier jeder Muschel lieferte wenigstens ein Pfnnd zar-
tes, weißes Fleisch, das von den Schwarzen begierig ver-
zehrt wurde; ich kostete ebenfalls davon nnd fand es sehr
genießbar/'
Erromango, das in unseren Tagen so oftmals genannt
wird, ist hoch und kühn, schön wie alle Nen-Hebriden; „ein
Das Dorf Vanou n
Paradies, bevölkert von Teufeln" ; denn die Leute dieser Insel
gelten für die unbändigsten der ganzen Gruppe. Seitdem
1839 die Missionäre Williams und Harris von ihnen er-
mordet wurden, besteht dort fortwährend ein kleiner Racen-
kämpf zwischen Schwarzen und Weißen, und erst einige
Monate vor Rietmann's Ankunft war der Missionär Gor-
don mit seiner Gemahlin erschlagen worden. Aber trotzdem
finden sich in jedem Jahre Händler ein, um Sandelholz zu
kaufen; mitten unter den Wilden hatte sich ein Engländer
mit seiner Familie niedergelassen, — der einzige Weiße auf
der Insel. Es liegt allerdings im Interesse der Eingebo-
renen, mit den Sandelholzhändlern in gutem Einvernehmen
zu stehen, denn nur von ihnen erhalten sie Taback, Eisen,
Tücher und andere europäische Producte, welche ihnen bereits
unentbehrlich geworden sind. Aber jener waghalsige Englän-
der war doch in einer gefährlichen Lage und er hatte schon
einmal einen nächtlichen Ueberfall mit Feuerwaffe» und sei-
nem großen Hunde abweisen müssen.
Etwas nördlich von 18" S. liegt die große Insel Vats,
welche widersinnig genng von den Engländern auch Sand-
wich genannt wird; an ihrer Nordwestseite liegt der schöne
der Insel Vanikoro.
und sichere Havanahafen. Die Eingeborenen sind stark und
kräftig gebaut, mit etwas weniger dunkler Haut als jene auf
den übrigen Neuen Hebrideu; sie handeln gern nnd bringen
den Schissern Muscheln, Zierrath und Waffen, um Taback
und Kattun dagegen einzutauschen. Auf dieser Insel fand
Nietmann zwei „gelbe" Missionäre, Leute von den Naviga-
toren nnd den Freundschafts- (Tonga-) Inseln. Diese gel-
ben Lehrer sind die Pioniere der weißen Missionäre und
lassen sich von diesen an beliebigen Inseln aussetzen, um das
Bekehruugswerk vorzubereiten. Falls die Wilden nicht ab-
geneigt sind, berichten die Gelben ihren weißen Oberen über
den Stand der Dinge, und gewöhnlich kommt dann auch
bald ein weißer Missionär, bauet eine Capelle, hält Schule,
bekehrt, so gut es eben angeht. Auf Bat« konnten sie län-
gere Zeit nichts ausrichten, aber nach und nach haben sich
doch einzelne ihnen zugewandt. Die Nichtbekehrten sind noch
Eannibalen, und häusig finden Gefechte und Metzeleien zwi-
schen Weißen nnd Schwarzen statt, wobei sich häufig die
ersteren nicht minder barbarisch zeigen, wie ihre schwarzen
Gegner, nur mit dem Unterschiede, daß sie ihre erschlagenen
Feinde nicht auffressen. Noch leben in der Erinnerung der
i
248 Wilson's Untersuchungen über
Insulaner jene Sandelholzhändler, die im Jahre 1842 viele
Eingeborenen tödteten, Plantagen und Häuser verbrannten
und schließlich, um ihrer Barbarei die Krone aufzusetzen,
eine Anzahl Schwarzer, die sich in eine Höhle geflüchtet hat-
ten, durch ein am Eingange der Höhle angezündetes Feuer
erstickten. Aber die Wilden vergalten diese Frevelthat nach
besten Kräften. Sie überfielen manche Boote und selbst
Schiffe und suchten die weißen Civilisationsbarbaren durch
List und Verrath zu verderben. Sie gingen dabei mit schlauer
Berechnung zu Werke. Einst näherten sie sich, im Wasser
watend, einem Boote, das heranfuhr, um mit ihnen zu han-
deln, in großer Zahl. Man ließ sie, da sie keine Waffen
trugen, in beträchtlicher Menge herankommen;— aber jeder
schwarze Mann hatte eine Streitaxt an seiner gro-
ßen Zehe befestigt! Als die Insulaner neben dem Boote
waren, kam die Waffe zum Vorschein, alle Weißen wurden
erschlagen und die Schwarzen waren mit den Leichen, die
ein saftiges Mahl abgeben sollten, schon im Walde ver-
schwnnden, bevor die Mannschaft des in der Nähe ankern-
den Schiffes Hülfe bringen konnte. Die gelben Lehrer sind
eifrig bemüht, den gegenseitigen Barbareien zu steuern, und
wenn die Weißen den Menschenraub einstellen, werden auch
die mit Recht erbitterten Schwarzen allmälig zu zähmen sein.
Die gelben Missionäre, denen Nietmann einen Besuch
abstattete, wohnen auf einer kleinen Insel in der Bucht. Die
blaue Fluth ist so klar, daß man tief unten die Korallen,
Seeigel und Seesterne erblicken konnte. Eine Koralle, die
schöne Melitaea ochracea, bildet in seichtem Wasser wunder-
hübsche, tiefrothe Diminutivwälder von ein bis zwei Fuß
Höhe und in denselben treiben sich zahlreiche, buntgefärbte
Fische und Krabben umher. „Die Missionäre empfingen
uns freundlich und führten uns alsbald in ihr hübsches, ge-
räumiges Bambushaus. Sie sind von den Schifferinseln
(Navigatoren, Samoa) gebürtig, hochgewachsene, stattliche
Leute von braungelber Farbe, deren angenehme Züge bedeu-
tende Intelligenz verrathen. Noch bessere Exemplare waren
ihre beiden Frauen, von denen besonders die eine Züge be-
saß, auf welche, von der gelben Farbe abgesehen, jede Euro-
päeriu hätte stolz sein dürfen. Beim Mittagsessen wurde
zuerst ein''Schweinskopf mit Taro und Aams aufgetragen;
dann folgte in Kokosmilch gekochte Arrowroot, eine Speise,
die auch einem verwöhnten Feinschmecker munden wird; den
Nachtisch bildeten Bananen und andere Früchte; das Ge-
tränk war Milch von der Kokosnuß. Als ich nach einem
Spaziergange in das Dorf zurückgekehrt war, stopfte ich mir
eine Pfeife und fchlug mit Stahl und Stein Feuer. Den
zahlreichen Schwarzen, welche mich umdrängten und jeder
meiner Bewegungen mit gespannter Aufmerksamkeit folgten,
entfuhr ein Schrei des Entsetzens, als sie die Luute plötzlich
glimmen sahen, und Jeder wollte nun das wunderbare Feuer
von dem brennenden Stricke in seiner Pfeife haben."
Es ist überhaupt noch Vieles primitiv auf jenen Inseln.
Auf Apee, wo die Reisenden Nahrungsmittel gegen Eisen
und Kattun eintauschten, trat ein alter Häuptling zu Herrn
Rietmann und blickte ihn lange aufmerksam an; dann zeigte
m Jndianerstamm der Huronen.
er laugsam auf die Brille des weißen Mannes und setzte
dieselbe unter dem Jubelrufe seiner Landsleute auf seine
Nase. Ungern gab er sie zurück, ließ dann aber, als Lock-
mittel, einen Hausen von Kokosnüssen und Bananen auf-
schichten. Als aber der Tausch für die Brille zurückgewiesen
wurde, schaffte man die Früchte wieder in den Kahn, legte
aber ein fettes, schwarzes Schwein hin. Als auch das nichts
half, entfernte sich der Häuptling und warf einen grimmigen
Blick auf den Europäer.
Auf Mallicolo waren die Schwarzen mit dem Ge-
brauche des Tabacks noch nicht bekannt, aber Eisen und
Zeug tauschten sie gern ein. Das Schiff hatte eine große
Menge zweizölliger eiferner Faßbänder an Bord; diese wnr-
den in zwei Fuß lange Stücke zerschlagen und den Wilden
gegeben. Sie schärfen durch langes Reiben an Steinen ein
Ende des Eisens und binden es an einen Stock, so daß es
einen spitzen Winkel bildet; mit diesem Werkzeuge bearbeiten
sie ihre Felder und behauen das Holz zu ihren Waffen.
Die Leute auf Mallicolo sind arge Cannibalen, und
bisher hat uoch kein Missionär oder ein anderer Europäer es
gewagt, unter ihnen seine Wohnstätte aufzuschlagen. Wäh-
rend Rietmann sich auf Deck die Hände wusch, kam ein
Schwarzer grinsend auf ihn zu, ergriff seinen Arm und
gab zu verstehen, daß der gut zn essen sei. Sein Geberden-
spiel und das mehrmals wiederholte Wort Kaikai, das in
den meisten Dialekten der Gruppe essen bedeutet, deuteten
klar genug an, wonach es ihn gelüstete. „Wenn unter den
Eingeborenen Australiens manche Stämme Cannibalen sind,
so erklärt sich das. Die Natur hat sie nur karg mit Nah-
ruug aus dem Thier- und Pflanzenreiche beschenkt und man
begreift, daß solche Wilde ihre Zuflucht zu Menschenfleisch
nahmen. Aber auf den von der Natur geradezu beglückten
Inseln der Südsee bringt die Natur nahrhafte und wohl-
schmeckende Pflanzen in Fülle hervor.- Aams, Taro, Brot-
srucht, Bananen und viele andere; den Eingeborenen stehen
Schweine, Vögel und Fische zu Gebote, und doch sind sie
aus manchen Eilanden die eingefleischtesten Cannibalen."
Ueber die Missionäre auf den melanesischen Inseln
äußert Rietmann in Folge eigener Beobachtung, daß sie in
ihrem Eifer gewöhnlich zn weit gehen. Ist es denn, fragt
er, nölhig, die armen Schwarzen so gar streng in die angli-
kauische Zwangsjacke zu stecken und ihnen vollkommen
unschuldige Genüsse als sündhaft darzustellen? Die Schwar-
zen können, wenn sie sich glücklich fühlen, ihre Freude durch
nichts Anderes als durch Tänze ausdrücken, zu welchen sie
ihre einfachen Weisen singen. Aber wenn sie „Christen"
' werden, wird ihnen der Tanz als unsittlich streng verboten
und statt der einheimischen Lieder mit ihren einfachen und
doch häufig so klangvollen Melodien bietet man ihnen als
einzig erlaubte Gesänge die — jüdischen Psalmen! Als
die Reisenden auf Aueiteum, einer jetzt ganz „bekehrten,
christlichen" Insel, landeten, grüßten die Eingeborenen
nicht; wenn man sie um etwas befragte, antworte-
ten sie nicht und gingen fort. Die Missionäre verbie-
ten auch den Genuß des Tabacks, der ja „vom Teufel" ist!
Wilson's Untersuchungen über
r. d. Die englische Zeitschrift „Nature" bringt eine Be-
sprechung der Schrift von Daniel Wilson „The Huron
Race and its Head form", welcher wir die folgenden all-
gemein interessirenden Mittheilungen entnehmen.
m Jndianerstamm der Huronen.
Der nordamerikanische Jndianerstamm der Huronen
scheint, als die vordringenden Franzosen zuerst mit ihm Be-
kanntfchaft machten, in verpallifadirten Dörfern rings um
Lake Simcoe im westlichen Canada gewohnt zu haben. Sie
Wilson's Untersuchungen über
selbst nannten sich Uandots oder Waiandots und bestanden
aus vier getrennten Nationen, den Attignaueutans (der Bä-
rennation), den Attignenonghas, den Ahrendarrhonons und
den Tohotaenrats. Als die Iesuitenmissionäre im Jahre
1639 sie aufsuchten, bewohnten sie 32 Dörfer. Brsbeus
berechnete im Jahre 1635 ihre Gesammtzahl auf 30,600
Köpfe, während sie 1660 in anderen Quellen zu 35,000 See-
len angegeben werden. Die Huronen, welche zu jener Zeit
Canada bewohnten, waren, wie Wilson zeigt, völlig unabhängig
von europäischem Einflüsse, sehr wohl mit dem Ackerbau ver-
traut. Der civilisirten Welt wurden sie nur erst zur Zeit
ihres Verfalls und kurz vor ihrer Ausrottung bekannt. Da-
mals waren sie mit den Adirondacks und anderen Algon-
quinern gegen ihren gemeinsamen Feind, die Irokesen, ver-
bändet. Unter den letzteren versteht man bekanntlich ein
Bündniß von Stämmen, die oft als die Indianer der fünf
oder sechs Nationen bezeichnet werden. Diese Stammes-
conföderation war während des 17. Jahrhunderts die große
aggressive Nationalität des amerikanischen Continents, welche
unterjochte, ausrottete oder die Stämme, mit welchen sie in
Berührung kam, in sich ausschlürfte.
Cartier entdeckte im Jahre 1535 Canada; Champlain
erforschte und besiedelte es dann später; er besuchte im Jahre
1615 das Land der Huronen, und es scheint, daß er den
ganzen District zwischen dem Ottawaflusse und LakeSimcoe
fast entvölkert fand, was der unerbittlichen Feindschaft der
Irokesen zugeschrieben werden muß. Diese Region nun
wurde gegen Ende des 17. Jahrhunderts der Schauplatz der
unermüdlichen Thätigkeit einer Reihe von Missionären, von
denen einige ihre Arbeiten zwischen Huronen und Irokesen
theilten und den Märtyrertod durch die Hand jener wilden
Nationen erlitten, deren Bekehrung sie anstrebten. Bis ins
Einzelne gehende Karten und Entdeckungsgeschichten der Mis-
sionäre berichten uns über den Fortgang der Forschung in
der Gegend um die Georgianbai (des Huronsees) und geben
uns eine so genaue Vorstellung der Topographie der Huronen-
dörfer, daß die Lage der meisten derselben neuerdings hat
nachgewiesen werden können. Dr. I. C. Tach« verwandte
die Mußestunden von fünf Jahren auf die Erforschung des
Huronenlandes; er folgte den Spuren der ersten Schrift-
steller über dasselbe, deren Berichte in den Relationen der
Jesuitenväter von 1611 bis 1672 niedergelegt sind, und
war im Stande, die Lage ihrer hauptsächlichen Dörfer nach-
weisen und ihre Begräbnißstätten, die an Geräthen, Waffen
und anderen für die Künste und Sitten der Eingeborenen
wichtigen Gegenständen reich sind, erforschen zu können.
Die Begräbnißgebräuche der Huronen waren von
sehr eigentümlicher Art. Ihre Todten wurden zunächst auf
erhabene Bahren oder Gestelle gesetzt, wie es jetzt noch beinj
Cowlitzstamme am Columbiaflusse und bei anderen Stäm-
men geschieht. Rund um die Bahren waren Gerätschaften
und Schmucksachen des Verstorbenen sammt Liebesgaben der
Ueberlebenden ausgehängt. Starb Einer auf der Reife oder
auf dem Kriegspfade, so wurde er zeitweilig begraben; doch
merkte man sich den Begräbnißplatz sorgfältig, um später
die Gebeine nach dem allgemeinen Begräbnißplatze
des Stammes überführen zu können. In Zwifchenräu-
men von 10 bis 12 Jahren wurde das große „Fest der
Todten" von jeder Nation der Huronenconsöderation ge-
feiert. Eine dieser großen Feierlichkeiten, die zu Ossosane
an der Nottawasagabai, dem Hauptorte der Bärennation,
begangen wurde, ist im Jahre 1636 von den Jesuiten beob-
achtet worden. Die Skelette wurden von Verwandten aus
den alten Gestellen gesammelt oder Begrabene aus entfern-
ten Gräbern herbeigeschafft. Die Gebeine jener, die erst in
neuer Zeit gestorben waren, wurden sorgfältig von den noch
Globus XXII. Nr. 16. (Oktober 1872.)
den Jndianerstamm der Huronen. 249
übrigen Fleischtheilen befreit, in Häute eingewickelt und mit
allerlei Zierrath geschmückt. Die alten Wampumgürtel,
die Pfeifen, Kessel, Bogen, Pfeile, Aexte, Perlen, welche rings
um die Bahre gehangen hatten, wurden zusammengelesen
und das Ganze wurde nach dem bestimmten Friedhof ge-
bracht. Hier wurde nun ein großer Graben gemacht, sorg-
fältig mit Biber- und anderen Fellen ausgelegt, und nach
einem Leichenfest, wobei die Weiber ihr Klagegeheul anstimm-
ten, und nach den Reden, welche die Häuptlinge zum Preise
der Todten hielten, wurden die sterblichen Ueberreste zusammt
den Leichenopfern in dem Graben beigesetzt. Nur im Falle,
daß ganz kurz vorher Einer gestorben, wird dessen Körper
ganz, in Pelze gehüllt, mitbegraben. Die Erde wurde einge-
stampft, Baumstämme und Steine wurden über der Grab-
stätte aufgehäuft und mit einem Leichengesang schloß man das
große Todtenfest.
Nach diesem systematischen Gebrauche, die Ueberreste der
todten Huronen zu sammeln, konnte man in der Nachbar-
schast eines jeden Dorfes auf eine oder mehrere Begräbniß-
stätten rechnen. Dr. Tachs erforschte im Ganzen 16, in
deren jeder 600 bis 1200 Skelette lagen. Aus denselben
Gräbern sammelte er auch zahlreiche Belegstücke der heimi-
fchen Kunst und der Gebräuche dieses Volkes; dazu kamen
80 Schädel, die jetzt im Museum der Laval-Universität in
Quebec aufbewahrt werden.
Ein anderer Forscher, John Langton, welcher über die
frühesten Entdeckungen der Franzosen in Nordamerika ein
Buch geschrieben hat, kam auf den nämlichen Gedanken, die
alten Dörfer der Huronen aufzusuchen. Er fand auch die
Spuren von 14 derselben, und bei vielen konnte er noch die
Reste der Häuser und die Verpallisadiruugen erkennen. Er
war so glücklich, St. Jgnace zu identisieiren, ein Dorf,
vor welchem der Häuptling und fast 100 Irokesen fielen,
ehe die Huronen überwunden wurden, und deren armselige
Ueberreste, an Pfähle gebunden, in den flammenden Ueber-
bleibfeln ihres Dorfes umkommen mußten. St. Jgnace
wurde 1649 zerstört. Einige Huronen fanden Zuflucht
unter den Petuus, Neutres und Eries, mit denen sie sich
vermischten. Das Schicksal eines andern Theils der Flücht-
linge wirst ein Helles Licht auf den indianischen Gebrauch,
sich in einen andern Stamm incorporiren zu lassen. Die
Ueberlebenden in zwei Huronenorten eröffneten Unterhand-
lungen mit ihren Feinden, den Senecas, und wurden in die
Senecanation aufgenommen. Und eine andere Schaar machte
sich unter der Leitung von Jesuitenmissionären nach Quebec
auf, wurde später in Loretto am St.-Charles-Flnsse ange-
siedelt, wo ihre Nachkommen, freilich stark mit europäischem
Blute gemischt, noch leben, ein französisches Patois sprechen
und aus dem der Regierung zur Verfügung stehenden In-
dianerfonds unterstützt werden.
Die Blutmischung hat fast ganz die ursprünglichen cha-
rakteristischen Eigenschaften der Huronen von Loretto ver-
wischt, obgleich dieser Stamm ursprünglich nicht im gleichen
Grade, wie die Jrokesenconföderation, die Aufnahme von
Kriegsgefangenen in die eigene Nation betrieb. Daher haben
auch die auf den alten Huronengrabstätten gesammelten
Ueberbleibsel in ethnologischer Beziehung einen besondern
Werth; sie können als authentische Reliquien der reinen Hu-
ronen betrachtet werden. Als ein Beispiel der Bereitwillig-
keit, mit welcher die aggressiven Irokesen andere Racen in
ihren Stamm aufnahmen, erwähnt Dr. Wilson eine alte
Squaw aus reinem weißem Blute, die fast ein Jahr-
hundert alt sein sollte, die bis vor Kurzem noch, oder heute
vielleicht noch, an der Quintebai als ein Glied des Mohawk-
stammes lebte. Ihr Jndianername ist Ste-nah, eine Zu-
sammenziehung von Christiana. Sie ist eine reinblutige
32
250
Baron von Richthofen im Innern Chinas.
Skoha-ra oder Holländerin. Als der Verfasser zuletzt von
ihr hörte, lebte sie bei ihrer Enkelin, der Frau eines Mo-
hawkhänptlings.
Dr. Wilson hat speciell die Hnronenschädel, 37 an
der Zahl, untersucht. Der Hauptzweck seiner Untersuchung
ist, die Wahrheit der von Dr. S. G. Morton, dem Her-
ansgeber der „Crania amertcana", aufgestellten Lehre zu
bestätigen, nämlich, daß die amerikanische Race in Bezug aus
Schädelcharaktere von einem Ende des Continents bis zum
andern dieselbe ist, und daß das typische amerikanische Cm-
nium sich durch Kürze auszeichnet. Dr. Wilson's Unter-
suchungen haben Übrigens ergeben, daß doch viel Abwech-
selung innerhalb der eingeborenen amerikanischen Race ist,
namentlich in Bezug auf die Länge der Schädel. Abgesehen
von künstlich deformirten Schädeln zeigt sich der Längen-
durchmesset' der Hnronenschädel zwischen 7,9 und 6,8 Zoll
englisch, also Uber einen Zoll schwankend. Außer diesen 37
speciell gemessenen hat Wilson noch eine Anzahl anderer
Hnronenschädel untersucht, und er kommt zu dem Schlüsse:
„Der Anblick von über 70 Schädeln, die alle den Begrab-
nißstätten eines und desselben Stammes entnommen sind,
bietet dem Ethnologen ein besonders interessantes Studium.
Aber für Jemanden, der erfüllt ist mit der gleichmäßigen
Persistenz eines specisischen ethnischen Typus, ist das Ergeb-
niß keineswegs zufriedenstellend." Die Schädel varii-
ren außerordentlich in der Länge. Wilson führt auch
aus, wie bei den eingeborenen amerikanischen Stämmen
Dolichocephalie wie Brachycephalie vorkomme.
Ueberhaupt scheint die Verschiedenheit größer zu sein, als
Morton angenommen.
Baron von
Uns liegen neuere Nachrichten vor über die Wanderun-
gen unseres ausgezeichneten Landsmannes in den westlichen
Provinzen des Blumenreiches der Mitte. Bekanntlich war
es die Absicht des Herrn von Richthofen von der westlichen
Landschaft Sze tschuen nach Süden in Muuan einzudringen
und von dort ins birmanische Reich nach Bhamo am obern
Jrawaddy zu gehen. Er hat jedoch, gleich Cooper, seinen
Plan nicht ausführen können und ist unverrichteter Dinge
nach Schanghai zurückgekehrt. Offenbar will die chinesische
Regierung nicht, daß dieser alte Handelsweg wieder eröffnet
werde, und ohnehin sind die Zustände im westlichen Theile
des Reiches überall auf das Aeußerste zerrüttet.
Im vorigen Jahrhundert war es den katholischen Mis-
sionären nnverwehrt, sich auf jener Route ungehindert zu
bewegen. Die „Overland China Mail" (vom 6. Juli)
erinnert daran, daß 1766 der Vorsteher der Mission in
Macao ungehindert mit den Missionären in Pegu, also im
Mündungsgebiete des Jrawaddy, Verbindungen unterhielt.
Ferner melden die Missionsannalen, daß zwischen den Iah-
ren 1769 und 1775 Pater Cleyo, der seine Station in
Sze tschuen hatte, von dort sehr häusig Fußreisen nachMn-
nan machte und von hier aus drei Mal weiter nach Birma
ging, ohne daß man ihm irgendwo Hindernisse in den Weg
gelegt hätte. Auch an einem Beispiel aus der neuesten Zeit
fehlt es nicht. Vor vier oder fünf Jahren theilten italieni-
sche Blätter einen Brief des Paters Abbona mit, der als
Missionär in der birmanischen Hauptstadt Mandelay lebt.
Er schrieb seinen Freunden in Italien, daß jüngst bei ihm
zwei chinesische Christen aus Aünnan über die Gebirgspässe
(— wahrscheinlich über den Gulanpaß —) gekommen seien.
Praktikabel ist die alte Karawanenstraße an und für sich
auch hente noch; darüber lauten die Aussagen der Panthays
(—- d. h. der Mohammedaner in Mnnan —) und der Be-
wohner der Schanstaaten (— im nördlichen Theile Birmas —)
übereinstimmend; aber die Schwierigkeit liegt darin, daß der
Reisende durch das Gebiet feindlich gesinnter Stämme wan-
dern muß. Sowohl Cooper wie Herr von NichtHofen wissen
davon zu erzählen, und ohnehin wollen die Lamas im östlichen
Tibet, welchen die chinesische Regierung das Monopol des
Kleinhandels mit Thee gegeben hat, von einer Concnrrenz
mit europäischen Kaufleuten nichts wissen. Wir haben da-
für in unseren Aufsätzen über Cooper's Reise einige Belege
gegeben. Die „Overland China Mail" meint, es werde
n im Innern Chinas.
wohl nichts weiter übrig bleiben, als eine „militärische Er-
sorschungsexpedition" auszurüsten, die sich allerdings fried-
lich verhalten, im Nothfall aber energisch mit den Waffen
auftreten müsse. Wir unsererseits halten dafür, daß eine
solche Expedition von vornherein auf alle möglichen Hinder-
nisse treffen würde, sowohl von Seiten der chinesischen Re-
gierung wie bei den Leuten in den Grenzprovinzen selbst.
Und angenommen, es gelänge ihr, durch Mnnan nach Bhamo
zu kommen, wäre dann die Handelsstraße für einen nnge-
störten, friedlichen Verkehr eröffnet? Sicherlich nicht; also
wäre das Unternehmen zwecklos.
Die europäischen Kaufleute in den eröffneten Seehäfen
Chinas verhalten sich gleichgültig gegen einen Handelsweg,
welcher einen Theil des Waarenzuges aus dem Innern nach
Westen hin ablenken und den Jrawaddy zum Coucurreuten des
Aangtsekiang machen werde; denn auch Einfnhrwaaren kämen
auf demselben von Südwesten her ins Innere Chinas; Ran-
guhn würde eine Rivalin von Schanghai. Aber die Sache
selbst wird doch immer wieder aufs Tapet gebracht, so jüngst
vom Handelshause Webb, Rings und Ridings in Liverpool
in einer kleinen Schrist, in welcher die Vortheile der söge-
nannten Sprye-Route zwischen Birma und Westchina
erörtert werden. Dieselbe geht von Rangnhn in Pegu in
nordöstlicher Richtung über, Kiang Tuug und Kiang
Huug und berührt am Lotsangflusse (— ohne Zweifel
ist der Lantfankiang gemeint, der Mekong, Fluß von
Kambodscha —) die chinesische Grenze; derselbe bildet auf
einer Strecke von etwa 200 Miles die Westgrenze von
Aünnan. Diese Route ist in der Luftlinie etwa 500 Miles
lang und der Weg selbst nicht beträchtlich weiter; sie sei der
Bhamoroute vorzuziehen, eigne sich zur Anlage einer Pferde-
bahn und man könne dann britische Fabrikate von London
bis ins westliche China (über Ranguhn) binnen etwa 40
Tagen schaffen; der einige tausend Miles betragende Umweg
über Schanghai werde vermieden. Auch liege diese südliche
Route so weit entfernt von der Hauptstadt des birmanischen
Königs, daß man sie im Fall eines Krieges mit letzterm
leicht offen erhalten könne; auch fei sie das ganze Jahr hin-
durch zu benutzen, nicht bloß, wie die Bhamoroute, in den
trockenen Monaten. Der Lantfangkiang sei fahrbar für
schwerbeladene Dschonken von Kiang Hnng an bis tief in
das Innere Chinas; man gelange auf ihm 300 Miles weit
bis Talifu, der Hauptstadt von Munan, welche auf dieser
Baron von Richthof
Route von Rangnhn nur etwa 800Miles entfernt sei, wäh-
rend der Weg Uber Bhamo etwa 1200 Miles betrage. Ge-
genwärtig ist übrigens noch kein Handelsverkehr zwischen
Europa und den Westprovinzen Chinas vorhanden, eben weil
eine sichere Straße fehlt.
Um wieder auf Herrn von Richthofen zu kommen, so
hat derselbe an die Handelskammer zu Schanghai einen höchst
interessanten Bericht erstattet, welchem wir das Nachstehende
entlehnen; derselbe bildet den Vorläufer für eine umfassende
Arbeit, durch welche wir ohne Zweifel einen genauen Ein-
blick in die inneren Verhältnisse der westlichen Provinzen
erhalten werden. Der Reisende verließ Schanghai am letz-
ten September 1871, ging nach Peking, begab sich von dort
am 25. October nach Kalgan jenseits der großen Mauer,
machte einen Streifzug in die Mongolei, wanderte dann füd-
lich nach Ta tnng fu und von dort durch die Provinz Schan si
von Norden nach Süden in die Provinz Schen si, welche
er beiTung kuau erreichte, wo der obere Nangtsekiang einen
so großen Bogen macht. Er besuchte Si ngan fu, ging
weiter südlich nach Sze tschuen hinein über die Tsin-
ling-schan-Kette bis nach Eching tu fu, der Haupt-
stadt vou Sze tschuen. So weit war es ihm gelungen,
seinen Plan durchzuführen; jetzt lag ihm daran, nach Süd-
westen vorzudringen und die Talisu-Bhamo-Route zu erfor-
schen. Dabei erging es ihm aber, wie schon erwähnt, ähn-
lich wie seinem Vorgänger Cooper, und auch er kann von
Glück sagen, daß er mit heiler Haut zurückgekommen ist.
Uebngens lobt er die Mandarinen, welche alle beflissen ge-
Wesen seien, ihm förderlich an die Hand zu gehen. Im füd-
lichen Sze tschuen spielten die Aung Ping, Miethsoldaten,
besser gesagt Räuber, die Herren. Die Straße nach Süden
hin bis Tsching su fu befindet sich in der Gewalt der unab-
hängigen Lolos, welche kleinere Reisegesellschaften über-
fallen und ausplündern, und vorzugsweise von ihnen besorgte
Herr von Richthosen das Schlimmste. Er hätte gegen diese
Lolos sich der Feuerwaffen bedienen können, denn jene wer-
den von den Chinesen selbst als Feinde behandelt. Es war
aber, was wir auch aus Cooper wissen, auf jeden Fall ge-
rathen, es nicht zum Blutvergießen kommen zu lassen, und
glücklicherweise behielt er seine volle Geistesgegenwart. Die
nichtsnutzigen Dung Ping behandelten ihn ohnehin wie einen
Gefangenen, als er umkehren mußte; sie nahmen ihm sein
Gepäck weg und verlangten zuerst 20 und gleich nachher
800 Thaler Lösegeld! —
Seitdem Barton am obern Uangtsekiaug reiste, haben
wir auch von anderen Wanderern eingehende Berichte über
jene Gegend, nnd nur über das westliche Kuaug si wis-
sen wir erst wenig; über die Provinz Kuöi tscheu erfahren
wir jetzt eben allerlei Merkwürdiges. Dort befindet sich ein
kühner Abenteurer, dessen Namen wir noch nicht erfahren
haben, und derselbe ist dreist genug, Berichte in englischer
Sprache an die in Schanghai erscheinenden Blätter zu sen-
den. Die Provinz liegt zwischen Kuang si, Honan, Aünuan
und Sze tschuen; ihre Hauptstadt heißt KueiNcmg fu; dort
steht jener Abenteurer als Offizier in der kaiserlichen Armee,
welche vom Pekinger Hofe den Befehl hat, die dortigen Berg-
Völker, diese Miaotse, auszurotten. Aber die ganze Hee-
resverfaffuug und das Kriegswesen der Chinesen sind über
alle Begriffe abscheulich und elend, und das Betruqssystem
ist noch ärger als in der Republik der Vereinigten Staaten.
en im Innern Chinas. 251
Die Generäle führen in ihren Listen Bataillone auf, von denen
nicht so viel Hundert Mann, als Tausende in den Zahlungs-
tabellen aufgeführt werden, vorhanden sind. Diese Hunderte
werden schamlos um ihre Löhnung verkürzt, und um nicht zu
verhungern, verkaufen sie Waffen und Schießbedarf entweder
an den Feind oder an die Lieferanten der eigenen Armee,
welche dann Belobnngsdecrete aus Peking erhalten, weil sie
so wohlfeil einkaufen! Die Generäle ziehen den Krieg mit
Vorsatz in die Länge und betrügen auf die allerfchamlofeste
Weise. Nun hat es sich aber im Maimonate ausnahms-
weise begeben, daß im Kriegsministerium zu Peking ein noch
unbestochener Beamter sich die Mühe nahm, einmal nach-
zurechnen, wie viel Miaotse denn schon als ausgerottet aus-
geführt worden waren. Er fand, daß die Zahl der Aus-
gerotteten etwa vier Mal stärker war als die Gesammtbe-
völkerung der Gebirgsstämme. Das war zu arg, und so
wurden denn Gouverneur, Generäle:c. (der Futai, Titai,
Fautai, Nietai und Taotai) ihrer Knöpfe beraubt und im
Range degradirt.
Die nachstehende Schilderung giebt der Correspondent
als Augenzeuge: „Die kaiserlichen Generäle unterhandelten
mit fünf Häuptlingen der Miaotse und bewogen dieselben,
sich ihrer Ehre anzuvertrauen und ihren Worten zu glau-
ben. Um dafür Bürgschaft zu geben, nahmen sie einen
lebendigen Hahn, zerrissen ihn in Stücke, mischten das Blut
mit Reiswein und jeder genoß eine Schale von diesem Ge-
tränk. Das sollte bedeuten: beide Theile haben von dem-
selben Blute getrunken und stehen mit ihrem Leben für ein-
ander ein; die Generäle garantirten also den Miaotse das
Höchste. Sie bekamen auf diese Weise ihre Opfer in ihre
Gewalt, lieferten sie aber an den Titaimandarinen aus,
welcher sie dem Tutai überantwortete. Dieser höchste Man-
darin der Provinz erklärte den Miaotse mit dürren Wor-
ten, er habe vom Kaiser Befehl, sie zu köpfen. So sind
denn gestern zunächst vier derselben nach und nach in folgen-
der Weife ums Leben gebracht worden. Zuerst schnitt man
ihnen die Augenlider ab, dann die beiden Hände, dann
beide Seiten der Brust, nachher wurden Herz und Leber
aus dem Leibe gerissen nnd dann erst schlug man ihnen den
Kopf vom Rumpfe. Der fünfte fand Gelegenheit, sich sel-
ber zu erstechen und entging dadurch den gräßlichen Martern.
Jene vier hatte man auf den Abschlachteplatz hinausgeführt;
das kaiserliche Abzeichen, eine dreieckige gelbe Flagge, wurde
vor ihnen hergetragen, und als sie den Damen, d. h. das
Regierungsgebäude, verließen, feuerte man drei Kanonen-
schüsse ab, drei andere, als sie durch das Stadtthor gingen,
uud die letzten drei, als sie auf dem Hinrichtungsplatze an-
gelangt waren/'
Der Correspondent ist der Ansicht, daß am Ende doch
die Miaotse unterliegen und dann allerdings auch „ausge-
rottet" würden. Er hält dafür, daß es am zweckmäßigsten
sei, diese fleißigen Bergbewohner nach Australien oder Ccdi-
formen zu deportiren und zwar in der Art, daß die europäi-
schen Gesandtschaften sich der Verfolgten annähmen und die
Verschiffung beaufsichtigten. Er selber erbietet sich, aus sei-
ner Tasche 2000 Thaler für den Auswanderungsfonds zu
zahlen und fordert sowohl die Diplomaten wie die europäi-
schen Kaufleute auf, dem abscheulichen Werke der Vernich-
tuug ein Ende zu machen.
252
Das römisch-germanische Museum in Mainz.
Das römisch-
X X Noch vor 50 Jahren gab es kein deutsches Mn-
seum. Was von den Denkmalen und Ueberresten unserer Bor-
zeit der Beschauung zugänglich war, hatte zumeist ein Un-
terkommen in den fürstlichen Kunstkammern gefunden, die
uach der Verschiedenheit ihres Inhalts eher an Magazine
von Antiquitätenhändlern erinnerten als an Sammlungen
für irgend welchen bestimmten Zweck. Die meisten boten ein
buntes Durcheinander von Waffenstücken, Möbeln und Pre-
tiosen aller Völker und Zeiten. Da lagen das rothe Schatz-
geld uralter Grabfunde neben dem flimmernden Schmuckge-
räth der Rococozeit, Holz und Metallarbeiten der Renaissance
unter chinesischem Porcellau und römischen Terracotteu, der
Reifrock der Hofdame neben dem Panzer des Reichsbarons,
Pokale und Humpen neben Kelchen und Monstranzen, und
als patriotische Reliquien der einzelnen Vaterländer und Länd-
chen die Taktieren, Degen und Spazierstöcke der früheren
Regenten. Den Schluß bildete die stereotype Folterkammer
mit dem fpanifchen Stiefel und Daumenschrauben, so daß
der Beschauer, wieder au der freien Gottesluft augelangt,
sich glücklich pries, dieses Stück deutscher Geschichte hinter sich
zu haben und solchem Wirrsal von Erinnerungen einer Ver-
gangenheit von 2000 Jahren entronnen zu sein.
Ein Gesammtbild der Cnlturentwickelnng dieses großen
Zeitraumes war nicht zu erfassen, obgleich ein sehr bedeuten-
der Theil der immenfen vorzeitlichen Hinterlassenschaft dem
Raube der großen Kriege entgangen war und selbst die weit
verderblichere Feindseligkeit eines Zeitalters überdauert hatte,
welches, fremder Sitte und Sinnesweife hingegeben, sich be-
eiferte, nach allen Seiten hin seine Geringschätzung heimischer
Überlieferungen geltend zu machen. Dieser langdauernde
Vernichtungskrieg gegen unsere Denkmale, gegen den Ger-
manismus überhaupt, hatte seinen Höhepunkt mit der Fremd-
Herrschaft erreicht. Das erwachte Selbstgefühl unseres Vol-
kes, welches sie niederwarf, folgte nur einem naturgemäßen
Antriebe, wenn es zu Schutz und Vorkehr gegen so verder-
benbringende Einwirkungen darauf bedacht war, die Unab-
hängigkeit feiner geistigen Richtung in dem Verständniß sei-
ner geschichtlichen und culturlichen Entwicklung, in einer
gerechten Würdigung der Vorzeit zu suchen und durch Wie-
deraufnahme selbständiger Bestrebungen in Kunst und Wis-
senschaft zu fördern und zu Pflegen.
Das Anknüpfen der seit mehr als zwei Jahrhunderten
gestörten und unterbrochenen Verbindung mit der nationalen
Vergangenheit führte zu eingehenden Studien derselben und
diese zu fruchtbringenden, alle Gebiete des vorzeitlichen Le-
bens umfassenden Ergebnissen.
Die Sammlungen der Denkmale, wenn sie sich zu all-
seitigster Belehrung ergänzen sollten, konnten nicht auf die
schriftlichen Überlieferungen beschränkt bleiben; sie mußten
auch die vielartigen Werke der Kunst und des Gewerbes be-
rücksichtigen, und namentlich für die frühesten Perioden den
einzigen Nachlaß derselben, die Gräberfunde, ins Auge
fassen. , . .
In kurzer Zeit ist hier unglaublich Vieles mit Sammeln
und Sichten geleistet worden; begreiflich rascher uud lohueu-
der für das reicher und vielseitiger vertretene Mittelalter,
mühevoller und in minder umfangreicher Weise für jene
älteren Zeiten; für beide jedoch mit gleichem Verdienste eines
ernsten Eifers und eindringender Kenntniß.
Museum in Mainz.
Die erfreulichen Ergebnisse dieser Thätigkeit verdanken wir
den germanischen Museen inNürnberg uudMainz,
zwei nationalen Anstalten, welche zu gleichem Zwecke, der
Vereinigung des gesammten culturhistorischeu Materials, be-
gründet, die Ausführung mit einer Theilung der Aufgabe
übernahmen und in dieser einsichtsvoll bemessenen Einschrän-
knng das Mittel fanden, jedes in feinem Bereiche so aner-
kennenswerthe Erfolge zu erreichen.
Das germanische Museum in Nürnberg, ursprünglich
aus einer bereits bedeutenden Sammlung hervorgegangen
uud mit größeren Hülssmitteln für feine Entwickelung aus-
gestattet, war in der Lage, durch eigene Organe für das Ver-
ständniß seiner Bestrebungen zu wirken und eine immer
wachsende Theilnahme zu gewinnen. Das Mittelalter, der
Gegenstand seiner Sammelthätigkeit, liegt nns ja ohne-
hin näher. Den Denkmalen seiner Baukunst hat sich längst
unsere erhaltende und herstellende Fürsorge zugewendet, und
die Werke seiner Sculptur und Malerei haben Beachtung
und Vorliebe in einem Grade wiedergewonnen, daß ihre
frühere Geringschätzung einen Umschlag bis zum gegensätz-
lichen Extreme erfahren konnte, während die Erzeugnisse
des alten Kunstgewerbes im Geschmacke der Gothik und Re-
naissance sich als gesuchte Zierden unserer Wohnräume ein-
führten und ihr Studium ein Bedürfniß unserer neubeleb-
teu Kunstindustrie geworden ist.
Kein Wunder also, daß eine Anstalt, welche sich als
Centralpuukt für fo vielartige Forschungen austhat, zugleich
mit ihren unmittelbaren Beziehungen zu der Kunst und dem
Leben der Gegenwart eine weit allgemeinere Anziehnngs-
kraft äußerte als die Sammlung der Denkmale fernliegender
und unbekannter Perioden unserer Geschichte. Für diese
Bestimmung war das Museum in Mainz begründet wor-
den, welchem man der Unterscheidung wegen den Namen des
römisch-germanischen zu geben beliebte.
Es ließe sich Manches gegen diese Bezeichnung einwenden,
spräche nicht für sie doch auch die Unerläßlichkeit der Beach-
tung der überaus großen Masse römischer Denkmale und
des Einflusses der Berührung mit dem alten Weltreich auf
die Culturentwickelung der germanischen Völker. Schon der
Name sollte wohl eine ausdrückliche Kundgebung dieser Be-
rücksichtigung bieten und den Ausschluß jeder einseitigen Auf-
faffung verbürgen.
Ziel und Zweck der Anstalt waren verständlich und die
Art der Ausführung darin gefunden, daß man die Znfam-
menstellung der Denkmale der vorgeschichtlichen und ältesten
geschichtlichen Zeit nicht in den Originalen, welche sich in
festem Besitze befinden, sondern in einer Art von Nachbil-
dung zu bewerkstelligen suchte, welche in Treue und Verläs-
sigkeit der Wiedergabe aller Einzelnheiten der Form und selbst
der Farbe die Originale zu ersetzen im Stande ist. Es sind
Copien in Gypsabguß mit genauer coloristischer
Darstellung der Eigenthümlichkeit jeder Art des Stoffes
der altertümlichen Fundstücke, welche die Originale nach
allen Seiten der Untersuchung, die überhaupt bei denselben
zulässig, vollkommen wiedergeben. Eine Prüfung der Erz-
composition der Bronzen und Bestimmung mancher schwer
erkennbaren Steinarten der ältesten Werkzeuge und Waffen,
welche nur durch Abschlagen einzelner Stücke möglich wird,
ist auch an den Originalen keiner öffentlichen und Privat-
Das römisch-germanis
sammlung gestattet und blieb deshalb auch bei den Copien
zu berücksichtigen überflüssig.
Der Gedanke, die Sache in dieser Weise aufzufassen, war
ein glücklicher, zumal die Ausführung bald nichts zu wün-
schen übrig ließ. Allein der Ausführung selbst mußten sich
doch anfänglich mehr als die sprüchwörtlichen Schwierigkei-
ten entgegenstellen. Sie ergaben sich aus dem Umstände,
daß den Gründern des Museums außer ihrer Mission von
Seiten des Gesammtvereins der Deutschen Geschichts- und Alter-
thumsvereine keine andere Unterstützung dieser Consöderation
zu Theil werden konnte, als das Gewicht ihrer Empfehlung
für den Gewinn der nöthigen Mittel. Daß aber diese für ein
von Grund aus neu zu schaffendes Institut von nicht uumit-
telbar' praktischer Tendenz nur mit großer Anstrengung und
allmälig aus fürstlichen Unterstützungen und Beiträgen von
Privaten aufzubringen waren, liegt in dem Schicksal aller
Unternehmungen dieser Art.
Ein Glück, daß es wenigstens bald erreichbar war, eine
förderliche Thätigkeit zu beginnen und mit den Ergebnissen
derselben die Ausführbarkeit der Idee nachzuweisen, nicht
allein in technischer Beziehung, sondern auch durch den Ge-
winn des Vertrauens von Seiten der Museen und Privat-
sammlnngen sür zeitweise Ueberlassung werthvoller Originale.
Während einer Reihe von Jahren einer geräuschlosen,
aber unausgesetzten Arbeit in dieser Richtung hatte die An-
stalt auch in anderer Weise durch die Herausgabe eines jetzt
zwei Quartbände mit mehreren tausend Abbildungen umsas-
sendenWerkes: „DieAlterthümer unserer heidnischen
Vorzeit", in immer höherm Grade die Aufmerksamkeit
und Theilnahme der Forscherkreise sich zu gewinnen gewußt.
Ueber die letzteren hinaus aber blieb ihre Wirksamkeit so
sehr einer allgemeinern Beachtung, namentlich der Tages-
literatnr, entzogen, daß Schreiber dieser Zeilen zum ersten
Male in auswärtigen Zeitschriften und zwar in einigen Ab-
Handlungen englischer Gelehrten und, wie er sich zu erinnern
glaubt, der „Revue archeologique", einer Erwähnuug des
römisch-germanischen Museums begegnete, ja selbst bei einem
frühern Besuch der schönen Sammlungen Mühe fand, etwas
Näheres über die Verhältnisse und leitenden Persönlichkeiten
zu erfahren. Wenn wir keinen Grund fanden für dieses so
zn sagen absichtliche Verstecken, für diese Zurückhaltung von
jeder Anregung allgemeiner Theilnahme, für die Vermeidung
jeder Art von sonst überall gebrauchten Mitteln der Re-
clame, so läßt dieses seltene und deswegen seltsame Verhalten
des Museumsvorstandes sich doch aus dem gewiß ehrenwer-
then Wunsche erklären, vor Allem erst etwas zu schaffen, was
der Rede Werth war. War diese Ansicht insofern dennoch
nicht die richtige, als sie ungewöhnliche Ausdauer und Opfer-
Willigkeit in Anspruch nahm, so führte sie doch den einzigen
Weg, um ohne Einrede Unberufener einen Theil der Arbeit
von solcher Bedeutung zu bewältigen, daß er einen vollkom-
menen Ueberblick über die Richtung und den Ersolg des
Unternehmens gewähren konnte. Damit war, freilich erst
nach Verlauf von zwanzig mühevollen Iahren, die Aner-
kennung der Leistungen allmälig so fest begründet, daß ein
Antrag des Gesammtvereins der deutschen antiquarischen
Vereine für Unterstützung des römisch-germanischen Central-
museums aus Reichsmitteln die allseitige Zustimmung des
deutschen Reichstages sand, und die Zukunft des Instituts
nach Beurtheilung seiner jetzt erkennbaren Bedürfnisse voll--
kommen gesichert ist.
Es erscheint demnach wohl an der Zeit, etwas zu allge-
meinerm Verständniß des Zweckes und der Art dieser schö-
nen Bestrebungen beizutragen, und jene, wie es scheint, grund-
sätzliche Schweigsamkeit des Museumsvorstandes mag es ent-
schuldigen, wenn dies, allerdings mit minderer Sachkenntniß
e Museum in Mainz. 253
als von ihm zu erwarten, doch mit vollster Liebe zur Sache
von einem Freunde des Alterthums und seiner Denkmale
versucht wird, indem er sich die Einladung gestattet, ihn bei
einem Besuche des Museums und einem Gange durch dessen
Sammlungsräume zu begleiten.
Wenn derselbe sich weiterhin erlaubt, gleichsam auf dem
Wege dahin, einige ihm bei gleicher Gelegenheit von Seiten
des verdienten Directors geschenkte Mittheilungen über die
EntWickelung der antiquarischen Studien in Deutschland
vorauszuschicken, so bestimmt ihn hierzu nicht etwa die Prä-
rogative der Redseligkeit eines Führers, als vielmehr die
Ueberzengnng, daß diese Notizen gleich ihm auch Anderen
Manches bisher nicht Bekannte oder Beachtete bringen und
deshalb nicht unwillkommen sein werden.
*
* *
Allgemein verbreitet und immer noch nicht gebührend
zurückgewiesen ist die Ansicht, daß wir in Deutschland erst
durch die Forschungen des Auslandes einen richtigen Begriff
von der Bedeutung unserer vorzeitlichen Denkmale erhalten
hätten, und daß uns namentlich durch die skandinavischen Ge-
lehrten in dieser Hinsicht erst so zu sagen die Augen geöffnet
worden seien. Man gefällt sich in der'ganz unberechtigten An-
nähme, daß die bis zum Ueberdruß aufgetischte, abgeschmackte
Idee eines thüringischen oder schleichen Magisters von
dem Aufwachsen der alten Graburnen im Boden gleich Rü-
ben und Knollgewächsen, für unsere frühere Anschannngs-
weise der altertümlichen Funde kennzeichnend und maßge-
bend sei.
Nichts ist verkehrter und unbegründeter als diese Ansicht
von der Beschränktheit und Abenteuerlichkeit der deutschen
Forschung früherer Zeit und von der hohen Überlegenheit
der nordischen Gelehrten auf diesem Gebiete, wenn auch den-
selben mancher Vortheil im Vergleich zu den Verhältnissen
unseres Landes zu Gute kam.
Während das Gebiet der Nord- und Ostsee im Ganzen eine
solche Gleichartigkeit der Erscheinungen zeigt, daß eine einzige
irgend bedeutende Sammlung alle übrigen im Wesentlichen
repräsentirt, so gilt dies keineswegs für die Mitte und den
Süden unseres Landes, deren altertümliche Funde sich nicht
wie jene des Nordens in wenige große Gruppen zusammen-
fassen lassen, sondern eine Menge Zwischenglieder, Ueber-
gänge und einen weit größern Reichthum verschiedener For-
men bieten.
Wenn deshalb das Studium der deutschen Landesalter-
thUmer umfassenderen Schwierigkeiten begegnet als jenes der
skandinavischen, so zeigt es auch eine bedeutendere Verschie-
denheit in der Art seines Verlaufs und seiner Ergebnisse.
Der Vorzug früherer Uebersicht des Thatbestandes ist un-
leugbar auf Seiten des Nordens. Wenn auch der weit ge-
ringere Umfang des Gebiets hier als entscheidende Begünsti-
gnng zu betrachten ist, so wird es doch gern anerkannt wer-
den, daß dieser verhältnißmäßig schnelle Erfolg zunächst aus
einer allgemeinen Theilnahme für die Ueberliefernngen und
Denkmale der heidnischen Zeit hervorging, welche bei uns
nur im Kreise der Gelehrten gepflegt, im Norden aber bei
dem gefammten Volke niemals erloschen war.
Der Grund dieser Erscheinung ist bis auf die Verschie-
denheit der Zeit und Art des Übertritts der germanischen
Völker zu christlicher Lehre zurückzuführen. In den Norden
gelangte das Christenthum erst, nachdem es sich schon fünf
Jahrhunderte früher unter den deutschen Stämmen verbrei-
tet und den letzten Widerstand des Heidenthums seit zwei
Jahrhunderten bereits gebrochen hatte. Während dieser Er-
folge hatte die Kirche Manches von jenem rücksichtslosen
Verfolgungseifer gegen alle und jede Tradition der Heid-
254 Aus allen
nischen Vergangenheit aufgegeben, welchen sie in Deutschland
anderen Verhältnissen gegenüber für geboten hielt, und diesen
Uebergang zu einer objectivern Betrachtungsweise des Hei-
denthums hat der Norden zunächst die Erhaltung seiner Göt-
ter- und Heldensage, die Rettung zahlreicher Denkmale sei-
ner Vorzeit zu danken, obgleich hierfür auch der wichtige Um-
stand mitwirkt, daß der Übertritt zu christlicher Lehre sich in
einer Zeit besonders gehobenen Nationalgefühles vollzog.
Es war die Zeit, in welcher die nordischen Stämme, die
Verwirrung und Erschöpfung ihrer Nachbarvölker benutzend,
durch glückliche Raub- und Eroberungszüge ihren Namen
mit dem Glänze kriegerischen Ruhmes umgaben und Erfolge
gewannen, welche ihre späteren Versuche nur vorübergehend
zu erreichen vermochten. Das ganze Mittelalter hindurch
in einem Verhältnis^ von Abgeschlossenheit, die wenig von
den Bewegungen des Südens berührt wurde, blieb das An-
denken an jene Zeit in einer Fülle von Sagen, Liedern und
historischen Traditionen in dem Volke so lebendig, daß es
selbst nach dem Eintritte seiner Theilnahme an der wissen-
schaftlichen Bildung und Thätigkeit des Südens mit Vorliebe
in der Pflege dieser Erinnerungen beharrte, welche zugleich
aus die genauere Erforschung der Denkmale und Uberreste
der Vergangenheit hinleiten mußte. Das Ergebuiß dieses
Strebeus war die Bildung der beiden großen Museen von
Kopenhagen und Stockholm, von welchen namentlich
das erste, an Reichthum und allseitiger Vollständigkeit der
Landesfunde unübertroffen, die Grundlage für das Studium
der nordischen Alterthümer bildet *).
Anders waren die Verhältnisse in Deutschland von srü-
her Zeit her. Hier, wo das Christenthum nur schwer und
langsam, theilweise erst in Folge erbitterter Kriege, den Sieg
über den alten Glauben des Landes gewann, mußte es zu sei-
ner dauernden Befestigung auf eine vollkommene Vernichtung
jeder Verbindung mit der heidnischen Vorzeit bedacht sein.
Sein Angriff beschränkte sich nicht auf den Umsturz der hei-
ligen Sänlen, Bäume und Tempel; er wendet sich mit eben
so nachhaltigem als nachdrücklichem Eiser gegen jede Lebens-
äußerung heidnischer Begriffe und Anschauungen, gegen jede
Erinnerung an die Vergangenheit. Konnten diese Bestre-
bnngen auch nur theilweise und nach einzelnen Seiten hin
dauernde Erfolge gewinnen, und vermochten sie nicht gänzlich
das Volksleben aus seiner durch innere und äußere Anlage
bedingten Richtung zu drängen, so veranlaßten sie zunächst
doch den schmerzlichen Verlust unserer ältesten heimischen
Überlieferungen, und mußten wesentlich dazu beitragen, das
Volk allmälig aus aller bewußten Verbindung mit der Ge-
schichte seiner Vorzeit zu bringen.
Die neue und hervorragende Stellung, welche das Reich
und Volk der Deutscheu in dem bewegten Leben des Mittel-
alters einnahm, war viel eher geeignet diesem nachtheiligen
Einfluß freie Hand zu lassen, als ihm hemmend zu begeg-
uen. Bei der unmittelbaren Betheiligung der Nation an
der Geschichte des Welttheils konnte es geschehen, daß sie
*) In welcher Weise hier dieses werthvolle Material geordnet
und wissenschaftlich z,i verwerthen gesucht wurde, werden wir später
zu betrachten haben.
Erdtheilen.
ihre eigne aus den Augen verlor und die Überlieferung ihrer
ohnehin feindlich und geringschätzend behandelten heidnischen
Vorzeit soweit der Vergessenheit überließ, daß selbst von den
Römerkriegen jede einheimische Kunde bis aus eine nnbe-
stimmte und verworrene Erinnerung erlosch.
Spät, erst nach Auffindung der römischen Historiker in
einer geistig erregten und wissenschaftlich strebsamen Zeit,
wirkten besonders die „Germania"*) und die „Anualen" des
Tacitus auf die Wiederbelebung der Theilnahme für die
alte Volksgeschichte, welche jetzt erst die ganze Großartigkeit
ihrer Umrisse zu zeigen begann. Die unschätzbaren römi-
sehen Schriften wurden rasch ein bevorzugter Gegenstand
gelehrter Forschung und blieben es selbst während der trau-
rigeu Geschicke des großen deutschen Kriegs und der lang-
dauernden, ihm folgenden Erschöpfung. Was die bedeutende
Gelehrsamkeit dieser Zeit für die Erläuterung und das Ver-
ständniß jener Überlieferungen geleistet, beschränkt sich nicht
auf das rein historische Gebiet; es hat auch der deutschen
Alterthumskunde die erste Anregung, theilweise schon eine
sichere Grundlage gegeben und zu Gunsten ihrer Entwicke-
lung dazu beigetragen, die Theilnahme für die nationale Vor-
zeit zu erwecken und zu verbreiten. In Folge dieser Einwir-
kung fanden schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhun-
derts zufällige Entdeckungen germanischer Grabalterthü-
mer, welche früher unbeachtet geblieben, eine große Werth-
schätzung und eingehende Untersuchung.
Diese Entdeckungen veranlaßten bald selbständige unmit-
telbare Untersuchungen der alten Grabhügel, welche, als
die einzigen Denkmale heidnischer Zeit, bis dahin unter dem
Schutze abergläubischer Furcht erhalten waren. Die Erhe-
bung ihres Inhalts, oft schon mit Umsicht und Sorgfalt ans-
geführt, brachte manche werthvolle Fundstücke, welche jedoch,
unter die Curiositäten der fürstlichen Kunstkammern und
Antikencabinette zerstreut, erst in späterer Zeit wieder zu-
sammengeordnet und der Forschung zugänglich geworden sind.
Die gleichzeitigen Beschreibungen und Untersuchungen
dieser Ausgrabungen und Funde bilden eine umfangreiche
Literatur, deren Kenntnißnahme größtentheils heute noch
interessant und lehrreich, jedenfalls einen beschämenden Maß-
stab für den vorlauten Dilettantismus unserer Zeit gewährt,
welcher sich durch geringschätzende Behandlung früherer Lei-
stungen auf leichte Weise den Anschein vorgeschrittener Ein-
sicht zu geben sucht.
Auf Elüver's Germaniae antiquae libri III, 1632, ein
Werk, welchem kein anderes Volk ein gleich bedeutendes aus
dieser Zeit zur Seite stellen kann, folgten alsbald eine
Menge Abhandlungen und größere Werke über deutsche Alter-
thümer, großenteils mit besonderer Berücksichtigung speciell
antiquarischen Forschungsgebietes. Bereits von der Mitte
des vergangenen Jahrhunderts, als sich das Bedürsniß einer
übersichtlichen Sammlung dieser Literatur geltend machte,
zählen die aufgestellten Verzeichnisse von Trever und Nolten
über 1000 Büchertitel.
*) Die erste Ausgabe der „Germania" von Tacitus. Nürnberg.
Creusner 1473. Die erste deutsche Uebcrsstzung derselben Mainz
bei Schöffer 1535.
A u s alle!!
Die indischen Kulis in Westindien.
Wir haben im „Globus" oftmals darauf hingewiesen, daß
der Ruin, welchem Westindien nach der Emancipation der Neger
Erdtheilen.
^ entgegenging, nur abgewandt wurde, weil man an die Stelle
! der trägen und unzuverlässigen Neger sich die Arbeit fleißiger
! Leute aus Indien zu sichern wußte. Nun hat in der geographi-
schen Abtheilung der British Association zu Brighton Sir G.
Aus allen
Voung eingehende Nachweise über diese Kulis gegeben; als
Regierungscommissär sür Guyana ist er ohne Zweifel vollkom-
men sachkundig.
Die Neger sind bekanntlich schon seit ein paar Jahrhun-
derten in Westindien und bilden dort die bei weitem überwie-
gende Mehrzahl der Bevölkerung. Ihre Zahl wächst nur sehr
langsam an, in Guyana z. B. um nicht I Procent im Jahre.
Houng hofft, daß sie sich stärker vermehren würden, wenn ihre
„häusliche Moral" sich bessere und wenn sie ihre Kinder sorg-
fältiger behandeln würden; in der Zeit der Sklaverei (— wo
der Herr auf Zucht und Ordnung hielt, für Arznei und gute
Lebensmittel sorgte —) war die Vermehrung viel bedeutender.
Die Neger find nun einmal in jenen Gegenden bewurzelt (— die
Weißen nicht, in Jamaica kommen deren nur 14,000 auf mehr
als 350,000 Farbige —). Nun frage sich, ob auch die Asia-
ten dort Wurzel schlagen und, gleich den Negern, eine „geo-
graphische Thatfache" werden können? Vom wirtschaftlichen
Standpunkte aus ist diefe Frage von der allergrößten Wichtig-
keit. Voung drückt sich über die Faulheit und Liederlichkeit der
Neger fehr mild aus und nennt die Dinge nicht beim rechten
Namen; er sagt z. B.: „Die Afrikaner begnügen sich zumeist
mit der Süßigkeit der Freiheit; sie sind noch Neulinge und em-
pfinden noch nicht den Drang nach Luxus und Behäbigkeit, wel-
cher freie Racen zu harter, angestrengter Arbeit anspornt." Wel-
ches Geschwätz! Ein Blick auf Haiti und Liberia zeigt, wie die
Dinge liegen. In Betreff des habituellen Faullenzens schön-
färbert Houng: „Sie haben längst aufgehört, entweder auf den
Plantagen zu wohnen oder diese mit so hinlänglicher Arbeit zu
versorgen, daß der Betrieb nutzbringend ist." Ins Deutsche
übersetzt heißt das: Sie sind als Faullenzer in den Busch ge-
laufen. Dann heißt es weiter:
„Aus diesen und anderen Gründen kam Ruin über die
britisch-westindischen Kolonien, und sie sind aus demselben nur
herausgekommen durch die vom Staate unterstützte und amtlich
geordnete Einwanderung der Asiaten." Von nun an spricht
Houng durchaus verständig. Seit wieder Arbeiter da waren,
fand sich auch das Capital wieder ein; man bestellte frisches
Land, nahm öffentliche Arbeiten vor und eine neue Aera des
Gedeihens begann. In Folge der Kulieinwanderung hat Tri-
nid ad, das früher an Unternehmungsgeist und Wohlstand hin-
ter seinen Nachbarn zurück war, jetzt doppelt so viel Lände-
reien in Cultur als vor jener Zeit und hat seine Production
verdoppelt. Auch aus Jamaica ist der Grundwerth in einigen
Fällen schon um das Doppelte gestiegen, seitdem vor nun vier
Jahren wieder Kulis kamen, deren Einwanderung sechs Jahre
lang verboten gewesen war; die „Philanthropen" hatten das
so gewollt und auch durchgesetzt. Der jüngste Bericht der Aus-
Wanderungscommission in London weist nach, daß bei der Heber-
schissung etwa 20 von 1000 Kulis starben, was ein günstigeres
Verhältniß ist als in manchen Theilen Englands.
Seit 1843 sind 153,797 Asiaten in Westindien, Guyana
und Trinidad angekommen, davon 137,575 Jndier und 16,222
Chinesen, im Durchschnitt sür 30 Jahre 5000, doch war in den
ersten 14 Jahren die Einwanderung noch unentwickelt und zeit-
weilig ganz unterbrochen. Seit 1856 sind durchschnittlich 7500
im Jahre angekommen; in den letztverflossenen fünf Jahren, in
welchen gar keine Chinesen kamen, beträgt der Durchschnitt 7362
Jndier. Eine Verminderung wird schwerlich eintreten, wenn man
nicht künstliche Hindernisse schafft.
Diese Einwanderung war ursprünglich nur eine zeitweilige
und die Kulis dachten nicht daran, sich in Westindien eine neue
Heimath zu gründen. Jedem wurde freie Rückbeförderung ge-
währt, wenn er 10 Jahre lang in der Colonie gewesen war
und fünf Jahre seinen Contract gehalten hatte. Den Chinesen
wurde keine sreie Rückfahrt gewährt, sie konnten aber nach 10
Jahren sich beliebig nach Hause begeben. Bisher haben von
137,000Jndiern weniger als 15,000 die Rücksahrt in
Anspruch genommen; und die Zahl derer, welche länger als
10 Jahre in der Colonie sind, beläuft sich gegenwärtig auf mehr
als 40,000. Es sind Kronländereien angewiesen worden, auf
Erdtheilen. 255
denen diejenigen Jndier, welche auf die unentgeltliche Rückfahrt
in ihre Heimath verzichten, Grund und Boden als freies Eigen-
thum erhalten. Auf Trinidad haben bereits 235 Jndier,
deren Contracte abgelaufen waren, Grundstücke bekommen, und
86 andere haben Land für einen vereinbarten Preis gekauft.
Guyana und Jamaica folgen diesem Beispiele. Anfangs wa-
ren die Pflanzer diesem System abhold; sie besorgten, daß
die Jndier es machen würden wie die Neger, daß sie nicht auf
den Plantagen arbeiten würden. Aber der Erfolg hat gezeigt,
daß sie, im Gegentheil, fehr gern auf den Plantagen arbeiten
und daß es für diese ersprießlich ist, wenn Kulidörfer in der
Nähe sind.
In den zehn ersten Jahren war die Sterblichkeit unter den
Kulis groß, in Guyana z. B. 10 Procent im Jahre; 1851 war
binnen sechs Jahren ein Drittel aller Eingewanderten gestorben.
Aber seitdem die Uebersahrt aus Indien streng überwacht wird
und von Seiten der Regierung wie der Pflanzer viele zweck-
mäßige Anordnungen getroffen worden sind, beträgt die Anzahl
der Gestorbenen nur zwischen 2 und 3 Procent. Besoldete Be-
amte überwachen die Ausführung eines sorgfältig ausgearbeite-
ten Arbeitsgesetzes; jeder Kuli erhält ärztliche Pflege; keine
Plantage ist ohne Krankenhaus. Das zweckmäßige System ist
nun seit 20 Jahren in Kraft; unter den 200,000 Bewohnern
Guyanas besteht nun ein Viertel, 49,000 Köpfe, aus einge-
wanderten Asiaten; dazu kommen noch etwa 6000 Creolenkulis,
d. h. in der Colonie geborene Kinder. Trinidad zählt unter
110,000 Einwohnern 24,000 Eingewanderte und 5500 Creolen-
kulis. Das Colonialgesetz verlangt, daß auf je 100 Männer
mindestens 40 Frauen eingeführt werden follen; es war aber
fchwierig, eine folche Quote anständiger Personen zu bekommen.
Heute stellt sich in Guyana das Verhältniß von 42,21 auf je
100 Männer heraus. —
Die „Mail" vom 23. August meldet aus Calcutta, daß die
Colonialregiernng von Trinidad mit jener von Madras ein
gesetzliches Uebereinkommen in Betreff der Kuliauswanderung
aus Indien getroffen hat. Im August sollten 1200 Köpfe nach
jener westindischen Insel verschifft werden.
Ein Landgut im südlichen Californien.
Der südliche Theil Calisorniens erhält nach und nach eine
Anzahl von Einwanderern, welche die großen Vortheile jener
Gegend zu benutzen verstehen und namentlich die Viehzucht in
großartiger Weise betreiben. Vor uns liegt die ausführliche
Schilderung eines großen Landgutes, welcher wir Einiges ent-
lehnen wollen. Man bezeichnet die Güter in den Landstrecken,
in welchen ehemals Mexicaner wohnten, nicht als Farmen, son-
dern mit der alten spanischen Benennung Rancho, und den
Besitzer als einen Ranchero.
Ein General Beale (— wer ist im weiten Lande der Pankees
nicht General, falls nicht etwa Colonel? —) ist Besitzer des
Rancho Tejon, in der Nähe des Tejonpasses, welcher auf allen
Karten verzeichnet ist. Das Gut enthält etwa 200,000 Acres,
sagen wir mehr als eine Viertelmillion Magdeburger Morgen.
Die Lage an der Vereinigung der Sierra Nevada mit der cali-
sornischen Küstenkette ist fehr günstig; beide Gebirgszüge ziehen
dort in einem weiten Bogen und hier beginnt das obere Strom-
thal des San Joaquin; zwischen ihnen gelangt man durch das
enge Desils des Tejonpasses nach dem County Los Angeles.
Im April 1872 weideten auf diesem Rancho mehr als
100,000 Schafe; die Schurzeit dauert volle neun Wochen. Was
wir als Herde bezeichnet, nennt man dort eine Bande, und
jede besteht aus etwa 1200 bis 1600 Stück, unter einem Hirten.
Jede Bande weidet auf einer fehr ausgedehnten, aber genau be-
stimmten Fläche, die allemal Wasser hat. Abends treibt man
die Bande in einen Corral (Hürde), einen geräumigen Platz,
der durch Busch- und Dorngestrüpp eingehegt ist und einen sehr
schmalen Eingang hat. Dicht neben demselben hat, im Flach-
lande, der Hirt seine Hütte, im Gebirge aber schläft er auf
einer Tepestra, einem etwa 12 Fuß hohen Gerüste, das über
256 Aus allen
dem engen Eingange sich erhebt und auf glatten Pfosten ruht;
an diesen kann der graue Bär nicht hinausklettern, wohl aber
bleibt er manchmal die ganze Nacht vor dem Eingange liegen,
falls es nicht etwa dem Schäfer beliebt, ihm eine Kugel in den
Pelz zu jagen. Gegen Morgen trollt er sich brummend von dan-
nen; die übrigen wilden Thiere, und das ist auffallend, machen
nie einen Versuch, über den Zaun in den Corral einzudringen.'
Der graue Bär stellt übrigens den Schafen nicht häufig
nach und richtet unter den Banden keinen großen Schaden an;
ein Gleiches gilt von dem californischen „Löwen" Duma), der
zwar stark gebaut, aber feig ist. Dagegen leiden die Herden
viel durch die wilden Katzen, Füchse und Coyotes; die letzteren
sind leicht zu vergiften, wenn man Fleisch mit Strychnin be-
streut; auf die anderen macht man Jagd. Als Hirten verwen-
det man Indianer, Mexicaner, Schotten und seit längerer Zeit
auch Chinesen, welche sich als durchaus brauchbar und an-
stellig bewähren, nachdem sie die nöthige Anweisung in dem
ihnen sonst so fremdartigen Berufe erhalten haben. Die Hunde
sind schlecht abgerichtet und fast unbrauchbar.
Die Hirten erhalten in jeder Woche zweimal Lebensmittel
aus den zwei Stationen, welche die Obliegenheit haben, alle
Leute auf dem Nancho mit dem Notwendigen zu versorgen.
Sie dürfen Schafe schlachten, müssen aber das Fell abliefern an
die sogenannten Rationenmeister, welche ihrerseits unter den
Majordomos, Oberverwaltern, stehen. Jeder von diesen hat
eine Anzahl von Banden unter sich; er sucht neue Weideplätze
auf, leitet überhaupt das Ganze, sieht, ob die Schafe in gutem
Stande sind und ob die Corrals sich in angemessenem Zustande
befinden. Der Tejonrancho hat auch einen Magazinverwalter
und einen Buchführer, sodann einen Schmied, mehrere Fuhr-
knechte, Gärtner und Feldbauer, und diese beiden letzteren sind
wieder Chinesen.
So entsteht mitten in der weiten Einöde eine Art von Ge-
meinde, zu welcher dort auch etwa 300 Indianer gehören. Sie
haben Stücke Landes eingezäunt, bauen Gerste und Gemüfe,
haben auch Obstbäume und Weinreben gepflanzt und befinden
sich in sehr guten Umständen. Der Magazinverwalter kauft
ihnen ab, was sie nicht selber verbrauchen, verwendet sie, wenn
es nöthig, als Arbeiter gegen Lohn; sie pflügen und helfen bei
der Schur. Beale hat sie durch freundliches Benehmen zu sich
herübergezogen, sie werden gut behandelt und sind bereits wohl-
habend geworden.
Der Tehatchapie-Paß, durch welchen die pacififcheSüd-
bahn vonBakersfield her in die Mohave-Ebeuen laufen wird,
gehört zum Tejonrancho. Diefe Ebenen galten bisher für un-
bewohnbar und sie haben auch kein fließendes Wasser. Das
hat aber einen unternehmenden Deutschen nicht abgehalten, sich
dort niederzulassen. Er hat Brunnen gegraben, die ihm Wasser
in Menge geben, und er macht gute Getreideernten, weil er
feine Felder berieselt. Sobald die Südbahn in Betrieb kommt,
wird ohne Zweifel rasch Leben in diese Einöden kommen.
Expedition nach den Faröern.
Die dänifch-amerikanische Dampsergesellschast hat zur Unter-
suchung der Kohlenfelder der Faröer eine Expedition ab-
gesandt, bei welcher auch der Naturforscher Dr. R. v. Willemoes-
Suhm betheiligt ist. Die Kohlen liegen im Norden von Sü-
deröe und sollen, wenn sie sich als gut erweisen, nach Kopenhagen
verschifft werden. Neben den Handelszwecken verfolgt diese Ex-
pedition, wie Dr. Willemoes schreibt, auch wissenschaftliche Zwecke.
Er selbst wird der Zoologie feine Aufmerksamkeit widmen, während
Erdtheilen.
Professor Johnstrup die geologischen Verhältnisse der wenig
untersuchten Inseln erforschen will. Was man bisher über die
letzteren wußte, veröffentlichte 1328 Forchhammer in den Ab-
Handlungen der dänischen Gesellschaft der Wissenschaften. Die
Felsen der Faröer sind größtentheils vulcanischen Ursprungs,
Dolorit-Porphyr wird in großen Mengen auf allen Jnfeln ge-
funden. Kohlen wies man bisher auf Süderöe und den kleinen
Inseln Myggenäs und Tindholm nach. Zu welcher Formation
diese Kohlen aber gehören, ist bisher noch nicht festgestellt wor-
den, da man noch keine Versteinerungen in denselben ausgesun-
den hat; da aber die Kohlen von Grönland und Island nach
den darin enthaltenen Fossilien zur miocenen Tertiärperiode ge-
hören, so ist dies wahrscheinlich auch auf den Faröern der Fall,
und wir hätten es demgemäß mit Braunkohlen zu thun.
Was die Fauna anbetrifft, fo sind die Wirbelthiere der In-
seln durch das 1800 erschienene Werk Landt's: „Beskrivelse
over Faeröerne" ziemlich genau bekannt. Die einzigen wilden
Säugethiere, welche die Eilande bewohnen, sind einige Mäuse,
die ja dem Menschen überallhin solgen. Pinnipedia und Ceta-
cea kommen im Meere und an den Küsten in großen Mengen
vor und werden von den Einwohnern gefangen. Die Vögel
sind von Graba beschrieben worden. Reptilien und Amphibien
kommen auf den Faröern nicht vor; eine Liste der zahlreichen im
Meere lebenden und in die Flüsse aufsteigenden Fische hat Syssel-
man Müller in Thorshavn veröffentlicht. Die niederen Thiere
find aber weniger gut bekannt; Lütken und Mörch sammelten die
Echinodermen und Mollusken, unser Landsmann Oscar Schmidt,
der auf den Faröern war, beschrieb die Würmer. Es bleibt also
gerade auf dem Gebiete der niederen Thiere noch eine reiche
Ausbeute für Dr. v. Willemoes-Suhm übrig, der auch den
Auftrag hat, die Fische der Faröer für das Münchener Museum
zu sammeln.
q: ^ q?
— Vom Januar 1873 an wird eine D ampserlinie zwi-
schen London-Antwerpen und Valparaiso eröffnet. Die
Schiffe werden, gleich der bestehenden Linie, durch die Magellans-
straße fahren und in Rio de Janeiro und Montevideo anlaufen.
Dann haben wir monatlich dreimal Verbindung zwischen Eu-
ropa und der Südwestküste Amerikas, und sobald die deutsche
Dampferlinie hinzukommt, 48 Mal im Jahre.
— Die japanifche Regierung hat bekanntlich eine nicht
unbeträchtliche Anzahl von Nordamerikanern in ihre Dienste be-
rufen, um mehrere abendländische Einrichtungen einzubürgern.
Wir lefen jetzt in der „Newyork Tribüne", daß die Mehrzahl
dieser Yankees sich sehr schlecht aufführt und jene Regierung
alle Ursache hat, sich über sie zu beklagen. Die Regierung des
Präsidenten Grant hatte ihr zumeist nichtsnutzige Subjecte als
brauchbar und tüchtig empfohlen. „Insbesondere einer der so
empfohlenen Gentlemen, der eine einflußreiche Stellung er-
halten sollte, um unsere guten Freunde in Asien civilisiren zu
helfen, zeichnete sich schon im ersten Monate seiner Anwesenheit
in Mddo durch einen äußerst ausschweifenden Lebenswandel aus
und war häufig stark betrunken. Die Ackerbaucommission ist
völlig in die Brüche gegangen und ihr Präsident erwies sich
als vollkommen unbrauchbar. Man hat der japanischen Regie-
rung solche Subjecte aufgehalst, um sie für Dienste zu belohnen,
welche sie der Grantpartei geleistet haben, oder um sie los zu
werden, weil sie anstößig oder unbequem geworden waren. Selbst
der amerikanische Gesandte De Long hat sich nicht geschämt, die
Zahlung einer beträchtlichen Forderung von der japanischen Re-
gierung zu erpressen."
Inhalt: Tyndall's Alpenwerk. (Mit vier Abbildungen.) — Aus der Südsee. II. (Mit drei Abbildungen.) —
Wilson's Untersuchungen über den Jndianerstamm der Huronen. — Baron von Richthofen im Innern Chinas. — Das
römisch-germanische Museum in Mainz. I. — Aus allen Erdtheilen: Die indischen Kulis in Westindien. — Ein Landgut im
südlichen Kalifornien. — Expedition nach den Faröern. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Hierzu eine Beilage: Prospekt, betreffend Luftreisen von I. Glaisher, C. Flammarion, W. v. Fonvielle
und G. Tissandier; Schiffbrüchige ic. Verlag von Friedr. Brandstetter in Leipzig.
&
Unö
Band XXII.
%
■JUS 17.
Iii besonderer Derürksicktigung ller Anthropologie unä Gtlinologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl A n d r e e.
Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1872.
Die Tataren in Kasan und in der Krim.
In Kasan beginnt schon ein Stück Asien; dort leben
Russen und Tataren in derselben Stadt neben einander, und
neben den Thürmen und Kuppeln der christlichen Kirchen
erheben sich Moscheen und Minarete.
Die Russen sind erst seit dreihundert Jahren im Besitze
der ehemaligen Chanate Kasan und Astrachan, und in der
ganzen Gegend an der untern Wolga bilden Leute von sin-
nischer und tatarischer Abstammung mich jetzt noch die Mehr-
zahl der Bewohner; in den Steppen nach Süden und Osten
hin ziehen Kirgisen und Kalmücken mit ihren Herden um-
her. Kasan hatte sich im Jahre 1441 von dem großen
Mongolenreiche losgerissen, das Chanat Astrachan bestand
von 1238 bis 1557. Beide wurden vom Czar Iwan dem
Schrecklichen oder Grausamen unterjocht.
Kasan gilt bei den Tataren für den westlichen Grenz-
Punkt ihres Volkes und ihres Glaubens. Es ist eine
ursprünglich von Buchara aus gegründete Colonie und
gleichsam der letzte nach Europa hineingerückte Vorposten von
Chiwa. Bei den Tscheremissen heißt die Stadt Oson. Sie
hat eine malerische Lage auf mehreren Hügeln, wird von der
Kasanka und vier anderen kleinen Flüssen durchzogen und
liegt etwa eine deutsche Meile weit vom linken Ufer der
Wolga entfernt. Der Kreml oder die Festung steht auf
einer Anhöhe am nördlichen Ende und bildet ein längliches
Viereck, das mit Mauern umgeben ist; auf diesen erheben
sich Thürme, und innerhalb steht die 1552 gleich nach der
Eroberung gegründete Kathedrale, in welcher sich ein, wie
sich von selbst versteht, vielerlei Wunder wirkendes Bild der
„Mutter Gottes von Kasan" befindet. Auf der Hochebene
hinter der Festung sieht man Ruinen von alten Thürmen
Glvbus XXII. Nr. 17. (November 1872.)
und Gebäuden; sie gehören der alten, 1552 zum größten
Theil zerstörten Tatarenstadt an. Am Fuße der Anhöhe
dehnt sich der Kabanfee aus, ein längliches Becken, an wel-
chem der gewerbsame Theil der Stadt sich hinzieht. Die
einzelnen Theile von Kasan haben in Betreff ihrer Bauart
einen verschiedenen Charakter. Der Kreml ist russisch-christ-
lich, die hohe Straße ist deutsch. Ein hübsches tatarisches
Thor, welches man als Sayonbekathurm bezeichnet, liegt der
Kathedrale gegenüber; die untere Stadt wird vorzugsweise
von Mohammedanern bewohnt.
Diese Tataren sehnen sich auch heute noch nach dem fer-
nen Osten, aus welchem sie bis an die Ufer der Wolga vor-
drangen. Chiwa und Buchara sind für sie in ihren Trau-
men, was Sichem und Jerusalem für den altgläubigen He-
bräer, sie gelten ihnen gleichsam für ihre ideale Heimath,
und es erfüllt sie mit tiefen Schmerzen, daß Samarkand
und in dieser Stadt Timnr's Grabmal in die Gewalt der
Russen gefallen ist. Die mohammedanischen Dichter in Ka-
san besingen die blühenden Gebüsche und die duftigen Haine
Bucharas mit Vorliebe; sie vergleichen die runden, rosigen
Wangen der Geliebten mit den Aepseln von Chiwa, und die
Gluth ihrer Leidenschaft mit dem heißen Sommer von Balch.
Eine arabische Sage kennt einen Ausspruch des Prophe-
ten Mohammed, und dieses Wort gilt für eine Prophezeiung,
die sich erfüllt. Ihr zufolge werden die Bekenner des Js-
lam stets Herren bleiben in allen solchen Ländern, wo der
Palmbaum reife Früchte trägt, dort hingegen, wo der ge-
segnete Baum nicht blüht, werden die Mohammedaner wohl
zeitweilig, aber nicht auf lange Dauer Gebieter sein und
bleiben. Dieses Orakel hat sich seit eintausend Jahren er-
33
258
Die Tataren in Kasan und in der Krim.
füllt. Alle Länder, in welchen die Dattel gedeiht,
sind der Herrschaft der Araber und des Islam anheim ge-
fallen und dieselbe hat sich dort fest bewurzelt. Wo aber
die Anhänger der Lehre des Propheten Uber die Grenze der
Palmen hinaus Eroberungen machten, mußten sie über kurz
oder lang wieder zurückweichen. Sie konnten sich in Spa-
nien nicht behaupten, das man doch mit Recht als ein ge-
nüldertes Afrika bezeichnen darf, und mußten hinüber nach
Marokko weichen. Auch in den Wolgagegenden erlag der
Halbmond dem Kreuze und seine Bekenner zogen zum groß-
ten Thüle zu ihren Stammesbrüdern und Religionsverwand-
ten in Chiwa und Buchara. Freilich träumen die Mauren
in Marokko von einer Wiedereroberung Sevillas und Gra-
nadas; in den Familien der aus Andalusien vertriebenen
Morisken werden die Schlüssel der ehemals in ihrem Besitze
befindlichen Paläste wie eine Art von Heiligthum anfbe-
wahrt, und dasselbe geschieht mit den Urkunden über ihren
vormaligen Grundbesitz. Aus das ganze Gebiet am linken
Ufer der Wolga erheben die Kirgisen Anspruch; ihre Häupt-
liuge betrachten sich als die rechtmäßigen Erben der Chane
von Kasan. Ueberall sehen die Bekenner des Islam in der
Thatsache, daß sie von Ungläubigen beherrscht werden, eine
Strafe, welche Allah über sie verhängte, weil sie nicht glau-
benseifrig genug gewesen. Aber sie hoffen mit Zuversicht,
daß sie dermaleinst Gnade finden werden. Freilich, das
Exil kann möglicherweise recht lange währen, aber es nimmt
Ansicht von Kasan.
sicherlich ein Ende, und wenn endlich Allah wieder Gnade
und Barmherzigkeit vorwalten läßt, dann werden seine Be-
kenner ihre früheren Besitzungen triumphirend wieder ein-
nehmen.
Wir wollen hervorheben, daß den bezwungenen Moham-
medanern in den verschiedenen Gegenden ein sehr verschie-
denes Loos zu Theil geworden ist. In Andalusien wüthete
die Barbarei der wildfanatischen Christen gegen die Mauren
mit Feuer und Schwert; es war Jahrhunderte hindurch den
Nachkommen der Vertriebenen bei Todesstrafe verboten, den
Boden Spaniens zu betreten. In Rußland dagegen ließ
man die Tataren in Frieden leben, und sie konnten unge-
stört Handwerke und Handel treiben. Gewiß sind sie auch
in Kasan und Astrachan manchen Verfolgungen ausgesetzt
gewesen, das bringt einmal der Gegensatz von Kreuz und
Halbmond mit sich. Noch jetzt bricht dann und wann der
gegenseitige Haß hervor und beide Theile liefern einander
iu den Straßen blutige Gefechte.
Wer in Kasan den tatarischen Stadttheil besucht, dem
fallen die buntbemalten Vorderseiten der Häuser auf, die
schlanken Minarets, die orientalischen Trachten, die regel-
mäßigen Gesichtszüge der Leute. Man sieht es den letzteren
an, daß es ihnen wohl ergeht, und ihr ganzes BeHaben
macht einen durchaus nicht unangenehmen Eindruck. Ein
russischer Offizier äußerte gegen den Engländer Hepworth
Dixon: „Diese Tataren sind Spitzbuben, essen leidenschaftlich
gern Roßfleifch, sind aber im Uebrigen gar keine übelen Leute."
„Ihre Dienerschaft besteht aus Tataren, nicht wahr?"
„Allerdings, sie sind als Diener sehr gut und brauchbar,
denn einmal betrinken sie sich nicht und sodann ist Alles,
was man ihnen anvertraut', in guten Händen; sie verun-
treuen nichts."
260
Die Tataren in Kasan und in der Krim.
Auch- in Moskau, Petersburg und anderen großen Städ-
ten hat man die nüchternen tatarischen Diener lieber als die
zum Trunk geneigten Russen. Der tatarische Adel zog sich
seit der Eroberung Kasans nach Asien zurück, aber die Haud-
werker und Hirten sind geblieben, nicht minder die Kaufleute.
Die Tataren haben eine entschiedene Begabung zum Hau-
delsbetriebe, uud in Kasan findet man unter ihnen eine Ari-
stokratie von Kaufleuten. Im Allgemeinen sind dort die
Tataren besser unterrichtet, als die christlichen Russen; die
meisten können rechnen, lesen und schreiben; sie haben in den
Bank- uud Handelshäusern Vertrauensstellungen inne, weil
sie aufmerksam, anstellig und von unermüdlichem Fleiße
sind. Drei der reichsten Kaufleute, Aunasoss, Burnaiesf
und Apakoff, waren blutarme tatarische Knaben und sind
heute hochangesehene Männer. Die Tataren beten, arbeiten,
werden wohlhabend und sind einflußreich. Asiaten sind und
bleiben sie auch auf europäischem Boden, und den Russen
gegenüber fühlen sie sich als Fremde. Ihre früheren Hoff-
nnngen, welche sie aus Buchara setzten, sind nun längst in
Nebel zerronnen, denn der Emir jenes turkestanischeu Lau-
des, aus welchem sie noch heute ihre Geistlichen erhalten,
hat seine ehemalige Machtstellung eingebüßt nnd ist thatsäch-
lich zum Vasallen des weißen Czars an der Newa herab-
gedrückt worden. Von Chiwa her haben die kasanschen Ta-
taren nichts mehr zu erwarten, anch der Chan dieser Step-
Penoase wird von den Russen bedrängt, und es fragt sich,
ob sie ihm noch längere Zeit gestatten werden, unabhängig
zu bleiben. Im Sommer 1872 wollte er von seiner Haupt-
Palast der Tatarenchane in Baghtschi Ssarai.
stadt am Amn Darja ans eine Gesandtschaft nach Peters-
bürg an der Newa schicken, um kund zu geben, daß er sried-
liche Gesinnungen hege; er möchte gern die ihn drohende
Wetterwolke abwenden.
Man hat oftmals gesagt, daß das heilige Moskowiter-
land bis in die Zeiten Peters des Großen hinein in vieler
Beziehung ein wesentlich asiatisches Gepräge getragen habe;
gewiß ist. daß es in seinem Staatswesen und in seinen Ein-
richtungen keinen europäischen Typus hatte. Seine Beruh-
rnngen mit dem Westen waren spärlich und von diesem aus
erfuhr es keine civilisatorischen Einwirkungen, so lange das
Joch der Mongolen auf ihm lastete. Nachdem dieses ab-
geschüttelt war, faßte es seine Macht zusammen, und im
sechszehnten Jahrhundert konnte es nicht bloß dem weitern
Vordringen der Polen einen Riegel vorschieben, sondern auch
nach Süden hin seine Grenzen erweitern. Czar Iwan der
Vierte, den man als den Grausamen, Strengen oder auch
Schrecklichen bezeichnet, eroberte den Tataren die Chanate
Kasan und Astrachan ab, und der Halbmond mußte weichen.
Er ließ, in der Mitte des sechszehnten Jahrhunderts, fremde
Kaufleute im Lande zu, ließ Buchdrucker vom Rhein kommen
und die Apostelgeschichte ins Russische übersetzen. Aus Frank-
fürt berief er Äerzte und Apotheker, ans London Holzbild-
Hauer und Kupferschmiede, und in Wologda ließ er eine
Stromflotte bauen. Er verbot das Betteln, stellte ein Gesetz-
buch zusammen und gab der Geistlichkeit strenge Vorschriften.
Iwan ist wohl als ein „Wilder" bezeichnet worden, aber
ein in seiner Weise ausgezeichneter Mann war er sicherlich
Die Tataren in Ka
und daß Volk war ihm ergeben. Die Großen zitterten vor
ihm; er beugte ihre Macht, kannte keinerlei Rücksicht und
verfuhr durchaus willkürlich. Seine Baulust war groß; auf
seinen Befehl entstanden vierzig Kirchen und leider anch
nicht weniger als einuudsechszig Klöster; außerdem ließ er
etwa anderthalb hundert Burgen und mehr als dritthalb
hundert Flecken bauen. Sorgfältig beobachtete er die Ein-
richtuugen der von ihm bezwungenen tatarischen Chanate, in
welchen das mohammedanische Volk viel civilisirter war als
jenes in der christlichen Moskowiterei. Die Tatarenstädte
Kasan und Baghtschi Ssarai nahmen sich ungleich stattlicher
aus als Wladimir oder Moskau, und neben den Tataren-
sürsten spielten die moskowitischen Bojaren nur eine arm-
selige Rolle.
Es steckte viel Tatarisches in diesem Iwan. Er hatte,
was in Europa damals noch sehlte, ein stehendes Heer, wel-
ches er in tatarischer Weise nnisormirte und bewaffnete; auch
seine Leibwache trug die tatarische Kopfbedeckung. Gleich dem
tatarischen Großchan verwandelte dieser christliche Czar sei-
nen Palast in ein Harem, und weder seine Frauen noch
seine Töchter durften sich vor den Leuten sehen lassen. Die
Bojaren folgten in dieser Beziehung dem Beispiel ihres Ge-
bieters und dieser Brauch dauerte bis auf die Zeit Peters
des Großen. Dieser erst schaffte denselben ab, öffnete die
Pforten des kaiserlichen Serails, lud Damen an den Hof
nnd die Czarina mußte sich öffentlich sehen lassen. Die
Frauen wurden ans besonderen Friedhöfen bestattet; auf
mehreren derselben sind in späterer Zeit Klöster errichtet
worden. Moskau wurde wie ein tatarisches Lager regiert
und es ging dort wild genug her. Iwans Opritschniki,
d. h. Leibwächter, trieben sich lärmend und allerlei Unfug
verübend in den Straßen umher; von ihnen wurden ohne
Unterschied Bojaren, Bürger und Bauern mißhandelt; sie
plünderten Häuser aus, schleppten Frauen uud Mädchen fort
und ermordeten Männer. Das Alles war freilich nicht
tatarisch, sondern moskowitisch.
Viel mehr heimisch als in Kasan und überhaupt an der
Wolga sühlen die Tataren sich in der Krim, welche von
1428 bis 1783 unter der Herrschaft ihrer Chane stand.
Sic fügen sich der Herrschaft der Russen, die keineswegs mit
Härte auf ihnen lastet, aber ein innerer Zug hat viele von
ihnen angetrieben, diese Heimath zu verlassen und in das
Gebiet des stammverwandten osmanischen Padischah auszu-
wandern. Laut amtlichen Angaben sind in den Jahren 1860
bis 1863 nicht weniger als 192,360 Mohammedaner bei-
derlei Geschlechts (104,211 Männer, 88,149 Frauen) aus
der Krim sortgezogen, so daß nicht weniger als 784 Wohn-
orte ganz oder zum Theil verlassen wurden. Vor diesem
Exodus zählte Taurien an Tataren, Nogaien und Zigeunern
zusammen 295,357 Köpfe. Im Jahre 1865 siud kleinere
Abheilungen ans der Türkei zurückgekehrt, und 1870 betrug
die Anzahl der Mohammedaner in der Krim 118,352
Seelen.
Die Hauptstadt der Chane war Baghtschi Ssarai,
d. h. Gartenstadt. Sie liegt im südlichen Theile der Halb-
insel und ist vou Sewastopol aus aus einer sehr guten Land-
straße in wenigen Stunden zu erreichen. Ganz vor Kurzem
hat F. Remy^ eine sehr ansprechende Beschreibung derselben
gegeben und wir wollen ihn bei den nachstehenden Bemer-
kungen als Führer nehmen *).
*) Die Krim in ethnographischer, landschaftlicher und hygieni-
scher Beziehung. Dem großen reisenden Publicum ein Wanderge-
fährte, von F. Remy. Mit zwei Stahlstichen, zwei Holzschnitten
und einer sehr guten Karte. Odessa und Leipzig 1872, bei Emil
Bernd. Das Werk ist für Touristen, die jetzt ja auch die Krim mit
ihrem Besuche nicht verschonen, geradezu unentbehrlich, einmal weil
in und in der Krim. 261
Wer von Sewastopol her sich der Stadt nähert, kommt
zunächst an vereinzelte Gebäude in tatarischem Stil; sie sind
reich an Farben und Schnitzwerk. Bald nachher gelangt
man durch eine muldenförmige Einsattelung in eine kaum
zehn Schritt breite Straße, welche den Geschäftsverkehr der
jetzt 11,100 Einwohner zählenden Stadt einschließt. Von
diesen sind nicht weniger als 9138 Mohammedaner,
Russen und Griechen nur 1310, karaitische Juden 489, an-
dere Juden 94, Armenier 32, Protestanten 22, Katholiken
15 Köpfe. Durch jene lange Straße wird die Stadt in
zwei ungleiche Hälften getheilt, inmitten welcher das Flüßchen
Tschuruk Su sich hindurchschlängelt. Die breite, rechte Seite
ist ausschließlich von Tataren bewohnt und sie zieht
sich in einem Labyrinth kleiner Gassen die Höhen hinan.
Häuschen klebt an Häuschen; man sieht hier und da ein
vereinzeltes Fenster, zumeist jedoch vergitterte Balcone; die
Straße hat sür nur vier, höchstens sechs Fußgänger neben
einander Raum. Man geräth in diesem Gewirr alle Augen-
blick in eine Sackgasse, an deren Ende sich mehrere Psörtchen
öffnen. Durch diese Einrichtung wird es den Frauen mög-
lich, ihre Nachbarinnen zn besuchen, ohne die Gassen zu be-
treten. Unverschleierte Tatarinnen sieht man nicht; es herrscht
noch morgenländische Sitte in voller Strenge. Jedes tata-
rische Häuschen hat auf der hintern Seite einen von hoher
Mauer umgebenen Hof, in welchem man, so klein er anch
sein möge, doch allemal wenigstens einen Baum uud ein
Blumenbeet sindet. Auf diesem beschränkten Räume hat das
tatarische Familienleben seinen Anfang und Ausgang uud
seine Grenze.
Auf der schon erwähnten langen Straße erblickt man nur
Buden; die verschiedenen Handelszweige halten sich zusam-
men. Hier eine Reihe Läden mit frisch geschlachteten Häm-
meln, denen das Fett treppenartig auf dem Rücken zertheilt
ist, um jeden Zoll seiner Güte bloßzulegen. Weiter Sättel
und Pferdegeschirr, die vielgefragten, silberverzierten, rothen
und gelben Franenpantoffeln; Gewürzbuden, Tabacksläden,
Fayencegeschirr:c. Alle diese Budeu bestehen sehr primitiv
aus kleinem hölzernen Bretterwerk, das durch Klappen von
oben und unten geschlosseu werden kann; auf der untern liegt
ein Theil der Waaren aus und neben ihr hockt oder kauert
der Eigentümer, die obere schützt vor der Sonne. Kleine
Plattenwege verengen die Straße manchmal aus fünf Schritt
und beim Ausweichen eines Wagens müssen die Umstehen-
den behülflich sein. —
Remy trat in ein Kaffeehaus. Aus grünen Polstern
saßen an den Wanden acht ehrwürdige Beturbante mit unter-
geschlagenen Beinen; sie ranchten aus der türkischen Glas-
pfeife und fchlürften bedächtig ihren Mokka aus kleinen Henkel-
losen Tassen. Die alten Barte erwiederten den Gruß des
Europäers mit einem feierlichen Neigen des Hauptes. Der
Kaffee war vortrefflich; er wird mit Zucker gekocht nnd läßt
einen feinen Satz zurück.
„Wer den Orient in seiner genießbarsten Gestalt kennen
lernen will, ohne sich den Gefahren einer kostspieligen Reise
oder der Bedrängniß griechischen und italienischen Gesindels
und fanatischen Türkenthums aussetzen zu wollen, — der
sollte nach Baghtschi-Sfarai kommen. Von hier wird er
in seiner Seele die anmnthige Verwirklichung jugendlicher
Träume für immer in ihrer mildesten und sittlichsten Form
heimtragen können. Hier in der Mitte der tanrifchen Halb-
insel kann er einen isolirten Fleck finden mit der scharf um-
es sehr gut orientirt, viele praktische Belehrung giebt und Landschaf-
ten und Städte lebendig aus eigener Anschauung schildert, dann auch
die geschichtlichen Momente in zweckmäßiger Weise hervorhebt. So
ist es ein werthvolles Vademecnm. das uns einen richtigen Einblick
in die Verhältnisse der auch historisch so interessanten Krim gewährt.
262 Die Tataren in Ka^
grenzten Cultur, die, unbeeinflußt von den tausend Erregnn-
gen des Westens, seit Jahrhunderten das fremdartige, uns
so geheimnißvoll annmthende Dasein fortspinnt und nnwan-
betbar die Eigenart bewahrt."
Der Palast, in welchem die Tatarenchane thronten, wird
auf drei Seiten von den Häusern der Stadt bis dicht an
die Umfassungsmauern bedrängt; selbst der Platz vor dem
Eingangsthor ist verhältnißmäßig beschränkt. Im Hofe steht
auf einer kleinen Säule ein vergoldeter Doppeladler, zum
Andenken an den Besuch, welchen 1787 Katharina die Zweite
diesem Palaste abstattete. Sie rastete in den Gemächern,
die von den Tatarenchanen bewohnt worden waren. In
dem viereckigen Hofe, der etwa 240 Schritt in der Länge
und 60 in der Breite hat, ist es still und reinlich. „Wie
t und in der Krim.
rauschen die prächtigen Pyramidenpappeln so melancholisch
auf die Blumenbeete hernieder, wie verheißend blicken die
Reben über die Mauern, wie geheimnißvoll fchauen uns die
vergitterten Balcone an und wie anmuthig locken durch
Mauerfenster kleine Gärtchen den Wanderer in ihre duftige
Einsamkeit! Springbrunnen plätschern, Vögel zwitschern,
Bäume rauschen; — sonst ist es still wie der Tod."
Rechts vom Eingangsgebäude liegen die Wohngebäude
der Chane, links nur diejenigen, welche religiösen Zwecken
dienen. Die Moschee hier ist die größte in der Stadt; der
mit Teppichen belegte, durch einige vergitterte Fenster ver-
düsterte Raum faßt etwa 300 Menschen. Von der Mitte
des Plafonds hängen achteckige Sterne herab; sie tragen
verschiedene Embleme des mohammedanischen Cnltus. An
Vaghtschi Sja
den Wänden sind Sprüche aus dem Koran unter Glas und
Nahmen. Gleich neben der Moschee liegen zwei von Knp-
peln überragte Mausoleen und hinter denselben, beide ver-
bindend, 72 Gräber, zumeist von der bekannten Blumen-
kastenform, aus Stein und Marmor, mit sehr gut erhaltenen
türkischen und arabischen Inschriften; die meisten waren
mohlgepflegt und mit Blumen reichlich bepflanzt. Dort
ruhen die höheren Beamten des vormaligen Hofstaates mit
ihren Frauen und Kindern. — Der eigentliche Garten-
palast enthält eine sehr beträchtliche Anzahl von mittelgroßen
und kleinen Zimmern, Sälen, Verandas und Gallerten. Alles
ist morgenländisch, fremdartig, unsolid und unzuverlässig; —
viel Roth, Gold, Spielerei mit Blumen, Ranken, Arabesken,
Alles nur decorativ, nichts von monumentalem Werthe.
in der Krim.
Für die in der Krim lebenden Tataren ist, wie schon
angedeutet wurde, Baghtschi Ssarai ihr geheiligter Mittel-
Punkt. Dort ruhet die Asche ihrer Chane. Hier, sagt
Remy, kann man die Ueberreste eines Volkes achten lernen,
das zur Zeit seiner Herrschaft dieses Gefühl nicht erweckte.
Aber es hat, trotz des starren Festhaltens am Ererbten, sich
einen Ruhm erworben, der sich an keine Religionsform bin-
det: — den Ruhm sittlicher und rechtlicher Menschen.
Die Tataren der Krim stehen in allgemeiner Achtung; in
diesem Urtheile stimmen Russen, Deutsche und Griechen
überein; allerdings sügt man hinzu, sie seien träge, aber das
sind in heißen Klimaten die Menschen, ohne Unterschied der
Race, alle mehr oder weniger. Viele Tataren sprachen zuni
Reisenden mit einer gewissen Rührung von dem Glück und
Das römisch-germanis
Frieden ihrer Häuslichkeit. Wie schwer der Erwerb auch
Manchem fallen möge, hier fänden sie reichlichen Ersatz.
Man hört in der That weder von brutaler Behandlung der
Frauen, noch überhaupt von Zank und Unfrieden. Wenn
man die elenden Häuschen betrachtet, sollte man ihnen den
Comsort und die Reinlichkeit, welche sich doch vorfindet, kaum
zutrauen. Eine eigentliche Küche haben sie nicht; in der
Regel hängt im Vorhause unter einem Nauchfange der nn-
entbehrliche Kessel. Das Volk ist sehr mäßig; man trinkt
viel Thee und Kaffee. Die Wohnstube ist stets mit Tep-
pichen belegt; an der einen Wand läuft eine niedrige, eben-
falls mit Teppichen belegte Erhöhung hin, auf welcher beide
Geschlechter mit untergeschlagenen Beineu zu sitzen pstegen.
Die Schlafstätten sind durch herabhängende, öfters mit Gold
und Silber durchsteppte Teppiche vom größern Räume ge-
trennt; manche Familien besitzen auch schon Commode, Tisch
und Stühle, benutzen sie aber nicht gern.
Man sieht in den kleinen Höfen Kindergruppen von
solcher Kraft, Schönheit und Gesundheit, daß man sich von
dem lieblichen Schauspiele kaum loszureißen vermag. „Diese
pelzmützigen Tatarenbübchen sind der breitschulterigste, hoch-
brüstigste Menschenschlag, der mir jemals vorgekommen ist.
Sie sind in der Mehrzahl bildschön, wie denn der Tatar in
Baghtschi Ssarai und auf der Südküste überhaupt ein fchö-
ner Mann ist und Mongolengesichter nur ganz ausuahms-
weise vorkommen." Im Punkte der Sittlichkeit können diese
mohammedanischen Tataren allen christlichen Völkern des
Westens zum Beispiel dienen; nie wird man durch unzüch-
tige Geberdeu oder Reden bei ihnen verletzt. Vielweiberei
ist ganz außer Gebrauch; es soll, wie versichert wird, auf
der ganzen Halbinsel keinen einzigen Fall von Polygamie
mehr geben. Die Tatarinnen lieben die Reinlichkeit, die
Männer nicht so sehr. Die allgemeine Tracht der letzteren
! Museum in Mainz. 263
ist jene der Kosacken. Blaue Jacke mit silbernen Litzen,
ziemlich weite blaue Hose, Stiesel; dazu kommt die etwa
fünf Zoll hohe, oben flache Kopfbedeckung aus feinem, schwar-
zem Schaffelle. Ein Turban wird nur von denen getragen,
welche am Grabe des Propheten gebetet haben, und es haben
doch sehr viele die weite Reise nach Arabien gemacht.
Remy stellt folgende Betrachtungen an.- „Was man
auch von der mohammedanischenReligion halten möge,
es kann nicht in Abrede gestellt werden, daß sie sich dem
Naturell des Orientalen wundervoll anschmiegt, sie ist ihm
wie aus den Leib gemessen; daher ihre außerordentliche Ver-
breitung im Oriente. Sie verlangt nichts vom Verstand,
Alles von der Phantasie. Indem sie vor Allem bemüht
war, die extremen Richtungen derselben durch strenge reli-
giöse Formen zu ordnen, zu bündigen, gelang es ihr, die
sinnlichen Regungen, in welchen unter heißen Himmelsstri-
chen stets die Hauptgefahr liegt, fast ganz zu beseitigen. Sie
entzog dem männlichen Geschlecht das Frauenzimmer mit
einer Strenge und Conseqnenz, die Bewunderung verdient,
und zugleich das berauschende Getränk, diesen Vater der mei-
sten Excesse des christlichen Abendlandes. Die Tataren tritt-
ken weder Wein noch Branntwein, doch gestanden sie mir,
daß einige ihrer Stammesbrüder während des Krieges sich
dem Trunk ergeben und dann eine so bestialische Natur ent-
wickelt haben, daß sie rings Furcht und Abscheu verbreiten.
Die mohammedanische Religion hat für die Entwickeluug
asiatischer Völker sicherlich Bedeutendes geleistet; sie war
vielleicht segensreicher in dem, was sie nahm, als in dem,
was sie gab, folgenreicher in dem, was sie band, als in dem,
was sie freigab. Daß selbst innerhalb dieser, dem gebilde-
ten Europäer so beschränkt dünkenden Formen ein großer
Spielraum für Entwickeluug möglich ist, das beweisen die
Tataren."
Das römisch-germanische Museum in Mainz.
ii.
X X Wir finden schon 1751 eine Untersuchung über die
Anzeigen von Handelsverbindungen bei den Germanen, und bis
zu den Jahren 1688, 1720, 1759, 1764 reichen die An-
Weisungen über die beste Art der Ausgrabungen und Be-
schreibuugeu von Alterthümern. Schon aus diesen That-
sachen ergiebt sich die weitverbreitete Theilnahme für diese
Forschungsrichtung, sowie der Eifer und Ernst ihrer Thätigkeit.
Wenn ihre Erklärung nicht überall das Richtige traf, so ist
dies nicht etwa nur dem einseitigen Gebrauche gelehrter Mit-
tel beizumessen, sondern vielmehr jenen allgemeinen irrthüm-
lichen Vorstellungen, welche, je nach dem Charakter der Zeit
wechselnd, sich überall geltend machen und jetzt noch, wenn
auch in anderer Gestalt, so gut wie damals Fehler und Miß-
griffe veranlassen, mit dem einzigen Unterschiede, daß die
jetzigen gerade nicht immer aus einer Verwirrung durch über-
große Menge gelehrten Wissens zu entschuldigen sind. Be-
merkenswerth erscheint es weiterhin, daß uns in dieser Menge
von Schriften bei aller Pietät und Wärme für ihren Ge-
genstand wenig oder nichts von jenen widerlichen Aenße-
rungen nationaler Ueberhebung und Eitelkeit begegnet, welche
in der neuern antiquarischen Literatur der Dänen so aus-
nehmend abstoßend wirken.
Nach Umfang und Verdienst dieser früheren Leistungen
bleibt es kaum zu erklären, mit welchem Gleichmuthe seither
die Anmaßung unserer Nachbaren aufgenommen wurde,
welche, obgleich sie ihren nationalen Alterthümern weit spä-
ter erst eine wissenschaftliche Untersuchung zugewendet haben,
sich das Ansehen geben, uns als angehende Schüler meistern
nnd belehren zu können. Es ist deshalb um so höhere Pflicht,
auf die Bedeutung jener älteren Forschungen hinzuweisen,
als zudem noch Vieles, was bereits vor anderthalb hnn-
bert Jahren Gemeingut deutscher Wissenschaft war, in
unseren Tagen als vollkommen neue Entdeckung proelamirt
und fremdem Verdiuste zugewiesen wird!
Wie man die erste richtige Beurtheiluug der sogenannten
Donnerkeile als Steinwaffen der ältesten Bevölkerung
aufdieFranzosen Mahudel 1734,Goguet 1758 unddannEau-
mont zurückführen will, so bezeichnet man es als ein Ereig-
niß in der Wissenschaft, daß 1832 von Kopenhagen, aus
diese Steingeräthe im Hinblick aus die gleichartige« der heu-
tigeu wilden Völker endgültig als Werkzeuge und Waffen
erklärt wurden.
Aber dies in kläglicher Gewißheit, daß diese Frage,
welche die Pariser Akademie 1734 noch als ungelöst zurück-
wies, damals in Deutschland schon .längst entschieden war
und daß schon 1714Johannes Oesterling, ein Studiosus
264 Das römisch-germani
tu Marburg, in seiner Dissertation cls armis lapideis
veterum Cattorum so bestimmt auf den Gebrauch gleich-
artiger Waffen bei den Wilden Louisianas und des übrigen
Amerika hinwies, als dies nur im Jahre 1832 von Thomson
geschehen konnte.
Nur die Schwerfälligkeit damaliger Gelehrsamkeit, die
Vereinzelung der Bestrebungen, der Mangel eines Stützpunk-
tes auf große Sammlungen waren es, welche in jener Zeit,
wie noch weiterhin auf längere Dauer die Erreichung eines
bestimmten Gefammtergebnifses dieser Studien verhinderten.
Doch selbst die schweren Verhängnisse, welche der Schluß
des Jahrhunderts und der Beginn des neuen über unser
Land brachten, vermochten nicht den Fortgang dieser Bestre-
bungen zu hemmen. Die Zeit der Fremdherrschaft war es
vielmehr, welche der Thätigkeit für die Kunde unserer Vor-
zeit und ihrer Denkmale eine mächtige und bis jetzt fortwir-
kende Anregung gab.
Eine tiefer eingehende Erforschung der germanischen
Grabhügel, der zerstörten Römerlager, der alten Befeftigungs-
linien und Niederlassungen fand die vielseitigste, alle deut-
schen Lande umfassende Betheiligung. Die Art und Weise
der Untersuchung erhob sich bald zu einer des Gegenstandes
und seiner wissenschaftlichen Bedeutung würdigen Sorgfalt,
so daß von den außerordentlich zahlreichen Ansgrabnngs-
ergebnifsen verhältnißmäßig nur wenige einen Zweifel an
ihrer Verläfsigkeit gestatten und die meisten, zumal die wich-
tigsten, mit großer Umsicht ausgeführt worden sind.
Die Menge des hier gewonnenen, überaus werthvollen
Materials ist jedoch äußerst schwer vollkommen zu über-
blicken, da sie sich nicht etwa nur in die Museen der einzelnen
Staaten, sondern in eine große Anzahl fürstlicher, stadtischer,
akademischer und Privatsammlungen vertheilte, mit welchen
bald auch jene der zahlreichen Bereine für Alterthumskunde
wetteiferten.
Wir zählen 33 Museen und Sammlungen, von welchen
keine einzige bei Benrtheilnng der deutschen Alterthümer nn-
beachtet gelassen werden kann und die meisten von hoher
Wichtigkeit sind. Diese Zahl fällt beinahe zu gleichen Hälf-
teu auf den Norden und den Süden unseres Landes. ^Preu-
ßen mit Berlin, Kiel, Hannover, Kassel, Wiesbaden,
Bonn, Köln, Münster, Breslau, Trier. 2) Mecklenburg
mit Schwerin. 3) Braunschweig mit seinem Museum.
4) Sachsen und Thüringen mit Dresden, Jena, Alten-
bürg, Gotha, Hohenleuben. 5) Hessen mit Mainz und
Darmstadt. 6) Baden mit Karlsruhe und Mannheim.
7) Würtemberg mit Stuttgart und Ulm. 8) Baiern mit
München, Augsburg, Landshut, Bamberg, Würzburg
und Speyer. 9) Oesterreich mit Wien, Gratz, Salzburg
und Prag.
Zu diesen treten einige sehr bedeutende fürstliche Privat-
sammlungen, wie das fürstlich hohenzollernsche Mu-
senm auf Schloß Sigmaringen, die Sammlung des
Herzogs Wilhelm von Würtemberg aus Schloß Lich-
tenstein, die gräflich Erbach'fche Sammlung zu Er-
bach im Odenwalds, die fürstlich Solms-Branufels'fche :c.
und die zahlreichen kleineren, aber oft nicht minder Werth-
vollen Sammlungen in Stade, Hildesheim, Leipzig, Lübeck,
Magdeburg, Görlitz, Meiningen, Neuwied, Kreuznach,
Aschaffenbnrg, Regensburg, Tübingen, Linz und manchen
anderen Städten.
Ist es demnach für immer unmöglich geworden, die dent-
schen Alterthümer vorchristlicher Zeit in eine einzige große
Sammlung zu vereinigen, welche an Reichthum und Gehalt
selbst die nordischen Museen weit überragen würde, so hat
doch die Forschung keinen Grund, den durch unsere natio-
nalen Verhältnisse bedingten Mangel einer solchen Centrali-
he Museum in Mainz.
sirung als einen Nachtheil von entscheidender Wichtigkeit,
als eine Lebensfrage für ihren Erfolg zu betrachten.
Einerseits ist der große Vortheil nicht zu verkennen, wel-
cher aus der Jsolirung und besondern Pflege der einzelnen
Landesalterthümer für ihre tiefere und vielseitigere Benrthei-
lnng erwächst. Andererseits ist der Ersatz einer solchen über-
sichtlichen Vereinigung ihrer Gesammtheit gerade in der Be-
grllndnng des römifch-germanischenCentralmnseums
in Mainz gesunden.
Treten wir ein in die Räume diefes Museums.
Schon der erste Anblick ist in Bezug auf Fülle und male-
rifche Wirkung ein überraschender, ungemein anziehender.
Ans großen Schränken die Wände entlang, aus Pulten in-
mitten der Säle, aus den hohen Fensternischen blitzt uns
zahlloses, mit edlen Steinen verziertes Geschmeide aus Gold,
Silber und Erz entgegen. Reihen von Glasbechern, Urnen
und Krügen, die rothen Terracotten der Römer, ihre Erz-
becken und Eimer, emaillirte Schalen und eine Menge kost-
baren Tafelgeschirres aus getriebenem Silber; Lanzen, Pfeile,
große Schwerter und Kampfmesser, die mannichfaltizsten Ge-
räthe und Werkzeuge stehen und hangen dicht gedrängt neben
und über einander in der ersten Abtheilung dieser Samm-
lungen. Der matte Glanz der Thongefäße, der goldene
Schimmer sowie der bald dunkelgrüne, bald mehr bläuliche
Aerugo der Bronzen, wie ihn der Maler täuschend der Natur
nachgeahmt, wechselt mit den verschiedenartigsten Schattirnn-
gen des Eisens, von der düstern, schwärzlichen Metallfarbe
bis zu dem Hellern oder dunkelern Roth des Rostes, je nach
den tausendjährigen Einwirkungen von Wasser, Lehm- oder
Moorboden. Wir durchschreiten flüchtig die erste Abthei-
lnng und finden in der folgenden einen bis jetzt noch nie
gesehenen Reichthum von Bronzegegenständen; von Hals-
und Armringen, Haar- und Gewandnadeln, von zierlichen
Messern, Kämmen, Diademen, Dolchen, Lanzen, Panzern
für Mann und Roß, mächtigen, kreisrunden Schilden und
eine erschöpfende Auswahl aller verschiedenen Formen der
schönen Erschwerter. Auch diese Tausende von Gegenstän-
den bieten i>en Reiz der getrenesten Naturnachbildung, sowie
die zahlreichen Geräthe aus Stein, Hirschhorn, Knochen und
Thon, womit die Sammlungen abschließen.
Durchschreiten wir vorerst zum Gewinn eines Gesammt-
eindruckes die Sammlungsräume, so finden wir uns, abge-
sehen von dem Reichthum der hier vereinigten, auserlese-
nen Werthstücke, durch die Wahrnehmung überrascht, daß
eine Darstellung unserer ältesten Cnltnrgeschichte nnmit--
telbar aus den Denkmalen selbst, durch eine umfassende
Uebersicht der bezeichnenden Formen doch in vieler Hinsicht
ganz andere Resultate bietet, und ganz andere Gesichtspunkte
der Auffassung gewährt, als jene, welche wir aus den Schrif-
ten der Systematiker und gelehrten Particnlaristen zu ge-
Winnen vermochten.
Auf den ersten Blick schon ergiebt sich die auffallende
Verschiedenartigkeit der einzelnen Gruppen, das völlig iso-
lirte Auftreten der wohlbekannten, classischen Formen bei
manchen Arten der Gefäße und Waffen und mit diesem
Allem die Ueberzeugnng, daß wir für die ältesten Cultur-
Perioden innerhalb unseres Landes keineswegs eine ausschließ-
lich selbständige EntWickelung, sondern neben dieser schon in
sehr früher Zeit eine vielseitige und umfangreiche Einwir-
knng von Außen her anzunehmen haben. Wir werden dar-
auf hingewiesen dadurch, daß wir in zeitlich aussteigender
Richtung, nach welcher die Sammlungen geordnet sind, aus-
gehend von den Denkmalen der frühern historischen Zeit zn
den fernliegenden Perioden hinauf, iu dieser Reihenfolge nicht
etwa, wie man erwarten follte, von Zeugnissen einer vorge-
schrittenen Ausbildung stufenweise zurückgehen können zu
Das römisch-germanische Museum in Mainz.
265
einer weniger entwickelten und immer Primitivern Technik,
sondern im entschiedensten Gegensatze oftmals das Aeltere
weitaus dem Spätern überlegen finden und ausfallenden
Contrasten begegnen, welche aus sich selbst so wenig als aus
den bisherigen Versuchen ihrer Erklärung begreiflich erscheinen.
Vergleichen wir nur im Vorüberschreiten an den Schrän-
ken die Reihen der Metallgeräthe und Waffen, so
muß die Thatfache überraschen, daß dieselben, je weiter in
die vorgeschichtliche Zeit zurück, an Zierlichkeit der Form
und Trefflichkeit der Ausführung nicht etwa verlieren, fon-
dern gewinnen, bis wir gerade bei den nachweisbar ältesten
Denkmalen dieserArt einem Geschmack und einer Meisterschaft
der Technick gegenüberstehen, welche, fertig und vollendet,
wie Minerva aus dem Haupte Jupiter's, unmittelbar aus den
primitiven Zuständen der Steinperiode hervorgegangen sein
müßte.
Und doch ist die Zeitfolge dieser Erscheinungen die rich-
tige und tatsächliche, und gerade in ihr liegt das Aufschluß-
gebende für die Fremdartigkeit jener Denkmale und Cultur-
erzeugnisse, welche unvereinbar mit dem Vorhergehenden und
Nachfolgenden sich durch auswärtige Vermittelung zwischen
die einheimischen Bildungsver-
hältnisse eingeschoben haben.
Nichts kann uns überzeugen-
der als diese Uebersicht der Me-
tallarbeiten darüber klar wer-
den lassen, daß wir in der hier
gegebenen Darstellung unserer
frühzeitlichen Lebens- und Bil-
duugsverhältnisse nicht einzig
und allein nur die Culturer-
zeugnisse unserer Vorfahren vor
Augen haben, sondern auch
jene eines großen Theiles der
antiken Welt als Ueberlie-
ferungen eines uralten,
langdauernden Verkehrs
der Mittelmeerländer
nach der Mitte und dem
Norden des Welttheils,
welchen eine beschränkte und
einseitige Ausfassung seither für unzugänglich und abgeschlossen
darzustellen wußte.
Die Berücksichtigung dieser Thatsache löst manches Räthsel
und gewährt allein die Mittel zu einer Ausklärung des Dun-
kels und der scheinbaren Gegensätze unserer vorgeschichtlichen
Zustände.
Es bedarf freilich dazu weiter noch sowohl einer nnaus-
gesetzten Vergleichuug unserer Fundstücke und Denkmale mit
jenen der alten Cultur des Ostens und Südens, welche ihrem
Ursprung und ihrer Zeitstellung nach festgestellt sind, als auch
andererseits einer unbefangenen Beachtung unserer heimischen
Bildungszustände aus der Zeit verlässiger, historischer Kunde.
Diese Principien einer ausgedehnten Berücksichtigung
des erforderlichen Vergleichungsmaterials und der Zugrunde-
legung der Denkmale historischer Zeit sind bei den Samm-
lungen des vorgenannten Museums zur Geltung gebracht
und letzteres auch in der rücklaufenden Richtung der Anord -
nung ausgesprochen. Wie nach unserer Andeutung die Aus-
führnng dieses Gedankens schon an und sür sich manchen
wichtigen Aufschluß bieten mußte, so ist er auch der natur-
gemäße für das Aussuchen der Verbindungen und Beziehun-
gen des Bekannten zu den ferneren und fernsten Gebieten
der Vorzeit hin.
80 mm
In dieser Anordnung der Sammlungen haben wir uns
zunächst einigermaßen zu orientiren.
Ihren Ausgang nimmt sie von den Grab alterthüm eru
der deutschen Stämme von der Zeit Karl's des Großen bis
zum Beginn der Völkerwanderung.
Wir finden hier in den zahlreichen Formen der Waffen,
in der vollen, kriegerischen Ausrüstung der germanischen Völ-
ker und iu den reichen, mannichsaltigen Gestaltungen der
Schmuckstücke einen Stil, welcher die ganz eigenthümliche
Verbindung einer Nachbildung römischer Ziergeräthe mit
einem ausfallend fermdartigen Ornamentgeschmack kund-
giebt, der uns geradezu an die Zierweise wilder Völker, wie
wir sie aus den ethnographischen Sammlungen kennen, er-
innert.
Noch zu Anfang unseres Jahrhunderts waren die Alter-
thümer dieser Periode nur eine vereinzelte Erscheinung in
den Antikencabinetten und keineswegs als Proben germani-
scher Culturbestrebungen anerkannt. Selbst als ihre Fund-
quellen reichlicher zu fließen begonnen hatten, war man
noch weit entfernt von ihrer richtigen Venrthcilnng. Diese
war erst unseren Tagen vorbehalten, als die Ruhestätten dieser
Todten sich in Masse eröff-
neten , als fast gleichzeitig in
Deutschland und Frankreich,
England, Belgien und der
Schweiz, kurz in allen von
deutschen Stämmen im 4. bis
8. Jahrhundert besetzten Länder-
theilen, die großen Begräbniß-
platze der Franken, Burgun-
den, Alemannen und Sachsen
mit Fülle und Reichhaltigkeit
der Beigaben und überall mit
derselben Gleichartigkeit sich er-
schlössen. Aus den Berichten
«omm. WWA der alten schriftlichen Ueberlie-
ferungen über Sitten und Ge-
bräuche der Zeit und dem Zeug-
uiß der Münzfunde nnd der
Inschriften wußte man nnver-
werfliche Bürgen der Erklärung
dieser Denkmale auszurufen. Mit der so vielseitig erschlösse-
nen Kenntniß der Bildungszustände dieser wichtigen Periode
war eine unschätzbare Grundlage für die Benrtheilnng der
vorausgehenden, ein verlässiger Gradmesser für die Cultur-
Verhältnisse früherer Zeiten gewonnen.
Mit den Grabalterthümern dieses Zeitraumes also
beginnen die Sammlungen des vorgenannten Museums und
von hier an auswärts finden wir die Ueberreste der römi-
schen Kaiserzeit in der reichsten Fülle und den lehrreichsten
Exemplaren. Die Reihe dieser letzteren eröffnet eine Auswahl
der seltensten Krüge, Eimer, Becher, Kannen, Urnen, Vasen,
Schalen, Lampen und anderer Gefäße jeder Form in Erz,
Eisen, Thon, Terracotta und Silber; darunter eine getreue
Nachbildung des berühmten Hildesheimer Silberschatzes, wel-
cher seinem Stile nach der besten Zeit des römischen Kaiser-
reiches zugeschrieben werden darf. Das Interesse an diesen
vorzüglich schön gearbeiteten Werthstücken wird noch durch
den Umstand erhöht, daß dieselben im Umfange eines heiligen
Haines altgermanischer Zeit aufgefunden wurden, und also
nach damaliger Sitte Theile einer den Göttern geweihten
Kriegsbeute, vielleicht aus der Varusschlacht, gewesen sein
mögen.
Globus XXII. Nr. 17. (November 1872.)
34
266
Bernhard Flemming: Wanderungen in Ecuador.
Wanderungen in Ecuador.
Von Bernhard Flemming.
II.
2. Ein Ritt nach dem Thale von Chimbo.
Der Fremde fühlt sich auf dem Dampfer, der ihn von
Guayaquil nach Babahoyo bringt, noch heimisch, soweit das
die Gesellschaft in europäischer, oft sehr eleganter Kleidung
betrifft. Er kann noch an einer reich besetzten Tafel Platz
nehmen, eine anregende Unterhaltuug genießen, sich in einer
netten Cabine niederlegen oder Zeuge eines Hazardspiels
sein, dessen Wechselfälle mit fast europäischer Unbefangenheit
und Kälte getragen werden. Um so größer ist der Contrast,
wenn man in Babahoyo (gewöhnlich und besonders von
Fremden Bodegas genannt) dem Hause des berüchtigten
und auch deutschen Lesern bekannten Generals Franco gegen-
über landet und nun die Vorbereitungen für die weitere
Reise trifft.
In der trockenen Jahreszeit genügt ein Pferd, aber bei
Regenwetter ist ein solches ganz unbrauchbar, während man
sich dem Maulthier bald mit der größten Sicherheit auf den
gefährlichsten Passagen überläßt. Das Geschirr des Thieres
ist ein mexicanischer Sattel mit schweren Messingschuhen
statt der Steigbügel, und ein scharfer Zügel, nur mit schwerer
Candare. Außer dem Schwanzriemen wird der Hintertheil
des Pferdes noch durch einen breiten Gurt mit dem Sat-
tel verbunden, ohne den der Reiter bei steilen Abhängen
sammt dem Sattel über den Hals des Thieres schieben und
stürzen würde. Der Reiter zieht über seine Beinkleider
Zamarros, d. h. Hosen von Tiger-, Puma- oder Kuhfell,
die vorn geschloffen, hinten aber offen und ausgeschnitten
sind, da sie nur ein Schutz gegen Regen und Kälte sind
und mit ihrem harten Leder unter dem Sitz eher beschwerlich
sein würden. Ein breitrandiger Strohhut, mit Wachstasset
überzogen, ein Shawl (Bnsfanda), ein Poncho von Wolle
oder Baumwollensammet und ein Paar gewaltige Sporen
vervollständigen den Anzug, dem vorsichtige Leute noch eine
Gesichtsmaske oder einen Schleier hinzufügen, da Wind und
Wetter und der Reflex des Sonnenlichtes allerdings Spuren
auf der unbefchützten Haut zurücklaffen. Das Gepäck wird
auf andere Thiere mit Lassos an die Seiten der Packsättel
(enjalma, albarda, aparejo) gebunden und darf 8 Arrobas
(= 200 Pfund) nicht übersteigen, jedenfalls nicht viel, da
in Peru bis 13 Arrobas und ganze Pianinos aufgeladen
werden.
Nachdem dies Alles und besonders die Preise bis zum
nächsten Pferdewechsel abgemacht sind, was ohne Bekannt-
schasten nichts weniger als leicht ist, wenn man nicht beab-
sichtigt, jeder und auch der anmaßendsten Forderung nachzu-
geben, — geht es vorwärts. Im raschen Paßtempo, das
alle gut gerittenen Thiere haben und ohne welche Bequem-
lichkeit viele Ecuadoriauer auch bügellos werden würden,
reitet man in glühendem Sonnenlichte zuerst durch die Sa-
vaue, dann durch Zuckerrohr- und Bananengärten, durch
Maisfelder, bald durch schattige Cacaoplantagen, Wäldchen
von Mango, Nispero, Orangen, Citronen und Aguacate-
bäumen, bald über einen sonnverbrannten, zerrissenen Boden,
der bei Einsenknngen vielleicht schon überschwemmt ist und
den Reiter zwingt, die Füße bis an den Sattelknopf zu ziehen,
während das Maulthier vorsichtig diese oft langen Strecken
durchschreitet. Zuweilen kommt es zum Schwimmen und
dann werden der Reisende und das Gepäck in Canoes über-
gesetzt und die Thiere werden, Esel oft zu Hunderten, unter
dem größten Widerstreben nach dem andern Ufer getrieben.
Kein Gruß wird dem Fremden von den Begegnenden,
aus den Häusern und Hütten zu Theil. Stumm und theil-
nahmlos, fast mürrisch sieht man den Gringo vorüberziehen,
bei dessen Erscheinung man sich höchstens wundert, daß er
reiten kann, da Viele der Ansicht sind, daß es nur im glück-
lichen Amerika Pferde gebe.
Das Bedürfniß des Trinkens stellt sich eben so gebiete-
risch ein, während man an das Essen kanm denkt. Die
Eingeborenen helfen sich mit Anisado, einem mit Anisöl ver-
setzten Branntwein, ja manche Treiber führen ihre Calebasse
mit Zuckersyrup zu diesem Zwecke bei sich; die Caballeros
trinken Cognac, der sehr mittelmäßig ist; der Fremde, des-
sen Magen noch nicht so abgehärtet gegen Cognac ist, wird
kalten Kaffee als das erquickendste Getränk in dieser Tropen-
gluth schätzen lernen. Reiten wir mit Herren, die auch uach
der Sierra gehen, so wird der Weg durch heitere Gespräche,
Scherze und ein rasches Tempo abgekürzt, wenigstens so
lange, als unsere Begleiter nicht zu sehr vom Durste geplagt
werden. Dann aber artet die Lustigkeit auch in frevelhaften
Uebermuth aus. Man sprengt an leerstehende Hütten hin-
an, reißt reife Bananen ohne Zweck von den Hauspfosten
und schießt in die Strohdächer. Wenn dann der Besitzer-
zornig mit seiner nicht zu verachtenden Waffe, dem Machete,
aus seinem Platanar hervoreilt, wird er unbedenklich mit
dem Revolver bedroht, dessen Besitzer nicht solchen Helden-
mnth zeigen würde, wenn er in seiner Trunkenheit und der
Angegriffene in seiner Angst wüßten, daß die Waffe keinen
Schuß mehr enthält.
So geht es bis an den Fuß des Gebirges, wo düstere
Wolken und rollender Donner schnell zum Anziehen der
Kautschukmäntel auffordern. Das Wasser kommt schon in
tausend Rinnsalen den steilen und lehmigen Weg hinab, und
hier beginnt das Maulthier zu zeigen, was es leisten kann
und will. Man räth uns trotz des Abgrundes, der sich an
der Seite des oft nur 2 Fuß breiten Weges aufthut, nicht
abzusteigen. Mit pochendem Herzen sehen wir unser Thier-
Schritte, ja Sätze machen, die man trotz jugendlicher Ge-
wandtheit und turnerischer Fertigkeit wegen der Nähe der
Gefahr kaum vollbrächte. Die Worte: „el pie de la mula
es un clavo, der Fuß des Maulthieres ist ein Nagel," sind
buchstäblich wahr. Der Weg führt zuweilen ganz launen-
Haft abwärts. Dann setzt das Thier die vier Füße zusam-
men und gleitet, ohne zu zögern, dreißig und mehr Schritte
hinab, und selbst wenn die schlimme Stelle eine Curve macht,
kommt es doch glücklich da an, wo ein falscher Tritt es sammt
dem Reiter zerschmettert in den unten brausenden Strom
schleudern würde.
Von einer bessern Seite wie vorher in ihrem Uebermuthe
zeigen sich hier unsere Begleiter. Natürlich müssen sie an
den schlimmsten Stellen von ihren stolzen Rossen hinab, die
selbst kaum balaucirend, ausgleitend, stürzend solche Passagen
überwinden. Aber gleichmüthig führt Jeder, noch behindert
durch den fchweren Reitanzug und unpraktischen Poncho, den
Bernhard Flemming:
der Wind fortwährend über das'Gesicht jagt, sein Pferd am
Zügel. Zn scherzhaftem Intermezzo gehört es, wenn Nach-
zügler gleitend und rutschend und mit dem vergeblichen Be-
mühen, anzuhalten, an der übrigen Gesellschaft vorbei kom-
men, die vor irgend einem Rancho abgesessen ist, oder wenn
das müde Thier doch endlich mit dem Reiter stm-zt uud eine
Strecke weit hinabrollt, wobei meistens glücklich genug nur
Riemenzeug und Kleider Schaden nehmen. Viele Böschuu-
gen, die zu steil uud durch den Regen schlüpserig geworden
sind, würde man gar nicht ersteigen können, wenn nicht von
18 zu 18 Zoll tiefe, breite Löcher im Wege wären, die durch
den gleichmäßigen Tritt der Thiere entstanden sind und das
Hiuausklimmen ermöglichen,-im Sommer natürlich die Reise
ans unerträgliche Weise verzögern.
Verfolgt man den Camino real, nachdem man die
heiße Savaneta mit einer Mittlern Jahrestemperatur von
-j- 19,3^ R. und den höhern, mildern San Jorge mit
-j- 16° R. und die letzten Bananen hinter sich gelassen hat,
so befindet man sich aus einer Cnchilla, einem schmalen Berg-
joche (nicht mit cucbillo, Messer, zu verwechseln). Von hier
blickt man links und rechts in die dampferfüllte Tiefe, und
zerreißen diese Wolkenschleier, so sieht man unermeßliche,
tiefgrüne Laubwalduugeu überragt und beschattet von Palmen.
Das Nachtquartier in der Hacienda de la Chima ist fchon
empfindlich kalt. Dann senkt sich der Weg saust in das
sonnige Thal von Chimbo, wo die Banane durch Cacteen
und Aloe verdrängt ist, die hier Wege und Gärten begren-
zen. Neben Mais, der einzigen Brotfrucht mit mehligen
Samen, die den Jncas bekannt war, steht Alfalfa (Luzerne),
Medicago sativa, in üppigem Gedeihen. Es ist dies für
Pferde, die nicht an Mais gewöhnt sind, das beste Futter
und braucht nur etwa alle dreißig Jahre angepflanzt zu
werden. Auch eine sehr mittelmäßige, etwas seifige Kar-
toffel wird in großer Menge angebaut, die hier in ihrem
eigenen Vaterlaude bei weitem nicht fo gut wie in Deutsch-
land und besonders in Calisornien angetroffen wird.
An Jncumbo, wo seiner Zeit der General Franco in
einem jener vorsichtigen südamerikanischen Gefechte von Flo-
res besiegt wurde, vorüber Passiren wir endlich den Fluß
Chimbo, und zwar vermittelst der Socavon de Guaranda,
einer von der Natur gehöhlten Brücke, die zugleich ein Tun-
nel ist. Es ist eine Klippe von Thonschiefer, durch die der
Fluß feinen Weg bahnte, die aber künstlich erweitert wurde,
um durch sie das höhere Plateau zu erreichen.
Vor uns liegt terrassenförmig am Bergabhange Gua-
randa, ein trübseliger Ort mit 8000 Einwohnern, 8840
Fuß über der Südsee mit + 12° R. mittlerer Jahres-
temperatur.
Unser Blick hastet nicht an dem Städtchen, sondern gleitet
an der gewaltigen schiefen Ebene, die sich dahinter erhebt,
empor zu der bald rosig, bald goldig schimmernden gewalti-
gen Kuppel des Chimborazo, die auch dem Seefahrer auf
dem Stillen Ocean eine weithin sichtbare Landmarke ist.
Von dort oben sehen wir, bald zwischen Wolken verschwin-
dend, bald sich über grüne Matten ohne Baumwuchs hinbe-
wegend, scharfe Punkte. Es sind Züge von Manlthiereu,
die von den Arrieros hastig angetrieben werden, um die Ebene
noch vor der Ueberschwemmuug zu erreichen. Hoch über
ihnen zieht im blauen Aether der Condor seine Kreise, kaum
von dem Wanderer beneidet, dessen Auge sich nicht sättigen
kann am Anblick der riesigen, unnahbaren Gebirgsmasse mit
einer so lieblichen Landschaft im Vordergrunde. Hat man
das Glück, Bekannte in Guaranda zu besitzen, so erholt man
sich im Kreise von anspruchslosen, liebenswürdigen Men-
schen rasch von den Strapazen des Rittes. Man hat wohl
die Neugier so mancher Dolores, Jnez, Rosita, Domitila
Wanderungen in Ecuador. 267
zu befriedigen und muß sogar auf dem guten aber unbenutz-
teu Piano deutsche Melodien vortragen, wird aber dafür
durch Harfenfpiel und andalusische Gesänge belohnt.
Weniger zufrieden wird der Reisende mit der Cafa Po-
fada des Herrn Badillo sein, der schon jahrelang seinen
Gasthof mit Reisenden, ihren Thieren und großen Waaren-
ladungen zu füllen wußte und reich dabei wird, obgleich noch
nie Jemand gefunden wurde, der seine Wirtschaft lobte.
Der Eingang zu diesem „Hotel" ist fast durch Güterballen
verbarricadirt, die seit Monaten auf Weiterbeförderung war-
teu. Im Hofe stehen eine Menge Maulthiere mit Pack-
sättelu, schöne, feurige Pferde, die einander beißen und
schlagen, Arrieros, Cargeros, schreiend und gesticulirend, Ca-
balleros statuengleich mit dem glimmenden Papellillo in den
weißen Händen und das Satteln nnd Beladen ihrer Thiere
überwachend. Der alte Badillo selbst, mit seinem Greif-
geiergesicht, die Augen mit einer Brille bewaffnet, überblickt
das Ganze und berechnet im Geiste, wie viel noch von den
Unglücklichen zu ziehen ist, die seiner Gnade verfallen sind.
Die Gespräche drehen sich alle um denselben Punkt.
Arriero: Caballero, buenas dias!
Caballero: antwortet mit Kopfnicken.
A. 8u Merced (höflicher als Usted, das das corrum-
pirte Vuestra Merced ist), Su Merced necessita bestias
para Bodegas (Euer Gnaden brauchen Thiere nach Bo-
degas).
C. (der sehr oft Advocat und Schmalzhändler in einer
Person ist.) Li, hijo mio (ja, mein Sohn).
A. Cuantas?
C. Siete (7).
A. Jo tenjo cinco (ich habe 5).
C. Bueno.
A. J cuanto me paga U. ? (und wie viel zahlen Sie
mir?) — (U, Zeichen für Usted.)
C. 4 pesos la bestia en plata sonante! (klingende
Münze, denn Papier fliehen diese Leute wie die Pest).
A. No, Senor, ahora valen las bestias 7 pesos
hasta 8! (jetzt gelten die Thiere 7 bis 8 Pesos).
C. Esto no pago; das zahle ich nicht, die Last (carga)
wiegt kaum 6 Arrobas (8 ist gesetzlich für jedes Maulthier)
und der Weg ist gut, wie Alle sagen.
A. A ver la carga! Que classe de carga?
E. Manteca i Sergas (Schmalz und eine Art leichter
Baumwollengewebe).
A. Ab, Senor mio, uta carga no puedo llevar
(kann ich nicht übernehmen). Maltrata mucho (sehr) a la
bestia i san volumosa (statt voluminosa).
C. Perö hombre, aber Mensch, wie kann eine so weiche
Masse (cosa tan suave) das Thier belästigen?
A. No, Senor, zahlen Sie 7 Pesos, si no, no (wenn
nicht, nicht).
C. Vaya se al . . . . Gehen Sie zum ....
Arriero Nr. 2. Senor yo le offreseo mis bestias!
C. En canto?
A. En seis pesos.
C. No, le dare 5!
A. Bueno, wann wollen Euer Gnaden fort?
C. Manana; que U. no falta de venir! (Morgen,
daß Sie ja nicht versäumen zu kommen), was oft genug
pafsirt.
A. II. me pagarä en papel moneda o plata? (Pa-
pier oder Silber?)
C. En plata, pero adelantado nada! (aber nichts
voraus). ••'
A. Da mi su nierced algo (etwas) por la comida
(für das Futter) de los bestias!
34*
268 Die Sakalaven
C. Louvevickc». -
A. (Nimmt das Geld.) Este plata es hechissa!
(Dieses Geld ist falsch!)
Dazwischen ruft man nach dem Mayor domo (hier Ober-
kellner, auf den Haciendas der Bogt). Man verlangt nach
dem Huasicama (Zimmerkellner) und diese Leute antwor-
ten auf alle Befehle und Kreuzfragen: Un momento,
Seiior!
Dort wartet eine malerische Gruppe Gnayaqnilenos, in
:s Madagaskar.
ihre Buffandas und Sammetponchos gehüllt, mit hohen Rei-
terstiefeln oder Zamarros von Tigerfell, mit schweren neu-
silbernen Sporen. Die Thiere kauen am Gebiß; eine reiche
Satteldecke (pellon) dient den verwöhnten Republikanern
als weicher Sitz. Der letzte Aerger über die unverschämte
Wirthshausrechnnng ist vorüber, man Hilst einigen früh-
reifen, zarten Knaben zuerst in den Sattel und lachend geht
es dann in rascher Bewegung, halb Trott, halb Galopp,
durch Guaranda die Straße des Chimborazo hinan.
Die Sakalaven
r. k. Ein großer Theil der mächtigen und interessanten
Insel Madagaskar war bisher noch gar nicht oder nur un-
zulänglich bekannt. In der zweiten Hälfte des verflossenen
Jahrzehntes aber hat sich ein französischer Gelehrter, Alfred
Grandidier, das Verdienst erworben, durch zahlreiche Rei-
feu im Innern der Insel sowie längs der Küste mehr Licht
über dieselbe zu verbreiten. Bis jetzt hat er nur Weniges
von seinen Resultaten veröffentlicht; aber schon seine vor-
läufige Kartenskizze, welche im „Bulletin der Pariser geo-
graphischen Gesellschaft" erschienen ist, und Flußnetz wie
Bodenrelief gegen früher gänzlich umgestaltet zeigt, verdient
die ihm von jener Gesellschaft zuerkannte goldene Medaille.
Heute wollen wir nach seinen Berichten Einiges über die
Sitten der Sakalaven, über welche bisher nur wenig be-
kannt war, mittheilen.
Erst seit wenigen Jahren, berichtet er, haben Kaufleute
von der Insel Rennion dauernde Handelsverbindungen
mit den unabhängigen Völkern der Süd- und Westküste Ma-
dagaskars angeknüpft. Wenn dieselben auch dadurch oft
beträchtlichen Gewinn erzielen, so laufen doch Capitäne wie
Rheder große Gesahr und sind Plünderung, Brand und
Mord ausgesetzt. Das Volk selbst, die Mastkuren oder Leute
des Innern, sind nicht boshafter oder grausamer, als alle
wilden Völker, wohl aber die Familien in den von Euro-
päern besuchten Häsen.
Stets sind es die gefährlichsten Menschen, welche die
kleinen, unabhängigen Fürsten umgeben; intelligent, aber
verderbt, von ihren eigenen Mitbürgern gehaßt und doch ge-
fürchtet, verstehen sie es vortrefflich, ihre bösen Gelüste vor
den Offizieren der Kriegsschiffe, welche alle paar Jahre ein-
mal auf ihren Rheden einige Stunden vor Anker liegen, zu
verbergen, weil sie deren Kanonen fürchten, aber nur, um
den Matrosen der kleinen, wehrlosen Handelsfahrzeuge ge-
genüber ihre unverschämten Ansprüche geltend zu macheu.
Es wäre sehr zu wünschen, daß die europäischen Dampf-
avisos öfter jene Küsten besuchten, damit ihre Landsleute
mehr respectirt würden. Jetzt herrscht dort die tollste Will-
kür. So wie ein Fahrzeug Anker wirft, um Ausbesserungen
vorzunehmen, bemächtigen sich die Leute des Königs (Vezes
oder Sakalaven der Küste) desselben, trotz aller Conven-
tionen, und plündern es. Wenn ein dort ansässiger Euro-
päer im Sterben liegt, dringen die Fihitse (oder Soldaten),
ehe er noch den letzten Seufzer ausgehaucht, in seine Wohnung
und schleppen alle Habseligkeiten zum Besten ihres Herrn
fort. Das Ankergeld, die Geschenke an den König und eine
Menge vou Beamten wachsen täglich. Weigert sich der Ca-
pitän zu bezahlen, so wird ihm jeder Handel untersagt; ja,
er darf nicht einmal die Waaren verladen, welche sein Agent
während feiner Abwesenheit gekauft und in feinen Maga-
luf Madagaskar.
zinen aufgestapelt hat. Zwar hat der französische Admiral
Fleuriot de Langle in seinen Verträgen mit den kleinen Kö-
nigen alle solche Fälle vorgesehen, aber leider werden solche
Verträge nie respectirt. Grandidier klagt bitter über die
Vernachlässigung, welche den dortigen französischen Kanflen-
ten — und nur solche treiben an jenen ungastlichen Küsten
Handel — seitens ihrer Regierung zu Theil wird, und be-
dauert lebhaft, daß dem industriellen Geiste seiner Landsleute
jene reichen Gebiete fast ganz verschlossen werden.
Die Sakalaven beten, wie alle Malgaschen, einen Gott
an, den Drianahar oder das höchste Wesen, den allmäch-
tigen Schöpfer der Welt. Sie errichten ihm weder Tempel
noch Bildsäulen, aber rufen ihn bei jeder feierlichen Gelegen-
heit zugleich mit dem Vaterlande (Tani) und den Vor-
fahren an. Auch glauben sie, daß die Todten (Lulu)
sich ganz besonders mit irdischen Dingen abgeben, und sürch-
ten sie sehr. Kein Sakalave würde jemals ein Gelübde an
die Seelen seiner Vorfahren verletzen.
Jedes Gebet und jede Danksagung begleiten sie mit dem
Opser eines Ochsen, mit dessen Blute sie zum Gedächtnisse
der Ceremonie den Hasumanitre oder Gesetzesbaum be-
streichen. Man bindet dem Thiere die Beine und legt es,
den Kops gegen Osten, auf die Erde. Vor ihm brennt in
einer kleinen Thonschale Weihrauch. Das Familienhaupt
spricht ein lautes Gebet und stößt dabei dem Opfer das hei-
lige Messer in den Bauch. Dann wird ein Stück vom
Fleische am Fuße des Hasumanitre gebraten und feierlich
den Geistern der Voreltern dargebracht. Den Rest verzeh-
f ren die Anwesenden. Unter den religiösen Gebräuchen der
Sakalaven giebt es solche, die an jene der Juden erinnern.
In den königlichen Geschlechtern der Marnserananen und
Andrewulen treten mitunter an Stelle der Thier- Men-
schenopser. Grausam ist die Sitte der jungen Könige, wenn
sie sich zum ersten Male rasiren. Sie lassen einen als
mnthig bekannten alten Mann schlachten und bestreichen das
Rasirmesser mit seinem Blute.
Die Geburt eines Kindes wird meist mit zahlreichen
Flintenschüssen gefeiert, vorausgesetzt, daß sie nicht an einem
der unglücklichen Tage, welche je nach den Familien wechseln,
vor sich gegangen ist. Ist letzteres der Fall, so wird das
Neugeborene, trotz aller Liebe der Eltern für ihre Kinder,
ausgesetzt und somit dem Tode überliefert. So fchob ein
Vater aus der Familie der Wuruniukeu, der seine Tochter
an einem Donnerstage im Wochenbette verloren hatte, die
Schuld an seinem Verluste nicht ohne einigen Grund auf
das hinterlassene Kind; und seitdem wurden alle Kinder,
welche in dieser Familie an einem Donnerstage zur Welt
kamen, ausgesetzt. Bei der Geburt des ersten Kindes muß
der Vater der Gottheit einen Ochsen schlachten und einen
Die Sakalaven
Hasumanitre pflanzen, zum Zeichen, daß er es als seinen
Sohn anerkennt.
Die erste, religiöse Ceremonie, welcher die Kinder sich
unterziehen müssen, ist die Beschneidung. Dieselbe geht
ohne öffentliche Feierlichkeiten vor sich wegen der Ungewiß-
heit hinsichtlich des Ausganges der Operation. In der
That geht das Kind öfters aus mangelnder Sorgfalt zu
Grunde. Das Danksagungsfest (Savatse) findet später
statt, wobei man weder die losgefeuerten Flintenschüsse, noch
die auf Kosten der malgaschischen Vernunft geleerten Rum-
flaschen zählen kann. Dieses Fest ist das einzige, bei wel-
chem statt des Ochsen ein Stier geopfert wird; während des
Gebetes sitzt das beschnittene Kind auf dem Thiere. Die
Ceremonie der Beschneidung selbst bietet noch mehr Interesse
dar. Die nächsten Verwandten umringen das junge Kind und
verstecken es hinter ihren Lambas (Mänteln), der Vater hält es
in seinen Armen und der Operateur vollzieht sein Geschäft mit
einem schlechten Rasirmesser. Das abgeschnittene Stück wird
in eine Flinte geladen oder noch besser auf eine Lanze ge-
spießt, und dann feuert man den Schuß oder wirft die Has-
sagaye über das Dach des Hauses des Vaters. Wenn die
Hassagaye sich aufrecht in die Erde bohrt, so gilt dies für
ein Zeichen, daß das Kind mnthig sein wird.
Bei den ältesten Söhnen der Könige, deren ganzer Kör-
per nach malgaschischen Begriffen heilig ist, ist die Ceremonie
eine ganz andere. Da fällt einem Oheim des zukünftigen
Herrschers die Ehre zu, ein eben so sonderbares wie wider-
wärtiges Mahl zu halten. Uebrigens giebt es viele Stämme
auf Madagaskar, wo dieser ekelhafte Gebrauch in allen Fa-
mitten herrscht.
Die Ehe ist sür die Sakalaven wie für alle Malgaschen
eine freie Übereinkunft zwischen beiden Theilen; sie beschränkt
sich bis zur Geburt eines Kindes auf einfaches Zusammen-
wohnen, ohne eine Fusion der Interessen nach sich zu ziehen.
Die Frau ist dem Manne gleichgestellt; was ihr als Eigen-
thum gehört, wird dem Haupte ihrer Familie iu Verwah-
rung gegeben, und jedes Geschenk ihres Mannes vergrößert
ihren kleinen Schatz.
Die Sitten der Sakalaven sind eben so zügellos, wie
die der anderen Malgaschen: ein junges Mädchen ist bis
zum Tage ihrer Verheiratung Herrin ihrer Handlungen,
aber von da ab schuldet sie ihrem Manne Treue. Wird
ihr das Zusammenleben mit ihm zur Last, so darf sie zu
ihren Eltern zurückkehren, aber sie kann sich nie wieder ver-
Heirathen, ja nicht einmal vorübergehende Verbindungen an-
knüpfen, wenn ihr nicht der Mann vor Zeugen die Freiheit
wiedergiebt.
Ehebruch wird mit Geld bestraft, welches die Schuldigen
dem Ehemann zahlen müssen. Dank der Unfittlichkeit, in
welcher die Kinder aufwachsen, ist er häufig, und hat seinen
Grund meistens nicht in der Liebe, sondern im Eigennutz.
Wird eine Frau zurückgeschickt, was bei der wenig entwickel-
ten Eifersucht übrigens nicht häufig ist, so muß sie ihrem
Manne die empfangenen Geschenke zurückgeben.
Bei Ehen zwischen Verwandten wird der Gottheit und
den Vorfahren ein Ochse geschlachtet und zum Gedächtniß
ein Hasumanitre gepflanzt. Die Gatten verzehren zusam-
men das Herz des Opferthieres, welches der Mann bezahlt.
Im Falle eines Ehebruchs muß die Frau die Kosten des
Thieres zurückerstatten.
Die Sakalaven lieben Kinder, und Adoptionen sind häusig
unter ihnen, weil ein Mann um so mächtiger ist, je mehr
Kinder, Clienten und Sklaven ihn umgeben.
Ein Charaktermerkmal der Sakalaven, wie aller Mal-
gaschen, selbst der Howas, ist der bis zum Aeußersten getrie-
bene Aberglaube. Die Wahrsager oder Ombiasseu
:f Madagaskar. 269
haben auf sie den größten Einfluß. Niemand, weder Freier
noch Sklave, ist ohne Ahuli oder Talisman, den er oft
sehr theuer gekauft hat. Derselbe besteht aus der Spitze
eines Ochfenhornes, welches zwischen fettgetränktem Sande
einige alte Nägel, kleine Stückchen Holz, Schrauben uud der-
gleichen birgt, lauter Gegenstände, die ihr volles Vertrauen
besitzen. Nach ihrer Ansicht verleiht übrigens das höchste
Wesen den verschiedenen Talismanen ihre besonderen Eigen-
schaften. Die einen machen ihren glücklichen Besitzer unver-
wundbar; andere sind kostbare Liebeszauber oder verschaffen
Gesundheit, Reichthum u. s. w. Die Malgaschen tragen
ihre Ahulis meist an einem Bande um den Hals; von Zeit
zu Zeit richten sie Gebete an dieselben und opfern ihnen
selbst einen Ochsen oder einige Tropfen Rum, um sie günstig
zu stimmen.
Nicht selten kann man auch sehen, daß die Wahrsager
ihre Ahulis mit einander wetteifern lassen. Jeder bittet den
seinigen inbrünstig, daß er sein Gebet unterstütze, und der-
jeuige, welcher im nächsten Monat krank wird oder sonst ein
Unglück hat, erklärt sich für besiegt.
Beim geringsten Anlasse befragt man das Sikili, ein
Spiel mit Körnern, deren Combinationen die Zukunft ent-
hüllen, ganz fo wie unsere Wahrsagerinnen in den Karten
Kenntniß des Kommenden suchen. Sie haben einen solchen
Glauben an die Macht der Talismane, daß man ihnen
selbst die Kraft, Feinde zu tödten, zuschreibt. Wenn sie von
Vergiftung sprechen, so denken sie dabei nicht, wie viele Euro-
päer fälschlich glauben, an Tod durch vegetabilische oder
mineralische Gifte, sondern an die verderbliche Wirkung ihrer
Zaubereien.
Sie werfen auf das Bett ihres Feindes ein Ahuli und
bitten es um Vernichtung desselben. Sie sind fest davon
überzeugt, daß ihre Bitte über lang oder kurz erfüllt werden
wird. Wie oft wurde schon ein Malgasche, der zur Essens-
zeit bei einer Hütte vorbeiging, zum Mitessen eingeladen.
Er nimmt an; am andern Tage wird der Wirth krank, stirbt
vielleicht; in den Augen der Sakalaven ist er vergiftet, und
zwar von feinem Gaste, wenn auch beide dieselbe Speise von
derselben Schüssel gegessen haben. Die Söhne des Todten
laden ihre Flinten, ziehen höchst tapser in die Finsterniß
hinaus und passen einen günstigen Augenblick ab, den zu
ermorden, den sie in ihrem dummen Aberglauben für den
Mörder ihres Vaters halten.
Grandidier hat oft blutigen Racheacten beigewohnt, deren
Grund kein anderer war. Die Sakalaven glauben, daß ein
großer Theil des Volkes durch solche Vergiftungen stirbt.
Für sie sterben nur die Greise, welche das äußerste Ziel
menschlichen Lebens erreichen, eines natürlichen Todes.
Bei gewissen convulsivischen Krankheiten feiert man den
Sandotse oder Bili, um die Gottheit um Heilung zu bit-
ten. Mitten auf dem Felde wird eine kleine Rohrhütte er-
richtet, in welche der Kranke gelegt wird. Einige Verwandte,
die für die ganze Zeit ihrer Zurückgezogenheit das Gelübde
der Keuschheit abgelegt haben, pflegen ihn und bereiten ihm
seine Nahrung. Jeden Abend werden Gesänge an das höchste
Wesen gerichtet. Die Männer laufen bewaffnet um die
Hütte, wirbeln mächtige Staubwolken auf und singen ein
monotones Lied, das sie von Zeit zu Zeit mit Flintenschüssen
begleiten. Mit diesen lärmenden Demonstrationen glauben
sie Gott zu gefallen. Wenn man ihre guten Absichten nicht
kennte, würde man glauben, sie wollten den Tod ihres Ver-
wandten beschleunigen. Am letzten Tage der Ceremonie
wird der Gottheit ein Ochse geschlachtet und der Kranke auf
ein 3 bis 4 Meter hohes Gerllst gelegt, wo man öffentlich
an seine Toilette geht und ihn zwingt, ein Stück Fleisch vom
Opferthiere zu verzehren. Hat er dazu die Kraft, so muß
270
Aus allen Erdtheilen.
er unter dem Beifallsgeschrei der Menge tanzen und sich aus
seiner Herde ein Dabara, d. h. Liebling, aussuchen; ein
junges Kalb nämlich, dessen Leben bis zum Tode seines
Herrn geschont wird. Der Tod eines Sakalaven ist mit
weiter keiner interessanten Ceremonie verknüpft: man schießt
Flinten los und opfert Ochsen.
Die Malgaschen fürchten sich sehr vor dem Tode; so
große Ehrfurcht sie vor den Gräbern haben, so hält sie doch
die Furcht fern davon, und sie nähern sich ihnen nur bei
einem Begräbuiß. Stets verlassen sie das Haus, oft felbst
das Dorf, wo ein Verwandter von ihnen gestorben ist. Alle
von ihm gebrauchten Gegenstände werden fortgeworfen und
sein Name wird nie mehr ausgesprochen. Dieser Umstand, daß
nicht nur der Name eines Todten, sondern selbst die Worte
mit gleicher Endung nie mehr gebraucht werden dürfen, hat
auf die malgaschische Sprache einen unverkennbaren Einfluß
gehabt. Man ersetzt den Namen durch einen andern. So
hieß der König Ramitra nach seinem Tode Mahateuateuarivu,
d. i. der Fürst, welcher tausend Feinde besiegt hat. Jeder
Malgasche, welcher den alten Namen wieder ausspräche,
würde als der Mörder des Fürsten betrachtet werden und
sich also der Plünderung seiner Habe, ja selbst dem Tode
aussetzen. Dadurch wird es begreiflich, wie die malgaschi-
sche Sprache, ursprünglich einheitlich, verderbt wurde, und
warum es heutigen Tages zwischen den einzelnen Dialekten
solche Verschiedenheiten giebt. In Menabe mußte seit dem
Tode des Königs Winani an Stelle von Wilani (Fleisch-
topf) das Wort Fiketrehane (Gefäß, worin man kocht) ge-
braucht werden, während im übrigen Madagaskar die alte
Bezeichnung beibehalten wurde. Doch ist zu bemerken, daß
solche Veränderungen nur für Könige und große Häuptlinge
eintreten.
Die Malgaschen sind überzeugt, daß ihre Vorfahren alle
ihre Handlungen überwachen und ihnen oft im Traume Be-
fehle oder Rathfchläge geben, denen sie willig Folge leisten.
Bei der Königsfamilie der Marnserananen ist das
Leichenbegängniß bemerkenswert^ Der in eine Ochsen-
haut genähte Körper wird an der einsamsten Stelle der um-
liegenden Wälder ausgehäugt und seine Bewachung einer
besondern Familie anvertraut. Nach einigen Monaten ver-
sammeln sich die Häuptlinge und holen die Reliquien, näm-
lich einen Halswirbel, einen Nagel und ein Büschel Haare.
Das Uebrige wird feierlich bestattet. Mitunter werden dabei
Menschenopfer dargebracht, die Leichen derselben in Särge
gelegt und auf diese der königliche Katafalk gestellt, denn ein
Herrscher darf nicht, wie seine niedrigen Unterthanen, auf
bloßer Erde ruhen. Die Reliquien schließt man in einen
Krokodilszahn und trägt sie in das heilige Haus, wo die
Vorfahren hausen. Um sich diesen Zahn zu verschaffen,
lockt man die Krokodile durch Eingeweide eines dazu ge-
schlachteten Ochsen in einen engen Flußarm, schließt die Aus-
gänge und sucht sich das größte Thier aus,, das man mit
Seilen umstrickt und ans User zieht. Dann wird ihm zwi-
schen die Kinnbacken, da wo der größte Zahn sitzt, eine heiße
Batate gelegt. Nach einer Viertelstunde kann man den Zahn
leicht herausziehen, worauf das Thier freigelassen wird.
Der Besitz dieser Reliquien begründet das Recht auf die
Königswürde. Ein legitimer Erbe, welcher dieser Zähne
verlustig geht, würde jegliche Macht über sein Volk verlie-
ren und der Usurpator ohne Widerrede den Thron besteigen.
Mitunter hat sich ein Verwandter des Königs in das Haus
der Vorfahren geschlichen, sich in den Besitz der kostbaren
Krokodilszähne gesetzt und sich zum Könige ausrufen lassen.
Die Howas, welche diesen Aberglauben der Sakalaven kann-
ten, haben seit ihrem Eindringen in den Süden von Me-
nabe sich weniger um die Person des Königs, als um diese
Reliquien gekümmert, welche sie stets unter dem Vorwande,
ihnen die schuldigen Ehren zu bezeugen, aufs Sorgfältigste
bewachen.
Aus allen Erdtheilen.
Zum Racenkampf in Amerika.
Seitdem man die schwarzen Halbbarbaren, welche inmitten
einer Gesellschaft weißer Menschen leben, frei gemacht hat und,
allen anthropologischen Erfahrungen zum Hohn, auch den Wei^
ßen für gleich erklärt hat, erfüllt sich, was nicht ausbleiben
konnte. Die PseudoPhilanthropie hat mit ihrem halsbrechenden
Experimente völlig Bankerott gemacht und einen Zustand herauf-
beschworen, welcher das ganze politische und auch das gesellschast-
liche Leben durchaus zerrüttet. Sie vermaß sich in frevelhaf-
tem Dünkel, das, was von der Natur selbst als völlig ungleich
geschaffen worden ist, „gleich" machen zu wollen. Nun sind die
traurigen Folgen längst da und die Dinge gestalten sich immer
schlimmer. Ueberall, wo man die Neger uncontrolirt gelassen
hat, spielen sie nun die Herren und Meister und sind außerdem
gefährliche Werkzeuge in den Händen der Schaaren von nichts-
würdigen Demagogen, welche in den Vereinigten Staaten den
schwarzen Halbbarbaren, die ja nahezu eine Million Stimmen
in die Wahlurne zu legen und den Ausschlag zu geben
haben, zu ihren Zwecken benutzen. Sie sind ihre Hülfsgenossen,
die sie in den Aemtern erhalten und ihnen möglich machen, die
Finanzen der Einzelstaaten betrügerisch auszubeuten.
In jeder Sendung amerikanischer Blätter, welche bei uns
eingeht, finden wir Mittheilungen über Nacenkämpfe und Neger-
und Demagogenunfug. Der Neger hat den weißen Leuten ge-
radezu den Krieg erklärt; nur schade, daß nicht die „Philan-
thropen", die gewissenlosen und ignoranten Subjecte, welche
ihrer hohlen Phrase die Gesellschaft und die Cultur preisgaben,
die Opfer derselben sind. Einige freilich erhalten.fchon jetzt ihren
Lohn. So Sumner aus Boston, ein Erzsanatiker und Abo-
litionist; so der nominirte Präsidentschastscandidat Greeley,
der tausend und abertausend Mal den Neger sür gleich begabt
und gleich berechtigt erklärt hatte. Beide tragen vorzugsweise
mit die Schuld an der großen Secession; sie mißhandelten die
Südstaaten unaufhörlich. Und nun? Sie werden von den
schwarzen und gelben Stumprednern maßlos geschmäht, und die
Neger, völlig in den Händen der Grant-Demagogen, werden
gegen Greeley stimmen, der stets ihr beredtester Fürsprecher war.
Die Thatsachen sprechen deutlicher als alle Erörterungen.
Am 8. August brach zu Kingston auf Jamaica eine Feuers-
Brunst aus, deren man nicht sofort Herr werden konnte, weil
es — an Löschanstalten fehlte; die Wasserleitung war in Un-
ordnung, die Spritzen waren unbrauchbar. Die Negerfrauen
jedoch trugen nach Kräften Waffer herbei, während ihre Männer
ihnen zuriefen: „Laßt Alles niederbrennen, es gehört
den Weißen!" Nun rückten die schwarzen Soldaten aus
und löschten auf Eommando; als es Abend wurde, drangen sie
in einige Magazine ein, wo Branntwein und Wein gelagert
war. Als sie sich toll und voll getrunken hatten, fielen sie über
die Constabler her, die eben so stark betrunken waren, und rann-
Aus allen
ten mit gefälltem Bayonnet unter die Leute. Auf die Befehle
der Offiziere hörten sie nicht; sie stachen eine Frau nieder und
verwundeten eine beträchtliche Anzahl von Personen, manche
tödtlich. Das Feuer griff indessen immer weiter um sich und
ein ganzer „Block" Häuser brannte nieder.
Jamaica hat 15,000 Weiße und 380,000 sarbige Bewoh-
ner, und Westindien ist schon längst ein Negerland geworden, in
welchem die Weißen nur noch geduldet werden, weil sie sich auf
Waffengewalt stützen. Man denke sich diese hinweg und es wer-
den Zustände vorhanden sein wie auf Haiti. Der Fetifchdienft
ist ohnehin auch auf Jamaica allgemein verbreitet. —
Wir wenden uns nach Südcarolina. Dort treibt ein
Werkzeug des Präsidenten Grant, ein des Betruges angeklagter
Carpetbagger, Scott, als Gouverneur geradezu himmelschreien-
den Unfug, bei welchem er sich auf die Neger stützt. Die Prä-
sidentenwahl steht bevor und es handelt sich darum, den Negern
zu schmeicheln, denn diese haben mehr Stimmen abzugeben als
sämmtliche Weiße im Staate zusammengenommen. Wie er da-
bei verfährt, das ersieht man aus folgendem Berichte aus Co-
lumbia vom 15. August: „Gouverneur Scott begnadigte heute
zwei verurtheilte schwarze Raubmörder, Ned Harris und Bill
Lucas, die morgen hingerichtet werden sollten. Ein Spießgeselle
des Harris, auch ein Mörder, der zum Tode verurtheilt war,
ist schon in voriger Woche zu lebenslänglicher Gesängnißstrase
begnadigt worden. Jene beiden überfielen einen alten Mann
Namens Murphy, der an der Eisenbahn eine Wasserpumpe zu
überwachen hatte, schlugen ihn tobt und beraubten ihn seiner
geringen Ersparnisse. Sie wurden von einer aus lauter Negern
bestehenden Jury schuldig befunden, welche auch keinerlei Für-
spräche zu ihren Gunsten eingelegt hat. Gouverneur Scott hat
bei dieser Begnadigung offenbar politische Zwecke im Auge.
Morgen versammelt sich die Countyconvention der Grantrepn-
blikaner, um Ernennungen vorzuschlagen; der radical-republika-
nische Sheriff will gern wiedergewählt sein und viele Neger sagten
ihm, daß die farbigen Leute ihm ihre Stimme nicht geben, fon-
dern sehr erbittert gegen ihn fein würden, falls die Beiden ge-
henkt würden. Aehnliches fagten sie auch dem Gouverneur.
Dieser hat überhaupt schmachvollen Mißbrauch mit seinem Be-
gnadigungsrechte getrieben, und die begnadigten Verbrecher treiben
ihr böses Handwerk sofort, nachdem sie aus dem Gesängniß
entlassen worden sind, weiter. Keine Woche vergeht ohne Mord-
thaten, Brandstiftungen, Nothzucht und viele geringere Verbre-
chen." („Newyork Herald" vom 21. August.) —
Uns liegen Berichte über eine Versammlung vor, welche in
der zweiten Augustwoche im Cooper-Jnstitute zu Neuyork von
Negern abgehalten wurde. Die Schwarzen haben sich mit Eifer
auf die Politik geworfen und wissen sehr wohl, welche wichtige
Rolle sie spielen. Es handelte sich um die Negerstimmen für
Greeley oder Grant; für letztern trat ein schwarzer Prediger
aus; die Negerpastoren sind überhaupt eifrige Politiker. Als
ein gewisser Saunders für Greeley, den „bewährten Abolition!-
sten, Neger- und Freiheitsfreund", sprechen wollte, schrie man
ihn nieder; das Gegröhle (groans), Zischen, Katzenmiauen, Brül-
len, Brummen, Schreien und Pfeifen wollte kein Ende nehmen.
Das ganze Gebühren war ein Schimpf und eine Schande für
eine civilisirte Gesellschaft und durchaus geeignet, die Ueberzeu-
gung derer zu erschüttern, welche bisher in dem Wahne gelebt
hatten, daß man den Negern das Stimmrecht habe geben müs-
sen. Diese „freien und unabhängigen" Wähler trieben einen
unbeschreiblichen Skandal. Als Saunders erklärte, Gott sei es,
welcher die schwarze Race aus der Knechtschaft erlöst habe, ant-
wortete man ihm mit Katzenmiauen und Buhu, weil in der
Behauptung eine Beleidigung gegen Grant und die Radical-
Republikaner liege! „Aus Allem, was vorging, trat eine Un-
wiffenheit, Ignoranz und eine Niederträchtigkeit zu Tage, die
geradezu empörend waren."
Das darf nicht Wunder nehmen; wenn man rohen Bar-
baren die Gewalt giebt, werden sie dieselbe nach ihrem Belieben
gebrauchen. Aber die Auftritte in Neuyork verschwinden gegen
das Treiben der Neger im Süden. Dort ist es den Demago-
Erdtheilen. 271
gen leicht, die halbwilden Massen, „freie Männer, Bürger und
Stimmengeber", zu jeglicher Gewaltthat aufzustacheln. Es ist
längst so weit gekommen, daß die schwarzen Massen Alles con-
troliren; die Abenteurer aus dem Norden dringen ihnen die
Herrschaft förmlich auf, stacheln sie zu Missethaten aller Art
an und erregen ihre wildesten Leidenschaften. War doch selbst
Grant's Finanzminister Boutwell schamlos genug, daß er in
Nordcarolina, wo er zu Gunsten der Wiedererwählung seines
Patrons Reden an die Neger hielt, diesen die weißen Leute im
Süden als „Erbfeinde der schwarzen Brüder" schilderte, welche
die Absicht hätten, die Schwarzen wieder unter das Joch der
Sklaverei zu beugen, und Greeley, den Erzabolitionisten, als
einen Negerfeind hinzustellen!
Nie hat es ein Staatswesen gegeben, das corrupter gewesen
wäre als die ehemals allerdings glückliche Republik der Ver-
einigten Staaten. Sie ist die Beute einer politischen Gauner-
bände geworden, deren Mitglieder nach vielen Tausenden zählen.
Russische Niederlassungen an der Grenze von Norwegen.
F. In „Finmarkens Amtstidende" vom 11. Juli wird von
Vadsö geschrieben: Der russische Dampfer „Großfürst Alexei",
welcher am Vormittage des 8. hier ankam und am Abend desselben
Tages nach Archangel zurückkehrte, soll fortfahrend regelmäßig
bei jeder zweiten Tour abwechselnd Vadsö und Vardö anlaufen.
Auf dieser Tour hätte er Vardö anlaufen sollen, war jedoch von
dem Gouverneur beordert, Vadsö anzulaufen mit 80 Arbeitern,
einem Architekten und dem übrigen Vorsteherpersonal, welches
die Ausführung einer neuen Kirche neben der Capelle Boris und
Gleb am Klystervand (V«nd, d. i. Wasser, Landsee) beaufsichti-
gen foll, fowie mit Arbeitsgeräthfchaften und einigen Materialien
zu dieser Arbeit. Wie bekannt, gelang es erst nach 1814, da
Norwegen seine Selbständigkeit wieder erhalten hatte, die Grenz-
regulirung zwischen Norwegen und Rußland durch den Tractat
von 1826 zu Stande zu bringen. Die Grenze wurde damals
bestimmt von dem Enara Träpe längs der Pasvik-Elv, welche
in Sydvaranger in den Bögfjord mündet, nachdem sie mehrere
Landseen (Bande) gebildet hat, von denen der letzte kaum eine
Viertelmeile oberhalb des Flusses liegt. An der linken (nor-
wegischen) Seite dieses Sees, Klysterwand, ist die Capelle Boris
und Gleb ausgeführt, um von den Skoltefinner oder -Lappen,
welche im Winter 2 bis 3 (norwegische) Meilen oberhalb der-
selben wohnen, benutzt zu werden. Um diese Capelle auf das
russische Gebiet zu bekommen, mußte die Grenzlinie hier einen
Seitensprung in die norwegische Seite der Pasvikelv oder —
wie sie hier genannt wird — der Klysterelv machen, von wo
dieselbe wieder östlich nach derJakobselv abbiegt und diesem Flusse
in nördlicher Richtung bis an seine Mündung ins Eismeer solgt.
Auf diesem quadratähnlichen Landstriche an der westlichen Seite
des Klystervand soll nun neben der alten Capelle die neue Kirche
aufgeführt werden und zwar, wie man wohl verstehen kann,
nicht bloß als Kirche, wozu unter den jetzigen Umständen wahr-
scheinlich ein günstigerer Platz vorhanden gewesen wäre, sondern
zugleich als ein Grenzzeichen, um sllr die Zukunft das russische
Besitzungsrecht auf der westlichen Seite der Pasvikelv, welche
mit Ausnahme dieses kleinen Streifens ausschließlich norwegisches
Gebiet ist, zu beurkunden. Am Montage machte der Dampfer
„Varanger" eine Extratour nach Elvenes und Südvaranger mit
dem oben angeführten Arbeitspersonal und den Materialien,
welche von dort auf der Klysterelv höher hinauf nach der Ca-
pelle Boris und Gleb gebracht werden sollen. Zu den mit
„Alexei" angekommenen Passagieren gehörten auch zwei russische
Generäle, welche die Reife nach Tromsö fortsetzten, aber hierher
zurückkehrten. Der Zweck ihrer Reise soll die Aufsuchung eines
geeigneten Platzes zur Anlage einer Stadt in der Nähe der
norwegischen Grenze sein. Aus den Verfügungen, mit denen in
den letzten fünf Jahren die russische Regierung den Anbau des
russischen Finmarkens begünstigt hat, läßt sich fast schließen,
daß auch diese halbtodte Gegend in der nächsten Zukunft ange-
baut und benutzt werden wird. Bisher ist dieses Land, dessen
272
Aus allen Erdtheilen.
Berge wir mit bloßen Augen an der andern Seite des Varan-
gerfjordes haben sehen ^können, ein zur Hälfte abenteuerliches
Bjarmaland gewesen; wenn aber der russische Unternehmungs-
geist so fortfährt wie er begonnen hat und die russische Regie-
rung ihren erfahreneren westlichen Nachbaren freie Concurrenz
gestatten will, so dürsten eine leichte Commuuication, ein regel-
mäßiger Postengang, eine Telegraphenleitung u. a. m. zwischen
dem Weißen Meere und dem Varangerfjord nicht jenseit der
Lebenszeit der jetzt Lebenden gehören.
Chemische Studien in Japan. Vor einem Jahre wurde
zu Fu-Kuwi in Japan ein chemisches Laboratorium eröffnet,
dessen Vorstand der Amerikaner W. E. Grissis ist; er hat in
seinen Vorlesungen, die täglich stattfinden, fechzig japanische Zu-
Hörer, während zwölf Studenten als Praktikanten fein Labora-
torium besuchen. „Beim Lehren der Naturwissenschaften in Ja-
pan," schreibt er, „muß man von ganz unten anfangen und
zuerst all den Plunder von Astrologie und sogenannter chinesi-
scher Philosophie bei Seite Wersen. Doch die Studenten sind
intelligent und versprechen einmal — was für das Land sehr
wichtig ist — gute Lehrer zu werden. — Es wird Ihnen sehr
lieb sein, zu erfahren, daß Japan, welches nun in die moderne
Civilifation eintritt, nicht nur den Naturwissenschaften in den
Schulen eine hervorragende Stellung angewiesen, sondern auch
Laboratorien errichtet hat, in welchen die Studenten von deut-
scheu und amerikanischen Professoren praktisch unterrichtet wer-
den. Das Hauptlaboratorium, in Osaka, steht unter einem
deutschen Professor und zählt beinahe hundert Studenten. Ein
anderes soll in Heddo erbaut werden. Eines ist in der Provinz
Kaga, unter einem deutschen Professor, und in der Provinz
Suruga zu Schidzoka besteht noch eines, gleichfalls unter einem
deutschen Professor."
Ausgestorbene Vögel auf Rodriguez. Die Höhlen
dieser Maskareneninsel im Indischen Ocean sind neuerdings von
dem englischen Naturforscher Newton untersucht worden. Man
fand bisher noch unbekannte Skeletttheile des Einsiedlers (Pezo-
phas) und Knochen eines großen ausgestorbenen Papageys, den
Milne Edward Psittacus rodericanus nennt. Der Franzose
Franz Leguat, welcher 1690 bis 1693 in der Verbannung auf
Rodriguez zubrachte und eine genaue Beschreibung derselben
hinterließ, schildert auch einen Vogel, von dem man annahm,
er sei, gleich dem Dront, ausgestorben; es hat sich nun heraus-
gestellt, daß dieser Vogel noch lebt; er erhielt den Namen Pa-
laeornis exul. Die von Leguat geschilderte „Galimotte" er-
wies sich als ein rallenartiger Vogel. Auch von ihm fand man
Ueberreste.
*
*
Eine Zigeunerschlacht auf dem Rakosch bei Pesth.
Man war so freundlich, uns'aus Wien folgenden Ausschnitt aus
dem „Ungarischen Lloyd" vom 3. September zu schicken: An
jener Stelle des historischen Rakos, wo aus dem Zsivora'schen
Grundcomplex bereits zahlreiche Neubauteu aufgeführt wurden,
versammelten sich gestern Abend zwischen 7 und 8 Uhr circa 30
Zigeunerfamilien, welche in den umliegenden Ortschaften sich
mit Roßhandel und Roßdiebstahl und theilweise auch mit dem
Schmiedehandwerk beschästigen. Von dort aus wollten fämmt-
liche Banden mit Sack und Pack nach dem Wallfahrtsorte Besnyö
ziehen, um dort die begangenen Sünden abzuschütteln und für
die neu zu begehenden gestärkt zu werden. Männer, Weiber
und Kinder küßten und herzten sich, und leisteten sich Abbitte
für das feit einem Jahre gegenseitig begangene Unrecht. Mitten
in diesen Verzeihungs- und Bereuungsscenen wurde eine Stimme
laut, welche rief: „Dem Vajda kann man keinen Ablaß geben,
weil er schwarzgelb ist." Bald wurden mehrere Stimmen
laut, und das Küssen und Herzen verwandelte sich in gegen-
feitige Beschimpfungen und Drohungen. Vom Wortwechsel ging
man zu Thätlichkeiten über und in kurzer Zeit lagen sich an 40
Männer in den Haaren, welche unter dem Geheul und Jammer
der halbnackten Weiber und Kinder mit Stöcken und Messern
auf einander losgingen. Der Ueberreiter Kali, welcher die Ruhe
herstellen wollte, verdankt es nur der Schnelligkeit seines Pser-
des, daß er nach Steinbruch entkommen und sechs Mann als
Succurs bringen konnte. Mittlerweile hatten der Commissär
Hartl und ein Assecuranzbeamter, welche von einem Jagdaus-
fluge zurückkehrten, ihre Gewehre an den Zigeunern zerschlagen,
von welchen sie angegriffen worden waren. Als die Zigeuner
die Ueberreiter herannahen sahen, sprang der größere Theil aus
die bespannt gewesenen Wagen und jagte davon. Mehrere
Wagen und etwa 10 Zigeuner wurden aufgegriffen. Einem der
Verhafteten, dem genannten Vajda, wurde in dem Raufexcesse
der Kopf derart eingeschlagen, daß dessen Gehirn sichtbar war.
Als der Zigeuner hörte, daß man ihn in das Spital bringen
werde, bat er, daß man dies nicht thun möge, da ihm gar
nichts fehle; um dies zu beweisen, sprang er vomWa-
gen und fing zu tanzen an, was ihn jedoch vom Spital
nicht befreite.
— Die Sperlinge, welche man in Australien und in
Nordamerika eingeführt hat, vermehren und verbreiten sich merk-
würdig rasch. Ein Berichterstatter aus St. Louis meldet dem
dortigen „Anzeiger des Westens" aus den atlantischen Staaten
Folgendes: „Das Vordringen der europäischen Sperlinge ins
Innere des amerikanischen Continents geht unaufhaltsam voran.
Von Hoboken bei Neuyork, wohin sie zuerst importirt wurden,
haben sie sich schon jetzt über einen Landstrich ausgedehnt, der
sich in allen Richtungen über fünfzig Meilen vom ersten Ver-
breitungspunkte aus erstreckt. Auf der ganzen Länge der Neu-
jersey-Centralbahn habe ich Sperlinge angetroffen. Diesen Land-
strich haben sie von Newark und Jersey City aus über Elisabeth
und Plainsield (24 Meilen von Neuyork) erobert. Das Land
ist hier so dicht besiedelt, daß die letzten Häuser des einen Städt-
chens fast bis an die ersten des andern grenzen, und wo die
Distanzen zu groß zur freiwilligen Wanderung sind, da werden
die Sperlinge von den Kindern verschleppt, welche die ihnen
liebgewordenen Spielcameraden nirgends mehr entbehren kön-
nen. In den Landhäusern von Plainsield, die von der Aristo-
kratie aus Neuyork bewohnt werden, sind überall Sperlings-
Häuser aufgestellt, in denen Tausende ihr Unterkommen finden
und von wo aus sie sich abermals nach allen Richtungen hin
ausbreiten. In Plainsield fand ich neben der Postoffice ein
dreistöckiges Haus, dessen eine Wand bis unter das Dach mit
Epheu bewachsen ist. In dieser Epheuwand sind über 200
Sperlingsnester. Ich glaube, es wird kein halbes Jahrhundert
mehr bedürfen, ehe die europäischen Sperlinge bis nach Neu-
orleans vorgedrungen sind."
— Der schöne, im Atlantischen Ocean und Mittelmeere vor-
kommende Lipp fisch (Labrus mixtus), eine besondere Zierde unfe-
rer Aquarien, huldigt monogamifchen Gewohnheiten. Im Ham-
burger Aquarium fowie zu Plymouth hat man die Beobachtung
gemacht, daß das Männchen zur Laichzeit sich unter vielen ein be-
sonderes Weibchen aussucht, das es auch später regelmäßig begleitet.
— Im Hafen von Buenos Ayres ist 1871 die Han-
delsbewegung fehr lebhaft gewesen; es sind überseeisch 314,035
Tonnen angekommen und 292,442 Tonnen ausgelaufen.
Inhalt: Die Tataren in Kasan und in der Krim. Mit vier Abbildungen.) — Das römisch-germanische Museum in
Mainz. II. Mit einer Abbildung.)— Wanderungen in Ecuador. Von Bernhard Flemming. II. — Die Sakalaven auf
Madagaskar. — Aus allen Erdtheilen: Zum Racenkampf in Amerika. — Russische Niederlassungen an der Grenze von Nor-
wegen. — Chemische Studien in Japan. — Ausgestorbene Vögel auf Rodriguez. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
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Band xxil.
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Mit besonderer Serücksicktigung äer Antkroxologie unä Gtllnologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
November Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1872.
Das römisch-germanische Museum in Mainz.
mW
im
Ii
in.
xx Zunächst folgt eine Anzahl römischer Massen
und Feldzeichen. Es sind deren im Vergleich mit anderen
römischen Ueberresten freilich nur wenige; während jedoch
Exemplare römischer Waffen überhaupt zu den Seltenheiten
gehören, übersteigt die hier repräsentirte Anzahl immerhin
die aller in den continentalen Museen (Italien ausgenommen)
aufbewahrten. Sie sind fast sämmtlich in den Rheingegen-
den ausgefundei? mit Ausnahme derjenigen, welche bei der
Aufdeckung der cäsarischen Circumvallatiouslime um Alife
Samte Reine, dem alten Alesia der Römer, zu Tage geför-
dert wurden.
Desto zahlreicher sind die kleineren Geräthe und Schmuck-
gegenstände aller Art vertreten. In den großen Pulten drän-
gen sich die verschiedenartigsten Gewandnadeln aus jedem
Metall, mit und ohne Email, Bracelets, Hals-, Arm- und
Ohrringe, Kämme und Haarnadeln, Ketten und Fingerringe,
mancherlei Geräthe und Geschirr für Mann und Roß und
Wagen, Gewichte und Schnellwagen und eine Menge Zier-
rathes der elegantesten Formen. Zahlreiches Werkzeug in
Eisen und die vielen, in der Umgegend von Mainz und
weiter hinab am Rhein abgefundenen Grabsteine römischer
Reiterei und Fußvolkes schließen diese Abtheilung ab.
In den letzten Schränken dieses Saales sind die Waffen
und Thongefäße desjenigen Zeitraumes aufgestellt, welchen
die Systematiker als „die ältere Eisenperiode" bezeichnen,
und der letztePult enthält bereits theilweise den Schmuck des
sogenannten Bronzealters.
In dem zweiten, ebenso umfangreichen Saale finden
Globus XXII. Nr. 18. (November 1872.)
wir in anschaulicher Ordnung die Fortsetzung und Erschö-
pfung der interessantesten Exemplare der letztgenannten Zeit.
Mit dem Steinbeil, den Jnstrnmenten aus Hirschhorn und
Feuerstein und einer Menge Töpferwerk des ältesten Charak-
ters sind wir am Schlüsse der Sammlungen angelaugt.
Doch nein! An den Pfeilern und Fensternischen begeg-
nen nns ägyptische Königsbüsten, assyrische und altgriechische
Reliefs und Architekturverzierungen. Während unser Blick
verwundert über diese Kriegs- und Jagdscenen aus den Pa-
lästen von Ninive, über die Metope von Selinunt und die
Zierstücke aus der Akropolis und dem Thesenstempel streift,
erschließt sich uns die naheliegende Bedeutung dieser Zusam-
menstellnng von Denkmalen der ältesten Cultur mit den
Zeugnissen der mitteleuropäischen Bildungszustände in der-
selben Zeitperiode.
Es ist die einfachste Darlegung des Gegensatzes von
Süd nnd Nord, der sprechendste Protest gegen die Borstel-
lnng einer gleichmäßig überallhin verbreiteten Bildung in
ältester Zeit, die treffendste Entgegnung auf die Anfprnchnahme
der Eigenschaft eines Cnlturcentrnms für die Ostseeländer,
welche nur dem Mittelmeerbecken zukommt.
Hier am Abschlüsse der Sammlungen erhält damit der
Besucher noch eine Andeutung des leitenden Gedankens bei
ihrer Begründung und Anordnung. Es ist das Bestreben,
durch Beschaffung aller Vergleichungsmittel, durch Zusam-
menstellnng aller aufschlußgebenden Thatsachen Einsicht
zu bieten in den Charakter unserer ältesten Culturzustände,
sowohl in den Umfang und die Art fremder Ueberlieferun-
35
. |
I
7t-
Oilli
IUI
I
i ]
Das römisch-germanische Museum in Mainz.
gen und Einwirkungen, als den Grad ihres Einflusses auf
die Haltung und die Eigenthümlichkeit der nationalen Ele-
mente.
Da diese Verhältnisse besonders lehrreich und erkennbar
in der ersten historischen Zeit zu Tage treten, so wenden
wir eingehende Betrachtung den Denkmalen dieser Periode,
dem ersten Theile der Sammlungen zu, welche wir ganz unser
eigen nennen können und welchen wir bereits die wichtigsten
Schlüsse verdanken, den Gräberfunden der Franken,
Alemannen und Bnrgunden.
Fig. 1
Wenn nach etwa tausend Jahren ein wißbegieriges Ge-
schlecht unsere eigenen Gräber zum Studium der Sitten
und Gebräuche unserer Tage durchstöbern wollte, so würde
sich das schwerlich der Mühe lohnen. Man würde kaum
eine andere Ausbeute gewinnen als mürbe Knochen, und die
letzte Ruhestätte des Herrn Hofrath nicht von der des Kanz-
listen, den Feldmarschall nicht vom Füsilier unterscheiden kön-
nen. Ich glaube nicht, daß man heute selbst einer Königs-
leiche nur den Ring am Finger läßt.
Bei den Begräbnissen unserer Vorfahren wurde es aber
bis 14.
anders gehalten. Was einem im Leben lieb und Werth ge-
wcsen, die Kennzeichen seines Gewerbes oder Standes, sei-
nen Schmuck, seine Waffen, sein Pferd, feinen Hund, ja
Speise und Trank gab man ihm mit auf die letzte Reise
und, damit dieselbe bequemer von Statten gehe, auch einen
Zehrpfennig. Wir finden diesen goldenen Obolus, dieses
Viaticum, zwischen gar manchen kräftigen mit herrlichen
Zähnen ausgestatteten Kinnladen in dem nebeubefindlichen
Museum der Originalalterthümer, welches überhaupt eine
Fig. 13
unschätzbare Ergänzung des vorgenannten Museums bildet.
Das letztere ist besonders in Bezug auf die merovingifchen
Alterthümer der Fall, mit deren Betrachtung wir uns so-
eben beschäftigen, und welche nirgendwo sonst mit solcher
Fülle, Mannichfaltigkeit der Formen und Reichthum an Was-
fen auftreten. Man nennt sie merovingisch, weil sie aus
dem Zeitalter dieser Könige stammen, unter welchen die Be-
völkerung noch mehr der heidnischen Sitte als der christlichen
zugewandt war.
An der Spitze dieser langen Reihe von Alterthümern
stehen die Grabesbeigaben eines Fürsten des Stammes,
dessen Namen sie führen, des Königs Childerich des Er-
sten, eines Sohnes des Gründers dieser Dynastie. Die
Geschichte der Aufsindung und des Inhaltes dieses Grabes
ist hinreichend bekannt durch das gleichzeitige Werk Chisf-
let's sowie durch die in unseren Tagen erschienene ausgedehnte
und verdienstvolle Arbeit des Gelehrten Abb« Cochet. Was
wir davon oben in Abbildung geben, sind nur noch die be-
dauernswerth geringen Ueberreste desselben, indem der größte
Theil wegen seines bedeutenden Gehaltes an edlem Metall
im Jahre 1831 aus seinem Aufbewahrungsorte in Paris
entwendet wurde (f. Fig. 1 bis 14).
Wie bedeutend dieser eben so kostbare als durch die
Menge der Stücke (es fanden sich unter Anderen allein
200 Goldmünzen, mehr als 200 goldene, wahrscheinlich die
Gewandung schmückende „Bienen" :c.) ausgezeichnete Fund
für die Erforschung der germanischen Alterthümer erscheint,
so blieb er doch damals (das Grab wurde im Jahre 1653
entdeckt) wie noch 200 Jahre später ohne jeglichen Einfluß
Das römisch-germanische Museum in Mainz.
275
auf die Gewinnung einer Ansicht über Sitten und Tracht
unserer Mtvorderen. Man erkannte wohl in dem mate-
riellen Werthe der Beigaben das Besitzthum eines Vorneh-
men vom ersten Range, aber der von classischen Elementen
so weit verschiedene Stil der Verzierungsweise entging jeder
Beachtung. Es ist das Verdienst des Vorstandes des römisch-
germanischen Museums, daß vou seiner Seite zuerst Aus-
fdjtitffe über die Denk- gig 19
male dieser Periode nn-
serer Culturgeschichte ge-
geben wurden.
Rund um diese so
sehr verringerten Ueber-
reste des Fürstengrabes
reihen sich die Waffen
der Stämme zu Schutz
und Trutz (f. Fig. 15 b. 18). Allen voran stehen die Schwerter,
welche, die classischen Formen der etrnskischen Klingen abgerech-
net, einen weit anziehendem Anblick gewähren als die entspre-
chenden Exemplare jeder andern Epoche, die römische nicht ansge-
nommen. Sie theilen sich in zwei Arten, in die langen, ge-
raden, zweischneidigen und die kürzeren, mit starkem Rücken
versehenen, einschneidigen Klingen. Die erstere Form ist
die seltenere, und kaum
dem vierten Theil
Childerich's, wo eine Bekleidung von Gold die Angel des
Schwertes umgiebt (siehe die untenstehenden Figuren auf S.
274). Der Griff ist kurz und einhändig.
Alle diese Schwerter erinnern an die Spatha der Römer,
das lange Reiterschwert im Gegensatze zu der handlichern
Waffe der Infanterie, dem Gladius Hispanicus. Sie un-
terscheiden sich neben ihrer Verzierungsweise von den römi-
20. schen Schwertern nur
uoch durch ihre unge-
sügere Länge und Brei-
te, deren schon bei der
Erwähnung der galli-
schen und britannischen
Schwerter von den alten
griechischen und römi-
schen Schriftstellern ge-
dacht wird. Sie sind um so weniger charakteristisch für die
germanische Nation, als alle die langen Eisenschwerter, welche
aus Gräbern früherer Perioden zusammen mit germani-
schen Thongefäßen erhoben wurden und aus deren Nach-
ahmung und Weiterbildung die fränkischen entstanden sind,
römisches Gepräge tragen. Am ähnlichsten sind sie jenen in
den Moorgegenden Schleswigs aufgefundenen Klingen, welche
Fig. 21 bis 25.
m
der Männergräber ge-
funden, am häufigsten
am Rheine, spärlich in
Frankreich, England und
anderwärts. Eine An-
zahl derselben ist hier
zusammengestellt, ebenso
stattlich an Länge und
Breite der Klinge, als
anmnthig durch die an
passenden Stellen ange-
brachte Verzierung. Die
Parirstange fehlt, der
Griff ist nur durch eine
kurze Eisenstange von der
Klinge getrennt; diese
letztere sowie der Knopf sind aber in den mannichsaltigsten
Formen verziert, mit Köpfen und Leibern phantastischer
Thiere, mit Bänderverschlingungen und Perlstäben, tief ein-
gravirt oder aufgelöthet mit farbigem Glafe oder Edelsteinen
ausgedeckt, oder aus Eisen mit eingelegten Silberornamenten
aus Erz und Gold. Die Hilge, weil wahrscheinlich durchgängig
von Holz, ist nicht mehr vorhanden, außer bei der Waffe
Fig. 26
bei großer Verwandt-
fchaft der Form mit nn-
feren fränkischen den rö-
mischen Fabrikstempel
ausweisen. Darunter
befinden sich viele da-
mascenirte Klingen, und
eine eben solche, welche
aus einem fränkischen
Grabe stammt, ist auch
unter den deutschen
Schwertern des römisch-
germanischen Museums
zu sehen (s. Fig. 19 u. 20).
Kunst- und schmuck-
loser, aber bei Weitem
merkwürdiger, weil nur
den germanischen Stäm-
men eigenthümlich, ist der hier ebenfalls in ausgezeichneten
Exemplaren vertretene Scramasaxns, das kurze, einschnei-
dige, mit starkem Rücken und außergewöhnlich langem Griffe
versehene Kampfmesser. Diese Hiebwaffe, welche fast
einer Barte zu vergleichen ist und deren Gebrauch abwärts
bis in das 14. Jahrhundert reicht, findet sich zuerst in den
Gräbern unserer Vorfahren aus der Wanderzeit. Fast kein
u. 27.
Männergrab entbehrt derselben, und die ältesten Formen
der in den Grabhügeln gefundenen Eisenwaffen, fowie alle,
sogar die kleinsten, messerartigen Eiseninstrumente bezeugen,
wie ties der Gebrauch dieser Form in dem germanischen Volke
Wurzel geschlagen hatte (f. Fig. 21 bis 25).
Es läßt sich denken, welche Wirkung diese Waffe, in
ihrer Länge von durchschnittlich 21/2 Fuß bei 2 Zoll Breite
mit dem Gewichte ihres starken Rückens und berechnet auf
die Führung mit beiden Händen, muß ausgeübt haben.
In den Gräbern von vollständiger Ausrüstung begegnet
man stets beiden Schwertern zusammen, der Spatha und
dem Scramasax. Auch in Childerich's Grab war dies der
Fall. Da man aber beim ersten Durchwühlen desselben mit
großer Sorgfalt nur die Goldzierrathen sammelte, alles
Eisen jedoch als werthlos liegen ließ und sonst noch jeder
Analogie in Bezug aus fränkische Schwertformen entbehrte,
fo wußte man mit den vielen Beschlägestücken der Scheiden
nichts weiter anzufangen, als sie in der hierneben dar-
35*
276
Das römisch-germanische Museum in Mainz.
gestellten Weise an einer Klinge zusammenzusetzen. Auch
Abbe Cochet, welcher sich Uber dieses Schwert in einer gro-
ßen Seitenanzahl verbreitete, bemerkte den Jrrthum nicht,
obwohl es augenscheinlich ist, daß ein Theil der Beschläge
eine zweischneidige, der andere für eine eischneidige Klinge mit
starkem Rücken berechnet war. Die Figuren auf Seite
274 zeigen uns die Anwendung der verschiedenen Theile, wie
sie noch heute im Musäe des Souverains zu sehen sind, wäh-
Fig. 23 bis 30.
reud der Vorstand des römisch-germanischen Museums die-
selben nach der auf Seite 275 dargestellten Figur auf zwei
Schwerter vertheilte (s. Fig. 26 u. 27).
Wie die Langschwerter, so erinnern auch die verschie-
denen Formen der frä n-
kischenBeile anrömi-
sche Muster. Wir sehen
ihr Vorbild hier in dem
nicht weit davon ent-
fernt hängenden römi-
schen Zimmermanns-
beil. Sie sind in ein
gefälligeres und für ih-
ren Zweck als Waffe
maßvolleres Verhältniß
gebracht. Ganze Heer-
säulen der Franken und
Alemannen waren dem
Zeuguiß der römischen
und deutschen Histori-
ker nach damit ausgerü-
stet. Dieses Wurfbeil,
die berühmte Francisca,
fehlt fast in keinem Grabe der fränkischen Krieger. Wir
geben einige Abbildungen der verschiedenen Formen dieser
Aexte. Die am häufigsten vorkommende, charakteristischste Form
ist in den obenstehenden Figuren repräsentirt (s. Fig. 28 b. 30).
Fig. 31 bis 34
Neben und unter die Beile gemischt erblicken wir mehrere
Arten eines eisernen Geräthes, welches seiner Gestaltung
nach einem Helme am ähnlichsten ist und frUher wirklich da-
für gehalten wurde, obwohl es kaum die nöthige Breite und
Tiefe für die Bedeckung
eines Kinderkopfes bie-
tet. Dieses Geräth ist,
wie man seither durch
Vergleichung mit ähn-
lichen aus alten Sculp-
turen und Miniaturbil-
dern, sowie aus schristli-
cher Ueberlieferung ent-
nommen hat, das allei-
nige Ueberbleibsel des
germanischen Schildes,
der sogenannte Umbo
oder Nabel. Im Gegen-
satze zu den schönen mit
großem Aufwände der
Erzbildnerei geschmück-
ten Schilden der Home-
rischen Zeit, von wel-
chen wir einige Exemplare in dem letzten Saale bewundert
haben, gestand diese älteste Schutzwaffe der Deutschen aus
einfach zusammengesetzten Brettern, welche nach Erlangung
technischer Fertigkeiten in eine mehr ovale und manchmal
Fig. 35 bis 49.
kreisrunde Form gebracht wurden. Der Umbo, welcher
erst zur Zeit der Berührung mit den Römern erscheint,
von welchen er entlehnt ist, und von deren wahrscheinlich
auch nur hölzernen, mit Leder überzogenen Schilden er sür
ebenfalls als einzige Urkunde in einigen schönen, theils mit
Gravirung bedeckten, theils glatten Exemplaren hier auf-
bewahrt wird, war in der Mitte des Schildes als Schutz
sowohl wie als Zierde aufgeheftet. Die Befestigung geschah
Das römisch-germanische Museum in Mainz.
277
vermittelst großer Nietnägel oder auch, wie unsere vier Abbildun-
gen zeigen (S. 276), vermittelst eiserner Spangen, deren Länge
zugleich einen Schluß auf den Durchmesser der ganzen Waffe ge-
stattet. Die Umbones finden sich noch weit seltener als die Spatha,
und am Rheine wieder häusiger als anderswo (f. Fig. 31b. 34).
Den übrigen Theil des Waffenschrankes füllen die Lan-
zen-, Speer- und Pfeilspitzen. Man könnte damit
fast eine ganze Compagnie ausrüsten, und doch ist kein
einziges Exemplar auch nur dem äußern Anscheine nach dop-
pelt vorhanden, so groß ist die Abwechselung in ihren For-
men. Bei vielen bedarf es wirklich eines geübten Auges,
um sie von den römischen zu unterscheiden, und so zeigt sich
auch hier wieder der große Vortheil der Möglichkeit einer
unmittelbaren Vergleichnng aufs Klarste. Es ergiebt
Fig. 50 u. 51.
sich aus letzterer, daß die germanischen Lanzenspitzen sich
sämmtlich durch einen größern Durchmesser der Breite des
Blattes, sowie durch eine außergewöhnliche Länge und Stärke
der Tülle auszeichnen. Die römischen dagegen erkennt man,
abgesehen von den drei- und vierkantigen, bolzenartigen Ge-
schössen, an einer stark vorspringenden, elegant gearbeiteten,
Fig.
scharfen Rippe, welche sich durch die ganze Länge des Blattes
zieht und bei den germanischen fast dnrchgehends vermißt
wird. Es kann hier nicht Absicht fein, dem Leser die so
zahlreichen Variationen der fränkischen Lanzensormen er-
schöpfend vorzuführen. In den Abbildungen Fig. 35 bis 49
können wir nur die am häufigsten erscheinenden Arten an-
52.
deuten und müssen überhaupt bemerken, daß es bei diesen
Gegenständen keine bestimmten, jede Art auszeichnenden
Merkmale giebt. Ausnahmsexemplare sind hier wie dort
wiederzufinden, indem die fränkischen Lanzen ja den römi-
schen nachgebildet und nur nach dem Geschmacke der Nation
bald in den Maßen, bald leicht in den äußeren Formen
Fig. 53
verändert worden. Nur genaues Studium im Vergleiche
der Massen gegeneinander, wie es im römisch-germanischen
Museum möglich ist, erweckt zuletzt das richtige Gefühl für
die feinere Form und die höhere technische Vollendung der
römischen Waffe. Dem Laien als römisch leicht erkennbar
werden immer nur die oben erwähnten bolzenförmigen Spitzen
bis 55.
bleiben, welche jedoch nur eine Classe der römischen Lanzen,
und zwar die dem Gewichte nach leichtesten, rcpräsentiren.
Unter allen diesen Geschossen der merovingifchen Periode
macht sich besonders ein mit kleinen Widerhaken an der
Spitze versehenes bemerkbar. Es erinnert durch seine nn-
geheure Länge von 4 Fuß, mit welcher es die gewaltigsten
Speere um die Hälfte überragt, an die Eisenstange, womit
in deutschen Heldensagen die Riesen den Rittern so hart zu Leibe
gehen. Es ist der Angon oder Hakenspeer, welchen Agathias
unter den Nationalwaffen der Franken aufzählte (Fig. 50
und 51). Die Angabe dieses alten Schriftstellers jedoch, wel-
cher den Angon als eine der germanischen Nation eigen-
thümliche, nicht von auswärts überkommene Waffe bezeich-
nete, erschien zweifelhaft, als eine Anzahl gleichartiger Wurf-
278 H. v. Lankenau: Die Schal
geschosse in römischen Castellen und Niederlassungen ansge-
funden wurde. Eine genaue Durchsicht alles dessen, was
in alten Schriften über römische Speerformen aufbewahrt
ist, ergab, daß der Angon nur als eine Nachbildung einer
viel altern Waffe zu betrachten sei, nämlich der Lanze der
Kerntruppen der Römer, des Pilnms der alten Legionen,
welches so lange vergeblich im ganzen Umkreise seiner ehe-
maligen Herrschaft gesucht worden war. —
Hiermit hätten wir so ziemlich Alles durchgesehen, was
aus der langen Wanderzeit von den Wehrstücken unserer
Vorfahren übrig geblieben ist. Denn andere in den Schrif-
ten über jene Periode erwähnte Theile kriegerischer Ansrü-
stnng, als Helme, Schienen, Panzer :c., sind uns bis jetzt
noch nicht überliefert worden.
Zum Schlüsse dieser Abtheilung der merovingischen Alter-
thümer können wir uns noch in der ersten Fensternische die
schönen, dem Leben getreu nachgebildeten Modelle betrachten,
welche das Innere von Frankengräbern zeigen, wie
dieselben nach Wegräumung der oberen Erdschichte dem
Blicke sich darboten. Es sind sechs noch wohl erhaltene
Skelette, Männer und Frauen, mit allen ihren Beigaben, noch
ganz in der Lage, wie sie von ihren Freunden oder Verwand-
ten vor Tausend und Hunderten von Jahren zum letzten
Schlummer bestattet wurden.
Wir geben hier die genaue Darstellung eines solchen
Waffenmannes aus den Gräbern von Selzen in Rheinhessen
(Fig. 52 a. S. 277.) Wenn die Ausrüstung dieses Kriegers
auch keine vollständige ist, so ist er doch hinreichend mit Mordge-
wehren versehen. Außer dem großen Eisenschwert, welches
ihm im Arme liegt, und der mächtigen Lanze an seiner Seite,
hat er noch zwei Kampfmesser im Gürtel stecken. Daß er
auch zu Lebzeiten etwas auf sich hielt, bezeugt die Scheere
und das Bartzängchen statt des Rasirmessers und der Kamm,
welcher genau den heutigen gleicht, zum Strählen des Haar-
büschels. Zu seinen Füßen die Speiseschüssel enthält einen
jener grünen Glasbecher, welche auch in den Frauengräbern
der Franken so häufig angetroffen werden. Sie haben einen
nen und das Schamanenwesen.
runden Boden und mußten deshalb auf einen Zug geleert
werden. Sie mögen wohl Veranlassung gegeben haben zu
dem alten Reimes:
„De olen DUdeschen, use Vorfahren,
De kunen wol supen bi ören Jahren unde Stopen verklaren,
Se fetteten Kannen an den Mund
Und drunten se ut bei up den Grund."
Daß die edle Zechkunst schon damals in Flor sich be-
fand, entnehmen wir aus der Auswahl von Trinkgefäßen,
welche hier in dem nächsten Schranke aufgestellt ist. Die
Gläser mit rundem Boden, denen man am häufigsten begeg-
net, haben sich noch bis auf den heutigen Tag in unseren
kleineren Silberbechern erhalten. Die eleganten, kleinen, mit
hübschen Bogendefsins geschmückten Schalen, der feine, ge-
henkelte Becher mit der Zickzackverzierung aus aufgesetzten
Glasstäbchen und das allerliebste, kleine Trinkhorn aus
grünem Glase, durchflössen von helleren Bogenstreisen, mögen
wohl ausnahmsweise für den Gebrauch der Damen bestimmt
gewesen sein, während die längeren, einfach gerippten Pokale
und der mächtige, mit feinen Kreisrippen und freigearbeite-
ten Buckeln bedeckte Humpen für derbere Kehlen bestimmt
scheinen (Fig. 53 bis 55 a. S. 277).
Aus obigen Proben ersehen wir, daß die Glassabri-
kation den'Germanen zu jener Zeit schon ziemlich geläufig
war. Auch außer an Gefäßen ward Glas fast an allen
Schmuckgegenständen, wo es nur thunlich war, verwendet
und zwar, wie bei Childerich's Schwertscheide, an Stellen
von edlen Steinen, in goldene und silberne Zellen gefaßt,
was man mit dem technischen Ausdrucke „Zellenschmelz"
benennt.
*) Derselbe gehört den Dithmarseu an, und der oben nicht
angeführte Schluß lautet:
Wy, ere Ander uu nakomen,
Hebbet darin nich afgenomen.
Wy künnt et gelyk enen äwen vull
Und drivet et bis wy sind dull und vull.
A.
Die Schamanen und
Nach russischen Quellen dem
Unter den vielen heidnischen sogenannten „Fremdvölkern
nicht russischen Stammes" (Inorodzi) in Sibirien, nament-
lich im südöstlichen Theile desselben, wie vor Allem in den
Baikalgegenden, und noch weiter östlich, unter den Giliaken,
einem Volksstamme, der dem kuriüschen Zweige der „mon-
golischen Race" angehört und in der Nachbarschaft der
Mandschuren, bei der Vereinigung des Ussuri mit dem Amur
seinen Wohnsitz hat, spielen die Schamanen und Schama-
ninnen als Priester, Heilige, Wuuderthäter, Propheten,
Aerzte und dergleichen eine sehr hervorragende Rolle. Nicht
allein, daß sie bei allen Feierlichkeiten, z. B. Hochzeiten, Beer-
digungen u. s. w. für unentbehrlich erachtet werden, auch
auf das tägliche Lebeu dieser Wilden üben sie einen bedeu-
tenden, meist unheilbringenden Einfluß.
Als Schamanen und Schamaninnen werden nur solche
Menschen anerkannt, die sich über die anderen Leute ihres
Stammes erhoben haben; sie werden gleichsam als Halb-
götter angesehen, welche jenen Kräften, die das Weltall
as Schamanenwesen.
>itet von H. v. Lankenau.
regieren, gleichstehen. Nicht für sie, sondern zu ihnen muß
gebetet werden. Um das Schamanenwesen gründlich kennen
zu lernen, muß man solches bei den Minnssinskischen Ta-
taren, im südlichen Theile des Jenisseigebietes, sehen, wo es
noch in voller Blüthe steht.
Der Schamanismns ist hier nicht erblich, sondern wird
nach Wahl, die sich auf die Fähigkeiten und Anstelligkeit des
Candidaten gründet, bestimmt. Jeder Aelteste oder große
Schamane (Ulukam) wählt sich einen Schüler (Kitschi-
kama, d. h. kleinen Schamanen) aus. Der Ulukam trägt
einen vollständigen Schamanenanzug und vollzieht alle reli-
giöseu Ceremonien. Der Kitschikama hat kein besonderes
Gewand und beschäftigt sich nur mit der Krankenpraxis bei
Menschen und Thieren vermittelst geweihter Läppchen und
Stäbchen, wovou später die Rede sein wird.
Um Schamane zu werden, ist es unumgänglich nothwen-
dig, kränklich, schmächtig und mager zu sein. Einen krästi-
gen, starken Mann wählt und weiht man nicht zu diesem Be-
H. v. Lankenau: Die Schani
ruf. Verfällt aber Jemand durch die Gnade des Tageis
oder Waldgeistes in Tiefsinn, Epilepsie, kommen bei ihm
Wuthanfälle und Verzückungen vor, so wird er sicher ein
guter Schamane, und der Ulukam wählt ihn, um ihn in seine
Geheimnisse einzuweihen. Zuerst curirt er den erschöpften
Kranken durch Zaubereien, Besprechungen und Beschwöruu-
gen, magnetisirt ihn beim Klange der Handpauke, giebt ihm
dauu einige Anfangsbegrisse von Religion, unterrichtet ihn
in einigen seiner Künste und läßt ihn ein ganzes Jahr lang,
von Frühling zu Frühling, sich darin üben und vervollkomm-
nen, nachdenken und sinnen, aus daß, wenn er von den Gei-
stern für würdig und fähig zum Schamanendienst gehalten
werden sollte, sie ihm selbst im Frühling des Nachts erschei-
nen und ihn lehren werden, mit ihnen zu verkehren. Dann
werden auch die Unterweisungen in den Gebräuchen und Ce-
remonien ihm leicht erscheinen. Sollten die Geister ihm
etwa nicht erscheinen, so liegt darin ein Beweis, daß sie ihn
nicht für würdig halten, und seine Prüfungszeit währt noch
ein Jahr länger; bis sie ihm erscheinen bleibt er nur -Kit-
schikama.
Alle Ceremonien der Schamanen bestehen einzig und
allein in Gebeten, Opfern, Beschwörungen, Prophezeiungen
und ärztlichen Berathungen. Gebete und Opfer werden
den Göttern oder Schutzgeistern dargebracht, um ihnen zu
danken, sie um etwas zu bitten oder zu versöhnen. Auch
beschwört sie der Schamane, den Menschen im Unglück oder
in Krankheit beizustehen, sie vor frühem Tode zu behüten,
mit Ueberfluß an Gütern zu bedenken, die Familien und
Herden (Tabuni) mit Fruchtbarkeit zu segnen, von bösen
Geistern gesendete epidemische Krankheiten von ihnen fern
zu halten, ihre Feinde zu besänftigen und zn versöhnen. Die
ärztlichen Berathungen geben dem Kranken Anweisungen
und Mittel an, sich mit Beistand des Schamanen heilen zu
lassen.
Der Schamane kleidet sich wie alle Tataren, wenn er
aber im Dienst ist, trägt er einen ganz absonderlichen, aben-
tenerlichen Anzug. Wir beschreiben S. 280 n. 281 genau die
Tracht des Kagiuskischeu Schamauen Kuske, die er während
seiner religiösen Dramen anlegte, und erklären, so viel mög-
lich, die Bedeutung derselben, wie jene der ganzen Vorstellung.
Auf dem Kopfe trug er eine gewöhnliche, spitz zulaufende,
helmartige Schamanenkappe (Kamnich-biutschach) von
rothem Tuch, ringsum am Kopfe mit Fischotterpelzwerk be-
setzt. Vorn an derselben war ein aus Muscheln gebildeter
sechsstrahliger Stern (Donilambasch). Die Spitze des
Tuchhelms schmückten die Flügel und der Schwanz der grauen
Waldeule, welche ihm während seiner Dienstverrichtungen
über Hals und Rücken herabsielen. Der Vordertheil der
Kappe war mit fast ellenlangen verschiedenfarbigen Lappen
und Bändern aus Tuch, Seide, Sammet u. s. w. benäht,
welche vor dem Gesichte des Schamanen herabhingen, so daß
er zwar durch den im Winde flatternden Schleier hindurch-
sehen konnte, ohne dabei jedoch sein eigenes Gesicht dem Pn-
blicum zu zeigen. Sein Rock war ein etwa ellenlanger
Schamanenhalbkaftan (Kamnich-tach), ohne Kragen, aus
dem Fell des wilden Ziegenbocks (Barlowim) angefertigt,
die rauhe Seite nach innen; ringsum war derselbe mit rothen
Tuchkanten und Muscheln benäht und hatte 14 herabhän-
gende Messingknöpfe. (S. Seite 280.)
Unter seinem Arme hingen zwei große Glocken, die eine
aus Gußeisen, die andere aus Messing, wie man sie den
Postpferden gewöhnlich anhängt. Bei diesem Geklingel, ver-
sicherte der Schamane, sei es ihm am leichtesten zu zaubern
und zu operiren, besonders wenn er in Gedanken zu Pferde
sitze und reite. Auf den Schultern des Halbkaftans waren
die Flügel einer andern großen grauen Eule festgenäht, welche
im und das Schamanenwesen. 279
sich, besonders bei den schnelleren Bewegungen des Scha-
manen, ausbreiteten und bewegten, tfo daß man annehmen
konnte, es sei ein fliegender Bogel, der ihm aus dem Rücken
sitze. Das Volk glaubte, die Gedanken des Schamanen
erheben sich im Fluge in die Luft und seine Seele durch-
fliege mit den anderen Geistern das Weltall, um Wunder-
mittel und Arzeneien zu finden. Zwischen den Flügeln der
Eule waren auf dem Rücken noch die Bälge von zwölf brau-
nen Sommer- und weißen Winterhermelinen, die Köpfe nach
oben, festgenäht, damit der Schamane fowohl im Sommer
als auch im Winter feine Blicke nach innen versenken könne.
Unter diesen hingen an einem langen Bande die Krallen
und das Beinsell einer Eule, — ein Symbol der Kraft und
Macht desselben. Vom Ellbogen des einen Aermels, über
den Rücken hin bis zum andern Ellbogen waren zwei Rei-
hen etwa eine Elle langer, verschiedenfarbiger Bänder fest-
genäht; an einigen derselben hingen eiserne und messingene
Bleche, Ringe, Schnallen von Geschirren und Sätteln,
Pferdchen, Griffe von Schöpfkellen, Schlüssel, Pfeilspitzen
und dergleichen mehr. Diese Lappen und Metallanhängsel
waren Gaben derjenigen Kranken, die durch den Schamanen
eine Linderung ihrer Uebel erhalten hatten. Jede Jurte
hatte jedoch nur das Recht, ein einziges Stück an das Kleid
des Schamanen zu nähen, wenngleich er viele Kranke in
derselben behandelte. Kusks hatte so im Laufe der sieben
Jahre seiner Schamanenpraxis an 500 Lappen und mehr
als 60 der verschiedensten Metallgegenstände gesammelt,
welche während seines Herumwirbelus und Verdrehens im
Winde flatterten und klirrten, als ob er mit Ketten beladen
wäre; das Gewicht seines Halbkaftans betrug denn auch
nicht weniger als 18 Pfund. Durch die Schwere dieses
Gewichts rutschte ihm derselbe gewöhnlich bei seinen Bewe-
gungen von den Schultern herab, so daß sein Rücken ent-
blößt war, an welchem dann die Eulenflügel befestigt zu sein
schienen. Der Kaftan war, wie bereits erwähnt, aus
dem Fell der wilden Ziege angefertigt, doch nicht aus gan-
zen Fellen, sondern aus lauter kleinen Stückchen. Jeder
der Gläubigen giebt nämlich dem Ulukam bei seiner Erwäh-
lung ein Stückchen Fell zu diesem Rocke, und Kuskä's Kas-
tan war aus nicht weniger als 1673 Flickchen zusammen-
gesetzt, was den Neid der benachbarten Schamanen in hohem
Grade erregte, von denen keiner so viele in seinem Kaftan
aufweifen konnte. Die Folge davon war, daß Kusk6 be-
ständig in geistigem Zweikampfe mit feinen Feinden lag.
Weite Beinkleider aus Schafsfell und halbhohe Tataren-
stiesel (Pinn) von gleichem Leder, die rauhe Seite nach innen,
vervollständigten seinen Anzug.
In der linken Hand hielt er eine große Handpauke (Tiur),
in welcher inwendig als Handhabe ein hölzernes Querholz
befestigt war, in der rechten einen Klöpfel (Orba). Die
Pauke, etwa 14 Zoll im Durchmesser, war aus einem 4 Zoll
dicken Reis der Sandweide gemacht und mit ungegerbtem
Pserdesell, ohne Haar jedoch, überzogen, auf welchem mit
rother Farbe die Symbole der Schamanengewalt gemalt
waren. Zwei fchmale Linien quer über die Pauke, durch
Zickzackstriche verbunden, stellten die Brücke dar, welche der
Schamane während seiner Darstellungen in Gedanken über-
schreitet. Eben solche Brücken führten, die eine vom Mit-
telpunkte der Pauke aus nach oben, um das Erheben oder
den Flug des Schamanen in das Gebiet der Berge anzu-
zeigen; die andere zeigte sein Herabsteigen von dort auf die
Erde zurück an; sie ging rings um die Pauke herum in Ge-
stalt eines doppelten Kreises. Höher als die Querbrücke
und neben derselben waren Sonne, Mond, Sterne und die
guten Geister (Tieß-tori) hingezeichnet; sie beschützen ihrer
1.3, alle auf Rothfüchsen (Jsiki, die ihnen geweihten Pferde)
Ein Schamane
sich die Schaitane ihm unterwerfen. In den kahlen und
öden Steppen ist die Minnssinskische Sandweide der einzige
Baum, der im Uebersluß an den Ufern der Bache wächst.
Um nun den Dämonen die Macht zu nehmen, sich in ihnen
zu Verstecken, haben die Schamanen die Weide für ihr Eigen-
thum erklärt.
Der mächtige Schamane hat Alles vorhergesehen, Allem
(Vorderansicht).
vorgebeugt, — nichts kann ihm widerstehen. In Kleidung
und Pauke hat er alle furchtbaren Werkzeuge, alle Gewalt
vereinigt. In Gedanken setzt er Uber Ströme, fliegt in der
Luft und steigt bis in das Innerste der Erde herab, stets
von den kriegerischen Tieß-tori begleitet; oft sendet er diese
auch als Couriere vorauf und folgt als großer Herr ihnen
nach Belieben nach. Der abergläubische Tatar beugt sich
280 H. v. Lankenau: Die Schm
reitend, die Menschen. Unten auf der Pauke waren vier
mißgestaltete den Menschen feindlich gesinnte Schaitane,
mit vier Hörnern und Klauen dargestellt. Sie wollen sich
über die Brücke erheben und den guten Geistern den Weg
versperren, da aber die Schaitane zu Fuß sind, weil sie keine
Pferde haben (die fchlaueu Tataren weihen ihnen keine Jfiki),
und ein Fußgänger einem Reiter nichts anhaben kann, so
nen und das Schamanenwesen.
werden die Tieß-tori leicht ihrer Herr, verfolgen sie und be-
drängen sie, nach dem Wunsch des Schamanen, auf jede
mögliche Weise. So laufen denn die Schaitane in das
hohe Weidengebüsch, welches unten auf der Pauke dargestellt
ist, aber finden auch dort keine Rettung, denn — die Weide
gehört dem Schamanen; aus ihm, als einem geweihten
Baume, ist ja sein Paukenreif gemacht. Folglich müssen
H. v. Lankenau: Die Schamanen und das Schamanenwesen.
281
voll Furcht und Hoffnung vor ihm.- kennt ja der Schamane
seine geheimsten Gedanken und Anschläge und kann ihm
leicht schaden!
Der Klöpfel (Orba) hat die Gestalt einer hölzernen,
mit Ziegenfell, das Haar nach außen, überzogenen Kops-
bürste. Er hängt an einem Riemen und drückt in der Hand
des Schamanen durch langsame, schneller wiederholte, stär-
kere oder schwächere Schläge dessen Gedanken, Vorhaben,
Wünsche und Leidenschaften aus. Durch die harmonischen,
leidenschaftlichen, donnerartigen, traurigen, klagenden und
leidenden Töne, die er hervorbringt, vertreibt er nach Belie-
ben gute und böse Geister aus der Jurte. Zehn verrostete
eiserne, mit Klammern inwendig an die Pauke befestigte
Schellen machen nebst den am Körper des Schamanen be-
Ein Schama
festigten klirrenden und klappernden Metallgegenständen, zu-
sammen mit seinen Paukenschlägen, einen so betäubenden,
heidnischen Lärm, daß man sein eigenes Wort nicht hören
kann, und sind des Schamanen Musik, deren er sich gewandt
zu seinen Zwecken zu bedienen weiß.
Die Ceremonien werden gewöhnlich zwischen Sonnen-
Untergang und Sonnenaufgang vollzogen; das Krähen des
Hahnes unterbricht dieselben, wie Viele glauben, nicht. Hei-
Globus XXII. Nr. 18. (November 1872.)
(Rückansicht).
ligenbilder und Crueifixe in der Jurte hindern, nach der
Meinung der Tataren, die guten Geister nicht; trägt ja der
Schamane, der vor Zeiten vielleicht selbst einmal war getaust
worden, oft noch ein Crucifix, das er nur bei seinen Cere-
monien ablegt. Am Tage würde der Schamanismus sein
Geheimnißvolles verlieren, keine solche Wirkung auf die aber-
gläubischen Zuschauer ausüben. Das Gewand des Ulukam
würde bei Sonnenschein abgeschmackt, lächerlich aussehen,
36
282 H. v. Lankenau: Die Schau
die Nacht dagegen verbirgt diese Mängel; darum findet die
Ceremonie nicht am Tage und nur in den Jurten selbst
statt. Nur an großen Festtagen, oder bei anderen feierlichen
Gelegenheiten, wenn das Volk sich zum Gebet auf den heili-
gen Bergen zu Opfern oder Bespreugungen bei den
alten Grabhügeln versammelt, oder bei den Bildern ihrer
Helden, oder zum Abwaschen der Jsiki, hält der Schamane
auf offenem Felde ein Opferfest, singt Gebete und bewirthet
das Volk mit saurer geronnener Milch (Airan).
In der Dämmerung versammeln sich Verwandte, Freunde
und Nachbarn in der zur Feier bestimmten Jurte, zünden
mitten in derselben ein Feuer an, machen Butter, Milch,
„Gotteskraut" (wilden Quendel-Thymian) und dergleichen
mehr fertig und setzen sich schweigend oder nur leise mit ein-
ander redend und gegenseitig einander die Pfeife anbietend,
um dasselbe herum. Nun erscheint der Schamane, nimmt
seinen langen Pelz ab, durchräuchert seinen Halbkastan
(Kamnich-tach) über das ins Feuer geworfene „Gottes-
kraut", als Zeichen der Reinigung, und legt ihn sich über
die nackten Schultern; dann durchräuchert er auch die Kam-
uich-biutschach und setzt sie auf den Kopf, gleichwie die
Tiur, die er in die linke Hand nimmt, und die Orba, die
seine Rechte ergreift. Nun beginnt die Ceremonie. Er
setzt sich am Feuer auf die Erde und fängt an mit dem
Klöpsel auf die Pauke zu schlagen, anfangs langsam und
leise, dann stärker und lauter; bald aber pfeift er langsam
und anhaltend, so die Geister herbeirufend, wobei man einen
zwiefachen Ton hört, einen, den er durch Einziehen der Luft
hervorbringt, den zweiten, den er gellend hervorstößt. Dann
singt er, beschwört die Geister, ruft sie bei Namen, wobei
er sich, beständig den Kopf schaukelnd, hin und her bewegt
und ihn mit der Pauke verdeckt. So scheint sein Gesang
dumpf und wie aus der Tiefe hervorkommend. Der reine
und weiche Tenor der Schamanen ist im Allgemeinen an-
genehm und die Melodien sind meist wehmüthig, flehend und
in stiller Nacht trauererregend. Dem Europäer bewegen diese
Klagetöne wunderbar das Herz, besonders wenn der Scha-
mane plötzlich aufspringt, zur Jurte hinausstürzt und seinen
wilden Gesang draußen im Freien in rührenden, herzzerrei-
ßenden Tönen schluchzend beendigt. Die Tataren versichern,
der Schamane verrichte die ganze Ceremonie mit geschlossenen
Augen; er sei so in sich versunken, daß er weder etwas höre,
noch sehe, während seine Seele in höheren Regionen schwebe.
Die Geister fliegen, wie sie sagen, um ihn in Gestalt von
Eulen (Tschabalgns-toska), sie reiten auf Rothfüchsen
und begleiten ihn auf seiner religiösen Reise, während er
selbst ebenfalls auf einem Jsiki, oder auf einem Raben (Kns-
knn), oder auf einer Eule (Jugu), je nach Bedürfniß reite.
Wenn man daher in seinem Gesänge oft „knrr" höre, so
reite er auf einem Raben, höre man „uch", so reite er auf
einer Eule, höre man das scharfe, aber leife „kwokwo", so
unterhalten sich die Geister in Eulengestalt mit ihm. Wenn
die erste Beschwörung der Geister beendigt ist, springt der
Schamane rasch auf, stürzt zur Thür der Jurte, das Gesicht
nach Westen. Die Paukenschläge werden dumpfer und hef-
tiger, der Gesang wird lauter, dreimal schlägt er mit der
Orba auf die Stangen der Jurte und stößt einen gellenden
Triller aus, ein Zeichen, daß die Geister erscheinen. Er
ruft sie näher und verspricht ihnen Wasser. Zu derselben
Zeit spritzt ein Tatar, welcher eine mit Wasser gefüllte Schale
hält, dieses dreimal in das Lustloch oder den Schornstein
oben in der Jurte, zu welchem der Rauch emporsteigt, und
einmal gegen die Thür. Die Geister kommen näher und
trinken das Wasser tropfenweise, antworten auf seine Fra-
gen, was sie gesehen, gehört haben und erkundigen sich nach
seinem Begehr. Wenn der Tatar versäumt, zur rechten Zeit
anen und das Schamanenwesen.
Wasser auszuspritzen, so kommen die Geister dem Schamanen
so nahe, daß sie ihn stören, und heftige Schläge mit der
Orba regnen sogleich auf den lässigen Diener.
Sobald der Schamane sie mit Wasser gesättigt hat,
springt er zur Jurte hinaus, um sich mit den Geistern zu
beratheu. Man versichert, daß hierbei Funken unter seinen
Füßen wie aus einem Ofen hervorsprühen. Auf dem Hofe
dreht und wendet er sich, schüttelt sich wie im Fieberfrost,
schnaubt, pfeift, schreit wie eine Eule, quakt und singt näselnd,
während er eifrig dabei die Pauke bearbeitet und mit den
Füßen den Boden stampft, daß die Metallgegenstände an
ihm klirren und klappern, so daß man glauben sollte, eine
Herde wilder Pserde komme gelaufen. Nach einer Viertel-
stunde etwa springt er rasch in die Jurte zurück, ergreift die
ihm dargebotene lange Pfeife, raucht sie hastig an, rennt zur
Thür und stellt sich schlotternd und mit den Zähnen klap-
Pernd ans Feuer.
Mit der Pfeife bewirthet er einen ihm befreundeten Geist,
während er nun den Tataren erzählt, was er gesehen und
gehört hat, und den Kranken und Bittstellern die vernom-
menen Aussprüche mittheilt. Sobald die Pfeife geraucht
ist, springt er wieder zur Thür, trinkt eine Schale Wasser,
um seine Stimme anznsrischen und wirft das Gesäß auf den
Boden. Fällt es, den Boden nach unten, so daß es steht,
so ist das ein gutes Zeichen, fällt es auf die Seite oder ver-
kehrt, so ist dies schlimm. Die Geister sind ungnädig gestimmt,
der Schamane muß sich aufs Neue unter der Hausthür in
Unterhandlungen mit ihnen einlassen, oder auch neue gütiger
gesinnte herbeirufen; in diesem Falle spritzt man wieder
Wasser in den Schornstein und er springt wieder zur Thür
hinaus.
Wenn die Schale auf den Boden gefallen ist, so geht er
drei bis neun Mal dem Laufe der Sonne nach rings um
den brennenden Holzstoß herum, schlägt leise auf seine Pauke
und murmelt in abgebrochenen Sätzen vor sich hin, während
einer der Tataren Fett uud „Gotteskraut" ins Feuer wirft;
dann bleibt er bei dem Kranken stehen, bespricht, indem er
die Pauke über das Haupt desselben hält, die Milch, hebt
dann die Pauke bis an den Schornstein und schlägt einen
Wirbel. Mit dem ersten Schlage segnet er selbst den Kran-
ken, mit dem Wirbel aber bittet er Gott, den Segen zu be-
stätigen, indem er ausruft: „Euer Gott ist erhaben, Euer
Leben währe lange! Brrr, brrr! . . . krrr, krrr!"
Brrr! bedeutet iu der Schamanensprache: „seid gesund
und glücklich;" krrr! — „segne Euch Gott."
Die Anwesenden antworten: „Seid glücklich und lebet
lange."
Nun bespricht er noch ein paar Mal die Milch und giebt
diese dem Kranken zu trinken, setzt sich dann neben denselben
auf die Erde und läßt ihn sich zu ihm neigen, murmelt, mit
dem Kopfe schüttelnd, leise einige.Sprüche und begleitet die-
ses mit dumpfen Paukenschlägen. Hierdurch treibt er den
Geist aus, durch den der Patient erkrankt ist, steht schließlich
auf und ruft: „Gott stärke Dich und gewähre Dir Deine
Jahre auszuleben; mein Wort bestätige der Herr. „Brrr!
Krrr!" Nun segnet er ihn drei Mal mit seiner Pauke,
sein „Brrr" und „Krrr" wiederholend, springt wieder zur
Thür, singt dort ein Danklied und läuft hinaus. Hier
schüttelt und dreht er sich, so daß Alles an ihm klingt und
klappert, schlügt auf die Pauke und beräth sich mit den Tieß-
tori: „ob seine Besprechung auch wirksam sein und dem
Kranken geholfen werde?" Nachdem er von ihnen die Ent-
scheidnng erhalten, eilt er zurück uud verkündet sie der Ver-
sammlnng. Dann stellt er drei Mädchen an die linke Seite
der Thür, drei ledige junge Männer an die rechte. Diese
singen nun mit ihm die Melodie eines wehmüthig klagenden
Bernhard Flemming:
Liedes, wobei er die Worte spricht und die Pauke leise be-
rührt, hin und wieder dazwischen pfeift und nach und nach
in eine heitere Melodie übergeht. Nun schweigen die An-
deren, denn jetzt reitet er, um Arzeneimittel zu holen: man
hört dieses an dem Trabe, den er mit Paukenbegleitung durch
Stampfen mit den Füßen andeutet, wobei er auf einem Ra-
ben oder einer Eule reitet, die Tieß-tori aber reiten auf
Rothfüchsen. Es dauert oft eine ganze Stunde, ehe er an
dem bestimmten Orte ankommt, und das erhält, was er ge-
braucht. Nachdem dies geschehen, wendet er sich dem Feuer
zu, und man weiß, daß er nun in Gedanken zurückreitet.
Wenn seine Bewegungen langsamer, vorsichtiger werden,
reitet er durch einen Fluß.
Je länger er so reitet, desto kostbarer und heilsamer ist
das Heilmittel, das er mitbringt.
Endlich springt er auf die Erde, läuft zur Jurte hinaus,
kehrt zurück, raucht eine Pfeife und erzählt nun, wohin er
gereist war: nach China, über das taskilskifche Gebirge oder
über die kusuetzkischen Berge, in die kirgisische Steppe, oder
über das Medwedsche (Bäreu-?) Meer, ob der Kranke von
den Besprechungen und seiner Arzenei gesund werde, oder ob
die Ceremonien beim nächsten Neumond wiederholt werden
müssen, oder ob es nöthig sei, daß man den Kranken dieser-
halb zu ihm in die Jurte bringe.
Hiermit endigt die Ceremonie, welche oft fünf Stunden
lang dauert. Der Schamane nimmt nun Abschied von den
Geistern, er wirft plötzlich seine Mütze ab und hinter sich;
fällt sie ins Feuer, so beeilen sich die Tataren, sie rasch her-
auszuziehen; hierauf fliegen Pauke und Klöpfel fort, dann
schnellt der Kastan von sein^Schultern, den man ebenfalls
rasch auffängt, denn wehe dem Schamanen, dessen Kamnich-
tach ins Feuer fiele und verbrennte; sein Schamanenthum
hätte ein Ende; wehe ihm und allen seinen Freunden!
Nachdem er so seine Kleider abgeworfen, nimmt er wie-
der seinen Pelz um, läßt sich auf seine Fersen nieder, wäscht
sich und spült seinen Mund aus. Nach den Aussagen der
Tataren verlassen ihn jetzt die Geister — und bleich, er-
schöpft, wie betrunken hin und her taumelnd, mit halb ge-
schlossenen Augen schwankt er zum Feuer, setzt sich und ruht
aus, ohne ein Wort zu reden. Seine Schamanentracht wird
unterdessen beräuchert und zusammengelegt.
Die Tataren behaupten, der Schamane wisse später nichts
mehr von dem, was er während seiner Verzückungen gethan
und geredet; ob dem zu glauben, bleibt dahingestellt, ebenso
ob sie Alles verstehen, was er spricht uud singt. Obgleich
er in tatarischer Sprache redet, so macht doch das betäubende
Pauken und Klappern das Meiste unverständlich, zumal die
Uebergänge von heftigen, lauten Tönen in leise, melodische,
oft kaum hörbare, beständig wechseln.
Wanderungen in Ecuador. 283
Die Minnssinskischen Schamanen bleiben gemessen uud
anständig in ihren Bewegungen; keine widernatürlichen Ber-
renkuugeu, kein schaudererregendes Springen über scharfe
Messer, oder mit dem offenen Messer in der Hand, keine
unanständigen Geberden oder widerwärtiges, thierisches Ge-
schrei kommt bei ihnen vor; ihr Gesang hat das Weiche, Kla-
gende, Melodische des Kleinrussischen, ihre Geberden bleiben
würdig und fesselnd, Alles in denselben scheint berechnet.
Bei den Giliak en kommen vielfach auch Schama-
ninnen vor, welche dieselben Verrichtungen wie die Männer
haben. Auch sie besitzen eine besondere Tracht. Kopf,
Rücken, Ober- und Unterärmel sind mit langen, gekräusel-
ten, buntgefärbten, im Winde flatternden Hobelspänen be-
deckt; um den Leib haben sie einen Gürtel mit einer Menge
Schellen und Glocken, welche die Gestalt von Gewichten an
einer Wanduhr haben; ihre Unterkleider sind die der tatari-
schen Weiber. Auch in ihrem Gesänge, den sie ebenfalls
mit Paukenschlägen begleiten, ist der excentrische Uebergang
vom Muntern, oft Ausgelassenen, zum Traurigen, Weh-
müthigen vorherrschend. Nachfolgend gebe ich die möglichst
wörtliche Übersetzung eines ihrer Lieder:
Der Purga stalte sibirische Schneesturm) weht ... das
Gabelthierchen
Birgt sich in seiner dunkeln Höhle;
Du, Giliak (ostsibirischer Volksstamm), nimm ein Spahn-
chen,
Wirf das Spähnchen mir ins Feuer.
Der Purga weht----das Zobelthierchen
Birgt sich in seiner dunkeln Höhle;
Zerhack Du, Giliak, einen Nachen,
Auf daß unser Feuerchen brenne.
Aus daß im Sturm und Unglück
Unser Feuerchen uns Glück bringe____
Sonst, sei gewarnt, trauter Giliak,
Kehrest nimmer Du wohl heim!
Der Purga weht____das Zobelthierchen
Birgt sich in seiner dunkeln Höhle;
Aber .... hell brennt unser kleiner Nachen,
Wie die Sonne, lichterloh, leuchtet unser Feuerchen!
Rasch jetzt, kocht die Fischsuppe,
Kaust auch russisches Brot dazu,
Wärmt dazu den Branntwein,
Erwärmt damit den Giliak;
Sonst, sei gewarnt, trauter Giliak,
Kehrest nimmer Du wohl heim.
Der Purga weht----das Zobelthierchen
Birgt sich in seiner dunkeln Höhle;
Ich horche aus — das ist Hundegebell____
Es kommt vertraute Giliak!
Wanderungen in Ecuador.
Von Bernhard Flemming.
III.
3. Der Chimborazo.
Es giebt unter den vielen Cuestas (Steigen mit Zick-
zackwegen) in Ecuador nur eine, nämlich die von Quilla-
bamba von der Provinz Jmbabura nach dem quitenischen
Hochlande hinauf, die sich der von Guarauda am Abhänge
des Chimborazo an die Seite stellt. Aber so wie jene wird
auch diese überwunden, und man befindet sich mit einem
Male in einer andern Welt, die, ohne den Zauber eines
Tropeubildes zu haben, an Großartigkeit die reizenden leben-
digen Küstenlandschaften überragt.
Der Weg geht über große Sandflächen, das Arenal,
36*
284 Bernhard Flemnnng:
und an kleinen Hügeln vorbei. Rechts, östlich, erhebt sich
ein höherer Gebirgsraud, von dem wir wissen, daß er in
zwei Terrassen: dem Llano grande von Sisgun, etwa 12,000
Fuß hoch, und dem von Luisa, 10,000 Fuß hoch, nach der
9720 Fuß hohen Ebene von Tapi (bei Humboldt Tapia)
zu abfällt. Links, westlich, haben wir in nächster Nähe den
„Schnee von Chimbo", wie sein Name in der Qnechua-
spräche bedeutet. Nichts stört die schwermüthige Stille die-
ser gewaltigen Einöde, deren Größe den Menschen verstum-
men macht.
Am Rande dieses Weges halten fünfzig und noch mehr
Gallinazos (Aasgeier) auf einem gefallenen Pferde ihr ekel-
Haftes Mal; die einzigen lebenden Wesen, an denen unser
Maulthier schaudernd und schnaubend vorUbereilt.
Welcher Deutsche dächte nicht bei dem Vorbeireiten an
diesem Berge, der so lange für den höchsten der westlichen
Hemisphäre galt, an seine denkwürdige Besteigung am 22.
Juni 1802 mit ihren Gefahren, die Alexander v. Hnm-
boldt so anspruchslos und als viel geringer schildert, als
sie bei den plötzlich ausbrechenden Stürmen mit Nebel und
Hagelschlag in derThat sind. La Condamine und Bon-
gner kamen im vorigen Jahrhundert nur 14,400 Fuß hoch,
Boussinganlt dagegen (1831) kam bis 18,480 Pariser-
Fuß, d. h. 384 Fuß höher als unser berühmter Landsmann,
der als Baron de Umbold noch sehr beliebt und im besten
Andenken ist. Auch der Libertador Bolivar erklomm diesen
Bergriesen. Humboldt unternahm seinen Versuch vom West-
rande des Arenals aus, während Boussinganlt vom Centrum
dieser Ebene ans seinen zweiten glücklichen Versuch machte,
nachdem der erste von der Nordseite, d. h. von Mocha aus,
mißglückt war.
Vom Aconcagua, nordöstlich von Valparaiso in Chile,
übertroffen, der zwar nur 1414 Fuß höher ist als der Chim-
borazo, aber sich dem Reisenden von der 11,000 Fuß hohen
Kammhöhe der Cordilleren viel gewaltiger präsentirt, sehen
wir hier von unserm 15,000 Fuß hohen Standpunkte nur
eine 5000 Fuß hohe Kuppel über uns.
Aber nicht minder ties und unvergeßlich wird Jedem der
Eindruck bleiben, den der Koloß hervorruft, wenn man in
den Morgenstunden das Glück hat, ihn wolkenfrei zu sehen.
Die Kuppel hat an der Schneelinie noch eine Breite von
20,000 Fuß und wenig unter dem Gipfel noch von 4000
Fuß. Wie Strebepfeiler einen gewaltigen Dom stützen, so
ruht hier der seit Jahrtausenden verstummte, in ewigen
Schnee gehüllte Vulcan auf Trachytmauern, die durch tiefe
breite Risse mit senkrecht abfallendem Gestein von einander
getrennt sind. Diese Spalten vergleicht Boussinganlt mit
denen eines sternförmig zersprungenen Glases, und wie diese
werden sie enger, je mehr sie sich vom Mittelpunkte der
Masse entfernen, die durch Eruption oder Erhebung diese
Sprünge hervorbrachte.
Aber auch diese Grate, welche die einzige Möglichkeit
der Annäherung gestatten, sind durch Erdbeben, deren Data
uns fehlen, zum Theil vom Gipfel selbst losgerissen, und
zwischen ihnen und der Hauptmasse gähnt ein unermeßlicher
Abgrund. Die aus dem Innern der Erde empor gehobene
oder geschlenderte Trachytmasse wird mit dem Gestein ver-
glichen, das man bei einem in den Fels zu hauenden Brun-
nen hervorholt und wieder in denselben zu schütten versucht,
wobei man natürlich findet, daß über dem Brunnen ein um
so größerer Berg entsteht, je tiefer ersterer selbst war, denn
die herausgegrabenen Stücke werden nie mehr so zusammen-
passend in den Brunnen gebracht werden können. Zwischen
den einzelnen Stücken, die in diesem Falle hier riesig sind,
und deren Lücken zum Theil von Schneemassen überdeckt sind,
sickert das geschmolzene Wasser ein und verliert sich. Eben
Änderungen in Ecuador.
so ist das Emporströmen warmer Luft aus dem Berginnern
constatirt, denn einen andern Erklärungsgrund giebt es wohl
für den Umstand nicht, daß Humboldt bei 17,000 Fuß Höhe
und einer Lufttemperatur von -f 2,8° Celsius dennoch drei
Zoll tief in dem trockenen Sandboden eine nnverhältnißmäßig
hohe Angabe, nämlich 5,8° C. fand. Da wo der Weg sich
nach Ostnordost wendet, ist der Boden von unzähligen paral-
lelen, einige Fuß tiefen, aber leeren Wafferrifsen durchfurcht,
und wasserarm ist gegenwärtig der Abhang anffallenderweise
auch an allen anderen Stellen, einige kleine Cascaden ab-
gerechnet, ehe man den tiefer liegenden, aber immer noch
12,000 Fuß hohen Tambo von Chnqnipoyo erreicht. Wir
reiten über grasbedeckte Ebenen und treffen Blüthen, die
unserm Enziau und Edelweis entsprechen, sowie Gentiana
cernua und Cultitium rufescens, hier Freilejon genannt.
Das Nachtquartier am Bergabhange im schon genannten
Tambo (Wirthshausherberge) läßt in jeder Beziehung zu
wünschen übrig. Bei einer Temperatur, die im günstigsten
Falle Mittags 12° R. und in der Nacht wenig über 0° ist,
befindet man sich ohne die Möglichkeit, warm zu werden, in
einem kalten, steinernen Gebäude, an dessen vor dem Winde
geschützten Seite sich Hunderte von Manlthieren zusammen-
drängen, während die vor uns angelangten Arrieros uns
höchstens einige Schaffelle geben, die man in einem Lande mit
vollständig unentwickeltem Gasthauswesen selbst mitzubringen
hat. Der andere Morgen findet uns auf dem Wege nach
Riobamba, das, iu der Ebene von Tapi gelegen, mit der
Liebenswürdigkeit seiner Bewohner die trostlose Armnth der
Vegetation (und doch unter den Tropen!) und der Indianer-
dörser vergessen macht, die wir^oeben passirt haben.
4. Im ecuadoriauischen Urwalde.
Das Gebiet von Canelos, zwischen den Strömen Pa-
stassa und Napo, Zuflüssen des Amazonenstromes, steht durch
einen Weg mit der Sierra, dem Hochlande, in Verbindung,
der über Pindo am gleichnamigen Flusse, dann stromauf-
wärts am Pastassa zur Cascade von Agayan am Fuße des
Tungnragua und von dort aus zu Pferde nach Ambato fiihrt.
Der Weg geht gner durch viele Flüsse, von denen besonders
der Rio Pindo und Rio Tapo unangenehme Passagen bil-
den. In dem ausgetrockneten Becken von Gießbächen bald
Uber Lianenbrücken, bald durch einen geschwollenen Fluß bis
an die Schultern im Wasser geht der Marsch. Wo die
Spuren des Weges sichtbar sind, ist er ein Sumpf, und
wehe dem, der auf den glatten Steinen und fchlüpferigen
Wurzeln zu gehen versucht. Man gleitet dann sicher aus
und stürzt gegen die stachelbewehrte Chontapalme oder in
den Sumpf selbst. In dem Waldesdunkel, in welchem
keine Lücke im Laubwerk einen Blick nach dem Himmel durch-
läßt, wo kein Weg sichtbar ist, finden ihn unsere Führer
doch nach nur momentanem Zaudern und Suchen und über
kolossale Baumstämme nnd Aeste hinweg. Wenn man glück-
lich über und nicht zwischen ein solches Chaos gestürzt ist,
empfängt den erst ahnuugslosen, später aber mit Gewißheit
auf einen solchen Umstand rechnenden Wanderer ein neuer
Sumpf, der wenigstens unsere bis ans Knie reichenden Was-
serstieseln zu verschlingen droht.
Die schon genannten Urwaldbrücken sind oft nichts
als ein dickes gedrehtes Lianentau, au jedem User um einen
Baum geschlungen, als Basis für die Füße; links und rechts
davon, aber etwa 4 Fuß höher, sind schwächere Taue gespannt
für den Halt der Hände. Diese drei Taue sind durch Quer-
stricke (alle aus einer bis 40 Fuß langen Orchidee gefertigt)
mit einander verbunden, wodurch die unvermeidlichen Ofcil-
lationen wenigstens gleichmäßig werden. So entsteht eine
Brücke, die nur dann bedenklich wird, wenn man ihr Alter
Aus allen
nicht kennt, und dann muß man sich mit dem Gedanken
trösten, daß nicht alle drei Taue zugleich reißen!
Märsche, auf denen man gezwungen wird, solche Brucken
zu Passiren, stählen übrigens das Nervensystem in so hohem
Grade, daß man sie betritt, auch ohne niederzuknien uud zu
beten, wie es unsere Diener thun, deren Besorgniß zu stür-
zen allerdings durch die 125 Pfund Gepäck auf ihrem Rücken
gerechtfertigt ist. Gewissenhaft wird auf solchen Reisen in
einer Büchse aus Bambusrohr Zunder, Stahl und Feuer-
schwamm mitgenommen, dazu ein Stückchen Sindicaspi
(Feuerbaum), an anderen Orten als Cartonero und Carbon-
cillo wegen seiner großen Heizkraft geschätzt. Das Gepäck
des Reisenden, Lebensmittel u. f. w., wird in Körben, von
Totora oder einem diesem ähnlichen Schils geflochten, zu je
11/4 Centner für den Mann auf dem Rücken getragen.
Außer den Tragbändern an den Schultern geht ein breites
Stirnband von demselben Schilfe zugleich um den Korb her-
um, dessen Last so mehr mit dem Kopfe als mit den Mus-
kelu der Arme gehalten wird. Auch eine Tigerlanze, die
schwerlich das Raubthier abhalten würde, und dessen unzwei-
deutige Fußspuren man oft genug sieht, gehört zur Aus-
rüstung.
Der Ruf unseres Hintermannes: Patxon una culebra!
(eine Schlange) läßt uns einen Satz vorwärts machen, dem
auch augenblicklich ein Schlag mit dem langen Wanderstabe
auf eine Korallenschlange folgt, die wohl uns, aber nicht dem
scharfen Blicke des Bergwaldbewohners entgehen konnte. —
Trotz aller Vorsicht und des schlitzenden Stabes, den die In-
dianer führen, setzen auch sie sich oft wider Willen in den
Schlamm, aber durch einrasches Emporschnellen des muskel-
kräftigen Körpers retten sie jedesmal die ihnen anvertrauten
Sachen vor dem Naßwerden.
Ein Ton wie der Knall eines Geschützes unterbricht die
tiefe Stille der Wildniß. Es ist einer der Riesen des Wal-
des, die oft in gefährlicher Nähe von uns ihr Dasein enden,
in kürzester Zeit von denselben Orchideen, die sie mit zu
Boden gerissen haben, überwuchert und unter ihnen begra-
ben. Auch wir stören die Stille, indem wir Rebhühner
und Paxuis (Hokkohühner) emporscheuchen; aber das sind
nur Momente, bis das immer lauter werdende Rauschen
eines Flusses an eine neue gefährliche Passage mahnt. Das
Zirpen der Chicharras, Grillen, ist die Uhr der Eingebo-
renen, die bei dem sehr bekannten Geräusch der einen Art,
welches ungefähr um 4 Uhr Nachmittags beginnt, plötzlich
Halt machen.
Rasch wird das durch Hoja blanca (wilde Banane) vor
Nässe gesicherte Gepäck an einen Baum gelehnt, mit Axt
und Machete werden ein paar Palmen gefällt, die, Büsche
und Bäumchen zerbrechend, zu Boden stürzen, — nur ihrer
Wedel wegen, die für das Dach unseres Rancho bestimmt
sind. Ein anderer Peon (Arbeiter) steckt zwei 6 Fuß lange
Stöcke in den Boden. Eine Querstange von der Breite des
Rancho verbindet die aufrecht stehenden Stöcke, und von ihr
Erdth eilen. 285
ans werden die Dachlatten schräg gegen den Boden gelehnt
uud mit den Wedeln dicht bedeckt.
Der Rest der Palmenwedel wird auf den nassen Boden
gelegt, auf den man zur Vorsicht noch den Kautschukmantel
breitet, und so ist in unglaublich kurzer Zeit das Nachtlager-
fertig. Ein dicker Rauch steigt schon unter dem eisernen
Topfe mit seinem Inhalt von Fischen, Reis uud Bananen
empor. Nach vielem Blasen, bei thränenden Augen bricht end-
lich die Flamme darunter hervor, die unser einfaches Mahl
kocht. Eine Taffe Chocolade und eine geröstete Banane
beschließen es, und man gesteht, nie besser gespeist zu haben.
Nachdem man die durchnäßten Kleider mit trockenen ver-
tauscht und ein Bad im kalten Bache neben der Hütte ge-
nomnien, legt man sich neben die Führer hin, deren Ueber-
legenheit hier im Walde gegenüber unserer eigenen Unbe-
holsenheit den gewaltigen gesellschaftlichen Unterschied voll-
ständig ausgeglichen hat. Während das Feuer kaum noch
glimmt, erhellen unaufhörliche Blitze die Baumgruppen vor
uns. Nachdem das Gewitter vorübergegangen ist, macht
sich nur noch das gleichmäßige Trommeln des Regens auf
unferm leichten Dache uud das Zirpen der Grillen bemerk-
bar. Auch das hört auf und leuchtende Punkte, Cucuyos
(Elater noctilucus), bewegen sich durch die Büsche, und der
Brüllaffe erschreckt uns mit feinem tigerähnlichen Gebrüll,
daß wir unwillkürlich den Revolver fester in die Hand nehmen.
Es scheint verwegen, sich diesen rohen, ganz armen Mm-
schen anzuvertrauen, für die unsere Baarschaft und unsere
Effecten ein Vermögen sind, aber ruhig kann der Reisende,
für den sie wie für ein unmündiges Kind während des Mar-
sches gesorgt haben, sein Haupt neben ihnen hinlegen. Ver-
rath und Meuchelmord sind ihnen unbekannt. Ein vergessener
plattirter Löffel, den sie in ihrem Gepäck entdecken, nachdem
sie uns an Ort und Stelle gebracht uud schon seit Stunden
den Rückmarsch angetreten hatten, kann sie, die nicht als
Diebe gelten möchten, zur Rückkehr bewegen.
Während gute Behandlung und ein Schluck Branntwein
diese Halbwilden zu den treuesteu Begleitern auf einem so
gefährlichen Wege machen, ist es allerdings vorgekommen,
daß der Reisende des Morgens allein und verlassen im
Rancho exwacht, und man behauptet, daß sie bei einer sol-
chen Flucht den zehn Tage langen Marsch von Quito nach
Archidona am Misagualli (linker Nebenfluß des Napo) in
weniger als drei Tagen zurücklegen, meistens von Hunger
angetrieben, da sie das empfangene Geld gewöhnlich in Quito
vertrinken und keins für den Einkauf von Proviant be-
hielten.
Ein anderes Transportmittel beim Besuche der östlichen
Provinz sind Stühle, die der Träger auf dieselbe Weise wie
den Korb an Kopf und Schultern befestigt und mit drei an-
deren Gefährten (Estriveros) wechselweise trägt. Der Rei-
sende sitzt rückwärts und muß sich Zweige und Bejucos
(Schlingpflanzen), die ihm an den Kopf schlagen, und den
Geruch des Indianers gefallen lassen.
Aus allen Erdtheilen.
Nachrichten von Pascha Samuel Baker's Nil
expedition.
Es ist gerade ein Jahr verflossen, seitdem Baker nichts
mehr von sich hat verlauten lassen. Seine letzten Nachrichten
waren datirt GebelRegiaf, 14 Miles südlich von Gondo-
koro. Er war unter unglaublichen Beschwerden bis in das
Land der Bari gelangt; als er dieselben zu Unterthanen des
Mcekönigs von Aegypten machen wollte, widersetzten sie sich
und er gerieth sofort mit ihnen in Krieg. Das war für ihn
286 Aus allen
um so bedenklicher, da alle seine ägyptischen Offiziere und Sol-
daten den größten Widerwillen gegen die Expedition hegten.
Am 12. October 1871 erklärten die elfteren ihm schriftlich, daß
sie ihn verlassen und mit ihren Truppen nach Chartum zurück-
kehren würden. Baker schrieb an den Prinzen von Wales, die
Offiziere würden sich aber wohl zusrieden geben, denn er habe
sie ja nun in das Land des Ueberflufses, in die Korn-
kammer am Nil, geführt. Indessen schickte er doch dreißig
Fahrzeuge nach Chartum zurück, „mit allen Kranken und
Widerspenstigen, mit Weibern und allen unnützen Essern. Da-
durch wird die Zahl meiner Leute um 700 Köpfe verringert^
aber tatsächlich werde ich stärker sein; die Lebensmittel werden
um so länger vorhalten." (Vergl. „Globus" XXI, S. 106 ff.,
140 ff.; XXII, S. 119.)
Seit dem 19. October 1871 sind, wie angedeutet, von ihm
selbst keine Nachrichten nach Europa gelangt. Nun aber finden
wir soeben einen Bericht aus dem Sudan in Nr. 9 der
„Mittheilungen der geographischen Gesellschaft in Wien", welche
am 26. September 1872 ausgegeben worden ist. Das Schrei-
ben enthält zunächst einige Nachrichten über die Nilsahrt des
Oesterreichers Marno, der im Bahr Seraf, etwa zehn Stunden
von dessen Ausfluß aus dem Weißen Nil, in den Sumpsregio-
nen stecken geblieben war. Unterm 11. April meldet er Fol-
gendes: „Wir liegen auf der Dabba Hannaghi, einer etwas er-
höhten Stelle, mitten in der Sumpfregion des Bahr el Seraf.
Nicht die verwachsenen Stellen waren es, die uns das Weiter-
kommen unmöglich machten, sondern die seichten Stellen des
Flusses, welche nur zur Zeit des Hochwassers schiffbar sind (vor
15 Jahren war das Bett des Flusses in jener Sumpfregion
etwa 12 Fuß tief). Sämmtliche Schiffe Baker's kamen
dieser Tage auch in unsere Nähe und können natürlich
auch erst mit dem Anschwellen des Flusses weiter."
„Das sind," schreibt der Chartumer Correspondent, „jene
Schiffe, welche am 23. Januar mit einem Truppentransport
von Chartum abgingen. Inzwischen ist auch der weitere Nach-
schub für die Nilexpedition vom 3. März im Sumpfgebiete
zum Vortrabe gestoßen. Durch den langen, unfreiwilligen Auf-
enthalt hat die Mannschaft — 800 Soldaten, ohne Schiffs-
volk — die Vorräthe aufgezehrt, weshalb am 27. Juni (von
Chartum aus) abermals ein Train von neun Barken und einem
Dampfer abging, um Proviant nachzuliefern und nötigenfalls
die verspäteten Schiffe nach Gondokoro zu schleppen." Baker er-
hält also Verstärkung.-
Der Chartumer Correspondent meldet weiter: „Im vorigen
Winter kehrten einige hundert Marodeure von Baker's Expe-
dition zurück; die meisten waren mit fressenden Geschwüren an
den Füßen behaftet und einige mußten im Spitale zu Chartum
amputirt werden. Ein Berberiner Capitän, der in Gondokoro
war, erzählt, daß Baker's Versuche, mit den Bari Frie-
den zu halten, gänzlich gescheitert seien. Die Bewohner
der Hochebene zwischen dem Flusse und dem Pelenyan, die stark
bevölkert ist, verließen ihre Hütten und Weiler und zogen sich
in das Versteck des ungefähr eine Tagereise unterhalb Gondokoro
liegenden Urwaldes oder hinter den Pelenyan zurück. Keine
Menschenseele bleibt in der Nähe der Expedition.
Einen Häuptling suchte man zu ködern; er erhielt Geschenke und
wurde mit einem fürstlichen Ornat angethan, den er als Zeichen
der höchsten Staatswürde tragen sollte. Er sprach: tschona,
d. h. „ist schon gut", kam aber nicht wieder. Die Effecten und
Bestandtheile der Dampfschiffe konnten nicht weiter geschafft wer-
den, da keine Träger aufzutreiben waren. Es sollen auch einige
Scharmützel vorgefallen sein, und am Dschebel Redschaf sei der
Erfolg kein besserer gewesen. Baker's Leute versuchten während
des langen Aufenthaltes Durrah und Mais anzupflanzen, und
in jenem Klima reift die Saat fchnell; aber nicht ein Körnchen
haben sie geerntet, denn Vogelschwärme bedeckten wie Heuschrecken
die Felder und fraßen die Aehren ab. Das Getreide der Neger
hingegen freffen die Vögel nicht, weil ihre Durrahart bitter
schmeckt und die Aehren mit feinen Stacheln bedeckt sind."
„Eine weitere, aber dunkle Nachricht lautet, daß Baker
Erdtheilen.
mit dem Gros seiner Truppen ohne alle Bagage nach
dem See abgegangen sei."
Die neuesten Berichte aus Spitzvergen.
F. Drottningholm, 26. September 1872. Von Professor
Nordenskjöld ist über die wissenschaftliche Expedition einBries
an den Großhändler O. Dickfon in Göteborg eingegangen, datirt
Norskön, den 18. August 1872, in welchem es heißt: „Da dieser
Brief wahrscheinlich später in Göteborg ankommt als ein vor 2
bis 3 Wochen abgeschickter (dieser Brief ist noch nicht angekom-
men), so schreibe ich diesmal nur einige Zeilen, um mitzutheilen,
daß Alles gut steht, obgleich es uns nicht gelungen ist, die
beabsichtigte Winterstation zu erreichen trotz zwei miß-
lungener Versuche, mit „Gladan" im Schlepptau das Eisseld
zwischen der Nordküste von Spitzbergen und den Sieben Inseln
zu durchdringen. Ich meinestheils bin gleichwohl überzeugt, daß
es uns später doch noch gelingen wird, uns hindurchzuzwängen.
„Onkel Adam" kam am 13. hier an und hatte die Renthiere
unbeschädigt und wenig angegriffen an Bord. Diese sind auf
der sogenannten innern Norskö ans Land gesetzt, wo zu ihrer
Weide Moos vorhanden ist. — Heute geht der „Onkel Adam"
nach dem Eissjord ab, um die von „Mimer" dorthin gebrachten
Kohlen zu holen. Auch ohne diese haben wir Feuerung und
andere unentbehrliche Bedürfnisse vollauf für den Winter. —
Einen ausführlichem Bericht werde ich mit „Onkel Adam" sen-
den, wenn dieser zurückkehrt."
Einer andern hierher gekommenen Nachricht zufolge ist die
„Gladan" eingefroren oder ganz von Eisbergen ein-
geschlossen, so daß sie zum Winter nicht zurückkommen kann,
wie beabsichtigt war. — Die Hoffnung, noch in diefem Som-
mer weiter gen Norden zu der beabsichtigten Winterstation zu
gelangen, scheint etwas sehr sanguinisch zu sein, da dort der
Winter schon in der Mitte des September in seiner vollen Stärke
eintritt.
Ueber die schwedische Colonie am Eisfjorde sind von
Tromsö Nachrichten eingegangen, die nicht fo ganz trostlos
klingen wie diejenigen, die vor Kurzem eine Bergensche Zeitung
brachte, nach denen das ganze Project mit der Ausbeutung des
dort vorhandenen Phosphats als verunglückt betrachtet werden
mußte. Die beiden von der Jnteressentschast „Jssjorden" in
Göteborg zu diesem Zwecke befrachteten Dampfer „Fiskern" und
„Mimer" sind jedoch am 5. und 6. September nach Tromsö
zurückgekehrt mit dem bewerkstelligenden Director der In-
teressentschaft, Herrn Graham, dem Geologen Dr. Oeberg und
der ganzen zur Ueberwinterung bestimmten Mannschaft an Bord;
aber die Anlage der Colonie und die damit bezweckte Bearbei-
tung der Phosphatgruben sind keineswegs aufgegeben, sondern
nur in Folge der obwaltenden Umstände aufgeschoben worden.
Als die Expedition in diesem Sommer an dem zu dem Berg-
bau im Jahre 1870 auserfehenen Platze anlangte, war natürlich
die Aufführung der zur Ueberwinterung erforderlichen Häuser
die erste Sorge. Zu diesem Zwecke nahmen die Arbeiten ihren
Anfang damit, daß die Baumaterialien und der Proviant ans
Land geschafft wurden. Schon dabei waren bedeutende Schwie-
rigkeiten zu überwinden. Der Landungsplatz unterhalb des
Berges ist von keinem Hafen geschützt, sondern im Gegentheil
allen dem Anscheine nach in diesem Sommer ungewöhnlich un-
ruhigen Winden des Eisfjords ausgesetzt. Die Fahrzeuge muß-
ten draußen auf der offenen Rhede in großer Ferne vom Ufer
vor Anker liegen und die Folge war, daß bei hoher See das
Ausladen unmöglich war, oder daß es damit, wenn es nicht
gänzlich gehindert wurde, wenigstens äußerst langsam ging. Ein
anderer Umstand, der vielleicht noch mehr Zeit raubte, war der,
daß alle Materialien', wenn das Haus dem Platze der Berg-
arbeiten so nahe wie möglich stehen sollte, auf eine über 100
Fuß hohe, steil abfallende Bergterrasse und dann weiter über
Va geographische Meile weit über ein stets ansteigendes Plateau
geschafft werden mußten. Als das eine der Wohnhäuser, mit wel-
chem die Ueberwinterungsmannschast sich möglicher Weife hätte
Aus allen
begnügen können, fertig war, mußte man noch einen Schacht in
das etwa 600 Fuß über dem Meere belegene Phosphatlager
eintreiben, da die Bergwerksarbeit am allerwenigsten auf Spitz-
bergen unter freiem Himmel stattfinden kann. Da dies aber
ganz unmöglich war in der kurzen Zeit vor dem Eintritte des
Winters, von welchem die Vorboten sich schon zu zeigen began-
nen, so wurde beschlossen, die Arbeiten für den Augenblick ab-
zubrechen und die Mannschaften nach Hause zu führen, da unter
solchen Umständen eine Ueberwinterung daselbst als mit allzu
großer Gefahr verbunden erachtet wurde. Die Folge davon
würde gewesen sein, daß man die Leute entweder mit ganz un-
nöthigen Arbeiten hätte beschäftigen müssen, oder sie wären von
dem Skorbut, diesem gefährlichsten Feinde der Unthätigkeit in
den Polargegenden, heimgesucht worden und ihm erlegen. Mit
den Dampfern wurden nebst größeren Proben von dem Phosphat
(etwa 20 Tons) auch einige Maaren mitgenommen, welche sonst
von der Kälte und der Feuchtigkeit beschädigt worden wären.
Die Materialien zu dem zweiten Wohnhause und zu den beiden
Nebengebäuden aber wurden in zwei feste und überdeckte Stapel
gelegt und zurückgelassen.
Aus Palästina.
Ii. K. Im vorigen Jahre nahm die Durchforschung Palä-
stinas Seitens der Engländer einen neuen Aufschwung, indem
das Comite des Palestine Exploration Fund seine bisherige Praxis,
bald hier, bald dort interessante Localitäten besuchen zu lassen,
aufgab und eine planmäßige Aufnahme des Landes in Angriff
nahm durch geübte Offiziere vom Ordnance Survey, denen als
erfahrener Kenner des Landes und seiner Bewohner Mr. C. F.
Tyrwhitt-Drake zur Seite trat.
Gegen Ende des Jahres 1870 hatte nun auch in Neuyork
eine Anzahl von Gelehrten und Geistlichen, welche sämmtlich
das heilige Land durch Autopsie kannten, einen Aufruf zur Be-
theiligung an jener Aufnahme erlassen; und ihren Bemühungen
gelang es, dem englischen Vereine in der „Palestine Exploration
Society" eine Schwester zu geben, deren Sammlungen anfangs
freilich wegen des Brandes von Chicago keinen guten Fortgang
nahmen. Beide Gesellschaften theilten sich dann in die Arbeit
dergestalt, daß den Engländern der Westen, den Amerikanern
der Osten des Landes zufiel. Der Jordan sollte die Grenze
bilden. Ueber ihre bisherigen Leistungen entnehmen wir einem
Briefe des Herrn Dr. O.'Kersten (vergl. „Globus" XXII, S.
29 und 78) Folgendes: „Mit Mr. Drake und Herrn (Capitän
R. W. Stewart, R. E.) von der „Palestine Exploration Party"
sprach ich dieser Tage (August 1872). Sie haben bereits 600
englische Quadratmiles in dem Dreieck Jaffa-Nablus-Jerusalem
aufgenommen und werden jetzt hauptfächlich nördlich von Nablus
arbeiten. Der fünfzehnte Theil ihrer Arbeit ist vollendet; sie
würden also noch sieben Jahre gebrauchen, um fertig zu wer-
den, hoffen aber Verdoppelung ihrer Kräfte zu erhalten und
dann in drei Jahren zu endigen. Ihre einzelnen Sectionen
wollen sie möglichst bald herausgeben, und sie versprechen sich
gleichfalls viel von einer Karte der Umgegend von Jerusalem.
Es kann hiernach weder für mich, noch für irgend einen Andern
die Rede davon sein, jetzt noch für eine Karte der Umgegend
von Jerusalem Zeit, Mühe und Geld zu verwenden. Ich will
nun versuchen, am obern Jordan, unterhalb des Sees von
Tiberias, so viel Nutzen als möglich zu schassen. Da ich von
der Leipziger Ritterstiftung einen famosen magnetischen Apparat
erhalten habe, so kann ich auch einige physikalische Observatio-
nen machen. Im Uebrigen würde es mein Bestreben sein,
Lynch's Forschungen in der Nähe des Flusses weiter seitwärts
auszudehnen, namentlich mit Rücksicht aus die Möglichkeit einer
Berieselung des gesammten Jordanthales."
Zinn in Birma. Der Bergwerksingenieur Mark Fryar,
der speciell Britisch Birma auf seinen Mineralreichthum zu un-
tersuchen hat, bereiste gegen Ende des Jahres 1871 den District
Mergui in Tenasserim. Die dort aufgefundene Kohle ist nicht
Erdth eilen. 287
besonders gut und steht der australischen wie englischen nach,
auch besitzt Tenasserim noch so großartige Wälder, daß vor der
Hand ein Bedürsniß nach Steinkohlen dort nicht stattfindet. Das
Wichtigste aber, was Fryar entdeckte, war das Vorkommen sehr
ausgedehnter Zinnseifen. In den Flüssen auf dem Festlande,
sowie auf den Inseln an der Küste enthält jede Schüssel voll
Kies, die man aufnimmt, schwarze Zinnsteinstückchen, und es ist
wahrscheinlich, daß man in den Gebirgen, von welchen die Flüsse
herabströmen, die Zinnerzadern auffindet. Bei dem beschränkten
Vorkommen des Zinns ist diese Entdeckung von Wichtigkeit.
Wachsthum der Korallen. Die „Honolulu Gazette"
meldet, daß vor zwei Jahren in der Kealakekua-Bai eine Boje
verankert wurde, die man vor einiger Zeit aus dem Meere her-
ausnahm, um den Zustand der Ankerkette zu untersuchen. Die
letztere, ein zwei Zoll starkes Kabel, war über und über mit
Korallen und Austerschaalen bedeckt, von denen einige handgroß
waren. Die größeren Korallen maßen 4% Zoll Länge, was
also deren Wachsthum in zwei Jahren repräsenti'rt. Das wider-
spricht der gewöhnlichen Annahme von außerordentlich langsamem
Wachsthum der Korallen, denn nach dieser Rate würde die Ko-
ralle — die Art ist nicht angegeben — in hundert Jahren eine
Höhe von über 17 Fuß erreichen.
% * %
— Ein Georg-Schweinfurth-Stipendium ist in
Riga gestiftet worden. Der Bruder des berühmten Reisenden
hat ein Capital von 10,000 Rubeln beim Verwaltungsrathe der
polytechnischen Schule zu Riga niedergelegt und dabei Folgen-
des bestimmt. Die Zinsen der Stiftung werden Herrn Dr. G.
Schweinfurth, so lange derselbe lebt, zur Verfügung gestellt, nach
dessen Tode aber als Reisestipendium an solche Zöglinge des
rigaischen Polytechnikums, welche an demselben ihre Studien
mit Auszeichnung absolvirt haben. So ist dem ausgezeichneten
Erforscher Jnnerafrikas auch in seiner Vaterstadt ein Denkmal
errichtet worden, das ihn und den Stifter in gleichem Maße
ehrt. Unter den wissenschaftlichen Reisenden hat ohne Zweifel
Schweinfurth seine Stelle als einer der Flügelmänner in der
vordersten Reihe.
— Der auswärtige Handel Großbritanniens hat
sich von Jahr zu Jahr in einer solchen Weise gesteigert, daß
den Engländern selbst davor bange zu werden beginnt, so
angenehm an und für sich die Sache selbst auch ist. Der
Gesammtwerth der britischen Ausfuhr, der 1869 in runder
Summe 190,000,000 Pf. St. betrug, 1870 fchon 200,000,000,
hat 1871 den Geldwerth von 222,519,777 Pf. St. betragen.
Besonders auffallend ist die Zunahme des Exportes in Wollen-
waaren, für welche Australien in stets wachsender Menge das
Rohproduct liefert. Die Ausfuhr an Wollenfabrikaten stellte sich
1871 auf 332,000,000 Yards, gegen 260 Millionen in 1870.
— Die Staatseinnahmen von Britifch-Ostindien
haben im Finanzjahre 1870 betragen 51,413,000 Pf. St., die
Ausgaben 49,930,000Pf. St. Die Zahl der im Landestehen-
den europäischen Soldaten betrug 63,036 Köpfe; davon wa-
ren: Reiterei 4338, Fußvolk 46,347, Artillerie 12,036, und 265
Ingenieure mit 348 Feldgeschützen. Von den 132,187 Mann
eingeborenen Truppen waren 19,657 Reiter, 111,250 Jnfanteri-
sten und nur 1680 Artilleristen mit 32 Kanonen. Seit der
großen Meuterei ist es ein Gebot der Vorsicht, das schwere Ge-
schütz nur Europäern oder völlig erprobten Eingeborenen anzu-
vertrauen. •— Das Gesammtheer von 195,223 Mann hat die
Ordnung unter 150,000,000 Indern ausrechtzuhalten, nicht
minder unter den 50 Millionen, welche in den Schutzstaaten
wohnen und den Krieg gegen die Luschais gesührt. Etwa 5
Millionen Pfund Sterling sind für Werke von allgemeinem
Nutzen verausgabt worden: Straßen, Polizei, Spitäler, Brücken,
Straßenreinigung, Fähren, Schulen, wohlthätige Anstalten:c. —
Die Handelsbewegung hat seit dem amerikanischen Kriege
aus- und abgeschwankt; vor jenem Kriege stellte sie sich wäh-
288 Aus allen
rend der letzten fünf Jahre durchschnittlich auf 52% Millionen,
wahrend desselben und nach ihm auf 102,000,000 Pf. Pf. —
Nach Calcutta allein kamen auf dem Wege durch den Suezcanal
155 Schiffe, deren Ladungen einen Werth von 13 Millionen
Pfund Sterling hatten. — Die Grundsteuer hat netto 18, die
Salzsteuer 6 Millionen Pfund Sterling eingetragen; das Opium
8 Millionen; die Abgabe von Droguen und Spirituosen 2%
Millionen; von Zöllen 2,750,000 Pf. St. Für die Armee
wurden 16 Millionen verausgabt. — Die Ausfuhren haben
in den letztverflossenen Jahren zusammen 541,000,000 Pf. St.
betragen, die Einfuhren nur 311,000,000. Der Ausfall von
230 Millionen ist theilweise gedeckt worden durch die Einfuhr
von 172,500,000 Edelmetallen, die im Lande zurückgeblieben sind.
— Die Finanzen des osmanischen Reiches sind
durchaus zerrüttet. Die Staatsausgaben, welche 1860 erst
11,083,583 Pf. St. und 1863 nur 13,416,237 betrugen, sind
für 1872 veranschlagt worden auf 19,458,570 Pf. St., haben
sich also in 12 Jahren fast verdoppelt. Die fundirteSchuld
der Türkei beträgt gegenwärtig 119,000,000 Pf. St., und diese
kolossale Summe ist seit 1354 contrahirt worden, zu-
meist in tiefem Frieden, nach dem Krimkriege; nur der Auf-
stand auf Creta bildet eine Ausnahme. Im Jahre 1871 mußten
für Zinsen und Tilgungsfonds 8,345,135 Pf. St. verausgabt
werden und 1372 für 8,593,365; 1859 nur erst 1,577,823 Pf. St.
Man spricht viel von Finanzreformen, verständige Leute sehen
aber nicht ab, wie eine solche bei der bekannten „türkischen
Wirthschaft" möglich sei.
— Die Zolleinnahmen in Neuyork haben in dem
mit dem 30. Juni 1872 abgelaufenen Finanzjahre 147,900,892
Dollars Gold betragen, gegen 141,431,293 im Vorjahre.
— In den Vereinigten Staaten haben die Chinesen als
nüchterne, fleißige Menschen, die für mäßigen Arbeitslohn viel
leisten, erbitterte Gegner hauptsächlich an den Irlandern,
welche für wenig Arbeit viel Geld verlangen. Die Söhne der
Smaragdinsel wollen keinen Mitbewerb dulden und möchten für
ihr Halbfaullenzen ein Monopol haben. Aber sie dringen nicht
durch und müssen sich damit begnügen, daß sie die „langzöpfigen
Bestien" in brutalster Weise mißhandeln, wo es irgend angeht.
Aber „John Chinaman" ist nun einmal da, er läßt sich nicht
irre machen. In San Francisco scheint man zu begreifen, daß
es am besten fei, sich mit der Thatsache abzufinden. Der dort
erscheinende „Republican" hat darüber einige gute Bemerkungen:
„John ist überall im Lande; in manchen Gegenden hat er ganze
Grubenbezirke inne, die von weißen Leuten verlassen worden
sind, und in anderen verrichtet vorzugsweise er alle Wirthschafts-
arbeiten. Er bauet Eisenbahnen, gräbt Eanäle, kocht, wäscht,
wartet die Kinder, macht Cigarren, verfertigt Schuhe :c. Was
er aber auch thut, er thut es gut, ist fleißig, arbeitet länger
und ist mäßiger als andere Arbeiter. Wir wollen ihm hier
keine Lobrede halten, sondern nur constatiren, was ohnehin Je-
dermann weiß. Manches Jahr lang sind die Chinesen hier in
San Francisco vorzugsweise nur Wäscher gewesen; dann nahm
man sie auch als Hausdiener; jetzt sind sie in allen Gewerbs-
zweigen beschäftigt und überall ist man mit ihnen zufrieden.
Der kleine Handel mit Fischen und Gemüse ist fast ganz in
ihren Händen, ebenso das Cigarren- und Pantoffelmachen. Sie
malen Firmenschilder, nähen Säcke, sind Zimmerleute und Holz-
schnitzer, Tischler it. Schon vor zwölf Jahren sahen wir in
einer Druckerei zu Placerville einen Chinesen als Schriftsetzer
und er war ein sehr fixer Arbeiter. Gewiß erscheinen uns
manche Sitten und Gebräuche der Chinesen anstößig, aber man
kann sie eines Bessern belehren. Eingeborene Amerikaner chine-
Erdtheilen.
sischer Abstammung haben wir bereits in erklecklicher Menge,
und es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß sie den Zopf nicht
lang wachsen und mit Stäbchen essen werden. Und wenn sie
beides thäten, was geht das einem Dritten an; es wird dadurch
Niemand beeinträchtigt. Die Chino-Amerikaner werden leben
wie wir Anglo-Amerikaner und die Feindseligkeit gegen diese
Weizengelben wird dann aufhören. Man kann das Herein-
strömen der Ostasiaten bedauern, aber das Schicksal ist nicht
abzuwenden; der Chinese ist bei uns, wird bei uns bleiben und
es handelt sich darum, die Dinge zum Besten zu lenken."
— In Französisch-Cochinchina fängt man an, sich
mit Anpflanzung von Zuckerrohr zu beschäftigen, wovon man
sich viel für das Gedeihen der Colonie verspricht. Die Regie-
rung hat einem Kapitalisten, der durch seinen Credit und seine
umfassende Kenntniß der Ackerbaufragen zu den einflußreichsten
in den chinesischen Meeren gehört, 25,000 Hektaren geeigneten
Landes zu diesem Zwecke abgetreten. Im Lause dieses Jahres
(1872) sollen die Vorbereitungen zur Anpflanzung getroffen wer-
den, die durch eingewanderte Chinesen geschieht. Das Factum
ist nicht ohne Wichtigkeit für die Interessen der Colonie, weil es
den Anfang der Einwanderung chinesischer Arbeiter
in Eochinchina bezeichnet, wo es an kräftigen Armen zur Be-
bauung des Bodens fehlt. Mehrere hunderttaufend Hektaren
sind in der Colonie für Zuckerrohr geeignet; Taback, Indigo,
Baumwolle und andere Faserpflanzen würden sast überall dort
gedeihen und werden eines Tages eine reiche Quelle für indu-
strielle Production bilden.
— F. Die große Meerschlange spukt schon wieder und
ist von einer ganzen Schiffsbesatzung gesehen worden. Die in
Strömstad, einer schwedischen Stadt in Bohuslän, unweit der
norwegischen Grenze, erscheinende Zeitung schrieb darüber am
24. Juli d. I.: „Am Freitage, 14. Juli, segelte der hier zu
Hause gehörende Schoner „Jakob", Capitän Olsson, von Göte-
borg mit dem Bestimmungsorte Dundee ab. Am Nachmittage
des Sonntages (16.) befand sich das Fahrzeug unter herrschen-
der Windstille in der Entfernung von etwa 5 Meilen in süd-
westlicher Richtung von der südlichsten Spitze Norwegens, dem
Cap Lindesnäs. Da gewahrt der Capitän auf der Wasserfläche
in der Ferne einen dunklen Gegenstand, welcher sich mit unge-
wöhnlicher Schnelligkeit bewegte. Er greift nach dem Gucker
und überzeugt sich, daß es eine große Flosse ist; bei längerer
Betrachtung aber entdeckt er eine lange dunkle Masse, welche
sich fast spiralförmig bewegt, aber bald wieder verschwindet.
Noch ist er nicht sicher, was es sein kann; bald aber wird nicht
allein er selbst, sondern auch die ganze Besatzung überzeugt, daß
es ein Thier von der Gestalt einer Schlange ist; denn das Un-
gethüm ist wieder aufgetaucht, hat gewendet und kommt nun
dicht an das Fahrzeug heran. Als es dasselbe zur Hälfte um-
kreist hat und nun in der Nähe desselbenMeibt, wird diese Ueber-
zeugung immer stärker. Als es sich noch mehr nähert, wirft
einer von der Besatzung eine Steinkohle nach demselben; diese
fällt dicht bei dem Kopfe des Ungeheuers ins Wasser und ver-
anlaßt, daß das Thier in die Tiefe hinabsinkt und nicht mehr
gesehen wird, wozu wahrscheinlich die einbrechende Dunkelheit
auch viel beitrug. Die Bewegung des Thieres im Wasser brachte
einen Laut! hervor, welcher dem Geräusche eines Wasserfalles
glich. Die Länge des Thieres wurde auf mehr als eine Kabel-
länge (120 Klafter) geschätzt." — Dieser Beitrag zu den oft-
mals wiederkehrenden^Erzählungen von Meerschlangen verdient
erwähnt und bekannt zu werden, da sowohl der Schiffer als
auch die Besatzung erklärt haben, sie wären zu jeder Zeit bereit,
ihre Angabe mit einem Eide zu bekräftigen.
Inhalt: Das römisch-germanische Museum in Mainz. III. (Mit vielen Abbildungen.) — Die Schamanen und das
Schamanenwesen. Nach russischen Quellen bearbeitet von H. v. Lankenau. (Mit zwei Abbildungen.) — Wanderungen in
Ecuador. Von Bernhard Flemming. III. Der Chimborazo. — Im ecuadorianischen Urwalde. (Schluß.) — Aus allen Erd-
theilen: Nachrichten von Pascha Samuel Baker's Nilexpedition. — Die neuesten Berichte aus Spitzbergen. — Aus Palästina. —
Zinn in Birma. — Wachsthum der Korallen. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redactiou verantwortlich: H. Vieweg in Vraunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Vraunschweig.
Mit besonderer Verücksicktigung
Verbindung mit Fachmännern
Kar!
äer Anthropologie unä Gtknologie.
In
und Künstlern herausgegeben von
A n d r e e.
Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1872.
Band xxn.
Am Südgest
Sewastopol, Jnkjerman, Balaklawa, die Alma
sind durch den sogenannten Krimkrieg weltberühmte Namen
geworden. Diese Punkte im südwestlichen Theile der tanri-
schen Halbinsel wurden mit Blut überschwemmt, und noch
heute, nach fast zwanzig Jahren, liegt ein großer Theil der-
selben in Trümmern. Die Russen haben sich gegen die
Engländer und Franzosen in der That wie Löwen gewehrt,
aber dort unten in der Krim ist das alte Rußland zu Grabe
getragen worden. Kaiser Nikolaus mußte es noch erleben,
daß sein ganzes System, an welchem er mit so steifem Eigen-
willen hing, ganz und gar zusammenbrach, und er ist dann
an gebrochenem Herzen gestorben.
Diese pontische Halbinsel ist seit den ältesten Zeiten von
Völkerstürmen heimgesucht worden, wie kaum ein anderes
Land. Den Griechen galt sie in den früheren Jahrhunderten
noch als eine skythische Einöde, als ein von Hellenen un-
betretener Boden. Späterhin bildete sich dort ein bospo-
ranisches Reich und der Name Mithridates ist berühmt
geworden. In den Tagen, da unsere Zeitrechnung beginnt,
erkannten alle pontischen Uferstädte die Herrschaft der Rö-
mer an; bald nachher aber begann der Ansturm von Bar-
baren, die anderthalb Jahrtausende lang in wilden Wogen,
eine nach der andern, sich über Tanrien ergossen. Zuerst
drangen Alanen ein, nach ihnen Skythen; dann Go-
then, welche um das Jahr 200 ihre Besitzungen bis zum
Nordgestade des Schwarzen Meeres ausdehnten. Schon
um 267 erschienen Hernler am Asowschen Meere; um
376 werden die Gothen aus den südrussischen Steppen durch
die Hunnen verdrängt, und die Krim hat einige Zeit Ruhe
unter dem Schirme der byzantinischen Kaiser. Aber schon
Globus XXII. Nr. 19. (November 1872.)
e der Krim.
im Jahre 501 überziehen Ugrier und Bulgaren nicht
bloß Taurieu, sondern den ganzen Saum des Asowschen
nnd Schwarzen Meeres, und 60 Jahre später erscheinen
bereits Türken, die aus dem Altai gekommen waren. Gleich-
zeitig treten Chazaren auf, durch welche die Bulgaren
verdrängt werden, und ein Theil dieser Chazaren nimmt um
740 das Judenthum an. Sie werden seit 834 von den
Petschenegen bedrängt, welche 883 von ihnen geschlagen
werden, zurückweichen und ihrerseits die Magyaren aus
den südrussischen Steppen verdrängen.
Im zehnten Jahrhundert treten in den pontischen Ge-
genden zuerst die Russen auf; Oleg's Zug gegen Kon-
stantinopel fällt in das Jahr 906, jener Jgor's gegen die
Byzantiner, welche sich unter allen Wechselfällen als die
rechtmäßigen Gebieter der taurischeu Halbinsel betrachtet hat-
ten, in das Jahr 943. Im Jahre 988 ließ der russische
Großfürst Wladimir sich in der von ihm eroberten Stadt Eher-
sones in der Krim taufen, nachdem er längere Zeit geschwankt
hatte, ob er das Judenthum oder den Islam annehmen solle.
Er zog das Christenthum vor, weil dasselbe ihn nicht hin-
derte am Genüsse berauschender Getränke, die er sehr liebte,
und so ist es der Wein gewesen, durch welchen die Russen
zu ihrer Art von Christenthum gekommen sind. Ohne des
Bacchus süße Gabe wären sie Mohammedaner geworden,
und die ganze Geschichte Ost- und Südosteuropas hätte eine
durchaus andere Wendung genommen.
Um das Jahr 1016 war die Herrschaft der Chazaren
völlig zu Ende, die Byzantiner befanden sich abermals im
Besitz, aber schon 1050 stürmten Polowzer, Uzen und
Kumanen heran; sie wurden ihrerseits 1223 von den
37
Am Südges
Mongolen fast vernichtet, und um 1239 unterwarf der
gewaltige Batu, Chan der Horde aus dem Kiptfchack, Süd-
rußland und die Tataren. Sein Nachfolger Berkay Chan
bewog sein Volk zur Annahme des Mohammedanismus.
Nach und nach hatten in den Küstenstädten sich Italiener
des Handels wegen angesiedelt: Pisaner, Venetianer und
Genuesen, die alle einander mit Eifersucht überwachten und
sich sogar Seeschlachten lieferten. Die Genuesen blieben
Meister und gründeten 1266 auf den Ruinen Feodosias die
Stadt Kasfa, welche sich bald, als großer Stapelplatz, zur
Blüthe emporhob, obwohl sie einmal, 1296, von den Vene-
tianern zerstört wurde. Um 1342 führten die Italiener
gemeinschaftlich Krieg gegen die Tataren, welche von nun
an auf der Krim eine Rolle spielen. Um 1397 erscheint
Withold, Großfürst von Litthauen, in Taurien, in wel-
chem die Byzantiner noch einige Punkte behaupteten. Im
Jahre 1440 erwählen die krimschen Tataren ihren Häupt-
ling Ghirei zum Chan, dessen Nachfolger bis 1783 das
Land beherrscht haben. Sie hatten mit den um jene Zeit
mächtig gewordenen Türken manche Kämpfe zu bestehen; bis
1774 war dann die Krim von den Osmanen abhängig.
Um 1637traten dort dieKosacken aus; sie erobertenAfow;
1677 begannen die Kämpfe zwischen Osmc^ien und Russen,
und die Feldzüge des Fürsten Galizin in der Krim fallen
in die Jahre 1687 bis 1689. Peter der Große nahm
Asow 1696, im folgenden Jahre wurde Perekop besetzt, das
1736 von Münnich noch einmal erstürmt wurde. Die
Russen gewannen mehr und mehr Boden; die Pforte mußte
1774 im Frieden von Kutschuck Kainardschi ihrer Oberherr-
schaft über die Krim entsagen, welche 1783 dem russischen
Reiche endgültig einverleibt wurde. Gleich in demselben
Jahre erbaueten die Russen auf der Stätte des Dorfes Ach-
tiar die Festung Sewastopol. Diesen Namen beliebte
1784 Kaiserin Katharina.
Die Dampfer von Odessa fahren zunächst nach Eupa-
toria au der Westküste der Krim und von dort in etwa vier
Stunden nach Süden hin bis Sewastopol. Sobald das
Schisf sich der Stadt nähert, treten zur linken Seite die noch
gut erhaltenen Forts Konstantin und Michael vor das Auge;
rechts liegt das vollständig zerstörte Fort Nikolaus, dessen
gegenwärtiger Zustand durch unsere Illustration veranschau-
licht wird. Vom Balcon eines der beiden deutschen Gast-
Höfe, „Hotel Wetzel", hat man eine herrliche Uebersicht über
die Stadt, die Meeresbuchten, die Schiffswerften und nach
demMalakoff. „Im Mai, wenn derOelbaum blüht, dringt
der berauschende Duft, welcher die ganze Südküste durch-
strömt, in förmlichen Wogen hinauf. Dieser Duft ist so in-
tensiv und bis Simpheropol landeinwärts so sehr jeden an-
dern verdrängend, daß er der Gegend einen ganz eigenthüm-
lichen Charakter von Wohlgeruch verleiht; derselbe paßt
wundervoll zu den Ruinen, Grabmälern und Felsen und der
allgemeinen Stille."
Vor dem Krimkriege war Sewastopol eine schöne, freund-
liche Stadt, welche sich an den verschiedenen Meeresbuchten
hindehnt. Nach Remy's Angaben soll sie, je nachdem grö-
ßere oder kleinere Abtheilungen der russischen Flotte in die-
sem Kriegshafen ersten Ranges lagen, 50,000 bis 60,000
Bewohner gezählt haben. Am 1. Januar 1866 ergab ein
amtlicher Nachweis 10,074 Köpfe, wovon 9078 Russen
und Griechen, 486 Juden, 136 Mohammedaner waren.
„Ueberblickt man diese felsigen Hügel, den herrlichen Ha-
fen, das weite Meer, — gedenkt man der gewaltigen Macht,
deren äußerste Vorposten diese Landzungen bilden, — ver-
gegenwärtigt man sich einerseits ihre Geschichte, andererseits
die Zustände der Nachbarn, — so kann man sich selbst unter
dem drückenden Einflüsse der Todesstille, der rings geister-
de der Krim. 291
Haft blickenden Gräber und des Maugels an Verkehr des
Gedankens nicht erwehren, daß dieses imposante Schweigen
nnr eine jener Pausen sei, mit denen die Geschichte ihr
Walten zu unterbrechen pflegt, und daß diese weit in
den Pontus hinauszeigende Felsenhand noch mäch-
tig eingreifen werde in das Geschick des wankenden
Morgenlandes, und sicher mit eingreifenderm Erfolge."
Gegenwärtig beschränkt sich die Regierung auf die Aus-
schmückung der Stätten, welche durch einen beispiellosen Kampf
für immer denkwürdig geworden sind. Hin und wieder sieht
man größere Neubauten. Von den schönen Docks ist nicht
einmal die Spur übrig geblieben, an ihrer Stelle sieht man
einen Graben mit stagnirendem Wasser. Die Wasserleitung,
welche man im Hintergrunde unserer Illustration sieht, ist
ebenfalls zerstört. Der größte Theil der Bogen ist unver-
sehrt, auch der 931 Fuß lauge Tunnel ist unbeschädigt, aber
Alles trocken uud im Verfall. In der Bucht, wo die Docks
lagen, hat die russische Dampffchifffahrtsgefellfchaft ihre Aus-
befsernngsstätten und Maschinenfabriken.
Ganz im Hintergrunde der schmalen Meeressöhrde, welche
nach Osten hin ins Land eindringt, liegt Jnkjerman (s. Bild
S. 293). Die Entfernung dorthin von Sewastopol beträgt eine
deutsche Meile, und die Fahrt ist in geognostischer Beziehung
interessant. Bis dicht ans Meer treten in stetem Wechsel die
seltsamen Uferformationen, vom röthlichen Sandsteine bis
zum Kalksteiue und der Kreide, häufig von tropfsteinartigen
Bildungen netzartig überzogen. Das Thal von Jnkjerman
ist allem Anschein nach einst Meeresbucht gewesen und all-
mälig durch Anschwemmungen der Tschernaja Rjeka aus-
gefüllt worden. In den meist senkrechten Felsen findet man
Höhlen, deren Ursprung einer noch nicht näher bestimmten
Zeit angehört. Meist erblickt man in einer Höhe von 15
bis 20 Fuß runde, sensterartige Löcher, und dieser Umstand
scheint auf eine Zeit hinzudeuten, in welcher das Thal noch
nicht trocken lag. Sodann zeugen die umfangreichen Aus-
hauungen, Treppen, großen Gemächer und ihre Verbindun-
gen mit kleineren, insbesondere auch die überraschend sorg-
fältige Bearbeitung der Wände und Plafonds, von einer
spätem Erweiterung und Ueberarbeitnng ursprünglich gewiß
ganz roher, von großen Kräften bewerkstelligter Massenab-
lösung. Aehnliche Höhlen findet man- bei Tschufut Kaleh,
Mangup und noch anderen Punkten. Remy, der sie alle
genau beobachtet hat, bemerkt: „Alle diese Felsenwoh-
nungen befinden sich in einer Linie, die nördlich von der
unwirthbaren Steppe, westlich und südlich aber von dem
Meere begrenzt wird. Da gab es keinen Ausweg; ihre Höhe
und Festigkeit war einziger Schutz gegeu Klima, wilde Thiere
und nachdrängende Feinde, und blieb es wohl längere Zeit,
bis man den Raum gemäß dem wachsenden Bedürfniß er-
weiteste." Die berühmte Felsenkirche des heiligen Clemens
ist gleichfalls eine Krypte.
Das Schlachtfeld von Jnkjerman dehnt sich ziemlich weit
das Thal hinauf, zwischen Krypten und Steinbrüchen aus.
Das Thal selbst ist ungesund, weil bösartige Fieber dort
auftreten. Der Kirchhof auf der Nordseite, auf welchem so
viele Krieger ruhen, ist mit einem Mausoleum geschmückt;
man sieht viele mit Namen bezeichnete Grabsteine; zwischen
ihnen vertheilt erscheinen etwa 50 große steinerne Vierecke,
cisternenartig mit einem Steine verschlossen. Die Inschrift
lautet: „Brüderliches Grab." Ein größeres Denkmal in
Form eines kleinen halboffenen Tempels enthält die weiße
Büste eines Fürsten Gortschakoff mit folgender Inschrift:
„Fürst Gortschakosf, Commandirender der Krimarmee von
1855 bis 1856, gestorben 1861. Er wünschte inmitten
der Waffenbrüder zu schlummern, deren Tapferkeit den Bo-
den vom Feinde frei hielt, in welchem ihre Gebeine ruhen."
37-«-
292
Am Südgestade der Krim.
294
Am Südgestade der Krim.
Frei Uber die ganze Umgegend emporragend erhebt sich
auf einer Unterlage eine aus Quadern zusammengesetzte
Pyramide, mit einem Kreuze von dnnkelm Marmor auf
der Spitze; sie mag etwa 60 Fuß hoch sein. Die Außen-
stächen enthalten zahlreiche in den Stein eingelassene runde
Fenster mit mattgeschliffenen und farbigen Gläsern und zu
beiden Seiten derselben große, dunkele Marmortafeln, auf
denen mit goldener Schrift die Namen der Truppentheile
angegeben sind, welche an der Verteidigung Sewastopols
theilnahmen. Das Innere der Pyramide enthält eine Kirche
in Kreuzform mit einer Kup-
pel, Gemälde in Gold und
Farbe und geschmackvolle Tä-
felung der Wände mit Mar-
mor. Auf schwarzen Mar-
mortafeln sind an den Wän-
den die Namen aller bei
Sewastopol gefallenen Offi-
ziere verzeichnet. Das Ganze
macht einen überaus seierli?
chen Eindruck.
Der Malakoff bildet
den höchsten Punkt in der
Umgebung Sewastopols; er
liegt nur eine kleine halbe
Stunde weit von der Stadt
entfernt. Er wurde erst
während der Belagerung auf
der Spitze des gleichnamigen
Hügels aus weißem Kalk-
stein erbaut, beherrscht die
ganze Gegend, nnd erwies
sich schließlich als Schlüssel
der Stellung von der Land-
seite, obwohl man ihn aus
der Entfernung gar nicht
sieht, weil das noch stehende
untere Geschoß sich in einer
Vertiefung befindet. Er hat
die Form eines Halbmon-
des, dessen Ausbauchung dem
Feinde zugekehrt war, nnd
bestand ursprünglich aus zwei
Geschossen, welche casemat-
tirte Gänge mit Schießschar-
ten für Gewehrfeuer und eine
mit Kanonen besetzte Außen-
umwallung enthalten. Man
hat ihn in dem Zustande, in
welchen er durch den Kamps
versetzt wurde, durch Bewer-
sen mit Lehm nnd Kalk zu
erhalten gesucht und mit gel-
ber Farbe angestrichen. Die
untere Casematte ist durch
eine eiserne Gitterthür ge-
schlössen uud eine leichte Holzbrücke über den Graben zu den
noch vorhandenen Ueberresten des zweiten Stockes geschlagen.
Immer noch bietet sich dort ein Bild wilder Verwüstung, und
deutlich sieht man die Laufgräben der Franzosen im Zickzack
näher treten. —
Mit dem Falle des Malakoff ist das alte Rußland des
Czars Nikolaus zu Eude gegangen und aus den Trümmern
das nene Rußland Alexander's des Zweiten hervorgewachsen.
Die Russen sagen: „Nikolaus war der letzte Chan, Alexan-
der ist der erste Kaiserz Rußland ist nun ein europäischer
Ein karaitischer Jude in der Krim.
Staat geworden, in welchen Luft und Licht kommt. Nach
und nach wird das Volk mehr abendländisch werden. Aber
das größte Hinderniß für allen Fortschritt liegt in der Kirche
und in der Geistlichkeit."
Einen sehr achtbaren Bestandtheil der Städtebewohner
in der Krim bilden die Karaim (Karaiten) oder sogenann-
ten Weißen Juden, welche sich scharf von den übrigen
Israeliten unterscheiden und den ganzen Talmud verwerfen.
Ihre Zahl ist nirgends beträchtlich und sie leben zerstreut
im südöstlichen Europa, in Vorderasien und haben auch in
Nordafrika einige Gemein-
den. Einst war das nun von
ihnen bis auf etwa zwanzig
Familien verlassene Tschu-
sutKaleh in der Nähe von
Bachtschi Ssarai gleichsam
ihre Hauptstadt. Die Hoch-
ebene, auf welcher dieselbe
liegt, ist von einer Menge
von alten Höhlenwohnnn-
gen umgeben; manche Ge-
mächer derselben sind so glatt
ausgemeißelt, daß man sie
sofort hätte mit Stuck be-
werfen und brauchbar her-
richten können; die Fenster-
öffnnngen bestehen aus gro-
ßen, runden Löchern. Alles
deutet darauf hin, daß diese
Höhlen von den auf eiuau-
der folgenden Geschlechtern,
welche den Felsen bewohn-
ten, benutzt worden sind,
und auch den ersten Karaim,
welche ins Land kamen, ha-
ben sie zur Wohnung ge-
dient. Diese Hochebene von
Tschufut Kaleh liegt wohl
2000 Fuß über dem Mee-
resspiegel, ist etwa eine Vier-
telwerst breit und anderthalb
Werst lang. Die Trüm-
mer reichen bis unmittelbar
an den Rand des senkrecht
abfallenden Abgrundes; un-
ter ihnen klaffen die fchwar-
zen Löcher der Kryptenfen-
ster. Die Straßen sind eng
und tragen den Stempel
aller orientalischen Städte:
fensterlose Mauern, kleine
gerundete Thore mit star-
ken Schlössern und Riegeln,
flache Dächer. Die kleinen
Höfe sind zur Hälfte mit
den Trümmern der Häuser
augefüllt, doch stehen noch einzelne Mauern, Treppen und
Thüreu.
F. Remy, dessen Werk über die Krim wir jüngst er-
wähnten, wurde am Pförtchen eines gut erhaltenen Hauses
zum Eintreten eingeladen vom „letzten Karaim", dem Rabbi
Herrn Juda Jeruh. Er meint, diese Wohnung sei eine der
interessantesten, die es geben könne. Die Gemächer waren
wohnlich und einfach möblirt; das von Glasfenstern um-
gebene Vorhaus steht dicht am Rande des Abgrundes und
bietet eine herrliche Fernsicht über schwindelerregende Tiefen.
Das römisch-germani^
Die Bibliothek, welche der Rabbi unter seiner Aufsicht
hat, zählt Hunderte, zum Theil sehr alter Handschriften, und
ein gelehrter Orientalist würde in derselben wohl reiche Aus-
beute finden. Herr Jeruh würde es gern sehen, wenn sie
von Fachmännern genauer untersucht würde, weil bei der
allmäligen Auflösung der Gemeinde dieser wissenschaftliche
Schatz wahrscheinlich zerstreut wird. Die Karaim haben
seit Jahren mit Eifer alte Handschriften aus Jerusalem,
Derbent, Kleinasien, Aegypten :c. zusammengebracht.
Ganz nahe der Wohnung des Rabbi liegt eine kleine,
sehr alte Synagoge, in welcher noch jetzt Gottesdienst gehal-
ten wird. Gleich daneben ist das sogenannte Museum, ein
altes, düsteres Gewölbe, in welchem gleichfalls viele Hand-
schristen und alte Drucke auf Leder verwahrt werden.
Der genannte Rabbi, „der letzte Bewohner des Felsens",
erklärte, denselben gleichfalls verlassen zu wollen, sobald der
jetzige Stammesälteste, der in Si Petersburg lebt, gestorben
sei. Aber es ist die Absicht der Karaitengemeinde in Odessa,
wiederum zehn Karaitenfamilien auf Tschufut Kaleh anzu-
siedeln, wohl um das Eigenthumsrecht auf diesen Ort zu
wahren.
Ein Herr Salomon Beim hat 1862 in Odessa ein
Werk über seine Glaubensgenossen drucken laffen, in welchem
er über Sitten, Gebräuche und religiöse Borschriften ein-
gehende Schilderungen giebt. Er schätzt die Gesammtzahl
auf etwa 6000 Köpfe. Die geringe Anzahl der in Polen
lebenden spricht unter sich polnisch, jene in Konstantinopel
reden griechisch, die Karaim in der Krim tatarisch. Die
letzteren tragen eine Mütze von schwarzem Lammsfell, der
Schnitt der Kleidung ist weniger kosackisch als bei den Tataren
uud nähert sich dem Kaftan oder Paletot; die Frauen tragen
sich schon europäisch und vermeiden, ungleich den talmndi-
schen Jüdinnen, grelle Farben und Ueberladung des Putzes.
[je Museum in Mainz. 295
„Es ist ein solides, bescheidenes Volk, das sich dem Um-
gange und Einflüsse anderer Nationalitäten mit Consequenz
anschließt, während es den geistigen und mehr noch den in-
dnstriellen Erscheinungen des Abendlandes, so weit es deren
Werth bis jetzt zu fassen vermag, lebhaften Antheil zuwendet.
Ich kenne einen Karaim in Odessa, der, Gentleman in jeder
Beziehung, eine ausgesuchte deutsche Bibliothek besitzt."
Der Karaim erinnert in seinem Typus mehr an den
Türken als an den Juden. Er ist gewöhnlich von kleinem,
gedrungenem Wüchse und neigt zur Wohlbeleibtheit, Kopf
und Gesicht sind zumeist rund, die Nase ist klein, die Augen
sind groß und die Glieder der Gemeinden gleichen sich unter-
einander so sehr, daß sich ein isolirtes, Jahrhunderte umsas-
seudes Gemeindeleben in ihrer ganzen Erscheinung unver-
kennbar ausprägt. Sie stehen im Rufe der Sittlichkeit,
Mäßigkeit und Rechtlichkeit, sind thätig, und zwar mit wei-
term Horizont und größerer Zurückhaltung als der Jude.
Die Verwickelung eines Karaim in Crinünalfälle zählt bis-
her zu den größten juridischen Seltenheiten. Zu den tau-
seuderlei Hausirer-, Wucher- und Lumpengeschästen der Juden
wird sich ein Karaim nie oder doch nur in höchst seltenen
Fällen hergeben. Die auch in Deutschland bekannten Odes-
faer Firmen Eghis, Manguby und andere stammen aus
Tschufut Kaleh und besitzen heute dort noch Häuser. Einst
bestand die Judenstadt aus etwa 400 Häusern mit mehr als
800 Familien, und es bleibt ein interessantes ethnographi-
sches Räthsel, wie sich die kleine Gemeinde, von welcher auch
die benachbarten Felsen von Tekekjerman und Mangup
bewohnt waren, sich so lange nnvermischt zu erhalten ver-
mochte inmitten des stets sie umdrängenden Völkergewirres,
lieber die Art und Weise, wie sie in die Krim gekommen
sind, und über die Zeit ihrer Einwanderung sind wir noch
im Ungewissen.
Das römisch-o
X x Einen bedeutender» Grad von Kunstfertigkeit uud
Erfahrung verrathen die zahllosen Schmuckperlen, welche, in
sogenanntem Glasfluß gefertigt, neben großer Abwechselung
in der Farbe die gefälligsten Motive in der Zeichnung auf-
weisen. Diese Perlen sowie ähnliche von Thon und ein-
fache Bernsteinkugeln in allen Größen wurden, zu Ketten
an einander gereiht, wie noch heute, um Hals und Handge-
lenke getragen, sie bilden einen Hauptbestandtheil des Inhaltes
der Frauengräber. Es sind hiervon nur wenige Proben im
römisch-germanischen Museum ausgelegt, indem sie sich in
großer Menge und wahrhaft überraschendem Reichthum und
Abwechselung in der Section der merovingischen Alterthümer
des uebenanstoßenden Museums von Originalen vorfinden
(f. Fig. 56 a. f. S.).
Es dürfte jedoch gewagt erscheinen, wollte man diese
Art der über den ganzen damals bekannten Erdkreis zerstreu-
ten Schmuckgegenstände unter den Erzeugnissen der einhei-
mischen Industrie aufführen. Bei den Römern kommen sie
nur in den allerfeltensten Fällen vor, was gerade nicht auf
eine frühe Pflege dieses Kunstzweiges in Italien schließen
läßt. Wie groß auch die Berühmtheit der Glasfabriken
Venedigs ist, so reichen sie doch schwerlich in ein so entlege-
nes Alter hinauf. Dem Kaiser Hadrian wurden von einem
Museum in Mainz.
ägyptischen Priester einige gläserne Kelche, die mit allerlei
Farben spielten, geschenkt, welche er, als kostbare Stücke, nur
bei hohen Festen zu gebrauchen befahl. Diese Gläser, sicher-
lich nichts Anderes als die Vorläufer jener nachmals in Rom
so sehr beliebten und werthgeschätzten Millesiori, lassen kaum
einen Zweifel über das Vaterland unserer in derselben Weise
verfertigten Glaskorallen aufkommen. Auch ist es auffal-
leud, daß diese Kunst niemals an vielen Orten gepflegt, daß,
wie im Mittelalter für Europa fast allein Venedig/so noch
jetzt Hebron die Fabrikantin derselben Waare für den gan-
zen Orient bleibt. Solche Pflege einer keineswegs mühe-
und kunstlosen Gewerbthätigkeit bei einem in den meisten
anderen Beziehungen zurückgekommenen Volke läßt aber aus
die mehrtauseudjährige Ueberlieferung eines weitverbreiteten
und glücklichen Absatzes schließen, und so liegt auch die Be-
zugsquelle unserer Vorfahren für diesen Bedarf ziemlich offen
vor Augen.
Hiermit sind wir bei dem zahlreichsten und kostbarsten
Inhalte unserer Gräber, nämlich bei den Schmuckgegen-
ständen, angelangt, welche wir im römisch-germanischen
Museum denn auch in glänzendster Weise vertreten finden.
Die Gewandnadeln, Schnallen und Beschläge vou Leibgürteln
und anderm Riemenwerk, die Hals-, Arm-, Finger- und
Das römisch-germanische Museum in Mainz.
Ohrringe, die Haarnadeln, Halsketten, Anhängmedaillons,
Zierscheiben, Gürtelgehänge, Schmuckkästchen, Sandalen ic.
füllen, dicht an einander geschlossen und gepackt, zwei große,
die ganze Breite des Saales durchmessende Glastische aus.
Am augenfälligsten durch große Anzahl, Mannichsaltig-
keit der Formen, reiches Farben-
spiel und den Glanz der edlen
Metalle find die Fibeln oder
Gewandnadeln. Obgleich ihrer
in den geschichtlichen Nachrichten
und alten Dichtuugeu fast gar
keine Erwähnung geschieht, bil-
den sie doch den Lieblingsschmuck
der damaligen Bevölkerung und
besonders der Frauen. Sie sind
mit besonderer Sorgfalt, ja oft
kunstvoll behandelt und gewähren
durch die Kostbarkeit ihres Stof-
fes von Gold, Silber, Perlen
und edlen Steinen einen inter- .
essanten Einblick in den Stand
der materiellen Güter jener bis
jetzt so kahl und dürftig geglaub-
ten Zeit.
Und wirklich, bei der bekann-
ten Armuth uufers Vaterlandes
an edeln Metallen könnte der
Anblick so zahlreicher einheimi-
scher Producte in Gold und Silber aus so früher Zeit
billig Verwunderung erregen, wenn wir nicht in wohlver-
bürgten Überlieferungen den Schlüffel zu diesem Geheimuiß
gefunden hätten. Die alte Schatzfreude unseres Volkes,
der tief eingewurzelte Glaube an große verborgene und ver-
Fig. 57.
grabene, von Dämonen und Ungeheuern gehütete Massen
von Kleinodien, welche sich in unseren schönsten alten Dich-
tnngen spiegeln, haben in der Geschichte der Vorzeit ihre
tiefe Begründung. Die durch viele Jahrhunderte gewaltig-
ster Völkerbewegungen verwifchte und fast verlorene Ueber-
lieferung des Hereinflnthens un-
ermeßlicher , früher nie gekann-
ter Reichthümer, die ungeheure
Beute aus den Eroberungszügen
der deutschen Stämme in den
reichen, römischen Provinzen und
in Italien selbst ist es, welche
noch als Mythus geheimnißvoll
und zauberhaft wiederklingt in
unseren Sagen und Märchen.
Wenn auch Vieles von den so
gewonnenen Schätzen in den nn-
aufhörlichen Kämpfen und aus
dem Heimwege selbst wieder ver-
loren ging, so kann doch Jeder,
der einen Blick in den uuglaub-
lichen Luxus des spät-römischen
Lebens gethan hat, leicht ermes-
sen, was dort den Schaaren abge-
härteter und ausdauernder Krie-
ger in die Hände fallen mußte.
Wer fühlt sich nicht an die
arabischen Märchen, diese Ge-
bilde der glühenden, orientalischen Phantasie erinnert, durch
die Angaben der gleichzeitigen Berichterstatter über den nn-
gemessenen Aufwand der Römer unter den späteren Kai-
sern! Wenn man liest, wie die Stadt Rom allein dem Go-
then Athaulf bei seiner Hochzeit mit der Placidia ein Ge-
. Fig. 53.
Fig. 59 u. 60.
schenk von 100 Becken überreichte, 50 gefüllt mit Gold-
stücken, 50 mit Edelsteinen von unschätzbarem Werths; wie
der Gothe Thursemod von dem römischen Patricier Agecius
ein Geräth erhielt von massivem Golde, 500 Pfund schwer
und überreich mit Steinen besetzt; wie die Westgothen unter
zahllosem anderm Raube einen Tisch mit sich führen, aus
einem einzigen Smaragd geschnitten, mit 365 Füßen aus
Gold und Edelsteinen, dessen Werth man auf 500,000 Gold-
stücke schätzte! :c.
Daraus läßt sich schließen, welcher Wohlstand aus die-
Das römisch-germanische Museum in Mainz.
sen Feldzügen dem Norden mochte zugeflossen sein. Denn wenn
auch den Ostgothen und Vandalen ihr Raub in der Fremde
wieder abgejagt wurde, so hielten dafür die Angelsachsen,
Burgnudeu, Alemannen und Franken, in die Heimath zu-
rückgekehrt, ihr mit Kampf und Blut erkauftes Besitzthum
um so fester. Die großen Massen geprägten und uugepräg-
ten Goldes und Silbers, edler Steine und dergleichen, sowie
herrlich ausgearbeiteter Gefäße und Geräthe, welche sich nach-
weisbar nicht nur in den Schatzkammern der Fürsten, fon-
dern auch im Besitze der vornehmen und herrschenden Stände
befanden, welche von den Königen selbst bevorzugten Gästen
gezeigt und womit sie sich gegenseitig beschenkten, übersteigen
bei Weitem den Begriff von Luxus in unseren Tagen. Die
Erzählung von dem großen Nibelungenhort, dessen Fort-
schaffung vier Lastwagen vier Tage lang beschäftigte, wird
unbedingt ins Fabelland verwiesen. Und doch bedurfte der
Schatz des Narfes, welchen Gregor von Tours auf viele 1000
Centner schätzt, zu seiner Wegschaffung ähnlicher Mittel und
derselben Frist. Fredeguude, des Chilperich Gemahlin, brachte
zur Ausstattung ihrer Tochter Riguuthe eine so ungeheure
Menge von Gold, Silber und Schmucksachen herbei, daß der
König fürchtete, seine ganze Schatzkammer sei geleert wor-
den. Sie beruhigte ihn jedoch mit der Versicherung, daß
alle diese Kostbarkeiten ihrem eigenen Vermögen entnommen
Fig. 61 bis 63.
seien. Fünfzig Lastwagen bedurfte die Wegführung dieses au
Brautschatzes! au
Einen Begriff von dem Reichthum der Vornehmen mö- ein
gen beispielsweise die 15 Silberschüsseln gewähren, welche de!
König Gunthram dem Verräther Mummulus abnehmen G>
ließ und deren jede 470 Pfund wog. Eine ähnliche Schüs- all
sel, welche König Chilperich aus seinem Schatzgolde anser- Gi
tigen ließ, war 50 Psund schwer und reich mit Edelsteinen O
besetzt. Der König zeigte sie mit Stolz seinen Gästen und sch
sprach seine Absicht ans, wenn er am Leben bleibe, noch gei
mehreres Aehnliche anfertigen zu lassen „zum Ruhme des
Frankenvolkes". — Dieselben Quellen, aus welchen den tu,
Fürsten und Vornehmen des Landes die
Mittel zur Herstellung so solider Pracht- 64-
werke zuflössen, werden auch den geringern
Mann mit seinem Bedarf von edlem Me-
tall für die so zahlreich vor uns liegen-
den, kleineren Schmucksachen versehen haben.
Trotz ihrer großen Zahl und Mannich-
faltigkeit, indem man unter vielen Tau-
senden bis jetzt kaum zwei sich vollständig
gleichende Exemplare gefunden hat, lassen
sich die Gewandnadeln dennoch leicht in
Hauptgattungen scheiden.
Die am häufigsten vorkommenden und
durch ihren größern Umfang sich auszeich-
nenden Spangensibeln sind die über-
wiegende herrschende Form in den merovingischen Gräbern.
Sie bestehen aus zwei reich mit Gravirung verzierten Plat-
ten, zusammengehalten durch einen Bügel, welcher die Ge-
wandfalte ausnimmt (s. Fig. 57 u. 58).
Eine weitere Gattung bilden Nadeln in Thierge-
stalten, Vögeln, doppelköpfigen Schlangen:c. (s.Fig.
59 u. 60), während die dritte, in mehrere Unterordnungen
zerfallende aus scheibenförmigen Schmuckstücken besteht, welche
bald in vollständigem Zirkel, bald zu Kreuzes- und Rofet-
tenform ausgeschnitten, variiren. Hierher gehören auch die
schönen, in concentrische Kreise eingetheilten Zellenscheiben,
welche theils mit farbigem Glase, theils mit Filigranarbeit
Globus XXII. Nr. 19. (November 1872.)
ausgefüllt sind. Während die zwei ersten Gattungen solid
aus Bronze oder Silber gegossen, mit Vergoldung uud Glas-
einlagert ausgedeckt erscheinen, findet eine große Abwechselung
des Materials bei der letztern Gattung statt. Scheiben aus
Gold, Silber und Erz, öfters eine zierliche Vereinigung
aller drei Metalle, bilden die oberste Fläche der Fibula.
Goldsiligranarbeit und Perlen, Edelsteine und Glaseinsütze,
Ornamente in Niello und Elfenbein und Lapis lazuli
schmücken in anmuthigster Weise die verschiedenen Abtheilun-
gen derselben (s. Fig. 61 bis 63).
Eine der seltensten Unterordnungen dieser dritten Gat-
tung besteht aus der massiven Eisenfibula, welche, mit
einer Einfassung von Silber oder Erz, auf
ihrer Fläche Verzierungen von Silbertauschi-
rungen trägt. Diese Art der Technik sin-
det jedoch minder selten ihre Anwendung
bei den Metallbeschlägen von Leibgürteln
und Riemenwerk (siehe Fig. 64).
Sämmtliche Formen der merovingi-
schen Fibula finden im Allgemeinen ihre
Vorbilder in den römischen Schmuckstücken
derselben Art. Die Tauben, Pfauen, Fi-
sche, Panther, Rosse :c. der Römer sind
indeß in Falken, Habichte und Drachen
verwandelt worden. Die scheibenförmigen
Gewandnadeln mehr byzantinischen Ur-
spruugs und somit die jüngste Gattung sin-
den ihre Vorgänger auf römischen Sculpturen und Münzen
und in den Grabstätten der spätrömischen Zeit.
Die Fibeln finden sich in Männergräbern sowohl wie
bei Frauen. Sie liegen gewöhnlich in der Nähe des Schlüs-
selbeines, bei den Frauen auch noch häufig um die Schien-
beine, was auf eine vollständige Einhüllung der Gestalt in
einen Mantel oder ein Leichentuch schließen läßt. Je rei-
cher. das Grab, desto mehr Fibeln weist es aus, wie denn ein
Fraueugrab bei Alzei in Rheinhessen neben anderm Gold-
schmuck zwei schwere silberne Spangen und zwei feine goldene
Zellensibeln enthielt, uud die Gewänder auf den römischen
Sculpturen sind oft übermäßig mit Fibeln bedeckt. Unter
38
298
Die neuesten Vorgänge in Peru.
den späteren Kaisern war der Aufwand, welchen man mit
diesem Zierstücke trieb, so groß, daß man sich veranlaßt sah,
den gemeinen Soldaten das Tragen von Goldfibeln zu un-
tersagen. Und wieder gebot Kaiser Leo, man solle sich mit
der kostbaren Arbeit der Goldfibeln genügen lassen, und sich
nicht anmaßen, was nur kaiserlicher Würde zustehe, näm-
lich das Tragen von goldenen mit Perlen besetzten Broschen.
Wir müssen hier noch einiger Gewandnadeln geden-
ken, welche sich vor den übrigen dadurch
auszeichnen, daß auf ihrer Rückseite In-
schristen eingravirt sind. Es sind dies
Denksprüche und Glückwünsche in der
alten Runenschrift. Sie wurden ent-
ziffert durch den gelehrten Dietrich, wel-
cher schon früher in seiner geistreichen Ab-
Handlung über die Runen auf den Hanno-
verschen Goldbracteateu uns unsere älteste
Schriftsprache vor den dänischen und skan-
dinavischen Archäologen zu behaupten oder
vielmehr zurückzuerobern wußte.
Diese fremden Gelehrten hatten lange
Zeit hindurch die Runensprache im Gan-
zen unangefochten als nordisches Eigenthum
beansprucht, in dem Sinne, daß aller deutsche Autheil daran
auszuschließen sei. Höchstens den Angelsachsen machte man
hierin einige Zugeständnisse. Dietrich hat aber schla-
gend bewiesen, daß nicht nur die hannoverschen,
sondern alle schleswiger und holsteinischen Runen
einem Dialekte angehören, den er den altsächsischen
oder nordsächsischen nennt, welcher der Vater des
angelsächsischen ist, und daß alle diese Runenin-
schristen den Zeitraum vom 3. bis 6. Jahrhundert
nicht überschreiten.
Die auf unseren Fibeln eingeritzten Sprüche lauten:
„Mit theuerm ^Lohne lohnet Vodan Freundschaft.
Besitz des Leubriui," und „mit gutem Geschick sei
Deine Fahrt ersiilt."
Dieses Beschreiben von Geräthen mit Sprüchen, Haupt-
sächlich Glückwünschen, erinnert an ähnlichen Brauch bei
Fig. 65.
römischen Münzen und Geräthen und mag
wohl davon seinen Ursprung haben. So
stimmen z. B. die Wünsche „Du hast von
dem Ringe Heil zu empfangen", „Reichthum
und Gesundheit und Heil über Heil", recht
gut überein mit dem römischen „utere felix",
sowie das einfache „Heil" mit „saluti".
Das „Gemach und Ruhe" mit „tranquilli-
tas", „Nahrung" mit „Ceres" :c. Auders
und mehr deutscher Art lautet der Trink-
spruch „Reichlich satt mit gutem Ale"
(Bier).
Besonders unter den Zierstücken her-
vorgehoben von den alten Schriftstellern er-
scheint der Gürtel. Schon bei den alten
Culturvölkern in hohem Ansehen, nimmt er auch in der
Werthschätzung bei den Germanen eine ausgezeichnete Stelle
ein. Bei den Männern war er von Leder oder doppelt-
gewirktem Leinenzeug, aus Seide und anderen gewirkten
Stoffen bei den Fraueu. Von den Vornehmen wurde gro-
ßer Aufwand damit getrieben, und Chifflet erzählt von
dem Gürtel Childerich's, daß derselbe mit Gold beschlagen
und mit Edelsteinen besetzt war. Dasselbe wird von dem
Fig. 66.
Gürtel des heiligen Eligius mitgetheilt, welcher als Schatz-
meister am Hofe des fränkischen Königs Dagobert lebte, und
in den alten Dichtungen sind die Gürtel der Helden mit
goldenen Buckeln geschmückt.
Uns ist von alle dem nichts mehr erhalten als die
Schnalle, welche den Gürtel zusammenhält, und Platten
verschiedener Größe, welche, an dem der Schnalle entgegen-
gesetzten Ende befestigt, mit derselben ein Ganzes bildeten, so
daß der Ring mit seinem die Riemenzunge durchbohrenden
Dorne in der Mitte des ganzen Beschlages saß. Ebenso
wie bei den Gewandnadeln ist hier jedes Metall zur Ver-
Wendung gebracht oder das Zusammenwirken aller mit Steinen
und Glasschmelzstücken in gefälligster Weise vermittelt. Schma-
lere verzierte Schnällchen und Metallstreifcn, welche in gro-
ßer Menge vorhanden sind, müssen zu Nutzung und Verzie-
rung entsprechenden Riemenwerkes gebraucht worden sein.
Wenn wir z. B. bei Gregor von Tours lesen, daß die Män-
ner von den Schuhen auslaufend drei ellenlange Riemen in
Kreuzesform um die Beine geschlossen trugen, so scheint für
obiges Geräth die Verwendung bereits gefunden.
Die neuesten Vorgänge in Peru.
Wir haben derselben jüngst erwähnt; jetzt erhielten wir über „Die Geschichte Perus hat bisher so ziemlich denselben
sie von einem Abonnenten des „Globus", der Augenzeuge Verlauf gehabt, wie die der anderen ehemaligen spanischen
war, folgendes Schreiben aus Lima vom 13. August 1872. Colonien Südamerikas. Nach Erkämpfung der Unabhän-
Die neuesten V
gigkeit von Spanien in den zwanziger Iahren blieb das
militärische Element immer das herrschende nnd war auch
hier von den Folgen einer Militärherrschaft begleitet. Der
Ehrgeiz und die Herrschsucht der Befehlshaber verursachte,
daß das so reiche Land durch Revolutionen erschöpft wurde,
die sich in kurzen Zwischenräumen wiederholten, da ja jeder
Coronet (Oberst) (und wie viele giebt es deren hier!) nur
das eine Ziel im Auge hatte, sich auf diesem nicht mehr un-
gewöhnlichen Wege zum Präsidenten der Republik aufzu-
schwingen und als solcher sich und seine Freunde auf jede
mögliche Art zu bereichern.
Bis heute sind die zahlreichen Präsidenten nicht
ein einziges Mal auf gesetzmäßigem Wege zur Re-
gierung gelangt: die Gewalt hat dabei immer die Haupt-
rolle gespielt. Hatten sie dann genug Reichthümer gesam-
melt, so begaben sie sich ins Ausland, um einem Andern
Platz zu machen, kehrten aber meistens nach längerer oder
kürzerer Zeit ganz harmlos nach Lima zurück. Einer der
letzten Präsidenten, Pezet, lebt jetzt ganz ungestört hier in
Lima, nachdem er sich seiner Zeit des Heeres bedient, um
mit seinen Schätzen sicher nach Callao und auf den Dampfer
zu kommen, dann das Heer und die Bevölkerung am Ufer
warten ließ und sich an der Ueberraschnng weidete, welche
die betrogenen Leute bei der plötzlichen Abfahrt des Dampfers
überkam.
Die jüngste große Revolution war 1868, als der letzte
Präsident Balta feinen Vorgänger Prado stürzte und den
Congreß zwang, ihn zum constitntionellen Präsidenten der
Republik zu erklären. Unter ihm erreichte das Militär einen
uie gesehenen Glanz und eine unbestrittene Präponderanz
in allen Verhältnissen des Landes und der Regierung. Alle
Stellen wurden mit Militärs besetzt, sogar zu Directoren von
Gewerbeschulen machte man solche Leute, obschon die große
Mehrheit der Offiziere höchst ungebildet und im eigenen
Fache wenig bewandert ist. Welch ungeheuere Summen die-
fes Soldatenspielen gekostet, hat sich in den allerletzten Ta-
gen handgreiflich herausgestellt. Außer den öffentlich ge-
machten, auch schon sehr ungünstig beurtheilten Ausgaben
hat die vergangene Regierung noch für 23 Millionen Soles
(29 Millionen Thaler) Vorschüsse auf die Guanoliefernngen
und Einkünfte der Douaue erhalten, und trotzdem war oft
gar kein Geld in der Casse. Daß diese Militärwirthschast
endlich beim Volke sehr verhaßt wurde und früher oder spä-
ter ein schlimmes Ende nehmen mußte, war wohl selbst den
Gewalthabern nicht verborgen geblieben. Aber Balta war
von großer Unentschlossenst und den Einflüsterungen fal-
scher Freunde zu sehr zugänglich, so daß er von einem Ex-
trem ins andere verfiel, bis ihm die Verhältnisse über den
Kopf wuchsen nnd seinen Untergang nothwendig herbeiführen
mußten. Es ahnte freilich Niemand die schrecklichen, wenn
auch in wenigen Tagen sich abwickelnden Ereignisse, die den-
selben begleiten sollten.
Zur Erklärung dieser in der Geschichte Perus unerhörten
und an die schlimmsten Momente der Pariser Commune
erinnernden Vorfälle ist es nöthig, etwas weiter znrückzu-
greifen und die Thätigkeit der politischen Parteien während
des letzten Jahres zu beleuchten. Als vor einem Jahre
das Volk zur Wahlurne gerufen wurde, um den Nachfolger
des Präsidenten, dessen Regierung am 2. August dieses Iah-
res ihr Ende erreichen sollte, zu bestimmen, trat der Regie-
rnngs-, also Militärpartei, zum ersten Male eine durch In-
telligenz und Wohlhabenheit mächtige Civilpartei gegen-
über, die als ihren Candidaten einen beim Volke wohlbekann-
ten und beliebten Mann aufstellte, der sich als Finanzmini-
ster Prado's, als Director der Benesicencia (Wohlthätigkeits-
anstalten) und zuletzt als Alcalde (Bürgermeister) von Lima
rgünge in Peru. 299
unter allen seinen Mitbürgern sehr ausgezeichnet hatte. Die-
ser hochgebildete nnd von Patriotismus begeisterte Mann
war Manuel Pardo. Er würde, so war die allgemeine
Ueberzeugung, falls er zur Regierung gelangte, den Präsi-
denken Balta und seinen Anhang zur strengsten Rechenschaft
ziehen. Deshalb wandte die Regierung alle ihr zu Gebote
stehenden Mittel an, um ihren Candidaten, der natürlich
nur ein reines Werkzeug in ihren Händen sein sollte, über
Pardo triumphiren zu lassen. Aber trotz aller, auch der
ungesetzlichsten, Gewaltmaßregeln sah man Pardo in den
meisten Wahlcollegien den Sieg davon tragen. Großer
Aufruhr im Palaste! Der Präsident wurde von seinen
Rathgebern hin und her gedrängt, und als vor zwei Mo-
naten der Congreß zusammentrat und der Sieg Pardo's im«
mer offenkundiger wurde, schwankte Balta zwischen zwei ent-
gegengesetzten Entschlüssen: entweder der Gemalt der öffent-
lichen Meinung nachzugeben und zur gesetzmäßigen Zeit sein
Amt in die Hände des von der Nation Erwählten niederzn-
legen, oder aber sich zum Dictator zu erklären, den Congreß
aus einander zu sprengen und, auf die Bayonnette gestützt,
dem Lande zum Trotz, die höchste Gewalt beizubehalten.
Sein Vertrauter aber, der Kriegsminister Tomas Gn-
tierrez, war weder mit dem einen noch mit dem andern
Plane einverstanden; der erstere machte seine ehrgeizigen Ab-
sichten zu nichte, den zweiten glaubte er schon zu Gunsten
seiner eigenen Person ausführen zu können. Und siehe! als
das Land des tiefsten Friedens sich erfreute, der Handel
'blühte und man anfing, auf den viel gefürchteten 2. August
beruhigt hinzusehen, da, am Nachmittage des 22. Juli, er-
klärte Gutierrez sich zum Dictator, nahm den Präsidenten
Balta gefangen und löste den Congreß auf, nicht jedoch, be-
vor derselbe einen energischen Protest abgefaßt, worin er die
Urheber der Revolution für vogelfrei erklärte.
Der Dictator und seine Brüder, kühne, vor keinem Ver-
brechen zurückschreckende Soldaten, glaubten des ganzen Hee-
res, für das sie so viel gethan, sicher zu sein, und mit Hülfe
desselben ihre Herrschaft leicht befestigen zu können. Doch
das Volk war entschlossen, sich vom Militarismus, unter-
dessen Joch es über vierzig Jahre geseufzt, nicht länger un-
terdrücken zu lassen. Ans die Nachricht, daß der verhaßte
Gutierrez sich der höchsten Gewalt bemächtigt habe, erhob
sich die Bevölkerung wie Ein Mann und kämpfte in Lima
und Callao während vier schrecklicher Tage gegen die Ty-
rannen und ihren Anhang, um so erbitterter, als es offen-
kundig wurde, daß Pardo, der populäre Candidat, nur mit
genauer Noth den blutgierigen Händen der Gutierrez ent-
gangen war und auf der ihm ergebenen Flotte eine Zuflucht
gesunden hatte. Am 26. Juli wurde einer der Brüder des
Dictators, Sylvestre Gutierrez, an der Lima-Callao-Station
vom Volke erschossen; als der Dictator den Tod seines Bru-
ders erfuhr, ließ er den Präsidenten Balta in seinem Ge-
sängniß ermorden, gab vor der Wnth des Volkes den Re-
giernngspalast auf und zog sich mit einigen ihm treu geblie-
denen Soldaten in das Fort Santa Catalina zurück.
Aber Alles vergebens. Als er sah, daß dieses sich auch
uicht länger mehr halten ließ, versuchte er in der Nacht ver-
kleidet zu entfliehen, wurde jedoch erkannt und vom Volke
auf gräßliche Art getödtet. Die ganze Nacht und den fol-
genden Tag feierte das Volk seinen Triumph aus der Plaza
de armas vor der Kathedrale und dem Regierungspalaste,
nachdem es die Leichen der beiden Gutierrez hoch an die
Thürme der Domkirche gehißt. Am Nachmittage, nachdem
das Volk dem im Triumph wiederkehrenden Pardo gezeigt,
was es mit denen gemacht, die ihn, ihren Erwählten, hatten
erschießen wollen, wurden die Leichen herabgenommen und
mit der eines in Callao getödteten andern Bruders vor der
38*
300 A. Zehme: Zur Charakteristik
Kathedrale auf einem Ungeheuern Scheiterhaufen verbrannt;
dann wurden die Häuser der Bernichteten dem Boden gleich
gemacht. An die Kathedrale wurde eine Inschrift geheftet
mit den Worten: „Asi siempre con los tiranos", und
hoch am Triumphbogen des Pizarro eine andere, welche
lautete:
; ; ; Lima al Mundo ! ! !
26 de julio de 1872 — Escarmiento de los Tiranos.
Bei all der ungeheuer« Aufregung uud trotz der Ver-
nichtung aller öffentlichen Gewalt verübte das Volk keine
Einbrüche, keinen Diebstahl, und als Pardo's Stimme sie
eindringlich zur Ordnung ermahnte, zerstreuten sich bald die
wilden Haufen und ließen die verfassungsmäßige Regierung
unter dem ersten Vicepräsidenten sich ruhig coustituiren. Der
Congreß trat wieder zusammen, gab dem ermordeten Prä-
fidenten das letzte Geleit und ordnete definitiv die Wahl-
acten, wobei sich denn herausstellte, daß Pardo Uber 2000
Stimmen, der Regierungscandidat nur eben so viele Hun-
derte hatte.
Da das Volk nun durch die letzten Vorgänge den Mili-
tarismus vollständig gebrochen und die Wege Pardo's in
vier Tagen besser geebnet, als es seine Partei während eines
ganzen Jahres hatte thun können, so konnte Lima am
der Frauen im heutigen Arabien.
2. August das in der Geschichte Perus unerhörte Schauspiel
genießen, einen einfachen Bürger vom Congresse ein-
stimmig zum Präsidenten der Republik erklärt und vom gan-
zen Volke als solchen mit Jubel empfangen zu sehen. Seit
feinem Regierungsantritt hat der neue Präsident an Popu-
larität noch gewonnen durch sein einfaches Auftreten, durch
Vermeidung aller militärischen Begleitung und durch Bei-
beHaltung seiner Privatwohnuug, die er den Prunkgemächern
des Palastes vorzieht.
Es hat diesem von der Natur so reich ausgestatteten
Lande nur an einer Hand gefehlt, es auf die ihm gebührende
Stufe zu erheben, uud Pardo ist ganz der Mann dazu, auch
den zerrütteten Finanzen aufzuhelfen, die Hülfsquellen des
Landes zugänglich zu machen und Unterricht und Bil-
duug im Volke zu verbreiten. Das letztere hat er als sein
Hauptstreben erklärt und für einen Punkt, bei dem von Spar-
famkeit nicht gesprochen werden sollte. Hierbei sollen ihm
die Deutschen helfen, wie er ja vor einem Jahre schon
aus eigenen Mitteln ein von Deutschen geleitetes
Gymnasium in Lima gegründet hat, das seine Kinder
und die seiner zahlreichen Freunde besuchen, und welches jetzt
als Muster für ähnliche Anstalten in allen größeren Städten
Perus gilt."
Zur Charakteristik der Frauen im heutige!: Arabien.
Von Dr. A. Zehme in Frankfurt a/O.
Als Ergänzung des jüngst in dieser Zeitschrift (Nr. 13.
S. 203 ff.) mitgetheilten kleinen Beitrages zur Kenntniß
der neueren Araber will ich, was sich mir aus den schon dort
genannten Quellenschriften über die arabischen Frauen
ergeben hat, hier kurz zusammenfassen.
Wenn die sociale Bevorzugung des Weibes vor dem
Manne die höchste Stufe, die Gleichberechtigung eine so-
gar schon weniger hohe Stufe der Cultur eines Volkes be-
zeichnen sollte, so sähe es bei den Arabern um die Höhe der
menschlichen Gesittung fehr mißlich aus. Ja selbst die, wie
man unkundigerweise wähnt, erst durch das Christenthum
in die Welt gekommene überhaupt menschenwürdige BeHand-
lnng des Weibes läßt bei ihnen für einen doctrinären Beur-
theiler gewiß viel zu wünschen übrig. Dennoch wage ich die
ketzerische Behauptung, daß trotz des Islam und der übri-
gens iu der Praxis seltenen Vielweiberei, ohne von Frauen
beherrschte Salons und ihren Frauendienst, doch in manchen
Theilen der abgeschlossenen Halbinsel das Weib keine ganz
unwürdige Stellung einnimmt.
In manchen Theilen, sage ich; denn auch in Bezug auf
jene Stellung bleibt die Thatfache von Einfluß, daß die
Bevölkerung nicht einartig, fondern von uralter weil schon in
der Abstammung beruhender innerer Verschiedenheit ist.
Die Nordwest-, Nord- und Ceutralaraber scheinen im Allge-
meinen weniger beweglichen Geistes und Gemüthes als die
südlichen und östlichen Bewohner der Halbinsel, was denn
begreiflich auch auf das Verhältniß zu den Frauen zurück-
wirkt. Uud hierin hat auch der Mohammedanismus mit sei-
nen in Bezug aus die Behandlung der Frauen nicht immer
lobenswerten Grundsätzen keineswegs in Arabien nivellirend
zn wirken vermocht. Was gilt Mohammed's Religion z. B.
den Biadija in Oman?
Darum irrt sich, wer da meint, ohne die europäisch-
christliche Civilisation, ja ohne den Schliff der eleganten
Welt gäbe es, wie überhaupt so auch im Lande der Ära-
ber, keine des Namens würdigen liebens- und opserwerthen
Frauen und das „ewig Weibliche" sei nur eine Blüthe der
gebildeten europäischen Romantik. Das Weib, im Frohn-
dienste des rohen Mannes selber roh, ist freilich eine auch
in Arabien zu findende Species, aber etwa in Europa nicht?
Gewiß muß zugegeben werden, daß Mohammed's Person-
liches Beispiel in Bezug aus die Frauen, dem er in seinen
Offenbarungen, wie das so zu geschehen Pflegt, die Weihe
einer allgemeingültigen gottgewollten Norm zu geben sich
bemühte — noch dazu mit einem für ihn allein gültigen
Privilegium, Koran Sure 33 —, den Frauen bei den Be-
kennern des Islam im Allgemeinen eine, wie gesagt, wenig
würdige Stellung hat anweisen können und zum Theil an-
gewiesen hat. Aber daß jenes Beispiel nicht überall die
bindende Kraft eines Dogmas gewonnen hat, davon zeugen
außer anderen die gefeierten Frauen unter dem arabischen
Kalifat in Spanien, zeugt auch das Frauenleben in manchen
Theilen der arabischen Halbinsel selber. Die alten vorisla-
mitischen Traditionen sind in dieser Beziehung stärker ge-
wesen als der verödende Einsluß der Lehre des Propheten.
Die Gluth -der Sehnsucht nach der Geliebten, der ritterliche
Kampf um sie, das grollende oder schmerzliche Entsagen
klingt aus mancher Stelle der Moallakat, der Hamasa, des
Buches der Gesänge. Ein Volk, dessen auch in Bezug auf
die Form vollendet gehandhabte Specialität in der Dichtung
gerade das Helden- und Liebeslied fchon in alten Zeiten war,
kann, noch dazu bei seiner Abgeschlossenheit, in diesem Punkt
unmöglich durchaus entartet sein. Und das ist es auch nicht.
So gewann von Maltzan noch jüngst in Südarabien eine
A. Zehme: Zur Charakteristik
sehr vortheilhafte Meinung von der keuschen Ausdrucksweise,
dem Stolze der echten Araber gegenüber zweifelhaften Frauen-
zimmern, wie von der Schicklichkeit ihrer erotischen Lieder.
Die schlanken adlernasigen Araberinnen traten dort nicht als
Sängerinnen oder Tänzerinnen auf, wohl aber sah er ein
Mädchen himjaritischen Blutes in solchen Productionen bei
Gelegenheit eines Familienfestes des Sultans in Lahedsch,
nicht weit von Aden.
Aber ich will erst unter von Maltzan's Vorgängern seit
Niebnhr nach Spuren des Frauenlebens mich umsehen, wo-
bei die Völkermischungen in Mekka, Medina, Dschidda, Mas-
kat begreiflich nicht als rein arabische Typen gelten können.
Wenn man nun einen richtigen Ausgangspunkt für die
Beurtheilung der Frauenverhältnisse bei den Arabern ge-
Winnen will, so mag man zuerst das Wesen der Nation,
ob sie so zusagen mehr männliche oder mehr weibliche Eigen-
schasten aufweist, beachten. In dieser Beziehung wüßte ich
neben der ansBurton, nach Karl Andree's Bearbeitung,
in meinem neulichen Aufsatz angeführten Charakteristik nichts
Besseres als die von Bnrckhardt in seinen reichhaltigen
„Bemerkungen über dieBeduiuen nndWahabi" ge-
fällten Urtheile. Ich schließe nämlich so: haben die Araber,
die Männer, jenen Zug männlicher Genügsamkeit, der sie
im Uebrigen charakterisirt, auch in Bezug auf ihre geselligen
Bedürfnisse, so wird die Stellung der Frauen folgerichtig
im Allgemeinen untergeordneter sein, als wenn jene etwa
in Folge eines zerstreuungssüchtigen Temperaments wesent-
lich des weiblichen Elementes bedürften. Und hierfür will
ich eben Bnrckhardt als unverdächtigen Zeugen anführen.
Denn wenn auch seine Beobachtungen sechs Jahrzehnte vor
unserer Zeit liegen, sind sie doch bei der bemerkenswerthen
Beständigkeit arabischen Wesens noch jetzt für gültig zu er-
achten. So fagt nun der treffliche Schweizer, gestützt auf
seine Kenntniß des großen nordwestarabischen Stammes der
Aneze, daß der gesellige Charakter des Beduinen, sobald
kein Gewinn in Frage komme, als wahrhaft liebenswürdig
beschrieben werden könne. Heiterkeit, Witz, sanftes Tempe-
rament, Gutmüthigkeit und Scharfsinn, welcher ihn in den
Stand setze schlagende Bemerkungen zu machen, befähigten
ihn zu einem angenehmen und oft sehr schätzbaren Gefähr-
ten. Er werde nie durch Strapazen oder Leiden außer
Fassung gebracht. Der schönste Zug im Charakter eines
Beduinen sei, außer seiner Zuverlässigkeit, Wohlwollen und
friedliches Benehmen, sobald sein kriegerischer Geist oder
seine verletzte Ehre ihn nicht zu den Waffen riefen. Un-
ter sich selbst seien die Beduinen eine Nation von
Brüdern. Sie zankten sich zwar oft mit einander, seien
aber, wenn der Friede wieder hergestellt, immer bereit sich ge-
genseitig Beistand zu leisten. Der Beduine nähre gern in
seiner Brust Barmherzigkeit und Mitleiden nnd vergesse in
Folge derselben oft, daß ein unglücklicher Mann vielleicht
ein Feind fei. In ihren häuslichen Zwistigkeiten seien die
Beduinen zurückhaltender und dagegen auch grimmiger als
die Bewohner der Städte in Syrien und Aegypten, die ge-
meiniglich zu den pöbelhaftesten Ausdrücken griffen.
Und UM auch noch Bnrckhardt's Ansicht über die Denk-
weise der Beduinen, die nicht auf raffinirten Genuß des
Augenblicks, sondern vorzüglich auf das immer gegenwärtige
Bewußtsein der Freiheit gerichtet ist, kurz zu erwähnen, so
schien mir immer jene Stelle bei Bnrckhardt besonders
kennzeichnend, wo er sagt, daß die erste Ursache des be-
duinischen Gemeingeistes das Gefühl der Freiheit fei, wel-
ches in der Wüste gediehen noch immer Wurzeln treibe
und die Bewohner der Wüste mit Verachtung auf die Skla-
ven blicken lasse, welche ringsum wohnen. Ihre Köpfe
feien immer hell, ihr Geist nicht geschwächt durch Ausschwei-
r Frauen im heutigen Arabien. 301
suug und ihre Gesinnung nicht verdorben durch Sklaverei.
Man könne ohne Übertreibung behaupten, daß der ärmste
Beduiue eines unabhängigen Stammes über den Pomp eines
türkischen Pascha nur lächle und ohne philosophische Grund-
sätze, aber von der allgemeinen Gesinnung seiner Nation ge-
leitet, dem Palaste des Despoten sein elendes Zelt unendlich
vorziehe. Gastfrei und tapfer zu sein ist seine Freude: ist
hierin sein Rus unangetastet und hat er zur Bewirthuug
jedes achtbaren Gastes die geringen Mittel, ist ein gutes
Kameel oder Pferd fein und kann er den weiblichen Mit-
gliedern seines Zeltstandes zu Zeiten ein besseres Kleidungs-
stück verschaffen, so sind seine Wünsche erfüllt. Es dürste
unter den Asiaten keine mit ihrem Loose zufriedeneren und
deshalb glücklicheren Menschen geben, als jene unvermischten
Araber.
Von diesenPrämissen aus schließe ich, wie gesagt,
daß nicht verwilderte Rohheit, sondern Einfachheit
d es Genußbedürfnisses den Nationalaraber vonbe-
sonderer Werthschätzung des weiblichen Wesens
und Einflusses fernhält. Die Stellung der beiden
Geschlechter ist ohne Umschweife die des herrschenden Mannes
zur dienenden Frau; ein geistiges Leben der Eheleute in un-
serm besten Sinne kennen die Araber nicht; den Werth des
Lebens beurtheilen sie eben anders als wir.
Zunächst aber noch etwas über das Verhältuiß der
Frauen zu den Fremden. Wie bekanntlich für andere
mohammedanische Völker fo gilt auch für die Araber im
Allgemeinen das Gesetz oder der Gebrauch der Verschleie-
rung und des Abschlusses der Frauen vor Fremden. Daß es
nicht absolut gilt, beweist das Bild des jemenischen Mäd-
chens in Niebnhr's Reise I, Tafel 64; ebenso erfuhr es
Botta im Sabbrgebirge (siehe meinen frühern Aussatz in
dieser Zeitschrift), wo die fröhlichen Alpenmädchen der Ge-
birgsdörfer sich regelmäßig um die neue Menschenerscheinung
schaarten, unverschleiert und zu jedem Scherz über die selt-
same Kleidung des Reisenden aufgelegt. Aehulich sah
Wellsted auf einer ganz andern Seite der Halbinsel, zu
Ibra, einem Orte der blühenden Oasenreihe westlich vom
Dschebel Akhdar, dem grünen Gebirge, in Oman, die be-
rühmt schönen Frauen und Mädchen unverschleiert, dabei
ohne asfeetirte Scheu vor dem Fremden, dessen Instrumente,
Kleider, Waffen sie genau durchmusterten, indem sie seine
bescheidene Bitte, ihm nicht Unordnung in die Sachen zu brin-
gen, damit erwiederten, daß sie scherzend ihm den Mund zu-
hielten. Aehnlich Palgrave in Oman und Bahrein,
wovon weiter unten.
Die Sache liegt so: das eifersüchtige Absperren
und Verschleiern der Frau, vielleicht auch in Folge
der persönlichen Launen des Religionsstifters
usuell geworden, ist zwar mohammedanisch, aber
nicht arabisch. Es hat mir immer so vorkommen wol-
len, sagt Bnrckhardt, daß die Absonderung der Weiber um
so strenger ist, je mehr ein Stamm mit den Einwohnern der
Städte in Verbindung steht.
Was das Aenßere betrifft, so stimmen alle Beruhter-
statter darin überein, daß es nirgends in Arabien an fchönen
Frauen fehlt. Die der Beduine» werden in strenger Arbeit zei-
tig abgehärtet, dadurch eckiger und demnach unschöner, aber
Race haben sie alle. So sagt Bnrckhardt von den Aneze-
Frauendaß sie schlanker als die Männer, ihre Züge im
Allgemeinen schön und ihre Haltung sehr anmuthig erschie-
neu sei. Als Arzt hatte er einst Gelegenheit, die nackten
Arme der Frau eines Schecks zu sehen, die ebenso schön
waren als diejenigen einer europäischen Schönheit. Tami-
sier, Medicinalbeamter der ägyptischen Armee 1834 aus
ihrem Feldzuge gegen die kühnen Wahabi-Anhänger im
302 A. Zehine: Zur Charakteristik
Alpenlande Asir zwischen Heschas und Jemen, fand die
rein arabischen Frauen in Wadi Thanije auffällig schön,
hellfarbig, zierlich geschmückt, wißbegierig, arbeitsam.
Während die nördlicheren Araberinnen langes Hemd und
Beinkleid tragen, besteht die Tracht der südlichen himjari-
tischen Frauen, die dunkel, mittelgroß, von edlen Zügen
sind, aus Lendentuch, Kopfbund, Umschlagetuch, Uberall mei-
stens von blauer Farbe. Die Sitten sind in diesem Theil des
Südens, wie schon angedeutet, nach von Maltzan's Be-
obachtungen streng, bei Prostitution trifft die Strafe den
Mann, nicht die Frau. Locker fand Wellsted die Sitten
der Frauen in S ch e ch r an der Südküste bei einem Heiligen-
feste, Bestätigung alter Erfahrungen von den Tempelfesten
in Babylon an bis zu den modernsten Procefsionen. Smith,
der schon im ersten Auffatz genannte englische Offizier, preist
die Schönheit der Frauen auf den Abhängen des SubHange-
birges an der Südküste zwischen Ras Fartak und Ras
Hasik als wahrhaft ideal. Weiterhin nach Osten in Oman
hören wir Palgrave es als ein rechtes Glück bezeichnen,
daß die Frauen zum großen Theil uuverfchleiert gehen, da
sie durchschnittlich außerordentlich schlank und schön gebaut,
von stolzer Haltung, mit dunkeln und feurigen Augen, wal-
lenden Locken, überhaupt wohl die schönsten Frauen nicht
bloß von Arabien, sondern von ganz Asien seien. Dabei
spreche man hier die Frauen an, ohne Gefahr indiscret zu
erscheinen oder ihnen üble Nachrede zu bereiten; es geht eben
ein Zug von Humanität durch das schöne Land Oman, im
umgekehrten Verhältniß zur Strenge des Dogmas, hier wie
überall. Gleichfalls an der omanischen Ostküste in Suweik
lernte Well st ed die muthige und liebenswürdige Gattin des
Scheikh Hilal kennen, welche einst die ihrem Manne anhäu-
genden Stämme aufrief, um an ihrer Spitze gegen Mas-
kat zur Befreiung des dort gefangenen Gatten zu marschiren.
Auch auf dem grünen Gebirge erschienen dem Engländer
die Frauen der trotzigen und unfreundlichen, übrigens völlig
unabhängigen Benu Rijam körperlich, sie waren uuverschleiert,
wie in ihrem Benehmen sehr vorteilhaft. In Makinijat
sah Wellst ed bei dem Begräbniß einer dem Scheikh ver-
wandten Frau diesen und alle anderen männlichen Verwand-
ten die Todte zu Grabe geleiten.
Ich sagte oben, daß die Stellung des Weibes zum
Manne kurzweg in Arabien die der Dienerin zum Herrn
sei, ganz besonders im Norden, Nordwesten und Centrum
der Halbinsel. Der alttestamentliche Semitismus kannte es
nicht anders, obwohl Beispiele von Frauenherrschaft auch
den Arabern nicht gefehlt haben: so die Königin der Sabäer,
ferner die Bilkis der himjaritischen Fürstenreihe und andere
später, so in unserm Jahrhundert Ghalije, die Führerin der
Begum-Araber in Taraba südlich von Mekka gegen die
Tnrko-Aegypter.
Was aber jenes dienende Verhältniß betrifft, so erzählt
Niebnhr, daß die Beduinenweiber auf der Grenze von
Jemen und Hedfchas die Scheikhs mit vieler Ehrerbietung
auf den Arm und diese jenen das Kopftuch küßten. In
Loheia wollte eine arme Frau dem mit Niebuhr promeni-
renden Scheikh el Beled, Bürgermeister übersetzt es Niebuhr,
sogar die Füße küssen, wcks der galante Araber nicht gestat-
tete, indem er ihr dagegen das Knie zum Kusse hinhielt.
Die Beduinen, sagt Bnrckhardt, sind eifersüchtig auf ihre
Weiber, verwehren ihnen jedoch nicht mit Fremden zu lachen
der Frauen im heutigen Arabien.
und zu sprechen. Im Allgemeinen aber sind die Frauen
der nördlichen Stämme gegen den Fremden schweigsam.
Es ereignet sich kaum, daß ein Beduine sein Weib schlägt,
und wenn dies geschehen sollte, so fehlt es nicht an den ver-
nünftigen Vorstellungen eines Wasi (siehe den frühern Auf-
fatz über die Araber). Im Falle der Plünderung eines
Lagers wird das weibliche Geschlecht selbst von den erbittert-
sten Feinden geschont, jedenfalls seine Ehre nie verletzt. Falls
die Sieger ihnen die Putzartikel und die werthvolleren Klei-
dungsstücke nehmen, legen sie nicht selber Hand an die
Frauen, ja die Wahabi pflegten sich unterdessen mit dem
Gesichte abzuwenden.
Alle Arbeit außer Krieg, Jagd, Pferde- und Kameel-
besorgnng verrichtet im Beduinenlager die Frau
Kochen, Nähen, Wasserholen, Weben, Backen, Buttern,
Mehlmachen u. s. w. Als unverheiratetes Mädchen genießt
sie noch höhere Achtung und mehr Rücksicht als später in
der Ehe. Und doch ist die Pietät des Beduinen gegen seine
Mutter anerkannt rühmenswerth, weniger sein Benehmen
gegen den Vater.
Was die Zeit der jungen Liebe betrifft, so giebt Burck-
Hardt davon ein ansprechendes Bild in der Schilderung eines
der abeudlicheuWechselgesänge erotischenJnhalts, wie
sie unter bald näherndem bald entfernendem Tanze zwischen
den verhüllten Mädchen und den jungen Männern eines
Lagers in der Wüste gehört werden. Die Beduinen sind
vielleicht, sagt der treuherzige Reisende, das einzige Volk des
Morgenlandes, unter welchem es echte Liebhaber im eigent-
lichen Sinne giebt. An die Ehre und Keuschheit des Mäd-
chens dürfe der junge Mann fest glauben, und da seine
eigene gesunde Vorstellungskraft nicht mit krankhafter Em-
psindsamkeit genährt oder mit schlechten Bildern erfüllt sei,
so habe das Verhältniß den Reiz der Unschuld und der Kraft.
Die Ehefchließungsformen sind zum Theil recht in-
terefsant, z. B. symbolisch den Raub der Braut darstellend,
zumeist aber ist die Hochzeit ein schlichtes Freudenfest, das
reichliche Gelegenheit zur Bewährung gastlichen Sinnes bie-
tet, wie bei uns. Eine religiöse Intervention irgend welcher
Art findet nicht statt, nicht einmal als Civilehe läßt sich der
Eheschluß bezeichnen, lediglich ein Familienfest soll er sein,
vielleicht die natürlichste und deshalb richtigste Ansicht dar-
über. Daß die Werbung eine Art Kauf involvirt, darf uns
heutzutage wohl nicht mehr auffallen.
Fast durchaus begnügt der echte Araber sich mit einer
Frau, neben welcher allerdings Sklavinnen, aber keine
schwarzen, die der Nationalaraber nicht leicht aufsucht, zeit-
weise sich in den Besitz des Mannes theilen. Leider ist der
Sklavenhandel noch immer das heimliche Geschäft einzelner
Kaufleute in Oman, ja selbst das „heilige" Mekka sieht der-
gleichen unter den Augen der osmanischen Gewalthaber.
Die Erbfähigkeit der Frauen hat Mohammed selber ge-
sichert. Wenig günstig sprechen für die Araber die leicht-
fertigen Ehescheidungen, wohl eher eine Folge des un-
ruhigen Temperamentes der Wüstensöhne als ein Beweis
von mangelndem Gefühl. Von richtiger Einsicht zeugt aber
auch hierin, wie in anderen Dingen, das Auftreten der gro-
ßeu Wahabifürsteu, welche der Scheidungslust unter ihren
Arabern sehr energische Riegel vorschoben. Diese Wahabi
verdienen indeß eine eigene Behandlung, die ich mir sür eine
andere Gelegenheit vorbehalte.
Aus allen Erdtheilen. 303
Aus allen
L. Agassi; im Stillen Weltmeere.
Am I. September 1872 hat der Dampfer „Haßler" den
Hafen von San Francisco erreicht und damit ist die Expedition,
fo weit sie Agaffiz und die übrigen Naturforscher betrifft, zu
Ende. Die Ergebnisse sind für die Wissenschaft von ganz her-
vorragender Bedeutung. Agassi; und der ausgezeichnete Jchthyo-
log Dr. Franz Steindächner aus Wien sind noch einige Zeit
in Californien geblieben, um dort Forschungen anzustellen. Der
„Haßler" hat nicht weniger als 3500 Gallonen Alkohol zur
Aufbewahrung der Thiere zc. verbraucht; die Zahl der Fifche,
welche gesammelt wurden, stellt sich auf etwa 30,000; unter
denselben befinden sich sehr viele ganz neue Arten. Im Ganzen
wird die Ausbeute an Thieren aller Art etwa 100,000 Speci-
mina betragen. Von großer Wichtigkeit sind auch die geolo-
gischen Forschungen in der südlichen gemäßigten Zone, in
welcher Agafsiz Gletscherflächen nachweist, die älter sind als
unsere gegenwärtige Gletscherperiode.
Gletscherspuren in Chile. Unterm 29. Juli schrieb er,
vor der Küste von Guatemala, an Professor Benjamin Peirce,
den Vorstand der Coast Survey in Washington, daß er in
Chile, während seiner Landreise von Talcahuano nach San-
tiago, interessante Beobachtungen angestellt habe.' Er fand ein
großes Thal, das einst ganz mit Eis ausgefüllt war.
„Das breite Thal von Chillan liegt zwischen denAndes
und der Küstenkette und reicht vom Golfe von Ancud oder
Puerto Montt um Süden bis Santiago und noch weiter nach
Norden. Dasselbe ist eine allerdings höher liegende Fortsetzung
der Meerescanäle, welche von der Magellansstraße an nach Nor-
den hin bis zur Insel Chiloe die Eilande vom Festlande tren-
nen; nur bei Tres Montes findet eine Unterbrechung statt.
Diese giebt den Schlüssel für das Ganze, denn wir haben hier
in Miniatur ein Thal zwischen den Andes und der Küstenkette.
Nun ist das große Thal, welches sich über mehr als 25 Breiten-
grade erstreckt, ein ununterbrochener Gletscherboden, und
es ist deutlich zu erkennen, daß in dem Thale und zwar in des-
sen ganzer Länge, die große südliche Eisfläche sich nach Norden
hingeschoben hat. Nirgends konnte ich auch nur ein Anzeichen
dasür finden, daß etwa von den Andes herabkommende Glet-
scher dieses Thal durchkreuzt und die Küste des Großen Oceans
erreicht hätten. Nur an sehr wenigen Stellen bemerkte ich andi-
nische, d. h. vulcanische erratische Gesteine auf dem losen Ma-
terial, welches den alten Gletscherboden ausfüllt. Zwischen Cur-
rillo und Santiago, der Tenonschlucht gegenüber, sah ich indeß
zwei besondere Seitenmoränen, die parallel mit einander lausen;
sie bestehen vorzugsweise aus vulcanischen Blöcken, die auf dem
alten Drift liegen, und sie zeigen durch ihre Lage den Lauf
eines großen Gletfchers an, der einst von den Andes von Tenon
herabkam und das Hauptthal durchsetzte, ohne jedoch über den
östlichen Abhang der Küstenkette hinauszukommen. Diese Mo-
ränen sind so scharf markirt, daß man sie im Lande als Cer-
rillos de Tenon bezeichnet, aber Niemand ahnt, daß sie von
Gletschern herrühren, selbst die Geologen in Santiago nahmen
für sie einen vulcanischen Ursprung an.
Schwer zu beschreiben sind die successiv zurückweichenden
Stufen dieses großen Eisfeldes, das so zu sagen Schritt nach
Schritt nach Norden hin größere oder kleinere Spuren des Tha-
les frei von Eis ließ, fo daß große Eisseen sich bilden konnten,
welche an dem zurückweichenden Rande des großen südlichen
Gletschers immer vorhanden gewesen zu sein scheinen. Die na-
türliche Folge ist, daß sich überall geschichtete Terrassen finden
ohne Nandbarrieren, denn diese wurden früher von dem Eise
gebildet, das dann verschwand."
Ueber die Galapagos-Jnseln bemerkt Agafsiz, daß sie
E r d t h e i l e n.
ihm in geologischer und zoologischer Hinsicht großes Interesse
dargeboten haben. Es mache einen merkwürdigen Eindruck, zu
sehen, daß eine ausgedehnte Eilandgruppe neuesten Ursprungs
von Geschöpfen bewohnt sei, welche von denen aller anderen
Erdgegenden so ganz verschieden seien. Hier haben wir, fagt
er, eine bestimmte Grenze für die Länge der Zeit, welche für
die Transformation dieser Thiere eingeräumt und gestattet
werden kann, — angenommen, daß überhaupt dieselben auf
irgend eine Weise von anderen abzuleiten seien, die in verschie-
denen Theilen der Erde vorkommen. Die Galapagos sind so
neu, daß einige dieser Inseln kaum erst eine dürftige Vegeta-
tion haben; einige Theile ihrer Oberfläche sind ganz und gar
nackt und kahl und sehr viele Krater und Lavaströme so frifch, daß
die atmosphärischen Einwirkungen noch gar keinen Eindruck auf
sie gemacht haben. Ihr Alter reicht demnach nicht in die älte-
ren geologischen Perioden zurück, sie gehören, geologisch genom-
men, unserer Epoche an. Woher kommen nun die Pflan-
zen und Thiere dieser Inseln? Wenn sie von irgend
einem andern Typus abstammen, der irgend einem benachbarten
Lande angehört, dann sind für die Transformation der Species
nicht so unaussprechlich lange Perioden erforderlich wie die Heu-
tigen Fürsprecher der Umwandlung annehmen, und das My-
sterium der Veränderung, mit so scharf gezeichneten und charak-
teristischen Unterschieden zwischen vorhandenen Arten, wird nur
noch größer und wird auf gleiche Linie mit dem Geheimnisse
der Schöpfung selbst gestellt. Sind jene Pflanzen und Thiere
auf den Galapagos aber autochthon — aus welchen Keimen
hervor traten sie dann ins Dasein?
„Ich bin der Ansicht, daß gewissenhafte Beobachter in Hin-
blick auf diese Thatsachen zugeben müssen, unsere Wissenschaft
fei noch nicht reif, über den Ursprung organisirter Geschöpfe ein
bestimmtes Urtheil abzugeben."
Aus Nordamerika.
Mit vollem Rechte bezeichnet man die politische Wirtschaft
der radical-republikanischen Partei als ein Regiment der Unter-
fchleife und des Betruges. Abgesehen von Anderm, ist durch
Karl Schurz eine Summe von Infamien der ärgsten Art an
das Tageslicht gebracht worden; aber erst spät haben sich die
„Liberal-Republikaner" als eine „Partei der ehrlichen Leute"
constituirt und „Grant's Schandwirthschaft" den Absagebrief ge-
schrieben. In welcher Weise die Südstaaten durch dieselbe ge-
litten haben — von der Militärdiktatur ganz abgesehen —
ergiebt sich aus folgenden amtlichen Mittheilungen:
Nord-Carolina. Schuld in 1861 12,689,245 Dollars,
in 1871 34,887,464 D., also eine Vermehrung von 22,198,219 D.
Der Conrs der Obligationen, in Currency 10 bis 30 Cents
per Dollar nominell. Locale Abgaben in 1861 1,200,000 D.,
in 1871 2,700,000 D. Abnahme der cultivirten Ländereien —
ein Drittel; Rückgang im Werthe der Farmen von 139,000,000
auf 45,000,000 D.
Florida. Schuld in 1861 307,617 D., in 1871 15,797,587
D. Durchschnittliche Staatsumlagen vor dem Kriege — jährlich
83,000 D., in 1871 471,811 D.; die localen Abgaben stiegen von
23 Cents auf 100 D. in 1861 zu 1,50 D. auf'l00 D. in 1870.
Georgia. Schuld in 1861 2,670,750 D., in 1871 —
kein Menfch weiß oder hat eine Vermuthung, wie groß sie ist;
Bnllock und seine Verbündeten sind verschwunden und man weiß
kaum annähernd, wie viel Bonds sie mitgenommen. Die be-
kannten Verbindlichkeiten betragen 20,000,000 D.
Alabama. Schuld in 1861 7,945,000 D., in 1871
36,761,917 D., mit einer weitern Belastung für Eifenbahnobli-
gationen zum Betrage von 16,000,000 D.
304
Aus allen Erdth eilen.
Mississippi. Kosten der Staatsregierung in 1860 jähr-
lich etwa 330,000 5D., in 1870 über 2,000,000 D. Die Local-
abgaben betrugen in 1860 954,806 D., in 1870 über 2,000,000 D.
Texas. Schuld in 1861 2,000,000 D., in 1871 14,930,000
D. Steuern für die Staatsverwaltung in 1860 bis 1861 250,000
D., in 1870 bis 1871 über 1,876,437 D. Steuerrate in 1860
16%' Cents für 100 D., in 1871 beiläufig 1,40 D.
Arkansas. Schuld in 1860 2,084,179 D., in 1871
7,998,000 D. mit weiteren 11,000,000 D. für Eisenbahnen.
Die Steuerrate ist gestiegen in derselben Zeit von 40 Cents zu
3 D. von 100 D.
Dabei ist zu bemerken, daß diese Schuldvermehrung erst
seit Beendigung des Krieges, d. i. seit 1865 oder 1866, statt-
gefunden, daß in keinem der genannten Staaten irgend eine
dauernde Verbesserung aufzuweisen ist, für welche die dadurch
erlangten Gelder verwendet worden wären, daß im Gegentheil
die gesammte Administration dieser Gemeinwesen höchst Mangel-
hast geführt wird und daß die Regierungen derselben ihrer
Hauptaufgabe, Leben und Eigenthum ihrer Bürger zu beschützen,
auch nicht annähernd nachgekommen sind — kurz, daß der weit-
aus größte Theil dieser an 200,000,000 Dollars betragenden
Schuld verschleudert und gestohlen wurde. Ferner, daß die Herr-
schende Partei für diesen Stand der Dinge und zwar mit Recht
im vollen Umfange verantwortlich gehalten werden muß; denn
sie war es, welche durch willkürliche Einmischungen den süd-
lichen Staaten die Carpetbagger-Regierungen aufhalste, sie war
es, die durch Anwendung des Einflusses der Nationalregierung
die Carpetbaggers im Besitze der Macht erhielt und jede An-
strengung der Bürger, ihrem Unfug zu steuern oder sich davon
zu befreien, vereitelte. Die Vampyre, welche dem füdlichen
Volke das Lebensblut aussogen, erscheinen daher in den Augen
desselben als die Agenten der Nationalregierung, und alle Ver-
brechen, deren sie sich schuldig machen, erscheinen im Auftrage
derselben ausgeführt.
— In Nordamerika wird in serviler Schmeichelei gegen
den Militärdictator Grant das Mögliche geleistet. Ein Geistli-
cher in Utica (Staat Neuyork), Namens Fowler, hat eine Pre-
digt in Gegenwart Grant's gehalten, in welcher er den Bibeltext:
„Ehret den König" zu Grunde legte; der „Utica Herald" hat
dieselbe abgedruckt. Der Reverend sagte unter Anderm: „Wer
Grant nicht hochachtet, dem fehlen alle besseren Gefühle der
Menschheit. Als Menfch ist Grant schlicht und er ist auch ehr-
lich; er ist mit einer ganzen Welt häuslicher Zärtlichkeit und
Liebe ausgestattet, und was seinen individuellen Charakter an-
belangt, so rangirt er in der That neben — Königin Victoria
von Großbritannien."
— Die Neger sind, politisch genommen, in der einst rühm-
reichen Republik Washingtons Herren, denn da auch diese Halb-
barbaren das Stimmrecht haben, so geben sie mit ihren 800,000
Stimmen auch bei der Präsidentenwahl den Ausschlag. Uns
wird geradezu unwohl, wenn wir in amerikanischen Blättern
lesen, wie die Parteien um die Stimmen der Nigger buhlen und
wie namentlich die Werkzeuge des Präsidenten Grant mit den
„farbigen Brüdern und Mitbürgern" in der allerverächtlichsten
Weise kokettiren. In den meisten südlichen Staaten führen die
Neger das Regiment und haben die wichtigsten Aemter inne.
Mississippi z. B. hat als Staatssecretär einen schwarzen Mann,
der bis vor wenigen Jahren Prediger war, es jedoch vortheil-
hast fand, die Kanzel aufzugeben, obwohl er für ein großes
Kirchenlicht galt. Im August wurde er verhaftet, weil er gegen
ein kleines Mädchen ein nicht näher zu bezeichnendes Verbrechen
begangen hat. Zu Richmond in Virginien machte sich neu-
lich ein schwarzer Mann das Vergnügen, einen deutschen Mann,
welcher ein Hoch für den Präsidentschaftscandidaten Greeley
ausgebracht hatte, auf dem Flecke todtzufchießen! Man wird
ihm darüber nichts zu Leide thun. Präsident Grant hat be-
kanntlich den „reorganisirten" Südstaaten als Beamte eine Menge
von nichtswürdigen Abenteurern aus dem Norden ausgezwun-
gen, zumeist anrüchige Advocaten, die mit weiter nichts als
einer Reisetasche (Carpetbag) ankamen. Sie sind die Werkzeuge
seines Despotismus. Durch Betrügereien aller Art zeichnete
sich insbesondere ein gewisser Bullock aus, der dem unglücklichen
Staate Georgia als Gouverneur aufgezwungen worden war. Er
ist, als er einer langen Reihe von Verbrechen angeklagt wurde,
entflohen. In den letzten zwölf Monaten seiner Verwaltung
hatte er 23 Zuchthaussträflinge, zumeist Räuber und Mörder,
auf freien Fuß gesetzt; er begnadigte sie ihrer politischen Gesin-
nungstüchtigkeit wegen. Ein in Savannah erscheinendes Blatt
meldet nun, daß von diesen begnadigten Grant-Anhängern am
1. August bereits wieder neunzehn wegen begangener Frevel-
thaten (Straßenraub und Mord) ins Zuchthaus gewandert seien!
* * #
— Auf denFidschi-Jnseln ist ein deutsches Consulat
errichtet worden.
— Die Volkszählung in Griechenland, welche am
2. Mai 1870 stattfand, hat für das Königreich Hellas 1,457,894
Seelen ergeben. Die „Zeitschrift für Erdkunde" giebt Einzeln-
heiten. Völlig zutreffend können die Ziffern fchon deshalb nicht
sein, weil in manchen Gegenden, insbesondere in den nördlichen,
unter den Halbbarbaren eine Aufnahme mit Genauigkeit nicht
durchzuführen war. Für 1860 wurden 1,096,810 Seelen an-
genommen, seitdem wurden die ionischen Inseln mit 232,221
Seelen dem Königreiche einverleibt; die Zunahme in den alten
Provinzen hat 128,863 Köpse betragen. Auf Zante und Leu-
cadia hat die Volksmenge sich vermindert und auf den ionischen
Inseln überhaupt nur eine geringe Zunahme erfahren. Zurück-
gegangen ist sie auf mehreren Inseln des Archipelagus, z. B.
Hydra, Santorin, Andros, Amorgos, Kydnos, Keos :c.; diese
haben ein Zwölftel bis Sechszehntel ihrer Volksmengen einge-
büßt, trotz des 'gesunden Klimas; die Auswanderung nach den
größeren Handelsstädten ist die Ursache der Abnahme; Syra
z. B. hat um 7000 Seelen zugenommen, auch Naxos, die größte
der Kykladen, ist angewachsen. Aus Achaja und Elis entfallen
149,561 Köpfe, auf Attila und Böotien 136,804, auf Arka-
dien 131,740, auf die Insel Euböa 82,547. Athen hatte
48,107 Köpfe gegen 43,371 in 1861; auf Patras entfielen
26,190, Hermupolis auf Syra 21,996, auf Pyräus 11,047
Seelen.
— Man hat die Volksmenge von Paraguay vor 1865
auf etwa 700,000 Köpfe angenommen. Dieselbe ist aber durch
den langen Krieg um zwei Drittel vermindert worden. Eine
Zählung hat ergeben, daß in dieser „Republik" 1872 nur 231,196
Menschen wohnten; davon waren etwa 196,000 im Jnlande ge-
boren, 35,196 waren Ausländer. Die Eingeborenen sind zu
vier Fünfteln Guarani-Indianer und Mischlinge. — Zum
Herbst erwartete man in Asuncion etwa 1000 Einwanderer aus
England.
— In Japan ist durch ein Regierungsdecret bekannt ge-
macht worden, daß sortan den Priestern erlaubt sei zu essen,
was ihnen beliebe; das Verbot, gewisse unschädliche Speisen zu
genießen, sei widersinnig. — Die Bibliothek des Taikuns,
welche in 'Zeddo steht und weit über 100,000 Bände zählt, ist
für den allgemeinen Gebrauch eröffnet worden. — In Kioto,
der frühern Residenz des Mikado, erscheint nun auch eine Zeitung
in japanischer Sprache.
Inhalt: Am Südgestade der Krim. (Mit vier Abbildungen.) — Das römisch-germanische Museum in Mainz. IV.
(Mit zwölf Abbildungen.) — Die neuesten Vorgänge in Peru. — Zur Charakteristik der Frauen im heutigen Arabien. Von
Dr. A. Zehme in Frankfurt a/O. — Aus allen Erdtheilen: L. Agassiz im Stillen Weltmeere. — Aus Nordamerika. —
Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Mit besonderer ZerücksicktiZung äer Antkropologie unä Gtknologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
3?»vem^er Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1812.
Im Lande der nördlichen Laos.
i.
Die gegenwärtige Stellung und Rivalität der europäischen Handelsmächte in den hinterindischen Reichen. — Jrawaddy und Mekhong. —
Luang Prabang, der König und sein Hof. — Märkte und Münzen. — Festlichkeiten bei Nachtzeit. — Die Tättowirung der
Schwarzbäuche.— Die Benennungen der Völkerstämme im nördlichen Siam und der Region zwischen Birma und Westchina.— Der
Höhlentempel von Pak hu.
Die Reiche und Landschaften Hinterindiens haben in un-
seren Tagen eine größere Bedeutung gewonnen als je zuvor;
sie sind heute allesammt mehr oder weniger dem Einflüsse
der europäischen Handelsvölker unterworfen und empfinden
die Macht und Gewalt, welche unsere mit so reichen Mit-
teln ausgestattete Civilifation auch bei ihnen ausübt. Die
Engländer haben dem Kaiser von Birma erst das ganze
Küstengebiet am Bengalischen Meerbusen aberobert und nach-
her ihm das ganze Land Pegu, also das ganze Mündungs-
gebiet des Jrawaddy und des Saluen, weggenommen; da-
durch sind sie Herren der wichtigen Reishäfen von Malmän,
Bassein und Ranguhn geworden. Siam ist bis jetzt von
den Europäern unbehelligt geblieben; es gestattet denselben
willig Zugang und findet es angemessen, seinen Vortheil
in der Ausdehnung des Handelsverkehrs zu suchen. Gegen
Annam brach Napoleon der Dritte in geradezu frevelhafter
Weise einen Krieg vom Zaune, raubte ihm das Land aus
beiden Seiten des Mekhong und zwang außerdem dem Kö-
nige von Kambodscha, welcher bis dahin in einem Tribut-
Verhältnisse zu Siam gestanden hatte, sein Protectorat aus.
Mit elsersüchtigem Blicke sahen die Franzosen, obwohl
ihr Handel in ganz Ostasien sehr wenig bedeutet, daß die
Engländer ihre commerciellen Verbindungen immer weiter
ausdehnten sowohl in Siam wie in Birma. In dem letz-
Globus XXII. Nr. 20. (November 1872.)
tern eröffneten sie sich den Jrawaddy, welcher von den Strö-
men Hinterindiens der praktikabelste ist. Man gelangt auf
ihm mit Dampfern bis Bhamo, also in die Nähe der süd-
westchinesischen Provinz Wnnan, und von dort aus wurde
früher ein lebhafter Karawanenhandel mit Birma unterhal-
ten. Seitdem jedoch die mohammedanischen Panthays sich
gegen die Mandarinenregierung des Pekinger Kaisers er-
hoben und ein selbständiges Reich unter ihrem Sultan So-
liman gegründet haben, ist dieser Verkehr unterbrochen wor-
den, und der Krieg zwischen den* beiden Theilen hat seit einer
Reihe von Jahren ununterbrochen seinen Fortgang. Eben
jetzt, im Herbst 1872, haben die Panthays eine Gesandt-
schast nach London geschickt, welche sich um die Freundschaft
Englands bewerben soll. Der Sultan verspricht ausge-
dehnte Privilegien für europäische Kaufleute und will seiner-
seits Alles aufbieten, um die alte Handelsstraße wieder in
Aufschwung zu bringen. Damit hat es freilich unter den
obwaltenden Umständen vorerst gute Wege, aber so viel ist
sicher, daß man von Seiten Englands nichts versäumen wird,
jene Verkehrsbahn zu eröffnen, sobald die Verhältnisse sich
irgend günstig gestalten.
Die Franzosen ihrerseits hätten von ihrem Cochinchina
sich gleichfalls gern einen Wasserweg nach dem südwestlichen
China eröffnet, und sie beauftragten Lagrse mit der Erfor-
39
306
Im Lande der nördlichen Laos.
Abendfest in Luang Prabang.
Im Lande der nördlichen Laos.
307
schung des Mekhong, der aus dem Blumenreiche der Mitte,
wo er als Lau tsang kiang bezeichnet wird, in südöstlicher
Richtung herabströmt. Die Expedition überzeugte sich, daß
dieser Strom als Wasserstraße unbrauchbar sei, in Bezug
aus Völkerkunde, Geographie, Geologie und Botanik hat sie
indeß werthvolle Ergebnisse geliefert. Wir haben in den
letzten Jahrgängen des „Globus" manche Schilderungen mit-
getheilt, welche von einzelnen Mitgliedern veröffentlicht wor-
den sind. Im Mai 1867 war die Expedition in Luang
Prabang, im Lande der nördlichen Laos, bis wohin 1862
schon Monhot aus Mümpelgart von Siam aus, also in
nordöstlicher Richtung, gekommen war; er erlag in der Nähe
dieser Stadt einein bösartigen Fieber. Bis dahin war also
das Land nicht mehr unbekannt, über das jedoch, was weiter
nördlich lag, hatten wir vor Lagrse's Reise keine Kunde.
Das weite Gebiet im Osten von Birma und im Norden
Siams wird von der Volksgruppe der Laos bewohnt und
steht unter einer Anzahl von einheimischen Fürsten, welche
Vasallen theils des einen, theils des andern der beiden Groß-
nachbarreiche sind. In Luang Prabang, das nach Heinrich
Kiepert's Karte zu Adolf Bastian's Reise iu Ostasien etwas
südlich von 190 N. liegt, ist der Laoskönig vom siamesischen
Herrscher abhängig, und dieser respectirte die Pässe, welche
die Expedition vom Hofe zu Bangkok erhalten hatte, obwohl
er anfangs sich ziemlich ablehnend verhielt. Er konnte jedoch
nicht umhin, die Europäer zu empfangen, und das Cere-
moniel wurde dahin vereinbart, daß er beim Eintreten der-
selben aufstehen solle, die Fremden während der Audienz auf
Stühlen sitzen dürfen.
In der Umgegend der Stadt sind viele zum Theil schon
in Trümmer zerfallene Pagoden zerstreut, sodann Gräber
und Pyramiden. Manche Tempel waren jedoch im besten Zu-
stände. Delaporte, der sich viel in ihnen aufhielt, zeichnete
Kanzeln, Bänke der Priester, Weihrauchfässer und andere
Gegenstände, welche auf den buddhistischen Cultus Bezug
haben; die vielen Holzschnitzereien schildert er als durchaus
geschmackvoll und wunderbar fein gearbeitet. Alles erin-
nerte ihn an die katholischen Kirchen und deren Ausschmückung.
Commaudaut Lagrse kam durch Vermitteluug eines Prin-
zen nach und nach in gutes Einvernehmen mit den meisten
Angehörigen der Familie des Königs und durfte die Mutter
des letztern besuchen, eine Frau, die nahe an hundert Jahre
alt zu sein schien, und welcher eine Brille ein sehr Werth-
volles Geschenk dünkte. Der König selbst spannte auch an-
dere Saiten aus und gab den Europäern einen speciellen Reise-
paß für fein ganzes Gebiet; alle Unterhäuptlinge wurden
angewiesen, sich den Reisenden willfährig zu erweisen. Die
Grenzgebiete, welche von denselben passirt werden mußten,
Münzen in Siam und Laos.
1 Eiserne Münze in länglich viereckiger Rautenform, in Stung Treng gebräuchlich,
und dessen Unterabtheilungen. — 3 Lais aus Kupfer, in Bassac und Ubong. — 4
Prabang. — 5 Silberbarren, im birmanischen Laos.
— 2 Siamesischer Tikal
Kauristrang, in Luang
waren sehr unsicher. Seit dem Aufstande der Mohamme-
daner in Pünnan waren manche Laosfürsten in den Gebie-
ten zwischen Birma, Siam und China mit einander in Krieg
gerathen; Räuberbanden durchzogen das Land, das strecken-
weis völlig verwüstet war. Der König von Luang Pra-
bang hatte seinerseits diese Verwirrung benutzt, um seit Iah-
ren keinen Tribut mehr an China zu zahlen.
Die Expedition konnte auf drei verschiedenen Wegen nach
China gelangen: auf dem Mekhong und durch ein Gebiet,
das noch vor Kurzem Siam und Birma einander streitig
gemacht hatten. Aber die Europäer hatten keine birmani-
schen Pässe; — auf directem Wege, wenn sie dem Laufe des
Nam hu folgten, der von Westen her in den Mekhong mün-
det; — oder in nordöstlicher Richtung durch eine Zone,
welche von Mischlingsstämmen zwischen Tong king und China
bewohnt wird. Auf diesem Wege wären sie dann nicht nach
Aünnan gekommen, sondern in die Provinz Knang si. Da
sie aber die Aufgabe hatten, den Lauf des Mekhong zu erfor-
schen, so waren sie an diesen Weg gebunden.
Der Aufenthalt in Luang Prabang gestaltete sich bald
ganz angenehm. Die Europäer erhielten in höchst zwang-
loser Weise täglich Besuch von Prinzessinnen und Manda-
rinensraueu; diese kamen um so lieber, da man ihnen Par-
füms und wohlriechende Seife schenkte; sie meinten, durch den
Schaum der letztern würde ihre Haut allmälig weiß werden.
Täglich wird zwei Mal Markt gehalten, Morgens und
Abends. Aus dem letztern kommen nur Eßwaaren und Bln-
men zum Verkauf, auf dem erstern dagegen Baumwollen-
stoffe, Seidenzeuge, Metallwaaren, Töpfergeschirr, Kästen
und Koffer, Fische, lebendiges Geflügel, Fleisch :c., und es
geht sehr lebhaft her. Der König läßt an jedem Tage von
jedem Stande oder jeder Bude eine kleine Abgabe erheben.
Als Taufch- und Umlaufsmittel bei Kleinverkäufen hat man
Stränge der Kaurimuschel, welche als Scheidemünze anch
jetzt noch eine so weite Verbreitung hat. Sie war früher
auch auf den Sundainfeln, in Bangkok, in manchen Theilen
Indiens allgemein im Gebrauch und spielt in vielen Gegen-
den Afrikas eine wichtige Rolle. Diese sogenannte Porcel-
lanmnschel, Oypraea moneta, wird in der Mitte durch-
löchert, damit man sie auf einen Faden ziehen kann. Die
arabischen Geographen erwähnen dieser Kanris schon im
zehnten Jahrhundert; Massudi bemerkt in seinen „Goldenen
Wiesen", daß die Königin der Lakkedivischen Inseln kein an-
deres Geld habe. Wenn, sagt er, ihre Schatzkammer leer
ist, müssen ihre Unterthanen Zweige der Kokospalme ins
Meer Wersen; dann kommen die Thiere an die Oberfläche,
man sammelt "sie, legt sie auf den Strand in die Sonne und
dort sterben sie; nachher wäfcht man die Muscheln rein aus
und die Königin hat wieder Geld. — Daß die Kanris in In-
dien im vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung Umlaufs-
36 *
Im Lande der
mittel waren, wissen wir aus dem Berichte des chinesischen
Reisenden Fa hien. Als zu Ende des siebenzehnten Jahr-
Hunderts LaLonböre in Siam war, galten dort 6400 Kau-
ris so viel wie ein Silbertikal; sie wurden damals in gro-
ßer Menge bei den Malediven, bei Borneo und den Philip-
pinen gefangen und von den Schiffen als Ballast eingcnom-
men. Paillegoix, dessen Werk über Siam vor einem Vier-
teljahrhundert erschien, bemerkt, daß in Bangkok 2200 Kau-
ris so viel galten, wie ein Fuaug; dieser ist ein Achtel des
Tikal. In Hinterindien sind die Kanris da, wo durch die
Europäer im Handelsverkehr manche Umgestaltungen statt-
gefunden haben, nach und nach verdrängt worden, aber im
Innern blieben sie im Umlaufe. In Luang Prabang hat
ein Strang 100 Muscheln, und man giebt 22 bis 26 sol-
cher Stränge für eiueu Tikal; demnach gilt die einzelne Mu-
schel etwa so viel wie eine Achtel Centime. Neben dem sia-
mesischen Tikal cnrsirt auch die englische Rupie (20 Gro-
scheu), welche eben so viel gilt wie der Tikal, der doch
3 Francs, also 24 Groschen, Werth ist. Der Grund liegt
darin, daß die Rupie mit ihrem Gepräge nicht so leicht Fäl-
schnngen ausgesetzt ist wie der Tikal. Auch mezicanische
Dollars sind im Umlaufe, kommen aber nicht häufig vor;
sie gelten auf dem Markte 50 Stränge.
Der Eintritt der Regenzeit wird einige Zeit vorher durch
Sturmgewitter verkündigt, die dann nnd wann in den Nach-
Mittagsstunden mit großer Heftigkeit auftreten; dabei stieg
die Hitze bis zu 35° C. Man schmachtete nach den nicht
so drückend heißen Abendstunden, und wenn der Mond am
Himmel stand, zogen fröhliche Menschen in Gruppen um-
her. Fast die ganze Einwohnerschaft war bis spät in der
Nacht in Bewegung; die jungen Leute saugen und tanzten
unter den Palmen und in den Straßen, die Alten saßen
vor den Hansthüren. Jene hatten sich mit Blumen ge-
schmückt; ihre Bewegungen waren rasch, leicht uud aumuthig,
und beim Gesänge wurde der Takt richtig eingehalten. Be-
merkenswerth war ein Auszug alter Frauen; sie schrien laut
in einer keineswegs melodischen Weise und gingen hinter
einer Pyramide her, die aus Früchten, Kuchen und Fleisch
aufgebaut worden war. Dieselbe war als Opfergabe für
eine Pagode bestimmt, und man verfertigt solche Gaben auch
in der Gestalt einer Barke, einer Pagode selbst und in an-
deren phantastischen Formen. Die Bonzen machen überall
gute Geschäfte; die Gebete, womit sie die Darbringenden
beglücken, kosten sie ja weiter nichts und sind durch mecha-
nische Bewegungen der Lippen abgemacht.
Die vornehmen Leute laden für den Abend Freunde und
Bekannte ein und veranstalten nächtliche Feste, bei denen
es munter hergeht. Die Europäer nahmen mehrmals Theil,
und Herr Delaporte entwarf als Augenzeuge eine Zeichnung,
nach welcher unsere Illustration geschnitten worden ist. Ne=
ben dem Empfangssaale saßen unter und vor einem großen
Schuppen etwa zwanzig junge Mädchen; neben ihnen lagen
Blumen, Obst, Früchte, Gebäck verschiedener Art ans gro-
ßen lackirten Schüsseln. Plötzlich erschienen junge Männer,
die verlarvt waren und die Masken nicht eher abnahmen,
als bis eines von den Mädchen sich neben ihnen niedergesetzt
hatte. Leider hat das schöne Geschlecht in Luang Prabang
durchgängig einen Kropf, der manchmal eine beträchtliche
Größe erreicht. Wahrscheinlich liegt auch dort die Ursache
dieses lästigen Auswuchses in dem Genüsse des Wassers,
welches aus den Kalksteinbergen herabfließt.
„In Luang Prabang und der Umgegend wird das
Tättowiren ganz allgemein und zwar in so „excessivem
Verhältnisse", daß die nördlichen Laos von den südlichen
Stämmen als Schwarzbäuche bezeichnet werden. Luang
Prabang bildet die Grenze, welche diese von den Weiß-
nördlichen Laos. 309
bäuchen trennt, den Südlichen, bei welchen der Brauch gar
nicht so allgemein ist. Bei den Nördlichen wird, immer nur
an Leuten männlichen Geschlechtes, das Tättowiren zwischen
dem zwölften und achtzehnten Jahre vorgenommen. Der
ganze Körper wird vom Gürtel bis zu den Knien und noch
weiter nach abwärts mit dunkelvioletten Arabesken bedeckt,
mit welchen Figuren von Blumen und Thieren gemischt sind.
Der Künstler läßt sich sür seine Bemühungen von 5 bis zu
8 Francs zahlen. Er nimmt Schweinsgalle oder auch Fisch-
galle, die er mit einem Ruß mischt, das er von mit Sesamöl
getränkten Lampendochten gewinnt. Dieses Gemisch läßt
er trocknen, und wenn er an die Arbeit geht, verdünnt er
die Masse mit Wasser. Die Operation nimmt er vor
mit einer Nadel, die etwa 60 Centimeter lang nnd am
untern Ende einen Centimeter breit ist; die Spitze ist ge-
spalten, wie jene einer Schreibfeder, und zwar anf eine Länge
von 5 Centimeter. Die Operation ist sehr schmerzhaft und
hat gewöhnlich ein paar Tage Fieber im Gefolge, manchmal
anch Geschwüre, namentlich bei lymphatischen Personen"*).
In Luang Prabang findet man Lente von weit und breit
her, über welche wir durch Garnier manches Nene erfahren.
In ethnischer Beziehung werden die nördlichen Laos als
Thal, Lus oder Schaus bezeichnet. Die Bezeichnung Lao
oder Leo, woraus wir Europäer Laos oder Laotier gemacht
haben, kommt den Bewohnern des ganzen Mekhongthales
von Kambodscha auswärts bis und mit Luang Prabang zu;
— als Thai bezeichnet man alle Bewohner der Vasallen-
königreiche Neng mai und Mnong nan, — als Lus jene
von Tieng houg und Muong kong; diese beiden letzteren
Fürstenthümer liegen weiter nach Norden. Das Wort S ch a n
ist die allgemeine Benennung, welche bei den Birmanen für
die gesammte Laosrace gebraucht wird. Es scheint als
ob die Lus ehemals drei Hauptstaaten gehabt haben, nämlich
Xieng tong, das auf den älteren Karten Kemalatain genannt
wird, und dessen Bewohner auch wohl Muong knn genannt
*) Wir gaben jüngst einige Notizen über den suliotischen Arnau-
ten Konstautinu („Globus" Nr. 13, S. 193), der von Birma
aus sich m>-den nordöstlichen Grenzgebieten herumgetrieben hat und
in die Grenzstreitigkeiten oder inneren Fehden jener Gegend der-
wickelt wurde. Bei einem Stamme, dessen Namen er uns. als
wir ihn befragten und genau untersuchten, nicht anzugeben wußte,
band man ihn, seiner Aussage gemäß, Tag für Tag fest und nahm
die im Text erwähnte Operation, „zur Strafe", wie er meint, an
ihm vor. Er ist vom Kopfe bis zu den Füßen, einzelne Stellen
des Gesichts, z. V. die Nase, ausgenommen, über und über tätto-
wirt, und zwar so kunstreich und künstlich, daß wir uns staunender
Bewunderung nicht erwehren konnten. Ultramarinblau und
Nosenroth sind in ihren verschiedenen Nuancen mit dem feinsten
Kunstverständniß angebracht worden. Wir sagten: „Aus Allem, auch
aus den Schriftlichen in den beiden Handflächen, geht hervor, daß
er irgendwo im nördlichen Hinterindien sich der Operation
hat unterwerfen müssen und sicherlich nicht unter einem Stamme von
Wilden; dagegen würden schon die Buchstaben zeugen, die, so viel
wir unsererseits abnehmen konnten, birmanisch sind." —
Nach den obigen Mittheilungen, die Garnier aus eigener An-
schanung in Luang Prabang giebt, scheint es, als ob unsere Annahme
richtig sei. Konstantinu kam bis ins nördliche Birma; er ging dann
in östlicher Richtung nach China und kam in der südlichen Hasen-
stadt Amoy (Emuy) ans Meer. Auf seinem Wege muß er durch
das Gebiet jener nördlichen Schanvölker gezogen fein, welche zwischen
Birma und dem südwestlichen China und nördlich von denjenigen
Schan- (d. h. Laos-) Staaten, welche Siam unterworfen sind und
deren Nordgrenze (siehe H. Kiepert'« Karte) im Westen des Mekhong
vom 20° N. gebildet wird. Wir haben oben durch Garnier ersah-
ren, daß in Folge des Aufstandes der Panthays in jenen Grenzgegen-
den die kleinen Fürsten mit einander in Fehde liegen, und in eine
derselben wurde Konstantinu verwickelt. In Luang Prabang sind,
wie Garnier sagt, die Tättowirungen dunkelviolett, bei Kon-
stantinu sind sie, wie wir mit eigenen Augen sahen, blau und rosen-
roth; also haben die Laosstämme im birmanischen Gebiete diese letz-
tere Farbengebung. Daß der Suliot bei diesen seinen Hautschmuck
erhielt, unterliegt wohl keinem Zweifel. A.
Das römisch-germani
werden; — sodann Xieng hong, das im Pali als Alevy
bezeichnet wird, und drittens Muong Lem. Diese Staaten
hatten einen langen Kampf zu bestehen gegen die ureingebo-
renenKhas, welche das Reich Momphas gegründet hat-
ten. Diesem waren die Laos lange Zeit tributpflichtig, mach-
ten sich jedoch nach und nach unabhängig; doch gelang es
ihnen nicht, wie ihren südlichen Stammgenossen, jene Urem-
geborenen auszurotten oder in Unterthanenschast zu zwingen,
und so leben denn beide Racen neben einander, bald in gutem
Einvernehmen und bald in Unfrieden.
Die nördlichen Laos sind rühriger und betriebsamer als
jene im Süden. Diese letzteren haben nicht einmal Märkte,
welche im Norden überall gefunden werden. Hier ist das
Land gebirgig, der große Strom weniger schiffbar; man hat
deshalb Straßen gebahnt und benutzt den Ochsen als Last-
thier. Der Laosmann im Norden hat eine stolze Hal-
tung und ein selbstbewußtes Auftreten; die malerische Tätto-
wirung, welche in mancher Hinsicht die Kleidung ersetzt, steht
ihm gut; er trägt aber auch eine zierlich geschmückte Jacke.
Durch seine helle Hautfarbe kann man ihn sofort von den
Birmanen unterscheiden; diese letzteren werden von ihm als
Man bezeichnet und die peguanischen Talains als Meng
oder Bolomeng. Diese letzteren durchziehen als Hausirer
(mit englischen Waaren) weit und breit das Land und be-
suchen auch Luang Prabang.
Wegen der fast unaufhörlichen Fehden und Kriege sind
die nördlichen Laos sehr mißtrauisch gegen Fremde geworden.
Ihr Fleiß ist lobenswerth, man sieht kaum Müßiggänger
und nicht häufig kommen Bettelbonzen vor, die mit dem
Quersack auf dem Rücken als Schnurranten den betrieb-
samen Landmann ausbeuten. In den Dörfern hält man
höchstens zwei Geistliche, hauptsächlich als Schulmeister, aber
in manchen Ortschaften besorgen die Bauern selber den Got-
tesdienst in den Pagoden und halten gar keinen Bonzen.
Leider sind diese Laos leidenschaftlich auf Glücksspiele
>e Museum in Mainz. 311
erpicht; in den Spielhöllen liegen Leute, jeden Alters auf
den schmutzigen Matten, und nicht selten kommt es über
Gewinn oder Verlust zu widerwärtigen Auftritten, nament-
lich auch unter den Weibern. Das Opiumrauchen ist glück-
licherweife nicht allgemein verbreitet.
In der zweiten Hälfte des Mai 1867 rüstete sich die
Expedition zur Weiterreise. Der König erhielt zum Ge-
schenk Waffen, ein Fernrohr, einen Teppich und verschiedene
Zeuge; als Gegengeschenk gab er eine silberne Vase, zwei
Tamtams, vier Säbel, vier Lanzen, einen Wasserkrug und
ein Trinkglas, beide lackirt und in 3£ieng mai verfertigt; so-
dann Früchte und Gebäck in Hülle und Fülle.
Die Expedition war nun schon ein volles Jahr unter-
wegs; von nun an lagen Gegenden vor ihr, durch welche
nie zuvor ein Europäer gewandert war. Ehe sie aufbrach,
besuchte Garnier noch die merkwürdige Grotte von Pak hu
am linken Ufer des Mekhong, der an jener Stelle eine Breite
von etwa 1000 Fuß hat und zwischen steilen Felsenusern
hinströmt. Sie bildet einen Höhlentempel, der ganz und
gar mit einer Menge von Buddhastatuen ausstafsirt ist, so-
dann mit vielerlei Weihegeschenken, Fahnen und Fähnchen;
sie macht den Eindruck einer wilden Großartigkeit, und man
empfindet seltsame Eindrücke, wenn das flackernde Licht der
Fackeln die Stalaktiten und die Standbilder beleuchtet. Vor-
zugsweise sind es Reisende und Schiffer, welche diesen Höh-
lentempel besuchen, um in demselben ihre Andacht zu ver-
richten, und die Priester, welche am entgegengesetzten Ufer
ihre Wohnungen haben, versäumen nie, ihn mit Blumen
auszuschmücken. Bei hohem Wasserstande tritt der Fluß
bis an die Grotte hinan, im Jahre 1856 hat er sogar einen
Theil derselben überschwemmt und man hat den Stand
durch eine Wassermarke bezeichnet. Aus derselben ergiebt
sich, daß er damals eine Höhe von 17^/s Meter über den
niedrigsten Punkt erreicht hatte; durchschnittlich steigt er bei
Hochflnth 10 Meter 70 Centimeter.
Das römisch-germanische Museum in Mainz.
X X Einen besonders reizenden Anblick müssen dieTau-
schirar bei ten gewährt haben, welche hier in weit ansge-
dehnterer Weist, als bei den Ge
wandnadeln angewendet erscheinen.
Sie wurden in zweierlei Weise
angefertigt. Bei der ersten sind
die Fäden von Silber und Gold
nach vorgravirten Ornament-
linien, wie noch jetzt auf unseren
Flintenläufen, eingetrieben. Bei
den anderen ist eine ganze Silber-
platte auf das Eisen befestigt, aus
welcher das Ornament herausge-
schnitten wurde, so daß durch die
Zwischenraum? des glänzenden,
lichten Silbers das dunkele Eisen
hervorleuchtete.
Ungewiß bleibt noch, ob jene
außergewöhnlich großen Schnal-
len, welche unter den zum groß
vielleicht die zahlreichen Zierscheiben gerechnet werden, welche
wohl, ähnlich dem heutigen Gebrauche, als Kopfschmuck der
90mm
Fig. 67 u. 68.
Pferde verwendbar erscheinen (Fig.
69 bis 71). Wir denken an solche
Utensilien, wenn wir bei Sido-
nius Apollinaris lesen, daß bei
dem Aufzuge des Königssohnes
Sigismar dessen eigenes, mit
Schmuckplatten geziertes Pferd ge-
führt wurde. Auch Walthari von
Aquitanien hängt seinem Kampf-
rosse die Zierscheiben um.
An die Gürtel der Frauen
waren Täschchen befestigt, wie sich
aus den noch erhaltenen, theils
einfachen, theils reich verzierten
Bügeln 'erkennen läßt. Sie sind
noch bis ins späte Mittelalter
in dem sogenannten Wetscher
erhalten, mit dem Unterschiede,
ten Theil zierlichen und ziemlich gleichmäßigen liegen, nicht daß dieser am Ende des Kettenwerkes befestigt war, web
eher Theile von Pferderüstung bildeten. Dazu dürsten auch ches hier von der Tasche abwärts läuft und statt des obi
Das römisch-germanische Museum in Mainz.
gen in Münzen, kleineren Zierscheiben, Muscheln n. s. w.
endigt (Fig. 72).
Fingerringe aus Eisen, Bronze, Silber und Gold
kommen häufig vor; sie tragen oft in der Mitte eine Platte
mit eingravirter Verzierung. Diese Platte besteht zuweilen
aus einer GoldmUnze, römischen oder merovingischen Ge-
präges; feine Goldreife sind noch mit einer Zelle Verse-
hen, welche eine Gemme oder einen Edelstein umfaßt.
Fig. 69 bis 71.
Hals- und Armspangen merovingischerZeit sind hier ganz glatt, mit sacettirten Rippen oder eingeschlagenen Kreis-
nur in Metallformen vertreten. Das einfache Bracelet in äugen ist in großer Anzahl vorhanden, während die zwei
Bronze und Silber mit eingesetzten Glasperlen oder auch Halsringe zu den Seltenheiten gehören. Dafür ist der
Fig. 72.
aus Medaillons, Zierplatten und anderen kleinen Stücken
gegliederte Halsschmuck, die Halskette, häusiger zu sehen
und besteht meistens aus Gold mit Purpurglas und feiner
Filigranarbeit. Gregor von Tours be-
richtet uns von einer Truhe angefüllt
mit solchem Halsgeschmeide, welche
sich in der Schatzkammer der Königin
Fredegunde befand (Fig. 73).
Am gewöhnlichsten sind jedoch die
schon oben erwähnten Ketten von far-
bigen Thon- und Millefioriperleu, ver-
mischt mit Bernsteinkugeln.
Unter dieser Classe von Schmuck-
suchen ist noch besonders einer Kugel von Bergkrystall in
kunstvoller Goldfassung zu erwähnen (Fig. 74). Diese Kry-
stallkugeln gehören zu den größten Seltenheiten.
Auch das Grab Childerich's weist eine solche auf, _
und fünf wurden den Köuigsgräbern zu St. Denis
zu den Zeiten ihrer Zerstörung und Plünderung
entnommen. Das seltene Vorkommen dieses
Steines, welcher immer von anderen reichen Bei-
gaben begleitet ist, läßt sowohl auf seine hohe
Werthschätzung im Alterthum als auch aus Rang
und außergewöhnlichen Reichthum des Besitzers
schließen. Ob die Germanen ihn als ein aus-
nahmsweise bedeutendes Exemplar des Diamants,
welchen sie nur dem Namen nach kannten, schätz-
ten, oder ob man. wie Manche glauben, ihm be-
sondere Heilkräfte zuschrieb, bleibt ungewiß. Doch
dürfte die letztere Ansicht mehr Gewicht geivin-
nen, wenn man bedenkt, wie lange noch die An-
schauungsweise der antiken Welt den in Aberglauben besan-
geilen Norden beherrschte. Zählt doch der berühmte Natur-
forscher Pliuius Mineralien auf, deren heilbringende Wirkung
sich auf nicht weniger als 20 verschiedene Arten belaufen, und
von dem Bergkrystall insbesondere lehrt er noch, derselbe
sei aus himmlischer Feuchtigkeit und reinem Schnee erzeugt.
Daß aber unsere Vorfahren an die Kraft der Amulete ge-
glaubt haben, ergiebt sich aus dem Ge-
brauche derselben bis ins Mittelalter
herab. Wie denn im 7. Jahrhundert
der heilige Eligius sich in seinen Pre-
digten gegen die heidnisch-abergläubi-
schen Gebräuche seiner Landsleute und
besonders gegen die Bernsteinketten der
Frauen wendet.
Es würde uns zu weit führen, woll-
ten wir uns hier über alle noch übrigen
Arten von Schmuckgegenständen, Haarnadeln, Ohrringe,
Kämme, Büchschen, Bullen, Schlüsseln, Küchengeräthe,
Pferderüstzeug:c., verbreiten (Fig. 75 bis 79). Alle diese
Gegenstände sind in großer Abwechselung der
Formen und Metalle im römisch-germanischen
Museum versammelt.
Was aber die Gefäße anlangt, so sehen wir
uns hier freilich vergebens auch nur nach einem
einzigen Muster jener oben erwähnten Silber- und
Goldbecken und Schüsseln um. Was die Könige
und Vornehmen von kostbaren Gold- und Silber-
geräthen anfertigen ließen, blieb wohl in ihren
Schatzkammern zurück, oder es wurde, was davon
in ihre Gräber gelangt fein mochte, daraus ent-
wendet. Denn der Grabraub war in jenen
Zeiten nichts Ungewöhnliches. In den Gesetzen
stand hohe Strafe darauf. Dennoch deutet in zahl-
losen, mit größter Sorgfalt aufgedeckten Gräbern
die äußerste Unordnung der Gebeine und sonstigen Ueberreste
auf ein Durchwühlen mit räuberischer Absicht schon in alters-
grauer Zeit. Selbst angesehene und vornehme Männer scheu-
teu vor solchem Frevel nicht zurück, wie uns denn Gregor
Fig.
Das römisch-germanische Museum in Mainz.
313
von Tours mittheilt, daß Herzog Gunthram einer verstorbenen, aus der Gruft entwenden ließ, und Herzog Gisilbert von
reichen Verwandten durch seine Diener das Goldgeschmeide
Verona riihmte sich selbst der Plünderung von Albuin's letzter
Fig. 75 bis 79.
nige von Spanien einen Schild von beträchtlichem Um- jeder Art sind hier ausgestellt und außerdem noch mehr als
fange aus Gold mit Edelsteinen verziert und außerdem „zwei
1000 Stück jeder Gattung in den anstoßenden'Sammlnngen.
große, hölzerne Schalen, die man ge- g2 Unter allen Ueberresten unserer Vor-
wohnlich Bachinon zu nennen pflegt, mit zeit sind sie allein bisher mit stiefmüt-
Gold und edlen Steinen geschmückt". terlicher, strafbarer Vernachlässigung be-
Die Bronzereife und verzierten handelt worden. Dennoch ist ihreWich-
Blechstreifen, welche sich mit Ueber- ^ tigkeit bedeutend, indem sie in ihrem
resten von Holzwerk noch manchmal vor- Entwickelnngsgange von den entlegensten
finden, sind die einzigen Zeugen dieses Zeiten unserer Vorgeschichte uns ein viel
so allgemein geübten Gebrauches. Außer- p mehr sicheres Zeugniß der germanischen
dem kommen uns noch einige wenige in U ' | IDMDM iBp' Eulturbestrebungen gewähren als die mei-
rohester, einfachster Arbeit verfertigte sten Metallarbeiten, welche größtentheils
Schüsseln von Erzblech vor. Die zahl- an ausländischen Ursprung gemahnen,
reichsten, in großer Menge aufgefundenen \ Diese Thongefäße, welche in richtiger
Gefäße der deutschen Stämme bestehen Stufenfolge von den Uranfängen bildne-
aus Thon. / j rischer Thätigkeit eine immer festere Hand
Diese Krüge und Kannen, Ur- und ein feineres Gefühl und richtigeres
nen und Vasen, Becher, Schüsseln, Verständniß für Verhältnisse und Prosili-
Teller und Schalen werden paarweise und auch häufiger
in jedem einzelnen Grabe angetroffen uud ihre Gefammtzahl
ist außerordentlich bedeutend. Die merkwürdigsten Exemplare
rungen neben einfachen, aber richtig angewandten Verziernngs-
formen vorführen und einen sichern Einblick in die Anlagen
unserer Nation gewähren, eröffnen uns zugleich den Zusammen-
Globus XXII. Nr. 20. (November 1872.) . 40
Ruhestätte! Außerdem aber hatte man schon bald angefan-
gen, zu ähnlichen Gefäßen Holz als Material zu benutzen;
ja es war Sitte geworden, sogar Prachtgefäße aus Holz
zu bilden. Die Königin Brunichilde schickte z.B. demKö-
Fig. 80 u. 81.
314 Nachrichten von der schwe!
hang und das Verständniß für die eigenthümliche Ornamentik
der oben vorgeführten Schmuckgegenstände und Geräthe.
Der Ursprung dieser Grabfunde aus der Wanderzeit
war, wie schon erwähnt, lange noch nicht allgemein erkannt,
obwohl man jetzt den deutscheu Stämmen das
Eigenthumsrecht nicht mehr bestreiten kann. Sie
als Erzeugnisse römischer oder byzantinischer Knnstthätigkeit
zu erklären, wurde vielfach versucht. Allein wenn auch bei
Vielem die nächsten Beziehungen zu diesen Stilarten nicht
geleugnet werden können, wenn dem Einfluß des Handels
und laug bewährter Meisterschaft ihr volles Recht zuerkannt
werden muß, so finden sich in der Verzierungsweise die-
ser Grabfunde doch Elemente, welche weder mit römischen,
noch mit orientalisch-byzantinischen, noch etrnskischen Moti-
ven etwas gemein haben. Sogar die begeistertsten Kelto-
manen haben vor den chronologischen AnHaltepunkten dieser
Grabsunde, vor den byzantinischen, fränkischen und angelsäch-
fischen Münzen des 5. bis 7. Jahrhunderts die Segel ge-
strichen. Man hat eingesehen, daß nach 400jähriger römi-
scher Herrschaft von einer eigenthümlicheu keltischen Kunst
nicht mehr die Rede sein konnte.
Daß aber die ältesten dieser merovingischen Metallarbei-
ten nicht zugleich die Anfänge des Stiles selbst repräfentiren,
dafür sprechen die Sicherheit der Anwendung und die zahllosen
Nüandrnngen der Ornamente selbst. Es mußte eine lange
Praxis vorangegangen sein und zwar in einem Material,
welches durch seine Vergänglichkeit den Entwicklungsgang
der Benrtheilung entzogen hat. Wie die Kunstanfänge aller
wilden Völker sich in Flecht- und Schnitzwerk äußern und
bei den meisten darin eine große Vollkommenheit, ja Eleganz
chen Polarexpedition 1872.
beobachtet wird, so war dies auch bei den Germanen der
Fall. Daß diese aber schon bei ihrem ersten Eingreifen in
die Geschichte manche Stufe der Eutwickeluug erstiegen
hatten, entnehmen wir aus den Berichten der glaubwürdig-
sten alten Historiker, welche genug zu erzählen wissen von
ihren steinernen und hölzernen Götterbildern, von ihren hei-
ligen, mit Figuren bedeckten Säulen und ihren zahlreichen
Tempeln, erfüllt mit mancherlei Zierwerk, mit Götterbildern
und Weihgefchenken, welche „aus Holz geschnitzt waren".
Der Charakter der Schnitzerei tritt denn auch klar und an-
schaulich hervor, von den leicht eingeritzten Ornamenten der uräl-
testen Thongefäße bis zu den kräftig eingeschnittenen, maßvol-
len Verzierungen der schönen süddeutschen Urnen und Schüs-
selu. Das Netzwerk, Zickzack, die Rauten, Gitter und
Figuren in einander geschobener Stäbe, wie sie auf den Ge-
fäßen in immer verständnißvollerer Weise angewendet erschei-
nen, wiederholen sich deutlich und leicht erkennbar auf allen
Zierstücken und Geräthen aus Metall.
Wie einfach und fast noch barbarisch aber immerhin diese
Aeußerungen unserer heimischen Knnstthätigkeit erscheinen mö-
gen, so spricht es wiederum mächtig für das hohe Alter ihrer
Tradition, daß selbst die nahe Berührung mit einem so be-
deutenden Cnlturvolke wie die Römer derselben keine ent-
schieden andere Richtung zu geben vermochte. Während
im Gegentheil unsere Vorfahren von den Römern nur die
Mittel zu einer freiem Ausdrucksweise ihrer eigenen An-
schauung entlehnten, wußten sie den Charakter einer selb-
ständigen Kunstentwickelung nicht nur zu bewahren, sondern
auch zu einer Bedeutung auszubilden, daß er noch im späte-
sten Mittelalter Leben und Geltung behielt.
Nachrichten von der schwedischen Polarexpedition 1872.
i.
F. Nach den von den Befehlshabern der beiden zu dieser
Expedition verwendeten Fahrzeuge, der Brigg „Gladem" und
des Postdampfers „Polhem", den Lieutenants G. von Kru-
senstjerna und L. Palander, eingesendeten Berichten,
datirt Greenharbonr an der Westküste von Spitz-
bergen, den 4. August, war „Gladan", welche am 3.Juli
von Göteborg absegelte, am 25. desselben Monats in Spitz-
bergen bei der Adventbai im Eisfjord angekommen, um dort
die Ankunft des „Polhem" zu erwarten. Dieser Dampfer
traf am 27. Juli dort ein, nachdem er am 21. von Tromsö
abgegangen und das Südcap von Spitzbergen am 25. an-
gelaufen war. Auf der 4^/z Tag langen Fahrt auf dem
stürmischen Meere von der norwegischen Küste nach Spitzber-
gen hatte der „Polhem" sich als ein gutes Fahrzeug bewährt.
Am 29. ging der „Polhem" mit Anlaufen der Colonie der
Jnterefsentschaft „Jsfjorden" *) nach der Dickfonbai, dem
*) Die Kolonisation Spitzbergens ^wnrde ursprünglich so
dargestellt, als hätte dieselbe einzig und allein einen wissenschaftlichen
Zweck, und bei den Unterhandlungen mit fremden Mächten über die
Anerkennung dev Besitzergreifung der Inselgruppe von dem schwedi-
schen Staate (die jedoch von Rußland nicht unbedingt gegeben wor-
den ist) hat es stets geheißen, dieselbe bezwecke besonders einen Schutz
der wissenschaftlichen Niederlassung, welche dort angelegt werden soll.
Inzwischen hat das Unternehmen auch noch einen andern Zweck ge-
babt, welcher unter der Hand längst bekannt gewesen ist, aber nicht
öffentlich zur Sprache gebracht werden durste, um uicht Speeulanten
fremder Länder Gelegenheit zu geben, Schweden in der Ausbeutung
der von dem Professor Nordenskjöld 1868 am Eisfjorde entdeckten
Reichthümer zuvorzukommen, zu welcher Ausbeutung sich in Göte-
östlichen Arme des Nordfjords, ab, von wo er am I.August
nach der Adventbai zurückkehrte und mit „Gladan" im
Schlepptau am 2. wieder nach Greenharbonr abging, wo-
selbst die Fahrzeuge an demselben Tage Anker warfen.
Beide Fahrzeuge sollten unverzüglich von Greenharbour
nach der zum Winterausenthalt bestimmten Parry-Jnfel ab-
gehen. Dort sollten die mitgebrachten Gebäude, ein Theil
des Proviants uud der Steinkohlen und die übrigen für den
Winter erforderlichen Lebensmittel ans Land geschafft und
Mannschaft zurückgelassen werden, um das Wohnhaus, die
Obfervationsstationen n. s. w. aufzuführen.
borg darauf die Jnterefsentschaft „Jsfjorden" gebildet hat. Diese
Reichthümer bestehen in dem bekannten Mineral Phosphat, welches,
aufgelöst in Schwefelsäure, eines der werthvollsten Düngungsmittel
ist und dort in großer Menge vorkommen soll. Es sind am 30. Juni
von Tromsö zwei gemiethete Dampfer, „Fiskeren" und „Mimer",
mit zwei Gebäuden und einer vollständigen Einrichtung, sowie Pro-
viaut und anderen Bedürfnissen für diejenigen, welche dort über-
wintern werden, nach dem Eisfjord abgegangen. Herr P. Graham,
der Director der Jnterefsentschaft", ist mitgegangen, wird aber im
Herbst zurückkehren; ebenso der Mineralog Dr. Oeberg; dagegen
wird der in Tromsö als Vorsteher der Arbeiter angenommene Stei-
ger Tiberg an der Ueberwinterung Theil nehmen. Die Arbeiter,
meistens Grubenarbeiter, aber auch einige Walfänger, bestehen in 19
Mann. Tiberg und einer der Arbeiter haben ihre Frauen mitge-
nommxn und außerdem ist eine bejahrtere Wittwe mitgegangen, um
der Haushaltung vorzustehen. Die Jnterefsentschaft hat Alles aufge-
boten, was in ihren Kräften stand, um die überwinternde Mann-
schaft möglichst vor den Unbilden des Klimas zu schützen. Mit der
wissenschaftlichen Erpedition hat diese Unternehmung natürlich keine
Gemeinschaft.
Nachrichten von der schweb
Lieutenant Palander hatte die Absicht, mit „Polhem"
gegen Norden zu gehen, um in dieser Richtung so weit wie
möglich vorzudringen; vielleicht sollte auch ein Versuch ge-
macht werden, an die jetzt beinahe ganz unbekannte Ostküste
von Spitzbergen zu gelangen und dieselbe zu mappireu.
„Gladan" (d. i. der Weih) sollte, nachdem die mitge-
nommenen Effecten aus der Parry-Jusel ans Land geschafft
waren, direct nach Schweden zurückkehren.
Der Handelsdampfer „Mimer", welcher am 6. August
von Greeuharbour nach Tromsö abzugehen beabsichtigte,
sollte von diesem Orte die Kohlenladung für „Polhem" mit-
nehmen, welche dem ursprünglichen Plane gemäß „Gladan"
hatte holen sollen.
Der Gesundheitszustand an Bord sowohl auf „Polhem"
als auf „Gladan" war bei dem Abgange des Berichtes gut.
*
* *
Außerdem hat der Professor Nordenskjöld an den
Großhändler Oscar Dickson in Göteborg, einen der Haupt-
beförderer der Expedition und einer der Mitinteressenten der
in der Note erwähnten Colonisation, einen Brief geschrieben,
datirt Greenharbour, Eisfjord, den 2. August 1872, in
welchem es heißt:
„Ich benutze die Gelegenheit, welche sich in den nächsten
Tagen darbietet, von hier mit dem Dampfer „Mimer" Briefe
nach Schweden abzusenden und Ihnen einen Bericht über
den Verlaus der Expedition bis auf den heutigen Tag ab-
zustatten. Gott sei gelobt, daß ich beginnen kann: „Alles
gut und wohl!"
Wie ich in meinem letzten Briefe erwähnte, ging die
Expedition am 21. von Tromsö ab. Der Wind war gün-
stig, so daß wir, nachdem wir die norwegischen Skären ver-
lassen hatten, das Feuer unter dem Kessel auslöschen und
die Segel hissen konnten — ein äußerst glücklicher Umstand,
da die Kohlenquantität, welche der überladene „Polhem"
hatte mitnehmen können, sehr begrenzt war, und „Polhem"
bekanntlich ein großer Kohlenfresser ist. Wir kamen an
Beeren Eiland vorbei, ohne die Insel zu sehen, da diese wie
gewöhnlich in Nebel gehüllt war. Darum gelang es uns
auch jetzt nicht, die wahrscheinlich etwas fehlerhast eingetra-
gene nördlichste Spitze der Insel astronomisch zu bestimmen.
Das ließ sich beinahe vorher sehen. Zweimal sind wir zu-
vor an der nördlichen Spitze dieser Insel ans Land gestiegen,
ohne die Sonnenobservationen erhalten zu können, welche zu
einer astronomischen Ortsbestimmnng nothwendig sind.
Am 25. Juli stiegen wir bei der südlichen Spitze von
Spitzbergen, Südcap, ans Land. Einige Stunden später
theils segelten, theils dampften wir weiter dem Platze zu,
wo wir „Gladan" treffen sollten, Adventbai im Eis-
sjord, wo wir am Morgen des 27. anlangten. Am sol-
genden Tage wurden wiederum die Anker gelichtet zur Ab-
reise nach der Colonie am Cap Thordsen; aber beim Ab-
segeln gerieth „Polhem" auf eine sandige Untiefe, welche auf
den Karten nicht angegeben ist. Das Wasser war im Fal-
len begriffen und das Hochwasser mußte abgewartet werden,
ehe das Fahrzeug loskommen konnte. Unterdessen ruderten
Lieutenant Parent und ich in dem Fangboote einer in der
Adventbai liegenden Schute nach der Colonie. Ich wollte
nämlich nicht eigentlich fordern, aber doch Anlaß geben, daß
einer von den Dampfern der Colonie („Fiskeren" und „Mi-
mer") sich nach dem Orte begeben möchte, wo „Polhem"
auf dem Grunde stand, um ihm den etwa erforderlichen Bei-
stand zu bringen. Gleich nach meiner Ankunft lichtete „Mi-
mer" die Anker und dampfte der Adventbai zu. Bei unserer
Hinkunft war das Fahrzeug schon flott, nachdem es mit
Hülfe der Boote und der Mannschaft vom „Gladan" einen
schen Polarexpedition 1872. 315
Theil der Ladung ausgeladen hatte. „Polhem" war ganz
unversehrt. Doch gingen noch einige Stunden mit dem
Wiedereindringen der Ladung verloren, so daß wir erst früh
am 29. weiter nach der Colonie reisen konnten. Hier blieb
ich bis zum folgenden Tage, um erforderliche geologische
Hülfe zu geben. Die Arbeit war hier in vollem Gange;
eine Eisenbahn von dem Ufer nach dem 3500 Fuß ent-
fernten Platze, an welchem die Häuser aufgeführt werden
sollten, war beinahe fertig, der größte Theil der Ladung ans
Land geschafft u. s. w. Graham hatte mit einem Worte
Alles gethan, was gethan werden konnte für die Unterneh-
mnng und zur Besiegung der erwarteten oder unerwarteten
Schwierigkeiten, welche ihm begegneten. Um durch meinen
Aufenthalt in der Colonie die wissenschaftlichen Arbeiten der
Expedition nicht zu beeinträchtigen, wurde „Polhem" be-
ordert, während der Zeit zur Untersuchung der Dicksonbai
abzugehen. Da ich schon am folgenden Tage fertig war,
segelten oder dampften auch wir, Graham und ich, auf „Mi-
mer" diesem Fjorde zu. Nachdem hier verschiedene wissen-
schaftliche und geographische Untersuchungen ausgeführt wa-
ren, kehrten wir mit „Polhem" zuerst zurück nach der Ad-
ventbai und dann nach dem Fjord Greenharbour, in wel-
chem wir jetzt liegen. Uebermorgen reisen wir weiter.
In naturgeschichtlicher Hinsicht sind die spitzbergenschen
Inseln jetzt so gut untersucht, daß ich kaum zu hoffen wagte,
hier noch einen neuen Fund von bedeutenderer Wissenschaft-
licher Wichtigkeit machen zu können. Doch ist mir in dieser
Hinsicht das Glück auch diesmal gewogen gewesen. Ich
komme nämlich eben jetzt zurück von einer Excursion, aus
welcher ich in der Nähe der tertiären, bei der Expedition des
Jahres 1868 angetroffenen Lager Pflanzen ab drücke fand,
welche der Kreideformation, d. h. einer Zeitperiode an-
gehören, die um einige tausend Jahre älter ist als die ter-
tiäre. Dieser Fund liefert ein ganz neues Datum
für die frühere Klimatologie der Polarländer und
ist für mich von ganz befonderm Interesse wegen der Funde
gleichartiger Pflanzenabdrücke, welche 1870 in Grönland
gemacht wurden. Diese Sammlungen von Grönland sind
jetzt bei Herrn Professor Heer in Zürich zur Bearbeitung.
Die hier gemachten Sammlungen werde ich in drei Kisten
mit dem „Mimer" nach Tromsö und Göteborg absenden. —
Ich habe heute an Professor Heer geschrieben und ihn ge-
fragt, ob er auch die Bearbeitung dieser Sammlungen über-
nehmen will. Das wird er unbedingt thuu, wenn nur seine
in der letzten Zeit außerordentlich angegriffene Gesundheit
es ihm gestattet, sich fortwährend mit Arbeiten zu beschäfti-
gen, welche die Denkkraft so sehr anstrengen. — Den Fund
der Kreidepslanzen an diesem Orte betrachte ich als einen
der wichtigsten, welcher hier hat gemacht werden können. Er
berührt nämlich eben eine Frage, welche jetzt in der Geolo-
gie auf der Tagesordnung vornan steht, und wenn nur Heer
feine Gesundheit wieder erhält oder bereits erhalten hat, so
wird das Material sogleich bearbeitet. Es wird also nicht,
wie so oft mit Sammlungen geschieht, auf dem Boden irgend
eines Museums verschimmeln.
Wenn „Mimer" von Tromsö hierher zurückkehrt, bringt
er nach dem Eisfjorde gegen eine Fracht von 1000 Rthlr.
die Kohlen mit, welche „Gladan" holen sollte, so daß diese
nicht nöthig hat, zwei Reisen nach Tromsö zu machen. Wenn
„Gladan" zurückkehrt, hoffe ich über unser Thun und Lassen
noch ferner gute Nachrichten geben zu können."
-i-
* *
Ein in Tromsö von einem Theilnehmer an der Expe-
dition am 20. Juli 1872 geschriebener Brief, an die Re-
daction der hiesigen (Stockholmer) Zeitung „Nya Dagligt
316 Westschlesien und
Allehanda" gerichtet, von dieser aber erst am 31. August
veröffentlicht, enthält unter der Aufschrift „Briefe von dem
Nordpol", dem ersten einer Serie, die zu erwarten ist, über
die Ausrüstung und Anderes mehr wesentlich das Folgende:
Unser Fahrzeug ist das zur Winterpostfahrt zwischen
Westervik und Wisby im Jahre 1858 zu Motala erbaute
eiserne Dampfboot „Poigern", benannt nach dem berühmten
Gelehrten dieses Namens. Mit seinen doppelten Böden
und Seiten sowie den vielen wasserdichten Abtheilungen scheint
es zu der jetzigen Reise ganz besonders passend zu sein. Es
ist 110 Fuß lang , 20 Fuß breit und geht 8^/2 Fuß tief.
Für diese Expedition ist in Oscarshamn ein Ueberbau über
das ganze Fahrzeug gemacht worden, welcher etwa 10,000
Rth. (8 Rth. — 3 Thlr. preuß. Crt.) gekostet hat, und die-
ses hätte dem ganzen Unternehmen beinahe ein schmachvolles
Ende bereitet, denn die mechanische Werkstätte in Oscars-
hamn wollte für diese Summe die ganze Nordpolexpedition
in Hast setzen lassen. Doch wurden wir durch das Dazwi-
schentreten guter Menschen von diesem Scandal gerettet. Das
Schiff hat eine Hochdruckmaschine von 60 Pferdekraft, welche
unter voller Fahrt von 9 Knoop in der Stunde 15 Cubik-
fuß Kohlen braucht, aber mit 10 bis 12 Cubikfuß 6 bis 7
Knoop machen kann. Mit vollem Kohlenvorrathe, 1600
bis 1700 Cubikfuß, haben wir also Kohlen für 110, und
mit größerer Sparsamkeit für etwa 150 Stunden. Das
Personal besteht in dem Chef der Expedition, Professor Nor-
denskjöld; dem Chef des Fahrzeuges, Lieutenant Palander;
dem Arzt, Candidaten der Medicin Envall; zwei Gelehrten,
seine Bewohner.
dem Docenten Wijkander, Astronom und Physiker, und dem
Docenten Kjellman, Botaniker; dem Lieutenant in der ita-
lienischen Flotte, Eugeuio Parent; dem Steuermann Stjern-
berg; dem ersten Maschinisten Lindström; dem zweiten Ma-
schinisten Landegren; dem Zimmermann, Conservator, fünf
Matrosen und sieben Bootsmännern. Für den Winter wird
das Personal etwas verändert, indem der Docent Kjellman,
der Conservator, zwei Matrosen und zwei Bootsmänner nach
Hause zurückkehren und anstatt derselben von Tromsö ein
Renthiersührer und vier Lappen oder Quäner kommen, so
daß die ganze Anzahl für den Sommer 23 und für den
Winter 22 Mann beträgt. Jeder Mann erhält von der
Krone 2 blaue Hemden, 8 Paar wollene Strümpfe, 4 Paar
Beinkleider, 1 Jacke, 3 Paar Schuhe, 4 flanellene Wämfer,
2 Mützen, 1 Matrosenjacke von Segeltuch, gefüttert mit
Wolle, sowie 1 Wachpelz; und von der Expedition: 1 „Pesk"
(Pelzrock von Renthierfell), 2 Paar „ Skaller" (Schuhe von
dito), 1 Paar „Bellinger" (eine Art Beinkleider oder Ga-
maschen von dito), 2 Paar Pelzhandschuhe, 2 Paar Stiefeln
von Segeltuch, 1 Mütze, 5 Paar wollene Handschuhe, 7 Paar
lange und 7 Paar kurze wollene Strümpfe, 3 wollene Wäm-
fer, 1 gestrickte Jacke, 1 wollenes Halstuch, 1 Paar „Ko-
mager" (lederne Stiefel von eigentümlicher Construction,
in denen eine Art Heu als Filzsohlen angewendet wird) und
1 Paar Seestiefel. Wir sind also gegen die Bekämpfung
der Kälte gut ausgerüstet, und die Eisbären werden in die-
sem Winter bei Weitem dünner bekleidet sein als wir.
Aus deutschen
4. Westschlesien ui
B. Wenn man im Osten Deutschlands von Norden nach
Süden vordringt, treten Einem, je weiter man in das
freundliche Schlesien hineingelangt, fast durchweg immer
mehr die Beweise vorgeschrittener Cultur und besonders eines
rastlosen Fleißes auf den belebteren Fluren entgegen, diefel-
ben bilden einen Gegensatz zu den oft. und meist in weiter
Ausdehnung, mit ein und denselben Gewächsen bestandenen,
baumlosen, monotonen Acker- und Weideflächen der nörd-
licheren Provinzen. Sie haben vielfache Theilung und viel-
fachen Wechsel von allerhand Culturpslanzen und Bäumen.
Westschlesien gehört zur einstigen Lausitz, und hat daher
auch manche Bewohner wendischer, also flavischer Abstam-
mung, doch ist die Germanisiruug auch in Westschlesien
schon seit lange so vollkommen durchgedrungen, daß außer
alten Orts- und Eigennamen nur noch Weniges an die
wendische Sprache erinnert, diese ist mit wendischer Tracht
und Sitte auf einen Theil der Niederlausitz zurückgedrängt
worden. Die im Osten der Oder allerdings größere Ueber-
einstimmung zwischen dem benachbarten Posen und Schlesien
beschränkt sich in Westschlesien fast gänzlich auf die Beetbe-
stelluug der Felder und einige Ähnlichkeit in der Bauart
der ärmlichen und kleinen alten Häuser und Ställe mancher
Dörfer, und in dem Anblick der Landschaften in den flach
liegenden Gegenden.
Wie sich hingegen die alten mauerumschlossenen westschle-
fischen Städte von den offenen polnischen schon im Aeußern,
Landschaften.
td seine Bewohner.
I.
und daher durch daraus entsprungene sorgfältigere Benutzung
des Raumes, also engere Bebauung, auch im Innern wesent-
lich unterscheiden, so zeigen schon überhaupt die schleichen
und namentlich die westfchlesischen ländlichen Gebäude außer
manchen anderen Unterscheidungsmerkmalen besonders den
wohlthuenden Unterschied gegenüber denen Posens und der
nördlicheren Provinzen, daß ihre Wände und Giebel viel-
fach, ja in manchen Districten größtentheils, mit Spalieren
von Obstbäumen und Wein oder mit wilden Schlinggewäch-
sen bekleidet sind. Auch erfreuen sie das Auge durch Sau-
berkeit und durch größere Liebe zu Gärten und Bäumen
aller Art.
Wie in der Gestaltung seines Heimwesens und in sei-
ner Umgebung, so zeigt der Schlesier auch bei persönlichem
Verkehr in seinem Wesen einen durchaus freundlichen, hei-
tern Charakter, ein offenes, zutrauliches, fröhliches Gemüth,
Eigenschaften, die der Pole nur wenig mit ihm theilt, und
die zufolge höherer Cultur bei ihm sich noch schneller äußern,
und selbst in der niedrigsten Classe fast gänzlich baar der
Jenem noch anhaftenden Rohheit sind.
Der Schlesier, in Stadt und Land, ist zwar lebenslusti-
gen Sinnes, aber dabei genügsam. Schmale Kost, harte
Arbeit, kurze Ruhe, mangelhafte Wohnung rufen nicht etwa
mürrische Stimmung und verdrossene Arbeit hervor. Der
Woche karger Verdienst wird allerdings nicht gut zu Rathe
gehalten, man will sich damit einen vergnügten Sonntag
Westschlesien und
verschaffen. Bei aller Lustigkeit ist man doch auch maßvoll.
Man liebt Musik und Tanz und trinkt Bier, nicht viel
Branntwein. In Bezug auf die Musik herrscht das Cla-
vier, der Flügel, vor, den man fast in jedem Dors-Kretscham
(Kruge) und fast in allen öffentlichen Localen in und vor
den Städten findet, und denen man stets die „fleißige" Be-
Nutzung anmerkt.
Wie das baierifche Bier dem Charakter und dem Kör-
per des Baiern entspricht, der es braut und oft in Uber-
großen Massen trinkt, so das westschlesische mäßig starke Bier
dem es mäßiger trinkenden Westschlesier. So leicht trink-
bar, angenehm und wenig bitter dieses Bier, so leicht zu-
qänalich, freundlich und autmüthia ist auch der Charakter
dieses Volksstammes.
Dieses Bier wird hauptsächlich in unzähligen Dörfern in
noch zu wenig allgemein bekannter Güte erzeugt. Erst
wenige sind berühmt geworden, wie das Stensdorfer und Gor-
kauer. Das Grafensteiner und viele andere, oft in entlege-
nen Dörfern, verdienen ebenso sehr weiteres Bekanntwerden.
Ein Beweis vorgeschrittenerer Cultur in Westschlesien
ist unter Andern: auch, daß man in den Dorfkretschams
außer dem unvermeidlichen, überall verbreiteten Kartenspiel
und den auch im Norden schon häufiger werdenden Kegel-
bahnen vielfach noch andere Unterhaltungsspiele findet, wie
z. B. Domino, Damenbrett, Ningspiel und ganze Sortimente
von gordischen Knoten und Geduldspielen zum Zusammen-
setzen :c., ein Beweis, daß die Genügsamkeit des Volkes sich
weniger auf den Geist erstreckt, derselbe vielmehr das Be-
dürfniß und den Genuß daran findet, zu grübeln und sich an-
zuregen *).
Wenn man aus Norddeutschland nach Schlesien kommt,
so fällt Einem, je weiter nach Süden, immer mehr der
ganz andere Charakter der Bauart auf. Ju den uordöst-
lichen preußischen Provinzen tragen, gemäß dem monotonern
Charakter der Natur und dem ernstern, ruhigern Charakter
und Wesen der Bewohner, mit Ausnahme mancher schönen
alten Kirchen, Giebelhäuser und Schlösser, die älteren Ge-
bäude in Stadt und Land einen langweiligen Charakter zur
Schau. Sie zeigen das Streben nach strenger Zweckerfüllung
und äußerster Sparsamkeit, die neueren Bauten in Stadt und
Land, auf großen und kleinen Besitzungen deuten einen fast
allgemein rege gewordenen Sinn für Schönheit der äußeren
Formen an, und verrathen durch Material und Anwendung
verschiedenen Schmuckes Zunahme an Wohlstand. Aber
während die verschiedenen Gattungen der Gebäude, Herren-
und Arbeiterhäuser, Ställe und Scheunen, in Uebereinstim-
mung mit dem abgeschlossenem Wesen des Norddeutschen,
sich gegenseitig wenig mit einander vermischen und vereint-
gen, sondern sich fast stets scharf von einander unterscheiden,
finden wir im Gegentheil bei den Gebäuden in Schlesiens
Städten und Dörfern unruhige Fronten, viele Auswüchse und
Anhängsel, eine gegenseitige Vermischung der Gattungen und
daher geringere Unterschiedlichkeit; sie machen den Eindruck
einer buntern Mannichfaltigkeit der Formen, die dem daran
weniger gewöhnten Auge, mindestens im Anfange, wohlthut,
und dem Gesammtanblicke etwas Freundliches und Gefälliges
verleiht. Auf die Dauer jedoch verliert, wenigstens dem
ernstern Norddeutschen gegenüber, alles übertrieben Bunte,
Alles, was leicht zu Täuschung und Verwechselung verlei-
ten kann, an Reiz. Es ermüdet das Auge. Würdiger er-
scheint es, wenn man jedem Dinge seine Bestimmung ansehen
*) Dieser Volkscharakter, Gutherzigkeit, Heiterkeit mit etwas necki-
schem, schelmischem Frohsinn, Rechtsgefübl und Dankbarkeit, Fleiß
und Ausdauer, Bescheidenheit und Genügsamkeit, spiegelt sich auch
in den Volkssagen und deren Hauptgestalt, Rübezahl, dem Geiste des
Riesengebirges, ab.
seine Bewohner. 317
kann. Eine Attrape erregt vorübergehendes Wohlgefallen,
aber nicht bleibendes Interesse.
Zwar findet man die Vereinigung von Haus und Stall
nebst Borrathsräumen auf kleineren und mittelgroßen Wirth-
schaften, wie in Schlesien, auch namentlich in Nordwest-
deutschend, und, durch die Natur, durch die Schneemassen
des Winters geboten, allgemein in den Gebirgen. Und diese
vorsorgliche Einrichtung ist nicht allein dort, sondern wäre
wohl überhaupt für kleinere Wirthfchaften sehr angemessen
und zweckmäßig, indem dadurch, daß man aus dem durch-
gehenden Flure des Hauses direct in den Pferde- und Kuh-
stall gelangen kann, die Wartung des Viehes und die Auf-
ficht darüber sehr erleichtert wird.
Als auffallend darf hier erwähnt werden, daß die wohl
in ganz Schlesien vielfach verbreitete, namentlich in denGe-
birgsgegenden allgemeine, zweistöckige Bauart der Ställe
mit überhängendem Dache auf der Hofseite und einer ztt
den Räumen des obern Stockes führenden Gallerte sich in
fast ganz gleicher Weise in manchen pommerscheu Küsten-
dörfern wiederfindet, in denen es viel dänische Familien-
namen giebt. Sollte sie dort aus Dänemark eingeführt
worden fein?
Eine Eigentümlichkeit der Gebäude sind, wie fchon be-
merkt, die vielen Unterbrechungen der Fronten, die vielen An-
bauten und Anhängsel, sowohl an den Seiten, als an den
Enden, wozu auch die fast immer in der ganzen Höhe des
Hauses angebauten, schon von Weitem durch meist feuchte
Mauern nur allzu kenntlichen, die Häuser verunzierenden,
und durch den in ihnen aufsteigenden Luftzug verpestenden
Aborte gehören. Abgesehen von dem dadurch überhaupt her-
vorgerufenen Eindrucke liegt noch ein triftiger materieller
Grund vor, solche vielen kleinen Anbauten und überhaupt
viele kleine Gebäude für unpraktisch und unvorteilhaft zu
halten , namentlich bei massiver Bauart, wegen der nnver-
hältnißmäßig großen Material- und Arbeltskosten; denn je
kleiner der Inhalt im Verhältniß zu den Umfassungswänden,
desto theurer ist verhältnißmäßig das Gesäß oder Gebäude.
Während z. B. der ruhigere Pommer, ehe er anfängt,
zu bauen, schon meist jahrelang vorher den Plan gefaßt und
überlegt hat, und dann im Verhältniß zum Ertrage seiner
Wirtschaft ein stattliches großes Gebäude hinstellt, an dem
er höchstens, wenn es eine Scheune ist, neben den Thoren
sogenannte Abseiten in der ganzen Länge der Front anbringt,
scheint der lebhaftere und weniger lange überlegende Schle-
fier sich schneller zum Bauen zu entschließen. Gedacht, ge-
than, baut er bald hier „a bisset" und bald da „a brinkel".
Es sieht niedlich aus. Aber, und besonders bei Massivbau,
wie viel Mauer und wie wenig Raum!
Wenn nun zwar auch in der Nähe der Gebirge und
Steinbrüche und großer Gebirgswälder das Baumaterial
billiger ist, als in den meisten Tiefländern, fo bleibt doch
jede Verschwendung eben Verschwendung, und es wird außer
Material und Arbeit, also Geld, auch Zeit vergeudet.
Diese aus einem geringem Grade von Ueberlegung, aus
einem leichtern Sinne entspringende Art von Verschwendung
bei Bauten dürfte aber vielleicht mit Recht dem Schlesier
um so höher angerechnet werden, als er im Allgemeinen einen
weit höhern Grad der Schulbildung besitzt, wie manche
Nordostdeutsche, und der schlesische Landmann in seiner lang-
gebräuchlichen Combinirnng von Haus und Stall die Vor-
theile weniger großer Gebäude vor mehreren kleinen ken-
nen und schätzen gelernt haben müßte.
Wenn man die Leute, besonders des gebirgigen West-
schlesiens, und namentlich der ärmeren Classen, mit einiger
Aufmerksamkeit betrachtet, so findet man ganz auffallend
viele kleine, fast zwerghafte Gestalten, welche an die Sagen
318 Aus allen
von den Gnomen, Kobolden und Berggeistern erinnern.
Hat der Bergbau auf ihre gleichsam zusammengestauchten,
Ubermäßig untersetzten Figuren Einfluß ausüben können?
Wahrscheinlich nein! Denn man findet diese Gestalten mehr
oder mindestens ebensowohl in den nicht Bergbau treibenden
Gegenden Schlesiens und des angrenzenden Sachsens, als in
deren Bergbaudistricten. Was ist denn der Grund? Man
schaue in ihre Wohnungen, und man wird ihn finden.
Wie in Norddeutschland noch bis in die Gegenwart bei dem
ärmern Theile der Landbevölkerung durch zu niedrige, dunkle
und dumpfige Ställe im Berein mit mangelhafter Ernäh-
rnng das Rindvieh, namentlich die Kühe, zu zwerghaften For-
men mit oft bösem Charakter herabgedrückt, heruntergebildet
worden, während der Westschlesier dieses Vieh im mit dem
Hause verbundenen Stalle, der wegen tieferen Fußbodens
mehr lichte Höhe als die menschliche Wohnung hat, oder in
hausähnlichen Ställen mit sorgfältiger Ernährung und Pflege
zu einer großen, starken, schweren, sanftmüthigen und ergiebi-
gen Race herangebildet hat, wohnt der Westschlesier, der
Oberlansitzer, noch zum großen Theile, und nicht bloß auf
dem Lande, in überaus niedrigen, dumpfigen und feuchten
Wohnungen, und namentlich in niedrigeren Wohnungen als
der Norddeutsche.
Ist es möglich, daß Menschen von fast 6 Fuß Höhe in
kaum fo hohen oder wenig höheren Wohnungen erzogen
werden können? Im allgemeinen, Nein! Außerdem er-
mangeln diese Wohnungen bei dem meistens aus Bruchstei-
uen bestehenden, stark wasseranziehenden, Baumaterials auch
häufig hinreichenden Lichtes und der erforderlichen Lüftung.
Der in den meist sehr alten Städten zu dicht, und wie schon
weiter vorn bemerkt, mit zu vielen vorspringenden Anhängseln
bebaute Raum bietet zu viele Winkel für stagnirende Gase,
die in Folge der unten offenen und oben meistens von den
Wohnräumen aus zugänglichen jCloaken und wegen des von
unten nach oben stattfindenden Luftzuges nur allzu leicht in
Erdtheilen.
die Wohnungen dringen. Ferner verderben die in den Woh-
nungen der Armen in Westschlesien fast allgemein üblichen
Kochöfen in den niedrigen und engen Stuben die Luft auf
eine erschreckliche Weise. Zwar führen diese fast den ganzen
Tag offenen Oefen einen Theil der schlechten Luft wieder ab,
aber der größere Theil derselben, durch die Erwärmung nach
oben getrieben, bleibt in der Region, in der der Mensch zu
athmen hat. Es ist daher sehr natürlich, daß die zu unreine
namentlich mit Stickstoff, Kohlensäure, Ammoniak, Schwefel-
Wasserstoff, den beim Kochen und Braten erzeugten brenzli-
chen Gasen und Wafferdünsten, sowie mit den Cloakengasen
und mit Staub geschwängerte Zimmerlust auf das Wachs-
thum des Körpers nachtheilig und hemmend wirkt.
Vielleicht finden die im schleichen und Lausitzer Gebirge
häufigen Kröpfe darin auch eher ihre Erklärung und
Entstehung, wie in dem, wenigstens dem Anscheine nach,
viel bessern Trinkwasser, als es z. B. ein großer Theil von
Pommern hat.
Schade um den freundlichen, fröhlichen, fleißigen Men-
fchenfchlag!
Alle diese Uebelstände treffen vorzugsweise das weibliche
Geschlecht, das zufolge feiner Bestimmung durch häusliche
Arbeiten mehr an die Wohnung gefesselt ist. Demgemäß
sieht man auch hauptsächlich die Kröpfe und solche znsam-
mengestauchten unschönen Figuren unter dem „schönen" Ge-
schlechte jener Gegenden, mit flachen Stirnen und großer
mit Haar bedeckter Kopffläche, welches aber wiederum hier
besonders leicht auszufallen scheint.
Es ist zu verwundern, daß diese beengenden und herab-
drückenden schädlichen äußeren Einwirkungen nicht im Stande
gewesen sind, den Westschlesier zu dem anderswo häusigen
Stumpfsinne herabzuwürdigen, daß vielmehr Zufriedenheit,
Frohsinn und mancherlei andere damit zusammenhängende
gute Eigenschaften der Seele, namentlich großer Fleiß und
Gutmütigkeit, dennoch Hauptcharakterzüge des Volks bilden.
Aus allen
K. v. Fritsch und I. I. Rein im marokkanischen
Atlas.
Dr. v. Fritsch aus Frankfurt a/M. veröffentlicht in den
geographischen Mittheilungen einen vorläufigen Bericht seiner
mit Dr. Rein im Sommer dieses Jahres in den marokkani-
schen Atlas unternommenen Reise, aus dem wir das Nach-
stehende herausheben.
Der Ausgangspunkt der beiden Reisenden war Mogador,
wo ein deutscher Jude, Daniel Cohen, ihre Zwecke sehr förderte;
er ist dort ein sehr einflußreicher Mann, welcher darauf aus-
geht, in directe Handelsverbindung mit Deutschland
zu treten, dessen Waaren bisher Uber Marseille oder London,
aber in großer Menge importirt wurden. Ohne alle Gefahr
wurde die Hauptstadt Marokko erreicht, wo ihnen das Haus
als Wohnung angewiesen wurde, in dem Moses Montefiore,
Dr. Hookes und andere europäische Reisende gewohnt. „Wie
uns schon in Tanger die Eingeborenen die Hände gedrückt hat-
ten, weil wir Preußen seien, so wurden wir auch in der Haupt-
stadt äußerst zuvorkommend aufgenommen." Indessen den Rei-
senden wurden bei der Bereisung des Atlas doch einige Schwie-
rigkeiten bereitet, und nur einmal glückte es ihnen, den Gebirgs-
rücken zu besteigen, am Paß von Tisi Techerat (etwa 3400
Meter hoch), der vom Rerayathal nach Tifunt im Susthal
Erdtheilen.
führt. Ohne ein zweites Mal den Gebirgskamm erreicht und
ohne einen Gipfel desselben betreten zu haben, mußten dann die
Reisenden nach Mogador zurückkehren. Trotzdem ist die kurze
Wanderung für die Wissenschaft sehr ersprießlich gewesen. Eine
nicht unbeträchtliche Zahl von Winkelmessungen und Höhenbeobach-
tungen setzten Fritsch und Rein in den Stand, die bisherigen karto-
graphischen Darstellungen des Gebietes zwischen dem Laufe des
Tensift (dem Flusse, an welchem die Stadt Marokko liegt), dem
Kamm des Atlas und der atlantischen Küste wesentlich zu ver-
bessern. Ueber den geologischen Bau des Landes haben sie
zahlreiche Beobachtungen gemacht. Dr. Fritsch schreibt: „Lei-
der sind freilich in den von uns besuchten Landestheilen Petre-
facten allzu selten, nur Bänke fossiler Austern sind in Menge
vorhanden, die Ausbeute ist indeß weit weniger reichhaltig als
man nach dem erwarten sollte, was über Algerien bekannt ist.
Ueber das frühere Vorhandensein von Gletschern bin
ich wesentlich anderer Ansicht als Hooker und seine Be-
gleiter. Die Trümmermasse im obern Rerayathal kommt aus
einem kleinen und engen Seitenthal hervor; polirte Felsstücke lie-
gen zwar unter den anderen, diese Politur ist aber nicht der
Gletscherschliff, sondern einfache Rutschfläche. Wirkliche Gletscher-
Wirkungen: Rundhöckerbildung, Ausschleisung der Felsen bis zu
einer frühern obern Gletschergrenze, Seitenmoränen, Gandecken
im Hauptthal, alles dieses fehlt, und ener mächtige Schuttkegel
wm&
mmemmsssm
Aus allen Erdth eilen.
319
mit seinen hausgroßen FelstrUmmern, mit der kleinen Ebene
im Hauptthale hinter demselben ist meiner festen Ueberzeugung
nach nur der Schuttkegel eines Bergsturzes, wie man sie in den
Alpen vielfach sieht, z. B. im Blegnothal. In der That würde
wohl früher eben so wie jetzt die Enge der Thäler die Gletscher-
bildung gehemmt haben, und wenn jemals das Rerayathal einen
Gletscher besessen hätte, würde dasselbe nicht heute noch anstehen-
des Steinsalz enthalten." — Hiernach wäre also das zu be-
richtigen, was wir „Globus" XX, S. 160 nach Hooker über
die Spuren der Eiszeit in Marokko mitgetheilt haben *).
Die deutschen Naturforscher fanden im Atlas wenig Alpen-
pflanzen, darunter Oxyria reniformis; doch mangelten Alpen-
formen, jene niedrigen blüthenreichen Rasen oder Flecken, nicht.
Die Alpendohle kam am Passe schaarenweise vor.
Chinesische Studenten im Auslände.
In China hat man sich bis in die allerjüngste Zeit ab-
lehnend gegen alle abendländischen Einflüsse verhalten, aber selbst
in diesem Mandarinenstaate wird endlich doch begriffen, daß die
alten Schranken nicht mehr aufrecht zu erhalten sind. Es hat
den Hof von Peking vor einigen Jahren große Ueberwindung
gekostet, eine Gesandtschaft nach Europa zu schicken, die übrigens
ohne weitere Folge geblieben ist; jetzt muß man, wohl oder
übel, deni guten Beifpiele folgen, welches Japan giebt. Das
Jnselreich des Sonnenaufgangs hat begabte Jünglinge zu Hun-
derten nach Europa und Nordamerika zu weiterer Ausbildung
geschickt und läßt namentlich aus Deutschland Schulmeister kom-
men, um seine Lehranstalten nach deutschem Muster einzurichten.
Ganz so weit ist man in China noch nicht; hier ist der Dünkel
noch viel zu stark, aber so viel wird doch in Peking begriffen,
daß es heute eine unbedingte Notwendigkeit ist, die Verhältnisse
der abendländischen Völker besser zu verstehen als bisher. In
der Mitte des September kamen mit dem ostasiatischen Dampfer
nicht weniger als dreißig junge Chinefen und Chinesinnen in
San Francisco an; als Auffeher sind ihnen drei Mandarinen
beigegeben. Die chinesische Regierung hat nicht weniger als eine
Million Dollars angewiesen, um die Kosten für die Ausbildung
dieser jungen Leute zu bestreiten, welchen künftig in jedem Jahre
weitere dreißig folgen sollen. Ob sie zweckmäßig verfährt, in-
dem sie dieselben gerade nach Nordamerika schickt, darf bezweifelt
werden; die Japaner ziehen bereits Europa, insbesondere Deutsch-
land, vor. Jene Chinefen gehören den vornehmen Classen an;
sie werden als sehr intelligent geschildert, auch sei ihre Haut-
farbe sehr hell. Da man in Peking die. Zudringlichkeit kennt,
welche die Methodisten und Baptisten in Bezug auf das Profe-
lytenmachen zeigen, hat man den Aufsichtsmandarinen gemessene
Befehle ertheilt, die jungen Leute vor solchen zu bewahren, da-
mit sie einst „unbefleckt" ins Blumenreich zurückkehren. Sie
sollen täglich in der Moralphilosophie des Confucius unterwiesen
werden und die Edicte des Kaifers Kang hi lesen. Ein großer
Fortschritt liegt darin, daß man auch junge Mädchen zur Aus-
bildung außer Landes geschickt hat. Bekanntlich nimmt das
weibliche Geschlecht, das ja „keine Seele" hat, in China noch
eine sehr untergeordnete Stellung ein.
Aus Central- und Südamerika.
In Central- und Südamerika ist man eifrig darüber
aus, die Verkehrsmittel zu vermehren. An der Eisenbahn
in Costa rica wird rüstig fortgebaut, während die Arbeiten an
dem Schienenwege in Honduras in Folge der jüngsten Revo-
lution eine Stockung erfuhren. In Guatemala wird die
Strecke zwischen dem Hafen San Jose am Großen Ocean bis
zur Hauptstadt Guatemala gegenwärtig vermessen; die Conces-
sion ist einem Engländer, Herrn Kelly, ertheilt worden. Auch
Neugranada macht Fortschritte; es ist dort im Plan, den
*) Die Orographie des Großen Atlas behandelte jüngst auf der
Versammlung der British Association zu Brighton IohnVall, einer
der Begleiter Hooker's. („Nature" Nr. 149.)
Hafen Buenaventura am Großen Ocean mit dem goldreichen
Thale des Cauca zu verbinden. Dieser Fluß mündet in den
Magdalena, der ins Atlantische Meer fällt. In allen diesen
Staaten bietet der Bau manche Schwierigkeiten dar, weil die
Kordilleren zu überschreiten sind. Dasselbe ist der Fall in Bo-
livia. Dort will der südamerikanische Eisenbahnkönig H. Meiggs
eine Bahn bauen zwischen Mexillones, dem Guanohafen, der
auf der Grenze von Chile und Bolivia liegt, nach Caracoles.
Die bei diesem Platze vor zwei Jahren entdeckten Silbergruben
erweisen sich als über alle Erwartungen reich. Sie liegen am
Rande der trostlosen Atacamawüste, welche uns durch Professor
Philippi in Santiago und durch Herrn I. I. v. Tschudi vor-
trefflich geschildert worden ist, in einer Höhe von 2740 Meter
über der Südsee. Die Bahn wird 160 Miles lang werden.
In Peru bauet Meiggs an der Gebirgsbahn von Oroya nach
Osten hin weiter; im Innern Südamerikas hat Oberst Church
die Arbeiten an der Bahn, welche den St. Antonsstromschnellen
des Madeira entlang ziehen wird, bereits beginnen lassen. —
In Argentinien ist in der Woche vom 7. bis 14. September
die Länge der Telegraphenlinien um 336 Miles vermehrt wor-
den. Mit der transandinischen Eisenbahn über den
Planchonpaß wird es Ernst; die Vermessung hat ergeben, daß
von der Strecke im Anschluß an die bereits vorhandenen Bah-
nen auf die argentinifche Seite 730 Miles entfallen werden,
wovon etwa zwei Drittel in der Ebene zu bauen sind; auf die
westliche, chilenische Seite werden nur 59 Miles kommen. Der
argentinische Congreß hat wieder sechs neue Bahnlinien geneh-
migt; eine derselben wird das vorhandene Buenos-Ayres-System
mit Mendoza und San Juan verbinden; von dem letztern ge-
denkt man späterhin weiter über die Cordillere nach Chile zu
bauen und dabei den Paß Los Patos zu benutzen. Es wür-
den dann zwei transandinische Schienenwege vorhanden sein. —
In Uruguay, wo jetzt Ruhe herrscht, hat man mit dem Baue
einer Nordwestbahn begonnen, welche von Salto am Uruguay,
in einer Länge von 110 Miles, bis an die brasilianische Grenze
geführt werden foll.
— Die Auswanderung nach Paraguay hat begon-
nen. Am 2. October ist der Dampfer „Kepler" von Liverpool
mit etwa 350 Köpfen, Engländern und Deutschen, abgegangen,
meist rüstigen, jungen Bauern und Handwerkern, die zum Theil
Familie mitnehmen. Die Herren Robinson, Fleming und Com-
pagnie, Agenten der Regierung von Paraguay, haben die Mit-
tel hergegeben und ein Herr Billat ist als Bevollmächtigter auf
dem Schiffe. Schon vor einigen Monaten sind einige sachver-
ständige Männer nach Paraguay vorausgegangen, um Alles zur
Aufnahme der Emigranten vorzubereiten. Dort ist in Folge
des langen Krieges die Bevölkerung gegen früher um zwei Drit-
tel vermindert worden. Das Land ist eines der schönsten in
Südamerika und das Klima gesund. Die überwiegende Mehr-
zahl der Bewohner besteht aus Guarani-Jndianern.
— In Peru sind Präsident und Congreß darüber einver-
standen, daß der Staat die vielen Unterlassungssünden, welche
der Clerus sich hat zu Schulden kommen lassen, möglichst gut
zu machen habe. „Der planmäßigen Verdummung, welche im
System der römischen Geistlichkeit liegt, müssen wir die Auf-
klärung durch den Volksunterricht gegenüberstellen. Die Arbeit
wird keine leichte sein, aber wir wollen und müssen mit Nach-
druck ans Werk gehen!" So sprach ein Deputirter unter all-
gemeinem Beifall. Die Regierung hat dem Consul des päpst-
lichen Kirchenstaates, der nicht mehr existirt, das Exequatur
entzogen; der Congreß hat auch die Stolgebühren und Sporteln
abgeschafft, welche der Clerus für Taufen, Trauungen und Be-
gräbnisse bezog. Peru ist bekanntlich ein ganz katholisches Land,
aber die Schritte der Regierung werden von der gesammten
Presse im Lande gebilligt, nur das Preßorgan der Geistlichkeit
macht eine Ausnahme. Bezeichnend für die Stimmung ist auch,
daß für den 20. Septeniber eine große „antipapistische Volks-
Versammlung" in Lima angekündigt worden ist; sie sollte unter
freiem Himmel abgehalten werden.
320
Aus allen Erdtheilen.
— Nach Austreibung der Jesuiten und anderer Mönchs-
orden hat man in Guatemala etwas geschaffen, das neu ist
im ehemals spanischen Amerika, nämlich ein Ministerium für
den öffentlichen Unterricht und die Volksauf klärung.
Noch etwas Neues und Erfreuliches finden wir in den jung-
sten Berichten aus Südamerika. JnBolivia verfügt ein Erlaß
des Präsidenten Morales, vom 5. Juni, daß für alle Sol-
daten der Republik Negimentsschulen errichtet werden
sollen. Jeder bolivianische Soldat soll nicht nur Elementar-
Unterricht erhalten, sondern es soll ihm zwei Mal in der Woche
aus unterhaltenden und belehrenden Büchern „zu angenehmer
und nützlicher Unterhaltung" etwas vorgelesen werden. Da die
Soldaten viel freie Zeit haben, fo foll jetzt jeder in Regiments-
Werkstätten ein Handwerk erlernen, damit er nach voll-
endeter Dienstzeit sich durch redliche Arbeit ernähren könne. Zur
Unterhaltung werden in jeder Garnison Kegelbahnen fiirj die
Soldaten gebaut.
Aus Neuseeland. Die Fabrikation von Seilen aus neu-
seeländischem Flachs (Phormmm tenax), welche sehr darnieder-
lag, erhebt sich in Folge einer Entdeckung ganz außerordentlich
wieder. Dr. Hector, der bekannte Naturforscher, beobachtete
nämlich, daß die Seile der Maoris sehr lange hielten und durch-
aus nicht faulten. Auf feine Fragen hin erklärten ihm die
Maoris, daß sie die Seile mit dem Oele der Wekapflanze ein-
fetteten. Man machte nun Versuche mit diesem Verfahren und
fand, daß das Kraft- und Ausdauerverhältniß der gewöhnlichen
Phormiumseile sich zu den mit Weka eingefetteten wie 22 zu 95
verhielt. Damit ist aber die Güte der so behandelten Seile über
alle aus anderen Fasern hergestellten entschieden.
Unser europäisches Wild hat sich auf der Nordinsel, nament-
lich im Waikatodistricte, außerordentlich vermehrt. Der Gou-
verneur, Sir George Bowen, hielt im Juli eine Jagd ab, bei
der 640 Fafanen, 89 Wildenten und 249 Kaninchen geschossen
wurden. Unser Edelhirsch kommt in Nudeln von 100 Stück vor
und die Eanterbury-Flüsse schwärmen von eingeführten Forellen.
Auch der schwarze australische Schwan hat sich gut acclimatifirt.
Die Fauna Neuseelands erhält von Jahr zu Jahr ein anderes Ge-
präge und bald wird der ursprünglicheCharakter ganz verwischt sein.
*
*
#
— Gustav Wallis ist von seiner Reise nach Nengranada
kürzlich zurückgekehrt. Dieses Land hatte er schon früher be-
sucht; den jüngsten Ausflug machte er vorzugsweise zu botani-
schen Forschungen und Sammlungen. „Ich bereifte," so schreibt
er uns, „die Provinz Antioquia, wo ich die Andes bis zu 13,000
Fuß Meereshöhe bestieg und, abgesehen von interessanten Pal-
men, Orchideen, Blattpflanzen:c., auch in zoologischer Hinsicht
eine gute Ausbeute erlangte. Die wissenschaftlichen Resultate
werden dem sich für dieselben interessirenden Publicum dem-
nächst bekannt gegeben werden; denn während das botanische
Ergebniß in den Etablissements des Herrn Linden in Brüssel
und Gent seiner weitern Verbreitung entgegensieht, sind die
Conchylien dem Professor Mousson in der Schweiz und die
Käfer und anderen Jnsecten an verschiedene Fachmänner zur Be-
stimmung vertheilt worden. Das ganze zoologische Resultat über-
Haupt wurde zu schließlicher Verfügung Herrn Eustos Schmaltz
in Hamburg anvertraut; eine Partie von Moosen und anderen
Kryptogamen geht, gleichfalls zum Zwecke der Bestimmung, in
die Hände des Dr. Karl Müller in Halle über."
— Die Zahl der Dampserlinien zwischen Neuyork
und Europa steigert sich mit jedem Jahre. Zu Cardiff in
Schottland wurde jüngst das erste Schiff für die Linie zwischen
dieser Stadt und dem großen Emporium am Hudson von Stapel
gelassen. Es heißt „Glamorgan" und soll die Fahrt über den
Atlantischen Oeean in neun Tagen zurücklegen.
— Die Russen haben mehrere Dampfer in der Fahrt
von Odessa nach Schanghai. Dieselben schiffen den $ang
tse kiang hinauf bis nach dem großen Theemarkte Hanksu, wo
sie Ladung einnehmen. Zu Nagasaki in Japan kam zu Anfang
des Augustmonates der Dampfer „Surprife" aus London an;
er hatte für russische Rechnung die Bestandtheile für zehn Bar-
ken und drei Dampfer an Bord, außerdem eine große Menge
von Maschinen. Alles war für die Amur-Dampfschiff-
sahrtscompagnie bestimmt.
— Im August haben in der Amurgegend die Ueber-
schwemmungen große Verwüstungen angerichtet, namentlich auch
an den Telegraphen der russischen Landlinie, welche auf einer
Strecke von etwa 150 deutschen Meilen viele Beschädigungen er-
litten und bis auf Weiteres unbrauchbar geworden waren.
— Während die Blattern in manchen Theilen Südame-
rikas viele Menschen hinwegraffen, wüthen sie auch auf den
molukkischen Inseln. Aus Letti allein sind im April ihnen
mehr als 1200 Leute erlegen, zumeist junge und sast alle Kin-
der. Auf Moa blieben in einem Dorfe (einem Kampong) von
mehr als 500 Menschen nur 3 übrig und aus der Insel waren
schon mehr als 1700 Leute gestorben. Die Insulaner auf den
Molukken haben ein großes Vorurtheil gegen das Impfen.
— Ein Gottesdienst, der in einer dem Volke unver-
ständlichen ausgestorbenen Sprache abgehalten wird, ist für
das Volk so gut wie nichts nütze; doch Pflegen die Priester an
dem, was für die „heilige" Sprache gilt, festzuhalten. Die
japanische Regierung hat erklärt, daß ein so unverständi-
ger Brauch fernerhin nicht beobachtet werden solle. Sie machte
einen Erlaß bekannt, in welchem Priester aller Secten einge-
laden werden, sich an einem festgesetzten Tage im Kiobuscho,
dem Staatsministerium für Aufklärung und Religion, einzu-
finden und dort die Gebetsformeln entgegenzunehmen, welche
sie fortan dem Volke mitzutheilen haben. Das Volk habe ein
Anrecht, von den Priestern nur solche Dinge zu hören, welche
ihm verständlich seien.
— Die Namen vieler Flüsse, Berge, Ortschaften und Staa-
ten in Nordamerika sind indianischen Ursprungs und
nicht selten arg corrumpirt. Dr. Shea in Neuyork hat man-
cherlei darüber zusammengestellt. Ihm zufolge hat Alabama
seinen Namen nach einem Jndianerstamme, der von den Fran-
zosen Louisianas als Alibamons bezeichnet wurde. — Mis-
sissippi bedeutet: großer Fluß, michisipi (— nach Anderen:
Vater der Flüsse, mecha seba —). Arkansas ist der Name,
welchen die Algonkiner den Gueppas beilegten. Kentucky und
Connecticut sollen großer Fluß bedeuten; wir lassen dahin-
gestellt sein, ob für Kentucky diefe Behauptung zutrifft. — Aus
Michi gami, großer See, ist Michigan geworden; Ohio be-
deutet schöner Fluß; Illinois bedeutet: Wir sind Männer
oder Menschen; Wisconsin soll corrumpirt sein aus miscosi,
roth; Missouri soll einen Nachen, Kahn bedeuten. Aus
Ajawa, jenseits, nämlich des Stromes, Mississippi, ist Iowa
geworden.
— „Den kolossalsten Käse, welchen die Welt jemals
gesehen," hat „zu ewigem Ruhme" die Stadt Painesville im
Staate Ohio aufzuweisen. Das Monstrum hat ein Gewicht von
3500 Pfund. „Um dieses Wunderwerk herzustellen, war die
Mitwirkung von etwa 2000 Kühen erforderlich, und fünf Ort-
schaften theilen sich in den Ruhm, so Großes geleistet zu haben."
Inhalt: Im Lande der nördlichen Laos. I. Mit vier Abbildungen.) — Das römisch-germanische Museum in Mainz. V.
(Mit sechszehn Abbildungen.) (Schluß.)— Nachrichten von der schwedischen Polarexpedition 1872. I. — Aus deutschen Landschaften.
4. Westschlesien und feine Bewohner. I. ■— Aus allen Erdtheilen: K. v. Fritsch und I. I. Rein im marokkanischen Atlas. —
Chinesische Studenten im Auslande. — Aus Central- und Südamerika. — Aus Neuseeland. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redciction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschwcig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Svhn in Vraunschweig.
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Band XXII.
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JUS 21.
Mit besonäerer Serücksirktigung äer Anthropologie unä Gtknologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
December Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1812.
—
I
Ii
Im Lande der nördlichen Laos.
ii.
Vulcanischer Boden. — Die Wasserscheide zwischen Mekhong und Menam. — In Pak ta und Muong Nan. — Bambusbrücke. —
Die Wilden vom großen Stamme der Lemeth. — Die Kriege unter den Laoskönigen. — Verödete Landschaften. — Handels-
verkehr an der Stromschnelle Tang ho. — Luong Lim und dessen Markt. — Schwierige Lage der Reisenden.
Oberhalb Luang Prabang wird die Vegetation, welche
bis dahin einen wesentlich tropischen Charakter trug, einför-
miger; doch treten noch wilde Bananen aus, zusammen mit
Bombax und einigen riesigen Palmen, welche sich aus den
Höhen der Kalksteinberge erheben. Dort kommen neben ihnen
auch Fichten vor, welche den Reisenden an Europa erinnern.
Die Dörfer liegen weit aus einander zerstreut; einige dem-
selben werden von Laosleuten bewohnt, die aus den weiter
nördlich gelegenen Fürstenthümern Muong Kun und £ieng
Tong hierher geflüchtet sind. Die Anzahl der „Wilden"
ist aber viel beträchtlicher als jene der Laos; jene gehören
fast alle dem Stamme der Khmus an und ihre Dörfer
stehen auf dem zweiten Terrasfenabhange der Höhenzüge oder
in den Schluchten derselben.
Die Eingeborenen hatten behauptet, daß in der Nähe des
Dorfes Ban Tanun am rechten Ufer thätige Vulcaue
seien; eine Untersuchung des Geognosten Joubert und des
Herrn de Carns ergab aber, daß es sich bei diesen Angaben
nicht um einen Eruptionskrater handle, sondern um eine viel-
fach von Spalten durchrissene Bodenvertiefung, aus welcher
Gase und Wasserdämpfe emporstiegen, und zwar an zwei
Punkten, die von den Eingeborenen als Berg des großen
und als^Berg des kleinen Feuers bezeichnet werden. Beide
verschieben sich allmälig und man kann ihr Vorrücken dar-
Globus XXII. Nr. 21. (December 1872.)
aus abnehmen, daß aller Pflanzenwuchs zerstört ist und
mächtige Baumstämme mehr oder weniger verbrannt umher-
liegen; auch findet man krystallisirten Schwefel. Der große
Feuerberg, Phu fay mal, nahm eine Fläche von etwa 700
bis 800 Meter in der Länge und 300 in der Breite ein.
Wenn man das Ohr auf die Erde legte, vernahm man ein
weit entferntes dumpfes Geräusch. Die Eingeborenen sam-
meln den Schwefel.
Am 29. Mai 1867 kam die Expedition Lagree's an der
Mündung des kleinen Flusses Se Ngum vorüber. An
und für sich hat derselbe keine Bedeutung, ist jedoch bemer-
kenswerth, weil von dem entgegengesetzten AbHange
der Höhenkette, auf welcher er entspringt, der öst-
lichste Arm des Menam (des Hauptstromes von Siam)
herabfließt. Die Quellen beider Wasferläufe sind nur
durch eine geringe Landstrecke von einander getrennt und die
Eingeborenen behaupten, daß man bei Hochwasser, wenn
man einen Kahn etwa eine halbe Stunde Weges auf flachem
Gelände schleppe, man aus dem Stromgebiet des Mekhong
in jenes des Menam gelange. — Im Dorfe Pak Ben wurde
24 Stunden angehalten. Der Ortsvorsteher war ein Wil-
der, der sich sehr zuvorkommend benahm; wir geben um-
stehend sein Porträt.
Pak ta, das weiter stromaufwärts liegt (— Pak be-
41
I
W
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522
Im Lande der nördlichen Laos.
deutet Mündung —), ist ein sehr großes Dorf, in welchem
die Expedition ihre Barken wechseln mußte; in einer dortigen
Pagode befindet sich eine Glocke von so vortrefflichem Guß
und mit so fein ciselirten Arabesken, daß sie mit den vollendet-
sten Kunstwerken Europas sich dreist messen kann. Sie soll
aus einer Gegend, die zwischen Wnnan und Tongking liegt,
dorthin gekommen sein.
Die Reisenden gelangten nun in die große Laosprovinz
Muong Nan, deren zweitwichtigste Stadt Xieng Khong
ist. Hier fanden sie vier große Hütten zu ihrer Aufnahme
bereit, wurden sehr freundlich aufgenommen und der Gou-
verneur machte ihnen sofort seinen Besuch. Er war einer
der wichtigsten Männer im Lande, und stand auf einem ge-
fährlichen Posten, weil diese Gegend oftmals ein Zankapfel
zwischen Birma und Siam gewesen ist. In dem Passe,
welchen die Reisenden von der siamesischen Regierung erhal-
ten hatten, stand allerdings, daß sie überall auf siamesischem
Gebiete sich frei bewegen dürften, aber es stand nicht darin
Häuptling der Wilden von Pak Ben.
geschrieben, daß sie dasselbe verlassen dürften, und das machte
den Gouverneur bedenklich; er war im Ungewissen, ob er sie
über die Grenze ziehen lassen dürfe. Lagrse bewies ihm,
daß er befugt sei, doch wenigstens bis an dieselbe zu gehen,
worauf ihm entgegnet wurde: „Ihr sollt allerdings bis dahin
ein Geleit bekommen, aber bedenkt wohl, daß der Punkt mitten
im Walde liegt und daß Ihr dort weder Lebensmittel noch
Transportgelegenheit findet. Der Strom hört dort aus, schiff-
bar zu sein; Ihr müßt von dort aus zu Lande weiter reisen."
In Folge einer Palastrevolution in der birmanischen
Hauptstadt war es nicht möglich gewesen, der Expedition
Pässe von dort zu besorgen; doch war man dort von der Ab-
sicht Lagröe's unterrichtet worden, und so konnte dieser an
den König von Tieng Tong schreiben, der ein laotischer
Vasall Birmas ist uud dessen Gebiet an das siamesische von
£ieng Khong grenzt. Bei diesem Fürsten war ein Agent
der birmanischen Regierung. Es wurde ein Eilbote an jenen
König abgefertigt, der allerlei Geschenke für denselben mit-
324 Im Lande der
nahm: einen Fußteppich, Fächer, einen Zeugstoff aus Algier,
Pfeifen, Seife, Taschentücher zc. „Hätten wir gewußt, daß
die birmanischen Schanstaaten in lebhaftem Handelsverkehr
mit den britischen Besitzungen stehen, so würden wir nicht
solche Sachen geschickt haben, denn sie mußten die Meinung
erwecken, daß es mit uns sehr dürftig bestellt sei. Indessen
kam es uns ja nur darauf an, dem König unsern guten
Willen zu zeigen."
Bis auf Weiteres blieb die Expedition in Aieng Khong.
Der Ort ist mit einem Wassergraben und Pfahlwerk um-
geben; über einen Fluß,. an dessen beiden Ufern das Dorf
liegt, hat man eine Bambus brücke gespannt, die sich recht
hübsch ausnimmt, auf welche jedoch ein Europäer sich nur
mit Zagen und Zittern wagen wird. Durch den Wald hat
man Pfade gebahnt; sie sind so breit, daß man sie fast als
Wege oder Straßen bezeichnen könnte. Aber Zugochsen mit
Karren kamen dort nicht mehr vor; einige Elephanten schlepp-
ten mächtige Blöcke von Teckholz, das von nun an auftritt;
daneben sieht man Ochsen, welche Lasten tragen.
nördlichen Laos.
Das Wort 9c t eng bezeichnet in dieser nördlichen Gegend
den Hauptort einer Provinz, bedeutet also genau dasselbe,
wie von dort nach Süden hin die Bezeichnung Muong. Der
Handelsbetrieb ist gering und beschränkt sich auf Lebensmit-
tel und Salz; das letztere wird aus dem südlichen Laos be-
zogen. Bei der nur spärlichen Bevölkerung verliert sich von
hier ab mehr und mehr die Laosphysiognomie; der Haar-
büschel, welchen man nach siamesischer Mode oben auf dem
Kopfe stehen läßt, verschwindet nun; alle Leute, gleichviel
ob Laos oder Wilde, tragen langes Haar als Chignon an
der Seite des Kopfes und nach birmanischer Mode einen
Turban. Die Frauen zieren ihr Haar mit einer silbernen
Platte; ihre Hautfarbe ist heller als im Süden und der Ge-
sichtsansdruck feiner.
Bei den Wilden spielt das Kupfer eine wichtige Rolle.
Vermittelst zweier langen Doppelnadeln befestigen sie das
Haar auf dem Kopfe; haben Ringe um den Hals, schrau-
beuförmig gedreheteu Draht um den Gürtel und dicke Na-
deln mit starkem Knopfe in den Ohrlappen; in diese Ohr-
Wilde Lcmeth in der It
löcher stecken sie manchmal auch baumwollene Walzen von
2 bis 3 Centimeter Durchmesser. Die Männer sind spär-
lich bekleidet; die Frauen zeigen nie die Brust, sondern be-
decken dieselbe; sie tragen einen Rock von blauer Baumwolle
mit weißen Streifen und ein eng anschließendes Jäckchen.
Alle sind bescheiden, fast schüchtern, und manche recht hübsch
und anmnthig, aber sie altern früh, weil sie, gleich den Man-
nern, schwere Arbeit verrichten. Manche Laos nehmen sich
eine Frau unter den Wilden, und diese ist dann mit den
Laosfrauen vollkommen gleichgestellt. Die Wilden von Xtertg
Khong gehören zu dem großen Stamme der Lemeth, wel-
cher hauptsächlich im Flußgebiete der Nam ta wohut, am
linken User des Mekhong.
Am 14. Juni verließ die Expedition Tieng Khong; der
Gouverneur hatte ihr sechs Barken verschafft. Der Strom
macht eine Wendung erst nach Westen und fließt nun durch
eine ausgedehnte Ebene, dann nimmt er mit trägem Lauf
seine Richtung eine Strecke weit nach Süden und nimmt
den Nam kok auf; dieser breite Fluß kommt von der Ge-
birgskette Tauen tnng gyi, welche das Stromgebiet des Sa-
zegend von Xieng Khong.
luen von jenem des Mekhong scheidet. An ihm liegt die
Stadt 9tteng Hai', deren Ruinen Mac Leod im Jahre 1837
besucht hat. Sie war früher wichtig als Hauptstadt eines
der vielen Laoskönigreiche, die oftmals mit einander in Fehde
lagen und, weil uneinig, theils von den Birmanen, theils
von den Siamefen unterjocht wurde. Die letzteren haben
neben den Ruinen eine neue Stadt gebaut, in welcher ein
Gouverneur wohnt.
Ein großer Theil der schönen und fruchtbaren Region,
welche zwischen den Fürstenthümern Xieng Tong und Tieng
Mai sich ausdehnt, ist gegenwärtig fast unbewohnt; manche
in Rninen liegende Ortschaften geben sprechendes Zengniß,
daß die erwähnten Kriege Schuld an der Verödung sind.
Garnier besuchte Tieng Sen, das in der zweiten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts zerstört wurde. Der Fürst von
Neng Mai' erhob sich 1774 gegen den Nachfolger Alom-
pra's, welcher das heutige birmanische Reich gegründet hat,
und wandte sich nach Siam um Hülfe. Hier war vor Kur-
zem Bangkok zur Hauptstadt des Reiches erhoben worden,
nachdem die alte Capitale Aynthia, welche Phaya Utong
Im Lande der nördlichen Laos.
im Jahre 1350 gegründet, 1767 durch die Birmanen zer-
stört worden war. In Folge jener Erhebung kamen die
Laosstaaten im obern Stromgebiete des Mekhong: Xieng
Mai, Lakon, Laphon, Muong Nan, Muong Phe unter sia-
mesische Herrschaft. Gegenwärtig sieht man von Tieng Sen,
dieser frühern Hauptstadt von Nordlaos, nur noch den Thurm
einer Pagode, umgestürzte oder auch aufrecht stehende Bud-
dhabilder, halbverfallene Gebäude und Steinhaufen, welche
vom Gestrüpp überwuchert werden. Nach Westen hin sind
ausgedehnte Teckwälder. Als die Europäer zwischen den
Ruinen umhergingen, bot sich ihnen ein Überrascheuder An-
blick. Es war an jenem Tage sehr heißes Wetter und die
Luft ganz still. Plötzlich vernahmen sie ein Geräusch; als
sie nach der Richtung hinblickten, aus welcher dasselbe kam,
sahen sie, daß ein Rhiuoceros sich an einen Mangostamm
drängte und denselben hin und her schüttelte, damit die
Früchte herabfallen sollten. Gleich nachher kamen noch zwei
andere dieser mächtigen Thiers
in Sicht. Als sie Menschen
bemerkten, trabten sie mit
schweren Tritten durch das
Gestrüpp. (S. 326.)
Weiter nach Norden hin
war das ganze Land völlig
verödet; an einer Stelle tra-
sen die Reisenden auf eine
Lagerstätte mit Leuten aus
9£teng Mai, die von einem
Streifzuge aus den Wäldern
zurückgekommen waren; sie
hatten dort Wachs gesucht,
welches sie nun über einem
Feuer reinigten und zu Ku-
chen formten; diese bilden
eine Handelswaare. Am 18.
Juni wurde der Punkt er-
reicht, wo die Stromschnelle
Tang Ho der Schiffahrt
unüberwindliche Hindernisse
entgegenstellt. Am rechten
Ufer, welches zu Tieng Tong
gehörte, also birmanisch war,
hatte man eine Sala errich-
tet ( — auf H. Kiepert's mehr-
fach erwähnter Karte Kiang
Tfen genannt, unter 20°N.,
101° O. —), und von nun
an hatten die siamesischen Buddhawagen
Pässe keine Gültigkeit mehr.
Die Antwort auf das an den Laoskönig von Lieng Tong
abgefertigte Schreiben konnte erst in acht, vielleicht vierzehn
Tagen eintreffen; inzwischen setzte Lagree den Gouverneur
der benachbarten Provinz Muong Lim in Kunde von Allem,
was er gethan hatte. In der Sala befanden sich birmani-
sche Reisende und Laosleute, des Handels wegen, und es
trafen einige Ochsenkarawanen ein; hier ist eine Art von
Stapelplatz, an welchem ein Austausch stattfindet. Barken
aus Luaug Prabang bringen Salz; aus ^ieng Mai kommen
auf dem Landwege Gambierkugeln und Arekanüfse; die Areka-
Palme kommt dort im Norden nicht mehr fort. Die Laos
kauen die Arekanuß mit Gambier; der letztere, welcher auch
in so bedeutender Menge nach Europa gebracht wird, daß
allein der Hafen von Singapore jährlich etwa 40 Millionen
Pfund verschifft, findet auch schon seit langer Zeit in China
seine Verwendung beim Färben der seidenen und baumwol-
leuen Stoffe.
Garnier unternahm Streifzüge in die Umgegend. Die
Landschaft war zugleich wild und großartig; weit und breit
keine menschliche Wohnung. Dann und wann hatte er flüch-
tige Spuren von Fischern oder Jägern angetroffen; jetzt
fehlten auch diefe; der Europäer war mutterseelenallein in
dieser asiatischen Einöde, in welcher er Hirsche traf, die nicht
vor ihm flohen, sondern ihn neugierig anblickten und bis auf
wenige Schritte herankommen ließen. Wenn er dann seine
Hand nach ihnen ausstreckte, als ob er sie greifen wolle,
wandten sie sich um und verschwanden rasch im Dickicht.
Auch Eber und Elephanten kamen in Sicht.
Am Abend erschienen Treiber mit zwölf Lastochsen vor
der Sala; der Gouverneur von Muong Lim hatte sie zur
Verfügung gestellt. Aber sie reichten nicht aus, obwohl die
Reisenden ihr Gepäck möglichst vermindert hatten; sie be-
durften zum Fortschaffen ihrer Instrumente, Taufchwaareu:c.
im Ganzen wenigstens zwanzig Ochsen. Um so viele hat-
ten sie auch gebeten; jetzt hieß
es, die fehlenden acht sollten
am andern Abend eintreffen.
Also wurden die Barken nach
Xieng Khöng zurückgesandt;
Lagrse brach mit seinen Ge-
fährten auf und nur Garnier
blieb mit zwei annamitifchen
Dienern zurück, um das Gepäck
zu überwachen und die acht Last-
thiere zu erwarten. Die Re-
genzeit war hereingebrochen; es
goß ganzer 48 Stunden lang
wie in Strömen vom Himmel
herab. Die Wege waren so
grundlos geworden, daß die
zwölf Ochsen volle fünf Stun-
den gebraucht hatten, um von
dem nur anderthalb deutsche
Meilen entfernten Muong Lim
bis zur Sala zu gelangen. Der
Gouverneur schickte statt der
acht fehlenden Lastthiere zwan-
zig Männer. Die Reisen-
den bekamen nun einen Borge-
schmack davon, was es sagen
will, in der Regenzeit diese
Gegenden zu durchwandern.
Muong Lim ist ein gro-
ßes Dorf inmitten ausgedehn-
in einer Grotte. ter Reisfelder; dort wird je-
den fünften Tag ein großer
Markt gehalten. Der ziemlich hohe Preis der Lebensmittel
deutet auf einen nicht unbelangreichen Handelsverkehr. In
den Buden waren vielerlei englische Waaren zum
Verkauf ausgelegt. „Die Engländer bewahren in Bezug
auf die Herstellung der Waaren, welche sie in ferne Gegen-
den exportiren, viel Geschick und Praktischen Sinn. Sie ha-
ben für Hinterindien eine besondere Fabrikationsmethode und
passen Stoffe und Farbengebung der Zeuge dem Geschmacke
der Eingeborenen an. Sie bedrucken z. B. die Baumwollen-
zeuge mit Bildern von Pagoden und anderen buddhistischen
Emblemen, und die Stoffe haben genau die Länge und Breite
der Waaren, welche die Weber Hinterindiens beliebten, ehe
die fremden Zeuge eingeführt wurden."
Die Zahlungen finden in Muong Lim ganz nach chine-
sifcher Art statt. Das Silber ist eine Waare, welche ge--
wogen wird und die man gegen irgend eine andere Waare
austauscht. Die Reisenden mußten ihre Tikals in Klum-
Nachrichten von der schwed
Pen oder Barren und zwar in die landesübliche Form um-
schmelzen. Diese Barren werden mit Scheere oder Hammer
in Bruchstücke von verschiedenen Dimensionen verkleinert;
man bedient sich einer Schnellwaage mit drei Hebeln und
drei verschiedenen Abstufungen, um die Silberstücke abzu-
wiegen; Jedermann trägt eine solche Waage bei sich, wie
das auch in China der Fall ist. Nicht zwei solcher Waagen
stimmen genau überein, und der Handelsmann hat gewöhn-
lich zwei im Gebrauch, eine zum Einkauf, eine andere zum
Verkauf. Die Verwirrung wird noch dadurch gesteigert, daß
man birmanische und chinesische Gewichte neben einander an-
wendet, und daß häusig Uebervortheilung stattfindet.
Die Leute in Muong Lim traten sehr selbständig auf
und suchten von dem Europäer so viel Vortheil als irgend
möglich zu ziehen; sie forderten für Alles hohe Preise und
konnten erpressen, was ihnen beliebte, weil die Fremden hier
noch keinen Schutz von Seiten der Regierung hatten. Da
sie sich auf geringe Geldmittel angewiesen sahen, mußten sie
so fparfam als möglich sein, selbst beim Einkaufen von
Lebensmitteln. Mit ihrer Gesundheit stand es auch nicht
zum Besten; Dr. Thorel litt an Dysenterie, Delaporte hatte
Geschwüre an den Füßen, welche außerdem durch Blutigel,
die ihn heimgesucht, dermaßen zugerichtet waren, daß er nicht
gehen konnte. Er mußte getragen werden, und das war
eine Schwierigkeit mehr auf einem Landwege, wo die Pfade
für Lastthiere gar nicht zu begehen waren.
Ueberdies schwebten die Reisenden in Ungewißheit über
das, was kommen werde; die Antwort des Königs von Tieng
Tong ließ lange auf sich warten, und jeder Tag, an welchem
sie stillzuliegen gezwungen waren, kostete Geld. Lagree war
in sehr'gedrückter Stimmung. „Wir haben," fagte er, „nicht
hen Polarexpedition 1872. 327
einmal Mittel genug, um den guten Willen eincS dieser klei-
nen Häuptlinge erkaufen zu können, und doch hängt von
dem Wohlwollen oder dem bösen Willen eines solchen der
Erfolg unserer Expedition ab. Wenn wir uns der aller-
äußersten Sparsamkeit befleißigen, können wir nothdürstig
fiirtf bis sechs Monate ausreichen, hinterher aber sind wir
bankerott. Wenn man uns nur wenigstens fünfundzwanzig-
tausend Francs mehr gegeben"hätte!"
Die Reifenden ließen sich freilich nicht merken, daß ihre
Mittel so sehr beschränkt seien, traten vielmehr stolz auf und
trösteten sich mit der Hoffnung, daß sie irgend einen Poten-
taten antreffen würden, der ihnen Credit gäbe. Mit Recht
waren sie unwillig über die Knickerigkeit des französischen
Gouverneurs von Cochinchina, der an allem Möglichen ab-
geknappt, und fechs muthige Männer fast ganz allein auf
sich selbst angewiesen hatte. Und doch handelte es sich um
eine in jeder Beziehung wichtige Expedition. Es ist ihnen
späterhin allerdings gelungen, Vorschüsse zu erhalten, aber
das konnten sie damals, als sie sich in Muong Lim in einer
schwierigen Lage befanden, nicht wissen. Der dortige Gou-
vernenr war acht und siebenzig Jahre alt; er wartete ab,
welche Weisungen er von seinem Vorgesetzten bekommen werde,
benahm sich jedoch höflich und rücksichtsvoll. Die Frem-
den bekamen eine Ehrenwache, ihre Wohnung wurde ihnen
möglichst bequem hergerichtet und selbst Abendmusiken ließ
er ihnen bringen. Der Hauptsänger hatte eine recht an-
genehme Stimme, und der Chor wiederholte sehr correct den
Refrain, mit welchem jener seinen Gesang beschloß.
Wir werden späterhin die Reisenden auf ihrer schwieri-
gen Wanderung weiter bis nach China hinein begleiten.
Nachrichten von der schwedischen Polarexpedition 1872.
ii.
Zur Verfügung der Expedition steht ferner die Lastbrigg
„Gladan" unter dem Befehle des Lieutenants v. Krufen-
stjerna als Chef und des Lieutenants v. Holter als mitcom-
mandirtemOffizier. „Gladan" lud in Göteborg ein daselbst
angefertigtes Haus ein, welches zu unserer Wintervilla aus
Spitzbergen bestimmt ist, und sechs Zimmer, Küche, Bade-
stube, Speisekammer und Kartoffelkeller enthält, die beiden
letzteren ungefähr in der Mitte des Gebäudes belegen, um
die Vorräthe möglichst gegen den Frost zu schützen. Das
Gebäude hat 10 Fenster mit Rahmen und Ventilen sowohl
auswendig als inwendig, ist 50 Fuß lang, 38,3 Fuß breit
und inwendig von dem Fußboden bis zur Decke 9,5 Fuß
hoch. Die äußere Wand besteht in dreizölligen stehenden,
gespundeten Planken und einer auswendig befindlichen fiinf-
viertelzölligen Bekleidung mit Theerpapier dazwischen und
inwendig einer dreiviertelzölligen bretternen Paneelung, in-
wendig versehen mit Verhäutungspappe. Die Zwischen-
wände bestehen in dreizölligen gespundeten Planken mit Ver-
Häutungspappe und dreiviertelzölliger Paneelung zu beiden
Seiten. Der Fußboden ist von doppelten l^g Zoll dicken,
ebenfalls gehobelten und gespundeten Brettern mit zwischen-
gelegter Verhäutungspappe, und die Dachstühle sind gedeckt
mit ll/z Zoll dicken ähnlichen Brettern, auswendig mit
Asphaltpappe von Munksjö. Die Zimmer bestehen in drei
Befehlzimmern, einem Unterbefehlzimmer für 4 Personen,
einem Mannschaftszimmer für zwölf Mann und außerdem
einem, dem größten von allen, bestimmt zu einem gemein-
schaftlichen Versammlungszimmer, Werkstätte, Fecht- und
Turnsaal. In demselben befinden sich eine Hobelbank, eine
Drechselbank und allerlei Werkzeuge uebst anderen vortress-
liehen Mitteln, um den Scorbut entfernt zu halten. In
allen Zimmern sind sogenannte „Mitrailleusen", d. i. Feue-
rung sparende Kamine aus Christiaustad. Auf dem Boden
sind an jeder Seite zwei Schießlöcher, um die oben erwähn-
ten Eisbären gehörig in Empfang nehmen und abfertigen
zu können. Zu den Eisfahrten wurden in Kopenhagen drei
Boote mit Schlitten gebaut. Das erste Boot, „Anna", ist
16 Fuß lang, 5 Fuß breit und 300 Pfund schwer; das
zweite, „Sophia", ist 13 Fuß lang, 4,5 Fuß breit und
200 Pfund schwer; das dritte, „Louise", hat dieselben Di-
mensionen, wiegt aber nur 145 Pfund. Zwei derselben
sind auf Kraviel gebaut mit doppelter Bekleidung, die innere
von Weiden- und die äußere von Efchenholz; das dritte ist
klinkerweise von Eschenholz gebaut. Von letzterer Holzart
sind auch die Schlitten zu den Booten angefertigt. Als Pro-
viant zur Eisfahrt soll mitgenommen werden: getrocknetes
Brot, Kaffee, 900 Pfund „Pemmimn", d. i. getrocknetes
Rindfleisch, getränkt mit Butter und Fett und eingelegt in
hermetisch geschlossene, in Stockholm angefertigte Büchsen,
und ferner concentrirter Rum aus London. Zum Kochen
328 Nachrichten von der schwed
der Speisen und zum Schmelzen des Eises und Schnees
haben wir eigens dazu constrnirte Photogenküchen und eine
gehörige Quantität Photogen. Außer Schlafsäcken von
dickem Filz, zubereitet in Stockholm, sind in England zehn
sogenannte Luftmatratzen von Gättapertfcha eingekauft. Jeder
hat seinen eigenen Schlafsack und seine Matratze. Ueber
das Bett wird eine Decke von Schaffell gedeckt und über das
Ganze ein Zelt von Segeltuch gespannt. Zum Schutze kann
in hartem Wetter in 45 Minuten ein Schneehaus ausge-
warfen werden. Zu den magnetischen und astronomischen
Observationen nehmen wir drei in Stockholm zubereitete Ob-
servatorien mit. Wir sind reichlich mit wissenschaftlichen
Instrumenten aller Art versehen. Wohin man sich in dem
Fahrzeug wendet und dreht, stößt man auf ein solches. Bald
ist man nahe daran, einen Galvanometer zu zerschlagen, bald
läuft man Gefahr, in den zoologischen Schrapen stecken zu
bleiben, und ist man diesen glücklich entgangen, so ist man
keineswegs sicher, denn in dem nächsten Augenblicke droht
ein Bulldog-Tieslothungsapparat oder eine der Blumenpressen
des Botanikers oder ein Stativ des Astronomen oder des
Photographen. Es ist unmöglich, alle Thermometer, Baro-
meter, Compasse, Inclinatorien, Sextanten, Diopter, und
wie es Alles heißt, das uns in buntem Wirrwar nmgiebt,
herzuzählen.
Der Proviant ist auf 13 Monate berechnet und von
ausgezeichneter Beschaffenheit, wie ich aus Erfahrung ver-
sichern kann. Ich will eine Beschreibung desselben liefern.
Unser Speisezettel ist für den Sommer folgender: Nr. 1.
Frühstück: Butter 6 Ort (100 Ort — 1 Pfund), Kaffee
7,5 Ort, Zucker 7,5 Ort; Mittag: geräucherter Speck oder
getrockneter Fisch 75 Ort, Sauerkohl 75 Ort, präservirte
Kartoffeln 12 Ort, präfervirtes Gemüse 5,6 Ort, Fleisch-
extract 1,5 Ort, Branntwein oder Rum 2 Cubikzoll oder
Bier 12 Cubikzoll; Abendbrot: Thee 1,5 Ort, Zucker
7,5 Ort, Butter 6 Ort. — Nr. 2. Frühstück gleich Nr. 1;
Mittag: präservirtes Fleisch eine Portion, präservirte Kar-
toffeln 12 Ort, dito Gemüse 5,6 Ort, Fleischextract 1,5 Ort,
Branntwein oder Rum oder auch Bier sowie Abendbrot wie
Nr. 1. — Nr. 3. Frühstück: Butter 6 Ort, Chocolate
7.5 Ort, Zucker 7,5 Ort; Mittag: gesalzener Speck 1 Pfund,
Erbsen 8 Cubikzoll, Gersteugrütze 2 Cubikzoll, Branntwein,
Rum oder Bier sowie Abendessen gleich Nr. 1. — Nr. 4.
Frühstück wie Nr. 1; Mittag: gesalzenes Fleisch 1 Pfund,
Erbsen 8 Cubikzoll, Gerstengrütze 2 Cubikzoll, Branntwein
und Rum oder Bier sowie Abendessen gleich Nr. 1. Außer-
ordentliche zufällige Bespeisung: Frühstück: Butter 6 Ort,
Käse 12 Ort, Branntwein oder Rum 2 Cubikzoll, Bier
12 Cubikzoll, Brot außer dem gewöhnlichen 50 Ort; Mit-
tag gleich Nr. 2; Abendbrot: Butter 6 Ort, Käse 12 Ort.
Außerdem erhält Jeder täglich 1,25 Pfund Brot, 2,5 Ort
Taback, 21 Ort Salz/ 7 Ort Senf, 3 Ort Pfeffer und
2 Cubikzoll Essig. Wöchentlich wird Nr. 1 an einem Tage,
Nr. 2 an drei, Nr. 3 an zwei Tagen und Nr. 4 an einem
Tage gegeben.— Der Speisezettel für den Winter lautet so:
Frühstück und Abendbrot wie im Sommer; Mittag Nr. 1:
geräucherter Speck oder getrockneter Fisch 75 Ort, Sauerkohl
75 Ort, präservirte Kartoffeln 12 Ort, präservirtes Gemüse
5.6 Ort, Fleischextract 1,5 Ort, Reis 50 Ort, Rosinen oder
Korinthen 5 Ort, Branntwein oder Rum 2 Cubikzoll oder
Bier 12 Cubikzoll. — Nr. 2 wie im Sommer. — Nr. 3
desgleichen nebst Fleischextract. — Nr. 4. gesalzenes Fleisch
1 Pfund, Obstsuppe 1 Portion, Branntwein:c. wie ge-
wöhnlich. Außerdem erhält Jeder täglich 1,25 Pfund trock-
nes Brot oder eine entsprechende Quantität Mehl zu frischem
Brot, wobei 1 Ort Hefenpulver zu jeder Portion Mehl be-
rechnet wird, 2,5 Ort Taback und 3 Ort oder 0,5 Cubikzoll
chen Polarexpedition 1872.
Lemon juice (concentrirten Citronensaft gegen den Scorbut).
In jeder Woche wird außerdem ausgetheilt: 1 Pfund Wei-
zenmehl, 30 Ort Butter zum Braten, 21 Ort Salz, 7 Ort
Senf, 3 Ort Pfeffer und 2 Cubikzoll Essig. Wenn frisches
Fleisch, frische Kartoffeln und frisches Gemüse zu erhalten
sind, werden diese Artikel anstatt der Präserven gereicht und
dabei 1 Pfuud frisches Fleisch anstatt 1 Portion, 75 Ort
Kartoffeln gleich 12 Ort präservirter und 7,5 Ort Gemüse
gleich 5,6 Ort präservirten berechnet. Hier wird wöchentlich
Nr. 1 einmal, Nr. 2 viermal und Nr. 3 und Nr. 4 je ein-
mal gegeben. Außerdem werden verschiedene Kleinigkeiten,
als Meerrettig, Pickles und präservirte Milch gegeben, welche
nicht in der Speiseordnung stehen, aber erforderlichen Falls
angewendet werden sollen. Diese Speise ist gemeinsam für
Alle. Auch ist das Gunroom mit verschiedenen feineren Prä-
ferven und Delicatessen versehen, welche für feierlichere Ge-
legenheiten bestimmt sind.
Der Dampfer „Onkel Adam" wird am Ende dieses
Monats von Göteborg abgehen mit dem Renthiermoos, das
„Gladan" nicht mitnehmen konnte, und wird hier in Tromsö
ebenfalls solches an Bord nehmen, sowie auch die 40 Ren-
thiere, die Kleider von Renthierfellen, eine Menge von Ren-
thierfellen zur Anfertigung solcher Kleider und Verschiedeue
andere Artikel, sowie überhaupt von Tromsö der Kohlen-
Vorrath für den Winter, im Ganzen etwa 15,000 Cubikfuß,
abgeholt werden soll. — Unsere Abreise von Göteborg, welche
aus den 1. Juli angesetzt war, wurde aus verschiedenen An-
lässen bis zur Nacht vom 3. auf den 4. verschoben. Von
„Gladan" schieden wir am 5. Nachmittags um 4 Uhr im
Skagerrack, nachdem wir sie von Göteborg bis dorthin bug-
sirt hatten. Wäre unser Kohlenvorrath ausreichend gewesen,
so hätten wir sie gewiß nicht unter den vorhandenen für sie
so ungünstigen Umständen verlassen. Inzwischen thaten wir
es ungern und indem wir die Hoffnung auf ein fröhliches
Wiedersehen im Eisfjord aussprachen. Die Mannschaft rief
ihr von der Regeling den Abschied zu, und bald war „Gla-
dan" hinter uns am Horizont verschwunden. Wir haben
darauf, um uns Futter für die hungerigen Dampfpferde zu
verschaffen, mehrere Häfen besucht, nämlich Stavanger, Aale-
sund und Bodö, von welchen Aalesund uns am besten gefiel.
In Bergen verweilten wir einige Stunden, nahmen dort
auch einen neuen Kronlothsen an Bord. Bon Stavanger
bis Tromsö sind wir stets innerhalb der Skären gegangen. —
Am 13. Juli früh Morgens kamen wir zuletzt in dem
kleinen Tromsö an, welches an und für sich als Stadt wenig
imponirt, aber um so mehr durch seine Umgebungen an-
schlägt: die oberhalb der Stadt belegenen Höhen mit einer
für die nördliche Lage (69°39' nördl. Br.) sehr reichen Ve-
getation Birkenhainen, das an der andern Seite des Sundes
gegenüber liegende, außerordentlich schöne Tromsdal mit
dem 4000 bis 5000 Fuß hohen Tromstind und den im
Norden, Süden, Osten und Westen herabblickenden beschnei-
ten Felsengipfeln. Hier und da auf den Höhen oberhalb
der Stadt find kleine, nette Landhäuser, wie durch einen Zu-
fall hingestreut. In der Stadt herrscht Leben und Bewe-
gung; überall erblickt man frohe und hübsche Gesichter. Die
Damen sind nach dem neuesten Modejournal gekleidet; die
Herren tragen schwarze Hüte, ganz wie in Stockholm. Alle
Menschen sind freundlich, artig und zuvorkommend, und man
denkt gar uicht daran, daß man sich in der Nähe des End-
Punktes der Civilisation befindet.
Bor uns lag hier das Fahrzeug der österreichischen Po-
larexpedition, „Admiral Tegethoff", unter dem Befehle des
Lieutenants Weyprecht. (Die nun folgende Beschreibung
des Fahrzeuges und der Ausrüstung desselben wird als für
Deutschland nichts Neues enthaltend übergangen.)
Nachrichten von der schwed
Hier in Tromsö haben wir kaum etwas Anderes zu
thun, als unfern Proviant, die Kisten mit den Wissenschaft-
lichen Instrumenten und dergleichen umzustaueu, die Mängel
zu completiren, welche unterwegs entdeckt sind, und uns in
unseren Vorräthen zu orientiren. Es ist wahrlich nicht leicht,
Ordnung in alle diese Dinge zu bringen. Proviant unter
uns, Uber uns und an allen Seiten. Auf dem Deck unter
dem Unterbau muß man unter zoologischen Kisten, Spiritus-
Häfen, Steinkohlenauflagen, Specktonnen, eisernen Bettstellen,
Kalktonnen, Wassercisternen, mit einem Worte unter fast
Allem, was denkbar ist, umherkriechen. Im Gnnroom, dem
ehemaligen Speisesaale, ist die eine lange Seite mit astro-
nomischen, magnetischen und anderen physikalischen Jnstru-
menten besetzt. Es liegt im Hintertheile auf dem Deck unter
dem Ueberbau; neben demselben hat der Chef, Palander,
seine Hütte. Auf dem Deck sind außerdem Hütten für den
Steuermann, Maschinisten und Zimmermann, sowie die
Kabuse. Unter Deck sind drei Salons. Der Vordersalon
und der hinterste sind mit Proviant gefüllt. Der Lastraum
zwischen dem Vordersalon und der Maschine ist vollgepfropft
mit Proviant und Steinkohlen. In dem Salon hinter der
Maschine wohnen der Professor Nordenfkjöld, der Arzt, die
beiden Gelehrten und der italienische Offizier. Vor dem
Vordersalon ist der Raum der Besatzung. Im Allgemeinen
ist für Kleider und dergleichen wenig Raum vorhanden, und
es ist gar nicht ungewöhnlich, daß man einen Kasten um-
kehren oder einen Sack aufheben muß, um einen Rock zu
bekommen. Bei der Waschanstalt bildet man Queue. Die
gute Laune aber fließt über, der eine Einfall löst den an-
dern ab, und wir sind jetzt nicht so delicat, daß wir nicht
auch über einen alten oder abgenutzten Scherz sollten lachen
können. Der Italiener trägt oft in hohem Grade zu un-'
serm Vergnügen bei. Da wir im Allgemeinen keine scharf-
sinnigen Philologen sind und keine fremde Sprache richtig
zu sprechen verstehen, so helfen wir uns lieber mit um fo
mehreren, und mit nnferm südländischen Freunde spricht der
Eine französisch, der Zweite englisch, der Dritte ein wenig
italienisch und der Vierte fünf lebende Sprachen auf ein-
mal. Das ist, wie unser Italiener sagt, „a Bable turret".
Wir warten hier nur noch auf die Ankunft der schwedi-
schen Post, um etwas von Hause zu vernehmen. Von Spitz-
bergen hoffe ich Gelegenheit zu finden, einige fernere Nach-
richten über uns und unsere Schicksale in der Gegend des
Nordpols einsenden zu köuuen.
*
In dem norwegischen „Aftonbladet" wird ferner berichtet:
Am 6. August ging das von der schwedischen Polarexpedi-
tion befrachtete Dampfboot „Onkel Adam" ab mit 40 Zug-
und Lastrenthieren, Renthiermoos, Kohlen und anderen Be-
dürsnissen. Später hat, von Norden kommend, auch „Mi-
mer" Tromsö besucht, und ist am 20. August wieder nord-
wärts abgegangen mit einer vollen Ladung, bestehend in
Kohlen, Renthiermoos, einigen Planken und zwei Pferden,
welche, nachdem sie benutzt worden sind, geschlachtet werden
sollen, nebst Futter für dieselben. Während des Ausenthal-
chen Polarexpedition 1872. 829
tes in der Dicksonbai wurde von dem Capitän Lithman, dem
Befehlshaber des „Mimer", ein Renthier lebendig gefangen
und mit nach Tromsö gebracht, — das erste, welches, so
viel man weiß, von Spitzbergen ausgeführt ist. Es soll bis
zu Lithman's Rückkehr in Tromsö bleiben. Es ist schon so
zahm, daß es dem Capitän aus der Hand frißt, besonders
wenn er es mit Kartoffeln tractirt, die es sehr liebt. Man
hat ihm zur Gesellschaft eine zahme Renthierkuh eingekauft,
und beide vertragen sich sehr gut. Das spitzbergische Ren-
thier ist etwas kleiner und stärker behaart als die uorwegi-
scheu Renthiere.
Die neuesten über die Expedition eingegangenen Nach-
richten lauten nicht günstig. Der oben erwähnte Mine-
ralog Dr. Oeberg ist nämlich auf seiner Rückreise vom Eis-
sjord am 5. September in Tromsö eingetroffen und hat
sofort durch den Telegraphen dem Stockholmer „Dagbladet"
folgende Mittheilung gemacht: Der den Weißsischfang be-
treibende Dampfer „Finn" meldete am 31. August im Eis-
sjorde, „Polhem" und „Gladan" hätten am 28. an der
Nordfpitze von Spitzbergen gelegen und würden fortwährend
vom Eis gehindert, nach den Sieben Inseln zu gelangen.
Die Renthiere sind auf Norskön ans Land gesetzt worden.
„OnkelAdam" ging am 2. September mit „Mimers" Koh-
lenladung vom Eisfjord gegen Norden ab, um Nordenskjöld
aufzusuchen. — Hieraus scheint wenigstens hervorzugehen,
daß die Ueberwinternng nicht, wie beabsichtigt war, aus der
Parry-Jnsel geschehen kann, sondern an einem südlichern
Punkte stattfinden muß, indem in Spitzbergen der Winter
fchon in der Mitte des September in feiner ganzen Stärke
aufzutreten pflegt.
*
* *
lieber die Entdeckungen, welche der Fangschiffer Alt-
mann auf feiner Jacht „ElvineDorothea" im Osten von
Spitzbergen gemacht, meldet ein Brief des Confuls I.
Berger iu Hammersest an das meteorologische Institut in
Christiania einige nähere Umstände. Alt mann fand das
Wasser dort diesmal ganz eisfrei, was in den 20
Jahren, da er dasselbe besegelt hatte, niemals der Fall
gewesen war. Er segelte ostwärts und erreichte das söge-
nannte Giles-Land (auf den Petermaun'schen Karten jetzt
König-Karl-Land genannt), welches aus drei größeren
und fünf kleineren Jnfeln besteht. Diese hat er so gut er
vermochte — denn gleich den meisten Fangmännern von
Finnmarken ist er kein wissenschaftlich gebildeter Navigator —
in sein Kartenexemplar eingetragen. Danach liegt die süd-
lichste Spitze der westlichsten Insel, welche an Breite zuueh-
meud sich gegen Norden erstreckt, ungefähr unter 78° 43'
nördl. Br. und 28° 35' östl. L. v. Gr. Die übrigen In-
feln liegen in nordöstlicher Richtung von dort, die östlichste
etwa unter 79°2' nördl. Br. und 32" 17' östl. L. v. Gr.
Altmann segelte längs der Südseite der Inseln hin und
zwischen denselben hindurch bis an die feste Eiskante im
Osten derselben, wo er bei klarer und reiner Luft weder im
Norden noch in einer andern Richtung Land erblickte. Aus
der größten der Inseln erlegte er 11 Eisbären.
Globus XXII. Nr. 21. (December 1872.)
42
330
Westschlesien und seine Bewohner.
Aus deutsche
4. Westschlesien
B. So sehr Westschlesien durch seine hohe Cultur, durch
Reichthum an Ortschaften, durch deren oft meilenweite Aus-
dehnuug, durch seine sanfte Gebirgssormation und deshalb
vorzugsweise mehr anmuthige als großartige Landschaften,
durch mehr Baum- als Waldreichthum u. s. w. so in gefäl-
ligem Wechsel sich vortheilhaft vor dem Nordosten Deutsch-
lauds auszeichnet, so fehlt ihm, wie zwar auch dem größten
Theile Mittel-, West- und Süddeutschlands, jedoch eine,
besonders Nordostdeutschland eigentümliche, landschaftliche
Schönheit, die der größeren stehenden, natürlichen Wasserflä-
chen, der Seen. Wer an diese oft von steilen Hügeln,
oder großen Wiesenflachen, oder von dichten Wäldern einge-
fchloffenen, oder theils mit Städten und Dörfern bebauten
und belebten Wasserspiegel, an diesen oft wahrhaft hohen
Zauber der norddeutschen Landschaften gewöhnt, oder dafür
empfänglich ist, der wird, wenn auch durch die vielerlei Reize
Westschlesiens anfänglich mehr als befriedigt, dennoch mit
der Zeit dort diefen Mangel empfinden.
Allerdings liegt in dem Fehlen der großen Wasserflächen
mit ein Grund des hohen Gesammtwerthes des Areals, der
starken Bevölkerung und ihres im Allgemeinen großen
Wohlstandes; denn jene Wasserflächen sind außerordentlich
weniger rentabel als der im größten Theile Westschlesiens
fast durchweg edle und schon lange mit Fleiß und Jntelli-
genz cultivirte Grund und Boden.
Eines Culturreizes muß hier auch gedacht werden, näm-
lich der an den vielen Kunststraßen und den Landwegen
meist, wenn zwar auch nicht durchgehend^ fleißig angepflanz-
ten Obst- und anderen Baumalleen. In der eigentlichen
Oberlausitz scheint die Liebe zu Alleen und Bäumen über-
Haupt weniger allgemein zu sein, worin neben der höhern
Lage die dortige Klage über häufige Stürme wegen man-
gelnder Brechung derselben ihre Ursache findet. Dagegen
giebt es in der Ebene und den angrenzenden Wellenfor-
mationen, dann auch um den Zobten herum, zahllose schöne
Alleen und gehegte Baumgruppen und Baumstreisen in dem
hochedlen Boden, nicht allein an Gräben, Bächen und feuchten
Plätzen, fondern auch an Grenzscheiden und kleinen Abhängen.
Diese Pflege und Schonung der Bäume zeichnet West-
schlesien sehr vortheilhaft vor den nördlicheren Provinzen
aus; denn der Märker und Pommer z. B. pflegt im Allge-
meinen die Cultur seines Areals damit zu beginnen, daß er
jeden Baum und Strauch auf den Feldern ausrodet, und
man findet dort deshalb oft genug Ackerflächen von 1000
bis 4000 Morgen, auf denen außer etwaigen Bäumen an
Alleen und beim Gehöft sonst kein einziger weiter auf der
unabsehbaren Fläche zu sehen ist.
Welchen angenehmen Wechsel bieten diese Baumreihen
und Gebüschstreifen durch die vielen Unterbrechungen der
Aus- und Fernsichten; und welchen hohen Nutzen gewähren
sie durch Brechung der Winde, durch Verminderung der
Ausdörrung des Bodeus, durch Couservirung der Feuchtig-
keit, namentlich des segensreichen Nachtthaues, den Feldern
in landwirtschaftlicher, und wahrscheinlich auch Menschen
und Vieh in gesundheitlicher Beziehung! Doch der betrieb-
same Schlesier weiß aus vielen dieser Bäume, namentlich
Pappeln, Linden, Eichen und Ulmen, noch einen ganz direc-
Landschaften.
seine Bewohner.
ten Nutzen für die Landwirtschaft dadurch zu ziehen, daß
er sie als atmosphärische Wiesen betrachtet, indem er
sie in gewöhnlich vierjährigen Zwischenräumen zur Zeit des
größten Blattreichthums entlaubt, aus diesem Laube ein vor-
zügliches Heu, und nach Abfütterung der Blätter in den
trockenen Zweigen ein schätzbares Brennmaterial gewinnt. In-
deß treibt er diese Entlaubung der Bäume meistens im wah-
ren Sinne des Wortes auf die Spitze, und schadet dadurch,
daß er den Bäumen fast gar keine Krone läßt, nicht sowohl
sich selbst insofern, als die zu sehr beschnittenen, unbewipfel-
ten Bäume nicht nur die Winde nicht mehr brechen, son-
dern auch nicht kräftig genug neue Triebe wieder bilden kön-
nen, als auch dem Reize der Landschaft durch den Anblick der
verkrüppelten, kronlosen, und daher zuweilen deshalb abster-
benden Bäume. Ein wenig mehr Maßhalten in dieser
Heugewinnung würde in jeder Hinsicht von Nutzen sein.
Obwohl der Boden Westschlesiens der Obstcultnr sehr
günstig zu sein scheint (denn sogar in den Einschnitten der
Chausseen durch die Basalthügel der Oberlausitz gedeihen die
Apfelbäume in dem leichtverwitternden Fels sehr kräftig),
und dort auch viel Obstbau getrieben wird, so findet dort
doch an manchen feineren Sorten Kernobst einiger Mangel
statt, und es sind deshalb in den letzteren Jahren von ein-
gewanderten Thüringern und Märkern nicht allein aus dem
obstreichen gesegneten Thüringen, sondern auch aus der nörd-
lichem Neumark feinere Obstsorten eingeführt worden.
Außerordentlich belebt wird Westschlesien durch seine vie-
len Fabriken, nicht allein in oder bei Städten, wie z. B.
dem schönen Görlitz, dieser Perle der Oberlausitz, das mit
einem dichten Kranze von allerhand Fabriken umrahmt ist,
sondern auch iu vielen Dörfern, besonders am Eulen- und
Riesengebirge, sowie durch die vielen Rübenzuckerfabriken
und den großartigen Gemüse- und Handelsgewächsbau in
der reichen westschlefischen Ebene. Gleichfalls bringt der
zwar nicht wie in dem südöstlichen Oberschlesien vielseitige,
aber doch bedeutende Bergbau auf Kohlen im Waldenburger
Gebiete, ferner bringen die Marmor- und anderen Stein-
brüche in einigen Hügelgebieten, die Glasfabrikation und
Glasfchleiferei im Gebirge, zahllose Ziegeleien, Drains- und
Thonwaarenfabriken :c. in der Ebene, die Porcellanmanu-
factureu in Waldenburg und Altwasser, sowie endlich der
deshalb sehr bedeutende Handel und der ungeheure Transit
vielfältiges Leben und vielen Gewinn.
Daher haben die Eisenbahnen und anderen Kunststraßen,
selbst abgesehen von dem Strome der Fremden in der Kur-
und Reisezeit, einen sehr lebhaften Personenverkehr, und
wegen des trotz der starken Bevölkerung bedeutenden Ueber-
flnsses an landwirtschaftlichen, bergmännischen und anderen
Naturproducteu sowie an vielerlei Kuustproducten einen sehr
großen Güterverkehr. Vorzugsweise stark ist der Export,
unter welchem in der Menge Kohlen und Getreide, hingegen
im Werthe Schlesiens Wolle, die feinste und berühmteste der
Erde, uebst deren Fabrikaten, fowie Flachs und dessen Fa-
brikate einen besonders hohen Antheil haben.
Der Gewerbefleiß, die Betriebsamkeit und der praktische
Sinn des Volkes zeigt sich aber besonders in der sorgfälti-
gen Benutzung der Wafserläufe. An den größeren und auch
Dampfschifffahrt
an manchen kleineren Bächen sieht man Schöpfräder das ge-
hobene Wasser ausgedehnten Bleichen zuführen, deren in der
Sonne blendende weiße Flächen sich grell auf dem saftig
grünen Grunde abheben, und die so manchen Thaler aus
großer Ferne herbeiziehen. An den kleinen Bächen der Ge-
birgsdörfer erblickt man vielfach, auffallend Plötzlich, Mühlen-
rüder, ohne das Geklapper einer Mühle oder eine Holzsäge
zu hören, und ohne ein Fabrikgebäude zu sehen. Beim
Nähern hört mau ein leises Surreu und beim Eintritte in
das kleine Gebäude sieht man z. B. eine kleine Haspel-, oder
Spul-, oder Zwirnmaschinerie durch das Wasser getrieben,
und Hunderte von Spulen:c. durch eine einzige Frau be-
dient. Großartiger freilich sind die vielen großen Dampf-
spinnereien. Aber am Kleinen erkennt man schon den prak-
tischen Sinn, der durch steigende Intelligenz sich zu Unter-
nehmungslust ausbildet und mit Hülse des erworbenen Ca-
pitals Großes schafft.
Diese vielen und vielerlei kleinen gewerblichen Benutzun-
gen der oft nur winzigen Bäche überraschen den Fremden
um so leichter, als sie sich hier nicht oder selten, wie fast
überall in den nördlicheren Provinzen, schon von Weitem
durch verschwenderisch aufgestaute, oft große Wasserflächen
kennzeichnen, die dort durch Rückstau und Verhinderung der
Entwässerung Hunderte und Tausende von Morgen Landes
durchnässen und entwerthen, sondern meist ungeahnt vor
Augen treten, da der für sie nöthige Canal, oft nur eine
schmale, mit Gras überwucherte, oft theils verdeckte, und oft
versteckt hinter Gebäuden fortlaufende Rinne, sich bescheiden
dem Auge entzieht, dafür aber desto mehr leistet. Denn
während die Wassermühlen des Nordens oft nur einige Mo-
nate im Jahre, oder im Sommer einige Stunden des Tages
kaum ausreichendes Wasser haben, bei ihnen also außer frem-
der Schädigung, durch den Mühlenteich Fläche, und durch
theilweises Stillstehen der Werke Anlage- und Arbeitscapi-
tal verschwendet wird, haben diese kleinen Gebirgsmühlen
oder andere Werke fast immer ausreichendes Wasser, weil
ihre Erbauer sehr richtig bei ihrer Anlage nicht das schnell
verlaufende Hochwasser, sondern die gewöhnliche Wassermenge
berücksichtigt haben.
Aber nicht allein zu gewerblichen Zwecken, sondern, wo
Boden und Terrain es gestatten, auch zu Kunstwiesen be-
nutzt der industriöse Schlesier sorgfältig seine vielen Wasser-
läuft, und nicht bloß die größeren Bäche, fondern selbst die
kleinsten Quellen und Rinnsale und sogar die nur periodi-
schen Regenwasser macht er sich dienst- und nutzbar, woge-
gen man namentlich auf dem noch wenig cultivirten Wasser-
reichen Gebiete des Pommersch-Preußischen Hochrückens, außer
den dort gewöhnlichen Stau-, Wasser-, Mahl- und Schneide-
mühlen, etlichen Eisenhämmern und Papiermühlen, uugeach-
tet des oft reißenden Gefälles und ausreichender Wasser-
menge nur erst sehr wenige andere gewerbliche Wasseranla-
gen vorhanden, und noch viele passende Gelegenheiten zu
Rieselwiesen unbenutzt findet.
in der Südsee. 331
Die freigebige Natur hat Westschlesien bei dem allgemei-
nen Reichthume an Quellen auch eine ganze Reihe von
Heilquellen am Riesengebirge entlang verliehen. Diese mit
ihrer schönen und romantischen Umgebung, wie namentlich
Salzbrunn z. B. mit Fürstenstein, und Warmbrunn mit
dem Hirschberger Thale und dem nahen Hochgebirge, sowie
die Westschlesien eigenthümlich verschönenden isolirten hohen
Aussichtspunkte, besonders die Landskrone, der Zobten, der
Gröditzberg, der Greisenstein, ziehen nicht allein alljährlich
einen Strom von Curgästeu und anderen Fremden in die-
sen herrlichen Landstrich, sondern verbreiten ihn auch fegen-
bringend über viele Theile desselben.
Aber auch da, wo die Natur einzelne Bezirke dieses Land-
striches weniger mit Schönheit der Bodensormation oder mit
Bodenreichthum bedacht hat, versteht der Westschlesier sich
durch Intelligenz und unermüdlichen Fleiß selbst den Segen
allseitiger hoher Cultur und behaglichen Wohlstandes zu
schaffen, wie z. B. in dem berüchtigten Grüneberger Sande
durch Weinbau, der, wenn auch nicht gerade berühmt, so doch
einträglich ist. Deshalb giebt es in Westschlesien nur sehr
wenige und meist kleine Bezirke, die auf den Reisenden den
Eindruck der Oede oder des Mangels an Cultur machen.
Hieran hat dann hauptsächlich die Ungunst der Natur Schuld,
wie z. B. auf dem kahlen kalten Gebirgsplateau bei Ruh-
bank, in dem an zu großer Nässe und sterilem Boden leiden-
den Fichtenwalde bei Kohlfurt und etwa in einigen Theilen
der nördlichen Sandgegenden.
Westschlesien hat zwar keine Gold- und Silberbergwerke,
wie. vielleicht früher, worauf viele Namen wie Goldberg,
Silberberg, Kupferberg, Reinerz, Wünschelburg, Golden-
träum, Reichenstein hinweisen; wenigstens ist der Bergbau
auf Silber in Gottesberg gar nicht nennenswerth. Seine
Bäche führen nicht mehr Gold wie einst, was der mehrma-
lige Name Reichenbach andeutet, und die an sehr vielen
Namen vorkommenden Anfangs- oder Endsylben Seiffers
oder Seiffen (gleich Goldwäschen) mit Sicherheit beweisen.
Oder der Goldgehalt dieser Gewässer ist für die Gegenwart
nicht der vielen Arbeit Werth. Auch an Edelsteinen ist es nicht
reich und bietet deren nur geringere Arten. Jedoch vermag
der emsige, echt deutsch gewordene Westschlesier das Gold,
das Silber, auch ohne Gold- und Silbergruben zu gewinnen,
ans Kohle und Stein, aus Luft und Erde, Feuer und Was-
ser, Pflanze und Thier, und seine Heimath selbst zu einem
Edelstein der Krone Preußen zu gestalten.
Im Gesamtüberblicke wird Westschlesien darum wohl
unbestritten zu den schönsten, cultivirtestcn und bevölkertsten
Landstrichen Deutschlands zählen, und der Schlesier scheint
dies zu fühlen, scheint eine größere Heimathsliebe zu haben,
als namentlich der Nordostdeutsche. Denn während dieser
sich leicht entschließt, auszuwandern, geht der Schlesier wohl
periodisch in die Fremde, in Stellungen, auf Arbeit, zum
Hausiren und dergleichen; aber er kehrt meistens mit dem
ersparten Erwerbe in seine schöne Heimath zurück.
Dampfschifffahrt in der Südfee.
A. In der neuen Auflage von Stieler's Handatlas,
durch welchen die Herren A. Petermann, Hermann Berg-
haus und Vogel sich so große Verdienste erwerben, finden
wir auch eine „Weltkarte zur Uebersicht der Meeres-
strömungen und des Schnellverkehrs". Sie ist ganz
vortrefflich gearbeitet, nicht im Mindesten überladen und in
der That übersichtlich. Heute genügt es uns, einfach auf
dieses herrliche Blatt hinzuweisen, das zu mancherlei Be-
trachtungen veranlaßt. Die ungeheure Verkehrsbewegung
unserer Tage tritt uns auf demselben geradezu plastisch vor
42*
332 Dampfschifffahrt
Augen. Wir sehen die großen continentalen Eisenbahnen,
die Telegraphen und die Dampferliuien deutlich durch Farben
bezeichnet und können sie in allen ihren Verflechtungen mit
einem Blick Ubersehen. Diese Karte ist geradezu lebendig.
Sie macht uns klar, wie weit die Welt geworden
ist, wenn wir neben diese Weltkarte eine beliebige andere
legen, die uns veranschaulicht, wie armselig klein der
Raum war, welchen die Verfasser des ersten Buches Mosis
kannten. Es ist als ob man etwa ein kleines Hans in einer
unserer heutigen Riesenstädte sähe. Wie gering ist auch die
Ausdehnung des römischen Weltreiches oder jenes des mäch-
tigen Mongolenchans Kublai', das doch von Polen bis an
das japanische Meer reichte! In unseren Tagen haben wir
Dampferverbinduug über den ganzen Erdball, vom norwegi-
schen Nordcap bis zum Vorgebirge der Guteu Hoffnung,
von Bremen oder Hamburg bis Yokohama und Hakodade,
vom St. Lorenzstrome bis zur Magellansstraße, von dieser
nach Norden hin bis Sitcha in Alaska; von San Fran-
cisco auf doppeltem Wege durch den Großen Ocean, einmal
nach Ostasien, sodann nach Neuseeland und Australien, wo
Dampfer von dem indischen Ceylon her sich anschließen.
Im Welttelegraphen ist nur noch eine Lücke, zwischen
Westamerika und Ostasien. Man hatte 1867 mit großen
Anstrengungen den Versuch gemacht, dieselbe auszufüllen,
stand aber damals von dem großen Werke ab; es unterliegt
jedoch keinem Zweifel, daß in den nächsten Jahren dasselbe
wieder aufgenommen und mit Erfolg zu Ende geführt wird.
Die heutige Technik weiß alle Schwierigkeiten zu überwiu-
den, selbst den gefährlichen Meeresboden im hinterindischen
Korallenmeere.
Der Telegraph nach Australien ist vollendet und
in Thätigkeit; wir in Europa erhalten täglich Berichte aus
Adelaide, Melbourne, Sydney und Queensland. Das erste
Telegramm wurde in Adelaide am 21. October um 1 Uhr
7 Minuten Nachmittags aufgegeben, nachdem um 12 Uhr
30 Minuten das in Unordnung gerathene Kabel wieder-
hergestellt worden war. Es kam an demselben Tage in
London an um 9 Uhr 45 Minuten Abends. Es hatte
in dieser kurzen Frist einen ungeheueru Raum durchflogen,
zuerst auf dem Landwege von Adelaide durch das ganze anstra-
tische Festland nach Port Darwin an der Harafnrafee, und
von dort über Meer und über Land bis an die Themse.
Wenn man auf die Karte blickt, sieht man was das bedeu-
ten will.
Ja, die Welt ist für uns Menschen der Gegenwart weit
geworden; wir spüren fort und fort, daß der Ocean keine
trennende Schranke bildet; wir wissen, daß das Meer ein
Band zum Verkehr, daß die Wassermasse, welche uuseru Erd-
ball umfluthet, ein universelles Element ist. Je mehr die
Völker sich von diesem Ocean eroberten, je weiter sie auf
den nassen Bahnen sich in die Ferne bewegten, um so weiter
wurde auch ihr Blick. Und durch unsere neueren Verbin-
dnngsmittel, durch den Dampf, unterwarfen wir uns diesen
Ocean und zwangen ihn gleichsam in den Dienst unseres
Verkehrs.
Das Alterthum kannte vorzugsweise nur das Mittel-
läudische Meer, diese Thalassa, an welchem sich ein ungemein
reges Culturleben entfaltete. Das Mittelalter hatte bis
gegen das Ende des dreizehnten Jahrhunderts nicht einmal
eine Ahnung von dem Dasein des Großen Oceans, der zwi-
schen Asien und Amerika Millionen Geviertmeilen einnimmt;
es wußte eben so wenig von der westlichen Erdhalbe. Nur
zaghaft bewegten sich im fünfzehnten Jahrhundert die Por-
tugiefen über die Säulen des Hercules hinaus in den Atlan-
tischen Ocean und krochen gewissermaßen langsam an der
Westküste Afrikas nach Süden hin, bis dann das Cap der
in der Südsee.
Stürme umsegelt und der Seeweg nach Ostindien gefunden
wurde.
Fast gleichzeitig war Columbus nach Westen hin gefah-
ren, um auf diesem Wege Indien und das Heimathland der
Gewürze zu erreichen. Er entdeckte Amerika, diese neue
Welt, uud von nun an war der alte Bann gebrochen, das
Weltmeer man kann wohl sagen entfesselt. Der Verkehr fing
an oceanisch zu werden; die Menschen erhielten eine gewal-
tige Summe neuer Antriebe, neuer Anschauungen und Ein-
drücke; sie wurden von einem innern Drange erfaßt, der sie
nach außen hin trieb, immer weiter. Das Zeitalter der Ent-
decker und der Eroberer war gekommen; man gründete Han-
delsfactoreien und Colonien, gerieth in Verbindung mit einer
großen Anzahl verschiedener Völker, und es begauuen jene
vielfachen und gegenseitigen Einwirkungen, durch welche die
Welt so gründlich umgestaltet worden ist. Binnen vierte-
halb Jahrhunderten hat der Verkehr sich nach und nach alle
Meere erobert und der Erdball ist ihm nnterthan geworden.
Aus der engbegrenzten Thalassa der Alten verbreitete er sich
über den Indischen uud den Atlantischen Ocean, die bald zu
einem Gemeingut aller seefahrenden activen Völker wurden;
er erschloß sich Amerika, Asien und von Afrika die Küsten-
regionen.
Aber jenes gewaltige Wasserbecken, welches den Raum
zwischen der westlichen und östlichen Erdhälste ausfüllt und
in welchem Hunderte von Eilandfluren zerstreut sind, lag
bis vor etwa 100 Jahren wie tobt da. Diese große Süd-
see ist erst in unseren Tagen zum Leben erwacht, und das-
selbe pnlsirt heute schon mit mächtigem Schlage. Dieser
Stille Ocean ist nun ein eben so wichtiger Factor im Welt-
verkehr geworden, wie die übrigen Meerestheile. Was an
und in ihm die Spanier besaßen oder entdeckt hatten, blieb
unfruchtbar sür die Welt, denn der Monopolgeist wirkt im-
mer erschlaffend, manchmal auch tödtlich. Vor nun gerade
100 Jahren dnrchfchwärmte James Cook die weiten Flächen
der Südsee, und auch ihn können wir als Entdecker einer
neuen Welt bezeichnen; er ist der Bahnbrecher für die fpä-
teren Forschungsexpeditionen gewesen, für die Walfischfahrer,
die Missionäre, die Ansiedler und die Kanslente. Man lernte
die Inselgruppen der Südsee und Australien kennen, aber
der Verkehr dorthin war schwach, so lange Spanien, welches
sich im Besitze der ganzen Westküste Amerikas von Chile
bis nach Californien hinauf befand, die Fremden von seinen
Colonien so viel als möglich fern hielt. Seit dem zweiten
Jahrzehnt unseres Jahrhunderts jedoch schüttelten diese das
Joch ab uud eröffneten ihre Häfen. Australien hatte An-
siedler erhalten und erwuchs aus einer Verbrecherniederlas-
suug zu einer blühenden Gruppe von Colonien; die Euro-
Päer erschlossen sich Neuseeland; im nordwestlichen Amerika
erwarben die Nordamerikaner Californien und Oregon. Der
Verkehr mit China uud Japan wuchs in einer solchen Weise,
daß die Handelsbewegung mit jenen beiden Reichen heute
auf 1000 Millionen unserer Thaler im Jahre sich stellt.
Es war schon Leben in die Südsee gekommen, aber seit den
Goldentdeckungen in Amerika, Australien und Neuseeland
hat sich derselbe in einer Weise gesteigert, von der zuvor
Niemand auch eine Ahnnng haben konnte.
Alle Antriebe zu demselben sind von germanischen
Leuten ausgegangen; sie sind die eigentlichen Herren und
Gebieter auch im weiten Räume der Südsee, weil Schiff-
fahrt und Handel auch in den ehemals spanischen Colonien
uud in Ostasien in ihren Händen sich befinden. Sie steigern
den Austausch in großartiger Weise, und alle Dampfer, diese
nun unentbehrlich gewordenen, wichtigsten Vehikel, sind bis
ans geringe Ausnahmen überall im Großen Ocean im Besitz
I und im Betrieb germanischer Leute. Wir wollen an zwei
Dampfschifffahrt in der Südsee.
333
Beispielen zeigen, wie die Dampfschifffahrt an der Westküste
Südamerikas sich in der neuesten Zeit vermehrt hat. Daß
sie nach Norden hin von Panama bis Britisch Columbia
und Alaska reicht, ist schon gesagt worden, eben so, daß sie
Westamerika mit Australien und Ostasien verbindet.
Die Liverpooler Pacisic-Dampsschifffahrts-Com-
pagnie begann ihre Thätigkeit im Jahre 1840, und ihre
Anfänge waren sehr bescheiden. Sie brachte nach der Süd-
see zwei kleine Dampfer in die Fahrt, fast schüchtern und
eigentlich nur versuchsweise. Der Verkehr mit der West-
küste Südamerikas war damals überhaupt nur erst schwach,
aber es lag im Plane der Gesellschaft, denselben möglichst
zu beleben; deshalb sollten die Pionierschiffe „Chile" und
„Peru" eine regelmäßige Verbindung zwischen Valparaiso
uud Panama unterhalten. Das Unternehmen hatte mit
manchen Schwierigkeiten zu kämpfen und wäre bei einer we-
niger energischen Leitung zusammengebrochen, aber die Aus-
dauer belohnte sich. Man begriff in der Südsee, wie viel
ein sicherer und regelmäßiger Verkehr Werth sei; die Dampfer
bekamen Frachtgüter vollauf, und der Andrang wurde so
groß, daß fast in jedem Jahre neue Schiffe in die Fahrt
gestellt werden mußten. Im Jahre 1865 war die Com-
pagnie längst in glänzenden Verhältnissen; sie konnte nur
mit Mühe den großen Anforderungen genügen, welche an
sie gestellt wurden. Ihre Geschäfte gestalteten sich immer
großartiger und sie fing nun an, größere Dampfer zu bauen,
welche damals für „Kolosse", für „Riesenschiffe" galten, die
aber heute schon sich klein gegen die „Leviathans" ausneh-
men, welche eben jetzt von Stapel gelassen worden sind. Das
Schiff „Pacific", ein Dampfer mit Schaufelrädern, hatte
2008 Tonnen Tragfähigkeit; noch in demselben Jahre kamen
die „Limeüa" und die „Santiago", im folgenden die „Pa-
nama" in die Linie. Sie waren bestimmt, den Verkehr zwi-
schen den Häfen an der Küste zu vermitteln; 1867 kamen
zwei kleinere hinzu, die „Arequipa" und die „Quito" (871
Tonnen).
Man faßte den kühnen Plan, eine directe Dampfer-
fahrt zwischen Liverpool und Valparaiso einzurichten
und dabei nicht um das Cap Horn, sondern durch die Ma-
gellansstraße zu steuern. Die Compagnie schloß mit der
chilenischen Regierung einen Vertrag auf 20 Jahre, in wel-
chem sie sich verpflichtete, zunächst alle zwei Monat einen
Dampfer nach Valparaiso laufen zu lassen, späterhin sollte
die Verbindung allmonatlich stattfinden. Zwischen Valpa-
raiso und Liverpool sollten die Schiffe anlegen bei Punta
Arenas in der Magellansstraße, Montevideo, Rio de Ja-
neiro, Lissabon, Bordeaux oder St. Nazaire, Santander und
Coruna. Am 13. Mai 1868 wurde diese Linie durch das
Schiff „Pacisic" von Valparaiso aus eröffnet, und den Ver-
kehr besorgten anfangs solche Fahrzeuge, welche bisher den
Dienst an der Küste versehen hatten. Dann aber kamen
Schiffe in diefe Fahrt, welche ganz besonders für dieselbe
gebaut waren, Schraubendampfer von weit über 2000 Ton-
nen Gehalt, zuerst die „Magellan" (2785 Tonnen); sie
begann ihre Reise im März 1869, und in rascher Folge
traten die „Patagonia", „Araucania" und „Cordillera" in
denDienst. Nun wurde derselbe monatlich, seit Mai 1869,
und der Andrang von Gütern und Fahrgästen war so stark,
daß man beschloß, den Dienst zu verdoppeln und die Schiffe
noch größer zu bauen. Die „JohnElder" hat 3088 Ton-
nen, eine Länge von 382 Fuß, eine Breite von 41 Fuß
5 Zoll zwischen den Deckbalken und 35 Fuß 2 Zoll Tief-
gang; das Schiff wird eben jetzt bei Glasgow noch ver-
längert.
Seit der Mitte des Jahres 1872 fahren die Dampfer
zwei Mal in jedem Monate, können aber trotzdem den
Andrang der Güter nicht bewältigen, und deshalb soll vom
Januar 1873 allwöchentlich ein Schiff zwischen der Süd-
Westküste Amerikas und Liverpool befördert werden. Dazu
siud nicht weniger als einundzwanzig Dampfer erfor-
derlich. Die Compagnie hatte zu Ende Septembers nicht
weniger als 16 Fahrzeuge im Bau, von welchen 10 für
den Postdienst, die übrigen 6 noch für die Küstenfahrt zwi-
schen Valparaiso und Panama bestimmt sind. Sie besitzt
in Birkenhead, Liverpool gegenüber, ein großes Werft und
in Callao Maschinenwerkstätten; eine Kohlenniederlage be-
findet sich auf der Insel Taboga in der Bai von Panama;
einen großen Theil des Kohlenbedarfes liefern die Gruben
von Lota in Chile. Zwischen Valparaiso und Callao läßt
die Compagnie allwöchentlich zweimal einen Dampfer lau-
fen, zwischen Callao und Panama vier im Monate; dazu
kommen dann noch tägliche Verbindungen auf den Neben-
linien.
Im Jahre 1873 wird die Gesellschaft 5 5 Dampfer
mit einem Gehalte von 110,000 Tonnen uud 22,000 Pferde-
kraft im Dienste haben. Die während der letzten Jahre ge-
baneten sind wahre Prachtschiffe. Am 28. September 1872
trat die „Aconcagua" in die Fahrt; sie hat ein Bruttoregi-
ster von 4106 Tonnen und kann 3700 Tonnen Frachtgüter
laden. Die Länge beträgt 428 Fuß, wovon 391 über der
Wasserfläche, die Breite 41 Fuß, der Tiefgang 34 Fuß
6 Zoll; sie hat Raum für 126 Fahrgäste erster, 40 zweiter
und 800 dritter Classe. Der Salon befindet sich am hin-
tern Ende des Hauptdecks; er ist 100 Fuß lang und hat
an beiden Seiten bequeme Staatscajüten; auch die Fahr-
gäste zweiter und dritter Classe wohnen in wohlgelüfteten
Räumen. Die Maschinen haben nominell 600 Pferdekraft,
können dieselbe jedoch bis zu 3500 steigern. Der Kohlen-
räum faßt 800 Tonnen, der tägliche Bedarf stellt sich auf
50 bis 55 Tonnen, die Schnelligkeit 14^ Knoten in der
Stunde. Drei ähnliche Dampfer sind der Vollendung nahe;
die „Sorata" wird im November fertig und soll im Januar
den wöchentlichen Dienst beginnen. In Arbeit sind außer-
dem noch 5 Schraubendampfer von derselben Größe, gleich-
falls für die Magellanslinie bestimmt und mit zwei Schau-
felrädern; diese letzten sollen den Dienst an der Küste zwi-
schen den Häfen besorgen helfen.
Der Verkehr nach der Südsee und insbesondere nach der
amerikanischen Küste wächst aber in so kolossalem Maß an,
daß, ganz abgesehen von den Segelschiffen, selbst jene 55
Dampfer ihn nicht bewältigen können. Deswegen ist auch
die White Star Line auf den Schauplatz getreten mit
zehn Dampfern, die zusammen 35,846 Tonnen halten;
4 davon sind zunächst für den Dienst an der Westküste be-
stimmt. Diese Compagnie ist erst vor nun 20 Monaten
in das neue Geschäft gegangen. Ihre Flotte beträgt jetzt,
da wir diese Zeilen schreiben, 6 Dampfer. „Oceanic",
„Atlantic", „Baltic", „Republic", „Adriatic" und „Celtic";
im Bau sind die „Germanic" und „Britannic". Die vier
erstgenannten haben 3700 Registertonnen und 600 Pferde-
kraft; die „Celtic" und „Adriatic" 3888 Tonnen und 650
Pferdekraft. Diese Schiffe wurden alle mit der größten
Sorgfalt gebaut, und die innere Einrichtung wird als ganz
vorzüglich gerühmt. Die „Adriatic" hat eine Länge
von vierhundertzweiundfnnfzig Fuß (452), ist 41
Fuß breit und der Tiefgang beträgt 32 Fuß. Das Tonnen-
register beträgt, wie bemerkt, 3888, aber die wirkliche Lade-
sähigkeit mehr als 5000 Tonnen. Das ganze Schiff ist
aus Eisen gebaut, hat sieben wasserdichte Abtheilungen und
vier eiserne Masten. Alle Schiffsbewegungen und das Ein-
und Ausladen werden durch Dampf besorgt; dieser wird
auch beim Steuerruder verwandt, und beim Dienste benutzt
334 Aus allen
man den Telegraphen. Das ganze Schiff wird mit Gas
beleuchtet, die Lüftung läßt nichts zu wünschen Übrig, und
Arzt und Apotheke fehlen auch nicht. An Schnelligkeit wird
die „Abrtattc", welche jetzt in der Fahrt nach Nordamerika
thätig ist, von keinem andern Schiffe in der Welt übertroffen.
Sie machte die Reise zwischen Qneenstown in Irland und
Sandy Hook bei Neuyork in 7 Tagen 18 Stunden und 55
Minuten; ein anderes Mal in 9 Tagen 3 Stunden 18
Minuten nach Neuyork und von dort zurück in 8 Tagen 20
Stunden und 36 Minuten.
Im October hat die Weiße-Stern-Linie den Dienst nach
der Südwestküste Nordamerikas begonnen. Ihre Dampser
laufen an: Bordeaux, Vigo, Lissabon, Rio de Janeiro,
Montevideo und gehen durch die Magellansstraße nach Val-
paraiso, Arica, Jslay und Callao. Den Ansang machte
am 5. October die „Republic", am 5. November folgte die
„Tropk"; im December tritt die „Rimac" in Fahrt, die
„Atlantic" im Januar. Der Dienst ist zunächst ein monat-
licher, soll aber nach Bedürfniß vermehrt werden. Die
Weiße-Stern-Linie hat schon seit einer Reihe von Jahren
Erdtheilen.
Segelschiffe an der Südwestküste in der Fahrt, jetzt tritt sie
dort mit ihren Dampfern auf.
Ich finde soeben die Nachricht, daß auch die Ryde-
Liuie von London und Falmouth bekannt macht, sie werde
1873 Dampfer nach der Südwestküste in regelmäßigen Zwi-
schenräumeu abfertigen; die französischen Messageries
maritimes beabsichtigen ein Gleiches. Dazu wird auch
eine deutsche Linie von Hamburg aus kommen, das ja
längst mit Valparaiso in großartigen Handelsverbindungen
steht.
Vor zwanzig Jahren gab es noch keine Dampferlinie nach
Südamerika; heute besorgen nicht weniger als elf Linien den
Verkehr an der Ostküste, gen Süden hin bis Montevideo
und Buenos Ayres, und Flußdampser gehen auf dem La
Plata-Paraguay bis Cuyaba in Matto grosso und auf dem
Amazonas bis tief nach Peru hinein.
Noch im Jahre 1836 erklärten viele Physiker, der seiner
Zeit berühmte Dr. Lardner in England in vorderster Reihe,
daß es platterdings unmöglich sei, mit einem Dampfer
von Europa nach Nordamerika und umgekehrt zu fahren!
Aus allen Erdtheilen.
I. Williamson's Reise von Ning-po nach Tschutscheu.
r. d. In dem monatlich erscheinenden Blatte „The illn-
strated Missionary News" finden sich zwischen Artikeln der ver-
schiedensten Art manchmal recht werthvolle O^iginalreiseberichte
versteckt, in denen natürlich das Missionsinteresse überwiegt, die
aber oft auch für die Geographie Ausbeute liefern. So bringt
die Nummer vom 1. October 1872 die Beschreibung einer Reise
des Missionärs I. Williamson von der „China Inland Mission"
von Ning-po, einer der dem Handel der Fremden eröffneten
Hafenstädte (etwa 29°50' nördl. Br.), quer durch das Innere
der Provinz Tsche-kiang nach der DeparteMentalstadt Tschu-
tscheu. Die gerade Entfernung zwischen beiden Städten beträgt
freilich wenig über 30 deutsche Meilen, aber es waren dabei
Gebirge und Ströme zu Passiren, die so leicht noch nicht von
einem Europäer besucht worden sind. Ueber diesen letztern
Punkt sind wir nicht ganz im Klaren, doch behält Williamson's
Reise ins Innere noch genug Interesse, wenn er auch nicht der
erste aus der von ihm beschriebenen Tour gewesen sein sollte.
Zweck der Reise war die Vertheilung chinesischer Bibeln; be-
gleitet war Williamson von einem Methodistenprediger Namens
Galpin.
Der Missionär wandte sich im April dieses Jahres von
Ning-po aus zunächst nach Süden, durchzog eine Anzahl großer
sehr volkreicher Dörfer am nördlichen Gestade des Nimrod-
Sundes, der hier tief in das Land einschneidet, und ging dann
nach der südlich von diesem gelegenen Stadt Ning-Hai, von
wo er sich nach Tien-tai wandte. „Als wir," erzählt William-
son, „das Dorf Tso-lu, d. h. Kreuzung der Straßen, erreich-
ten, zwölf Miles von Ning-Hai, verließen wir die directe Straße
nach Tai-tscheu und wandten uns nach Westen in ein schönes
Thal, wobei wir verschiedene kleine, von Bambus- und Baum-
Wäldchen umgebene Dörfer passirten. Nachdem wir etwa sechs-
zehn Miles in diesem Thale auswärts zurückgelegt, begannen
wir den Bergpaß zu ersteigen, wir fanden ihn sehr steil; doch
wenn wir aufwärts schauten, erschien er uns nicht sehr hoch,
und wir hofften, nach einiger Anstrengung das, was wir für
den Gipfel anfahen, zu erreichen, um dann in ein anderes Thal
hinabzusteigen. Bei Erklimmung dieses Punktes aber sahen
wir, daß wir auss Neue zu steigen hatten. Wir kletterten einen
steilen, sich windenden Pfad am AbHange eines hohen Berges
hinan und erreichten nun den Gipfel: eine durchaus cultivirte
Hochebene; die Berge fielen terrassenförmig in zahlreiche Thäler
ab. Wir verfolgten nun unfern Weg sechs Miles lang, passir-
ten verschiedene kleine Dörfer und hatten einen schönen Ueber-
blick über Berge und Thäler ringsum. Im Westen sank die
Sonne hinter einer Bergkette, welche so hoch über unserer Hoch-
ebene zu liegen schien, als wir selbst über dem Thale standen,
das wir verlassen hatten. In der Dämmerung stiegen wir
einige tausend Fuß abwärts und kamen in ein kleines Dorf in
einem engen Thale, durch das ein hübscher Bergstrom floß. "
Hier suchten die Missionäre ein Nachtquartier, doch hatten
sie Schwierigkeit unterzukommen, da das Erdgeschoß des Gast-
Hofes mit opiumberauschten Kulis gefüllt war. Im obern
Stockwerke bot man ihnen ein Nachtquartier in einem Hausen
schmutziger Baumwolle an; als man diese entfernen ließ, meinte
Galpin, „man möge sie nur liegen lassen, sie werde sich schon
von selbst bewegen." Die Reisenden konnten die ganze Nacht
kein Auge zuthun, so sehr wurden sie von Insekten geplagt, und
brachen daher schon in der Dämmerung auf, um ihre Reise durch
die Tientaiberge fortzusetzen.
„Unsere Route führte uns westlich durch ein enges Thal,
von so herrlicher Seenerie, daß es kaum möglich ist, sie zu be-
schreiben. Wir kamen durch ein paar Dörfer und verkauften
auf einem kleinen Bergpasse ein paar Testamente, was wir an
fast allen Orten, wo wir anhielten, thaten. An diesem Passe
begegneten uns Männer, welche Eisensand trugen, welchen sie
nicht fern von diesem Orte durch Waschen, nach Art des Gold-
waschens, gewannen. Stets hofften wir aus eine offene Ebene
herauszutreten, doch nachdem wir sechs Miles gewandert waren,
sührte uns der Weg an den Fuß der Bergkette, die wir am
Abende zuvor bemerkt hatten. Ein erneutes Abwärtssteigen
brachte uns nach unserer Meinung in die Nähe der Ebene; doch
zu unserm Erstaunen hatten wir abermals abwärts zu steigen
bis wir eine kleine Ebene erreichten, und nun hofften wir, daß
die Stadt nicht mehr weit entfernt fein würde. Aber fechs Miles
neuer Wanderschaft in nordwestlicher Richtung führten uns an
den Fuß der höchsten Berge, welche ich in China gesehen habe.
Wir hatten abermals zu steigen und kamen schließlich auf eine
Ebene, auf der wir ohne weitere Schwierigkeit die Stadt Tien-
Aus allen
tat erreichten. Wir traten durch das Ostthor ein, passirten
die etwa eine englische Meile lange Hauptstraße bis zum West-
thore, wo eine große Brücke über den Bergstrom führt, der von
den Tientaibergen herabkommt; er fließt von Norden her am
Westthore vorüber, wo er sich mit dem Hauptstrom vereinigt.
Der größere Strom, welcher zu gewissen Zeiten bis oberhalb
der Stadt schiffbar ist, kommt von Nordwest und fließt an der
Südseite der Stadt hin. Die ganze Lage der Stadt ist hübsch;
sie bietet einen reinlicher» und gesundern Anblick dar als die
meisten chinesischen Städte."
Die Missionäre erregten hier Aufsehen, namentlich Galpin,
der in europäischer Kleidung ging und, von großen Menschen-
Haufen umgeben, predigte. Williamson trug chinesische Kleidung;
er miethete ein Boot, in dem beide die Nacht zubrachten, da sie
das freundliche Anerbieten der buddhistischen Mönche eines be-
nachbarten Klosters, bei ihnen zu schlafen, ausschlugen. Am
andern Morgen, srüh um 9 Uhr, fuhren sie dann in ihrem
Boote nach Tai-tscheu, nachdem sie zuvor wieder Bibeln und
Tractate vertheilt hatten. Der Strom ist an vielen Stellen sehr
seicht und zeigt beträchtliche Stromschnellen, durch welche das
Boot mit Mühe hindurchgebracht wurde. Die Scenerie der
Userberge ist mannichsaltig, an einigen Stellen tritt die Straße,
welche nach Tai-tscheu führt, an den Fluß heran. Letztere
Stadt wurde spät Abends erreicht; sie war überfüllt mit Pil-
gern von Tientai und Sienku, sowie von Landleuten aus der
Nachbarschaft, die zu einem religiösen Feste herbeigeeilt waren.
Abermals wurde gepredigt und eine große Anzahl von Bibeln
vertheilt.
Am nächsten Tage Abends fuhren die Missionäre weiter
auf dem Flusse bis zum nächsten Morgen. Sie verließen nun
den Fluß, wanderten eine Meile in östlicher Richtung, bis sie
einen Canal erreichten, auf dem sie sich nach Wang-ling ein-
schifften, wo sie gegen 10 Uhr Abends anlangten. Am ganzen
Wege fanden sie ausgedehnte Mohnfelder zur Opiumbereitung.
Am nächsten Tage schifften sie sich auf einer Dschonke ein, die
nach dem Hafen Wun-tscheu (unter 28° nördl. Br.) bestimmt
war. Nachdem sie in dieser Stadt kurze Zeit zugebracht, fuhren
sie den gleichnamigen Fluß aufwärts bis zu der 40 Miles ent-
fernten kleinen Districtsstadt Tsing-tien. „Die Berglandschaft
oberhalb und unterhalb dieser Stadt war großartig, sie schien
ganz und gar aus Ungeheuern Felsmassen gebildet, deren Ober-
fläche durch ein gewaltiges Agens geglättet war; sie fallen
allmälig zum Wasser ab, doch ist ihre dunkle Oberfläche 'hier
und da durch kleine Weizenfelder unterbrochen. Wir fegelten
mit gutem Winde zwei Tage von Tsing-tien nach Tschu-tscheu,
und die Landschaft blieb auf der ganzen Strecke über alle Be-
schreibung schön. Die hohen', oft unmittelbar vom Ufer anstei-
genden Berge waren an einigen Stellen theilweise terrassirt, doch
gewöhnlich deckte sie Buschwerk. Hier und da war eine kleine
Theepflanzung oder standen Maulbeerbäume. Wir passirten nur
wenige kleine Dörfer. Gegen Sonnenuntergang am dritten
Tage wurden die Berge niedriger, das Land offener. Endlich
erblickten wir eine Pagode und einen kleinen Tempel am nörd-
lichen Ufer des Stronies; dann öffnete sich eine etwa sechs Qua-
dratmiles große Ebene, welche von weit niedrigeren Bergen
umgeben war als jene sind, die wir bisher passirt hatten. Eine
kurze Strecke jenseit derselben erreichten wir ein großes Dorf,
das nur eine englische Meile vom östlichen Thore Tschu-tschens
entfernt ist."
Tschu-tscheu hat in der Revolutionszeit stark gelitten; es
wurde zehn Mal von den Rebellen heimgesucht; noch liegen
einige Tempel, namentlich im westlichen Stadttheil, in Ruinen,
doch ist der größere Theil der Stadt wieder aufgebaut. Der
Haupthandel besteht in Bauholz, von dem ungeheure Flöße
Williamson aus dem Flusse begegneten, doch liegen die Wälder,
aus denen es kommt, noch etwa 100 Miles weiter landeinwärts.
Die Bewohner waren höflich und ruhig; sie erzählten, daß be-
reits vor vier Jahren einmal ein Fremder in ihrer Stadt ge-
wesen war und dort Bücher verkauft hätte. Williamson sah
hier einige Sch akafrauen, die durch starken, kräftigen Körper-
Erdtheilen. 335
bau, große Füße und eigentümliche Kopftracht sich auszeichne-
ten. Diese Aboriginerinnen konnten, wie aus ihrem geschäfts-
mäßigen Aussehen zu schließen war, nicht fern von Tschu-tscheu
wohnen, doch erfuhr Williamson den Ort nicht.
Nachdem das Geschäft der Bibelvertheilung auch in Tschu-
tscheu besorgt war, fuhren die Missionäre auf dem Strome zurück
nach Wun-tscheu. Unterwegs fanden sie in einem Seitenthale
einen schönen, 200 Fuß hohen Wasserfall und eine interessante
Höhle. Von Wun-tscheu segelten sie in einer Dschonke nach
Ning-po zurück.
Aus den Diamantenfeldern in Südafrika.
Von dort werden vielerlei unerbauliche Dinge gemeldet.
Die civilisirten weißen Christen benehmen sich über alle Maßen
abscheulich gegen die eingeborenen Kaffern, und die Gerichte, so
weit dergleichen vorhanden sind, haben alle Hände voll zu thun.
So wurde ein Herr John Stanton, seines Zeichens ein Dia-
mantendigger, am 12. Juli verhört, weil er einen Kasfer, der
ihm angeblich einen Diamanten gestohlen, zu Tode gepeitscht
hatte. — Ein Kaffer follte von den Diggers gehängt werden,
und wurde erst gerettet, als sie ihm den Strick um den Hals
legen wollten. Was war sein Verbrechen? Er trug anstän-
dige europäische Kleidung, und daraus zog man den Schluß, daß
er Handel mit Diamanten treibe! Das will man den Schwar-
zen nicht gestatten! Der Mann wurde vom Civilcommissär
untersucht und man fand keine Diamanten bei ihm. Am 17.
Juli wurden zwei Zelte in Brand gesteckt, weil dieselben an-
geblich „illegalen Diamantkäufern" gehörten. Mehrere der Brand-
stifter wurden vom Civilcommissär verhaftet, einige aber gegen
Bürgschaft freigegeben. Eine Pöbelmasse von etwa dreitausend
rohen Gesellen zwang aber den Commissär, auch die übrigen
Bösewichter gegen 500 Pf. St. Bürgschaft freizugeben. Eine
Zeit lang spielte Richter Lynch eine große Rolle. Jeder Kaffer,
der sich anständig kleidet, ist seines Lebens nicht sicher. — Die
von Karl Mauch entdeckten Tatin-Goldfelder liefern gute
Ausbeute, und in derTransvaal-Republik hat man in der
Nähe von Zoutpansberg Kupfererz, Blei, Zinn, Silber und
Anzeichen von Kohlen gefunden.
Capitän Hall im Polarmeere.
Zu Ende Septembers hat der Marinesecretär in Washington
über Kopenhagen ein Schreiben Hall's bekommen, das freilich
schon über ein Jahr alt ist. Es ist datirt: An Bord der „Pola-
ris", 24. August 1871, bei Tossack in Nordgrönland, 73°11'N.,
56° 5' W. Hall sagt, daß an Bord das beste Einvernehmen
herrschte. Elberg, Gouverneur des Upernavikdistrictes, begleitete
die „Polaris" bis Disco; durch seine Bermittelung bekam Hall
60 junge starke Eskimohunde. In Upernavik schloß sich ihm
der aus Kane's Reisebeschreibung bekannte Eskimo Hans Christian
an, um als Jäger und Hundetreiber Dienste zu leisten. Bei
Holsteinborg traf Hall mit der von Norden her zurückkommen-
den schwedischen Expedition zusammen, und Baron Otter gab
dem sehr sanguinischen Manne den wohlgemeinten und sehr ver-
ständigen Rath^, nicht nach dem Jonessunde zu steuern, weil er
dort gar nichts ausrichten werde. Er beschloß also', quer über
die Melvillebai zu fahren nach Cap Dudley Digges und von
dort gerades Weges in den Smithsund?, um an der Westseite
derselben eine Passage von Cap Jsabella nach dem Kennedy-
eanale zu finden.
Wir wollen daran erinnern, daß Hall mit der „Polaris",
welche im Eise arg zugerichtet worden war, am 1. März 1872
nach Disco an der grönländischen Küste zurückgekommen war,
um das Schiff auszubessern. Somit war ein Winter verloren
gegangen. Was seitdem aus und mit ihm geworden ist, dar-
über fehlen bisher alle Nachrichten. Ueber die mangelhafte Be-
fähigung Hall's hat Dr. Walker ein strenges Urtheil gefällt; wir
haben die Ansichten desselben mitgetheilt; siehe „Globus" XXI,
S. 343 bis 345 und S. 352.
336
Aus allen Erdtheilen.
— Neue Ausgrabungen bei Wineta. Wir erwähn-
ten ausführlich („Globus" XX, S. 189) die Ausgrabungen,
welche Professor Virchow bei Wineta oder Julin vor einem
Jahre unternommen hat. Jüngst hat der unermüdliche Forscher
dort weiter nachgraben lassen. Es sind dabei sehr weitläufige
Pfahlreihen bloßgelegt worden, deren Anordnung, wie die „N.
Stett. Ztg." berichtet, keinen Zweifel läßt, daß es sich nicht um
ein einfaches Vollwerk älterer Zeit handelt, sondern daß eine
wirklich bewohnt gewesene Stelle aufgefunden ist. Die unge-
heure Masse von Kllchenabfällen, namentlich von Schweine- und
Rindsknochen, von Fischschuppen und Fischgräten, die außer-
ordentliche Menge von Topfscherben, unter denen diesmal eine
größere Zahl sehr schön ornamentirter zu Tage gesördert sind,
wie zahlreiche sonstige Producte menschlicher Kunstfertigkeit, na-
mentlich in Hirschhorn und Bein, würden genügen, die that-
sächlichen Verhältnisse ins Klare zu setzen. Allein es wurde
außerdem auf einem Rost aus Balken und Pfählen ein ausge-
dehnter Lehm-Estrich bloßgelegt, der an einer Stelle durch Feuer
so stark gebrannt war, daß förmliche Platten von ziegelartiger
Beschaffenheit daraus entstanden waren — offenbar ein alter
Herd; die reiche Fülle von Küchenabfällen, welche sich in der
nächsten Nähe desselben befanden, bestätigt dies. Stein- und
Bronzewerkzeuge sind gar nicht gefunden, dagegen außer bearbei-
tetem Bernstein zahlreiche Eifenfachen, die meisten jedoch so stark
verrostet, daß ihre Bedeutung kaum erkannt werden konnte.
Es bestätigt sich also, daß wir es mit einer verhältnißmäßig
späten, wahrscheinlich der letzten Heidenzeit angehörigen An-
siedlung zu thun haben. Die große Masse von Fischüberresten,
unter denen der Stör sehr stark vertreten ist, sowie zahlreiche
Fischereigeräthschasten, z. B. Stricke aus Binsig (Typha), Schei-
ben aus Fichtenrinde an den Netzen, sprechen dafür, daß hier
nicht gerade die Kaufmannswelt des alten Julin, sondern die
Fischerbevölkerung gewohnt hat.
— In St. Petersburg erscheint ein Anzeiger über
Angelegenheiten der Presse. Die erste Nummer giebt eine
Liste der im Monat August von der Censur geprüften deutschen
und italienischen Bücher. Von 164 Werken sind 13 ganz oder
theilweise verboten worden, zumeist Geschichtsbücher für Schulen
und theologische Sachen, dann auch ein schon 1791 erschienenes
Buch. Aus Adolf Bastian's „die Rechtsverhältnisse bei ver-
schiedenen Völkern der Erde" sind ganze Stellen herausgeschnit-
ten worden. — In Rußland erscheinen gegenwärtig 377 Zeit-
schristen und Zeitungen, die Gesellschastsschriften gelehrter Ver-
eine mit eingerechnet. Auf die russische Sprache entfallen 286,
wovon 109 in Petersburg, 30 in Moskau erscheinen; 41 sind
polnisch, 6 französisch, 30 deutsch, 4 lettisch, 5 esthnisch, 2 finnisch,
3 hebräisch. Die Armenier geben jetzt in Feodosia eine Zeit-
schrist in ihrer Sprache heraus. — Von der „Russischen Revue",
in deutscher Sprache, sind die ersten Hefte erschienen. Der aus-
gezeichnete Reisende Fedtschenko wird ein vielbändiges Werk
über Turkestan veröffentlichen, das sicherlich sehr werthvoll
sein wird.
— So lange die NordWestküste Amerikas sich im Besitze
der Russen befand, verhielten sich die Eingeborenen, so weit sie sich
in Abhängigkeit von denselben befanden, im Allgemeinen fried-
lich. Seitdem aber Alaska ein Territorium der Vereinigten
Staaten geworden ist, haben die Dinge eine schlimme Wendung
genommen; Habsucht und Uebermuth tragen ihre Früchte; die
Zuchtlosigkeit der Hankeesoldaten, welche man nach Sitka ge-
schickt hat, wird als „geradezu haarsträubend" geschildert. Die
mißhandelten Indianer rächen sich. Im Juni nahmen sie im
Croßsunde den Dampfer „Rose" weg und behielten Schisssvolk
und Fahrgäste als Geiseln, bis ihnen Schadenersatz geleistet
werde. Wofür? Für die^von den Mnkeesoldaten in Sitka er-
mordeten Indianer! Es ist übrigens dem Dampfer gelungen,
nach dieser Stadt zu entkommen. Die Eingeborenen wollen mit
den Yankees gar keinen Handel mehr treiben und geben alles
Pelzwerk an die Agenten der Hudsonsbai-Compagnie, von wel-
cher sie dasür wollene Decken, Eisenwaaren k. erhalten. Die
Hankees fühlen sich nur allein in Sitka und dessen nächster Um-
gebung sicher; sonst überall im Lande lauern die mißhandelten
Indianer ihnen auf, um Rache zu nehmen an diesen Männern
der Civilisation.
— Die australische Kohle aus Neusüdwales wird
in Ostasien bald die englische verdrängt haben. In der letzten
Augustwoche kam das Segelschiff „England" in Hongkong mit
einer Ladung Kohlen aus Newcastle in Neusüdwales an;
es hatte die Reise in nur 40 Tagen gemacht. Die beste Kohle
kostete am 11. Juli die Tonne, srei an Bord, nur 7 Schilling,
während die englische Kohle in Eardiff, nach den letzten Noti-
rungen, sich auf 14 bis 15 Schilling stellte. Der Anfang des
australischen Kohlenexportes war wenig versprechend. Vor nun
14 Jahren brachte ein Capitän Harrington für feine eigene
Rechnung in dem Schiffe „Caftilian" 1500 Tonnen australische
Kohlen nach Schanghai, sand aber dort keine Abnehmer, ob-
wohl damals die Cardisskohle mit 12 Taels bezahlt wurde. Er
bat den Befehlshaber der vor Anker liegenden Kriegsschiffe, so-
wohl der englischen wie der französischen, eine Probe mit der
australischen Kohle anzustellen; sie lehnten das jedoch ab, so
groß war das Vorurtheil. Nachdem er volle zwei Monate ver-
geblich sich um Absatz bemüht hatte, schlug er seine Ladung im
Einzelnen, zu 5 und zu 10 Tonnen, an die Chinesen in Su tscheu
los, welche dieselben in ihren Schmelzöfen verwandten. Heute
wird die australische Kohle gern genommen und jede Zufuhr ist
willkommen.
— Unter den Stoffen, welche man zur Papierfabri-
kation verwendet, gewinnt die schwammig-faferige Rinde der
Eucalyptus gigantea mehr und mehr Bedeutung. Der
Baum wächst sehr schnell und erreicht in den bergigen Gegenden
der australischen Colonie Victoria eine Höhe von mehr als 250
Fuß. — Aus Savannah in Georgien werden jetzt die Blätter
der Palmetto Palme in Menge nach England verschifft und
dort zur Fabrikation von Papier benutzt. Diese Palme wächst
in den südlichen Staaten der nordamerikanischen Union in
großer Menge und Südcarolina wird als Palmettostaat bezeich-
net. — Der saserige Stamm der canadischen Diestel giebt,
bei geeigneter Bearbeitung, eine Faser, welche an Stärke jene
des Flachses und Hanfes übertrifft, und dieses „Unkraut" er-
scheint nun sehr werthvoll.
— Die dreißig chinesischen Knaben, welche man aus
dem Blumenreiche der Mitte nach den Vereinigten Staaten ge-
schickt hat, um dort erzogen zu werden, sind vor ihrer Abreife
auf besondern Befehl des Kaisers mit dem „Regierungsstudenten-
knöpfe" begabt worden. Diese Auszeichnung ist bisher nur
solchen Studenten ertheilt worden, welche sich durch gründliche
Kenntniß der chinesischen Elassiker ausgezeichnet hatten.
— In Rom, wo Papst und Geistlichkeit seit vielen Jahr-
Hunderten Gelegenheit gehabt hätten, für Bildung und Morali-
tät zu wirken, ist das nicht geschehen. Italienische Blätter mel-
den, daß vom 1. Juli bis 30. September 1872 in die Spi-
täler der Stadt nicht weniger als 172 Leute geschafft worden
sind, welchen Meuchelmörder gefährliche Wunden beigebracht
haben.
Inhalt: Im Lande der nördlichen Laos. II. (Mit fünf Abbildungen.) — Nachrichten von der schwedischen Polar-
expedition 1872. II. (Schluß.) — Aus deutschen Landschaften. 4. Westschlesien und seine Bewohner. II. (Schluß.) — Dampf-
schifffahrt in der Südfee. — Aus allen Erdth eilen: I. Williamson's Reise von Ning-Po nach Tschu-tscheu. — Aus den
Diamantenfeldern in Südafrika. — Capitän Hall im Polarmeere. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redactivn verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
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li" Äer-
Band XXII.
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*6.
JE 22.
Mit desonäerer Herücksicktigung öer Antkropologie unä GtknoloZie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
.^teemder Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1812.
Aus der Republik Neugranada.
i.
Ncugranadas vortheilhafte Weltlage. — Das Thal des Rio Cauca. — Fahrt auf dem Rio Rare. — Bodega de San Chri-
stoval. — Die Königsstraße und ihre Beschaffenheit. — Indianer als Lastträger. — Die Canelones. — Ein Tambo. _
Vampyre. — Die Stadt Marinilla und ihre Hahnenkämpse. — Von Rio Negro nach Medellin. — Teppichträger. — Aristo-
kratie des Geldes. — Die verschiedenen Menschenracen in der Republik. — Geschäftsverkehr.
Der Blick auf eine Karte zeigt sofort, daß Neugranada,
oder wie man das Land officiell bezeichnet: die Bereinigten
Staaten von Colombia, eine herrliche Weltlage zwischen dem
Atlantischen Ocean und dem Stillen Weltmeer einnimmt.
Zu ihm gehört auch die Landenge von Panama. Es hat
bei mannichfaltigster Bodengestaltung alle Abstufungen des
Klimas, fruchtbaren Boden, eine große Fülle von Handels-
producten und belebte Hasenplätze. Seiner ganzen Länge
nach, von 31/2 bis 121/2°N., wird es von verschiedenen Cor-
dilleren durchzogen, deren drei Hauptzweige von dem Gebirgs-
knoten von Pasto auslaufen und große Längsthäler bilden.
Eines der wichtigsten ist jenes, welches vom Rio Cauca
durchströmt wird. Dieser fließt in seinem obern Laufe durch
den Staat Popayan und hat dort viele Stromschnellen und
Katarakte; er ist Uberhaupt, auch seines schnellen Laufes
wegen, für die Schisfsahrt nicht geeignet und nur unterhalb
der Wasserfälle von San Antonio schiffbar. Unter 9° 27'
N. vereinigt er sich mit dem Rio Magdalena, dessen
fahrbare Strecke etwa 120 deutsche Meilen beträgt. Dieser
letztere bildet die wichtigste Verkehrsader des Landes, und
an seinem Delta und der Mündung liegen die beiden wich-
tigsten Ein- und Ausfuhrhäfen, Santa Marta und Sava-
nilla, die schon seit mehreren Jahren regelmäßig auch von
Globus XXII. Nr. 22. (Deccmber 1872.)
deutschen Dampfern besucht werden. Wie wichtig das Land
für unsern deutschen Handel bereits geworden ist, ergiebt sich
schon aus der Thatsache, daß allein Bremen im Jahre
1870 aus Neugranada, zumeist aus Savanilla, für 4,434,233
Thaler Waaren einführte; Kaffee, Baumwolle, Balsam,
Droguen, Fieberrinde, Gelbholz, Rothholz, Dividivi, In-
digo, Elfenbeinnüsse, Häute, Hörner, Perlmutterschalen,
Baumwollensamen, Strohhüte und vom Taback allein im
Jahre 1869 für 3,827,954 Thaler Gold 11,842,542
Pfund. Die Tabacksplantagen von Ambalema sind zumeist
in den Händen deutscher Grundbesitzer.
Wir wollen unsere Leser heute in das Caucathal führen,
nach Medellin und Antioquia. In den letztverflossenen
Jahren ist dasselbe gründlich von Dr. Alfons Stübel aus
Dresden erforscht worden, und wir haben im „Globus" ein-
zelue seiner Mittheilungen veröffentlicht. Der Reisende be-
findet sich gegenwärtig noch in Ecuador, und auf umfassende
Berichte wird die wissenschaftliche Welt bis zu seiner Rück-
kehr verzichten müssen. Wir folgen deshalb bei den nach-
stehenden Schilderungen dem Naturforscher Dr. Saffray,
welcher sich längere Zeit an der Küste aufhielt, dann den
Magdalena aufwärts fuhr und von der kleinen Stadt N are
aus seine beschwerliche Wanderung antrat. Der Ort liegt
43
338 Aus der Repi
an der Mündung des gleichnamigen Flusses, welcher von
den Hochebenen des Staates Antioquia herabfließt. Der
Ort hat eine sehr ungesunde Lage und seine etwa 2000
Einwohner, allesammt Neger und Mestizen, werden von in-
termittirenden Fiebern heimgesucht.
Der Reisende bestieg eine offene Pirogne, die von acht
Mann gerudert wurde, der „Patron" lenkte das Steuerruder.
Der Fluß windet sich mit vielfachen Krümmungen durch ein
enges Thal; auf weiten Strecken war keine einzige Woh-
nuug zu sehen. Als der Nachen, um Schatten zu gewinnen,
nahe am Ufer Hinsuhr, siel von einem Baume herab eine
schwarz und grüne Schlange, die 4 bis 5 Fuß lang sein
mochte. Wahrscheinlich ist sie eben so erschrocken gewesen, wie
lik Neugranada.
die Neger, welche laut aufschrien, sich aber sofort beruhigten,
als das Thier über Bord glitt und dem Ufer zuschwamm.
Der Pflanzenwuchs dieses Thales kennzeichnet sich durch
eine große Anzahl von Bäumen, deren Gipfel mit Blumen
gekrönt ist; auch giebt die Mannichsaltigkeit der Formen und
Farben des Laubes der Landschaft einen eigentümlichen An-
strich. Da sieht man dicke Blätter, die wie mit einem Lack
überzogen erscheinen und in der Sonne wie ein Spiegel er-
glänzen; andere sind mit einem sammetartigen Mattgrün
überzogen, wieder andere mit weißen oder gelben Dunen,
und diese schillern bei jeder Luftbewegung wie von Silber
oder Gold.
Der Nachen kam bald an Stromschnellen, und eine der-
Ein Tambo i:
selben, der Remolino, d. h. Wirbel, wird von den Schiffs-
leuteu sehr gefürchtet. An der Bodega (d. h. Magazin)
de San Christ oval halten die Schiffer und der Reisende
muß von nun an, um in den Staat Antioquia zu gelangen,
auf der sogenannten Königs st raße (camino real) wan-
dern. Sie führt einen pomphaften Namen; wir werden
sogleich sehen, wie es mit und auf derselben beschaffen ist.
Die Bodega ist ein großes Waarenlager, in welchem die
Güter, welche nach dem innern Lande bestimmt sind, je nach
Gutdünken uud Belieben des Aufsehers oder nach der Be-
schassenheit des Weges von einer Woche bis zu fünf und
sechs Monaten liegen bleiben, ehe sie an ihren Bestimmungs-
ort abgehen. Dr. Saffray fand dort eine Menge von Ge-
genständen, welche von ihren Eigenthümern, zumeist Euro-
päern, im Stiche gelassen waren, weil es kein Mittel gab,
Neugranada.
sie weiter zu befördern, z. B. große Kessel zur Verdunstung
der Salzsoole, Metallpumpen, eine kleine Dampfmaschine,
einen Wellenbaum zum Drehen einer Winde, Stücke einer
Baggermaschine und dergleichen mehr. Ein Gepäckstück,
welches auf dem Rücken eines Maulthieres befördert wer-
den soll, darf nicht über 85 Centimeter lang und 45 Cen-
timeter hoch oder breit sein, das Gewicht 50, allerhöchstens
6.0 Kilogramm betragen. Gegen Stöße oder Regen müssen
Kisten oder Ballen in Stroh verpackt und mit getheerten
Laken bedeckt sein. Größere Kisten und solche mit zerbrech-
lichen Waaren werden von Menschen getragen; ein Forte-
piano wird von sechs bis acht Mann getragen, die im Lause
eines Tages etwa drei Wegstunden zurücklegen.
Man begreift, sagt Dr. Saffray, daß Gewerbe und Han-
del schwer beeinträchtigt werden in einem Lande, in welchem
Aus der Repi
es mit dem Transporte so bestellt ist. Und doch sagen die
Leute dort, daß sich seit einigen Jahren Vieles gebessert habe.
Es ist noch gar nicht so lange her, daß die Königsstraße
von der Bodega bis nach Medellin, dieser Hauptstadt des
Staates Antioqnia, lediglich für Fußgänger, Indianer, prak-
tikabel war; Maulthiere konnten auf derselben nicht fort;
Güter und Reisende wurden von Menschen getragen. Wer
in den mexicanischen Grubengegenden an die Caballitos,
d. h. kleinen Pferde, sich gewöhnt hatte, nämlich an Jndia-
ner, welche für den Gebrauch der Reisenden gesattelt sind,
fand dergleichen ganz in der Ordnung. Aber den Neuling
überrascht es doch einigermaßen, wenn sich ihm ein stämmi-
ger Indianer anbietet, der einen Sattel auf dem Rücken hat
und denselben mit ledernen Riemen vor der Stirn festhält.
Solch ein gesattelter Mensch kommt allerdings nur langsam
vorwärts, aber sichern Schritt und Tritt hat er, und man
kann sich auf ihn eben so gut verlassen, wie auf ein Maul-
thier.
Franz Pizarro, der Freibeuter, schrieb nach Spanien,
daß er in der gesammten Christenheit keine so gute und so
wohl unterhaltene Straße kenne, als jene zwischen Cuzco
und Quito; dieselbe hatte eine Länge von etwa 500 spani-
schen Meilen. Nach den Angaben des Licentiaten Paulo
Ondegardo ließ der Inka Huayna Capac, dessen Vater jene
Straße gebauet hatte, auf derselben von Cuzco her nach
Quito die mächtigen Quadersteine für seinen Palastbau schas-
sen. Und in diesen Ländern ist man heute auf so armselige
Verbindungswege angewiesen.
In den engen Thälern der Cordillere zieht sich dieser
Pfad — denn Straße kann man doch nicht sagen — zu-
meist an den Wasserläufen hin und manchmal auch im Bette
derselben. Dasselbe ist vielfach sogar in bewohntem, ebenem
Lande der Fall; in Berggegenden schlängelt sich der Weg
zu den Höhen hinan, manchmal so sehr im Zickzack, daß
man, namentlich wo ein isolirter Berg nicht umgangen wer-
den kann, im Laufe eines Tages nicht viel mehr als eine
spanische Meile an wirklicher Entfernung vom Ausgangs-
punkte zurücklegt. Von einer Ausbesserung des Pfades ist
gar keine Rede; die Natur schaltet und waltet unbehindert.
Auf eine Pfütze folgt ein Erdhaufen, der von den Uferhöhen
herabgestürzt ist, weiterhin liegen umgefallene Bäume quer
über, und man kömmt auch durch sogenannte Canelones.
Mit diesen verhält es sich in folgender Weise. Während
der Regenzeit wird der Pfad, welcher auf den Höhen hin-
zieht, durch die Tritte der Maulthiere erweicht, und bei jedem
Regensturme schwemmt das Wasser diesen Schlamm weiter
nach abwärts. Dadurch wird der Pfad zwischen den Bö-
schungen immer tiefer, und wenn dann der Reisende sich in
einem derartigen Engpasse befindet, hat er nur einen kleinen
Streifen blauen Himmels über sich. An manchen Stellen
ist der Boden so steil abschüssig, daß sich die Maulthiere auf
allen Vieren abwärts gleiten lassen. Es entsteht allemal
große Roth, wenn in einer solchen „Röhre" sich zwei Maul-
thierkarawanen begegnen. Gewöhnlich schickt man einen
Mann voraus, damit der Pfad frei bleibe, bis ein Maul-
thierzug hindurch ist, und der, welcher ihm entgegen kommt,
bis auf Weiteres warte; einzelne Reiter schreien im Canelon
so laut als möglich, um andere zu warnen. Dr. Saffray
begegnete einem solchen, der aber nicht geschrien hatte, uu-
vermuthet im engsten Theile einer Röhre, wo ein Auswei-
chen platterdings unmöglich war. Wie wollte man aus der
Verlegenheit kommen, da anch an ein Umkehren nicht zu
denken war. Der Neugrauadiner sprach.- „Sie müssen
absteigen; ich verbinde Ihrem Maulthiere die Augen, fessele
ihm die Beine und lege es mit der Seite auf die Erde.
Daun legen wir unsere Decken über den Sattel, wir beide,
lik Neugranada. 339
Sie und ich, drücken uns so eng als möglich an die Wand,
und dann geht mein Maulthier über das Ihrige hinweg;
es richtet dabei keinen Schaden an." Und so geschah es
auch.
Auf der ganzen Strecke zwischen der Bodega und Me-
dellin findet man nur sehr wenige Dörfer oder auch nnrver-
einzelte Weiler, und die Maulthiertreiber müssen deshalb
ein Unterkommen in den Tambos suchen. Unsere Jllu-
stratiou zeigt, wie es mit einem solchen beschaffen ist. So-
bald man abgeladen hat, wird Feuer angemacht; Zündhölz-
chen sind kaum erst im Gebrauch, man hat Stahl und Feuer-
stein, und als Zunder dient das getrocknete Mark des Ma-
guöy (Fourcroya vivipara)- In den Kochkessel wirst man
Tasajo, d. h. Streifen gedörrten Rindfleisches, Bananen
und Speck, und dieses Gericht bildet das Abendessen; statt
des Brotes kauet man dabei Rohzucker, und der Nachtisch
besteht aus Chocolate mit Maismehl. Wenn man sich zum
Schlafen niederlegt, breitet man ein Stück getheerter Lein-
wand auf der platten Erde aus und hüllt sich in eine Decke.
Dabei ist allemal wohl in Obacht zu nehmen, daß man die
Füße nicht entblößt, weil man dann Gefahr läuft, Blut
durch die Vampyrfledermäufe zu verlieren. Diese haben
es vorzüglich auf die Zehen abgesehen; die Wunde ist keines-
wegs gefährlich und der Blutverlust durch eine solche über-
steigt 10 bis 15 Grammen nicht. Der Vampyr sucht übri-
geus alle Hausthiere heim und manches Stück Geflügel geht
durch ihn verloren. Wenn er Ochsen, Pferden und Maul-
thiereu oft uud hinter einander Blut aussaugt, magern sie
ab, werden krank und sterben. Man hat beobachtet, daß er
sich ganz besonders gern an solche Thiere oder ganze Herden
macht, welche auf einem Weidegrunde erst neu angekommen
sind. Solche, die mit Citronensaft eingerieben worden sind,
läßt er, wie man sagt, unangetastet.
Neben den Vampyren sind die Sandflöhe, Nigu as (Pu-
lex penetrans), sehr unangenehme Gäste; dazu kommen die
Schlangen, welche sich in der Blätterbedachung wohlfühlen
und durch Rascheln in derselben zu erkennen geben, daß sie
da sind, und außerdem hört man, als Nachtmusik, das Ge-
brüll des Tigers. Wenn man sich um derlei Kleinigkeiten
nicht weiter bekümmert, kann man unter einem Tambo ganz
gemächlich schlafen. Der Arriero, Maulthiertreiber, ist
von Jugend auf an das Alles gewöhnt und dabei froh und
guter Dinge. Bevor er am Morgen aufbricht, ordnet er-
den Herd und legt Bambusstäbe neben denselben, damit An-
dere, die nach ihm kommen, Alles bereit finden, um ein
Feuer anzumachen. —
Je höher man in der Cordillere kommt, um so mehr
verschwindet der tropische Charakter der Gegend, und schon
am zweiten Tage, von der Bodega aus gerechnet, befindet
man sich in der gemäßigten Zone, in der tierra templada,
die zwischen 600 und 1300 Meter über der Meeresfläche
liegt. Hier ist das Thierleben nicht mehr so üppig uud
mannichsaltig; in dieser Region herrscht eine Stille, welche
in den Wäldern einen fast unheimlichen Eindruck macht.
Die erste Stadt, welche der Reisende findet, heißt Ma-
rinilla; sie mag etwa 4000 Einwohner haben, und liegt
an einem steilen Abhänge. Die Häuser sind aus gestamps-
ter Erde aufgeführt, haben Ziegel- oder zumeist Strohdächer
und nur ein Geschoß. Die Weißen sind in der Mehrzahl;
sie gelten für patriotische, rechtschaffene Leute und sorgen
dafür, daß ihre Kinder Unterricht erhalten. Dr. Saffray
war dort Zeuge eines Hahueukampfes, für welchen
namentlich die farbigen Leute eine große Vorliebe haben.
Unsere Illustration zeigt, wie es mit der „Arena" beschaf-
fen ist. Dieselbe befand sich inmitten eines großen Hos-
raumes und nahm sich in der That sehr einfach aus. Die
43*
Aus der Republik Neugranada.
Eigenthümer der Kampfhähne und die Leute, welche auf den
einen oder andern derselben gewettet hatten, standen, lagen
oder kauerten umher und zeigten die lebhafteste Theilnahme.
Den Hähnen hat man den Kamm verschnitten, den Schwanz
dünn gemacht und die Sporen geschärft; Metallsporen, wie
in England, sind nicht im Gebrauche. Auf die Abdichtung
dieser Kämpen wird große Sorgfalt verwandt. Die Mais-
körner, welche man ihnen bei jedem Futter giebt, werden
genau abgezählt, das Wasser wird ihnen zugemessen. Dieses
barbarische Sport hat eben so genau festgestellte Regeln wie
sie auf dem Turf vorkommen oder für das Boxen festgestellt
sind. Wenn der Kampfhahn schwach wird, dann sucht sein
Besitzer ihm frisches Leben einzuflößen, und zu diesem BeHufe
hält er einen mit Branntwein getränkten Schwamm bereit.
Dann wird er auf Augenblicke wieder mnthig und bringt
eine letzte, vielleicht tödtliche Wunde seinem Gegner bei,
während er in demselben Momente selber verendet.
Eine Stunde jenseits Marinilla und etwa sieben Weg-
Landleute aus dem Thale von Medellin.
stunden von Medellin entfernt liegt die Stadt Rio Negro;
sie ist regelmäßig gebaut, zählt etwa 8000 Einwohner, die
arbeitsam sind, Ackerbau treiben und sich im Wohlstande zu
befinden scheinen. Man ist erstaunt, von dort aus eine
wirkliche Straße zu finden; die Schlammlöcher sind mit
Steinen ausgefüllt worden; es sind Abzugsgräbeu für das
Wasser vorhanden, an Macadamisiren ist freilich auch hier-
nach nicht zu denken. Ein verständiger Gouverneur hat die
Sträflinge zu dieser Arbeit angehalten, und so erhielt denn
die Republik Neugranada wirklich ein halbes Dutzend spa-
nische Meilen einer Straße, welche auch während der Regen-
zeit ohne Unbequemlichkeit passirt werden kann *).
*) „Der Bau von fahrbaren Straßen ist in Neugranada bis in
die allerjüngste Zeit vernachlässigt worden, und erst während der letzt-
verflossenen Jahre ist man daran gegangen, einige Wege zu bahnen,
z. B. von der Hauptstadt Bogota nach dem Rio Meta, auch ist die
Genehmigung zu einer Eisenbahn von der Hauptstadt bis an den
Magdalenastrom ertheilt worden. Straßen aber wären für den ma-
1
■1
i'i.l
Iii
342
jAus der Republik Neugranada.
Einige spanische Meilen vom Rio Negro entfernt ge-
langt man nach Santa Elena auf den höchsten Punkt der
östlichen Cordillere und hat von dort einen Ausblick über
eine weite Bergregion. Unten, etwa dritthalb tausend Fuß
tiefer, öffnet sich das mit Licht förmlich übergossene Thal
von Medellin und man kann sogar die Straßen der Stadt
deutlich erkennen. Man gelangt in dieselbe durch die söge-
nannte Quebrada, einen Hohlweg, in welchem ein Bach
fließt; zu beiden Seiten stehen Häuser mitten in Gärten.
Die Plaza, der große Marktplatz, zeigt fast nur einstöckige
Häuser, welche, wie man aus unserer Illustration ersieht,
ziemlich gleichförmig sich ausnehmen. Die Kathedrale ist
in einem ganz abscheulichen Style gebaut, oder eigentlich in
gar keinem Style; im Innern findet man nicht einmal
Bänke oder sonstige Sitzplätze. Die Männer gehen fast gar
nicht zur Kirche, die Frauen dagegen thun es. Jede legt
einen Teppich auf die Steine, damit das Knieen ihr nicht
wehe thne. Der Teppichträger, welcher das weiche Fabrikat ,
das aus Quito bezogen wird, ihr nachträgt, ist eine Art
von Charakterfigur nicht bloß hier, sondern fast überall im
ehemals spanischen Amerika. Jedes gute Haus hält einen
solchen und er wird zu seinem wichtigen Amte eigens ab-
gerichtet. Er ist entweder ein Neger oder ein Mestize; in
Peru aber bei vornehmen Leute» allemal ein Chiuo oder
Vollblutindianer; anderwärts nimmt man auch wohl eine
hübsche Negerin. Der Teppichträger ist Gespiele und ge-
legentlich auch Prügeljunge in der Familie; er wird oft-
mals ausgefcholten, andererseits jedoch auch recht gründlich
In Medellin, Neugranada.
verzogen, und wenn er dann erwachsen ist, taugt er zu gar
nichts; man kann sich keinen schlechtem Dienstboten denken.
In ganz Neugranada und so auch in Medellin giebt es
keine andere Aristokratie als die des Geldes. Die Nach-
kommen der früheren spanischen Abenteurer und der höheren
teriellen Aufschwung um so nothwendiger, da bisher aller Maaren-
verkehr, soweit er nicht zu Wasser vermittelt wird, vielfach nur steile,
gefährliche Gebirgspsade findet, und die Güter nicht auf der Achse,
sondern auf dem Rücken von indianischen Trägern oder Maulthieren
befördert werden. Dadurch wird der Transport ungemein verlheuert,
und die nicht in einer gewissen Nähe von Wasserwegen liegenden
Gegenden können ihre Producte nicht preiswürdig an den Markt
schaffen. Aber selbst in den Stromthälern bestehen weite Strecken
noch aus Wald und nur an vereinzelten Punkten findet Anbau von
Handelsartikeln in größerm Maßstabe statt." Kari Andree, Geo-
graphie des Welthandels II, S. 634.
Beamten, welche das Mutterland schickte, sind nur in ge-
ringer Anzahl vorhanden, und eine Aristokratie des Talen-
tes ist noch nicht aufgekommen in einem Lande, wo man sich
vorzugsweise nur erst mit materiellen Dingen beschäftigt;
Gelehrte, Künstler, Dichter :c. lassen noch auf sich warten.
So steht der Bürgersmann, wenn man diesen Ausdruck an-
wenden darf, in erster Reihe; zu dieser Classe gehören die,
welche Berufsstudien gemacht haben, alfo Juristen und Me-
diciner, Kaufleute, Gutsbesitzer und Alle, die über ein Ver-
mögen von etwa 15,000 Piaster verfügen. Nach der
Hautfarbe darf man freilich nicht fragen. Es ver-
steht sich von selbst, daß der Mann, gleichviel ob er braun,
gelb oder wie sonst ist, in gerader Linie von den blanblüti-
gen spanischen Hidalgos, von den Entdeckern und Eroberern
abstammen will. Ein Compliment, Nachkomme jener blut-
K WWW MKA «« WM WÄtiMMM__—
Aus der Republik Neugranada.
dürstigen und habsüchtigen Barbaren aus Europa zu seiu,
ist das freilich nicht; es ist aber einmal so, daß Jeder ein
Weißer sein will und somit ein Aristokrat der Hautfarbe *).
Unsere Illustration des Hahnenkampfes in Marinilla
giebt den Typus der Neger und der schwarzen Mischlinge
recht gut wieder; jene der Landleute aus dem Thale von
Medellin jenen der Mestizen.
Also das Geld allein giebt den Ausschlag. Ein Maul-
thiertreiber, Arriero, der sich ein Sümmchen erworben hat,
wird dadurch zu einnn Don Fulano, wie man zu sagen
pflegt, einem Herrn So und So. Verliert er seine Habe,
so macht das auch weiter nichts aus, er wird wieder Arriero.
Das „Geld vor allen Dingen machen", quaerenda pecu-
nia primum virtus post nummos, hat seine volle Gel-
tung. Man kann wuchern, im Handel übervortheilen, falsch-
münzen:c.; dann heißt es: es vivo! er ist ein Pfiffiger
Kerl (smart, wie die Aankees sagen würden). Er ist durch
falsches Spiel und dergleichen zu Vermögen gekommen; dann
sagt man: sade mucho, der versteht sich aus den Rummel.
Fragt man, weshalb Der oder Jener es nicht zu Reichthum
gebracht hat, dann wird man zur Antwort erhalten: es
buen sujeto pero es tan pobre, er ist ein ganz guter
Mensch, aber arm.
Von einer Gesellschaft kann in Medellin keine Rede
sein. Nur die Frauen machen einander Besuche; was die
Männer mit einander abzumachen haben, geschieht in den
Kaufläden. Die Stadt hat keinen Ausfuhrhandel; die Ge-
schästsleute dort versenden das Gold, welches sie aus den
Provinzen erhalten, führen aber alljährlich vielerlei Waaren
ein, die von hier aus nach den kleineren Städten und den
Dörfern vertheilt werden. Aus England kommen Eisen-
und Blechwaaren und Handwerksgeräthschaften, gebleichte
und ungebleichte Baumwollenwaaren; Deutschland sendet
*) Der alte General T. C. de Mosquera, der selbst mehrmals
Präsident war, hat in Memoria sobre la geograpliia fisica y po-
litica de la Nueva Granada, Nueva York 1852, p. 96, eilte
Statistik der verschiedenen Racen seines Landes gegeben. Er nimmt
die Gesammtzahl für das eben genannte Jahr ans 2,363,054 Köpfe
an und sein Resumen por razas y castas stellt sich folgendermaßen
heraus:
Kaukasier 450,003. Das ist freilich sehr hoch gegriffen und
die Zahl würde sich gewiß um weit mehr als die Hälfte, vielleicht
aus kaum ein Drittel, wirklich weißer Leute reduciren, wenn man
eine strenge Blut- und Ahnenprobe vornehmen wollte.
Amerikanische Race, d. h. reine Indianer, „civilisirte",
d. h. in Ortschaften ansässige, 301,000, — „wilde" 120,000, in
Summa 421,000.
Neger 80,000.
Quincaillerien, Spielzeug, Nürnberger Tand, Streichfeuer-
zeuge:c., auch buntbedruckte Tücher, dergleichen auch die
Schweiz liefert ; aus Spanien kommt Wein; Frankreich lie-
fert Tuch, Seidenzeng, lackirte Schuhe, Filzhüte, Droguen
und Apothekerwaaren und Kramwaaren. Die größeren Ma-
gazine sehen aus wie ein Bazar, man kann in ihnen alles
Mögliche kaufen; die Zahl der kleineren Läden ist sehr an-
Mischlinge von Indianern und Weißen 1,029,051. Da-
von werden aufgeführt als Quarterons (Cuarterones), die leidlich
hellfarbig sind, 30,054; als Mestizen 998,997.
Mischlinge von Weißen und Negern, Mulatten, 283,000.
Mischlinge von Negern und Indianern, Zambo«,
100,000.
Also Mischlinge mit schwarzem Blute 383,000 Köpft.
Ich will bemerken, daß die Zählung von 1859 ergeben hat
2,243,837 Köpft, also reichlich 100,000 weniger als Mosquera
sieben Jahre früher annahm. A.
In Medellin.
344 Gustav Wallis: Von
sehnlich, und ein tiendero, Ladenhalter oder Budenbesitzer,
gilt schon für etwas Rechtes. Er stolzirt mit großer Wich-
tigkeit durch die Straßen, wenn er Morgens oder Abends
den mächtigen Schlüssel in der Hand trägt; keine Tasche
wäre groß genug, denselben zu fassen.
Kalifornien nach Japan.
Credit wird auf zwölf bis achtzehn Monate gegeben;
der landesübliche Zinsfuß stellt sich auf 12 Procent, aber
18 Procent sind gar nicht selten. Dieser lange Credit läßt
darauf schließen, daß es im Geschästverkehr doch im Allge--
meinen rechtlich zugeht.
Von Californien nach Japan.
Von Gustav Wallis.
I.
Ich wollte nach den Philippinen über Japan und China.
Als ich in der Nacht des 31. Januar nach San Fr an-
cisco kam, mußte ich zu meinem Leidwesen erfahren, daß
das nächste nach China bestimmte Schiff schon folgenden
Mittags, drei Tage früher als gewöhnlich, abgehe, so daß
mir bei der Eile, mit der ich reiste, unter Anderm kaum
Aussicht blieb, meinen Bruder, den ich seit 24 Jahren nicht
gesehen, und der in der Nähe der Stadt wohnt, antreffen
zu können. Diese Befürchtung bestätigte sich, denn die Ab-
sahrtsstunde nahte und ich mußte das Schiff betreten, ohne
noch mit einer brüderlichen Umarmung von diesem Conti-
nente scheiden zu können. Gewiß wäre mir dieser Abschied
keine Erleichterung gewesen; doch unter den vielen Scheiden-
den, die einander Lebewohl zuriefen, wären schwerlich wohl
zwei gewesen, die unter so seltsamen Umständen sich sahen,
um einander den letzten Gruß zuzuwinken. Wiedersehen
nach fast einem Vierteljahrhundert mit unmittelbarer Tren-
nung danach, bei solcher Ungewißheit abermaligen Wieder-
sehens —, o nein, es hätte mir das Herz zu sehr zerrissen!
So war es doch besser, daß wir uns nicht sahen, und wir
konnten einander im Geiste uns vergegenwärtigen und ohne
Erregung scheiden.
Die Abfahrt verkündete mir neben gewissem Pompe eine
eben so große Pünktlichkeit, die ich aber gerade in diesem
Falle als nicht existirend gewünscht hätte. Vor dem Schisse
war eine Musikbande aufgestellt, um, fo oft ein Wagen mit
Passagieren erschien, die Aussteigenden mit einem kräftigen
Tusch zu empfangen. Taufende von Menschen, die wohl
nicht freien Zutritt gehabt haben mochten, da selbst der Pas-
sagier für sein Fuhrwerk einen halben Dollar Dockgebühr
zahlt, umstanden das Schiff, wo in bunter Geschäftigkeit
viele Hände sich rührten. Vorzüglich waren es Chinesen,
die mit dem Erwerbe von 300 bis 400 Thalern im Beutel
zum Crösus geworden, nach ihrem himmlischen Reiche zu-
rückkehrend, auf- und absprangen, Koffer und Kisten schlepp-
ten, einander zuriefen, kurz, in jeder Art sich zu schaffen
machten und dem Ganzen einen höchst eigentümlichen An-
strich verliehen. Abfchiedsfcenen gab es auch da unter allen
Alters- und Standesclassen. Alte und Junge, selbst Kin-
der und Frauen hatten sich eingefunden, den Scheidenden
Grüße aufzugeben oder sonst Wichtiges mit ihnen zu bespre-
chen. Sonderbar erschienen die Frauen des chinesischen Ar-
beiterstandes durch unerhörten Putz, in Sammet und Seide
rauschend und in der alle Modekünstelei überthörenden Fri-
snr, die ein wahres Kunst- und Probestück chinesischer Pe-
danterie bildet. Das ganze Haar ist wie Cartonnagearbeit
aus steifen Flügeln, Schnörkeln :c. zusammengesetzt, und
muß man den Holden des himmlischen Reiches Dank wissen,
daß sie uns, auf fremder Erde, diese Beweise ihrer Kunst-
sertigkeit nebst anderen ihres Lebens und ihrer Sitten zur
Anschau herübertragen; zeitweilig ist es ja auch nur, denn
haben sie einige Säckel erobert, so wenden sie sich ihrer Hei-
math wieder zu, da sie um keinen Preis außer derselben be-
graben liegen möchten.
Auf dem Schiffe hat man gute Gelegenheit, das nnver-
drossene, nüchterne Wesen der chinesischen Arbeiter kennen zu
lernen. Unermüdlich rennen sie auf und ab, quälen sich
unter ihren Lasten, daß man nicht begreift, wo sie Kräfte
und Athem hernehmen; ausgehungert bis auf Mark und
Bein, ruft ihr sehniger Körper eben so großes Mitleid in
uns wach, wie wir uns andererseits durch ihr Erscheinen
höchlich amüsirt fühlen. Der Zopf, der Zopf, der hängt
ihnen hinten, und wäre es nicht der Fall, so liegt er wie
eine Schlange um den spitzigen, rings rasirten Schädel ge-
wunden. Selbst wenn man viel Chinesen sah, so ruft doch
das Zusammentreffen mit ihnen stets vergnügliche Scenen
hervor, sobald man sie in ihrer Arbeitsamkeit, in einem Trei-
ben beobachtet, wo ihr höchstes Interesse, zum Jnstinct ge-
worden, sie leitet und drängt. Das war denn auch in mehr
als einer Beziehung bei uns an Bord der Fall, wo wir die
Chinesen nicht allein in Gedanken über glückliche Heimkehr
in ihr Vaterland in gehobener Stimmung fanden, sondern
auch sie uns in Form dienstbarer Geister umgaben. Das
gesammte Dienstpersonal, Matrosen, Köche, Stewarts :c.
mit Ausnahme der oberen intelligenteren Stufen bestand aus
diesen bezopften Chinesen.
Doch unsere Abfahrt! Schlag 12 ertönte und es wur-
den die Treppen abgenommen. Das Schiff setzte seine gro-
ßen Räder in Bewegung und langsam aber feierlich schritt
der Koloß durch das Wasser dahin, unter dem lauten Zu-
rufen der am User und Dock Stehenden, unter den Klängen
der Musik, dem Wehen und Schwenken von Hüten und Tü-
chern; ein Kanonenschuß erscholl, mit donnerartigem Wider-
hall zurückgeworfen, und die Reife war angetreten.
Dann bestiegen Abschied- und Leidtragende einen kleinen
zu dem Zweck bereitgehaltenen Dampfer, um uns unter noch
immer fortdauernder Musik eine Stunde lang, bis in die
große offene See hinaus, das Geleite zu geben.
Warum machen sich die Leute nur den Abschied so schwer!
Scheiden thnt weh und Mancher trennte sich wohl lieber im
Stillen, während Andere durch künstliche Erregungen nach-
haltende Wirkung im Gemüthe hervorzurufen lieben. Diese
sind Überhaupt keines Abschiedes, keiner Thräne werth. Und
doch gefällt mir die amerikanische Sitte ceremoniösen Ab-
schiedes, wenn man sie nämlich mehr ein Segens- als ein
Abschiedsgeleite, das nicht von den Scheidenden, sondern von
den Schiffseigenern veranstaltet wird, gelten lassen will. Dem
größten Meere haben wir uns, Gott vertrauend, in die Hand
Gustav Wallis: Von
gegeben, und der Moment ist wohl geeignet, eine Feier da-
mit zu verknüpfen. >
Auf hoher See schwimmend fand dann jeder Einzelne
Zeit und Muße, sich das Innere des großen schönen Schiffes
und auch die Passagiere anzusehen, mit denen man Gefahren
und Genüsse einer langen Seereise theilen soll. Die Zahl
der Cajütspafsagiere betrug nur 32; um fo mehr aber rührte
es sich im Zwischendeck, wo an 100 Chinesen vertheilt wa-
ren. Bei Betrachten des luftigen Zwischendecks berührt es
angenehm, nicht jenes Grauen empfinden zu müssen, das
Einem auf Auswaudererschiffen gewöhnlich überkommt, wo
Hunderte von Menschen nicht in gesunden, lichthellen Kojen,
nein, in Bretterverschlägen zusammengeworfen werden, die
viel zu schlecht sind, um als provisorische Schlafstätten zu
dienen. Die einschlägigen Behörden sollten diese amerikani-
schen Schiffe zum Muster nehmen und keine Aufnahme von
Zwischendeckspassagieren, eine Auswanderung überhaupt nicht
gestatten, wenn Schiffe bald zu Aufstapelung von Waaren,
bald zu Unterbringung von Passagieren dienen müssen. Der
himmlische Arbeiter ist gewiß ein Mann, der sich Vieles
gefallen läßt, und die Zwischendecksbenutzung ist ausschließ-
lich seiner Race anHeim gegeben; dennoch aber herrscht die
größte Reinlichkeit, Ventilation und Tageslicht; und was
noch sehr zu beachten, es sind stabile Schlafcabinen mit Schloß
und Riegel und einem Fenster darin vorhanden. Ein so
eingerichtetes Zwischendeck, selbst mit der vollen, auf 1300
berechneten Zahl von Passagieren angefüllt, dürfte noch keine
beforgnißerregenden Zustände während der Reise herbeiführen.
Der Chinese umgiebt uns überall; beim Essen macht
ein Dutzend derselben die Aufwartung, was uns immer recht
Possirlich vorkam. Man weiß nicht, was man bei dem dienst-
eifrigen Gebahren der Chinesen mehr bewundern soll, ob ihr
slinkes, unverdrossenes Wesen, oder ihre Anstelligkeit und Un-
terwürsigkeit. Man kommt bald zu der Ueberzeugung, daß
der chinesische Arbeiter zum ganz manierlichen Menschen
umgewandelt werden kann, wenn man sich daran erinnert,
daß er unter Seinesgleichen mit bloßen Fingern oder mit
zwei Stöckchen ißt, die, in paralleler Richtung zwischen den
Fingern einer Hand gehalten, anstatt der Gabel gebraucht
werden. Diese Stöcke, gewöhnlich gefärbt, bilden daher auch
einen notwendigen Theil des Inventars der zwischen San
Francisco und China fahrenden Dampfer; und anfangs
wußte ich nicht, was ich von den Haufen bleistiftähnlicher
Dinge zwischen dem Küchengeschirr halten sollte.
Pomphaft wie die Abfahrt war, fo gehen auch die Mahl-
zeiten im Salon mit gewisser Ceremonie vor sich. Die Chi-
nesen sind abgerichtet, auf ein Zeichen des Oberkellners auf-
und umherzuspringen. Erst ertönen drei Glockenschläge vor
Beginn der Mahlzeit, die so viel als „Achtung!" bedeuten;
dann zwei, und hurtig stellen sich die zwölf Chinesen in zwei
Reihen, einer vor dem andern hin; das tiefste Schweigen
herrscht, feierliche Aufmerksamkeit lagert auf ihren Gesichtern;
da: „Klink!" ertönt es, und auf springt jeder Chinese; Alle
in gleichen« Tempo zu den Tellern und Schüsseln greifend,
um die Gäste zu bedienen. Später erschallt wieder so ein
„Klink" als Zeichen des Nachtisches, und — hast du nicht
gesehen — so stehen alle Chinesen wieder still und stramm
in zwei Reihen, des Schalles gewärtig, der sie ins Leben
zurückrufen foll, um aufs Neue — Alle wieder in gleichem
Tempo — Deckel aufzuheben und zu ferviren. Die Chinesen
verrathen in diesen Austritten wahres Schauspielergenie, und
man würde sich, einmal daran gewöhnt, nicht wundern, sie
vor und nach den Mahlzeiten einen Tanz nach der Pfeife
aufführen zu sehen. Man sollte fast glauben, daß ihnen
die Mimik des Lachens fremd sei, und überhaupt ist der Chi-
nese ein stiller, ernster, für unsere Sinne wahrhaft pedanti-
Globus XXII. Nr. 22. lDecember 1872.)
aliformen nach Japan. 345
scher Mensch, der seinen ganzen Ausdruck in dem langen
Zopfe trägt.
Es wollte mir nicht recht gefallen, daß diese Leute unsere
Bedienung bildeten, da ich in Amerika nicht viel Rühmens
von dem Charakter der niederen Classen vernommen hatte.
Doch beruhigte mich der Oberstewart, dem ich meine desfall-
sigen Bemerken äußerte, mit der Versicherung, daß jede noch
so geringe Entwendung streng bestraft, wie überhaupt scharfe
Difciplin geübt werde. Auf dem Schiffe sei der Chinese
ein ganz anderer Mann. „Es mag sein," dachte ich; fand
aber Gelegenheiten genug, zu beobachten, daß er außerhalb
der Cajüteu mauste und stipitzte, wo er nur konnte, ohne
Ursache dazu zu haben.
Recht verständig hat man den Barbier, einen stämmigen,
zum Cougostamme gehörigen Mann, zum Vorschneider ge-
wählt; man weiß, welchen Werth Barbiere auf scharfe Mef-
ser legen.
Auch vom Capitän wird auf amerikanischen Schiffen
mehr vorausgesetzt, als anderswo; er macht jeden Morgen
in Begleitung des Arztes und eines Dieners die Runde durch
das Schiff, wobei jeder Cabiue ein musternder Blick zuge-
worsen wird. Später überzeugte ich mich, daß der Capitän
auch die Stelle eines Seelsorgers vertritt, indem er den sonn-
täglichen Gottesdienst abhält. Bis zur Ankunft in Japan
überließ er dieses Amt jedoch einem Passagier, der als Mis-
sionär nach China ging und alle Eigenschaften eines Kanzel-
redners zeigte.
Noch sprach ich von den Räumlichkeiten des Schiffes
nicht, das innerhalb seiner Planken all unser Treiben und
Thun, eine förmliche kleine Welt, umfaßt. Die vier Dam-
pfer „America", „China", „Japan" und „GreatRepublik"
der amerikanisch-chinesischen Linie sind die größten Postschiffe
der Welt, wenn nicht die größten Schiffe überhaupt nächst
dem „Great Eastern". Sie fassen je 5600 Tonnen ein-
schließlich der Kohlen, die allein auf 1000 Tonnen ange-
schlagen sind. Die Pserdekraft beträgt 1500 und kann er-
forderlichen Falls bis 2500 gesteigert werden. Die Länge
des Decks beträgt 380 Fuß, während die Breite in der Mitte
79 Fuß beträgt. Der Cyliuder hat 9 Fuß 9 Zoll und die
Räder haben je 40 Fuß im Durchmesser. Bei ausbrechender
Feuersgefahr setzt die Dampfmaschine eine Pumpe in Be-
wegung, die aus 32 Schlünden nach allen Richtungen Was-
ser ergießt; in kaum zwei Minuten ist der Löschapparat in
voller Thätigkeit. Während man in neuerer Zeit auf allen
größeren Dampfschifffahrten dem Schraubensystem den Vor-
zug giebt, wandte man hier doch Räder an, weil hierdurch
mehr Raum im Zwischendeck gewonnen wird und die Be-
setzuug desselben durch chinesische Arbeiter der Gesellschaft den
größten Gewinn abwirft.
Um nun auf die Verpflegung der Passagiere zu kommen,
so hätte ich auf amerikanischen Schissen nicht so gute und
reichliche Küche erwartet, da doch der Aankee seinen ganzen
Sinn aufs Praktische setzt, und auch in Betreff von Speisen
aus dem Lande, im privaten wie öffentlichen Leben, große
Einfachheit herrschen läßt. Er erkennt aber, daß das rei-
sende und besonders das seereisende Publicum höhere An-
sprüche stellte. Man trifft auf diesen großen Dampfern da-
her auch Alles, was zur Bequemlichkeit einer Seereise er-
wartet werden kann. Täglich frisches Fleisch, frische Milch,
dito Eier, Brot:c. im besten Zustande. Lese- und Rauch-
cabinet, Spiele, Piano, Bäder, ärztliche Verpflegung, die
Hülfe des Barbiers, alles dieses, wie so vieles Andere, dürfte
denn in erster Reihe auch nicht fehlen. Mit jeder möglichen
Rücksicht behandelt, wird dem Passagier seine Cabine zu allei-
uigem Gebrauche — und zwar schon vom Comptoir aus —
angewiesen, insofern nämlich nicht Gemeinschaft mit Anderen
44
346 Richard Burton's und Ch. Tyr
durch stärkere Zahl geboten ist; ein Vortheil, dessen man
selten auf Seereisen genießt. Unbenutzte Betten werden auf-
gehoben und ganz weggeräumt, wodurch neue Bequemlichkeit
entsteht.
Die Einrichtung der Betten machte mich mit einer Neue-
rnng bekannt, die Nachahmung selbst auf dem Lande und
besonders in Krankheitsfällen verdient. Da sie leicht aus-
führbar, so will ich sie näher beschreiben. Sie besteht ein-
fach in der Einrichtung der Grundlage, die das Bett trägt.
Wo sonst auf Querleisten oder einem Netze und dergleichen,
ruht man hier auf langen, dünnen Latten, die so lang wie
das Bett selbst und nicht weiter unter sich verbunden sind.
Das Bett erhält durch die Biegsamkeit derselben eine Nach-
giebigkeit nnd Elasticität, die auf einfachere Art nicht zu er-
reichen wäre, und was sie ganz besonders für Seereisen
empfiehlt. Die Latten müssen leicht begreiflich aus recht
dehnbarem Holze, am besten vielleicht Eschenholze, angefertigt
werden. Die Einschnitte, mittelst deren sie auf zwei Stifte
aufgelegt werden, sind reichlich lang zu machen, um der Be-
weglichkeit noch größern Spielraum zu geben. Man kann
allerlei vom Amerikaner lernen, auf dem Lande sowohl wie
auf der See.
Unsere Reise über den Großen Ocean war vom Beginne
bis zum Ende eine so ruhige und günstige, wie ich mich kei-
ner ähnlichen entsinne. Während der ganzen Ueberfahrt ist
nicht ein Glas, nicht ein Teller zerbrochen. Der Tisch so-
gar blieb frei, ohne die übliche und unentbehrliche Umrah-
mung mit Leisten. Nur wer Seereisen gemacht, weiß, was
das sagen will. Eine so ruhige Reise bietet aber auch eigent-
lich keine Genüsse; gleichförmig verlaufen die Tage, ohne
Hitt-Drake's Reisen in Syrien.
all die Zufälle und Wechsel, wie sie sonst mit Seereisen eng
verknüpft sind. Für uns kam noch hinzu, daß auch das
Meer den Anblick feiner eigentümlichen Bewohner uns gänz-
lich entzog. Wir sahen keine Walfische, keine Haie, keine
Delphine, nicht den fliegenden Fisch und auch das so präch-
tige Meerleuchten sollte uns in nur geringem Maße zu Theil
werden, ja, es scheint unglaublich, daß mit Ausnahme eines
Dampfschiffes, das übrigens erwartet wurde, wir kein wei-
teres Fahrzeug auf der langen Reise erblickten. War es
doch, als ob das Meer und der Zufall uns all diese gewohn-
ten Genüsse entzog, weil wir einem Wunderlande zusteuer-
ten, das unseren Augen desto mehr bieten sollte!
Doch eines Vorfalles entsinne ich mich, der einen Wechsel
in unser einförmiges Dasein brachte; es war dies das Ab-
leben eines Chinesen. Bei Sterbefällen, die sich auf See
ereignen, ist das Grab bekanntlich bald gegraben. Ein An-
deres war es aber im vorliegenden Falle, wo Capitän und
Dampffchiffcompagnie hätten schwer büßen müssen, wäre der
Leichnam in die See versenkt worden. Die ganze über-
lebende Kameradschaft an Bord kommt im moralischen Selbst-
gesühle dafür auf, daß ihr Todter in der geweihten Erde
ihres heimatlichen Bodens bestattet werde. All die vielen
Tausende der Chinesen, die nach Amerika wandern, sie müs-
sen Alle, lebend oder tobt, wieder zurück in ihre Heimath.
Unerhört wie es in aller Schisfschronik dastehen mag —
der Leichnam mußte also an Bord verbleiben und zwar wäh-
rend eines Zeitraumes von 12 bis 14 Tagen. Er wurde
in einem Kasten dicht verschlossen, mit Tuch verhüllt und
an einem freien Orte aufbewahrt.
Richard Burton's und Ch. Tyrwhitt-Drake's Reisen in Syrien.
Die Cedern des Libanus. — Christen und Moslem, Beduinen unv Drusen.
X. Wir wissen zwar nicht, welche geographische Neuig-
keiten und Überraschungen uns noch das Jahr 1872 bringen
wird; so viel können wir aber schon jetzt sagen, daß das so-
eben in London erschienene Buch „das unerforschte Syrien"
von Richard Burton nnd Charles Tyrwhitt-Drake zu den
bedeutendsten Erscheinungen des laufenden Jahres auf diesem
Gebiet gezählt werden darf. Denn es bringt allseitig Neues;
fast kein Gebiet des Wissens dessentwegen man etwa ein
fremdes Land durchstreift, ist unberücksichtigt geblieben, wenn
es auch die Beihülfe von Gelehrten mancherlei Art erheischte.
Käfer, Schnecken, Gesteine und Pflanzen wurden ebenso ge-
sammelt, wie die im Munde des Volkes umlaufenden Sprüch-
Wörter oder griechische uud andere Inschriften. Ein ganzer
langer Abschnitt handelt über Burton's anthropologische
Sammlungen und sogenannte prähistorische Funde, ein an-
derer giebt eine Anzahl sehr wichtiger Höhenmessungen. Die
Autoren gehen nicht zu weit, wenn sie behaupten, durch ihre
Bereisung des Antilibanus dieses Gebirge eigentlich erst er-
schlössen zu haben. Selbst Geographen von Fach wären
der Ansicht gewesen, daß hier nichts Neues mehr zu finden
gewesen sei. Und was war bisher vom Antilibanus bekannt?
Nichts als die große Straße, die Damaskus mit seiner Ha-
fenstadt Beiruth verbindet und den südlichen Theil des Ge-
birges durchzieht, uud etwa noch die Westabhänge desselben
um das von Touristen vielbesuchte Baalbek, wo die mächti-
gen Reste des schönen Baalstempels dem drohenden Einsturz
entgegen gehen.
Auch zeichnen sich die Verfasser, zu denen als dritte im
Titel nicht genannte Mrs. Isabel Burton kommt, durch eine
bei ihren Landsleuten seltene, freisinnige und kritische Auf-
fassung der Dinge im „Gelobten Lande" aus. Als Bei--
spiel dafür wollen wir Frau Burton's Schilderung der weit-
berühmten Cedern des Libanus mittheilen, zumal dadurch
auch eingewurzelte falsche und übertriebene Vorstellungen be-
seitigt werden.
Den Tag nach unserer Ankunft (Sonnabend den 30.
Juli 1870), so erzählt Frau Burton, verwendeten wir da-
zu, die Umgegend zu besichtigen und die Cedern zu zählen *).
Abergläubische Leute halten das für unmöglich, und für solche,
denen diese Art Förstergabe abgeht, mag es immerhin schwie-
rig sein. Man wird es für schlechten Geschmack halten,
fürchte ich, daß keiner von uns in die gewöhnliche Exstase
gerieth über diese Weihnachtsbäume in großem Maßstabe,
die von fern wie ein Stück Kiefernschonung aussehen und
sich von Nahem so lumpig und elend machen, daß sie ein
englischer Landedelmann in seinem Park nicht dulden würde.
*) Die Cedern stehen im höchsten Theile des Gebirges, unter
36°2y2' östl. L. v. Gr. und 34° 14' nördl. Vr., ungefähr in der
Mitte einer geraden Linie, welche Tarabulus (Tripolis) an der Küste
mit Baalbek verbindet.
Richard Burton's und Ch. Ty
Mancher Kirchhof bei uns daheim hat wahrhaftig Taxus-
bäume, welche an stattlichem Aussehen diese Cedern übertref-
fen und wahrscheinlich weit älteren Datums sind. Volney
hat ganz recht, wenn er sagt: «Diese so gepriesenen Ce-
dern gleichen vielen anderen Wundern; bei näherer Betrach-
tung entsprechen sie ihrem Rufe ganz und gar nicht."
Im Allgemeinen ist die Libannsceder ein schlecht belaub-
ter, nicht gut gewachsener, häßlicher Baum, durchaus nicht
pittoresk, ausgenommen vielleicht von oben gesehen. Alle
älteren Exemplare sind zerzaust, verstümmelt und abgeschält,
der Zweige beraubt und durch Feuer angesengt, und Alles
hauptsächlich durch die Eingeborenen. Wir selbst sahen, daß
sie mit Splittern von diesen „Bäumen des Herrn" ihren
Kalk brannten und ihren Kaffee kochten. Es existirt zwar
ein alter Mann, welcher den Titel „Wakil el Arz" (Wäch-
ter der Cedern) führt; aber er wäre der erste, der für ein
Trinkgeld die Hand anlegte, um seine Schützlinge uiederzu-
hauen.
Die Zahl der Bäume wird von Reisenden verschieden^
lich angegeben: Mr. William Rae Wilson (Travels in
the Holy Land 1847) hat die betreffenden Ziffern zu-
famniengestellt. Sie mögen hier mit dem inzwischen nöthig
gewordenen Anhange folgen. 1550 waren es 25; ebenso
viele sah Fuhrer 1565 und andere Reisende 1575. Der Mis-
sionär Dandini sand im Jahre 1600 noch 23; 1657 The-
venot 22; 1696 Manndrell 16; 1737 Pococke 15; wäh-
rend 1786 Volney erklärt, es gäbe nur 4 bis 5, die über-
Haupt Beachtuug verdienten. 1810 erwähnt Burckhardt wie-
der 11 oder 12 der ältesten und bestanssehendsten Cedern,
außerdem 25 große, ungefähr 50 von Mittelgröße und über
300 kleine und junge. 1818 zählte Mr. Richardson 7;
1832 Lamartine, der aber nicht nach Autopsie berichtet, eben-
soviel; Van de Velde fand 12 alte, welche nach der Ansicht
derMarouiten von den Aposteln selbst gepflanzt wurden, und
außerdem einen Nachwuchs von 400 jüngeren. Ida Pfeiffer
sah 1842 „20 sehr alte, davon 5 vorzüglich große und schöne,
die schon in den Tagen König Salomo's existirt haben sollen".
Dr. Stanley fand ein Dutzend „Patriarchen" ebenso wie Mr.
Porter. Wir zählten auf sieben verschiedenen Hügeln, von
denen die vier größeren in Kreuzesgestalt gruppirt sind, neun
alte Stämme.
Ebenso wie die Zahlen, weichen auch die Beschreibun-
gen von einander ab. Der Rev. Tristram (Land of Israel
p. 360) schildert, wie die Vögel ans den Gipfeln der Ce-
dern sitzen „außer Schußweite". Wo iu aller Welt kaufte
er denn sein Pulver? Wir wenigstens konnten mit Stei-
- nen hinüber werfen. Der Boden besteht aus schneeweißem
Kalk, welcher zum Theil von einem dunkeln Humus aus
Cederuadeln und Detritus bedeckt ist. Der größte, in
Nordosten gelegene Hügel trägt eine kleine, elende Capelle,
in welcher eine Sardinenbüchse das heilige Sacrament ent-
hielt. Jetzt ist diesem Uebelstande durch die Frömmigkeit
englischer Katholiken gesteuert.
Die ältesten Stämme stehen auf dem südöstlichen Hügel.
Nachwuchs existirt nicht, da die Ziegen, jetzt ein ständiger
Schaden in Syrien, Alles beim ersten Aufkeimen abfressen.
Außerdem sind Coniseren, wie die Familie der Orangen,
Aristokraten, sie dulden kein plebejisches Unterholz und ge-
meines Gras unter sich.
Rev. Thompson behauptet, daß die echte Ceder nur auf
diesem Punkte wachse. Das ist falsch. Denn seit Seetzen
(1805) kennt man die Existenz der echten Ceder auch in an-
deren Theilen des Libanus; und der nächste Marsch von
einigen Stunden führte uns zu einem zweiten Haine, bei
welchem auch Thompson unweit vorbeigekommen sein muß.
Ich bin nicht im Stande, die Cedern zn preisen; aber das
whitt-Drake's Reisen in Syrien. 347
kann ich zu ihren Gunsten behaupten, daß ich von dort aus
die einzige erträgliche Aussicht im Libanus genossen habe,
ja ich darf sagen, in ganz Syrien und Palästina, viel-
leicht die schöne Sichemer Gegend ausgenommen. Hier
giebt es noch landschaftlichen Wechsel, schöne Formen, welche
die Erinnerung an die ferne Schweiz wachrufen. Wenn
Van de Velde (II, 490) letzterer den zahmen, uuinteressan-
ten Libanus voranstellt, so muß er damals einen nngewöhn-
lich heftigen Ansall von „Holy Land on the Lrain" ge-
habt haben.
*
* *
Viel Lobenswerthes weiß Mr. Drake von unseren syri-
schen Glaubensgenossen nicht zu erzählen. Es ist das eben-
so zu beklagen, wie die Thatsache, daß so viele der im
Oriente, und namentlich in Aegypten ansässigen Franken
(Europäer) zu dem Auswurfe der Gesellschaft gehören und
sich mittelst Unredlichkeit und Betrug und Wucher austren-
gen, dem Namen Europas die möglichste Schande zu berei-
ten. Aber dergleichen muß besser ausgedeckt, als bemäntelt
werden, weil eine jede solche Erkenntniß dazu dient, daß vor-
kommenden Falls die Ereignisse im Orient richtiger als zu-
vor beurtheilt werden. — Hr. Drake schildert in seiner Reise
im nördlichen Libanus, wie er eines Abends im Dorfe Bayno
früher, als gewöhnlich, Halt macht, weil seine Pferde beim
Bergabklettern Hufeisen verloren hatten. Wie er aber hörte,
daß das Dorf ein christliches sei, fing er an, seinen Ent-
schluß zu bereuen; allein zu spät. Sein Empfang war nichts
weniger als ermuthigend. Der Scheich schien zu glauben,
daß er ihm mit der Erlaubniß, sein Hans zu betreten, eine
große Gunst erwiese. Da war nichts von jener willigen,
würdigen Höflichkeit und dem Verlangen zu gefallen, daß
dem Moslem beim Empfange von Gästen fo eigen ist.
Statt dessen zeigt sich bei dem Christen eine häßliche, spä-
hende Neugier, welche, wenn man ihr nicht bei Zeiten ent-
gegentritt, zu Unverschämtheit ausartet; ein unartiges, be-
leidigendes Benehmen, eine Gier nach Piastern, fast noch
toller als bei den Juden. Alle Christen, welche Drake in
Syrien getroffen, waren gleich schlecht, ausgenommen die
Jakobiten von Sadad, die noch braver und würdiger, gast-
freier und höflicher sind, als die Mehrzahl der Moslems.
Was mag der Grund dieser Inferiorität der Christen sein,
die, wenngleich oft reicher als ihre mohammedanischen Nach-
barn, neidisch und filzig sind und mit sehr wenigen Ausnahm
men Erzschelme? Drake meint, daß bei dem eigengearteten
Sinne der Syrier die Religion etwas damit zu schaffen hat.
Der Syrier ist für den Europäer ein unverständliches We-
sen. Körperlich leidet er nicht selten an Hysterie und an-
deren Krankheiten, welche sonst dem weiblichen Geschlechte
eigenthümlich sind; geistig vereint er die Pfiffe eines Macchia-
velli mit der Dummheit des stupidesteil Bauernburschen. Er
lernt lügen, ehe er sprechen kann, und sagt er ja einmal aus
Jrrthum die Wahrheit, so fühlt er sogleich die heftigsten Ge-
Wissensbisse. Der Moslem kämpft tapfer, weil er überzeugt
ist, daß er, wenn er sällt, als treuer Bekenner stracks ins
Paradies eingeht; der Christ andererseits, vornehmlich so ein
empfindliches, nervöses Wesen, wie der Syrer, vom Pfaffen
dressirt und in Aberglauben versunken, befindet sich, auch
wenn er nach allen Regeln abführt, hinsichtlich seiner Zu-
kunst in größter Unsicherheit. Diese und andere Ursachen
zusammen mit langjähriger Unterdrückung, die er mit krie-
chender, schwänzelnder Heuchelei getragen, doch dabei stets
voll bitteren Hasses nicht nur gegen die Moslems, sondern
gegen alle anderen christlichen Secten — all das wirkte zu-
sammen, um den syrischen Christen zu der gemeinen Crea-
tur zu machen, die er jetzt ist. Ganz umgekehrt, wie der Mo-
44 *
348 ' Richard Burton's und Ch. Tyr!
hammedaner, betrachtet er Gastlichkeit nicht als heilige Pflicht,
sondern nur als ein Mittel, möglichst viel elende Piaster
herauszuschlagen, und in den Bazaren ist es für einen Euro-
päer fast unmöglich, von christlichen Händlern zu kaufen, so
habgierig, betrügerisch und unzuverlässig sind sie.
Die Schwierigkeit, so berichtet Burton an einer an-
dern Stelle, und die Gefahr beim Besuche der Trachonen
entsprang zu meiner Zeit nur aus dem Berhältniß des
Generalgouverneurs von Damaskus zu den Bergstämmen der
Beduinen ('Urban el Dschebel), welche mit Drusen zusammen
jene Gegend unsicher machen. Zu ihnen, dieAlle von einem
gemeinsamen Vorfahren abzustammen behaupten, gehören die
Adfchilat, Hasan. Schurafat, Asambat und dieMafa'id. Die
Sasa oder östliche vulcauische Region ist von den verbünde-
ten Schitaya, Ghiya und Amdschat occupirt, während die
Ledscha den Snlut, Clienten der Drusen, gehört. Diese
neuen Horden sind einzeln ohne Bedeutung; da aber Zwi-
schenheirathen zwischen ihnen vorkommen, so vereinigen sich
namentlich anläßlich einer Razzia Alle. Sie sind die Ab-
kömmliuge jener widerspenstigen Räuber der Trachonitis,
welche, den Tod ihres Anführers Naub zu rächen, sich ge-
gen die Garnison von 3000 Jdumäern erhoben, welche
Herodes, des Antipater Sohn, in ihr Land 'gelegt hatte. Noch
heute erzählt man sich Wundergeschichten von ihrer Kühnheit
aus dem vorigen Jahrhundert; wie z. B. einer von ihnen sich
nächtlicher Weile ins Lager schlich, ein Loch schnitt in das
Zelt des Paschas von Damaskus, dem in jenen Tagen noch
das Recht zustand, lebendig schinden oder pfählen zu lassen,
und wie er bekleidet mit Kauk und Farweh, der melonenför-
migen Mütze und dem Pelzrocke des Würdenträgers, ruhig
als Türke aus dem Zelte heraustrat und vor der Nase der
Schildwache verschwand.
Indessen haben sich einige dieser Stämme unterworfen,
vorzüglich die Schitaya uud Ghiya, und haben der Damas-
cener Regierung Geiseln gegeben, die zeitweilig wechseln. Doch
znmAergerniß für alle anständigen Leute erlaubt man ihren
Brüdern draußen die Ebene zu durchstreifen, die Ernten
der Bauern zu plündern und ihre Herden wegzutreiben.
Jede geglückte Gewaltthat ermnthigt zu einer neuen, und
jede Klage findet bei der Behörde nur taube Ohren. Die
Beduinen arbeiten eben den Gerichtshöfen in die Hand und
dienen als stetes Werkzeug der Rache gegen alle diejenigen,
welche bei dem kleinen, das Land aussaugenden Tyrannen
in Ungnade fallen.
Diefe Beduinen haben keinen besondern Typus. Es
sind kleine, zart gebaute Leute, ganz verschieden von dem star-
ken und kräftigen Bauernschlage uud noch mehr von den
bleichen Städtern. Das Antlitz ist merkwürdig oval, die
Augen sind hellbraun mit dem nnstäten, ruhelosen Blick eines
civilisirten Taschendiebes, die Züge wohlgeformt, die Haut
hell olivengelb. Sie tragen die üblichen Dfchedail der lan-
gen Schmachtlocken, wohl mit Butter gesalbt und pechschwarz;
während ihre Kleidung sich durch Unzulänglichkeit und Un-
regelmäßigkeit auszeichnet. Geberden und Mienenspiel sind
wild und unruhig, die Stimme ist eine Art Kläffen. Sie
würden ein ausgezeichnetes, leichtes Fußvolk abgeben, und
ihre Schlachtordnung verdient die Schilderung eines Kenners.
Äugegriffen, schicken sie Weiber, Kinder und Vieh in den
Nachtrab, formiren eine rohe Schlachtlinie, die sie sorgfältig
gegen das Ueberslügeln decken, und rücken dann feuernd mit
großer Regelmäßigkeit vor. Sie stehen nie an, einen Frem-
den, welcher ohne Führung eines ihrer Stammesgenossen ihr
Land betritt, anzugreifen, und ihre Begriffe von Gastlichkeit
haben sich bei der jetzigen Halbcivilisation wesentlich modifi-
cirt. Deswegen war es nicht sicher, selbst nur drei Stunden
weit vors östliche Thor von Damaskus zu reiten. Am
)ytt-Drake's Reifen in Syrien.
Tage, ehe wir nach Palmyra aufbrachen, hatte eine Ghasu
(Streifpartie) bei Krutayfah einen unglücklichen Bauern
ermordet. Bald darauf verursachte ein Trupp von fünf Benu
Hasan beträchtlichen Schaden in den Gchutah-Dörseru. Zwei
verloren dafür ihren Kopf; aber Mustafa Bey, damals Po-
lizeimeister, jetzt verdientermaßen in Ungnade gefallen, hielt
es für barbarisch, Köpse von Moslems zur Abschreckung über
dein Seraithor in Damaskus auszupflanzen. Darum machen
die Suba'a und andere Anisehschelme den Ager Damas-
cenus zum Schlachtfelde, während die Wuld 'Ali unter je-
nem notorischen Schufte Mohammed el Duchi in Coele-
fyrien ihre Herden weiden, d. h. plündern dürfen. Im
December 1870 brach eine Schaar von 25 Arabern, Kur-
den und Moghrebinern durch einander unter Flintenfeuer
und Säbelhieben in Tahun el Seladfch ein, eine englische
Meile östlich von den letzten Häusern der Hauptstadt, ver-
wundete acht Männer, darunter sechs Drusen, und raubte Ge-
treibe, Waffen und wessen sie sonst habhaft werden konnte.
Auch von dieser Schandthat nahm die Localregierung keine
Notiz. — Ansang Januar 1871 trieben die Bergstämme
vom Dschebel Kalamun ungefähr 32,000 Schafe und Zie-
gen fort, und das wiederholte sich am 13. Februar Seitens
der Suba'a und der Sava'al, Anisehstämmen. Seitdem ver-
geht kaum eine Woche ohne solch ein Ereigniß. Und trotz-
dem hat der Hadikat el Achbar, jenes französisch-arabische
Blatt, das theuer bezahlt wird, um Alles im rofeufarben-
sten Lichte darzustellen, die Frechheit, zuschreiben: Le desert
est cultive, les Bedouins sont soumis et le brigandage
aneanti. So streut man der civilisirten Welt Sand in die
Augen, während die Damascener Regierung durch Räuber-
schaareu ihre eigenen unglücklichen Unterthanen ausplüu-
dern läßt. Es ist sehr zu hoffen, daß die vortrefflichen Befehle,
welche Mahmud Pascha hinsichtlich der Dschurualdschis *)
gegeben, stricte befolgt werden, und wenn der Eigentümer
des syrischen Moniteurs erst einmal ein paar Monate im
Loch gesessen hat, so wird das Beispiel auf die anderen Zei-
tnngsschreiber ebenso wohlthätig wirken als die Strafe ver-
dient ist.
Weit erfreulicher für den Menschenfreund, wenn auch
nicht für den Archäologen als Schilderungen dieser wüsten
Türkenwirthschast, ist dagegen das Bild, welches Burton von
den Drusen in Hadran entwirft. Ein Besuch der Nieder-
lassungen längs der Wüste überzeugte uns davon, daß der
Dschebel Durus (Haurau) sich ganz verändert hat, seitdem
er von Reisenden und Touristen beschrieben wurde. Heu-
tigeu Tages miisfen folche, welche die Details syrischer und
palästinensischer Architektur an Ort und Stelle stndiren wol-
ten, die Werke Bnrckhardt's, Bnckingham's und Lord Lindsay's
mit sich führen. Die Ruinen haben fast überall während
des letzten halben Jahrhunderts so gelitten, daß sie nur mit
Hülfe der alten Pläne wieder zuerkennen sind. Bis vor 150
Jahren war das Land ganz in den Händen der Beduinen,
speciell des Wuld-'Ali-Stammes, der großen Anisehfamilie
und der Bergstämme der Agaylat, Schitaya uud Ghiya.
Dann nahmen es die Drusen in Besitz, welche Armuth und
Unterdrückung aus ihren alten Sitzen im Wadi Taym und
an den Abhängen des Libanns und Hermon vertrieben hatte.
Während der fünf letzten Jahre der Herrschaft Raschid Pa-
schas wurden nicht weniger als siebenzehn Bergdörfer wieder
bevölkert, und im Herbst 1866 flohen 700 bis 800 Fami-
lien in dies Afyl. Man kann sich über diesen Exodus
nicht wundern, wenn man weiß, daß fast die Hälfte der
Dörfer im Dschaydur-District, dem alten Jturaea, nämlich
*) Zeitnngsredacteure, gebildet von journal mit Anhängung der
die Beschäftigung womit bezeichnenden türkischen Sylbe dschi).
Allerlei Abergll
11 von 24, innerhalb eines Jahres vom Wucherer und
Steuereinnehmer ruinirt worden sind.
Die Flüchtlinge finden im Dschebel Durus Hauran ein
kühles und gesundes, wenngleich etwas rauhes Klima, eine
Fülle von Wasser, fertige Häuser, Ruinen aus behauenen
Steinen, um Hütten und Ställe zu bauen, Land nach Be-
lieben, das nur auf den Pflug wartet, Weide für ihre
Herden, und was sie am meisten suchen, Unabhängigkeit uu-
ter der patriarchalischen Herrschaft ihrer eigenen Häuptlinge.
Es giebt allerdings einen nominellen Kaimakam oder Civil-
gouverneur, den die Türken mit einer Handvoll Fußpolizei
und ein paar irregulären Reitern in Suvaydah installirt
haben. Aber die Nisam oder regulären Truppen kommen
nicht so weit; die Auflagen sind bescheiden und die Bedni-
nen können das Volk nicht plagen. Darum sind die einzi-
gen friedlichen und glücklichen Districte Syriens jene, wo
das Maximum von Selbstverwaltung und das Minimum
ofsiciellen Eingreifens besteht.
Es ist kaum nöthig, sich über solch kurzsichtiges und er-
bärmliches Verfahren aufzuhalten, welches eine fleißige
Bauernschaft von Herd und Hof nach fernen Gegenden treibt,
ben in China. 349
während ein Zurückhalten derselben weit mehr am Platze
wäre.
Dies ein Beispiel des Systems, welches die Bevölkerung
einer Provinz, die in Strabon's und Josephus' Tagen über
10(?) Millionen Einwohner ernährte, heute nicht über i Vs
Millionen steigen läßt. Der europäische Politiker ist freilich
ganz damit einverstanden, daß die braven, strammen Drusen
als Vorpostenkette vorgeschoben werden, um den arabischen
Wolf von den Hänsern des Ager Damascenus fernzuhalten.
Umgekehrt aber findet der Archäologe zu seinem Bedanern die
Statuen und baulichen Ornamente zerbrochen, die Inschrift-
steine in moderne Häuser verbaut und kostbare Ueberbleibsel
des Alterthums als Thürstürze übertüncht oder im schmutzi-
gen Innern als Pflastersteine verbraucht. So manche alte
Stadt, welche die Reisehandbücher als in Ruinen liegend
schildern, ist heute ein Dorf, das kaum mehr als 8 oder 9
Jahre zählt. Die nächste.Generation von Reisenden wird
nichts Aehnliches mehr finden, wie jenes geschmackvolle Basalt-
Haus, dessen Abbildung Dr. Wetzstein gegeben hat, und ver-
geblich wird der Sentimentale „jene vollkommene Stille und
jene höchste, überwältigende Verödung und Einsamkeit" suchen.
Allerlei Abergl
Der Teufel spielt auch in China eine wichtige Rolle.
Seine satanische Eminenz muß aber wohl die Begabung
haben, sich beliebig verwandeln und jede ihm angemessen
erscheinende Gestalt annehmen zu können; denn im Blumen-
reiche der Mitte erscheint er nicht so, wie ihn der mit ihm
ungemein genau bekannte Berliner Pastor Disselhos in
seiner vor zwei Jahren erschienenen „Geschichte des Teufels"
schildert. Wie dem aber auch sei, der Fürst der Hölle und
der Finsterniß hat im Juli 1872 in der Stadt Schanghai,
in der Alten Chinastraße seine Aufwartung gemacht. Er
kam, ganz wie er im christlichen Europa zu thun pflegt, zur
Hausthür hinein, richtete großen Unfug an und fuhr dann
zum Dach hinaus, so heftig, daß die Ziegel weit umher-
flogen. In einem geordneten Gemeinwesen darf aber löb-
liche Polizei dergleichen Contraventionen und Ruhestörungen
nicht dulden, nicht einmal von dem allgegenwärtigen Teufel.
Sie verhörte zunächst die Geschädigten, welche ihre Aussagen
bekräftigten. Dann veranstaltete sie, wie man im deutschen
Gerichtskanderwälsch zu fagen pflegt, Recherchen, soll heißen
Nachsuchungen, in der Absicht, den Verbrecher, falls sie ihn
eingefangen haben würde, zu — deportiren, und zwar nach
Hongkong, das ja den Engländern, also Barbaren, gehört.
Wie sah er, den gewiß glaubwürdigen Aussagen der Chine-
sen zufolge, aus? Er ließ sich sehen als alter Mann, war
diesmal schwarz, nicht blau, was auch zuweilen der Fall ist,
und nimmt sich höchst widerwärtig aus; er geht nicht, er
läuft nicht, er fliegt nicht, sondern bewegt sich in einer Weise
vorwärts, wie das ein Mensch gar nicht zu Stande bringen
kann. Ganz schändlich ist, daß er den armen Leuten, welche
er mit seinem Besuche beehrt, die Speisen in Koth verwan-
delt, und wer dem Chinesen an seine Reistöpfe rührt, dem
ist und bleibt er auf ewig spinnefeind. So fagt die „North
China Daily News", welche hinzufügt, daß man eifrig dar-
über aus sei, ihn zu exorcisireu. In Europa haben bekannt-
lich die von Seiten der Geistlichkeit so oft vorgenommenen
Teufelsbannereien gar nichts genützt, «Satan ist eben ver-
stockt und macht sich gar nichts daraus.
llben in China.
Noch eine andere Cnriosität aus China. Die amtliche
Pekinger Zeitung enthält eine Eingabe vom Vicegonvernenr
der Provinz Kiang si. Der hohe Würdenträger bittet den
Thron, höhere Titel zu verleihen an: den Gott des Windes,
die Königin des Himmels, den Gott des Meeres und den
Gott der Stadt Schanghai. Diese Gottheiten, sagt er, haben
sich der kaiserlichen Gunst und Gnade dadurch würdig ge-
macht, daß sie den Transport von Reis, welcher als Tribut
nach Tientsin geschickt wurde, unterwegs gegen Räuber und
sonstige Unfälle geschützt haben. Der Kaiser hat allergnä-
digst den genannten Göttern ihre Titel und Rangerhöhung
bewilligt.
Der zu Schanghai erscheinende „Courier" enthält
gleichfalls eine Notiz, welche den Aberglauben der Chinesen
kennzeichnet. An den Straßenecken war im August ein mäch-
tig großes Placat angeschlagen, dessen Inhalt folgender ist.
Der Doctor juris Hu starb vor Kurzem in Peking, wurde
aber sieben Tage nach seinem Tode wieder lebendig. Dann
kamen die Geister und brachten seine Seele zu einem Gotte.
Der beauftragte die Doctorsseele, daß sie aus Erden verkün-
den solle, die Ernte werde allerdings sehr ergiebig ausfallen,
aber die Menschen würden schwere Heimsuchungen erfahren.
Damit geschehe ihnen aber ganz recht, denn Bescheidenheit,
Rechtschassenheit und gutes Benehmen werde unter ihnen
immer seltener; Sinnenlust, Ausschweifungen und Verach-
tuug der Gesetze nähmen mehr und mehr überhand. Des-
halb habe der allerhöchste Himmel dem Gott ansteckender
Seuchen den Befehl gegeben, am fünften Tage des vierten
Monats auf die Erde hinabzusteigen, böse Krankheiten zu
verbreiten und die Sünder zu tödten. Der Stern der Ver-
nichtung werde am stärksten scheinen im neunten Monde und
dann würden dreißig Procent aller Menschen sterben müssen.
Wenn aber Männer und Frauen rechtzeitig ihre Sünden
bereuen, dann ist es möglich, daß sie des Himmels Gnade
erwerben und am Leben "bleiben. Wer eine Abschrift dieser
Verkündigung macht und dieselbe veröffentlicht, wird nicht
sterben; wer zehn derselben verbreitet, sichert seine Familie
350 Aus allen
gegen den Tod, und wer einhundert, der rettet seinen ganzen
Stamm. Wer das aber bleiben läßt, wird kaum zu retten
sein, und wenn die Seuche einmal kommt, ist die Reue zu
spät und hilft nichts. „Diese Warnung," so sagt dasPla-
cat am Schlüsse, „kommt aus der Bezirksstadt Li tscheu (in
der Provinz Schan tung); sie ist wahr und echt; wäre sie
gefälscht, so sollte der Himmel mich vernichten und die Erde
mich zerschmettern. Tschen, schao, tschung, tschu. Wer
diese vier Wörter mit Purpurfarbe auf gelbes Pa-
Pier schreibt, dann opfert und betet, fie verbrennt
und die Asche trinkt, der wird ewigen Frieden er-
halten."
Die vier Wörter (Schriftcharaktere) sind wohl ein Zau-
ber; in den Wörterbüchern findet man sie nicht. Möglicher-
weise sind sie das Schiboleth einer geheimen Gesellschaft,
welche gegen die Mandarinenregierung eine Erhebung vor-
bereitet.
Die Flußgötter spielen bei den Leuten mit dem langen
Zopf eine nicht minder wichtige Rolle, wie der Tensel selbst.
Wir wollen einige Beispiele geben.
Im Herbst 1871 wurde die Gegend um Tien tsin am
untern Pei ho weit und breit überschwemmt. Ein hoher
Beamter, der für einen sehr verständigen Mann galt, Li
hang tschang, betheiligte sich an der Verehrung, welche man
einer kleinen Wasserschlange darbrachte. Man hatte die-
selbe aufgefischt; sie wurde in einem Tempel aufbewahrt und
in einer Denkschrift an den Thron wurde ausführlich dar-
gethan, daß durch die Erscheinung des heiligen Thieres der
Himmel ein offenbares Zeichen gegeben habe, wie gnädig er
nun gesinnt sei. Im August 1872 geschah etwas Aehn-
liches, und auch diesmal ist es ein hoher Beamter, der bei
den Europäern bisher für einen aufgeklärten Mann galt,
der in einer Denkschrift an den Thron den Flußgöttern hohes
Lob spendet. Er weist nach, wie große Wunder sie ge-
than haben, indem sie die Uferdämme gegen die heranbrau-
senden Hochflnthen geschützt und den Arbeitern am Wasser
das Leben bewahrt haben. Diese Taiwang, d. h. Fluß-
götter, haben die Macht, im gefährlichsten Augenblicke die
Hochslnth zu stauen und fallen zu machen, doch sind sie nicht
gewaltig genug, um allen und jeden Schaden zn verhüten.
Der Flußgott ist unbedingt und unter allen Umständen
eine kleine Wasserschlange, und in ihr sieht das Volk einen
Erdtheilen.
Gott. Es kommen wunderbare Umwandelungen vor. Da
war ein Mann, Namens Tschen sching tung tschang
tschiin, welcher das Amt eines Wasserbauinspectors am
Hoang ho versah. Es kam Hochwasser, und der Andrang
der Wellen war so stark, daß ein Deichbrnch sich nicht ab-
wenden ließ. Da stürzte der gewissenhafte Jnspector aus
Verzweiflung sich in den Gelben Strom. Und siehe, da
geschah ein Wunder, denn urplötzlich hörte das Wasser
aus zu steigen, es floß nun ruhig dahin uud der Deichbruch
konnte ausgebessert werden. Zum Dank dafür wurde Tschen
zur Würde eines Flußgottes erhoben; seitdem erscheint er
oftmals in Gestalt einer Wasserschlange, und als solche thnt
er fortwährend allerlei Wunder.
Dann und wann löst sich aber ein vermeintlicher Gott
in etwas sehr Prosaisches auf, namentlich wenn Europäer
ins Spiel kommen, deren Wunderglaube von einem andern
Zuschnitt ist, wie jener der Chinesen, welche ihrerseits über
die abendländischen Wundererzählungen sich in allerlei Spöt-
teleien gefallen. Im August des lausenden Jahres ging
ein Europäer am Ufer des kleinen Flusses Su tscheu bei
Schanghai hin; auf der Brücke und am Ufer standen etliche
Hundert Chinesen, die Alle nach unten hin schaueten nach
einem großen Thiere, welches etwa 6 Zoll im Durchmesser
hielt. Dasselbe hatte sich um einen Brückenpfeiler gefchlun-
gen und peitschte mit seinem Schwänze das Wasser. Kein
Zweifel: der Wassergott war in Gestalt einer großen Schlange
sichtbar geworden. Der Europäer, kurz entschlossen, bestieg
einen Nachen und ruderte nach der Brücke, während oben
die Chinesen sich ganz still verhielten. Als sie jedoch sahen,
daß er mit einem Bootshaken einen Angriff auf den Gott
machen wollte, erhoben sie ein Geheul der Wuth und Ver-
zweiflung und einer warf seine Mütze nach ihm. Der Euro-
päer ließ sich indeß gar nicht irre machen, sondern versetzte
dem Gott einen derben Schlag, riß ihm dann mit dem Ha-
ken den Leib auf, und das ließ der Taiwang sich Alles ruhig
gefallen. Noch mehr, der weiße Mann legte Hand an ihn
und, siehe da, er zog eine große Bambusmasse hervor, die
sich am Brückenpfeiler verfangen hatte. Als er dieselbe den
versammelten Chinesen vorzeigte, entstand ein allgemeines
Gelächter, und am andern Tage war die ganze Geschichte
im chinesischen Localblatte zu lesen.
A u s allen
Schritte gegen den ostafrikanischen Sklavenhandel.
Endlich will man doch von Seiten Englands etwas thun,
um dem abscheulichen Sklavenhandel an der Ostküste von Afrika
zu steuern. Die Schilderungen, welche Livingstone wie schon
früher so auch jetzt in seinen Berichten von den Barbareien ent-
worfen hat, bringen freilich nichts Neues; die Sache selbst ist
mit allen ihren Einzelnheiten längst bekannt. Auch Otto Kersten
hat als Augenzeuge Uber jenen schmachvollen Handel mit Men-
schen ausführlich gesprochen („Globus" XXI, S. 21 ff.). Die
mit demselben verbundenen Kriege und Raubzüge entvölkern
nicht bloß die Länder im Innern, sondern rufen auch sonst noch
die traurigsten Zustände hervor. Der Negerhäuptling, welcher
Geld oder Maaren braucht, schleppt seine Unterthanen fort,
spürt Verbrechen an Unschuldigen auf, um sie zur Strafe ver-
kaufen zu können; er überzieht den Nachbar mit Krieg, um aus
dessen Volke den Bedarf des Sklavenkäufers zu befriedigen. Sicher-
heit des Lebens und des Eigenthums sind unbekannt.
Erdtheilen.
Die Sklaverei ist eine urafrikanische Institution und wird
es auch bleiben; aber dem Sklavenhandel über See kann man
an der Ostseite des schwarzen Erdtheils ebensowohl ein Ende
machen wie es aus der Westseite geschehen ist, und zwar dort
viel leichter als hier. Man braucht nur dem Sultan von
Sansibar seine Häsen zu sperren und einige Schisse im nördli-
chen Indischen Ocean, namentlich vor dem Eingange zum Per-
fischen Meerbusen kreuzen zu lassen. Aber bis heute dürfen die
Engländer, laut dem mit jenem Sultan geschlossenen Vertrage,
an der ostasrikanischen Küste auf der Strecke vom Aequator bis
10 Grad südlicher Breite kein Sklavenschiff wegnehmen.
Wir haben vor einigen Monaten („Globus" XXII, S. 120 f.)
den Gegenstand eingehend erörtert und wollen heute nur daran
erinnern, daß laut den Zollhausregistern in den Jahren 1362
bis 1867 allein aus dem Hafen von Kilwa nach Sansibar und
anderen Plätzen nicht weniger als 97,203 Sklaven verschifft
worden find. Der Sultan erhebt in Kilwa von jedem Skia-
ven, welcher dort nach Sansibar eingeschifft wird, 2 Maria-
Aus allei
theresiathaler; für jeden, der nach einem seiner weiter nördlich
gelegenen Höfen, z. B. Lamu, direct geschafft wird, 4 Thaler.
Im Jahre 1866 brachte diese Abgabe ihm 52,638 Kronenthaler
ein. Wir haben an der oben bezeichneten Stelle hervorgehoben,
daß Großbritannien einen neuen Vertrag mit dem mohamme-
danischen Herrscher schließen wolle, und die Grundzüge des be-
treffenden Entwurfes mitgetheilt (©. 121).
Jetzt will man Ernst machen; wir lesen, daß Sir Bartle
Frere nach Sansibar abgegangen ist, um dort die Sache ins
Reine zu bringen. Die Wahl ist gut; Frere kennt Indien, wo
er Gouverneur von Bombay war, und die ostafrikanischen Ver-
Hältnisse. Nun liegen die Dinge so, daß der Sultan ohne jene
Abgabe, welche er von jedem Sklaven erhebt, seine Regierungs-
kosten nicht bestreiten kann. Er bedarf auch der Sklaven für
die Plantagen, z. B. der Gewürznelken k., weil freie Arbeit
nicht zu haben ist. Politische Gründe sprechen dasür, daß man
gütlich mit ihm verfahre und ihn zum Freunde behalte. Des-
halb kann es auf ein geringes Geldopfer, welches zum Ziele
führt, nicht ankommen. Früher gehörte Sansibar dem Jmam
von Maskat an der ostarabischen Küste; nach dem Tode
Seyd's wurde das Reich getheilt und dadurch Sansibar selb-
ständig. England vermittelte zwischen beiden Theilen, und es
wurde vertragsmäßig festgestellt, daß Sansibar an Maskat jähr-
lich 49,000 Kronenthaler zu zahlen habe. Der Sultan suchte
sich, wenn irgend ein Vorwand da war, dieser Verpflichtung zu
entziehen, oftmals hat er aber doch seine Verpflichtung erfüllen
müssen. Es scheint nun, als ob man im Londoner Ministerium
Folgendes in Aussicht genommen habe: England will die Zah-
lung der 40,000 Mariatheresiathaler an Maskat, das auf die-
selben ein unbestreitbares Recht hat, übernehmen, falls der
Sultan von Sansibar auf die Sklavengebühren verzichtet und
sich außerdem herbeiläßt, die Schritte, welche man thun wird,
um die Sklavenverschiffung überhaupt lahm zu legen, redlich zu
unterstützen. Jene 40,000 Thaler sollen je zur Hälfte von der
englischen und von der indischen Regierung gezahlt werden.
Es bleibt nun abzuwarten, welchen Verlauf die Dinge neh-
men. Die Summe ist gering im Vergleich zu jener, welche
das „Sarggeschwader", nämlich die Kreuzerflotte an der afrika-
nischen Westküste, eine lange Reihe von Jahren hindurch ge-
kostet hat.
Schildkrötenfleisch für das Volk.
Bei den hohen Fleischpreisen, die sich immer noch steigern,
sucht man begreiflicherweise nach Ersatzmitteln. Australien und
Argentinien liefern bereits präservirtes Rindfleisch in Massen.
Nordamerika versendet Millionen Pfund Schweinefleisch und Fett,
aber die Theuerung bleibt trotz alledem. Nun hat jüngst ein
Engländer in den „Daily News" als Ersatz gekochte Schildkröten
vorgeschlagen. „Diese Thiere," sagt er, „sind am Amazonen-
ströme viel häufiger als Rinds- und Hammelfleisch in Australien ;
sie sind das allerwohlseilste Nahrungsmittel; ihr Fleisch bildet
eine gesunde, kräftige Speife und ist sehr wohlschmeckend und
leicht verdaulich. Jetzt ist Schildkrötensuppe in Europa ein theu-
rer Leckerbissen; derselbe kann aber auch dem armen Manne
zugänglich gemacht werden, wenn man zweckmäßige Maßregeln
für den Transport treffen will. Zu gewissen Zeiten im Jahre
schwimmen auf dem Amazonas und dessen Nebenströmen Millio-
nen dieser merkwürdigen Thiere und legen ihre Eier in den
Sand. Dann sind die Eingeborenen da, sammeln die Eier,
werfen dieselben in Fässer und machen sie in denselben klein,
gießen Wasser hinein, lassen die Sonne einwirken und dann
steigt das Oel auf die Oberfläche. Man nimmt dasselbe ab,
reinigt es und es ist dann ein Ersatz für unsere Butter. Man
nimmt an, daß solchergestalt jährlich etwa 250,000,000 Schild-
kröteneier zerstört werden. Die brasilianische Regierung sucht
indessen dieser Verwüstung Einhalt zu thun und hat zu diesem
Zwecke vor einigen Jahren geeignete Verordnungen erlassen.
Aus den tropischen Gewässern Amerikas kommen bekanntlich
viele Schildkröten lebendig nach Europa; die westindischen Dam-
Erdtheilen. 351
pser bringen regelmäßig eine Anzahl derselben mit. Unser Vor-
schlag geht dahin, die Schildkröten gleich in Amerika gekocht in
Blechgesäße zu verpacken. Wenn Rind- und Schöpsenfleisch aus
Australien, vom andern Ende der Welt her, zu uns gebracht
werden kann, fo läßt sich das mit der Schildkröte viel leichter
thun. Die grüne ist die größte und liefert das beste Fleisch;
ihre Schale ist werthlos, wird aber bis zu 7 Fuß lang und
wiegt manchmal bis zu 700 Pfund. Sie kommt in ganz un-
geheurer Menge vor. Das Verfahren beim Zubereiten und für
die Verschiffung könnte ein ähnliches sein wie beim australischen
Rindfleische. Die Dampferfahrt von Para an der Mündung
des Amazonas bis zur Themse beträgt nur 21 bis 23 Tage."
Wir wollen hier daraufhinweisen, daß wir im August 1871
(„Globus" XX, S. 65 bis 73) eine, wir dürfen wohl sagen
classische Schilderung aus der Feder von Gustav Wallis ge-
bracht haben: „DieSchildkröte, insbesondere derenEier
als Nahrungsmittel betrachtet." Wallis spricht als Au-
genzeuge. Wir gaben dort S. 66 Abbildungen der Flußschild-
kröte und, nach seinen an Ort und Stelle entworfenen Skizzen,
eine Illustration des „Schildkrötenfanges vm Amazonenstrome".
Von den zwei Dutzend Testudinaceen des großen Stromgebietes
ist die Emys amazonica, Martins, die größte, bis zu 3 Fuß
lang; sie kommt in ganz außerordentlicher Menge vor und gilt
sowohl wegen ihres Fleisches als wegen ihrer Eier als ein güti-
ges, hohes Geschenk der Natur. Sie wird von den Eingebore-
nen vorzugsweise als Tartaruga bezeichnet. Sie kommt noch
heute in „unglaublicher, fabelhafter Zahl" vor, obwohl man
förmliche Vernichtungskämpfe gegen sie geführt hat, denn in
manchen Jahren sind früher 40,000 bis 50,000 große Krüge
von Mantliga (des ausgezogenen Fettes, das man uneigent-
lich als Butter bezeichnet) ausgeführt worden und zu jedem
Topfe bedarf man 4000 Eier. Dazu kommt noch der Local-
bedarf in einem so ausgedehnten Gebiete. Nur das Fleisch der
Weibchen, deren etwa 100 auf ein Männchen kommen, wird
gegessen; das der letzteren gilt sür ungesund.
Wir müffen auf die fehr eingehenden Schilderungen von Gustav
Wallis verweisen. Der Gegenstand ist so wichtig, daß alle Rei-
senden, welche längere Zeit am Amazonenstrom verweilten, dem-
selben große Aufmerksamkeit zugewandt haben, so z.B. Bates,
Wallace und Herndon. Das Wesentliche ihrer Darstellung
ist mitgetheilt worden in Karl Andree, Geographie des Welt-
Handels, Band II, S. 539 f.
Aus Nordamerika.
Der Staat Connecticut ist sür den Tabacksbau schon
von großer Bedeutung geworden. Allein die Umgegend der
Stadt Hartford lieferte 1371 für 4 Millionen und 1872 für
etwa 5 Millionen Dollars; das Blatt ist gut und geht zumeist
in die Hände deutscher Firmen in Neuyork über. Man findet
den Anbau des Tabacks vortheilhast, weil die Ernte sofort baar
bezahlt wird und in Connecticut gute Waare an Ort und Stelle
35 bis 40, feinere 50 Cents bis zu einem Dollar erzielt. Das
Blatt, welches im Thale des Connecticutflusses gewonnen wird,
liefert die beste Sorte Seedleas, welche als Deckblatt für
Cigarren so hoch geschätzt wird. Ein einziger Farmer hat in
diesem Jahre gegen 30,000 Dollars sür seine Ernte eingenom-
men; das Pfund wurde ihm von 75 bis zu 100 Cents bezahlt.
Er baut den Taback auf fandigem Kiesboden, dem er sehr viel
Pserdedünger giebt. In dieser Art der Düngung, sagt er, liege
das Geheimniß, feine, seidenweiche Blätter zu erzielen. Der
Pferdedünger wird nun sehr theuer bezahlt, und East Hartford
allein hat davon im Jahre 1872 allein aus Neuyork für 52,000
Dollars bezogen.
— Aus Canada ist in den Handelsjahren 1871/1872 für
22,352,211 Dollars Holz ausgeführt worden; aber in man-
chen Landestheilen sind, wie auch im Staate Maine, weite
Strecken vollständig verwüstet worden, und in Michigan ist ein
Gleiches der Fall.
— Der Staat Missouri ist bekanntlich ungemein reich
352
Aus allen Erdtheilen.
an Eisenerz. Vor Kurzem hat der Staatsgeolog die drei
Eisenberge näher untersucht. Der Sheppard Mountain
ist 660 Fuß hoch und das Erz enthält starke Procente Eisen;
der Pilot Knob hat 1118 Fuß Höhe und die Fläche eines
Querdurchschnittes, 518 Fuß unterhalb des Gipfels, beträgt 360
Acres; der Jron Mountain hat 223 Fuß Höhe und an der
Basis einen Flächenraum von 500 Acres. Diese drei Berge
enthalten oberhalb der Erdfläche Erz genug, um für einen Zeit-
räum von 200 Jahren alljährlich eine Million Tonnen liefern
zu können.
— Der Handel von Milwaukee in Wisconsin steigert
sich mit jedem Jahre sehr beträchtlich. Sieben Manusactnr-
waarengeschäfte hatten 1371 einen um 390,000 Dollars stärkern
Umsatz als im Vorjahre; neun Groceryhäuser einen solchen von
808,662 mehr, fünf Hardwaresgeschäfte von 726,000 mehr, vier
Droguisten von 146,000, vier Schuhmanufacturen von 334,000,
so daß 27 Häuser ihren Umsatz in einem Jahre um 2,904,000
Dollars gesteigert haben.
— Im Territorium Utah werden fast in jeder Woche
Silbergruben aufgefunden, so jüngst 25 Miles von Tacoma,
an der Centralpacisicbahn. Aus Salt Lake City sind Hunderte
von Leuten dorthin geströmt und arbeiten rüstig. Die Angabe,
daß die Ausgiebigkeit von 94 bis zu 3000 Unzen auf die Tonne
betrage, wird wohl zu hoch gegriffen sein.
— In Kentucky, dessen große Mammuthhöhle so oft
beschrieben worden ist, hat man noch eine solche Höhle entdeckt.
— Im Territorium Dakota sind die rechtschaffenen
Leute der Ansicht, daß Humanität gegen hartgesottene Verbre-
cher gar nicht am Platze sei. Sie fragen nichts nach Vergel-
tungstheorie oder Abschreckungstheorie und dergleichen spitzfin-
digem Kram, fondern machen kurzen Prozeß mit allen Räubern
und Mördern; Richter Lynch thut seine Schuldigkeit. Er sagt:
Thue nichts Böses, so wiederfährt Dir nichts Böfes. In Da-
kota, einem Prairielande, ist oft weit und breit kein Baum zu
finden, an welchem man die Bösewichter aufhängen könnte; aber
man weiß sich zu helfen und benutzt zur Exemtion die Tele-
graphenstangen.
Jf: * :f:
— Seit länger als drei Jahren sind die Spanier bemüht,
den Aufstand in Euba niederzuschlagen. In jedem Monate
verkündigen sie, daß es mit der Rebellion zu Ende fei, aber
allemal erweisen sich diese Angaben als unwahr. Wahr aber
ist leider, daß auf Euba Barbareien und zwar unablässig und
systematisch verübt werden, deren Niederträchtigkeit alles Maß
überschreitet. Auf beiden Seiten tritt eine empörende Blutgier
zu Tage, die aller Civilisation Hohn spricht. Hier nur ein
Beispiel aus der jüngsten Zeit. In der letzten Augustwoche ent-
deckten die fpanischen Truppen in den Tacajobergen ein Spital
der Insurgenten; in demselben fanden sie den Director, zwei
Neger, einige Kranke und zwei Aerzte; der eine war ein
Deutscher, der andere ein Nordamerikaner. Aller Menschlichkeit
und dem Völkerrechte zum Trotz wurden dieselben ohne Weiteres
todtgeschossen, „pasado por las armes", wie die Havanazei-
tungen trocken sich ausdrücken. — Auf Euba hat man noch die
Negersklaverei und auf vielen Pflanzungen ist den fchwar-
zen Leuten sicherlich kein mildes Loos beschieden. Auf einer
Tabacksplantage der Wittwe Mendez in der Vuelta Abajo wur-
den die Sklaven von dem fpanifchen Aufseher hart behandelt;
sie wollten ihn nicht mehr haben, aber trotzdem blieb er. Da
verschworen sie sich und sielen auf ein gegebenes Zeichen über
ihn her; er wurde mit Machetes, diesen großen Hau- und Hack-
Messern, welche man in Westindien und Südamerika allgemein
hat, in tausend Stücke zerhackt. Dann zogen die Neger mit
den Haumessern, an welchen das Blut klebte', zur Behörde und
bekannten, was sie gethan hatten. — Die Chinesen, welche
als Kulis auf Euba in Menge importirt worden sind, werden
ärger als Sklaven gehalten. Am 20. September hat die amt-
liche „Gaceta" Befehle veröffentlicht, denen zufolge die Chinesen,
deren Arbeitscontract abgelaufen war oder ablaufen wird, wie-
der Verträge auf acht, mindestens sechs Jahre abschließen oder
die Insel verlassen müssen. Das letztere ist ein wahrer Hohn,
denn diefe ab- und ausgenutzten Asiaten haben nicht die Mittel
in ihr Vaterland zurückzukehren, und fo werden sie wieder zur
Sklavenarbeit gezwungen. Es liegt ein wahrer Fluch auf der
ganzen spanischen Wirtschaft, welchen Volk, Pfaffen und Despo-
tismus zumal herabbeschworen haben!
— In Britisch Honduras klagen die Ansiedler, daß sie
von Seiten des Mutterlandes vernachlässigt werden und ohne
Schutz bleiben. Diefe Besitzung, welche bekanntlich viel Färbe-
und Mahagonyholz liefert, grenzt an den mexicanischen Staat
'Aucatan, in welchem die Weißen so gut wie machtlos sind. Die
Äcaiche-Jndianer haben die Gewohnheit, über die Grenze zu
kommen und die Pflanzungen der Engländer auszuplündern.
Vor nun etwa dritthalb Jahren kam der Häuptling Kanul mit
seiner Bande bis in die Stadt Corosal; jetzt, im September
1872, hat er abermals einen Raubzug unternommen gegen die
Ortschaft Orange Walk. Er ging dabei ganz strategisch zu
Werke, indem er in aller Stille heranrückte und zunächst den
Ortsvorsteher gefangen nahm; dieser wurde jedoch durch die
Kühnheit eines Deutschen. Herrn Oswald, gerettet. Von halb
9 Uhr Morgens bis nach 4 Uhr Nachmittags belagerte er mit
mehr als 300 Indianern die aus leichtem Palmholz aufgebaute
Caserne, in welcher sich ein Lieutenant mit 37 Mann verthei-
digte. Die Indianer hatten Schwefelkugeln und steckten mehrere
Gebäude in Brand und plünderten während sie die Belagerung
fortsetzten. Endlich zogen sie sich zurück, als Kanul in den Staub
biß und ließen 39 Todte auf dem Platze; auch der Verlust der
Truppen war verhältnißmäßig stark an Verwundeten. Ein
pensionirter Hauptmann eines westindischen Regiments schreibt,
daß 14 Tage vor dem Ueberfalle die Truppen in Orange Walk
ohne Patronen gewesen seien, die man aus Belize nur auf
dringende Bitten und Vorstellungen verabfolgen ließ; leichte
Feldgeschütze, um welche man gleichfalls gebeten hatte, wurden
nicht geschickt, wohl aber kam ein neuer Lieutenant, dem man
aber gar keine Verhaltungsbefehle gegeben hatte. „Es geht lei-
der bergab mit Altengland!"
— In den letztverflossenen Monaten ist das Innere der
Erdrinde wieder sehr unruhig gewesen und es wurden Erschüt-
terungen aus weit von einander entfernten Gegenden gemeldet.
Im August hat der Mauna Loa auf Hawaii aus seinem
Gipselkrater wieder Feuer gespieen, und wochenlang konnte
man eine Feuersäule beobachten, die etwa 200 Fuß hoch un-
unterbrochen emporstieg. Auch diesmal hat man, wie während
der Eruptionen vor vier Jahren, bei den Inseln Oahu und
Kauai eine gewaltige Fluthwelle gehabt; sie stellte sich am 23.
August ein.
— Es ist ermittelt worden, daß die Bewohner der Stadt
Neuyork etwa 8,000,000 Dollars für Milch verausgaben und
3,000,000 für den Zusatz an Wasser, welches die biederen
Landwirthe und Kleinverkäufer dem reinen Producte zufetzen.
Wasser bringt viel ein und kostet nichts.
Inhalt: Ans der Republik Neugranada. I. Mit fünf Abbildungen.) — Von Californien nach Japan. Von Gustav
Wallis. I. — Richard Burton's und Eh. Tyrwhitt-Drake's Reisen in Syrien. — Allerlei Aberglauben in China. —
Aus allen Erdtheilen: Schritte gegen den ostasrikanischen Sklavenhandel.— Schildkrötenfleisch für das Volk.— Aus Nordamerika.—
Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
Hierzu eine Beilage: Literarischer Anzeiger. Nr. 4.
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Band XXII.
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Jß 23.
lit besonderer Herücksicktigung der Anthropologie und Gtknologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1872.
Aus der Republik Neugranada.
ii.
Der Markt in Medellin. — Mais- und Maniokbrot. — Maniokgift. — Faserpflanzen und Gewebe. — Wohnhäuser und deren
Einrichtung. — Stierhetzen und Theater. — Gesellschaftliche Verhältnisse. — Lustbarkeiten in der Neujahrszeit. — Serenaden. —
Die Jahreszeiten und die klimatischen Verhältnisse im Staate Antioquia. — Bevölkerung; Mischlinge. — Landwirthschaft. —
Zucker als Nahrungsmittel. — Pflanzenwuchs und Thierleben in der heißen Zone.
Der Markt wird in Medellin auf der großen Plaza
abgehalten und der Marktmeister weist jedem einzelnen Ver-
käufer die Stelle au, wo er feilhalten darf. Nichts wird
aus Fuhrwerken herangebracht, sondern zumeist von Frauen,
die schwer genug beladen sind, und auf dem Rücken von
Maulthiereu, Ochsen und auch Pferden. Es ist für einen
Europäer immerhin interessant, sich solch einen Fruchtmarkt
anzusehen.
Hauptnahrungsmittel ist der Mais; man bereitet aus
ihm Arepas, dicke, recht wohlschmeckende und gesuude Ku-
chen, welche unser Weizenbrot ersetzen. Dieser bildet einen
Luxusartikel, wird nur zur Chocolate genossen, kommt aus
Rio Negro und ist theucr. Neben den Arepas liegt ein Ge-
bäck in Gestalt unserer halbmondförmigen sogeuauuteu Hörn-
chen; es ist weiß wie Schnee, sehr leicht und kann sich mit
dem besten europäischen Backwerke messen. Dieses Brot wird
aus Maniokmehl bereitet. Es giebt zwei Arten dieser
Aucca- oder Maniokpslanze; die Wurzel der einen ist süß,
jene der andern giftig, aber diese letztere wird vorzugsweise
angebaut, auch bei den Negern in Afrika. Wie mögen diese
entdeckt haben, daß eine so giftige Pflanze ein so gesundes Mehl
enthält? In Westindien, auf den meisten Antillen, bezeich-
net mau dasselbe als Kassave. Die Wurzel wird klein
Globus XXII. Nr. 23. (Decembcr 1872.)
geschabt, man wäscht die weiche Masse mit Wasser aus, thut
dieselbe in grobe Säcke und setzt sie einem starken Druck
aus. So werden die giftigen Bestandtheile entfernt, und
man macht dann dünne Kuchen, welche auf einer heißen
Eisenplatte gebacken werden. Sie bleiben von Würmern ver-
schont.und halten sich, wenn Mansie vor Feuchtigkeit bewahrt,
Jahre lang gut. Schon die Karaiben auf den Antillen hat-
ten besondere Werkzeuge zur Gewinnung und Zubereitung
des Kassave. Ihre Raspel bestand in einem langen Holz-
stücke mit elastischen Fasern, zwischen welchen sie scharfe
Steine befestigt hatten. Sie benutzten zum Ausscheiden des
Wassers und des Saftes eine sogenannte Schlange, nämlich
einen etwa sechs Fuß laugen Sack, der in der Mitte weiter
war, als an den spitz zulaufende« Enden; sie verfertigten
denselben aus den Rippenstielen der Palmblätter und hingen
ihn an einem Baumaste auf; am untern Theile hing ein
schwerer Stein; der Kuchen wurde auf einer Steinplatte
gebacken.
Der giftige Saft der Aucca hat keinen scharfen Ge-
schmack; bei längerm Sieden verliert er das sehr flüchtige
wirksame Princip. Bei der Destillation gewinnt man aus
etwa 20 Pfund desselben nahezu eine Unze flüchtiger Flüssig-
keit, die einen ganz unausstehlichen Geruch hat. Mau er-
II
1
1
354 Aus der Repr
probte ihre Giftstärke an einem zum Tode verurteilten Ne-
ger; er mußte 3V Tropfen einnehmen, bekam sofort Znckun-
gen und war nach sechs Minuten todt. Der alte Pater
Garcia, welcher ein Werk über die Botanik der Antillen
und der Tierra firme geschrieben, bemerkt mit Recht, daß
die dem Festlande angehörende Art der Pucca unschädlich
sei; nur aus St. Domingo kam die giftige vor. Schon im
vorigen Jahrhundert empfahl de Pauw als Gegenmittel koh-
leusaure Pottasche mit Krausemünzwasser, sodann auch Zucker
oder Salz in starken Dosen. Pison erklärt in seiner Ab-
Handlung über die Krankheiten des spanischen Amerika Ana-
nas- oder Citronensaft für ein unfehlbares Gegenmittel.
Ausgemacht ist wenigstens so viel, daß vegetabilische Säuren
die giftigen Wirkungen des Vuccasastes bis zu einem gewis-
Vegetabilisches Wachs wird in Gestalt von Kuchen oder Ker-
zen verkauft; man gewinnt dasselbe durch Auskochen der Kör-
ner von der Myrica arguta cerifera (— spanisch: Laurel
de cera —), einem Strauche, der graugrüne Blätter hat
und an den Oelbaum erinnert. Durch Zusatz von etwas
Fett verliert dieses Wachs seine Zerbrechlichkeit, und die aus
ihm gegossenen Kerzen sind besser als die gewöhnlichen, ge-
ben jedoch viel Qualm.
Aus den Fasern der Pita und der Cabuya werden
vielerlei Gegenstände bereitet. Da liegen ganze Packen glän-
zender Fäden von gelblichweißer Farbe von etwa 3 Fuß
Länge; sie sind weich und elastisch. Daneben sieht man
Knäuel von Bindfaden und von Stricken verschiedener Dicke,
und Netze mit engen oder weiten Maschen, in welchen ver-
ik Neugranada.
sen Grade neutralisiren. Man bezahlt den Centner Pucca-
wurzeln, aus welchen auch Stärke bereitet wird, mit etwa
2^/z Thaler deutschen Geldes.
Aus einem Gerüste liegen hohe Haufen von Hüten; der
Mann, welcher sie verkauft, trägt, gleichsam als Aushänge-
schild, eine hohe Pyramide auf dem Kopfe. Die meisten
dieser Hüte kommen aus Panama, wohin sie aus verschie-
denen Theilen des innern Landes gebracht werden. Die
besten Sorten sind bekanntlich sehr thener, die geringsten
hingegen sehr wohlfeil; diese werden aus elastischen Rippen-
stielen der Palmblätter verfertigt. Rohzucker wird in plat-
ten Scheiben verkauft, deren jede etwa ein Pfund schwer ist;
der rassinirte Zucker ist schmutzig weiß, hat grobe, schlecht
zusammenhängende Krystalle und läßt viel zu wünschen übrig.
zu Medellin.
schiedene Waaren transportirt werden. Auch Säcke aus
Netzwerk sieht man, und in Rollen die plattgeslochtenen Stücke,
aus welchen man die Alpargatas oder Espadrillas bereitet.
Diese bilden, weil keine Nässe hindurch dringt, eine ganz
vortreffliche Fußbekleidung. Alle diese Fasern werden aus
verschiedenen Arten der Fonrcroya und aus Bromeliaceen
verfertigt, die man anbauet; sie bilden die Umzäunung der
Gärten und Felder. Die fleischigen Blätter, welche wie eine
Gießrinne eingebogen und am Rande mit Stacheln versehen
sind, laufen spitz zu und werden bis zu 5 und 6 Fuß laug.
Sie werden geröstet, getrocknet und durch Schlagen löst man
die Fasern ab, die dann gereinigt und vermittelst eines eiser-
nen Kammes geglättet werden. Am meisten verwendet man
in Neugranada die Fasern der Agave americana (— die
-r.-rfti.--T.......ttifr w - r,,'" r"V-T". ' fa,' ?t ~r ü
Aus der Repub
Maguey der Mexicauer; auch Cabuya genannt —), Agave
foetida und Agave vivipara; der kandelaberartige Stamm
der letztern enthalt ein stärkeartiges Mark. Wir wollen
hier bemerken, daß in Neugranada nicht weniger als vier-
zehn Arten von Kartoffeln (Solanum) einheimisch sind.
Die öffentlichen Gebäude haben keinen Anspruch auf
Beachtung; die Kathedrale ist architektonisch ein abscheuliches
Machwerk; die Privathäuser sind zumeist aus gestampfter
Erde aufgeführt und fast alle mit Ziegeln gedeckt. Zum Holz-
werke nimmt man nur das von wohlriechenden und harzigen
Bäumen, weil dasselbe von den Termiten verschont bleibt.
Merkwürdig ist, daß die Gemächer im Innern keine Thüren
haben; man hat statt derselben Vorhänge. An der Plaza
und auch in einigen Straßen befinden sich im Erdgeschosse
Lüden und über denselben ist eine Halbetage mit einer Gal-
lerie angebracht, auf welche Thüren und Fenster hinaus-
gehen; Glasscheiben kommen erst nach und nach und oben-
drein spärlich in Gebrauch; sie sind in einem so milden und
gleichmäßigen Klima ein überflüssiger Luxus.
Im Allgemeinen ist das Leben sehr einförmig, man kann
fagen höchst langweilig. Zu Ehren irgend einer Begeben-
heit, welche den Leuten wichtig erscheint, veranstalten die Be-
Hörden ein Fest, das gewöhnlich drei Tage dauert. Dann
hört das Glockengebimmel vom Morgen bis zum Abend nicht
auf. Früh gehen die Frauen zur Messe, die Männer küm-
mern sich um dieselbe nicht. Sie geben Morgens ihren
Pferden eine doppelte Ration Mais und dazu ein Pfund
Rohzucker, denn den Tag über wird den Thieren viel zu-
gemuthet; sie müssen immer auf den Beinen sein und wer-
den von der Stierhetze in Anspruch genommen. Stier-
gesechte in der barbarischen Art, wie sie in Spanien abge-
halten werden, sind nicht erlaubt. Es handelt sich bei der
„Traida de toros" darum, die Stiere, welche man einige
Tage vorher auf den Wiesen frei hat laufen lassen, mit dem
Lasso einzusaugen. Das ist nicht ohne Gefahr und der
Reiter muß fest iu seinem Sattel bleiben, wenn er dem Stier
die Fangschnur um die Hörn er wirft und ihn zur Stadt
hineinbringt. Es kommt für ihn darauf an, sehr flink und
gewandt und dabei durchaus kaltblütig zu fein, und auf sein
Pferd muß er sich vollkommen verlassen können. Wenn es
gelingt, dem Stiere die Fangschnur an beiden Hörnern zu
befestigen, dann hört sein Widerstand auf; er weiß, daß er
nun in der Gewalt zweier Reiter ist, doch macht er unter-
wegs von Zeit zu Zeit noch einige Angriffe auf dieselben,
sie werden jedoch allemal durch geschicktes Ausweichen parirt.
In der Arena läßt man ihn los und nun stieben die in der-
selben versammelten Menschen, gleichviel ob sie zu Fuße oder
zu Pferde sind, wild aus einander. Man wirft Schwärmer
nach ihm, aber er bleibt ruhig stehen und blickt die Menge
stumpfsinnig an; die Hetze aus der Wiese hat ihn ermüdet.
Es tritt ein Mann vor, der einen rothen Mantel ihm vor-
hält und gegen diesen rennt er ein. Derselbe bleibt auf sei-
nen Hörnern hängen; der Mann selber ist bei Seite ge-
spruugen. Es kommt aber auch vor, daß der Stier einen
Neuling auf die Hörner nimmt und ihn in die Luft schleudert.
Medellin hat ein — Theater! Das Parterre ist ohne
Sitze und ohne Bedachung; man geht darin spazieren und
raucht Cigarren. Alle Rollen werden von Männern ge-
spielt; kein weibliches Wesen dürfte sich auf die Bretter
wagen; denn abgesehen von der Übeln Nachrede aller Frauen,
würde der Pfarrer niit einer Excommunication nicht lange
auf sich warten lassen. Die Schauspieler machen sich den
Text zu ihren Rollen selber und spielen allemal mit so viel
Ausdruck und Leidenschaft, daß die Zuhörer sich förmlich
elektrisirt fühlen und in hohem Grade angeregt bleiben, wenn
solch eine Vorstellung auch vier Stunden lang dauert. Wenn
ik Nengrcmada. 355
ein Ball veranstaltet werden soll, hat zunächst der Herr-
Pfarrer ein Wort zu reden. Jedes junge Mädchen bittet ihn
um Erlanbniß, und insgemein läßt er sich erweichen. Es kommt
aber auch vor, daß er dieselbe verweigert. Was soll nun
die Arme anfangen? Die anderen Mädchen werden tanzen,
ihr soll das verwehrt sein? Das kann sie nicht ertragen,
sie geht doch zum Ball, obwohl sie weiß, daß sie hinterher
Buße thuu und eine große Menge von Ave Marias und
dergleichen früh, Mittags und Abends hersagen muß. Das
thut sie auch, aber sie hat doch getanzt. Es geht übrigens
bei solchen Lustbarkeiten stets sittsam und anständig zu; höch-
stens trinkt der eine oder andere Herr ein Gläschen mehr
als gewöhnlich.
Am Sonntage ist es den jungen Männern gestattet,
Besuche in Familien zu machen; sie dürfen dann den Za-
guau überschreiten, in welchem an Wochentagen der Haus-
Herr in Geschäftsaugelegenheiten zu sprechen ist, und können
das Empfangzimmer betreten. Dort sitzen die Damen aus
einer mit Teppichen belegten langen Bank oder einem So-
pha. Die Unterhaltung ist von der allergewöhnlichsten Art,
denn geistige Interessen hat man nicht. Nur einige wenige
Häuser haben eine europäische Ausstattung, und das söge-
nannte Courmachen findet auch in ganz anderer Weife statt,
als bei uns in der alten Welt. Der Esquiuero, zu deutsch
Eckensteher, treibt sich stundenlang an den Straßenecken um-
her und raucht dort seine Cigarre; er steht gleichsam Schild-
wache und beobachtet, was etwa an den vergitterten Fenstern
vorgeht; er hofft darauf, daß ein Mädchen sich zeige, eine
Pepita, die er für ein Juwel, ein Goldkorn erklärt, und
dann beginnt ein Augenspiel. Sie erkennt ihn von Weitem
an seinem Schritt und an der Art, wie er hustet, und sie
läßt sich gern und oftmals, wenn auch nur mehr oder weni-
ger flüchtig sehen. Nach Verlauf einiger Zeit bewirbt sich
dann der Esquinero um die Hand einer solchen Pepita. Dr.
Saffray lobt die Frauen Medellins als brav, tüchtig, als
gute Hausfrauen und sorgsame Mütter.
Um Neujahr, während der zwölf Nächte, vom 25. De-
cember bis 6. Januar, geht es aber ausnahmsweise lustig
her. Dann werden häufige Besuche gemacht, der Fremde
kann die Häuser betreten, in welchen er Bekanntschaften an-
zuknüpfen wünscht, und wird sicherlich wohl aufgenommen.
Junge Leute machen einander Geschenke, und es geht dabei
her, wie mit unseren Vielliebchen. Wer den andern über-
rascht und zuerst sieht, ruft laut: „Meine Agninaldos!"
und bekommt ein Geschenk. Doch diese schöne Zeit geht
bald vorüber, und die jungen Männer müssen sich nachher
die Zeit damit vertreiben, daß sie Serenaden bringen. In
duftigen, sternenhellen Nächten, in welchen die tropische Luft
so lau uud mild ist, gehen sie vor das Haus einer Muchacha,
der sie Aufmerksamkeit erweisen wollen, und bringen ein
Ständchen. Vielleicht hat sie ein solches erwartet, vielleicht
auch nicht, gewiß ist, daß sie recht bald auf den Söller hin-
austritt, dem Gesänge und dem Spiel der Guitarre horcht
und als Zeichen des Dankes eine Blume herabwirft.
Im Staate Antioqnia hat man nur zwei Jahreszei-
ten: eine trockene und eine nafse; in diese theilt sich das
Jahr. Die erste beginnt im December, die zweite im Juni;
doch regnet es in jenen sechs trockenen Monaten genug, um
oberhalb einer Meereshöhe von etwa 3000 Fuß die Vege-
tation frisch zu erhalten, und in dieser sind mehrere trockene,
völlig klare Tage hinter einander nicht selten. Die Tempe-
ratnr wechselt in beiden Jahreszeiten nur um wenige Grade.
Man kann sich je nach der Höhe eine Ebene, ein Thal oder
einen Berg auswählen, um in einem beliebigen Klima zu
sein, und in manchen Gegenden hat man sehr verschiedene
Klimate ganz in der Nähe und kann mit denselben im Ver-
45*
* " --r, rrr.T-rrr-. ^ -T". -y [,.. rt: V .
Aus der Repu
laufe nur weniger Stunden wechseln, wie man will. Im
heißen Striche, der bis etwa 2000 Fuß über die Meeres-
fläche empor reicht, findet man Cocospalmen, Scitamineen,
Musas und baumartige Farne. Die gemäßigte Zone reicht
dann bis zu etwa 6500 Fuß; in ihr wachsen andere Pal-
men, Cinchonas und die verschiedenen Befarien. (— Sie
werden vom Volke als Anguchas bezeichnet; es sind Be-
faria coarctata, grandiflora, aestuans und resinosa; die
letztere nennt manAngncha del paramo, weil sie auf den
if Neugranada. 357
kalten Hochflächen vorkommt. Mosquera S. 99. —)
Die kalte Zone, welche über der vorigen liegt, hat natürlich
gar nichts mehr vom tropischen Charakter; dort treten Wäl-
der von Eichen auf, deren Zweige mit parasitischen Pflan-
zen oftmals geradezu überladen sind; sodann findet man
baumartige Passifloren, sehr schöne Liliaceeu, Fuchsien und
sehr zierliche Arums. Oberhalb der kalten Zone, also höher
als 10,000 Fuß, liegen die Paramos, kalten Hochflächen.
Auf ihnen findet man keinen Baum mehr; bis in eine Höhe
Eine alte Rege:
von 4500 Meter kommen verkrüppelte Sträucher und alpine
Pflanzen fort, weiter aufwärts nur noch spärliche Gräser
und Flechten bis zur Schneegrenze, die hier unter 5° N.
zwischen 4700 und 4900 Meter wechselt.
Für die Provinz Antioqnia im engern Sinne nimmt
Sassray etwa 123,000 Einwohner an (— Mosquera für
1851 nur 75,053 —). Davon waren Abkömmlinge von
Spaniern mit mehr oder weniger gemischtem Blute höchstens
30,000; ansässige Indianer, Mulatten uud andere Kreu-
zuugen 65,000, Neger 13,000, wilde Indianer 5000;
.in in Medellm.
reinblütige Indianer sind hier nicht mehr vorhan-
den. Zur Zeit der Eroberung dieses Landstriches durch
die spanischen Räuberbanden wurde die Zahl der letzteren
auf reichlich eine halbe Million veranschlagt. Aber wie darf
man sich wundern, daß sie verschwanden? Sagt doch der
Geschichtschreiber Oviedo, man habe sich mit ihrer Ausrot-
tung dermaßen beeilt, daß den Naturforschern keine Zeit ge-
blieben sei, diese Indianer genau zu studiren!
Den gegenwärtigen Bewohnern stellt Sassray ein recht
gutes Zeugniß aus, das man aber nur verhältuißmäßig aus-
358 Aus der Repi
fassen darf. Die Leute in Antioquia seien arbeitsam, in-
telligent und mäßig; jeder trachte danach, einen Fleck Grund
und Boden zu haben, und diesen Wunsch kann er um so
leichter erfüllen, da derselbe nur geringen oder gar keinen
Werth hat. Der Mensch in der gemäßigten Zone treibt
Ackerbau; er verfertigt sich ein Haus aus Baumstämmen
und deckt dasselbe mit Palmblättern. Die Einrichtung und
Ausstattung ist überaus einfach und dürftig; man sieht ein
paar Bambusbänke, einige mit Rohleder überzogene Stühle,
und statt der Thür dient ein Ochsenfell; eine Hütte neben
dem Hause, die nicht einmal einen Rauchfang hat, dient als
Küche, ein paar Steine bilden den Herd, und den Mais zer-
stampft man in einem großen hölzernen Mörser; die Töpfe
sind ohne Lasur, als anderes Geschirr dienen Kalebassen, die
ik Neugranada.
Lössel sind von Holz und als Wasserbehälter benutzt man
ausgehöhlte Bambus. Man sieht, daß bei diesen „arbeit-
samen und — intelligenten" Leuten keine Rede von frischem
Trieb oder von Aufschwung ist; auch sind ihre Geräthfchaf-
ten sehr einfach. Der Bauer hat eine Axt, ein großes Hau-
Messer (Machete), einen Calabozo, d. h. ein gebogenes, Hippen-
artiges Messer, und ein 3 bis 4 Zoll breites halbflaches
Eisen (Regaton) mit einem langen Stiele. Damit verrich-
tet er alle Haus- und Feldarbeiten. Er hat ungefähr zehn
Morgen Land, ein paar Kühe und Schweine, die im Freien
umherlaufen, und viele Hühner. Die Bananenpflanzung
erfordert keine Arbeit, der Mais auch weiter keine Mühe,
als daß ein paar Mal das Unkraut beseitigt wird. Mehr
oder weniger kleine Flecke sind bestellt mit Zuckerrohr, Mcca,
Brücke über den Oiun i
Masasa (Arum esculentum), Aracacha, süßen und gewöhn-
lichen Kartoffeln, Bohnen, Kohl und Zwiebeln. Man sieht,
in welchem Ueberfluffe bei geringer Arbeitsverwendung solch
ein kleiner Grundbesitzer leben kann; die meisten haben aber
nur Bananen, Mais und Zucker, die weiter keine Mühe
kosten, als daß man die Erde aufkratzt und hinterher die
Ernte einthut. Auch der größere Grundbesitzer, Haceudado.
darf nicht mit einem deutsche« Bauer oder amerikanischen
Farmer in eine Linie gestellt werden; er kümmert sich nicht
um Fortschritt und Verbesserung, ist aber im Uebrigen ein
braver Mann, ein guter Freund und Nachbar., sorgt auch
für seine Familie und ist ungemein gastfrei. Der Fremde
findet bei ihm die beste Aufnahme; sobald die Hunde an-
schlagen, tritt er vor die Thür und hält jenem den Steig-
im Thale von Medellin.
bügel, hilft beim Absatteln und führt den Gast ins Hans,
in welchem dieser sich bald heimisch fühlt.
Der Zucker wird so gut wie der Mais als ein Haupt-
Nahrungsmittel betrachtet, und man genießt ihn vorzugsweise
in der Gestalt von Panela, deren wir schon oben erwähn-
ten; es ist eine Cassonade. Ein Gruben- oder Feldarbeiter
bekommt täglich 275 bis 400 Grammen solchen Zuckers;
auf der Reise genießen viele Leute weiter nichts als Mais-
brot und Panela, und die Manlthiertreiber beHelsen sich gar
nicht selten den ganzen Tag über mit Zucker, den sie kauen;
hinterher trinken sie kaltes Wasser. Sassray sand, daß
Zuckerwasser oder Chocolate, wenn Abends in Menge ge-
nossen, das Gesicht erhitzen. Der Europäer, welcher nach
landesüblichem Brauche viel Zucker genießt, wird anfangs
Aus der Repu
von Gallenbeschwerden heimgesucht, er gewöhnt sich aber bald
an diese Speise, mag sie dann gar nicht mehr entbehren und
hat unterwegs gewiß immer einige Panelas bei sich. — Der
Zuckerbau ist in der Provinz Antioquia noch sehr primitiv
uud bei der Verfertigung geht es nach uralter Weise ein-
fach zu; Maschinen bei der Fabrikation sind ganz unbekannt.
Die Wälder der heißen Zone zeigen einen ungemein
üppigen Pflanzenwuchs, namentlich in den warmen wohl-
bewässerten Thälern, und wenn Arbeitskräfte vorhanden wä-
ren, könnten sie eine Menge werthvoller Erzeugnisse in den
k Neugranadci. 359
Handel liefern: Ebenholz, Mahagouy, Brasil- uud Cam-
pecheholz; man findet sehr häufig den unzerstörbaren Laurus
(Laurus cinnamomoides), welchen man als Canela de
Andaqui bezeichnet; den Laurel mulato; Laurus Sassa-
fras und Laurus persea; zehn Arteu des Jugabaumes,
von welchen M. fulgens eine Art Copal liefert, viele Arten
von Mimosen, Styrax; einen Baum, welcher einen Balsam
liefert, welcher dem sogenannten peruvianischen ähnelt. Da-
zu kommen mehrere Arten von Palmen, Bromeliaceen,
welche Fasern liefern, und Cacteen, welche undurchdringliche
Orchideen in der Provii
Dickichte bilden. An den Ufern der Wasserläufe uud in
feuchtem Boden wuchert der überaus nützliche Bambus, und
da wo er wächst, hat der Tapir seinen Lieblingsaufenthalt.
Um die mächtigen Baumstämme schlingen die duftigen Po-
thos mit fingerartigen Blättern anmuthige Gewinde, während
die Vanille ihre Reben zwifchen den Aesten hindurchfchläugelt.
(— Vanilla aromatica; sie wird von den Eingeborenen ge-
wöhnlich Bejuquillo genannt. Von Pothos kommen vor
Pothos myosuroides, microstachyus, violaceus; letztere
wird als Murapa und als falsche, unechte Vanille bezeich-
net. Mosquera, S. 103. —) Auf Schritt uud Tritt
Antioquia, Neugranada.
sieht man Orchideen, deren seltsam gestaltete Blütheu in
hohem Grade überraschen. Die eine ähnelt einem Schmet-
terlinge, die andere einer Taube, einer Fliege oder einer
Heuschrecke, einer Urne, einer Sandale, einem Rauchfaß :c.
Die Provinz Antioquia gewährt dem Botaniker eine nnge-
mein ergiebige Ausbeute an Pflanzen, und viele derselben
sind iu Europa noch gar nicht bekannt.
In den Waldeinöden trifft man auf eine reiche Thier-
welt. Da ist der Puma, dieser kleine mähnenlose Löwe,
der Jaguar, der Kuguar und die Tigerkatze; diese Raub-
thiere stellen den Hirschen, den Rehen und dem Fischotter
360 Gustav Wallis: Von
nach. Häusig sind Agutis, Pacas, Cabiais, Ameisenfresser;
das Ai', Faulthier, klammert sich an den Stamm eines
Baumes und klettert trag und überaus langsam in den
Aesten umher. Manchmal wimmelt es im Gezweige von
Affen, den Ateles mit Wickelschwänzen, den Heul- oder Brüll-
äffen, Araguates und Aluates, Chiropothen und dem Belze-
buth, der einen langen Bart hat. Dazu kommen dann noch
Sapajus, Makakas, Tizis und dann auch der Midas leo-
ninus, ein Aeffchen, das in seiner Miniaturgestalt einem
neugebornen Löwen ähnlich sieht.
Hoch in den Lüsten schweifen Geier, Adler und Falken;
Kolibris und Fliegenvögel nippen an den Blüthen; Nachts
kommen die Vampyre aus ihren Schlupfwinkeln, um Blut
zu saugen. An Flüssen und Teichen sieht man Reiher und
manche Arten prächtig gefiederter Enten; im Dickicht flattern
die Papageyen lärmend umher; oben in den Wipfeln ge-
fallen sich, immer paarweise, die blauen, rothen oder grünen
Aras und schreien in ihrer unmelodischen Art in einem
fort; der Pfeffervogel, den man sofort an seinem mächtigen
Schnabel erkennt, hat einen schweren Flug. An lichten
Stellen bemerkt man ganze Schwärme von Sperlingsvögeln:
fchwarze, braune, himmelblaue, purpurrote; sie zwitschern
unablässig, fangen Infekten oder suchen Körner auf. Der
Cardiual läßt seine pfeifenden und zischenden Töne verneh-
men; deshalb nennen die Eingeborenen ihn Tiritibi; der
sogenannte Wittwenvogel hängt sich an die starken Gras-
Halme der Savannen, der Kazike befestigt fein aus Wurzeln
geflochtenes Nest an die Spitze eines Palmblattes; der Tur-
pial ist ein munterer Sänger; der Cucarachero (Regulus)
ist in allen Wohnhäusern ein sehr willkommener Gast.
Am Ufer der Bäche und auf dem Sande findet man in
Califormen nach Japan.
großer Menge die herrlichsten Schmetterlinge, namentlich
den goldgelben Callidryas, den Hymeniten, der nackte Flügel
hat wie eine Libelle, den Erebus strin, diesen größten unter
den Nachtfaltern, den Morpho Menelaus mit grünem, blau
lafirtem Mantel. Unter den zahlreichen Wespenarten hän-
gen die Prolybier und die Polisten ihre Nester, deren waben-
förmiges Innere wie aus Seidenpapier verfertigt erscheint,
während das Aeußere aussieht, als wäre es mit Pappe über-
zogen, am Baumzweige. Auf dem Sande, an Baumstäm-
men, im Gebüsche, gewahrt man graue, blaue und grüne
Eidechsen, Salamander, häßliche Geckos; Schlangen kriechen,
jagen oder klettern im Sumpfe, an den Bäumen, zwischen
dem Gestein. Der Biß der Mapana ist auch für die größ-
ten Thiere tödtlich, und nicht minder gefährlich ist die Ko-
rallenfchlange; die Podridora heißt so, weil der von ihr ge-
bissene Körper schon nach wenigen Stunden in Fäuluiß
übergeht. Unter den vielen Arzneipflanzen hat man noch
kein sicheres Mittel gegen den Schlangenbiß entdeckt. Das
Land ist überreich an Gewächsen mit Heilkraft, namentlich
an Sassaparille, Jalappe und auch Jpecacnanha. Baum-
wolle und Indigo kommen wild vor; der Rocon (Orleans,
Arnotto) färbt roth, Miconia granulosa gelb, Baccharis
polyantha grün; aus der Hymenaea Courbaril schwitzt
eine Art Kopal aus und die Früchte von Sapindus sapo-
naria ersetzen unsere Seife.
Es giebt auf dem ganzen Erdball keine Region, welche
von der Natur mehr begünstigt wäre als diese. Zur Ent-
Wickelung der überreichen Hülfsquellen fehlen nur die rech-
ten Meufchen, denn von der Mischlingsbevölkerung ist kein
Fortschritt zu erwarten.
Von Californien nach Japan.
Von'Gustav Wallis.
II.
Nach 22 Reisetagen ward uns die Freude, die japa-
nische Küste auftauchen zu sehen. Wir schrieben nun aber
nicht den 23., sondern den 24. Wir sind nämlich in der
Zeitrechnung zu kurz gekommen und den 15. Februar haben
wir gar nicht erlebt, aus Grund des mit der nach Westen
gerichteten Erdumsegelung zusammenhängenden Zeitverlustes
um 24 Stunden. Die Einfahrt in den Hafen Aolohamas
gewährte einen interessanten Anblick. Schon aus weiter
Ferne sahen wir die Stadt durch eine Menge Schiffe ange-
deutet, die aus den verschiedensten Weltgegenden hier zufam-
mengekommen waren. Das Land lag ringsum gebirgig und
in malerischen Umrissen. Zur Linken erhob der 14,000
Fuß hohe Fusiyama sein beeistes Haupt, dem Auge um so
ehrbarer, als die Geschichte Japans mit vielen Sagen über
diesen Bergriesen innig zusammenhängt.
Bei unserer Landung ereignete sich ein haarsträubender
Borfall. Kaum war das Schiff au eine Boje befestigt, als
eins der herandrängenden Boote unter das plötzlich wieder
in Bewegung gesetzte Rad gerieth. Unerbittlich, ähnlich wie
ein Walzenpaar das einmal Ergriffene verschlingt, so ver-
schwand auch der Kahn in der Flnth, um auf der andern
Seite in Trümmern wieder hervorzukommen, während drei
Japanesen an den Radspeichen heranfzuklimmen verfuchten;
aber — weh, wohin? — das treibende Rad hätte sie ohne
Erbarmen zermalmen können. Wie Aller Augen nun ängst-
lich nach dem Ausgange sahen, hielt noch glücklicherweise der
Dampfer zeitig genug an, der Schreckensfeeue ein Ende zu
macheu. Die Schiffbrüchigen schwammen anderen Booten
zu und die Trümmer trieben umher, ohne daß Jemand dar-
an dachte, etwas davon aufzusaugen, und doch waren brauch-
bare Gegenstände, Kleidungsstücke und dergleichen, darunter.
Schon hatten wir einen Tag im Hafen Nokohamas ver-
bracht, als ich, in letzter Stunde noch, die unerwartete Ent-
deckung machen sollte, daß unter den nach Japan abgehen-
den Passagieren sich eine Landsmännin befand. Die ein-
zige Deutsche zugleich an Bord, war sie mir stets durch ihr
unbefangenes, heiteres Wesen aufgefallen, das sie aufs Vor-
theilhafteste von den übrigen Damen unterschied, die einen
freundlichen Gruß kaum erwiederten. Ein Zufall ließ mich
einige Worte mit ihr wechseln, und hätte sie sich nicht nach
meiner Heimath erkundigt, so wäre unsere Landsmannschaft
gar nicht zur Sprache gekommen. Wir erfuhren nicht nur, daß
wir in einem Orte groß geworden, ja noch mehr: daß wir
unter einem Dache, wenn auch gerade nicht zu gleicher Zeit,
gewohnt hatten. Drei Wochen auf einem Schiffe gelebt
zu haben, einem Ziele zugesteuert zu sein, sich nicht zu ken-
Gustav Wallis: Von
NM und am Schlüsse der Reise solche Aufklärung nenne ich
doch wunderbar! Kaum nun, daß wir etwas mit einander
geplaudert, trennten sich schon unsere Wege. Es war spät
Abends. Sie beabsichtigte, mit der Familie des amerikani-
schen Consuls, bei welcher sie die ehrenwerthe Stellung als
Gesellschaftsdame bekleidete, am nächsten Morgen früh nach
Peking sich zu begeben, mich dagegen trieb es nach Aeddo.
Es bedarf wohl nicht der Versicherung, daß mir das Herz
vor Ungeduld pochte, den ersehnten Boden betreten zu kön-
nen. Wie beschreibe ich mein Staunen, meine Gefühle, die
ich beim ersten Gange durch die Straßen empfand! Hatte
ich stets mit dem größten Interesse von Japan gehört und
gelesen, ohne jemals zu ahnen, daß dies Wunderland noch
einmal zur eigenen Anschauung für mich kommen würde, so
lag nun mit einem Male der ganze Zauber in aller Wirk-
lichkeit vor mir ausgebreitet. Das „mongolische" Volk mit
seiner eigentümlichen Physiognomie, seinen Gebräuchen, sei-
nen Wohnstätten, das Alles umgab mich nun, wie es im
Geiste mir aus Bildern noch vorschwebte, in Wirklichkeit.
Mir wird diese Zeit unvergleichlich in der Erinnerung für
mein ganzes Leben bleiben. An die wunderbaren Häuser
mit ihren Schnörkeleien, ihren Zierrathen, den schönen, fast
überladenen und doch eleganten Dächern, die Tempel, die
aufsteigenden Drachen, die ausgehängten Schilder, die man-
nichfachen Schauläden, das Leben und Treiben auf den Stra-
ßen: es trotzt dies Alles der Beschreibung. Die Häuser
sind ein so fremdartiger, verwobener Bau, daß man mit
größtem Interesse all den Einzelnheiten des Gefüges folgt.
Aus den gewöhnlichen Materialien, aus Brettern, Steinen,
Ziegeln, Stroh und Papier zusammengesetzt bietet sich da
ein so buntes Durcheinander, daß man oft nicht begreift,
wie das Alles zusammenhängt und sich nur trägt. Ge-
schmack, Ausführung und Reinlichkeit eisern mit einander,
so daß das Ganze einen recht wohlthuenden Eindruck macht.
Die Häuser sind ohne Stockwerke, und wo solches vorhanden,
ist es niedriger als das Geschoß, mit Erkern und Emblemen
verziert, dasselbe überragend. In den meisten Straßen reiht
sich Laden an Laden und entwickelt sich eine Geschäftigkeit, wie
man sie in Deutschland nur auf Jahrmärkten findet. Diefe
Idee drängte sich mir nur noch stärker auf, als ich bei mei-
nen Wanderungen Gaukler, Taschenspieler, ja selbst im Freien
aufgestellte Theater antraf, und doch war dies nur alltäg-
liches Treiben. Nach Allem kam ich zu der Ueberzeugung,
daß Handel und Wandel eine vollkommene Parallele mit
unserer westlichen Halbkugel zuläßt. Man findet in dem
orientalischen Staate ungefähr dieselben Erscheinungen wie-
der, wie sie die Sorge um die Existenz bei uns in so viel-
fältiger Weise hervorruft, nur in höherm Grade und in
mehr origineller Weise ausgeprägt. Bei der großen allge-
meinen Rührigkeit, dem Handels- und Gewerbseifer, der
Alles im Strudel zu ergreifen und mit sich fortzureißen
scheint, wird man Taugenichtse und Faulpelze hier nicht tres-
sen, sonst aber glaube ich alle Menschenrassen, wie große
Bevölkerungen auch bei uns sie unterscheiden, angetroffen zu
haben. Bewunderte ich einerseits, den Blick in die mit osse-
ner Front versehenen Häuser werfend, den Fleiß und die
Geschicklichkeit der einzelnen Gewerke, wie Schneider, Schu-
ster, Schirmmacher, Maler, Graveure, Bildhauer, Kessel-
schmiede u. s. w., so staunte ich nicht weniger über die Mas-
sen der auf offener Straße ihrem Erwerbe Nachgehenden;
da waren es Höker und Hökerinnen, Köche, ambulante Haar-
fchneider, wandernde Musici und dergleichen, auch Taschen-
spieler, die meine Aufmerksamkeit fesselten; Lastträger, Stein-
klopfer, des Erwerbes unfähige Bettler und Lumpensammler
beschließen noch lange die Rubrik stehender und wandernder
Gewerbe nicht. Der Lumpensammler fängt den Plunder
Glvbus XXII. Nr. 23. (December 1872.)
Californien nach Japan. 361
nicht wie seine Pariser Collegen mit einem Haken, sondern
mit zwei langen Stäben auf, die er ganz geschickt wie eine
Zange zu handhaben weiß, was sich recht possirlich aus-
nimmt. Kurz, Alles bietet Eigentümliches in seiner Art.
So viel Originelles giebt es zu beobachten, nach allen
Seiten treibt die Neugierde und das Staunen, und man
weiß nicht, wohin seine Schritte zuerst wenden. Nach den
zahlreichen Garküchen, Pastetenbäckern, Theehäusern und der-
gleichen zu schließen, müssen die Japanesen wahre Lecker-
mäuler sein; allenthalben wird gekocht und gebacken, brodelt's
und zischt's im Fette, daß man an den Düften der Speise
schon genug hätte! Uud wie wunderlich, räthselhast sehen
all die einzelnen Gerichte aus! Zierlich und appetitlich da-
zu im Ganzen, das muß man sagen, wiewohl wieder Man-
ches vorkommt, das europäischem Auge und Geschmack nicht
behagen kann, und das wirklich keinen Namen noch Beschrei-
bung findet! Da liegt es auf den Tellern wie Regenwür-
mer, Engerlinge, Schnecken, Vielfüße :c., und bekannterweise
wird ja in dem so bevölkerten Japan wie auch China Alles,
was da fleucht und kreucht, in der Küche zu genießbaren
Bissen umgewandelt. Leider habe ich mich um die edle Koch-
kuust nicht eingehender bemühen können, so interessant es
auch gewesen wäre. Eins nur schien mir unter'den Um-
ständen sehr gerathen, nichts anzurühren von dem, was ich
nicht kannte, mich ganz neutral zu verhalten.
Nachsichtig, zuvorkommend muß ich die Japanesen be-
zeichnen, denen doch bei meiner Musterung all der bunten
Bissen nicht entgehen konnte, daß ich mit geheimem Lächeln
an ihnen vorüberging. Sie schienen nur des Momentes zu
harren, daß ich mit einer Bitte oder Frage mich an sie wen-
den würde, während sie ihrerseits zu schüchtern waren, mir
etwas anzubieten. Ueberhaupt hat mich nirgend Jemand
mit seiner Zudringlichkeit belästigt. Ich ärgerte mich daher
um so mehr, daß ich die Gewalt über meine Lachmuskeln
verlor; es wird dem Europäer aber auch zu viel geboten,
um bei ernsten Mienen verbleiben zu können. So z. B.
befand sich dicht neben einem Tempel, wo Andächtige ihr
Gebet murmelten und den Götzen Geld zuwarfen, ein Thea-
ter, vor dem viel Volks lärmenden Schauspielen zusah, und
rings in weitem Halbkreise umgaben die unvermeidlichen Gar-
küchen den Zuschauerraum. Indem mich die Neugierde in
alle Winkel trieb, nahm mich hier ein alter Mann, mit
übrigens verhülltem Gesichte, bei der Hand und führte mich
in den Hinterraum, damit ich durch die schadhaften papie-
renen Fenster auch einen Blick hinter die Coulisfen werfen
könne. Da stieß ich mit der Nase fast auf das Gesicht eines
vor einem Spiegelscherben liegenden Schauspielers, der be-
müht war, sich für die nächste Scene frisch aufzuputzen. Die
rasirten Brauen wurden durch dicke Pinselstriche ersetzt, die
Backen mit Schminke betupft und das Alles mit einer Eifrig-
keit, daß mein Vis-^-Vis wie auch seine Collegen durch meine
Neugierde durchaus nicht gestört wurden. Die Vorstellnn-
gen sanden indessen meinen Geschmack nicht, und ich wandte
mich ab, um mit desto größerm Vergnügen einem Jongleur
zuzusehen, der in der Nähe ein großes Publicum angezogen
hatte. Kaum wurde er meiner hinter der Menge ansichtig,
als er auch schon „Platz!" commandirte, und sogleich form-
ten die mich Umgebenden zur Rechten und zur Linken Spa-
lier, so daß ich freien Durchblick hatte. Aller Augen wand-
ten sich nun aber mir mit fast größerm Staunen zu, als
dem Künstler, der sich wohl bemühen mochte, meinetwegen
besondere Stücke zum Besten zu geben. Was ich hier an
Künsten gesehen, wage ich kaum zu beschreiben; ich glaubte
zu träumen und nur mit Unglauben würde man meine
Worte zurückweisen. Der Mann schuf alle leblosen Gegen-
stände durch sein Machtwort zu belebten Geistern um, um
46
362 Übersichtliches in Betreff der
sie seiner Laune unterthan zu machen. Hatte er ein beson-
ders schwieriges StUck gezeigt, so schaute er auch wohl mit
selbstgefälligem Lächeln und Kopfnicken um sich, als wenn
er sagen wollte: „He! das macht mir mal nach!" Wäh-
rend einer Pause legte er sich auf die Knie nieder, alle Um-
stehenden um recht reiche Spende zu ersuchen; von allen Seiten
flog denn auch Geld zwischen und über die Köpfe hinweg
in den Schauplatz hinein, und wie er nicht nachließ zu bitten
und zu ermuntern, kam das zugeworfene Geld einem Regen
gleich hineingehagelt. Alles freilich kleine unbedeutende
Kupfermünze. Zwei Silberstücke, die der Künstler eigen-
händig von mir in Empfang nahm, erwiederte er mit großer
Erkenntlichkeit; unter vielen Verbeugungen zog er sich damit
zu seinem Tische zurück.
Anschläge auf den Mauern verkündeten mir durch bild-
liche Ausschmückung, daß zur Zeit auch Vorstellungen höhe-
rer Magie irgendwo in der Stadt im Gange waren. In-
dem ich dadurch zugleich ein Probestück lithographischer Lei-
stung zu Gesicht bekam, entnahm ich daraus, daß unter
Anderm das beliebte Kopfabschneiden, das Verschwinden einer
Person unter einem großen Trichter, Trapezsprünge und der-
gleichen zur Aufführung kommen sollten. So gern ich die-
sen obschon bekannten Künsten zugesehen hätte, so mußte
ich doch darauf verzichten; ich hätte ja nicht einmal in Er-
fahrung bringen können, wann, wie und wo überhaupt die
Vorstellung aufgeführt werden sollte, da mich kein Drago-
man begleitete. Mir selbst mein Dolmetscher, konnte ich mich
nur auf das beschränken, was sich eben im Zeiträume eines
Tages flüchtig zusammenraffen ließ.
Eine Hanptbelustiguug, besonders der Kinder, ist noch
das Auffliegen von Drachen, in deren Anfertigung man
jedoch nicht bei den gleichförmigen Mustern stehen geblieben
ist, die bei uns gebräuchlich sind. Vögel, wie Eulen, Ha-
bichte und andere grimmige Thiere werden täuschend und
mit Geschmack nachgeahmt, so daß ich manchmal wirklich
glaubte, ein lebendes Thier auffliegen zu sehen. Auf offenen
Plätzen sieht man so viel Drachen aufsteigen, daß man oft
Roth hat, in den Schnüren nicht verstrickt zu werden, was
denn bei mir auch nicht zu vermeiden war.
An einem Theehause konnte ich unmöglich vorübergehen,
ohne eine Tasse des landesthümlichen Getränkes zu mir
zu nehmen, um mich keiner Unterlassungssünde schuldig zu
machen. Reizende Mädchen — und bei geschlitzten Augen
sind auch Schönheiten möglich — servirten den Thee auf
feinen lackirten Brettchen, in fast durchsichtigen Porcellan-
tassen. Kaum hatte eins mich bedient, so kam ein anderes
Mädchen mit Imbiß, aus dem zartesten Gebäck bestehend.
Letzteres gesiel mir, der Thee aber nicht, und ich erfuhr fpä-
ter, daß es allen Fremden mit dem japanischen Thee so er-
gehe, wogegen das chinesische Product eher mundet. In-
dessen soll ersterer bei einigem Gebrauche doch dem Ge-
schmacke besser behagen. Nun erfuhr ich auch, daß die in
Entdeckungen Livingstone's.
Europa verbreitete Meinung, grünen Thee verdächtig zu
halten, auf bloßem Vorurtheile beruhe. Die Färbung wird
mit ganz unschädlichen Stoffen, mit Indigo und anderen
Vegetabilien, nie aber durch Kupfer und feine Oxyde be-
wirkt.
Großen Genuß gewährte mir die Besichtigung der Ga-
lanteriewaaren, wobei man viel Gelegenheit findet, Geschick-
lichkeit und Geschmack in gleichem Grade zu bewundern.
Durch alle Welt berühmt sind ja die Japanesen durch ihr
Porcellan, ihre Lack- und Bronzewaaren, ihre Schnitzarbei-
ten !c. Die Kunst des Lackirens erstreckt sich sogar auf das
Aeußere der Wohnungen, auf die Kochherde und Oefen, wo
man leicht in Zweifel geräth, ob die fragliche Masse aus
Glasur oder polirtem Eisen besteht, und doch ist es keins
von beiden. Bei Malereien liebt der Japanese im Hinter-
gründe den schon erwähnten Fusiyamaberg und als Staffage
fliegende Kraniche anzubringen, denen er gleichfalls göttliche
Verehrung zollt. So Vieles, was ich schon als Kind ge-
kannt hatte, gab sich mir nun als japanischen Ursprunges zu
erkennen. Die noch in frischem Andenken stehende Mode
der Damen, über der Taille auf dem Rücken, wie im Ueber-
flusse einige Ellen feinen Stoffes zu einer Art Schleife zu-
sammengelegt zu tragen, und was man in Amerika Pannier
nennt, ist in Japan schon vor dem Christenthume geübt wor-
den und noch heute in starkem Brauche. Es ist eine wirk-
lich kleidsame Tracht, mag sie der üppigen Crinoline beigege-
ben sein, oder den bescheidenen schlanken Körper einer Ja-
panestn zieren. Die große Geschicklichkeit, die der Japanese
in seinen Erzeugnissen verräth, fordert unsere ganze Bewun-
derung, wenn wir ihn in der Werkstatt beobachten können.
Wie einfach, urzuständlich, unbeholfen erscheint da Alles!
Tischler und Zimmermann z. B. arbeiten ohne Hobelbank,
meist mit gekreuzten Füßen auf dem Boden liegend, und wie
regieren sie die einzelnen Instrumente! Hobel und Säge
werden nicht abwärts, sondern herwärts gehandhabt, also
gezogen. Der Bohrer kreist links anstatt rechts. Das Beil
hat seine Schneide in entgegengesetzter Richtung, ähnlich wie
bei der Hacke. So ist Vieles unseren Begriffen zuwider-
laufend, verkehrt mit einem Worte. Man schreibt von oben
nach unten; Schilder hängen daher senkrecht statt wagerecht.
Man winkt mit der Hand, die flache Seite einwärts anstatt
auswärts gekehrt. Pferde gehen in dicken Strohschuhen,
wogegen man ihnen bei uns Schellen anhängt, um vor Ge-
fahr zu warnen.
Weiß ist die Farbe der Trauer. Geld ist vierseitig anstatt
rund. Doch das sind Alles Zustände, die sich bald überlebt
haben dürften. Japan und China folgen dem Beispiele
anderer Nationen, einander vertrauend die Hand zu reichen;
sie haben damit begonnen, der Welt ihre Häfen zu öffnen,
und der Wechsel der Sitten kann nicht verfehlen, von ent-
scheidendem, günstigem Einflüsse auf alle bestehenden Ver«
Hältnisse zu sein.
Übersichtliches in Betreff der
Wir haben uns nicht in die zum Theil unangenehmen
Controversen und Zänkereien gemischt, welche durch Living-
stone's Berichte und Stanley's Mittheilungen in England
viel böses Blut machten. Es genügte uns, den Verlauf der
Dinge abzuwarten. Livingstone's Briefe sind auch diesmal,
wie gewöhnlich, vielfach verworren; es fehlt ein klarer Faden;
Entdeckungen Livingstone's.
er wirft alle möglichen Dinge durch einander, und man ar-
beitet sich mit Mühe durch den Wust, um zu einer annähernd
sichern Anschauung zu gelangen. Es versteht sich von selbst,
daß man den Reisenden, der unter so schwierigen Umständen
barbarischer Völker Gegenden durchwanderte, nachsichtig zu
beurtheilen hat. Er leidet an mancherlei Schr ulleu, aber die
Übersichtliches in Betreff der
Wissenschaft bleibt diesem muthigen Manne, dessen Ausdauer
über alles Lob erhaben ist, zu großem Danke verpflichtet.
Wie früher für die Gegenden zwischen den Mündungen des
Sambesi und Angola, so ist er auch für die Regionen west-
lich vom Tanganyika-See als Bahnbrecher zn betrachten,
und die Zeit wird nicht fern fein, in der wir über das Quell-
gebiet des Congostromes und den Mittlern und untern
Lauf diefes wichtigen Stromes genaue Kunde erlangen. Es
unterliegt wohl keinem Zweifel mehr, daß die Flüsse, welche
Livingstone beschreibt, mit Speke's und Baker's Nil in kei-
ner Verbindung stehen und daß sie ihren Abfluß zur afri-
kauischen Westküste haben.
Wir wollen hier bemerken, daß die an dieser Westküste
mündenden Flüsse zumeist Kataraktenströme sind. Das
gilt namentlich auch von dem seit Du Chaillu's Reisen an
der sogenannten Gabouküste oft genannten Ogowai. Auf
einigermaßen beträchtlichen Strecken sind nur der Coanza
uud der Congo fahrbar; auch sie haben im Mittlern Laufe
Wasserfälle und Stromschnellen. Was den Congo- oder
Zaire betrifft, der nun eine so große Wichtigkeit für die
Entdeckungen gewinnt, so wird er von den Eingeborenen als
Moienzi Engaddi, d. h. mächtiges Gewässer, bezeich-
net; dann auch als Zaire. Die Portugiesen haben an sei-
ner Mündung die Faetorei Porto de Pin da; dieselbe liegt
unter 6° 10' südlicher Breite, neben der Pnnta de Padrao;
den Namen hat diese Landspitze, weil auf ihr der Entdecker
derselben, Diogo Cam, dort einen Wappenpfeiler (Padrao)
des heiligen Georg errichtete. Die Portugiesen gaben dem
Strome den Namen Congo aus Mißverständnis diese
Bezeichnung des Königreichs erhielten sie auf ihre Fragen
oftmals als Antwort. Die ganze Mündungsregion ist mit
Inseln gleichsam übersäet, und die Gegend, welche der Strom
im Unterlande durchfließt, sehr ungesund. Das hat Tuckey
erfahren, welcher 1816 eine Expedition ans demselben unter-
nahm.
Die Ungunst des Klimas wird aber keiu Hinderniß für
eine Expedition bilden, welche von der Mündung des Congo-
stromes aus ins Innere vordringen will. Auch die Fahr-
teu im Nigerdelta erforderten anfangs viele Opfer an Men-
schenleben, während sie jetzt für verhältnißmäßig nicht sehr
gefährlich gelten; man hat eben durch Erfahrung gelernt,
sich zweckmäßiger einzurichten.
Wir wollen nun einen Ueberblick der Expedition Living-
stone's geben und dabei zur Unterlage den Vortrag nehmen,
welchen Rawlinson jüngst in der geographischen Gesell-
schaft zu London gehalten hat. Er ist dabei sehr Übersicht-
lich verfahren und hat es möglichst vermieden, auf die per-
sönlicheu Irrungen und Anfeindungen einzugehen. Zunächst
hob er die Verdienste Stanley's hervor, dessen Werk so-
eben (Mitte November) erschienen ist. Die Gesellschaft hat
diesen: Berichterstatter des „New L)ork Herald" die Victoria-
medaille für 1873 zuerkannt, und wie ruhmredig auch der
Mnkee auftreten mag, diese Auszeichnung hat der Mann
sicherlich verdient. Rawlinson sprach dann über die, im
„Globus" mehrfach erwähnte, Expedition Llewellyn Daw-
son's. Dieselbe war, um Livingstone Hülfe zu bringen,
als „Relief Expedition" sorgfältig ausgerüstet worden, gebot
reichlich über allerlei Mittel, und wollte im Mai von San-
sibar aus nach dem Innern sich in Bewegung setzen, als sie
dort erfuhr, daß Limugstone von Stanley aufgefunden wor-
den und nun außer Verlegenheit sei. Sosort legte Dawson
sein Commando nieder, löste die Expedition auf und fuhr
nach England zurück. Es wurden dann andere Arrange-
ments vorgeschlagen, um die vorhandenen Hülfsmittel und
Vorräthe in Livingstone's Hände gelangen zu lassen. Aber
gerade damals kam Stanley nach der Küste zurück mit Wei-
Entdeckungen Livingstone's. 363
suugeu von Seiten Livingstone's; man legte dieselben irr-
thümlich dahin aus, daß der Reisende überhaupt nicht wolle,
daß Reisende zu ihm kämen, und deshalb zogen sich die Leute,
welche in Dawson's Gefolge gewesen waren, nach und nach
zurück; auch sie verließen Afrika (— von Livingstone's Sohn
Oswell sprach Rawlinson nicht —). Ein Ausschuß der
geographischen Gesellschaft prüfte Dawson's Verfahren, und
mißbilligte dasselbe; derselbe habe sich einen beklagenswerthen
Mangel an richtigem Urtheile zu Schulden kommen lassen,
indem er, auch nachdem Stanley Hülfe gebracht, doch nicht
den Vorrath von Waffen, Instrumenten, Arzneien und an-
dere Gegenstände dem Reisenden überbrachte, obwohl der-
selbe offenbar jene Gegenstände sehr nöthig gehabt, habe.
Dieses Urlheil sei auch das des Publicums gewesen und er-
weise sich als richtig auch durch Briefe von Livingstone voni
1. Juli. Diefe sind Antworten aus das Schreiben, welches
sein Sohn (— der Mitglied von Dawson's Expedition
war —) von Sansibar aus an ihn gerichtet hatte; er be-
dauert, daß die Expedition aus einander gegangen sei, und
hebt hervor, von wie großem Nutzen es ihm gewesen sein
würde, wenn die Offiziere nach Unyanyembe zu ihm gekom-
men wären; er setzt auch auseinander, wie er sie hätte ver-
wenden können. Aus den Muth und die persönliche Ehren-
haftigkeit Dawson's falle übrigens kein Schatten.
Ueber Livingstone hatte drei volle Jahre nichts Sicheres
verlautet; dauu und wann kamen durch eingeborene Kanf-
leute Berichte über seine Wanderungen in Manyema an
Dr. Kirk in Sansibar; sie waren indeß unsicher und wider-
sprechend. Indeß glaubte man in der Londoner geographi-
schen Gesellschaft daraus entnehmen zu können, daß er nicht
gestorben sei, das große Publicum jedoch habe ihn für todt
gehalten. Daraus erkläre sich, daß man Stanley's Angaben,
in nicht zu rechtfertigender Weife, für Lügen und Schwindel
gehalten habe. „Es möge deshalb hier ein für alle Mal
betont werden, daß nicht der allergeringste Grund vorliegt,
die Genauigkeit von Stanley's Angaben in Zweifel zu zie-
hen. Es ist unbedingt sicher und gewiß, daß Liviugstoue
und Stanley vor nun gerade einem Jahre in Udschidschi
beisammen wareu, daß sie gemeinschaftlich eine Wanderung,
eine Erforfchungsreise um das Nordende des Tanganyika-
Sees herum unternommen haben und daß sie dann zusammen
nach Unyanyembe gingen. Dort war Livingstone noch, als
er die zuletzt von ihm eingelaufenen Briefe abschickte. Der-
selbe hatte in den letztverslossenen drei Jahren körperlich viel
gelitten uud manche Dinge erlebt, welche seine Geduld auf
eine harte Probe stellten. Durch eine seltsame Verkettung
von Umständen wurden alle guten Absichten seiner Freunde
vereitelt; die Leute, welche man von der Küste zu seinem
Dienste geschickt hatte, waren widerwillig, unzuverlässig uud
bereiteten ihm große Quäle»; sie zwangen ihn, als er gerade
an einem für die Entdeckungen wichtigsten Punkte augekom-
men war, zur Umkehr. Auch die Agenten, welche mit ihm
Verbindungen unterhalten sollten, erwiesen sich als niederträch-
tig; sie fingen seine Briefe auf und vernichteten dieselben;
sie verzettelten die Vorräthe und plünderten sogar mehrmals
die Magazine; sie verkauften die Vorräthe, um mit dem Er-
lös derselben für sich Elfenbein und Sklaven zu kaufen. In
Folge dieser abscheulichen Vorgänge verlor Livingstone, wie
er selber sagt, zwei Jahre der kostbarsten Zeit; er mußte auf
Strecke» vou 1800 Miles vergeblich umherziehen; wurde
krank, erlitt auch sonst großen Schaden und erreichte Ud-
schidschi als, wie er schreibt, ein zerknicktes Gerippe, und so
fand ihn Stanley."
Rawlinson erwähnt dann der Irrungen mit Consul Dr.
Kirk, die aber auf Mißverständnissen beruht haben und nun
ausgeglichen feien.
46*
364 Übersichtliches in Betreff der
Die letzten Briefe, welche von Livingstone, vor dessen
Zusammentreffen mit Stanley, in England eingelaufen wa-
ren, sind aus Udschidfchi vom Mai 1869 datirt. Es scheint,
daß er dann im Juli desselben Jahres von dort nach dem
andern Ufer des Tanganyika-Sees hinüberfuhr und nach
Westen hin bisBambarre in Manyema ging. Er war
vom See her 1000 Fuß tiefer in das große centralafrika-
nische Thal gekommen nnd gelangte in demselben an die
großen Flüsse, welche er in früheren Jahren verfolgt hatte
von ihren Quellen, in etwa 12° ©., in den Muchinga-
bergen. Er wanderte dann etwa ein Jahr lang in Ma-
nyema umher, um das Bett des Lualaba aufzufinden, und
verweilte in einem Lager arabischer Kanslente, nicht weit
von den Baleggabergen, welche inSüdwesten den Albert-
Nyanza umschließen. Er blieb in jenem Lager während
der Regenzeit von Februar bis Juli 1870 uud ging dann
bald darauf nach Bambarre zurück. Dort blieb er bis zu
Ende des Jahres liegen, weil er Geschwüre an den Füßen
hatte.
Im October 1869 hatte man Leute von Sansibar an
ihn abgeschickt, welche ihm Vorrcithe und auch ein Zelt brin-
gen sollten; sie trafen ihn bald nach Anbegiun des Jahres
1871 in Bambarre. Mit ihnen zog dann Livingstone aus,
um den untern Lauf des Lualaba zu erforschen. Er folgte
diesem Flusse bis beinahe zu dem Punkt, an welchem sich
derselbe mit dem Lomame oder Kassabi vereinigt, und er-
mittelte, daß vier bis süns Tagereisen weiter abwärts die
beiden vereinigten Flüsse in einen großen mit Binsen und
Schilf bewachsenen See fallen; was jenseits desselben lag
war unbekannt.
In jener Gegend verweilte er drei Monate, um einen
ihm freundlich gesinnten arabischen Häuptling zu erwarten.
Da seine eigenen Leute nicht mehr weiter vorwärts wollten,
so hoffte er mit desfen Beistand vom Lualaba nach dem Lo-
mame gelangen und diesen letztern Fluß stromaufwärts ver-
folgen zu können. Er war am 13. Juli Augenzeuge einer
abscheulichen Metzelei, in welcher viele Sklaven nieder-
gemacht wurden, und die Scheußlichkeiten, welche er mit an-
sehen mußte, empörten ihn dermaßen, daß er nicht länger
in Gesellschaft der arabischen Kausleute bleiben mochte. Er
kehrte also um, gab alle Hoffnung zu weiteren Eilt-
deckungeu in jener Gegend auf und machte sich auf den
Weg nach Udschidschi. Dort kam er nach einer äußerst
beschwerlichen und anstrengenden Wanderung von mehr als
400 Miles Ende October an, an Leib und Seele gebro-
chen. Aber nach wenigen Wochen war Stanley bei ihm,
der ihn pflegte, und nach Verlauf einiger Zeit war er wie-
der frisch und kräftig.
Liviugstone's Wanderungen im Manyemalande haben
wichtige Ergebnisse gebracht. Auf seinen früheren Zügen
stellte er nur einen Fluß fest, welchen er durch eiue Kette
von Seeu verfolgte und der verschiedene Benennungen führte:
Chambefi, Luapula und Lualaba; er kommt von dem
im Norden des Nyassa liegenden Mnchingaberge, fließt an
Cazembe's Hauptstadt vorüber nach der Grenze von Ma-
nyema, das westlich vom Tauganyika-See liegt. In Europa
war man nun gespannt daranf, ob dieser „lacustriue"
Fluß, welcher, wie man annahm, das Abzugsbecken für
Centralafrika bildete, wirklich den obern Lauf des Nils
bilde, und diesem entweder aus dem Taugauyika oder aus
dem Albert-Nyauza zuströme, oder ob er sich, nach Westen
wendend, sich als ein Zufluß des Congo ausweife.
Diese Frage hat in der jüngsten Zeit eine weit größere
Tragweite bekommen und ist außerdem wesentlich vereinfacht
worden. Denn es wurde nun durch Livingstone ermittelt,
daß nicht weniger als drei Lualabas vorhanden
Entdeckungen Livingstone's.
sind, allesammt Flüsse erster Größe, welche in fast paral-
lelen Läufen durch Seen strömen und ihre Gewässer wenige
Grade südlich vom Aeqnator vereinigen. Sie bilden dort
einen gigantischen Strom von 2 Miles Breite; er ist so
tief und fließt so rasch, daß er bei tiesstem Stande in der
trocknen Jahreszeit 124,000 Cubikfuß Wasser in der Se-
cnude fortbewegt. Dieses dreifache Wassersystem, welches
nördlich und südlich von 12^S. sich gegen den Aeqnator
hinerstreckt und einem Ramne von etwa 10 Breitengraden
zum Abzüge dient, ist der centrale Fluß, welcher den Namen
Lnfira führt, der schon früher den portugiesischen Pombeiros
(d. h. Handelsleuten) bekauut gewesen. Sie setzten unweit
seiner Quelle mit Kähnen über ihn, während der dritte,
westliche Fluß, dieser Kassabi oder Loke, weiter abwärts
Lomame heißt. Auch dieser ist den Portugiesen längst be-
kannt, uud Livingstone hat ihn im Jahre 1855 gesehen;
seltsam genug hat er ihn, den er allerdings nur im Gebirge
sah, nicht wieder erkannt in dem majestätischen Flusse, wel-
chen er jetzt als 9)ouug's Lualaba bezeichnet.
Wenn nun aber auch die oberen Läufe des Lufira und
des Kassabi den Portugiesen schon längst bekannt gewesen
sind, so hat doch Livingstone das Verdienst, diese oberen Läufe
mit dem großen Becken des äquatorialen Afrika in Verbin-
duug gebracht zu haben. Der fernste Punkt, welchen er am
Lualaba erreichte, liegt feiner Annahme zufolge in etwa
4°S., aber die Länge war nicht so leicht zu bestimmen.
Seiner Gissung zufolge läge er 5" westlich vom Udschidschi,
also etwa 25°£).; aber nach einer Mondbeobachtung, die
er späterhin angestellt zu haben scheint, verlegte er ihn nicht
weniger als 2 Grad weiter nach Osten, also in etwa 27°
östlicher Länge.
Es kann, wie schon weiter oben bemerkt wurde, ver-
nünftiger Weise nicht mehr in Zweifel gezogen werden,
daß dieses große centralafrikanische Wassersystem
dem Congo angehört, und nicht dem Nil.
Dr. Behm in Gotha hat die Beweise für die Jden-
tität des Lualaba und des Congo beigebracht; er weist die-
selbe nach ans hypsometrischen Vergleichuugen, ans dem
Volumen des Wassers, aus deu periodischen Regenfällen,
aus den verschiedenen Zeiten, in welchen die Flüsse ihre
Anschwellungen haben. Anch in naturwissenschaftlicher und
ethnologischer Beziehung weist Alles auf das Stromgebiet
des Congo hin. Livingstone aber blieb trotz alledem bei
seiner vorgefaßten Meinung, daß er Nilflüsse vor sich habe,
ja er hielt es für möglich, daß sie dem Bachr el Gazal zu-
strömten! Freilich kounte er von Georg Schweinfurth's
Entdeckungen nichts wissen. Er ahnte nicht, daß eine oder
vielleicht zwei Wasserscheiden zwischen dem Lualaba und
der Quellgegend des Bachr el Gazal liegen; auch wurde er
sich nicht klar darüber, daß sein Lualaba, ein so großer Fluß,
bei Nyangne nicht weniger als 19mal mehr Wasservolumen
hat^als dasjenige, welches der Bachr el Gazal dem Weißen
Nil zuführt.
Sobald er das Alles erfährt, wird er sofort seine Nil-
theorie aufgeben müssen. Aber ihm bleibt doch die Ehre,
daß er den obern Lauf des Congo entdeckt hat. Er beab-
sichtigt bekanntlich eine Wanderung um den Tanganyika-
See, um an das zu gelangen, was er als „Quellen des
Nils" bezeichnet, und dann zum Lincoln-See nnd zum Lo-
mame. Seine Freunde sind überzeugt, daß er auf dieser
Wanderung in Verbindung mit der Westküste kommen
werde. Sie rüsten deshalb eine Expedition ans, welche sie
als die Livingstone-Congo-Expedition bezeichnen.
Dieselbe soll den Congo von den Wasserfällen an
weiter aufwärts befahren und bis zu dem (oben erwähnten)
Aequatorialsee vordringen, in welchem Livingstone's Flüsse
Der Hafen von Liverpool
sich verlieren; sie glauben ihn, etwa gegen Ende 1873,
dort herum irgendwo auffinden zu können. Herr Ä) o nn g,
nach welchem Livingstone den westlichen Lnalaba genannt
hat, will 1500 bis 2000 Pf. St. für die Expedition her-
geben; was etwa mehr erforderlich ist, wird vom Publicum
und von der Londoner geographischen Gesellschaft bestritten
werden. Ein zur Lösung der Ausgabe völlig geeigneter
junger Marinelieutenant wird die Expedition leiten. Die-
selbe soll aus Kruleuten von Sierra Leone bestehen, und
der Lieutenant wollte noch vor Ablauf des Novembers nach
der Westküste von Afrika sich einschiffen.
Die Congo-Expedition wird sich in San Paulo de
Loauda, der Hauptstadt des portugiesischen Westafrika, ver-
sammeln, und dort von Seiten der Behörden allen Vor-
schnb erfahren. Die Lissaboner Regierung hat darüber
bündige Zusagen gegeben, und sie wünscht den Congo für
den Verkehr erschlossen zu sehen. Rawlinson hob dann her-
vor, daß es für England wichtig fei, rasch zu haudeln und
zuerst zu kommen, indem eine rivalisirende deutsche
Expedition nach derselben Gegend hin vorbereitet werde.
Allerdings brauche man sich in Bezug auf Entdeckungen vor
dem Wettbewerb anderer Nationen nicht zu entsetzen, gleich-
viel ob zu Land oder auf See; unter den obwaltenden Um-
ständen jedoch erscheine es wünschenswert^, nicht noch einmal
das Risico eines Schiedsgerichts über die Priorität einer
Entdeckung zu laufen. (Anspielung auf den schiedsrichter-
lichen Ausspruch iu der Sau-Juan-Frage.) —
Livingstone war am I.Juli 1872 noch in Unyanyembe,
er wartete dort auf die Ankunft einer Schutzwache von 50
wohl ausgerüsteten und gut bewaffneten Leuten, welche Stan-
ley von Sansibar aus zu Ende des Mai für ihn abgesandt
hatte. Es war seine Absicht, zunächst nach Fipa am süd-
lichen Ende des Tanganyika zu gehen. Bei seinen Reisen
wird er fortan sich ohne Zweifel die Kunde zu nutze machen,
welche er nun von Europa aus Uber Schweinsurth's Ent-
deckungen erhalten hat. Als Stanley bei ihm war und in
seinen Briefen spricht er davon, die Quellen des Lualaba
und Lusira zu besuchen und weiter, nachdem er die Kupfer-
gruben von Katanga und die Excavationen vonKa-
bogo gesehen, nach den Seen Kamolondo und Lincoln
oder Chebugo (offenbar Ladislaus Magyar's Uhanjo)
vorzudringen. Dort wollte er sich auf dem Lomeme ein-
schiffen. Es sei indessen wahrscheinlich, daß dieser Plan
nun eine Abänderung erfahren werde.
Von der Sendung Sir Bartle Frere's nach Sansi-
und seine Dampferflotte. 365
bar wird Livingstone wohl Kunde erhalten, bevor er die Um-
gegend des Tanganyikasees verlassen hat; er wird also zu
seiner Freude ersahren, daß nun endlich Ernst gemacht wird,
den ostafrikanischen Sklavenhandel lahm zu legen. Bartle
Frere ist ermächtigt worden, aus dem Unterstützungsfond bis
zu 1500 Pf. St. zu verwenden, um Livingstone's Entdeckun-
gen zu fördern und ihm die Rückkehr nach der Küste zu er-
leichtern. Um den in seinen jüngsten Briefen ausgespro-
chenen Wunsch zu erfüllen, wird ein junger Marineoffizier,
Lovell Cameron, sofort nach Sansibar abgehen und von
dort Vorräthe ins Innere schaffen. Frere wird, nachdem er in
Sansibar die nöthigen Erkundigungen eingezogen, bestimmen,
ob Cameron sofort Livingstone aufzusuchen habe, oder ob er
die Vorräthe an irgend einem geeigneten Punkte in der Nähe
des Tanganyikasees niederlegen und bei denselben so lange
verweilen soll, bis der Reisende verfügt. In jedem Fall
aber wird Cameron die Weisung erhalten, die Geographie
der Seenregion im centralen Afrika, die ein noch ungelöstes
Problem ist, zu erforschen. Nachdem er die vielfach erör-
terte Frage über die Confignration des Victoria-Nyanza-
Sees ins Reine gebracht und positiv festgestellt hat, ob es
sich dort um eine einzige große Wassermasse oder um mehrere
selbständige, obwohl nahe bei einander liegende Seen han-
delt, mag er dann an den Albert-Nyanza gehen, die Quellen
des Loanda und Rusisi besuchen, der beiden Flüsse, welche
nach Livingstone's und Stanley's Ermittelungen in den Tan-
ganyika fallen, und so die Ungewißheit beseitigen, welche bis
jetzt über diese Verhältnisse besteht. Zuletzt mag er dann
die Ausdehnung und die Umrisse der Südwestseite des Albert-
Nyanza ermitteln. Es sei nicht unwahrscheinlich, daß unter
solchen Umständen Lieutenant Cameron mit Samuel Baker's
Flottille auf dem Albert-See zusammentreffe. Bekanntlich
sind, allerdings noch nicht officiell bestätigt, Nachrichten ein-
gelaufen, denen zufolge Baker im verflossenen Sommer mit
einer fliegenden Colonne von Gondokoro aus bis zu der
Stelle vorgedrungen ist, wo der Nil den Nyanza verläßt;
er hatte Vorkehrungen getroffen, damit Dampser und Boote
über die Stromschnellen bis dorthin geschafft werden sollten.
Er wollte dann die einzelnen Stücke zusammensetzen und
den See befahren. —
So viel heute über Livingstone und die projectirten Un-
ternehmungen der Engländer. Uebcr die Pläne, welche in
Berlin für eine methodische Erforschung Jnnerasrikas zwi-
schen 10° N. und 10° S. entworfen werden, hoffen wir
demnächst specicller berichten zu können.
Der Hafen von Liverpool
r. d. Die Eutwickelung Liverpools in mercantiler und
nautischer Hinsicht ist wirklich so großartig, daß es sich der
Mühe verlohnt, einmal darauf zurückzukommen und die
Ausdehnung des Hafens und der Schisfsahrt dieser zweiten
Handelsstadt der Welt zu schildern. Wer an einem schönen,
etwas windigen Tage zur Zeit der Fluth zwischen Birken-
head und Liverpool durchsegelt, kann aus der ganzen Welt
keinen lebhaftem Hasenanblick finden, als ihn dann der
Mersey mit seinen sieben englischen Meilen langen granit-
eingefaßten Docks zeigt. Er wimmelt in des Wortes voll-
ster Bedeutung von Schiffen aller Größen und aller Ratio-
nen, von der kleinen Aacht an bis zum 3000 Tonnen haltenden
Clipper, vom kleinen Schleppdampfer bis zum großartigsten
und seine Dampferflotte.
Oceausteamer. Hier nehmen Schiffe ihre Laduug ein, dort
löschen sie; dort dampft ein transatlantischer Steamer die
Flnthen peitschend dahin; am Ufer erheben sich gleich lnf-
tigen Thürmen die hydraulischen Krahne, stehen in unab-
sehbaren Reihen, symmetrisch mit langen, flachen Dachlinien
die Waarenhäufer, dehnen sich meilenlang die Schiffswerfte aus.
Es giebt, geographisch betrachtet, viele Häfen, die eine bessere
Lage als jener Liverpools haben, aber es giebt keinen, kaum jenen
Londons ausgenommen, welcher einen so gewaltigen Begriff
von der Macht des Handels giebt. Wo einst Sommerfri-
schen, Badeörter und Vergnüguugsörter standen, da hat der
Schiffsbau sich breit gemacht, da dehnt sich Werst an Werst
aus, liegen die mächtigen Eisendampser, welche die Firma
366 Der Hafen von Liverpool
Laird baut, und entstand auch die vielbesprochene Alabama.
Gärten und Wirthshäuser sind verschwunden, überall erklingt
der Dampfhammer, spürt man Theergeruch, wirbeln die
Rauchsäulen der Essen in die Luft. Die Ufer des Mersey
haben in den letzten 20 Jahren eine gründliche Umwand-
luug erfahren.
In Bootle an der Liverpoolselte des Mersey beginnt die
große Linie der Docks, die sich in südlicher Richtung nnun-
terbrochen 7Miles lang erstrecken und einen Flächen^
räum von 267 englischen Acres enthalten. Dazu kommen die
167 Acker Docks der Birkenheadseite auf dem linken Mer-
seynfer. Eine Idee von dem Verkehr, welcher in diesen
Docks herrscht, erhält man, wenn man den Liverpooler Han-
delskammerbericht für das Jahr 1871 ins Auge faßt. Die
Exporte bezifferten sich danach auf die kolossale Summe von
106 Millionen Pfund Sterling, einschließlich 12 Millionen
für fremde in den Liverpooler Waarenhäusern gelagerter Gü-
ter und 6 V2 Millionen Pfund Sterling für transitirende
Güter. Die Einnahmen an Tonnen- und Hafengeldern,
die Zölle für importirte und exportirte Waaren erreichten
zusammen in dem am 1. Juli 1872 endigenden Jahre
die hohe Summe von 912,938 Pf. St., 40,817 Pf. St.
mehr als im Borjahre. Die Schiffe, welche diese Einnah-
men einbrachten, hatten über 61/2 Millionen Tonnen! Und
dieser Handel steigert sich in so ungeheuerm Maße, so schnell,
daß die Hafenverwaltung nicht weiß, wo sie Raum für die
einlaufenden Fahrzeuge, namentlich die großen Oceandam-
pfer schaffen soll.
Letztere sind der Stolz Liverpools, denn keine Stadt der
Welt, auch London und Southampton nicht, besitzen so viel
Dampfer wie Liverpool. Die hauptsächlichsten Gesellschaf-
ten, welche Liverpool zu ihrem Ausganspunkte haben, sind
nachstehende:
Die Jnman-Linie, Liverpool-Neuyork. Sie besitzt ge-
genwärtig 19 große Schraubendampfer, während zwei neue
im Bau begriffen sind. Als die Linie eingerichtet wurde,
liefen die Dampfer nach Philadelphia, das gegen Neuyork
später vertauscht wurde. Neuerdings hat diese Gesellschaft
auch Fahrten nach Boston, Halifax und nach Antwerpen und
Havre eingerichtet. Bon letzteren beiden Plätzen werden
namentlich Güter und Passagiere geholt, die nach Amerika
befördert werden sollen.
Die White-Star-Line, erst 1870 gegründet, hat sich
schon einen sehr guten Namen gemacht. Ihre Dampser
sind sofort an der eigentümlichen Bauart und den vier Ma-
sten kenntlich. Bis jetzt sind erst 7 Dampfer in Dienst ge-
stellt, die alle auf Neuyork gehen, und durch ihre prächtige,
luxuriöse Einrichtung — man brennt auf ihnen z. B. Gas —
die Dampfer der übrigen Linien in Schatten stellen. Die
sieben Steamer von 3700 bis 4200 Tonnen haben zusam-
men einen Gehalt von 27,000 Tonnen.
Die National-Steamship-Company, Liverpool-
Neuyork, Queenstown anlaufend, verfügt über 12 Dam-
pfer, die namentlich auf den Gütertransport eingerichtet sind,
von denen aber 6 London zum Ausgangspunkt nehmen und
Havre anlaufen.
Die Cnnard-Linie, die älteste von allen, die den er-
sten regelmäßigen Dampferdienst nach den Vereinigten Staa-
ten errichtet. Eduard Cuuard aus Halifax und die Gebrüder
Mac Jver aus Liverpool begründeten 1840 das Unterneh-
men, welches sich auf vierzehntägige Fahrten zwischen Liver-
Pool einerseits und Neuyork und Boston anderseits beschränkt.
Erst 1848 wurden wöchentliche Dampfer eingerichtet. Die
Gesellschaft verfügt jetzt über 45 Dampfer verschiedener Grö-
und seine Dampferflotte.
ßen, die nach Neuyork, Westindien und dem Mittelmeer (bis
Alexandria) gehen.
Die Allan-Linie, 23 Dampfer von zusammen 35,000
Tonnen, besteht seit 16 Jahren und fertigt wöchentlich zwei
Schiffe nach Quebec ab, alle vierzehn Tage eins via Hali-
fax nach Norfolk und Baltimore. Dieser Gesellschaft gehö-
ren auch die Dampfer, die von Shields nach Drontheim
und von Glasgow nach Quebec fahren.
Die Pacific-Steam-Navigation-Company, die
größte Dampfergefellschaft Englands, hat 39 große Dam-
pfer auf dem Wasser und 15 im Bau begriffen, zusammen
54 Dampfer von 105,751 Tonnen Gehalt. Die Com-
pagnie wurde 1840 für den Handel nach der pacisifchen
Küste Amerikas gegründet, erhielt Staatsuuterstützung und
beförderte mit zwei kleinen Dampfern die Post zwischen Valpa-
raiso und Panama. Aber wie sehr ist dies Unternehmen
gewachsen! Von Januar 1873 ab werden wöchentlich
Dampfer nach der Küste des Stillen Oceanes abgehen. Von
dort bringen ihre Fahrzeuge Baumwolle, Alpaca- und Schaf-
wolle, Kupfer, Zinn, Natronsalpeter, Droguen zurück.
Die West-Judia- und Pacific-Steamfhip-Com-
pany besteht seit neuu Jahreu und besitzt jetzt 13 Schrauben-
dampser, die von Liverpool nach Westindien und Mexico gehen.
Sie importiren vorzugsweise Baumwolle, Kaffee, Wolle,
Cacao, Indigo, Cochenille, Chinarinde und den meisten west-
indischen Taback.
Auch der Dampferverkehr mit der afrikanischen Westküste
wird von Liverpool aus durch zwei Gesellschaften besorgt.
Es sind dies die British and Asrican-Steam-Navi-
gation-Company und die African-Steamfhip-Com-
pany, deren jede monatlich einen Dampfer absendet. Diese
laufen an: Madeira, Teneriffa, Sierra Leone, Monrovia,
Cap Palmas, Half-Jack, Cape Coast Castle, Accra, Jellah
Coffee, Lagos, Benin, Bonny, Fernando Po, Alt-Calabar
und verkehren durch kleine Zweigdampfer mit Neu-Calabar,
Braß, Ozobo.
Außer diesen großen Gesellschaften befördern noch einzelne
Unternehmer Dampfer nach überseeischen Gegenden. So
die Firma „Alfred Holt" nach China und Japan, „Lamport
und Holt" nach Brasilien und der argentinischen Republik.
Australien ausgeuommen steht in der That Liverpool mit allen
wichtigen Häsen im directen und regelmäßigen Dampferverkehr.
Die Schnelligkeit der Fahrten anlangend haben die Li-
verpooler Dampfer sich immer ausgezeichnet. Allen voran
stehen die ueueu schönen Steamer der White-Star-Line.
In den ersten vier Monaten dieses Jahres legten sie die
Uebersahrt durchschnittlich in 9 Tagen zurück. Eine Durch-
schnittstabelle der während der stürmischen ersten Hälfte
im Februar 1872 von Liverpool via Queenstown nach
Neuyork gemachten Reisen ergiebt für die verschiedenen Linien :
White-Star-Line 10 Tage 9 Stunden 35 Minuten.
Cuuard-Liuie 12 „ 3 „ 8 „
Jnman-Linie 12 „ 9 „ 35 „
National-Linie 14 „ 17 „ 35 „
Vergleichsweise sei noch erwähnt, daß unsere großen deut-
schen Dampfergesellschaften hinter den großen Liverpooler
Compagnien nicht zurückstehen. Der norddeutsche Lloyd
in Bremen hat gegenwärtig 21 transatlantische Dampfer
auf dem Meere, die nach Neuyork, Baltimore, Neuorleaus
und Westindien gehen; nicht weniger als 12 neue Dampfer
sind im Bau begriffen. Dazu kommen noch 30 kleinere Dam-
pfer, welche die Schifffahrt nach London, Hull, Leith, Norder-
ney, Helgoland, Antwerpen, Rotterdam und Hamburg ver-
feheu.
.. . i-'.,i
Aus allen Erdtheilen.
367
Aus allen Erdtheilen.
Strömungen im Mittelländischen und Schwarzen Meere.
Das Mittelländische Meer hat bekanntlich nur eine einzige
oceanische Eingangspforte, die Straße von Gibraltar, zwi-
schen den „Säulen des Hercules". Durch diesen schmalen Sund
dringt aus dem Atlantischen Ocean eine starke Strömung in
jenes Binnenmeer nach Osten, manchmal mit wechselnder Rich-
hing; sie ist aber so entschieden, daß sie durch die Aequinoctial-
stürme weder beschleunigt noch verzögert wird. Man nimmt
an, daß diesem unablässigen Einströmen atlantischen Wassers
eine Unter st römung entspreche, welche einen bedeutenden
Theil desselben wieder hinausführe. Den Beweis dafür glaubt
man in der beglaubigten Thatsache zu finden, daß ein Schiff,
welches im Jahre 1712 zwischen Tarifa und Tanger [in den
Grund geschossen wurde, einige Tage später etwa fünf Stunden
weiter westlich bei Tarifa auf den Strand trieb, also in einer
dem Oberflächenstrome ganz entgegengesetzten Richtung. Es wird
auch darauf hingewiesen, daß ein englisches Fahrzeug, welches
bei Ceuta, also an der afrikanischen Seite, Schiffbruch litt, wei-
ter westlich und zwar gleichfalls bei Tarifa, alfo an der euro-
päifchen Küste, ans Land geworfen wurde.
Ueber das Wesen der Strömungen in der Straße von
Gibraltar find die Hydrographen noch nicht zum sichern Ab-
fchluß gelangt. Dasselbe war bis in die allerneueste Zeit mit
jenen im Bosporus und in den Dardanellen der Fall.
Wir wissen, daß die mediterraneische Strömung, welche von
Westen her der afrikanischen Nordküste und dem syrischen und
kleinasiatischen Gestade entlang bis über Rhodus hinaus zieht
und dann zusammentrifft mit der Strömung, welche aus dem
Schwärzen Meere durch den Bosporus und die Dardanellen ins
Aegäifche Meer fluthet; diese führt dem Mittelmeere eine be-
trächtliche Wafferfülle zu. Eben jetzt, im October 1872, ist nun
ein wichtiges hydrographisches Factum ermittelt worden. Das
englische Fahrzeug „She'arwater" hat im Laufe des verflossenen
Sommers einige Strecken der Südküste des Schwarzen Meeres
aufgenommen und auch den Strömungen Aufmerksamkeit zuge-
wandt. Es wurde ermittelt, daß die außerordentlich rasche Strö-
mung, welche von Norden her nach Süden sowohl durch den
Bosporus wie durch die Dardanellen strömt, lediglich eine
Oberflächenströmung ist. Schon bei einer Tiefe von 20
Faden (120 Fuß) ergab sich beim Lothen, daß eine Unter-
strömung vorhanden ist, welche mit ganz außerordent-
licher Stärke in das Schwarze Meer dringt. Um diese
Stärke genau zu bestimmen, wurde ein besonderer Apparat ver-
fertigt und an den Booten des Schiffes befestigt. „Zu allge-
meinem Erstaunen," fo fchreibt ein Berichterstatter des „Levant
Herald", „wurden dann an manchen Stellen die Boote der
Oberflächenströmung entgegen getrieben und zwar mit einer
Schnelligkeit, welche jene der zum Sherwater gehörenden Dampf-
fchaluppe übertraf." _
Japainsche Urtheile über die Civilisation des Abend-
landes.
Europäer und Nordamerikaner sind gewohnt, die Völker in
den fremden Erdtheilen nach unseren Anschauungen und Be-
griffen zu beurtheilen. Wir sind ja so entsetzlich eingebildet auf
das, was man als christlich-abendländische Civilisation bezeichnet!
Wer jedoch unbefangen ist und diefelbe vom Standpunkte der
Völkerkunde betrachtet, weiß sehr wohl, mit wie großen Man-
geln dieselbe behaftet erfcheint. Ist sie doch nicht einmal im
Stande, das arge Chaos, in welches die ganze christlich-abend-
ländische Welt versunken ist, zu bannen. Und wir wollen an-
deren außereuropäischen Nationen uns als Muster hinstellen! In
der äußern Civilisation haben wir es allerdings bewunderns-
würdig weit gebracht, in Betreff der Moral, der praktifchen Ethik
sieht es dagegen bei uns abendländischen Leuten, im Großen und
Ganzen genommen, sehr dürstig und keineswegs erfreulich aus.
Sicherlich haben wir keine gegründete Ursache zu Dünkelstolz
und Hochmuth Anderen gegenüber.
Es ist belehrend und durchaus wohlgethan, daß uns von
Leuten, welche den Culturvölkern Asiens angehören, einmal der
Spiegel vorgehalten wird, in welchem wir uns beschauen können.
Sie lernen europäische Sprachen, lesen unsere Bücher und Zei-
tungen, besuchen unsere Länder; sie haben dasselbe Recht, uns
scharf zu beurtheilen wie wir sie. Die Missionäre in Indien
haben ihre liebe Roth, der scharsen Dialektik der gelehrten Hin-
dns gegenüber Stand zu halten, und nun treten auch Japaner
hervor, kluge, scharfsinnige Menschen, welche Schilderungen über
die Zustände derjenigen Völker entwerfen, bei welchen sie län-
gere Zeit verweilen. Bekanntlich halten in Nordamerika und
Europa sich Hunderte dieser strebsamen Asiaten auf; sie wollen
lernen und beobachten. Japan hat, gleich uns, seine Tages-
presse und die Zeitungen bringen Berichte aus der Feder ihrer
Korrespondenten im Abendlande. Diese kritisiren unsere Civili-
sation und stellen dieselbe der ihrigen gegenüber.
Seit etwa einem Jahre erschienen in 'Aeddoer Blättern
Essays über die Vereinigten Staaten; sie sind von japanischen
Studenten geschrieben worden, welche längere Zeit in der Hei-
math des Humbug sich aufhielten. Sie fanden dort Gelegenheit
vollauf, ein Staatswesen und eine Regierung zu beobachten, die
beide rottefaul und durch und durch von Corruption zerfressen
find. Man könne dort recht deutlich sehen, „in welchen schreck-
lichen Abgrund die Menschen versinken, wenn sie Christen und
civilisirt werden."
Die Abhandlungen sind kürzlich in japanischer Sprache als
Buch erschienen unter dem Titel: „DieJapaner in Amerika."
Wir finden in der „Overland China Mail" vom 31. August
Auszüge aus demselben. Die Verfasser wollen als vollständig un-
wahr und durch Augenschein wie durch Thatsachen widerlegt die
Behauptung der Abendländer zurückweisen, daß Christenthum und
Fortschritt gleichbedeutende Begriffe feien. Da die Europäer sich
fo scharf über die religiösen Verhältnisse der Japaner aussprä-
chen und das Bekehrungswerk so eifrig trieben, so sei es ange-
messen, daß man von japanischer Seite auch einmal zusähe, wie
es denn mit Anstand und Tugend im christlichen Amerika be-
stellt fei. Man müsse nach dem urtheilen, was man vor Augen
habe, und unbefangen beobachten, was man fehe, und das ge-
reiche den Amerikanern gewiß nicht zur Ehre. Die Japaner
schreiben wörtlich über die Christen, welche sich in nicht enropäi-
schen Erdtheilen aufhalten: „Jedermann weiß, daß das Chri-
stenthum außerhalb Europas nur unbedeutende Fortschritte ge-
macht hat, und das erklärt sich auch, wenn wir in Erwägung
nehmen und fehen, daß diese Christen in fremden Ländern sich
viel fchlechter aufführen als die Heiden oder auf jeden Fall nicht
besser als diese. Vor allen Dingen sind sie Sklaven des Mam-
mon, sie besuchen schlechte Häuser, schwören bei jeder Gelegen-
heit und fluchen, insultiren die Landeseingeborenen, stoßen und
schlagen dieselben; sie benehmen sich fo herrisch und übermüthig
wie Julius Cäfar. Das Alles gefchieht in der Regel weit mehr
an ihrem Sabbath als an den Wochentagen, denn an diefen
bekümmern sie sich um ihre materiellen Dinge." Die „China
Mail" bemerkt zu dieser Stelle, daß sie auch auf die Europäer
in Japan gemünzt sei, welche durch ihre ganze Aufführung und.
ihr Beifpiel Alles verdürben, was etwa die Missionäre zu Gun-
sten des Christenthums ausrichten.
Die Verfasser geben willig zu, daß die Bewohner der Ver-
einigten Staaten sich durch Unternehmungsgeist und geschäftliche
Energie auszeichnen, aber sie feien ohne Sympathie, ohne wah-
ren Freimuth, ohne hochherzige Gefühle; sie mißachten die mensch-
liche Natur und wissen von ihrem Reichthum, wenige Ausnah-
368 Aus allen
mm abgerechnet, keinen andern Gebrauch zu machen als die
Peruaner, bevor die Spanier als Räuber in das Land derselben
kamen. Einige finden allerdings Geschmack an schönen Künsten,
Philosophie und Naturwissenschaften; manche sind auch wohl-
wollend und im gesellschaftlichen Verkehr ganz angenehm, aber
im Allgemeinen findet man an dergleichen keinen Geschmack,
und kann darin nicht mehr Schönheiten entdecken wie etwa ein
Wilder in den verwickelten Combinationen der musikalischen Har-
monie. Was die Religion anbelangt, so bezahlen sie das Geld
für einen Kirchenstuhl und, um den äußern Schein zu bewah-
ren, gehen sie in die Kirche, wo sie eine langweilige Predigt
anhören; aber ihre echten und richtigen Kirchen das sind ihre
Bankhäuser, ihre wahre Bibel ist das Hauptbuch und ihr Gott
ist nicht der allmächtige Gott, sondern der allmächtige Dollar."
Die „China Mail" meint, auch die Gesellschaft in England
werde einem „intelligenten Heiden" ein sehr ergiebiges Feld für
verächtliche Nichtwerthschätzung darbieten; auf jeden Fall müsse
man den Japanern es Dank wissen, daß sie uns sagen, wie wir
ihnen vorkommen.
Weizen in Californien.
Diese Getreideart ist Haupterzeugniß jenes gesegneten Lan-
des und der Goldertrag wird bald völlig von demselben über-
flügelt fein. Der Ueberschuß der Ernte des Jahres 1872 stellt
sich auf mindestens 12,000,000 Centner, was doppelt so viel ist
als der Export irgend eines frühern Jahres. Im Juli wurden
400,000 Säcke nach auswärts verladen, im August schon mehr
als 1,000,000 Sack; zu Anfang Septembers lagen in San
-Francisco 31 große Schiffe, um Weizen einzunehmen, der tag-
lich aus dem Innern in Massen zugeführt wurde. Die bis
Ende August exportirten Mengen hatten dem innern Lande
fchon 41/2 Millionen Dollars eingebracht, und auf Notirungen
aus Liverpool hin stieg der Centner um 10 Cents. Es unter-
liegt keinem Zweifel, daß die californischen Farmer für ihre
diesjährige Ernte reichlich 20,000,000 Dollars einnehmen. Sie
betreiben den Anbau allerdings in großartiger Weise. So be-
finden sich z. B. in dem ungemein fruchtbaren San-Joaquin-
thale Farmen, welche in diesem Jahre 36,000, 23,000 und
17,000 Acres (zu etwa anderthalb Magdeburger Morgen) mit
Weizen bestellt hatten, und man nimmt den durchschnittlichen
Ertrag auf denselben für den Acre auf 40 Büschels an; in
einigen Theilen stellte er sich sogar auf 60 Büschels, und der
Gesammtertrag dieses einen Landgutes hat 1,440,000 Büschels
betragen. An der einen Seite hat dasselbe eine Grenze von 17
englischen Meilen. Das Pflügen wird von zehn Viergespannen
besorgt, welche zehn sogenannte Gangpflüge ziehen; jeder der-
selben besteht aus vier Pflügen. Bei der Ernte verwendet man
20 Mähemaschinen. Es würden 40 Schisse von mittlerer Träch-
tigkeit erforderlich fein, um den Ernteertrag jener einen Farm
nach einem auswärtigen Markte zu schaffen.
ch * #
— Wenn es mit der Anlage von Telegraphen in der
bisherigen Weise seinen Fortgang nimmt, so wird nach zehn
Jahren keine Lücke mehr vorhanden sein. Mit Australien stehen
wir nun auch in directer Verbindung; das schwierige Problem,
ein Kabel auf dem Korallenboden der See zwischen Java und
Nordaustralien zu legen, ist gelöst. Eben jetzt ist eine Linie
aufs Tapet gebracht worden, welche von Natal an der Ostküste
der Eapregion nach Mauritius im Indischen Ocean geführt
werden soll. Von dort will man das Kabel nach Aden legen,
so daß es dann an die Linie einerseits nach Europa, andererseits
Erdtheilen.
nach Ostindien, dem Archipelagus, Australien, China, Japan,
dem Amur ic. Anschluß hätte.
— Die Missionäre in Indien haben eine Statistik ver-
öffentlicht. Das Land hat etwa 180,000,000 Einwohner. Da-
von waren 1871 „Christen und Jnquirers" (das Wort be-
deutet: Frager, Untersucher, Prüfer; es find also wohl Leute
gemeint, die noch in einer Vorbereitungsstufe sich befinden, ehe
man sie taufen kann) in:
1851. 1861. 1871.
Bengalen . . . . 14,778 20,704 52,000
Nordwestprovinzen 1733 3832 7191
Audh ..... — 225 628
Pendschab. . . . 98 1136 1782
Centralindien . . 16 212 1020
Madras . . . . 76,483 109,820 144,703
Bombay . . . . 638 2648 4173
93,739 138,577 214,197
Wenn man erwägt, daß die Missionen seit länger als hun-
dert Jahren arbeiten, daß die Sendlings einer Anzahl von Kir-
chen und Secten es an Eifer nicht fehlen ließen, dann erscheint
die Ziffer der Bekehrten und Jnquirers sehr gering. —
— Der Calcuttaer Korrespondent der „Times Mail" beklagt,
daß die Ritualisten und die Evangelicals in Indien ein-
ander bös in den Haaren liegen und fehr fchnöde behandeln.
Der kirchliche Scandal, an welchem auch in Europa jeder ver-
ständige Mensch Aergerniß nimmt, hat nun auch, wie eine
Seuche, die anglicanischen Christen am Ganges ergriffen, und
die „Heiden" verfehlen sicherlich nicht, sich darüber lustig zu
machen. Die Geistlichen der Religion der Liebe behandeln ein-
ander schnöde genug. Die Evangelicals in dem Sprengel von
Calcutta haben eine Denkschrift veröffentlicht, in welcher sie den
Bischof bitten, die Kirche von Lehren und Gebräuchen zu reim-
gen, welche durch die Reformation abgeschafft worden seien.
Die Ritualisiert thäteu Unrecht nicht mit Absicht, fondern weil
sie verblendet seien. Der Ritualist Caplan Mathews ist dar-
über ärgerlich und nennt die Denkschrift „ein schwarzes Ding,
welches in die Classe der giftigen Schlangen gehöre", und
ergeht sich in Betrachtungen über die „halbgebildeten Fanatiker,
welche er verachte".
— Der König von Kambodscha, welchen die Franzosen
unter ihre Protection gestellt, d. h. zum Vasallen gemacht haben,
wollte sich auch einmal die Welt ansehen. Er besuchte im Juli
Hongkong und im August auch Manila, die Hauptstadt der
Philippinen. Dort wurde er vom spanischen Generalgouverneur
mit allen königlichen Ehren empfangen. Die Stadtbehörde ver-
anstaltete einen glänzenden Ball, auf welchem Seine Majestät
voll staunender Bewunderung war über den Kranz fchöner fpa-
nischer Damen, die ihm sehr gefielen. Er trug europäische
Kleidung und den Orden der Ehrenlegion, mit welchem er
noch vom Kaiser Napoleon bedacht worden ist.
— Ein zu Philadelphia erscheinendes großes Blatt, der
„Ledger", klagt bitter darüber, daß derOpiumgenuß in den
Vereinigten Staaten in bedenklicher Weise um sich greife,
namentlich in den westlichen Staaten. Die Legislatur des Staa-
tes Kentucky hat sich deshalb veranlaßt gesehen, ein Gesetz zu
geben, von welchem sie wenigstens eine Verminderung des Uebels
hofft. Dasselbe lautet: „Wenn zwei achtbare Bürger eidlich
bekräftigen, daß eine Person, welche dem Genüsse des Opiums,
des Haschisch oder einer andern verderblichen Drogue fröhnt,
unfähig geworden ist, sich angemessen aufzuführen und zu be-
tragen, dann kann eine solche Person in Hast gesperrt werden
wie ein Trunkenbold oder ein Wahnsinniger."
Inhalt: Aus der Republik Neugranada. II. (Mit fünf Abbildungen.) — Von Kalifornien nach Japan. Von Gustav
Wallis. II. — Uebersichtliches in Betreff der Entdeckungen Livingstone's. — Der Hafen von Liverpool und seine Dampfer-
flotte. — Aus allen Erdtheilen: Strömungen im Mittelländischen und Schwarzen Meere. — Japanische Urtheile über die Civili-
sation des Abendlandes. — Weizen in Kalifornien. — Verschiedenes.
Herausgegeben von Karl Rndree in Dresden. — Für die Redaction verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
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Band XXII.
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Mit besonderer Serücksicktigung äer Anthropologie und Gtlinologie.
In
Verbindung mit Fachmännern und Künstlern herausgegeben von
Karl Andree.
December Monatlich 4 Nummern. Halbjährlich 3 Thlr. Einzelne Nummern, soweit der Vorrath reicht, 4 Sgr. 1872.
Aus dem Volksleben der Russen.
Straßen und Eisenbahnen. — Tarantassen. — Ein Dorfdoctor. — Ein schlauer Untersuchungsrichter. — Dorfpopen. — Aber-
glaube. — Kirchen. — Die Bazare. — Traktir und Schänke.
Das Leben und Treiben des russischen Landvolkes unter-
scheidet sich wesentlich von dem des übrigen Europa. Es
hat einen ganz eigentümlichen Anstrich und bietet manche
bemerkenswerthe und interessante Seiten dar. Seit der
Bauernemancipation haben sich neue Zustände angebahnt,
die Landgemeinden befinden sich, wie Rußland überhaupt,
in Uebergängen, und es wird lange Zeit vergehen, bevor die
Verhältnisse normal werden.
Alle Beiträge, welche uns einen Einblick in das Volks-
leben der Russen gewähren, sind willkommen und finden
eine günstige Aufnahme, namentlich wenn sie von Männern
herrühren, die längere Zeit im Lande gelebt haben und die
Volkssprache redeten. Das gilt von einem Engländer, Her-
bert Barry, der vor einigen Monaten „Gemälde aus dem
russischen Leben" veröffentlicht hat (Iwan at home or pic-
tures of russian life). Er war länger als 20 Jahre als
Bergingenieur und Hüttendirector in mehreren Gonverne-
ments thätig und kam mit allen Elasten in Berührung.
Sein Werk hat er dem Kaiser von Rußland gewidmet, und
wir glauben seiner Versicherung, daß seine Schilderungen
wahrheitsgetreu sind. Wir geben im Auszuge in dem Nach-
stehenden einige derselben.
Im Verlaufe der letztverflossenen zehn oder zwölf Jahre
hat man im russischen Reiche den Bau der Eisenbahnen mit
solchem Eifer betrieben, daß heute schon etwa 2000 deutsche
Globus XXII. Nr. 24. lDccember 1872.)
Meilen Schienenwege im Betriebe sind. Auf manchen
Strecken ist der Dienst recht gut und man hat, zum Bei-
spiel auf der Bahn zwischen St. Petersburg und Moskau,
für die Bequemlichkeit der Reisenden sehr gut gesorgt, auch
sind die Fahrpreise nicht zu hoch gestellt. Man thut sehr
wohl daran, daß man sich nicht auf so rasche Rennfahrten
einläßt, wie in England oder Nordamerika, es bleibt aber
ein Uebelstand, daß vielfach zu lange an manchen Stationen
gehalten wird; der Russe möchte wo möglich bei jeder ge-
mächlich sein Glas Thee trinken. Ueberhaupt wird mit
dem kostbaren Gute, der Zeit, nicht so sehr hausgehalten,
wie in Mitteleuropa, wo die Menschen vor Hetzen, Rennen
und Jagen kaum noch zu sich selbst kommen. Es trifft
sich gar nicht selten, daß ein Bauer (Mufchick), welcher einen
morgen um 10 Uhr früh abgehenden Zug benutzen will, sich
schon heute Nachmittags an der Station einfindet; das lange
Warten verschlägt ihm nichts, er kommt ja doch immerhin
schneller und bequemer an Ort und Stelle, als wenn er
eine Kibitke oder Tarantasse benutzen müßte.
In dem weiten russischen Flachlande ist es aus großen
Strecken mit den Wegen noch sehr schlecht bestellt, und an
macadamisirten Landstraßen herrscht ein empfindlicher Man-
gel. Barry, der viel in allen Landestheilen umhergereist
ist, fragt, was ist eine russische Landstraße? Ein breiter,
verödeter Streifen, der sich durch Felder oder Steppen zieht;
manchmal hat er zu beiden Seiten einen schmalen Graben
und ist allemal sehr breit, weil ein Theil des Weges gewis-
47
37Ö Aus dem Volk-
sermaßen brach liegt, während der andere Theil benutzt wird.
So ist es möglich, daß der wandernde Bauer doch nicht alle-
mal im Schlamme stecken bleibt.
Eine Fahrt in den mittleren Gouvernements ist wäh-
rend der Frühlings- und Herbstmonate etwas sehr Lästiges
und Unangenehmes. Die sogenannte Straße ist voll von
Sümpsen, Pfützen und Schlaglöchern, und die Brücken sind
vielfach alles Andere als sicher. Man wird in derTaran-
tasse hin und her geworfen, und wenn man sich umsieht,
erblickt man nichts als entweder weite Flächen oder dichten
Wald. Man ist in eine Einöde versetzt; da und dort ge-
wahrt man Telegraphenstangen oder einsame Birken. Von
sorgfältig gehaltenen Hecken und behaglich aussehenden Häu-
sern keine Spur. Die Wohnungen nehmen sich aus wie
ben der Aussen.
Holzkästen, und sehen grau und verwittert aus. Alles ist
unschön, abstoßend, langweilig. In vielen Gegenden sind
die Wege so abscheulich, daß der Wagentreiber oder Kutscher
sich so setzt, daß die Füße seitwärts hinabhängen; so kann
er an sehr schwierigen Stellen rasch hinausspringen.
Der Russe sahrt fast nie nach der Linie gerade aus, son-
dern er folgt der Spur in Windungen. Sein Gesang ist
so melancholisch, daß derselbe völlig zu der traurigen Gegend
und der langweiligen Fahrt paßt. Während derselben be-
gegnet man dann und wann Karrenkarawanen, die alle ein-
ander gleich sehen und die trostlose Monotonie nicht unter-
brechen. Manchmal werden die Pferde unruhig, sie bocken
so zu sagen, und reißen das Gefährt, in welchem man ein-
gesperrt sitzt, hin und her; dann geht es ohne Beulen und
Eine T
Quetschungen nicht ab. Hier und da reißt ein Mnschick den
Ackerboden mit einem hölzernen Pflug auf, und auch er ist
nicht etwa eine ansprechende Erscheinung.
Der Reisende kann nie bestimmen, wann er sein Ziel
erreichen werde; an einem Tage legt er vielleicht 100 und
mehr Werst zurück, an einem andern kaum 20. Nicht sel-
ten habe ich helfen müssen, meine Tarantasse aus dem
Schlamm herauszuheben, und mehr als einmal war sie im
Morast der Straße nahezu versunken. Man begreift sehr
wohl, daß der Treiber nicht selten eine solche Landstraße ver-
läßt und quer feldein fährt. Er weiß, daß weiterhin auf
der Straße der Schlamm so hoch liegt, daß an ein Durch-
kommen gar nicht zu denken ist.
Als ich einst nur noch zwei Werst von einer Stadt ent-
sernt war, stand eine Schildwache am Wege, die uns ein
Halt gebot und uns zurief: Auf diesem Wege könnt Ihr
nicht in die Stadt, die Straße ist nicht gut. — Der Mann
erzählte, daß am Morgen vorher die Post in einer vierspän-
nigen Tarantasse abgeschickt wurde, aber Tarantasse, Pferde,
Postillon, das Felleisen, die Briefe, Alles sei im Moraste
verloren gegangen. Ja, sagte er zum Schlüsse, der Weg
ist wirklich sehr schlecht. — So mußte ich denn einen Um-
weg von etwa 30 Werst durch die Felder machen, um die
Stadt zu erreichen.
Unterwegs trifft man Posthäuser, die etwa 20 Werst
aus einander liegen; dort kann man die Pferde wechseln.
In dem mit Kalk übertünchten Zimmer findet man einen
Tisch, ein paar Stühle und eine Holzbank, manchmal auch
einen Samowar, mit heißem Wasser, damit man sich Thee
bereiten könne.
• • «Ug'RhH ^rrfV^p- i,* » .,
MÄNKWMKK mmm msmamm W
Aus dem Volksleben der Russen.
371
Also eine solche Reise ist Uberaus langweilig und lästig,
aber Menschen und Vieh erfreuen sich der größten Sicher-
heit. Ich glaube, daß ein Kind ungefährdet ganz Rußland
durchreisen kann, und ein Fremder, anch wenn er von der
Landessprache nichts versteht, kann das weite Reich durch-
wandern und wird schwerlich darüber klagen dürfen, daß
man ihn betrogen habe.
In den russischen Landgemeinden lernte Barry manche
eigenthümliche Leute kennen, welche ihr Wesen in einer Art
treiben, die im civilisirten Europa doch etwas Ausfallendes
haben würde.
Für die beträchtliche Anzahl von Fabrik- und Hütten-
arbeiten: war ein Spital hergerichtet, in welchem sich durch-
schnittlich 30 bis 40 Kranke befanden. Der Arzt, welchen
Barry vorfand und den er seinerseits nicht beseitigen konnte,
hatte auch im Dorfe die Praxis zu besorgen; die Apotheke
besaß ein Deutscher; Peter der Große hat verordnet, daß
kein Russe einer solchen vorstehen solle; seine Unterthanen
seien dafür zu tölpelhaft. Woher der Arzt seinen Doctor-
grad erhalten hatte, wußte Niemand, aber Doctor nannte
er sich. Seinen vier Geholfen konnte man nicht nachsagen,
daß sie viel von der Arzneiwissenschaft verständen, aber auf
das Zahnausziehen und das Branntweintrinken verstanden
sie sich ganz vortrefflich.
Der Doctor selbst war gewiß ein sehr miserabelerArzt,
aber er hielt sich sür einen großen Musiker. Eines Tages
Russisches Haus im Norden.
kam ein Bauer zu Barry; der Mann hatte den Arm gebro-
chen. Auf die Frage, weshalb er nicht die Hülfe des Arztes
in Anspruch nehme, erzählte er, daß er gerades Weges von
demselben herkomme. „Als ich zu ihm kam, tanzte er mir
mit einer Violine entgegen, und als er sah, daß ich meinen
Arm mit einem Tuch umwickelt hatte, spielte er ein Stück-
chen auf seiner Geige und fragte.- Nun, was ist denn das
mit Deinem Arme? — Er ist gebrochen, Wassili Wassilje-
witsch. — Dabei spielte er in einem fort, und als er sagte:
Zeig doch mal her, — da habe ich ihm geantwortet: Nein,
ich dachte, ich käme zu einem Doctor und nicht zu einem
Hanswurst!"
Eine andere Figur. Gospodin Iwan Wolkoff war
ein Stutzer, der sich recht aufdonnerte. Er trug stets Glanz-
Handschuh uud einen Cylinderhut, lebte herrlich uud iu Freu-
den, trank die besten Weine und hatte einen Jahrgehalt von
800 Rubeln, wovon ihm die Hälfte vorweg abgezogen wurde,
weil alte Schulden zu bezahlen waren.
Dieser Mann war Richter. Er hatte als solcher die
Untersuchungen über Diebstahl :c. zu führen uud alle der-
artigen Proceffe für den Ortsrichter spruchfertig zu machen,
er faßte die Berichte so ab, daß ein Schuldig oder Unschul-
dig je nach seinem Belieben ausgesprochen werden mußte.
Es war also kein Wunder, daß in einer Gegend, wo Dieb-
stähle häufig vorkommen und wo man der Justiz nicht genau
auf die Finger sieht, Gospodin Iwan Wolkoff sich ganz er-
kleckliche Einnahmen zu verschaffen wußte. Er ließ auch
mit sich handeln. Wenn ein Mann ihm zehn Rubel gab,
47 *
372 Aus dem Volke
war es gut, konnte er nur drei oder zwei geben, war es
auch gut.
Wolkoff amtirte stets in glänzender Uniform und seine
vergoldeten Knöpfe mit dem kaiserlichen Adler waren immer
blitzblank. Er wußte den Muschicks zu iniponiren. In
Bezug auf das Geschäft hatte er eine sinnreiche Vorkehrung
getroffen. Er schrieb Alles nieder; wenn er einen Zeugen
verhörte, standen auf einem gebrochenen Papierbogen die
Fragen auf der einen Hälfte und die Antworten auf der an-
dern. Der größte Theil der Leute, welche verhört wurden,
konnte weder lesen noch schreiben, und der Untersnchnngs-
richter hatte deshalb freien Spielraum, die Protokolle so ab-
den der Russen.
zufassen, wie es ihm gutdünkte. Der Zeuge setzte seine drei
Kreuze unter dasselbe und bestätigte damit, daß er den In-
halt als richtig anerkenne.
Manche dieser Protokolle sind in der That sinnreich;
hatte Wolkoff einen Mann im Verhör, der ihm nichts ge-
zahlt, so machte er Schwarz aus Weiß und umgekehrt. Ein
Bauer wurde auf frischer That ertappt, als er Eisen gestoh-
len hatte. Aus dem Protokoll ergab sich, daß gar kein
Eisen gestohlen worden sei, der Rost habe dasselbe auf-
gefressen!
Die Bergleute stahlen oftmals Stabholz und Leiterspros-
sen, um diese als Brennholz zu verwenden. Wolkoff ent-
Russischer '
schied, daß das Holz vom Regen weggeschwemmt
worden sei!
Einem Manne war seine Uhr abhanden gekommen; man
fand sie bei einem Bauer, der nicht nachweisen konnte, daß
sie auf ehrliche Weise in seine Hände gekommen sei/ Wol-
koff entschied: Die U'hr ist durch des Besitzers Fahr-
lässigkeit durch des Bauern Schornstein in dessen
Wohnung hinabgefallen.
Man fand gestohlene echte Banknoten bei einem Manne.
Wolkoff entschied, es könne in der Sache nicht weiter vor-
gegangen werden, indem die Banknoten falsch seien. Natür-
lich nahm er sie, als zu consiscirendes Gut, an sich.
Aber Banknoten waren sein Verderben. Er wurde eines
schönen Tages dabei betroffen, daß er gefälschte Bank-
noten in Umlauf setzte, und es ergab sich, daß er mit einem
Falschmünzer unter einer Decke steckte. Da war es vorbei
mit dem Ehampagnertrinken und mit dem Rauchen von
Havanacigarren, und als er ins Gesängniß abgeführt wurde,
schnitt man ihm auch die vergoldeten Knöpfe ab.
*
* *
Der Pope ist im russischen Dorfe ein wichtiger Mann.
Insgemein sind seine Kenntnisse sehr dürftig und feine Ma-
nieren nicht jene der guten Gesellschaft; doch giebt es unter
Aus dem VoW
diesen Landgeistlichen auch da und dort unterrichtete Leute.
Herbert Barry kannte in der Ortschaft, neben welcher er
einer großen Fabrik vorstand, solch einen Popen, der Latei-
nisch und Griechisch verstand und sich in seinen jungen Iah-
ren in der Welt umgesehen hatte. Von seinen Collegen
unterschied er sich vortheilhast dadurch, daß er sich, so lange
seine Gesundheit es erlaubte, gern mit dem Unterrichte der
Dorfjugend befaßte; sie lernte Lesen, Schreiben und Rechnen
von ihm, auch erzählte er ihr oft, wie es in der weiten Welt
aussehe.
Aber auch dieser Pope Nathanael war nicht frei von ganz
übermäßiger Liebe zum Branntweintrinken, das er, wie fo
viele seiner Amtsbrüder in Rußland, nun einmal nicht las-
sen konnte. Der Wodka war ihm zuletzt in Mark und Bein
gedrungen und aus den vom Podagra gequälten Beinen in
Brust und Kopf gestiegen. Er sagte selbst, daß es ihm sei,
als ob sein ganzer Körper brenne, und nur wenn er stunden-
lang in einem kalten Bade war, verspürte er einige Linderung.
In einem solchen hat er denn auch seinen Geist aufgegeben.
Pope Peter, der zweite Ortsgeistliche, war ein ganz an-
derer Mann; ein lustiger, unwissender, stupider Patron, der
gern Lärm machte und leidenschaftlich gern Karten spielte.
Wenn höhere Beamte das Dorf besuchten, hatte er seine
lustigen Tage, denn sie kamen gern in sein Haus und es
ging hoch her. An einem Sonnabend Morgen setzte er sich
mit seinen Gästen an den Spieltisch zum Preserence, und
dabei war man so erpicht, daß er das Läuten der Vesper-
glocke ganz und gar überhörte. Der Küster kam und rief.-
„Komm doch zur Kirche, die Leute warten auf Dich!" —
„Ganz wohl, Iwan, ich will kommen!" Er legte seine
Karten nieder und bat seine Gäste zu warten, bis er wieder
da sei; dann könne das Spiel wieder ausgenommen werden.
Und so ging er zur Kirche, verrichtete den Gottesdienst, kam
zurück, nahm seine Karten auf, trank ein Glas Branntwein
und sprach: „Na, das hat mir die Kehle trocken gemacht."
Und nun wurde die ganze Nacht hindurch gespielt, denn der
Tschinownik hatte in seinem Bezirke gute Geschäfte gemacht.
Die Bauern mußten gehörig blechen, und so fehlte es dem
Herrn Beamten nicht an Geld zum Spielen, und da Ge-
tränk im Ueberfluß gereicht wurde, auch nicht an guter Laune.
Das Spiel dauerte bis zum Montag Morgen und wurde
am Sonntage nur unterbrochen, wenn der Pope zum Kir-
chendienst abgerufen wurde.
Barry erzählt das aus eigener Erfahrung und bemerkt
weiter, daß der Pope Peter von Mein und Dein seltsame
Begriffe gehabt habe. Barry gab ihm einen Schein, wel-
cher ihm erlaubte, aus den Wäldern der Fabrik ein Mal
so und so viel Brennholz für sich zu holen. Er aber be-
nutzte den Erlaubnißschein sehr häufig, bis man hinter seine
Schliche kam; er hatte einen förmlichen Holzhandel ge-
trieben! —
Die Popen dürfen eigentlich keinen Taback rauchen und
öffentlich thun sie es auch nicht, aber in kleineren Kreisen
erlauben sie sich eineCigarre. „Es war ein eigentümlicher
Anblick, wenn man mehrere Popen am Tische sitzen sah, der
mit Flaschen und Gläsern besetzt war; ihr Haar hing lang
bis aus die Schultern herab, der lange Bart bis auf die
Brust, denn die orthodoxe Kirche erlaubt nicht, daß sie das
Haar kürzen. Sie trugen den weiten Popentalar und ein
großes Kreuz hing vom Halse herab. Sie tranken tapfer
und qualmten herzhaft. Einen geistlichen Eindruck machte
das gerade nicht."
*
* *
Unter dem Landvolk herrscht sehr viel Aberglauben.
Das Herrenhaus, welches Barry in dem Hüttenwerke be-
den der Russen. 373
wohnte, lag am Rande eines kleinen Sees. Als unser Ge-
währsmann an einem heitern Sonntage am Fenster stand,
sah er eine Anzahl von Leuten, welche eben aus der Kirche
kamen, und unter ihnen einen offenbar betrunkenen Mann,
der hin und her taumelte, aber doch seiner Sinne mächtig
war. Dieser bog plötzlich vom Wege ab und ging lang-
samen Schrittes in den See hinein, die Anderen blieben
stehen und sahen ruhig zu; kein Einziger machte den Ver-
such, ihn zurückzuhalten. Er ging immer weiter ins Wasser,
sank unter und verschwand. Barry war inzwischen hin-
untergegangen, ließ Netze herbeiholen und den Ertrunkenen
ausfischen. Die Polizei wurde herbeigeholt, um einen Fund-
bericht aufzunehmen, und dann wurde die Leiche den Ver-
wandten übergeben.
Wie kam es, daß der Mann ertrank? Die orthodoxen
Russen aller Stände tragen von frühester Kindheit an ein
kleines Kreuz, gewöhnlich an einer Metallkette, auf der Brust,
und wenn dasselbe verloren geht, muß es sofort durch ein
anderes ersetzt werden. Als nun jene Leiche untersucht
wurde, ergab sich, daß ihr das Kreuz fehlte, und die Bauern
sagten einstimmig: „Er ist ertrunken, weil er kein Kreuz
gehabt hat."
Der Fatalismus ist beim orthodoxen Volke so stark, wie
er nur bei einem hartgesottenen Mohammedaner sein kann.
Es war, so erzählt Barry, iu einem wenige Werst vom
Hüttenwerke entlegenen Dorfe Feuer ausgebrochen. Ich
eilte rasch hin, fand aber fchon die halbe Ortschaft in Flam-
men. Die Besitzer der bisher von denselben verschonten
Häuser schafften Habe und Vieh aus denselben ins Freie
und gingen dabei folgendermaßen zu Werke. Zuerst nahmen
sie die Heiligenbilder fort, nachher die Koffer, stellten diese in
die Mitte der Straße, hoben dann die Fenster aus, holten
Töpfe und Pfannen, setzten sich neben das Gerettete hin und
sahen ruhig zu, bis das Feuer auch ihre Häuser ergriff. An
Löschen dachten sie nicht, und als ich sie zum Eingreifen
aufforderte, weigerten sie sich; sie sagten: „Es ist so Got-
tes Wille." — Bei einem andern Brande war ich mit mei-
ner Feuerbrigade und Spritzen am Platze; die Frauen trugen
emsig Wasser herbei. Es war an einem Sonntag Abend,
und der Pope, welcher den Frauen Anweisung geben wollte,
so stark betrunken, daß er kaum auf den Beinen stehen konnte.
Als er mich begrüßen wollte, fiel er rücklings mit dem Hin-
terkopf auf einen Balken; als ich ihn aufheben wollte, sagte
eine Frau zu mir: „Laß das Schwein liegen; er ist an
dergleichen schon gewöhnt." Man sieht, wie nöthig es ist, das
Leben und Treiben dieser Dorfgeistlichen strenger zu über-
wachen, und es erklärt sich leicht, daß die Bauern vor ihren
Popen keinen Respect haben.
Der Glaube an den leibhaftigen Teufel ist überall ver-
breitet. Eines Nachmittags kam ein Bauer zu mir. Er
war ganz verstört, sein Gesicht leichenblaß, er zitterte am
ganzen Leibe und guckte unter die Tische. Dann sprach er:
„Herr, ich habe den Teufel gesehen; er treibt sein Wesen in
der Erzgrube bei meinem Dorfe, aber er kann nicht hinaus;
wir haben sie ganz umstellt."
„Das ist brav, Iwan; ich werde kommen und ihn ein-
fangen." Sofort ließ ich anspannen, gab dem Zitternden
ein Glas Branntwein, sprach ihm guten Muth ein und
nahm ihn mit in meine Tarantasse. Bei meiner Ankunft
im Dorfe fand ich dasselbe von Menschen ganz verlassen;
Alle standen um die Grube herum, in welcher Satan um-
gegangen war. Aber wie sollte man ihn herausbringen und
wer hatte Muth genug, sich an ihn zu wagen? Ich suchte
aus der Menge einen Burschen heraus, der mir als wage-
halsiger Taugenichts bekannt war, ließ ihm etliche Glas
Branntwein geben und versprach ihm drei blanke Rubel,
374
Aus dem Volksleben der Russen.
wenn er einfahren wolle. Man ließ ihn am Stricke hinab,
arbeitete herzhaft an der Winde und er kam glücklich unten
an. Oben war Alles in gespannter Erwartung. Der da
unten schüttelte das Seil zum Zeichen, daß man ihn wieder
hinaufziehen solle. Als er mit dem Kopfe zum Vorschein kam,
rief er: „Ich habe ihn gekriegt; da, hier habt Ihr ihn!"
Und nun zeigte er eine jener großen Ohreulen, die im Ural-
gebirge und dessen Umgegend so häusig vorkommen.
Den Leuten war ein Stein von der Seele gefallen und
alle Furcht verschwunden; nun tranken sie erst recht herz-
Haft. Der Waghals bekam seine drei blanken Rubel und
erzählte, wie er das Abenteuer bestanden habe. Als ich
unten war. sagte er, sah ich etwas Glänzendes (die Augen
der Eule), machte meine Augen zu, ging darauf zu, packte
es und druckte es fest an mich. Wenn der Teufel nichts
weiter als eine Eule ist, so kann man schon mit ihm fertig
werden.
Seitdem ist in Bezug auf diesen „Teufelsfang" ein
Volksgedicht, zu welchem irgend ein ländlicher Poet sich be-
geistert gefühlt hat, im Umlauf; die Dorfmusikauten,
welche von einer Ortschaft zur andern ziehen und die Bauern
erheitern, begleiten den Gesang mit den Tönen der Gusla,
welche bekanntlich bei den Russen die Guitarre ersetzt.
Die Dorfkirchen sind zumeist sehr einfach und schmuck-
los iu ihrer Architektur; wir geben die Abbildung einer sol-
chen aus einer ländlichen Ortschaft im Gouvernement Wla-
Dorfkirche.
dimir. Ein Gegenstück zu derselben bildet die Kirche des
heiligen Basilius in Moskau, welche den Typus eines rns-
sischen Gotteshauses in [feiner ganzen Pracht und küustleri-
scheu Vollendung darstellt.
Große Dörfer haben, gleich den Städten, ihren Bazar,
Gostinoi Dwor, dessen Buden im Durchschnitt sehr unau-
sehnlich sind. Man findet sich dort schon halb und halb in
den Orient versetzt, auch in Bezug aus die Art des Feilschens.
Es geht dabei sehr umständlich zu, denn obwohl Käufer und
Verkäufer im Voraus wissen, was sie für irgend eine Waare
geben oder nehmen wollen, schlägt der letztere doch das Dop-
pelte vor und das Abhandeln dauert lange. Die Kaufleute
nach altem Schlage sind übrigens rechtschaffene Leute. Der
Mann trägt seinen langen Bart, weiten Kastan, hohe Stie-
fel, ist häuslich, hält die Kirchengebote, trinkt fast nur Thee
und lebt sparsam.
In den verschiedenen Gängen der Bazars hängen Hei-
ligenbilder; sie bringen Glück und Segen. Deshalb brennt
vor ihnen auch die ewige Lampe, für welche das Oel aus
Geldbeiträgen der verschiedenen Budennachbarn gekauft wird.
Der Bazar ist für die Bewohner Rußlands sehr nützlich,
weil der Käufer in dem vielfach nur erst dünn bevölkerten
Lande allen Bedarf bequem einkaufen kann und alles Nöthige
dicht beisammen findet, wie auf unseren Jahrmärkten. In den
Städten findet man auf dem Bazar allemal eine Anzahl
von Geldwechslern, die zumeist der bekannten Secte der
Skopzi (Selbstverstümmler) angehören; manche sind indessen
auch Armenier oder orthodoxe Kaufleute alten Schlages.
876 Gustav Wallis: Von (i
Die Dorfbazare werden in der Regel wöchentlich zwei
Mal gehalten und vielfach liegen die Waaren unter freiem
Himmel. Der Edelmann kommt, um sich mit Bekannten
zu unterhalten; der Kronbeamte erscheint gern am Bazar-
tage, der Arzt kommt aus der Umgegend, um Patienten zu
besuchen, hauptsächlich aber, weil er beim Edelmann ein
gutes Mittagsessen findet. Große Bazare finden gewöhn-
lich an einem Sonntage statt und die Bauern sind dann
festlich gekleidet; Frauen und Mädchen lieben helle Farben,
und so nimmt sich die auf- und abwogende Menge recht
hübsch bunt aus.
Die wichtigsten Geschäfte werden in Pelzwerk und Schaf-
feilen gemacht; dann auch in Talg. Der Handel ist gültig,
nachdem ein Handgeld gegeben worden ist. Zum Verkaufe
sind ausgestellt: Holzwaaren, namentlich Näpfe, Löffel und
Flaschen; gesalzene Fische, die wegen der vielen Fasttage
unentbehrlich sind, Hirse und Buchweizen, Pferdegeschirr,
Schlitten, Wagen, Pferde, Töpfe, Heiligenbilder, Schweins-
borsten und Speck, Mützen und Stiefel, Champagner, Ale,
Trüffeln, Wachskerzen, Sammet, Cigarren, Spitzen, Glanz-
Handschuhe, Seidenzeuge, kurz alles Mögliche. Musik wird
nicht gemacht, Zank ist selten, aber falsches Papiergeld wird
massenweis in Umlauf gebracht.
Vor dem Bau der Eisenbahnen waren die russischen Ba-
zare eine unbedingte Notwendigkeit; dort, wohin Schienen-
wege reichen, verlieren sie ihre Bedeutung mehr und mehr.
*
-i- *
Kein Dorf ist ohne ein Traktir, wir würden sagen
Speise- und Schänkwirthschaft, in welchem man Branntwein,
Meth, Bier und seit der Emancipation der Bauern auch
Thee trinkt. Die Muschicks verhandeln dort ihre Privat-
angelegenheiten, und die herumziehenden Handelsleute keh-
ren auf ihren alljährlichen Wanderzügen ein, um einzucas-
siren, denn sie geben Credit, und neue Geschäfte zu machen.
AuchGemeindeangelegenheiten werden erörtert, und die Di-
strictsbeamten werden im Essen und Trinken frei gehalten.
Etwas Anderes als das Traktir ist die Branntwein-
schänke, dieser Fluch der russischen Dörfer. Sie befindet
sich manchmal in einer armseligen Bude, deren verwittertes
lifornien nach Japan.
Dach nicht einmal Schutz gegen schlechtes Wetter gewährt,
meist in einem ablegenen Winkel. Das ganze Geräth be-
steht aus ein paar Tischen und Bänken.
Der Muschick trinkt nicht, um sich beim Glase in Ge-
sellschast zu unterhalten, sondern um sich zu betrinken, und
in der Osterzeit namentlich will und muß er sich berauschen.
Auch sonst nüchterne Leute legen für diesen Zweck schon
Monate vorher in jeder Woche so und so viele Kopeken zu-
rück. Wenn nun die Zeit kommt, berechnet er, wie viele
Glas Branntwein er von dem Ersparten bezahlen kann,
und er trinkt und trinkt, bis der letzte Kopeken verthan ist,
nicht etwa langsam und in Zwischenräumen, sondern so
rasch als möglich. So wird er denn auch in kürzester Zeit
toll und voll betrunken. Nun darf er eine Weile in der
Schänke sitzen oder liegen bleiben, wenn aber Andere kom-
men, die Platz haben wollen, dann wirft man den bewußt-
losen Bruder ohne Weiteres aus der Thür und giebt ihm
obendrein einen unsanften Tritt in den Rücken, damit er
nicht dicht am Haufe liegen bleibe, sondern mitten in der
Straße seine Ruhestätte finde.
In der Osterwoche bietet der Platz vor einer solchen
Schänke einen merkwürdigen Anblick dar. Wenn es dunkel
geworden ist, kommen die Frauen, um ihre Männer heraus-
zusuchen, und haben ihre liebe Noth, den rechten ausfindig
zu machen. In der Bude selbst gehen gleichfalls eigen-
thümliche Dinge vor. Ich sah, so erzählt Barry, daß ein
Mann für fünf Glas im Voraus bezahlte, aber, da er vor-
her fchon getrunken haben mochte, war er schon beim vierten
bewußtlos. Aber er mußte doch sein bezahltes Quantum
haben und deshalb nahm ihn der Schänkwirth mit dem lin-
ken Arme bei der Brust und goß ihm mit der rechten Hand
das fünfte Glas in den Mund.
Diese Schänken sind eine Art von Verbrecherschulen.
Es ist den Wirthen streng verboten, irgend etwas in Pfand
zu nehmen, aber Hehler sind und bleiben sie doch; auch der
geringste Gegenstand ist fo viel Werth, wie ein Glas Brannt-
wein. Aber Zank und Schlägereien kommen nicht vor;
der betrunkene Muschick ist keineswegs händelsüchtig, er wird
vielmehr zärtlich und umarmt Jeden, der ihm in den Wurf
kommt.
Von Kalifornien nach Japan.
Von Gustav Wallis.
III.
Habe ich nun den Blick auf alle äußeren Erscheinungen
schweifen lassen, so ist es billig, daß ich auch noch mit einem
Worte der Bewohner selbst gedenke. Was neben ihrer eigen-
thümlichen Physiognomie, den geschlitzten Augen, dem flachen,
breiten Gesichte, den aufgeworfenen Lippen und dem oft vor-
stehenden Oberkiefer, besonders ausfällt und hinsichtlich der
Männer aus Abbildungen so leicht nicht hervorgeht, ist der
sonderbare Haarputz. Während den Chinesen sein langer Zopf
auszeichnet, fo bietet auch der Japanese durch seinen Haar-
stnmmel eine gleich sonderbare Tracht. Der Kopf ist obenauf
bis zum Scheitel drei Finger breit glattrasirt; alles übrige
Haar nach hinten zusammengezogen, künstlich — wahrschein-
lich mit klebender Flüssigkeit — zu einem bleistiftähnlichen
Griffel eingeschnürt, der schließlich in einem Bogen nach
vorn gewendet auf der kahlen Stelle aufliegt. Die Frauen
frisiren sich mit mehr Geschmack und mit Aufwand, mit
Blumen. Bändern, Spangen sich schmückend, wie sich das
aus bildlichen Darstellungen leicht erkennen läßt. Es giebt
überraschende Schönheiten unter ihnen, bei dem zartesten
Teint, der ihnen eigen ist, den gesunden, rothen Wangen, den
schwarzen Augen und dem tiesschwarzen, glänzenden Haare.
Die Kleidung besteht aus feinen, oft kostbaren Stoffen.
Nur berührt es den Europäer unangenehm, daß diese zier-
lichen Dinger so unbeholfenen Ganges sich fortbewegen; sie
wackeln wie auf Stelzen, nicht anders kann man ihre luf-
tigen Schuhe nennen, die, auf zwei Brettchen gestützt, kaum
mehr einem Schuhe ähnlich fehen. Die natürlichen Reize
der Frauen weichen jedoch bald jeder Versuchung; denn kaum
Gustav Wallis: Von
ist ein Mädchen verheirathet, so muß es dem Manne seine
Schönheit znm Opser bringen: sich die Zähne schwarz färben
und die Augenbrauen auszupfen. Man kann sich leicht den-
ken, wie sehr eine Person dadurch entstellt wird.
Noch fand ich Gelegenheit, einem wandernden Haarschneider
bei seiner Arbeit zuzusehen, wie er, von Haus zu Haus ziehend,
wohl gewisse Kunden srisirte. Diese Beschäftigung ist eine
getheilte; ein Knabe von 10 bis 12 Jahren, mnthmaßlich
Lehrling, hat das Haar zu waschen, zu striegeln, auszuputzen,
Uberhaupt so weit vorzubereiten, daß der Meister die letzte,
die eigentliche Künstlerhand anlegen kann, worauf jener
schnell einen zweiten und vorkommenden Falles mehr Köpfe
vornimmt. Die BeHandlungsweise erschien mir eine wahre
Geduldsprobe. Der Junge sprang mit den Haaren um,
daß mich Schrecken Uberlief. Er zauste und zerrte daran,
rieb und fcheuerte es, wie wenn er es verwüsten wolle, wie
wenn er ein Thier vor sich habe und er ein Affe fei. Da-
bei dampfte und pochte er in seinem UngestUm. „Wenn
das japanische Haar sich so viel gefallen läßt," dachte ich,
„wohl! da seid Ihr zu beneiden, da müßt Ihr geheime Stär-
kungsmittel besitzen!" Oder sollte durch das beständige
Scheeren des Oberkopses dem übrigen Haare um so größere
Kraft zuströmen? Genug, der Lehrbube war mit seiner
Vorarbeit, dem Reinigen des Haares, fertig, so, denke man sich
mein Erstaunen, greift der Kleine zu einem Rasirmesier und
fuchtelt damit fo wild auf seinem bloßen Arme umher, um
ihm die letzte Schärfe zu geben, ^daß ich gar nicht einmal
glauben konnte, daß es ein so gefährliches Instrument fei.
Doch ja! er prüft endlich die Schneide und, was ich ihm
immer noch nicht zumuthete, er selbst rasirt schließlich die
freie Kopfstelle frisch ab, und dies mit einer Gewandtheit,
daß geübte Meister sich verwundert haben würden. Aus
diesem wie so vielem Andern zog ich den gerechten Schluß,
daß die hiesigen Landeskinder sich ungemein rasch entwickeln.
Sie werden früh zur Thätigkeit angehalten; spielend üben
sie sich im Schreiben, Malen und anderen Beschäftigungen,
aber wie mir fchien, wird, die Schule, die elementare Er-
ziehnng, über den gewerblichen Sinn vernachlässigt.
Die große Kaiserstadt Aeddo, die man mit ihren 2 bis
3 Millionen Einwohnern lange für eine der größten Städte der
Welt gehalten, lag so nahe, nur 3^ Meilen entfernt, und
so wollte ich nicht von Japan scheiden, ohne sie gesehen zu
haben. Da zu früher Morgenstunde ein Dampfer hinfuhr,
der selben Tags zurückkehrte, so fand ich willkommene Ge-
legenheit, meinen Wunsch zu besriedigen. Erst an Bord
fiel mir ein, daß ich ohne einen Paß vielleicht gar nicht ein-
mal eingelassen werden würde, und solchen auszuwirken, hatte
ich auch am vorhergehenden Tage nicht große Lust verspürt,
um bei der ungewissen Aussicht in keinem Falle kostbare Zeit
zu verlieren. Meiner Empfehlungsbriefe hatte ich mich ab-
sichtlich nicht bedient, da ich recht wohl weiß, wie ungern
Kaufleute und Consulatspersouen an den Posttagen sich
stören lassen. Dachte ich an die Mittheilungen, die Schwie-
rigkeiten des Herrn Hildebrandt, der sechs Jahre vor mir Yeddo
sah, so hielt ich Passagegeld und den Tag im Voraus ver-
loren, falls noch heute jene Strenge gegen Fremde geübt
werden sollte. Dem Capitän mochte ich mich nicht verrathen,
ich zog vor, aus gut Glück zu bauen. Hildebrandt hatte
einen siebenläusigeu Revolver und einen Schleppsäbel ange-
legt, ich dagegen nichts als meinen Regenschirm bei mir.
Ein amerikanischer Missionär, der Japan und China bereist
hatte und mit mir von San Francisco gekommen war, be-
fand sich mit derselben Unvorsichtigkeit gleichfalls an Bord.
Anstatt mich durch fein Beispiel zu beruhigen, besorgte auch
er seinerseits Schwierigkeiten. Doch hätte er in solchem
Falle einen Amtsbruder, deu er zu besuchen ging, einfach an
Globus XXII. Nr. 24. (December 1872.)
Californien nach Japan. 377
Bord rufen lassen. Genug, der kleine Dampfer trieb in die
See und brachte uns durch einige, wohl sechs umfangreiche,
inselartige Festungen in dreistündiger Fahrt nach Aeddo,
wo mehrere Beamte, mit je zwei Säbeln behängt, unserer
am Ufer warteten. Das Boot legte hart an, ein Brett
wurde ausgelegt, und fo ließen wir, banger Erwartung voll,
erst die japanesischen Passagiere, etliche 50, vor uns auf-
marschiren. Als wir nun sahen, daß Alle ein Legitimations-
papier vorzeigten, ahnten wir schon nichts Gutes für unfern
Theil. Dennoch versuchten wir es, und unbegreiflich! wir
schlüpften ungeschoren durch! Ich begleitete den Missionär
auf feinem Gange zum Collegen, in der Hoffnung, daß letz-
terer mir für meinen zweistündigen Aufenthalt einen Führer
geben werde. Das ging Alles recht gut. Mein Führer
aber verstand wohl aus feinen Stelzenschuhen zu laufen, aber
kein Englisch, so wenig als ich Japanesisch verstehe. So
trollten wir denn zu den Tempeln und einem Leichenhose
hin, was für so kurzen Aufenthalt immer das Sehenswür-
digste und Nächste war. Hier bewunderte ich zum ersten
Male die eigentümliche reiche Ausstattung, die orientalische
Bethäuser auszuzeichnen pflegt, denn was ich in Aokohama
gesehen, war eigentlich eine Capelle. Am Fuße der hohen
Treppe mußte ich die Schuhe ausziehen und barsüßig das
Innere betreten. Es war sehr geräumig, in länglichem
Viereck erbaut, aber niedrig. Das Getäfel strotzte von Schnitz-
arbeit, Malerei und Vergoldung, während das Allerheiligste
mit einer Menge Vasen, Statuen und so manchen Dingen
angefüllt war, die mir ihrer Masse und ihrer Bedeutung
nach räthfelhaft waren. Den Boden bedeckten Teppiche und
Bambusgeflechte. Hier und da traten Gläubige ein, ihr
Gebet zu verrichten und Geld in einen Opferstock zu werfen,
welch letzteres auch mein Führer, vermutlich für zwei Per-
fönen, gethan hatte. Ich unterließ dies, weil der Missionär
es mir so gesagt hatte; denn wahrscheinlich bringt das Geld
der Ungläubigen keinen Segen. Mit dem religiösen Sinne
des Volkes contrastirte es schlecht, daß der Sacristan mit
Pfeife, Theekanne und dem unentbehrlichen Kohlenbecken da
in offener Kirche Platz genommen, Frau und Kinder wärm-
ten sich gleichfalls an der Glnth. Mein Begehren, Uber
die Schranke des Allerheiligsten treten zu dürfen, wurde ab-
gewiesen. Uuter den Wandgemälden fehlten die beliebten
Störche nicht, die, in den verschiedensten Gruppen gepaart,
wirklich gelungene Muster darstellten. Wieder ins Freie
getreten, nahm ich nun erst die große Glocke in Augenschein,
die etwa 8 Fuß hoch und in Gestalt einer Mitra unter einem
besondern Dache aufgehäugt, mir fchon vorhin aufgefallen
war. Einen Schwengel vermißte ich darin. An seiner
Stelle dient ein Balken, der, außen mittelst Stricken in hori-
zontaler Schwebe gehalten, durch einzelne schwingende Stöße
das Geläute hervorbringt. Der Klang soll feierlich sein
und weithin schallen. In der Nähe, aber noch innerhalb
des den Tempel umgebenden Hofraumes, waren Backwerk
und andere Lebensmittel zum Verkaufe ausgestellt. Vor-
dem Thore bewuuderte ich noch zwei ungeheuer große bron-
zene oder kupferne Gefäße, in denen für den Fall ausbre-
cheuder Feuersgesahr Wasser ausbewahrt stand. Sie hatten
die Form eines gewöhnlichen hölzernen Kübels, mochten wohl
4 Fuß hoch und 5 Fuß breit sein, wogegen die Dicke der
Masse etwa 3 Zoll betrug. Auf der Außenseite waren In-
schristen und Figuren angebracht. Im Hose hatte ich zuvor
eine andere schöne Gußarbeit gesehen, eine in ähnlichem Ge--
säße und im Wasser liegende Schildkröte mit Drachenkopf,
die auf ihrem Rücken eine der Säulen des Tempels trug.
Ein Musterstück in jeder Beziehung verrieth es Kunst und
Geschmack.
Nicht weit von der Gegend berührten wir einen Begräb-
43
378 Der Zusammenhang bet
nißplatz, wo die Monumente so gedrängt standen, daß man
nur mit Mühe noch eins hätte hineinzwängen können, und
daß ich gleich aus den Gedanken kam, die Todten würden in
senkrechter Stellung beerdigt, wie das ja auch bei Indianern
am Amazonenstrome vorkommt. Grüne Zweige, die in zahl-
reichen Wasserbehältern aufgestellt waren, zeugten von der
großen Verehrung für die Todten. Grüne Zweige und
Blumen werden auch viel auf den Straßen ausgeboten.
Mittlerweile rückte die Stunde heran, mich von meinem
Cicerone zu trennen; er war zu meinem Bedauern nicht zu
bewegen, eine Belohnung anzunehmen. So drückte ich ihm
denn dankend die Hand, ein Abschied, den der Japanese in-
dessen nicht kennt. Er verneigt sich so tief, um seine Hände,
je einzeln, auf die Knie zu legen, und hiermit ist sein Ab-
schied und seine Achtung ausgesprochen.
Um bei meiner knapp bemessenen Zeit etwas mehr von
der Stadt zu sehen, beschloß ich, die Rückfahrt nach Aoko-
hama in einem Omnibus zu machen, und gewiß habe ich
dies nicht zu bereuen gehabt! Auf der ganzen Fahrt ist
man fast beständig von Häusern und Gärten umgeben, da
erscheint Einem die Stadt ohne Ende und das rührigste Le-
ben durchwogt die engen Straßen. Das Ganze glich einem
festlichen Aufzuge; mir war, als träumte ich von Tausend
und eine Nacht! Kleine widerspenstige aber ausdauernde
Ponies wurden vor den Wagen gespannt, und zu gleicher
Zeit gesellten sich uns zwei berittene Iakonins (Polizei) zu,
um uns das Sicherheitsgeleite zu geben. Auf dem Wege
mehrte sich ihre Zahl allmälig um weitere fünf, alle mit
schweren Säbeln behängt. Das gab der Sache Ansehen,
sieben so berittener Kerle vor uud hinter uns her! Und
wie schauten alle Leute drein! Wo wir nur ein Mal hiel-
c Alt- und Neugriechen.
ten, sammelten sich gleich dichte Hausen um uns, so daß wir
nicht mehr zweifelten an den 2 Millionen Einwohnern, wie
man als Minimum augiebt. Die Aakonins sollen gefähr-
liche Leute sein, sobald ihre Pflicht sie zum Streiten mahnt.
Wehe demjenigen, der sie nöthigt, die Klinge zu ziehen! Denn
der gezogene Säbel muß auch einen Kopf fallen sehen. Diese
mächtige Waffe ist ein kostbarer, fein gearbeiteter Gegenstand;
ich bewunderte nur Griff und Scheide; die Klinge wollte
man mir nicht zeigen, weil, wie eben gesagt, sie nur im
äußersten Falle gezogen wird. Diese Aakonins gefielen mir
nicht allein besser als die kaiserlichen Soldaten, sie flößten
mir selbst durch ihre strengen Mienen einigen Respeet ein.
All die Schützen, die der Taikuu zu seiner Leibgarde er-
wählte, erschienen mir eine ruppige, wüste Bande, sie sind
vielleicht der Auswurf der Menschheit, der zum Dienste ge-
knechtet wird. An einem freien Platze vorbeikommend, er-
blickten wir die kaiserliche Wohnung, die sich wie eine Cita-
delle über die umliegenden Häuser erhebt, sonst aber nichts
Bemerkenswerthes verräth. Auf dem Wege sahen wir viel
Reisfelder und Gewächse, die bei uns in Europa hohen Werth
haben, namentlich Camellien, um eins zu nennen; diese er-
langen Baumgestalt und stehen auch hier in großem An-
sehen. Sie standen leider nicht in Blüthe, waren aber mit
Knospen besetzt. Andere für uns kostbare Pflanzen dienten als
Umzäunungen. Hier und da lag auch wohl ein unglücklicher
Lazaruskranker auf offener Landstraße, unter kleinem Stroh-
dache wie in einem Hundestalle, die Mildherzigkeit Vorüber-
gehender anflehend. Diesen einen traurigen Anblick abge-
rechnet, war mir doch Alles in hohem Grade fesselnd und
überraschend, und nie vergesse ich diese Omnibusfahrt, die
mich von Aeddo nach dem Hafen zurückbrachte.
Der Zusammenhang dl
Helios-Elias. — Poseidon-St. Nikolaus. -
r. d. Unter dieser Überschrift besprachen wir früher das
Werk von Professor Bernhard Schmidt in Jena, welches
vom Volksleben der Neugriechen in Beziehung zum Hellem-
schen Alterthnm handelt. Während Schmidt's Werk erschien
und in der Einleitung darüber geklagt wurde, daß die Grie-
chen selbst nicht genug thäteu, um das zu sammeln und fest-
zustellen, was aus dem griechischen Alterthum auf unsere
Tage überkommen sei, war in Athen das Buch eines Grie-
chen unter der Presse, das bestimmt scheint, diesem Mangel
abzuhelfen *). Polites, der Verfasser dieses Werkes, der damit
den Rhodokonaki-Preis der Universität Athen erwarb, behau-
delt, wie Schmidt in seinem ersten Bande. Himmel, Erde,
die Elemente, die olympischen Gottheiten, die Götter des
Meeres und die Geschöpfe, welche die Erde bewohnen: Kali-
kantzaroi, Nereiden, Drachen, Stringlai, d. h. weibliche Gei-
ster, welche Kinder verschlingen u. s. w., und er führt dabei
abermals den Nachweis, daß allerdings slavische Elemente
im griechischen Volksglauben vorhanden sind, daß aber das
hellenische Element bei Weitem überwiegt.
Die Continnität zwischen Alt- und Neugriechen wurde
nicht unterbrochen, der Grieche von heute ist der Nachkomme
McXftrj snl roi> ßi'ov x&v imoN. T.
IlolCzov. Iv ^Adrivcug. 1871.
Alt- und Neugriechen.
Dionysios-St. Dionys. — Nereidensagen.
der alten Hellenen, wenn auch in keiner verbesserten Auflage.
Störungen sind, wie bei allen Völkern, in großer Menge
dagewesen, fremde Anschauungen sind in den reinen griechi-
schen Geist eingedrungen, ja selbst semitische Elemente sind
demselben, wie Polites nachweist, nicht fremd geblieben. Von
der überreichen und so erstaunlich mannichsaltigen Mythologie
der alten Hellenen ist aber im Ganzen nur außerordentlich
wenig übrig geblieben, und ganz rationalistische Anschauungen,
die unter dem Volke gang und gäbe sind, können nicht, oder
nur mit Zwang, aus die alten Mythen zurückgeführt werden.
Der Volksglaube, welchen Tenophanes als wissenschaftliche Er-
kläruug aufstellte, daß die Sterne Lampen seien, welche Abends
angesteckt und Morgens wieder ausgelöscht würden, gehört
kaum in das Gebiet der Mythologie. Wenn dieses aber
Alles ist, was die Neugriechen vom nächtlichen Himmel zu
sagen wissen, so dürfen wir uns nicht darüber wundern, daß
bei ihnen keine Erinnerung an Endymion und seinen ewigen
Schlaf im Karischen Gebirge mehr lebt, zu dem allnächtlich
die liebende Selene herabstieg, um ihm einen Kuß auf den
Mund zu drücken. Noch lebt, wie es scheint, die Vorstellung,
daß der Himmel eine Wölbung oder ein Dom sei, durch
dessen Oessnuugeu der Regen aus Krügen oder Schläuchen
ausgegossen wird — aber auch das ist weniger eine Mythe,
als der Versuch, ein Phänomen natürlich zu erklären. Die
Der Zusammenhang t
Mythe würde die alte Heirath des Uranos gewesen sein, der
jede Nacht zu dem Weibe herabstieg, über das er sich am
Tage liebend geneigt; statt dessen haben wir'aber — wohl
aus semitischer Quelle — die Vorstellung von sieben Him-
meln. Was Helios betrifft, ferner die Mythen von Kly-
mene und Phaethon, die Geburt des Phoebus auf Delos,
seine westlichen Wanderungen und seine tägliche Rückkehr zu
den geliebten Bergen, so sind diese alle verdrängt worden
durch die erborgte Geschichte vom Propheten Elisa, in
dem Polites einen semitischen Sonnen- oder Feuer-
gott sieht.
In diesem Falle hat die Einführung fremder Anschauun-
gen oder Namen Gelegenheit zu einer Controverse zwischen
Polites und seinen Preisrichtern gegeben. Polites bemerkt,
daß die Berggipfel, welche in alten Zeiten dem Helios hei-
lig waren, oder der Sonne, nun dem Elias geweiht sind,
da fast jeder von ihnen nachweisbar eine Eliaskirche trage.
Das komme, so nimmt er an, theilweise von der Klangähn-
lichkeit der Namen, theilweise weil beide ähnliche Attribute
haben. Die Preisrichter dagegen versichern, daß die Berg-
gipfel im Alterthnme dem pelasgischen Zeus geheiligt waren,
dessen Namen sie sowohl im griechischen als im latei-
nischen deus und Sanskrit devas wiederfinden. Sie neh-
men an, daß die Ähnlichkeit der Namen Elias und Helios
nichts mit dem Entstehen einer Vorstellung zu thnn haben
könne, welche sich schon genügend aus dem einsamen Auf-
enthalt des Elisa in den Bergen und seiner Himmelfahrt im
feurigen Wagen erklären lasse.
Am besten wird die Frage wohl dadurch beantwortet,
wenn nachgewiesen werden kann, daß auch in anderen Fällen
jüdische oder christliche Heilige für althellenische Götter sub-
stituirt wurden. Nehmen wir St. Nikolaus, der in den
Augen der modernen Griechen mit den Eigenschaften und
selbst den Aeußerlichkeiten Poseidon's ausgerüstet ist, ob-
gleich hier der Name gar nicht ins Spiel kommt. Wir
finden, daß er es ist, den der Grieche bei stürmischem Wetter
aus der See anruft und der die Wogen besänftigt. Der
Name des christlichen Heiligen aber führt uns auf die Mythe
von Odin, welcher als Hnikar oder Nicor der nordische Was-
sergott ist, der als „Alter Nick", dem Matrosenglauben zu-
folge, am Meeresgrunde lebt und dessen Verwandte die Nixen
unserer Flüsse sind. Alle diefe Namen entspringen derselben
Wurzel, wie das griechische Verbum vy]%8Lv, schwimmen
oder fließen; und in dieser Thatsache finden wir vielleicht
den Grund, warum die Eigenschaften und Gewalten des
Poseidon auf den heiligen Nikolaus übertragen wurden. Der
Gleichklang der Namen thut viel und ist wohl geeignet, eine
lange Reihe von Mythenbildungen aufzuklären.
In einigen Fällen kommt die Übereinstimmung der
alten und modernen Mythe jedoch weit ernsthafter in Frage.
Polites erwähnt (S. 45) einen Volkswunderglauben, dem
zufolge ein neugeborenes Mädchen seine Wiege verlassen, des
Paters Pferde verschlingen und dann sich wieder niederlegen
soll. Hierin sieht er die alte Geschichte vom Hernies und
dem Diebstahl der Rinder des Phöbus. Wie abgeblaßt und
dem Verschwinden nahe ist aber hier schon die Mythe!
Ebenso wie durch Anklingen der Namen die heutigen
Griechen den Juden Elias dem alten Helios substituirten,
haben sie auf den heiligen Dionys auch die Eigenschaften
des Weingottes Dionysos übertragen. Als der christliche
Heilige, erzählen sie, nach der Insel Naxos reiste — das
Centrum des alten Bakchosdienstes —, erblickte er eine kleine,
aber schöne Pflanze, welche er gern mitgenommen hätte. Da
er aber fürchtete, daß sie bei der brennenden Sonnengluth
auf der Reise verdorren würde, steckte er sie in den hohlen
Röhrenknochen eines Vogels. Die Pflanze aber wuchs so
r Alt- und Neugriechen. 379
rasch nach beiden Enden aus dem Kuochen hervor, daß er
sie mit einem neuen Schutze gegeu die Sonnengluth umgeben
mußte. Er nahm nun den hohlen Schenkelknochen eines
Löwen; aber auch dieser erwies sich im Verlaufe der Reife
als zu klein und wurde durch einen Eselsknochen ersetzt. In
diesem brachte der heilige Dionysius die wunderbare Pflanze
glücklich nach Nazos, wo er sie pflanzte, wo sie üppig wuchs
und herrliche Trauben trug. Aus solchen bereitete er den
ersten Wein; doch als er diesen den Einwohnern zu trinken
gab, sangen sie zuerst wieVögel, wurden dann stark
wie die Löwen und am Schlüsse albern wie Esel.
Im Allgemeinen sind in den modernen Mythen die fei-
nen Züge der alten verwischt oder gröber geworden, und der
Verfasser hat viel Mühe gehabt, an der Hand der deutschen
Methode der Vergleichnng Altes und Neues unter einen Hut
zu bringen. Weit verbreitet sind die Nereidensagen (siehe
Schmidt S. 98). Wie im Alterthnme verkehren die Nerei-
den gern mit schönen Jünglingen aus dem Menschengeschlechts,
denen sie den vollen Genuß ihrer Liebe gewähren. Aber
gegen eine wirkliche Vermählung mit Sterblichen haben sie
nach der Volksansicht eine tiefe Abneigung, da ihnen hier-
durch unbequeme Pflichten auferlegt, die über Alles geschätz-
ten Freiheiten geraubt werden. Nur gezwungen gehen sie
ein solches Verhältniß ein. Zwingen zur Ehe kann man
aber diese Wesen dadurch, daß man denselben einen ihnen
zugehörigen Gegenstand entreißt, besonders jenes Tuch, wel-
ches sie nach einer weit verbreiteten Vorstellung auf dem Haupte
tragen. An den Besitz dieses Tnches ist ihre Macht und
Vollkommenheit gebunden. Wem es gelingt, eine Nereide
dieses Schatzes zu berauben, der erhält volle Gewalt über
dieselbe, sie vermag nun nicht zu entfliehen und muß sich
geduldig seinem Willen fügen.
Es gehen in Griechenland eine Menge schöner Sagen
von jungen Männern, welche auf diese Weise sich eine Ne-
reide erwarben, sie heiratheten und mit ihr Kinder zeugten.
Denn der Verlust jenes magischen Tuches entkleidet diese
Wesen überhaupt ihrer überirdischen Natur und macht sie
durchaus menschlich. Aber damit verliert die Nereide auch
zumeist ihre Fröhlichkeit und Lust am Dasein. Die Sehn-
sucht nach dein frühern nngebuudenen Leben in der Freiheit
der Natur, uach Tanz und Spiel mit den Gefährtinnen ver-
düstert ihr Gemüth, eine unüberwindliche Schwermnth be-
mächtigt sich der Gefangenen, nichts ist im Stande, sie aus-
zuheitern, daher denn nun auch ihre Schönheit nicht mehr
fo leuchtet und strahlt wie ehedem. Ihr ganzes Sinnen
und Trachten ist auf Wiedergewinnung ihres Tuches gerich-
tet, und gelingt es ihr, dieses Kleinod von ihrem Gatten
durch Bitten und Schmeicheln zu erlangen oder es ihm heim-
lich zn entwenden, so vermag weder das jenem gegebene Ver-
sprechen, noch die Liebe zu ihren Kindern sie ferner an das
Haus zu fesseln, sondern sie enteilt zu ihren Genossinnen,
ohne jemals zurückzukehren.
Rührend und den Zusammenhang mit dem Alterthume
schlagend beweisend ist folgende Nereidensage von Kreta.
Einen jungen Bauer aus dem Dorfe Sgourokephali, welcher
die Leier schön zu spielen verstand, pflegten die Nereiden mit
in ihre Höhle zu nehmen, wo er sie durch seine Musik er-
götzte. Derselbe verliebte sich aber in eine von ihnen und,
da er nicht wußte, wie er seinen Liebeskummer heilen sollte,
nahm er seine Zuflucht zu einer alten Frau seines Dorfes.
Diese gab ihm den Rath, er möge, wenn die Zeit heran-
nahe, wo die Hähne krähen, seine Geliebte bei den Haaren
fassen, festhalten und nicht erschrecken, auch wenn dieselbe in
verschiedene Gestalten sich verwandle, sondern sie so lange
halten, bis daß die Hähne krähen. Der Bursch merkte sich
diesen Rath, und als er von den Nereiden wieder in die
380 Nekrolc
Höhle gebracht wurde, sing er nach seiner Gewohnheit an
die Laute zu schlagen, und jene tanzten dazu. Als aber die
Stunde sich näherte, da die Hähne krähen, legte er die Laute
weg, sprang rasch auf seine Geliebte zu uud faßte sie bei den
Haaren. Da begann sie alsbald sich zu verwandeln, bald
in einen Hund, bald in eine Schlange, bald in ein Kameel,
bald in Fener. Aber jener blieb bei alle dem unverzagt,
und jetzt hörte er die Hähne krähen und sah die Nereiden
verschwinden. Nun nahm auch seine Geliebte ihre frühere
fchöne Gestalt wieder an und folgte dem jungen Manne in
sein Dorf. Nachdem sie ein Jahr mit ihm zusammen ge-
lebt hatte, gebar sie ihm auch einen Sohn. Aber niemals
wechselte sie mit ihrem Manne auch nur ein einziges Wort.
Dieses seltsame und unerträgliche Schweigen von ihrer Seite
nöthigte ihn, sich abermals an jene Alte zn wenden. Diese
rieth ihm, er möge den Backofen tüchtig heizen und, das
Knäblein in die Hände nehmend, zur Nereide sagen: „Du
1872.
willst nicht mit mir reden, nun, so verbrenne ich Dein Kind."
Bei diesen Worten solle er sich stellen, als wolle er den
Säugling in 'den Ofen werfen. Der Mann that wie die
Alte gesagt, da aber schrie die Nereide: „Laß ab von mei-
nem Kinde, Huud!" riß das Knäblein hastig an sich und
verschwand vor seinen Augen. Und da die anderen Nerei-
den sie nicht wieder in ihre Gesellschaft aufnahmen, weil sie
Mutter war, schlug sie ihre Wohnung an einer Quelle, un-
weit der Nereidengrotte, auf. Man sieht sie zwei oder drei
Mal im Jahre mit ihrem Kinde auf dem Arme.
Hier ist es nun vor Allem ein Zug der Sage, der einem
uralten hellenischen Mythos entstammt. Auch die Nereide
Thetis nimmt, um der Ehe mit dem sterblichen Pelens zu
entgehen, Verschiedeue schreckeuerregeude Gestalten an. Nach
Sophokles verwandelte sie sich in Löwe, Schlange, Feuer
und Wasser. So klingt jetzt noch auf der Insel Kreta,
rein und lauter, der althellenische Mythos wieder.
N e k r o l o
Karl Ferdinand Appun, ein geborener Bunzlauer,
starb im Juli 1872 in der Strascolonie bei Georgetown in
Britisch-Guyana, wohin er sich seit Kurzem begeben hatte,
um Studien für den Schlußband seines großen Reisewerkes
zu machen. In früheren Jahren, meldet die „Royal Ga-
gelte" von Georgetown, hatte Appun einige Zeit in einer In-
dianerniederlafsuug gelebt, und litt seitdem an der fixen Idee,
daß ihm von Indianern nachgestellt würde. Die Furcht vor
diesen eingebildeten Nachstellungen veranlaßte ihn daher fort-
während ein verschlossenes Gefäß mit Schwefelsäure bei sich
zu führen. Durch einen unglücklichen Zufall ergoß sich der
Inhalt desselben über sein Gesicht und seine Augen. Man
brachte ihn in einem so entkräfteten Zustand auf die Nieder-
lassung zurück, daß alle Bemühungen, ihn am Leben zu er-
halten, erfolglos blieben und er wenige Tage danach feinen
Verletzungen erlag. Appun besaß eine außerordentliche Be-
sähigung für seinen Beruf. Im Jahr 1849 ward er auf
Alexander v. Humboldt's Empfehlung von Friedrich Wil-
Helm IV. als Naturforscher nach Venezuela eutseudet, und
wanderte in den Wildnissen dieses Landes gegen 10 Jahre
umher; nachdem er hier seinen Auftrag erfüllt, wandte er
sich uach Demerara, wo er sich in gleicher Mission den über-
nommenen Geschäften unterzog. Er durchwanderte den größ-
ten Theil des Innern dieser Colonie, zog dann weiter durch
einen Theil Brasiliens, auf dem Rio Branco, Rio Negro
und dem Amazonenstrome bis nach Tabatinga an den Gren-
zen Perus. Während dieser Zeit veröffentlichte er über
seine Wanderungen eine Reihe von Aufsätzen in deutschen
Zeitschriften, auch im „Globus", und gelegentlich eines Be-
suchs iu feiner Heimath im Jahre 1869 gab er ein größeres
Werk in zwei Bänden unter dem Titel: „Unter den Tro-
Pen. Wanderungen durch Venezuela, am Orinoco, durch
Britisch-Guyaua uud am Amazonenstrom" heraus, das dem
Prinzen Adalbert von Preußen gewidmet ist. Der dritte
Band sollte die Wanderungen am Amazonenstrome umfassen,
doch blieb er ungeschrieben.
John Bowring, englischer Schriftsteller und Staats-
mann, geboren am 17. October 1792 in Exeter, starb am
23. November zu Claremont. Schon frühzeitig bereiste er fast
ganz Europa, suchte überall die Landessprache zu erleruen
und brachte es schließlich dahin, daß er aus etwa dreißig
g 187 2.
verschiedenen Sprachen und Dialekten ins Englische übersetzen
konnte. Russische, niederländische, spanische, serbische, magya-
rische Gedichte übertrug er in seine Muttersprache. Seine össent-
liche Laufbahn begann 1828; er berichtete über die Finanz-
läge der Niederlande und Frankreichs, lieferte statistische Arbei-
ten für die Regierung und ward in Handelsfragen nach
Aegypten, Italien und der Schweiz gesandt. Von 1834
bis 1849 saß er auch im Parlament; im letzteren Jahre
ging er als britischer Consul nach Canton und begann nun
eine sehr ersprießliche Thätigkeit, die nicht wenig dazu bei-
trug, den asiatischen Osten für den europäischen Handel mehr
und mehr zu eröffnen. Im Jahre 1854 wurde er zum
Gouverneur von Hongkong und zum bevollmächtigten Gesaud-
ten Englands ernannt. Da ihn der chinesische Statthalter
nicht empfangen wollte, auch sein Ansuchen in Peking, letz-
tern zu bestrafen, ohne Folgen blieb, so entstand hieraus
die chinefisch-englische Verwickelung, welche mit einer Züchti-
gnng der Himmlischen durch eine Flotte unter Seymonr endigte.
Im Jahre 1859 kehrte Bowring, nach einem Besuche
Siams — geschildert in dem interessanten zweibändigen Werke
The Kingclom and people ofSiam— nach England zurück,
nachdem er noch im Rothen Meere Schiffbruch gelitten hatte.
James Chapman, der bekannte und verdiente süd-
afrikanische Reisende, starb zu Beginn des Jahres 1872 zu
Du Toits-Pau in den afrikanischen Diamantfeldern. Im
Jahre 1845 hatte er sich nach dem Caplande begeben, von
wo er seitdem, den Spuren Livingstone's folgend, zahlreiche
Handels- und Jagdzüge in das Innere unternahm, die ihn
bis an den Sambesi führten. Einen großen Theil seiner
Jagdzüge, die er in Begleitung eines Deutschen, Namens
Wirsing, und später mit Baines ausführte, unternahm er
von Natal aus durch die Transvaalrepublik nach den Bet-
schuanenlnuderu, in die Kalahariwüste und zu den Busch-
Männern. Nach diesen ersten Reisen arbeitete Chapman
redlich daran, seine vernachlässigte wissenschaftliche Ausbil-
duug zu ergänzen, und gut vorbereitet trat er 1861 von der
Walfischbai an der Südwestküste eine Reise nach dem Ngamisee
an? Er durchstreifte das Land der Ovaherero, machte Werth-
volle botanische Entdeckungen und fand zum ersten Male die
Käferlarve auf, mit welcher die Buschmänner ihre Pfeile
zu vergiften pflegen. Nachdem er die Ebene im Nordosten
des Ngamisee erforscht, brach er nach denDictoriafällen des
Sambesi auf. Ein Versuch, aus einem dort gezimmerten
Schiffe den Strom abwärts nach der Ostküste zu fahren,
mißlang, und Chapman kehrte nach der Walfischbai zurück.
Geschildert sind seine Wanderungen in dem vortrefflich ge-
schriebenen Werke: Travels in the interior of South-
Africa comprising fifteen years Huuting and Trading.
2 yols. London 1868.
General Francis Chesney, geboren 1789, gestor-
ben am 30. Januar 1872 zu Kilkeel in Irland, verdient
als der Pionier und Eröffner der Ueberlandroute nach In-
dien hier einer besondern Erwähnung. Er hatte bereits sein
vierzigstes Jahr erreicht, und die gewöhnliche Laufbahn der
Artillerieoffiziere verfolgt, ohne sich besonders hervorgethan zu
haben, als er den Abschied nahm, um auf Seiten der Tür-
ken gegen die siegreich vordringenden Russen zu kämpfen.
Als er in Konstantinopel anlangte, war Diebitsch's Armee
schon in Adrianopel und der Krieg seinem Ende nahe. Durch
diese Reise ward jedoch sein Blick auf den Orient gelenkt und
im Austrage des britischen Gesandten bei der Pforte, Sir
Robert Gordon, ging Chesney nach Aegypten, um 1830 die
Aussichten für Eröffnung der Ueberlandronte zu erkun-
digen. Chesney fand aus, daß der vermeintliche Niveau-
unterschied zwischen dem Mittelländischen und dem Rothen
Meere nicht existire und daß die Anlage eines Eanals durch
die Landenge von Suez sehr wohl möglich sei. In einem
aus Jaffa vom 2. October 1830 datirten Schreiben legte
der damals noch unbekannte englische Capitän seine Ansich-
ten nieder. Chesney glaubte übrigens, daß der Euphratroute
die Zukunft gehören werde, und er machte sich auch sofort auf
den Weg, um diese bezüglich des Ueberlandverkehrs mit In-
dien zu erforschen, und zwar that er dieses auf eigene Kosten.
Die Auslagen wurden ihm erst 1848 auf Verwendung des
Prinzen Albert ersetzt. Der Bericht gar erschien erst vor etwa
fünf Jahren. Zum zweiten Male brach Chesney 1835, dies-
mal von einem Stabe begleitet, nach Mesopotamien auf; die in
Stücke zerlegten Dampfer „Euphrat" und „Tigris" wurden
durch die Wüste geschleppt, zusammengesetzt uud schwammen
bald auf dem historischen Strome. Der „Tigris" ging zu
Grunde; aber der „Euphrat" gelangte durch den persischen
Golf nach Bombay. So eröffnete er die Euphratroute, den
Weg, welchen später wenigstens der indische Telegraph nahm.
Die Reise war reich an Hindernissen und Abenteuern, brachte
aber nicht geringen Gewinn für die Erdkunde ein.
William Ellis, der bekannte Missionär und Reisende,
ward 1795 in England geboren; er studirte Theologie, trat
1814 in den Dienst der Church-Missionary-Society und
ging 1816 von seiner Frau begleitet als Glaubensbote in
die Südsee. Namentlich waren die Sandwichinseln der Schau-
platz seiner Thätigkeit, über welche er bereits 1827, nach sei-
ner Rückkehr in die Heimath, das Werk A Tour in Hawaii
veröffentlichte, welchem dann feine sehr bekannt gewordenen
Polynesian Researches folgten. Der Hauptschauplatz sei-
ner Thätigkeit wurde aber gegen Ende der dreißiger Jahre
Madagaskar, mit dessen Politischer Geschichte er eng ver-
knüpft bleibt. Wir haben im „Globus" die Verdienste des
tüchtigen Mannes um die Kunde Madagaskars wiederholt
hervorgehoben, wenn auch seine Bekehrungsversuche und Po-
litischen Einmischungen am Hofe des Königs Radama nicht
immer unfern Beifall fanden. Seine Werke: History of
Madagascar (London 1838) und Three visits to Mada-
gascar (London 1858) werden stets eine wichtige Grund-
läge unserer Kenntniß der schönen Insel bilden.
Friedrich Gerstäcker, geboren am 10. Mai 1816 in
Hamburg, gestorben am 31. Mai zu Braunschweig, der be-
kannte Romanschriftsteller und Weltreisende, ging 1837 mit
1872. 381
sehr geringer wissenschaftlicher Vorbildung nach Amerika, wo
er in den verschiedensten Lebensstellungen bis 1843 weilte.
Später hat er dann verschiedene Reisen um die Welt ange-
treten, die ihn jedoch nie von den großen, allgemein betre-
tenen Verkehrspsaden abführten. Er hat dieselben mit einem
erstaunlichen Erzählertalent zu schildern verstanden, doch sind
diese Reisen für die Wissenschaft nicht sehr fruchtbar ge-
Wesen. Seine hier zu erwähnenden Werke sind: Reisen
um die Welt (6 Bde. Leipzig 1847); Reisen (5 Bde.
Stuttgart 1853); Achtzehn Monate in Südamerika (3 Bde.
Leipzig 1862); Neue Reisen (3 Bde. Jena 1868).
Alexander Hilferding, bekannter Slavist, geboren
1830 zu Moskau, starb am 20. Juni zu Kargopol am Ty-
phus. Aus den verschiedensten Gebieten des slavischen Volks-
lebens und der slavischen Sprachen thätig, hat er sein gan-
zes Leben mit außerordentlichem Fleiße und großem Talente,
wenn auch nicht frei von Einseitigkeit und Parteilichkeit, die
Kenntniß des Slaventhums zu fördern gesucht. Unter sei-
nen zahlreichen Schriften in russischer Sprache nennen wir
folgende: „Ueber die Verwandtschaft des Slavischen mit dem
Sanskrit;" „Ueber die Beziehungen des Slavischen zu den
verwandten Sprachen," beide 1853 publicirt. „Geschichte
der baltischen Slaven" 1855 und „Die Ueberreste der Sla-
ven aus der Südküste des Baltischen Meeres" (deutsch im
ersten Bande von Schmaler's Zeitschrift für slavische Lite-
ratur). „Die sprachlichen Denkmäler der Elbslaven" (deutsch
Bautzen 1857); „Briese über die Geschichte der Serben und
Bulgaren" (1856 bis 1859); „Bosnien, Herzegowina und
Alt-Serbien" (1859). Außerdem veröffentlichte er zahlreiche
kleinere Abhandlungen und war ein eifriges Mitglied des
panslavistischen Comites in Moskau. Trotz seiner deutschen
Abkunft verhielt er sich gegen Alles, was von Deutschland
ausging, höchst feindselig.
John King, der australische Reisende und der einzig
Ueberlebende von der durch ihre Leiden bekannt gewordenen
Expedition Burke's, starb am 8. Januar zu Melbourne.
King war am 15. December 1838 zu Moy in Irland ge-
boren; er ging als Soldat nach Indien, focht dort gegen
die aufständischen Sipahis und brachte 1860, als die Expe-
dition Burke's zur Durchkreuzung des australischen Conti-
nentes bis zum Carpentariagols unternommen wurde, für
diese die Kameele aus Indien. Der unglückliche Verlauf die-
fer in die Jahre 1860 bis 1861 fallenden Expedition ist be-
kannt uud seiner Zeit im „Globus" ausführlich geschildert
worden. Zwar wurde der Carpentariagols im Februar 1861
erreicht und damit Australien seiner Breite nach durchschnitten,
aber aus der Rückkehr verhungerten Bnrke und Gray, wäh-
rend King kümmerlich unter den Schwarzen seinLeben fristete
uud erst am 15. September 1861 vonHowitt's nachgesand-
ter Partie errettet wurde. Er erhielt von der Regierung
der Colouie Victoria eine Belohnung von 7000 Pf. St.
Indessen konnte er sich nie wieder von den ausgestandenen
Strapazen erholen, in Folge deren er endlich starb.
Dr. A. S. Oersted, Professor der Botanik in Kopen-
Hägen, geboren dafelbst 1815, starb im September 1872.
Obgleich vorwiegend Botaniker, verdient er doch auch im
Nekrologe einer geographischen Zeitschrift Erwähnung wegen
seiner 1848 bis 1849 in Mittelamerika ausgeführten Rei-
fen. Er veröffentlichte die Ergebnisse derselben in vielen
einzelnen Aussätzen, uud begann kurz vor seinem Tode aus
Kosten der dänischen Akademie der Wissenschaften die Her-
ausgäbe eines Prachtwerkes: L'Amerique centrale. Auch
hatte er eiue Monographie über die geographische Verbreitung
der Eichen geschrieben.
Dr. Gustav Parthey, einer der gründlichsten Kenner
des classischen und ägyptischen Alterthums, ein geborener Berti-
V
i
382 Aus allen
ner, starb am 2. April zu Rom. Er unternahm, nachdem
er in Berlin und Heidelberg studirt hatte, eine Wissenschaft-
liche Reise durch Frankreich, England, Italien, Aegypten
und Vorderasien, Uber welche er in seinem Werke „Wände-
rungen durch Sicilien und die Levante" Mittheilungen ver-
öffentlich! hat. Eine besondere Frucht war noch die Schrift:
„Das Orakel uud die Oase des Arnmoit" (Berlin 1862).
Parthey war seit dem Jahre 1325 Besitzer der Nicolai'fchen
Buchhandlung und seit 1857 Mitglied der Akademie der
Wissenschaften.
Mary Sommerville, eine der schönsten Zierden der
wissenschaftlichen Frauenwelt, starb Ende November zu
Neapel. Sie war in Schottland im letzten Jahrzehnt des
vorigen Jahrhunderts geboren und heirathete einen Seeoffi-
zier, der ihre bedeutenden Anlagen noch nach anderer Seite
hin entwickelte und sie in die Geheimnisse der Mathematik
und Naturwissenschaft einführte, auf welchem Gebiete sie sich
bald als selbständige Forscherin hervorthat. Wittwe gewor-
den/kehrte sie von London nach Edinburg zurück, und erhielt
dort durch eine zweite Ehe mit Dr. Sommerville den Na-
men, unter welchem sie ihre Berühmtheit erlangt hat. Die
erste größere Schrift, welche sie veröffentlichte, war eine
Bearbeitung von Leplace's „Mechanik des Himmels", der
sie im Jahre 1834 ein sehr günstig aufgenommenes Buch
über den Zusammenhang der physikalischen Wissenschaften
folgen ließ, welches das Lob ihrer formgewandten Darstel-
lung vermehrte und acht Auflagen erlebte. Ihr letztes gro-
ßes Werk war die im Jahre 1848 veröffentlichte Physika-
tische Geographie, welches Dr. Barth ins Deutsche übersetzte.
Schon 1835 war sie zum Ehrenmitglieds der königlichen
astronomischen Gesellschaft ernannt worden und hat seitdem
viele Auszeichnungen in England und aus anderen Ländern
erhalten.
Joseph Anton Springs geboren am 8. April 1814
zn Gerolsbach in Bayern, Professor der Medicin an der Uni-
versität zn Lüttich, Mitglied der königlich belgischen Akademie
der Wissenschaften zu Brüssel, der königlich bayerischen Aka-
demie der Wissenschaften zu München :c., endete am 17. Ja-
nnar im 57. Lebensjahr seine für die medicinische Wissen-
schaft bedeutungsvolle Laufbahn. Mit ihm verlor die Uni-
versität Lüttich eine ihrer ersten Zierden und Deutschland
einen der hervorragenden Vertreter deutscher Wissenschaft
im Ausland. Spring hatte zu München Medicin und Na-
turwiffenschaften studirt; er ging dann nach Paris, um die
dortige Klinik zu besuchen und zugleich am College de France
und am naturhistorischen Museum seine Lieblingsstudien, die
Erdth eilen.
Naturwissenschaften und die Botanik, zu verfolgen. Hier
lenkte er durch feine ausgezeichneten Arbeiten die Aufmerk-
famkeit eines noch jetzt in Belgien lebenden hohen Staats-
mannes auf sich. In Folge dessen eröffnete sich für den
jungen Gelehrten gegen Ende des Jahres 1839 eine neue
Aera. Ein königliches Decret vom 5. October 1839 be-
rief ihn, 25 Jahre alt, zum ordentlichen Professor der Phy-
siologie und Anthropologie an die Universität nach Lüttich.
Seine Collegien bekamen bald großen Ruf und zogen zahl-
reiche Zuhörer aus Belgien und den Niederlanden an.
Später übernahm er den Lehrstuhl der allgemeinen und
descriptiven Anatomie und lehrte allgemeine Pathologie und
die medicinische Klinik. Für uns sind hier vorzugsweise seine
anthropologischen Arbeiten zu erwähnen, und so mag denn
darauf hingewiesen werden, daß Spring durch seine Unter-
suchung der Knochenhöhlen von Namur und Chanvaux nn-
gemein viel zur Aufhellung der Urgeschichte des Menschen
that. (Vergl. „die alten Anthropophagen von Chauvanx",
„Globus" XVII, S. 365.) ^
Dr. Friedrich Welwitsch, gestorben am 20. Sep-
tember zu London, wurde im Jahre 1806 in Kärnthen ge-
boren, studirte in Wien und widmete sich schon frühzeitig
speciell botanischen Studien. Zum Director des botanischen
Gartens in Lissabon ernannt, wurde er im Jahr 1853 auf
Kosten der portugiesischen Regierung nach Angola geschickt,
um die Naturgeschichte dieses Gebietes zu studireu, und blieb
daselbst bis 1861. Seine dort gemachten, dem Umfange
nach unübertroffenen Sammlungen wurden unter Auderm bei
der Bearbeitung der Flora des tropischen Afrikas benutzt,
welche von den wissenschaftlichen Autoritäten der Kew-Gär-
ten veranstaltet ward. Dr. Welwitsch selbst schrieb nicht
viel, doch ist die Zahl der durch ihn der Wissenschast bekannt
gewordenen Pflanzenarten sehr groß, darunter am merkwür-
digsten die von Dr. Hooker sogenannte „Welwitshia mira-
bilis". Der Verstorbene war ebenfalls ein großer Zoologe,
und seine entomologischen Sammlungen sind unbestreitbar
umfangreich und werthvoll.
Dr. Ernst Wiegrebe, Director der hessischen Landver-
Messung, geboren 1793 zu Bethlen in Hannover, gestorben
am 8. März zu Elmshagen bei Kassel, hatte zu Göttingen
Mathematik studirt und nahm dann am Befreiungskriege
Theil. Er blieb nun der militärischen Laufbahn treu, be-
schästigte sich aber von 1821 bis 1858 mit der Landesver-
Messung Kurhessens, die in ihrer vorzüglichen Ausführung
wesentlich sein Werk, ein Werk eisernen Fleißes ist.
Aus allen Erdtheilen.
Die Handelshäfen in China.
In einer unserer Augustnummern (S.126) zeigten wir, wie
großartig die Handelsbewegung in den für den fremden Verkehr
eröffneten Häfen Chinas sei. Im Jahre 1871 liefen in denselben
14,963 Schiffe mit 7,381,557 Tonnen ein; der Gesammtwerth
aller ein- und ausclarirten Güter stellte sich auf weit mehr als
800,000,000 Thaler. Wir ersehen nun aus einem Berichte Sir
Rutherford Alcock's, der längere Zeit britischer Gesandter in
Japan war und den fernen Osten genau kennt, daß Großbri-
tannien für den diplomatischen und Consulardienst in China
und Japan jährlich etwa 100,000 Pf. St. verausgabt, daß sein
directer Handel dorthin mehr als 40,000,000 Pf. St. beträgt
und der indischen und der britischen Regierung an neun Millio-
nen Revenuen abwirft.
Hongkong ist eine britische Kroncolonie.
Von den 21 eröffneten Häsen des chinesischen Reiches be-
zeichnet man II als Primär- (Haupt-) oder Consularhäfen, 10
als secundäre Häfen. Einige der letzteren sind „außenliegende
Aus allen
Erdth eilen.
383
oder subsidiäre"; mit Ankerstellen von Süden nach Norden sind
die Hafenstädte folgende:
Canton hat als subsidiären Hafen Whampoa, wo Schiffe
von jeder Größe vor Anker liegen.
Dann folgt Swatau; Tschu tscheu fu ist secundär; dann
Amoy (Emuy); Futscheu fu, das für die Theeausfuhr sehr wich-
tig geworden ist; von ihm ist abhängig der Ankerplatz Pa-
goda, wo alle Schiffsangelegenheiten des Platzes besorgt werden.
Weiter: Ningpo; dann Schanghai mit dem subsidiären Hasen
Tschingkiang; am Yangtsekiang im Binnenlande Hankeu mit
Kingkiang. An der Nordküste Tschisu, das mit jedem Jahre
wichtiger wird; Tientsin am Peiho, die Pforte zur Hauptstadt
Peking, und Niutschuang; dieses letztere ist der Hafenplatz für
die Mandschurei. — Auf der Insel Formosa sind eröffnet:
Taiwan mit Takeu, Tamfuy und Kilong, und jüngst, wie
wir schon früher angegeben haben, Kiang tschei auf der Insel
Hain an.
Hongkong vermittelt die überseeischen Güter nach Canton,
Swatau, Amoy und Futscheu fu.
Schanghai thut es nach Ning po. Tsching kiang, Hangkeu
und der Nordhafen Tfchifu, Tientsu und Niutschuang. Von hier
bis Canton beträgt die Entfernung 1800 Seemeilen.
Die Wollenfavrikation in den Vereinigten Staaten.
Die einzelnen Theile der Cenfusaufnahme von 1370
erscheinen nach einander in kürzeren oder längeren Zwischen-
räumen. Gegenwärtig liegt uns der Bericht über die Fabrika-
tion von Wollenwaaren vor, welchem wir das Nachstehende
entnehmen.
Im Ganzen zählte man 2891 Etablissements, die sich in
folgender Weise vertheilen:
Pennsylvanien .... 457 Neuyork......252
Ohio........ 223 Massachusetts .... 185
Indiana......175 Missouri......156
Tennessee......148 Kentucky......125
Illinois.......109 Connecticut.....108
Maine.......107 Iowa.......85
Neuhampshire .... 77 Westvirginien . ... 74
Virginien......68 Rhode Island .... 65
Vermont......65 Wisconsin.....64
Michigan......54 Nordcarolina .... 52
Georgia.......46 Maryland.....31
Neujersey......29 Texas •......20
Utah........15 Südcarolina .... 15
Alabama......14 Arkansas......13
Delaware......11 Mississippi.....11
Minnesota......10 Kansas....... 9
Oregon....... 9 California..... 5
Louisiana...... 2 Florida...... 1
Dazu kommt dann noch 1 Etablissement in Neumexico.
In diesem Gewerbszweige sind 98,824,531 Dollars Capital an-
gelegt worden; die Zahl der Dampfmaschinen betrügt 1050 von
35,900 Pserdekraft; die Pferdekraft der Wasserräder stellt sich aus
59,332. Die 8366 Krämpelmaschinen können täglich 857,392
Pfund Kammwolle herstellen; Zahl der breiten Stühle 14,039,
der schmalen 20,144; Spindeln 1,845,496. Durchschnittlich
waren im Jahre 1870 beschäftigt 42,728 männliche Arbeiter
über 16 Jahre, weibliche über 15 Jahre 27,682; Kinder 9643.
Der im Jahre ausbezahlte Arbeitslohn ist zu 26,877,575 Dol-
lars angegeben worden. Der Gesammtwerth der verbrauchten
Materialien stellte sich aus 96,432,601 Dollars, von welchen
auf Chemikalien und Färbestoffe 5,833,346 Dollars entfallen.
Es wurden verarbeitet 17,311,824 Pfund ausländische und
154,767,075 Pfund inländische Wolle, 17,571,929 Pfund Baum-
wolle, 19,372,062 Pfund Schoddy, 2,573,419 Pfund Wollen-
garn, 3,263,949 Pfund Baumwollengarn, 1,312,560 Haids
Baumwollenwarp, 140,733 Pfund Warp. Die Production
stellte sich auf 63,340,612 Yards Wollentuch, Kasimir und Dock-
skins 58,569,286 Yards, Flanell 1,941,865 Yards, Filztuche
2,663,767 Yards', 2,853,458 Tweeds und Twills, 14,078,559
Yards Satinets, 5,506,902 Yards Kerseys, 24,489,985 Yards
Jsaus, 14,130,274 Yards Linseys, 1,932,382 Negro cloth.
Sodann 2,000,439 Paar Blankets, Pferdedecken 58,553 Stück,
Wagendecken 22,500 Stück, Bettdecken 226,744 Stück, Shawls
2,312,761 Stück. Pfund Garn 14,156,237. Gesammtwerth
der Production 156,405,058 Dollars.
Ein schwarzes Camp Meeting bei Washington.
Wir gaben vor einiger Zeit den Bericht eines Augenzeugen,
welcher in der Nähe von Neuorleans einer nächtlichen Wodu-
seier der Neger beiwohnte; die Schlange spielte als Fetisch da-
bei eine wichtige Nolle. Heute wollen wir als Nebenstück ein
Camp Meeting der christlichen Neger schildern, genau nach der
Darstellung des Korrespondenten der „Revue britannique", der
gleichfalls Augenzeuge war. Diese Camp Meetings, „gottes-
dienstliche" Versammlungen im Freien, sind in der Musterrepublik
sehr beliebt; Bruder Jonathan, der wohl weiß, wie viele Sün-
den aus ihm lasten, will dieselben mit Ostentation abschütteln,
sich recht zerknirschen, Buße thun, heulen, wimmern, jammern,
stöhnen, schluchzen und sich in Krämpfen und Verzückungen auf
der Erde herumwälzen. Er meint, das sei ein frommes Werk und
seinem Gotte wohlgefällig. Die Nigger machen das Alles dem
weißen Manne nach; auch sie schlagen am Rande eines Waldes
Zelte auf und treiben mehrere Tage und Nächte hindurch ver-
rückten Unfug.
Ein Genfer Narr, Plantamour, verkündete bekanntlich den
Untergang der Welt für den verflossenen Sommer. Die Neger
glaubten an diesen wahrhaftigen Propheten und trafen deshalb
Anstalten, um ihre Seele zu retten, und das konnte ihrer auf-
geklärten Meinung zufolge am sichersten vermittelst eines Camp
Meeting geschehen, welches sie in einem etwa zwei Wegstunden
von Washington entfernten Walde abhielten. Dort schlugen sie
Zelte auf, welche einen viereckigen Platz umschlossen. In der
Mitte standen Bänke für die Frommen; an der einen Seite war
ein Gerüst, von welchem herab die schwarzen methodistischen Pa-
stören der Menge predigten; an der andern Seite befand sich in
einem großen Zelte die Schänke. Vor dem Gerüste war eine
Einzäunung, Pen, in welcher die Reuigen ihre Sünden bekann-
ten, und auf den anxious benches, den Angstbänken, sich der
gottseligen Verzweiflung überließen.
Als ich mit meinen Begleitern ankam, predigte eben ein
Pastor in höchst eintöniger Weise und mit undeutlicher Aus-
spräche, an welche wir uns erst gewöhnen mußten, ehe wir jedes
Wort verstanden. Das Menschengeschlecht, so sagte der schwarze
Mann, ist durchaus verderbt, ist ganz und gar versunken; es
ist halsstarrig, will sich nicht bessern und sich nicht bekehren, trotz
der Strasen, welche von der Vorsehung über die sündige Welt
verhängt werden. Dann schilderte er in unüberbotener trivialer
Weise zunächst, was der Sünder auf dem Sterbebette auszu-
stehen habe. Jetzt wurden seine Geberden heftiger, er schlug
um sich, er wollte die Schrecknisse des Todes anschaulich machen.
Er begleitete den Sünder in die Hölle; dort wird der Ver-
dämmte für seine Verbrechen gepeinigt mit geschmolzenem Blei,
das ihm sehr, sehr, sehr weh thut, und mit einem ewigen Feuerregen.
Um die Qualen recht empfindlich zu machen, inuß er dabei
nach dem Willen des lieben Herrgottes, des Allbarmherzigen,
immer ins Paradies blicken, das mit allen seinen Herrlichkeiten
ihm vor Augen liegt. Manchmal sucht ihn der Teufel heim, der
ihn mit einer Heugabel peinigt, und obendrein wird die Seele
von ganzen Schaaren kleiner Saianasse gezwickt. Die andächti-
gen Zuhörer werden von Zittern und vom Schauder ergriffen; der
Pastor tritt ab, seine Predigt hat eingeschlagen. Sofort tritt
ein anderer auf und stimmt einen Gesang an, in welchen Alle
einfallen. Die Thüren des Pen werden geöffnet; einige junge
Frauen nehmen unter lautem Schluchzen Platz auf den Angst-'
bänken. Die Männer singen weiter, die Pastoren unterhalten
384
Aus allen Erdtheilen.
sich ruhig mit einander; der Höllenpastor geht ins Schänkzelt
und nimmt ein paar Gläser Whisky zu sich.
Ich war ihm dorthin gefolgt; als ich aus dem Zelte trat
sah ich, daß im Pen mehrere Frauen vor den Bänken auf den
Knien lagen; sie hatten die Augen geschlossen, den Kopf gen
Himmel gerichtet, und murmelten bald leise Gebete, bald schrien
sie laut oder schluchzten. Ein junges, 'für eine Negerin ganz
hübsches Mädchen von etwa sechszehn Jahren konnte ich ganz in
der Nähe beobachten; sie war die erste, bei welcher der höchste
Grad der Exaltation eintrat. Es war gar gräßlich, das an-
zusehen und anzuhören, das gellende Schreien und Kreischen,
das Schluchzen, dieses Beten und diese hysterischen Zuckungen.
„Gnade, Herr, Gnade, rette meine Seele, reinige mein Herz;
o, laß mich nur nicht in die Hölle kommen!" Mir grauete vor
den Scheußlichkeiten des religiösen Fanatismus und Wahnwitzes,
die nun solgten. Alle Weiber verfielen in Zuckungen, wälzten
sich, Schaum vor dem Munde, in toller Weise am Boden hin
und her, schlugen mit den Köpfen auf die Bänke. Drei alte
Megären standen inmitten dieses gräßlichen Gebahrens ganz
ruhig; sie waren Anstandsdamen, welche dafür forgten, daß bei
den Verzückten keine Leibesblößen sichtbar wurden. Sie drück-
ten die anderen nieder und sagten dabei jedesmal: Schwester,
Du bist von Gott besessen!
Die Pastoren waren nun auch im Pen, gingen von einer
Gottbesessenen zur andern und sprachen Worte des Trostes.
Die Männer lagen aus den Knien und schlugen sich aus die
Brust. Die Pastoren sprachen: Solches ist dem Herrn ein Wohl-
gefallen.
Nach Einbruch der Dunkelheit fuhr ich nach Washington
zurück; ich hatte genug und übergenug an dieser Frömmigkeit.
Das Camp Meeting währte drei Tage und drei Nächte!
Die Polarexpedition der Schweden.
Wir können die Nachrichten, welche jüngst unser Correspon-
dent in Schweden über dieselbe mitgetheilt hat, aus einem Be-
richte vervollständigen, welcher der „Mail" vom 22. September
aus Kopenhagen vom 17. November zugegangen ist. Norden-
fkjöld wollte bekanntlich auf den Parry-Jnseln uördlich von
Spitzbergen überwintern und von dort aus dem Eise mit Ren-
thierschlitten so weit als möglich nach dem Pol hin vordringen.
Die Schiffe „Polhem" und „Onkel Adam", nebst dem Segel-
schiffe „Gladan" haben am 4. August Green Harbour an der
Westküste von Spitzbergen erreicht. Zu Ende jenes Monats be-
fanden sich diese Schisse aus der Höhe der Norwegischen In-
seln im Norden von Spitzbergen; als der Weg nach dem Nordost-
eilande durch Eis versperrt war, entschloß man sich, durch den
noch offenen Hinlopenfund nach der Lommebay zusteuern.
Am I.September, als die Fahrt dorthin angetreten wurde, sah
man den „Polhem" mit dem „Gladan" am Schlepptau, als er
am Verlegenhuk am Eingange des Hinlopensundes vorbei-
fuhr ; „Onkel Adam" folgte zwei Tage später.
Seitdem hat man keine weitere Kunde über sie.
Die „Polhem" sollte allein auf den Parry-Jnseln überwintern
und war dafür mit Vorräthen ausgerüstet; die beiden anderen
Schiffe sollten heimkehren, sobald sie die „Polhem" an Ort und
Stelle und dort im Winterlager ihre Vorräthe ausgeladen hat-
ten. Am Ende Oetobers telegraphirte der Bürgermeister von
Tromsö an die norwegische Regierung, daß man von diesen
beiden Schiffen nichts mehr gehört habe; es fei zu befürchten,
daß sie nebst einer Flotte von sechs norwegischen Seehunds-
sischern irgendwo im Eise festlägen und nicht Lebensmittel genug
für die lange Ueberwinterung hätten. Allerdings sind dergleichen
an mehreren Punkten jener öden Küsten niedergelegt worden,
und wenn die im Eise Besetzten zu denselben gelangen können,
werden sie bis zum Frühjahr oder Sommer, wenn das Eis
aufbricht, nicht verhungern. Es fei aber nicht anzunehmen, daß
sie von ihren Schiffen bis zu folchen Vorrathsstellen offenes Was-
ser finden würden. —
Die norwegische Regierung hat sosort einen arktischen Dam-
pser, den „Albert", zu Tonsberg ausgerüstet, um Hülse und
Vorräthe zu bringen. In Kopenhagen stellten zwei Kaufleute
gleichfalls einen Dampfer zur Verfügung, den „Fox", in wel-
chem einst Leopold Mac Elintock zur Aufsuchung der Ueberreste
Franklin's im arktischen Labyrinthe war. Dieser Dampser suhr
seit Jahren zwischen Dänemark und Grönland. Die norwegi-
sche Regierung lehnte das Anerbieten der Kopenhagener dank-
bar ab, weil der „Albert" bereits ausgelausen sei; er steht unter
Befehl des Eapitän Otto. Es fragt sich indessen sehr wohl, ob
er in dieser Jahreszeit im Stande sein werde, durch das Eis
zu kommen, und wenn ihm das auch gelänge, so fragt sich fer-
ner, ob die beiden Expeditionsschiffe und die sechs Seehunds-
jäger an einem und demselben Punkte liegen. Die, welche vom
Eapitän Otto überhaupt nicht ausgefunden werden, haben dann
Lebensmittel, die nur bis März oder April reichen; sie sind alfo
auf jeden Fall in einer verzweifelten Lage.
*
*
— Die nordamerikanischen Missionäre im osma-
nischen Reiche lassen es sich sehr angelegen sein, höhere 'Lehr-
anstalten zu gründen. Sie haben bereits das Robert-College in
Konstantinopel und das Syrian-Eollege in Beirut. Das erstere
ist dazu bestimmt, Orientalen mit den europäischen Wissenschaften
bekannt zu machen. Jetzt eben gründen sie in Aintab ein
Gymnasium für die wissenschaftliche Ausbildung junger Arme-
nier, und sie haben dazu beträchtliche Summen theils aus den
Vereinigten Staaten, theils von protestantischen Armeniern er-
halten.
— Am 20.October 1372 waren in den Tombs zu Neu-
York, d. h. dem Gesängniß, in welchem die Verbrecher sich in
Untersuchungshast befinden, nicht weniger als 22 Mörder ein-
gesperrt!
— Das Dampfschiff „Windfor Castle", Capitän Howson,
hat die Fahrt von Calcutta nach London in der überra-
fchend kurzen Zeit von 34 Tagen zurückgelegt, allen Aufenthalt
unterwegs mit eingerechnet.
— Der Reifende Eduard Whymper ist am 9. Novem-
ber von seiner diesjährigen Reise nach Grönland in Kopen-
Hagen, das er im Mai verließ, wieder angekommen. Er hat
die „Grönländischen Alpen" besucht und will im nächsten
Jahre seine Forschungen fortsetzen.
— Dr. Hilgendors, Bibliothekar der kaiserlich-leopoldini-
schen Gesellschaft in Dresden, wird Ende December über Suez
nach Japan abgehen. Es ist seine Aufgabe, im Auftrage der
kaiserlichen Regierung zu Heddo als Vorstand einer naturwissen-
schastlichen Lehranstalt wirksam zu sein und junge Japaner für
die medicinische Facultät vorzubereiten. Er wird insbesondere
Zoologie und Botanik vortragen, auch Unterricht im Lateini-
schen geben; Chemie und Physik werden von einem andern
deutschen Gelehrten vorgetragen. Die japanische Regierung ist
eifrig bemüht, tüchtige Lehrkräfte aus Deutschland zu erhalten;
die Erfahrungen, welche sie mit Nordamerikanern machte, schei-
nen vielfach ungünstig ausgefallen zu fein. Dr. Hilgendors ist
namentlich in der Zoologie vortrefflich bewandert.
Inhalt: Aus dem Volksleben der Russen. Mit sünf Abbildungen.) —
Wallis. III. (Schluß.) — Der Zusammenhang der Alt- und Neugriechen. —
Die Handelshäfen in China. — Die Wollenfabrikation in den Vereinigten Staaten,
ton. Die Polarexpedition der Schweden. — Verschiedenes.
Von Kalifornien nach Japan. Von Gustav
Nekrolog 1372. — Aus allen Erdtheilen:
— Ein schwarzes Camp Meeting bei Washing-
Herausgegeben von Karl Andree in Dresden. — Für die Redaktion verantwortlich: H. Vieweg in Braunschweig.
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig.
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